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German Pages 519 [520] Year 2005
Birgit Neumann Erinnerung - Identität - Narration
W G DE
Media and Cultural Memory/ Medien und kulturelle Erinnerung Edited by/Herausgegeben von Astrid Erll · Ansgar Nünning
Editorial Board /Wissenschaftlicher Beirat Aleida Assmann · Mieke Bai · Marshall Brown · Vita Fortunati Udo Hebel · Gabriele Helms · Claus Leggewie Gunilla Lindberg-Wada · Jürgen Reulecke · Jean Marie SchaefFer Jürgen Schlaeger · Siegfried J. Schmidt · Werner Sollors Frederic Tygstrup · Harald Welzer
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Walter de Gruyter · Berlin · New York
Birgit Neumann
Erinnerung - Identität - Narration Gattungstypologie und Funktionen kanadischer „Fictions of Memory"
Walter de Gruyter · Berlin • New York
@ Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.
I S S N 1613-8961 I S B N 3-11-018316-1 Bibliografische Information Der Deutschen
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© Copyright 2005 by Walter de Gruyter G m b H & Co. KG, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Einbandgestaltung: Christopher Schneider, Berlin
Vorwort und Dank Der vielschichtige Zusammenhang zwischen Erinnerung, Identität und Narration ist derzeit in wissenschaftlichen Diskussionen ebenso omnipräsent wie in der Literatur. Was allerdings genau unter diesen Begriffen zu verstehen ist, wie sie miteinander interagieren und welche Rolle der Erzählliteratur dabei zukommt, stellen Fragen dar, die bis heute nicht hinreichend beantwortet sind. Ziel dieser Studie ist, dem Phänomen Erinnerung in seinen unterschiedlichsten Facetten auf die Spur zu kommen und insbesondere seine literarischen Spielarten und Inszenierungsweisen in den Blick zu nehmen. Bei aller Schwierigkeit, diesen Spuren in der Literatur, wo Erinnerungen eine ästhetische Verdichtung erfahren, nachzugehen, ist die Bedeutung persönlicher Erinnerung am Ende dieser Arbeit leicht zu verstehen. A m Beginn eines Buchs über die Erinnerung steht die Erinnerung — die Erinnerung, an all diejenigen, die mich in den letzten Jahren begleitet haben und auf die ein oder andere Weise zum Gelingen dieser Arbeit beigetragen haben. Ihnen verdanke ich ebenso wichtige wie anregende Jahre der wissenschaftlichen (Zusamm e n a r b e i t , die weit über das Thema der Erinnerung hinausging und hinausgeht. Die vorliegende Studie stellt die leicht überarbeitete Fassung meiner Dissertation dar, die im April 2004 am Fachbereich 05 .Sprache - Literatur - Kultur' der Justus-Liebig-Universität Gießen eingereicht wurde. Dank des großen Engagements der beiden Gutachter Prof. Ansgar Nünning und Prof. Herbert Grabes konnte die Disputation im Juli 2004 stattfinden. Dem Cusanuswerk möchte ich an dieser Stelle für die Gewährung eines Promotionsstipendiums und insbesondere für eine exzellente Förderung danken, an der Frau Dr. Ingrid Reul großen Anteil hatte. Besonderer Dank gebührt außerdem dem wissenschaftlichen Projektleiter des Internationalen Promotionsprogramms (IPP) „Literatur- und Kulturwissenschaft" (gefördert durch den DAAD) an der Universität Gießen, Prof. Ansgar Nünning, sowie der Koordinatorin Dr. Marion Gymnich. Beide standen mir bei der Anfertigung meiner Arbeit mit Rat und Tat unermüdlich zur Seite. Von den Diskussionen in dem IPP-Doktorandenkolloquium, auch unter Leitung von Prof. Hartmut Stenzel, habe ich enorm profitiert. Bedanken möchte ich mich außerdem bei Dr. Maria Tippett für einen offenen und produktiven Gedankenaustausch sowie für die Einladung zu einem Forschungsaufenthalt an der Cambridge University, der mir wertvolle Möglichkeiten der Literaturrecherche bot. Dr. Gabriele Helms vermittelte mir an der University of British Columbia (Vancouver) wichtige und ganz unverzichtbare Einblicke in die kanadische Literatur und Kultur. Den zahlreichen Gesprächen mit ihr verdanke ich nicht nur wesentliche Anregungen, die ein Fundament für meine Arbeit gelegt haben, sondern auch eine bereichernde
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Vorwort und Dank
Freundschaft. Prof. Ansgar Nünning und Dr. Astrid Erll danke ich schließlich herzlich für die Aufnahme meines Buches in die Reihe Media and Cultural Memory. Bei Dr. Heiko Hartmann vom de Gruyter Verlag möchte ich mich für sein Vertrauen und die professionelle Betreuung bei der Drucklegung des Manuskripts bedanken. Ein gesondertes und besonders großes Dankeschön möchte ich an dieser Stelle meinem Doktorvater Ansgar Nünning aussprechen. Seine uneingeschränkte Unterstützung, seine beständig motivierende Förderung sowie seine einzigartige Fähigkeit, faszinierende Wege zur Bewältigung selbst größter Herausforderungen aufzuzeigen, haben die Realisierung dieser Arbeit überhaupt erst möglich gemacht. Die von ihm aufgebauten Strukturen für die Doktorandenausbildung an der Universität Gießen, die zahlreichen Kolloquien, Tagungen, Workshops und Sektionen haben mir einen höchst produktiven Diskussionskontext geboten und meine Arbeit ganz wesentlich bereichert. Großen Dank für seine Bereitschaft, meine Arbeit mit mir zu diskutieren und sie mit konstruktiven Anregungen zu unterstützen, gebührt außerdem meinem zweiten Betreuer, Prof. Herbert Grabes. Dieses Buch ist im Austausch mit vielen Doktoranden und Postdoktoranden entstanden, von denen ich Entscheidendes lernen konnte. Die kontinuierlichen und engagierten Diskussionen mit meinen Mitstreiter(inne)n im IPP, im „Gießener Graduiertenzentrum Kulturwissenschaften" (GGK) und am Institut für Anglistik haben meine Arbeit maßgeblich geprägt. In der Sektion „Kulturelles Gedächtnis und Erinnerungskulturen" des GGK hatte ich die Gelegenheit, meine Ideen in einem ausgesprochen angenehmen Kontext jenseits disziplinarer Grenzen zu diskutieren. Mit Hanne Birk habe ich das weite Feld der postkolonialen Narratologie auf äußerst anregende Weise erforscht. Dr. Astrid Erll, Dr. Marion Gymnich und Annegret Stegmann haben mich vor allem in der Endphase der Promotion mit wertvollen und unverzichtbaren Anregungen unterstützt. Eva Jost, Claudia Herzfeld und Markus Reitzenstein waren mir bei der Endkorrektur des Manuskripts enorm behilflich. Für all die Gespräche und Unterstützung an dieser Stelle ein herzliches Dankeschön. Schließlich gewährte mir die Mitarbeit am Gießener Sonderforschungsbereich „Erinnerungskulturen" (gefördert durch die DFG) zentrale Einblicke in das Thema der Erinnerung, und dies in einer ebenso produktiven wie angenehmen Atmosphäre. Auch die Einbindung in das Empire-Teilprojekt sorgte für viele schöne Arbeitsstunden. Der SFB hat mir außerdem einen großzügigen Druckkostenzuschuss gewährt. Hierfür und für die stets inspirierenden Diskussionen im SFB möchte ich mich stellvertretend bei dem Sprecher Herrn Prof. Jürgen Reulecke bedanken. Mein herzlicher Dank gilt schließlich meinen Freunden für das geschenkte Vertrauen und ihre Geduld angesichts meiner Ungeduld beim Entstehen dieser Arbeit: allen voran Sophie Boldt, Martin Böttcher, Michaela Egbers und Folkert Aust, Julia Faust, Birte Förster, Tobias Hemmersbach und Eva Laass, Steffie Rott sowie Annegret Stegmann. Ein besonderes Dankeschön möchte ich schließlich meinem Vater, Gerhard Neumann, und meiner Mutter, Agathe Blessing, ausspre-
Vorwort und Dank
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chen, die die Entstehung dieses Buchs mit beständiger Anteilnahme und großem Optimismus unterstützt haben. Am meisten allerdings verdanke ich meinem Lebenspartner Gerald Echterhoff. Als nur ungenügender Dank für anregende Gespräche und für das Wissen um das, was wirklich wichtig ist, sei ihm diese Arbeit gewidmet.
Gießen, im Februar 2005
Birgit Neumann
Inhaltsverzeichnis Vorwort und Dank
V
I. Einleitung
1
1.
Fictions of Memory. Die Allgegenwart von Erinnerung und Identität in Literatur(-) und Kulturwissenschaft Kanadische Fictions of Memory: „The fiction makes us real"
1 10
Fictions of Memory aus kulturwissenschaftlicher und narratologischer Perspektive: Zielsetzung und Methode
15
II. Gedächtnistheoretische Konzepte zum Zusammenhang von Erinnerungen, Identitäten und Narrationen
19
2. 3.
1.
Individuelle Erinnerungen und erinnerungsbasierte Identitätskonstruktionen: .Ways of life making'
1.1 Die Perspektivität und Konstruktivität des Erinnerns: Das individuelle Gedächtnis und Erinnerungsprozesse aus kognitionspsychologischer Perspektive 1.2 Erinnerungsbasierte Identitätskonstruktionen 1.3 Die Bedeutung von Selbstnarrationen für die individuelle Identitätskonstruktion: Biographische Kontinuität als ,a fiction of memory' 1.4 Die Veridikalität individueller Erinnerungen und ihre Implikationen für kulturwissenschaftliche Fragestellungen 2.
19
22 29 34 45
Die kulturelle und soziale Prägung individueller Erinnerungen und Identitätsformationen Gedächtnis und Erinnerungen im kulturellen Kontext Die Sozialität und Kommunikativität des individuellen Erinnerns: Der memory talk und sein Einfluss auf individuelle Erinnerungen Selbstnarrationen und Identitätskonstruktionen als intersubjektive Verhandlungsprozesse Selbstnarrationen und Identitätskonstruktionen im kulturellen Kontext
62 65
Der Nexus zwischen Kollektivgedächtnis und kollektiver Identität in bestehenden Gedächtnistheorien: .Gedächtnis, das Gemeinschaft stiftet'.... 3.1 Maurice Halbwachs' .Kollektives Gedächtnis' 3.2 Pierre Noras .Erinnerungsorte' 3.3 Aleida und Jan Assmanns .Kommunikatives und Kulturelles Gedächtnis'....
72 76 80 85
2.1 2.2 2.3 2.4
49 50 53
3.
χ 4. 4.1
4.2. 4.3 4.4
Inhaltsverzeichnis
Ein integratives Modell heutiger Erinnerungskulturen: Kollektive Erinnerungen und Identitäten in pluralen, multikulturellen Gesellschaften... 94 Dimensionen der überindividuellen Gedächtnis- und Identitätsbildung 95 4.1.1 Das kollektiv-semantische Gedächtnis 97 4.1.2 Das kollektiv-episodische Gedächtnis 99 Gemeinschaftsstiftung durch Narrationen 101 Die Pluralisierung kollektiver Gedächtnisse und Identitäten vor dem Hintergrund des kanadischen Multikulturalismus 104 Konflikterinnerungen und Erinnerungskonflikte: Der Streit um historische Definitionsmacht 110
III. Fiktionale Weisen der Erinnerungs- und Identitätsbildung 1. 1.1 1.2 1.3 1.4
2. 2.1 2.2 2.3 2.4 2.5 2.6
Literatur als Medium der Inszenierung und Reflexion von Erinnerungen, Identitäten und Narrationen Literatur als kulturelle Objektivationsform Die Konzeptualisierung des Verhältnisses von Literatur und Gedächtnis in kulturwissenschaftlichen Gedächtnistheorien Kulturwissenschaftliche Perspektiven auf Literatur: Literarische Texte zwischen kultureller Präformation und Entpragmatisierung Konstitutionsweisen der Fictions ofMemoiy·. Die Mimesis der Erinnerung 1.4.1 Die literarische Aneignung der erinnerungskulturellen Wirklichkeit 1.4.2 Poietische Erinnerungsnarrative 1.4.3 Gesellschaftliche Rückwirkungen und Funktionspotentiale
119 119 121 123 129 138 139 146 149
Die Rhetorik der Erinnerungen und Identitäten: Komponenten der narrativen Inszenierung von Erinnerungen, Identitäten und Narrationen .. 156 Die erzählerische Vermitdung: Literarische Perspektivierungen von Vergangenem 158 Innenweltdarstellung und Figurendialog: Psychische und soziale Voraussetzungen von Erinnerungen 171 Die Perspektivenstruktur: Gedächtnismonologe und Erinnerungsdialoge 176 Plotananlyse: Erinnerungsmuster und konfabulierte Vergangenheiten 181 Intertextualität und Intermedialität: Der Stoff der Erinnerung 188 Raum- und Zeitdarstellung: Literarische Erinnerungsräume 194
3.
Von der Rhetorik der Erinnerungen und Identitäten zur Gattungstypologie der Fictions ofMemoiy 3.1 Der autobiographische Gedächtnisroman 3.2 Der autobiographische Erinnerungsroman
208 213 217
Inhaltsverzeichnis
3.3 Der kommunale Gedächtnisroman 3.4 Der soziobiographische Erinnerungsroman
XI 224 229
IV. Fictions of Memory: Formen und Funktionen literarischer Gedächtnisbildung und Erinnerungsprozesse im kanadischen Gegenwartsroman 238 1. Autobiographische Gedächtnisromane: Gedächtniskonsolidierungen 1.1 ,,[W]aiting to become myself': Inszenierungen von narrativer Geschlossenheit und identitärer Kontinuität in Matt Cohens Nadine (1986) 1.2 Retrospektive Vollendung einer Lebensgeschichte in Terence Μ. Greens A Witness to Life (1999) 1.3 Yann Martels Sef (1996) als kritisch-parodistische Ausprägung des autobiographischen Gedächtnisromans: Field memories als Erinnerungsfiktion 1.4 Tendenzen des autobiographischen Gedächtnisromans: Überlegungen zu literarischen Gestaltungsspielräumen
242
243 257
270 282
2. Autobiographische Erinnerungsromane: Erinnerungsreflexionen 286 2.1 Die Kunst des Vergessens, das Narrativ der Erinnerung: Strukturelle Multiperspektivität und Ekphrasis in Jane Urquharts The Underpainter (1997) 287 2.2 „But possibly I only wish that had happened" — Mordecai Richlers Barney's Version (1997): Unreäable narration zwischen aktiver Sinnstiftungsstrategie und erlittenem Gedächtnisverlust 305 2.3 „There is never only one, of anyone" - Inszenierungen einer pluralistischfragmentierten Identität in Margaret Atwoods Cat's Eye (1988) 321 2.4 Tendenzen des autobiographischen Erinnerungsromans 342 3. Kommunale Gedächtnisromane: Geteilte Akte des ,Re-membering' 3.1 Die kommunikative und rituelle Tradierung der gruppenspezifischen Vergangenheit in Alistair MacLeods No Great Mischief (1999) 3.2 Mythische Gedächtnisakte in Jane Urquharts Away (1993) 3.3 „You have to remember [...]. You are your history" — Literarisches Gegengedächtnis in Joy Kogawas Obasan (1981) 3.4 Tendenzen des kommunalen Gedächtnisromans: Vielstimmigkeit im kanadischen Gedächtnisdiskurs Soziobiographische Erinnerungsromane: Die Pluralisierung der Erinnerung und Identität 4.1 „Go, [...] build your own memories": Der verweigerte memory talk in Anita Rau Badamis Tamarind Woman (1996) 4.2 Mediale Erinnerungskonkurrenzen in Guy Vanderhaeghes The Engäshman 's Boy (1997)
348 349 366 384 405
4.
412 413 428
XII
Inhaltsverzeichnis
4.3 Tendenzen des soziobiographischen Erinnerungsromans 5.
Ausblick: Der Metamnemonische Roman. Erinnerungshybridisierungen und -metaisierungen in Michael Ondaatjes Running in the Family (1982)
448
453
V. Schlussbetrachtung: Fictions of Memory und Memories of Fiction
463
Literaturverzeichnis Personenregister Sachregister
477 503 504
I.
Einleitung 1. Fictions ofMemory: Die Allgegenwart von Erinnerung und Identität in Literatur(-) und Kulturwissenschaft Die Themen Erinnerung und Identität sind in der zeitgenössischen Erzählliteratur ebenso allgegenwärtig wie in wissenschaftlichen Diskursen. Vor allem in den so genannten New English Literatures, zu denen auch die kanadische Literatur zählt, sind eine verstärkte Auseinandersetzung mit dem kulturellen Erbe sowie eine zunehmend kritische Reflexion der Grundprobleme der sinn- und identitätsstiftenden Vergangenheitsaneignung zu beobachten. Eine Vielzahl zeitgenössischer kanadischer Romane stellt dar, wie Individuen und Gruppen sich erinnern, wie sie vergessen und wie sie auf der Grundlage von oftmals ephemeren Vergangenheitsversionen Identitäten imaginieren. Gemeinsam ist all diesen Werken, dass sie die wechselseitige Durchdringung von Erinnerungen, Identitäten und Narrationen in ihrer individuellen bzw. kollektiven Dimension vor Augen fuhren und dass sie Fragen nach dem spezifischen Leistungspotential von Erinnerungen in den Vordergrund rücken: Wie lässt sich die Vergangenheit auf der Basis von polyvalenten, sogar trügerischen Erinnerungen sinnstiftend aufbereiten und welche Rolle spielen Erzählungen für die Stiftung von biographischer Kontinuität? Nach welchen Kriterien werden individuelle und kollektive Erinnerungen verfügbar gehalten und angeeignet, andere abgestoßen oder umgeformt? Welche Erinnerungen tragen zur Stabilisierung der Identität bei und welche wirken unter Umständen destabilisierend und identitätszersetzend? Ziel der vorliegenden Studie ist zu zeigen, dass im zeitgenössischen kanadischen Roman eine derart ausgeprägte Hinwendung zu dem Zusammenhang von Erinnerung, Identität und Narration zu verzeichnen ist, dass mit Fug und Recht von der Entstehung einer neuen, veritablen .Gedächtnisgattung' gesprochen werden kann: den fictions of memory} Die Bedeutung, die Erinnerungen für die Identitätskonstitution zukommt, wird natürlich nicht nur in der Literatur ausgelotet. Auch im wissenschaftlichen Bereich setzen sich seit Ende der 1980er Jahre zahlreiche Forschungsansätze mit dem vielschichtigen Zusammenhang von Erinnerung und Identität auseinander. Vor allem die Kulturwissenschaften beschäftigen sich verstärkt mit dem Konzept
1
Vgl. zu dem Begriff der Gedächtnisgattung Erll/Nünning (2003, S. lOf.), Müller-Zettelmann (2004) sowie Humphrey (2005).
2
Einleitung
des kollektiven Erinnerns und diskutieren Funktionen, Möglichkeiten und Grenzen retrospektiver Sinnstiftung. Im Zentrum des Interesses stehen Erinnerungskulturen, also historisch und kulturell variable Formen der kollektiven Vergangenheitsund Selbstdeutung. Hiermit verbunden sind nicht nur die Erforschung der Besonderheiten kollektiver Erfahrungsverarbeitung, sondern auch zentrale Fragen nach der Bedeutung der geteilten Erinnerung für die Stiftung überindividueller Identitäten. Dass die Auseinandersetzung mit Formen und Funktionen der geteilten Vergangenheitsauslegung regelrecht zu einem ,,neue[n] Paradigma der Kulturwissenschaft" (J. Assmann 2000 [1992], S. 11) werden konnte, verdankt sich maßgeblich dem interdisziplinären Interesse an der Gedächtnistheorie und -forschung. Vertreterinnen verschiedenster Disziplinen — von der Psychologie, Philosophie und Neurowissenschaft über Sozial- und Geschichtstheorien bis hin zur Kunst- und Religionswissenschaft — arbeiten an dem Versuch, die Spezifika des kollektiven Gedächtnisses zu theoretisieren und den Zusammenhang von Erinnern und Identität zu spezifizieren.2 Stehen in den Kulturwissenschaften vor allem Fragen nach der kollektiven Gedächtnisbildung im Vordergrund, so widmen sich sozial- und narrationspsychologische Ansätze den Spezifika der persönlichen Erinnerung und der konstitutiven Rolle, die Erinnerungen für die individuelle Identitätskonstitution spielen. Zur Grundthese dieser Theorien zählt, dass Erinnerungen vergangene Erfahrungen nicht .Wiederaufleben* lassen, sondern sie nach Maßgabe gegenwärtiger Bedingungen und subjektiver Sinnbedürfnisse rekonstruieren. Zwar steht mit dieser Rekonstruktivität die Authentizität von Erinnerungen in Frage; allerdings wird diese .spezifische Wahrheit von Erinnerungen' als zentrale Voraussetzung für eine identitätsstiftende Aneignung der individuellen Vergangenheit angesehen: „Identität wird gestaltet, ja konstruiert durch Erinnerung" (Rüsen 1998, S. 22). Die diachrone Dimension der Identität ist dabei unweigerlich an das Erzählen von Geschichten gebunden: Erst diese sprachliche Praxis ermöglicht die Bearbeitung von temporaler Differenz und damit die Schaffung von biographischer Kontinuität. Erzählend organisieren, interpretieren und reinterpretieren Individuen ihre Erfahrungsrealität und stabilisieren auf dieser narrativen Basis ihr autobiographisches Bewusstsein. Selbsterzählungen bilden keinen vorgängigen Wesenskern ab, sondern erzeugen
2
Vgl. stellvertretend für zahlreiche weitere interdisziplinär angelegte Publikationen Schmid (1985), Assmann/Hölscher (1988), Butler (1989), Assmann/Harth (1991a, 1991b), Haverkamp/Lachmann (1991, 1993), Oexle (1995), Schacter (1995a), Antze/Lambek (1996), Berns/Neuber (1996), Hirsch (1997), Öhlschläger/Wiens (1997), Sturken (1997), Weinrich (1997), Tholen/Weber (1997), Assmann/Weinberg/Windisch (1998), Olick/Robbins (1998), Rüsen/Straub (1998), Straub (1998a), Bal/Crewe/Spitzer (1999), Wettengl (2000), Borsö/Krumeich/Witte (2001), Brockmeier/Carbaugh (2001), Oesterle/Tausch (2001), Welzer (2001a), Echterhoff/Saar (2002a), Caldicott/Fuch (2003), Holl (2003), Sandl/Schmidt (2003), Nünning/Erll (2004), Oesterle (2005) sowie die Artikel in der Ausgabe 13,2 der Zeitschrift Erwägen, Wissen, Ethik (J. Assmann 2002b; A. Assmann 2002), die sich disziplinenspezifisch mit der Assmannschen Gedächtnistheorie auseinander setzen.
Die Allgegenwart von Erinnerung und Identität
3
Kontinuität und die damit verbundenen Identitätsaspekte. Der Eindruck, über ein kohärentes und kontinuierliches Selbst zu verfugen, beruht daher im Wesentlichen auf „a fiction of memory" (Eakin 1999, S. 95). Das breite Spektrum literarisch inszenierter Konzepte von Erinnerung und Identität ist auch für die Literaturwissenschaft Anlass, sich dieses Themenkomplexes anzunehmen und die Leistungen zu untersuchen, die Literatur für die Erinnerungskultur erfüllen kann. Mit zahlreichen Einzelstudien und Sammelbänden hat sie eine Vielfalt von Beiträgen zu diesem Themenfeld geleistet und sich an der interdisziplinären Gedächtnisforschung beteiligt.3 Im Zentrum stehen dabei die ästhetischen Dimensionen von Gedächtnis. Diese Studien vermochten dem vielfältigen und komplexen Zusammenhang von Literatur, Erinnern, Identität und Kultur allerdings nur in wenigen Fällen gerecht zu werden. 4 Eine theoretische Konzeptualisierung des Verhältnisses von Literatur, Erinnerung und Identität, die sowohl das Spektrum textinterner Inszenierungen als auch die produktive Rolle der literarisch entworfenen Erinnerungs- und Identitätskonzepte in der Erinnerungskultur systematisch beschreiben kann, steht bis heute noch aus. Wenn die Literaturwissenschaft narrativen Inszenierungen von Erinnerung und Identität sowie den vielfältigen Funktionen, die Literatur für die Erinnerungskultur erfüllen kann, bislang nicht angemessen Rechnung tragen konnte, so scheint dies auf drei Gründen zu beruhen. Nicht nur in der kanadischen, sondern auch in anderen anglophonen Literaturen ist im letzten Jahrzehnt die Anzahl von Romanen sprunghaft angestiegen, die sich mit dem Zusammenhang von Erinnerung und Identität beschäftigen. 5 Doch fehlen erstens bislang Begriffsbestimmungen und Gattungsdefinitionen, die zu einem besseren Verständnis dieses unübersichtlichen Gegenstandsbereichs beitragen könnten. Zwar ist mittlerweile eine Reihe von Aufsätzen zum Thema erschienen; diese beschränken sich allerdings jeweils auf bestimmte Autoren oder auf spezifische Formen des individuellen bzw. kollektiven Bezugs auf Vergangenes. Eine umfassende Darstellung der rekurrenten Themen, der dominanten Erscheinungsformen der .Erinnerungsliteratur' sowie der formalen und inhaltlichen Besonderheiten dieses Genres liegt bis heute nicht vor. Zweitens haben literaturwissenschaftliche Studien bislang nicht hinreichende Kenntnis von der interdisziplinären Gedächtnisforschung und deren terminologi3
Vgl. wieder stellvertretend für weitere Studien, die sich der literarischen Darstellung individueller und kollektiven Erinnerung widmen Düsing (1982), Robin (1989), Singh/Skerrett/Hogan (1994, 1996a), Glomb (1997), Butzer (1998), Peil/Schilling/Strohschneider (1998), Wägenbaur (1998), Kurz (1999, 2000), Pethes (1999), Petty (1999), Berndt (1999), Henke (2001), die Bände der Reihe Literature as Cultural Memory (D'haen/Krüs; Ibsch; Neubauer; van Gorp; Vervliet, D'Hulst; Seixo, alle 2000), Magoe (2001a), Peterson (2001), sowie die Aufsätze in Gomille/Stierstorfer (2003), Hebel (2003), Erll/Gymnich/Nünning (2003), Nünning (2003a) sowie Erll/Nünning (2005). Vgl. außerdem Neumann (2003, 2005).
4
Vgl. aber die Studie von Erll (2003a), die erstmals die Rolle, die Romane als Medium der Erinnerungskultur spielen können, theoretisch fundiert erörtert. Zu diesem Befund vgl. exemplarisch die Aufsätze von Basseler (2003), Birke (2003), Gymnich (2003), Henke (2003), Nünning (2003 b, 2003c) und Humphrey (2004).
5
4
Einleitung
sehen und konzeptuellen Differenzierungen genommen. Literaturwissenschaftliche Abhandlungen bleiben häufig erstaunlich unberührt von theoretischen Einsichten und zeichnen sich allzu oft durch einen rein alltagssprachlichen Gebrauch der Begriffe ,Erinnerung', .Identität' und .Narration' aus. Sie beschränken sich oftmals darauf, die konstitutive Interdependenz zwischen Erinnerung und Identität festzustellen, ohne allerdings unterschiedlichen Formen und Funktionen des Vergangenheitsbezugs Rechnung zu tragen. Eine Kenntnisnahme von sozialpsychologischen und kulturwissenschaftlichen Theorien ist nicht nur zentrale Voraussetzung dafür, das Spektrum literarisch inszenierter Erinnerungs- und Identitätsmodelle differenziert beschreibbar zu machen. Sie bildet überdies die Grundlage für die interdisziplinäre
Anschließbarkeit
literaturwissenschaftlicher
Ansätze
an
die
aktuellen
kulturwissenschaftlichen Forschungen zu Erinnerung, Identität und Narration. Drittens schließlich tragen nur wenige literaturwissenschaftliche Abhandlungen zum Themenkomplex Erinnern und Identität dem dialogischen Verhältnis von Literatur und Kultur Rechnung. D e r Fokus des Interesses liegt zumeist ausschließlich auf dem Symbolsystem Literatur und der textinternen Konstitution bzw. Inszenierung von Gedächtnis.
In dieser Forschungstradition
stehen zum
einen
Intertextualitätstheorien, die die Rückbezüglichkeit literarischer Werke auf andere T e x t e und Gattungen metaphorisch als das .Gedächtnis der Literatur' konzeptualisieren (vgl. Lachmann 1990), und zum anderen Untersuchungen zu thematischen und strukturellen Besonderheiten der Inszenierung von individuellem bzw. kollektivem Gedächtnis in der Literatur. Beiden Forschungsansätzen allerdings liegt ein Verständnis von Literatur als weit gehend geschlossenem, selbstbezüglichem Symbolsystem zugrunde. Dass Literatur Teil der übergeordneten Erinnerungskultur ist, sie mit anderen kulturellen Systemen interagiert und auch als Sozialsystem wirksam werden kann, 6 das ein breites Spektrum erinnerungskultureller Funktionen erfüllt, gerät in diesen Ansätzen nicht in den Blick. Dieses Defizit können auch kulturwissenschaftliche Gedächtnistheorien, wie sie von J a n und Aleida Assmann oder von Pierre Nora formuliert wurden, nur bedingt kompensieren. Zwar lenken diese Ansätze das Augenmerk auf die gesellschaftlichen Funktionen, die Literatur für die Erinnerungskultur erfüllen kann. Allerdings stellen beide Theorieentwürfe fiktionale T e x t e unterschiedslos neben Medien anderer Symbolsysteme und nivellieren damit die Besonderheiten
des
Symbolsystems Literatur als eigenständige Ausdrucksform kollektiver Sinn- und Selbstdeutung. Hinzu kommt, dass sowohl mit der Assmannschen als auch mit der Noraschen Theoriebildung nur solche literarischen Werke zu fassen sind, die Teil eines etablierten Literaturkanons sind und die für die Erinnerungskultur normative Identitätskonzepte zur Verfügung stellen. D e r Beitrag, den Literatur zur Erinnerungskultur leisten kann, reduziert sich allerdings weder auf einen Bildungskanon, noch erschöpft er sich in der Perpetuierung von verbindlichen Normen. 6
Z u der Unterscheidung von Literatur als .Symbolsystem' und als .Sozialsystem' vgl. Schmidt
(2000).
Die Allgegenwart von Erinnerung und Identität
5
Zentrales Ziel dieser Studie ist zu illustrieren, dass zeitgenössische kanadische Romane den Zusammenhang von Erinnerung, Erzählung und Identität auf vielfältige Weise explorieren, ein Spektrum von Identitäts- und Erinnerungsmodellen entwerfen und damit für die Erinnerungskultur eine Reihe von Orientierungs- und Stabilisierungsfunktionen erfüllen können. Fiktionale Gedächtniswelten verweisen auf präexistente symbolische Ordnungen und können umgekehrt — bei entsprechender rezipientenseitiger Aneignung - kulturelle Vorstellungswelten beeinflussen. Literatur, so die zugrunde liegende These, steht in einem dialogischen Verhältnis zu außerliterarischen Diskursen: Sie nimmt auf das Repertoire kulturell verfügbarer Erinnerungsinhalte und Wissensordnungen Bezug, bringt Inhalte und Funktionsweisen von individuellem und kollektivem Gedächtnis mit unterschiedlichen ästhetischen Verfahren zur Darstellung und kann damit die Erinnerungskultur mitgestalten. Literarische Werke formen individuelle und kollektive Vergangenheitsversionen und Identitätskonzepte aktiv mit. 7 Um das breite Spektrum narrativ inszenierter Vergangenheits- und Identitätsmodelle in den Blick zu bekommen und der dialogischen Bezogenheit von Literatur auf die Erinnerungskultur Rechnung zu tragen, erscheint eine Integration sozialpsychologischer und kulturwissenschaftlicher Gedächtnistheorien innerhalb eines literaturwissenschaftlich fundierten Bezugsrahmens als zentrales Forschungsdesiderat. Sozialpsychologische und kulturwissenschaftliche Gedächtnistheorien stellen differenzierte Analysekategorien zur Verfugung, um das literarisch inszenierte Zusammenspiel von Erinnerung und Identität theoretisch fundiert zu erfassen. Die Verknüpfung dieser Gedächtnistheorien mit literatur- und kulturwissenschaftlichen Modellen kann dazu beitragen, das dialogische Verhältnis von Romanen zur Erinnerungskultur zu beschreiben und die Spezifika des Symbolsystems Literatur zu erfassen. Um das erinnerungskulturelle Funktionspotential von Literatur begreifbar zu machen, gilt es, den Fokus konsequent auf die Merkmale dieses Symbolsystems zu richten. Literarische Werke können in der Erinnerungskultur Wirksamkeit entfalten, weil sie an vorgängige Referenzwelten gebunden bleiben; sie können für die Erinnerungskultur besondere Leistungen erfüllen, weil sie als fiktionale Medien über spezifische „Innovationsräume" (Finke 2003, S. 272) verfugen. ***
Um den Gegenstandsbereich einer Studie zur narrativen Inszenierung von Erinnerung, Erzählung und Identität in zeitgenössischen kanadischen Romanen zu bestimmen, bedarf es angemessener Begrifflichkeiten. Zunächst ist daher in einem kurzen Uberblick zu präzisieren, wie sich bisherige Forschungsansätze der Erzählliteratur annehmen, die die Erinnerungs- und Identitätsstiftung zum Thema macht. 7
Vgl. Helms (2003, S. 6), die das Leistungspotential von Literatur prägnant beschreibt: „[NJovels are not simply reflections of social attitudes, caught in a one-directional relationship; rather, novels themselves contribute significantly to cultural attitudes and references and thus help to consolidate social visions or encourage resistance."
6
Einleitung
Viele literaturwissenschaftliche Abhandlungen fokussieren zwar den literarisch dargestellten Zusammenhang von Identität und Erinnerung und konstatieren eine verstärkte Hinwendung zu diesem Thema im zeitgenössischen Roman, versäumen es allerdings, diese innovativen Tendenzen terminologisch präzise zu beschreiben und gattungstheoretisch zu spezifizieren. 8 Die Problemfelder Erinnerung und Identität stehen allerdings in einem konstitutiven Zusammenhang zu narrativen Grundmustern und konventionalisierten Kodierungsformaten und können daher ohne Berücksichtigung von gattungsspezifischen Strukturen nicht adäquat erfasst werden (vgl. van Gorp/Musarra-Schroder 2000b, S. iii). Gattungsspezifische Formen präformieren die Bedeutung des Erinnerten und haben damit durchgreifende Implikationen für die Gestaltung von individueller und kollektiver Identität. Friedrich Ohly (1984, S. 33) ist daher zuzustimmen, wenn er betont: „Die [...] Gattungsgebundenheit der Arten und Wahlen des [...] Gedächtnisses haben wir von den Quellen nicht abzustreifen, sondern vielmehr gelten zu lassen, um das jeweils Besondere zu fassen." Zahlreiche andere Studien subsumieren Romane, die sich mit dem Thema Erinnerung und Identität auseinander setzen, unterschiedslos unter die Gattung des historischen Romans bzw. unter verschiedene Spielarten wie den revisionistischen historischen Roman oder historiographische Metafiktion. 9 Eine derartige Gleichsetzung droht allerdings den Blick auf gattungsspezifische Besonderheiten und Leistungspotentiale eher zu verstellen, als dass sie zur Erhellung des Gegenstandsbereichs beitragen könnte. So scheint sich nicht nur im zeitgenössischen kanadischen Roman, sondern auch in anderen anglophonen Literaturen ein regelrechter Paradigmenwechsel zu vollziehen — weg von Fragen der Historiographie und damit verbundenen Problemen wie der (fehlenden) Objektivität hin zu Erinnerung und einer offen eingestandenen und als positiv, weil als sinn- und identitätsstiftend konzipierten Subjektivität: „Most recently", so auch der Befund von Christoph Henke (2003, S. 77), „the focus seems to have shifted, in [...] literary fiction [...] from history to memory, and along with it, to questions of identity, be it individual, collective, national, or cultural." Zweifelsohne bestehen zwischen historischen Romanen und solche Werken, die die Erinnerungsthematik (zumal in ihrer kollektiven Dimension) fokussieren, zahlreiche Parallelen, Interdependenzen und Wechselwirkungen. Eine wissenschaftlich konzise Unterscheidung zwischen diesen Gattungen gestaltet sich daher mindestens ebenso schwierig wie Versuche, .Gedächtnis' von .Geschichte' abzugrenzen. So sind sowohl historische Romane als auch Texte, die Erinnerungen inszenieren, auf die diachrone Dimension der Kultur bezogen und 8
Vgl. stellvertretend für andere Düsing (1982), Petty (1999), Birke (2003) und Henke (2003). Löschnigg (1999, S. 175) ist daher völlig zuzustimmen, wenn er zu d e m Schluss gelangt, dass die Bereiche „Erinnerungsproblematik und generische Fragen [...] in der bisherigen Forschung erstaunlicherweise weit gehend getrennt behandelt wurden".
9
Vgl. stellvertretend für andere Erichsen (2001), Henke (2001), Wyile (2002) und Helms (2003), die in ihren Studien Erinnerungsliteratur undifferenziert neben historische Romane stellen und damit signifikante formale Unterschiede und ästhetische Funktionspotentiale einebnen.
Die Allgegenwart von Erinnerung und Identität
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zeichnen sich durch ihr Operieren mit kopräsenten Zeitperspektiven aus. In beiden Gattungen schlägt sich diese Temporalisierungsfunktion in einem Spannungsverhältnis zwischen dem Damals und dem Heute nieder (vgl. Demetz 1964; Nünning 1995a, S. 107; Löschnigg 1999): Es geht um Gewordenes, Bleibendes und Vergängliches in der narrativ erzeugten Zeit. Sowohl .Erinnerungsromane' als auch historische Romane sind demnach als spezifisch literarische Weisen der „Sinnbildung über Zeiterfahrung" (Rüsen 1994, S. 160; vgl. auch Nünning 1995a, S. 109) zu verstehen.10 Während allerdings historische Romane auf den „Diskurs und die Erkenntnisse der zeitgenössischen Geschichtstheorie" (Nünning 2003c, S. 253) bezogen sind und Fragen nach der Zuverlässigkeit, Objektivität und Textualität der rekonstruierten Vergangenheit stellen, stehen Romane, die Erinnerungen inszenieren, in einem dialogischen Verhältnis zu Formen und Inhalten der extraliterarischen Erinnerungskultur sowie zu gedächtnistheoretischen Diskursen. In Romanen, die die Erinnerungsthematik fokussieren, geht es nicht um Fragen nach der vermeintlichen Objektivität von rekonstruierten Vergangenheiten oder um die unhintergehbare Selektivität von tradiertem Wissen, sondern um das sinn- und identitätsstiftende Potential von erinnerten — und dies bedeutet stets auch aktiv konstruierten — Vergangenheiten. Das Erzählte bzw. die diegetische Welt wird weit gehend in der erinnernden Rückschau eines sinnstiftenden Subjekts hervorgebracht (vgl. Löschnigg 1999, S. 183). Die erinnerte Vergangenheit ist von hoher affektiver Relevanz für das gegenwärtige Selbstverständnis der sinnstiftenden Figur. .Erinnerungsromane' erschließen Vergangenheiten immer mit Blick auf die Funktionen, die sie im Hier-und-Jetzt für die Identitätsbildung des Einzelnen oder eines Kollektivs zu erfüllen vermögen. Wir haben es in solchen Romanen typischerweise mit aktiv deutenden und umdeutenden Instanzen zu tun, die einen kontinuitätsstiftenden Bogen zwischen Vergangenem und Gegenwärtigem zu schlagen und diachrone Veränderungen im Lichte aktueller, subjektiver bzw. gruppenspezifischer Bedingungen aufzubereiten versuchen. Andere Studien wiederum versuchen der verstärkten Hinwendung zu den Themen Erinnerung und Identität im Medium der Fiktion auch durch die Prägung neuer Begrifflichkeiten gerecht zu werden. In der Forschungsliteratur kursieren die Begriffe literatures of memory (Middleton/Woods 2000), narratives of memory and identity (Petry 1999), roman memoriel (Robin 1989), fiktionale Autobiographie (Löschnigg 1999), family chronicle (Humphrey 2004), .Gedächtnisort' Roman P e h n e 2002) sowie der Begriff fictions of memory, der von Kremer (2000 [1999]) nur erwähnt und von Nünning (2003b) begrifflich erläutert wird. Der Terminus fictions of memory wird 10
Die von Humphrey (2004, S. 388) vorgeschlagene Differenzierung zwischen der family chmnick und dem historischen Roman greift daher zu kurz: „The historical novel offers a cross-section of society at a fixed point in the past: its structure is one of the simultaneity of the non-simultaneous — which leads to the many time conflicts it contains [...]. The family chronicle offers a longitudinal section from the past right through to the present. The historical novel is thus a latitudinal genre, the family chronicle a longitudinal."
Einleitung
8
in dieser Studie als übergreifender Gattungsbegriff zur Bezeichnung von Romanen aufgegriffen, die die konstitutive Interdependenz von Erinnerungen und Identitäten - sei es in der individuellen oder kollektiven Dimension — inszenieren.11 Dieser Begriff hat zwei zentrale Vorteile. Erstens ermöglicht er eine thematische Annäherung an den Gegenstandsbereich, ohne dabei eine vorschnelle Einengung auf bestimmte Fragestellungen, Genres bzw. Formen des Vergangenheitsbezugs vorzunehmen, wie dies bei den Termini family chronicle oder fiktionale Autobiographie der Fall ist. Wie der gattungstypologische Uberblick über zeitgenössische Romane in Kanada im textanalytischen Teil illustriert, stellen zwar einige Werke autobiographische Erinnerungsprozesse dar, andere wiederum gruppen- oder familienspezifische Formen der Gedächtnisbildung. Die Festlegung auf eine einzige Form bzw. ein spezifisches Genre kann der Vielfalt literarisch inszenierter Gedächtniswelten jedoch nicht gerecht werden. Mit ihrem bewusst weit gefassten Fiktionsbegriff vermag die Bezeichnung yzrf/ons of memory zweitens der dialogischen Bezogenheit von Literatur auf ihren soziokulturellen Entstehungskontext Rechnung zu tragen. Fiktionen umfassen sowohl fiktionale Texte und die in ihnen entworfenen Vergangenheitsmodelle (also die vom Gedächtnis konstruierten Fiktionen über die Vergangenheit) als auch kulturell kursierende Vergangenheitskonstrukte, geteilte Wertevorstellungen und Sinnstiftungsstrategien, aus denen sich literarische Texte speisen. Ein Zitat von Ansgar Nünning (2003b, S. 5) bringt dies anschaulich zum Ausdruck: In their entirety these fictions constitute that culturally sanctioned system of ideas, beliefs, presuppositions, and convictions which constitutes [...] mentalities. Such ideological fictions are closely connected with literary fictions because they find their most succinct expression in conventional plot-lines, myths, and metaphors [...]. Mit dieser Erläuterung ist eine erste thematische Annäherung an den bislang unerforschten Gegenstandsbereich der fictions of memory erreicht. Um den Begriff zu präzisieren und ihn als Gattungsbegriff zu etablieren, müssen weitere, terminologische, konzeptuelle, formale und schließlich funktionale Bestimmungen erfolgen. Erstens gilt es, den zweiten Teil der Bezeichnung, den Begriff memory, so zu spezifizieren, dass er dem breiten Spektrum der literarisch inszenierten Formen und Funktionen des Vergangenheitsbezugs gerecht wird. Daher werden im Theorieteil dieser Arbeit sozialpsychologische und kulturwissenschaftliche Konzepte von 11
Gattungen werden in dieser Studie mit Suerbaum (1993, S. 83) als „eine Gruppe von Texten mit gemeinsamen Merkmalen, ein Untersystem im System der Literatur, das seinerseits in das Gesamtsystem sprachlicher Texte eingeordnet ist", verstanden. Präzisieren lässt sich dieser Gattungsbegriff mit
Hempfer
(1973, S.
27)
als eine
historisch
und
kulturell
konkrete
Realisation
„ahistorischejr] Konstanten wie das Narrative, das Dramatische, das Satirische usw.". Als „Kommunikationssysteme" (Suerbaum 1993, S. 94) bzw. „soziokulturelle, literarisch-soziale Konsensbildungen" (Voßkamp 1992, S. 256) sind Gattungen natürlich stets auch an den rezipientenseitigen Erwartungshorizont gebunden und somit als historisch und kulturell variable Phänomene bzw. Konstrukte anzusehen.
Die AUgegenwart von Erinnerung und Identität
9
Gedächtnis und Erinnerung sowie deren Implikationen für die Identitätsbildung dargelegt. Sie bilden einen theoretischen Bezugsrahmen für die Interpretation ausgewählter kanadischer fictions of memory. Zweitens müssen das Verhältnis der fictions of memoiy zu ihrem soziokulturellen Entstehungskontext und ihre dominanten Referenzfelder bestimmt werden. Drittens gilt es, formalästhetische Besonderheiten, derer sich fictions of memory zur Erzeugung ihrer Gedächtniswelten bedienen, aufzuzeigen und ihr textuelles Wirkungspotential zu definieren. Viertens müssen die Leistungen, die fictions of memory als fiktionales Sinnstiftungsmedium für die Erinnerungskultur erbringen können, beschrieben werden. Fictions of memoiy, so die These dieser Studie, sind in thematischer, formaler und funktionaler Hinsicht auf vielfältige und komplexe Weise mit extraliterarischen Erinnerungspraxen und -diskursen verwoben. Sie stellen — individuell und kollektiv erinnerte - Vergangenheiten in einem als fiktional ausgezeichneten Raum dar, reflektieren die Bedingungen der sinnstiftenden Rekonstruktion von Erinnerungen und vermitteln neue Vorstellungen von Erinnerung und Identität. Durch die Reintegration unterschiedlichster Erinnerungen, die Inszenierung der identitätsstiftenden und potentiell identitätszersetzenden Prozesse der Vergangenheitsaneignung sowie durch die Problematisierung der Gedächtnisbildung sind fictions of memory in nicht unwesentlichem Maße an der gesellschaftlichen Herausbildung, Modifikation und Reflexion von Erinnerung und Identität beteiligt. Um die gesamte Bandbreite der literarisch inszenierten Entwürfe kollektiver und individueller Vergangenheiten zu reflektieren, soll schließlich unter Rückgriff auf formästhetische Analysekategorien eine gattungstypologische Differenzierung zwischen vier unterschiedlichen Erscheinungsformen der zeitgenössischen kanadischen fictions of memory vorgenommen werden. Die gattungstypologische Darstellung unterstellt keine wissenschaftliche Vollständigkeit, sondern soll eine umfassende Bestandsaufnahme der kanadischen fictions of memory ermöglichen und so zu einem besseren Verständnis dieser noch kaum untersuchten Gedächtnisgattung beitragen.
2. Kanadische Fictions of Memory. „The fiction makes us real" Obgleich die kanadische Literatur nicht zuletzt angesichts ihrer zunehmend multiethnischen Konstitution und internationalen Orientierung heute vielfältiger und facettenreicher denn je ist, scheint sie doch in besonderem Maße von einem Thema geprägt zu sein: der Hinwendung zur erinnerten Vergangenheit. ,,[C]ontemporary Canadian historical novelists have been engaged in coming to terms with both the present and the past." (Wyile 2002, S. xi) Seit Beginn der 1980er Jahre ist ein solch sprunghafter Zuwachs an Erinnerungsfiktionen zu verzeichnen, dass der kanadischen Literatur in der Literaturkritik eine regelrechte ,Obsession' mit der Vergangenheit (vgl. Löschnigg/Löschnigg 2001, S. 74) attestiert wird. Werke wie Jane Urquharts Away (1993), Mordecai Richlers Barney's Version (1997), Joy Kogawas Obasan (1981), Alistair MacLeods No Great Mischief (1999), Margaret Atwoods Cat's Eye (1988) oder Guy Vanderhaeghes The Englishman's Boy (1997) loten die konstitutive Rolle aus, die der Erinnerung für die Stiftung von individueller ebenso wie kollektiver Identität zukommt und erproben unterschiedlichste Vergangenheits- und Identitätsentwürfe. Dass zahlreiche dieser Werke mit dem General Governor's Award, Kanadas wichtigstem Literaturpreis, ausgezeichnet worden sind, zeigt, dass die Themen Erinnerung und Identität in Kanada zu einem Kulturthema ersten Ranges avanciert sind: ,,[T]he current proliferation and popularity of Canadian literature on historical subjects [...] suggests a very public concern with increasing Canadians' consciousness of their history." (Wyile/ Andrews/Viau 2002, S. 8) Romane, die sich mit Vergangenheiten und deren Bedeutung für die Identitätskonstitution, zumal der kollektiven, beschäftigen, spielen seit jeher eine zentrale Rolle für die kanadischen Literatur: „Indeed, historical fiction has played a crucial role in the development of a distinctively Canadian literature." (Ebd.) Dennoch unterscheiden sich die zeitgenössischen fictions of memory in verschiedener und signifikanter Hinsicht von den Vergangenheitsliteraturen, die die kanadische Literatur noch in den 1960er und 1970er Jahren prägten: „War der kanadische Roman der 1960er und 70er Jahre vielfach von einer Unsicherheit bezüglich der nationalen und kulturellen Identität Kanadas geprägt" (Löschnigg/Löschnigg 2001, S. 74), so setzt sich seit den 1980er Jahren die Uberzeugung durch, dass die kollektivnationale Identität ein durch und durch plurales Konstrukt ist, das sich Unifizierungsversuchen entzieht (vgl. Helms 2003, S. 5). Ein summarischer literaturhistorischer Abriss soll diese Entwicklungstendenz skizzieren, um so die Besonderheiten und virulenten Fragen, die von zeitgenössischen fictions of memory aufgeworfen werden, in den Blick zu bekommen und das Erkenntnisinteresse dieser Studie zu präzisieren. Sucht man nach einem Grund für die verstärkte Beschäftigung mit Vergangenheits- und Identitätskonstruktionen im kanadischen Roman, so besteht dieser am ehesten darin, dass die kanadische Literatur den Status einer so genannten ,neuen englischsprachigen' Literatur hat. Die kanadische Literatur hat sich in kom-
Fictions of Memory
11
plexen Abgrenzungsprozessen von dem britischen Mutterland einerseits und den kulturell dominierenden Kräften der Vereinigten Staaten andererseits, stets im „Bewußtsein des Andersseins" (Pache 1996, S. 520), entwickelt. Das literarische Bemühen um Abgrenzung von der imperialen Norm und das damit assoziierte Bestreben nach einer eigenständigen - und das heißt in diesem Falle einer postkolonialen - kanadischen Identität finden in zahlreichen Versuchen, die koloniale Geschichte im Medium der Fiktion .umzuschreiben', ihren deutlichsten Niederschlag. Einen so genannten „Dauerbrenner" (Groß 1992, S. 193) innerhalb der Literatur stellt die Frage dar, wie sich eine eigenständige kanadische Identität etablieren lässt. Die Antwort hierauf lautet aus postkolonialer Sicht: durch die Konstruktion einer symbolisch verdichteten Vergangenheit, durch die selbstreflexive, oftmals selbstironische Schaffung literarischer Mythen. Da das Bewusstsein für die eigene Identität vor allem in der Geschichte kodiert ist, werden historische Romane, allen voran die so genannte historiographische Metafiktion (Hutcheon) bzw. die metahistoricalparody (Kuester), in Kanada fortan zum wichtigen Vehikel für die Konstitution eines gemeinschaftlichen Vergangenheitsbewusstseins. Romane von Robert Kroetsch, Susan Swan, Robertson Davies, Gwendolyn MacEwen oder George Bowering, um nur einige Autorinnen zu nennen, haben einen substantiellen Beitrag dazu geleistet, die Geschichte und Identität einer als ,mythenlos' wahrgenommenen Nation („A Country without Mythology", so der Titel eines von Douglas Le Pan im Jahre 1948 erschienenen Gedichts) zu erfinden. 12 Das Unterfangen, die kanadische Geschichte im Medium der Fiktion zu erschaffen und auf dieser imaginierten Vergangenheit die nationale Identität zu fundieren, bringt Robert Kroetsch (1970, S. 63) in aller Deutlichkeit auf den Punkt: „In a sense we haven't got an identity until somebody tells our story. The fiction makes us real." Nicht zuletzt vorangetrieben durch eine thematisch orientierte Literaturkritik, die poietisch entworfene Bilder, Mythen und Themen als Chiffren einer monolithischen Nationalidentität deutete, wird der Literatur in diesen Dekaden ein bedeutsamer kultureller Auftrag zugewiesen: Durch die Erschaffung einer kollektiven Vergangenheit - einer .fiction of memory' - soll sie ein gemeinschaftsstiftendes Identitätsbewusstsein etablieren.13 Während der literarische Nationalismus der 1960er und 1970er Jahre nach einer einheitlichen Formel für eine allumfassende kanadische Identität suchte, ist die 12
Vgl. in diesem Zusammenhang z.B. die Studien von Hutcheon (1988a, 1988b), Kuester (1992), Vautier (1998) sowie Colavincenzo (2003). Die Tendenz zur mythischen Verdichtung der Vergangenheit stellt Colavincenzo (2003, S. xxii) als signifikantes Merkmal der kanadischen Literatur heraus: „The repeated presence of this mythic impulse in [...] Canadian fiction is too obvious to be ignored".
13
Deutlichster Ausdruck der thematisch orientierten Literaturkritik sind simplifizierende Erklärungsmodelle für die kanadische Identität/Literatur wie das der .Garnisonsmentalität' (Frye) oder der .Opfermentalität' bzw. des .survival' (Atwood). Vgl. zu diesem Aspekt Groß (1992, S. 193) sowie Kuester (2000, S. 280). Zu einer Kritik an der thematischen Literaturkxitik vgl. Davey (1993).
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Einleitung
kanadische Literatur spätestens seit den 1980er Jahren durch einen zunehmenden Pluralismus unterschiedlicher literarischer Stimmen, durch eine sichtbare Hinwendung zum Partikularen und durch eine verstärkte Reflexion der Probleme der retrospektiven Sinn- und Identitätsstiftung geprägt. Die .zentrifugale Vielstimmigkeit' (Reckwitz) der zeitgenössischen kanadischen Literatur ist nicht zuletzt als Resultat einer sich ihres „multikulturellen Charakters immer bewußter werdenden Gesellschaft" (Klooß 1992, S. 187) anzusehen, die das Bemühen um eine kanadische Identität allmählich durch ein pluralistisches Selbstverständnis ersetzt: On approaching the issue of Canadian identity and its transformation at the turn of the millennium, it seems that .Canadian' can be defined only in term of plurality. [...] Anglo-Canadian literature is more polyphonic and varied than ever, resisting limiting definitions just as the concept of Canadian identity proves to be multifacetted. (Erlter/Löschnigg 2000b, S. 7) Fragen nach der Vergangenheit und der Identität stehen weiterhin im Zentrum der kanadischen Literatur (vgl. Löschnigg 2000, S. 95; Kuester/Keller 2002b, S. 9). Sie werden allerdings auf ganz verschiedenen individuellen und kollektiven Ebenen verhandelt und widersetzen sich jedem Homogenisierungsversuch. Darauf weist Martin Löschnigg (2000, S. 94) in einem grundlegenden Aufsatz zur kanadischen fiktionalen Autobiographie hin: ,,[T]here seems to have been a shift in contemporary Canadian literature from questions of .Canadianness' to questions of individual or communal identity within larger national and international frames." Diese Akzentverschiebung von einer hypostasierten Einheit hin zum Partikularen wird auch maßgeblich dadurch vorangetrieben, dass sich in der zeitgenössischen kanadischen Literatur zunehmend Vertreter und Vertreterinnen kultureller oder ethnischer Minoritäten zu Wort melden, die eigenständige Vergangenheitsversionen entwerfen. Wie Gabriele Helms (2003) in ihrer Studie Challenging Canada zeigt, stellen sie damit auch gesellschaftlich etablierte Vergangenheitsdeutungen und überkommene, nationale Identitätskonzepte nachhaltig in Frage: Many contemporary Canadian novels call into question ideas of Canada as a benign and tolerant country, ,a peaceable kingdom,' a country without history of oppression, violence, or discrimination. They give voice to those previously silenced and resituate those cast as outsiders, thereby exposing the myth of an innocent nation and challenging its hegemonic centre. (Ebd., S. 3) Der zeitgenössische kanadische Roman erprobt ein Spektrum individueller und kollektiver Vergangenheiten, die sich nicht zur abstrakten Synthese einer übergeordneten kanadischen Identität und Geschichte bündeln lassen. Mit der Partikularität und Diversität der literarisch inszenierten Identitäts- und Vergangenheitsmodelle ist eine Verschiebung des Fokus von Fragen der Geschichte hin zur erinnerten, narrativ aufbereiteten Vergangenheit zu beobachten: ,,[T]he works are all concerned with the artistic presentation of memory" (Gross 1992, S. 374). Obgleich die Pluralität der in der kanadischen Literatur inszenierten Vergangenheits- und Identitätsmodelle immer wieder festgestellt wurde und auch die Akzentverlagerung von der Geschichte hin zur Erinnerung vereinzelt Beachtung
Fictions of
Memory
13
gefunden hat, fehlen bislang Versuche, diese Erkenntnisse in einen umfassenden und erinnerungstheoretisch fundierten Bezugsrahmen zu integrieren.' 4 Bestehende Studien liefern zweifelsohne wichtige Impulse für die Untersuchung des Zusammenhangs von Erinnerung und Identität in der zeitgenössischen kanadischen Erzählliteratur. Da sie sich allerdings auf die Analyse von entweder individuellen oder kollektiven Identitätskonstruktionen beschränken und ihnen überdies oftmals reduktionistische Konzepte (wie das writing back, der Entwurf von Gegenidentitäten oder die Pluralisierung der individuellen Identität) zugrunde liegen,15 können sie die Heterogenität der narrativ entworfenen Konzepte von Identität und Vergangenheit in der kanadischen Literatur der Gegenwart nicht hinreichend erfassen. Dort, wo diese Beiträge enden, setzt die vorliegende Studie zu zeitgenössischen kanadischen fictions of memoiy ein. Sie widmet sich einem zentralen Bereich der kanadischen Gegenwartsliteratur, der noch nicht systematisch erforscht ist. Sie untersucht, wie der vielschichtige Zusammenhang von Erinnerung, Identität und Narration in kanadischen Romanen der Gegenwart inszeniert wird, rekonstruiert exemplarisch die Bandbreite der literarischen Erinnerungs- und Identitätsentwürfe und zeigt, dass und wie fictions of memoiy einen eigenständigen Beitrag zur Konstitution und Reflexion von Gedächtnis leisten. Hierbei sollen homogenisierende Konzepte von der gegenwärtigen kanadischen Literatur widerlegt werden. Kanadische fictions of memoiy inszenieren individuelle ebenso wie kollektive Sinnstiftungsversuche, sie problematisieren und destabilisieren Vorstellungen von biographischer Kontinuität ebenso wie sie exemplarisch das kontinuitätsstiftende Potential von Erinnerungsnarrationen herausstellen.16 Sie fuhren gemeinschaftsbildende Praxen der Vergangenheitstradierung vor Augen und inszenieren die Aushandlung von 14
Dieses Defizit fällt insbesondere in solchen Studien ins Gewicht, die Romane wie Kogawas Obasan, Lees Disappearing Moon Cafe oder Ondaatjes Running in tlx Famify als Beispiele für die Gattung der bislonograpbic metaßction analysieren, zugleich aber immer wieder auf die Besonderheiten der individuellen oder kollektiven Gedächtnisbildung hinweisen; vgl. Goellnicht (1989), Helms (2003) oder Gomille (2003). Dass es in diesen Romanen weniger um die selbstreflexive Problematisierung von fehlender Objektivität, sondern um Möglichkeiten und Grenzen einer identitätsstiftenden und dezidiert subjektiven Vergangenheitsaneignung geht, zeigen die Interpretation in Teil IV dieser Studie.
15
Vgl. exemplarisch zur literarischen Inszenierung von individueller Identität die Studie von Löschnigg (1999), zur Inszenierung von kollektiven bzw. ethnischen Identitäten die Monographien von Davey (1993) und Kertzer (1998) sowie die Sammelbände von Siemerling (1996) und Kuester/Keller (2002a). Zur Darstellung von Gegenidentitäten im zeitgenössischen kanadischen Roman vgl. Helms (2003), zur literarischen Subversion vorherrschender Mythen siehe Vautier (1998). Angesichts dieser thematischen Vielfalt scheint es auch kaum sinnvoll, die kanadische Literatur insgesamt unter dem homogenen Etikett .postkolonial' zu subsumieren. Gewiss setzen sich einige kanadische Gegenwartsromane mit Folgen des Kolonialisieningsprozesses auseinander — dies gilt auch und gerade für die Romane der autochthonen Bevölkerung, Dieser Schwerpunkt ist allerdings keineswegs für die kanadische Literatur in ihrer Gesamtheit charakteristisch. Zur kritischen Diskussion der Frage, ob die kanadische Literatur als postkolonial anzusehen ist, vgl. die Aufsätze in Moss (2003).
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14
Einleitung
Erinnerungskonkurrenzen und Wertehierarchien. Fictions of memory imaginieren Gegengedächtnisse, lassen rivalisierende Erinnerungsversionen in einen Dialog treten und reflektieren die Prozesse der individuellen und kollektiven Gedächtnisbildung. Auch diese Erinnerungsfiktionen können einen substantiellen Beitrag zur Konstruktion von kollektiven Identitäten leisten. Sie unterstellen allerdings nicht länger ein homogenes ,Wir'. Zentrales Kriterium für die Textauswahl ist die im Theorieteil entwickelte Gattungsbestimmung der fictions of memory. Da die vorliegende Studie einen Uberblick über die synchrone Vielfalt der kanadischen fictions of memory liefern soll, beschränkt sie sich in diachroner Hinsicht auf Romane, die seit den 1980er Jahren erschienen sind. Um einem möglichst breiten synchronen Spektrum der in fictions of memory inszenierten Entwürfe von Identitäten und Erinnerungen gerecht zu werden, werden Werke männlicher und weiblicher Autoren unterschiedlicher ethnischer Herkunft berücksichtigt.17 Außerdem werden bei der Auswahl der Romanbeispiele neben Werken, die mittlerweile zum festen Bestand des kanadischen Literaturkanons gehören und die sich durch ihre thematische und formale Experimentierfreudigkeit auszeichnen (allen voran die Romane von Margaret Atwood und Michael Ondaatje), auch solche Werke berücksichtigt, die in der Kanadistik bislang kaum Aufmerksamkeit gefunden haben. Dazu zählen vor allem Romane zeitgenössischer Autoren wie Terence Μ. Green oder Matt Cohen, die einer realistischen Erzähltradition verpflichtet sind. Gerade dort, wo es um die Untersuchung des Leistungsvermögens von Erinnerungen für die Stabilisierung von Identität geht, können solche Romane nicht ausgeblendet werden. Die vorgeschlagene Gattungstypologie soll dazu beitragen, die Vielfalt literarischer Entwürfe von Erinnerungen, Identitäten und Narrationen zu strukturieren sowie spezifische Erzählverfahren und Funktionspotentiale der einzelnen Erscheinungsformen der fictions of memory zu präzisieren und vergleichbar zu machen.
17
Vgl. Padolsky (1991), der programmatisch herausstellt, dass der plurale Charakter der kanadischen Erzählliteratur nur durch die gleichzeitige Berücksichtigung von .minority and majority writing' in den Blick gerät.
3. Fictions of Memory aus kulturwissenschaftlicher und narratologischer Perspektive: Zielsetzung und Methode Die Zielsetzung dieser Studie ist eine vierfache: Erstens soll die in der aktuellen Forschungsliteratur nur vage konturierte Begriffstrias Erinnerung, Identität und Narration systematisch erfasst und für die literaturwissenschaftliche Gedächtnisforschung fruchtbar gemacht werden. Um den vielfältigen Schnittstellen und Interdependenzen, die zwischen den einzelnen Begriffen bestehen, Rechnung zu tragen, werden individuellen und kollektiven Gedächtnistheorien narrationspsychologische Ansätze zur Seite gestellt. Durch diese produktive Verbindung wird der Prädikator ,narrativ' in seinen formalen und funktionalen Besonderheiten expliziert. Die Untersuchung von Erzählungen als ubiquitäres Sinnstiftungs format zeigt, dass Gruppen ebenso wie Individuen zur Aneignung von Vergangenem und zur Deutung von identitätsrelevanten Erfahrungen auf Narrationen angewiesen sind. Sie trägt darüber hinaus zur Erklärung der erinnerungskulturellen Wirksamkeit auch von fiktionalen Narrationen bei. Der transdisziplinäre Ansatz schlägt eine Brücke von der individuellen über die soziale hin zur kollektiven Gedächtnisbildung und macht auf diese Weise die zahlreichen Wechselwirkungen beschreibbar, die zwischen diesen einzelnen Ebenen bestehen. Zweitens soll die produktive Allianz von literaturwissenschaftlichen Kernkompetenzen mit kulturwissenschaftlichen und sozialpsychologischen Theorien zu einem umfassenden, interdisziplinär anschließbaren Verständnis der Privilegien und Funktionspotentiale von Literatur als eigenständiger Form der Sinnstiftung beitragen. Die Darlegung gedächtnis- und identitätstheoretischer Einsichten und Modelle schafft eine Grundlage, um den literarisch explorierten Zusammenhang von Erinnerung und Identität fundiert zu beschreiben. Der Rückgriff auf sozialpsychologische Ansätze bietet ausgezeichnete Anschlussmöglichkeiten zur kulturund literaturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung, die bislang noch kaum genutzt wurden. Gerade wenn man von Parallelen zwischen individuellen bzw. kollektiven und literarisch erzeugten Gedächtniserzählungen ausgeht, erscheint diese interdisziplinäre Herangehensweise viel versprechend. Die Fokussierung der symbolsystemischen Spezifika sowie der Gestaltungsmöglichkeiten, die Literatur bei der Inszenierung und Reflexion von Gedächtnisbildung nutzen kann, ermöglicht es, die Leistungen zu präzisieren, die fictions of memory im Einzelnen für die Erinnerungskultur erbringen können. Drittens soll die Studie durch eine Verknüpfung von Gedächtnistheorien, Erzähltheorie und Funktionsgeschichte einen literatur- und kulturwissenschaftlichen Beitrag zur Poetik und Typologie der fictions of memory leisten und so das Spektrum literarischer Erinnerungs- und Identitätskonstruktionen beschreibbar machen. Fictions of memory sind durch eine Rhetorik der Erinnerungen und Identitäten gekennzeichnet, mittels derer sie den konstitutiven Zusammenhang von Erinnerung und Identität in ästhetisch verdichteter Form darstellen können. Die Rhetorik der Erinnerungen und Identitäten bezeichnet die Gesamtheit narrativer Verfahren und
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Einleitung
formästhetischer Darstellungsmittel, durch die sich fictions of memory kulturell zirkulierende Versionen und Konzepte von Erinnerung und Identität aneignen und auf unterschiedlichen textinternen Ebenen inszenieren. Die Analyse der Rhetorik soll Einblick in das Spektrum literarischer Darstellungsverfahren bieten, die an der Inszenierung der narrativen Identitäts- und Erinnerungsarbeit beteiligt sein können. Da die Untersuchung der Rhetorik das Augenmerk konsequent auf formästhetische Besonderheiten richtet, kann sie die dominant inhaltliche Ausrichtung zahlreicher Studien zur Erinnerungsthematik überwinden. Sie offenbart, dass gerade auch literarische Formen bestimmte Vorstellungen von dem Nexus von Erinnerung und Identität vermitteln und an der Konstitution von erinnerungskulturellem Sinn beteiligt sind. Die Entwicklung einer erinnerungskulturellen Narratologie schafft eine Grundlage, um die erzähltheoretischen Kategorien konsequent zu kontextualisieren und funktionsgeschichtlich auf die Frage nach ihren erinnerungskulturellen Wirkungspotentialen auszurichten. Mit der Kontextualisierung und funktionsgeschichtlichen Perspektivierung der formästhetischen Kategorien im Rahmen der erinnerungskulturellen Narratologie wird der dialogischen Bezogenheit von Literatur auf die Erinnerungskultur Rechnung getragen. Die Untersuchung der Rhetorik der Erinnerungen und Identitäten bildet zugleich eine einheitliche und integrative Grundlage dafür, einzelne Erscheinungsformen der fictions of memory gattungstypologisch zu differenzieren und deren Funktionspotential zu spezifizieren. Die Gattungstypologie ist als Beitrag zu einer Bestandsaufnahme der kanadischen fictions of memory zu verstehen, die literatur- und kulturwissenschaftlich relevante Einblicke in das Spektrum narrativer Inszenierungen von Identität und Erinnerung verspricht. Literaturwissenschaftliche Relevanz gewinnt die entworfene Typologie nicht zuletzt dadurch, dass sie auch auf andere Nationalliteraturen übertragbar ist und damit als Grundlage für die Benennung nationalspezifischer Unterschiede und Parallelen zwischen den Entwicklungstendenzen der fictions of memory dienen kann. Viertens schließlich soll mit der ausführlichen Interpretation von elf zeitgenössischen kanadischen fictions of memory und der kursorischen Berücksichtigung zahlreicher weiterer Romanbeispiele ein zum Teil noch wenig beachtetes Textkorpus erschlossen und das Verständnis des kanadischen Romans der Gegenwart vorangetrieben werden. Der gewählte kultur- und gedächtnistheoretische Ansatz erlaubt es, eine Vielzahl literarisch inszenierter und perspektivierter Vergangenheiten, Identitätskonzepte und Wertehierarchien unter einem gemeinsamen Erkenntnisinteresse zu vereinen und rekurrente, aber auch umstrittene Themen aufzuzeigen. Sichtbar wird so, wie unterschiedlich fictions of memory auf erinnerungskulturelle Fragstellungen antworten und welch' diverse Vorstellungen sie von der spezifischen Wahrheit von Erinnerungen vermitteln. Um die vier angestrebten Ziele zu erreichen, bedarf es einer produktiven Verknüpfung und Modifikation von bestehenden kultur- und literaturwissenschaftlichen Ansätzen. Um die vielfältigen Vergangenheits- und Identitätskonstruktionen, die im Medium der fictions of memory inszeniert werden, beschreibbar zu machen,
Zielsetzung und Methode
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wird das Zusammenspiel von Erinnerung und Identität zunächst aus sozialpsychologischer und kulturwissenschaftlicher Perspektive dargelegt und die essentielle Rolle von Narrationen sowohl für die individuelle als auch die kollektive Identitätsund Sinnbildung erläutert. Paul Ricceurs Modell (1988 [1983]) einer dreistufigen Mimesis ermöglicht es, die dialogische Bezogenheit der fictions of memory auf Inhalte und Formen der Erinnerungskultur sowie auf Erkenntnisse der zeitgenössischen Gedächtnistheorie zu explizieren und so zu einer differenzierten Gattungsbestimmung der fictions of memory zu gelangen. Erzähltheoretische und kulturwissenschaftliche Konzepte lenken das Augenmerk auf die Privilegien des Symbolsystems Literatur als eigenständige .Weise der Welt- bzw. Gedächtniserzeugung' (Nelson Goodman) und verdeutlichen, aus welchen symbolsystemischen Besonderheiten Literatur ihr erinnerungskulturelles Funktionspotential bezieht. Der Rückgriff auf Konzepte der Kulturökologie und Funktionsgeschichtsschreibung zeigt nicht nur, dass Literatur Teil der Erinnerungskultur ist, sondern hilft auch bei der Beantwortung der Frage, wie Literatur Wirksamkeit entfalten kann. Die systematische und integrative Verknüpfung der theoretisch explizierten Gedächtnis- und Erinnerungskonzepte mit Konstituenten der untersuchten Rhetorik der Erinnerungen und Identitäten erlaubt es schließlich, die Vielfalt literarisch erzeugter Gedächtniswelten gattungstypologisch zu differenzieren. Die Studie gliedert sich in drei Teile: In dem ersten Hauptkapitel nach dieser Einleitung (Teil II) wird der komplexe Zusammenhang von Erinnerungen, Geschichten und Identitäten sowohl auf individueller als auch auf kollektiver Ebene theoretisch dargelegt. Ziel ist, die oft zitierten Schlagworte der Selektivität, Konstruktivität und Subjektivität vor dem Hintergrund der identitätsstiftenden Aufbereitung von Vergangenem zu spezifizieren und so zu einem veränderten Verständnis des Erinnerungs- und Narrativierungsprozesses zu gelangen. Die Fokussierung der herausragenden Rolle von Narrationen als ubiquitärem Sinnstiftungsformat soll Parallelen zwischen der individuellen und kollektiven Gedächtnisund Identitätsstiftung begreifbar machen und zu einem besseren Verständnis von literarischen Gedächtnis narrationen beitragen. Der gewählte, transdisziplinäre Ansatz verbindet sozialpsychologische Einsichten mit weiter reichenden kulturwissenschaftlichen Theorien und Fragestellungen zum Thema Erinnerung. Die Berücksichtigung sozialpsychologischer Mechanismen ermöglicht es, die Verzahnung von übergeordneten Prozessen der Gedächtnisbildung einerseits und deren personengebundenen Voraussetzungen andererseits in den Blick zu bringen und so die Rede vom .Sozialen' am individuellen Gedächtnis zu spezifizieren. Die kritische Sichtung vorhandener Konzepte von Kollektivgedächtnis vor dem Hintergrund kognitionspsychologischer Einsichten und zeitgenössischer Kulturkonzepte mündet in ein integratives Modell heutiger Erinnerungskulturen, das Erinnerungspluralisierung und den Streit um Deutungshoheit am Beispiel des kanadischen Multikulturalismus begreifbar macht. Auf dieser Grundlage wird in Teil III das dialogische Verhältnis von Literatur zur Erinnerungskultur und zu den zirkulierenden, auch gedächtnistheoretischen
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Einleitung
Diskursen spezifiziert. Ricceurs dreidimensionales Mimesis-Modell bildet das theoretische Fundament, um die gattungsspezifischen Besonderheiten der fictions of memory unter Berücksichtung der Interdependenzen zwischen literarischer Präformation, Konfiguration und Refiguration systematisch zu erfassen. Die in den fictions of memory entworfenen imaginären Gedächtniswelten speisen sich aus kulturell zirkulierenden Konzepten und Versionen von Erinnerung und Identität, auf die sie — bei entsprechender Aktualisierung durch die Leserschaft — wiederum zurückzuwirken vermögen. Um der Spezifik der poietischen Inszenierung und Reflexion der Gedächtnisbildung gerecht zu werden, wird die fur fictions of memory konstitutive Rhetorik der Erinnerungen und Identitäten analysiert. Die Verknüpfung von textuellen Konstituenten der Rhetorik mit gedächtnistheoretisch explizierten Konzepten ermöglicht eine gattungstypologische Differenzierung zwischen vier verschiedenen Erscheinungsformen der fictions of memory und gewährleistet einen aussagekräftigen Rückbezug der entwickelten Theoriebildung auf literarische Weisen der Gedächtniserzeugung. In Teil IV dieser Studie, dem Interpretationsteil, werden in vier Unterkapiteln ausgewählte fictions of memory analysiert. Um Vergleiche zwischen einzelnen fictions of memory möglich zu machen, orientiert sich die Anordnung der Interpretationen an der typologischen Differenzierung unterschiedlicher Formen der Gedächtnis- und Identitätserzeugung. Da gattungstyplogisches Klassifizieren allein nicht der tatsächlichen Vielfalt literarischen Welterzeugens gerecht wird (vgl. Bai 1999, S. 20), sollen die Interpretationen die Variationsmöglichkeiten innerhalb der einzelnen Erscheinungsformen illustrieren. Die Textanalysen untersuchen, welche Antworten die einzelnen Romane auf erinnerungskulturelle Herausforderungen liefern und welche Vorstellungen sie von den Möglichkeiten und Problemen individueller und kollektiver Sinnstiftungen vermitteln. Den Interpretationen liegen drei zentrale Fragestellungen zugrunde: Erstens, wie wird der Konnex von Identität, Erinnerung und Narration inszeniert? Zweitens, welche Rückschlüsse können durch die Untersuchung der literarischen Verfahren auf kulturell vorherrschende Erinnerungs- und Identitätsdiskurse gezogen werden? Und schließlich, drittens, wie wirken die formästhetischen Verfahren im Sinne eines Wirkungspotentials auf die symbolischen Ordnungen einer Kultur zurück und prägen rezipientenseitige Vorstellungen von Erinnerung und Identität? An die Einzelinterpretationen schließen sich kurze Ausblickskapitel an, die die einzelnen Werke in einen größeren Kontext einbetten und die Ergebnisse unter Berücksichtigung weiterer fictions of memory perspektivieren. Zentrales Ziel des textanalytischen Teils ist es, das Spektrum der in den fictions of memory dargestellten Identitäts- und Erinnerungsentwürfe herauszuarbeiten und interpretatorisch zu erschließen. Dieses reicht von der erfolgreichen Konsolidierung von Identität über deren narrative Fragmentierung bis hin zur Aushandlung von Erinnerungskonkurrenzen und der Destabilisierung von Gemeinschaft.
II. Gedächtnistheoretische Konzepte zum Zusammenhang von Erinnerungen, Identitäten und Narrationen W e need to ask not whether a m e m o r y is true but rather what its telling reveals about how the past affects the present. (Sturken 1 9 9 7 , S. 2)
1. Individuelle Erinnerungen und erinnerungsbasierte Identitätskonstruktionen: ,Ways of life making' In den letzten zehn Jahren hat das Thema Identität in kultur- und sozialwissenschaftlichen Ansätzen zunehmend Aufmerksamkeit beansprucht. Individuen sind auf der Suche nach ihrer Identität, sie erleben Identitätskrisen; unterschiedliche Gruppen, insbesondere Minoritäten, proklamieren distinkte kollektive Identitäten und machen ihr Recht auf gesellschaftliche Anerkennung geltend (vgl. A. Assmann/Friese 1998b, S. 11). Die Bedingungen der individuellen und kollektiven Identitätskonstitution werden in unterschiedlichen Disziplinen — von der Psychologie, Psychoanalyse über die Ethnologie bis hin zu Ansätzen feministischer und postkolonialer
Provenienz
-
diskutiert. Aus
diesem
zunehmenden,
interdis-
ziplinären Interesse an den Bestimmungsfaktoren von Identität erklart sich wohl auch, dass Identität seit geraumer Zeit als der ,Inflationsbegriff Nr. Γ
(Bruner
1987) angesehen wird. Trotz wesentlicher Unterschiede zwischen diesen Identitätskonzepten sind fast allen Forschungsarbeiten zwei zentrale Grundannahmen gemeinsam. Zum einen hat sich immer stärker die Erkenntnis des Konstruktcharakters der individuellen Identitäten durchgesetzt. So wenden sich diese Ansätze vornehmlich gegen die präskriptive Vorstellung einer ganzheitlichen, gleichsam natürlich
gewordenen
Identität, der in unterschiedlichsten Lebenssituationen und Kontexten ein gleich bleibendes ,Ich' als unveränderlicher Wesenskern zugrunde liegt. 18 An die Stelle statischer, essentialistischer Identitätsmodelle rücken zunehmend prozessuale Modelle, die Identitäten als dynamische, wandelbare und sozialkulturell fundierte Kon-
18
Vgl. dazu exemplarisch die Aufsätze in A. Assmann/Friese (1998a) und Straub (1998a) sowie Brockmeier (1999, 2005) und Eakin (1999).
20
Gedächtnistheoretische K o n z e p t e
strukte konzeptualisieren, als einen ,,unabschließbare[n] Prozeß der immer neuen Selbst(er)findung" (Sommer 2001, S. 53). 19 Die individuelle Identität kann, so die grundlegende Prämisse gegenwärtiger Identitätstheorien, immer nur ein vorläufiges bzw. situationsabhängiges Produkt des Versuchs darstellen, disparate Selbst- und Welterfahrungen psychisch zu synthetisieren und sich so in Abhängigkeit des jeweiligen Kontexts zu definieren. Zum anderen gehen alle Identitätstheorien von der konstitutiven Rolle der Erinnerung bzw. der Gedächtnisbildung aus, wobei dieser Zusammenhang freilich in sehr unterschiedlichen Graden explizit gemacht wird. Eine Identitätsbildung ohne Erinnerungsvermögen gilt als undenkbar. Identität ist nicht nur in einer synchronen, sondern auch und vor allem in einer komplexen zeitlichen, einer diachronen Dimension verortet. Diese konstituiert sich aus früheren Selbsterfahrungen des Einzelnen, die qua Erinnerungsprozessen verfügbar gehalten werden. Die individuelle Identität, also die Antwort auf die Frage „wer bin ich?" (Frey/Haußer 1987, S. 6), entwickelt sich vorrangig in einem selbstreflexiven und erinnerungsbasierten Prozess, in dem Individuen ihr Wissen über sich nach Maßgabe gegenwärtiger Sinnbedürfnisse und Relevanzkriterien verarbeiten. Identitätsbildende Akte sind daher im Wesentlichen nachträgliche, erinnerungsbasierte Leistungen (vgl. Schmidt 1991a; Straub 1998c, S. 93), die darauf abzielen, lebensweltliche Erfahrungen, Handlungen und Motive zu interpretieren und zu einer kohärenten Synthese zu bündeln. Die Vorstellung, dass Erinnerungen identitätsstiftend ebenso wie potentiell identitätszersetzend wirken, steht in der philosophischen Tradition von Piaton über Augustinus, John Locke, David Hume und Friedrich Nietzsche, und sie ist über die empiristische Tradition bis hin zur Phänomenologie zum Paradigma der europäischen Geistesgeschichte geworden (vgl. Saar 2002, S. 267). 20 Bereits John Locke betont in An Essay Concerning Human Understanding (1690), dass erst die Erinnerungsfähigkeit zum Eindruck der Kontinuität des Ichs beiträgt und eine orientierungsbildende Erfahrungsverarbeitung gewährleistet. Zur Grundthese erinnerungsbasierter Identitätstheorien zählt, dass die aktive Aktualisierung und Aneignung der eigenen Vergangenheit den Ausgangspunkt für individuelle Identitätsentwürfe, für spezifische Realitätsdeutungen sowie für aktuelle Handlungsmotivationen bildet (vgl. Olick/Robbins 1999, S. 133). Wollen wir eine Antwort auf die Frage, wer wir sind und sein möchten, formulieren, so operieren wir mit erinnernden Vergegenwärtigungen der Vergangenheit, die darauf angelegt sind, identitätsrelevante Erfahrungen gemäß aktueller Orientierungsanforderungen zu deuten. Wir sind, was wir sind, weil wir uns erinnern und weil wir auf der Grundlage dieser Erinnerungen gegenwärtige Selbstbilder imaginieren und stabilisieren. Erinnerung
19
Vgl. hierzu E r n s t (1996, S. 15), der davon ausgeht, dass aufgrund der Pluralisierung v o n L e b e n s entwürfen „die Suche nach Identität zum D a u e r - A u f t r a g " wird.
20
Einen guten Überblick über die historische Entwicklung der Gedächtnis- und Identitätstheorien liefert G l o m b (1997). D i e Entwicklung der kognitiven Gedächtnistheorien werden etwa von Keller ( 2 0 0 3 ) und N e u m a n n ( 2 0 0 5 ) rekapituliert.
Individuelle Erinnerungen und Identitätskonstruktionen
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stellt damit eine zentrale Weise des persönlichen ,life making', der Identitätserzeugung also, dar (vgl. Bruner 1987). 21 Den unhintergehbaren Zusammenhang zwischen dem Selbst und seiner Gedächtnistätigkeit bringt der amerikanische Kognitionspsychologe Daniel Schacter mit seinem Buchtitel Wir sind Erinnerung (2001 [1996]) prägnant auf den Begriff. In Erinnerungstheorien hat sich längst die Erkenntnis durchgesetzt, dass das Gedächtnis vergangene Erfahrungen nicht unverändert, also in ihrer ursprünglichen Form verfugbar hält. Vielmehr müssen sowohl die Enkodierung 22 bestimmter Erlebnisse als auch die nachfolgenden Prozesse der Speicherung und des Abrufs als durch und durch konstruktive und dynamische Prozesse konzeptualisiert werden, die zu einer produktiven Modifikation vergangener Erfahrungen fuhren: ,,[M]emory is not an unchanging vessel for carrying the past into the present; memory is a process, not a thing, and it works differently at different points in time" (Olick/Robbins 1999, S. 122). Aufgrund ihres präsentischen Charakters werden Erinnerungen als selektive, perspektivische Vergangenheitskonstruktionen konzipiert, die über die Vergangenheit ebenso viel aussagen wie über die momentanen Sinnanforderungen und Motive der sich erinnernden Person. Wie aber, so die Leitfrage des folgenden Kapitels, können Erinnerungen trotz ihres ephemeren und prinzipiell unzuverlässigen Charakters als unverzichtbare Grundlage der individuellen Erfahrungsbildung, Handlungsorientierung und Identitätsformation fungieren? Im Anschluss an eine knappe Skizze der wesentlichen Unterschiede zwischen Gedächtnis und Erinnerung sowie zwischen einzelnen Gedächtnissystemen sollen im folgenden Kapitel zunächst die Besonderheiten von retrospektiver Sinnstiftung wie ihre Konstruktivität, Perspektivität und Gegenwartsgebundenheit dargelegt werden. Ziel ist es, diese oft zitierten Schlagworte aus kognitionspsychologischer Perspektive zu spezifizieren. Besonders berücksichtigt wird hierbei die Bedeutung kognitiver Schemata, da sie als generalisierte Wissensstrukturen den sinnstiftenden Konstruktionsprozess maßgeblich leiten. Darauf aufbauend wird das Leistungsspektrum von Erinnerung und Gedächtnis für die individuelle Identitätskonstitution ausführlicher betrachtet (Kap. II.1.1 - II.1.3). Hierbei wird deutlich, dass die Einsichten der psychologischen Gedächtnisforschung maßgeblich dazu beitragen können, das — gerade in vielen literatur- und kulturwissenschaftlichen Studien notorisch vage bleibende Identitätskonzept zu präzisieren. Abschließend wird die herausragende Bedeutung von Narrationen als anthropologisch ubiquitäres Muster 21
Bruner (1987, S. 12) betont unter Rückgriff auf Nelson Goodman: , J u s t as the philosopher Nelson Goodman argues that physics or painting or history are .ways of worldmaking', so autobiography (formal or informal) should be viewed as a set of procedures for ,life making'."
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In Anlehnung an kognitive Modelle zur Informationsverarbeitung wird unter dem Prozess der Enkodierung die Wahrnehmung eines Ereignisses und dessen Überführung in Strukturen der intern-psychischen Informationsverarbeitung verstanden (vgl. Echterhoff 2001). Die Speicherung bezeichnet „die Aufbewahrung des enkodierten Materials über die Zeit", und der Prozess des Abrufs „ist das Wiederauffinden der gespeicherten Information zu einem späteren Zeitpunkt" (Zimbardo 1992 [1988], S. 269).
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Gedächtnistheoretische Konzepte
der Sinn- und Identitätsbildung beleuchtet (Kap. II.1.4). Gerade die Untersuchung der strukturellen Besonderheiten und Funktionen von Narrationen bietet vielfältige Anknüpfungspunkte für literarische Inszenierungen des Zusammenhangs von Identität und Erinnerung, wird dieser im Medium der Fiktion doch immer narrativ gestaltet und vermittelt. Sie bietet überdies auch eine integrative Grundlage, um die zahlreichen Wechselwirkungen, die zwischen der individuellen und kollektiven Gedächtnisbildung bestehen, systematisch in den Blick zu bekommen. So schlagen die folgenden theoretischen Ausführungen einen Bogen von den individuellen über die sozialen hin zu den kollektiven Dimensionen der Erinnerung und Identität. Dieser Aufbau folgt der Einsicht, dass die Besonderheiten der individuellen ebenso wie der kollektiven Gedächtnisbildung nur bei gleichzeitiger Berücksichtigung beider Ebenen begreifbar werden. Denn ebenso wie die kollektive Bildung von Gedächtnis auf individuelle Trägerinstanzen angewiesen ist, so ist auch die individuelle Erinnerungsarbeit ohne den orientierungsbildenden Rahmen von Kollektivgedächtnis undenkbar.
1.1 Die Perspektivität und Konstruktivität des Erinnerns: Das individuelle Gedächtnis und Erinnerungsprozesse aus kognitionspsychologischer Perspektive Obgleich Leistungen des Gedächtnisses und der Erinnerung nicht unabhängig voneinander zu erfassen sind und auf vielfältige Weise miteinander interagieren, lassen sie sich analytisch im Hinblick auf einige zentrale Merkmale differenzieren. Aus kognitionspsychologischer Perspektive wird unter dem Gedächtnis die intrapsychische Disposition verstanden, Erfahrungen zu speichern und sie zu einem späteren Zeitpunkt zu reaktualisieren bzw. wiederzuerkennen. Das Gedächtnis stellt eine übergeordnete Sinnmatrix zur Verfügung, die eine Vielzahl von Einzelelementen zu einem Ganzen synthetisiert (vgl. Markowitsch 2002, S. 172). Erfahrungsbildung, Handlungsorientierung und Wissensstrukturierung, kurz, jeder höhere kognitive Prozess beruht auf individuellen Gedächtnisleistungen, denn erst diese schaffen die Voraussetzung für sinnhafte Informationsverarbeitung. Während der Terminus .Gedächtnis' auf die Gesamtheit gespeicherter, auch nicht bewusstseinsfähiger vergangener Erfahrungen verweist und ihm damit eine gewisse Stasis zu Eigen ist, bezeichnet .Erinnerung' den konkreten und bewussten Akt der Vergegenwärtigung spezifischer Gedächtnisbestände: „.Gedächtnis' steht für das Vermögen, sich erinnern zu können, so wie das Buch im populären Verstände ein stilles Vermögen an eingeschriebenen Gedanken darstellt, das im Akt der Lektüre (der Er-Innerung) seine Produktivkräfte entfalten kann." (Harth
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1991b, S. 31)23 Der Begriff der Erinnerung verweist auf den Prozess der Aktivierung von bestimmten Erlebnissen, Erfahrungen und erworbener Wissensbestände, die nicht dem jeweils aktuellen Handlungszusammenhang entstammen (vgl. Rusch 1991, S. 270). Aktiviert wird ein Erinnerungsprozess durch situative Anlässe bzw. Anforderungen, also durch so genannte Abrufhinweise bzw. cues. Abrufbedingungen bestehen nicht nur einfach in äußeren Reizen oder Umweltgegebenheiten. Sie können auch als intrapsychische cues, im Sinne von emotionalen, kognitiven oder motivationalen Anforderungen wirksam werden. Konkrete Erinnerungen sind als synergische Verschmelzung zwischen präsentischen cues und auf die Vergangenheit verweisenden Gedächtnisspuren zu verstehen. Trotz einer Vielzahl divergenter Bestimmungen besteht in kognitionswissenschaftlichen Forschungsansätzen heute weit gehend Einigkeit darüber, dass Modelle, die das Gedächtnis als einen schützenden Speicher oder Behälter von Erinnerungen konzipieren, so viele Probleme aufwerfen, dass ihre Gültigkeit in Frage gestellt werden muss (vgl. Schmidt 1991c, S. 11). Solche Modelle von .storage and retrieval' konzeptualisieren Gedächtnisarbeit als reine Aufbewahrungsarbeit und Erinnerungen als Aktualisierung von unverändert eingespeicherten Daten, die vergangene Ereignisse abbildhaft reflektieren. Problematisch ist eine derartige Konzeptualisierung des Gedächtnisses vor allem deshalb, weil sie es nicht vermag, Abweichungen des Erinnerten von zugrunde liegenden Erfahrungen, also Phänomene wie verzerrte und unzuverlässige Erinnerungen zu erklären (vgl. Neisser 1988, S. 357). Nicht zuletzt zahlreiche, empirisch belegte mnemonische Fehlleistungen haben gezeigt, dass Erinnerungen als Folge nachträglich wirksamer Faktoren als dynamisch und konstruktiv anzusehen sind. Daher werden heute Modelle favorisiert, die Gedächtnisleistungen in Anschluss an die Thesen Frederic C. Bartletts (1932) als Konstruktionsarbeit und Erinnerungen als kreativen Prozess der Vergegenwärtigung begreifen. Gemäß diesen, für nachfolgende Gedächtnistheorien wegweisenden Ansätzen gelten Erinnerungen bzw. so genannte Engramme (also Gedächtnisspuren) als flexible und wandelbare Phänomene, die situationsabhängig konstruiert werden. Dem Gedächtnis kommt keine konservierende, sondern eine produktive Funktion zu. Erinnerungen werden nicht aus einem wie immer gearteten Speicher abgerufen, sondern rekonstruiert. Sinnstiftung erfolgt demnach im Spannungsfeld zwischen gegenwartsbezogenen Erinnerungsprozessen und vergangenheitsbe^ogenen Gedächtnisbeständen. Erinnerungen werden nach Maßgabe aktueller Deutungsschemata elaboriert. Dieser präsentische Konstruktionsspielraum ist allerdings insofern begrenzt, als Erinnerungen auf Gedächtnisspuren vergangener Erfahrungen basieren. In der aktuellen Gedächtnisforschung hat sich zudem die Einsicht durchgesetzt, dass das Gedächtnis nicht als monolithische kognitive Entität konzipiert werden kann. Vielmehr stellt es eine in sich ausdifferenzierte neuronale Funktion 23
Vgl. zu einer ähnlichen Unterscheidung Wertsch (2002, S. 17): „Instead of talking about memories that we ,have', the emphasis is on remembering as something we do."
24
Gedächtnistheoretische Konzepte
dar, die sich aus unterschiedlichen, aber vernetzten Gedächtnissystemen konstituiert, denen für die individuelle Identitätsbildung ganz unterschiedliche Funktionen zukommen. Für das Erkenntnisinteresse dieser Studie ist vor allem die Unterscheidung zwischen dem episodischen und dem semantischen Gedächtnis von Relevanz, denn sie erlaubt eine Präzisierung des identitätsstiftenden Potentials von Erinnerungen. Das episodische Gedächtnis beinhaltet räumlich und zeitlich datierbare Ereignisse, die einen ausgeprägten Selbstbezug aufweisen. D a das episodische Gedächtnis im Unterschied zu anderen Gedächtnissystemen einen „Zugriff auf ein früheres Selbst im Kontext der ursprünglichen Enkodierung" (Echterhoff 2004, S. 71) ermöglicht, bildet es die Grundlage dafür, dass einzelne lebensgeschichtliche Episoden in ein übergeordnetes Sinnsystem überführt und als individuelle bzw. persönliche Vergangenheit erinnert werden können (vgl. Welzer 2002, S. 24). Das episodische Gedächtnis macht die konkreten Umstände einer singulären Erfahrungsepisode verfügbar und gleicht damit einer mentalen Zeitreise des Selbst, einer „mental travel through subjective time" (Tulving 1999, S. 278). Durch seinen ausgeprägten Selbstbezug schafft es die eigentliche Voraussetzung für die Herstellung von biographischer Kontinuität: „Das Gefühl, über ein identisches und kohärentes Selbst zu verfügen, gründet im wesentlichen auf expliziten, episodischen Erinnerungen an Elemente der eigenen Lebensgeschichte" (Welzer 2002, S. 30). Der Prüfstein episodischer Erinnerungen ist nach Tulving das individuelle Erleben; ohne den Eindruck, dass wir die Erfahrungen unseres früheren Selbst reaktualisieren, d.h. ohne autonoetisches Bewusstsein, bleiben abgerufene Informationen identitätsabstrakt und leisten keinen Beitrag zur Konsolidierung des autobiographischen Bewusstseins. Das semantische Gedächtnis hingegen speichert symbolisch repräsentiertes, kategorisches Weltwissen, das raumzeitlich unspezifiziert ist. E s stellt Wissen über Fakten und Sachverhalte bereit, die für die individuelle Identitätsbildung nur von mittelbarer Bedeutung sind. Der Abruf semantischer Gedächtnisbestände geht nicht mit einem Wiedererleben vergangener Begebenheiten einher, sondern mit dem subjektiven Wissen, dass die abgerufenen Inhalte eine sozial geteilte Gültigkeit besitzen, sie also Informationen über lebensweltliche Gegebenheiten vermitteln. Für semantische Gedächtnisbestände sind spezifische Erwerbskontexte unbedeutend und in der Regel für die erinnernde Person nicht mehr nachvollziehbar. Zum semantischen Gedächtnis gehören neben erlerntem Wissen über historische Daten oder natürliche Gesetzmäßigkeiten auch so grundlegende Wissensbestände wie Wortbedeutungen (vgl. Schacter 2001, S. 248), Kategorien, kulturelle Wissensordnungen, Normen und Werte. Genau genommen handelt es sich bei den Inhalten des semantischen Gedächtnisses daher weniger um .Erinnerungen' als um Wissensbestände, die qua Gedächtnisleistungen aktualisiert werden. Zwar lässt sich das autobiographische Gedächtnis, das die individuelle Erinnerung an vergangene Lebensereignisse einer Person umfasst, im weitesten Sinne unter dem episodischen Gedächtnis subsumieren. Eine Dichotomisierung zwischen episodischem und damit identitätsrelevantem Gedächtnis einerseits und dem
Individuelle Erinnerungen und Identitätskonstruktionen
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semantischen und identitätsabstrakten Wissen andererseits wird der Komplexität von Gedächtnisprozessen jedoch nicht gerecht. So ist zum einen davon auszugehen, dass auch semantische Gedächtnisbestände einen selbstrelevanten Bezug aufweisen können. Auch das aktiv angeeignete Wissen über die Kollektiwergangenheit kann das individuelle Selbstbild prägen und Einfluss auf Handlungen nehmen. Zum anderen wird ein Großteil der semantischen Gedächtnisbestände im Verlauf der Enkulturation, also durch Informationsvermittlung im soziokulturellen Kontext, erworben und bildet die Basis für „die Teilhabe des Individuums an den Wissensordnungen einer Kultur" (Gymnich 2003, S. 37). Das episodische Gedächtnis ist ohne semantisches Gedächtnis undenkbar, denn zur Verarbeitung und Interpretation von persönlichen Erinnerungen müssen Personen auf kulturell vermitteltes Wissen, etwa in der Form von Schemata zurückgreifen. 24 Das semantische Gedächtnis — und darin ist seine herausragende Bedeutung zu sehen - ist mithin als zentrale Nahtstelle zwischen dem individuellen und dem kulturellen Gedächtnis zu konzeptualisieren. Es bildet die wesentliche Voraussetzung dafür, dass Personen sinnhaft und in Einklang mit vorherrschenden Kollektiworstellungen und Wertesystemen mit Anderen interagieren können. 25 Es ist insbesondere der notwendige Rückgriff auf kulturell vermittelte Schemata, der - das hat der britische Psychologe Frederic Bartlett in seiner bahnbrechenden Studie Remembering (1932) gezeigt - den konstruktiven Charakter der individuellen Erinnerung ausmacht. Strukturen und Funktionen des Gedächtnisses sind, so Bartletts zentrale These, grundlegend von kulturspezifischen und sozialisationsbedingten Praktiken, Konventionen, Verhaltensnormen und auch unbewussten, nicht-artikulierbaren Kollektiworstellungen abhängig (vgl. Schacter 1995a, S. 9). Schemata sind abstrakte, generalisierte und hierarchisch strukturierte kognitive Rahmen oder Erwartungsstrukturen, die prototypische Vorannahmen über bestimmte Gegenstände, Menschen oder Handlungsverläufe enthalten. Sie liefern bedeutungsstrukturierende Muster, die einen zentralen Beitrag zur Reduktion von Komplexität und Ambiguität leisten (vgl. Keller 2003, S. 43). Ein Schema besteht aus Leerstellen, so genannten slots, und Hinweisen zu den Bedingungen, durch welche Elemente diese Leerstellen besetzt werden können und „demgemäß im Sinne des Schemas erfasst, wahrgenommen, erinnert oder antizipiert werden" (Kölbl/Straub 2001, S. 520). Ein einmal erworbenes und zumeist unbewusst wirksames Schema hat maßgeblichen Einfluss auf die Aufnahme von Informationen und die Interpretation von Erinnerungen, ordnet es diese Prozesse doch strukturell 24
25
Welzer (2002, S. 25) betont in diesem Zusammenhang: „[Semantisches und episodisches Gedächtnis hängen also eng miteinander zusammen, und in einer hierarchischen Perspektive ließe sich gewiss formulieren, daß es ohne semantisches Gedächtnis ein episodisches nicht geben könnte: Ohne die Möglichkeit, Erfahrungen in ein konventionelles, d.h. sozial geteiltes System von Regeln und Rahmen einbetten zu können, nähme ein Erlebnis keine Gestalt im Bewußtsein an und würde nicht zu einer Erfahrung, die bewußt zu erinnern wäre." Zu der Bedeutung des kulturellen Gedächtnisses sowie zur Interdependenz von personengebundenen und überindividuellen Erinnerungsprozessen vgl. Kapitel II.4.1 dieser Arbeit.
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Gedächtnistheoretische Konzepte
und prägt sie auch inhaltlich: „Ein erworbenes Schema ist eine relativ stabile, gegen Vergessensprozesse vergleichsweise resistente Wissensstruktur, die Wahrnehmungen und Handlungen leitet und es gestattet, Bekanntes und Unbekanntes, Erwartetes und Unerwartetes kognitiv zu integrieren." (Ebd.) Auf diese Weise wirken Schemata der Gefahr entgegen, dass man sich in neuen Erfahrungen „hoffnungslos verirrt" (Grossmann 2002, S. 107). Schemata sorgen für Ordnung und Kontinuität der Erfahrung, doch „sie tun dies nur im Verzicht auf einen objektiven Zugang zur Welt, der frei von Erwartungen und Vorurteilen ist" (ebd.). Die schemageleitete, assimilierende Informationsverarbeitung führt zu verzerrten Erinnerungen an das ursprüngliche Ereignis, da komplexe Geschehensabläufe zwangsläufig im Lichte bereits existierender Schemata interpretiert werden. Leerstellen werden gefüllt, inkonsistentes Material wird angeglichen, und mehrdeutigen Aussagen wird eine subjektiv stimmige Bedeutung zugewiesen. Bartlett zog aus seinen Beobachtungen den für nachfolgende kognitionspsychologische Gedächtnistheorien richtungweisenden Schluss, dass Erinnerungen als selektive und perspektivische Versionen aufzufassen sind, die die Vergangenheit nach Maßgabe soziokultureller Sinnmuster rekonstruieren. Da der Prozess der Rekonstruktion stets vom Standpunkt der Gegenwart aus erfolgt, wird Vergangenes in der Erinnerung gewissermaßen .elastisch' an aktuelle Kontexte angepasst.26 Diesen rekonstruktiven Charakter von Erinnerungsprozessen hat Ulric Neisser (1967, S. 285f.), ein Begründer der kognitiven Psychologie, in einer oft zitierten Analogie zwischen der erinnernden Person und einem Paläontologen veranschaulicht: So wie der Paläontologe aus fossilen Überresten, also Knochenbruchstücken, auf die Gestalt des Dinosauriers schließt, versucht auch die erinnernde Person, die verfügbaren fragmentarischen Vergangenheitsreferenzen zu einem sinnvollen Ganzen zu kombinieren.27 Rekonstruktiv sind diese Gedächtnisprozesse deshalb, weil die verfugbaren fossilen Reste ebenso wenig mit dem Dinosaurier wie die eingespeicherten Erfahrungsfragmente mit der aktualisierten Erinnerung (also das subjektive Erleben der Vergegenwärtigung einer vergangenen Erfahrung) übereinstimmen. Erinnerungen, so resümiert Neisser, lassen sich mithin nie vollständig auf ein vergangenes Erlebnis zurückführen, da sie immer auch subjektiv plausibel erscheinendes Wissen beinhalten, das zur Vervollständigung herangezogen wird. Während Bartlett das Wissen, auf das Personen bei der Elaboration von fragmentarischen Erinnerungen rekurrieren, vorrangig im Sinne von sozialisationsbedingten Vorannahmen spezifiziert hat, gehen andere Gedächtnispsychologen wie 26
Vgl. Bartlett (1954 [1932J, S. 213): „Remembering is not the re-excitation of innumerable fixed, lifeless and fragmentary traces. It is an imaginative reconstruction, or construction, built out of the relation of our attitude towards a whole active mass of organised past reactions or experience, and to a little outstanding detail, which commonly appears in image of language form."
27
Vgl. Neisser (1967, S. 285): ,,[0]ut of a few stored bone chips, we remember a dinosaur [...]. (OJne does not recall objects or responses simply because traces of them exist in the mind, but after an elaborate process of reconstruction".
Individuelle Erinnerungen und Identitätskonstruktionen
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etwa Endel Tulving (1983) und Daniel Schacter (1995b, 1996) davon aus, dass daneben auch rein individuelle, erfahrungsabhängige und situative Faktoren den Erinnerungsprozess prägen. Demnach sind die zur Vervollständigung herangezogenen Wissensinhalte maßgeblich von dem jeweils aktuellen Hinweisreiz, also dem cue, abhängig, der den Erinnerungsprozess in Gang setzt. Diesen dynamischen Interaktionsprozess zwischen inneren und äußeren Faktoren bezeichnet Tulving in Anlehnung an den deutschen Gedächtnis forscher Richard Semon (1904) als Ekphorie. Cues aktivieren nicht nur die interne Information; vielmehr nehmen sie aktiven Einfluss darauf, wie konkrete Erinnerungen an vergangene Erfahrungen erlebt werden. Ob die Erinnerung an die eigene Schulzeit etwa durch das Wiederfinden eines wenig rühmlichen Zeugnisses ausgelöst wird oder aber durch ein Klassentreffen, prägt nicht nur die Auswahl der Inhalte, sondern auch die Detailgenauigkeit sowie die affektive Färbung der Erinnerung. Die bewusste Erinnerung muss daher als Synthese von vergangenen Erfahrungen bzw. von intern gespeicherter Information und den auslösenden äußeren Bedingungen konzeptualisiert werden, wie das folgende Zitat von Daniel Schacter (2001, S. 118) anschaulich erläutert: Die gespeicherten Fragmente tragen zur bewußten Erfahrung des Erinnerns bei, aber sie sind nur ein Teil dieser Erfahrung. Ein anderer wichtiger Bestandteil ist der Abrufreiz selbst. [...] Der Hinweisreiz verbindet sich mit dem Engramm zu einem neu entstehenden Ganzen - dem Erinnerungserlebnis des Erinnerers - , das sich von seinen beiden Bestandteilen unterscheidet.28 Der Prozess der Ekphorie impliziert, dass ganz unterschiedliche gegenwärtige Kontexte und externe Abrufbedingungen auf individuelle Erinnerungen Einfluss ausüben. Zu diesen Abrufbedingungen können neben konkreten singulären Details auch abstraktere subjektive Repräsentationen, Motivationen oder emotionale Zustände gehören. Es sind gerade auch zum Zeitpunkt des Abrufs vorherrschende Emotionen bzw. aktuelle Sinnbedürfnisse, die die individuelle Erinnerung an bestimmte vergangene Begebenheiten prägen und sie emotional färben. In diesem Prozess werden vergangene Ereignisse von gegenwärtigen Motiven überzeichnet und gemäß aktuellen Bedingungen neu geformt (vgl. Welzer 2002, S. 135). Der präsentische Prozess der aktiven Vergangenheitsdeutung kann sich bis zur Konstruktion von false memories steigern. Im Falle der false memory bzw. der Scheinerinnerung gewinnen die gegenwärtigen Abrufbedingungen und die mit ihnen verbundenen Sinnstiftungsprozesse Überhand: Sie verzerren die Erfahrungsspuren zu einem rein idiosynkratischen „Wunschbild" (Markowitsch 2002, S. 84). Damit werden Ereignisse .erinnert', die in dieser Informationskonfiguration faktisch nicht
28
Dies impliziert, dass nachfolgende Erinnerungen an dieses Ereignis immer schon die Spuren des damals aktuellen Hinweisreizes tragen: „Engramme [sind] nach wiederholtem Erinnern gar nicht mehr identisch mit jenen, die vom ersten Lernprozeß hinterlassen wurden. Es sind die neuen Spuren, die [...] beim Erinnern neu geschrieben werden." (Singer 2000, S. 10; zit. n. Welzer 2002, S. 220)
28
Gedächtnistheoretische Konzepte
stattgefunden haben, die angesichts gegenwärtiger Sinnbedürfnisse jedoch so plausibel erscheinen, dass sie fälschlicherweise für die ursprüngliche Erfahrung gehalten werden. Dass sich die konkrete Elaboration von Gedächtnisspuren situativen Erfordernissen verdankt, hat natürlich auch zur Folge, dass auf der Grundlage ein und desselben Engramms variable Vergangenheitsversionen modelliert werden können: Abhängig von aktuellen Kontexten, können prinzipiell immer neue Erinnerungen an frühere Erfahrungen entstehen (vgl. Welzer 2002, S. 134f.). Welche dieser Alternatiwersionen letztlich favorisiert wird, wird weit gehend von pragmatisch motivierten Relevanzkriterien, aktuellen Handlungsanforderungen, bereits existierenden Schemata, von Normen und sozialer Erwünschtheit bestimmt. Die Vergangenheit wird in der Erinnerung „anwendungsbezogen modelliert" (Welzer 2002, S. 21). Individuen werden die spezifische Rekonstruktion ihrer Erinnerungen dabei so lange modifizieren und justieren, bis sie eine subjektiv zufrieden stellende, kohärente und an aktuelle Sinnanforderungen anschließbare mnemonische Struktur realisiert haben (vgl. Rusch 1991, S. 289). Da sich die Bewertungsmuster im Laufe des Lebens verändern, können auch ehemals verworfene oder als inadäquat erscheinende Erinnerungsversionen in der Rückschau bedeutsam werden und so in den individuellen Gedächtnisbestand integriert werden. Der Rückgriff auf Schemata sowie der Prozess der Ekphorie zeigen, dass das individuelle Gedächtnis als dynamisches und kreatives Informationsverarbeitungssystem verstanden werden muss, das Erinnerungselemente nach Maßgabe bestehender, kulturell geprägter Schemata sowie unter den spezifischen Bedingungen der Gegenwart bildet. Diese Prozesse liefern nicht nur eine Erklärung für den oft konstatierten perspektivischen, subjektiven und stets wandelbaren Charakter von Erinnerungen. Sie lassen auch die Frage nach der Funktion des individuellen Gedächtnisses sowie von individuellen Erinnerungen in einem veränderten Licht erscheinen. Die Funktion des Gedächtnisses liegt offenkundig weniger in der detailgenauen Bewahrung von Vergangenem als vielmehr darin, Erinnerungsspuren so zu rekonstruieren, dass sie früheren Erlebnissen im aktuellen Erlebens- und Handlungskontext Bedeutung verleihen: „Erinnerungen halten fest, wie wir Ereignisse erlebt haben, sie sind keine Kopien dieser Ereignisse." (Schacter 2001, S. 23) Menschen erschaffen in der Erinnerung Vergangenheiten, die ihren gegenwärtigen Sinn- und Handlungsanforderungen entsprechen, „und diese Kreativität ist meist eine nützliche" (Keller 1996, S. 41f.). 29 Wie im folgenden Kapitel erläutert wird, hängt insbesondere die Konstitution der individuellen Identität grundlegend von
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Vgl. hierzu auch Zimbardo (1992 [1988], S. 295): „Trotz seiner Fehlleistungen ist das konstruktiv Gedächtnis ein positiver Aspekt kreativer Denkprozesse. Meistens hilft es uns, einer unsicheren Welt Sinn zu verleihen, indem es den passenden Kontext für Verstehen, Interpretieren und Erinnern bereitstellt, so daß wir auch angesichts fragmentarischer Beweislagen handlungsfähig sind. Andernfalls lieferte unser Gedächtnis wenig mehr als Aufzeichnungen, in denen viel von der Bedeutung der Geschehnisse verlorengegangen wäre."
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der Fähigkeit ab, bestimmten Ereignissen in der erinnernden Rückschau einen für das Selbstbild relevanten Sinn zu verleihen. Es sind gerade diese Konstruktivität und Perspektivität von Erinnerungen, die in zeitgenössischen fictions of memoiy zum zentralen Thema avancieren. Zahlreiche Romane führen vor Augen, dass es beim Erinnern weniger um die Faktizität als vielmehr um das sinnstiftende Potential von aktiv geschaffenen bzw. fabulierten Vergangenheiten geht. Literatur verfugt über zahlreiche Möglichkeiten, den dynamisch-konstruktiven Charakter von Erinnerungen vor Augen zu führen: Die Subjektivität kann nicht nur in metamnemonischen Reflexionen zum Gegenstand einer expliziten Thematisierung werden. Sie kann vielmehr auch durch ein Spektrum spezifisch literarischer Erzählverfahren inszeniert werden, das von Innenweltdarstellung über strukturelle Multiperspektivität und unreliable narration bis hin zur Konstruktion von possible worlds reicht. Zwar steht der Realitätsanspruch von Erinnerungen damit in Frage, dennoch scheint gerade in dieser Perspektivität die Möglichkeit einer identitätsstiftenden Aneignung von Vergangenem zu liegen. Darauf macht der Ich-Erzähler in Andre Alexis' Roman Childhood (1998) aufmerksam, wenn er nach der Rekonstruktion seiner Kindheit zu dem Schluss gelangt: „I will have thousands of childhoods before time is done. But this one has its own necessity." (S. 264)
1.2 Erinnerungsbasierte Identitätskonstruktionen Die im Kontext identitätstheoretischer Diskurse zirkulierende Leitfrage, was für ein Mensch jemand ist und sein möchte, impliziert zugleich die Frage, welche Erinnerungen von einem Individuum angeeignet, also als Teil der Identität ausgezeichnet werden; denn „Gedächtnis ist das, was wir sind, nicht nur haben" (Graumann 1997, S. 274). Während die synchrone Dimension der Identität die „Selbsterfahrung des Individuums in verschiedenen lebensweltlichen Kontexten" (Gymnich 2003, S. 33) umfasst und sich auf aktuelle autobiographische Lebensdaten wie Alter, Geschlecht, Familienstand und Beruf bezieht, konstituiert sich die diachrone Dimension aus früheren Selbsterfahrungen. Eine gesunde Entwicklung und Stabilisierung der individuellen Identität ist ohne kontinuitätsstiftende Aneignung dieser vergangenen Erfahrungen undenkbar. Wer wir sind, wie wir unsere Selbst- und Welterfahrungen interpretieren, welche Hoffnungen und Erwartungen wir uns von der Zukunft machen, ist maßgeblich dadurch bestimmt, welche Episoden wir in der erinnernden Rückschau als Teil unserer Vergangenheit annehmen und als wesentlich auszeichnen: „Unsere Erinnerungen gehören unverwechselbar zu uns und sind mit denen anderer Menschen nicht zu vergleichen." (Schacter 2001, S. 38) Das Selbstbild eines Individuums ist daher auch das Resultat einer konstruktiven Gedächtnisleistung, die darauf abzielt, Erinnerungen auf eine diachrone Achse zu projizieren und sinnhaft zur gegenwärtigen Situation in Bezug zu setzen: „Memory establishes life's continuity; it gives meaning to the present, as
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Gedächtnistheoretische Konzepte
each moment is constituted by the past. As the means by which we remember who we are, memory provides the very core of identity." (Sturken 1997, S. 1) Mit Blick auf die essentielle Rolle individueller Erinnerungen liegt es auf der Hand, dass der Verlust des Erinnerungsvermögens, also eine Amnesie, die alltägliche Identitätsarbeit erheblich beeinträchtigt, denn er entzieht dem Individuum die Grundlage für die Konstitution von biographischer Kontinuität und lebensweltlicher Kohärenz. In dem Maße, in dem die autobiographische Erinnerung von Lücken und Brüchen durchsetzt ist, erscheint auch die individuelle Identität als fragmentarisch, dissoziativ und diskontinuierlich. Mit dem Verlust der Fähigkeit, uns unseres vergangenen Selbst zu erinnern, schwindet das Bewusstsein dafür, wer wir (geworden) sind und was wir wollen. Der Erinnerungsverlust wird zum Identitätsverlust: „Wenn die Vergangenheit infolge von Amnesie und Demenz verschwindet, dann erlischt mit ihr [...] auch ein Großteil der Person." (Schacter 2001, S. 261) Die mentale Repräsentation vergangener Ereignisse, die Individuen als ihre persönliche Lebensgeschichte auszeichnen, wird als Inhalt des so genannten autobiographischen Gedächtnisses verstanden. Dieses Gedächtnis system, das zeitlich und räumlich kontextualisierbare Wissens- und Erfahrungsbestände beinhaltet, kann als jene Instanz unseres Selbst definiert werden, „die uns hilft, uns über alle lebensgeschichtlichen Brüche und Veränderungen hinweg als ein kontinuierliches Ich zu erleben" (Welzer 2002, S. 193). Die zentrale Herausforderung des autobiographischen Gedächtnisses besteht darin, neue, selbstrelevante Informationen an bestehende Gedächtnisbestände zu assimilieren und auf diese Weise die Grundlage für das subjektive Gefühl der biographischen Kontinuität zu schaffen. Die Erinnerung an die individuelle Geschichte ist darauf angelegt, eine gegenwärtige Situation zu plausibilisieren und diachrone Veränderungen so aufzubereiten, dass sie mit dem bestehenden Selbstbild kompatibel bleiben. Durch produktive Prozesse der Selektion und Interpretation sorgt das autobiographische Gedächtnis dafür, dass ein Gefühl von relativer biographischer Kontinuität erhalten bleibt. Das autobiographische Gedächtnis ist damit als ein prozessuales System der selbstrelevanten Informationsverarbeitung zu begreifen, das individuelle Erfahrungen im Prozess ihrer gegenwärtigen Verarbeitung bis zu einem gewissen Grad erst erschafft (vgl. Ross/Buehler 1994). In Anlehnung an Sigmund Freud unterscheidet Schacter (2001, S. 45-48) zwei zentrale Modi des autobiographischen Erinnerns: zum einen Felderinnerungen bzw. field memories, zum anderen Beobachtererinnerungen bzw. observer memories. Field memories reaktualisieren vergangenes, situationsspezifisches Wissen aus den Augen der erlebenden, emotional involvierten Person; sie bringen das Vergangene „aus der ursprünglichen Perspektive" (ebd., S. 46), also scheinbar unbeeinträchtigt von nachfolgenden Schematisierungen zur Darstellung und zeichnen sich durch ihre besondere emotionale Intensität aus. Observer memories hingegen rekonstruieren Vergangenes aus einer distanzierten Beobachterperspektive. Da wir uns bei diesem autobiographischen Erinnerungsmodus sozusagen von außen als handelnde Person
Individuelle Erinnerungen und Identitätskonstruktionen
31
sehen, weist er eine vergleichsweise geringe emotionale Intensität auf. Im Unterschied zu field memories sind observer memories von nachfolgenden Einsichten und Erfahrungen überformt, sie verweisen mithin deutlicher auf die Perspektive und Fragestellungen der erinnernden Person. Observer memories sind vor allem für Erinnerungen an die fernere Vergangenheit kennzeichnend, sie sind mithin „modifizierte Versionen des ursprünglichen Ereignisses, das wir anfänglich aus einer Feldperspektive wahrgenommen haben" (ebd., S. 45). Für die sinnstiftende Aneignung von vergangenen Erfahrungen erfüllen beide Erinnerungsmodi zentrale Funktionen: Während field memories die emotionale Dimension von Zurückliegendem .Wiederaufleben' lassen und für das gegenwärtige Identitätsverständnis verfugbar machen, erlauben observer memories eine selbstreflektierte Distanz zu der Vergangenheit und deren aktive Vergegenwärtigung im Lichte aktueller Bedingungen. Wenn persönliche Ereignisse vom Standpunkt der Gegenwart aus gedeutet werden, auf welcher Grundlage operiert dann der Erinnerungsprozess? Und wie kann der Selbstbezug der im autobiographischen Gedächtnis enthaltenen Informationen spezifiziert werden? In diesem Kontext verweisen Gedächtnispsychologinnen auf die Bedeutung von Selbstschemata bzw. -konzepten, die als zentrale Konstituenten für die autobiographische Wissensstruktur, d.h. für die Entwicklung einer Selbstidentität angesehen werden (vgl. Granzow 1993, S. 104; Kornadt/Tromsdorff 1997, S. 291). Zwischen einem aktualisierten Selbstschema und gegenwärtig verfügbaren autobiographischen Erinnerungen besteht ein Verhältnis dynamischer, wechselseitiger Beeinflussung: Selbstschemata prägen die Selektion und Deutung von identitätsrelevanten Erinnerungen: ,,[W]e normally organize our memories upon the string of our s e l f (Mead 1967 [1934], S. 135). 30 Umgekehrt beruhen Selbstschemata aber auch auf vergangenen (erinnerten) Ereignissen, denn die Frage, welche Selbsteinschätzung eine Person vornimmt, ist davon abhängig, welche Erinnerungen sie heranziehen kann. Selbstschema und autobiographische Erinnerung sind also grundlegend aufeinander abgestimmt und werden aneinander angeglichen. Diese Interdependenz leistet einen wesentlichen Beitrag zum Eindruck der biographischen Kontinuität, da im Normalfall nur das erinnert wird, was mit dem gegenwärtigen Selbstbild in Einklang gebracht werden kann. Die wechselseitige Durchdringung von autobiographischen Erinnerungen und gegenwärtigen Selbstschemata verdeutlicht einmal mehr, dass Kontinuitätsstiftung ohne konstruktive Erinnerungsakte nicht denkbar ist. Da sich die „Rahmenbedingungen für Konstanz und Konsistenz" (Glomb 1997, S. 22) im Verlaufe des Lebens verändern, müssen auch die vergangenen Ereignisse gemäß zwischenzeitlich erworbener Deutungsmuster und Relevanzkriterien neu interpretiert werden (vgl. 30
Auch Rusch (1987, S. 363) betont die Harmonisierung von Erinnerungen und Selbstschema: „Und so kommt in Fällen alternativer Elaborationsvarianten eine entscheidende Rolle zum Beispiel der Tendenz zu, aus Gründen der Konsonanz des Selbst-Konzeptes [...] des Erinnernden diejenige Variante zu favorisieren, die das Selbst-Bild bestätigt oder mit diesem zumindest nicht konfligiert."
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Gedächtnistheoretische Konzepte
Keller 1996, S. 41). 3 1 Die Rolle, die bestimmten Erlebnissen für die individuelle Identitätsformation zukommt, kann — und in funktionaler Hinsicht muss sie dies sogar — im Lichte neuer Erfahrungen und gewandelter Sinnbedürfnisse unterschiedlich gedeutet werden. Diese Einsicht in die prinzipielle Variabilität der autobiographischen Erinnerung hat Greenwald (1980) zur Rede von einem „totalitarian e g o " veranlasst. 3 2 E i n e m totalitären Staat vergleichbar scheint das Ich uneingeschränkte Macht über seine Vergangenheit zu haben, seine individuelle Autobiographie je nach situativen Erfordernissen und individuellen Sinnbedürfnissen stetig neu zu gestalten. Zwar muss der Wahrheitsgehalt von autobiographischen Erinnerungen damit bis zu einem bestimmten Grad unsicher bleiben. In dem Maße allerdings, in dem solche aktiven Konstruktionen einen Beitrag zur Formation der individuellen Identität leisten, sind sie nicht mit bloßen .Erfindungen' oder .Verfälschungen' gleichzusetzen, sondern als grundlegender Modus der Sinnbildung zu begreifen (vgl. Hirshberg 1989, S. 379). Die konstitutiv menschliche Fähigkeit, persönlich signifikante Ereignisse in der erinnernden Rückschau so zu selektieren und zu deuten, dass diese mit bestehenden Gedächtnisbeständen und Selbstschemata in Einklang zu bringen sind, stellt sich als eine unverzichtbare Leistung der individuellen Identitätskonstitution dar. Diese Erläuterungen der Voraussetzungen und Folgen von autobiographischer Erinnerungs- und Identitätsarbeit sollen keineswegs implizieren, dass der Prozess der Harmonisierung nicht auch fehlschlagen kann. Gerade die Erinnerung an unerwartete, hochgradig belastende Erfahrungen kann die Fähigkeit zur Kontinuitätsstiftung nachhaltig erschüttern.
Solche, zumeist als traumatisch
bezeichneten
Erlebnisse überfordern die individuellen Bewältigungsmöglichkeiten und können angesichts ihrer extremen emotionalen Intensität nicht hinreichend verarbeitet und an bestehende Gedächtnisbestände angeschlossen werden. 3 3 Traumatische Erfahrungen werden häufig von den übrigen Gedächtnisbeständen dissoziiert, so dass der Eindruck einer Erinnerungslücke entsteht. Sie werden in sich unfreiwillig einstellenden - von anderen Sinnesmodalitäten losgelöst erscheinenden — Erinnerungsfragmenten
zwanghaft
reproduziert.
Das
Trauma
manifestiert
sich
als
andauernder Fremdkörper im Gedächtnis, als .verkörperte' bzw. .eingeschriebene' Erinnerung, die sich einer sinnstiftenden, konstruktiven Verarbeitung entzieht. 31
Vgl. auch Lambek (1996, S. 244), der betont: „Individual memory [...] is never literal reproduction,
32
Mit der Akzentuierung der Dynamik und Variabilität der autobiographischen Erinnerungsbildung
but an artifice to render the continuity in change realistic." soll nicht in Abrede gestellt werden, dass bestimmte Erfahrungen derart identitätsrelevant sein können, dass sie der eigenen Erinnerung konstant zugrunde liegen. Dazu mögen persönlich signifikante und emotional hochgradig besetzte Erfahrungen wie die erste Liebe, die Geburt eigener Kinder, berufliche Erfolge und Niederlagen, Krankheiten oder Todesfälle gehören (vgl. Brockmeier 1999, S. 30). Koselleck (1995; zit. n. Brockmeier ebd.) hat solche nachhaltig prägenden, „unaustauschbaren" Schlüsselerfahrungen treffend als „glühende Lavamasse, zur Erinnerung geronnen" bezeichnet, womit er auch die solchen Erfahrungen zukommende sinnliche Präsenz akzentuiert. 33
Zur Bedeutung von Traumata vgl. Laub (2001), Roth (1995, 1998) sowie Fricke (2004). Einen kurzen Überblick liefert Neumann (2004b).
Individuelle Erinnerungen und Identitätskonstruktionen
33
Können bestimmte Erinnerungen nicht an bestehende Selbstschemata assimiliert werden, so stehen die biographische Kontinuität und die Geschlossenheit der individuellen Identität in Frage. Identitätskrisen stellen sich damit auch als Erinnerungskrisen dar, scheitert der Einzelne in diesem Fall doch daran, einschneidende Erfahrungen plausibilisierend an bestehende Gedächtnisbestände anzuschließen. Dass Erinnerungen auch ein eminent zerstörerisches Potential inhärent sein kann, welches die autobiographische Kohärenz maßgeblich beeinträchtigt, zeigt vor allem die zeitgenössische Literatur. Aktive Versuche, das Vergangene zu vergessen, gehören ebenso zum Erzählgegenstand der fictions of memory wie das Unvermögen, den zurückliegenden Erfahrungen eine identitätsstabilisierende Bedeutung zuzusprechen. Literarische Texte können bei der Exploration des destruktiven Potentials von Erinnerungen auf eine Bandbreite ästhetischer Verfahren zurückgreifen, die von Spezifika der Zeitstruktur über Innenweltdarstellung bis hin zu metaphorischen Darstellungsweisen reicht. Vor allem die Auflösung eines singulären Plots und die anachronische Zeitstruktur werden in fictions of memory häufig dazu funktionalisiert, die Grenzen des Sinnstiftungsprozesses zu markieren und kognitiven sowie emotionalen Instabilitäten Ausdruck zu verleihen. Dem positiven und therapeutischen Sinnversprechen von Erinnerungen stellen solche Romane deren schmerzhafte und destabilisierende Qualität entgegen. Fictions of memory, die das identitätszerstörende Potential von Erinnerungen in den Vordergrund rücken, zeigen die Probleme auf, die mit Sinnstiftungsversuchen verbunden sind, und problematisieren die Vorstellung von der variablen Konstruktivität von autobiographischen Erinnerungen. Sie illustrieren, dass sich viele Erinnerungen angesichts ihres prekären Charakters einer kreativen und .anwendungsbezogenen' Umdeutung widersetzen, und relativieren damit die Annahme eines beliebigen mnemonischen Gestaltungsspielraums. Jenseits der Funktionalität von Erinnerungen für die Identitätsstiftung stellt sich die Frage nach den spezifischen Verknüpfungsmöglichkeiten bzw. nach möglichen Organisationsprinzipien von Erinnerungen. Sind die Synthetisierung von autobiographischen Erinnerungen und ihre Überführung in eine .Lebensgeschichte' völlig beliebig oder sind sie nicht doch bis zu einem gewissen Maße an strukturelle Ablaufmuster gekoppelt? Vor allem wenn es, wie bei der individuellen Identitätsformation, darum geht, eine kontextuell sinnhafte Brücke zwischen den im Laufe des Lebens eintretenden Ereignissen zu schlagen und auf einen bedeutungsvollen Schwerpunkt hin zu fokussieren, haben Autorinnen und Autoren aus unterschiedlichen Disziplinen auf die herausragende Bedeutung von Narrationen aufmerksam gemacht. Narrationen gelten als ausgezeichnetes Instrument zur Konstruktion eines Gesamtzusammenhangs zwischen verschiedenen Ereignissen und können daher auch einen Bogen zwischen zeitlich weit auseinander liegenden autobiographischen Gedächtnisbeständen spannen. Im Unterschied zu einzelnen autobiographischen Erinnerungen erfordert die narrativ konstruierte Lebensgeschichte eine umfassendere Synthetisierung und eine Herleitung des aktuellen Selbst aus zentralen vorherigen Lebensstationen (vgl. Habermas/Bluck 2000). Die
34
Gedächtnistheoretische Konzepte
Narration kann als ein universeller Modus der Strukturierung von Erfahrung und Wissen sowie von Kommunikation und Handeln begriffen werden. So soll im Folgenden die Leistung dieser Art von Ordnungsstiftung für die individuelle Identitätsbildung näher beleuchtet werden.
1.3 Die Bedeutung von Selbstnarrationen für die individuelle Identitätskonstruktion: Biographische Kontinuität als ,a fiction of memory' Um Lebenserfahrungen und Ereignisse, die für die Identität einer Person relevant sind, entlang einer 2eitlichen Dimension zu strukturieren, bietet sich das Narrativ als anthropologisch ubiquitäres Muster der Formgebung an (vgl. Angehrn 1985, S. 3). 34 Die Erzählung bzw. die Geschichte kann als ein kognitiv strukturierendes Organisationsprinzip konzeptualisiert werden, dessen Leistung darin besteht, vorerst disparate Elemente systematisch in eine sinnhafte Beziehung zu einem Ganzen zu setzen. 35 Narrationen können beliebigen Erfahrungen eine sinnhafte Qualität 34
Die eminente Bedeutung von Selbstnarrationen für die menschliche Handlungsorientierung und Erfahrungsbildung wird von Hardy (1968, S. 5) expliziert: ,,[W]e dream in narrative, daydream in narrative, remember, anticipate, hope, despair, believe, doubt, plan, revise, criticize, gossip, learn, hate and love by narrative. In order really to live, we make up stories about ourselves and others". Vgl. auch Wilhelm Schapp (1975), der prägnant formuliert hat, dass wir alle unausweichlich ,in Geschichten verstrickt sind'.
35
Erzählungen werden in dieser Studie primär als ein retrospektiver Modus der Erfahrungs- und Erkenntnisbildung angesehen, denn vorsprachliche bzw. pränarrative Modi des Erlebens können nicht negiert werden. Es sei darauf verwiesen, dass die narrative Strukturierung von einigen Narrationstheoretikern sowie narrativen Psychologen nicht bloß als nachträglicher Akt der Sinnstiftung konzeptualisiert wird. Vielmehr wird er oftmals als angeborener, universeller Modus der Strukturierung von Erfahrung und Wissen begriffen, der bereits innerpsychischen Bereichen der kognitiven Erfahrungsbildung und -speicherung zugrunde liegt. In der Narrationstheorie vertreten beispielsweise Carr (1986), Maclntyre (1987 [1981]) und Kerby (1997) die These, alle mentalen Inhalte seien in narrativen Schemata repräsentiert. Gemäß dieser Perspektive sind narrative Strukturen nicht erst das Resultat sprachlich-kommunikativer Externalisierung oder retrospektiver Überformung, sondern immanenter Bestand des menschlichen Erlebens und Handelns. So versteht etwa Maclntyre (1987, S. 283) das Narrativ als basales menschliches Organisationsprinzip, welches bereits das lebensweltliche Erleben, Handeln sowie die Erfahrungsbildung strukturiert: „Weil wir alle in unserem Leben Erzählungen ausleben und unser Leben mit Hilfe der Erzählungen, die wir ausleben, verstehen, eignet sich die Form der Erzählung dazu, die Handlungen anderer zu verstehen. Geschichten werden gelebt, bevor sie erzählt werden - außer in Romanen." Eine vermittelnde Position vertritt Polkinghorne (1998, S. 23). Zwar geht auch er von einer pränarrativen Qualität der Erfahrung aus; allerdings betont er, dass die pränarrative Dimension der Erfahrung erst in der reflexiven Rückschau in eine elaborierte Erzählung transformiert werden kann: „Narratives Wissen ist demnach eine reflexive Explikation der pränarrativen Qualität unreflektierter Erfahrung; es ist ein Ausbuchstabieren der Geschichte, welche die Erfahrung verkörpert." Im Gegensatz zu der so genannten .starken These' von der narrativen Form aller Wissensbestände und der pränarrativen Strukturierung menschlichen Erlebens wird in dieser Studie davon ausgegangen, dass Handlungs-
Individuelle Erinnerungen und Identitätskonstruktionen
35
verleihen, die sie vor allem durch ihre Integration in eine erzählerische Ordnung erhalten. Eine Erzählung ist nicht mit den realen Ereignissen identisch, sondern greift auf diese zurück und überfuhrt sie in ein symbolisches Repräsentationsformat. Es unterscheidet Narrationen grundlegend von anderen diskursiven Darstellungsmodi wie etwa Traktaten, Gesetzestexten, Berichten, dass sie sich mit dem Verlauf von subjektiven und partikularen Erfahrungen in einem konkreten Handlungszusammenhang beschäftigen (vgl. Echterhoff/Straub 2003, S. 333). In seiner viel beachteten Unterscheidung zwischen dem paradigmatischen und dem narrativen Modus hat Jerome Bruner (1986) die Besonderheiten des Prädikators .narrativ' zu bestimmen versucht. Während der paradigmatische Modus durch Formen der deduktiven Logik zu allgemeinen Erkenntnissen zu gelangen versucht, zielen Narrationen durch die Darstellung von individuellen Schicksalen auf die Überzeugung der mentalen Vorstellungskräfte ab. Erzählungen - und dies gilt für nicht-fiktionale ebenso wie für fiktionale Narrative - fokussieren den Verlauf von intentionalen Bemühungen, die Realisierung oder das Scheitern von planvollem Handeln. Impliziert ist damit die Präsenz mindestens eines handelnden Akteurs. Das distinkte Leistungsvermögen von Erzählungen, nämlich die Herstellung einer erkennbaren und nachvollziehbaren Ähnlichkeit zu lebensweltlichen Begebenheiten, beruht gerade auf der Darstellung von menschlichen Absichten, Motiven und Bestrebungen sowie dem Ablauf ihrer versuchten Durchführung. Erst durch die an einzelne Akteure gebundene Intentionalität von Handlungen gewinnen vorerst kontingente Ereignisse eine subjektiv aussagekräftige Bedeutung (vgl. Echterhoff/Straub 2003, S. 333). Trotz einer Vielzahl divergenter Bestimmungen stimmen viele Definitionsversuche unterschiedlicher Disziplinen heute weit gehend darin überein, dass Erzählungen bestimmte Ereignisse auswählen und diese - qua Prozesse der Konfiguration - in eine sequenzielle Ordnung bringen, Erzählungen einzelne Ereignisse also in einen komplexen zeitlichen Bezug zueinander setzen. Der Vorgang, durch den eine vorerst unverbundene Folge von Begebenheiten oder Einzelelementen in die Form einer Geschichte gebracht wird, wird häufig als .Emplotment' bezeichnet. 36 Durch den Akt des .Emplotment' werden einzelne Begebenheiten, die mit Handlungen von Protagonisten in Wechselwirkung stehen, so miteinander verknüpft, dass eine mehr oder weniger einheitliche Gestalt bzw. eine temporale
fragmente bzw. Erinnerungen retrospektiv bei hinreichender Fokussierung zwar stets in narrative Strukturen eingebettet werden können. Gerade bei wenig bewusst erlebten Ereignissen ist es jedoch kaum überzeugend, ihnen eine inhärente narrative Struktur zuzusprechen. Narrative Schemata alleine sind demnach nie ausreichend, um eine mentale Repräsentation in erzählerischer Form zu gewährleisten. Kurzum: Die Bedeutung von Erzählungen für die Sinn- und Identitätskonstruktion ist also kaum zu überschätzen; dies bedeutet jedoch keineswegs, dass die menschliche Welt in ihrer Gesamtheit sprachlich konstituiert ist. 36
Vgl. hierzu die einschlägige Definition des Geschichtstheoretikers Hayden Whites (1973, S. 7): „Emplotment is the way by which a sequence of events fashioned into a story is gradually revealed to be a story of a particular kind".
36
Gedächtnistheoretische Konzepte
Ganzheit entsteht. Heterogene Ereignisse stehen in einer Narration nicht unverbunden nebeneinander, sondern werden in einen diachron strukturierten Verweisungszusammenhang integriert, der eine kontinuierliche Abfolge einzelner Ereignisse suggeriert (vgl. Echterhoff 2002, S. 266). Der Begriff des ,Emplotment' akzentuiert den konstruktiven Charakter von Erzählungen: So können aus dem selben Repertoire vorgängiger Ereignisse durch verschiedene Formen des Emplotment ganz unterschiedliche Erzählungen konstruiert werden. Erst der Prozess des Emplotment, den Paul Ricoeur (1988 [1983], S. 106) mit der Phrase der „Synthesis des Heterogenen" treffend auf den Begriff gebracht hat, verleiht den selegierten Ereignissen Sinn und Bedeutung. Das spezifische Emplotment ist mithin immer auch schon eine Interpretation des Dargestellten, durch die bestimmte Elemente qua Relationierung als bedeutungsvoll verstanden werden (vgl. White 1973). Da das Hauptaugenmerk dieser Arbeit auf dem Nexus von Identität, Erinnern und Erzählen liegt, sollen im Folgenden in erster Linie die spezifischen Leistungen von Narrationen für die individuelle Identitätsbildung fokussiert werden.37 Identitätstheorien liegt die Annahme zugrunde, dass Individuen danach streben, eine als kohärent und bedeutungsvoll erlebbare Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart bzw. zwischen vergangenem und gegenwärtigem Selbst herzustellen. Welchen Beitrag, so die für die folgenden Ausführungen richtungsweisende Frage, können Narrationen zum Aufbau dieser lebensweltlichen Kohärenz und Kontinuität leisten?38 In der narrativen Psychologie, Autobiographieforschung und Philosophie hat die Einsicht in die konstitutive Bedeutung von Erzählung für die Bildung von biographischer Kontinuität und Identität das Konzept der .narrativen Identität' hervorgebracht. Ansätze zur narrativen Identität gehen davon aus, dass eine Erzählung nicht nur pragmatisch-interaktive oder ästhetische Funktionen erfüllt, sondern als elementarer anthropologischer Modus der Orientierungsbildung unverzichtbarer Teil der individuellen Identitätsformation ist.39 Zwar geht die individuelle Identität nicht vollständig in Selbstgeschichten auf, denn es existieren andere, zentrale Formen der Identitätskonstitution und -präsentation (vgl. Straus/Höfer 1997, S. 297; Polkinghorne 1988, S. 150; Ricoeur 1996 [1990]). Allerdings basiert die dia-
37
Die Funktion von Erzählungen ist offensichtlich nicht auf Identitätsbildung und Identitätsrepräsentation beschränkt. Erzählungen zeichnen sich durch ihre Multifunktionalität aus und können hiermit ein ganzes Spektrum verschiedener Funktionen wie etwa der Urteilsbildung, Strukturierung von Wahrnehmung oder der Emotionserzeugung übernehmen. Einen Überblick über mögliche Funktionen von Erzählungen liefern Quasthoff (2001) sowie Echterhoff/Straub (2004).
38
W e n n hier von Selbstnarrationen die Rede ist, so werden diese erstmal als internes — nicht intersubjektiv kommuniziertes - Repräsentationsformat der eigenen Lebensgeschichte konzipiert. Zur intersubjektiven Aushandlung von Selbstgeschichten siehe Kap. II.2.3.
39
Stellvertretend für andere sei hier auf die einschlägigen Studien v o n Freemann (1983), Bruner (1990), Straub (1998a), Ricoeur (1991 [1985]), Hinchman/Hinchman (1997a), Polkinghorne (1998), Brockmeier (1999, 2005) und Eakin (1999) verwiesen.
Individuelle Erinnerungen und Identicätskonstruktionen
37
chrone Dimension der Identität maßgeblich auf dem Erzählen von Selbstgeschichten. Erst diese sprachliche Praxis ermöglicht die Bearbeitung von temporaler Differenz und damit biographische Kontinuität. Identitätsarbeit, so lautet die Grundannahme narrativ informierter Identitätstheorien, ist daher stets auch Narrationsarbeit. „Auf die Frage .wer?'antworten, heißt [...], die Geschichte eines Lebens zu erzählen." (Ricceur 1991 [1985], S. 395) Selbsterzählungen verleihen autobiographischen Erinnerungen eine strukturierte Form und liefern narrative Antworten auf die Frage nach dem Gewordensein der individuellen Identität: Personal identity, the answer to the riddle of ,who' people are, takes shape in the stories we tell about ourselves. Such stories [...] are the narratives that w e construct as w e orient our present choices and actions in light o f our imagined futures and the version o f our pasts that fits with these projects.
(Hinchman/Hinchman
1 9 9 7 b , S. xvii) 40
Erzählend organisieren Individuen demnach vergangene Erfahrungen und fundieren auf dieser narrativen Basis ihr momentanes Selbst- und Weltverständnis. Worin liegt nun das spezifische Leistungsspektrum von Erzählungen für die individuelle Selbstkonstitution, oder, anders gefragt, warum werden wir nicht müde, unsere Lebensgeschichten wieder und wieder zu erzählen? Als Hauptfunktion der Narration gilt die Stiftung eines kohärenten und kontinuierlichen Zusammenhangs zwischen heterogenen Erfahrungs- und Wissenselementen. Dieser Zusammenhang wird gemeinhin als eine bedeutungsstrukturierende Synthese von Ereignissen wahrgenommen, da ein Ereignis temporal und logisch zu anderen in Beziehung gesetzt wird (vgl. Straub 1998b, S. 128). Die Erzählung bringt Wahrnehmungen, Gedanken und Motive in eine nicht bloß konsekutive Abfolge, sondern in einen „diachron strukturierten Verweisungszusammenhang" (Echterhoff/Straub 2004, S. 156). Die narrative Ordnung verortet Geschehnisse auf einer Zeitachse bzw. konfiguriert sie in Form eines zeitlichen Ganzen. Sie ist damit auch immer eine temporale Struktur (vgl. Ricceur 1988 [1983], S. 107). Narrationen binden die Vergangenheit an die Gegenwart an und entwerfen auf dieser Grundlage zugleich antizipative Vorstellungen und Erwartungen für die Zukunft. Erzählungen operieren mit ,kopräsenten Perspektiven' (vgl. Echterhoff/Straub 2004, S. 157), denn sie stellen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in ein komplexes Verhältnis der Interdependenz. Der Narrativierungsprozess transformiert die drei grundlegenden Zeitdimensionen in eine synthetisierende Vorstellung von Entwicklungstw/ü»/?« (vgl. Angehrn 1985, S. 38): Es geht in Erzählungen um Gewordenes, Bleibendes und Zukünftiges in der narrativ konstruier40
Vgl. Brockmeier/Carbaugh (2001b, S. 15), die die Bedeutung von Selbstnarrationen für den Aufbau und die Stabilisierung der personalen Identität konzise herausstellen: „|T]he very idea of human identity — perhaps we can even say, the very possibility of human identity - is tied to the very notion of narrative and narrativitiy." Ebenso prägnant fasst auch Eakin (1999, S. 100) den unauflöslichen Zusammenhang zwischen Identität und Narration zusammen: „When it comes to autobiography, narrative and identity are so intimately linked that each constantly and properly gravitates into the conceptual field of the other."
38
Gedächtnistheoretische Konzepte
ten Zeit. Narrationen interpretieren vergangene Erfahrungen, thematisieren menschliche Absichten und Ziele auf eine Art und Weise, die die Gegenwart verständlich und die Zukunft vorhersehbar macht. Kurzum, Geschichten vermögen es auf einzigartige Weise, Kontinuität zwischen vorerst unverbundenen Ereignissen zu generieren und eine sinnhafte Entwicklung bzw. Verlaufsgestalt zu suggerieren: ,,[E]mplotment humanizes our experience of time, making its passage meaningful for us. It gives order and direction to events that otherwise might be perceived as random or isolated." (Hinchman/Hinchman 1997c, S. 1) Für die individuelle Identitätsformation ist diese temporale Verknüpfungsleistung von Narrationen insofern von herausragender Bedeutung, als sie wesentlich zur Konstitution und Stabilisierung einer diachronen Identität beiträgt (vgl. Straub 2001, S. 270; Straub 2004). Personen streben danach, so die Grundannahme von Identitätstheorien, ihre Erfahrungen in einen sinnvollen, kontinuierlichen und konsistenten Zusammenhang einzubetten, um so dem eigenen Leben eine — mehr oder minder — dauerhafte und kommunizierbare Gestalt zu verleihen.41 Angesichts ihres Temporalisierungspotentials vermögen es Narrationen, vergangene und gegenwärtige Erfahrungen in einen zielgerichteten Bezug zu setzen und ihnen damit eine bedeutungstragende Wirklichkeit zuzusprechen. Selbstnarrationen beschreiben einen Ausgangspunkt auf ein Ziel hin und unterstellen der eigenen Geschichte ein Entwicklungsmotiv, das diachrone Veränderungen verständlich macht und auf die Gegenwart zurückbezieht. In ihrer diachronen Dimension plausibilisieren sie die temporale Tiefenstruktur der individuellen Identität, thematisieren und interpretieren Entwicklungen und Unterschiede zwischen dem aktuellen, erinnernden Ich und den vergangenen, zu erinnernden ,Ichs' (vgl. Hinchman/Hinchman 1997c, S. 1; Straub 1998b, S. 129). Das vergangene Ich wird im Zuge der Narrativierung dem gegenwärtigen Ich angenähert, bis beide Identitätskomponenten schließlich — in den Worten Bruners (2001, S. 27) — ,zu einer einzigen Person mit einem gemeinsamen Bewusstsein' verschmelzen. Selbstnarrationen strukturieren identitätsrelevante Ereignisse entlang einer Zeitachse und stellen damit Antworten auf die Frage bereit „Warum bin ich so geworden, wie ich bin?" Sie weisen die zeitlich disparaten Erfahrungsepisoden als relative, auf ein Telos ausgerichtete Einheit aus und wirken der Diversifizierung der individuellen Identität entgegen. Mit der Stiftung eines kontinuierlichen Zusammenhangs zwischen einzelnen Erinnerungen ist zugleich eine weitere Funktion der Narration angesprochen, nämlich die der Kontingenzreduktion. So gewinnt ein zeitlich und sequentiell nachgeordnetes Ereignis allein durch seine narrative Einbettung einen höheren Grad an Wahrscheinlichkeit als andere mögliche, nicht-kontextualisierte Ereignisse (vgl. Echterhoff 2002). Es verliert hiermit seine ursprüngliche Kontingenz, denn es wird plausibler: „Das Erzählen von Geschichten ermögEcht es, Kontingenz zu
41
Vgl. hierzu Hirst/Manier/Apetroaia (1997, S. 164): „What makes the autobiographical recollection important to the self is not the memories per se, but the interpretation of the memories, or more specifically, the narrative told around the memories."
39
Individuelle Erinnerungen und Identitätskonstruktionen
thematisieren und zugleich zu bearbeiten." (Straub 1998b, S. 143) Anfanglich kontingente, zufällige und disparate Vorfälle werden in einen „handlungsimmanenten Zusammenhang" (Ricoeur 1988, S. 70) überfuhrt und scheinen auf diese Weise folgerichtig auseinander hervorzugehen. 42 Autobiographische Erzählungen stellen also nicht nur Entwicklungen dar, sondern erklären diese (vgl. Brockmeier 1999, S. 35); sie transformieren Unwahrscheinliches in Wahrscheinliches und verwandeln „Zufall in ein Geschick" (Ricceur 1996 [1990], S. 182]:« Erzählungen und Geschichten waren und bleiben die einzigartige menschliche Form, das eigene Erleben zu ordnen, zu bearbeiten und zu begreifen. Erst in der Geschichte, in einer geordneten Sequenz von Ereignissen und deren Interpretation gewinnt das Chaos von Eindrücken und Erfahrungen, dem jeder Mensch täglich unterworfen ist, eine gewisse Struktur, vielleicht sogar einen Sinn. (Ernst 1996, S.
202) Selbstnarrationen dienen demnach in funktionaler Hinsicht der Synthetisierung und Interpretation von disparaten Erinnerungen: Die durch die Narrativierung gewährleistete Kontingenzreduktion und Kontinuitätsstiftung verdichtet sich zur Gestalt einer „integrierenden Identität" (Polkinghorne 1998, S. 28). Zu bedenken ist in diesem Zusammenhang allerdings, dass die die Erzählung motivierende Kontingenz durch die Narrativierung bei Weitem nicht völlig aufgehoben wird bzw. werden kann. Als .Motivationsrest' (Koselleck 1985) von Geschichten bleibt der Zufall bestehen. Eine Erfahrung, deren Kontingenz durch die Narration gänzlich reduziert wird, ist es kaum wert, erzählt zu werden. Gerade als Modi der Sinnkonstruktionen sind Narrationen Orte der Vieldeutigkeit und Offenheit, deren gestalterische
Komplexität
auf
emotionale
und
affektive
Instabilitäten,
auf
die
Möglichkeit von immer neuen Interpretationen und Reinterpretationen der eigenen Vergangenheit verweist. Zweifellos stellt die größte Anforderung an die sinnstiftende Produktion die Integration erwartungswidriger Ereignisse dar, also solcher Vorkommnisse, die einen recht hohen Grad an Unvorhersehbarkeit aufweisen und die das individuelle Selbstbild in Frage stellen. Solche vergleichsweise komplizierenden
Ereignisse
erzeugen Unsicherheit und fordern die Sinnstiftungsbemühungen der erzählenden Person in besonderem Maße heraus. Von der Frage, ob es gelingt, auch solche destabilisierenden Erfahrungen als plausiblen Bestandteil der eigenen Lebensgeschichte auszuweisen, ihnen also durch die Einbettung in einen diachron strukturierten Zusammenhang ihre Außerordentlichkeit zu nehmen, hängt die Erfahrung von biographischer Kontinuität und Bedeutsamkeit ab. Ersichtlich wird damit einmal mehr, dass die Begriffe .Identität' und .Kontinuität' kein unveränderliches
42
Vgl. hierzu auch Ricoeur (1996, S. 182): „ D i e konkordant-diskordante Synthesis bewirkt, daß die K o n t i n g e n z eines Ereignisses zur gewissermaßen nachträglichen Notwendigkeit einer Lebensgeschichte beiträgt, mit der die Identität der Figur gleichzusetzen ist."
43
Vgl. hierzu auch E r n s t (2001, S. 403), der die Leistung von Narrationen als „Transformation von Unwahrscheinüchkeit in Wahrscheinlichkeit" bestimmt.
40
Gedächtnistheoretische Konzepte
Substrat oder gar einen festen Wesenskern implizieren, sondern diese erst durch den Akt der Narration geschaffen werden und somit als konstruktive Leistungen anzusehen sind. Konstruktiv ist die durch Selbsterzählungen geschaffene Identität allein schon deswegen, weil sie auf autobiographischen Erinnerungen basiert und diese — wie im vorangehenden Kapitel dargelegt — lediglich „eine partielle Rekonstruktion der Vergangenheit [ist], die Gedächtnisspuren nach Maßgabe gegenwärtiger Bedürfnisse und Deutungen berücksichtigt und verknüpft" (Polkinghorne 1998, S. 24). Diese konstruktive Qualität wird durch den Prozess der narrativen Strukturierung noch verstärkt, da dieser darauf angelegt ist, den Eindruck einer geschlossenen Lebensgeschichte zu suggerieren. Die wesentlichen Leistungen von Selbstnarrationen, also die Kontinuitätsstiftung und Kontingenzreduktion, basieren auf Synthetisierungsprozessen, die ohne Vereinfachung bzw. „narrative[...] Glättung" (ebd., S. 25) der Erfahrungswirklichkeit undenkbar wären: Im Zuge der narrativen Gestaltung einer ,Lebensepisode' lassen Erzählungen häufig Details aus und verdichten Teile (Kondensierung, flattening, andere elaborieren und übertrieben sie (Überhöhung, Detaillierung, sharpening), wieder andere Teile machen sie kompakter und konsistenter (Rationalisierung), um eine kohärente und verständliche Erklärung zu liefern. (Ebd.)
Erst die Profilierung von bestimmten und die Aussparung von anderen Erfahrungsepisoden tragen dazu bei, eine plausible, auf ein Telos bezogene Entwicklung zu insinuieren. Narrative Glättungen sind daher als Teil einer .retrospektiven Teleologie' zu konzipieren (vgl. Brockmeier 1999, S. 35f.): So kann die Frage, welche Ereignisse der Vergangenheit zu bedeutungsvollen Momenten der Lebensgeschichte stilisiert werden, erst im autobiographischen Rückblick beantwortet werden, also vor dem Hintergrund eines bereits bekannten Endpunkts: „Da das (vorläufige) Ende der Geschichte bereits gegeben ist, wenn ihr Anfang erzählt wird, stellt es sich im Rückblick nur allzu leicht als Resultat einer von eben jenem Anfang ausund auf das gegenwärtige Ende zugehenden Entwicklung dar." (Ebd. S. 36.) Narrative Formungen leisten einen maßgeblichen Beitrag zu dem Eindruck, dass bestimmte Ereignisse folgerichtig auseinander hervorgehen und sich das eigene Leben entwicklungstheoretisch zwangsläufig zu entfalten scheint. Und je kohärenter eine Geschichte strukturiert ist, desto plausibler erscheint auch die individuelle Identität (vgl. ebd.): „Die Identität, um die es in der Geschichte geht, ist nicht mehr vorausgesetzte, sondern hervorgebrachte Identität; als solches ist sie nichts anderes als die .Einheit eines Erzählzusammenhangs'." (Angehrn 1985, S. 70) Das subjektive Gefühl der Geschlossenheit der individuellen Identität — kurz, die biographische Illusion' (Bourdieu 1990) — verdankt sich somit maßgeblich einer höchst komplexen Narrativierungsleistung mit spezifisch performativer Qualität (vgl. Eakin 1985, S. 8). Eakin (1999, S. 95) macht darauf in aller Deutlichkeit aufmerksam, wenn er das auf der narrativ erzeugten Syntheseleistung gründende Gefühl der biographischen Kontinuität als „a fiction of memory" bezeichnet.
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Individuelle Erinnerungen und Identitätskonstruktionen
Die performative Kraft von Selbstnarrationen impliziert auch, dass die narrativ strukturierte Entwicklung und die auf ihnen beruhenden Identitätskonstruktionen eine orientierungsbildende Matrix für zukünftige, mögliche Selbstbilder zur Verfügung stellen und damit unmittelbar auf lebensweltliches Verhalten zurückwirken können. Durch ihre Integration in einen narrativen Verweisungszusammenhang wird Ereignissen ein Entwicklungsmotiv unterstellt, das sich angesichts seiner eingängigen Form hervorragend zur zukünftigen Handlungsausrichtung eignet. In dem Maße, in dem sich die erinnernde Person in ihren eigenen Selbstnarrationen wiedererkennen kann (vgl. Ricceur 1991 [1985], S. 395f.), nehmen die narrativen Bedeutungskonstrukte maßgeblichen Einfluss auf ihr künftiges Tun. Personen orientieren ihre Erfahrungsweisen an ihren selbst geschaffenen Narrationen, an ihren eigenen „Mustergeschichten" (Meuter 1995, S. 147) und werden so gleichsam zum „Opfer [ihrer] eigenen Verführungskünste" (Rusch 1987, S. 374). Erzählungen sind damit nicht nur als psychologisch-kognitiver und retrospektiver Modus der Sinnstiftung zu konzeptualisieren; vielmehr beeinflussen die vorerst internen Kognitionsprozesse auch konkrete, externalisierte Handlungen. So ist der Einzelne nicht nur Produzent, sondern auch Produkt seiner Lebensgeschichte: ,,[I]n the end, we become the autobiographical narratives by which we ,tell about' our lives." (Bruner 1987, S. 15) Die Bedeutungszuschreibung durch Kohärenzstiftung, Plausibilisierung und Temporalisierung ist somit als zentrale Leistung der Narration deutlich geworden. Jedoch stellt sich jenseits dieser funktionalen Charakterisierung auch die Frage nach der internen Struktur bzw. den Inhalten von Selbstnarrationen: Ist der Aufbau einer Narration beliebig oder sind die Stationen einer Erzählung nicht bis zu einem gewissen Grad — durch psychische, soziale oder kulturelle Faktoren — eingeschränkt und damit präkonfiguriert? Welches Spektrum von Bedeutungen stiften Narrationen überhaupt, wenn sie nicht jede mögliche Abfolge von Ereignissen zulassen? Obgleich natürlich nicht von einem allgemein gültigen Geschichtenschema auszugehen ist, gilt doch ein triadischer Aufbau von Narrationen als weit gehend anerkannte Grundstruktur, die den Gestaltungsspielraum präkonfiguriert. 44 Prototypische Geschichten schlagen einen Bogen „von einem anfanglichen Ausgangszustand über einen
HandlungsVollzug
bis hin zum
Ergebnis
der
Handlung"
(Echterhoff 2002, S. 281), wobei eine Hauptanforderung in der Klärung kausaler und temporaler Relationen besteht (vgl. Schmidt 1991c, S. 37). Eine Erzählung beschreibt zumeist ein Hindernis, das Veränderungen zwischen einem Ausgangsund einem Zielzustand begründet. Die spezifische Struktur der Erzählung verdankt sich dem Plot, der festlegt, welche Rolle und welche Bedeutung Ereignissen zukommt, ob sie sich aus der Perspektive der erzählenden Person als Hindernis,
44
Die idealtypische, interne Geschichtengrammatik extrahierten L a b o v / W a l e t z k y (1967) aus alltäglic h e n , empirisch ausgewerteten Geschichten. Vgl. hierzu auch Rusch ( 1 9 8 7 , S. 367f.); B r o c k m e i e r / C a r b a u g h ( 2 0 0 1 b , S. 6) sowie E c h t e r h o f f (2002).
42
Gedächtnistheoretische Konzepte
Glücksfall oder Endpunkt darstellen. Der Plot bestimmt, auf welchen Endpunkt eine Erzählung ausgerichtet ist und verleiht damit ursprünglich kontingenten Ereignissen die sinnhafte Realität eines Anfangs, Höhepunktes, Wendepunktes, Tiefpunktes oder Endes (vgl. Gergen/Gergen 1988, S. 18).45 Besondere Bedeutung kommt der Mitte der Geschichte, also der Klimax, zu, da sich an diesem Punkt zumeist die Komplikation oder das Hindernis mit ihren entsprechenden Wirkungen auf die Handlungsakteure entfaltet. Das Hindernis resultiert in der Regel aus einem erwartungswidrigen Ereignis, aus einem „destabilisierende[n] Element" (Boothe 1994, S. 24), das dem Akteur besondere Anstrengungen abverlangt, seine Intentionen und Wünsche unter den gegebenen situativen Bedingungen zu realisieren (vgl. Echterhoff/Straub 2003, S. 332). Im Rahmen von Selbsterzählungen stellen sich diese destabilisierende Momente zumeist als ,turning points' (Bruner 1993), also als Wendepunkte dar, die eine Lebenskrise, einen Bruch oder einen Konflikt markieren. Für die Konstruktion der lebensgeschichtlichen Teleologie kommt .turning points' eine Schlüsselfunktion zu, da sie den Gang der Geschichte bestimmen und zumeist eine „schicksalhafte Wende" (Brockmeier 1999, S. 36) einleiten, die den vorgängigen Ereignissen eine nahezu unausweichliche Zwangsläufigkeit zu verleihen scheint. Erst diese Reibungen, die mit der Erzählroutine bzw. dem üblichen, vorhersehbaren Gang der Dinge brechen und die Kontingenz der Realität „in Ehren halten" (Echterhoff/Straub 2004, S. 158), führen zu einer Individualisierung der Lebensgeschichte. Sie machen ,eine' Geschichte zu einer subjektiv bedeutsamen Geschichte. Kurzum: Die Produktion von Bedeutung verdankt sich nicht nur inhaltlichen, explikativen Geschichtenelementen; sie ist auch wesentlich von formalen Regeln der Strukturierung abhängig. Die bisherigen, primär funktionalistischen Ausführungen zur Bedeutung von Selbstnarrationen mögen die individuelle Identität als relativ stabile, auf der Grundlage einer Lebensgeschichte generierte und synthetisierte Einheit erscheinen lassen. Vor allem in einer Zeit der „Patchwork-Identitäten" (vgl. Keupp et al. 1999, S. 94), in der identitäre Stabilität zunehmend suspekt erscheint, gilt es nicht nur, der Möglichkeit des Scheiterns von narrativer Kohärenzstiftung Rechung zu tragen, sondern auch dem dynamischen, wandelbaren und prinzipiell offenen Charakter der individuellen Identität: „Heute ist ein Prozeß der ständigen Auflösung, des Ubergangs und der Neuformation von Identitäten beim Subjekt auszumachen." (Lützeler 1995, S. 95) Soll die individuelle Identität auf Selbstnarrationen gegründet werden, so muss deren Dynamik, Prozessualität und sogar Widersprüchlichkeit hinreichend Berücksichtigung finden (vgl. Ricceur 1991 [1985], S. 396). Angesichts 45
Vgl. auch Mink (1970, S. 557, zit. n. Maclntyre 1987 [1981], S. 283), der prägnant formuliert: „Das Leben hat keinen Anfang, keine Mitte, kein Ende; es gibt Begegnungen, aber der Anfang eines Verhältnisses gehört zu der Geschichte, die wir uns später erzählen, und es gibt Abschiede, aber endgültige Abschiede nur in der Geschichte. Es gibt Hoffnungen, Pläne, Kämpfe und Ideen, aber nur in retrospektiven Geschichten sind Hoffnungen unerfüllt, Pläne verunglückt, Kämpfe entscheidend und Ideen zukunftsträchtig. Nur in der Geschichte ist es Amerika, was Kolumbus entdeckte, und nur in der Geschichte geht das Königreich verloren, weil ein Nagel fehlt."
43
Individuelle Erinnerungen und Identitätskonstruktionen
der grundlegenden Polyvalenz, der kognitiven und affektiven Uneindeutigkeit der eigenen Vergangenheit, sowie sich wandelnder Sinnbedürfnisse der narrativ tätigen Person können Selbstnarrationen nur kontextabhängige und stets vorläufige Produkte sein. Damit sich Individuen über langfristige Zeiträume überhaupt als mit sich identisch erfahren können, während sie und ihre Umwelt sich verändern, sie neue Erfahrungen machen und sich ihre Überzeugungen wandeln, müssen sie ihre Selbstnarrationen stets revidieren und reinterpretieren (vgl. Keller 1996, S. 51). 4 6 Um das subjektive Gefühl von temporaler Kontinuität trotz beständiger Veränderungen herzustellen, bedarf es einer andauernden Neudeutung der eigenen Geschichte aus der Perspektive der Gegenwart (vgl. Carr 1986, S. 76; Ricoeur 1991 [1985], S. 396). 4 7 Die Bedeutung einer früheren Episode mag im Lichte neu gemachter Erfahrungen oder veränderter Uberzeugungen anders gewichtet und bewertet werden. 48 Hinzu kommt, dass der Sinn vieler Ereignisse, zumal kritischer und emotional belastender, nicht unmittelbar erschließbar ist. Vielmehr benötigen sie ganz unterschiedliche narrative Strukturierungsversuche, bevor ihre Bedeutung als Teil der eigenen Geschichte ausgemacht werden kann (vgl. Keller 1996, S. 51). Selbsterzählungen liefern demnach nie eine endgültige oder definitive Antwort auf die
Frage
nach
dem
Gewordensein
der individuellen
Identität
(vgl.
Ech-
terhoff/Straub 2004, S. 171). Die Identitätsfrage verliert nicht an Virulenz, gleich wie viele Selbstnarrationen wir auch erzählen mögen: „None o f us succeeds totally. We keep at it. What we are doing is telling and retelling, to ourselves and to others, the story o f what we are about and what we are." (Carr 1986, S. 97) 4 9 In dem Maße, in dem die individuelle Lebensgeschichte neu interpretiert und erzählt wird, verändert sich natürlich auch die Identität, die sich eine Person verleiht (vgl. Brockmeier 1999, S. 24). So gesehen konstituiert sich die individuelle Identität aus einer Pluralität möglicher, erhoffter, erträumter oder verpasster Identitäten. Die narrativ konstruierte Identität ist damit weder statisch noch substantiell, sondern dynamisch, offen und „in ständiger Bildung und Auflösung begriffen" (Ricoeur 1991 [1985], S. 399). Indiziert bereits die grundlegende Variabilität von Selbstnarrationen die offene und unabgeschlossene Qualität der individuellen Identität, so wird diese noch dadurch verstärkt, dass der Prozess der narrativen Synthesis prinzipiell auch schei-
46
V o n M i d d l e t o n / W o o d s (2000, S. 69) wird diese narrative Neuerfindung treffend als die Möglich-
47
„Narrative K o n s t r u k t i o n e n " , so auch der Befund von Donald Polkinghorne ( 1 9 9 8 , S. 23) „müssen
keit der „self-transformation through renarrativisation" beschrieben. kontinuierlich nachjustiert werden, bis man mit ihnen — aus der Perspektive des gegenwärtigen Standpunkts — als adäquaten symbolischen Transformationen gelebter Erfahrungen zufrieden ist." 48
Vgl. B r o c k m e i e r (2001, S. 4 5 6 ) , der von einem „interplay o f possible pasts and possible beginnings in the light o f the present o f the story" spricht.
49
B r o c k m e i e r (2001, S. 4 5 6 ) fasst derartige fluide und ephemere Identitätskonstruktionen prägnant zusammen: „Identity construction, thus viewed, is a function o f the present life o f a person, and the o u t c o m e o f this construction is a local, ephemeral, always emergent G e s t a l t . "
44
Gedächtnistheoretische Konzepte
tern kann. Wie erläutert, überfordern vor allem hochgradig belastende, als traumatisch erlebte Erfahrungen die Sinnstiftungskompetenz der rückblickenden Person. Diese Überforderung schlägt sich vor allem in der Unmöglichkeit bzw. Unfähigkeit nieder, traumatische Erinnerungen in einen diachron strukturierten Verweisungszusammenhang zu integrieren (vgl. Maclntyre 1987 [1981], S. 290; A. Assmann 2002). Aufgrund ihrer emotionalen Intensität können traumatische Ereignisse nicht in die eigene Lebensgeschichte eingebettet, also nicht mit anderen, vergleichsweise normalen Ereignissen kausal verknüpft werden. Von der Narrativierung geht ein bedrohliches Potential aus, da sie unweigerlich zu einer Normalisierung einer subjektiv als außerordentlich und singular empfundenen Erfahrung führt (vgl. Caruth 1995). 50 Die prekäre Komplexität solcher Erfahrungen lässt sich nicht im gleichen Maße wie die von anderen, vorhersehbareren Ereignissen narrativ bearbeiten: „Trauma, das ist die Unmöglichkeit der Narration." (Α. Assmann 1999, S. 264) Die mangelnde Integration von traumatischen Erfahrungen hat eine Destabilisierung der individuellen Erfahrungskontinuität zur Folge. In der narrativen Strukturlosigkeit bzw. Inkohärenz manifestiert sich der identitäre Orientierungsverlust, also ein identitätsdestabilisierender Bruch der biographischen Kontinuität. Aus dem Gesagten geht hervor, dass Erzählungen Praktiken eines prinzipiell unabschließbaren Prozesses der Aktualisierung, Deutung und Aneignung der eigenen Vergangenheit und Identität sind. Individuen erzählen ihre Geschichten immer wieder aufs Neue, revidieren und erweitern diese, ohne dass sie jemals eine letztgültige Antwort auf die Frage nach dem Gewordensein der individuellen Identität liefern. 51 Individuen können und müssen bei ihren Vergangenheits- und Identitätsdeutungen einen sinnbildenden (Re-)Konstruktionsspielraum nutzen: Sinnstiftung beruht auf Akten der Konstruktion. Dieser Rekonstruktionsspielraum bedeutet allerdings weder, dass Fragen nach der .Wahrheit' von Erinnerungserzählung hinfällig würden, noch dass es Individuen völlig frei stünde, ihre eigene Vergangenheit zu erfinden. Um die spezifische Wahrheit von Erinnerungen zu ermessen, stehen zwei zentrale Kriterien zur Verfügung: zum einen die Veridikalität und zum anderen die Intersubjektivität von individuellen Erinnerungen. Bevor in Kapitel 2 soziale und kulturelle Faktoren von Erinnerungs- bzw. Identitätsnarrationen diskutiert 50
Vgl. hierzu auch Keupp et al. (1999, S. 58), der „das Ende der Kohärenz" als die Unmöglichkeit beschreibt, „eine zusammenhängende Lebensgeschichte zu erzählen". W i e Roth (1998, S. 168) expliziert, stellt sich die Überführung eines traumatischen Ereignisses in eine Geschichte v o r allem deshalb als problematisch dar, da das Trauma seiner Singularität beraubt und somit zu einem Bestandteil des Alltags transformiert wird: „Eine gelungene Erzählung bedeutet, daß die schmerzliche Vergangenheit nicht das Trauma ist, für das man es hielt. Es kann erzählt werden". Diese narrative Normalisierung ebnet letztlich dem Vergessen den Weg: „Die Banalisierung des Traumas durch eine narrative Lust, [...] ist die Bedrohung, die von Genesung und Normalität ausgeht." (Ebd.)
51
Vgl. hierzu auch Fisher (1997, S. 312), der den Menschen aufgrund seines unaufhörlichen Dranges, Geschichten zu erzählen, als „homo narrans" bezeichnet. Dass die sprachliche Praxis eine anthropologische Konstante ist, bringt auch Maclntyre (1987 [1981], S. 283) in seiner Bestimmung des Menschen als ein „Geschichten erzählendes Tier" zum Ausdruck.
Individuelle Erinnerungen und Identitätskonstruktionen
45
werden und damit der Akzent von der personengebundenen auf die überindividuelle Ebene verlagert wird, soll im folgenden Abschnitt die Veridikalität von autobiographischen
Erinnerungen, also die mögliche
Übereinstimmung
zwischen
narrativ elaborierten Erinnerungen und dem vergangenen Ereignis, beleuchtet werden. Ziel ist es, zu illustrieren, dass erinnerungsbasierte Erzählungen zwar keine exakte Wiedergabe vergangener Realität sind, sie aber dennoch eine psychologisch bedeutsame .innere Erlebniswahrheit' beanspruchen können.
1.4 Die Veridikalität individueller Erinnerungen und ihre Implikationen für kulturwissenschaftliche Fragestellungen Die prinzipielle Konstruktivität mnemonischer Prozesse sowie die Möglichkeit, Gedächtnisinhalte auf jeweils unterschiedliche Weise narrativ zu elaborieren, wirft die Frage nach dem spezifischen Wahrheitsgehalt dieser subjektiven Sinnstiftungsversuche auf. Wäre es angesichts zahlreicher Fehlleistungen und ständiger narrativer Umdeutungen der eigenen Erinnerungen nicht nur konsequent, auf eine Differenzierung zwischen zuverlässigen und unzuverlässigen Erinnerungen zu verzichten, wie dies etwa vom Radikalen Konstruktivismus vorgeschlagen und konzeptuell ausgearbeitet wurde? 52 Innerhalb der psychologischen Gedächtnisforschung wird das grundsätzliche Problem der Bestimmung der Wahrheit von autobiographischen Erinnerungen unter dem Aspekt der Veridikalität diskutiert. Die in diesem Forschungsbereich getroffenen Unterscheidungen zwischen historischer und narrativer Wahrheit (vgl. Spence 1982) bzw. zwischen Wahrhaftigkeit {truth) und Genauigkeit (accuracy) (vgl. Conway 1990) verdeutlichen, dass bei der Beurteilung von selbstrelevanten Vergangenheitsrekonstruktionen nicht nur die objektive Faktenwahrheit auf dem Prüfstein steht, sondern auch ihre persönliche, z.B. emotionale Bedeutung. Während historische Wahrheit bzw. Genauigkeit wahrheitstheoretisch an einer relativ detailgenauen Korrespondenz zwischen vergangener, faktischer Realität und deren Erinnerung bemessen wird, geht es bei der narrativen Wahrheit bzw. Wahrhaftigkeit um die subjektive Bedeutsamkeit von Ereignissen zum Zeitpunkt des ursprünglichen Erlebens. 5 3 Gemäß dieser Differenzierung muss eine Erinnerung, um als 52
Rusch ( 1 9 8 7 , S. 3 9 2 ) kehrt herkömmliche Vorstellungen des Verhältnisses von Vergangenheit und Erinnerungen regelrecht um: ,,[M]an kann so weit gehen, zu sagen, daß Erinnerungen u m sinnvoll zu sein, keinerlei Referenz auf ein wie auch immer vorgestelltes O b j e k t Vergangenheit nötig haben. [...] Nicht die Erinnerung hängt von der Vergangenheit ab, sondern die Vergangenheit (als O b j e k t ) gewinnt Identität erst durch die Erinnerung und abhängig von deren Modalitäten." Vgl. zu den Positionen des Radikalen Konstruktivismus auch die Aufsätze in Schmidt (1991a). Z u R e c h t kritisiert A. Assmann (1999, S. 24), dass diese Vorstellung letztlich a u f eine Abschaffung der Vergangenheit als real existierenden Problemkomplex hinaus läuft.
53
D e r B e g r i f f der .narrativen Wahrheit' entspricht weit gehend Z a m o r a s (1998) K o n z e p t der ,usable past': D e r B e g r i f f markiert, dass Erinnerungen, die die subjektive Bedeutung vergangener Ereig-
46
Gedächtnistheoretische Konzepte
veridikal beurteilt zu werden, zwar auf einem vergangenen Ereignis, also auf einer Gedächtnisspur gründen; eine Erinnerung kann aber durchaus ein konstruiertes, gemäß subjektiver Relevanzkriterien interpretiertes Bild der Vergangenheit wiedergeben. So gälte eine Erinnerung, die beispielsweise einem Ereignis nicht vorgefallene Details hinzufugt, einerseits als ungenau; andererseits kann sie aber hinsichtlich der (damals empfundenen) subjektiven Bedeutung des Ereignisses zutreffend sein und damit Veridikalität im Sinne von Erlebnis- und Interpretationswahrheit beanspruchen. Eine .Erinnerung' hingegen, die keinerlei Grundlage in der Vergangenheit hat, die mithin lediglich auf gegenwärtige Bedürfnisse einer Person antwortet, mag zwar eine innere Realität zugesprochen werden; dennoch beträte sie das Reich idiosynkratischer Phantasien. D a der Bereich des Gedächtnisses hier weit gehend verlassen wird, gilt sie in jedem Sinne als non-veridikal (vgl. Granzow 1993, S. 159f.). Obgleich Erinnerungen aufgrund ihrer Gegenwartsgebundenheit bis zu einem gewissen Grad flexibel rekonstruierbar sind, sind sie keineswegs beliebig dehnbare Erfindungen. 54 Insgesamt trägt die Differenzierung zwischen dem Wahrheits- und dem Genauigkeitsaspekt der Veridikalität dem Umstand Rechnung, dass identitätsrelevante Erinnerungen zwar nur selten alle Details wiedergeben. Angesichts ihres sinnstiftenden Bezugs zum persönlichen, emotionalen Erleben können sie jedoch insofern wahrhaftig sein, als sie die individuell zugewiesene Bedeutung dieser Ereignisse reflektieren: „ I f autobiographical memories are reconstructions, then it is not surprising that they are inaccurate in details but truthful in conveying the essence o f one's self." (Barclay 1988, S. 290) Bei der Analyse und Bewertung autobiographischer Erinnerungen bzw. gedächtnisbasierter Selbstnarrationen scheint es daher wenig aufschlussreich, lediglich die Frage ihrer Genauigkeit zu stellen. Als produktiver und psychologisch bedeutsamer stellt sich hingegen die Beschäftigung mit dem Wahrhaftigkeitsaspekt der Veridikalität dar, d.h. mit der Frage nach der psychischen Realität von bestimmten Erinnerungen. Dies bedeutet, einen gewissen mnemonischen Rekonstruktionsspielraum anzuerkennen, ohne dass hierbei die Wahrheit von Erinnerungen grundsätzlich in Frage gestellt werden müsste: „Der persönliche Mythos beruht auf einer ,erzählerischen Wahrheit', die in sich stimmig, zusammenhängend und überzeugend erscheinen muß und erst in dieser Plausibilität liegt die Chance, konstruktiv, vielleicht sogar selbsttherapeutisch über sein Leben nachzudenken." (Ernst 1996, S. 203) nisse mittransportieren, oftmals mehr für die individuelle Sinnstiftung leisten als solche, die Ereignisse detailgenau reflektieren. 54
So folgert auch Keller (2003, S. 54): „Während aus einer radikal konstruktivistischen Perspektive Erinnern als aktuelle Sinnproduktion im Kontext wahrgenommener oder empfundener Handlungsnotwendigkeiten aufgefaßt und vom Wahrheitspostulat abgekoppelt werden kann [...], bleibt im Rahmen eines kognitiven Konstruktivismus der Vergleich unterschiedlicher Wiedergaben des gleichen Ereignisses (d.h. der Konsistenz des Erinnerns) wichtig, um die Funktionen unterschiedlicher Rekonstruktionen zu erforschen".
Individuelle Erinnerungen und Identitätskonstruktionen
47
Akzeptiert man, dass individuelle Erinnerungen bis zu einem gewissen Grad konstruiert sind, so verlagert sich das Erkenntnisinteresse der Gedächtnis- und Identitätsforschung: Individuelle Erinnerungserzählungen können hinsichtlich ihrer Bedeutung und ihres Erfahrungsgehaltes für die erinnernde Person analysiert und diskutiert werden, ohne dass primär ihre Richtigkeit auf dem Prüfstein steht (vgl. Brockmeier 1999, S. 28; Koriat/Goldsmith/Pansky 2000, S. 483f.). Eine stärkere Beachtung der motivationalen Aspekte des Erinnerns lenkt das Augenmerk auf die ökologische Validität (vgl. Graumann 1997) bzw. Funktionalität von Erinnerungen. Im Rahmen einer .Ökologie des Gedächtnisses' geht es nicht nur um Kriterien der Genauigkeit von Gedächtnisleistungen, sondern auch und vor allem um Funktionen und Intentionen, die sich mit Erinnerungskonstruktionen verbinden: „If memory is redefined as a social and individual practice that integrates elements of remembrance, fantasy, and invention, then it can shift from the problematic role of standing for the truth to a new role as an active, engaging practice of creating meaning." (Sturken 1997, S. 259) Im Zentrum des Interesses stehen die bedeutungskonstituierende Aspekte von Gedächtnis. Für kulturwissenschaftliche Studien zur Inszenierung von Erinnerungen im Medium der Fiktion und zu möglichen gesellschaftlichen Funktionalisierungen von Erzählliteratur ist diese Verschiebung des Akzents auf die bedeutungsstiftende Leistung von Erinnerungen von eminenter Bedeutung, da sie im Einklang mit konstruktivistischen und semiotisch orientierten Prämissen einer kulturwissenschaftlichen Literaturwissenschaft steht. Da auf der Basis eines ökologischen Konstruktivismus letztlich der Poiesis-Charakter von fiktionalen und nicht-fiktionalen Erinnerungserzählungen akzentuiert wird, kann es nicht darum gehen, zu analysieren, wie realitätsadäquat ,die Vergangenheit' in unterschiedlichen Medien erinnert wird. Vielmehr richtet sich das Hauptaugenmerk dann auf Fragen nach den diskursiven Konstruktionen von (vergangener) Wirklichkeit, nach formalen Strategien der Bedeutungsstiftung bzw. Selbstauslegung, nach dem spezifischen Erinnerungspotential unterschiedlicher Gedächtnismedien sowie nach der Funktion von narrativ konstruierter Erinnerung. Forschungen der narrativen Psychologie liefern eine ausgezeichnete Analyse der Leistungen und (makro-)strukturellen Besonderheiten von Narrationen, die vielfaltige Anknüpfungspunkte für literatur- und kulturwissenschaftliche Fragestellungen zur Erinnerungskultur bieten — die ja vor allem auf Erzählungen basiert. Allerdings vermag die narrative Psychologie nicht zu spezifizieren, durch welche narrativen Darstellungsverfahren Kontinuität gestiftet und Kontingenz reduziert wird oder welche komplexen gesellschaftlichen Funktionspotentiale literarische und nicht-literarische Erzählungen aufweisen. Auch die Frage nach medienspezifischen Formen von Narrativität bleibt in der narrativen Psychologie unbeantwortet. Es ist vor allem die Literaturwissenschaft, deren disziplinare Kernkompetenz in der Analyse von diskursiven bzw. textuellen Besonderheiten besteht, die einen wesentlichen Beitrag zur Präzisierung der formalen Spezifika von Erinnerungserzählungen leisten kann und zu zeigen vermag, wie spezifische Formen der Erzählung zur Identitäts- und Erinnerungsstiftung funktionalisiert werden können.
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Gedächtnistheoretische Konzepte
Deutlich wird damit einmal mehr, dass wir es bei den Phänomenen Gedächtnis und Erinnerung mit einem paradigmatisch interdisziplinären Thema zu tun haben — mit einem komplexen Forschungsgegenstand, der nur arbeitsteilig zu behandeln ist.
2. Die kulturelle und soziale Prägung individueller Erinnerungen und Identitätsformationen Wenn das individuelle Gedächtnis nach Maßgabe gegenwärtiger Schemata Vergangenes rekonstruiert, dann stellt sich die Frage nach der Herkunft dieser Rekonstruktionsschablonen. Eine der zentralen Quellen bildet offenkundig die Sozialisation bzw. die soziale und kulturelle Umwelt des Individuums. Die Interpretation einer Anzahl einzelner Erinnerungsfragmente anhand bestimmter Schemata ist nicht von Geburt an gegeben, sondern vermittelt sich dem Einzelnen im Laufe der Zeit durch seinen soziokulturellen Kontext und entsprechendes, kollektiv verfügbares Wissen. Jedes Individuum wächst unter spezifischen sozialen, historischen und kulturellen Rahmenbedingungen auf und gehört bestimmten Gruppen an. Die soziokulturell vermittelten Relevanzkriterien und sozialen Interaktionen beeinflussen in vielfacher Weise, welche Inhalte überhaupt als bewahrenswert gelten, wie diese organisiert, signifiziert und erinnert und schließlich auch handlungswirksam werden (vgl. Kornadt/Trommsdorff 1997, S. 287). Erinnern ist mithin eine eminent soziale Angelegenheit, denn die Verarbeitung von persönlichen Erfahrungen wird von kulturspezifischen Schemata in vorgegebene Bahnen gelenkt: „Typically, our memories are mixed, possessing both a personal and social aspect." (Fentress/Wickham 1992b, S. 7) Ebenso wie die Gestaltung von Erinnerungen maßgeblich durch kulturelle, soziale bzw. intersubjektive Bezugsrahmen geprägt ist, ist auch die Entwicklung der personalen Identität, vor allem die narrative Konstruktion der individuellen Lebensgeschichte, unauflöslich durch die soziale Situiertheit des Individuums bestimmt. Zahlreiche Forschungsarbeiten zeigen, dass die Erfahrungen und Einstellungen von Individuen erst durch soziale Interaktionen validiert und damit auch stabilisiert werden (vgl. Festinger 1950; Hardin/Higgins 1996). Die wohl prominenteste Weise der Rückversicherung bei anderen ist das Erzählen von (Selbst-)Geschichten. Angesichts ihres Detailreichtums eignen sich Erzählungen besonders, um andere in eine gemeinsame Realitätssicht zu involvieren und so den Aufbau einer längerfristigen Gemeinsamkeit zu gewährleisten. Da individuelle Identität also nur relational, d.h. in der intersubjektiven Aushandlung zwischen individuellen Selbstbildern auf der einen Seite und sozialer Rollen und Erwartungen auf der anderen Seite konstruiert werden kann (vgl. Eakin 1999), müssen Individuen lernen, ihre (erinnerungsbasierten) Lebensgeschichten so zu entwerfen, „daß sie im Rahmen des sozialen Gefüges, in dem sie entstanden sind, erzählt werden können" (Keller 1996, S. 59). Dies impliziert auch, dass sich Personen bei der Ausgestaltung ihrer Selbstnarrationen unweigerlich kulturell verfügbarer und sozial akzeptierter Erzählschemata oder Plots bedienen. Erinnerungen und ihre Vermittlung in Form von Selbstnarrationen sind demzufolge nie allein durch intrapsychische Dispositionen geprägt, sondern stets auch durch intersubjektive, soziokulturelle Voraussetzungen und Kontexte. Wie lässt sich diese Sozialität und Kulturspezifität individueller Gedächtnis- und Erinne-
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Gedächtnistheoretische Konzepte
rungsleistungen präzisieren? Auf welchen Ebenen können überindividuelle Kontexte auf individuelle Erinnerungen Einfluss ausüben? Wie mit den Begriffen ,Kulturspezifität' und Sozialität' schon angedeutet, durchdringen soziokulturelle Faktoren die persönliche Gedächtnisbildung von der übergeordneten Ebene der Kultur, über unterschiedliche soziale Gruppen bis hin zur basalen Kommunikation in Dyaden. 55 Im Folgenden sollen diese drei Wirkebenen und die damit einhergehende Interdependenz von soziokulturellen und individual-kognitiven Erinnerungsprozessen aus kultur- und sozialpsychologischer Perspektive näher beleuchtet werden. Abschließend wird dargelegt, wie sich diese Sozialität von Erinnerungen auch und gerade in der Konstruktion von Selbstnarrationen materialisiert.
2.1 Gedächtnis und Erinnerungen im kulturellen Kontext Beim Erinnerungsakt werden die Spuren vergangener Erlebnisse durch höhere kognitive Prozesse der Organisation in eine erinnerbare Form gebracht. Bei diesem Akt der rekonstruktiven Sinn- und Formgebung spielt das kulturelle Umfeld eine entscheidende Rolle, da es kollektiv verfügbare Schemata bzw. Codes bereitstellt, die diesen Prozess durchgreifend prägen. Qualität und Funktionen des Gedächtnisses sind ebenso das Resultat individuumszentrierter Mechanismen und Sinnbedürfnisse wie sie von kulturspezifischen Bedingungen und Faktoren abhängig sind. Dies zeigen nicht nur Bartletts (1932) bahnbrechende Arbeiten zum konstruktiven Gedächtnis, sondern auch viele spätere kulturvergleichende Arbeiten zu Textverstehen und ähnlichen höheren kognitiven Prozessen wie etwa Urteilen, Entscheiden oder Problemlösen. So ist Ross (1991, S. 197) zuzustimmen, wenn er für die kulturelle Prägung von Erinnerungen festhält: ,,[G]roup affiliation from family to nation colours the form and content of remembering at all ages and across generations". Im Laufe seiner spezifischen Sozialisation vermitteln sich dem Individuum in je unterschiedlicher Weise kulturell geprägte Kategorien der kognitiven Strukturierung, die Einfluss auf das individuelle Erinnern ausüben. Das Kind, das lernt, sich in seiner Lebensumwelt zurechtzufinden, muss sich auch kulturprägende Merkmale — Normen, Werte, Deutungsmuster — , also Arten und Weisen der Realitätsdefinition, zu Eigen machen (vgl. Kornadt/Trommsdorff 1997, S. 294; Wertsch 2002, S. 11). Individuellen Erinnerungsleistungen sind somit stets auch kulturell verfügbare, zumeist unbewusst wirksame Schematisierungen des kollektiven Wissens eingeschrieben. Auf die Wechselwirkung zwischen individuellen und kulturellen Sinnvorgaben macht Bruner (1990, S. 34) aufmerksam: ,,[I]t is culture, not biology, that shapes human life and the human mind, that gives meaning to action 55
Da individuelle Erinnerungen angesichts diverser sozialer und kultureller Teilhaben des Einzelnen zumeist agglomerativ, also durch multiple, oftmals unbewusst wirksame Faktoren geprägt sind, kann es sich hierbei nur um eine analytische, und keine phänomenal zugängliche Unterscheidung handeln.
Kulturelle und soziale Prägung von Erinnerung und Identität
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by situating its underlying intentional states in an interpretive system." Nicht Biologie, sondern Kultur ist die entscheidende Einflussgröße, wenn es um die Aneignung und Deutung von Erfahrung geht. Bartlett zufolge schlagen sich solche soziokulturell vermittelten Bedeutungsstrukturen in kognitiven Schemata nieder, die Sinngebungsprozesse konstitutiv prägen. Schemata haben zum Ziel, in neuen Informationen das bereits Bekannte wiederzuentdecken und sie so dem vorhandenen Erfahrungsschatz anzugleichen. Personen rezipieren, interpretieren und erinnern bestimmte Informationen - im Sinne des von Bartlett (1932, S. 20) postulierten Prinzips e f f o r t after meaning — gemäß kulturspezifischer Schemata von prototypischen Handlungsverläufen und Geschichtsstrukturen. Manifest wird der sinnstiftende Konstruktionsprozess insbesondere, wenn es darum geht, fremdartige, d.h. atypische, nicht aus dem eigenen Kulturkreis stammende Geschichteninhalte zu memorieren. Personen tendieren dazu, das kulturell fremde Original inhaltlich und formal so umzugestalten und zu .nostrifizieren' (vgl. Kölb/Straub 2001, S. 73f.), dass es sich mit dem eigenen, soziokulturell bedingten Erwartungshorizont als kompatibel erweist. Inhaltlich schlägt sich der assimilierende Verstehensprozess beispielsweise darin nieder, dass kulturspezi fische Besonderheiten wie Praktiken, Objekte oder Namen bei der mnemonischen Rekonstruktion entweder völlig ausgespart oder aber in kulturell vertraute Phänomene transformiert werden (vgl. Welzer 2002, S. 146); Fremdes wird somit zum Eigenen gemacht. Cole (1998, S. 58) fasst diesen assimilierenden, kulturspezifischen Verstehensprozess im Sinne Bartletts prägnant zusammen: People form .strong sentiments' around valued, institutionalized activities. These values and their expression through culture shape psychological tendencies to select certain kinds of information for remembering. Knowledge assimilated through their operation constitutes the schemas upon which the universal process of reconstructive remembering operates. Signifikant ist in diesem Zusammenhang, dass kulturelle Schemata nicht nur Inhalte und Strukturen des individuellen Erinnerungsprozesses prägen, etwa indem sie grundlegende Konzepte von Zeit- und Raumstrukturen vermitteln. Sie weisen vielmehr auch normative Sinndimensionen auf; aus Schemata leiten sich kulturell gültige Wertehierarchien und Normvorstellungen ab, die bestimmen, was als kulturell bedeutsam anzusehen ist. Individuen sind mithin auch stets unbemerkten und überindividuellen, d.h. in Kollektivstrukturen angelegten Erinnerungsmustern ausgeliefert „und die prägendsten und unausweichlichsten Schemata sind wohl solche, die noch nicht einmal bewußtseinsfähig sind" (Welzer 2002, S. 147). Angesichts ihrer kulturspezifischen Prägung sorgen Schemata für eine mnemonische Ordnung, die individuelle Erinnerungsprozesse gemäß kultureller Standardformate rahmt und die somit die Voraussetzung für kognitive Parallelität in einem bestimmten soziokulturellen Kontext schafft. Der schemageleitete Verstehensprozess hat u.a. zur Folge, dass nicht nur ein bestimmtes Ereignis von einer Person je nach kulturellem Kontext unterschiedlich erinnert wird. Vielmehr wird „ein und dasselbe Ereignis von
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Gedächtnistheoretische Konzepte
Personen mit verschiedenem soziokulturellem Hintergrund in ganz verschiedene Zusammenhänge eingeordnet und damit in verschiedener Weise, ja als etwas .anderes' gespeichert" (Kornadt/Trommsdorff 1997, S. 290). 5 6 Da kulturell verfugbare Schemata — sozusagen als Sedimente kollektiver Bedeutungszuweisungen — Vorannahmen über bestimmte Geschehensabläufe bereitstellen, beeinflussen sie, wie und bis zu einem gewissen Maße auch was Individuen überhaupt erinnern können: „Ohne die Möglichkeit, selbstbezogene Erfahrungen in ein sozial geteiltes System von Regeln und Rahmen einzubetten, nähme ein Erlebnis keine Gestalt im Bewußtsein an und würde nicht zu einer Erfahrung, die zu erinnern wäre." (Welzer 2002, S. 104) 57 Offenbar lässt sich die Bedeutung von konkreten Erinnerungsleistungen nur vor dem Hintergrund ihres soziokulturellen Entstehungskontexts adäquat erfassen. Während die Prägung durch kulturell vermittelte Schemata Wissens- und Erinnerungsstrukturen in allgemeiner Form betrifft, lassen sich auch spezifischere, überindividuelle Einflüsse bestimmen, so etwa soziale und kommunikative Rahmenbedingungen. Die sozialen Kontexte von Gedächtnis und Erinnern stehen im Mittelpunkt der folgenden Überlegungen. Zunächst gilt es, in einem weiteren Sinne die Abhängigkeit individueller Erinnerungsprozesse von sozialen Faktoren zu erörtern. D a der französische Soziologe Maurice Halbwachs mit seinem Konzept der .sozialen Rahmen' als erster konsequent das Soziale am individuellen Gedächtnis herausgestellt hat, werden zunächst die Prämissen seiner Gedächtnistheorie skizziert. In einem nächsten Schritt soll die Weiterentwicklung dieser Thesen aus sozialpsychologischer Perspektive beleuchtet werden. Dabei geht es um die Frage, wie individuelle Vergangenheitsversionen in sozialen — und damit zumeist kommunikativen — Kontexten für und mit anderen konstruiert werden und wie diese intersubjektiven
Konstruktionen
wiederum
individuelle
Erinnerungsprozesse
durchdringen. Die Theoriebildung der Sozialpsychologie ermöglicht Differenzie56
Rusch (1987, S. 402) geht davon aus, dass sich Übereinstimmungen von Erinnerungen vor allem der Parallelität kognitiver Strukturen verdanken: „Welche feststellbaren Übereinstimmungen [von Erinnerungen] es auch immer geben mag, sie müssen als Funktionen kognitiver Parallelität und Homogenität angesehen werden. Deshalb auch besagt die Übereinstimmung auf makrostrukturellen Ebenen nicht unbedingt etwas allgemein für das Erinnerungsvermögen Gültiges, sondern etwas über die Übereinstimmung von Erinnerungen in kognitiv homogenen Gruppen, z.B. westeuropäisch sozialisierter und kulturierter erwachsener Menschen."
57
Trotz ihres Erklärungspotentials sind interkulturell vergleichende Theorien zur kulturspezifischen Gedächtnisbildung nicht unproblematisch. Die Gefahr derartiger Ansätze liegt in ihrer Tendenz, die in Betracht genommenen einzelnen Kulturen zu essentialisieren bzw. eine vermeintliche Einheit zu hypostasieren. Gerade aber jüngere Forschungsergebnisse zu interkulturellen Erinnerungsleistungen (vgl. Cole 1998) zeigen, dass individuelle Erinnerungen nicht nur von übergeordneten kulturellen Kontexten abhängig sind, sondern auch von konkreteren, sozialen Lebensbedingungen wie etwa dem familiären Hintergrund, religiöser Zugehörigkeit oder Bildung. W o solche sozialen Bedingungen über Kulturen hinweg relativ ähnlich sind, fallen interkulturelle Unterschiede bei individuellen Erinnerungsleistungen kaum ins Gewicht: „Where the structures o f activity are similar across social groups, cultural differences in processes o f remembering appear to be minimal." (Cole 1998, S. 67)
Kulturelle und soziale Prägung von Erinnerung und Identität
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rungen und Präzisierungen, die auch für kulturwissenschaftliche Fragen nach dem sozial geprägten oder kollektiven Gedächtnis gewinnbringend sind.
2.2 Die Sozialität und Kommunikativität des individuellen Erinnerns: Der memoiy talk und sein Einfluss auf individuelle Erinnerungen Wie lässt sich die Interdependenz und Verzahnung von sozialen Prozessen der Erinnerungsbildung einerseits und den individuellen mnemonischen Leistungen andererseits spezifizieren? Wie konkretisieren sich kontextuelle Rahmenbedingungen, also das, was Halbwachs als soziale Rahmen bzw. cadres soäaux bezeichnet, in unseren Erinnerungen? Im Unterschied zum Schema, das sich auf personeninterne, mentale Verarbeitungsstrukturen bezieht, umfassen soziale Rahmen auch äußere, soziale Bedingungen, die zumeist kommunikativ vermitteln werden. Wie von Maurice Halbwachs bereits in den 1920er Jahren theoretisch dargelegt und von der neueren sozialpsychologischen Forschung 58 empirisch illustriert, bildet sich das Gedächtnis nicht individualistisch oder monologisch, sondern in vielfältigem kommunikativen Austausch mit anderen Personen. Das individuelle Gedächtnis ist weniger als eine in sich geschlossene Entität denn als ein facettenreiches Palimpsest zu konzeptualisieren, das individuelle, soziale und kulturelle Versatzstücke zu einem Ganzen amalgamiert. Der amerikanische Soziologe Jeffrey Olick (1999) bezeichnet das sozial und kulturell geprägte individuelle Gedächtnis treffend als collected memoiy und markiert damit dessen qualitative Differenz zu dem collective memoiy, das sich auf überindividuelle Praktiken des Vergangenheitsbezugs, auf kulturelle Objektivationen und gesellschaftliche Institutionen bezieht. Das collected memoiy rekonstruiert Vergangenes nach Maßgabe kulturspezifischer Schemata, verwebt eigene Erinnerungen mit Erfahrungen aus zweiter Hand und bereitet individuelle Erinnerungen entsprechend sozialer Kontexte auf. Die Unterscheidung zwischen dem collective und dem collected memoiy, die den folgenden Kapiteln zugrunde liegt, verdient deshalb Erwähnung, weil der in der deutschen Gedächtnisforschung verbreitete Begriff .Kollektivgedächtnis' oftmals unterschiedslos zur Bezeichnung beider Aspekte des Vergangenheitsbezugs verwendet wird und differenzierte Analysen von erinnerungskulturellen Phänomenen daher erschwert. Die These der sozialen Bedingtheit des individuellen Gedächtnisses steht im Zentrum der Werke von Maurice Halbwachs, deren Bedeutung für die gegenwärtige Konjunktur der interdisziplinären Gedächtnisforschung kaum überschätzt werden kann. Entgegen dem allgemeinen Trend der individualistischen Gedächtnistheorien seiner Zeitgenossen Sigmund Freud und Henri Bergson hat Halbwachs „mit aller Entschiedenheit die Soziogenese des individuellen Gedächtnisses" (J. Assmann 2002a, S. 8) hervorgehoben und die unhintergehbare Abhän58
Vgl. hierzu exemplarisch Hirst/Manier (1996), Weldon/Belünger (1997), Graumann Keppler (2001), Welzer (2002) und Echterhoff (2005).
(1997),
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Gedächtnistheoretische Konzepte
gigkeit des individuellen Erinnerns von intersubjektiven Bezugspunkten, also von sozialen Rahmen akzentuiert.59 Jede noch so individuell erscheinende Erinnerung, so seine Grundannahme, ist ein sozial gerahmtes und damit auch kommunikativ geprägtes Phänomen. Es ist die Konstanz der sozialen Umgebung und nicht das innere Bewusstsein oder kognitive Kompetenzen des Einzelnen, die die Voraussetzung für die Entstehung von selbstrelevanten und orientierungsbildenden Erinnerungen schafft. Der Vorgang des Erinnerns wäre, wie Halbwachs in seinem ersten Buch zum Thema Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen (1985 [1925]) erläutert, ohne die Orientierung an intersubjektiven Bezugsrahmen nicht realisierbar: ,,[E]s gibt kein mögliches Gedächtnis außerhalb derjenigen Bezugsrahmen, deren sich die in der Gesellschaft lebenden Menschen bedienen, um ihre Erinnerungen zu fixieren und wiederzufinden." (Ebd., S. 121) Soziale Rahmen sind für Halbwachs zunächst die Personen, mit denen wir interagieren bzw. die verschiedenen Gruppen, etwa Familien, Berufsgruppen, religiösen Gemeinschaften etc., denen wir angehören. Jede dieser gesellschaftlichen Gruppen verfügt über ein spezifisches Repertoire an gemeinsamen Erfahrungen und geteiltem Wissen, das durch unterschiedliche Formen der Interaktion und Kommunikation konstruiert, stabilisiert oder aber modifiziert wird. Der konkrete Erinnerungsakt ist daher für Halbwachs stets auch eingebettet in kommunikative Kontexte der Konstruktion und Tradierung von Erinnerungen (vgl. Echterhoff/Saar 2002b, S. 18). Soziale Bezugsrahmen konstituieren sich im kommunikativen Austausch und werden durch das gemeinsame Gespräch stabilisiert und an die einzelnen Dialogpartner tradiert. Sie sind im Sinne von generalisierten mnemonischen Ordnungen bzw. Deutungsschemata zu verstehen, die persönliche Wirklichkeitsaneignungen in gruppenspezifisch vorgegebene Bahnen lenken und die relative Stabilität von Erinnerungen gewährleisten. Ohne diese soziale Verankerung sähe sich der Einzelne nach Halbwachs einer amorphen, undifferenzierbaren Fülle von vergangenen und gegenwärtigen Eindrücken gegenüber, die das individuelle Bewusstsein zu überschwemmen drohen.60 Die Angewiesenheit des Einzelnen auf soziale Rahmen impliziert, dass Erinnerungen nicht mehr nur im Inneren des Individuums zu verorten sind. Vielmehr sind sie als Resultat eines Austausche der Person mit ihrem Umfeld in sozialen Gemeinschaften verankert. Die Faktoren des Erinnerns basieren nach Halbwachs 59
Vgl. zur Kritik an den individuenzentrierten Gedächtnistheorien seiner Zeit vor allem folgende Bemerkung Halbwachs' (1985 [1925], S. 20): „Man wundert sich bei der Lektüre psychologischer Abhandlungen, in denen vom Gedächtnis die Rede ist, daß der Mensch dort als ein isoliertes W e sen betrachtet wird. Danach scheint es, als ob es zum Verständnis unserer geistigen Operationen nötig sei, sich auf das Individuum zu beschränken und zunächst alle Bindungen zu durchtrennen, die es an die Gesellschaft von seinesgleichen fesseln."
60
Deutlich wird in diesem Zusammenhang nicht nur, dass das individuelle Gedächtnis ohne gruppenspezifische Gedächtnisse nicht möglich wäre - vielmehr ist auch das Kollektivgedächtnis auf individuelle Gedächtnisakte angewiesen. Zur Bedeutung des Kollektivgedächtnisses bei Halbwachs siehe Kap. II.3.1 dieser Arbeit.
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auf der Interaktion zwischen inneren und äußeren Bedingungen. Erinnerungen entstehen, indem das Individuum in einen Dialog mit einer bestimmten Gruppe tritt, d.h. es macht sich „zeitweilig ihre Denkungsart zu eigen" (Halbwachs 1991 [1950], S. 3): „Man kann ebensogut sagen, daß das Individuum sich erinnert, indem es sich auf den Standpunkt der Gruppe stellt" (Halbwachs 1985, S. 23). Halbwachs unterstellt demnach im durkheimschen Sinne eine Durchdringung von individuellem und kollektivem Gedächtnis. Der Kollektivbezug des individuellen Gedächtnisses nimmt dabei nicht nur auf die ursprüngliche Wahrnehmung von Ereignissen Einfluss. Vielmehr unterliegt auch der Abruf von Erinnerungen kollektiven Bezugspunkten: „Andere Menschen haben diese Erinnerungen mit mir gemeinsam gehabt. Mehr noch, sie helfen, mir diese ins Gedächtnis zurückzurufen." (Halbwachs 1991, S. 3) Bei der Aktualisierung dienen die sozialen Rahmen als Stützen, als cues also, um vergangene Erfahrungen zu rekonstruieren und ihnen aus aktueller Perspektive Sinn zuzuweisen. Da Individuen immer mehreren Gruppen angehören, haben sie an unterschiedlichen sozialen Rahmen teil und verfügen damit über einen Vorrat differenter Deutungsmuster und Erinnerungen. Das individuelle Gedächtnis stellt sich somit als ein Konglomerat verschiedener sozialer Einflüsse und Denksysteme dar; das persongebundene Gedächtnis ist, in den Worten Halbwachs' (ebd., S. 27), ein „Treffpunkt mehrerer sich in uns kreuzender Strömungen kollektiven Denkens". Aktualisierte Erinnerungen sind demnach selten rein persönlich oder idiosynkratisch, sondern durch und durch sozial bedingt. Diese These präzisiert Halbwachs in seiner posthum veröffentlichten Schrift Das kollektive Gedächtnis (1991 [1950]) am Beispiel seines mittlerweile viel zitierten „Spaziergang^] durch London". Im Zuge dieser „nur scheinbar ohne Begleitung" (Grossmann 2002, S. 110) stattfindenden Promenade betrachtet der Besucher Sehenswürdigkeiten der ihm noch fremden Metropole und kontempliert seine Eindrücke. In Gedanken teilt er seine Wahrnehmungen und Überlegungen mit vorgestellten Freunden, Experten und sogar Romanfiguren. Imaginierte Zwiegespräche mit einem Architekten, Historiker, einem Maler und einem Kaufmann lenken seine Aufmerksamkeit auf jeweils unterschiedliche, herausragende Facetten des Urbanen Raums, die er entsprechend der Wahrnehmungsschablonen seiner Begleiter betrachtet: Ich bin zum ersten Mal in London und gehe dort wiederholt bald mit diesem, bald mit jenem Begleiter spazieren. Einmal ist es ein Architekt, der mich auf die Bauten, ihre Proportionen, auf ihre Lage aufmerksam macht; dann ist es ein Historiker: ich erfahre, zu welcher Zeit eine bestimmte Straße angelegt worden ist, daß in jenem Haus ein berühmter Mann geboren wurde, daß hier oder dort bemerkenswerte Ereignisse stattgefunden haben. Gemeinsam mit einem Maler bin ich für die Farbtönung der Parkanlage empfänglich, f ü r die Linienführung der Paläste, der Kirchen [...]. (Halbwachs 1 9 9 1 , S. 2)
Aus seinen Beobachtungen zieht Halbwachs den Schluss, dass „wir in Wirklichkeit niemals allein sind" (ebd.), sind doch unsere Wahrnehmungen — die späteren Erinnerungen zugrunde liegen - unhintergehbar an die Vergegenwärtigung anderer Personen gebunden. Signifikant ist in diesem Zusammenhang, dass sich diese Be-
56
Gedächtnistheoretische Konzepte
zugnahme auch ohne die physische Präsenz der Bezugspersonen vollziehen kann und Halbwachs somit „eine Virtualität der Gruppe" (Echterhoff/Saar 2002b, S. 20) unterstellt. Zur Rekonstruktion von Vergangenem treten Personen in einen imaginierten Dialog mit Interaktionspartnern. Diese Verinnerlichung des Sozialen unterstreicht, dass die soziale Kontextualität
keine äußerliche
Rahmenbedingung,
sondern ein inhärentes Merkmal autobiographischer Erinnerungen selbst ist und Erinnerungen immer auch die Spuren ihrer intersubjektiven, kommunikativen Aushandlung tragen. 61 Halbwachs zufolge setzt Erinnern also nicht nur den allgemeinen Rahmen kulturell vermittelter Schemata voraus. Um der Erfahrungs- und Vorstellungswelt Ordnung und Kontinuität zu verleihen, sind vielmehr auch die (mentalen) Repräsentationen bestimmter Bezugspersonen und der mit ihnen möglichen bzw. vollzogenen Kommunikation notwendig. Geht man - wie Halbwachs - von der Sozialität und Kommunikativität menschlichen Erinnerns aus, so stellt sich die Frage, wie sich die Wirkung der sozialen Rahmen auf das individuelle Gedächtnis darstellt. A u f welche Weise und mit welchen Folgen nehmen die sozialen Bezüge überhaupt Einfluss auf nachfolgende individuelle Erinnerungsakte? Die Aspekte der Sozialität und Kommunikativität des Erinnerns haben mittlerweile auch Eingang in neuere sozialpsychologische Forschungen gefunden. Mit den sozialen und kommunikativen Bedingungen von Gedächtnisprozessen setzt sich eine Reihe diskurs- und konversationspsychologischer Ansätze auseinander, deren theoretische Rahmenvorstellungen sich unter den Stichwörtern Conversational bzw. Collective Remembering subsumieren lassen. Solche Forschungsansätze machen darauf aufmerksam, dass individuelle ,Erinnerungen' an bestimmte Erlebnisse mitunter allererst durch die gemeinsame Rekonstruktion vergangener Geschehnisse entstehen. Sie zeigen, in welchem Maße die Darstellung der eigenen Vergangenheit durch den jeweiligen Gesprächskontext motiviert ist: „The social conventions o f autobiographical [...] speaking, the role o f the audience, ordinary language assumptions, the embeddedness o f meaning in context, the social interactions between speaker and audience — all shape the form as well as the content o f remembering." (Hirst/Manier 1996, S. 271) Konversationspsychologische Modelle analysieren die vielfaltigen Voraussetzungen und Folgen der Kontexte des Erinnerns auf differenzierte Weise. Sie vermögen es damit, Halbwachs' breit gefasste Rede von der sozialen Rahmung des individuellen Gedächtnisses auf bemerkenswerte Weise zu spezifizieren. Offenbar ist eine Vielzahl unserer persönlichen Erinnerungen nicht das Resultat intrapsychischer Gedächtnis tätigkeit, sondern verdankt sich der sozialen Situiertheit 61
des
Erinnerns
in
Gruppen.
Die
entscheidenden
Kriterien
für
die
Interessanterweise wurde dieser Aspekt der virtuellen Sozialität von dem deutschen Sozialpsychologen David Katz (1952) aufgegriffen und auch empirisch bestätigt. Der Psychologe befragte Versuchspersonen dazu, ob und mit wie viel inneren Gesprächspartnern sie im gedanklichen Austausch stehen: „Die Ergebnisse seiner Studie wirken beinahe wie ein Kuriosum psychologischer Forschung. So berichtet er von einzelnen Befragten, die angeblich bis zu 4000 Kumpane benennen konnten, welche sie in Gedanken begleiteten." (Grossmann 2002, S. 111)
Kulturelle und soziale Prägung von Erinnerung und Identität
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Gestaltung und Bewertung von Erfahrung sowie der Zuweisung von Bedeutung entstehen im kommunikativen Kontext (vgl. Welzer 2002, S. 10). Personen erinnern sich an signifikante Erfahrungen und Episoden ihres Lebens, indem sie mit Freunden, Familienangehörigen oder Fremden in einen Dialog treten. Die Aktualisierung von persönlichen Erlebnissen in kommunikativen Kontexten hat oftmals eine Veränderung autobiographischer Erinnerungen zur Folge. In eben diesem Sinne spricht Harald Welzer (ebd., S. 16) vom kommunikativen Gedächtnis, das entgegen der vorgängigen Begriffsbestimmung von Aleida und Jan Assmann nicht das Gedächtnis einer Gruppe, sondern das sozial geprägte autobiographische Gedächtnis bezeichnet: ,,[F]ür die Herausbildung eines autobiographischen Gedächtnisses [ist] die soziale Praxis eines ,memory talk' notwendig [...], die das Thematisieren vergangener Ereignisse, Erlebnisse und Handlungen im Rahmen familiärer Interaktion einübt". Die kommunikative Vergegenwärtigung von Vergangenem innerhalb einer Gruppe - der so genannte memory talk — stellt einen dynamischen Akt der Vergangenheitskonstruktion dar: Beim memory talk werden vorhandene, autobiographische Erinnerungen nicht reproduziert, sondern gemeinsam konstruiert und ausgehandelt (vgl. Weldon/Bellinger 1997, S. 1160). Kommunikatives Erinnern ist zumeist durch den Versuch motiviert, eine gemeinsame Vergangenheit herzustellen. Zu diesem Zweck werden individuelle Erinnerungen so justiert, dass sie sich möglichst reibungslos an die Elaborationen anderer Gesprächsteilnehmer anbinden lassen. In dieser Hinsicht sind Erinnerungen und Kommunikation untrennbar miteinander verwoben: „Recollections arise not from the depths of a storehouse in the head, but from a desire to communicate with others about the personal past. What is remembered and how it is remembered are functions of the resulting discourse." (Hirst/Manier 1996, S. 271) 62 Wichtiger als die tatsächliche Faktizität solcher .wieder erinnerten' Ereignisse ist die Frage, wie stimmig diese sich an die Erinnerungen der Dialogpartner anschließen lassen bzw. in welchem Maße sie mit gegenwärtigen Sinnbedürfnissen der einzelnen Gesprächsteilnehmer kompatibel sind: „We then co-construct our memory stories intersubjectively in order to somehow relate to a collective notion of reality" (Wägenbaur 1998b, S. 8f.). Die individuelle Vergangenheit wird im Zuge der Kommunikation in einem interpersonell-dialogischen Prozess ständig neu konstituiert. Nicht nur subjektive Perspektivierungen, sondern auch und vor allem die soziale Situiertheit des Einzelnen begründen den konstruktiven Charakter von Erinnerungen. Am Ende derartiger kommunikativer und dynamischer Akte des Erinnerns steht eine Konstruktion, die in verschiedener Hinsicht über die ursprünglichen Einzelerinnerungen hinausgeht (vgl. Clark/Stephenson 1986). Eine erste, zentrale 62
Vgl. auch Keppler (2001, S. 137), die akzentuiert: „Die Gegenwarten, an die Menschen sich erinnern, sind ebenso wie die Gegenwarten, aus denen sie sich erinnern, soziale Konstruktionen einer bedeutsamen Welt des Erlebens und Handelns. [...] Das entscheidende Medium dieser Konstruktion ist die Kommunikation".
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Gedächtnistheoretische Konzepte
Veränderung betrifft die Quantität von Erinnerungen. So erinnern sich Individuen in kommunikativen Kontexten häufig an wesentlich mehr Aspekte einer vergangenen Erfahrung als im Rahmen einer rein persönlichen Aktualisierung. Die Anzahl der kollektiv erinnerten Information übersteigt die Schnittmenge der individuell möglichen Erinnerungen. Offenbar setzt die Praxis des konversationellen Erinnerns Prozesse in Gang, die den Abruf von bestimmten Ereignissen erleichtert (vgl. Hirst/Manier 1996, S. 280). 63 Hinzu kommt - und dies zeigt die Alltagserfahrung besonders eindrucksvoll dass Personen gerade beim gemeinsamen Erinnern dazu neigen, Erinnerungsfragmente um kontextuelle und perzeptuelle Details anzureichern (vgl. Graumann 1997, S. 280). Diese narrative Anreicherung bzw. symbolische Verdichtung des Vergangenen erfolgt nicht zuletzt in der Absicht, sich gegenseitig von der Plausibilität der intersubjektiv erzeugten Vergangenheitsversion zu überzeugen, denn glaubhaft wirken Geschichten vor allem dann, wenn sie sich durch Detailgenauigkeit auszeichnen. Dies unterstreicht abermals, dass die spezifische Wahrheit von Erinnerungen nicht in deren Authentizität liegt, sondern in der Möglichkeit, diese an gegenwärtige Sinnhorizonte anzuschließen. Die Wirkmacht sozialer Faktoren wird vor allem daran deutlich, dass die kommunikative Konstruktion vergangener Erlebnisse nicht nur die Elaboration der individuellen Gedächtnisinhalte während der Gesprächssituation beeinflusst. Der geteilte Erinnerungsprozess prägt vielmehr auch die nachfolgenden, individuellen Erinnerungen an das entsprechende Ereignis (vgl. Hirst/Manier/Apetroaia 1997, S. 185). Erinnerungen, die im Kontext des kommunikativen Erinnerns ausgetauscht werden, können rückwirkend in den eigenen Erfahrungsbestand integriert bzw. .importiert' und in Folge als .eigene Erinnerung' an dieses Ereignis erlebt werden (vgl. ebd., S. 171; Welzer 2002, S. 168f.). Erinnert wird in diesem Fall nicht das eigentliche Erlebnis, sondern dessen nachfolgende, gemeinsame narrative Elaboration. Diese Elaboration verfugt angesichts ihrer kohärenten Form über eine derartige Plausibilität, dass sie irrtümlicherweise für die ursprüngliche, eigene Wahrnehmung gehalten wird und so Eingang in das autobiographische Gedächtnis findet.64 Erinnerungen, so Welzer (2002, S. 221), sind demnach als „das Ereignis plus die Erinnerung an seine Erinnerung" zu konzipieren — in diesem Fall also die Erinnerung an die kommunikative Elaboration. Das individuelle Gedächtnis, so kann man schlussfolgern, konstituiert und erhält sich gemäß eines komplexen
63
Diese Einsichten stützen sich auf Ergebnisse empirischer Untersuchungen zum kommunikativen Erinnern in Gruppen, hier innerhalb der Familie. Um den Einfluss gruppendynamischer Kommunikation auf die individuelle Gedächtnisbildung zu untersuchen, wurden die Familienmitglieder gebeten, ihre Erinnerungen an ein gemeinsames Erlebnis zunächst einzeln einem Versuchsleiter zu berichten (dieser Vorgang wird als pngrvup ncolkclion bezeichnet). Daraufhin rekonstruierten die Familienmitglieder dieses Ereignis im gemeinsamen Gespräch. Der Vergleich dieser Gespräche ergab, dass sich einzelne Personen innerhalb des Gruppengesprächs an fast 50% mehr Aspekte des vergangenen Ereignisses (so genannte narratim units) erinnern konnten (vgl. Hirst/Manier 1996).
64
Eine derartige Konfudierung der Quellen wird in der psychologischen Fachliteratur unter den Stichwörtern Quellenamnesie bzw. Fehlattribution diskutiert; vgl. z.B. Welzer (2002, S. 42 f.).
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„Montageprinzips" (ebd., S. 38): Bei diesem Prozess werden eigene Erinnerungsfragmente mit sinnhaft anmutenden Erinnerungen aus zweiter Hand verwoben und durch höhere kognitive Prozesse der Organisation in eine erinnerbare, plausible und selbstbezogene Form gebracht. Dieser Konstitutionsprozess impliziert, „daß jedes individuelle Erinnern den Kreis nur persönlicher Reminiszenzen transzendiert" (Keppler 2001, S. 137), dass also autobiographische Erinnerungen stets sozial-kommunikativ geprägt sind (vgl. Hirst/Manier 1996, S. 287). Die Relevanz der erforschten Gedächtnisphänomene für literaturwissenschaftliche Fragestellungen besteht darin, dass die soziale Uberformung der individuellen Erinnerung vor allem in solchen fictions of memory zum zentralen Thema wird, die sich der kollektiven Gedächtnisbildung annehmen. Figurendialoge, Innenweltdarstellungen und die Perspektivenstruktur können im Medium der Fiktion dazu genutzt werden, die soziale Aushandlung der individuellen Vergangenheit, von persönlichen Erfahrungen und Normen zu inszenieren. Die Figurenkonstellation gibt Aufschluss über identitätsrelevante Interaktionen und Gruppenzugehörigkeiten. Auch die Gestaltung des Erzählerdiskurses ist eine prominente Strategie, um gemeinschaftsbildende Gedächtnisakte darzustellen und die soziale Verfasstheit des individuellen Gedächtnisses zu veranschaulichen. Dort, wo die überindividuelle Erfahrungsverarbeitung inszeniert wird, treten Erzählinstanzen nicht als individualisierte Figuren, sondern als Repräsentanten eines Kollektivs auf, deren Selbstverständnis so durchgreifend von gruppenspezifischen Erfahrungen geprägt ist, dass Unterschiede zwischen individuellen und sozialen Erinnerungen hinfällig werden bzw. unbemerkt bleiben. Gemeinsame Realitätsbildung scheint zu verlangen, dass auch die Erfahrungen anderer Personen Eingang in das autobiographische Gedächtnis finden. Auf die soziale Prägung der individuellen Erinnerung macht der Erzähler in Alistair MacLeods No Great Mischief (1999) aufmerksam, wenn er konstatiert: „I'm not sure how many of the memories are real and how many I've sort of made up from other people's stories." (S. 12) Uber die Konkretisierung der narrativen Inszenierung von Erinnerungen und Identitäten hinaus leisten sozialpsychologische Ansätze einen wichtigen Beitrag zur Erklärung des gedächtnisbildenden Potentials von Literatur, zumal der fictions of memoiy. Wenn das autobiographische Gedächtnis durch und durch soziokommunikativ geprägt ist und wenn, wie deutlich wurde, die spezifische Wahrheit von Erinnerungen vor allem darin besteht, dass diese an persönliche Sinnbedürfnisse anschließbar bleiben, dann liegt es nahe, dass auch narrativ inszenierte Erinnerungen Einfluss auf die individuelle Gedächtnisbildung nehmen können. Ebenso wie nicht-fiktionale Narrationen können auch literarische Texte durch die Darstellung von partikularen Erfahrungen und subjektiven Schicksalen Antworten auf individuelle Fragestellungen und Handlungsanforderungen bieten. Sie können daher das individuelle Gedächtnis und persönliche Sinnstiftungsstrategien ebenso prägen wie die soziale Interaktion in Gruppen. Auch die Entpragmatisierung von Literatur, also ihre eingeschränkte Referentialität, steht dem nicht entgegen. Zwar sind fiktionale und nicht-fiktionale Texte von einem literaturwissenschaftlichen
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Standpunkt durch ihre Ausdrucks formen und Gestaltungsmöglichkeiten als distinkte Symbolsysteme zu unterscheiden; durch entsprechende Rezeptionshaltungen und Rezeptionsbedürfnisse können empirische Leser die theoretisch explizierbare Kluft zwischen Fiktion und Realität allerdings mit Leichtigkeit nivellieren bzw. überwinden und auch fiktionalen Texten einen Wirklichkeitsbezug zusprechen (vgl. Braungart 1996, S. 149; Erll 2003, S. 88). Kurzum: Literarisch vermittelte Inhalte können die individuelle Erfahrungsverarbeitung beeinflussen, weil sich das autobiographische Gedächtnis dialogisch konstituiert und seine Bestände selbst schon mit imaginierten Elementen angereichert sind. Jenseits der Suggestibilität gemeinsam verfasster Erinnerungsnarrationen ist die sozio-kommunikative Uberformung des individuellen Gedächtnisses auf einen weiteren, gewichtigen Faktor zurückzuführen, nämlich auf die Orientierung des Einzelnen an seinen Kommunikationspartnern. Offensichtlich verändern sich die konkreten Formen und Inhalte der individuell kommunizierten Erfahrungen sowohl je nach Zielsetzung bzw. Absicht als auch je nach Gesprächspartner. Mündliche Erinnerungserzählungen sind an Zuhörer adressiert und sollen bei diesen eine gewisse Wirkung erzeugen: ,,[I]t seems reasonable to assume that [individuals] tailor the memories they report to suit the presumed knowledge, interests, and expectations of this adressee." (Echterhoff/Hirst 2002, S. 80) Aus sozialpsychologischer Perspektive ist davon auszugehen, dass kommunizierte Erinnerungen stets auch ein Medium zur Realisierung unterschiedlicher, pragmatischer Absichten darstellen und die konkrete Elaboration der individuellen Erinnerung somit von Gesprächszielen abhängig ist. Ob etwa die Erinnerung eines Jugendlichen an eine Party darauf angelegt ist, die Eltern zu beruhigen oder Freunde zu beeindrucken, hat maßgeblichen Einfluss auf deren konkrete Ausgestaltung und affektive Färbung. In diesem Sinne dienen Erinnerungen als rhetorische und pragmatische Werkzeuge zur Durchsetzung gegenwärtiger Interessen und Zwecke (vgl. Middle ton/Edwards 1990b, S. 43). Dementsprechend ordnet sich auch die spezifische Formulierung von Erinnerungen dem jeweiligen Gesprächsziel unter: ,,[A]ccounts are always designed to accomplish particular pragmatic actions, and will vary accordingly." (Ebd., S. 36) Die Durchsetzung von Gesprächsabsichten ist eng mit der Orientierung am jeweiligen Gesprächspartner verbunden. Erinnerungserzählungen sind „Angebote an die Adressaten, sich auf eine gemeinsame soziale Realität [...] einzulassen" (Echterhoff/Straub 2004, S. 174). Damit das Erzählen überhaupt eine phatische, interaktive und integrative Funktion erfüllen kann, müssen Merkmale des Dialogpartners berücksichtigt werden. Erfolgreiche Kommunikation scheint zu verlangen, dass spezifische Eigenschaften des Adressaten bei der Formulierung von Äußerungen Berücksichtigung finden, dass also der Gesprächsgegenstand gemäß der unterstellten Perspektive des Dialogpartners elaboriert wird (vgl. Krauss 1987). Dieser Prozess der situativen Anpassung der eigenen kommunizierten Erinnerungen wird in der Sozialpsychologie unter dem Begriff der .adressatenorientierten Kommunikation' diskutiert. Offensichtlich assimilieren Individuen ihre
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Mitteilungen — von der Selektion der Themen über deren narrative Konfiguration bis hin zur Wortwahl — an die unterstellten Einstellungen, Normenvorstellungen und Erwartungen der Adressaten, um auf diese Weise die intersubjektive Zustimmung zu begünstigen.65 Vergangene, autobiographische Erinnerungen werden narrativ so aufbereitet und kommuniziert, dass sie sich an den angenommenen Wissens- und Wertehorizont des Gesprächspartners anschließen lassen. Die persönliche, narrativ konstruierte Vergangenheit wird folglich im Akt des Erzählens für den jeweiligen Kreis von Adressaten (gemäß den unterstellten Adressatenmerkmalen) immer wieder neu konstruiert (vgl. Welzer 2002, S. 207). Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang die subtile, aber nichtsdestoweniger durchgreifende Wirkung derartiger, adressatenspezifischer Mitteilungen von Erfahrungen auf die individuelle Gedächtnisbildung. Denn so wird das erinnert, was Anderen erzählt wird. Wie der „Saying-is-Believing"-Effekt (vgl. Higgins 1992) zeigt, leistet die adressatengerechte Verbalisierung von Erinnerungen einer Modifikation der individuellen Gedächtnisinhalte Vorschub: „Hierbei hat sich gezeigt, daß die Anpassung von kommunizierten Erfahrungen an den jeweiligen Gesprächspartner [...] spätere Erinnerungen und Einstellungen zu den ursprünglichen Erfahrungen prägen kann" (Echterhoff 2002, S. 278). Während der Vermittlung von bestimmten Erinnerungen perspektivieren Personen ihren Kommunikationsgegenstand auf die angenommenen Eigenschaften ihres Adressaten und ziehen diese adressatenorientierte Elaboration später zur Grundlage der Rekonstruktion der Ausgangsinformation heran. Die eigenen, adressatengerecht zugeschnittenen Kommunikationsbeiträge werden in diesem Fall für valide und verlässliche Aussagen über den Gegenstand der Kommunikation selbst erachtet, so dass nachfolgende, individuelle Erinnerungen an die kommunizierte Sichtweise angenähert werden. Erinnert werden folglich nicht länger die ursprünglichen Erfahrungen oder spätere, individuell angefertigte mnemonische Sinngebungen, sondern die kommunizierte Erinnerung und hiermit die in die adressatenspezifische Mitteilung eingeflossenen Einstellungen und Perspektivierungen. Ausgangspunkt der sozio-kommunikativen Beeinflussung sind in diesem Fall — anders als im Gruppengedächtnis — nicht andere Personen, sondern die (erinnernde) Person selbst. Individuelle Erinnerungen sind demnach in vielfältiger und dynamischer Weise von überindividuellen, kulturellen und sozialen Rahmen überformt: Kulturell vermittelte Schemata bringen die Spuren oder Fragmente vergangener Erlebnisse allererst in eine sinnhafte und anschlussfahige Form; soziale Bezugsrahmen, die dem Individuum durch verschiedene Gruppenzugehörigkeiten bereitgestellt werden, bestimmen, welche Erinnerungen überhaupt möglich sind und verfügbar gehalten werden. Zudem modifiziert die gemeinsame, kommunikative Rekonstruktion von vergangenen Erlebnissen nachfolgende, individuelle Erinnerungsleistungen. Nicht nur werden autobiographische Erinnerungen gemäß gruppen65
Empirische Beispiele für adressatenspezifische Mitteilungen liefern Weldon/Bellinger (1997, S. 1160).
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spezifischer Relevanzkriterien perspektiviert. Vielmehr kann die beim Gruppenerinnern etablierte Vergangenheitsversion bisweilen so überzeugend und plausibel wirken, dass Individuen .fremde' Erinnerungen in ihren eigenen Erfahrungsbestand integrieren. Diese Aufzählung macht deutlich, dass sich lebensgeschichtliche Erinnerungen nie ausschließlich individuumszentrierten Voraussetzungen verdanken, sondern sie als Produkte sozialer Interaktionen und situativer Bedingungen stets auch außerhalb der Person zu verorten sind. Wenn, wie in Kapitel 1 dargelegt, unsere individuelle Identität grundlegend davon abhängt, welche - offensichtlich eminent sozialen Erinnerungen - wir verfügbar halten und in Selbstnarrationen als wesentlich auszeichnen, dann implizieren die angestellten Überlegungen zur Sozialität und Kommunikativität des Erinnerns, dass die in autobiographischen Lebensgeschichten konstruierte Identität selbst als kulturell und sozial geprägt zu konzeptualisieren ist. Da autobiographische Erinnerungen durch und durch sozial geformt sind, die individuelle Identität sich nur auf der Basis dieser Erinnerungen konstituieren kann, ist auch sie als sozial fundiertes Konstrukt anzusehen. Die Konstitution und Stabilisierung der individuellen Identität ist ebenso wie die des Gedächtnisses nur dialogisch, d.h. im ständigen intersubjektiven Austausch mit unserer Umwelt möglich. Obgleich die intersubjektive Aushandlung der Identität sich natürlich nicht auf das Erzählen von Geschichten reduziert, spielt die sprachlich-interaktive Praxis doch eine fundamentale Rolle für die Präsentation und Stabilisierung der individuellen Identität. Die Geschichten, die wir auf der Grundlage unserer Erinnerungen über uns erzählen und die uns dabei helfen, uns innerhalb eines aktuellen kulturellen und sozialen Kontexts zu positionieren, blieben wirkungslos, würden sie nicht von unseren Mitmenschen anerkannt. Selbstnarrationen, auch solche, die Personen sich im Monolog mit sich selbst erzählen, unterliegen damit stets soziokultureller Uberformung und Bewertung (vgl. Keupp et al. 1999, S. 103).
2.3 Selbstnarrationen und Identitätskonstruktionen als intersubjektive Verhandlungsprozesse Die zentrale Frage nach den Vorraussetzungen und Folgen der individuellen Identitätsarbeit lenkt das Augenmerk auf die soziale Situiertheit des Individuums, d.h. auf die konstitutive Rolle von Interaktionspartnern beim Aufbau der eigenen Identität. Da individuelle Erfahrungen erst in Prozessen der sozio-kommunikativen Aushandlung eine stabile identitätsstiftende Bedeutung gewinnen, kann sich die individuelle Identität nicht monologisch im abgeschlossenen Raum der eigenen Lebenswelt konstituieren, sondern ist auf einen intersubjektiven Austausch über Selbst- und Weltverständnisse angewiesen (vgl. Emcke 2000, S. 48). In Anlehnung an George H. Mead (1967 [1934]) bestimmt Taylor (1993 [1992], S. 22) die Konstitution der personalen Identität daher als einen dialogischen Prozess, bei dem „signifikante Andere", also individuell bedeutsame Bezugspersonen, eine prägende
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Rolle spielen. 66 Das Subjekt bildet sein Selbstverständnis relational im Austausch mit und auch in Abgrenzung von den Zuschreibungen und Erwartungen seiner Interaktionspartner aus: „Wir bestimmen unsere Identität stets im Dialog und manchmal sogar im Kampf mit dem, was unsere .signifikanten Anderen' in uns sehen wollen." (Ebd.) In diesem relationalen Sinne verstanden, stellt sich die alltägliche Identitätsarbeit als eine kontinuierliche Harmonisierung von individuellen Selbstbeschreibungen und sozial zugeschriebenen Fremdbeschreibungen und Rollenerwartungen dar (vgl. Keupp et al. 1999, S. 99; Sampson 1993, S. 107). 67 Für die Konstitution der narrativen Identität bedeutet diese dialogische Struktur, dass Einzelne bei der Verfertigung ihrer Selbstgeschichten in erheblichem Maße auf das .responsive Verhalten', d.h. auf die Bestätigung ihres kommunikativen Gegenübers angewiesen sind (vgl. Wingert 1993, S. 15). Autobiographisches Erzählen als eine hochgradig kontextualisierte Praxis zeichnet sich wie jedes andere Erzählen auch durch seine diskursive Funktionalität aus. Selbstnarrrationen sind Angebote an ihre Adressaten, an einer gemeinsamen Vergangenheits- und Identitätssicht zu partizipieren. Das Erzählen der individuellen Geschichte erfolgt stets mit einer spezifischen Absicht und ist immer an einen bestimmten Adressaten gerichtet, der die Selbstnarration entweder bestätigen oder aber desavouieren kann. Die Frage, ,,[w]as wann wem erzählt wird" (Welzer 2002, S. 206), und welche Identität sich jemand damit gibt, hängt in ausgeprägtem Maße von dem jeweiligen Gesprächspartner ab (vgl. Keupp et al. 1999, S. 104). 68 Aus der Interdependenz zwischen kommunikativ repräsentierter Autobiographie und ihren Rezipienten ergeben sich zwei wesentliche Folgen: erstens die Variabilität der Lebensgeschichte, zweitens aber eben auch ihre Restriktivität. In dem Maße, in dem wir die Geschichte unseres Lebens unterschiedlichen Personen erzählen, verändert sich die konkrete Gestaltung dieser Erzählung und hiermit das narrativ konstruierte Selbstbild (vgl. Gergen/Gergen 1997, S. 163). Die kommunizierte Autobiographie entsteht „im diskursiven Wechselspiel mit realen und imaginierten Adressaten" (Brockmeier 1999, S. 23f.), denn sie zielt darauf ab, eigene Selbstverständnisse mit den Wahrnehmungen und Erwartungen anderer Personen zu korrelieren. 69 Der soziale Kontext, in dem Menschen von sich erzählen, ist
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Die Annahme, dass sich die individuelle Identität im Wechselspiel von Innen- und Außenperspektive konstituiert, lässt sich bereits in der frühen sozialpsychologischen Identitätstheorie von William James finden, der in seinem einflussreichen Werk Principles of Psychology (1950 [1890]) die Begriffsopposition von ,Γ und ,me' prägte. Vgl. hierzu auch Mead (1967 [1934], S. 182): „The self is not something that exists first and then enters into relationship with others, but it is, so to speak, an eddy in the social current and so still a part of the current. It is a process in which the individual is continually adjusting himself in advance to the situation to which he belongs, and reacting back on it." Vgl. auch Whitebrook (2001, S. 10): „Narrative identity is then at once subjective and intersubjective, and entails answerability and responsibility and the capacity for negotiation." Vgl. zur InterSubjektivität der individuellen Identität Benhabib (1995, S. 13): „Die Identität des Ich konstruiert sich in einer Zusammenhang stiftenden Erzählung, die alles, was Ich tun kann, je getan
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daher nicht nur „eine äußerliche Rahmenbedingung" (ebd., S. 37); vielmehr ist er „eine innere Struktur der narrativen Konstruktion selbst" (ebd.). So gesehen verfugen Menschen nicht über eine einzige Identität, sondern über eine Vielzahl möglicher Identitäten, die entsprechend des jeweiligen Rezipienten durchgespielt und entworfen, aber auch verworfen werden können (vgl. ebd.). Die Kontextualität von Selbstnarrationen unterstreicht nochmals, wie offen und dynamisch die individuelle Identität ist. Zum anderen steht es Personen bei diesem .autobiographischen Prozess' (Bruner 1993) nicht frei, je nach Bedarf und ohne Vorgaben neue Identitäten zu entwerfen und so versäumte, erhoffte oder imaginierte Lebensoptionen für sich zu beanspruchen. Der Gestaltungsspielraum, der dem Individuum bei seiner Selbst(er)findung zur Verfügung steht, ist eben dadurch restringiert, dass individuelle Identitätskonstruktionen einem intersubjektiven Aushandlungsprozess unterliegen. Damit individuelle Sinnstiftungen überhaupt zu wirksamen Einflussgrößen werden können, bedürfen sie der sozialen Fundierung und eines Mindestmaßes an Akzeptanz. So können auch die in Selbstnarrationen konstruierten Selbstbilder und Rollenzuschreibungen nur so lange aufrechterhalten werden, wie es Individuen gelingt, ihre Bezugspersonen von der Gültigkeit ihrer Erzählungen zu überzeugen, sie also in den Aufbau einer gemeinsamen Realitätssicht zu involvieren: „Denn das Ich des autobiographischen Erzählers besteht im Kern in der interaktiven Bestätigung, daß das erzählte Ich sozial akzeptiert und deshalb als autobiographisches Ich erkannt wird" (Welzer 2002, S. 203).70 Die konstitutive Angewiesenheit auf das responsive Verhalten anderer impliziert, dass Personen bei der Gestaltung ihrer Identitätserzählungen autobiographische Erinnerungen so elaborieren müssen, dass diese an die Erinnerungen bzw. Wertvorstellungen anderer Personen anschließbar sind. Im erfolgreichen Fall hat die kommunikative Interaktion eine Anerkennung der präsentierten Selbstgeschichte und die Konstruktion einer gemeinsamen Realität zur Folge, die die Grundlage für die Bildung einer integren Identität sowie — in einem weiteren Sinne — für den Aufbau einer sozialen Beziehung zwischen Sprecher und Zuhörer bildet (vgl. Emcke 2000, S. 219). Die bisherigen Überlegungen verdeutlichen, dass im Prozess der interaktiven Herstellung und Darstellung von narrativer Identität ein Spektrum sozialer Faktoren wirksam wird, das gewissermaßen einen Rahmen für die konkreten Inhalte und Formen individueller Sinnstiftungen absteckt. Dieser sozial vermittelte Rahmen sorgt dafür, dass der Gestaltungsspielraum autobiographischer Erinnerungselabo-
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habe oder noch zustande bringen werde, mit dem zusammenführt, was die anderen von mir erwarten, wie sie meine Handlungen und Absichten verstehen, welche Zukunft sie mir wünschen." Auch Bauman (1995, S. 244) stellt die soziale Abhängigkeit deutlich heraus: „Die subjektive Welt, die die Identität der individuellen Persönlichkeit konstituiert, kann nur mittels intersubjektiven Austauschs aufrechterhalten werden. In einem solchen Austausch muß der eine Partner imstande sein, ,die Welt des anderen mitzutragen'". Ebenso betonen Gergen/Gergen (1997, S. 178): „Thus, an actor's success in sustaining any given narrative is fundamentally dependent on others' willingness to play out certain parts in relationship to the actor."
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rationen und hiermit auch narrativer Identitätskonstruktionen trotz ihrer prinzipiellen Flexibilität und Variabilität nicht beliebig dehnbar ist. 71 Die Freiheitsgrade müssen vielmehr relational in „Beziehung zu den sozial vermittelten Narrationen des Selbst" (Keupp et al. 1999, S. 103) genutzt werden. Jenseits dieser Beschreibung des situativen Aushandlungsprozesses der individuellen Identität stellt sich die Frage, ob die konkreten Formen solcher Erzählungen beliebig oder sie durch kulturelle Faktoren und Konventionen eingeschränkt sind. Welche Gültigkeit können Selbstnarrationen überhaupt beanspruchen, wenn sie sich nicht an kulturellen Vorgaben orientieren? Um diese Fragen näher zu beleuchten, soll abschließend die Bedeutung kulturell verfügbarer Erzählschemata für die narrative Identitätsformation diskutiert werden.
2.4 Selbstnarrationen und Identitätskonstruktionen im kulturellen Kontext Damit Selbstnarrationen überhaupt im alltäglichen Lebenskontext wirksam werden können, müssen sie als intersubjektiv validierte Realität anerkannt werden. Wie aber gelingt es Individuen, ihre kommunikativen Gegenüber von der Glaubwürdigkeit ihrer Geschichten zu überzeugen? Genügt es, die Richtigkeit der narrativen Darstellung zu beteuern, oder gilt es darüber hinaus, bestehende Erzählkonventionen zu berücksichtigen? Um die Plausibilität von Selbsterzählungen zu gewährleisten, müssen sich Personen bei der narrativen Gestaltung ihrer autobiographischen Erinnerungen offenbar kulturell etablierter und akzeptierter Erzählregeln und Geschichtsmuster bedienen: „Wird eine Lebensgeschichte erzählt (oder auch nur ein Ausschnitt oder Fragment davon), so werden bestimmte sprachliche - rhetorische, narrative und diskursive - Konventionen befolgt. [...] Erst diese Konventionen oder Regeln machen aus Worten und Sätzen eine Erzählung" (Brockmeier 1999, S. 27). Solche formalen und inhaltlichen Konventionen der narrativen K o n -
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B e i d e m Aushandlungsprozess der narrativen Identität ist zu bedenken, dass dieser nicht in einem neutralen, ahistorischen oder vorpolitischen Feld stattfindet. Vielmehr ist er häufig durch soziale Abhängigkeitsverhältnisse und gesellschaftliche Hierarchien geprägt (vgl. S a m p s o n 1 9 9 3 , S. 4). Derartige Ungleichheiten sind zumeist auf sozial verankerte und institutionell stabilisierte N o r m vorstellungen etwa über Ethnizität, Religionszugehörigkeit oder Geschlechtszugehörigkeit zurückzuführen. Die asymmetrischen Autoritätsverhältnisse implizieren die folgenreiche Möglichkeit, dass die für die individuelle Identitätskonstruktion ,signifikanten Anderen' ihr Verhalten nicht notwendigerweise auf eine gleichberechtigte Interaktion ausrichten. I m Gegenteil können sie etwa zum Z w e c k e der eigenen Identitätsstabilisierung andere Personen durch diffamierende F r e m d b e schreibungen bewusst degradieren. In diesem Fall werden die B e t r o f f e n e n aus d e m Prozess der Identitätsformation ausgeschlossen, d.h. ihrem eigenen, voluntativen Selbstverständnis wird kaum Anerkennung gezollt (vgl. E m c k e 2 0 0 0 , S. 230). Während Selbstnarrationen eine tendenziell frei gewählte und dynamische Verortung des Subjekts erlauben, schreiben Fremdnarrationen E i g e n schaften einer P e r s o n als essentialistisch fest. Obgleich derartige Etikettierungen nicht mit d e m eigenen Selbstverständnis in Einklang zu bringen sind, können sie für das Individuum aufgrund dessen intersubjektive Verfasstheit zur gültigen Schablone der eigenen Selbstdeutung werden.
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struktion bedingen kulturspezifische Kriterien, gemäß derer die Güte und hiermit die Glaubwürdigkeit einer Selbsterzählung bewertet wird. O b bestimmte Selbsterzählungen auf soziale Zustimmung stoßen oder Zweifel und Ablehnung provozieren, ist auch wesentlich davon abhängig, ob solche normativen, dem „cultural tool kit" (Bruner 1990) entnommenen Erzählkonventionen hinreichend berücksichtigt werden: „In unserem Kulturkreis muß eine lebensgeschichtliche Erzählung zum Beispiel persönliche Bedeutsamkeit, Widerspruchsfreiheit und Plausibilität aufweisen und in ihrer linearen Struktur selbst eine Bildungsgeschichte sein, um als autobiographisch akzeptiert zu werden." (Welzer 2002, S. 101) 72 Auch aus der notwendigen Ausrichtung an kulturell etablierten Erzählmustern ergibt sich, dass autobiographische Erinnerungserzählungen nicht individuell beliebig modelliert werden können, sondern auf ein begrenztes Repertoire möglicher Modelle und Erzählmuster zurückgreifen müssen: Dies ist auch der Grund dafür, daß das Archiv möglicher Selbsterzählungen nur theoretisch unendlich groß ist. Denn in der Praxis wird sich eine Kultur aus Gründen sozialer Nützlichkeit, ästhetischer Erwünschtheit und linguistischer Möglichkeit auf ein eingeschränktes Repertoire beschränken. (Keupp et al. 1999, S. 103) 73
Ebenso wie der Aufbau von Narrationen bis zu einem gewissen Grad präformiert ist, unterliegt auch der Inhalt von Geschichten bestimmten, kulturell geprägten Vorgaben. Konstruieren wir die Geschichte unseres Lebens, so stellen sich unifizierende Konzepte wie ,Kindheit', ,Berufsleben', .Heirat' und ,Alter' als prototypische Stationen bzw. zentrale Scheitelpunkte des Verlaufs dar, von denen ausgehend sich das Erzählpotential entfaltet (vgl. Schmidt 1991c, S. 38; Rubin/Berntsen 2003). Unifizierende Konzepte fungieren als präexistente Deutungsschablonen bzw. als semantische Matrix von autobiographischen Erzählungen, gemäß derer eigene Erfahrungen auf kulturell validierte Weise gedeutet, begründet und geordnet werden können. Die Berücksichtigung solcher inhaltlichen Vorgaben gilt beim alltäglichen Rezeptionsprozess zumeist als Kriterium, aufgrund dessen die Güte einer Geschichte bestimmt und deren Plausibilität bewertet wird. Wie intersubjektiv plausibel und wahr eine Geschichte wirkt, ist demnach nicht nur eine Frage objektiver Tatbestände. Vielmehr verdankt sich die Glaubwürdigkeit einer bestimmten Narration bis zu einem gewissen Grad auch der Orientierung an kulturell vorherrschenden Erzählkonventionen und -schemata (vgl. Bruner 1987, S. 14). Die 72
Vgl. hierzu auch Schmidt (1991c, S. 39), der solche kulturell verbürgten Erzählmuster als „Erzählfamilien" bezeichnet: „Erzählfamilien werden zur Begründung, Bewertung und Legitimation gegenwärtigen Verhaltens herangezogen. D a s heißt, sie dienen zur Kohärenzbildung auf der sozialen E b e n e der Kommunikation und sind deshalb von den pragmatischen Funktionen der sozialen Kommunikation geprägt."
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Die Interdependenz von autobiographischen Prozessen und kulturellen Sinnhorizonten wird vor allem nach einschneidenden historischen Veränderungen offenkundig. Wie u.a. empirische Untersuchungen (vgl. Keller 1996) verdeutlichen, müssen Personen in Folge von politischen Umbrüchen und damit einhergehenden Veränderungen im Normensystem lernen, ihre individuelle Lebensgeschichte neu zu verfassen.
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intersubjektive Anerkennung der narrativ konstruierten und präsentierten Identität ist mithin untrennbar mit dem Entwurf von plausiblen Geschichten verwoben: „,Du bist Du, weil Du mir eine glaubhafte und selbstbezogene Geschichte erzählst.'" (Welzer 2002, S. 203) Kulturell verfügbare Erzählmuster werden an den Einzelnen im Laufe seiner Sozialisation auf vielfältige Weise herangetragen. Gerade die vom Literatursystem perpetuierten Gattungsmuster stellen ein breites Spektrum bereits erprobter und sozial validierter Modelle zur Verfügung, die für die Konfiguration, Deutung und Vermittlung persönlicher Erfahrung herangezogen werden können (vgl. Brockmeier 1999). Da sie besonders eingängige und kulturell validierte Erzählmuster anbieten, kommt ihnen bei der Aufbereitung von autobiographischen Erinnerungen eine herausragende Rolle zu. Vor allem zur Signifikation von schwer deutbaren Lebenserfahrungen greifen Personen — ob bewusst oder unbewusst — auf semantisch bereits aufgeladene Gattungsformen zurück. 74 Wie auch empirische Forschungen (vgl. Welzer 2002) zeigen, erlaubt die Orientierung an semantisierten Erzählmustern, vorerst fragmentarischen Erinnerungen ein aneignungs fähiges und kohärentes Format zu verleihen und ihnen damit eine besondere Plausibilität zuzusprechen. Prästrukturierende Sinnstiftungsformate überformen die vorerst heterogenen Erfahrungselemente dergestalt, dass diese folgerichtig auseinander hervorzugehen und damit besonders authentisch zu sein scheinen. Kulturell zirkulierende Plots oder kanonisierte Texte verfügen über eine derartige Suggestionskraft, dass nicht nur Kodierungsformate, sondern selbst literarisch oder künstlerisch vermittelte Inhalte Eingang in das autobiographische Gedächtnis finden können. Offenbar neigen Personen dazu, solche künstlerischen Elemente in ihren Gedächtnisbestand zu .importieren' und in Folge irrtümlicherweise als persönliche Erfahrungen zu memorieren, die besonders eingängige Antworten auf individuelle Fragestellungen liefern (vgl. Welzer 2002, S. 186). Der Import solcher fiktiven Elemente in die eigene Autobiographie stellt eine ausgezeichnete Weise der Kontingenzreduktion dar, die maßgeblich dabei hilft, schwer zu deutende Erfahrungen in eine aneignungsfähige Form zu bringen. Er fungiert zudem als Garant dafür, dass die eigene Geschichte als spannend empfunden wird; Zuhörer können somit wirkungsvoll in die Konstruktion einer gemeinsamen Realität involviert werden: „Ihr Import in die eigene Lebensgeschichte macht diese selbst spannend und interessant; man wird zu jemandem, der ganz zweifelsohne .etwas erlebt' hat" (ebd., S. 186f.). Literarische Gattungen und literarisch vermittelte Inhalte sind demnach als integraler Bestandteil unseres individuellen Gedächtnisses anzusehen. Dieser Befund verdeutlicht nicht zuletzt, dass und wie literarische Phänomene auf die außerliterarische Wirklichkeit zurückwirken und zentrale erinnerungs- und identitätsbezogene Orientie-
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Vgl. Brockmeier (1999, S. 35): „Autobiographische Erzählungen handeln nicht nur von Entwicklungen, sie beinhalten, ja sind selbst Entwicklungstheorien. [...) Genres wie Abenteuer- und Bildungsroman, Pilgerreise oder die Geschichte des aufsteigenden Underdogs lassen sich zugleich als konventionelle Erklärungsmodelle von Entwicklungsverläufen lesen."
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rungs funktionell übernehmen können: Literarische Werke, die von dem Symbolsystem Literatur erzeugten Kodierungs formate und ästhetisch verdichtete Vorstellungswelten, fungieren als orientierungsbildender Rahmen für die in kulturellen Kontexten erfolgende Konstruktion autobiographischer Erinnerung. Entscheidend ist weniger die Faktizität des Erinnerten als vielmehr dessen Anschließbarkeit an bestehende Gedächtnisstrukturen und aktuelle Relevanzkriterien. Aus gedächtnistheoretischer Perspektive erweist sich Literatur somit als „Teil eines sozialen, kulturellen und historischen intertextuellen Gewebes, eines verteilten Gedächtnisses." (Ebd., S. 187) D e r Rückgriff auf kulturell kanonisierte Erzählmuster stellt eine wesentliche Verbindung zwischen Individuum und Kultur her, denn er weist den Einzelnen als vollgültiges und konformes Mitglied einer bestimmten Kultur- bzw. Erzählgemeinschaft aus. In dem Maße, in dem die konkreten F o r m e n und Inhalte der individuellen Lebensgeschichte sich aus kulturell sedimentierten Geschichtenstrukturen und -Inhalten speisen, 7 5 müssen autobiographische Geschichten als ein polyphones Palimpsest, als .intertextuelles Gewebe' (vgl. Welzer 2 0 0 2 , S. 187) konzeptualisiert werden, in dem individuelle, soziale und kulturelle Versatzstücke zu einem sinnhaften Ganzen amalgamiert werden (vgl. Sampson 1993, S. 124f.). Die soziokulturelle Prägung der individuellen Lebensgeschichte bringt Brockmeier (2002, S. 26) anschaulich zum Ausdruck: „Without doubt, we not only have but live in objectified archives o f autobiographical memory. And these, to be sure, are perfectly normal, culturally canonical lifeworlds." Die notwendige Ausrichtung an kulturell verfügbaren Erzählmustern und -Inhalten illustriert einmal mehr, dass erinnerungsbasierte Selbstnarrationen — „also das, was wir für die ureigensten Kernbestandteile unserer Autobiographie halten" (Welzer 2002, S. 12) — selten rein idiosynkratisch und privat, sondern von Grund auf kulturell bedingt und durchdrungen sind. Konventionalisierte Geschichtenmuster (über) formen individuelle Erinnerungen und lenken die Aneignung und Deutung von Lebenserfahrungen in kollektiv vorgegebene Bahnen. Kulturell zirkulierende Plots erfüllen im lebensweltlichen K o n t e x t eine handlungsleitende Funktion, indem sie mehr oder minder flexibel bestimmen, was überhaupt als gesellschaftlich möglich, wünschenswert oder aber verdammungswürdig gilt. 76 Diese präexistente Kodifizierung impliziert auch, dass kulturspezifische (und als solche historisch kontingente) Erzählschemata restriktiv wirken können: „So gesehen tragen die Modelle menschlichen Lebens und personaler Identität, die ein bestimmtes historisches Repertoire autobiographischer F o r m e n 75
Vgl. hierzu Hinchman/Hinchman (1997b, S. xxiii): „In other words, the story o f an individual life usually plays off o f one or more historically and socially transmitted narratives, which serve as prototypes for the elaboration o f personal identity."
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Vgl. Bruner (1987, S. 15): „Given their constructed nature and their dependence upon the cultural conventions and language usage, life narratives obviously reflect the prevailing theories about .possible lives' that are part o f one's culture. Indeed, one important way o f characterizing a culture is by the narrative models it makes available for describing the course o f a life."
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beinhaltet, also auch in einem restriktiven Sinne zur kulturellen Definition des Individuums bei." (Brockmeier 1999, S. 25) 77 Kulturell verfugbare Erzählmuster umreißen einen relativ verbindlichen Rahmen, der den gesellschaftlich möglichen Gestaltungsspielraum für individuelle Selbsterzählungen vorgibt (vgl. Appiah 1994, S. 160). 78 Ihnen sind Normenvorstellungen, Wertehierarchien und damit auch etablierte Machtverhältnisse eingeschrieben: Sie legen personale Merkmale und Eigenschaften fest, die als notwendige Vorraussetzung zur Teilnahme an bestimmten kollektiven Praktiken qualifizieren; sie weisen Personen eines bestimmten Geschlechts, einer ethnischen Zugehörigkeit oder einer Klasse spezifische Rollen zu und bestimmen, wem soziale Glaubwürdigkeit attestiert wird (vgl. Emcke 2000, S. 296; Polkinghorne 1998, S. 26). Die in individuellen Lebenserzählungen konstruierten Selbstbilder sind mithin nur bedingt frei gewählt, denn sie verdanken sich im gewissen Maße auch den Erzählmustern eingeschriebenen Rollenverständnissen: „Neither the crystallization of personal identity nor the attempt to make experience intelligible [...] occurs within a social void. The processes are guided and constrained by culture [...]. A community's stories offer members a set of canonical symbols, plots, and characters through which they can interpret reality and negotiate — or even create - their world." (Hinchman/Hinchman 1997d, S. 235) 79 In diesem Sinne impliziert das Erzählen von persönlichen Geschichten auch, an einer kulturellen Tradition teilzuhaben, sich in diese einzuschreiben und sie somit zu kontinuieren (vgl. Gergen 1998, S. 191). „In the end [...] we become variants of the culture's canonical forms." (Bruner 1987, S. 15)80
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In Anschluss an Foucault schlägt Brockmeier (1999, S. 25) angesichts dieser kulturellen Begrenzung von autobiographischen Modellen zu Recht vor, „von einer kulturellen Episteme [zu] sprechen, die wie ein historisches Apriori den Horizont dessen absteckt, was als .Mensch' überhaupt denkbar ist".
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Auch Maclntyre (1987 [1981], S. 295) macht poindert auf die restriktive Wirkung kulturell verfügbarer Geschichten aufmerksam: „Denn die Geschichte meines Lebens ist stets eingebettet in die Geschichte jener Gemeinschaften, von denen ich meine Identität herleite. Ich wurde mit Vergangenheit geboren; und der Versuch, mich auf individualistische Art von dieser Vergangenheit abzunabeln, bedeutet die Deformierung meiner gegenwärtigen Beziehungen." Für Gergen (1998, S. 191) begründet die Verwobenheit von individuellen Geschichten und kollektiv akzeptierten Geschichtenformen die individuelle Teilhabe an Tradition: „Indem man das Gedächtnis bzw. die Erinnerung für eine diskursive Leistung hält, schlägt man auch vor, ,ein Gedächtnis zu haben', heiße an einer kulturellen Tradition teilzuhaben. Von seiner Vergangenheit zu sprechen bedeutet, sich in eine Tradition der Sprache zu stellen, für die die Regel für das Erzählen wohlgeformter Geschichten angemessen sind."
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Siehe zu diesem Aspekt auch Hinchman/Hinchman (1997b, S. xxiv): „The point is that our roles in ongoing stories are not always self-chosen. We are re-cruited into them by virtue of our membership in the community".
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Vgl. Hinchman/Hinchman (1997b, S. xvii), die das wechselseitige Abhängigkeitsverhältnis zwischen kulturell tradierten und individuell realisierten Erzählformen wie folgt beschreiben: „The stories that individuals create often strike variations upon a repertoire of socially available narratives, that, in turn, legitimize the community and guarantee its continued existence."
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Die Einsicht in die Wirkmacht und Normativität von kulturell zirkulierenden Erzählmustern kann wesentlich dazu beitragen, das literarische Phänomen der erzählerischen UnZuverlässigkeit zu spezifizieren. Erzählungen - gleich ob fiktionaler oder nicht-fiktionaler Art - werden stets vor dem Hintergrund kulturell bestehender und individuell aktualisierter Geschichtenmuster rezipiert, die einen verbindlichen Rahmen für gesellschaftliche Werte umreißen und damit auch Kriterien für die Beurteilung von Glaubwürdigkeit implizieren. Entspricht die fiktionale Erzählung nicht den Konventionen von kulturell validierten Geschichtenmustern, treten also Diskrepanzen zwischen den aktualisierten Erzählformen und deren impliziertem Wertesystem einerseits und dem kulturellen Vorwissen des Lesers andererseits auf, so liegt eine Klassifizierung des Erzählers als unzuverlässig nahe. Besonderheiten der erzählerischen Darstellung und Vermittlung, die sich nicht in Einklang mit vorherrschenden Erzählschemata bringen lassen, können mithin der UnZuverlässigkeit des Erzählers zugeschrieben werden. Konzeptualisiert man das kulturelle Repertoire an Geschichtenmustern als übergeordneten Bezugspunkt für die rezipientenseitige Wahrnehmung erzählerischer Unglaubwürdigkeit, so wird auch die historische und kulturelle Variabilität dieses literarischen Phänomens begreifbar. So sind Erzähler nie angesichts textueller Merkmale alleine als unzuverlässig einzustufen; unzuverlässig .werden' Erzähler erst durch die dynamische Interaktion zwischen textuellen und kulturell-kontextuellen bzw. ästhetischen und moralischen Phänomenen. Die narrative Artikulation und Repräsentation individueller Identität ist also bei Weitem keine Privatsache, sondern eine Frage intersubjektiver Aushandlung und kulturell verfugbarer Erzählmuster: Damit autobiographische Erinnerungserzählungen überhaupt eine Wirkungskraft entfalten können, müssen sie von signifikanten Bezugspersonen als adäquate und plausible Repräsentationen anerkannt werden. Diese identitäre Abhängigkeit vom responsiven Verhalten anderer bedeutet auch, dass die Verfertigung der eigenen Vergangenheit und der darauf aufbauenden individuellen Identität auf den angenommenen Erwartungshorizont des kommunikativen Gegenübers abgestimmt werden muss. Der Gestaltungsspielraum der individuellen Identität ist aber noch in einer weiteren Hinsicht strukturell begrenzt. So bestimmen kulturell verfügbare autobiographische Erzählmodelle nicht nur den formalen Aufbau von glaubwürdigen Selbstnarrationen, sondern bis zu einem gewissen Grad auch, welche Identitätsentwürfe für bestimmte Personen überhaupt denkbar sind. Wenn, wie deutlich wurde, Konstruktionen der eigenen Vergangenheit und Identität zumeist im Rahmen sozialer Kommunikation erfolgen, dann stellt sich die Frage nach den Wirkungen dieser geteilten Erinnerungen nicht nur auf das Individuum, sondern auch auf die Gruppe bzw. das Kollektiv. Offensichtlich verändern sich die Erinnerungen Einzelner bei der Praxis des kommunikativen Erinnerns nach Maßgabe des gemeinsam konstruierten Geschichtenhorizonts. In der Praxis der Erinnerung vollzieht sich so stets die Produktion einer überindividuellen Vergangenheit (vgl. Keppler 2001, S. 137f.). Können diese geteilten Erinnerungen nun
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auch — analog zu individuellen, erinnerungsbasierten Identitätskonstruktionen — auf der Makroebene Identität fundieren? Anders formuliert: Schaffen sich nicht auch Gruppen eine distinkte Identität, indem sie gemeinsam über Vergangenes kommunizieren? Diese Fragen sollen nun im Folgenden unter Rückgriff auf kulturwissenschaftliche Ansätze zum kollektiven Gedächtnis erörtert werden.
3. Der Nexus zwischen Kollektivgedächtnis und kollektiver Identität in bestehenden Gedächtnistheorien: ,Gedächtnis, das Gemeinschaft stiftet' Allererst die Erinnerung an Vergangenes gewährleistet die Kontinuität von Erfahrung sowie die Stiftung von Identität. Dies gilt auch für Kulturen. Kulturen, Gesellschaften und Gruppen nehmen auf unterschiedliche Weise auf Vergangenes Bezug, etwa indem sie in Gedenkfeiern, Ritualen, Denkmälern, Archiven oder anderen mnemonischen Symbolen Geschichtliches aufrufen und mit Bedeutung versehen. Ebenso wie sich die Orientierungsleistungen des Einzelnen den sinnkonstituierenden Akten des Gedächtnisses verdanken, so verdankt sich Kultur „dem Gedächtnis als der Fähigkeit, durch Erinnern des Bedeutsamen und Vergessen des Kontingenten" (Assmann/Assmann 1983, S. 267) intelligible Sinnwelten zu generieren. Die organisierte Praxis der geteilten Vergangenheitsauslegung bildet den Ausgangspunkt für die Entstehung eines überindividuellen, kollektiven Gedächtnisses, das gruppenspezifische Identitätsmuster prägt und den Bodensatz von Zusammengehörigkeit bildet (vgl. Oexle 1985, S. 75). Durch geteilte Erinnerungsbezüge und -strukturen sind wir mit Gruppen und Kulturen verwoben, über gemeinsames Erinnern an Vergangenes stellen wir kollektive Identifikationen her (vgl. Saar 2002, S. 267). Erinnern ist mithin nicht nur eine individual-biographische, sondern auch eine bedeutsame gesellschaftliche Angelegenheit (vgl. Schmidt 2000, S. 109), die - wie der Titel des von Karl Schmid (1985) herausgegebenen Sammelbandes akzentuiert — Gemeinschaft stiftet'. 81 Zur Bezeichnung dieser kollektiven Dimension der erinnerten Vergangenheit, die in symbolischen Formen bzw. Praktiken konstruiert und externalisiert wird, hat der französische Soziologe Maurice Halbwachs Ende der zwanziger Jahre den Begriff des .kollektiven Gedächtnisses' vorgeschlagen. Dieses Konzept hat seither eine vielgestaltige Ausdifferenzierung erfahren. Das Forschungsfeld
beinhaltet
nunmehr die Analyse der sozialen und kulturellen Anteile individueller Gedächtnisbildung ebenso wie die Beschäftigung mit einem Gedächtnis der Kultur — verstanden als ein überindividueller, symbolischer Sinnhorizont. Es umspannt das ganze Spektrum von „Kultur als Gedächtnisphänomen" bis hin zu „Gedächtnis als
81
Natürlich können kollektive Formen des Vergangenheitsbezugs nicht in einfacher Analogie zu individuellen Erinnerungsleistungen modelliert werden. Während individuelle Gedächtnisprozesse auf physiologischer Grundlage auch spontan, automatisiert und oftmals unbewusst operieren können, ist das kollektive Gedächtnis darauf angewiesen, mit Hilfe fixierter symbolischer Zeichen sowie einer gezielten Erinnerungs- und Vergessenspraxis ständig neu konstruiert, kontinuiert und angeeignet zu werden. Medien - wie Bilder, Texte, Denkmäler, Bauten oder Landschaften — ermöglichen die Konstruktion und Konstitution eines überindividuellen Gedächtnisses unter Bedingungen
einer
,zerdehnten
Situation'
(Ehlich
1983).
Vgl.
zur
Frage
der
Übertragbarkeit
individualpsychologischer Gedächtnisleistungen auf Kollektive den kritischen Überblick von Reinhardt (1996, S. 87-99) sowie den Aufsatz von Schudson (1995). Zur Bedeutung von Medien für die Konstitution und Stabilisation von Kollektivgedächtnis vgl. Neumann (2004a).
Kollektivgedächtnis und kollektive Identität
73
Kulturphänomen" (f. Assmann 2002a, S. 8). So ist vom sozialen (Weher; Connerton), kulturellen oder kommunikativen Gedächtnis (A. und J. Assmann), von invented traditions (Hobsbawm/Ranger), von memoria (Haverkamp/Lachmann; Oexle), cultural memoiy (Sturken) oder den äeux de memoire (Nora) die Rede. 82 Um angesichts dieser Begriffsinflation eine hinreichende analytische Trennschärfe zu gewährleisten, werden im Folgenden - im Sinne von Olicks (1999) Bestimmung des collective memory - lediglich Phänomene unter dem Begriff .Kollektivgedächtnis' berücksichtigt, die überindividuelle — gruppenspezifische oder institutionelle - Vergangenheitsbezüge implizieren. Obschon die Vielzahl unterschiedlicher Termini natürlich auch auf unterschiedliche konzeptionelle Schwerpunkte verweist, basieren Theorien zum Kollektivgedächtnis doch auf einigen gemeinsamen Grundannahmen. Sie nehmen die Perspektivität und Konstruktivität, die individuelle Gedächtnisprozesse kennzeichnen, auch für kollektive Erinnerungen an. Das Kollektivgedächtnis ist auf die Schaffung einer ,usable past' (Zamora 1998) angelegt, also darauf, eine kontinuierliche Harmonisierung von Gegenwart und Vergangenheit zu ermöglichen und so auf gegenwärtige Sinnbedürfnisse von Gruppen zu antworten (vgl. Assmann/Assmann 1983, S. 277). Die Aneignung gruppenspezifischer Vergangenheitsreferenzen in Geschichten oder Riten bildet den Ausgangspunkt für die Entstehung von Zusammengehörigkeit. Dass geteilte Erinnerungen verbindend und gemeinschaftsstiftend wirken, ist die an Halbwachs anknüpfende und richtungsweisende Prämisse für nachfolgende kulturwissenschaftliche Debatten zur Gedächtnisthematik. Kollektives Gedächtnis bildet in seinen jeweils spezifischen Ausprägungen den semantischen Knotenpunkt einer Gemeinschaft und erzeugt als Konglomerat identitätsstiftender Wissensbestände einen kollektiv geteilten, symbolischen Handlungs- und Bedeutungshorizont. Theorien zum kollektiven Gedächtnis liefern daher auch immer Erklärungsansätze zur Konstruktion und Stiftung von kollektiver Identität, wie ein Zitat von Saar (2002, S. 268) anschaulich zum Ausdruck bringt: Sie erläutern die Bildung und Ausprägung von Kultur über die Fähigkeit von Gruppen zur kollektiven Erinnerung und erklären die Entstehung von Identität als Praxis und Frage von kultureller Erinnerung und kollektivem Gedächtnis. Sie befragen Identität durch die Analyse der mnemonischen Techniken und Praktiken wie Traditions- und Kanonbildung, von Feiern und Ritualen, die Pflege von Gedenkorten und -institutionen. Eine solchermaßen konzipierte Gedächtnistheorie — die Jan Assmann (2002a) mit der These von „Kultur als Gedächtnis" auf den Begriff gebracht hat — erweist sich vor allem insofern als produktiv, als sie Kultur als symbolische, synchron und diachron variable Sinnwelt konzipiert. Die Existenz und Stabilität von kulturellen Arrangements ist an die aktive Konstruktion eines geteilten Sinnhorizonts und an 82
Überblicke über die Vielfalt kollektiver Gedächtnistheorien und ihre historischen Ursprünge liefern Olick/Robbins (1998) sowie Erll (2003b; 2005).
74
Gedächtnistheoretische Konzepte
die Vorstellung einer gemeinschaftlichen Vergangenheit gebunden. Auch die auf geteilten Erinnerungen basierende kollektive Identität bezeichnet keine wie auch immer geartete präexistente oder essentialistische Substanz einer Gruppe, sondern soziokulturell bedingte Selbstauslegungen, die in gemeinsamen sozialen Praktiken ihren Ausgangspunkt haben (vgl. Straub 1998c, S. 103). Eine wesentliche Konsequenz, die sich aus dieser konstruktivistischen Konzeption ergibt, ist die Absage an evolutionäre Kulturmodelle — die sich vor allem im 19. Jahrhundert großer Beliebtheit erfreuten - und die Betonung der symbolischen Verfasstheit von Kultur. Kultur „als das nicht vererbbare Gedächtnis eines Kollektivs" (vgl. Lotman/Uspenskij 1986 [1978], S. 856) bedarf der aktiven Konstruktion, Tradierung und bewussten Aneignung. Kultur ist das von Menschen geschaffene und strukturierte Ensemble von Codes und Medien, Objekten und Institutionen, durch welche Bedeutung generiert wird (vgl. Barthes 1969 [1967]). Forschungsansätzen zum Kollektivgedächtnis kann es daher nicht um die normativ überformte Frage gehen, was eine Kultur wirklich ist oder idealiter sein sollte. Vielmehr fokussieren sie die (mnemonischen) Zeichen- und Symbolsysteme, ,die selbstgesponnenen Bedeutungsgewebe des Menschen' (Max Weber), durch die eine Kultur beobachtbar wird, und analysieren die Bedeutung dieser Zeichensysteme für gegenwärtige Selbstverständnisse und Wirklichkeitsdeutungen (vgl. Sturken 1997, S. I). 83 Es liegt auf der Hand, dass Theorien des kollektiven Gedächtnisses vielfältige Anknüpfungspunkte an kulturwissenschaftliche Positionen und Fragestellungen bieten. Hier wie dort werden Fragen nach den Formen der kollektiven Konstruktion vergangener Erfahrungsrealität gestellt und deren Funktionen für gegenwärtige Wirklichkeits- und Selbstdeutungsprozesse einer Kultur analysiert. Beiden geht es um die spezifischen Charakteristika von kulturellen Objektivationen und ihrer Bedeutung für aktuelle (Erinnerungs-) Kulturen. Aber was meint ,Kultur als Gedächtnis' unter den Bedingungen einer fortschreitenden kulturellen und ethnischen Pluralisierung von Gesellschaften? Mehr und mehr überlagern sich heute auf einem Territorium sehr unterschiedliche politische, ethnische und religiöse Orientierungen und Traditionen (vgl. Saar 2002, S. 269), so dass Kulturen als intern heterogene Handlungsräume konzeptualisiert werden müssen (vgl. Welsch 1997, S. 72). In pluralistischen Gesellschaften bedarf es komplexer Meinungsbildungsprozesse, in denen ausgehandelt wird, was überhaupt zum Gegenstand der kollektiven Kommemoration wird. Innerhalb einer Gesamtgesellschaft, zumal multikultureller Nationen, koexistieren und interagieren eine Vielzahl partikularer Gruppen, die jeweils eigene Vergangenheitsversionen entwerfen, distinkte Identitäten ausbilden und ihr Recht auf gesellschaftliche Anerkennung geltend machen. Diese interne soziale Differenzierung hat auch zur Folge, dass eine simple Gleichsetzung von nationaler und kollektiver Identität zu kurz 83
Vgl. dazu Assmann/Assmann (1994, S. 117): „Die Frage lautet dann: Auf welche Weise und mit welcher Absicht wird ein für eine Gruppe als Gemeinschaft relevantes Wissen von einer Generation an die nächste übermittelt?"
Kollektivgedächtnis und kollektive Identität
75
greift. Einzelne Personen identifizieren sich je nach individuellen Bedürfnissen sowie soziokultureller Situation mit sehr unterschiedlichen Gruppen wie der Familie, einer politischen Partei, mit einer ethnischen Gemeinschaft, einer Religion oder Nation (vgl. Emcke 2000, S. 14f.). Ein am Nationalstaat orientierter Kultur- und Gedächtnisbegriff und eine damit verbundene homogenisierende Kollektividentität können der Realität der zunehmenden Pluralisierung, Differenzierung und Globalisierung kaum gerecht werden (Welsch 1997, S. 67). 84 Ziel dieses Kapitels ist es, die Grundannahmen erinnerungsorientierter Kulturund Identitätstheorien des 20. Jahrhunderts kritisch zu erörtern und zu systematisieren. Exemplarisch werden die - für derzeitige kulturwissenschaftliche Debatten wohl einflussreichsten - Ansätze Maurice Halbwachs', Pierre Noras sowie Jan und Aleida Assmanns auf die ihnen zugrunde liegenden Vorstellungen von Kollektivgedächtnis (im Sinne des collective memory) untersucht. Ihre Gedächtniskonzepte unterscheiden sich vorrangig in zweierlei Hinsicht: Erstens gehen sie bei ihrer Analyse der geteilten Praxis des Erinnerns von verschiedenen Reichweiten der sozialen Bezugsrahmen aus. Zweitens postulieren sie recht differente Weisen der Tradierung von gemeinsamen Vergangenheitsreferenzen. Während Halbwachs seine Analyse des kollektiven Gedächtnisses an relativ eng umgrenzten Gruppen orientiert, weitet Nora den Rahmen der Analyse auf die Nation aus. Bei seiner Erforschung der französischen lieux de memoire setzt er zwar Halbwachs' These der topographischen Organisiertheit des Kollektivgedächtnisses fort; dieses konkretisiert sich für ihn jedoch weniger in der geteilten Praxis des kommunikativen Erinnerns als vielmehr in kulturellen Objektivationen. Demgegenüber führen Aleida und Jan Assmann eine terminologische Differenzierung zweier funktional verschiedener Formen der kollektiven Erinnerung ein: Während das kommunikative Gedächtnis auf relativ spontaner Alltagskommunikation basiert, vermittelt das medial fixierte kulturelle Gedächtnis einen gesamtgesellschaftlich verbindlichen Erfahrungsbestand. Im Anschluss an die angestellten Überlegungen zur gesellschaftlichen Pluralisierung stehen bei der Analyse der postulierten Gedächtnisbegriffe zwei Fragen im Zentrum. Erstens soll der Frage nachgegangen werden, ob sich die modellierten Gedächtniskonzepte an pluralistische Vorstellungen von Kulturen anschließen lassen. Forschungsprogramme, die Kultur und Gedächtnis gleichsetzen, müssen sich fragen lassen, inwieweit sie überhaupt dazu geeignet sind, heutige Gesellschaften adäquat zu beschreiben. Diese Frage stellt sich für kultur- und literaturwissenschaftliche Studien zum Gedächtnis umso dringlicher, als sie oftmals bestehende Gedächtnisbegriffe unmodifiziert für die Auseinandersetzung mit historisch und kulturell sehr variablen Phänomenen adaptieren. Eine solche Vorgehensweise
84
Vgl. zur Kritik einer homogenen nationalen Identität Hobsbawm (1990, S. 11) sowie Niethammer (2000, S. 365). Auch Welsch (1997, S. 69) wendet sich in aller Entschiedenheit gegen dieses Kulturmodell: „Das klassische Kulturmodell ist nicht nur deskriptiv falsch, sondern auch normativ gefährlich und unhaltbar. Der Abschied von diesem Konzept ist in jeder Hinsicht angezeigt."
76
Gedächtnistheoretische Konzepte
ignoriert aber die grundlegende soziokulturelle Kontextualität von Gedächtnis: „Memory has in accordance to social patterns its own history" (Fentress/Wickham 1992, S. 7). Eng damit verbunden ist zweitens die Frage nach den Implikationen einer Pluralisierung der Erinnerungskultur für die Konstitutionsbedingungen von kollektiver Identität und für den Umgang mit kulturell Anderen, also mit kultureller Alterität. Zweifelsohne ist kollektive Identitätsbildung immer mit Mechanismen von „Inklusion und Exklusion, Integration und Distinktion" (Straub 1998c, S. 100) verbunden. Dennoch müssen Modelle, die kollektive Identität als homogenes Konstrukt konzeptualisieren, unter den Bedingungen von Multikulturalismus fragwürdig erscheinen. Die kritische Analyse bestehender Gedächtniskulturtheorien bildet die Basis für den in Kapitel 4 vorgenommenen Versuch einer konzeptuellen Ausdifferenzierung, die eine zweifache Perspektivenerweiterung erfordert. Um die Verzahnung von übergeordneten Prozessen der Gedächtnisbildung einerseits und deren individuellen Bedingungen andererseits in den Blick zu bringen, sollen erstens Einsichten zu Formen, Inhalten und Funktionen des kollektiven Vergangenheitsbezugs mit den in dieser Arbeit gewonnenen Erkenntnissen zum Zusammenhang von individuellem Erinnern, Erzählen und Identität verknüpft werden. Zweitens stellt sich die Aufgabe, bestehende Gedächtniskulturkonzepte so zu erweitern, dass sich die Möglichkeit eröffnet, Kulturen sowie kollektive Identitäten als vielstimmig und auch antagonistisch, also nicht als harmonisch und monolithisch zu begreifen. Diese Überlegungen münden in ein integratives Modell heutiger Erinnerungskulturen, das auch eine systematische Verortung von Literatur als Teil der kollektiven Sinnstiftungen erlaubt.
3.1 Maurice Halbwachs' .Kollektives Gedächtnis' Als „Gründungsvater der Disziplin" (J. Assmann 2002a, S. 7) hat der französische Soziologe Maurice Halbwachs mit seinen in den 1920er Jahren verfassten Schriften die gegenwärtige kulturwissenschaftliche Gedächtnisforschung maßgeblich beeinflusst. Halbwachs' Arbeiten waren die ersten, die die Voraussetzungen und Folgen des Phänomens .kollektives Gedächtnis' im Rahmen einer umfassenden Kulturtheorie systematisch reflektierten. Die zentrale These, die sich durch seine Studien zur memoire collective zieht, ist die von der sozialen Bedingtheit des Gedächtnisses. Wie auch Bewusstsein, Sprache und Personalität konzeptualisiert Halbwachs das individuelle Gedächtnis als ein durch und durch soziales Phänomen, das sich ohne die von einer spezifischen Kultur zur Verfügung gestellten cadres sociaux gar nicht erst konstituieren könne. Halbwachs legt die kollektive Prägung des persönlichen Erinnerns im ersten Teil seines Gedächtnisbuches Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen (1985
Kollektivgedächtnis und kollektive Identität
77
[1925]; Kapitel 1-4) dar. 85 Zwar sind Erinnerungsvorgänge an individuelle Trägerinstanzen gebunden. Da Individuen bei der Aktualisierung von Vergangenem notwendigerweise auf soziale Bezugsrahmen zurückgreifen müssen, sind ihre Erinnerungen jedoch derart von Kollektivbezügen durchdrungen, dass die Grenze zwischen individuellem und kollektivem Gedächtnis nicht nur permeabel, sondern letztlich hinfallig wird. Vor diesem Hintergrund bezeichnet Halbwachs zwar auch die soziale Rahmung des individuellen Erinnerns als .kollektives' Gedächtnis, denn so stellt jeder personengebundene Erinnerungsakt einen ,„Ausblickspunkt' auf das kollektive Gedächtnis" (Halbwachs 1991 [1950], S. 31) dar. Letztlich handelt es sich dabei allerdings um eine metaphorische Redeweise. 86 Halbwachs konzeptualisiert das Gedächtnis in diesem Fall nicht primär als eine überindividuelle Instanz bzw. als group mind, sondern im Sinne des collected memory Ρ Auswirkungen auf die Gruppe — im Sinne der Erzeugung einer über individuelle Erinnerungsakte hinausgehenden Sinnwelt - geraten daher nicht in den Blick. Erst im zweiten Teil (Kapitel 5-7) seiner ersten Schrift Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen wendet sich Halbwachs der Makroebene und damit den spezifischen Gruppengedächtnissen von Familien, religiösen Gemeinschaften, sozialen Schichten oder Berufsgruppen zu. Auf dieser Ebene verläuft die „Blickrichtung [...] vom Kollektiven ausgehend hin zum Individuum, welches als handelnde Einheit im Sinne der Gruppeninteressen gesehen wird" (Grossmann 2002, S. 106f.). Im Vordergrund steht nunmehr Kultur als Gedächtnisphänomen — im Sinne der Konstruktion und Tradierung symbolischer Sinnsysteme. Bei der Identifikation von sozialen Gruppen als Erinnerungsgemeinschaften geht Halbwachs von der gemeinschaftsstiftenden Funktion von Gedächtnis bzw. Gedenkritualen aus. Die Gesamtgesellschaft zerfallt dem Soziologen zufolge in unterschiedliche Gruppierungen, die jeweils über einen gruppenspezifischen Vorrat an geteilten Wissensund Gedächtnisbeständen verfügen. Das Familiengedächtnis stellt für Halbwachs ein typisches Gruppengedächtnis, genau genommen ein Generationengedächtnis dar. An ihm partizipieren alle Familienmitglieder, die über den geteilten familiären Erfahrungshorizont verfugen. Das kollektive Gedächtnis konstituiert sich durch unterschiedliche Formen der sozialen Interaktion und vor allem durch Kommunikation, d.h. durch die kommunikative Weitergabe gruppenkonstitutiver Erfahrungen, Geschichten, Bräuche und Normen. Im gemeinsamen Sprechen über Vergangenes vergegenwärtigen Gruppen jene Aspekte ihrer Geschichte, die sie als eben diese Gruppe auszeichnen und die daher nicht in Vergessenheit geraten dürfen. Durch Akte des kommunikativen Erinnerns werden auch diejenigen zu Trägern des gruppenspezifischen Gedächtnisses, die das Erinnerte nicht selbst erlebt haben. Es findet also ein kommunikativer Austausch zwischen Zeitzeugen und
85 86 87
Vgl. hierzu Kapitel II.2.2 dieser Arbeit. Vgl. Keppler (2001, S. 144): „Das meiste, was bei Halbwachs unter den Terminus .kollektives Gedächtnis' fällt, hat entscheidend mit der Kommunikation zwischen Individuen zu tun." Vgl. zu diesem Aspekt auch Namer (1987, S. 21-52).
78
Gedächtnistheoretische Konzepte
Nachkommen statt. Diese kommunikative Interaktion schafft die Grundlage für den Akt des ,re-membering', der Einzelne an das Kollektiv bindet und sie auf diese Weise erst zu Gruppenmitgliedern macht. Aus der aktiven Partizipation an einem derartigen kollektiven Gedächtnis leiten sich für die einzelnen Akteure nicht nur vielfältige gruppenspezifische Wahrnehmungsschemata und Erinnerungen ab, die das individuelle Selbstverständnis prägen. Vielmehr ist mit der Praxis der gemeinsamen Erinnerung auch die Entstehung neuer, überindividueller Sinnhorizonte und Selbstverständnisse verbunden. Die Praxis des gemeinsamen Eiinnerns stellt sich vornehmlich als Akt der Selbstthematisierung der Gruppe als Gruppe dar: „In ihnen drückt sich die allgemeine Haltung der Gruppe aus; sie reproduzieren nicht nur ihre Vergangenheit, sondern sie definieren ihre Wesenart, ihre Eigenschaft und ihre Schwächen." (Halbwachs 1985, S. 209f.) Die Gruppe erschafft sich und ihre Identität in gewissem Maße erst im und durch den Akt der Erinnerung. Die kollektive Identität ist das Resultat der gemeinsamen Vergangenheitsauslegung, das agglomerative Produkt der sich gegenseitig stützenden und ergänzenden Erinnerungen der Gruppenmitglieder an ihre Kollektiwergangenheit. Diese überindividuelle Identität manifestiert sich nur in den gemeinsamen Vergangenheitsbezügen der Gruppe selbst, denn die Gruppenmitglieder verfügen nur so lange über sie, wie sie an der Gruppe partizipieren (vgl. Echterhoff/Saar 2002b, S. 16). Geteiltes Kollektivgedächtnis ist für Halbwachs demnach nicht nur eine Voraussetzung für Gruppenkohäsion, sondern konstitutiv und untrennbar mit der Existenz einer sozialen Gruppe verflochten. Identität und kollektives Gedächtnis einer Gruppe sind demnach interdependent, sie bedingen sich wechselseitig. Aus der Perspektive der Gruppe stellt sich das kollektive Gedächtnis als „eine Frage der Distribution" (J. Assmann 2000, S. 37) dar, als geteiltes Wissen, das von den Mitgliedern getragen wird und wiederum gemeinschaftsbildend auf die Gruppe zurückwirkt. Gemeinsame Erinnerungen als wichtigstes Mittel der Kohäsion stabilisieren nicht nur die Gruppe und ihre distinkte Identität, sondern die Gruppenidentität stabilisiert umgekehrt auch die Erinnerungen (vgl. A. Assmann 1999, S. 131). Aus diesem Zusammenspiel zwischen gruppenkonstitutivem Gedächtnis und Identität resultiert Halbwachs zufolge die Perspektivität und Selektivität der gemeinsam verfertigten Vergangenheit. Das kollektive Gedächtnis orientiert sich an den gegenwärtigen Belangen der Gruppe. Gruppenspezifische Sinnbedürfnisse bestimmen darüber, welche Vergangenheitsreferenzen Eingang in das jeweilige Kollektivgedächtnis finden. Die erinnerte Vergangenheit existiert daher nur als partikulare und perspektivische, d.h. als eine auf gegenwärtige Rahmen abgestimmte Konstruktion: „Das Gedächtnis läßt die Vergangenheit nicht Wiederaufleben, sondern es rekonstruiert sie" (vgl. Halbwachs 1985, S. 7). Bei diesem produktiven Prozess sind Umdeutungen und Neugewichtungen bis hin zur H/findung der gruppenspezifischen Vergangenheit möglich: ,,[D]ie Erinnerung ist in sehr weitem Maße eine Rekonstruktion der Vergangenheit mit Hilfe von der Gegenwart entliehenen Gegebenheiten und wird im übrigen durch andere, zu früheren Zeiten un-
Kollektivgedächtnis und kollektive Identität
79
ternommene Rekonstruktionen vorbereitet" (1991, S. 55). Deutlich wird hier nicht nur, dass sich der Prozess der kollektiv-autobiographischen Erinnerung ganz ähnlich vollzieht wie der individuelle, nämlich durch die ständige Neuperspektivierung des Vergangenen in der Gegenwart. Vielmehr klingt in Halbwachs' Beschreibung der Gedächtnisbildung bereits an, was Eric Hobsbawm und Terence Ranger (1983 [2000]) später als die .Erfindung von Traditionen' bezeichnen. Halbwachs grenzt die ,gelebte' Erinnerung radikal von der geschriebenen (Zeit-)Geschichte ab. Er konzipiert Geschichte als Gegenteil des Gedächtnisses, als einen völlig anders gearteten Modus des Vergangenheitsbezuges, der mit den Merkmalen des kollektiven Gedächtnisses inkompatibel ist. In Das kollektive Gedächtnis (1991, S. 66) stellt Halbwachs heraus, „daß die Geschichte im allgemeinen an dem Punkt beginnt, an dem die Tradition aufhört — in einem Augenblick, an dem das soziale Gedächtnis erlischt und sich zersetzt". Während das lebendige, kollektive Gedächtnis evaluativ-hierarchisierend, gruppenspezifisch und hiermit partikular ist, weist sich Geschichte durch ihre objektive Universalität, durch ihre unbeteiligte Gleichordnung aller vergangenen Ereignisse aus. Geschichte fokussiert Brüche und Wendepunkte, das Kollektivgedächtnis ist angesichts seiner Bindung an das Selbstbild einer Gruppe auf größtmögliche Kontinuität angelegt. Halbwachs subsumiert unter dem Begriff des .kollektiven Gedächtnisses' also recht heterogene Phänomene. Diese Heterogenität gewährleistet zwar eine grundsätzliche Anschlussfähigkeit des Konzepts an unterschiedliche Disziplinen und Forschungsinteressen. Zugleich erscheint seine Theoriebildung allerdings zu inkonsistent und begrifflich nicht ausreichend differenziert, um als tragfähige Grundlage eines integrativen kulturwissenschaftlichen Forschungsansatzes zu fungieren. Trotz der konzeptuellen Unschärfe ist es ein zentrales Verdienst der Halbwachsschen Theorie, die enorme Bedeutung, die der sozialen Dimension der Kultur, also den spezifischen Belangen von Gruppen für die Aktualisierung von Vergangenem zukommt, herausgestellt zu haben. Vergangenes wird nicht voraussetzungslos gespeichert, sondern gemäß gruppenspezifischen Bedürfnissen präsent gehalten. Entgegen den vorherrschenden Modellen seiner Zeit versteht Halbwachs Kultur und Gemeinschaft als das Produkt aktiver Selbstauslegungen, nicht als Resultat biologischer Vererbung. Aus Halbwachs' Theorie des kollektiven Gedächtnisses lassen sich darüber hinaus grundlegende Einsichten für das Funktionieren von modernen Kulturen ableiten. Seine soziologische Diversifikation der Gesamtgesellschaft in unterschiedliche Gruppierungen, die jeweils eigene, identitäre Gruppengedächtnisse ausbilden, verdeutlicht, dass Kulturen als in sich differenzierte Erinnerungsgemeinschaften zu konzipieren sind. Die Unterteilung einer Kulturgemeinschaft in plurale Gedächtnisgruppen steht der Vorstellung eines einheitlichen, hochintegrierten, für alle Mitglieder einer Gesellschaft verbindlichen und verbindenden Kollektivgedächtnis-
80
Gedächtnistheoretische Konzepte
ses gegenüber. 88 Angesichts dieser kulturellen Diversifizierung verwirft Halbwachs (vgl. 1991, S. 64f.) auch zu Recht die Vorstellung eines nationalen Gedächtnisses sowie einer am Nationalstaat orientierten, homogenen kollektiven Identität. Veränderungen in der nationalen oder gesamtgesellschaftlichen Erinnerungskultur können nur dann wirksam werden, wenn sie dem Einzelnen über seine Gruppenzugehörigkeiten bzw. seine sozialen Milieus vermittelt werden. Halbwachs' konzeptuelle Pluraüsierung des kollektiven Gedächtnisses lenkt hiermit das Augenmerk auf die gerade für zeitgenössische, zunehmend heterogene und multikulturelle Gesellschaften charakteristischen Verwerfungen und Diskontinuitäten der Vergangenheitsauslegung. Diese Pluraüsierung der Kultur verortet Halbwachs nicht nur auf der Makro-, sondern auch auf der Mikroebene. Da jeder Mensch zugleich mehreren sozialen Gruppen angehört, enthält das individuelle Bewusstsein eine Pluralität von Gedächtnisbezügen: „Jeder von uns ist in der Tat gleichzeitig Mitglied mehrerer mehr oder minder ausgedehnter Gruppen." (Ebd., S. 64) Aus diesen multiplen Bezügen wiederum folgt, dass auch die einzelnen Erinnerungsgemeinschaften in sich differenziert angelegt sind und geteilte Erinnerungen unterschiedlich perspektiviert werden können. In dem Maße, in dem Individuen aufgrund verschiedener Gruppenbezüge auch diverse kollektive Identitäten ausbilden, unterliegt die Grenze zwischen Eigenem und Fremden, also zwischen Identität und Alterität, ständigen Verschiebungen und Uberlagerungen. Der Begriff der kollektiven Identität verliert auf diese Weise seine problematischen Konnotationen von Homogenität und Totalität. Vor allem aufgrund seiner gedächtnistheoretisch motivierten Diversifikation der Gesellschaft in unterschiedliche, miteinander interagierende Gruppen bietet Halbwachs' Ansatz hochrelevante Anregungen für kulturwissenschaftliche Perspektiven auf den Zusammenhang von kollektiver Erinnerung, Identitätsbildung und Kultur.
3.2 Pierre Noras .Erinnerungsorte' In Anlehnung an Halbwachs' These von der topographischen Organisation des kollektiven Gedächtnisses untersucht Pierre Nora in seinem editorischen Großprojekt der französischen Lieux de memoire (Hg. 1984-1992) geographische Orte, Denkmäler, Gebäude, aber auch historische Persönlichkeiten, Kunst- und Geschichtswerke, die er als .Kristallisationspunkte' des kollektiven Gedächtnisses Frankreichs begreift (vgl. Nora 1995, S. 83). Die im Rahmen von Noras kulturwissenschaftlicher Geschichtsschreibung entwickelte Konzeption des kollektiven
88
Zu Recht betont Wischermann (1996c, S. 62): „Die hier angelegte Pluralität kollektiver Gedächtnisse ist in der Halbwachs-Rezeption allerdings häufig verloren gegangen." Dies wird v o r allem in den Theorien von Nora sowie v o n Jan und Aleida Assmann deutlich.
Kollektivgedächtnis und kollektive Identität
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Gedächtnisses ist mittlerweile zu einem der einflussreichsten Versuche avanciert, den Zusammenhang von Gedächtnis, Kultur und Identität zu erfassen. Die Sammlung von 130 historischen Aufsätzen über so disparate Sujets wie „Kaffee", „Der Eiffelturm", „Gastronomie" und „Der König" analysieren die Ursprünge und Entwicklung von Erinnerungssymbolen, die in den Augen der Autorinnen und Autoren die Grundlagen des französischen Selbstverständnisses bilden. Unter .Erinnerungsorten' subsumiert Nora — ganz im Sinne der antiken Mnemotechnik - loci jedweder Art; auf keinen Fall bezeichnen sie ausschließlich topographische Orte. Sie symbolisieren einzelne Facetten der nationalen Autobiographie, die in ihrer Gesamtheit den mnemonischen Erfahrungsraum und Erwartungshorizont der französischen Nation konstituieren. Ein Erinnerungsort lässt sich als symbolische, ideologisch hoch besetzte Ausdrucksform des nationalen Erbes bestimmen, in der eine Gruppe sich und ihre Vergangenheit wieder entdecken kann (vgl. Nora 1995, S. 83).89 Das breite Spektrum unterschiedlicher Erinnerungsorte strukturiert sich entlang drei übergeordneter, historischer Analysekategorien: Republik, Nation und schließlich „Les France". Nora zufolge versinnbildlicht diese Konfiguration die historische Entwicklung der französischen Nation von ihrer ursprünglichen Einheit über politischen Konflikt bis hin zur heutigen, fragmentarischen und nahezu entpolitisierten Multiplizität (vgl. Olick/Robbins 1998, S. 121). Die Jieux de memoire' beschreiben demnach nicht nur „die Fundstellen der nationalen Tradition Frankreichs", wie Niethammer (1995, S. 28) treffend bemerkt, sondern liefern zugleich eine historische Diagnose des kollektiven Gedächtnisses ,im Zeitalter des Gedenkens' (vgl. Nora 1993). Mit Blick auf unsere Zeit handelt es sich beim Kollektivgedächtnis um ein heterogenes und pluralistisches Konglomerat von partikularen Erinnerungen. Zwar werden diese nur noch von Einzelnen geteilt, dennoch münden sie schließlich im Großrahmen der französischen Nation. Trotz ihrer ausgesprochenen Pluralisierung lässt die Ansammlung von Erinnerungsorten folglich auf eine zugrunde liegende, gleichsam allumfassende französische Nationalgeschichte und eine damit assoziierte nationale Identität schließen (vgl. Carrier 2002, S. 141). In seinem mittlerweile viel zitierten Aufsatz „Zwischen Geschichte und Gedächtnis" (1998 [1984]), das seinem siebenbändigen Werk vorangestellt ist, stellt Nora theoretische Vorüberlegungen an, die Voraussetzungen festlegen, die ein Ereignis oder einen Gegenstand als einen ,Erinnerungsort' qualifizieren. Diese Überlegungen haben insbesondere für kulturwissenschaftliche Perspektiven auf Kollektivgedächtnis einen hohen Erkenntniswert. Nora begreift Erinnerungsorte als kulturelle Objektivationen im weitesten Sinne, die sich durch ihre intentionale Funktionalisierung auszeichnen. Als semantisch aufgeladene Vergangenheitsreferenzen verfugen sie über eine materielle, funktionale und eine symbolische Dimension (vgl. ebd., S. 32). Nora legt dabei ein sehr weites und eigensinniges 89
Nora (1995, S. 85) visualisiert Erinnerungsorte als die „typischsten Repräsentationen der französischen Identität".
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Gedächtnistheoretische Konzepte
Verständnis von Materialität zugrunde, denn als materiell sind nicht nur konkrete, physische Gegenstände wie das Archiv oder das Schulbuch zu verstehen; auch ein so abstrakter Begriff wie der der Generation oder der Schweigeminute weist Nora zufolge eine materielle Dimension auf (vgl. Schmidt 2004, S. 35). Uber die materielle Dimension hinaus müssen Objektivationen zweitens eine gesellschaftlich fest umrissene Funktion erfüllen. Einer Schweigeminute etwa kommt die Funktion zu, „periodisch" (Nora 1998, S. 32) eine konventionalisierte Erinnerung zu evozieren. Und drittens müssen Objektivationen schließlich eine symbolische Bedeutung aufweisen, um zum Erinnerungsort zu werden. Diese ist dann gegeben, wenn Gegenstände oder Orte mittels eines standardisierten und deutenden Rituals eine zusätzliche, nicht unmittelbar ableitbare Sinndimension gewinnen. Erst durch das dynamische Zusammenspiel dieser drei Faktoren, das sich in dem vorgängigen, gemeinschaftlichen Willen, „etwas im Gedächtnis festzuhalten" (ebd.) konkretisiert, avanciert eine vorerst rein materielle oder ideelle Entität zum Erinnerungsort. Indem Nora das Konzept der Erinnerungsorte an die Intention der Bewahrung und Weitergabe von Vergangenem, also an seine gesellschaftlich konventionalisierte Funktionalität koppelt, grenzt er dieses sinnvoll von anderen — theoretisch erinnerungswürdigen — Objektivationen ab (vgl. ebd.). Ganz im Sinne von Halbwachs legt auch Nora (vgl. 1998, S. 13) eine radikale Trennung zwischen Geschichte und Gedächtnis nahe: „Gedächtnis, Geschichte: keineswegs sind dies Synonyme, sondern [...] in jeder Hinsicht Gegensätze." 90 Doch anders als Halbwachs' Konzept eines identitätsstiftenden Gedächtnisses bilden Erinnerungsorte Nora zufolge kein Fundament für Gemeinschaft. Ganz im Gegenteil betont er: „Es gibt Üeux de memoire, weil es keine milieux de memoire mehr gibt" (ebd., S. 11). Für Nora sind Erinnerungsorte Symptome eines historischen Bruchs, der sich im Übergang von der traditionalen zur modernen Gesellschaft vollzogen hat. Als medial vermittelte, .künstlich' induzierte Gedenkereignisse verweisen sie auf die Auflösung von ehemals lebendigen, quasi-natürlichen Gedächtnisgemeinschaften. 91 Im Gefolge der zunehmenden Archivierungsmöglichkeiten, der Demokratisierung, Vermassung und Medialisierung (vgl. ebd.) können die 90
Noras polemische Trennung von Geschichte und Gedächtnis gleicht Halbwachs' Auffassung fast wörtlich. Während Geschichte Nora (1998, S. 14) zufolge „die stets problematische und unvollständige Repräsentation dessen, was nicht mehr ist" und „eine intellektuelle, verweltlichte Operation" darstellt, die „zum Universalen berufen" ist und „sich nur mit zeitlichen Kontinuitäten" befasst, ist das Gedächtnis „eine in ewiger Gegenwart erlebte Bindung" (ebd., S. 13), die die „Erinnerung ins Sakrale" rückt (ebd., S. 1 3 f ) . Das Gedächtnis ist gemäß Nora „ein Absolutes" (ebd., S. 14), „das Leben" (ebd., S. 13). V o r d e m Hintergrund der spätestens in den 1970er Jahren geführten Diskussionen um die Narrativität, Konstruktivität und Perspektivität der Historiographie muss Noras Kontinuierung einer solchen positivistischen Position fragwürdig bleiben.
91
Noras Verständnis der ,s»iütux de memoirt" liegt ,,[d]ie kaum verhohlene Nostalgie der verschwindenden Kulturnation" (Saar 2002, S. 274) zugrunde, in der man Geschichte angeblich noch unmittelbar, d.h. ohne Zuhilfenahme von Symbolen, medialisierten Zeichen oder Archiven, erleben konnte. Vgl. auch Judts (1998) Nora-Rezension, die den Titel von Prousts nicht minder monumentalem Erinnerungswerk „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" trägt.
Kollektivgedächtnis und kollektive Identität
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Spuren der mitieux de memoire nur als artifizielle Symbole, die ihre ursprüngliche Bindekraft eingebüßt haben, rezipiert werden. Sie lassen sich jedoch nicht länger in einer lebendigen Tradition verorten und sind daher kaum mit potentiell gemeinschafts- und identitätsfundierenden Phänomenen wie Religion, Klasse oder Familie zu vergleichen. Einst als Bodensatz der sozialen Zusammengehörigkeit figurierende Bezugspunkte wie „Der König", „Verdun" oder „Sterben fürs Vaterland" werden im Zuge technokratischer Archivierungen und wissenschaftlichen Erkenntnisstrebens zu entpolitisierten, abstrakten Trägern des nationalen Erbes transformiert (vgl. Carrier 2002, S. 144). Gesellschaften verlieren auf diese Weise ihre lebendige und verbindende Beziehung zur Vergangenheit, die einst als legitimierender Definitions- und Handlungshorizont diente. Erinnerungsorte machen die Vergangenheit in der Gegenwart zwar beobachtbar, sie verbürgen jedoch keine historische Kontinuität. Sie sind nunmehr nur noch Platzhalter, mitnichten aber Ersatz für ein verlorenes Nationalgedächtnis (vgl. Große-Kracht 1996, S. 26). Da Erinnerungsorte nur noch von einzelnen, längst aber nicht mehr von allen Mitgliedern einer Gesamtgesellschaft geteilt werden, lassen sie sich nicht in ein übergreifendes, gemeinschaftsstiftendes Kollektivgedächtnis und eine damit einhergehende kollektive Identität einfügen. Die aus der zunehmenden gesellschaftlichen Diversifizierung resultierende Erinnerungsvielfalt steht gruppenspezifischen Syntheüsierungsversuchen entgegen. Nora konzipiert das kollektive Gedächtnis als dezidiert pluralistisches, fragmentarisches und offenes Gebilde, als nahezu beliebige Variation verschiedener Einzelerinnerungen. So können sich Individuen je nach gegenwärtigem Vergangenheitsverständnis und Sinnbedürfnis mit einer Vielzahl von unterschiedlichen, sogar widersprüchlichen Erinnerungsorten identifizieren, ohne hierbei „in einen Identitätskonflikt zu geraten" (Carrier 2002, S. 143). Die auf Erinnerungsorten gründende, potentiell stets fluktuierende Gemeinsamkeit kann weder stabilen Zusammenhalt zwischen einzelnen Individuen garantieren noch Konflikte zwischen diversen Gruppen provozieren. Da angesichts kultureller Liberalisierung und Globalisierung ursprünglich antagonistische, eminent ideologische Kategorien wie „Gaullisten und Kommunisten" oder „Linke und Rechte" ihre politische Brisanz verloren haben, wird, so erklärt Nora (1986, S. 650), das ehemals politische zu einem rein kulturellen bzw. ,erbschaftlichen' Kollektivgedächtnis. Diese zeitgenössische Gedächtnis form fordert nicht länger parteiische Stellungnahmen heraus, sondern zeichnet sich im Gegenteil durch die Auflösung von traditionellen Gegensätzen' aus (vgl. ebd.). Gesellschaftlich konkurrierende Gruppen schließen einander heutzutage daher weder aus noch können sie das Gefühl der nationalen Zusammengehörigkeit in Frage stellen (vgl. Carrier 2002, S. 145). Vielmehr ebnen sie als symbolische Relikte und als bloße Zeichen der französischen Geschichtskultur den Weg für einen entpolitisierten, nationalen Konsens. Was Nora theoretisch entwickelt, findet in der Analyse der sieben Bände seine Bestätigung: Es ist zu bezweifeln, dass Erinnerungsorte wie etwa „Der Wald", „Der Kaffee" oder „Der König" heutzutage noch eine verbindliche Vergangenheitsdeutung evozieren und kollektive Identität stiften können.
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Gedächtnistheoretische Konzepte
Mit seinem Projekt, eine .Topologie der Symbolik Frankreichs' (vgl. Nora 1995, S. 83) nachzuzeichnen, ist Nora sicherlich zu einem der einflussreichsten Vertreter der neueren, kulturwissenschaftlich orientierten Geschichtsschreibung geworden. So ist nicht nur das Konzept der Erinnerungsorte mittlerweile zu einem Allgemeinplatz avanciert, auch das Werk Lieux de memoire selbst ist angesichts der breiten Rezeption sowie zahlreicher Nachfolgeprojekte zu einem veritablen Erinnerungsort geworden (vgl. Nora 1993).92 Noras theoretische Konzeption von Erinnerungsorten rückt ein breites Spektrum verschiedenartiger Formen und Medien des kollektiven Vergangenheitsbezugs in den Blick und zeichnet sich damit durch eine hohe Anschlussfähigkeit an unterschiedlichste akademische Disziplinen aus. Sein Konzept der Erinnerungsorte stellt die potentiellen gesellschaftlichen Funktionalisierungen von symbolischen Ausdrucksformen und ihre Bedeutung für gegenwärtige Selbstverständnisse ins Zentrum und vermag daher insbesondere kulturwissenschaftlichen Ansätzen innovative Impulse zu verleihen. Welche erinnerungspolitischen Implikationen lassen sich aber für die Konstitution des kollektiven Gedächtnisses, für den Zusammenhang von Kultur, Gedächtnis und Identität aus den ,Erinnerungsorten' ableiten? Als theoretisch folgenreichste Prämisse von Noras Analyse zeitgenössischer Erinnerungsformen erweist sich seine ausschließliche Orientierung am Kontext der Nation, also die Ausweitung des Rahmens „von relativ umgrenzten Gruppen wie Familien und Verbänden bei Halbwachs auf den Großrahmen der Nation oder eine nationalen Kultur im Ganzen" (Saar 2002, S. 271). Da sich alle versammelten Erinnerungsorte aus dem nationalen, zumal normativen Erbe speisen und auf dieses stabilisierend zurückwirken, implizieren sie ein ebenso verbindendes wie verbindliches Nationalgedächtnis. Obschon Noras bewusst offen angelegtes Kollektivgedächtnis kein homogenes Sinngefüge voraussetzt, stehen die einzelnen Erinnerungsorte strukturell doch in einem unauflöslichen Verhältnis zur Nation. Einzelne Kristallisationspunkte des Kollektivgedächtnisses wie Descartes' „Discours" oder „Die Gastronomie" stehen zwar vorerst disparat nebeneinander, allerdings werden sie „durch einen assoziativen Prozess der Synekdoche [...] als Teile des Ganzen begriffen, als vermittelnde Träger gemeinsamer, emotionaler Bindungen" (Carrier 2002, S. 158)." Ein derartiges Verständnis von Erinnerungsorten als Teile eines vorausgesetzten Ganzen bzw. vermittelnde Träger einer geteilten Nationalgeschichte ist allerdings in zweierlei Hinsicht problematisch. Erstens geht es von einer unbewiesenen Singularität der Erinnerungskultur Frankreichs aus und verstellt somit den Blick auf die gleichzeitige Koexistenz verschiedener, oftmals konfligierender Gedächt92
V o r allem in Folge der politischen und sozialen Umwälzungen von 1 9 8 9 haben zahlreiche Länder das Konzept adaptiert. Vgl. etwa das deutsche Projekt
Deutsche Erinnerungsorte
(Hg. von Fran-
c i s / S c h u l z e 2001), das als ,Beitrag zur Idcntitäts findung' deklariert wird. 93
Vgl. Nora (1995, S. 86): „Alles ist abhängig von einer kohärenten Zusammenstellung, die ein Spiegel der französischen Identität sein soll, eine Brechungslinse, ein symbolisches Fragment eines symbolischen Ganzen."
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nisse und Identitäten unterschiedlicher Gruppen. In heutigen pluralen Gesellschaften mag die Nation zwar eine mögliche, sicherlich aber keine privilegierte Quelle kollektiver Identifikationen darstellen. 94 Diese exklusive Ausrichtung an der französischen Nation schlägt sich deutlich in der Wahl der erörterten Erinnerungsorte nieder, bleibt doch das als .nichtfranzösisch' Erachtete, also etwa Erinnerungsorte kultureller Minderheiten, weit gehend unberücksichtigt. Gerade aber multiethnische Bevölkerungsstrukturen, die auch für Frankreich charakteristisch sind, durchkreuzen simplizifierende Gleichsetzungen von Nation, Kollektivgedächtnis und Identität. 95 Eng damit verbunden ist zweitens, dass sich der kollektive Bezug auf Vergangenes freilich nicht in einer Perpetuierung und Festigung des nationalen Selbstverständnisses erschöpft. Vielmehr vermag er ein ganzes Spektrum erinnerungskultureller Funktionen zu übernehmen, das von der Affirmation bestehender nationaler Selbstbilder über deren kritische Reflexion bis hin zur subversiven Gegenerinnerung reicht.
3.3 Aleida und Jan Assmanns .Kommunikatives und Kulturelles Gedächtnis' Ebenso wie Noras Theorieentwurf ist auch das von Aleida und Jan Assmann Ende der 1980er Jahre formulierte Konzept des kulturellen Gedächtnisses in zentralen Zügen den Erkenntnissen von Maurice Halbwachs verpflichtet. Das spezifische Verdienst des Assmannschen Ansatzes besteht vorrangig darin, ausgehend von Halbwachs' sehr breit gefasster Rede vom kollektiven Gedächtnis verschiedene Formen der kulturellen Erinnerung begrifflich und funktional ausdifferenziert und anhand vielfältiger kulturgeschichtlicher Paradigmen exemplarisch illustriert zu haben (vgl. J. Assmann 2000; A. Assmann 1999). Kollektive Sinnbildung, so die Kernthese, lebt nicht nur in den vielfältigen Formen der oftmals flüchtigen und labilen kommunikativen Tradierung des memoire collective, sie manifestiert sich auch in den zahlreichen medial stabilisierten Formen des .kulturellen Gedächtnisses'. Das kulturelle Gedächtnis als gruppenspezifischer Wissensbestand bildet die Grundlage von Gegenwartsdeutungen und kann folglich als Motor kollektiven Handelns konzipiert werden. Damit lenkt die Theorie des kulturellen Gedächtnisses das Augenmerk auf den engen Zusammenhang von Erinnerung, kollektiver 94
Noras Konzentration auf den nationalen Kontext und der hiermit verbundene Ausschluss anderer Identifikationsquellen müssen umso stärker verwundern, wenn man bedenkt, dass er in frühen Aufsätzen (z.B. 1978) neben der Nation auch die Bedeutung der Familie, Ethnie oder Partei als Basis kollektiver Identifikation akzentuierte.
95
Levy/Sznaider (2001, S. 21) betonen in diesem Zusammenhang: „Die Kosmopolitisierung der kollektiven Erinnerung beeinflußt das Selbstverständnis verschiedener Gruppen, deren Identität nicht mehr ausschließlich vom Nationalstaat dominiert wird." Kritisiert wird Noras Projekt außerdem für die mangelnde Berücksichtigung der Realität von Migration und Globalisierung (vgl. Immler 2002).
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Gedächtnistheoretische Konzepte
Identitätsbildung und politischer Anerkennung, der gerade für kulturwissenschaftliche Fragestellungen von großer Relevanz ist. Das Konzept des kulturellen Gedächtnisses hat maßgeblich zur derzeitigen Konjunktur des Gedächtnisthemas in den Kulturwissenschaften beigetragen. Wenn die Assmannsche Gedächtnistheorie innerhalb der deutschsprachigen Forschung mittlerweile zu der wohl einflussreichsten avanciert ist, liegt das nicht nur an ihrer begrifflichen Trennschärfe, sondern auch an ihrer Anschließbarkeit an bestehende Disziplinen und Forschungsmethoden. Um die unterschiedlichen Formen der kulturellen Erinnerung systematisch zu beschreiben, schlägt Jan Assmann in dem 1988 erschienenen Aufsatz „Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität" eine konzeptuelle Differenzierung zweier kulturanthropologisch unterscheidbarer Gedächtnisse bzw. ,Gedächtnis-Rahmen' vor: nämlich des kommunikativen und des kulturellen Gedächtnisses. Diese Trennung folgt der Einsicht, dass sich ein auf Alltagskommunikation gründendes lebendiges' Kollektivgedächtnis im Halbwachsschen Sinne grundlegend von einem Gedächtnis unterscheidet, das auf vielfältigen Formen der .objektivierten Kultur', wie etwa Denkmälern, Bildern, Texten oder Bauwerken fußt (vgl. J. Assmann 1988, S. 11). Halbwachs schloss diese kulturellen Objektivationen aus seinem Konzept des kollektiven Gedächtnisses aus, da sie angesichts ihrer bewussten, auch institutionell vermittelten Formung nicht qua informeller Alltagskommunikation tradierbar sind und daher in den Bereich einer tendenziell identitätsabstrakten Geschichte fallen. Dass die auf Dauer angelegten symbolischen Formen dennoch dem Gedächtnis angehören, wird deutlich, wenn man eine Differenzierung zwischen dem kommunikativen und kulturellen Gedächtnis vornimmt. Die beiden Modi des kollektiven Erinnerns konstituieren sich durch je unterschiedliche Inhalte, Quellen, Reichweiten, Strukturen, Träger sowie Funktionen. Das kommunikative Gedächtnis basiert auf mündlicher Alltagskommunikation, die typischerweise durch „ein hohes Maß an Unspezialisiertheit [...] und Unorganisiertheit" (ebd., S. 10) gekennzeichnet ist und partikulare, individuelle Erfahrungen zum Gegenstand hat. Wie von Halbwachs illustriert, ist diese spontane Praxis des kommunikativen Erinnerns Grundlage für die Konstruktion einer gemeinsamen Vergangenheit sowie eines gruppenspezifischen Selbstverständnisses. Da Individuen im Rahmen alltäglicher Interaktion an unterschiedlichen Gruppen partizipieren und folglich eine Vielzahl kollektiv geprägter Identitätsmuster ausbilden, ist ein solchermaßen pluralistisch konzipiertes Kollektivgedächtnis wenig verbindlich. Das kommunikative Gedächtnis umfasst nur die rezente Vergangenheit, reicht höchstens drei Generationen zurück und trifft dann auf eine immer im gleichen Abstand mitwandernde Vergessensschwelle - die so genannte floating gap96 —, hinter die 96
Der von J a n Vansina eingeführte Begriff bezeichnetet eine .fließende Lücke' zwischen dem kommunikativen und kulturellen Gedächtnis, ,,eine[n] definitorisch nicht präzisierbaren Bruch zwischen den Erlebnisgemeinschaften der Mitlebenden und den kulturellen Symbolisierungen der Nachwelt" (Niethammer 1995, S. 26).
Kollektivgedächtnis und kollektive Identität
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gegenwärtig als irrelevant erachtete Erfahrungen zurückfallen (vgl. Bering 2001, S. 330). Überwindet ein historischer Bezugspunkt diese floating gap und schafft „den Sprung aus dem Vergessen ins dann kulturell genannte Gedächtnis" (ebd.), ändern sich die Formen der Erinnerung durchgreifend. Erinnerungen verfestigen sich nun zu kulturellen Objektivationen. Im Einklang mit kulturwissenschaftlichen Fragstellungen nach Medien der kollektiven Selbstauslegung bilden das kulturelle Gedächtnis und der damit verbundene organisierte Vergangenheitsbezug in Texten und anderen symbolischen Formen den Schwerpunkt der Assmannschen Theorie. Bei der Erforschung des kulturellen Gedächtnisses, des „kollektiven Langzeitgedächtnis[ses]" (A. Assmann 2000, S. 26), geht es um Fragen wie: Welche historischen Bezugspunkte werden im Lichte gegenwärtiger Sinnstiftung als so relevant empfunden, dass sie nicht vergessen werden dürfen? Welche vergangenen Ereignisse bilden das Fundament für das gegenwärtige Selbstverständnis von Kulturen? Während die Inhalte des kommunikativen Gedächtnisses instabil und fragmentarisch sind, liegen dem kulturellen Gedächtnis auf Dauer und Wiederholung angelegte, objektivierte Formen zugrunde, die einen normativen Bestand an Sinnstiftungen vermitteln (vgl. J. Assmann 1988, S. 12). Da das kulturelle Gedächtnis eine konventionalisierte, gestiftete Form der Erinnerung an die ferne Vergangenheit darstellt, werden zu seiner Pflege Spezialisten ausgebildet. Hinsichtlich seiner Reichweite ist das kulturelle Gedächtnis zeitenthoben, d.h. es kann prinzipiell über Jahrhunderte hinweg bestehen. Im kulturellen Gedächtnis verdichtet sich Geschichte zum Mythos, aus dem sich für die Gesellschaft verbindliche Wertehierarchien und normative Identitätsvorstellungen ableiten. Die Leistung des kulturellen Gedächtnisses besteht darin, dem ständigen Wandel der Zeit bleibende, verpflichtende Erinnerungen entgegenzusetzen, die derart mit der Fülle einer bedeutungsvollen Wahrheit angereichert sind, dass sie Kollektiven als Versinnbildlichung ihrer Identität erscheinen. Strukturiert ist das kulturelle Gedächtnis nach Jan Assmann (1988, S. 13-15) durch die folgenden sechs Merkmale. Es ist erstens identitätskonkret, das kulturelle Gedächtnis ist also an spezielle Träger gebunden, die durch die gemeinsame Vergangenheitsauslegung eine gruppenspezifische Identität ausbilden. Durch den Bezug auf die Vergangenheit fundiert eine erinnernde Gruppe ihre Identität, die in der Vergegenwärtigung der Erinnerungen stabilisiert und kontinuiert wird. Es ist zweitens als rekonstruktiv zu kennzeichnen, womit der unhintergehbaren Gegenwartsgebundenheit von Erinnerungen Ausdruck verliehen wird. Vergangenheit verdichtet sich im kulturellen Gedächtnis zu .symbolischen Erinnerungsfiguren', die handlungsleitende Antworten auf Fragen nach kollektiv gültigen Werten liefern. Im Gegensatz zum kommunikativen Gedächtnis ist das kulturelle Gedächtnis drittens geformt. Erst indem seine Inhalte in unterschiedlichen Medien aggregiert und fixiert werden, wird das kulturelle Gedächtnis über die Zeit hinweg, also im Rahmen einer .zerdehnten Situation' (Ehlich 1983), tradierbar. Mit der medialen Stabilisierung eröffnet sich die Möglichkeit, mehr zu überliefern, als das einzelne
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Gedächtnistheoretische Konzepte
Gedächtnis zu memorieren vermag. Die Organisiertheit als viertes Merkmal des kulturellen Gedächtnisses beschreibt seinen zeremoniellen, institutionalisierten Charakter sowie die professionelle Spezialisierung seiner Pfleger. Fünftens ist der kulturelle Gedächtnisrahmen verbindlich, so dass er für die Gruppe eine „klare Wertperspektive und ein Relevanzgefälle" (J. Assmann 1988, S. 14) markiert. Das kulturelle Gedächtnis ist schließlich und letztens auf drei Dimensionen als reflexiv zu betrachten: Es deutet die Alltagspraxis etwa durch Riten und Sprichwörter, es beleuchtet das Selbstbild der Gruppe mittels Ausgrenzung, Kritik und Zensur, und nicht zuletzt reflektiert es sich selbst. Den bereits unter dem Merkmal der Identitätskonkretheit angesprochenen Nexus von kollektiver Erinnerung und Identität expliziert Jan Assmann in Das kulturelle Gedächtnis (2000 [1992]). Aus der Teilhabe an der gemeinsamen Praxis der Vergangenheitsdeutung leitet sich das „Bewußtsein sozialer Zugehörigkeit" (ebd., S. 139), also die kollektive Identität einer spezifischen Gruppe ab. Die kollektive Identität bezeichnet das Bild, das eine Gruppe ausgehend von ihrer Vergangenheitsdeutung von sich aufbaut und mit dem sich einzelne Mitglieder identifizieren können. Sie legitimiert die Gemeinschaft im Rahmen übergeordneter soziokultureller Konstellationen und liefert Antworten auf die Fragen nach ihrem Ursprung sowie nach einer Abgrenzung zwischen Eigenem und Fremdem. Assmann zufolge (vgl. ebd., S. 154) basiert die Entstehung von kollektiver Identität stets auf einem oppositionellen Prinzip; so kann sie sich nur relational entwickeln, in der bewussten Abgrenzung von Anderen, von einer kulturellen Alterität. Das Verhältnis von Eigenem und Fremdem ist für ihn daher mit der Konstruktion dichotomer Gegensätze verbunden, bei der der positiv besetzte Pol mit Identität, der negative mit Alterität markiert ist: „Die Gegenstände des kulturellen Gedächtnisses zeichnen sich aus durch eine Art identifikatorischer Besetzheit im positiven (,das sind wir") oder im negativen Sinne (,das ist unser Gegenteil*)" (J. Assmann 1988, S. 13). Unter diesen Bedingungen wird gerade das scheinbar Nicht-Identische zur Grundlage des eigenen Wir-Bewusstseins. Der Aufbau einer verbindenden und verbindlichen symbolischen Sinnwelt, der sich in der kollektiven Identität konkretisiert, ist demnach, so Assmann (2000, S. 151), zumeist mit dem Ausschluss der Anderen bzw. mit nach außen indizierter Fremdheit verbunden. 97 Auf die 1988 vorgenommene Unterscheidung zwischen kommunikativem und kulturellem Gedächtnis folgten weitere Differenzierungen des begrifflichen Felds, die die Operationalisierbarkeit des Konzepts kulturelles Gedächtnis' für unter97
Vgl. zu dieser strikten Dichotomisiening J. Assmann (2000, S. 1 5 1 f.): „Indem die Kultur nach innen Identität erzeugt, stiftet sie nach außen Fremdheit. [...] Kulturell indizierte Fremdheit kann sich bis zu Xenophobie, Völkerhaß und Vernichtungskrieg steigern. Auch diese Ambivalenz gehört zur Phänomenologie des kulturellen Gedächtnisses. Liebe und Haß sind zwei Seiten derselben gruppenbildenden Grundfunktion." Wie auch das folgende Zitat verdeutlicht, ist Identität für Jan Assmann (ebd., S. 154) vor allem als Kontra-Identität zu verstehen: „In der Entstehung solcher (kollektiver) ,identity systems' (...) ist immer ein antagonistisches oder oppositionelles Prinzip am Werk. Distinktiv gesteigerte Identität ist eine ,Gegen-Identität"'.
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schiedliche Disziplinen und Problembereiche sicherstellen soll. Vor allem der von Aleida Assmann in der 1999 erschienenen Monographie Ennnerutigsräume getroffenen Unterscheidung zwischen einem Funktions- und einem Speicherbereich des kulturellen Gedächtnisses kommt für die Beschreibung von kollektiven Erinnerungsprozessen und deren potentieller Wandelbarkeit ein zentraler Stellenwert zu. Die Unterscheidung zwischen „bewohntem" Funktionsgedächtnis und „unbewohntem" Speichergedächtnis gründet vorrangig auf der Einsicht, dass eine „schroffe Polarisierung von Geschichte und Gedächtnis" (ebd., S. 133), wie sie von Halbwachs und Nora postuliert wird, aufgrund der Perspektivität und Selektivität jedweder Geschichtsschreibung nicht haltbar ist. Das Funktionsgedächtnis zeichnet sich Aleida Assmann zufolge durch „Gruppenbezug, Selektivität, Wertbindung und Zukunftsorientierung" (ebd., S. 134) aus. Bei diesem Modus der Erinnerung handelt es sich um ein von bestimmten Trägern „angeeignetes Gedächtnis" (ebd., S. 137), das aus den sinn- und identitätsstiftenden Prozessen der Selektion, Verknüpfung und Kohärenzbildung resultiert. Als bedeutungsgeladenes und symbolträchtiges Gedächtnis fundiert es Identität und legitimiert gegenwärtige Handlungen. Das Speichergedächtnis hingegen ist ein „Gedächtnis zweiter Ordnung", ein „Gedächtnis der Gedächtnisse" (ebd., S. 134), in dem die „amorphe .Masse' [...] ungebrauchter [...] Erinnerungen" (ebd., S. 136), die keinen „vitalen Bezug zur Gegenwart" (ebd., S. 134) hat, mittels Archivierung aufbewahrt wird: „Auf kollektiver Ebene enthält das Speichergedächtnis das unbrauchbar, obsolet und fremd Gewordene, das neutrale, identitäts-abstrakte Sachwissen, aber auch das Repertoire verpaßter Möglichkeiten, alternativer Optionen und ungenutzter Chancen." (Ebd., S. 137) Trotz seinem mangelnden Aktualitätsbezug kommt dem Speichergedächtnis eine wichtige Bedeutung zu, besteht doch seine vorrangige Funktion darin, als „Korrektiv aktueller" und „Reservoir zukünftiger Funktionsgedächtnisse" (ebd., S. 140) zu fungieren und kulturellen Wandel somit überhaupt erst zu ermöglichen. Das Verhältnis zwischen Funktions- und Speichergedächtnis ist nicht als ein oppositionell-dualistisches zu konzipieren, sondern - in den Worten Aleida Assmanns — als ein .perspektivisches'. Das Funktionsgedächtnis gleicht dem jeweils gesellschaftlich aktualisierten Vordergrund, während das Speichergedächtnis mit seinen latenten mnemonischen Elementen als potentielles Korrektiv den kritisch relativierenden Hintergrund bildet. In diesem permeabel konzipierten Modell von Vorder- und Hintergrund ist das Potential zur kulturellen Veränderung angelegt, denn grundsätzlich kann jede Vergangenheitsreferenz durch gewandelte gesellschaftliche Sinnbedürfnisse zum Inhalt des residualen Speicher- bzw. des aktuellen Funktionsgedächtnisses werden (vgl. ebd., S. 136f.). Sichtbar wird damit auch, dass das Potential an möglichen Erinnerungen stets größer ist, als das kulturell aktualisierte Funktionsgedächtnis suggeriert. Mit ihren begrifflichen und funktionalen Präzisierungen hat die Assmannsche Theoriebildung zweifelsohne eine enorm tragfähige Grundlage für eine inter- und transdisziplinäre Gedächtnisforschung geschaffen. Wie anschließbar ihre Theorie
Gedächtnistheoretische Konzepte
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des kulturellen Gedächtnisses ist, stellen nicht zuletzt mehrere interdisziplinär und kulturwissenschaftlich orientierte Sammelbände unter Beweis, in denen unterschiedliche Fächer wie Literaturwissenschaft, Kunstgeschichte, Geschichts- und Religionswissenschaft oder Soziologie produktive Verbindungen eingehen. 98 Dennoch hat auch diese Theorie ihre blinden Flecke, die insbesondere aus der Unterstellung
eines
singulären
kulturellen
Gedächtnisses
resultieren.
Bekanntlich
orientiert sich vor allem Jan Assmanns kulturanthropologische Theorie des Gedächtnisses an der altägyptischen Kultur, verstanden als ein Aggregat homogener Sinnerzeugungen. Aus dieser Orientierung an den spezifischen Modalitäten einer Hochkultur ergibt sich der folgenreiche Schluss, Kulturen als solche ließen sich über ein verbindliches Kollektivgedächtnis mit der dazugehörenden substantiellen Identität beschreiben." An neuere semiotische Konzepte von Kultur, die auch alltagspraktischen Wirklichkeitsauslegungen Rechnung tragen, sowie an das empirische Faktum einer Vielfalt von heterogenen Kollektivgedächtnissen, Sinn- und Identitätskonstruktionen lässt sich die Assmannsche Konzeption eines kulturellen Gedächtnisses nur durch erhebliche Modifikationen anschließen. Das Konzept eines einzigen, für alle Mitglieder einer Gesellschaft gültigen kulturellen Gedächtnisses scheint daher kaum dazu geeignet, die für zeitgenössische Kulturen charakteristischen
Ausdifferenzierungen,
die
Heterogenität
von
kollektiven
Gedächtnissen in den Blick zu bringen. E n g verknüpft mit der Setzung eines kulturellen Gedächtnisses ist Jan Assmanns Konzeptualisierung von kollektiver Identität. Da die Entstehung des Wir-Bewussteins aus der Praxis der gemeinsamen Erinnerung resultiert, ist die kollektive Identität in seinem Ansatz ebenso homogenisierend konzipiert wie das kulturelle Gedächtnis selbst. Unter zeitgenössischen Bedingungen der gesellschaftlichen Multikulturaütät und der damit gegebenen Möglichkeit kultureller Hybridisierung können derart geschlossene Identitätsmodelle jedoch nicht vorausgesetzt werden. Anstatt von einer rigiden Demarkation zwischen Identität und Alterität auszugehen, scheint es aufgrund innerer Differenzierungen zeitgenössischer Kulturen sowie ihrer externen Vernetzung adäquater, von einer faktischen Vielfalt kollektiver, sich auch wechselseitig durchdringender Identitäten auszugehen. Auch die von Aleida Assmann eingeführte Differenzierung zwischen dem gesellschaftlichen Funktions- und Speichergedächtnis kann dieses Defizit nicht kompensieren,
impliziert
die
Schichtung
des
kulturellen
Gedächtnisses
nach
aktualisierten und potentiellen Inhalten doch weiterhin die Prämisse eines einzigen, hochintegrierten Gedächtnisses der Kultur. Problematisch ist vor allem die Unterstellung, dass einmal aus dem Speichergedächtnis aktualisierte Wissensbestände
98
In diesem Zusammenhang sei exemplarisch auf die von Assmann/Hölscher (1988) und Assmann/Harth (1991a, 1991b) herausgegebenen Sammelbände verwiesen.
99
Vgl. Welsch (1997, S. 68), der auf die Gefahren eines derartigen Kulturkonzeptes aufmerksam macht: „Es vermag der inneren Komplexität der modernen Kulturen nicht gerecht zu werden, sondern hat nur eine falsche Antwort darauf: die eines Homogenisierungsgebots."
Kollektivgedächtnis und kollektive Identität
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notwendigerweise Eingang in das gesellschaftliche Funktionsgedächtnis finden. Diese zweiwertige Logik insinuiert, dass vergangene Erfahrungen bzw. kulturelle Objektivationen entweder im Speicher- oder im Funktionsgedächtnis zu lokalisieren sind und damit entweder für eine Gesamtgesellschaft als brauchbar oder aber als obsolet zu erachten sind. Die Theorieanlage verstellt damit den Blick auf die synchrone Koexistenz unterschiedlicher Kollektivgedächtnisse, die dem gleichen historischen Bezugspunkt ganz unterschiedliche Funktionen zuweisen mögen. Die beiden Gedächtnisrahmen, also das kulturelle und das kommunikative Gedächtnis, sind zudem lediglich theoretisch, mitnichten aber in der erinnerungskulturellen Praxis strikt voneinander abzugrenzen. Vor allem in der zeitgenössischen Erinnerungskultur, die im Gegensatz zur ägyptischen Hochkultur weniger auf ein für alle Mal fixierte Praktiken ausgerichtet ist, sind individuellkommunikative und sozial-institutionalisierte Formen der Erinnerung durch und durch interdependent. Zahlreiche vergangene Ereignisse sind sowohl Inhalte eines alltagsweltlichen kommunikativen als auch eines geformten kulturellen Gedächtnisses; der zeitliche Abstand alleine kann daher kaum für die konkrete Form des Gedenkens ausschlaggebend sein. So können zeitlich und räumlich entfernte kulturelle Erinnerungen letztendlich nur dann Wirksamkeit entfalten, wenn sie qua Kommunikation vermittelt, angeeignet und an den konkreten lebensweltlichen Kontext angeschlossen werden (vgl. Keppler 2001, S. 158). Gerade in der Permeabilität der Grenze zwischen kommunikativem und kulturellem Gedächtnis liegt die Möglichkeit beschlossen, institutionalisierte und normative Bestände eines kulturellen Gedächtnisses kritisch zu hinterfragen und ihnen gegebenenfalls alternative Deutungen entgegenzustellen. ***
Mit den Theorieentwürfen von Halbwachs, Nora sowie von Aleida und Jan Assmann wurden die für gegenwärtige kulturwissenschaftliche Diskussionen wichtigsten Ansätze zu den Formen und Funktionen des kollektiven Vergangenheitsbezugs vorgestellt und auf ihre Anschließbarkeit an plurale Vorstellungen von Gedächtnisund Identitätskonstruktionen untersucht. Deutlich wurde, dass die Annahme, Kulturen ließen sich über ein allgemein verbindliches Gedächtnis definieren, zum einen eine kulturelle Homogenität impliziert, die in pluralen Gesellschaften nicht vorauszusetzen ist. 100 Zum anderen erkennt die Prämisse eines singulären Gedächtnisses bzw. einer monolithischen Kultur zwar den Konstruktcharakter des kulturellen Gedächtnisses an, basiert jedoch auf einer normierenden, vereinheitlichenden Vorstellung von Kollektividentität, die als essentialistisch kritisiert werden 100 Vgl. Wagner (1998, S. 49), der auf die Unzulänglichkeit eines monolithischen Kulturbegriffes aufmerksam macht: „Da die - immer schon problematische - Annahme kultureller und sprachlicher Homogenität für gegenwärtige Gesellschaften empirisch unhaltbar geworden ist, wird in neueren Diskussionen über kulturelle Identität entweder die Koexistenz verschiedener Kulturen auch Sub- oder Gegenkulturen - auf einem Territorium betont oder darauf hingewiesen, daß sich Kulturen im Gegensatz zu territorial definierten Nationalkulturen über große Räume ausdehnen können." Vgl. in diesem Zusammenhang außerdem Tully (1995).
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Gedächtnistheoretische K o n z e p t e
kann. Bei aller Produktivität bestehender Gedächtniskonzepte - vor allem wie von Aleida und Jan Assmann konzipiert — liegt ihre wesentliche strukturelle Begrenzung darin, dass sie an relativ monolithischen Vorstellungen von Kultur ausgerichtet sind und so der Pluralität von Vergangenheits- und Identitätskonstruktionen nicht gerecht werden können. Die bisherigen, kritischen Überlegungen bilden den theoretischen Rahmen für den Entwurf eines integrativen Modells zum Zusammenhang von Erinnern, Gedächtnis und Identität auf kollektiver Ebene. Dieses Modell setzt sich ein dreifaches Ziel: Unter Rückgriff auf die beschriebenen individualpsychologischen Prozesse sollen erstens unterschiedliche Formen der Kollektiverinnerung expliziert und wesentliche Unterschiede zwischen den Phänomenen .Erinnern' und G e dächtnis' spezifiziert werden. Die Berücksichtigung psychologisch beschreibbarer Mechanismen ermöglicht es, die Verzahnung von übergeordneten Prozessen der Gedächtnisbildung einerseits und deren personengebundenen Bedingungen andererseits in den Blick zu bringen und auf differenzierte Weise begreifbar zu machen. 101 Zweitens soll das Modell die herausragende Bedeutung veranschaulichen, die Narrationen auch für kollektive Sinnbildungen spielen, und so eine differenzierte Beschreibung der Prozesse der überindividuellen Gedächtnis- und Identitätsstiftung leisten. So basieren auch kollektiv-autobiographische Deutungsversuche in hohem Maße auf Narrativen. Drittens soll das Verhältnis von Kultur und Gedächtnis dergestalt konzipiert werden, dass die für zeitgenössische Gesellschaften kennzeichnenden Differenzen und Konkurrenzen zwischen heterogenen Gedächtnis- und Identitätskonstruktionen in den Blick geraten. Diese Erweiterung soll der Vielzahl divergenter Erinnerungsgemeinschaften innerhalb einer Gesamtgesellschaft Rechnung tragen und den — gerade für multikulturelle Nationen konstitutiven - Streit um Anerkennung der eigenen Vergangenheitsversionen beschreibbar machen. Der Nutzen eines derartigen integrativen Modells für das dieser Studie zugrunde liegende Interesse an dem Zusammenhang von Erinnern, Identität und Literatur im Rahmen der zeitgenössischen kanadischen Kultur liegt auf der Hand. Es eröffnet erstens die Möglichkeit, an einem besonders exemplarischen Fall Besonderheiten heutiger Erinnerungskulturen zu erfassen und am Beispiel der kanadischen Erinnerungskultur zu konkretisieren. Zweitens erlaubt es, die in den fictions of memoiy inszenierten Vergangenheitsmodelle, zumal den Nexus von individueller und kollektiver Gedächtnisbildung, differenziert zu beschreiben. Und drittens bildet dieses Modell einen konzeptionellen Bezugsrahmen, um die Rolle von Literatur als Teil der kollektiven Sinnstiftung systematisch zu spezifizieren. Jenseits des dieser Studie zugrunde liegenden Erkenntnisinteresses soll durch die Zusammenführung von sozialpsychologischen und kulturwissenschaftlichen Ansätzen über-
101
Zu den wenigen interdisziplinären Versuchen, die Interdependenz v o n individueller und kollektiver Gedächtnisbildung zu beschreiben, vgl. die Ansätze von Erdfelder (2002), Hirst/Manier ( 2 0 0 2 ) sowie E c h t e r h o f f (2004).
Kollektivgedächtnis und kollektive Identität
93
dies ein Beitrag zur interdisziplinären Gedächtnis forschung geleistet werden, innerhalb derer psychologische Erkenntnisse auf der einen Seite und kulturwissenschaftliche Theoriebildungen zum Gedächtnis auf der anderen Seite zumeist unverbunden nebeneinander stehen. Die oft beklagte .Lücke' zwischen individuellem und kollektivem Gedächtnis kann durch das vorgeschlagene, integrative Modell zwar nicht völlig geschlossen, so aber doch deutlich verringert werden.
4. Ein integratives Modell heutiger Erinnerungskulturen: Kollektive Erinnerungen und Identitäten in pluralen, multikulturellen Gesellschaften Ein integratives Modell, das den vielfältigen Inhalten, Formen und Funktionen von Vergangenheitsbezügen Rechnung tragen und so eine systematische begriffliche Grundlage schaffen möchte, muss an individual- bzw. sozialpsychologische und an kulturwissenschaftliche Erklärungen zum Phänomen Gedächtnis und Erinnern anschließbar sein. So sind die kollektive Überformung individueller Erinnerungen, also das collected memory, und überindividuelle, gruppenspezifische und institutionalisierte Vergangenheitsbezüge im Sinne eines collective memory zwar analytisch voneinander zu unterscheiden; erinnerungskulturelle Wirksamkeit entfalten sie aber erst durch ihr Zusammenspiel. Denn ebenso wie Individuen zur sinnhaften Interpretation ihrer Erinnerung der Rahmungen und Sinnmatrizen des Kollektivgedächtnisses bedürfen, so ist das kollektive Gedächtnis zu seiner Aktualisierung auf individuelle Trägerinstanzen angewiesen. Ein integratives Modell muss sich daher die Aufgabe stellen, individualpsychologische Einsichten und Begriffe für Kollektivphänomene operationalisierbar zu machen und diese an kulturwissenschaftliche Konzepte von Kultur anzubinden. Der in den Kulturwissenschaften weit verbreitete Kulturbegriff geht auf anthropologische und semiologische Ansätze zurück, die Kultur als Zeichensystem verstehen, das sich aus drei Dimensionen konstituiert: Die Anthropologie unterscheidet soziale, materiale und mentale Kultur, und die Semiotik stellt diese drei Gegenstandsbereiche in einen systematischen Zusammenhang, indem sie eine soziale Kultur als eine strukturierte Menge v o n Zeichenbenutzern (Individuen, Institutionen, Gesellschaft) definiert, die materiale Kultur als eine Menge von Texten (Zivilisation) und die mentale Kultur als eine Menge von Codes. (Posner/Schmaucks 2001, S. 350)
Zwar lassen sich die drei Dimensionen der Kultur nur analytisch trennen, denn faktisch bestehen zwischen ihnen vielfältige Interdependenzverhältnisse: So sind konkrete mentale Sinnstiftungsprozesse stets durch ihren sozialen Kontext und ihre materiale Vermittlung geprägt, und umgekehrt können mentale Codes auf materiale Objektivationen und soziale Interaktionen zurückwirken (vgl. Posner 1991, S. 53). Allerdings bietet die Unterscheidung zwischen diesen drei Dimensionen konkrete Anhaltspunkte für die einzelnen Konstituenten, die in (erinnerungs-)kulturellen Prozessen der Bedeutungsstiftung wirksam werden. Für die Bestimmung des Verhältnisses von Kultur und Gedächtnis kann die Differenzierung zwischen der mentalen, materialen und sozialen Dimension von Kultur daher einen präzisen Bezugsrahmen zur Verfügung stellen, der die Anschließbarkeit des vorgeschlagenen Modells an kulturwissenschaftliche Fragestellungen gewährleistet (vgl. Erll 2003a, S. 37).
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4.1 Dimensionen der überindividuellen Gedächtnis- und Identitätsbildung Auf der übergeordneten Ebene einer spezifischen Kultur ist das kulturelle Gedächtnis zu verorten, das einen gesamtgesellschaftlichen Speicher bzw. Vorrat an möglichen, potentiell aktualisierbaren Erfahrungsbeständen und Wissensordnungen bezeichnet. Es dient im Folgenden als Sammelbegriff für die unstrukturierte Summe kulturell verfugbaren, aber nie vollständig greifbaren Wissens und umfasst damit die Gesamtheit möglicher Vergangenheitsreferenzen. Da das kulturelle Gedächtnis im Modus der Potentialität existiert und damit nicht an spezifische Trägergruppen gebunden ist, ist es identitätsneutral. 102 Der Bestand des kulturellen Gedächtnisses ist nicht davon abhängig, dass er von Gruppen oder Individuen genutzt, für wertvoll und relevant erachtet wird. 103 Das kulturelle Gedächtnis umfasst den — zumeist institutionell gespeicherten - Fundus materialer, d.h. medial archivierter Erfahrungsbestände. Dazu gehören kulturelle Objektivationen wie Bilder, Filme, Denkmäler, aber natürlich auch Texte fiktionaler und nichtfiktionaler Art. Darüber hinaus konstituiert sich das kulturelle Gedächtnis aus dem impliziten Wissensvorrat einer Kultur, der sich durch Phänomene wie kollektive Symbole, Topoi, Metaphern oder kulturelle Ausdrucksformen unbewusst bzw. nicht-intendiert vermittelt. Es stellt damit eine spezifische kulturelle Semantik zur Verfügung, die einen präkodierten Rahmen für kollektiv mögliche bzw. nachvollziehbare Wirklichkeitsmodelle absteckt. 104 Die Fülle der kulturellen Gedächtnisbestände kann auf individuell-mentaler Ebene nie vollständig repräsentiert werden. Die mentale Repräsentation erfordert stets Selektion, Reduktion, Abstraktion und Generalisierung — Leistungen der Wissensverarbeitung, aus denen kulturspezifische Verarbeitungsschemata hervorgehen, die wiederum Einfluss auf nachfolgende Akte der Kodierung und Organisation von Erfahrung nehmen. Aus dem kulturellen Gedächtnis leiten sich also spezifische bzw. kulturspezifische Schemata ab, die - wie in Kapitel II.1.1 expliziert - einen übergeordneten, kulturell validen Interaktionsrahmen zur Verfugung stellen. Dieser Rahmen lenkt das individuelle Erleben, Handeln und die Repräsentationen von Vergangenheit in kulturell vorgegebene Bahnen. Der kulturelle Wissensspeicher prägt tief greifend und oft auf implizite Weise die Perspektiven der mentalen Aneignung und Verarbeitung vergangener Ereignisse. Es ist die 102 Zwar weist das hier definierte kulturelle Gedächtnis Parallelen zu dem von Aleida Assmann (1999, S. 137f.) theoretisierten Speichergedächtnis auf. Es ist allerdings keineswegs mit diesem in eins zu setzten. Während das Speichergedächtnis nur das unbrauchbare und obsolete Wissen enthält, stellt das kulturelle Gedächtnis ein Gesamtrepertoire möglicher Vergangenheitsreferenzen zur Verfügung. 103 Vgl. Luhmann (1992, S. 159), der aus sozialsystemischer Perspektive ganz ähnlich argumentiert, wenn er betont, dass „die Texte selbst [...] noch gar nicht das operative, das aktuelle fungierende Gedächtnis" sind. 104 Vgl. zu nicht-intendierten Formen der Vergangenheitsvermittlung v.a. Welzers (2001a) Studie zum so genannten »sozialen Gedächtnis'.
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Wirksamkeit von kulturell vermittelten Schemata auf individueller Ebene, die die zentrale Schnittstelle zwischen individuellem und dem überindividuellen, kulturellen Gedächtnis begründet: Die sich aus dem kulturellen Gedächtnis ableitenden Schemata manifestieren sich auf individueller Ebene im semantischen Gedächtnis, so dass individuelle Erfahrungen nach Maßgabe kulturspezifischer Formate angeeignet und gedeutet werden (vgl. Erdfelder 2002, S. 198). Das semantische Gedächtnis und die darin angelegten Schemata ermöglichen allererst eine sinnhafte Kopplung zwischen der individuellen und überindividuellen Erfahrungsverarbeitung und Gedächtnisbildung. Es bildet damit auch die Grundlage der kulturellen Identität des Einzelnen. Die kulturelle Identität ist das Resultat der Teilhabe des Individuums an den Wissensordnungen und Symbolsystemen einer Kultur. Beobachtbar werden bestimmte Elemente des kulturellen Gedächtnisses erst in konkreten Manifestationen bzw. Aktualisierungen eines gruppenspezifischen Kollektivgedächtnisses. Einzelne, kulturell koexistierende Gruppen eignen sich aus dem Gesamtvorrat des kulturellen Gedächtnisses bestimmte historische Bezugspunkte an, bringen diese gemäß gruppenspezifischer Bedeutungsmuster in eine sinnhafte Form und vergegenwärtigen sie in einer organisierten Struktur des Vergangenheitsbezugs. Verschiedene Gemeinschaften aktualisieren ganz unterschiedliche Bestände des kulturellen Gedächtnisses und legen diese nach Maßgabe gegenwärtiger Relevanzkriterien sinnhaft aus. Auch literarische Werke, die Antworten auf aktuelle Sinnanforderungen geben, können als Teil des gruppenspezifischen Gedächtnisses ausgezeichnet werden. Mit ihrer nunmehrigen Bindung an soziale Träger werden die ursprünglich identitätsabstrakten, neutralen Elemente des kulturellen Gedächtnisses in bedeutungsvolles Wissen transformiert. Inhalte des kollektiven Gedächtnisses werden in materialen Objektivationen bzw. in gruppenbezogenen Gedächtnismedien präsent gehalten und in dynamischen, gegenwartsgebundenen und performativen Akten der kollektiven Erinnerung aktualisiert. Im Gegensatz zur abstrakt bleibenden medialen Archivierung des kulturellen Gedächtnisses fungieren Medien des kollektiven Gedächtnisses als euer. Sie setzen (mentale) Erinnerungsprozesse in Gang und ermöglichen somit eine aktive und bedeutungsvolle Bezugnahme auf die Vergangenheit. Während das Kollektivgedächtnis das Repertoire an bedeutungstragendem Wissen umfasst, das vornehmlich in gruppenspezifischen Gedächtnismedien verfügbar gehalten wird, bezeichnet der Begriff der kollektiven Erinnerung den Akt der Aktualisierung dieser materialen Gedächtnisbestände im Lichte gegenwärtiger Sinnanforderungen. Die geteilte Praxis der Erinnerung in organisierten Strukturen bildet die Grundlage für die Entstehung einer kollektiven Identität. Kollektive Gedächtnisse sind stets an individuelle Träger gebunden. Kollektiv relevante Gedächtnisbestände können erst dann gesellschaftliche Wirksamkeit entfalten, wenn sie im individuellen Erinnerungsakt nachvollzogen, also im personengebundenen Gedächtnis bewusst erlebt werden. Die Angewiesenheit des kollektiven Gedächtnisses auf das individuelle Gedächtnis bedeutet aber umgekehrt keinesfalls, dass jeder individuelle Erinnerungsakt auch ein kollektiver ist.
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Zweifelsohne sind individuelle Erinnerungsakte stets soziokulturell überformt; dies zeigen Halbwachs' Studien ebenso wie sozialpsychologische Ansätze zum kommunikativen Erinnern. Aus dieser Prägung lässt sich allerdings nicht ableiten, es gäbe keine individuell spezifischen, persönlichen Erinnerungen. Als kollektiv sind individuelle Erinnerungen erst dann anzusehen, wenn andere Personen diese Erinnerung teilen, sie also intersubjektive Validierung erfahren und somit zur Grundlage für die interaktive Entstehung eines überindividuellen Erfahrungshorizonts werden. 105 Die Gesamtheit an beobachtbaren, kollektiven und individuellen Erinnerungsakten sowie die Medien des Kollektivgedächtnisses konstituieren die Erinnerung;kultur. Wir haben es hier mit der Summe intersubjektiv nachvollziehbarer und analysierbarer Vergangenheitsreferenzen in Geschichten, literarischen und nichtliterarischen Texten, Riten, Bildern oder anderen materialen Objektivationen in einem raumzeitlich distinkten Kontext zu tun. Eine Erinnerungskultur setzt sich aus der Pluralität der in einer Kultur koexistierenden kollektiven und individuellen Erinnerungsakte sowie aus den Gedächtnismedien zusammen, die zueinander in einer signifikanten Relation stehen oder zumindest aus einer übergeordneten Beobachterperspektive in einen sinnvollen Bezug gestellt werden können. Erst die Verortung einzelner Erinnerungsakte im Rahmen einer übergeordneten Erinnerungskultur erlaubt es, aussagekräftige Relationen - wie Parallelen, Konkurrenzen oder Rivalitäten — zwischen verschiedenen Vergangenheitsauslegungen aufzuzeigen. Individuelle und kollektive Erinnerungsakte werden also erst im Kontext einer historisch und kulturell distinkten Erinnerungskultur bedeutungsvoll. Um das Spektrum möglicher Formen und Funktionen des Vergangenheitsbezugs zu unterscheiden und den Zusammenhang von Erinnern und Identität auf kollektiver Ebene differenziert zu erfassen, soll auf die von der Gedächtnispsychologie vorgeschlagene Differenzierung zwischen dem episodischen und dem semantischen Gedächtnis zurückgegriffen werden. Ohne diese beiden Gedächtnissysteme zu unterscheiden, mangelt es der kulturwissenschaftlichen Analyse von Kollektivgedächtnis an Differenzierungsvermögen, da Voraussetzungen und Folgen verschiedener Formen des Vergangenheitsbezugs nicht hinreichend in den Blick geraten.
4.1.1 Das kollektiv-semantische Gedächtnis Wie in Kapitel II.1.1 dargelegt, beinhaltet das semantische Gedächtnis Wissen, das Gültigkeit im Hinblick auf Zustände in der Welt hat; das episodische Gedächtnis hingegen umfasst zeit- und kontextspezifische Erfahrungen, die einen deutlichen Selbstbezug aufweisen und denen daher für die Identitätskonstitution eine heraus-
105 Vgl. zur Begriffsbestimmung von
kolkkliitn Gedächtnisphänomenen
Hirst/Manier (2002).
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ragende Bedeutung zukommt. Welche Implikationen ergeben sich aus dieser Differenzierung für die Analyse von kollektiven Gedächtnisakten? Will man das Konzept des semantischen Gedächtnisses auf eine kollektive Dimension übertragen, so müssen die zentralen Charakteristika dieses Gedächtnissystems auf eine Mehrzahl von Personen bezogen werden. Dabei ist allerdings zunächst zu berücksichtigen, dass — wie in Kapitel II.1.1 dargelegt — semantische Wissensbestände stets auf gesellschaftliche bzw. soziale Gültigkeit angewiesen sind, .individuelles' Weltwissen bereits im sozialen Konsens verankert und mithin tief greifend kollektiv geprägt ist. Auch an der Bildung des individuellen semantischen Gedächtnisses sind andere Personen beteiligt, denn ohne komplexe soziale Konstruktions- und Validierungsvorgänge kann sich das semantische Gedächtnis nicht konstituieren (vgl. Echterhoff 2004). Damit dieses sozial geteilte Wissen allerdings eine ,kollektive' Dimension gewinnt, müssen — auch um eine sinnvolle Bestimmung des Gegenstandsbereichs zu erreichen — weitere Kriterien erfüllt sein, die es von anderen Wissensarten abzugrenzen erlauben. Drei solcher Kriterien sind in diesem Zusammenhang herauszustellen. Ein wesentliches Differenzierungskriterium stellt erstens der Vergangenheitsbezug dar. So ist bestimmtes Wissen erst dann als Bestandteil des semantisch-kollektiven Gedächtnisses anzusehen, wenn es einen expliziten Bezug auf zeitlich zurückliegende Begebenheiten aufweist. Das kollektivsemantische Gedächtnis bestimmter Gruppen umfasst nicht beliebiges Faktenwissen, sondern das Wissen von historischen Ereignissen, Personen, Zeiten und Orten. Im Rahmen des kollektiv-semantischen Gedächtnisses beziehen sich Kollektive auf Vergangenes, allerdings ohne sich daran - wie beim kollektivepisodischen Gedächtnis - persönlich zu erinnern. Das kollektiv-semantische Gedächtnis weist somit Affinitäten zu Repräsentationsformen wie Geschichtswissen und Geschichtsbewusstsein auf (vgl. ebd., S. 79). Zweitens sind — im Anschluss an die bisherigen Überlegungen — nur solche vergangenen Ereignisse als Inhalt des kollektiv-semantischen Gedächtnisses anzusehen, die extern semiotisch fixiert sind, etwa durch Symbole, Monumente, Texte oder Bilder. Im Unterschied zum kollektiv-episodischen Gedächtnis, das aufgeteilten, persönlich erlebten Ereignissen beruht, werden kollektiv-semantische Gedächtnisinhalte durch kulturelle Objektivationen vermittelt; sie beruhen nicht auf unmittelbaren Erfahrungen von Gruppenangehörigen. Damit vergangene Ereignisse zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten — also unter den Bedingungen einer ,zerdehnten Situation' (Ehlich) - verfügbar sind und kollektive Wirksamkeit entfalten können, bedürfen sie der medialen Vermittlung sowie Verbreitung durch materiale oder technische Speicherung. Darüber hinaus müssen die medial vermittelten Informationen von Rezipienten nicht nur oberflächlich aufgenommen, sondern aktiv verarbeitet und an bestehendes Wissen angeknüpft werden, um ihnen so eine eingängige Bedeutung zu verleihen (vgl. Echterhoff 2004, S. 81). Erst die Anbindung des medial vermittelten Wissens von der Vergangenheit an einige Erfahrungsbestände schafft die Voraussetzung für dessen kulturelle Verbreitung und Festigung.
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Drittens haben Inhalte des kollektiv-semantischen Gedächtnisses nur eine mittelbare Bedeutung für die Identität bzw. das Selbstbild einer spezifischen Gruppe. Kollektiv-semantisches Gedächtnis dient nicht der Selbstvergewisserung eines Kollektivs. Damit sollen Inhalte des kollektiv-semantischen Gedächtnisses mitnichten auf .kühles' historisches Faktenwissen oder auf beliebiges Wissen über geschichtliche Begebenheiten reduziert werden. Wie bereits auf individueller Ebene veranschaulicht, kann auch vermitteltes Wissen Einfluss auf die Deutung von Wirklichkeit und auf die Konstruktion des Selbstbildes nehmen. Bestände des kollektiv-semantischen Gedächtnisses haben für eine Gemeinschaft eine aktuelle Relevanz: Aus ihnen leiten sich übergeordnete, kulturell akzeptierte Wertvorstellungen und Richtlinien für kollektiv geschätzte Handlungen ab. Das medial verfügbare Wissen von der Vergangenheit wird allerdings nicht durch aktive, rituelle und affektive Praktiken an den gegenwärtigen Verstehenshorizont des Kollektivs angeschlossen, es wird nicht gruppenspezifisch perspektiviert. Inhalte des kollektivsemantischen Gedächtnisses affizieren die Mitglieder eines bestimmten Kollektivs somit nicht auf affektive Weise. Aus ihnen ergeben sich zwar kulturell normative, aber keine gruppendistinkten Normen. Zur Konstruktion und Stabilisierung einer kollektiven Identität eignet sich das kollektiv-semantische Gedächtnis daher kaum.
4.1.2 Das kollektiv-episodische Gedächtnis Im Unterschied zum kollektiv-semantischen hat das kollektiv-episodische Gedächtnis einen tiefgreifenden Bezug zum Selbstbild eines Kollektivs. Im Anschluss an die bisherigen Überlegungen kann dann von kollektiv-episodischem Gedächtnis gesprochen werden, wenn sich mehrere Personen an eine gemeinsame vergangene Erfahrung und deren raumzeitlichen Kontext erinnern. Im Gegensatz zu den Trägern des kollektiv-semantischen Gedächtnisses interagieren die Personen eines geteilten episodischen Kollektivgedächtnisses miteinander und werden durch bestimmte Faktoren wie Wertevorstellungen oder ein Wir-Gefuhl zusammengehalten. Kollektiv-episodisches Gedächtnis umfasst vergangene Erfahrungsepisoden, die zwar nicht notwendigerweise alle, doch aber einige Gruppenmitglieder gemeinsam erlebt haben. Diese Erfahrungen werden durch geteilte Praktiken des Vergangenheitsbezugs, zumeist des kommunikativen Erinnerns, dergestalt präsent gehalten und tradiert, dass sie gemeinsam aus einer involvierten Erlebnisperspektive erinnert werden können. Entscheidend ist also weniger, dass alle Mitglieder direkt an dem Ereignis teilhatten. Es muss vielmehr durch eine organisierte Struktur des Vergangenheitsbezugs in Geschichten oder Riten die Voraussetzung dafür geschaffen werden, dass Ereignisse so lebhaft und detailgenau erinnert werden können, als ob sie von den Mitglieder des Kollektiv gemeinsam erlebt wurden. Dies impliziert, dass Elemente des kollektiv-episodischen Gedächtnisses ebenso wie die des kollektiv-semantischen medial gestützt sein können. Im Gegensatz zum semantischen Kollektivgedächtnis werden medial tradierte und perpetuierte Wissensbestände, die
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Teil des kollektiv-episodischen Gedächtnisses bilden, allerdings durch gruppenspezifische Praktiken und Perspektivierungen an den lebensweltlichen Erfahrungshorizont des entsprechenden Kollektivs angeschlossen; sie werden — um mit Aleida Assmann (1991, S. 12) zu sprechen - „dicht und geschmeidig" gemacht. Durch diese aktive Bezugnahme auf Vergangenes bilden Gruppen eine kollektive Identität aus und imaginieren spezifische Selbstbilder. Als wesentliches Distinktionsmerkmal gegenüber dem kollektiv-semantischen Gedächtnis muss also das gemeinschafts- und identitätsstiftende Potential des episodischen Kollektivgedächtnisses gelten. Kollektiv-episodische Erinnerungen werden mit einem Selbst- bzw. Gruppenbe^ug wiedererlebt, sie prägen das Selbstbild der einzelnen Gruppenmitglieder und fundieren die Identität des Kollektivs. Sie besitzen eine autobiographische und affektive Qualität und haben für die Mitglieder eines Kollektivs eine herausragende Valenz. Somit sind kollektive Gedächtnisbestände dann als episodisch zu verstehen, wenn eine Gemeinschaft ihnen eine aktuelle Relevanz für ihr gegenwärtiges Selbstverständnis und ihr Handeln zuspricht. Gruppenangehörige schaffen mit dem Akt der Erinnerung die Voraussetzung für die Gruppenkohäsion, der englische Begriff des ,re-membering' bringt diesen Vorgang der wechselseitigen Identifizierung einzelner Akteure als Gvi^tnmitgäeder anschaulich zum Ausdruck. 106 Durch den Prozess der aktiven Aneignung der kollektiven Erinnerung vergewissern sich Gruppenzugehörige ihrer kollektiven Identität und transformieren kulturell tradierte Erfahrungen in gewählte Sinnhorizonte. Gruppen, die ihr Selbstverständnis auf die (Vorstellung einer) geteilte(n) Vergangenheit aufbauen, können als Erinnerungsgemeinschaft bzw. -kollektiv verstanden werden. Die im Zuge des geteilten Gruppenerinnerns aufgerufenen Ereignisse besitzen für die Gruppenmitglieder eine hohe Verbindlichkeit, fungieren als Rahmen ihres Selbstbilds und appellieren an deren Verantwortungsbewusstsein im Hinblick auf gegenwärtige Handlungen. 107 Damit kollektiv-episodische bzw. kollektiv-autobiographische Erinnerungen ihre identitätsfundierende Qualität beibehalten, müssen sie bei verschiedenen Anlässen wieder und wieder aktualisiert und so verfestigt werden. Mit kollektivepisodischen bzw. kollektiv-autobiographischen Erinnerungen verbindet sich eine Verpflichtung zum Gedenken. Die Stabilität von Erinnerungsgemeinschaften ist stark davon abhängig, „wie erfolgreich und eindeutig sie eine solche gemeinschaftliche Vergangenheit [...] herstellen können" (Saar 2002, S. 271). Gruppen müssen daher sicherstellen, dass ihnen vielfältige Erinnerungsanlässe zur Verfügung stehen, etwa in Form von Gedenkfeiern, Denkmälern oder anderen symbolischen Formen.
106 Vgl. hierzu Edwards/Potter/Middleton (1992, S. 445), die treffend bemerken: „[Participation in such sessions provides for the development of communities of memory, which act as contexts for maintaining, reworking and renewing feelings of belonging and group allegiance." 107 Vgl. zum konstitutiven Zusammenhang von Erinnern, Verantwortung und Ethik Margalit (2002 [2000]).
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Da kollektiv-autobiographische Erinnerungen auf externer, gesellschaftlicher Ebene mit Fragen nach politischer Anerkennung verbunden sind, müssen Erinnerungsgemeinschaften dafür sorgen, dass die gruppenspezifischen Erfahrungen auch im öffentlichen Raum, beispielsweise in offiziellen Gedenkordnungen oder staatlicher Traditionspflege, verfügbar sind und somit eine gesamtgesellschaftliche Relevanz erhalten. ***
Die Unterscheidung zwischen kollektiv-semantischem und kollektiv-episodischem Gedächtnis vermag maßgeblich zu einer Spezifierung des Untersuchungsgegenstands dieser Arbeit beizutragen: Dort, wo es um den Zusammenhang von kollektivem Erinnern und Identität geht, Gruppen sich also durch den Bezug auf Vergangenes eine Identität schaffen, haben wir es stets mit kollektiv-episodischem Gedächtnis zu tun. Damit ist allerdings nicht impliziert, dass diese Bezugspunkte für alle Mitglieder einer Erinnerungskultur gemeinschaftsstiftend wirken: Inhalte, die für eine Gemeinschaft Teil des kollektiv-episodischen Gedächtnisses bilden, können für andere Gruppen Bestand des kollektiv-semantischen Gedächtnisses sein. Wie aber werden solche kollektiv-episodischen Gedächtnisse konstruiert und wie werden ihre Inhalte intersubjektiv vermittelt? Wenn, wie in Kapitel II.1.3 deutlich wurde, Narrationen ein anthropologisch ubiquitäres Muster der Formgebung darstellen, dann liegt die Vermutung nahe, dass ihnen auch für kollektive Sinnbildungen eine herausragende Bedeutung zukommt. Ebenso wie die Inhalte des individuellen episodischen Gedächtnisses vor allem durch Akte der Narrativierung für Identitätsstiftung verfügbar gemacht werden, so gründen auch kollektive Identitäten auf der Transformation von Inhalten des kollektiv-episodischen Gedächtnisses in Geschichten.
4.2 Gemeinschaftsstiftung durch Narrationen D a historische Sinnstiftung maßgeblich auf narrativen Strukturen basiert, ist auch ein Kollektivgedächtnis ohne Erzählungen undenkbar: „Verinnerlichte — und genau das heißt: erinnerte — Vergangenheit findet ihre Form in der Erzählung." (Assmann 2000, S. 75) Die bewusste Vergegenwärtigung, identitätsstiftende Aneignung und intersubjektive Vermittlung von gruppenkonstitutiven Erfahrungen sind auf Prozesse der Narrativierung angewiesen. Durch Akte der Selektion werden aus der Fülle von möglichen Vergangenheitsreferenzen — Orten, Zeitpunkten, Persönlichkeiten oder Ereignissen - jene Elemente ausgewählt, die im Lichte gegenwärtiger Bedingungen als relevant und erinnerungswürdig erscheinen. Durch Prozesse der narrativen Konfiguration werden diese Elemente in eine sequenzielle, d.h. diachron strukturierte Ordnung gebracht. Indem vorerst unverbundene Elemente systematisch zu einem übergeordneten Ganzen in Beziehung gesetzt werden, kön-
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nen sie aufgrund ihrer Relation zu anderen Verlaufselementen als bedeutungsvoll verstanden und in eine aussagekräftige Relation zur Gegenwart gestellt werden. 108 Erst die Narrativierung von vergangenen Ereignissen schafft die Voraussetzung für deren sinnhafte Deutung: „Geschichtsbewußtsein", so erläutert Jörn Rüsen (1994, S. 10), „äußert sich [...] immer in narrativ verfaßten sprachlichen Gebilden." Ebenso wie auf individueller Ebene stellen sich Narrationen auch auf kollektiver Ebene als Akte der Sinnstiftung, also als Versuch der „Sinnbildung über Zeiterfahrung" (Rüsen 1994, S. 8) dar. Erzählungen erfüllen kaum zu überschätzende sozial-interaktive Funktionen, die den Aufbau einer längerfristigen Gemeinschaft sicherstellen. In Form von so genannten kollektiven bzw. gruppenspezifischen Selbstnarrationen können sie zum zentralen Instrument der Identitätsstiftung und Gruppenkohäsion werden. Durch das Erzählen von Geschichten vergewissern sich auch Erinnerungsgemeinschaften ihrer Identität und stellen die Kohäsion der Gruppe sicher. Die Fiktion einer geteilten Vergangenheit, die der Zusammengehörigkeit zugrunde liegt, kann durch narrative Akte des Erinnerns geschaffen werden, weil kommunikative Erinnerungsprozesse mit einer ausgeprägten Orientierung an dem gruppenspezifischen Vergangenheitshorizont einhergehen (vgl. Kap. II.2.2). Angesichts der Suggestibilität gemeinsam verfasster Narrationen neigen Einzelne dazu, ihre individuellen Erinnerungen an dem kollektiv geschaffenen Bezugsrahmen auszurichten. Erzählungen sind aufgrund ihres Detailreichtums besonders dazu geeignet, Interaktionspartner in die Schaffung einer gemeinsamen Vergangenheitssicht zu involvieren und so soziale Beziehungen zu stiften: „[A] community exists where a narrative account exists of a m which persists through its experiences and actions." (Carr 1997, S. 22) 109 In Narrationen aktualisieren Gruppen jene Vergangenheitserfahrungen und damit verbundene Wertehierarchien, die sie als eben diese Gruppe auszeichnen. Erzählungen eröffnen die Möglichkeit, die zeitlich heterogenen Episoden als „einen Kontinuität verbürgenden Zusammenhang zu vergegenwärtigen" (Straub 1996, S. 32), der den Mitglieder einer Gruppe Antworten auf das wer, wann und wo ihrer Vergangenheit zu liefern vermag: „Nur die narrative Konstruktion eines auf das eigene Kollektiv zugeschnittenen sinnhaften Geschehens bietet handlungsorientierte Zukunftsperspektiven und deckt den Bedarf an Affirmation und Selbstbestätigung." (Habermas 1998, S. 165)110
108 Vgl. zum Leistungsvermögen von Narrationen Kap. II.1.3. 109 Auch Bellah et al. (1985, S. 153) betonen die Notwendigkeit der aktiven Aneignung der Vergangenheit qua Narrativierung: „In order not to forget that past, a community [of memory] is involved in retelling its story, its constitutive narrative, and in so doing, it offers examples of the men and women who have embodied and exemplified the meaning of the community. These stories [...] are an important part of the tradition that is so central to a community of memory." 110 Beim Gruppenerinnern ist es nicht notwendig, die identitätsfundierende Geschichte wieder und wieder zu reaktualisieren. Vielmehr genügt es oftmals, sie in Form von Ultrakurzgeschichten bzw. ,narrativen Abbreviaturen' zu evozieren. Narrative Abbreviaturen rufen Erinnerungen auf, die derart im gruppenspezifischen Vergangenheitsverständnis verankert sind, dass sie nicht als Geschichten expliziert werden müssen, um verstanden zu werden. In ihnen sind spezifische Erfah-
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Beim kommunikativen Erinnern der gruppenspezifischen Vergangenheit geht es nicht darum, eine möglichst detailgenaue oder faktische Geschichte zu konstruieren, sondern eine, die den gegenwärtigen Sinn- und Identitätsbedürfnissen bzw. der .erinnerungskulturellen Heraus forderungslage' 111 der Gruppe gerecht wird. Bereits Halbwachs hat darauf hingewiesen, dass das Vergangene im Prozess seiner identitätsstiftenden Aufbereitung produktiv gedeutet und mit imaginären Elementen angereichert werden kann. Nicht die Faktizität, sondern vielmehr die Anschließbarkeit der Narration an aktuelle Sinnhorizonte ist entscheidend. Das gruppenspezifische Kollektivgedächtnis konstituiert sich aus einem breiten Spektrum kursierender Geschichten, das von spontanen Alltagserzählungen bis hin zu relativ verbindlichen Narrativen reicht. 112 Jan Assmann (2000, S. 52) hat solche gruppenkonstitutiven Erzählungen, die sich durch ein hohes Maß an Verbindlichkeit und durch eine deutlich affektiv-evaluative Dimension auszeichnen, als Mythen bezeichnet. Mythen stellen für ihn das typische Narrativ von Kollektivgedächtnissen dar, verdichtet sich doch die faktische Geschichte beim narrativen Erinnern stets zum Mythos: „Mythos ist eine fundierende Geschichte, eine Geschichte, die erzählt wird, um eine Gegenwart vom Ursprung her zu erhellen. [...] Durch Erinnerung wird Geschichte zum Mythos. Dadurch wird sie nicht unwirklich, sondern im Gegenteil erst Wirklichkeit im Sinne einer fortdauernden normativen und formativen Kraft". Der Begriff des Mythos bringt zwei zentrale Aspekte jedes identitätsstiftenden Gedächtnisnarrativs in den Blick: zum einen den rekonstruktiven Charakter und zum anderen - darauf hat vor allem die strukturalistische Mythenforschung (vgl. Barthes 1964; Levi-Strauss 1958) hingewiesen - die reifizierende bzw. naturalisierende und damit auch verbindliche Wirkung. Gedächtnisnarrative können Wirksamkeit entfalten, sie können einen tragfahigen Sinnhorizont zur Verfügung stellen, weil sie vom Standpunkt der Gegenwart aus konstruiert und auf diese Weise auf die aktuellen Identitätsbedürfnisse sowie Sinnanforderungen der Gruppenmitglieder abgestimmt werden. Gerade unter den heutigen Bedingungen einer ständigen Veränderung von erinnerungskulturellen Herausforderungslagen müssen sich gruppenfundierende Mythen als offen und wandlungsfähig erweisen, damit sie auch dieser Prozess ist in Analogie zur Konstruktion von individuellen Selbstnarrationen zu konzipieren — aus der Perspektive der Gegenwart als adäquate symbolische Transformationen der Vergangenheit erscheinen (vgl. Polkinghorne 1998, S. 23). Aus dieser Anpassung an gegenwärtige Bedingungen ergibt sich die naturalisierende Wirkung von mythischen Erzählungen. Angesichts ihrer spezifischen semiologischen Struktur erscheinen sie nicht als geschichtlich bedingt, sondern als rungen und Deutungen zu „Bausteinen der Kommunikation geronnen" (Rüsen et al. 1991, S. 231), die als jederzeit aufrufbare Bezugspunkte einer historischen Orientierung fungieren. 111 Vgl. zu diesem Begriff den Erstantrag des SFB 434 ,Erinnerungskulturen' (1996). 112 Vgl. in diesem Zusammenhang Grabes (1988, S. 33), der dieses narrative Inventar treffend charakdersiert als: „a bundle of stories, a huge treasury of concrete fictions which give direction to human aspirations and meaning to human actions".
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entzeitlicht und damit als natürlich und unveränderbar (vgl. Barthes 1964, S. 8596). Es ist dieser naturalisierenden Wirkung zu verdanken, dass Gruppenmitglieder Gedächtnisnarrationen als Angebote annehmen, sich auf ein bestimmte Vergangenheits- und Identitätsverständnis einzulassen, die narrativ vermittelten Werte und Normen also als gültige und tradierte Wahrheiten akzeptieren. Dort, wo die gruppenspezifischen Narrationen den Einzelnen nicht länger in eine geteilte Vergangenheitssicht involvieren können, sie also ihre naturalisierende Wirkung verlieren, steht die Gemeinsamkeit der Gruppe auf dem Spiel. Diese für die kollektive Gedächtnisbildung typische Tendenz zur narrativsymbolischen Verdichtung bzw. Mythisierung des Vergangenen zeigt nicht zuletzt, warum auch literarische Texte als Medium der kollektiven Sinn- und Identitätsstiftung fungieren können. Bei allen symbolspezifischen Unterschieden bestehen zwischen literarischen und kollektiven Sinnbildungsprozessen signifikante Ähnlichkeiten: Beide konstruieren durch Verfahren der Selektion und Konfiguration von Erinnertem und Imaginiertem bestimmte Wirklichkeits- und Vergangenheitsversionen. Beide operieren mit Erinnerungsfiguren, die ästhetisch verdichtete und damit besonders eingängige Sinnangebote machen. Schon das kollektiv Erinnerte weist also eine Reihe mythischer bzw. fiktiver Elemente auf. Für die kollektive Erinnerungsarbeit ist weniger die Faktizität als vielmehr die Anschließbarkeit des Erinnerten an gegenwärtige Deutungsbedürfnisse und Herausforderungslagen entscheidend. Auch fiktive Elemente, wie sie von Literatur vermittelt werden, können damit zu wirksamen Einflussgrößen innerhalb der Erinnerungskultur werden und Wirklichkeitswahrnehmungen mitprägen.
4.3 Die Pluralisierung kollektiver Gedächtnisse und Identitäten vor dem Hintergrund des kanadischen Multikulturalismus Kollektive Gedächtnisse, die nach innen Gemeinschaft und Zusammengehörigkeit stiften, sind auf externer, gesellschaftlicher Ebene mit weit reichenden politischen Interessen und Geltungsansprüchen verbunden. Im Folgenden werden diese gruppenexternen Bedingungen, also die Situiertheit von Erinnerungsgemeinschaften im Rahmen einer spezifischen Erinnerungskultur untersucht. Es geht um Fragen nach dem Verhältnis von Erinnerungsgemeinschaften untereinander, um Forderungen an den öffentlichen Erinnerungsdiskurs, die sich mit der Konstitution von' Kollektivgedächtnis verbinden, um Fragen nach gesellschaftlicher Anerkennung also. Mit Blick auf die gesellschaftlichen Bedingungen von Kollektivgedächtnis werden zwei wesentliche Merkmale zeitgenössischer Erinnerungskulturen in den Mittelpunkt gestellt: zum einen ihre Pluralität, zum anderen gesellschaftliche Hierarchisierungen zwischen verschiedenen Kollektivgedächtnissen. Die theoretischen Ausfuhrungen zu den Modalitäten von zeitgenössischen Erinnerungskulturen werden am Beispiel des heutigen kanadischen Multikulturalismus veranschaulicht. Akzeptiert man, dass auch fiktionale Texte auf vielfältige Weise mit ihrem Entstehungskontext interagie-
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ren, auf ihn reagieren und ihn produktiv zu beeinflussen vermögen, so kann die Darstellung der Besonderheiten der kanadischen Erinnerungskultur auch zu einem besseren Verständnis der im Medium der fictions of memory inszenierten erinnerungskulturellen Fragestellungen und Probleme beitragen. Die bisherigen Ausfuhrungen implizieren bereits, dass von Kollektivgedächtnis nur im Plural gesprochen werden kann. Um die zunehmende — in bestehenden Gedächtnismodellen oftmals wenig reflektierte - Pluralisierung in den Blick zu bekommen, sind Kulturen als in sich differenzierte Erinnerungsgemeinschaften zu konzipieren, die je distinkte Vergangenheitsversionen und kollektive Identitäten imaginieren. Angesichts zunehmender Migrationsbewegungen und fortschreitender Internationalisierung von Politik und Wirtschaft überlagern sich heute mehr denn je vielfältige kulturelle, religiöse, ethnische und politische Orientierungen und Erbschaften an einem Ort. Jede dieser sozialen Gruppen verfugt über ein spezifisches Repertoire an konstitutiven Erfahrungen und Vergangenheitsdeutungen, das sie als eben diese Gruppe auszeichnet und das durch das gemeinsame Erinnern präsent gehalten wird. Aus dem kulturellen Gesamtvorrat möglicher Vergangenheitsbezüge, also aus dem kulturellen Gedächtnis, aktualisieren Erinnerungsgemeinschaften zum Zwecke ihrer Selbst(er) findung nur partikulare Ausschnitte und legen diese nach Maßgabe gegenwärtiger Bedeutungsmuster und Relevanzstrukturen sinnhaft aus. Der gleiche historische Bezugspunkt oder diesbezügliche Erfahrungen können von je differenten Gruppen völlig unterschiedlich interpretiert, signifiziert und für je eigene Geltungsansprüche funktionalisiert werden. Vergangenheitsreferenzen, die für eine Gruppe von hoher affektiv-evaluativer Relevanz, aktuell orientierungsbildend und damit Bestand ihres kollektiv-episodischen Gedächtnisses sind, mögen für eine andere Gruppe von marginaler Bedeutung und folglich Teil des kollektivsemantischen Gedächtnisses sein. Kollektives Gedächtnis ist ein „Selektionsapparat", kein „Speichermechanismus" (Posner 1991, S. 67). Eine wesentliche Funktion des Kollektivgedächtnisses besteht darin, gruppenspezifische Strategien bzw. Matrizen des Erinnerns und Nicht-Erinnerns zu etablieren, und so das Zweckdienliche, Bedeutsame und Identitätsstabilisierende von seinem Gegenteil, vom Unbrauchbaren und Identitätszerstörerischen abzugrenzen (vgl. Esposito 2002, S. 27). Der Ausschluss bestimmter Vergangenheitsreferenzen und damit das Vergessen ist folglich auch integraler Teil jedweder kollektiver Erinnerungsleistung, denn „kein Gedächtnis ohne Vergessenheit und Vergeßlichkeit" (Wiehl 1988, S. 42). Total Recall würde auch auf kollektiver Ebene Sinnbildung unmöglich machen. Kollektivgedächtnisse sind an die spezifischen Identitätsbedürfnisse und Geltungsansprüche von sozialen Gruppen gebunden. Mit der Artikulation der gruppenspezifischen Vergangenheit verbindet sich die Forderung nach gesellschaftlicher Anerkennung der partikularen Kollektividentität (vgl. Fentress/Wickham 1992, S. 25). Angesichts dieser Identitätskonkretheit lässt sich die synchrone Pluralität von Kollektivgedächtnissen nicht zur abstrakten Synthese eines für alle Mitglieder einer Gesamtgesellschaft verbindenden und verbindlichen
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Gedächtnisses bündeln (vgl. Bühl 2000, S. 119): „[Cjultural memories are incorrigibly multivocal: a host of voices telling tales" (Magoe 2001b, S. 1). Das kollektive Gedächtnis von differenzierten Gesellschaften kann nur „als .Netzwerk' von Ereignissen und Prozeduren, von Individuen und sozialen Institutionen verstanden werden, die als relativ autonome Komponenten des Gesamtsystems reagieren und agieren und eine Pluralität von Gedächtnissen ausbilden" (Bühl 2000, S. 126f.).113 Die Pluralität von Erinnerungsgemeinschaften impliziert die Möglichkeit, dass Einzelne an unterschiedlichen Gruppengedächtnissen partizipieren und somit auch mehrere kollektive Identitäten ausbilden können. Im individuellen Gedächtnis darauf hat Halbwachs hingewiesen - überlagern sich verschiedene, gruppenspezifische Vergangenheitsdeutungen und Wahrnehmungsschemata. Diese agglomerative Konzeption von Gedächtnis geht mit einer veränderten Auffassung von kollektiver Identität einher. Die potentiellen Reibungen und Uberlagerungen zwischen den diversen Erinnerungskollektiven stehen der Vorstellung entgegen, kollektive Identität könne lediglich über polarisierende Ausgrenzungen kultureller Alterität konstituiert werden (vgl. Young 1995, S. 157). Da sich der Einzelne in verschiedenen .Erinnerungskreisen' bewegt, können sich die Reibungsflächen zwischen Identität und Alterität grundsätzlich verschieben. Kollektive Selbstbilder werden dann weniger qua dichotomer Abgrenzung vom Anderen gebildet; vielmehr werden durch das dynamische Zusammenspiel von Identität und Alterität strikte, auf Ausschluss angelegte Grenzen zwischen Eigenem und Fremdem durchlässig. Der Gegensatz von Identität, nämlich Differenz, stellt somit nicht mehr das Andere der Identität dar, sondern wird ins Innere der Identität selbst verlegt (vgl. A. Assmann/Friese 1998b, S. 23). An die Stelle der kollektiven Identität und des kollektiven Gedächtnisses rücken heterogene und differenzierte Identitäts- und Gedächtniskonstruktionen, die einander wechselseitig perspektivieren. Kollektive Gedächtnis- und Identitätskonstruktionen werden durch diese potentiellen Wechselwirkungen keineswegs aufgelöst — denn sie bleiben eine unverzichtbare Basis für Handlungsorientierung; sie verlieren allerdings ihre problematischen Attribute wie Homogenität und Totalität. Weil in pluralen Gesellschaften keine singulare Vergangenheitsdeutung der „exklusive Ursprung ihrer Legitimität" (Saar 2002, S. 276) sein kann, sind solche offenen Gedächtniskonstruktionen Voraussetzung dafür, einer Vielzahl unterschiedlicher Stimmen, Vergangenheiten und Erinnerungen innerhalb einer Gesamtgesellschaft Rechnung zu tragen. Ganz in diesem Sinne bilanziert Rüsen (1998, S. 33): „Anerkennung von Vielfalt und Differenz in der kulturellen Formie113 So betont auch Schmidt (2000, S. 109f ): „Die sich ausdifferenzierenden gesellschaftlichen Teilsysteme betrieben zunehmend eine eigenständige Gedächtnispolitik, sie schafften sich zunehmend ihre systemspezifischen Kategorien und Strategien des Erinnerns und Nicht Erinnerns am Leitfaden systemspezifischer Kompetenzen, Interessen, Werte und Intentionen [...]. Die Zeit des Gedächtnisses ist von den Zeiten der Gedächtnisse abgelöst worden; und wir sollten dies als Anlaß zu konstruktiver .Kreativität' sehen, nicht als Menetekel des Endes der Geschichte. — Die war ohnehin nie mehr als eine Geschichte." Vgl. zur Pluralität von Erinnerungskulturen außerdem Hejl (1991, S. 324).
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rung der eigenen Identität bedeutet, daß die kulturelle Praxis der Identitätsbildung durch historische Erinnerung der Regel folgt, den Anderen eine Stimme zu geben." ***
Die faktische Pluralität von kollektiven Gedächtnissen und heterogenen Erinnerungsgemeinschaften charakterisiert vor allem multiethnische Gesellschaften wie Kanada, die Multikulturalität nicht nur als Lippenbekenntnis ansehen, sondern verfassungsmäßig verankern und somit ihrer nationalen Selbstdefinition als .Einwanderungsland' nachdrücklich Ausdruck verleihen. Gleich, wie man .Multikulturalismus' definiert — es steht fest, dass die Koexistenz verschiedener ethnischer Gruppen einer der prägenden Faktoren der kanadischen Geschichte und heutigen kanadischen Gesellschaft ist: „It should be said at the outset that it is impossible to construct a notion of Canadian culture without bearing in mind that it is not two, but many, cultures." (Blodgett 2000, S. 36) Kanadas gegenwärtige ethnische Heterogenität ist das komplexe Resultat von vielfältigen Kolonialisierungsprozessen, Zuwanderungsströmen und sich überschneidenden Dominierungstendenzen (vgl. Heibich 1992, S. 43). War das Land bis Mitte des 15. Jahrhunderts von verschiedenen autochochthonen Gruppen bevölkert, so setzte spätestens die französische und die englische Kolonisation im 16. Jahrhundert eine gesellschaftliche Pluralisierung in Gang. 114 Die Zugehörigkeit des heutigen Kanadas zu Frankreich und später zu Großbritannien brachte es mit sich, dass bis in die späten 1960er Jahre ein Großteil der Einwanderer aus einer der beiden charter nations, der so genannten ,Gründungsnationen', stammte. Zuwanderungen aus Osteuropa und vor allem aus Asien existierten zwar bereits seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert; allerdings schaffte erst der Abschied von rassistischen Aufnahmekriterien in den Einwanderungsgesetzen im Jahre 1962 und 1967 die Voraussetzung für eine verstärkte internationale, zumal ostasiatische Immigration, und für die zunehmende ethnische Diversifizierung Kanadas. Neben den beiden großen ethnischen Gruppierungen der Anglo- und Frankokanadier konstituiert sich die kanadische Bevölkerung heute vor allem aus Immigranten chinesischer, japanischer, italienischer, ukrainischer und deutscher Provenienz sowie aus den kulturell heterogenen autochthonen Gruppen. In Kanada koexistieren nunmehr über 80 verschiedenen Kulturgruppen, die die besondere ethnische Vielfalt des Landes begründen: „Canada is a multiethnic nation with a variety of ethnic, racial, religious, and political identities. Some societies have more diverse populations than others; Canada is among the most polyethnic." (Driedger 1996, S. 2) Das offizielle Deutungsmuster der in Kanada anzutreffenden ethnischen Diversität ist das des Multikulturalismus (vgl. Braun/Schartz 1992, S. 64). 115 Ziel ist
114 Dass dieser Prozess nicht nur eine ethnische Heterogenisierung, sondern auch eine systematische Dezimierung der autochthonen Bevölkerung zur Folge hatte, kann heutzutage als bekannt vorausgesetzt werden. Vgl. zu einem Überblick Braun/Schartz (1992) sowie Thornton/Todd (2001). 115 Gute Überblicke über die Besonderheiten der kanadischen Multikultur liefern Groß (1992), Driedger (1996), Kymlicka (1999 [1997]) sowie die Aufsätze in Ostendorf (1994).
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das mehr oder weniger tolerante und friedliche Neben- und Miteinander diverser ethnischer Gruppen. Die Gleichwertigkeit von Einzelnen über ethnische, religiöse oder kulturelle Grenzen hinweg kann jedoch angesichts der Dominanz einer sozialen Gruppe, die jede Kultur charakterisiert, nicht vorausgesetzt werden. Ein gleichberechtigtes Miteinander bedarf vielmehr im Sinne einer Politik der Unterschiedlichkeit (politics of difference·, Taylor 1993) der aktiven Förderung. Wesentliche Voraussetzung für das Funktionieren des multikulturellen Zusammenlebens ist daher eine Rechtsprechung, die ethnische Differenz anerkennt: „Only when difference can be spoken legally can it become possible to speak difference illegally." (Tiffin/Lawson 1994, S. 9) Ganz im Sinne einer Politik der Differenz ist das Konzept des kanadischen Multikulturalismus darauf angelegt, ethnokulturelle Identität und die verschiedenen Traditionen sowie Verhaltensformen von Minoritäten bzw. Einwanderungsgruppen zu fördern (vgl. Kymlicka 1999 [1997], S. 48). Durch staatliche Einrichtungen und Förderungsprogramme wie etwa dem viel diskutierten „Heritage Cultures and Languages"-Programm werden einzelne ethnische Gruppen dabei unterstützt, ein Bewusstsein ihrer Herkunft und ihrer gruppenspezifischen Traditionen zu kontinuieren. Die Fortführung gruppendistinkter Besonderheiten und Erbschaften, die Anerkennung je partikularer Vergangenheitserfahrungen, Traditionen und Kollektividentitäten erfährt in Kanada durch die Politik des Multikulturalismus mithin eine aktive Förderung. Die von der Autorin Margaret Atwood formulierte Einsicht „we are all immigrants to this place even if we were born here" bringt die seit den 1960er Jahren in Kanada zunehmende Anerkennung der multiethnischen Konstitution der kanadischen Bevölkerung zum Ausdruck, die schließlich auch einschneidende politische Konsequenzen hatte. Von der Regierung unter Pierre Trudeau wurde der kanadische Multikulturalismus im Jahre 1971 zur offiziellen politischen Leitlinie gemacht und im Jahre 1988 im Canadian Multiculturalism Act verfassungsrechtlich verankert. Ausgelöst wurde die Anerkennung Kanadas als multiethnische Gesellschaft ausgerecht durch die RoyaI Commission on Bilinguaiism and Biculturalism (B&B Commission), die den anhaltenden Dualismus zwischen Franko- und Anglokanadiern zu entschärfen suchte. Die zunehmende gesellschaftliche Forderung nach einer ,Third Force', die auch dem gewachsenen Zuwanderungsstrom von so genannten .visible minorities' gerecht werden sollte, mündete schließlich in der offiziellen Politik eines kulturellen Pluralismus. Der Multiculturatism Act trägt der Tatsache Rechnung, dass Kanada auf dem Boden der Natives als eine anglophon-frankophone Nation entstanden ist, die sich durch weitere europäische und asiatische Immigrationsschübe fortwährend diversifiziert. Ziel dieses Gesetzes, das über die gleichheitliche Anerkennung kultureller Minoritäten verfügt, ist der Abbau rassistischer Diskriminierung in Gesellschaft und Wirtschaft sowie der Aufbau einer größeren Akzeptanz für ethnische Differenz. 116 116
S o heißt es im Artikel 3.1. des
Mullicul/uralism Act.
„It is hereby declared to be the policy o f the
Government o f Canada to [...] recognize and promote the understanding that multiculturalism re-
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Die kanadische Politik des Multikulturalismus ist an der Metapher des Mosaiks ausgerichtet, die der britische Journalist John Murray Gibbon bereits im Jahr 1938 zur Charakterisierung der kanadischen Gesellschaft vorschlug. Den Modellcharakter, der dieser Metapher für das kanadische Selbstverständnis zukommt, bringt Bonheim (2000, S. 51) anschaulich zum Ausdruck: „The image of Canadian society as a mosaic suggests that the Canadian scene has the special characteristic of being multicultural but not homogenous. That is, cultures which make up the mosaic remain visibly separate: English, Scottish, French, Inuit, Ceylonese etc." Die Idealvorstellung eines sich aus distinkten Entitäten zusammensetzenden Mosaiks ist in bewusster Abgrenzung von der amerikanischen Vorstellung eines melting pot, eines Schmelztiegels, angelegt (vgl. Groß 1992, S. 204). Während das Schlagwort des melting pot die Nivellierung kultureller Besonderheiten zugunsten einer übergeordneten, gesamtamerikanischen Identität (im Sinne des Mottos ,pluribus in unum t ) impliziert, versucht das kanadische Multikulturalismusmodell diesen Homogenisierungstendenzen aktiv entgegenzuwirken. Das kulturelle Mosaik erhebt die Wahrung, gesellschaftliche Toleranz und Anerkennung von kulturellen Spezifika zum Leitprinzip: ,,[I]n contrast to the supposed homogeneity of United States citizenry, the Canadian racial, cultural and linguistic variety is not diluted." (Bonheim 2000, S. 52) Die Bedeutung dieser Metapher für das kanadische Selbstverständnis ist kaum zu überschätzen. Sie trug maßgeblich dazu bei, das kanadische Selbstbild als friedfertiges, tolerantes Volk, das sich deutlich von der US-amerikanischen Gesellschaft abhebt, zu nähren: „According to the mosaic principle, Canadian society is characterized by a tolerance for ethnic and cultural diversity quite unlike other countries, and especially unlike the United States." (Francis 1997, S. 80) Vor allem in den späten 1950er Jahren, in denen angesichts einer zunehmenden Vorherrschaft des übermächtigen Nachbarn USA die Suche nach einer distinkten kanadischen Identität ihrer Höhepunkt erreichte, avancierte das Konzept des Mosaiks zum „verabsolutierten Widerpart der amerikanischen melting-pot-\deo\oQe" (Pache 1996, S. 545). Mit Blick auf das Zusammenleben unterschiedlicher Ethnien kommt der Politik des Mosaiks eine integrative Funktion bei gleichzeitiger Wahrung von Differenz zu (vgl. Hutcheon 1994, S. 164). Die kulturell koexistierenden Kollektividentitäten werden im Prozess der interkulturellen Interaktion validiert, aber auch modifiziert, so dass sich die Reibungsflächen zwischen Eigenem und Fremden ständig verschieben können. Das Prinzip des Mosaiks und die damit einhergehende Politik der Unterschiedlichkeit sind auf eine Aussöhnung gegensätzlicher Auffassungen angelegt. Diese beinhaltet auch den Versuch, den unterschiedlichen Stimmen, Identitäten und Vergangenheiten, die im öffentlichen Gedächtnisraum interagieren, gerecht zu werden, die ethnische und kulturelle Vielfalt also nicht zu zerstören, sondern zu wahren. So genannte ,Bindestrich-Identitäten' (Mishra 1996, S. 633f.) werden damit zur zentralen Konstituente des kanadischen Selbstverständnisses, fleets the cultural and racial diversity of Canadian society and acknowledges the freedom of all members of Canadian society to preserve, enhance and share their cultural heritage."
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und die Pflege kulturspezifischer Traditionen wird zum kulturellen Ideal erhoben (vgl. Heibich 1992, S. 576f.). Angesichts seiner Politik des Multikulturalismus wird Kanada heute oftmals - vor allem in europäischen Debatten - als vorbildliches Modell für den Umgang mit Minoritäten angesehen. Und in der Tat ist das Zusammenleben unterschiedlicher Ethnien in Kanada im internationalen Vergleich durch ein relativ geringes Maß an Konflikt und Gewalt gekennzeichnet (vgl. etwa Braun/Schartz 1992, S. 65).
4.4 Konflikterinnerungen und Erinnerungskonflikte: Der Streit um historische Definitionsmacht Die Chancen von kultureller Pluralisierung und Multikulturalität — dies zeigt die politische Realität auch in Kanada - sind keineswegs unumstritten, sondern werden kontrovers beurteilt. Bei allen Absichtserklärungen, ethnische Unterschiede und subkulturelle Besonderheiten und Grundüberzeugungen als gleichwertig anzuerkennen, ist ein Machtmonopol der kulturellen Majorität, die ihre Interessen auf Kosten der Minorität durchzusetzen versucht, scheinbar unausweichlich. Kulturelle Wertvorstellungen, Identitätskonstruktionen und Vergangenheitsdeutungen sind umstritten - dies gilt auch für Gesellschaften, die den Multikulturalismus zum Leitprinzip erklären: [W]o es multikulturell zugeht, geht es auch unübersichtlich zu. Multikulturelle Gesellschaft: Das ist, so gesehen, nur ein anderes Wort für die Vielfalt und Uneinheitlichkeit aller moderner Gesellschaften, die offene Gesellschaften sein wollen. [...] Das heißt auch, daß die multikulturelle Gesellschaft eine Konfliktgesellschaft ist und bleiben wird. [...] Es irrt, [...] wer meint, die multikulturelle Gesellschaft wäre eine harmonische Gesellschaft." (Cohn-Bendit/Schmid 1992, S. 11 f.) Die Koexistenz differenter Kollektivgedächtnisse, die ganz unterschiedlichen Gebrauch vom kulturellen Gedächtnis machen, darf nicht zu der Annahme verleiten, dass weder Hierarchisierungen noch Dissens existierten. Die Kollektivgedächtnisse verschiedener Gruppen stehen nicht in harmonischer Konsonanz; vielmehr (entstehen sie im Streit um Deutungshoheit und Erinnerungskonkurrenz (vgl. Saar 2002, S. 247). Sie unterliegen Aushandlungen und müssen ihre Tragfähigkeit immer neu unter Beweis stellen. Geht man von einer Pluralisierung von Erinnerungskulturen aus, so ist es notwendig, das Konzept der Kollektivgedächtnisses so zu modifizieren, dass Erinnerungskonflikte und Konflikterinnerungen, d.h. um Erinnerungshoheit konkurrierende Vergangenheitsversionen, beschreibbar werden, denn: „Contestation is clearly at the center of both memory and identity" (Olick/Robbins 1998, S. 126). 117 Der K a m p f um Erinnerun117
Auch Wischermann (1996b, S. 16) kritisiert vorherrschende Modelle homogenisierter kultureller Gedächtnisse und betont, „daß es immer eine Konkurrenz von unterschiedlich weitreichenden Gemeinschaften gab, die sich durch eine behauptete gemeinsame Vergangenheit legitimieren."
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gen ist auch ein Kampf um die Deutung von gegenwärtiger und zukünftiger Wirklichkeit; so haben wir „hier das Plasma vor uns, aus dem Identitäten geformt, Geschichte gemacht und Gemeinschaften gebildet werden" (A. Assmann 1999, S. 83). Mit der Artikulation der gruppenspezifischen Vergangenheit verbindet sich der Anspruch, deren Bedeutung im öffentlichen Raum anzuerkennen. Die Anerkennung der gruppenspezifischen Vergangenheitsdeutung durch die Öffentlichkeit bildet damit einen bedeutsamen Strang im Kampf um Anerkennung der eigenen Kollektividentität (vgl. Saar 2002, S. 275). Angesichts bestehender vertikaler Grenzen zwischen kultureller Majorität und Minorität liegt es nahe, für heutige Gesellschaftssysteme eine Differenzierung zwischen einem gesellschaftlich dominanten, nach Hegemonie strebenden Kollektivgedächtnis einerseits und den partikularen (sub)kulturellen bzw. minoritären Kollektivgedächtnissen andererseits zu treffen (vgl. Burke 1991; Saar 2002). 118 Diese Unterscheidung kann bei der Beantwortung folgender Fragen helfen: Wessen Vergangenheitsversion wird institutionell verbreitet und welche identitären Ansprüche gehen damit einher? In welchem Verhältnis stehen die Gedächtnisbestände der offiziellen Erinnerungskultur zu denen der partikularen Erinnerungsgemeinschaften? Und wer verlangt von wem und warum, bestimmte vergangene Erfahrungen zu erinnern? Das hegemoniale Kollektivgedächtnis kann — in Anlehnung an Antonio Gramscis (1991) Verständnis von kultureller Hegemonie — als die kulturell dominante, normative und ideologisch höchst befrachtete Vergangenheitsdeutung konzipiert werden, die mittels institutioneller Gedenkordnungen und staatlicher Symbolpolitik proliferiert und auch politisch funktionalisiert wird. 119 Das offizielle Kollektivgedächtnis ist daraufhin orientiert, nur diejenigen historischen Bezugspunkte zu integrieren, die im Einklang mit dem gegenwärtigen gesellschaftlichen Selbstverständnis und mit bestimmten Handlungszielen stehen: „The dominant group in any nation-state often resorts to nostalgia, to mental or cultural ellipses, and to general forgetfiilness in search of meanings and definitions that serve its own ideological needs of the moment" (Singh/Skerrett/Hogan 1996b, S. 5). Um größtmöglichen gesellschaftlichen Konsens und Einheit herzustellen, tendiert das dominante Kollektivgedächtnis dazu, Widerstrebendes zu unifizieren, zu harmonisieren, und Identität zu stiften, wo Differenzen bestehen (vgl. Novick 1999, S. 3 f.; Saar 2002, S. 273). Das Ziel dieser hypostasierten Geschlossenheit besteht darin, eigene Ansprüche und Selbstverständnisse im Streit um politische und kulturelle Definitionsmacht zu behaupten. Historische Differenzen, Verwerfungen und Problemlagen werden so zwar nicht völlig negiert, „aber zugunsten einer konsens-
118 Vgl. zu der Bedeutung von hegemonialem Gedächtnis und subalternen Gedächtnissen auch Frazier (1999, S. 105-119). 119 Zu solchen institutionellen Gedenkformen zählen etwa staatliche Feiertage, kommunale Traditionspflege, nationale Gedenkstätten, offizielle Geschichtsbücher, Lehrpläne, Schulbücher und Kanonisierungsprozesse.
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betonten, im Dienste nationaler Identitätsstiftung stehenden kollektiven Erinnerung minimiert" (Schindler 2002, S. 177). Das gesellschaftlich dominante Kollektivgedächtnis zielt darauf ab, in einer Gesellschaft übergeordnete, kohärente und eingängige Narrationen bzw. (nationale) Mythen zu perpetuieren, die in Anlehnung an Lyotard (1982) als .Große Erzählungen zur Vergangenheit' bezeichnet werden können. Solche Erzählungen stellen konventionalisierte und normative Kodierungsmuster für die Deutung der Kollektiwergangenheit zur Verfügung und erfüllen damit legitimatorische Funktionen. Diesem übergeordneten, hegemonialen Kollektivgedächtnis stehen die verschiedenen Kollektivgedächtnisse von partikularen, minoritären Erinnerungsgemeinschaften gegenüber. Eine minoritäre Erinnerungsgemeinschaft ist eine Gruppe, deren geteilte Vergangenheitsdeutung deutlich von derjenigen der sie umgebenden Mehrheit divergiert. Die gruppenkonstitutiven Vergangenheitsreferenzen und partikularen Selbstbeschreibungen einer solchen Erinnerungsgemeinschaft sind nicht oder nur in verkürzter Form in der offiziellen Repräsentation der Vergangenheit verkörpert (vgl. Saar 2002, S. 272). Ihre voluntativen Selbstbeschreibungen und mnemonischen Selbstverständigungsdiskurse bleiben gegenüber der hegemonial etablierten Vergangenheitsdeutung vergleichsweise unterrepräsentiert. Der typische Fall einer Erinnerungsminderheit ergibt sich aus dem Leben in der Diaspora, 1 2 0 also als Konsequenz des Verlassens — sei es aufgrund freiwilliger Emigration oder erzwungenem Exil - heimischer, vertrauter Gedächtnisräume (vgl. Fortier 2000): „Those who have been deterritorialized, so to speak, are always defined by a sense of alterity." (Blodgett 2000, S. 37) Prinzipiell allerdings kann jede Gruppe eines Gesellschaftssystems durch Nichtberücksichtigung ihrer Vergangenheitsdeutungen im öffentlichen Diskurs zur Erinnerungsminorität bzw. zum mnemonischen Anderen werden. D a die Anerkennung der eigenen Vergangenheitsversion eine unhintergehbare Voraussetzung für politische Legitimation bildet, sind Erinnerungsminderheiten bestrebt, den gesellschaftlich etablierten Erinnerungshorizont durch die Artikulation ihrer marginalisierten oder vergessenen Erfahrungen aufzubrechen: ,,[M]arginalized groups often attempt to maintain at the center of national memory what the dominant group would like to forget. The process results in a collective memory always in flux: not one memory but multiple memories constantly battling for attention in cultural space." (Singh/Skerrett/Hogan 1996b, S. 6) 121 Die ganze 120
Der Begriff Diaspora bezeichnet hier in Anlehnung an Mishras K o n z e p t (1996, S. 423) des .diasporischen Imaginären', „any ethnic enclave in a nation-state that defines itself, consciously, unconsciously or because o f the political self-interest o f a radicalized nation-state, as a group that lives in displacement."
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Vgl. hierzu auch J a n M o h a m e d / L l o y d (1990, S. 6): „ O n e aspect o f the struggle between hegemonic culture and minorities is the recovery and mediation o f cultural practices that continue to be subjected to .institutional forgetting', which, as a form o f control o f one's memory and history, is one o f the gravest forms o f damage done to minority cultures. Archival work, as a form o f countermemory, therefore is essential to the critical articulation o f minority discourse."
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Bandbreite der im dominanten Kollektivgedächtnis vergessenen oder verdrängten Erfahrungen kann zum Gegenstand von alternativen Vergangenheitsversionen werden und so das Entstehen eines „Gedächtnisses] zweiter Ordnung" bzw. eines „Gedächtnisses des Vergessens" begünstigen (Ricceur 1998, S. 141). Das Einfordern der Bedeutung der eigenen Vergangenheit, den Anspruch auf Repräsentiertsein im öffentlichen Gedächtnisraum und die hiermit verbundene Delegitimierung des hegemonialen Gedächtnisses hat Michel Foucault (1987, S. 85) mit dem Begriff des contre-memoire, des Gegengedächtnisses, beschrieben.' 22 Durch das Einfordern des Nichtvergessens von gruppenspezifischen Geschichten sind Gegengedächtnisse darauf angelegt, die gesellschaftlich etablierte Grenze zwischen Erinnern und Vergessen in Frage zu stellen und die vermeintlich einzige hegemoniale Vergangenheitsdeutung kritisch zu perspektivieren (vgl. Magoe 2001b, S. 3). 123 Die Artikulation solcher gesellschaftlich vergessenen Erfahrungen konterkariert homogene Vorstellungen einer geschlossenen Nation sowie eines ebenso verbindenden wie verbindlichen kulturellen Sinns (vgl. Bhabha 1996, S. 149). Gegengedächtnisse lenken das Augenmerk auf das konstitutive Außen des hegemonialen Kollektivgedächtnisses und fordern ihre Repräsentation im Inneren der offiziellen Vergangenheit ein. Da Vergangenheitsdeutung eng mit Gegenwartsdeutung und Geltungsansprüchen verbunden ist, bildet die gesellschaftliche Anerkennung von partikularer Identität und Vergangenheit die Voraussetzung dafür, als vollgültiges Mitglied einer Gesellschaft akzeptiert zu werden. Im Kampf um Erinnerungen stellt die Forderung nach Anerkennung der eigenen Geschichtsversion für minoritäre Gruppen einen Akt der Selbstbehauptung und der Rekonstitution ihrer Kollektividentität dar. Der Entwurf von kritischen Gegengeschichten hinterfragt daher nicht nur gesellschaftlich etablierte Deutungsmuster. Vielmehr gehen diese Akte eng mit der Behauptung von Identität, mit „Artikulation, Stimme und Handlungsermächtigung" (A. Assmann/Friese 1998b, S. 13) einher: ,,[W]hat it means to have a history is the same as what it means to have a legitimate existence: history and legitimation go hand in hand; history legitimates ,us' and not others." (Ashcroft/Griffiths/Tiffin 1995, S. 355) Die fortwährenden Erinnerungskonkurrenzen und -friktionen bieten zugleich eine Erklärung für diachrone Veränderungen des hegemonialen Kollektivgedächtnisses: Sie sind das Resultat von dessen Wechselwirkungen mit den gesellschaftlich partikularen Kollektivgedächtnissen. Da Vergangenheitsdeutungen in pluralen Gesellschaften ständigen Aushandlungen unterliegen, kann der Horizont des hegemonialen Kollektivgedächtnisses je nach aktueller erinnerungskultureller Heraus122 Vgl. zur Politisierung kultureller Erinnerung auch Foucault (1975, S. 25; zit. nach Sturken 1997, S. 6): „Since memory is actually a very important factor in struggle (really, in fact, struggles develop in a kind of conscious moving forward of history), if one controls people's memory, one controls their dynamism." 123 Eine Analyse des Foucaultschen Begriffs .Gegengedächtnis' liefert Burlein (1999, S. 208-217).
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forderungslage durch die Perspektiven der minoritären Kollektivgedächtnisse erweitert werden. Durch die Integration von Vergangenheitsreferenzen der partikularen Kollektivgedächtnisse wird der Bestand des dominanten kollektiven Gedächtnisses umgedeutet, dynamisiert und rekonfiguriert; nunmehr inkompatible Aspekte werden in das kulturelle Gedächtnis ausgelagert oder zu Inhalten eines minoritären Gedächtnisses transformiert. Die dynamischen Wechselwirkungen zwischen dominanten und partikularen Gedächtnissen fungieren als Motor der gesellschaftlichen Veränderung und der Reorganisation des öffentlichen Gedächtnisraums. ***
Der Streit um Erinnerungshoheit, die Versuche von minoritären Gruppen, gesellschaftlich vergessene und verdrängte Erfahrungen aktivistisch zu mobilisieren und auf diese Weise das gesellschaftlich dominante Kollektivgedächtnis zu hinterfragen, kennzeichnen auch die kanadische Erinnerungskultur. Die diversen ethnischen und kulturellen Gruppen der kanadischen Bevölkerung interagieren trotz des gesetzlich verankerten Prinzips der Gleichwertigkeit aller sozialen Gruppen nicht auf egalitärer Ebene; vielmehr bestehen zwischen ihnen klare horizontale Grenzen und normative Hierarchisierungen (vgl. Stasiulis/Jhappan 1995; Helms 2003, S. 9). Die Metapher des Mosaiks evoziert einen Idealzustand, der noch keineswegs erreicht ist. Vor allem Vertreterinnen von ethnischen Minoritäten haben darauf hingewiesen, dass der Multikulturalismus nicht zu einem gleichberechtigten Austausch zwischen unterschiedlichen Ethnien beiträgt, sondern die kulturelle Vielfalt unter das Dach einer übergeordneten und dominanten anglo-kanadischen Kultur stellt: „It celebrated diversity and encouraged mutual understanding [...] while ignoring the realities of inequality and racial injustice in Canadian society." (Francis 1997, S. 83) In die Kritik geraten ist insbesondere das Leitkonzept des Mosaiks, das — so der Vorwurf - weniger zu einer gesellschaftlichen Gleichstellung als vielmehr zur Festschreibung des hierarchischen Verhältnisses von Majorität und Minorität beigetragen habe: ,,[T]he notion of mosaic demands that someone — Artist or Authority — decree which figures are accorded more or less power and importance in the overall design." (Keefer 1991, S. 16) Bereits im Jahre 1965 hat der Soziologe John Porter den anhaltenden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Benachteiligungen von Angehörigen ethnischer Gruppen mit seiner mittlerweile berühmten Metapher vom .vertikalen Mosaik' Ausdruck verliehen, bei dem die anglophone Kultur das Zentrum bilde, „a mosaic in which some pieces are [...] more equal than others" (Kuester/Keller 2002b, S. 14). Porter macht darauf aufmerksam, dass sich Multikulturalität oft auf eine ,kulturell-folklorisitsche' Ebene beschränke, während Diskriminierungen im politischen und wirtschaftlichen Bereich noch immer bestünden. Ganz in diesem Sinne kommt auch die Soziologin Gladys Symons zu dem Schluss, dass die Politik des kulturellen Pluralismus vornehmlich dazu diene, die anhaltenden gesellschaftlichen Ungleichheiten zu dissimulieren und einer Vorherrschaft anglo-kanadischer Normen Vorschub zu leisten, „to mask the reality of dominant-conformity (with institutional support for folkloric cultures). [...] This
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Anglo-conformity is clearly evident in large work organizations [...] where [...] adaptation to the Anglo (organizational) culture is the sine qua non of a successful working life" (zit. n. Groß 1992, S. 204f.). Historisch tief verwurzelt sind Vorbehalte gegenüber der Politik des Multikulturalismus auf Seiten der Frankokanadier. Kritische Stimmen in Quebec befürchteten, dass der MuUicuUuraäsm Act eine Abkehr des kanadischen Staates von der bikulturellen Orientierung einleite, denn das neue Gesetz betont ausdrücklich „the cultural and racial diversity of Canadian society" (Artikel 3.1). Die offizielle Politik seit den 1970er Jahren, ein bilinguales und bikulturelles System zu etablieren, das auf der Sonderrolle der beiden charter groups gründet, fand auf frankophoner Seite von Anfang an nur wenig Zuspruch. Vor allem die separatistisch motivierte Sprachenpolitik in Quebec, die das Selbstverständnis als „distinct society" stützen sollte, unterlief die bilinguale Bundespolitik (vgl. Groß 1992, S. 198). Zwar scheiterten sowohl das Unabhängigkeitsreferendum von 1980 als auch das von 1995. Der tief greifende interne Dualismus, die ,two solitudes' (Hugh MacLennan) der Anglound Frankokanadier und die Gefahr des Separatismus gelten damit allerdings keineswegs als überwunden. Die spätestens seit dem knappen Ergebnis des zweiten Referendums (50,5% zu 49,5%) schwelende Verfassungskrise und Quebecs eigenwillige Sprachenpolitik stellen die Einheit der Nation weiterhin auf die Probe. Der Versuch einer Annäherung der beiden Sprach- und Kulturgruppen Kanadas muss daher heute als weit gehend gescheitert betrachtet werden. Aber auch außerhalb Quebecs ist der Multikulturalismus keineswegs unbestritten, denn eine gleichberechtigte Anerkennung unterschiedlicher kultureller Gruppen und deren je spezifischer Identitäten ist mitnichten realisiert. Maßnahmen der Regierung zur Förderung des Multikulturalismus stoßen bei Vertretern ethnischer Minoritäten in wachsendem Maße auf Kritik, da sie mehr und mehr als integrationshinderlich angesehen werden (vgl. Kymlicka 1999 [1997], S. 11). Mit ihrer Intention, kulturspezifische Besonderheiten zu wahren, laufe die Politik des Multikulturalismus Gefahr, Angehörige ethnischer Gruppen auf ein bestimmtes Selbstbild .zwangszuverpfliehten' (vgl. Groß 1992, S. 204) und somit ein proaktives Miteinander und das Entstehen neuer, hybrider Identitäten zu verhindern. Ganz in diesem Sinne beklagt der aus Trinidad stammende Kulturkritiker und Autor Neil Bissoondath in seinem Buch Selling Illusions: The Cult of Multiculturalism in Canada (1994, S. 90) die ethnische Ghettoisierung, die der kanadische Multikulturalismus mit sich bringt: „Depending on stereotype, ensuring that ethnic groups will preserve their distinctiveness in a gentle and insidious form of cultural apartheid, multiculturalism has done little more than lead an already divided country down the path to further social divisiveness." Wo Kritiker sich in diesem Sinne äußern, geht es ihnen nicht um die prinzipielle Abkehr vom Multikulturalismus als vielmehr um den Aufweis seiner Grenzen und den Versuch, seine Grundlagen neu zu definieren. Ethnische Gruppen beklagen ein hegemoniales Ungleichgewicht und kritisieren, dass die kulturelle Majorität ihr Machtmonopol dazu nutze, abweichende Meinungen, Deutungen und
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Praktiken rigoros zu unterbinden und zu negativieren (vgl. Lenz 1994, S. 181). Dieser Kritik zufolge finden Vergangenheitsdeutungen und Wertehierarchien nur in dem Maße Eingang in den öffentlichen Diskurs, in dem sie nicht gegen dessen Grundwerte verstoßen und etablierte Wirklichkeitsdeutungen nicht in Frage stellen. Smaro Kamboureli (2000, S. 82) spricht in diesem Zusammenhang von einer „sedative politics", „a politics that attempts to recognize ethnic differences, but only in a contained fashion, in order to manage them". In dem Umgang mit der Vergangenheit der autochthonen Bevölkerung etwa offenbart sich die Tendenz, solche Erfahrungen aus dem offiziellen Diskurs zu verdrängen, die gesellschaftlich dominante Deutungen in Zweifel ziehen könnten. Die historische Schuld der weißen Siedler, die .innere' Kolonisierung der autochthonen Völker, wurde im öffentlichen Vergangenheitsdiskurs über lange Zeit unterdrückt. Erst das beharrliche Einfordern des Nichtvergessens und Nichtverdrängens von Seiten der indigenen Bevölkerung rückte in jüngster Vergangenheit deren schmerzliche Geschichte ins Zentrum des öffentlichen Bewusstseins. Obgleich die Rechte der autochthonen Bevölkerung Kanadas heute durch wichtige Sonderstatute gestärkt sind, ist die soziale Diskriminierung doch noch so weit reichend, dass von einer .ongoing internal colonisation' (Lutz/Karrer) gesprochen wird. Autochthone Stimmen bleiben in der Regel peripher und finden im öffentlichen Gedächtnisraum eine nur verkürzte Repräsentation. Der gesellschaftliche Diskurs nahm auch kaum Notiz von den Diskriminierungen der japanisch- und chinesischstämmigen Bevölkerung, die in Kanada bis in die 1960er Jahre restriktiven Einwanderungsmaßnahmen, rassistischen Gesetzen und einem feindseligen öffentlichen Klima ausgeliefert war. Im Fall der Chinesen wurde unter dem Vorwand der .Assimilationsunfähigkeit' die Zuwanderung völlig unterbunden. Mit der propagandistischen Erklärung einer .yellow peril' wurde die japanisch-kanadische Bevölkerung während des Zweiten Weltkrieges zum Opfer rassistischer Präventivmaßnahmen, massenhafter Evakuierung und Zwangsinternierung. Vermehrt wird daher gefordert, die Rahmenvorstellung des Mosaiks durch neue, offene Modelle zu ersetzen, die Verschiebungen und Wechselwirkungen zwischen diversen Gruppen ermöglichen und so transkulturellen Brückenschlägen den Weg ebnen. Die Literaturkritikerin Linda Hutcheon (1994, S. 161) visualisiert die Metapher ,Masala' als adäquaten Ausdruck der multikulturellen Situation Kanadas und spielt damit auf die Möglichkeit von fortwährend fluktuierenden kulturellen Konstellationen jenseits festgeschriebener Standards an. Die ukrainischpolnischstämmige Autorin Janice Kulyk Keefer (1991, S. 16) wiederum schlägt vor, das Bild des Mosaiks durch das eines Kaleidoskops zu ersetzen: Perhaps a better model would be that of a kaleidoscope [...]. The user of a kaleidoscope can make out of separate pieces, none of which is more privileged than any other, a changing and infinitely variable pattern precisely because the shifting parts are held together by the cylinder that contains them. And that cylinder [...] we may liken to Canada [...].
Ein integratives Modell von Erinnerungskulturen
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Ebenso wie die Metapher des Masala setzt auch die des Kaleidoskops auf Offenheit und Durchlässigkeit zwischen unterschiedlichen Gruppen und zielt auf diese Weise auf eine Unterminierung des hierarchischen Verhältnisses von Majorität und Minorität. Doch stellt sich auch bei dieser Vision nicht nur die Frage, wie der gesellschaftliche Rahmen, der „cylinder", so zu gestalten ist, dass er flexible transkulturelle Interaktionen ermöglicht. Fragwürdig ist vielmehr auch, wer diesen gesellschaftlichen Gestaltungsprozess koordiniert. Die wachsende Kritik an der Metapher des Mosaiks sowie die zunehmenden Forderungen von kulturellen Minoritäten nach Anerkennung ihrer Erfahrungen stellen die hegemoniale Vergangenheits- und Selbstdeutung von Kanada als friedliches und tolerantes Land, also den ,myth of tolerance', nachhaltig in Frage (vgl. Blodgett 2000, S. 39). Alternative Gedächtnis- und Identitätsmodelle bringen nicht nur historische Diskontinuitäten, Verwerfungen und gesellschaftliche Hierarchisierungen in den Blick, die von der Metapher des Mosaiks bewusst ausgeblendet werden. Vielmehr veranschaulichen sie auch, dass die Vorstellung eines einheitlichen, verbindenden und verbindlichen Kollektivgedächtnisses eine Illusion ist, dass Vergangenheiten und Identitäten umstritten sind, und dass der Kampf um historische Deutungsmacht niemals stillgestellt werden kann. Dass gerade auch Literatur in diesem erinnerungskulturellen Prozess der Aushandlung von Vergangenheiten und Identitäten eine produktive Rolle übernehmen kann, soll in den folgenden Kapiteln illustriert werden. Literarische Texte verfügen über zahlreiche fiktionale Gestaltungsmöglichkeiten, um die Pluralisierung von kollektiven Erinnerungen zu inszenieren und den Streit um gesellschaftliche Erinnerungshoheit aktiv mitzugestalten. So kann Literatur fiktionale Privilegien der Selektion dazu nutzen, auch vorgängig marginalisierte und nicht-sanktionierte Erfahrungen darzustellen und in die Erinnerungskultur einzuspeisen. Es ist signifikant, dass in zahlreichen kanadischen fictions of memory eine verstärkte Hinwendung zu gesellschaftlich vergessenen Erfahrungen zu verzeichnen ist, die einseitige Vergangenheitsdeutungen des dominanten Kollektivgedächtnisses kritisch perspektivieren. Viele fictions of memory eröffnen Marginalisierten und Sprachlosen eine anderweitig nicht gegebene Möglichkeit zur Artikulation und re-strukturieren damit die Erinnerungskultur auf imaginative Weise. Sie lassen die antagonistische Erinnerungsvielfalt innerhalb einer Gesellschaft anklingen und stiften Interrelationen zwischen gemeinhin getrennten Bereichen der Erinnerungskultur. Durch die modellhafte Zusammenfuhrung des kulturell Getrennten kann Literatur die kollektive Erfahrungswirklichkeit auf komplexe Weise neu bestimmen und alternative, in der Erinnerungskultur so nicht verfügbare Perspektiven auf die Vergangenheit anbieten. ***
Diese kurze Skizze der Gestaltungsmöglichkeiten von Literatur umreißt zugleich das Erkenntnisinteresse der folgenden Kapitel, in denen der Frage nachgegangen wird, wie literarische Werke — genauer fictions of memory — an den beschriebenen Prozessen der individuellen und kollektiven Gedächtnis- und Identitätsbildung
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Gedächtnistheoretische Konzepte
beteiligt sind. Wenn, wie gezeigt wurde, Erzählungen eine herausragende Rolle für die kollektive Erfahrungsverarbeitung zukommt, so liegt es nahe, dass auch fiktionale Texte als Teil der materialen Dimension der Erinnerungskultur einen substantiellen Beitrag zur gesellschaftlichen Selbstdeutung leisten können. Literatur, so die These, die in den folgenden Kapiteln entfaltet wird, bietet einen imaginativen Explorationsraum, in dem der Zusammenhang von Erinnerung, Identität und Narration ästhetisch verdichtet inszeniert wird und in dem neue Vergangenheitsmodelle erprobt werden. Durch den Entwurf fiktionaler Gedächtniswelten kann Literatur die Konstitution, Reflexion und Modifikation von kollektiven und individuellen Erinnerungen sowie Identitäten in beachtlichem Maße beeinflussen. Das Augenmerk der folgenden literatur- und kulturwissenschaftlichen Ausfuhrungen liegt also nicht nur auf den innerliterarischen Prozessen der Inszenierung von Gedächtnis und Identität. Vielmehr geht es auch darum zu zeigen, dass literarische Werke ein kulturökologisches Funktionspotential besitzen, das sie auf vielfältige Weise dazu nutzen können, die individuelle und kollektive Vorstellungswelt mitzuprägen.
III. Fiktionale Weisen der Erinnerungsund Identitätsbildung 1. Literatur als Medium der Inszenierung und Reflexion von Erinnerungen, Identitäten und Narrationen Welche Rolle übernimmt Literatur in der Erinnerungskultur und wie hat sie an den Prozessen der individuellen und kollektiven Gedächtnis- und Identitätsbildung teil? Welche Vergangenheitskonzepte und Identitätsmodelle erprobt Literatur in einem als fiktional ausgezeichneten Raum? Wie ist sie auf die symbolischen Ordnungen, die in ihrem Entstehungskontext zirkulieren, bezogen, und worin besteht das genuine Leistungsvermögen, das fiktionale Texte für die Erinnerungskultur besitzen? Die vorangegangenen Kapitel haben einen Eindruck von dem Spektrum möglicher Formen und Funktionen des Vergangenheitsbezugs vermittelt und gezeigt, wie zeitgenössische Gedächtnistheorien das Zusammenspiel von Erinnerung, Narration und Identität auf individueller sowie kollektiver Ebene konzeptualisieren. Damit ist ein theoretisch fundierter Bezugsrahmen geschaffen, vor dessen Hintergrund die literarisch inszenierten Prozesse der Gedächtnisbildung begreifbar gemacht und Wechselwirkungen zwischen fiktionalen und nicht-fiktionalen Gedächtniswelten aufgezeigt werden können. Eine Antwort auf die Frage, mittels welcher genuin ästhetischer Gestaltungsmittel Literatur das dynamische Zusammenspiel von Erinnerung und Identität inszeniert und welche Funktionen sie damit in der Erinnerungskultur erfüllen kann, steht ebenso noch aus wie eine differenzierte Gattungsbestimmung der fictions of memory. Gerade im Medium der Literatur wird der Zusammenhang zwischen Erinnern und Identität ästhetisch verdichtet dargestellt und gewinnt hier jene narrative Konturierung, die die oftmals pränarrative alltägliche Erinnerungsarbeit selten aufweist. Ziel der folgenden Kapitel ist es, die Begriffstrias Erinnerung, Identität und Narration im Hinblick auf fiktionale Erzählungen zu spezifizieren und so die vielfältigen Schnittstellen und Wechselwirkungen systematisch zu erfassen, die zwischen Erinnerung, Identität und Erzählliteratur bestehen. Mit der in dieser Arbeit gestellten Frage nach dem Verhältnis von Literatur, Erinnerung und Identität wird ein zweifaches, ein literaturwissenschaftliches und ein funktionsgeschichtliches Erkenntnisinteresse verfolgt, das von einer dialogischen Beziehung zwischen Literatur und den außerliterarischen Diskursen ihrer Entstehungszeit ausgeht. Erstens soll gezeigt werden, dass und wie fictions of memory
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Fiktionale Weisen der Erinnerungs- und Identitätsbildung
auf die symbolischen Ordnungen der vorgängigen, extratextuellen Wirklichkeit Bezug nehmen und diese im Medium der Fiktion zur Anschauung bringen. In ihrer Eigenart als Symbolsystem stellen fictions of memory individuelle und kollektive Gedächtnisinhalte, Vorstellungen von dem Zusammenspiel von Identität und Erinnerung, aber auch gesellschaftlich verdrängte und nicht-sanktionierte Erfahrungen durch spezifisch literarische Verfahren dar und machen Probleme der Sinnbildung beobachtbar.124 Zweitens soll illustriert werden, dass fictions of memory durch die Inszenierung von Inhalten und Funktionsweisen von Gedächtnis auf die außertextuelle Erinnerungskultur zurückwirken. Als so genanntes Sozialsystem ist Literatur Teil der übergreifenden Sinnstiftungsprozesse einer Kultur. Bei entsprechender rezipientenseitiger Aktualisierung kann sie die individuelle und kollektive Gedächtnis- und Identitätsbildung mitgestalten und einen substantiellen Beitrag zur historischen Sinnbildung leisten. Fictions of memory können daher für die Erinnerungskultur zentrale erinnerungs- und identitätsbezogene Orientierungsleistungen erfüllen, die von der Konstitution, Modifikation und Reflexion kollektiver Erinnerungen und Identitäten bis hin zur Vermitdung von bereits semiotisierten Sinnstiftungsformaten reichen. Es gilt daher, Literatur sowohl als Medium der Repräsentation als auch als Medium der Konstruktion von Erinnerung und Identität zu konzeptualisieren. Die beide Erkenntnisinteressen verbindende Leitfrage lautet, wie die auf der Textebene analysierbaren ästhetischen Verfahren erinnerungskulturelle Wirksamkeit entfalten und damit zur rezipientenseitigen Erinnerungs- und Identitätsbildung beitragen. Ziel der folgenden Kapitel ist eine Verknüpfung von literaturwissenschaftlichen Einsichten zu symbolspezifischen Besonderheiten von Literatur mit gedächtnistheoretischen (sozialpsychologischen und kulturwissenschaftlichen) Erkenntnissen im Hinblick auf die Frage nach der Aneignung, Verarbeitung und Reflexion von Vergangenem. Dabei soll gezeigt werden, dass fictions of memory neben anderen nicht-fiktionalen Symbolsystemen wie .Wissenschaft', ,Philosophie' oder .Religion' eine eigenständige Form der Vergangenheitserschließung darstellen, die aufgrund ihrer systemspezifischen Merkmale besondere — d.h. von anderen Systemen nicht zu erbringende — Funktionen in der Erinnerungskultur übernehmen kann. Um diese Brücke zu schlagen, soll zunächst eine kulturwissenschaftliche Grundlage dafür geschaffen werden, Literatur als Teil der übergeordneten Sinnstiftungsprozesse einer Kultur zu konzipieren. Im Zentrum steht die Frage nach der Verwobenheit von Kultur und Literatur. Um das Verhältnis von Literatur und Erinnerungskxxltm sowie die erinnerungskulturellen Funktionen von Literatur zu
124 Es versteht sich von selbst, dass nicht nur literarische Erzähltexte, sondern auch Dramen und Lyrik den Zusammenhang von Identität und Erinnerung inszenieren und auf die Erinnerungskultur zurückwirken können. Gerade Romane eignen sich allerdings aufgrund ihres potentiell polyphonen Charakters in ausgezeichneter Weise dazu, ein breites Spektrum kulturell verfügbarer Diskurse anklingen zu lassen und zu verarbeiten. Zu Inszenierungen von Erinnerung und Identität im Drama vgl. etwa Brunkhorst (1980), Glomb (1997) sowie Gymnich (2003).
Literatur als Medium der Inszenierung v o n Erinnerungen
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spezifizieren, empfiehlt es sich in einem nächsten Schritt, auf die Gedächtnistheorien von Maurice Halbwachs, Pierre Nora sowie Jan und Aleida Assmann zurückzugreifen. Dabei wird der Frage nachgegangen, unter welchen Bedingungen Literatur für Kollektivgedächtnisse relevant wird. Die kritische Sichtung der Gedächtniskulturtheorien bildet die Voraussetzung für das Vorhaben, das Verhältnis von Literatur und Erinnerungskultur theoretisch zu rekonzeptualisieren. Um zu verdeutlichen, dass und wie Literatur in der Erinnerungskultur wirksam werden kann, muss das Hauptaugenmerk konsequent auf symbolspezifische Besonderheiten und formalästhetische Gestaltungsmöglichkeiten gerichtet werden (vgl. Erll 2003a). Sowohl Möglichkeiten der Inszenierung und imaginativen Exploration des Zusammenhangs von Erinnerung und Identität als auch das spezifisch literarische Leistungsvermögen in der Erinnerungskultur beruhen auf Merkmalen der symbolischen Form Literatur. Mit diesen Ausführungen ist schließlich eine Grundlage geschaffen, um die vielschichtige Bezogenheit der fictions of memory auf die Erinnerungskultur zu beschreiben und so zu einer systematischen Bestimmung der formalen und inhaltlichen Besonderheiten dieser Gattung zu gelangen. Fictions of memoiy, so die zugrunde gelegte These, können in der Erinnerungskultur Wirksamkeit entfalten, weil sie durch ihre kulturelle Präformation an extraliterarische Referenzwelten gebunden bleiben. Sie können für die Erinnerungskultur spezifische Funktionen erfüllen, weil sie eine eigenständige, ästhedsch-verdichtete Weise der Vergangenheitserschließung darstellen.
1.1 Literaturals kulturelle Objektivationsform Ein zentraler Konvergenzpunkt von kulturwissenschaftlichen Theorien zum Kollektivgedächtnis und anderen zentralen Kulturtheorien des 20. Jahrhunderts - von der symboltheoretischen Kulturphilosophie Ernst Cassirers über die Kulturanthropologie Clifford Geertz' und die semiotische Kulturkritik Roland Barthes' bis hin zur genealogischen Diskursarchäologie Michel Foucaults - bildet die Annahme, dass kulturelle Hervorbringungen wesentlich das Resultat von Zeichenprozessen, so genannten Semiosen sind (vgl. Daniel 2002; Posner 2003, S. 39). Gemäß dieser Konzeption wird Kultur als ein aus aktuellen und vergangenen Diskursformationen hervorgehendes Konstrukt aufgefasst (vgl. Grabes 1988); Kultur wird von Menschen gemacht bzw. konstruiert. Sinnfälligster Ausdruck solcher zeichentheoretisch fundierter Theorien ist das Verständnis der gesamten Kultur als ,Text' (vgl. Bachmann-Medick 1996) bzw. als ,selbstgesponnenes Bedeutungsgewebe' (Max Weber). Textualität und das Verfahren der Intertextualität werden in diesen Theorien als Eigenschaften der gesamten Kultur angesehen. Ebenso wie sich der Text als übergeordnete Organisationseinheit aus sprachlichen Bedeutungsfragmenten konstituiert, umfasst Kultur als komplexes System eine Vielzahl sprachlich verfasster und sozial konstruierter Bedeutungselemente und -strukturen (vgl. Lenk 1996, S. 116). Aus dieser Perspektive sind Texte das Resultat einer absichtsvollen Bezug-
122
Fiktionale Weisen der Ennnenings- und Identitätsbildung
nähme auf die Wirklichkeit, durch die Kulturen Bedeutung erzeugen, sich selbst beschreiben und ein System von Werten schaffen (vgl. Posner 2003). In dieser bedeutungsorientierten Verwendungsweise bezeichnet Kultur den „von Menschen erzeugte[n] Gesamtkomplex von Vorstellungen, Denkformen, Empfindungsweisen, Werten und Bedeutungen [...], der sich in Symbolsystemen manifestiert" (Nünning 1995c, S. 179). Die Kulturwissenschaft geht dabei von einem semiologischen Kulturbegriff aus, der die funktionale Korreliertheit der unterschiedlichen Zeichensysteme innerhalb einer Kultur betont. Kultur wird als ein aus der materialen, sozialen und mentalen Dimension emergierendes Zeichensystem verstanden, durch das Gesellschaften nach Innen erfahrbar und nach Außen beobachtbar werden (vgl. Posner 1991). Ein derartiger, die semiotische Verfasstheit
aller drei Dimensionen
betonender
Kulturbegriff hat
sich
in
der
Kulturwissenschaft als eminent perspektiven- und anwendungsreich erwiesen. E r impliziert nicht nur die - gerade für die Literaturwissenschaft attraktive - Möglichkeit der .Lesbarkeit' allen kulturellen Wissens (vgl. Grabes 1996, S. 379). E r bietet überdies auch die Möglichkeit, fiktionale und nicht-fiktionale Texte in der Gesamtheit aller Zeichensysteme einer Kultur zu verorten und so die notorische Frage nach Text, Kontext und Vermittlungsprozessen zu präzisieren. Im Sinne der Kultursemiotik gehören literarische Texte der materialen Dimension der Kultur an, die mit kollektiven mentalen Kodes und sozialen Zeichenbenutzern unauflöslich verwoben ist. In Texten manifestieren sich mentale Dispositionen, also kollektiv vorherrschende Denkweisen, Überzeugungen und Wissensordnungen, durch die eine Kultur beobachtbar wird (vgl. Nünning 1995c, S. 180). Das dynamische Wechselverhältnis zwischen mentaler, materialer und sozialer Kulturdimension bedeutet, dass literarische Texte kein in sich geschlossenes, autonomes und primär selbstreferentielles System bilden. Sie stehen im Gegenteil mit anderen, kulturell vorherrschenden Zeichensystemen in einem Verhältnis der Interdependenz und sind unauflöslich mit sozialen Trägern verknüpft, die sie zur Aktualisierung bringen. Text, mentale Dispositionen und sinnbildende Instanzen sind also zusammenzudenken. Gemäß der kultursemiotischen Betrachtungsweise operieren die in einer Gesellschaft vorherrschenden Teilsysteme (etwa Kunst, Religion, Recht) nicht isoliert voneinander. Auch literarische Texte sind daher neben nicht-literarischen Texten, wie historiographischen, religiösen oder philosophischen Schriften etc. als eine zentrale kulturelle Objektivationsform von narrativer Sinnstiftung anzusehen. Bei Narrativen fiktionaler oder nicht-fiktionaler Art handelt es sich um eine grundlegende Ausdrucksform der übergreifenden Sinnstiftungs- und Selbstdeutungsprozesse, durch welche eine Kultur Wirklichkeiten erschließt. Für kulturwissenschaftliche Fragestellungen ist ein Verständnis von Literatur als eine Manifestationsform von kollektiver Bedeutungsstiftung vor allem deswegen erkenntnisfördernd, weil es das Augenmerk auf die historische Bedingtheit bzw. Kontextualität von Literatur lenkt und damit deren dialogisches Verhältnis zur jeweiligen kulturgeschichtlichen Situation betont. Literarische Texte interagieren mit den Kontexten ihrer Entstehung und Rezeption. Sie sind auf andere, kulturell zirkulierende Diskurse bezogen,
Literatur als Medium der Inszenierung von Erinnerungen
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aus denen sie sich speisen und auf die sie umgekehrt zurückzuwirken vermögen. Literatur modelliert kollektive Erfahrungswirklichkeit und kann bei entsprechender rezipientenseitiger Aktualisierung beträchtlichen Einfluss auf die symbolischen Sinnwelten einer Kultur nehmen. Fiktionale Texte sind als historisch wandelbare Phänomene soziokultureller Wahrnehmungsmuster und kollektiver Sinngebung zu konzeptualisieren, die entsprechend ihrer kulturellen Kontexte unterschiedliche Formen annehmen und verschiedene Funktionen erfüllen. Eine kultursemiotische Literaturanalyse ist somit in erster Linie eine kontextbewusste Literaturanalyse, die sowohl die Produktion als auch die Rezeption literarischer Texte vor dem Hintergrund kultur- und epochenspezifischer Wirklichkeitsmodelle analysiert (vgl. Nünning/Jucker 1999, S. 153). 125 Geht man von der zentralen Bedeutung von Literatur für die Selbstdeutung und Sinnstiftung einer Kultur aus, so liegt der Schluss nahe, dass Literatur auch für die Erinnerurigskultur eine wichtige Rolle spielt. Um dem Zusammenhang von Literatur und Erinnerungskultur auf den Grund zu gehen, sollen zunächst kulturwissenschaftliche Gedächtnistheorien auf ihr Verständnis von fiktionalen Texten hin untersucht werden. Folgende Fragen werden dabei richtungsweisend sein: Wie interagieren literarische Texte mit anderen kulturellen Objektivationen und wie unterscheiden sie sich von diesen? Unter welchen Bedingungen wird ein literarischer Text für die Erinnerungskultur bedeutsam und welche Orientierungsleistungen kann Literatur erbringen?
1.2 Die Konzeptualisierung des Verhältnisses von Literatur und Gedächtnis in kulturwissenschaftlichen Gedächtnistheorien Obschon die Rolle, die das Symbolsystem Literatur für die Thematisierung, Modellierung und Reflexion von Erinnerungs- und Identitätsleistungen spielt, kaum überschätzt werden kann, kommt ihr in den Gedächtnistheorien von Maurice Halbwachs, Pierre Nora sowie Jan und Aleida Assmann eine untergeordnete bzw. theoretisch kaum reflektierte Bedeutung zu. Die genannten Theorien halten aus unterschiedlichen Gründen nur wenige Hinweise zur systematischen Verortung von Literatur im Rahmen der Erinnerungskultur bereit. Als Folge von Halbwachs' Fokussierung auf unmittelbare, kommunikative Kontexte der Tradierung von gruppenspezifisch relevantem Wissen geraten Schriftstücke innerhalb seiner Theorie des kollektiven Gedächtnisses nur vermittelt in ihrer Eigenart als .soziale Rahmen' in den Blick. Die kulturellen Gedächtnismodelle von Pierre Nora sowie J a n und Aleida Assmann wiederum erkennen die Rolle der Literatur als eine Aus125 Vgl. in diesem Zusammenhang die eingängige Definition von Kulturwissenschaft als „ein interpretatives, bedeutungsgenerierendes Verfahren, das sozial signifikante Wahrnehmungs-, Symbolisierungs- und Kognitionsstile in ihrer lebensweltlichen Wirksamkeit analysiert" (Böhme/Scherpe 1996, S. 16).
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Fiktionale Weisen der Erinnerungs- und Identitätsbildung
drucks form kollektiver Erinnerung zwar grundsätzlich an; da das Erkenntnisinteresse dieser Theorien allerdings auf der Frage nach gesellschaftlichen Funktionen von Gedächtnismedien liegt, werden literarische Texte unterschiedslos neben kulturelle Objektivationen anderer Symbolsysteme, wie Monumente, Riten, Museen, Schulbücher oder gar Gebäude gestellt. Besonderheiten des Symbolsystems Literatur, d.h. ihre signifikanten formalen Unterschiede zu anderen kulturellen Artefakten, Praxen oder Riten bleiben weit gehend unberücksichtigt. Maurice Halbwachs' Schriften stellen nur vereinzelte, wenig systematisierte Bezüge zu fiktionalen Werken und ihrer Bedeutung für kollektive Sinnstiftung her. Dass schriftlich verfasste Dokumente und somit auch literarische Texte als Medien kollektiver Erinnerung in Halbwachs' Theorieentwurf kaum in den Blick geraten, ist nicht zuletzt seinem Verständnis der memoire collective geschuldet. Für Halbwachs basiert kollektive Gedächtnisbildung und -tradierung vornehmlich auf geteilten Akten der Kommunikation. Das Kollektivgedächtnis konstituiert sich Halbwachs zufolge allein in der Kommunikation lebender Individuen. Da ein derartig konzipiertes Gruppengedächtnis sich nur qua direkter Interaktion und Vermittlung involvierter Erinnerungsperspektiven erhält und stabilisiert, kann es für Halbwachs keine objektivierten Ausdrucksformen gruppenspezifischer Vergangenheitsdeutungen geben. W o vergangene Erfahrungswirklichkeit nicht länger in Gedächtnisakten lebender Individuen aktualisiert wird, sondern sich in Texten oder anderen kulturellen Artefakten materialisiert, haben wir es, so Halbwachs (1991, S. 66f.), nicht länger mit Gedächtnis, sondern mit Geschichte zu tun. Wie deutlich wurde, konzipiert Halbwachs Geschichte aber in dichotomer Abgrenzung vom Gedächtnis. Für die kollektive Identitätsbildung kommt diesem Vergangenheitsbezug angesichts seiner unterstellten Neutralität und Totalität nach Halbwachs allenfalls eine marginale Bedeutung zu. Wenngleich der literarische Text mithin nur wenig zur Stabilisierung kollektiver Gedächtnisse und Identitäten beitragen kann, spricht Halbwachs ihm doch wichtige Funktionen in seiner Eigenart als potentieller sozialer Rahmen der individuellen Orientierungs- und Gedächtnisbildung zu (vgl. Erll 2002b). Wie literarische Texte als sozialer Rahmen in Erscheinung treten können, veranschaulicht Halbwachs (1991, S. 2f.) gleich zu Beginn seiner Studie zum Verhältnis von ,,[k]ollektive[m] und individuelle[m] Gedächtnis" in Das Kollektive Gedächtnis. In seinem mittlerweile berühmt gewordenen „Spaziergang durch London" schildert Halbwachs seine ersten Eindrücke der Metropole. Obschon physisch keine Gesprächspartner anwesend sind, teilt der Spaziergänger doch in Gedanken die Fülle seiner Eindrücke mit vorgestellten Freunden und Bezugspersonen. Halbwachs dient diese Anekdote zur Illustration seiner zentralen These von der sozialen Bedingtheit individueller Erinnerung. Die individuellen Wahrnehmungen des Spaziergängers werden durch imaginäre Gespräche mit einem Architekten, Historiker, Maler oder einem Kaufmann in sozial vorgegebene Bahnen gelenkt: Die Sichtweisen und Perspektiven der verschiedenen Begleiter erlauben es dem Spaziergänger, das Erlebte auf sinnhafte Weise auszulegen und sich anzueignen. Diese Episode ist
Literatur als Medium der Inszenierung von Erinnerungen
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Halbwachs zufolge ein anschauliches Beispiel dafür, dass Wahrnehmungen und die darauf aufbauenden Erinnerungen so durchgreifend von cadres sociaux geprägt sind, dass sie kaum als rein .persönliche' Phänomene gelten können. Bemerkenswert ist an diesem Prozess der interpersonalen Bezugnahme nicht nur, dass die entsprechenden Personen nicht präsent sein müssen, um auf die individuelle Orientierungsbildung Einfluss zu nehmen. Vielmehr müssen sie dem erinnernden Subjekt nicht einmal persönlich bekannt sein — auch medial vermittelte Informationen wie Romane, Stadtpläne oder Bilder können individuelle Wahrnehmungen und Erinnerungen prägen. „Als ich zum ersten Mal in London war", erinnert sich Halbwachs, „brachten mir viele Eindrücke die Romane von Dickens in Erinnerung" (ebd., S. 3). Fiktionale Darstellungen der englischen Metropole in Romanen wie Great Expectations oder Bleak House haben im Gedächtnis des Spaziergängers offenbar derart prägende Spuren hinterlassen, dass sie selbst bei nachfolgenden Wirklichkeitsdeutungen erfahrungsleitende Wirkung entfalten können. Halbwachs folgert aus dieser Vergegenwärtigung fiktionaler Weltinszenierung, dass er „mit Dickens spazieren" ging und daher mit dem „Romancier" eine Gruppe bildete. Dieses Beispiel veranschaulicht auf eingängige Weise zentrale Aspekte, die Halbwachs zufolge mögliche Interrelationen von Gedächtnis und Literatur charakterisieren. Offensichtlich konstituieren auch literarische Werke — trotz ihres fiktionalen Charakters — einen .sozialen Rahmen' des Gedächtnisses, der bei der Erkundung eines unbekannten Raums wahrnehmungsleitend wirkt. Literarische Texte, so die Implikate dieser Episode, stellen Deutungsmuster zur Verfügung, die die Funktion von Orientierungshilfen in einer komplexen Wirklichkeit übernehmen. In diesem Sinne kann Literatur ein schemainduzierendes Wirkungspotential entfalten und damit auch gedächtnisbildend wirken: In dem Maße, in dem Literatur Kodierungsformate für nachfolgende Erfahrungen bereitstellt, findet sie Eingang in das individuelle Gedächtnis. Von Bedeutung ist nicht die Faktizität der vermittelten Informationen, sondern die Frage, ob diese sich an bestehende Gedächtnisbestände und aktuelle Erfahrungshorizonte anschließen lassen. Obgleich Halbwachs mit seiner Theorie der sozialen Rahmung persönlicher Erinnerungen auf zentrale Wirkungsweisen von Literatur als Medium des individuellen Gedächtnisses aufmerksam macht, lässt er wichtige Aspekte unberücksichtigt. Nicht nur verstellt die Gleichsetzung von realen und fiktionalen Kommunikationssituationen den Β Lick auf die spezifische Qualität literarischer Texte. Überdies haben literarische Texte im Rahmen von Halbwachs' Theorieentwurf nur mittelbare, oftmals unbewusste Wirkung, indem sie die individuelle Gedächtnisbildung in kollektiv präformierte Bahnen lenken. Dass Literatur allerdings auch bewusst angeeignet werden kann und als Medium der kollektiven Erinnerung fungiert, bleibt in Halbwachs' Theorie außer Acht. Diese Lücke vermag Pierre Noras Theorie der Lieux de memoire zu schließen, führt sie doch vor Augen, dass auch literarische Texte als Erinnerungsorte fungieren und hiermit zum Zwecke der Deutung von Vergangenem und Gegenwärtigem aktiv angeeignet bzw. instrumentalisiert werden können. Die in den Lieux de memoi-
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Fiktionale Weisen der Erinnerungs- und Identitätsbildung
re erörterten Fallbeispiele offenbaren, dass Literatur ebenso wie Schulbücher, Denkmäler und historiographische Werke bei entsprechender rezipientenseitiger Aktualisierung zum Erinnerungsort werden kann und somit einen bedeutsamen Beitrag zur Herausbildung des kollektiven Gedächtnisses leistet. Ein Verständnis von literarischen Werken als Erinnerungsort richtet das Augenmerk auf die formativen und normativen Funktionen, die ihnen in der Erinnerungskultur zukommen. Natürlich vermitteln literarische Werke wie etwa Marcel Prousts Λ la recherche du temps perdu in erster Linie Einblicke in literarische Wirklichkeitskonstruktionen und Kollektiworstellungen der Vergangenheit. Darüber hinaus aber können sie im Kontext ihrer Rezeption auch Einfluss auf gegenwärtige Vorstellungen und Selbstverständnisse nehmen. Literarische Werke können für die Konstitution einer bestimmten Perspektive auf die Vergangenheit funktionalisiert werden und so als Stütze des nationalen Selbstverständnisses fungieren. Sie sind als symbolisch aufgeladene Ausdrucksformen epochenspezifischer Mentalitäten zu begreifen, die bestimmte Sinngebungsmuster anbieten und gegenwärtige Bedeutungszuschreibungen ermöglichen. Obgleich Noras Theorie der Erinnerungsorte die Bedeutung von Literatur betont, beinhaltet auch sie zwei wesentliche Verkürzungen des Verhältnisses von Literatur und Kollektivgedächtnis. Erstens steht der literarische Text als Erinnerungsort unterschiedslos neben anderen, sehr heterogenen Phänomenen des kollektiven Gedächtnisses. Mediale Differenzen hinsichtlich Produktion, Vermittlung, Rezeption und Verarbeitung zwischen Literatur und anderen kulturellen Objektivationen werden nivelliert. Wichtige Fragen nach dem spezifischen Leistungsvermögen und den besonderen Funktionsweisen verschiedener medialer Symbolsysteme können mit dieser Theorie daher gar nicht erst gestellt werden. Zweitens schlägt sich die bereits problematisierte Ausrichtung des Kollektivgedächtnisses an der nationalen Vergangenheit auch in Noras Verständnis literarischer Werke nieder. So werden mit dem Konzept der Erinnerungsorte lediglich solche fiktionalen Texte fassbar, die als Teil eines etablierten Literaturkanons Vorstellungen von der französischen Vergangenheit transportieren und für die Stabilisierung eines nationalen Selbstverständnisses instrumentalisierbar sind. Der Beitrag, den Literatur zur Erinnerungskultur leisten kann, reduziert sich allerdings weder auf einen Bildungskanon, noch erschöpft er sich in der Festigung des nationalen Selbstverständnisses. Literarische Texte — und dazu zählt gerade heute auch Populärliteratur — können vielmehr ein breites Spektrum erinnerungskultureller Funktionen übernehmen. Dieses reicht von der Affirmation bestehender nationaler Selbstbilder und kollektiver Werte über deren kritische Reflexion bis hin zur Inszenierung subversiver Gegenerinnerungen. Auch im Rahmen von Jan und Aleida Assmanns Theorie des kulturellen Gedächtnisses findet die Bedeutung von literarischen Werken nur vereinzelt Erwähnung — und dies obwohl eine Theoretisierung des Wirkungsspektrums von Literatur im Rahmen ihres medienbewussten Ansatzes durchaus nahe liegen würde. In den meisten ihrer Schriften werden literarische Texte global unter der Kategorie
Literatur als Medium der Inszenierung von Erinnerungen
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,Schrift' diskutiert und — ebenso wie bei Nora - unterschiedslos neben etwa religiöse oder philosophische Texte gestellt (vgl. Assmann/Assmann 1990). Weiter ausdifferenziert wird die Funktion, die Literatur für das kulturelle Gedächtnis erfüllt, lediglich in Aleida Assmanns Aufsatz „Was sind kulturelle Texte?". In diesem im Jahre 1995 veröffentlichten Aufsatz legt sie dar, dass sich die soziale Funktion einzelner literarischer Texte nicht aus textimmanenten Merkmalen ableitet, sondern aus dem jeweiligen Rezeptionsverhalten. So differenziert Aleida Assmann zwischen zwei „Rezeptionsrahmen [...], in denen sich Texte entweder als .literarische' oder als .kulturelle' konstituieren" (ebd., S. 234). Während literarische Texte dem so genannten gesellschaftlichen Speichergedächtnis zuzuordnen sind, bilden kulturelle Texte einen Teil des Funküonsgedächtnisses. Im Gegensatz zum Speichergedächtnis einer Gesellschaft, das - wie in Kapitel II.3.3 expÜ2iert - als „unbewohntes Gedächtnis" das „obsolet und fremd Gewordene, das neutrale, identitäts-abstrakte Sachwissen" (A. Assmann 1999, S. 137) umfasst, handelt es sich beim Funktionsgedächtnis um ein „bewohntes Gedächtnis" (ebd., S. 133), das identitätskonstitutive, selbstlegitimierende Wissensbestände einer Kultur enthält. Kulturelle Texte sind als normative Texte zu konzipieren, die sich von bloß literarischen durch ihren verbindlichen Rezeptionsmodus unterscheiden. Während bei literarischen Werken als Orte der experimentellen Welterzeugung vorrangig die Ästhetik im Vordergrund steht, geht es bei kulturellen Texten um überzeitliche Bedeutungsstiftung und universale Moral. Die Lektüre kultureller Texte ist von dem Ziel geleitet, sich Wissen über historische Ursprünge, über Identität und Werte des Kollektivs anzueignen. Die hochgradig standardisierte Lektüre verhilft zur Gewissheit, integraler Teil einer überzeitlichen Gemeinschaft zu sein. Dass nur sehr wenige, stark konventionalisierte Texte eine derart weit reichende normative Funkdon erfüllen können, liegt auf der Hand. Neben der Bibel als „Paradigma des kulturellen Textes" (A. Assmann 1995, S. 237) können zwar auch säkulare literarische Werke als kulturelle Texte rezipiert werden; Voraussetzung ist allerdings, dass sie zum gesellschaftlich etablierten Bildungskanon gehören. Dass sich der Beitrag, den literarische Texte zur gesellschaftlichen Erinnerungskultur leisten, allerdings weder auf kulturell verbindliche Höhenkammliteratur noch auf die Tradierung normativer, überzeitlicher Identitätsmodelle und Wertvorstellungen reduziert, wurde bereits betont. Auch literarische Werke, die nicht dem Funktionsgedächtnis zuzuordnen und folglich, im Rahmen der Assmannschen Systematik, nicht als .kulturell' zu bezeichnen sind, können etwa durch die literarische Inszenierung von gesellschaftlich vergessenen Erfahrungen wichtige, kritischreflexive Funktionen übernehmen. Sie als Teil des inaktiven Speichergedächtnisses zu begreifen und folglich als .unbrauchbar' zu desavouieren, wird dem Leistungsvermögen von Literatur als komplexem Repräsentations- und Reflexionsmedium kultureller Prozesse nicht gerecht. Wenn sich das vielfältige Funkdonsspektrum von literarischen Texten mit der Assmannschen Theoriebildung allein nicht fassen lässt, so liegt dies an dem bereits erwähnten blinden Fleck ihres Ansatzes, der aus dem Postulat eines, für alle Mitglieder einer Gesellschaft gleichermaßen verbindlichen kulturellen (Funktions-)
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Gedächtnisses erwächst. Diese hypostasierte Homogenisierung leistet einer verkürzten, zweiwertigen Logik Vorschub: So können Literarische Werke entweder als kulturelle Texte Teil des Funktionsgedächtnisses sein und somit paradigmatisch die Sinnerzeugungen einer Kultur repräsentieren, oder aber sie erweisen sich als Bestand des Speichergedächtnisses für die gesamte Kultur als dys funktional. Eine weitere Schwachstelle der Assmannschen Konzeptualisierung des Zusammenhangs von Literatur und Erinnerungskultur resultiert aus der Nivellierung von symbolspezifischen Besonderheiten. Die Parallelisierung von literarischen Werken und medial sehr heterogenen Phänomenen des kulturellen Gedächtnisses verstellt den Blick auf bedeutsame funktionale Unterschiede zwischen diesen Symbolsystemen. Die Ineinssetzung von fiktionalen und nicht-fiktionalen .Gedächtnistexten' erscheint umso erstaunlicher, als der konstruktive, nicht nur konservierende Charakter unterschiedlicher Formen der Medialität innerhalb der Assmannschen Theorie keineswegs in Frage steht. Die zu kommunizierenden erinnerungsrelevanten Inhalte verändern sich, so die zugrunde liegende These, in Abhängigkeit von dem jeweilig aktualisierten Medium: „Alles, was über die Welt gewußt, gedacht und gesagt werden kann, ist nur in Abhängigkeit von den Medien wißbar, denkbar und sagbar, die dieses Wissen kommunizieren. [...] Nicht die Sprache, in der wir denken, sondern die Medien, in denen wir kommunizieren, modellieren unsere Welt." (Assmann/Assmann 1990, S. 2) Vor dem Hintergrund dieser medienspezifischen Gestaltgebung ist es schwer nachvollziehbar, dass literarische Texte, die als kultureller Text wirksam werden und somit erst gesellschaftliche Funktionen erfüllen können, eines ihrer zentralen Merkmale einbüßen müssen: nämlich ihre semantische Vieldeutigkeit. Literatur als kulturellen Text im Sinne von Aleida und Jan Assmann zu konzipieren, hat daher eine relativ ahistorische, statische und universalistische Betrachtungsweise zur Folge, die der grundsätzlichen Mehrdeutigkeit, historischen Variabilität sowie Polyfunktionalität literarischer Texte entgegensteht. 126 Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass die Kulturgedächtnistheorien von Maurice Halbwachs, Pierre Nora sowie von Jan und Aleida Assmann zwar die Rolle, die Literatur für die Konstruktion von kultureller Erinnerung und Identität spielen kann, in unterschiedlichen Graden der Deutlichkeit anerkennen, ihre Besonderheiten und ihr Leistungsvermögen jedoch unterschätzen bzw. nicht hinreichend theoretisieren. Ebenso wie in kulturtheoretischen Ansätzen, die von einer allgemeinen Textualisierung der Kultur ausgehen, steht auch in den besprochenen Gedächtnistheorien der literarische Text undifferenziert neben kulturellen Erzeugnissen und Praktiken anderer Symbolsysteme. Der Blick auf unterschiedliche formale Merkmale wird auf diese Weise unweigerlich verstellt: „Der zu analysierende literarische Text, der zu anderen literarischen oder nicht-literarischen Texten in
126 Vgl. zu der Bedeutung der Vieldeutigkeit bzw. der Polyvalenz literarischer Texte den Überblick von Brenner (1996).
Literatur als Medium der Inszenierung v o n Erinnerungen
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Beziehung gesetzt wird, erscheint dabei seines traditionellen Privilegiums beraubt: Qua sprachliches Produkt ist der literarische Text ein Text unter anderen." (Voßkamp 2003, S. 77) 1 2 7 Hinzu kommt, dass die von Aleida Assmann und Pierre Nora praktizierte Beschränkung auf hochkulturelle Texte den Großteil literarischer Texte und deren Leistungen gar nicht erst in den Blick geraten lässt. Eine theoretisch fundierte Konzeptualisierung des Zusammenhangs zwischen Literatur und Erinnerungskultur ist aus bestehenden Theorien also nicht ableitbar. Um die Voraussetzungen für eine solche Konzeptbildung zu schaffen und literarische Werke damit für kulturwissenschaftliche Fragestellungen fruchtbar zu machen, sollen im Folgenden zunächst zentrale Charakteristika des Symbolsystems Literatur dargestellt werden. Ohne der spezifischen Qualität literarischer Texte Rechnung zu tragen, kann der Beitrag, den Literatur für die Erinnerungskultur leistet, nicht adäquat erfasst werden. Um die Frage zu beantworten, wie literarische Texte innerhalb von Erinnerungskulturen wirksam werden können, muss zunächst gezeigt werden, über welche Privilegien dieses fiktionale
Sinnstiftungsmedium
verfügt. Um dies zu leisten, wird Literatur zunächst aus kulturwissenschaftlicher Perspektive betrachtet. Diese Überlegungen bilden den Bezugsrahmen, um sodann das Verhältnis der fictions of memory zur extratextuellen Erinnerungskultur und den (theoretischen) Erinnerungsdiskursen zu explizieren. Fictions of memory stehen in einem besonders engen Verhältnis zur Erinnerungskultur: Sie vergegenwärtigen zurückliegende Ereignisse und reflektieren die Prozesse der Rekonstruktion und Repräsentation von Vergangenem. Sie verfügen daher über ein besonders ausgeprägtes erinnerungs- und identitätsbezogenes Funktionspotential.
1.3 Kulturwissenschaftliche Perspektiven auf Literatur: Literarische Texte zwischen kultureller Präformation und Entpragmatisierung Wie kann das spezifische Leistungsvermögen literarischer Texte im Rahmen des Gesamtkomplexes kollektiver Sinn- und Vergangenheitskonstruktionen präzisiert werden? Sind fiktionale Erzähltexte tatsächlich nur ein narratives Dokument neben einer Reihe anderer (sprachlicher) kultureller Hervorbringungen? 128 Literatur im Rahmen des Systems Erinnerungskultur als ein Phänomen kollektiver Sinnstiftung zu verorten muss in erster Linie bedeuten, ihre Besonderheiten als fiklionaler Narrativierungsmodus zu fokussieren. In jüngster Zeit hat vor allem die Kulturökologie (vgl. Zapf 2002; Finke 2003) darauf hingewiesen, dass Literatur zwar Teil eines übergeordneten kulturellen Geflechts bzw. eines so genannten Ökosystems ist; 127
Z u r Problematisierung des Konzepts von .Kultur als T e x t ' vgl. auch O r t ( 1 9 9 9 ) und
Böh-
m e / M a t u s s e k / M i i l l e r ( 2 0 0 0 , S. 16). 128
F ü r diese O p t i o n plädiert etwa G u t e n b e r g ( 2 0 0 0 , S. 19), wenn sie behauptet: „Aus kulturwissenschaftlicher Perspektive wird eine strikte T r e n n u n g in sogenannt historisches, / a k t i s c h e s ' Quellenmaterial einerseits und fiktionale T e x t e andererseits hinfällig".
130
Fiktionale Weisen der Erinnerungs- und Identitätsbildung
allerdings ist sie „ein soziales System mit eigenen Konventionen" (Finke 2001: 350; Hervorheb. d. Verf.). Das bedeutet, dass Literatur nur in ihrer Differenz zu anderen, in der Erinnerungskultur koexistierenden Symbolsystemen beschreibbar wird. Als ökologisch kann die Beziehung von Literatur zu anderen Systemen der Kultur bezeichnet werden, weil literarische Texte bei ihrer Sinnerzeugung kulturelle Ökosysteme aller Ebenen in ihrer Besonderheit und Vielfalt darstellen und diese miteinander in ein Verhältnis der wechselseitigen Beeinflussung treten lassen kann (vgl. Zapf 2002, S. 6; Finke 2003, S. 272). In diesem Prozess der komplexen Wechselwirkung mit anderen Ökosystemen bildet Literatur distinkte, systemspezifische Regeln und Strukturen aus (vgl. Finke 2003, S. 260). 129 Literarischen Werken stehen bei ihrer Wirklichkeitserschließung besondere „Innovationsräume" (ebd., S. 272) zur Verfügung, die zur kreativen Darstellung von kulturellen Alternativen genutzt und zur variantenreichen Aufbrechung und Neustrukturierung vorgefundener Strukturen beitragen können. Eigenarten und spezifische Leistungsvermögen von Literatur resultieren gerade aus dem Spannungsverhältnis, das zwischen ihrer kulturellen Prägung einerseits und dem ihr verfügbaren imaginativen Explorationsraum andererseits besteht: „Literatur wird auf diese Weise zu einem Experimentierfeld möglicher Kulturentwürfe, mit dem verglichen das wirkliche Leben auf ein kulturelles Tatsacheninventar beschränkt ist." (Ebd.) 130 In der Bestimmung der ,kulturökologischen' bzw. erinnerungskulturellen Funktionen, die Literatur erfüllen kann, kommt gerade diesen ästhetischen Explorationsmöglichkeiten eine herausragende Bedeutung zu (vgl. Zapf 2002, S. 5): Über ihre ästhetische Wirkungsstruktur schafft Literatur die Möglichkeit kulturellen Wandels. Eine mimetische Betrachtungsweise vermag die Besonderheiten des Symbolsystems Literatur offenbar nicht adäquat zu erfassen. Um den Spezifika literarischer Wirklichkeitskonstruktionen aus kulturwissenschaftlicher Perspektive gerecht zu werden, ist es nötig, die produktiven Aspekte, d.h. den .welterzeugenden' Charakter literarischer Phänomene zu fokussieren (vgl. Zapf 2001b, S. 512). Literarische Texte sind kein bloßes Speichermedium, das bereits bestehende Referenzwelten unverändert abbildet und zu einem späteren Zeitpunkt abrufbar hält. Literatur muss vielmehr als eine produktive Form der „Welterzeugung" (Goodman 1984 [1978]) verstanden werden, die mit genuin fiktionalen Gestaltungsmitteln eigene
129 Ganz ähnlich argumentieren literaturwissenschaftlich ausgerichtete Systemtheorien, die davon ausgehen, dass unterschiedliche, kulturell koexistierende Systeme zwar aufeinander bezogen sind und auf vielfältige Weise miteinander interagieren, sie allerdings je eigene, symbolspezifische Semantiken ausbilden. Vgl. dazu vor allem die Studien von Holl (2003, 2005). Zur Konzeptualisierung der symbolspezifischen Besonderheiten des Mediums Literatur vgl. außerdem die Arbeit von Jahraus (2003). 130 Vgl. zum Spannungsverhältnis zwischen kultureller Prägung und imaginativer Welterzeugung auch Grabes (2001, S. 22): „Literary authors are .children o f their time' like any other people, and when they create their imaginary world they have to start from and employ widely the current language and counters of prevailing worldmaking. There is always less that is historically possible than systematically possible — including the imaginary alternatives to what is deemed ,realV
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Realitätsmodelle entwirft: „Das uns bekannte Welterzeugen geht stets von bereits vorhandenen Welten aus: das Erschaffen ist ein Umschaffen." (Ebd., S. 19) Das Konzept der Poiesis (vgl. Ricoeur 1984 [1989], S. 48) akzentuiert gegenüber einer mimetischen Auffassung von Repräsentation als Nachahmung einer vorgängigen Realität gerade den aktiv herstellenden, kreativen und dynamischen Charakter künstlerischen Schaffens. Literatur erzeugt die Objekte ihrer Darstellung in konstruktiven, d.h. poietischen Akten. Die Produktivität von Literatur liegt in ihrer spezifischen Referenzialität, also in Privilegien der Aneignung von Wirklichkeit, ebenso begründet wie in genuin literarischen Strukturen. Bei ihrer Welterzeugung kann Literatur imaginative Gestaltungsspielräume nutzen, die anderen kulturellen Diskursen nicht zur Verfugung stehen. Die spezifisch literarischen Explorationsräume hat Hubert Zapf (2001a, S. 87) im Rahmen seiner kulturellen Ökologie mit dem Begriff der so genannten .depragmatisation' auf den Punkt gebracht: Im Gegensatz zu anderen kulturökologischen Systemen wie wissenschaftlichen Spezialdiskursen ist Literatur weder zur Faktizität bzw. zur verifizierbaren, extratextuellen Referenzialität noch zur Orientierung an primär pragmatisch bestimmten Zielen verpflichtet. Wie Zapf (ebd.) zu Recht bemerkt, bildet diese Entpragmatisierung die strukturelle Vorraussetzung dafür, dass literarische Texte lebensweltliche Erfahrungen imaginativ zu erschließen sowie mögliche, alternative Welten zu erschaffen vermögen: ,,[D]epragmatisation [...] enables the aestheticing distancing of real-world experiences and at the same time makes possible their imaginative exploration".131 Als entpragmatisierte Form der Welterschließung zeichnet sich Literatur in ihrer Konkurrenz zu anderen Diskursformen durch ihre symbolisch verdichtete, reintegrative Inszenierungsform lebensanaloger Prozesse aus: In .brennpunktartiger* Form macht Literatur die Vielgestaltigkeit der kulturellen Lebenswelt zugänglich (vgl. Zapf 2002, S. 6). Das Medium Literatur bezieht sein kulturökologisches Funktionspotential wesentlich aus dieser Reintegrativität (vgl. Link 1988): Es kann verschiedenartige Elemente bzw. Grundannahmen vorherrschender — auch kulturell getrennter - Deutungssysteme aus ihrem ursprünglichen Kontext lösen und sie zu einem neuen, symbolisch verdichteten Ganzen synthetisieren. Das Verhältnis von Literatur und extratextueller Wirklichkeit ist jedoch keineswegs beliebig. Literatur bringt die kulturell verfügbaren Diskurselemente und Referenzwelten nicht unverändert zur Darstellung, sondern reduziert deren Komplexität durch gezielte Selektionsprozesse (vgl. Reinfandt 1997, S. 102). Sinnbildung impliziert Komplexitätsreduktion. Literarische Werke verhalten sich gegenüber dem Gesamtkomplex von diskursiven Bezugsfeldern der gesellschaftlichen Wirklichkeit hochgradig selektiv. Erst durch Selektionsprozesse und die damit verbundene Grenzziehung zwischen Aktualisiertem und Ausgeblendetem gewin131 Voßkamp (1999, S. 190) spricht in diesem Zusammenhang von der .Referenzlosigkeit' literarischer Texte. Da fiktionale Darstellungen allerdings eine Reihe identifizierbarer Realitätsreferenzen enthalten (vgl. Iser 1993, S. 37), erscheint es angemessener, von .Entpragmatisierung' zu sprechen.
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nen die textuellen Bezugsfelder an Kontur: Sie werden zum Gegenstand der Wahrnehmung gemacht und erhalten durch die Gegenüberstellung mit dem Nichtaktualisierten besondere Prägnanz (vgl. Iser 1993 [1991], S. 24f.). Mit der notwendigen Selektivität verbindet sich somit zugleich die Produktivität jedweden fiktionalen Wirklichkeitsmodells. Indem fiktionale Texte unterschiedliche Elemente der Erfahrungswirklichkeit aus ihrem ursprünglichen Kontext lösen und diese im Medium der Fiktion modellhaft zu einem neuen Ganzen zusammenführen, verändern sie diese Elemente produktiv. Welcher Art ist aber diese Veränderung, die die ins Textrepertoire aufgenommenen Elemente mit ihrem Eingang in das Medium der Fiktion erfahren? Anders gefragt: Wie entstehen auf der Basis von extraliterarischen Referenzen fiktive Wirklichkeiten und wie vermögen diese wiederum Einfluss auf (erinnerungs-)kulturelle Wissensordnungen zu nehmen? U m das für Literatur konstitutive Spannungsverhältnis von mimetischen und poietischen Aspekten zu explizieren, d.h. um die Implikationen der literarischen Zusammenführung von Realem und Fiktivem zu spezifizieren, bietet sich ein Rückgriff auf Wolfgang Isers (1993 [1991]) Fiktionstheorie an. Das für den literarischen Text charakteristische Zusammenspiel von Realem und Fiktivem, d.h. von vorgängig existenten Realitätsfragmenten und „Hinzugedachte [m]", fasst Iser unter dem Konzept der ,Akte des Fingierens' zusammen. Gemäß dieser Auffassung beinhaltet das komplexe Spannungsverhältnis zwischen Fiktion und Realität mehr als nur eine basale Opposition: Iser erweitert die herkömmliche zweiwertige Logik zu einer dreistelligen Beziehung von Realem, Fiktivem und Imaginärem. D e m Fiktiven kommt im Rahmen dieser Triade eine Vermittlungsfunktion zu: E s schlägt eine Brücke zwischen der aufgerufenen — auf die Realität verweisenden — Referenzwelt und der im Text modellierten imaginären Vorstellungs- und Affektwelt (vgl. ebd., S. 24). Die Akte des Fingierens, die für jede fiktionale Welterschließung konstitutiv sind, basieren Iser zufolge auf einer zweifachen Grenzüberschreitung (vgl. ebd., S. 22). Zum einen werden identifizierbare Elemente der außertextuellen Realität im Medium der Fiktion wiederholt; diese Wiederholung geschieht jedoch „nicht um ihrer selbst willen" (ebd., S. 20). Vielmehr werden lebensweltliche Elemente im Medium der Fiktion mit einer symbolischen, aus der Wirklichkeit nicht ableitbaren Bedeutung ausgestattet. Die wiederkehrende Realität wird so zum semantisch aufgeladenen Zeichen (vgl. ebd.). Zum anderen werden imaginäre Elemente, die sich zunächst als „diffus, formlos, unfixiert und ohne Objektreferenz" (ebd., S. 21) darstellen, im Medium der Fiktion in eine bestimmte Gestalt überführt. Diese Transformation des Diffusen in Bestimmtes und Geformtes schafft die Vorraussetzung für die kollektive Erfahrbarkeit des Imaginären und verleiht ihm folglich ein gewisses Maß an Realität (vgl. ebd., S. 22). „Ohne diesen Zuschuß des Imaginären" (Fluck 1997, S. 19) wäre der literarische Text lediglich ein Versuch, Wirklichkeit wiederzugeben. Umgekehrt bedarf der fiktionale Text aber auch des Bezugs auf die Realität, um dem Imaginären überhaupt eine nachvollziehbare Gestalt und somit Wirkungspotential zu verleihen.
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Der literarische Konfigurationsprozess beruht also auf grenzüberschreitenden Akten des Fingierens, durch die nicht nur Elemente unterschiedlicher, auch kulturell getrennter Bereiche, sondern auch Reales und Imaginäres eine Beziehung eingehen. Iser (ebd., S. 25) betont, dass sich der ontologische Status der aus ihrem ursprünglichen Kontext gelösten Elemente der außertextuellen Kultur mit ihrem Eingang in den literarischen Text grundlegend verändert. Da sie jetzt „unter dem Vorzeichen des Fingiertseins" (ebd., S. 37) stehen, werden sie irrealisiert. Und auch für das Imaginäre, das vorgängig Unartikulierte, Formlose und Individuelle, ergeben sich aus seiner Integration ins Medium der Fiktion und aus der damit einhergehenden Zusammenfuhrung mit dem Realen weit reichende Konsequenzen. Hier nämlich erst erhält das Imaginäre eine „intentionale Struktur", wie Winfried Fluck (1997, S. 20) in Anlehnung an Iser expliziert. Indem es aus der individuellen Vorstellungswelt ins Medium der Fiktion überführt wird und dabei in eine Beziehung mit dem Realen tritt, wird aus dem individuellen Imaginären ein kulturelles Imaginäres. Rein imaginäre Wirklichkeitsreferenzen können nun als Gegenstand kultureller Selbstverständigung reaÜtätsbildend wirken und mithin als Motor von Neudefinitionen der Realität fungieren (vgl. ebd., S. 21). Ihr kulturökologisches Funktionspotential bezieht Literatur aus dem Zusammenschluss von extraliterarischen Elementen mit Imaginärem: Sie erzeugt alternative Welten, die (noch) nicht realisierte Deutungsangebote machen und rezipientenseitig zu einer veränderten Wirklichkeitssicht beitragen können. Literarische Welten stellen die Verbindlichkeit des kollektiv Aktualisierten bzw. Erinnerten in Frage und verleihen dem Imaginären (so auch dem Marginalisierten) probeweise kulturellen Geltungsanspruch. „Diese paradoxe Leistung", so folgert Zapf (2002, S. 54), „das kulturell Unverfügbare dennoch kulturell verfügbar zu machen, ist eine Aufgabe der Literatur, die ihre spezifische Struktur und Wirkungsweise wesentlich mitbedingt." Literarische Texte, und hierin ist eine weitere Besonderheit des Symbolsystems zu sehen, inszenieren die vergegenwärtigten Referenzwelten nicht nur; sie können sie vielmehr auch zum Gegenstand der kritischen Beobachtung machen. Sowohl die imaginative Darstellung als auch die Reflexion dieser Darstellung zählen zu den spezifischen Leistungsvermögen von Literatur. Literatur ermöglicht der Leserschaft beides. In literarischen Werken „beobachten sich Kulturen gewissermaßen selbst" (Voßkamp 1999, S. 190). Literatur ist potentiell sowohl ein Medium der kulturellen Selbstthematisierung als auch ein Medium der Reflexion dieser Selbstwahrnehmung (vgl. Voßkamp 2003, S. 77). Sie verfügt über die Möglichkeit, sich von ihren vergegenwärtigten Inhalten zu distanzieren und diese entweder implizit, d.h. qua narrativer Darstellungsmittel, oder aber in expliziten Kommentaren zu reflektieren und zu problematisieren. Durch diese selbstreflexive Doppelungsstruktur können die Besonderheiten von kulturell vorherrschenden Wirklichkeitsdeu-
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tungen einer kritischen Perspektivierung unterzogen werden. 132 Auch in dieser reflexiven Eigenart tragen literarische Werke entscheidend zur kulturellen Sinnproduktion bei: Literatur, so betont Uwe Steiner (1997, S. 33), bildet eine „Reflexionsinstanz [...] als semantisches und vor allem performatives Archiv, als Organon des Wissens um die Wirklichkeit symbolischer Welterzeugung". Indem Literatur involvierte Erinnerungsperspektiven mit beobachtenden verbindet, kann sie einen substantiellen Beitrag zur Reflexion der erinnerungskulturellen Prozesse der Vergangenheitsaktualisierung und -aneignung leisten. Wie aber können diese literarisch erzeugten, höchst kondensierten Sinn- und Reflexionswelten rezipientenseitig überhaupt begreifbar werden? Die poietisch erschaffenen Deutungsangebote können Wirksamkeit entfalten, weil Literatur kulturelle Referenzbereiche in konkret-ereignishaften Erfahrungsprozessen sowie in differenzierten Innenwelten zur Anschauung bringt (vgl. Zapf 2002, S. 6). Narrationen — dies gilt für fiktionale ebenso wie für nicht-fiktionale — weisen sich durch die Schilderung von partikularen Schicksalen, von subjektiven Absichten in einem konkreten Handlungszusammenhang aus. 133 Sie machen die Komplexität der kulturellen Lebenswelt in individualisiert-erfahrungshaltiger Weise zugänglich. Im Medium der Fiktion kommt das Abstrakte und Generalisierte in sehr spezifischen, partikularen Erfahrungswelten zur Darstellung: [W]hat we encounter in literary discourse is overwhelmingly particular and even wholly individual - specific places, moments in time, characters with personal names, ways of speaking and acting, thinking and feeling. Literary discourse [...] renders possible and motivates an imaginary experience of the very particular in its outer physicality or inner concreteness rather than offering general notions to the reasoning mind. (Grabes 2001, S. 18) Es ist eben diese Partikularität, die die Voraussetzung dafür schafft, dass das spannungsreiche Zusammenwirken verschiedenartiger kultureller Systeme in gebündelter und psychologisch intelligibler Form erfahrbar wird. Durch spezifisch fiktionale Privilegien, wie etwa der Innenweltdarstellung, stellt Literatur exemplarisch verkörperte Lebenserfahrung dar (vgl. Erll 2003b, S. 83) und kann so besonders eingängige Sinnangebote machen. Wenn, wie deutlich wurde, literarische Texte auf aktive, poietische Weise Wirklichkeitsmodelle produzieren, dann stellt sich schließlich die Frage nach den medien- bzw. symbolspezifischen Gestaltungsmitteln. Offensichtlich entfalten sich die potentiellen Sinndimensionen fiktionaler Texte nicht nur in den dargestellten
132 Vgl. zur konstitutiven literarischen Selbstreflexivität Bachmann-Medick (2001, S. 219): „Literarische Texte interpretieren von sich aus, noch bevor sie interpretiert werden. Und diese Interpretationen sind kulturelle, ja kulturspezifische Auslegungen und Selbstreflexionen in einem Spannungsfeld kultureller Widersprüche". 133 Ganz ähnlich bestimmt die narrative Psychologie das besondere Leistungsvermögen von Erzählungen. Vgl. hierzu vor allem die von Bruner (1986, S. 12 f.) getroffene Unterscheidung zwischen d e m paradigmatischen und dem narrativen Modus sowie Kapitel II.1.3 dieser Arbeit.
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Inhalten, sondern auch in der ästhetischen Konfiguration und diskursiven Perspektivierung von Handlungssegmenten. Formale Besonderheiten - darauf haben nicht zuletzt .postklassische' Ansätze der Narratologie aufmerksam gemacht 1 3 4 — sind maßgeblich an der Konstruktion von kulturellem Sinn beteiligt. Sollen also die Besonderheiten des Symbolsystems Literatur als eigenständiger Form kollektiver Sinngebung in den Blick geraten, müssen sowohl die Inhalte literarischer Texte als auch ihre formalästhetischen Verfahren untersucht werden (vgl. Nünning 1995c, S. 180). Literarische Texte operieren bei ihrer Welterzeugung mit einer Reihe vieldeutiger Gestaltungsformen und Strukturen. Wie von Vertretern des Russischen Formalismus und der Prager Schule herausgestellt wurde, sind diese Darstellungstechniken keineswegs neutrale, strukturelle Textmerkmale, sondern
eigenständige,
bedeutungstragende und -erzeugende Formen. Das Sinn- und Funktionspotential fiktionaler Erfahrungswelten ist daher auch maßgeblich von der jeweiligen Ausgestaltung formaler Elemente abhängig, wie etwa der Verwendung von Gattungskonventionen, der Konfiguration und Perspektivierung von Handlungselementen, der Figurenkonstellation sowie der Zeit- und Raumdarstellung. Die Erkenntnis, dass formale und strukturelle Besonderheiten (fiktionaler) Texte als zentrale Bedeutungsträger an der Erzeugung kulturellen Sinns beteiligt sind, findet in den Thesen von der .ideology o f form' (Jameson 1981), dem ,[c]ontent o f the Form' (White 1987) sowie der .Semantisierung der Form' (vgl. Schmid 1977; Nünning 2001b, S. 579f.) ihren sinnfälligsten Ausdruck. 1 3 5 Erzähltechniken, so die grundlegende Annahme dieser Konzepte, sind als .sedimentierter Inhalt' (Jameson 1981) mit einem bedeutungskonstituierenden Potential aufgeladen. Als historisch und kulturell höchst variable Strategien sind ihnen stets auch soziokulturelle Präsuppositionen sowie Wert- und Normenvorstellungen eingeschrieben (vgl. Nünning 2000, S. 361). Im Gegensatz zu Medien anderer Symbolsysteme ist Literatur durch eine besondere Dichte solcher bedeutungstragender Darstellungsformen gekennzeichnet. Es ist auf diese formalen Spezifika bei der Anordnung und Vermittlung des Geschehens zurückzufuhren, dass Literatur mehrdimensionale, d.h. variabel aktualisierbare Bedeutungsangebote machen kann. Diese Bedeutungspluralität macht Literatur zu einem besonders einflussreichen Medium kollektiver Sinnstiftung, denn sie gewährleistet deren potentielle Wirkmächtigkeit in diversen erinnerungskulturellen Konstellationen: Die spezifische „Mehrdeutigkeit der Literatur", so folgert auch Zapf (2002, S. 49), „wird somit zur Bedingung ihrer besonderen, kulturell wesentlichen Funktion". Da literarische Texte vorgängige Sinnwelten und kulturell etablierte Diskurse nicht abbilden, sondern mit literarischen Mitteln eigenständige Wirklichkeiten
134 Vgl. hierzu exemplarisch die Aufsätze in Herman (1999) sowie in Nünning/Nünning (2002a). 135
Nünning (2001b, S. 579) zufolge basiert das Konzept der Semantisierung der literarischen Form auf der Einsicht, „daß literarische] Darstellungsverfahren und Strukturen als eigenständige Bedeutungsträger fungieren und bei der Bedeutungszuschreibung durch den Rezipienten eine zentrale Rolle spielen können". Vgl. zur Semantisierung der Form außerdem Lotman (1972).
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entwerfen, stellen sie eine formende Kraft innerhalb der Gesamtheit kollektiver Sinnstiftungsprozesse dar. Als .performatives Archiv' wirken literarische Texte auf die Gesellschaft zurück und nehmen Teil an der Bildung und Stabilisierung, kritischen Reflexion oder Subversion kollektiv dominanter Wissens- und Erinnerungsordnungen. Literatur führt verschiedenartige Bereiche in ihrer Besonderheit und Vielfalt zusammen, kreiert neue, imaginative Wirklichkeitsmodelle und stellt uneingelöste Geltungsansprüche dar. Sie ebnet auf diese Weise kultureller Veränderung und Erneuerung den Weg: „Novels [...] are [...] the vehicles, not the reflections, of social change" (Bender 1987, S. 1). In dem Prozess der kulturellen Selbsterneuerung kann Literatur ein breites Spektrum unterschiedlicher Funktionen übernehmen, das von der relativ affirmativen Inszenierung kulturell vorherrschender Deutungsschablonen und Wertvorstellungen bis hin zu deren kritischer Infragestellung und Subversion reicht (vgl. Grabes 2001, S. 26-29). Um zu einem angemessenen Verständnis der Rolle zu gelangen, die Literatur für die Kultur spielt, ist der Vielfalt ihrer Funktionen konzeptuell Rechnung zu tragen. Während kulturwissenschaftliche Gedächtnistheorien vor allem die affirmativ-normativen Funktionen betonen, die Literatur für die kulturelle Stabilisierung erbringt, stellen kulturökologische bzw. funktionsgeschichtliche Ansätze oftmals allzu idealistisch deren subversives Potential heraus. Beide Positionen bedeuten allerdings eine gewisse Verkürzung des breiten Spektrums von Funktionen, das literarische Werke erfüllen können. Literarische Texte können ebenso zur Tradierung etablierter Vergangenheitsdeutungen und Wertehierarchien beitragen wie sie überkommene Erinnerungsversionen in Frage stellen können. Literatur erfüllt also nicht die Funktion, sondern macht ein Spektrum von Funktionsangeboten, die in unterschiedlichen Kontexten verschieden aktualisiert werden können. ***
Die Darstellungen der Besonderheiten von literarischen Texten aus kulturwissenschaftlicher Perspektive verdeutlichen nicht nur, dass Literatur als Teil der Gesamtkultur zu visualisieren ist. Sie explizieren überdies, wie Literatur Einfluss auf bestehende Vorstellungen von Wirklichkeit nehmen kann. Die Möglichkeit von Literatur, sinnstiftend auf extraliterarische Kontexte zurückzuwirken, ist auf das Spannungsverhältnis zurückzuführen, das sich aus der Zugehörigkeit dieses fiktionalen Mediums zu den übergeordneten Sinnstiftungsprozessen einer Kultur einerseits und dessen entpragmatisierten Gestaltungsräumen andererseits ergibt. Diese Spielräume kann Literatur dazu nutzen, neue Wirklichkeitsmodelle zu erproben und in die Erinnerungskultur einzuspeisen. Durch die grenzüberschreitende Zusammenführung von Realem und Imaginärem können literarische Texte alternative Welten erzeugen, die kollektive Sinnsysteme produktiv zu beeinflussen und kritisch zu perspektivieren vermögen. Solche komplexen und verdichteten Sinnwelten können im Medium der Fiktion greifbar werden, weil Literatur Abstraktes in Partikulares und Individualisiertes transformiert. Die Semantisierung der Form sorgt schließlich dafür, dass literarische Werke vieldeutige, komplexe und offene Deu-
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tungsangebote machen, die in verschiedenen erinnerungskulturellen Kontexten ganz unterschiedlich aktualisiert werden können. Das kulturökologische Funktionspotential von Literatur beruht auf einer Verbindung dieser Charakteristika. Mit den genannten Merkmalen von Literatur als poietische Form der kulturellen Wirklichkeitsdeutung ist ein Rahmen geschaffen, vor dessen Hintergrund im folgenden Kapitel das Verhältnis von fictions of memory zur Erinnerungskultur dargelegt und die formalen und thematischen Besonderheiten dieser Gattung spezifiziert werden können. 136 Erzähltexte, in denen die Bedeutung des Erinnerns für die Identität von Individuen und Gruppen zum zentralen Gegenstand wird und die diegetische Ebene der Handlung (weit gehend) in der erinnernden Rückschau hervorgebracht wird, wurden unter dem Gattungsbegriff fictions of memory subsumiert. Fictions of memory stehen in einem besonders engen Verhältnis zur Erinnerungskultur. Zwar vermitteln zahlreiche literarische Gattungen - wie etwa Bildungsromane, Abenteuer- oder Gesellschaftsromane, Reiseberichte sowie historische Romane — Vergangenheitsbilder, geteilte Werte und Identitätskonzepte und leisten damit einen Beitrag zur Konstitution und Reflexion der Erinnerungskultur (vgl. Erll/Nünning 2003, S. 13; Humphrey 2005); es ist allerdings davon auszugehen, dass gerade fictions of memory für die Erinnerungskultur zentrale Orientierungs- und Stabilisierungsfunktionen übernehmen und sie als eminent wirkmächtige Gedächtnisgattung anzusehen sind. Fictions of memory sind auf kulturell verfügbare Erinnerungsinhalte und -formen ihres jeweiligen Entstehungskontexts sowie auf den Diskurs und die Erkenntnisse der zeitgenössischen Erinnerungs- und Identitätstheorie bezogen. Sie können auf allen Textebenen und mittels einer Vielzahl formalästhetischer Darstellungsverfahren Inhalte und Formen individueller sowie kollektiver Erinnerungen inszenieren. Auf einer zeitlich zurückliegenden Handlungsebene können Erinnerungen anhand der Erlebnisse und Dialoge von in soziale Kontexte eingebetteten Protagonisten dargestellt werden. Unterschiedlich gestaltete Erzählinstanzen können auf der Ebene der erzählerischen Vermittlung die vergangenen Ereignisse kommentieren und analysieren oder explizite Reflexionen über Leistungen und Probleme der retrospektiven Sinnstiftung anstellen. Durch eine Fülle von narrativen Darstellungsmitteln, d.h. durch die für das Symbolsystem Literatur charakteristische Semantisierung der Form, vermögen es fictions of memory außerdem, implizit Vorstellungen von dem Leistungsvermögen mnemonischer Prozesse zu vermitteln. Fictions of memory sind aber nicht nur der Ort, an dem die individuelle und kollektive Gedächtnisbildung inszeniert und die Aushandlung von Erinnerungskonkurrenzen reflektiert wird. Vielmehr können sie selbst an sinnstiftenden Akten der Gedächtnis formation partizipieren. Indem sie Inhalte, Grundprobleme und Wir136 Gattungen stellen offene Systeme dar, und die projektierte Gattungsbestimmung kann daher nur ein Versuch sein, ein Bündel von formalen, strukturellen und thematischen Kriterien zu beschreiben, das als schematisches Konstrukt zur „besseren Orientierung in der ansonsten unüberschaubaren Vielfalt der Romanproduktion" (Nünning 1995a, S. 293) beiträgt.
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kungspotentiale von sinnstiftenden Gedächtnisakten darstellen und beobachtbar machen, erfüllen sie wichtige soziale Orientierungsfunktionen. Sie vermitteln distinkte Vorstellungen von der Funktionsweise von Erinnerungsprozessen und schaffen damit die Voraussetzung für eine veränderte Sichtweise von kulturell zirkulierenden Memorialkonzepten. Durch die Inszenierung von bislang marginalisierten Erinnerungen können fictions of memory einer kritischen Perspektivierung oder Modifikation gesellschaftlich dominanter Vergangenheitsdeutungen den Weg bereiten. Schon diese einleitenden Überlegungen liefern einen Eindruck von dem komplexen und vielschichtigen Verhältnis, das zwischen fictions of memory und Gedächtnis besteht. Um die vielfältigen Schnittstellen in den Blick zu bringen und so zu einer Präzisierung der inhaltlichen und formalen Aspekte dieses Genres zu gelangen, ist es notwendig, die Bezogenheit von Literatur auf kulturell zirkulierende Erinnerungsinhalte und -diskurse zu explizieren (vgl. Titzmann 1989, S. 51) sowie die genuin literarischen Möglichkeiten der Verarbeitung extraliterarischer Elemente begreifbar zu machen. Für eine systematische Genrebestimmung ergeben sich daher drei zentrale Fragestellungen: (1) Wie lässt sich das dialogische Verhältnis der fictions of memoiy zu dem kulturell verfügbaren Wissen ihrer Entstehungszeit spezifizieren und auf welche extratextuellen Referenzfelder sind fictions of memoiy besonders eng bezogen? (2) Mittels welcher Spezifika des Symbolsystems Literatur können fictions of memory eigenständige Formen der Erinnerungs- und Identitätsstiftung entwerfen? (3) Wie lässt sich der Beitrag der fictions of memory zur Herausbildung und Transformation der extraliterarischen Erinnerungskultur präzisieren? Wie also nutzen fictions of memoiy ihr kulturökologisches Funktionspotential zur Beeinflussung erinnerungs- und identitätsbezogener Wissenssysteme?
1.4 Konstitutionsweisen der Fictions of Memoiy. Die Mimesis der Erinnerung Als bedeutsame Medien soziokultureller Selbstverständigung und kollektiver Sinnstiftung sind fictions of memory in thematischer, formaler und funktionaler Hinsicht auf vielfältige und komplexe Weise mit extraliterarischen Erinnerungspraxen und -diskursen verwoben. Bei ihrer Gedächtnisdarstellung greifen sie auf Elemente der vergangenen Erfahrungswirklichkeit zurück, lösen diese aus ihrem ursprünglichen Kontext und verarbeiten sie im Medium der Fiktion zu neuartigen Gedächtnisversionen. Fictions of memory inszenieren Erinnerungsprozesse, machen deren identitätsstiftende ebenso wie potentiell identitätszersetzende Funktionsweise beobachtbar und können auf die Kontexte ihrer Rezeption zurückwirken. Um den Bogen von der Fundierung der fictions of memory in der Erinnerungskultur über die textinterne, literarische Gestaltung und Inszenierung von Erinnerung bis hin zu deren möglicher Rückwirkung auf Erinnerungskulturen zu spannen, soll
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Paul Ricceurs (1988 [1983]) Konzept einer dreistufigen Mimesis als übergeordnete Referenzfolie fungieren.137 Mit diesem Modell beschreibt Ricceur das für Literatur konstitutive Spannungsverhältnis zwischen ihren mimetischen und poietischen Aspekten, also zwischen der Nachahmung der außerliterarischen Wirklichkeit einerseits und der aktiven, poietischen Schaffung fiktionaler Welten andererseits. Sein auf Aristoteles zurückgehender, jedoch auf drei Darstellungsstufen erweiterter Mimesis-Begriff bietet wichtige Anhaltspunkte für die Konzeptualisierung des Verhältnisses zwischen Literatur und extraliterarischer (phänomenologischer) Wirklichkeit. Es illustriert, dass die literarische Erzeugung von Wirklichkeitsversionen auf dynamischen Prozessen der Transformation basiert, bei der sich die poietisch erzeugten Welten und die kulturellen Sinnsysteme wechselseitig beeinflussen. Die literarische Wirklichkeitserschließung lässt sich als dreigliedriges Zusammenspiel zwischen der kulturellen Präfiguration des Textes, d.h. seiner Bezogenheit auf die vorgängige extratextuelle Wirklichkeit (Mimesis I), der textuellen Konfiguration zu einer neuen, fiktionalen Welt (Mimesis II) und schließlich der Transfiguration im Bewusstsein der Leserin (Mimesis III) beschreiben. Ricceur betont, dass Wirklichkeitserfahrungen immer schon symbolisch präformiert bzw. „symbolisch vermittelt' (ebd., S. 94) sind. Dass Handlungen überhaupt erzählbar sind, ist dieser „pränarrativen Struktur der Erfahrung" (ebd., S. 98) zu verdanken. Die literarische Welterschließung stellt sich bei Ricceur mithin als ein konstruktiver und vermittelnder Prozess dar, der eine Brücke schlägt zwischen präfigurierten kulturellen Sinnsystemen und den kognitiven Operationen der individuellen Rezeption. Zwischen den symbolischen Wissensordnungen der außertextuellen Realität und den im Medium der Fiktion entworfenen Alternativwelten entsteht ein Verhältnis dynamischer Wechselwirkung. Ricceurs Modell der dreistufigen Mimesis bietet damit eine tragfähige Grundlage, um das Verhältnis zwischen Literatur und extraliterarischen Erinnerungsinhalten und -diskursen differenziert zu analysieren und auch die Besonderheiten der in den ßctions of memory erzeugten Gedächtniswelten und Identitätsmodelle in den Blick zu bringen.138
1.4.1 Die literarische Aneignung der erinnerungskulturellen Wirklichkeit Versteht man fiktionale Erzähltexte als produktive Ausdrucksform des übergreifenden Selbstdeutungs- und Sinnstiftungsprozesses einer Kultur, so ergibt sich die Notwendigkeit, die kulturelle Einbettung dieser Texte zu berücksichtigen. Literarische Texte sind keine überzeitlichen Konstanten, sondern historisch und kulturell geprägte Phänomene und als solche variabel. Bei der Erzeugung symbolischer 137
Z u Ricceurs K o n z e p t der Mimesis als Modell für das Verhältnis von Literatur und extratextueller Wirklichkeit vgl. auch Nünning (1995a, S. 4 2 - 5 7 ) sowie Erl! (2003a, S. 1 3 9 - 1 4 2 ) .
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E i n e Neukonzeptualisierung dieser dreistufigen Mimesis aus kognitiv-konstruktivistischer spektive entwirft Fludernik (1996, v.a. S. 4 3 - 4 7 ) im R a h m e n ihrer ,natur.il narratology*.
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Alternativwelten rekurrieren Texte auf Elemente der vorherrschenden kulturellen Diskurssysteme sowie Wissensordnungen und bleiben damit an ihren Entstehungskontext zurückgebunden. Trotz fiktionaler, von pragmatischen Alltagszwängen enthobener Gestaltungsspielräume (vgl. Zapf 2002, S. 5) ist der literarische Text mithin auch kulturell präformiert. Diese kulturelle Präfiguration literarischer Texte findet in Ricoeurs (1988) Begriff der Mimesis I ihren Ausdruck. Diesem Konzept zufolge ist jede „Fabelkomposition in einem Vorverständnis der Welt des Handelns verwurzelt: ihrer Sinnstrukturen, ihrer symbolischen Ressourcen und ihres zeitlichen Charakters" (ebd., S. 90). Kulturen schaffen sich symbolische Ordnungen bzw. Begriffsnetze, die wahrnehmungs- und handlungsleitende Kollektivvorstellungen, Wertehierarchien oder ein Verständnis der Symbolik von Handlungen und zeitlichen Vorgängen umfassen. All diese Elemente stehen „in einer Beziehung der Wechselbedeutung (intersignification)" (ebd., S. 91f.). Die von einer Kultur auf je spezifische Weise imaginierten semantischen Netzwerke ermöglichen dem Einzelnen allererst eine sinnhafte Organisation seiner Erfahrungen. Als imaginative Form der Welterschließung müssen daher auch literarische Werke auf Themen und Vorstellungen zurückgreifen, die den symbolischen Ordnungen, kulturellen Präsuppositionen und der Erfahrungswirklichkeit einer vorgängigen, außertextuellen Realität entstammen. Dies impliziert, dass Literatur eng mit anderen kulturellen Sinnsystemen und Diskursen verwoben ist. Geht man von diesem dialogischen Verhältnis zwischen Literatur und den außertextuellen Wissensordnungen aus, so ergibt sich mit Blick auf eine differenzierte Gattungsbestimmung der fictions of memory zunächst die Aufgabe, aus der Gesamtheit theoretisch möglicher Referenzfelder die hier dominanten zu eruieren (vgl. Voßkamp 1982, S. 198). Fictions of memory zeichnen sich durch ihre genrespezifische Selektionsstruktur aus, d.h. durch eine bestimmte Bezugnahme auf die extraliterarische Wirklichkeit. Aufschluss über die Mimesis I von Romanen ist über eine Analyse der paradigmatischen Achse der Selektion außertextueller Elemente zu gewinnen. Die Selektionsstruktur bzw. das so genannte Textrepertoire (vgl. Iser 1976 [1994], S. 143) markiert, aus welchen vorgängigen kulturellen Feldern sich literarische Texte primär speisen. Selektionsentscheidungen bestimmen über die thematische Orientierung und das damit einhergehende Werte- und Normensystem des fiktionalen Texts. Die Mimesis I der fictions of memory konstituiert sich aus dem kulturell verfügbaren Repertoire erinnerungsrelevanter Wissensbestände, also aus jenen Elementen, die einen symbolisch aufgeladenen Bezug zur Vergangenheit aufweisen. Diese Romane greifen auf verschiedenartige — soziale, mentale und materiale - Phänomene des in einer Gesellschaft zur Verfugung stehenden Gesamtvorrats an Vergangenheitsreferenzen, mnemonischen Strukturen und Erinnerungssymbolen zurück. Fictions of memory erzeugen mit literarischen Mitteln nicht irgendwelche symbolischen .Welten', sondern fiktionale .Gedächtniswelten*. Durch ihren Bezug auf die extraliterarische Erinnerungskultur eignen sich fictions of memory Elemente vergangener Wirklichkeitsmodelle an, wie etwa Personen, Ereignisse, Orte, Gegenstände oder bestimmte Sachverhalte. Die auf die Vergan-
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genheit verweisenden Referenzpunkte sind der „diachronen Dimension der Kultur" (vgl. Assmann/Assmann 1994, S. 114) im weitesten Sinne zuzuordnen. Diese, je nach individuellem Vorwissen identifizierbaren Realitätselemente tragen zur temporalen, situativen und lokalen Einordnung des fiktionalen Geschehens bei. Die kollektiven Erinnerungen einer Kultur sind nicht homogen, sondern sowohl horizontal (d.h. zwischen verschiedenen Gemeinschaften) als auch vertikal (also zwischen dem offiziellen, hegemonialen Gedächtnis und den partikularen Gedächtnissen verschiedener Erinnerungsgemeinschaften) strukturiert und in sich differenziert. Eines der zentralen Privilegien der Selektion besteht darin, dass fictions of memoiy bei ihrer Gedächtniserzeugung horizontale sowie vertikale Grenzen zwischen kulturell koexistierenden Erinnerungsgemeinschaften transzendieren, also auf das gesamte Spektrum sozial aktualisierter Erinnerungen zurückgreifen können. Staatliche Institutionen wie das Erziehungssystem oder Parteien, die Kirche, politische Gruppierungen, Migranten, Künsderinnen, Familien, aber auch Personen, die von ihren vergangenen Erfahrungen erzählen, sind Teil der sozialen Dimension der Erinnerungskultur und tragen zur Konstruktion und Kontinuierung kollektiver Gedächtnisinhalte bei. Im Medium der Fiktion kann prinzipiell die heterogene, antagonistische oder sogar sich widersprechende Erinnerungsvielfalt einer Gesamtgesellschaft anklingen. Die Bezogenheit der fictions of memory auf die extraliterarische Erinnerungskultur erschöpft sich nicht in der Inszenierung bereits bedeutungstragender Bestände, die aktualisierten Kollektivgedächtnissen zuzurechnen sind. Fictions of memoiy können bei ihrer literarischen .Gedächtniserzeugung' auch solche Vergangenheitsreferenzen einbeziehen, die dem kulturellen Gedächtnis entstammen und innerhalb der gesamtgesellschaftlichen Erinnerungskultur bislang keine oder eine sozial nur eng begrenzte Wirkung entfalten konnten. Sie können gesellschaftlich marginalisierte, unterdrückte oder in Vergessenheit geratene Aspekte der Vergangenheit aufgreifen und somit auf Defizite, unhinterfragte Annahmen, blinde Flecke oder einseitige Perspektivierungen innerhalb der gesellschaftlich zirkulierenden Vergangenheitsversionen aufmerksam machen. Durch die Darstellung vergessener oder marginalisierter Themen schaffen fictions of memoiy die Voraussetzung dafür, dass jene erinnerbar werden. Indem das Vergessene im Medium der Fiktion modellhaft als erinnerungswürdig ausgelegt wird, wird die Verbindlichkeit der gesellschaftlich etablierten Grenze zwischen kollektiv Erinnertem und Vergessenem kritisch hinterfragt. Neben mannigfachen Referenzen auf die soziale Dimension (z.B. verschiedene Erinnerungsgemeinschaften bzw. Träger des kollektiven Gedächtnisses) können fictions of memoiy außerdem zahlreiche Bezüge auf die materiale Dimension von Kollektivgedächtnissen integrieren. Die materiale Dimension der Erinnerungskultur konstituiert sich aus der Gesamtheit aller Texte der Kultur, die Inhalte und Formen der kollektiven Gedächtnisse zum Ausdruck bringen. Unter diese textuellen Gedächtnismedien fallen literarische Darstellungen, Gedichte, Gesetzestexte oder wissenschaftliche Abhandlungen ebenso wie Denkmäler und Archive; es sind also kulturelle Artefakte im weitesten Sinne gemeint (vgl. Posner 1991, 2003). Ficti-
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ons of memory eignen sich Elemente dieser Gedächtnismedien — etwa Textfragmente, Topoi oder Metaphern, Plotstrukturen, Gattungskonventionen, Bilder oder Sprichwörter — an und aktualisieren diese zum Zwecke der Sinnanreicherung als interpretative Referenzfolie der eigenen Erzählung. Die primären Strategien der literarischen Aneignung der materialen Dimension der Erinnerungskultur stellen sich als unterschiedliche Ausprägungen der Intertextualität, Interdiskursivität und Intermedialität dar. Zur Gedächtnisstiftung können fictions of memory qua Intertextualität Einzeltextoder Gattungsreferenzen .einspielen' (vgl. Lachmann 1990, S. 11). Auf diese Weise schreiben sie literarische Konstituenten in ein innerliterarisches Gedächtnis ein und machen sie zum Teil einer (literarischen) Tradition. Darüber hinaus verleihen sich fictions of memory mittels intertextueller Verweise auf das kulturelle Erbe selbst ein Gedächtnis und ordnen sich in eine bestimmte Gedächtnistradition ein. 139 Verfahren der Intertextualität sorgen dafür, dass Texte an das literarische Gedächtnis einer Kultur zurückgebunden werden. Durch die Bezugnahme auf Zitate, Gattungsmuster, Plotstrukturen, Motive, Figuren oder sprachliche Besonderheiten unterschiedlichster (Prä-)Texte machen sich literarische Werke stets auch einen Teil der gedächtnisstiftenden Bedeutungspotentiale des Prätextes zu Eigen (vgl. Haverkamp/Lachmann 1991, S. 21), die sie affirmieren oder aber kritisch hinterfragen können. Bei ihrer Gedächtniserzeugung durch Intertextualität können fictions of memory auch Elemente, Zitate oder sprachliche Besonderheiten aus nichtliterarischen Texten, wie Zeitungsausschnitte, Gerichtsprotokolle oder Reiseberichte sowie nicht primär schriftlich verfasste Kommunikationsmedien wie bildende Kunst, Film oder Musik aktualisieren und so prinzipiell das gesamte Spektrum der um Erinnerungshoheit konkurrierenden Diskurse evozieren. Die Bezugnahme auf verschiedenartige Gedächtnismedien hat nicht nur eine Intensivierung der Erinnerungsfunktion eines Mediums zur Folge, sondern auch eine formale Hybridisierung. Sie ermöglicht eine Reflexion der medienspezifischen Prägekraft. Als soziokulturell distinkte Instrumente der Kommunikation haben Medien keinen darstellenden, sondern einen aktiv gestaltenden Charakter: Sie prägen die Inhalte, die sie vermitteln, auf je spezifische Weise. Systemübergreifende Bezüge auf verschiedene Textsorten machen deren je differentes Erinnerungspotential, d.h. ihr medienspezifisches Leistungsvermögen, aber auch die strukturellen Begrenzungen einzelner Medien bei der Gedächtniskonstruktion beobachtbar. Neben einem breiten Spektrum variabel gestaltbarer intertextueller und intermedialer Referenzen sind fictions of memory auf ein soziales Kommunikationssystem
139 Zu Recht bezeichnet Lachmann (1990, S. 36) Literatur daher als „mnemonische Kunst par excellence, indem sie Gedächtnis für eine Kultur stiftet; das Gedächtnis einer Kultur aufzeichnet; Gedächtnishandlung ist; sich in einem Gedächtnisraum entwirft, in den die vorgängigen Texte über Stufen der Transformation aufgenommen werden. Texte repräsentieren das ausgelagerte materialisierte Gedächtnis, d.h. das Gedächtnis, das sich in manifesten Zeichen, im »äußeren1 Schreiben materialisiert."
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besonders eng bezogen: nämlich auf den Spezialdiskurs 140 der zeitgenössischen Erinnerungs- und Identitätstheorien. Im Medium der Fiktion werden vergangene Erlebnisse nicht nur vergegenwärtigt. Vielmehr werden auch gesellschaftlich virulente Vorstellungen von den Besonderheiten der Gedächtnis- und Identitätskonstitution reflektiert. Die Reflexion des Prozesses und der Probleme retrospektiver Sinnstiftung, also der konstruktive, ephemere und prinzipiell unzuverlässige Charakter von Erinnerungen, avanciert insbesondere in zeitgenössischen fictions of memory zum zentralen Gegenstand. Neben dem ,Was' gehört auch das ,Wie' des Erinnerns zu den konstitutiven Bezugspunkten dieser Gedächtnisgattung. Die selbstreflexive Dimension zeitgenössischer fictions of memoiy materialisiert sich in expliziten Reflexionen von Figuren oder Erzählinstanzen ebenso wie sie in narrativen Formen und Strukturen implizit zur Anschaulichkeit gelangt. Die selbstreflexive Problematisierung der Rekonstruktion und Repräsentation des Erinnerten wird in den fictions of memoiy damit selbst zum Objekt der Erinnerung. Jenseits expliziter bzw. explizierbarer Formen und Inhalte der Erinnerung sind Erinnerungskulturen durch ein breites Spektrum impliziter Erinnerungsmuster bzw. -strukturen präformiert. Zu diesen nicht-intentionalen Erinnerungs formen zählen pränarrative, zumeist unbewusst wirkende Deutungsschemata, Wahrnehmungsschablonen, Kollektiworstellungen, kulturelle Symbolik oder Stereotypen. Eine weitere Besonderheit der Selektionsstruktur der fictions of memoiy besteht darin, dass sie auch auf diese nicht-narrativ verfassten Elemente, die „die mentale Kultur als eine Menge von Codes" (Posner/Schmauks 2001 [1998], S. 350) konstituieren, Bezug nehmen können. „Texte", so hebt auch Nicolas Pethes (1999, S. 58) hervor, „haben offensichtlich das Potential, solches zu memorieren, das sie gar nicht explizit benennen. [...] Die Texte, die sich nicht im einfachen Bezug auf ein Leben festlegen, bleiben offen, immer noch ein Anderes', nicht Benanntes, mitzuerinnern." Die eminente Relevanz der impliziten Erinnerungsformen für die individuelle wie auch kollektive Gedächtnisbildung wurde bereits betont: Solche nichtintentionalen, überindividuell wirkenden Wissensstrukturen nehmen durchgreifenden Einfluss auf die Verarbeitung bestimmter Erlebnisse und präformieren daher die Bedeutungskonstitution in beachtlichem Maße. Implizite Formen der Erinnerungskultur erweisen sich als die .blinden Flecke', die unbemerkten Strukturen der Gedächtnisse, in denen sich historisch und kulturell variable Kollektiworstellungen sowie ideologische Präsuppositionen niederschlagen. Geht man davon aus, dass ein „Spezifikum mentalen Handelns im fiktionalen Text darin [besteht], daß auch innere Vorgänge verbalisiert werden müssen" (Gutenberg 2000, S. 97), so wird
140 Der Begriff,Spezialdiskurs' bzw. ,spezialdiskursive Elemente' geht auf Jürgen Links (1988) Modell von Literatur als Interdiskurs zurück, das an Luhmanns Systemtheorie und Foucaults Diskurstheorie anknüpft. Im Gegensatz zu interdiskursiven Elementen, die zur .Reintegration' und .kulturellen Verzahnung' mit anderen Diskursen beitragen, sorgen spezialdiskursive Elemente für eine zunehmende Ausdifferenzierung der gesellschaftlichen Wissensordnungen in disparate, spezialisierte Teilsysteme (vgl. ebd., S. 285f.).
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deutlich, dass mit der literarischen Bezugnahme auf unbewusst prägende Codes grundsätzlich die Möglichkeit der Versprachlichung bzw. der Artikulation verbunden ist. Die Prosafiktion vermag jene pränarrativen Bedingungen zu offenbaren, die in anderen Diskursen unartikuliert bleiben. Mit der literarischen Bezugnahme auf implizite Formen der Erinnerungskultur ist ein weiteres Spezifikum des Textrepertoires der fictions of memory angesprochen, nämlich ihre Aktualisierung von kulturell verfügbaren Erzählmustern. Bereits der Prozess der Selektion, also die Konstitution der paradigmatischen Ebene, ist mit syntagmatischen Konfigurationen verbunden, umfasst doch das kulturelle Gedächtnis nicht nur disparate Vergangenheitsreferenzen, sondern auch soziokulturell variable Plotstrukturen, Narrationsmuster oder Gattungskonventionen. 141 Jede Kultur stellt ihren Mitgliedern ein begrenztes Repertoire prototypischer Erzählschemata zur Verfügung, die bei der narrativen Konfiguration von Wissens- und Erfahrungselementen mehr oder weniger flexibel handhabbar sind. Solche gesellschaftlich akzeptierten Geschichtenschemata liefern formale Regeln der narrativen Strukturierung sowie normative inhaltliche Vorgaben, etwa unifizierende Konzepte von Lebensgeschichten. Dass fictions of memory präfiguriert sind, impliziert, dass sie neben bestimmten Inhalten eines kulturellen Begriffsnetzes auch bereits bestehende narrative K o n figurations formen aktualisieren. Erinnerungsinhalte werden in den fictions of memory nicht beliebig miteinander verknüpft. Im Gegenteil ist ihre narrative Strukturierung durch bereits semiotisierte, kulturell vorherrschende Erzählstrukturen restringiert. Soll das Textrepertoire der fictions of memory erschöpfend erfasst werden, müssen über ihre Bezogenheit auf die vorgängige kollektive und symbolische Wirklichkeit hinaus auch fiktionale Privilegien der Selektion ihrer Elemente berücksichtigt werden. Zwei solcher Privilegien sind hier hervorzuheben: zum einen die Integration von kontrafaktischen Elementen und zum anderen die von fiktiven Konstituenten. 142 Die Selektionsstruktur der fictions of memory ist nicht der Faktentreue verpflichtet. Potentiell referentialisierbare Vergangenheitsbezüge können in den fictions of memory — etwa nach Maßgabe gruppenspezifischer Relevanzkriterien oder individueller Sinnbedürfnisse — bewusst verzerrt oder verfälscht werden. Überdies können Romane dieser Gattung auch auf fiktionale Elemente Bezug nehmen. Die für Literatur konstitutiven Grenzüberschreitungen basieren auf der Möglichkeit, kulturell getrennte Bereiche anklingen sowie Reales und Fiktives in einen Dialog treten 141
Zu Recht betont Erll (2003a, S. 139f.) daher, dass Ricceurs Unterscheidung zwischen gesellschaftlicher Wirklichkeit als paradigmatischer und literarischer Konfiguration als syntagmatischer Ordnung modifiziert werden muss. Angesichts seiner kulturellen Präformation integriert der einzelne Text nicht nur einzelne (inhaltliche) Elemente des kulturellen Begriffsnetzes, sondern auch bestehende strukturelle Konfigurationen, wie Narrationsmuster, Plotstrukturen oder Mikroerzählungen. Wie durchgreifend solche Narrativierungsformen die Erinnerung prägen, wurde in Kapitel II.2.4 erläutert.
142 Die fiktionalen Privilegien des historischen Romans können analog hierzu konzipiert werden. Vgl. zu den Selektionsprivilegien des historischen Romans v.a. Nünning (1995a, S. 173-199).
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zu lassen. Solche fiktiven Elemente weisen keine „Objektreferenz" (Iser 1993 [1991], S. 21) auf; sie entstammen einer (vorerst) idiosynkratischen, individuellen Vorstellungswelt. Der literarische Text operiert mit ihnen im Sinne eines ,Als ob' (Vaihinger 1911): Durch Akte des Fingierens entwirft er probeweise mögliche Welten, bei denen der eindeutige Realitätsbezug aufgehoben ist. Bezogen auf die fictions of memory bedeutet dies, dass fiktive, bislang nicht realisierte oder realisierbare Erinnerungsinhalte und -formen neben das kollektiv Erinnerte und Bedeutsame gestellt werden können. Die Integration von fiktionalen und kontrafaktischen Erinnerungselementen und hiermit der Entwurf alternativer Versionen der Erinnerungswirklichkeit verweisen auf die Kontingenz lebensweltlicher Kollektivgedächtnisse. Sie lenken das Augenmerk auf die prinzipielle Variabilität und Perspektivität von Erinnerungskulturen, mithin auf ihre nicht realisierten Möglichkeiten. Da das kulturell verfügbare Repertoire an Formen und Inhalten von Erinnerungen faktisch unendlich groß ist, können literarische Werke ihm niemals in seiner Totalität gerecht werden. Sinnstiftung basiert auf Selektion. Damit literarische Gedächtnisnarrative eine ^Antwort' auf erinnerungskulturelle Anforderungen anbieten können, müssen sie sich gegenüber der Gesamtheit des vorgängigen, erinnerungssymbolischen Materials hochgradig selektiv verhalten. Bereits die Selektion von spezifischen Elementen trägt zur Sinnkonstitution der fiktionalen Welt bei: Zum einen bedingt eine Auswahl immer zugleich einen Ausschluß von zahllosen anderen Elementen und verleiht den selegierten Elementen dadurch einen spezifischen, durch Differenzmerkmale begründeten Stellenwert. [...] Zum anderen herrschen zwischen den ausgewählten Elementen [...] bestimmte quantitative und qualitative Dominanzverhältnisse, die niemals bedeutungsneutral sind. (Gutenberg 2000, S. 92) Durch bewusste Selektionsentscheidungen bringen literarische Texte konstitutive Erfahrungen und Identitätskonzepte bestimmter Erinnerungsgemeinschaften zur Anschauung, während die Gedächtnisinhalte anderer Gruppen oder Personen unterrepräsentiert oder völlig unberücksichtigt bleiben. Die Selektionsstruktur der fictions of memory trägt demzufolge nicht nur zur temporalen und lokalen Situierung des Erinnerten bei, sondern — und das ist mit Blick auf den Streit um Erinnerungen viel wichtiger - liefert auch Aufschluss darüber, welche Aspekte der vergangenen Erfahrungswirklichkeit überhaupt als erinnerungswürdig betrachtet werden und wessen Erfahrungen dem Vergessen preisgegeben werden. Indem fictions of memory Elemente aus der vorgängigen Erinnerungskultur lösen, rücken „die Bezugsfelder als solche in den Blick, da erst der selektive Eingriff in sie und die sich darin anzeigende Umstrukturierung ihrer Organisationsform diese als Bezugsfelder gewärtigen läßt" (Iser 1993, S. 24). Durch die für das Textrepertoire kennzeichnende „Spaltung in solche Elemente, die im Text aktualisiert werden, und in solche, die inaktiv bleiben" (ebd., S. 25) greifen fictions of memory gestaltend in den Kampf um Erinnerungshoheit ein. Schon angesichts fiktionaler Privilegien bei der Gestaltung des Textrepertoires unterscheiden sich fictions of memory also grundlegend von anderen kulturellen Narrativierungsformen. Sie vermögen erinnerungskulturelle Leistungen zu erfüllen, die
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von konkurrierenden Diskursformationen nicht zu erbringen sind. Durch die Darstellung von gesellschaftlich Vergessenem oder Verdrängtem bezieht das Symbolsystem Literatur diese Erfahrungen auf die Erinnerungskultur zurück und macht sie erinnerbar. Indem fictions of memoiy kulturell getrennte Bereiche der Erinnerungskultur vereinen und diese modellhaft in einen Dialog mit möglichen, auch fiktiven Erinnerungen treten lassen, bieten sie neue, in der Realität so nicht verfugbare Perspektiven auf die Kollektiwergangenheit. Der intertextuelle Dialog auch mit spezialdiskursiven Einsichten zum Zusammenhang von Kultur, Gedächtnis und Identität erlaubt zudem die gleichzeitige selbstreflexive Beobachtung des Inszenierten. Er lässt involvierte Erinnerungsperspektiven mit kritischbeobachtenden eine Verbindung eingehen und kann damit einen Beitrag zur Reflexion der Bedingungen von retrospektiver Sinnstiftung leisten. Die Prozesse der literarischen Aneignung der erinnerungskulturellen Wirklichkeit zeigen, dass fictions of memoiy keine bereits vorgängig existente Wirklichkeit abbilden, sondern neuartige, in der Erinnerungskultur nicht verfugbare Vergangenheitsmodelle entwerfen. Allein die Selektion von Vergangenheitsreferenzen kann die Besonderheiten und das Leistungsvermögen der fictions of memoiy jedoch nicht hinlänglich erklären. An der Konstruktion von möglichen Gedächtniswelten hat auch der Prozess der Anordnung und diskursiven Perspektivierung der selegierten Elemente maßgeblich Anteil. Diesen narrativen Konfigurationsprozess, also die temporale, räumliche und personale Relationierung der Elemente des Textrepertoires und deren diskursive Perspektivierung fasst Ricoeur unter dem Begriff der Mimesis II zusammen.
1.4.2 Poietische Erinnerungsnarrative Da fiktionale Texte ihre „Wirkung nicht allein aufgrund dessen, was sie erzählen, sondern auch und v.a. dadurch, wie sie erzählen" (Erll/Roggendorf 2002, S. 83), entfalten, trägt neben dem Textrepertoire auch die syntagmatische Strukturierung der einzelnen, auf die extraliterarische Erinnerungskultur verweisenden Elemente zur literarischen Gedächtnisbildung bei. Die Bedeutung der narrativen Anordnung besteht darin, dass sie die selegierten Segmente erst in eine bedeutsame Beziehung treten lässt und so eine kohärente Sinnkonstitution ermöglicht. Der spezifische Sinn - sei es des individuell oder kollektiv Erinnerten — ist in beträchtlichem Maße durch die jeweilige narrative Konfiguration präformiert. Von der Wahl eines Narrationsmusters oder einer Plotstruktur hängt auch das Bedeutungspotential bzw. die semantische Dimension des Erinnerten ab. Da das emplotment selegierte Elemente qua Relationierung mit Bedeutung versieht, impliziert Narrativierung stets schon eine Interpretation des Dargestellten. Ricceurs Begriff der Mimesis II beschreibt diesen Prozess der textuellen Konfiguration der selektierten Elemente der Mimesis I zu einem neuen, fiktionalen Ganzen. Qua Akte der „poetischen Transposition" (Ricceur 1988, S. 94) wird das
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Vorverständnis der Welt der Mimesis I zur Fabelkomposition der Mimesis II. Der Akt der Konfiguration markiert einen Wechsel von der paradigmatischen zur syntagmatischen Ebene des narrativen Textes. Die Mimesis II erschließt „die Welt der dichterischen Komposition und begründet [...] den literarischen Charakter des literarischen Kunstwerkes" (ebd., S. 88); daher betreten wir mit ihr, so Ricceur (ebd., S. 104), das „Reich des AIs ob". Ricceur (ebd., S. 88) definiert die Mimesis II als einen „konkreten Prozeß, durch den die Textkonfiguration zwischen der Vorgestaltung (prifiguration) des praktischen Feldes und seiner Neugestaltung (refiguration) in der Rezeption des Werkes vermittelt." (Ebd., S. 88) Die textuelle Konfiguration erfüllt eine vermittelnde Funktion, die das pränarrative Wissen, das Personen von der symbolischen Ordnung der Welt haben (Mimesis I), zu den im Rahmen des Rezeptionsprozesses vorgenommenen Bedeutungszuschreibungen in Beziehung setzt (Mimesis III). Durch die „Konfigurationstätigkeit" (ebd., S. 106) werden vorerst disparate Elemente der extratextuellen Sinnsysteme syntagmatisch, etwa in einem kausalen oder temporalen Verhältnis, verknüpft und so in eine übergeordnete Geschichtsstruktur überführt: „Kurz, die Fabelkomposition ist der Vorgang, der aus einer bloßen Abfolge eine Konfiguration macht." (Ebd., S. 106) So gewinnt ein vorerst kontingentes Einzelelement seine Bedeutung erst durch seine Einbettung in einen diachron strukturierten Sinnzusammenhang, der „seinen Beitrag zur Entwicklung der Fabel" (ebd.) festschreibt: „Dieser Ubergang vom Paradigmatischen zum Syntagmatischen ist gerade der Schritt zwischen mimesis I und mimesis II. Er ist das Werk der Konfigurationstätigkeit." (Ebd., S. 106) Die spezifische Leistung der Erzählung besteht daher, so Ricceur (ebd.), in der „Synthesis des Heterognen". Die für die literarische Erzählung konstitutive Integrations- bzw. Vermittlungsfunktion verdankt sich ihrer Fähigkeit, inhaltliche und formale Elemente verschiedenartiger Symbolsysteme aus ihrem ursprünglichen Kontext zu lösen und zu einem neuen, imaginativen Ganzen zu synthetisieren. Die literarische Konfiguration ist daher nicht mimetisches Abbild extratextueller Realität, sondern ganz im Gegenteil eine produktive und das heißt poietische Weise der Welterzeugung. Das spezifische Leistungsvermögen der fiktionalen Gedächtnisdarstellung beruht darin, dass sie vorerst disparate, d.h. lebensweltlich unverbundene Elemente, wie sie in verschiedenen sozialen (einzelne Personen oder Erinnerungsgemeinschaften) und materialen (unterschiedliche fiktionale und nicht-fiktionale Gedächtnismedien) Dimensionen der Kultur memoriert werden, zusammenführt und diese modellhaft zu neuen Gedächtnisversionen strukturiert. Als reintegrierender Interdiskurs (vgl. Link 1988) können fictions of memoty prinzipiell alle Erinnerungsdiskurse des soziokulturellen Kontexts anklingen lassen. Sie können sie probeweise miteinander in einen Dialog treten lassen, sie in neuartige Erinnerungs- und Identitätszusammenhänge überführen und Auseinandersetzungen, gesellschaftliche Normenund Wertkonflikte sowie Konkurrenzverhältnisse zwischen den differenten Vergangenheitsversionen inszenieren. Als Experimentierfeld kollektiver Erfahrung (vgl. Reinfandt 1997, S. 37) kann im Medium der fictions of memoty etwa die gesellschaftlich dominante Vergangenheitsrepräsentation mit den subversiven Gegengedächtnissen eine Verbindung eingehen; ebenso können bestehende Gedächtnisver-
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sionen durch vergessene Elemente erweitert und neu gedeutet werden. Im Medium der Fiktion können auf diese Weise nicht nur die Plausibilität und Legitimität bestimmter Gedächtnisversionen .spielerisch' abgewogen, sondern auch Wechselwirkungen, Neuformationen und sogar Hybridisierungen der kulturell koexistenten, oftmals sogar auf Ausschluss angelegten Gedächtnisse und Identitäten erprobt werden. Der Konfigurationsprozess ist folglich ein poetischer Akt der Exploration alternativer Erinnerungswelten, der die kollektive Erfahrungswirklichkeit imaginativ neu strukturiert. Isers Fiktionstheorie erlaubt es, das von Ricceur angesprochene Zusammenwirken der kulturellen Präfiguration (Mimesis I) und der narrativen Konfiguration der ausgewählten Elemente zu einem fiktionalen Ganzen (Mimesis II) zu spezifizieren. Der literarische Konfigurationsvorgang der fictions of memory beruht auf grenzüberschreitenden Akten des Fingierens, durch die Elemente unterschiedlicher, auch gesellschaftlich exklusiver Gedächtnisrahmen ebenso eine Beziehung eingehen können wie Reales und Imaginäres. Durch den Zusammenschluss von Elementen der Erinnerungskultur mit Imaginärem werden alternative Erinnerungswelten erzeugt, die die Verbindlichkeit des kollektiv Erinnerten in Frage stellen und dem mnemonischen Imaginären probeweise kollektiven Geltungsanspruch verleihen. Damit können fictions of memory zum Antrieb fur Veränderungen bestehender Vergangenheitsdeutungen werden und einer Neudefinition der kulturellen Erinnerungswelten den Weg bereiten. Neben der syntagmatischen Verknüpfung der selegierten Elemente kommt der Gesamtheit aller literarischen Darstellungsverfahren, also den „poetologischen Anordnungsstrategien" (Müller 1988, S. 20), eine entscheidende Rolle bei der Erzeugung poietischer Gedächtniswelten zu. Bei ihrem „Aufbau einer Welt aus anderen Welten" (Goodman 1984 [1978], S. 19) operieren fictions of memory mit einer Vielfalt genuin ästhetischer Formen, die neben den dargestellten Inhalten einen maßgeblichen Beitrag zur Vermittlung von bestimmten Gedächtnis- und Identitätskonzepten leisten. Die Perspektivierung des Geschehens durch Erzähl- und Fokalisierungsinstanzen, aber auch Plotstrukturen, Spezifika der Zeitstruktur, Semantisierung des Raums und Gedächtnismetaphern sind einige der Verfahren, die für die Inszenierung von Erinnerungen und Identitäten entscheidend sind und die Aufschluss über die in den Romanen angelegten Vorstellungen von der Funktionsweise von Erinnerungen geben.143 Ohne die Vielzahl möglicher literarischer Darstellungsverfahren an dieser Stelle vollständig explizieren zu wollen, sei kurz ein für die fictions of memory besonders signifikantes Darstellungsverfahren erläutert: die Semantisierung der Zeit. Als konstitutiv für die fictions of memory erweist sich ihre .Rhetorik des damalsund-heute' (Demetz 1964), die sich in einem Spannungsverhältnis zwischen verschiedenen Zeitebenen niederschlägt. In fictions of memory wird die Vergangenheit
143 Vgl. hierzu die in Kap. III.2 untersuchte Rhetorik der Erinnerungen und Identitäten.
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immer mit Blick auf das Hier-und-Jetzt rekonstruiert. Romane, die diesem Genre zuzurechnen sind, operieren mit kopräsenten Zeitperspektiven. Dabei kommt es zu einem — mehr oder minder ausgeprägten — Oszillieren zwischen Vergangenem und Gegenwärtigem, das für die Inszenierung und Reflexion von Erinnerungen drei herausragende Funktionen erfüllt: Erstens veranschaulicht das Mäandern zwischen dem Damals des Erlebens und dem Jetzt des Erinnerns die zentrale Funktionsweise von Erinnerungen, nämlich ihr oftmals sprunghaftes Operieren, bei dem Elemente unterschiedlicher Zeitebenen assoziativ miteinander in Verbindung gebracht und zu einer Bedeutungseinheit verdichtet werden. So wird sichtbar, dass Erinnerungen mit den Rahmen, innerhalb derer sie aktualisieit werden, verschränkt sind und als gegenwartsgebundene Rekonstruktionen des Vergangenen zu konzipieren sind. Zweitens illustriert diese Zeitstruktur das besondere Leistungsvermögen von Erinnerungen: Als retrospektive Sinnstiftungen antworten sie auf gegenwärtige Herausforderungen, durch ihre spezifischen K o n figurations weisen plausibilisieren sie diachrone Veränderungen und stellen Vergangenes — idealerweis e — i n einen sinnhaften Bezug zur Gegenwart. Drittens schließlich schafft das temporale Spannungsverhältnis zwischen dem aktuellen Erinnerungsakt und dem Erinnerten die wesentliche Voraussetzung für eine selbstreflexive Distanzierung von dem vergegenwärtigen Geschehen. Durch eine temporale Akzentverschiebung auf die Gegenwart können die Bedingungen der retrospektiven Sinnstiftung selbst zum Gegenstand der Reflexion werden. Vor allem in zeitgenössischen fictions of memory ist eine zunehmende Tendenz zu beobachten, das Augenmerk auf die aktuelle Situation des Erinnerungsabrufs zu lenken und die Modalitäten des Erinnerns selbst zum Objekt der Erinnerung zu machen, eine Tendenz, die auf das gestiegene Bewusstsein für die Grundprobleme der identitätsstiftenden Vergangenheitsaneignung schließen lässt. Spezifika der Zeitdarstellung tragen in fictions of memory folglich nicht nur zur Anordnung des Geschehens bei. Durch ihre Semantisierung veranschaulichen sie auch die Funktionsweise von Erinnerungen und bieten die Möglichkeit zur kritischen Reflexion von Gedächtnisstiftung.
1.4.3 Gesellschaftliche Rückwirkungen und Funktionspotentiale Da die literarische Konfiguration des Erzählten erst im Rezeptionsakt zu ihrer vollen Entfaltung kommt, weist sie letztlich immer schon über eine rein textimmanente Betrachtungsweise hinaus. Daher, so Ricceur (1988, S. 115), schließt sich der „Kreis der mimesis" mit der Rückwirkung „der Welt des Textes" (ebd., S. 114) auf die kognitiven Prozesse und Strukturen, die beim Rezeptionsprozess in Gang gesetzt werden. Die Mimesis III bezeichnet den „Schnittpunkt zwischen der Welt des Textes und der des Zuhörers oder Lesers" (ebd.), also zwischen dem literarisch erzeugten „Vorschlag einer Welt" (ebd., S. 127) und der tatsächlichen Welt der Handlung. Da die fiktionale Welt einer Aktualisierung bedarf, „vollendet" erst der Rezipient das Werk: „Der Akt des Lesens [...] ist der letzte Träger der Refiguration,
150
Fiktionale Weisen der Erinnerungs- und Identitätsbildung
der Neugestaltung der Welt der Handlung im Zeichen der Fabel. [...] Der Text wird erst in der Wechselwirkung zwischen Text und Rezipienten zum Werk." (Ebd., S. 122) Wesentliches Ergebnis der Bedeutungszuschreibungen der Leser ist eine „ikonische Bereicherung' der Wirklichkeit und des menschlichen Handelns (vgl. ebd., S. 127). Durch die interpretative Erschließung der im Text entworfenen Alternativwelten werden neue, bislang unbekannte Aspekte der extratextuellen Wirklichkeit zugänglich: „Diese Texte verstehen heißt, unter den Prädikaten unserer Situation alle die Bedeutungen zu interpolieren, die aus einer bloßen Umwelt eine Welt machen. Tatsächlich verdanken wir den Werken der Fiktion zum großen Teil die Erweiterung unsers Existenzhorizontes." (Ebd., S. 126f.) Die Inhalte und Formen des literarischen Textes, denen im Rezeptionsakt ein spezifischer Sinn zugewiesen wird, verändern so auch die Wahrnehmung und Deutung der außerliterarischen Sinnwelten einer Kultur. Literatur wird mithin zur formenden Kraft innerhalb der individuellen und kollektiven Sinnstiftungsprozesse: Sie wirkt durch den konstruktiven Rezeptionsakt auf die Welt des Handelns und auf die symbolischen Ordnungen einer Kultur zurück. So gründet auch die Bedeutung literarischer Inszenierungen von möglichen Gedächtnis- und Identitätskonstruktionen auf ihrer erinnerungskulturellen Wirksamkeit: Fiktionale Gedächtniswelten können zu einer Neuperspektivierung bestehender Vergangenheitsrepräsentationen und Identitätsmodelle beitragen. Indem sie in poietischen Akten des Fingierens Erinnertes, wie es in kulturellen Symbolsystemen vermittelt wird, aus ihrem ursprünglichen Kontext lösen und im Medium der Fiktion mit Imaginärem anreichern, stellen fictions of memory dem Rezipienten alternative Vorstellungen von Erinnerung zur Verfügung. Durch die Darstellung gesellschaftlich verdrängter oder vergessener Aspekte der Kollektiwergangenheit werden diese erst erinnerbar gemacht und können damit Einfluss auf nachfolgende .Sinnbildungen über Zeiterfahrung' (Rüsen) nehmen. Indem literarische Texte zudem gemeinhin kulturell unverbundene Symbolwelten zusammenführen, legen sie blinde Flecke vorherrschender Vergangenheitsversionen offen und bieten alternative Erinnerungs formen an. In diesem Prozess vergegenwärtigt Literatur nicht nur das Vergessene; vielmehr stattet sie es auch mit subversiver Gegenmacht gegenüber der bestehenden Erinnerungskultur aus. Durch die imaginativen Grenzüberschreitungen können fiktionale Texte zur kritischen Reflexion sowie zur ständigen Erneuerung individueller und kollektiver Erinnerungen anregen. Literatur, so resümiert Zapf (2002, S. 68), ist eine reflexive Form kultureller Selbsterneuerung, die in der Inszenierung ungelebter Lebensmöglichkeiten zugleich kollektive Verdrängungen an die Oberfläche bringt und so der Kultur die Erfahrung ihrer vitalen Komplexität zurückspiegelt. [...] Literatur hält ihre Produktivität lebendig, indem sie das kulturelle Gedächtnis in immer neuer Weise an das biophile Gedächtnis der menschlichen Gattung zurückbindet.
Fictions of memory können - bei entsprechender rezipientenseitiger Aneignung — auf die Erinnerungskultur zurückwirken und mithin selbst als gesellschaftlich bedeut-
Literatur als Medium der Inszenierung von Erinnerungen
151
sames Medium der Erinnerung, der kulturellen Selbstreflexion oder der Orientierungsbildung fungieren. Kurz: Fictions of memory sind sowohl Medien der Inszenierung als auch Medien der Konstruktion und Reflexion von Erinnerungen und Identitäten. Das Zugehörbringen und Legitimieren kulturell marginalisierter Gegengedächtnisse, der Entwurf von alternativen Identitätsmodellen und die Reintegration gemeinhin kulturell getrennter Gedächtniswelten sind nur einige der vielfältigen Funktionen, die fictions of memory im Haushalt der Erinnerungskultur übernehmen können. Die Frage, wie Texte im Rezeptionsakt refiguriert werden und welche kulturökologischen Funktionen sie erfüllen, lässt sich, so Ricceur (1988, S. 88), auf der Basis der textuellen Struktur allein nicht beantworten. Zwar liefert der Text durch die Gesamtheit seiner „inneren Gesetze" (ebd.) „Anweisungen" zu seiner Dechiffrierung; diese können von Rezipienten allerdings „schöpferisch ausgeführt werden" (ebd., S. 122). Wie andere erinnerungsrelevante Bezugspunkte auch können gerade literarische Texte aufgrund der ihnen eigenen Vieldeutigkeit von verschiedenen Personen und Gruppen ganz unterschiedlich interpretiert und funktionalisiert werden. Vertreterinnen der kognitiven und pragmatischen Narratologie144 weisen darauf hin, dass auch fiktionale Texte entsprechend kulturell geprägter und sozial vermittelter kognitiver Schemata und Frames rezipiert werden, die zu der „Naturalisierung" dieser Texte beitragen.145 Sie knüpfen damit an die von Bartlett elaborierte Einsicht in die Wirkmacht kulturspezifischer Geschichtenschemata an. Das Verstehen fiktiver Welten wird nicht allein vom Text, sondern ebenso vom Kontext, von kognitiven Strukturen und Dispositionen der Leser geleitet (vgl. Martinez/Scheffel 2002 [1999], S. 145). Literarische Werke werden im Lichte bereits etablierter Schemata gedeutet, vor deren Hintergrund die vermittelten Inhalte und Formen erst verstehbar werden.146 Sie werden dabei so interpretiert, dass sie an bestehende kognitive Strukturen sowie mentale Konzepte von prototypischen literarischen Formen anschließbar bleiben und rezipientenseitige Erwartungen erfüllen können: ,,[T]o naturalize a text is to bring it into relation with a type of
144 Gute Überblicke über die kognitive und pragmatische Narratologie geben Zerweck (2002) und Strasen (2002). Vgl. zu weiterführenden Beiträgen Fludernik (1996) sowie Jahn (1997). 145 Vgl. Fludernik (1996, S. 12), die diesen konstruktiven, kulturspezifischen Verstehensprozess in Anlehung an die frame tlxory von Schänk und Abelson (1977) folgendermaßen beschreibt: „Readers actively construct meanings and impose frames on their interpretations of texts just as people have to interpret real-life experience in terms of available schemata." Ganz im Sinne von Bartletts schemageleitetem Rezeptionsprozess geht es beim Naturaüsiemngsprozess, so Culler (1975, S. 134), darum, vorerst Fremdes oder Atypisches an vertraute Strukturen zu assimilieren: „The strange, the forma], the fictional, must be recuperated or naturalized, brought within our ken, if we do not want to remain gaping before monumental inscriptions." Vgl. zu diesem konstruktiven Rezeptionsprozess Kap. II.1.1. 146 Vgl. zum schemageleiteten Rezeptionsprozess Fludernik (1996), Jahn (1997) sowie Zerweck (2002, S. 219-242).
152
Fiktionale Weisen der Erinnerungs- und Identitätsbildung
discourse or model which is already, in some sense, natural and legible." (Culler 1975, S. 138) 147 Zentral ist, dass der Leser im Prozess der Naturalisierung zwischen verschiedenen und oftmals gleichermaßen plausiblen Alternativen wählen muss. Können textuelle Informationen nicht an bestehende Schemata angeglichen werden, so können literarische Texte zu Katalysatoren bei der Herausbildung von neuen oder der Modifikation bestehender kognitiver Strukturen werden. Die Aneignung von Literatur kann innovative Vorstellungen von Vergangenheit, Identität und Werten vermitteln und einer Veränderung kognitiver Strukturen den Weg ebnen. Angesichts des schemageleiteten Aneignungsprozesses haben literarische Texte als Medium der Erinnerungskultur weder überzeitliche noch eine für alle Mitglieder einer Gesamtgesellschaft gleichermaßen gültige Erinnerungsrelevanz. Vielmehr ist davon auszugehen, dass so genannte ,Interpretationsgemeinschaften' (vgl. Fish 1980) gemäß ihrem gruppenspezifischen ,Präferenzregelsystem' auf eine der im Text angelegten Deutungsmöglichkeiten überein kommen:' 4 8 Sozial
und
institutionell
vermittelte
Präferenzregelsysteme
wie
ideologische
Grundüberzeugungen oder literaturtheoretische Positionen [...] greifen bei der Rezeption von Literatur besonders stark in die Bedeutungszuschreibung ein, indem sie die kognitive Umwelt der Rezipienten prästrukturieren und so entscheidend beeinflussen, welche Kontexte überhaupt zugänglich sind. (Strasen 2002, S. 213)
Aufgrund des semantischen Uberschusses von Literatur und ihren .schwachen', also vieldeutigen Implikaturen (vgl. Strasen 2002, S. 213) kann das im Text angelegte Sinnpotential von anderen Interpretationsgemeinschaften different ausgelegt werden. 149 Auf der Basis innerliterarischer Analysen lassen sich die möglichen Funktionspotentiale von Literatur daher niemals erschöpfend bestimmen. Texte, die für eine Gemeinschaft von hoher Verbindlichkeit und affektiver Relevanz sind und damit Teil ihres kollektiv-episodischen Gedächtnisses bilden, mögen für andere Gruppen von marginaler Bedeutung sein und ihrem semantischen Gedächtnis angehören. O b ein bestimmter literarischer Text von einer Interpretationsgemeinschaft etwa affirmativ, d.h. als Bestätigung ihrer Vergangenheitsinterpretationen, oder subversiv, also als kritische Inszenierung von Gegenerinnerungen gelesen wird, ist daher nicht nur eine Frage inhaltlich-formaler Aspekte, sondern auch soziokultureller Kontexte sowie Rezeptionspraxen. Im Anschluss an die Einsichten neuerer funktionsgeschichtlicher Ansätze (vgl. Fluck 1997; Sommer 2000; Zapf 2002; Erll 2003a) ist daher davon auszugehen, dass literarische Texte nicht eine spezifische Funktion erfüllen, sondern über ihre
147
Zur ,Wirkung' von kulturellen Artefakten im Sinne von .Stimuli' vgl. Merten (1995).
148 Vgl. Wertsch (2002, S. 62-65), der in einem weitergehenden Sinn von „textual communities" spricht. 149
Die Rezeptionskonventionen des modernen Literatursystems sind, so S. J . Schmidt (1991 [1980]), durchgreifend von den so genannten Ästhetik- und Polyvalenzkonventionen geprägt, die einer eindeutigen Sinnzuschreibung entgegenstehen.
Literatur als Medium der Inszenierung von Erinnerungen
153
narrative Gesamtsstruktur Funktionsangebote (vgl. Nünning 1995a, S. 248) bzw. Wirkungs/w/e»//«/« zur Verfügung stellen, von denen im tatsächlichen Rezeptionsprozess allerdings immer nur partikulare, historisch und kulturell variable Aspekte zur Aktualisierung kommen. Beim Funktionspotential fiktionaler Erzähltexte handelt es sich, so Roy Sommer (2000, S. 328), um „eine vom Text her begründbare Annahme über die möglichen Effekte der narrativen Strategien, die den nacherzählbaren Inhalt eines literarischen Textes strukturieren und organisieren und damit für den Sinn entscheidend sind". Dieser Definition liegt die von Fluck (1997, S. 10) formulierte Einsicht zugrunde, dass literarische Texte „einer bestimmten inneren Organisation ihres Materials bedürfen, um Wirksamkeit zu erlangen [...]. Ihre soziale Funktion kann mit anderen Worten nur über eine ästhetische Wirkungsstruktur realisiert werden". Um diese ästhetische Wirkungsstruktur zu analysieren und Literatur in der Gesamtheit koexistierender und konkurrierender Systeme der Erinnerungskultur zu verorten, müssen die textinternen Phänomene konsequent kontextualisiert werden. Aufschluss über das kulturökologische Funktionspotential gewinnt man über eine Analyse der textinternen Gestaltung bzw. der narrativen Konfiguration und diskursiven Perspektivierung des Erinnerten. Bezogen auf die fictions of memory bedeutet dies, dass eine Untersuchung der narrativen Darstellungsverfahren Rückschlüsse auf mögliche, identitäts- und erinnerungsbezogene Refigurationen erlaubt und rezipientenseitige Bedeutungszuschreibungen begreifbar macht. Um die formalen und strukturellen Aspekte, mit denen Prozesse der Gedächtnis- und Identitätsbildung narrativ textualisiert werden, in den Blick zu bringen und hinsichtlich ihres Funktionspotentials vergleichbar zu machen, bietet sich der Rückgriff auf narratologische Analysekategorien an. Die Narratologie vermag nicht nur zu beschreiben, wie unterschiedliche Einzelelemente zu einem kohärenten Ganzen synthetisiert und wie spezifische fiktionale Gedächtnisnarrative produziert werden. Vielmehr kann sie auch Aufschluss darüber geben, wie formale und strukturelle Spezifika die Sinndimension literarischer Texte prägen. Unter dem Konzept .Rhetorik der Erinnerungen und Identitäten' werden im folgenden Kapitel formalästhetische Darstellungsverfahren aufgezeigt, die an der Inszenierung und Reflexion von Erinnerung und Identität beteiligt sein können und zur erinnerungsbezogenen Refiguration durch die Leserschaft beitragen. ***
Die Ausführungen zu den Besonderheiten von fiktionalen Erinnerungserzählungen lenken den Blick auf Konvergenzen und Unterschiede zu den in Kapitel II.1.3 sowie II.4.2 analysierten nicht-fiktionalen — individuellen sowie kollektiven — (Selbst-)Narrationen. Sowohl literarische als auch nicht-literarische Erinnerungsnarrationen stellen — dank ihrer Temporalisierungsfunktion — einen diachron strukturierten Verweisungszusammenhang her, bei dem Vergangenes, Gegenwärtiges und Zukünftiges komplexe Interrelationen eingehen. Erinnerungsnarrationen können Vergangenes so aufbereiten, dass die Gegenwart verständlich und die Zukunft planbar wird: „So ist nicht nur die Zukunft von der Gegenwart und diese von der Vergangenheit abhängig, sondern auch jene von diesen, bestimmen doch
154
Fiktionale Weisen der Erinnerungs- und Identitätsbildung
auch Gegenwartsdeutungen und Zukunftserwartungen, was als Vergangenheit gelten und wie diese qualifiziert werden kann." (Echterhoff/Straub 2004, S. 156) Auch fictions of memoiy sind (neben anderen Gedächtnisgattungen wie dem historischen Roman, 1 5 0 dem memoiy play oder fiktionalen Biographien) als bedeutsame fiktionale Medien der ,Sinnbildung über Zeiterfahrung' (Rüsen 1994) zu konzeptualisieren. Auf eine erste signifikante Parallele zwischen literarischen und nichtliterarischen Erzähltexten hat Jerome Bruner (1986) in seiner Definition des narrativen Modus aufmerksam gemacht. Narrationen beschäftigen sich mit dem Verlauf von intentionalen Bemühungen, mit der Realisierung oder dem Scheitern von planvollem Handeln. Durch die Darstellung von partikularen, subjektiven Schicksalen intendieren sie die Faszination der mentalen Vorstellungskraft. Eine zweite Parallele zwischen fiktionalen und nicht-fiktionalen Narrationen stellt ihre Bezogenheit auf extratextuelle Referenz weiten dar. Sowohl fiktionale als auch nichtfiktionale Texte speisen sich aus vorgängigen, pränarrativen Erfahrungswelten. Gegenüber dieser außertextuellen Wirklichkeit verhalten sich fiktionale und nichtfiktionale Texte ausgesprochen selektiv. Erinnerungserzählungen, die der Identitätsstiftung dienen, wählen aus dem potentiell verfugbaren Bestand an Referenzpunkten bestimmte Erlebnisse aus, während sie andere bewusst ausblenden. 151 Narrative Sinnstiftungen, gleich ob fiktionaler oder nicht-fiktionaler Natur, stellen also stets selektive Vergegenwärtigungen, keine Abbilder des Vergangenen dar. Sowohl nicht-fiktionale als auch fiktionale Erzählungen bedienen sich drittens des Verfahrens des Emplotment, um die selegierten Elemente in eine narrativ strukturierte Ordnung einzubetten und sie in einen sinnhaften, psychologisch intelligiblen Bezug zu stellen. 152 Die für literarische als auch für nicht-literarische Erzählungen konstitutive .Synthesis des Heterogenen' ist nur durch Verfahren des Emplotment zu erreichen. Viertens sind sowohl fiktionale als auch nicht-fiktionale Vergangenheitserzählungen darauf angelegt, auf ihren Entstehungskontext zurückzuwirken. Sie verkörpern Angebote an ihre Adressaten, sich auf eine gemeinsame Vergangenheitssicht einzulassen, und schaffen somit eine Grundlage für die Herstellung einer sozial geteilten Realität. Ebenso wie fiktionale Erzählungen blieben auch nicht-fiktionale Geschichten wirkungslos, wenn sie keine intersubjektive Aktualisierung und Validierung erfahren. Eine letzte Parallele zwischen literarischen und nicht-literarischen Erinnerungserzählungen besteht schließlich in ihrer .spezifischen Wahrheit'. Die Wahrheit dieser Erzählungen besteht nicht in einer
150 Vgl. zum historischen Roman als „fiktionales Medium narrativer Sinnbildung über Zeiterfahrung" Nünning (1995a, S. 109). 151 152
Zur Selektivität von nicht-fiktionalen Erzählungen siehe Brockmeier (1999). Deutlich wird damit einmal mehr, dass die Narrativierung von pränarrativen Erfahrungen ein grundlegendes Verfahren jeder Sinnstiftung ist und daher nicht — wie etwa von Hayden White nahe gelegt — als fiktionserzeugender Prozess anzusehen ist. Vgl. zu dieser Diskussion aus literaturwissenschaftlicher Perspektive v.a. Nünning (1995a, 1999).
Literatur als Medium der Inszenierung von Erinnerungen
155
detailgetreuen Wiedergabe der Vergangenheit, sondern darin, Vergangenheitsversionen zu schaffen, die an aktuelle Sinnbedürfnisse anschließbar bleiben. Identitätsstiftendes Erinnern geht stets mit einer konstruktiven Umdeutung, mit einer mythischen Verdichtung und Sinnanreicherung des Vergangenen einher. Zwischen fiktionalen und nicht-fiktionalen Vergangenheitserzählungen bestehen damit prononcierte Ähnlichkeiten, so dass sie in vielerlei Hinsicht als strukturgleich anzusehen sind. 153 Jenseits dieser Parallelen, dies fuhren die Ausführungen zu den Spezifika von fiktionalen Werken vor Augen, bestehen allerdings deutliche Unterschiede zwischen fiktionalen und nicht-fiktionalen Texten, die einer simplen Gleichsetzung dieser beiden Narrativierungsmodi entgegenstehen. Dazu gehört die eingeschränkte Referenz literarischer Texte, die vornehmlich auf die für Literatur konstitutiven ,Akte des Fingierens' zurückzuführen ist. Durch Privilegien der Selektion kann Literatur auch rein imaginäre, bislang uneingelöste Sinnwelten zur Darstellung bringen. Zur medienspezifischen Differenz des Symbolsystems Literatur tragen außerdem Besonderheiten der narrativen Vermittlung und diskursiven Perspektivierung bei. Als herausragendes und distinktives Charakteristikum literarischer Texte gilt ihr Operieren mit semantisierten Formen. Die besondere Dichte solcher semantisierter Strukturen hat zur Folge, dass Literatur in ausgeprägterem Maße als nicht-fiktionale Texte Komplexität bzw. Unbestimmtheit erzeugt. Die Kontingenz der Erfahrungswelt wird im Medium der Fiktion nicht begrifflich-diskursiv reduziert, sondern zugunsten ästhetischer Polyvalenz ,in Ehren gehalten'; Literatur widersetzt sich damit aller endgültigen und eindeutigen Kodierung und Symbolisierung. Ein dritter Unterschied besteht schließlich in den unterschiedlichen Handlungs- bzw. Rezeptionskonventionen, die bei dem Umgang mit fiktionalen und nicht-fiktionalen Texten wirksam werden. 154 Literarische Werke sind entpragmatisierte Medien, die probeweise neue Welten explorieren und den Rezipienten ein spielerisches ,Als ob' gestatten. Kurz: Zwischen fiktionalen und nicht-fiktionalen Erinnerungsnarrativen bestehen zahlreiche Wechselwirkungen und Interdependenzen, die vor allem mit Blick auf die Prozesse der Aneignung und Deutung von Vergangenem von Relevanz sind. Fiktionale und nicht-fiktionale Erzählungen interagieren in der Erinnerungskultur auf vielfältige Weise miteinander und beeinflussen sich wechselseitig. Dieser Austausch hat allerdings keineswegs eine Nivellierung der je symbolspezifischen Eigenarten und besonderen Leistungsspektren zur Folge.
153 Diese strukturelle Analogie impliziert nicht zuletzt, dass das von der narrativen Psychologie zur Verfügung gestellte Analyseinstrumentarium auch für die Untersuchung fiktionaler Texte fruchtbar gemacht werden kann. 154 Vgl. zu den Differenzkriterien von fiktionalen und nicht-fiktionalen Texten Nünning (1995a, S. 145-172).
2. Die Rhetorik der Erinnerungen und Identitäten: Komponenten der narrativen Inszenierung von Erinnerungen, Identitäten und Narrationen Eine Untersuchung literarischer Inszenierungen von Erinnerungen und Identitäten erfordert eine Vorgehensweise, die den Spezifika, Privilegien und dem spezifischen Leistungsvermögen von fiktionalen Erzähltexten gerecht wird. Dies muss in erster Linie bedeuten, den Blick auf die ästhetische Struktur literarischer Texte zu lenken, d.h. auf ihren poietischen, welterzeugenden, nicht bloß abbildenden Charakter. Im Gegensatz zu Medien anderer Symbolsysteme operieren fictions of memory bei ihren Erinnerungs- und Identitätserzeugung mit einer Fülle semantisierter Formen und Strukturen. Die formalästhetischen Darstellungsverfahren und Vermittlungsstrategien haben maßgeblichen Anteil an der Sinndimension der in einem spezifischen Text konstruierten Erinnerungen und Identitäten. Die Gesamtheit der literarischen Darstellungsverfahren, durch die fictions of memory auf unterschiedlichen textinternen Ebenen Formen, Inhalte und Funktionsweisen von Erinnerungen inszenieren, konstituiert die Rhetorik der Erinnerungen und Identitäten. 155 Fictions of memory sind durch eine Rhetorik der Erinnerungen und Identitäten gekennzeichnet, mittels derer sie bestimmte vergangene Erfahrungen inszenieren und soziokulturell geprägte Vorstellungen von dem Leistungsvermögen retrospektiver Sinnstiftungsprozesse vermitteln. Fictions of memory nutzen die Rhetorik der Erinnerungen und Identitäten zur Vergegenwärtigung von spezifischen Vergangenheitsversionen und Identitätskonstruktionen ebenso wie zur selbstreflexiven Problematisierung der Bedingungen von retrospektiver Sinnstiftung. Die die Rhetorik konstituierenden poietischen Inszenierungen und Reflexionen des Zusammenhangs von Erinnerung und Identität verweisen auf kulturell vorherrschende Versionen und Konzepte von Erinnerungen und Identitäten (Mimesis I). Den Erzählformen sind also kultur- und epochenspezifische Präsuppositionen, d.h. kulturell zirkulierende Konzepte von Erinnerung und Identität eingeschrieben. Sie können umgekehrt bei entsprechender Aktualisierung durch die Leserschaft zur erinnerungs- und identitätsbezogenen Refiguration beitragen (Mimesis III). Die Produktivität von fictions of memory als Medium der Sinnstiftung verdankt sich maßgeblich der Rhetorik der Erinnerungen und Identitäten. Sie schafft die Voraussetzung dafür, dass einzelne fictions of memory Einfluss auf vor-
155 Auch Löschnigg (1999) und Erll (2003a) untersuchen die .Rhetorik der Erinnerung' bzw. die »Rhetorik des kollektiven Gedächtnisses'. Während es Löschnigg vor allem um die Inszenierung individueller Erinnerungsprozesse und um die damit verbundene Frage geht, wie das Erinnerte authentisiert werden kann, fokussiert Erll Inszenierungsformen von Kollektivgedächtnis. Beide beschränken sich mithin auf die Analyse einer spezifischen Form des Vergangenheitsbezugs. Wie dargelegt setzt sich die vorliegende Untersuchung zum Ziel, das Spektrum individueller und kollektiver Formen der Erinnerungen aufzuzeigen und außerdem der wohl zentralsten Funktion von Erinnerungen nachzugehen: ihrem identitätsstiftenden Potential.
157
Die Rhetorik der Erinnerungen und Identitäten
herrschende erinnerungskulturelle Grundannahmen nehmen, sie bestätigen oder produktiv modifizieren können. Angesichts der dialogischen Verwobenheit der literarischen Vergangenheitsversionen mit den symbolischen Ordnungen der Erinnerungskultur können die Elemente der Rhetorik der Erinnerungen und Identitäten nur im Rahmen einer .erinnerungskulturellen Narratologie' adäquat erfasst werden. Ganz im Sinne des von Paul Ricceur aufgezeigten Wechselverhältnisses von Präfiguration, Konfiguration und Refiguration geht die erinnerungskulturelle Narratologie von einem dialogischen Spannungsverhältnis zwischen Text und Kontext aus und verbindet textuelle
Aspekte
mit
außerliterarischen,
kontextuellen
Faktoren
ihrer
Produktionsbedingungen. 156 Durch die konsequente Verknüpfung der literaturwissenschaftlichen Formanalyse mit soziokulturellen Perspektivierungen 1999) trägt die erinnerungskulturelle Narratologie der dialogischen
(vgl. Bai Beziehung
zwischen Erzählformen und den vorherrschenden Diskursen einer Erinnerungskultur Rechnung und richtet das Augenmerk auf die kulturelle Bedeutung textueller Merkmale. 157 Im Rahmen der erinnerungskulturellen Narratologie werden die erzähltheoretischen
Kategorien
konsequent
kontextualisiert
und
funktions-
geschichtlich auf die Frage nach ihren erinnerungskulturellen Wirkungspotentialen ausgerichtet. Im Folgenden sollen zentrale Konstituenten der Rhetorik der Erinnerungen und Identitäten, die an der Inszenierung und Problematisierung von Vergangenheits- und Identitätsentwürfen beteiligt sein können,
beschrieben und im
Hinblick auf ihr textuelles Wirkungspotential analysiert werden. Dabei kann es nur darum gehen, die erinnerungskulturelle Narratologie in ihren Grundzügen vorzustellen. Literarische Strukturen und narrative Verfahren, die bei der Inszenierung von Erinnerungen und Identitäten zur Anwendung kommen, lassen sich angesichts ihrer Vielfalt weder vollständig erfassen noch können ihre möglichen Funktionen
156
D i e Bedeutung einer kulturellen und historischen Narratologie wird von Nünning ( 2 0 0 0 , S. 83) in seinem programmatischen Aufsatz „Towards a Cultural and Historical Narratology" prägnant hervorgehoben: „ I f o n e accepts the central idea o f a semantization o f narrative form, any literary and cultural historian who wants to address ethical, social, or political issues raised in or by narrative texts can profit from the application o f the toolbox that narratology provides for the analysis o f narrative fictions. Content and form, ethics and aesthetics are, after all, m o r e closely intertwined than structuralist narratologists have tried to make us believe." Vgl. zu den Zielen und theoretischen Prämissen der kulturellen bzw. kulturhistorischen Narratologie außerdem Bai ( 1 9 9 0 , 1999), Erl] (2003a), Helms (2003). Vgl, außerdem die Aufsätze zu den so genannten .postklassischen E r zähltheorien' in den Sammelbänden von H e r m a n (1999) und N ü n n i n g / N ü n n i n g (2002a). E i n e n Überblick
über
die
Forschungsgeschichte
der
kulturgeschichtlichen
Narratologie
liefern
E r l l / R o g g e n d o r f (2002). 157
D i e Prämissen einer kulturellen Narratologie werden von Helms (2003, S. 14) prägnant auf den Punkt gebracht: „A cultural narratological framework holds two distinct promises: (1) the semanticizing o f narrative forms will move narratology beyond its a-historicity; and (2) by providing adequate descriptive tools, it will enable cultural critics to attend to the specific tools and strategies that are characteristics o f narratives in a wide range o f media."
158
Fiktionale Weisen der Erinnerungs- und Identitätsbildung
eindeutig bestimmt werden. Aufgrund der Polyfunktionalität bzw. des semantischen Verweisungsüberschusses der narrativen Sprache, die Meir Sternberg (1982, S. 148) unter dem so genannten JProteus-Prinzip' subsumiert, kann ein und dieselbe Erzähltechnik in verschiedenen Kontexten ganz unterschiedliche Funktionen erfüllen. Umgekehrt können aber auch recht verschiedene narrative Verfahren und textuelle Strukturen recht ähnliche Funktionen erfüllen. Eine „eins-zu-eins Korrelation zwischen Formen und Funktionen im Sinne eines form-to-function mapping bzw. function-to-form mapping' (Nünning/Nünning 2000b, S. 31) kann daher weder der semantischen Vieldeutigkeit fiktionaler Texte noch der historischen und kulturellen Variabilität der jeweils aktualisierten Bedeutungszuschreibungen von Erzähltechniken Rechnung tragen. Gerade auch mit Blick auf die angestrebte Differenzierung zwischen unterschiedlichen Ausprägungen der fictions of memoiy stellt sich somit die Aufgabe, die semantischen und funktionalen Dimensionen literarischer Darstellungsverfahren im Sinne eines Spektrums von Wirkungspotentialen begreifbar zu machen. Die analysierte Rhetorik der Erinnerungen und Identitäten dient als Grundlage, um unterschiedliche Ausprägungen der fictions of memoiy gattungstypologisch erfassbar und vergleichbar machen zu können. Unterschiedliche Ausprägungen der fictions of memoiy konstituieren sich aus spezifischen Konfigurationen der Rhetorik. Aufbauend auf ihren je spezifischen ästhetischen Strukturen können diese für die kanadische Erinnerungskultur ganz unterschiedliche Funktionen erfüllen.
2.1 Die erzählerische Vermittlung: Literarische Perspektivierungen von Vergangenem Erinnerungen, Geschichten und kommunikative Kontexte ihrer Tradierung sind auf vielfältige Weise miteinander verwoben: So eignen wir uns einen Großteil unserer Erinnerungen erst mittels der Konstruktion von sinnstiftenden und plausibilisierenden Geschichten an; diese Geschichten teilen wir zum Zwecke einer intersubjektiven Validierung der Realität mit signifikanten Anderen. Die gemeinsame Praxis des kommunikativen Erinnerns nimmt schließlich wiederum Einfluss auf unsere nachfolgenden individuellen Erinnerungsakte. Grundsätzlich bestehen zwischen der Konstitution und Tradierung individueller sowie kollektiver Erinnerungen und der im Medium der Fiktion entworfenen Gedächtnisversionen eine Reihe signifikanter Parallelen. Auch die in literarischen Texten dargestellten Erinnerungen basieren auf kommunikativen Akten der Vergegenwärtigung von Vergangenem. Auf der diegetischen Ebene kommunizieren Figuren miteinander und partizipieren an gemeinsamen Kontexten des Erinnerns, auf der übergeordneten Ebene der erzählerischen Vermittlung teilen Erzählinstanzen ihre Erfahrungen mit fiktiven oder imaginierten Adressaten, und schließlich tritt - auf textexterner Ebe-
Die Rhetorik dec Erinnerungen und Identitäten
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ne - der Autor in einen Dialog mit seinen Lesern. 158 Gleich, ob im Rahmen der extraliterarischen Gedächtnisbildung oder im Medium der Fiktion, der Erzählinstanz kommt in der Praxis des kommunikativen Erinnerns stets eine herausragende Rolle zu. Die Konstruktion von Gedächtnis erfolgt nicht beliebig, sondern ist an sinnstiftende Instanzen gebunden, die Vergangnes gemäß ihrer Relevanzkriterien perspektivieren. In ihrer Eigenart als .Orientierungszentrum' stellt die Erzählinstanz Kohärenz innerhalb der fiktiven Welt her; sie bündelt die von den Figuren artikulierten Vergangenheitsversionen zu einem sinnhaften Gedächtnisnarrativ, kann Reflexionen über das Erinnerte anstellen und es im Lichte aktueller Bedingungen deuten. 159 Dort, wo wie in den fictions of memory auf der diegetischen Ebene jene Erinnerungen dargestellt werden, die auf gegenwärtige Sinnbedürfnisse reagieren können, gewinnt zumindest die explizite, personalisierbare Erzählinstanz an zusätzlicher Bedeutung. Denn ihre aktuellen Sinnbedürfnisse entscheiden darüber, welche vergangenen Erfahrungen in Form von aktualisierten Gedächtnisbeständen auf der diegetischen Ebene überhaupt präsentiert werden. 160 Welche konkreten Funktionen die Erzählinstanz bei der Darstellung von Vergangenem erfüllen kann, ist maßgeblich von dem Verhältnis zwischen der Erzählinstanz und der Figurenebene und somit von der hierarchischen Relationierung der Erzähler- und Figurenperspektive abhängig. Prinzipiell kann entweder eine Personalunion zwischen der Erzählinstanz und einer der Figuren bestehen, wie dies vornehmlich für autodiegetische Texte zutrifft. Oder aber die Erzählinstanz ist — wie vor allem in heterodiegetischen Erzählungen — nicht Teil des Erzählten und folglich ausschließlich auf der übergeordneten Ebene der erzählerischen Vermittlung verortet. Während homo- bzw. autodiegetische Erzähler zumeist ihre selbsterlebten Erfahrungen auf der Figurenebene erinnernd zur Darstellung bringen und diese — je nach Grad ihrer Explizitheit — auf der Ebene der erzählerischen Vermittlung kommentieren, präsentieren heterodiegetische Erzählinstanzen durch verschiedene Modi der Innenweltdarstellung die identitätsstiftenden Erinnerungsvor-
158 Im Folgenden wird die Annahme zugrunde gelegt, dass literarische Figuren (dies gilt auch für Erzählinstanzen; vgl. Nünning 2001c) rezipientenseitig auf der Basis von textuellen Informationen und außerliterarischen Bezugsrahmen, also in Analogie zu realen Personen konstruiert werden. Zur rezipientenseitigen Konstruktion solcher paper beings' vgl. Grabes (1978), Bai (1985, S. 80) sowie Schneider (2000). 159 Auch Lanser (1999, S. 171) stellt dezidiert die privilegierte Position der Erzählinstanz heraus: „Narratologists have often noted the privileged status of narrators vis-ä-vis narrated characters: because the narrator's acts literally bring the story into existence, his or her word carriers greater authority than the word of a character. Structurally, this means that the narrator always stands at a level ,above' the narrated events by virtue of narrating them." Einschränkend ist zu bemerken, dass die Funktion der Erzählinstanz als übergeordneter und verbindlicher textinterner Bezugspunkt z.B. durch das Verfahren der unreliable narration erheblich geschmälert werden kann. 160 In diesem Sinne betont Gutenberg (2000, S. 148): „Welten entstehen nicht aus dem Nichts, sie werden diskursiv, von Sprecherinstanzen vermittelt. Diese vermittelnden Instanzen [...] entscheiden aufgrund ihrer individuellen Perspektivierung über die Art der vermittelten Weltkomponenten und ihren Status in einer gegebenen Welt."
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Fiktionale Weisen der Erinnerungs- und Identitätsbildung
gänge anderer Figuren. Da sie selbst nicht als Figuren in die fiktionale Erinnerungswelt involviert sind, sondern diese .olympisch' (Stanzel) überschauen, obliegt es ihnen, die Erinnerungen und Motive der Figuren einsehbar zu machen, das Erinnerte zu konfigurieren und zu deuten. 161 Mit auffalliger Häufigkeit wird das Zusammenspiel von Erinnerung und Identität in fictions of memoiy über das für homodiegetisches Erzählen konstitutive Spannungsverhältnis zwischen erinnertem und erinnerndem Ich inszeniert. Angesichts der hieraus resultierenden Vielfalt homodiegetischer Erzählungen bedarf es weiterer Differenzkriterien, auch um verschiedene Funktionspotentiale dieser Erzählsituation sinnvoll einzugrenzen. Vor allem wenn es um weiterführende Fragen, wie etwa nach dem Unterschied zwischen individuellen und kollektiven Gedächtniskonstruktionen, nach der kulturellen Reichweite der artikulierten Vergangenheitsversion oder dem Anspruch auf Gültigkeit im öffentlichen Raum geht, gilt es, die primär formalen Unterscheidungsaspekte um eine inhaltliche Dimension zu erweitern. Zur Differenzierung verschiedener Formen und Funktionen der erzählerischen Vermittlung in den fictions of memoiy wird im Folgenden auf die von Susan Lanser in ihrer Studie Fictions of Authority (1992) entworfene Typologie der Erzählerstimmen zurückgegriffen. 162 Aus feministischer Perspektive rekonzeptualisiert Lanser bestehende Kategorien der erzählerischen Vermittlung, wobei sie drei .Stimmen' - authorial, personal und communal voice — unterscheidet. Die Produktivität dieser Neukonzeptualisierung gründet auf der konsequenten Rückbindung formalästhetischer Kategorien an extraliterarische Bedingungen (vgl. ebd., S. 5). 163 Zu Recht betont Lanser, dass das Funktionspotential narrativer Verfahren nur mit
161 Homodiegetische und heterodiegetische Erzählinstanzen sind allerdings gerade in den fictions of memory keineswegs so kategorial zu differenzieren, wie dies auf den ersten Blick erscheinen mag. So werden etwa die Grenzen menschlichen Kenntnisvermögens auch von homodiegetischen Erzählern immer wieder überschritten: „[T]he novelist's determination to have the benefits of eyewitness narration without accepting its limitations has been indefatigable" (Scholes/Kellogg 1996, S. 259). Wie Edmiston (1991) in seinen detaillierten Fallbeispielen verdeutlicht, können sich auch homodiegetische Erzähler verschiedener Fokalisieningstechniken bedienen, um die Innensicht anderer Figuren darzustellen: „There are occasionally times when a F P N [first-person narrator] steps out of bounds and provides information he could never have known [...]. [W]e may call such passages nonfocalized, unrestricted to the perception of even the retrospective FPN, who then resembles an omniscient narrator." (Ebd., S. 5) Vgl. zu den auktorialen Privilegien des homodiegetischen bzw. Ich-Erzählers auch Stanzel (1995 [1979], S. 215). 162 Vgl. zu einem Überblick der Kategorie Narrative Voice' in der Narratologie Aczel (1998). 163 Die besondere Bedeutung, die Lansers Studie für die feministische Narratologie hat, ergibt sich aus der Einsicht in die Korrelation von diskursiver Autorität und Männlichkeit auf der einen Seite sowie sozialer Privilegierung auf der anderen Seite: „Discursive authority — by which I mean here the intellectual credibility, ideological validity, and aesthetic value claimed by or conferred upon a work, author, narrator, character, or textual practice [...] has, with varying degrees of intensity, attached itself most readily to white, educated men of hegemonic ideology." (Lanser 1992, S. 6) Ausführlich besprechen Allrath/Gymnich (2002) Lansers Beitrag zur feministischen Narratologie.
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Blick auf kontextuelle Faktoren wie kulturell vorherrschende Wissensordnungen und Wertehierarchien erfasst werden kann: „As a political term, .voice' rescues textual study from a formalist isolation that often treats literary events as if they were inconsequential to human history." (Ebd.) Um die dominant formalistische, zum Teil reduktive Ausrichtung der strukturalistischen Narratologie zu kompensieren, konzipiert Lanser die Kategorie .Stimme' als ein ideologisch befrachtetes Konzept (ebd.), das unmittelbar mit Fragen der Anerkennung, der gesellschaftlichen Wirksamkeit und Handlungsermächtigung in Verbindung steht. Lansers Verständnis von literarischen Formen als Bedeutungsträger, die auf außertextuelle Diskursordnungen verweisen, erweist sich als wichtiger Anknüpfungspunkt für die in dieser Studie entworfene erinnerungskulturelle Narratologie, die von komplexen Interrelationen zwischen Text und Kontext ausgeht. Aus Lansers Differenzierung von zwei unterschiedlichen Stimmtypen homodiegetischer Erzählinstanzen, nämlich der personal und communal voice, ergeben sich wichtige Erkenntnisse für unterschiedliche Formen und Funktionen der narrativen Erinnerungsinszenierung. Während die personal voice primär ihre individuellen, persönlichen Erfahrungen thematisiert und in Personalunion mit der Hauptfigur der erzählten Geschichte steht, bezeichnet die communal voice ein .Spektrum narrativer Praktiken', das ein Kollektiv von Stimmen mit geteilter diskursiver Autorität zu Gehör bringt (vgl. ebd., S. 21). Die communal voice ist eine deindividualisierte Erzählinstanz, die als autorisiertes Sprachrohr einer Gemeinschaft gruppenkonstitutive Erfahrungen und Werte artikuliert. In fictions of memory aktualisiert die communal voice die Erlebnisse einer spezifischen Erinnerungsgemeinschaft. In formaler Hinsicht ähnelt diese Kategorie einer homodiegetischen Erzählinstanz. Explizit tritt sie durch besondere Ausprägungen der erzählerischen Vermittlung, z.B. durch wenarratives oder das sequentielle Changieren zwischen mehreren Ich-Erzählerinnen in Erscheinung. Die Darstellung von persönlichen, gelebten Erfahrungen in fictions of memories beruht auf Merkmalen, die Lanser als konstitutiv für die personal voice annimmt. Typischerweise rekapituliert die personal voice ihre individuelle Lebensgeschichte, die im zeitlichen und sozialen Nahhorizont lokalisiert ist. Die Aktualisierung der persönlichen Vergangenheit verweist auf deren anhaltende Virulenz für das gegenwärtige Selbstverständnis der erinnernden Figur. Der Rekonstruktionsprozess ist darauf angelegt, mit der persönlichen Geschichte ins Reine zu kommen, ihr retrospektiv eine eingängige, identitätsstiftende Bedeutung zu verleihen. Die von einer personal voice zu Gehör gebrachten Lebenserfahrungen, Werte und Normen zeichnen sich durch ihre Partikularität bzw. Erfahrungsspezifität und ihren ausgeprägten autobiographischen Impetus aus: Es geht um die Singularität der individuellen Lebensgeschichte und der darauf gründenden Identität. Weder gehen diese Erlebnisse in einem übergeordneten Gruppengedächtnis auf, noch sind sie im Sinne von paradigmatischen Erfahrungen eines Kollektivs verallgemeinerbar. Zwar erweisen sich die Erfahrungs- und Wahrnehmungsweisen des erzählenden und erlebenden Ichs als von dem kulturellen Gedächtnis, von epochen- und kulturspezifischen Ereignissen, Wissensordnungen und auch von Gruppenzugehörigkeiten
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Fiktionale Weisen der Erinnerungs- und Identitätsbildung
geprägt. Allerdings sind diese sozialen Spuren für die Besonderheiten der gelebten Erfahrungen und ihrer Auslegung von nur untergeordneter Bedeutung. Angesichts des subjektiven, zumeist perspektivisch gebrochenen Charakters der personal voice ist die Deutung von Vergangenem weit gehend Privatsache; sie stellt keine öffentliche Aushandlung im Streit um Erinnerungen dar. Der von der personal voice entworfene Sinnstiftungsversuch ist an einen individualisierten fiktiven Adressaten gerichtet, nicht an ein Erinnerungskollektiv. Das für die personal voice charakteristische Spannungsverhältnis zwischen erzählendem und erlebendem Ich ist stets auch als temporales Spannungsverhältnis angelegt, das es durch den Akt der Erinnerung zu überbrücken gilt. Auf der figuralen Handlungsebene werden die retrospektiv aufbereiteten Erlebnisse des Ichs (,Ias-protagonist1), seine Wahrnehmungs- und Erfahrungsweisen, seine Einbettung in soziale Umfelder sowie seine verschiedenen Rollen in der erzählten Geschichte, kurz, seine Sozialisation und Enkulturation dargestellt. Da die diegetische Ebene in den fictions of memoiy aus der erinnernden Rückschau hervorgebracht wird, werden hier vorwiegend Erfahrungen dargestellt, die sich im Lichte gegenwärtiger Bedingungen und Fragestellungen des erzählenden Ichs als identitätskonstitutiv darstellen. Dies impliziert die bei homodiegetischen Erzählern stets gegebene Möglichkeit, solche Ereignisse auszusparen oder umzudeuten, die nicht im Einklang mit gegenwärtigen Selbstverständnissen stehen. Da Erinnerungen den Imperativen der Gegenwart unterstellt sind und damit narrativ dergestalt elaboriert werden, dass sie Antworten auf die aktuellen Sinnanforderungen der sich erinnernden Person liefern können, erhält die Ebene der erzählerischen Vermittlung als Abrufsituation der Erinnerungen in den fictions of memoiy besonderes Gewicht. Auf der Ebene der erzählerischen Vermittlung wird die spezifische Situation dargestellt, die für die Aktualisierung der auf der Handlungsebene geschilderten Ereignisse maßgeblich ist. Welches Ereignis oder welche Situation wird überhaupt zum Anlass einer Auseinandersetzung mit Vergangenem? Auf der extradiegetischen Ebene wird ein gealtertes, rückschauendes, oftmals auch frühere Handlungen und Identitätsentwürfe kritisch kommentierendes und wertendes Ich dargestellt, das versucht, das Vergangene in einen plausibilisierenden Bezug zu seiner gegenwärtigen Situation zu setzen und so sein Identitätsverständnis voranzutreiben. Die zentrale Herausforderung, die sich für die personal voice stellt, ist die sinnstiftende Überbrückung der zeitlichen und damit auch kognitiv-emotionalen Diskrepanz, d.h. die plausibilisierende Anbindung der Vergangenheit an die gegenwärtige Situation des Erinnerungsabrufs. Die Ereignisse auf der Handlungsebene müssen in eine signifikante Relation zu der aktuellen, auf der extradiegetischen Ebene dargestellten Situation des Erinnerungsabrufs gebracht werden. Gerade im Fall einer großen zeitlichen Diskrepanz tritt der Nexus von Erinnern und Identität deutlich zutage. Das sich erinnernde Ich bzw. das „self-that-/r" konstituiert seine Identität im Dialog mit seinem „self-that-aW, ein Prozess, bei dem die differentiellen Identitätsaspekte im narrativen Modus idealerweise in ein zeitliches Konti-
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nuum integriert und als relative Einheit ausgewiesen werden: „P]t is the protagonist's identity which develops across time and space from the fictional to the narrational world, an identity that changes and yet, by changing and recognizing itself as changing, reconstitutes itself as the same." (Fludernik 1996, S. 337) In dem Maße, in dem es der Erzählinstanz gelingt, ihre vergangenen Erfahrungen in einen signifikanten Bezug zur Gegenwart zu setzen, wird das kontinuitäts stiftende Potential von Gedächtnisnarrationen im Sinne einer .Synthesis des Heterogenen' (Ricceur) vor Augen gefuhrt. Vermag es das erinnernde Ich hingegen nicht, seine Erinnerungen sinnstiftend an die gegenwärtige Bedürfnislage anzuschließen, so steht die Stabilität und Kohärenz der Identität in Frage. Vor allem hochgradig belastende, als traumatisch erlebte Erfahrungen entziehen sich oftmals einer Integration in eine narrative, d.h. diachron strukturierte Ordnung und destabilisieren somit die individuelle Erfahrungskontinuität und Identitätsbildung.164 Angesichts ihrer außerordentlichen emotionalen Bedeutung lassen sich traumatische Ereignisse nur schwer in die individuelle Lebensgeschichte eingliedern; ihre Kontingenz kann nicht in dem gleichen Maße reduziert werden, wie die von alltäglicheren Erfahrungen. Die vergangene, traumatische Erfahrung steht in diesem Fall unverbunden und zusammenhangslos neben anderen Ereignissen. Die fehlende Anbindung des Vergangenen indiziert kognitive und emotionale Uneindeutigkeiten und tendiert damit zu einer narrativen Formung, die auf einen biographischen Bruch verweist. Ein zentrales Differenzkriterium für retrospektive Erzählungen ist der Grad der Konturierung der gegenwärtigen Situation des Erinnerungsabrufs (vgl. Gymnich 2003, S. 41). Den einen Pol bilden solche Formen homodiegetischen Erzählens, bei denen die Erinnerungssituation kaum ausgestaltet ist, die temporale Distanz zwischen erinnerndem und erinnertem Ich also primär über die Verwendung von Vergangenheitstempora markiert wird. Durch die Unterbelichtung der aktuellen Erinnerungssituation wird der rekonstruktive, an gegenwärtige Bedingungen gebundene Charakter der Sinnstiftung dissimuliert und der Eindruck eines relativ fixierten, vorgängig bedeutungstragenden Gedächtnisbestands evoziert. Am entgegengesetzten Pol sind solche fictions of memory zu lokalisieren, in denen der Kontext und die Motivation des autobiographischen Erinnerungsakts deutlich profiliert sind. Hier verlagert sich der Akzent von der diegetischen auf die extradiegetische Ebene der Erinnerungselaboration. Die auf der Handlungsebene narrativ elaborierte Lebensgeschichte erscheint in solchen fictions of memory als „work in progress" (Löschnigg 1999, S. 196), die nach Maßgabe aktueller Sinnbedürfnisse fortgeschrieben wird. Mit der Konturierung der Ebene der erzählerischen Vermitdung ist zumeist eine selbstreflexive Offenlegung des Sinnstiftungsprozesses verbunden, die die präsentische und konstruktive Qualität von Erinnerungen in den Vordergrund rückt. Die individuelle Identität erscheint in solchen Romanen weniger als das
164 Vgl. zur Darstellung von traumatischen Erfahrungen im Medium der Literatur Vickroy (2002) sowie Fricke (2004).
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Fiktionale Weisen der Erinnerungs- und Identitätsbildung
Produkt zurückliegender Erfahrungen, sondern vielmehr als ein sich erst im narrativen Prozess herausbildendes Konstrukt. Gerade im Fall einer zeitlich großen Kluft zwischen dem erinnernden und erinnerten Ich stellt sich die Frage nach der Zuverlässigkeit der präsentierten Vergangenheitsversion. Sofern keine Signale für fehlende Authentizität vorliegen, ist grundsätzlich von der Zuverlässigkeit der Erzählinstanz im Sinne einer veridikalen Erinnerungsrekonstruktion auszugehen. Je nach Explizitheit der Erzählinstanz kann die Vergegenwärtigung der individuellen Vergangenheit auf der Erzählebene mit expliziten Reflexionen über die Bedingungen der Erinnerungsrekonstruktion einhergehen. Durch diese (zeitliche) Distanzierung vom Erlebten wird das ,Wie' der Erinnerungsstiftung (also Voraussetzungen, Folgen und Grenzen der Sinnstiftung) zum Thema des Erzählens. In diesem Prozess kann die Authentizität des Erinnerten bzw. die Erinnerungshaftigkeit des Erzählten etwa durch Kommentare wie „I remember exactly" emphatisch unterstrichen werden (vgl. Löschnigg 1999, S. 176). Es können allerdings auch Probleme des Erinnerungsabrufs, die mangelnde Zuverlässigkeit, die Selektivität und die Perspektivität von Erinnerungen und sogar das Vergessen thematisiert werden. Vor allem in zeitgenössischen fictions of memory haben wir es häufig mit self-conscious narrators zu tun, die die Probleme, die sich mit der retrospektiven Sinnstiftung verbinden, selbst zum zentralen Gegenstand machen. Während Erinnerungslücken und perspektivische Brechungen durch metamnemonische Reflexionen explizit zum Ausdruck kommen, können sie qua unreliable narration implizit vor Augen gefuhrt werden. Da unreliable narration eng mit der psychologischen Disposition von individualisierbaren Erzählinstanzen verwoben ist, ist es als literarisches Verfahren geradezu dazu prädestiniert, die Funktionsweise von Erinnerungen beobachtbar zu machen. Aus der ohnehin standortgebundenen Perspektivierung des Erzählten in homodiegetischen Narrativen resultiert ihre Affinität zum unzuverlässigen Erzähler. In vielen fictions of memory erscheint die erinnernde Erzählinstanz nicht als zuverlässiger Vermittler vergangener Ereigniszusammenhänge, sondern als aktiv deutende und umdeutende Instanz, die das Vergangene nach Maßgabe gegenwärtiger Zwecke und Kontexte aufbereitet, interpretiert und «interpretiert. 165 Unzuverlässige Erzähler, deren gedächtnisbasierte Selbstnarrationen von Unstimmigkeiten, Widersprüchen und idiosynkratischen Wertungen durchzogen sind, illustrieren, in welchem Maße Erinnerungen von aktuellen Anforderungen und Interessen geleitet sind. Sie führen den schmalen Grad vor Augen, der zwischen der Findung und Erfindung von Vergangenem liegt, und zeigen, dass es beim autobiographischen Prozess weniger um die detailgenaue Rekonstruktion vergangener Realität als um das identitätsstiftende Potential auch von fabulierten Vergangenheiten geht.
165 Vgl. zum Konzept der unreliable narration v.a. Wall (1994), Nünning (1998b), Busch (1998), Jahn (1998) sowie Phelan/Martin (1999).
Die Rhetorik der Erinnerungen und Identitäten
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Bereits in dieser Bestimmung von unretiabe narration tritt ein zentrales Problem herkömmlicher Definitionen zutage, denn Perspektivität und Selektivität sind konstitutive Merkmale der relativ normalen Funktionsweise von Erinnerungen. Erinnerungen sind nie Abbilder, sondern stets subjektiv gedeutete Versionen der Vergangenheit. Figuren erinnern das, was unter gegenwärtigen Bedingungen als kohärent, tauglich und sinnstiftend erscheint. Ist somit jede erinnernde Instanz als unreäable narrator zu diskreditieren? Oder anders gefragt: Kann es im Kontext von Erinnerungserzählungen überhaupt einen zuverlässigen Erzähler geben, wenn man bedenkt, dass Sinnstiftung stets eine aktive Konstruktionsarbeit impliziert? Mit Blick auf die dargelegten Spezifika von retrospektiver Sinnstiftung scheint es kaum sinnvoll, einen Erzähler, der Erinnerungslücken bzw. die ephemere und bisweilen sogar trügerische Qualität seiner Erinnerungen offen eingesteht, der Unzuverlässigkeit zu bezichtigten. Im Gegenteil kann ein derartig selbstreflexiver Erzähler sogar als recht zuverlässige Vermittlungsinstanz gelten. Dort, wo Sinnstiftung in der erinnernden Rückschau erfolgt, kann Zuverlässigkeit nur bedeuten, ein Bewusstsein von der UnZuverlässigkeit der eigenen Erinnerung zu haben. Sollen die Kategorien ,zuverlässig' und .unzuverlässig' also für die Bezeichnung von erinnernden und sinnstiftenden Instanzen fruchtbar gemacht werden, so ist eine grundlegende Neudefinition vonnöten: Es gilt, die unreliability of memoiy von der unreüable narration zu differenzieren. Die unreliability of memoiy ist ein unhintergehbares und durchaus nützliches Phänomen der Orientierungsbildung, denn sie erst schafft die Voraussetzung für die Herstellung einer identitätsstiftenden Vergangenheit. Ein Erzähler, der diese Funktionsweise von Erinnerungen explizit zum Thema macht und sich der Unzuverlässigkeit seiner Erinnerungsarbeit bewusst ist, kann daher kaum als unzuverlässig diskreditiert werden, selbst wenn sich Mehrfachthematisierung des gleichen Ereignisses innerhalb der erzählten Welt widersprechen oder einander wechselseitig relativieren (vgl. Löschnigg 1999, S. 192f.). Die thematisierte Unzuverlässlichkeit ist vielmehr als konstitutives Element der .Mimesis der Erinnerung' zu konzeptualisieren, die nicht nur die .Erinnerungshaftigkeit' des Dargestellten steigert und eine ästhetischen Verdichtung des Erinnerungsprozesses implmert. Vielmehr kann sie auch die Glaubwürdigkeit der Vermittlungsinstanz unterstreichen (vgl. Basseler/Birke 2005.). Erzähler gestehen sich in diesem Fall die - ganz normalen Grenzen des Sinnstiftungsprozesses und Erinnerungsvermögens selbstreflexiv ein. Erzählinstanzen, die die unreliability of memory offen legen, stellen herkömmliche Vorstellungen des Gedächtnisses als Speicher in Frage und zeigen, dass .memory's truth' (Rushdie) eben nicht in der Reproduktion von vergangener Realität, sondern in der Konstruktion einer .usable past' liegt. Dass retrospektive Sinnbildung ohne Konstruktivität nicht möglich ist, bedeutet natürlich weder, dass es im Kontext von Erinnerungserzählungen keine unzuverlässigen Erzähler gäbe, noch dass es Erzählern freistünde, ihre Vergangenheit nach Belieben zu erfinden. Auch wenn es um die Schaffung von identitätsstiftenden Sinnwelten geht, können sich Erzähler als unglaubwürdig entlarven, und dies auf zwei Weisen. Erstens kann die unretiablity of memoiy so weit gesteigert werden,
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Fiktionale Weisen der Erinnerungs- und Identitätsbildung
dass .Erinnerungen' keinerlei Vergangenheitsbezug mehr aufweisen, sondern lediglich den gegenwärtigen Sinnbedürfnissen der Erzählinstanz entspringen. .Erinnerungen' werden in diesem Fall zu subjektiven Phantasiegebilden und sind somit als non-veridikal einzustufen. Vor allem bei Erzählern, deren Erinnerungsfähigkeit wie etwa im Fall von Demenz - bereits in physischer Hinsicht deutlich beeinträchtigt ist, ist diese Form der Unzuverlässlichkeit häufig zu beobachten. Im Gegensatz zu Erzählern, die sich der unreäability of memory bewusst sind, sind solche unzuverlässigen Instanzen zumeist von ihrer Erinnerungskompetenz überzeugt; ihrer eigenen Widersprüchlichkeit stehen sie ahnungslos gegenüber. Zweitens können sich erinnernde Instanzen - im Sinne des üblichen Verständnisses der unreliable narration — durch deviante Wertevorstellungen und Verhaltensweisen als unzuverlässig diskreditieren. Bei solchen Erzählern unterliegt die Wahrnehmung und Deutung von Wirklichkeit so markant idiosynkratischen Wertehierarchien, dass eine normaüv zuverlässige Rekonstruktion der eigenen Vergangenheit unmöglich ist und die Glaubwürdigkeit des Vermittelten in Frage stehen muss. Zwar kann die Unterscheidung zwischen .zuverlässig' und ,unzuverlässig' nur eine graduelle sein, die außerdem stark von kultur- und epochenspezifischen Normen abhängt. Gleichwohl verdeutlicht sie, dass die grundlegende Konstruktivität von Erinnerungen auch im Medium der Fiktion keineswegs gleichzusetzen ist mit der Erfindung idiosynkratischer Vergangenheiten. Insgesamt stellt die Verwendung einer personal voice eine zentrale Konstituente der Rhetorik der Erinnerungen und Identitäten dar, die auf vielfältige Weise zur Illustration von Besonderheiten des individuellen Sinnstiftungsprozesses genutzt werden kann: Die monoperspektivische Vermittlung unterstreicht den dezidiert subjektiven und emotional aufgeladenen Charakter der vergangenen Ereigniszusammenhänge und verdeutlicht, dass sowohl Auswahl als auch Deutung der vergangenen Geschehnisse den gegenwärtigen identitären Bedürfnissen des Erzählers unterliegen. Das für die fictions of memory charakteristische Spannungsverhältnis zwischen erinnerndem und erinnertem Ich stellt den potentiell kontinuitätsstiftenden Charakter von Erinnerungsprozessen heraus und lenkt den Blick auf die konstruktiven, prinzipiell wandelbaren (d.h. anders deutbaren) Dimensionen der individuellen Identität. Explizite Reflexionen und unreliable narration können schließlich den ephemeren, prinzipiell unzuverlässigen Charakter von Erinnerungen und die grundlegende Offenheit der Vergangenheit für alternative Deutungen unterstreichen und damit die Bedingungen erfolgreicher Sinnstiftung problematisieren. Individuelle Erinnerungen können den subjektiven Erfahrungshorizont überschreiten und von kollektiven Erfahrungen überformt sein. Individuelle Erinnerungen weisen dann eine kollektive Dimension auf, wenn sie als paradigmatisch für das Gedächtnis sozialer Gruppen inszeniert werden. So können sich homodiegetische Erzählinstanzen bei der Artikulation ihrer Erinnerungen nicht nur einer personal voice, sondern auch einer communal voice bedienen (vgl. Lanser 1992, S.20 f.). In diesem Fall tritt das erzählende Ich nicht als individualisierte, ihre persönlichen Lebenserfahrungen interpretierende Instanz auf, sondern als Sprachrohr gruppen-
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spe2ifischer Erfahrungen und Wertvorstellungen. Die communal voice, so Lanser (ebd., S. 21), ist „a practice in which narrative authority is invested in a definable community and textually inscribed either through multiple, mutually authorizing voices or through the voice of a single individual who is manifestly authorized by a community". Die Erinnerungen der communal voice verkörpern exemplarisch die spezifischen Erfahrungen einer gesamten Erinnerungsgemeinschaft. Individuelle Erinnerungen werden von der communal voice als paradigmatisch für das Gedächtnis eines bestimmten Kollektivs inszeniert; sie stellen einen repräsentativen ,Ausblickspunkt' (Halbwachs) auf die gruppenspezifischen Erfahrungen und Identitätskonstruktionen dar. Die communal voice führt die Kommunalität des Erinnerns sowie des Erinnerten vor Augen: Ebenso wie der individuelle Erinnerungsakt durchgreifend von Gruppenbezügen geprägt ist, so stabilisiert er umgekehrt auch das Gedächtnis der Gruppe bzw. Erinnerungsgemeinschaft. Die von der communal voice artikulierten Erinnerungen stellen einen Akt des ,re-membering' dar, durch den der Einzelne seine Gruppenzugehörigkeit unter Beweis stellt und andere Figuren zur wechselseitigen Identifikation als Gruppenmitglieder auffordert. Fragen der Verantwortung und der Erinnerung gehen in diesem Prozess Hand in Hand: Der Erinnerungsakt ist ein „konstitutives Moment der Anteilnahme" (Margalit 2002 [2000], S. 26) an dem Schicksal der Erinnerungsgemeinschaft. Erinnerungen, die von einer communal voice dargestellt werden, haben eine verbindliche und affektiv-normative Relevanz für eine soziale Gruppe. Sie bilden den Bodensatz einer nicht verhandelbaren, kollektiv geteilten Wir-Identität. Die communal voice macht zugleich zentrale Konstitutionsbedingungen eines überindividuellen Gedächtnisses sichtbar. Sie zeigt, dass die Existenz und Kontinuität von Kollektivgedächtnissen auf das individuelle Gedächtnis angewiesen ist, in dem sich das Erleben der kollektiven Erinnerung vollzieht. Insbesondere wenn es darum geht, gesellschaftlich marginalisierte und tabuisierte Erfahrungen zu Gehör zu bringen und gesellschaftlich etablierte Vergangenheitsdeutungen zu hinterfragen, erweist sich die communal voice als wirkungsvolles Darstellungsverfahren. Als „authorized by a community" (Lanser 1992, S. 21) kann sie ihre Ansprüche an die Öffentlichkeit, an den offiziellen Gedächtnisraum also, wirksam artikulieren und das Nichtvergessen von bislang verdrängten Erfahrungen einfordern. Die von der communal voice artikulierte Erinnerungsversion ist nicht an einen individualisierten fiktiven Adressaten gerichtet, sondern an die Öffentlichkeit, die appellartig zur Kommemoration aufgefordert wird. Häufig werden normative Erzählerkommentare, wie etwa Leseranreden, dazu genutzt, die Autorität des Erinnerten zu unterstreichen. Mit Verwendung einer communal voice verbindet sich das Ziel, die Bedeutung der auf der textinternen Ebene dargestellten Erinnerungen im öffentlichen Gedächtnisraum einzufordern. Die communal voice ist ein zentrales Instrument der Handlungsermächtigung, der Selbstautorisierung von minoritären Stimmen sowie der Durchsetzungsfähigkeit von partikularer Kollektividentität: „[CJommunal voice might be the most insidious fiction of authority, for in Western cultures it is nearly always the creating of a single author appropriating the power of a plurality." (Ebd., S. 22) Die Verwendung einer communal voice stellt daher einen
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Fiktionale Weisen der Erinnerungs- und Identitätsbildung
bedeutsamen Strang im Kampf um Annerkennung der eigenen Gedächtnisversion dar, denn sie geht eng mit der Artikulation von Gegen-Erinnerungen und mit der Forderung nach Vertretensein im öffentlichen Erinnerungsraum einher. Die communal voice kann einen Beitrag zur Vergegenwärtigung und symbolischen Bewältigung vorgängig marginalisierter Erfahrungen leisten. Dort, wo Vergangenheiten von einer communal voice zum Ausdruck gebracht werden, steht deren Authentizität nicht in Frage. Das für fictions of memory konstitutive Spannungsverhältnis zwischen dem Damals und dem Heute dient weniger der Veranschaulichung der Konstruktivität von Erinnerungsprozessen. Vielmehr unterstreicht es die anhaltende Präsenz des Vergangenen in der Gegenwart und damit die Kontinuität der gruppenspezifischen Erfahrung. Durch den Erinnerungsakt wird das Vergangene in identitätsstiftende Nähe gerückt. Auf der Ebene des Erinnerungsabrufs werden in der Regel die sozialen Voraussetzungen zur Anschauung gebracht, die die Aktualisierung der gruppenspezifischen Erinnerungen motivieren. Diese mögen von veränderten gesellschaftspolitischen Bedingungen über das Erstarken von Widerstand bis hin zu gewandelten gruppeninternen Konstellationen wie etwa der Existenzbedrohung des Erinnerungskollektivs reichen. Auf der diegetischen Ebene werden jene vergangenen Erfahrungen inszeniert, die sich für das Selbstverständnis der Gruppe als konstitutiv erweisen und daher nicht in Vergessenheit geraten dürfen. Die auf der Handlungsebene inszenierten Erfahrungen zeichnen sich durch eine deutliche evaluativ-affektive Dimension aus, die Aufschluss über das Gewordensein und die spezifischen Wertehierarchien der Gruppenmitglieder liefern. Sie beantworten Gruppen Fragen nach dem ,wer', ,was' und ,wann' ihrer Vergangenheit und stellen einen verbindlichen und verbindenden Rahmen für gegenwärtige Selbst- und Weltverständnisse zur Verfügung. Durch die vom Standpunkt der Gegenwart aus erfolgende Bezugnahme auf das Vergangene bringt die communal voice die anhaltende emotionale Virulenz des Erinnerten eindrucksvoll zum Ausdruck und schafft damit die Voraussetzung für eine kontinuitätsstiftende Aneignung des Vergangenen. Schließlich — obgleich seltener realisiert - können Erinnerungsprozesse in den fictions of memory auch von heterodiegetischen Erzählinstanzen inszeniert werden. Werden bei homodiegetischen Erzählungen die Besonderheiten und das Leistungsvermögen von Erinnerungsprozessen vorrangig durch das dialogische Verhältnis zwischen erzählendem und erlebendem Ich vor Augen geführt, werden diese bei einer heterodiegetischen Erzählinstanz durch die psychologische Privilegiertheit offenbart. Da sie nicht selbst als Figuren in die Geschichten der fiktionalen Welt .verwickelt' (Schapp) sind, sondern sie .olympisch' überschauen können, haben heterodiegetische Erzählinstanzen prinzipiell Einblick in das Bewusstsein aller Figuren (psychologische Privilegiertheit) und können den Handlungsverlauf ohne zeitliche oder räumliche Beschränkungen überblicken (temporale und lokale Privilegiertheit). Die übergeordnete Perspektive der heterodiegetischen Erzählinstanz befähigt sie dazu, das Erinnerte bewusst zu konfigurieren und so einen kon-
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D i e Rhetorik der Erinnerungen und Identitäten
kreten soziokulturellen Kontext zu schaffen, vor dessen Hintergrund die figuralen Erinnerungs- und Identitätskonstruktionen gedeutet und beurteilt werden können. Mit ihrem prinzipiell uneingeschränkten Einblick in das Bewusstsein mehrerer Figuren, können heterodiegetische Erzählinstanzen eine Matrix kulturell koexistierender Inhalte und Formen der Erinnerung entwerfen. 166 Innenweltdarstellung kann divergierende Erinnerungen an vergangene Ereignisse beobachtbar machen und die Subjektivität bzw. Idiosynkrasien der individuellen
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aufzeigen. Die Kollektiwergangenheit wird in diesem Fall in eine Vielzahl heterogener Versionen aufgelöst, die sich oft nicht zu einer übergeordneten, kollektiv geteilten Vergangenheitsdeutung synthetisieren lassen und sich im Streit um Deutungshoheit unvereinbar gegenüber stehen. Aber auch Gemeinsamkeiten und Parallelen zwischen individuellen Erinnerungen können durch Innenweltdarstellung sichtbar werden. Gruppenspezifische Rahmen, die individuelle Deutungen in kollektiv vorgegebene Bahnen lenken, stellen in diesem Fall die Kompatibilität der Einzelerinnerungen und somit die Schaffung einer sozial geteilten Vergangenheitssicht sicher. Die Einzelperspektiven ergänzen sich wechselseitig, sie fügen sich sukzessiv zu einem übergeordneten Bild der Kollektiwergangenheit zusammen und unterstreichen so die Kommunalität der Erfahrung. J e nach Grad ihrer Explizitheit können sich heterodiegetische Erzählinstanzen einer authorial voice im Sinne Lansers bedienen und als normative Sprecher in Erscheinung treten. 167 D e m autoritätsgesicherten Erzähler geht es nicht um die retrospektive Bewältigung alltäglicher Lebenserfahrungen, sondern um die modellhafte Stiftung von kulturellem Sinn, um die Darstellung von verbindlichen Erfahrungen und Wertehierarchien. Da der heterodiegetischen Erzählinstanz die Gestaltung und Gewichtung der Figurenperspektiven unterliegt, ist das Verhältnis zwischen figuralen Sichtweisen und Sprecherinstanz als Machtverhältnis zu konzipieren. Ein mit derartiger Autorität ausgestatteter Erzähler kann zu den im Text präsentierten Erinnerungs- und Identitätskonstruktionen in Kommentaren, expliziten Reflexionen, Wertungen und über die fiktionale Welt hinausgehenden Generalisierungen bewusst Stellung beziehen. Solche „extrarepresentational acts" (Lanser 1992, S. 16) einer individualisierten Erzählinstanz können die Erinnerungsversionen der Figuren bestätigen, durch weitere Informationen präzisieren und ergänzen, oder aber etwa auf der Basis ihres Wissens vom weiteren (fiktionalen) Geschichtsverlauf korrigieren und als unzulänglich desavouieren. Angesichts ihres privilegierten Uberblicks über Zeit und Raum können explizite heterodiegetische Erzählinstanzen die sinn- und identitätsstiftenden Erinnerungsversionen der Figuren in einem übergreifenden Erfahrungs- und Wissenshorizont einer Kultur verorten und auf
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Anders als im Rahmen von homodiegetischen Erzählungen ist die konkrete Situation des E n n n e rungsabrufs im Fall von heterodiegetischen Erzählungen also auf der Handlungsebene zu lokalisieren - es sind die Figuren, die sich erinnern, nicht die Erzählinstanz.
167 Vgl. Lansers (1992, S. 15) Definition der authorial imct. „I use the term authorial mia to identify narrative situations that are heterodiegetic, public, and potentially self-referential."
170
Fiktionale Weisen der Erinnerungs- und Identitätsbildung
diese Weise auch etwaige blinde Flecke der einzelnen Konstruktionen aufdecken. Die Autorität der Erzählinstanz kann sich nicht zuletzt darin äußern, dass sie bestimmte Figuren als Fokalisierungsinstanzen zulässt, andere Perspektiven wiederum bewusst unterdrückt (vgl. Gymnich 2000, S. 79f.). Zu Recht bemerkt Mezei (1996, S. 70): „Focalization and effacement are effective narrative strategies for asserting control, because the narrator can choose his/her focalizer and can choose to be either present or apparently absent from narration." 168 Vor allem dort, wo es um die Inszenierung von konkurrierenden Vergangenheitsversionen oder um die Anerkennung spezifischer Erinnerungen geht, erweist sich die authorial voice als eine effektvolle literarische Strategie: Als übergreifendes Orientierungszentrum kann sie ihre Autorität in einem von Konkurrenzen beherrschten Erinnerungsraum dazu nutzen, die Legitimität bestimmter Vergangenheitsauslegungen zu unterstreichen und die anderer Deutungen in Frage zu stellen. Die erzählerische Vermittlung des Geschehens bietet demnach vielfältige Möglichkeiten, die Funktionsweise von narrativen Sinnstiftungsprozessen darzustellen und die Besonderheiten von Erinnerungen zum Gegenstand der kritischen Reflexion zu machen. Während die personal voice bei ihrem Versuch, die persönliche Vergangenheit zu plausibilisieren, grundlegende Mechanismen der individuellen Sinnstiftung zum Ausdruck bringt und verdeutlicht, dass individuelle Identität unauflöslich mit der Konstruktion von Geschichten verbunden ist, vermag die communal voice das gemeinschaftsstiftende Potential von Erinnerungserzählungen zu inszenieren. Das besondere Leistungsvermögen von heterodiegetischen Erzählungen besteht schließlich darin, durch unterschiedliche Modi der Innenweltdarstellung diverse, sozial geteilte oder divergierende Erinnerungen an gemeinsam Erlebtes darzustellen und somit Möglichkeiten und Grenzen der überindividuellen Gedächtnisbildung einsehbar zu machen. Zu den Privilegien der fictions of memory zählt es, in dem Prozess der narrativen Konfiguration innovative Vorstellungen von Gedächtnis- und Identitätsbildung zu vermitteln (das gilt v.a. für die personal voice) und durch den Einsatz einer communal voice marginalisierte Erfahrungen zur Geltung zu bringen sowie mit subversiver Gegenmacht auszustatten. Durch die in heterodiegetischen Erzählungen ermöglichte Zusammenführung unterschiedlicher Vergangenheitsversionen können schließlich die Grenzen der gemeinsamen Gedächtnisbildung sowie die agonale Stratifizierung der Erinnerungskultur beobachtbar gemacht und innovative Konstellationen von Kollektivgedächtnis erprobt werden.
168
Fokalisierung, so auch Bai (1985, S. 116), ist „the most important, most penetrating, and most subtle means o f manipulation".
Die Rhetorik der Erinnerungen und Identitäten
171
2.2 Innenweltdarstellung und Figurendialog: Psychische und soziale Voraussetzungen von Erinnerungen Erinnerungen sind Bewusstseinsinhalte. Die Innenweltdarstellung durch Techniken wie das direkte und indirekte Gedankenzitat, der innere Monolog, die erlebte Rede oder der Psychobericht stellen sich daher als bedeutsame literarische Formen der Rhetorik der Erinnerungen und Identitäten dar. 169 In der literarischen Bewusstseinsdarstellung gewinnen Erinnerungen und die darauf aufbauenden Identitätskonstruktionen oftmals jene narrative Profiliertheit, die sie in der alltäglichen Identitätsarbeit nicht immer besitzen. Im literarischen Text können Bewusstseinsvorgänge nicht nur dadurch dargestellt werden, dass die hierarchisch übergeordnete Sprecherinstanz als (externe) Fokalisierungsinstanz in Erscheinung tritt. Auch die auf der Handlungsebene lokalisierten Figuren können als (interne) Fokalisierungsinstanzen fungieren und so Einblick in ihre sinnlichen Eindrücke, Emotionen und Wahrnehmungsweisen bieten. Erinnerungen verlassen häufig die Sphäre der monologischen Selbstreflexion und werden zum Gegenstand einer intersubjektiven Aushandlung. Der mtmoiy talk erweist sich somit für die individuelle Gedächtnisbildung als ebenso prägend wie für die kollektive. Aus dem Nebeneinander einer Reihe von Sprecher- und Fokalisierungsinstanzen ergibt sich die besondere, von Bachtin hervorgehobene Vielstimmigkeit literarischer Texte. Diese polyphone Struktur ist gerade dann von Bedeutung, wenn es um die Inszenierung der intersubjektiven Prägung von Erinnerungen und Identitäten geht. Das literarische Privileg der Innenweltdarstellung kann auf vielfältige Weise für die Darstellung von Inhalten und Formen der Erinnerung genutzt werden. Erzähltechnische Modi der Bewusstseinsdarstellung liefern Einblick in die kognitive und affektive Auseinandersetzung mit spezifischen Wahrnehmungen und Eindrücken. Innenweltdarstellung bringt individuelle Wahrnehmungen, handlungs- und erfahrungsleitende Gedankenfragmente sowie sinnliche Eindrücke zutage, die Erinnerungsprozesse in Gang setzen können. Darüber hinaus legt sie auch kulturspezifische Schemata, Kollektiworstellungen sowie Gefühle offen, die zumeist unbewusst Einfluss auf situative Erinnerungselaborationen nehmen. Innenweltdarstellung macht die Spezifität der individuellen, d.h. subjektabhängigen Denk- und Wahrnehmungsweisen beobachtbar, sie lenkt die Aufmerksamkeit auf die je eige-
169 Natürlich ist beim homodiegetischen Erzählen die Funktion der Bewusstseinsdarstellung eine andere als beim heterodiegetischen. Während der heterodiegetische Erzähler die Gedanken der Figuren wiedergibt, die ihm angesichts seiner psychologischen Privilegiertheit zugänglich sind, muss sich der homodiegetische Erzähler seine eigenen früheren Gedanken erst wieder vor Augen führen. Grundsätzlich ist allerdings davon auszugehen, dass, wie Cohn (1978, S. 14) bemerkt, die Techniken der Bewusstseinsdarstellung sowohl bei homodiegetischen als auch bei heterodiegetischen Erzählungen zur Anwendung kommen können. Einen detaillierten Überblick über die Techniken der Bewusstseinsdarstellung und ihre Implikationen für homo- und heterodiegetische Erzählungen liefert Cohn (1978).
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Fiktionale Weisen der Erinnerungs- und Identitätsbildung
nen Verarbeitungen, subjektiven Brechungen und Verzerrungen von Erlebnissen. 170 Das besondere Leistungsvermögen der literarischen Innenweltdarstellung besteht darin, auch jene pränarrativen Einflussgrößen vor Augen zu führen, die in der kulturellen Praxis ihre Wirkung unmerklich und unbewusst entfalten (vgl. Erll 2003, S. 166). In diesem Sinne betont Cohn (1978, S. 7) in Anlehnung an Käte Hamburger: ,,[N]arrative fiction is the only literary genre, as well as the only kind of narrative, in which the unspoken thoughts, feelings, perceptions of a person other than the speaker can be portrayed." Der Mentalstil einer Figur (d.h. die sprachlich-stilistischen Kennzeichen ihrer Bewusstseinsvorgänge wie Wortwahl, Register oder Syntax) liefert Einblick in unbewusst wirksame Einstellungen und mentale Dispositionen (vgl. Fowler 1977; Nischik 1991b). Er ist daher auch ein besonders geeignetes Instrument für eine Evokation von traumatischen Erfahrungen, die angesichts ihres hochgradig belastenden und singulären Charakters nur schwer direkt narrativierbar oder intersubjektiv vermittelbar sind. Das fiktionale Privileg der Innenweltdarstellung eröffnet damit die Möglichkeit, jene sozialen Einflüsse und Erfahrungen darstellbar und hinterfragbar zu machen, die in anderen Diskursen zumeist unartikuliert bleiben: Kulturspezifische Schemata, ideologische Präsuppositionen, standardisierte Vorstellungen, halbbewusste Wahrnehmungsmuster sowie traumatische Erfahrungen können im Medium der fictions of memoiy für die Erinnerungskultur zugänglich gemacht werden. Eine für homodiegetische Erzähler zentrale Form der sinnstiftenden Innenweltexploration stellt die Fokalisierung des Vergangenen dar. Im Vergleich zu erzählerischen Repräsentationen suggeriert Fokalisierung eine perspektivischinvolvierte Unmittelbarkeit des Dargestellten. Die konstitutive Dualität zwischen vergangenem und gegenwärtigem Selbst und die hiermit verbundene Spannung zwischen diegetischer und extradiegetischer Ebene eröffnet homodiegetischen Erzählern die Möglichkeit, Vergangenes entweder intern oder extern zu fokalisieren. 17 ' Wird Selbsterlebtes primär intern fokalisiert, so rücken die Erfahrungsweisen des erlebenden Ichs auf der Handlungsebene in den Vordergrund. Interne 170 Vgl. hierzu Fludernik (1996, S. 49f.): „Consciousness comprises both lived experientiality and intellectual attempts to deal with experience, and it includes the comprehension o f actancy just as it necessarily embraces an understanding o f mental processes." Auch Gymnich (2000, S. 67) stellt die subjektabhängige Wahrnehmung heraus: „Derselbe perzeptuelle Input kann nicht nur von verschiedenen Individuen auf völlig unterschiedliche Weise wahrgenommen werden, sondern die Subjektivität von Wahrnehmung schlägt sich auch darin nieder, daß die Wahrnehmung ein und desselben Individuums in Abhängigkeit von aktuellen Gefühlen variiert." 171
Unter Fokalisierung wird - im Anschluss an Jahn (1996) - die Frage nach der Wahrnehmung und der damit verbundenen perspektivischen Brechung des Erzählten verstanden. Die Differenzierung zwischen interner und externer Fokalisierung und deren Übertragung auf homodiegetische Erzähler folgt den Überlegungen von Edmiston (1989, 1991). Edmiston modifiziert herkömmliche Ansätze, die homodiegetische Erzähler auf eine interne Fokalisierung des Vergangenen festlegen. Demgegenüber schlägt er vor, die Unterscheidung zwischen interner und externer Fokalisierung an die Position des erlebenden bzw. erzählenden Ichs zu knüpfen. Vgl. in diesesm Zusammenhang des Weiteren Phelan (2001).
Die Rhetorik der Erinnerungen und Identitäten
173
Fokalisierung bringt die vergangnen Erfahrungen so zur Anschauung, wie sie sich aus der Perspektive des erlebenden Selbst darstellten, „characters and events just as he pereived them at the time of the events" (Edmiston 1989, S. 739). Das erzählende Ich mit seinem übergeordneten Wissenshorizont tritt weit gehend zurück, wirkt also weder in evaluativer noch in intellektueller Hinsicht als Korrektiv früherer Handlungen und Wahrnehmungsmuster. 172 Im Fall von externer Fokalisierung hingegen verlagert sich der Akzent von der diegetischen auf die extradiegetische Ebene. Das erzählende Ich nutzt seine überblickende Perspektive dazu, die vergangenen Erfahrungen kritisch im Lichte seines gegenwärtigen Wissenshorizontes zu perspektivieren und zu kommenderen (vgl. Edmiston 1991, S. 3-5). Wird Zurückliegendes primär extern fokalisiert, so sind Elaboration und Bewertung des Vergangenen zumeist deutlich von den gegenwärtigen Sinnanforderungen und Bewertungsmaßstäben des erzählenden Ichs überformt. Interne und externe Fokalisierung haben wesentliche Implikationen für die Inszenierung von Erinnerungen in den fictions of memory, denn sie bringen zur Darstellung, was in der kognitiven Psychologie - in Anlehnung an die Einsichten Sigmund Freuds - als Feld- bzw. Beobachtererinnerungen bezeichnet wird (vgl. Schacter 2001 [1996], S. 45-47). Interne Fokalisierung geht mit der Inszenierung von Felderinnerungen (field memories) einher. 173 Solche Erinnerungen zeichnen sich dadurch aus, dass sie vergangene Ereignisse zumindest tendenziell aus der ursprünglichen Perspektive des damaligen Erlebens reaktualisieren. Externe Fokalisierung hingegen bringt Beobachtererinnerungen (observer memories) zur Anschauung, mithin solche Erinnerungen, die wir vorrangig als distanzierte Beobachter unseres vergangenen Selbst vergegenwärtigen.174 Während die durch interne Fokalisierung evozierten Felderinnerungen in den fictions of memory häufig dazu genutzt werden, die Besonderheiten vergangener Erlebens- und Wahrnehmungsweisen in ihrer emotionalen Dimension zu vergegenwärtigen, ermöglichen externe Fokalisierung und die damit einhergehenden Beobachtererinnerungen eine kritisch-reflektierte Auseinandersetzung mit vergangenen Erfahrungen im Lichte gegenwärtiger Handlungsanforderungen. Interne Fokalisierung und damit verbundene field memories stellen ein besonders geeignetes Mittel dar, um die anhaltende Virulenz des Vergangenen zu inszenieren und — dies gilt insbesondere auch für die communal voice — die Authentizität des Erinnerten zu suggerieren. Externe Fokalisierung und die durch sie erzeugten observer memories veranschaulichen hingegen, in welchem Maße die Deutung 172
Vgl. E d m i s t o n (1991, S. 3), der diesen Aspekt expliziert: „ W e can say that the experiencing self is the focalizer when a narrative statement contains nothing m o r e than what he could have perceived o r known at the m o m e n t o f e v e n t . "
173
Vgl. zu diesen unterschiedlichen Modi des autobiographischen Erinnerns ausführlich Kap. I I . 1 . 2 dieser Arbeit.
174
Schacter (2001, S. 45) verdeutlicht die Differenzierung zwischen Feld- und Beobachtererinnerungen anhand folgender Fragen: „Sehen Sie sich selbst in dem G e s c h e h e n ? O d e r sehen Sie es durch Ihre Augen, als wären Sie dort und blickten nach draußen, so daß Sie nicht Teil des Bildes sind, das Sie s e h e n ? "
174
Fiktionale Weisen der Erinnerungs- und Identitätsbildung
des Vergangenen von der gegenwärtigen Perspektivierung abhängt. Dieser diskursive Perspektivierungsmodus unterstreicht, dass Erinnerungen stets von präsentischen Bedingungen geprägt sind und damit auch willentlich .umgeformt' werden können. Je nach Ausgestaltung der Situation des Erinnerungsabrufs kann die Bewusstseinsdarstellung in den fictions of memory neben Erinnerungen auch gegenwärtige Wahrnehmungen, Gefühle und Gedanken umfassen. Aktuelle Wahrnehmungen und Emotionen sind vor allem dann von Interesse, wenn sie zum Auslöser von Erinnerungsprozessen werden. Wahrnehmungen bzw. cues können einen Abruf von individuellen Erinnerungen aus dem episodischen Gedächtnis in Gang setzen und damit von unmittelbarer Relevanz für das Selbstverständnis des Individuums sein. Wie die Gedächtnispsychologie verdeutlicht, fungieren externe cues nicht nur als neutraler Abrufreiz von Erinnerungen; vielmehr bestimmen sie auch die konkrete Elaboration von vergangenen Erfahrungsspuren. Erinnerungen müssen daher als Synthese von gegenwärtigen cues und zurückliegenden Ereignissen betrachtet werden. Dies bedeutet, dass vergangene Erfahrungen von der erinnernden Figur je nach gegenwärtigem cue ganz unterschiedlich elaboriert werden können. Das Zusammenspiel von Wahrnehmungen und Erinnerungen erweist sich in beachtlichem Maße als durch momentane Emotionen und Affekte des Individuums bestimmt. Ebenso wie Wahrnehmungen und Erinnerungen Gefühle stimulieren können, so können Gefühle Einfluss auf die gegenwärtige Interpretation von Perzeptionen und Erinnerungen nehmen. Auch Emotionen (als interne cues) fungieren nicht als neutrale Stimuli; vielmehr haben sie maßgeblichen Anteil an der spezifischen Signifikation des Vergangenen. Sie tragen daher zur prinzipiellen Variabilität der individuellen Vergangenheitsdeutung bei: J e nach gegenwärtigem Empfinden kann die individuelle Vergangenheit ganz unterschiedlich aufbereitet werden. Hohe emotionale Involvierung in das vergangene Geschehen ebnet in der Regel beträchtlichen mnemonischen Verzerrungen den Weg, die sich bei homodiegetischen Erzählern bis hin zur narrativen UnZuverlässigkeit steigern können. Von besonderer Bedeutung für eine Analyse des gegenwärtigen Selbstverständnisses von erinnernden Figuren sind schließlich aktuelle Gedanken, die den Erinnerungsprozess begleiten oder kommentieren. Da Gedanken in der Regel ausgesprochen elaborierte Bewusstseinsinhalte sind, ist davon auszugehen, dass sich in ihnen die explizitesten Selbstdefinitionen manifestieren, die sich aus der bewussten Auseinandersetzung mit der Vergangenheit ergeben. Selbstreflexionen können vergangene Handlungen selbstkritisch bewerten und deren Implikationen für das aktuelle Identitätsmuster analysieren. Die zentrale Herausforderung gegenwärtiger Gedanken ist die sinnvolle und psychologisch intelligible Bezugnahme auf das Erinnerte, also die Herstellung eines signifikanten und kontinuitätsstiftenden Bezugs zwischen Gegenwart und Vergangenheit. Damit Erinnerungen überhaupt eine identitätsstiftende Wirkung entfalten können, muss das Vergangene gedanklich an die aktuelle Situation angebunden werden. Misslingt der erinnernden Figur dieser kontinuitätsstiftende Brückenschlag, so wird das identitätsdestabilisierende
Die Rhetorik der Erinnerungen und Identitäten
175
und destruktive Potential von Erinnerungen sichtbar. Nicht biographische Kontinuität, sondern ein biographischer Bruch verbindet sich mit dem Erinnerungsakt. Die Probleme der narrativen Aufbereitung und identitätsstiftenden Aneignung des Vergangenen können in Gedanken außerdem zum Gegenstand der expliziten Reflexion werden. In diesem Fall avancieren die Grundprobleme der Identitätsarbeit selbst zum zentralen Thema. In metamnemonischen Reflexionen kann die Authentizität des Erinnerten ebenso bekräftigt werden wie die Möglichkeit von zuverlässiger Vergangenheitsrepräsentation in Frage gestellt werden kann. Erinnerungen — selbst als nicht externalisierte Bewusstseinsinhalte — werden häufig durch die virtuelle, rein imaginäre Vergegenwärtigung anderer Personen aktualisiert und elaboriert. Wie Maurice Halbwachs aus soziologischer Perspektive und Harald Welzer in seinem sozialpsychologischen Ansatz dargelegt haben, enthält das individuelle Gedächtnis in sich eine Pluralität von sozialen Erinnerungsbezügen. Viele Erinnerungen entstehen erst durch die imaginäre Bezugnahme auf signifikante Interaktionspartner. Dieses imaginierte Zwiegespräch beeinflusst auf je spezifische Weise den Inhalt und die Form der Erinnerung. Für literarische Inszenierungen von Erinnerungen stellt sich daher die Frage, welche Figuren bei der Vergangenheitsrekonstruktion eine herausragende Bedeutung erlangen und inwiefern diese inneren Dialogpartner Einfluss auf die jeweilige Rekonstruktion von Erinnerungen nehmen. Sind individuelle Erinnerungen an einen spezifischen Adressaten gerichtet, so ist prinzipiell von der Möglichkeit einer adressatenspezifischen Verzerrung auszugehen, die sich in der Selektion und Deutung des Erinnerten materialisiert. Die adressatenspezifische Elaboration individueller Erinnerungen kommt insbesondere dann zum Tragen, wenn Bewusstseinsinhalte die intime Sphäre der persönlichen Innenwelt verlassen und in der figuralen Rede mit anderen Protagonisten der fiktionalen Welt geteilt und intersubjektiv ausgehandelt werden. Da retrospektive Sinnstiftungen für die individuelle Identitätskonstitution weit gehend wirkungslos bleiben, wenn sie nicht die Zustimmung von signifikanten Bezugspersonen finden, neigen Personen dazu, bei der Kommunikation ihrer Erfahrungen die angenommenen Werte und Erwartungen ihres Gegenübers zu berücksichtigen. Für die figurale Vermittlung von Erinnerungen im Medium der fictions of memoiy impliziert dies, dass sie je nach Adressaten unterschiedlich ausfallen können. Werden Erinnerungen als pragmatische Werkzeuge für individuelle Zwecke instrumentalisiert (vgl. Middleton/Edwards 1990), so können etwa sozial als unerwünscht oder inakzeptabel erachtete Aspekte bewusst ausgespart werden. Da Erinnerungselaborationen mithin stets Spuren des kommunikativen Gegenübers tragen, sind bei einer Analyse der gedächtnisbasierten Figurenrede auch konkrete Gesprächskontexte sowie persönliche Kommunikationsziele zu berücksichtigen. Schließlich können fictions of memory durch die literarische Inszenierung von Figurenrede nicht nur die soziale Prägung des individuellen Gedächtnisses, sondern auch die zentralen Praxen der gemeinsamen Vergangenheitsauslegung, des memory talk also, beobachtbar machen. Der memory talk stellt eine grundlegende Praxis des Vergangenheitsbezugs von Erinnerungsgemeinschaften dar, die den Ausgangs-
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Fiktionale Weisen der Erinnerungs- und Identitätsbildung
punkt für die Konstitution von kollektiver Identität bildet. Wo Erinnerungen von anderen Figuren geteilt und intersubjektiv ausgehandelt werden, weisen sie eine kollektive Dimension auf. Die Frage, wer an dieser organisierten Struktur gemeinsamer Vergangenheitsreferenzen partizipiert, liefert Aufschluss über die Art der Erinnerungsgemeinschaft (etwa familien-, generationen-, klassen- oder ethnienspezifisch). Durch die Figurenrede fuhren fictions of memory vor Augen, wie Vergangenheiten im gemeinsamen Gespräch elaboriert werden, wie kollektiver Sinn erzeugt wird und wie diese geteilten Geschichten kollektive Identität zu fundieren vermögen. Vergangenheitserzählungen sind Angebote an andere Figuren, sich auf eine gemeinsame Vergangenheitssicht einzulassen und so die Voraussetzung für die der Erinnerungsgemeinschaft zugrunde liegenden .ongoing narratives' (vgl. Humphrey 2004, S. 386) zu schaffen. Eine Analyse der kommunikativen Partizipationsstruktur gibt zudem darüber Auskunft, ob solche kulturellen Arrangements als relativ fest gefügte und exklusive oder aber als offene Gebilde imaginiert werden. Erinnerungen stiften allerdings nicht nur Gemeinschaft, sie können auch zum Anlass von veritablen Konflikten und Antagonismen werden. Dort, wo es nicht gelingt, andere in die Herstellung einer sozial geteilten Realität zu involvieren, wo Erinnerungen sich also unvereinbar gegenüberstehen, steht die Gemeinschaft der Gruppe auf dem Spiel. Die im Medium der fictions of memory inszenierten Innenweltdarstellungen und Figurendialoge bringen also grundlegende Merkmale individueller sowie kollektiver Erinnerungsakte zur Anschauung. Mit der Inszenierung der kommunikativen Verfertigung und Tradierung von Vergangenem in Figurendialogen machen fictions of memoiy nicht nur die potentiell gemeinschaftsstiftenden oder aber -zerstörenden Mechanismen der kollektiven Gedächtnisbildung begreifbar. Sie lenken das Augenmerk auch auf die kollektiven Anteile des individuellen Gedächtnisses und vermitteln damit innovative Konzeptionen von Identität. Bewusstseinsdarstellungen legen die Besonderheiten persönlichen Erlebens und die subjektiven Prädispositionen individueller Erinnerungen offen und evozieren auch jene pränarrativen Einflussgrößen und schwer artikulierbaren Erfahrungen, die in der Regel unbemerkten Einfluss auf Wirklichkeitswahrnehmungen ausüben. Angesichts dieser spezifischen Privilegien können fictions of memory in der Erinnerungskultur als „Sensorium" (Zapf 2002, S. 3) für Ausgeblendetes fungieren und den Grundstein für eine kulturelle Selbsterneuerung legen.
2.3 Die Perspektivenstruktur: Gedächtnismonologe und Erinnerungsdialoge Aus dem dynamischen Wechselspiel zwischen Figuren- und Erzählerrede, dem Changieren zwischen verschiedenen Fokalisierungsinstanzen, resultiert die grundsätzliche Polyphonie (Michail Bachtin) des Romans im Allgemeinen und der fictions of memory im Besonderen. Sie eröffnet die Möglichkeit, ganz unterschiedliche, kulturell koexistierende Erinnerungsversionen, deren Aushandlung im Streit um Deu-
177
D i e Rhetorik der Erinnerungen und Identitäten
tungshoheit sowie die grundlegend intersubjektive Dynamik von Identitätskonstitutionen zu inszenieren. Bachtin zufolge liegt der literarischen Polyphonie die grundsätzliche Dialogizität des Wortes zugrunde, die wiederum auf den epistemologischen Modus der kulturellen Heteroglossie verweist, also auf den historischen Kontext der miteinander konkurrierenden Diskurse. In seiner Bezogenheit auf den soziokulturellen Kontext sind dem Wort stets auch „kollektive Sichten der Welt", „eigentümliche Formen der verbalen Sinngebung, besondere Horizonte der Sachbedeutung und Wertung" (Bachtin 1979, S. 183) eingeschrieben. Die individuelle Rede hat im Roman also immer auch eine kollektive Dimension. Paradigmatisch kommt die Dialogizität im polyphonen Roman zur Darstellung, der als „Mikrokosmos"
der künstlerisch
organisierten
Redevielfalt
„die
sozio-ideologischen
Stimmen der E p o c h e " (ebd., S. 290) anklingen lässt: „Die Redevielfalt, die in den Roman eingeführt wird [...] ist fremde Rede in fremder Sprache [...]. Das Wort einer solchen Rede ist ein zweistimmiges Wort. [...] In ihnen ist ein potentieller, unentwickelter und konzentrierter Dialog zweier Stimmen, zweier Weltanschauungen, zweier Sprachen angelegt." (Ebd., S. 213) Bedeutung, so die grundlegende Einsicht Bachtins, entsteht im dialogischen Gegeneinander des eigenen und des fremden Wortes. Der narrativ-fiktionale Text als potentiell unabschließbarer Dialog stellt sich für Bachtin als ein dynamisches Wechselspiel verschiedener Sinnpositionen „ohne explizite Referenz auf ein individualisierbares
Sprechersubjekt"
(Lachmann 1982, S. 52) dar. Indem der Roman divergente und konkurrierende Stimmen zu Gehör bringt, „orchestriert [er] seine Themen, seine gesamte abzubildende und auszudrückende Welt der Gegenstände und Bedeutung mit der sozialen Vielfalt und der auf ihrem Boden entstehenden individuellen Stimmenvielfalt" (Bachtin 1979, S. 157). 1 7 5 Das genuine Leistungsvermögen des Romans liegt demzufolge darin, dass er als polyphones Sprachgebilde die vielen, auch sozioideologisch widersprüchlichen Stimmen hörbar machen kann, „to represent a medley o f voices engaged in a conversation and/or struggle for cultural space" (Scholes 1998, S. 134). 1 7 6 Bezüglich der fictions of memory werfen die interne Dialogisierung und die Bezogenheit des Wortes auf extraliterarische Kontexte zwei grundlegende Fragen auf. Mit Blick auf die notwendige Selektivität (vgl. Iser 1993 [1991], S. 24) literarischer Vergangenheitsmodelle stellt sich zum einen die Frage, wessen Erinnerungen - qua Erzähler- oder Figurenrede sowie Bewusstseinsdarstellung - Eingang in den Text finden und wessen Stimmen unberücksichtigt bleiben. Zum anderen stellt sich die
175
Vgl. auch Bachtin ( 1 9 7 9 , S. 183): „Als solche [Sprachen der Redevielfalt] können sie sehr wohl einander gegenübergestellt werden, können sie sich einander widersprechen, k ö n n e n sie dialogisch aufeinander bezogen sein. Als solche treffen sie aufeinander und koexistieren im Bewußtsein der M e n s c h e n [...]. Als solche leben sie real, kämpfen und entstehen sie in der gesellschaftlichen Redevielfalt."
176
Vgl. ganz ähnlich L o t m a n ( 1 9 8 1 , S. 12), der schreibt: „ D e r T e x t ist der semiodsche R a u m , in d e m Sprachen in Wechselwirkung treten, miteinander interferieren".
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Fiktionale Weisen der Erinnetungs- und Identitätsbildung
Frage nach der textuellen Relationierung bzw. Hierarchisierung dieser Vergangenheitsversionen. Stehen sich diese Stimmen gleichberechtigt gegenüber, oder tragen bestimmte literarische Strategien dazu bei, die einen Vergangenheits- und Identitätsmodelle affirmativ zu propagieren und andere zu delegitimieren? Antwort auf diese Fragen kann eine Analyse der Perspektivenstruktur liefern, die die Gesamtheit aller in dem literarischen Text inszenierten Einzelperspektiven (d.h. Figurenund Erzählperspektiven) und deren strukturelle Relationen bezeichnet. 1 7 7
Die
Perspektivenstruktur „ergibt sich aus dem übergeordneten System von Kontrastund Korrespondenzrelationen" (Nünning/Nünning 2000c, S. 51), die sich wiederum aus den Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen den Perspektiven der Figuren und der Erzählerperspektive ableiten lassen. Die Gesamtheit der die Perspektivenstruktur konstituierenden Kontrast- und Korrespondenzrelationen „bilde [t] eine virtuelle Struktur, die erst im Rezeptionsprozeß realisiert wird" (Nünning 1993b, S. 19), indem der Leser Beziehungen zwischen den einzelnen Elementen eines Texts herstellt. Durch das für Erzähltexte typische perspektivische Arrangement von Elementen entsteht eine „modalfe] Stratifizierung des Erzähluniversums" (Gutenberg 2000, S. 94), die auf der Ebene der textuellen Gesamtstruktur zu verorten ist. Grundsätzlich bestehen zwischen den Prozessen lebensweltlicher und fiktionaler Erinnerungs- und Identitätskonstruktionen eine Reihe von Parallelen: Wie Menschen sind auch literarische Figuren und anthropomorphisierte Erzählinstanzen typischerweise mit einer bestimmten Perspektive ausgestattet, die Aufschluss über deren Informationsstand, psychologische Dispositionen sowie erfahrungsleitende Werte und Normen bietet. Zudem sind literarische Figuren ebenso wie Menschen in konkrete kulturelle und soziale Kontexte eingebettet, sie partizipieren an bestimmten Gruppen und ihren spezifischen Gedächtnissen und interagieren mit anderen Figuren, die bei ihrer Identitätskonstitution eine mehr oder minder signifikante Rolle spielen. Die Konstitution von Identität stellt sich hiermit ebenso wie der Aufbau und die Stabilisierung identitätsrelevanter Erinnerungen als ein interaktives, relationales Phänomen dar. Erinnerungs- und Identitätskonstruktionen sind daher in einem Erzähltext nicht nur Ausdruck einer Einzelperspektive, sondern stets auch das Resultat des dynamischen Zusammenspiels zwischen der Gesamtheit aller Perspektiven. Die unter der Perspektivenstruktur subsumierte Selektion und die relationale Strukturierung der Figuren- und Erzählerperspektive eröffnen fictions of memory zahlreiche Möglichkeiten, um die Aushandlung von Erinnerungskonflikten, von Identitäts- und Alteritätskonstruktionen zu inszenieren und aktiv in den Streit um Erinnerungshoheit einzugreifen.
177
Vgl. zur Perspektivenstruktur und zum Phänomen der Multiperspektivität in narrativen Texten Nünning/Nünning (2000a, 2000b) und Surkamp (2003). Einen knappen Überblick liefert Surkamp (2001). Die Bedeutung der Perspektivenstruktur für interkulturelle Fragestellungen erläutert Sommer (2001, S. 68f.).
Die Rhetorik der Erinnerungen und Identitäten
179
Durch die selektive Gestaltung der Perspektivenstruktur treffen fictions of memory eine Entscheidung darüber, welche Erinnerungsversionen privilegiert und welche zumindest implizit abgewertet, d.h. als nicht erinnerungswürdig erachtet werden: Stories in the modern sense are always somebody's stories [...]. Such a perspectival notion of story implies that the coherence of one line of narration rests on the suppression of any number of .other sides,' alternative versions that might give the same sequence of events an entirely different set of emphases and values. (Hite 1989, S. 4) Bezogen auf die soziale Struktur der fiktionalen Welt ist bei der Analyse des in den fictions of memory zur Darstellung kommenden Perspektivenangebots zu berücksichtigen, welchen kulturellen, sozialen und ethnischen Gruppen mit ihren bestimmten Erfahrungen, Werten und Identitätskonzepten Beachtung geschenkt wird. Eine Analyse der Selektion und der Streubreite der Figuren- und Erzählerperspektiven liefert zudem Aufschluss darüber, ob und in welchem Ausmaß kulturell fremde Sichtweisen und Vergangenheitsversionen Eingang in die fiktionale Erinnerungskultur finden. Ist die Perspektivenstruktur so homogen angelegt, dass Figuren quasi unhinterfragt ihre spezifischen Erinnerungen zum Ausdruck bringen und ihre kollektiven Identitätskonstruktionen behaupten können? Oder sind sie aufgrund eines kulturell heterogenen Perspektivenspektrums dazu gezwungen, sich auch mit divergenten Vergangenheitsversionen auseinander zu setzen? Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass innerhalb kulturell homogener bzw. ethnisch exklusiver fiktionaler Welten eigene Vergangenheitsversionen und Kollektividentitäten relativ unstrittig artikuliert werden können, wohingegen eine kulturelle Ausdifferenzierung zumeist mit Erinnerungskonkurrenzen verbunden ist. Die Durchsetzungsfähigkeit bestimmter ErinnerungsVersionen hängt nicht nur davon ab, dass, sondern auch wie und in welchem Umfang sie berücksichtigt werden. Fictions of memory als Medien der Inszenierung von kultureller Erinnerungskonkurrenz können zwar heterogene, auch inkompatible Erinnerungen anklingen lassen; sie können sie jedoch implizit desavouieren und sie auf diese Weise ihrer Wirksamkeit berauben. Gedächtnisbildend wirken vor allem jene Perspektiven, die die fiktionale Erinnerungswelt in quantitativer Hinsicht dominieren. Eine zentrale Strategie, bestimmte Figuren in der fiktionalen Welt zum ,mnemonischen Anderen' zu machen, besteht darin, ihre Perspektiven und ihre Erinnerungszeichen nur in verkürzter Weise zu repräsentieren. Diese Marginalisierung kann dadurch noch verschärft werden, dass Erzähler oder Figuren als unglaubwürdig diskreditiert werden. 178 Dort, wo Erinnerungsversionen gegeneinander abgewogen werden und ihre Legitimität auf dem Spiel steht, kann sich eine solchermaßen negativierte Perspektive kaum behaupten. Umgekehrt tragen diejenigen Figuren oder Erzähler, 178 Vgl. Gutenberg (2000, S. 148), die dieses Autoritätsgefälle unterstreicht: „Die Autorität fiktionaler Wahrnehmungsinstanzen bestimmt die Faktizität von Aussagen, die über das Erzähluniversum getroffen werden."
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Fiktionale Weisen der Erinnerungs- und Identitätsbildung
deren Perspektiven in der fiktionalen Welt durch Formen der Sympathielenkung mit einem hohen Maß an Autorität und Verbindlichkeit ausgestattet sind, maßgeblich zur Definition der gemeinsamen Vergangenheit bei. Die Perspektivenstruktur kann in den fictions of memoty ebenso zur Inszenierung von geteilter Gedächtnisbildung wie zur Reflexion der Pluralität und Heterogenität kollektiver Erinnerungen genutzt werden. Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass in fictions of memory der Grad der Konvergenz zwischen einzelnen Perspektiven mit der Intensität und Stabilität gemeinsamer Gedächtnis- und Identitätsstiftungen korreliert. Weisen einzelne Erinnerungsperspektiven vielfältige Überschneidungen und ein hohes Maß an Interdependenz auf, so lässt dies auf die Existenz eines übergeordneten Gruppengedächtnisses schließen. Die Einzelerinnerungen liefern Einblick in unterschiedliche Facetten der gruppenkonstitutiven Vergangenheit und stützen sich wechselseitig. Sie konvergieren in einem gemeinsamen Fluchtpunkt und führen auf diese Weise die Kommunalität der Erfahrung vor Augen. Umgekehrt markieren divergierende, perspektivisch gebrochene Erinnerungen die unhintergehbare Subjektivität der Sinnstiftung. In einem weiteren Sinne verweisen Kontrastrelationen auf die Ausdifferenzierung und Stratifizierung von Kulturgesellschaften und die von ihnen erzeugten sozialen Wissensordnungen. Dort, wo sich die gemeinsame Vergangenheit in eine Vielzahl heterogener Erinnerungsversionen auflöst, werden die Risse, Differenzen und Konkurrenzen innerhalb der fiktionalen Erinnerungswelt offen gelegt. Unterschiedliche Erinnerungsperspektiven stehen sich hier im Ringen um Erinnerungshoheit antagonistisch gegenüber, wodurch die Vorstellung eines gemeinsamen Erinnerungshorizontes fragwürdig wird. Die multiperspektivische Auffächerung des Geschehens in konkurrierende Vergangenheitsversionen macht die Besonderheiten heutiger, zunehmend pluraler Erinnerungskulturen beobachtbar: Der öffentliche Gedächtnisraum ist von einer Pluralität von Stimmen, Vergangenheiten und Erinnerungen beherrscht, die sich nicht zu einem Gedächtnis im Kollektivsingular synthetisieren lassen. Die soziale Pluralisierung konkurrierender Vergangenheitsdeutungen kann in den fictions of memory durch Formen struktureller Multiperspektivität, d.h. durch vielgestaltige intertextuelle und intermediale Referenzen auf die materiale Dimension der Erinnerungskultur verstärkt werden. Eine strukturelle Auffächerung des Vergangenen zeigt, in welchem Maß die Durchsetzungsfähigkeit von Erinnerungen von der Verfügbarkeit unterschiedlicher Gedächtnismedien abhängt. Strukturelle Multiperspektivität ist vor allem in homodiegetischen Erzählungen eine prominente Strategie, die perspektivische Begrenzung zu kompensieren und sie mit konkurrierenden Sichtweisen zu konfrontieren. Die Gestaltung der Perspektivenstruktur gehört zu den grundlegenden Konstituenten der Rhetorik der Erinnerungen und Identitäten. Die multiperspektivische Auffächerung des Erinnerten kann nicht nur die subjektive Gebrochenheit und Standortgebundenheit von Erinnerungsprozessen veranschaulichen, sondern auch die Pluralität, oftmals sogar Inkompatibilität des kollektiv Erinnerten beobachtbar machen. Multiperspektivisch aufgefächerte Texte lenken das Augenmerk auf die
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Eigenarten multikultureller Erinnerungskulturen, nämlich die Schwierigkeit, oftmals sogar Unmöglichkeit, konkurrierende Erinnerungen in ein überindividuelles, verbindendes und verbindliches Gedächtnis zu überführen. Während die geschlossene Perspektivenstruktur, bei der die verschiedenen Stimmen und artikulierten Erinnerungen schließlich in einen gemeinsamen, hierarchisch übergeordneten Fluchtpunkt münden, auf ein relativ monolithisches bzw. — um mit Bachtin (1971) zu sprechen - auf ein „monologisches", oftmals selbstautorisierendes (Gegen-)Gedächtnis verweist, indiziert eine offene Perspektivenstruktur dialogische Erinnerungsvielfalt. Hier, wo einander wechselseitig relativierende Erinnerungen um Deutungshoheit konkurrieren, kann das agonale Moment pluralistischer Gesellschaften nicht durch einen verbindlichen Integrationspunkt stillgestellt werden: Es herrscht eine „echte" Erinnerungspolyphonie (vgl. Bachtin 1971, S. 10). Sowohl mit der echten als auch mit der unechten Polyphonie können fictions of memory zentrale erinnerungskulturelle Funktionen erfüllen: Während geschlossene Perspekti venstrukturen häufig dazu funktionalisiert werden, vormals marginalisierten Gegen-Erinnerungen eine Stimme zu verleihen und ihnen in der Erinnerungskultur Geltung zu verleihen, lassen offene Perspektivenstrukturen heterogene, gemeinhin kulturell getrennte Erinnerungen anklingen und wägen sie im Medium der Fiktion probeweise gegeneinander ab.
2.4 Plotanalyse: Erinnerungsmuster und konfabulierte Vergangenheiten Dort, wo es wie in den fictions of memory um die individuelle oder kollektive Identitätsformation und deren Behauptung im öffentlichen Erinnerungsraum geht, kommt der Erzählstruktur des Handlungsverlaufs sowie dominanten Darstellungsmustern eine besondere Bedeutung zu. Individuelle sowie kollektive Identitäten werden in einem beachtlichen Maße narrativ, d.h. in Form von erinnerungsbasierten Geschichten konstruiert und stabilisiert. Da narrative Repräsentationsformen keineswegs nur abbildender, mimetischer Qualität sind, sondern Bedeutung allererst konstituieren, nehmen die Geschichten, die wir von uns erzählen, entscheidenden Einfluss auf die Entwicklung unserer Identität sowie auf unser intentionales Handeln (vgl. Emcke 2000, S. 234; Gutenberg 2000, S. 2). Welche Geschichten für Individuen und Gruppen erzählbar sind und welche Identität sie sich damit verleihen können, hängt nicht nur von individuellen Sinnbedürfnissen ab, sondern auch von dem kulturspezifischen Inventar an konventionalisierten Plotstrukturen bzw. Narrationsmustern. Plottypen bieten einen orientierungsbildenden und in diesem Sinne auch restriktiv wirkenden Gestaltungshorizont für den Entwurf eigener Geschichten. Sie stellen nicht nur formale Regeln der Strukturierung bereit. Vielmehr perpetuieren sie auch inhaltliche Vorgaben, die in mehr oder minder flexiblem Ausmaß gesellschaftliche Verhaltensnormen festlegen und Personen eines bestimmten Geschlechts, einer ethnische Gruppe oder einer Klasse spezifische soziale Rollen zuweisen.
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Ebenso wie reale (extraliterarische) Identitätsentwicklungen eng an verfugbare Narrationsmuster gebunden sind, so tragen auch die im fiktionalen Text aktualisierten Plotmuster zur identitären Definition von Figuren bei. Die jeweilige Plotstruktur legt fest, auf welchen Endpunkt die Erzählung ausgerichtet ist, welche Rolle Geschehnisse und Erfahrungen im Rahmen einer Erzählung spielen und welche Bedeutungen ihnen potentiell zugeschrieben werden können. Die Identitätskonstitution der fiktionalen Protagonisten ist wesentlich durch den Plotverlauf sowie die hiermit kompatiblen Handlungsentscheidungen geprägt: „[A] character in a novel can be defined mainly by his or her choices within the plot" (Davis 1987, S. 196). Als bedeutungsschaffendes Prinzip steckt der Plot einen präformierten Rahmen ab, der für die jeweiligen fiktionalen Akteure bestimmte Handlungsverläufe und Identitätskonstruktionen zulässt oder aber ausschließt. Bezogen auf die fictions of memory sind für die Konzeptualisierung des Plots und den damit assoziierten Zusammenhang zwischen Handlung und Identitätskonstitution zwei zentrale Aspekte zu bedenken. Erstens muss dem Umstand Rechnung getragen werden, dass identitätsrelevante Handlungen in diesem Genre in der erinnernden Rückschau aktualisiert werden. Dies impliziert die Möglichkeit einer retrospektiven Umdeutung der eigenen Vergangenheit. In zeitgenössischen fictions of memory treten an die Stelle einer faktisch-objektiven Vergangenheit oftmals mögliche, imaginierte oder fabulierte Vergangenheiten, die die grundlegende Polyvalenz von vergangenen Erfahrungen unterstreichen. Zweitens ist zu berücksichtigen, dass das individuelle Identitätsverständnis nicht nur auf realisierten Handlungen, sondern auch — und oftmals gerade - auf verhinderten, nur erhofften oder erwünschte Taten basiert. Die Konstitution von Identität ist maßgeblich durch die in der fiktionalen Sinnwelt verankerten Normen und Werte geprägt, die festlegen, welche Handlungen für die einzelnen Akteure überhaupt als möglich erachtet werden.179 Vor allem für Angehörige gesellschaftlich benachteiligter Gruppen können vorherrschende Rollenvorstellungen restriktiv wirken. Um zu einem adäquaten Verständnis des Plots zu gelangen, ist daher neben den tatsächlich ausgeführten Handlungen den potentiell realisierbaren Handlungsoptionen sowie den imaginierten Vergangenheiten konzeptuell Rechnung zu tragen. Diese möglichen Vergangenheiten liefern zwar nicht unbedingt Aufschluss über die faktischen Begebenheiten des Vergangenen. Gleichwohl bieten sie Einblick in aktuelle Sinnbedürfnisse der Figur. Sie zeigen, dass es bei der Identitätskonstruktion weniger um eine detailgenaue Wiedergabe des Vergangenen als vielmehr um die Herstellung eines als subjektiv plausibel empfundenen Bedeutungszusammenhangs geht. Um der Bedeutung des Plotmusters für die Identitätskonzeption adäquat beschreibbar zu machen, wird im Folgenden auf das von Andrea Gutenberg (2000) entwickelte Plotmodell zurückgegriffen. Die Produktivität von Gutenbergs Neu179 Auch Russ (1972, S. 4) betont die Bedeutung des fiktionalen Handlungsrahmens für die Identitätsentwicklung: „Novels, especially, depend upon what central action can be imagined as being performed by the protagonist (or protagonists) — i.e. what can a central character do in a book?"
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konzeptualisierung besteht in der Erweitung des Plots um virtuelle, nichtaktualisierte oder -aktualisierbare Handlungen. Gutenbergs Plotkonzept basiert auf den Einsichten der possible-worlds theory (PWT) (vgl. Ryan 1991, 1992), 180 derzufolge die Wirklichkeit ein modales System darstellt, „das aus einer Vielzahl von Welten besteht: einer tatsächlichen Welt {actual world) und möglichen alternativen Welten (possible worlds)" (Surkamp 2001, S. 517). Bezogen auf literarische Texte leitet sich hieraus die Einsicht ab, dass im Medium der Fiktion nicht nur eine alternative, parallele Welt entworfen wird. Vielmehr formiert sich die fiktionale Wirklichkeit selbst aus einer Pluralität von Welten, die sich aus einer tatsächlichen Welt und ihren Alternativen konstituiert. Der Plot umfasst Gutenberg (2000, S. 92) zufolge das dynamische Zusammenspiel zwischen den im narrativen Text entworfenen virtuellen und aktualisierten Einzelereignissen und seiner „Organisation %u einer sinn-
haflen, zusammenhängenden und mehr oder weniger zielgerichteten Ereigniskette in einem fiktiven System möglicher Welten". Im Gegensatz zur story, die sich aus den aktualisierten Handlungselementen konstituiert, schließt der Plot die Gesamtheit realisierter und virtueller Ereignisse ein (vgl. ebd., S. 72). Entscheidend für die Entfaltung eines Plots sind das Entstehen eines Konflikts zwischen den verschiedenen textuellen (Teil-)Welten und der hiermit verbundene Versuch der Figuren, die tatsächliche Welt gemäß ihren alternative possible worlds zu modifizieren. Die Anschließbarkeit dieses Plot-Konzepts an die gattungsspezifischen Besonderheiten der fictions of memory liegt auf der Hand: Die Erweiterung der Plotebene um virtuelle Ereignisse macht die oben formulierte Einsicht beschreibbar, derzufolge auch vergangene Handlungen, die nicht verwirklicht wurden bzw. werden konnten, das gegenwärtige Identitätsverständnis der sinnstiftenden Figur maßgeblich mitbestimmen. Auf der Basis dieses dynamischen Verständnisses von Plot nimmt Gutenberg eine Klassifizierung unterschiedlicher Plottypen vor, die sich gewinnbringend zu der in dieser Studie angestrebten Analyse verschiedener Formen und Funktionen von Erinnerungen heranziehen lässt. Gutenbergs (2000, S. 6) Unterscheidung zwischen ,individuenzentrierten und gruppenzentrierten Typen' stellt Kriterien bereit, um zu einer systematischen Erfassung der in den fictions of memory inszenierten individuellen und kollektiven Erinnerungen zu gelangen. So sind individuelle Erinnerungen und Identitäten in fictions of memory zwar immer auch soziokulturell überformt, allerdings können sich Figuren je nach Handlungsanforderungen und gesellschaftlichen Bedingungen stärker individuell oder stärker sozial-kollektiv definieren. In individuenzentrierten fictions of memory liegt der Fokus auf der persönlichen Lebensgeschichte eines reminiszierenden Individualprotagonisten, der in der erinnernden Rückschau um individuelle Selbstvergewisserung ringt. In gruppenbezogenen fictions of memory hingegen geht es um die Interaktion mehrerer Figuren, die durch ihre geteilte Vergangenheit bzw. durch das gemeinsame Verhandeln von Vergangenem verbunden sind. Ob diese Figuren in gruppenspezifischen Plottypen 180 Einen guten Überblick über die theoretischen Prämissen der possible-worlds theoretischen Operationalisierbarkeit liefert Surkamp (2002).
tlxoiy und ihrer erzähl-
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tatsächlich eine Erinnerungsgemeinschaft bilden oder ob sie sich antagonistisch gegenüberstehen, hängt davon ab, wie eindeutig sie sich auf eine geteilte Vergangenheitsauslegung verständigen können bzw. in welchem Maße ihre .mnemonischen Teilwelten' konvergieren. Da Figuren stets in einem sozialen Kontext agieren, kann es sich bei der Unterscheidung zwischen Individuen- und gruppenzentrierten Polttypen natürlich nur um eine graduelle handeln, nicht um eine kategoriale. Im Medium der fictions of memory erweist sich der Quest-Plot als prototypische Umsetzung eines individuenzentrierten Plottypus. Das Quest-Motiv mit der ihm eigenen Dynamik und Teleologie bezeichnet ein Phänomen, das aus dem menschlichen Streben nach ständig neuer Selbstrealisierung im Sinne einer „Selbsttranszendenz" erwächst, nämlich „der Suche nach etwas noch nie Dagewesenem, das nicht schon von jeher zum Erfahrungsschatz der Spezies gehört und damit bereits Bestandteil eines kulturellen Gedächtnisses ist" (Gutenberg 2000, S. 171). Da diese Suche stets auf ein bestimmtes Ziel ausgerichtet ist, stellt sich nicht nur die Frage nach der Handlungs- und Sinnstiftungskompetenz des Einzelnen. Signifikant ist vielmehr auch, ob das soziale Umfeld ihm ermöglicht, die erhofften und erwünschten Handlungsalternativen zu realisieren. Der Quest-Plot entfaltet sein Konfliktpotential aus dem Spannungsverhältnis zwischen Individuum und kulturellem Kontext (vgl. DuPlessis 1985, S. 200). Auf diesem dezidiert autobiographischen Impetus, der sich aus der Konzentration auf einen Individualprotagonisten und seine Suche nach neuen Selbstdefinitionen ergibt, beruht die Affinität des Quest-Plots zu individuenzentrierten fictions of memory. Zahlreiche Romane dieser Gattung fokussieren die vergangenen, episodischen Selbsterfahrungen, die einzelne Akteure in der Auseinandersetzung mit und Abgrenzung von ihrem soziokulturellen Umfeld gemacht haben. Hier wie dort geht es dem Protagonisten darum, die von ihm geplanten möglichen Welten zur Aktualisierung zu bringen und die tatsächliche fiktionale Welt an seine subjektiven Vorstellungen anzunähern. Bezogen auf die fictions of memory unterliegt der QuestPlot allerdings einer zentralen Modifikation. In diesem erinnerungsbasierten Genre werden die identitätsrelevanten Erfahrungen stets retrospektiv, d.h. in der erinnernden Rückschau vergegenwärtigt und sinnhaft aufbereitet: Die Quest ist in den fictions of memory an die sinngebende Ordnung der Erinnerung gebunden. Mit dem Rekonstruktionsprozess ist daher die grundlegende Möglichkeit auch zur intentionalen Umdeutung des Vergangenen im Lichte aktueller Selbstverständnisse verbunden. Die Gebundenheit des Plots an die aktuellen Dispositionen der sinnstiftenden Figur impliziert, dass die faktische fiktionale Welt retrospektiv - etwa durch Konfabulationen oder aktive Versuche, ein neues Selbst zu imaginieren — an die individuelle Vorstellungswelt angenähert wird. Die Quest kann allerdings auch aufgrund von Erinnerungslosigkeit, also einem passiv erlittenen Mangel, scheitern. Nicht aktive Umdeutungsversuche, sondern Amnesien stehen in diesem Fall im Mittelpunkt. In dem Maße, in dem erinnernde Figuren ihre Vergangenheit reinterpretieren, ändert sich auch die Identität, die sie sich durch ihre Selbstgeschichten
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verleihen. Mit der Auflösung der Vergangenheit in mögliche, fabulierte Erinnerungswelten geht eine Pluralität von Identitäten einher, die die Diskontinuität der Erfahrungsrealität anzeigt. Dass der Quest-Plot angesichts seiner semantischen Implikationen besonders dazu geeignet ist, die Stiftung von Identität zu inszenieren, verdeutlicht vor allem der Bildungsroman, ein Genre, in dem dieser Plottypus seine differenzierteste und sinnfälligste Ausgestaltung erfahren hat (vgl. Voßkamp 1999, S. 192f.). Der Bildungsroman, der „seit dem 19. Jahrhundert im Dienste der literarischen Erforschung des Subjekts steht" (Sommer 2000, S. 110), ist diejenige literarische Gattung, in der unterschiedliche Möglichkeiten der Selbstverwirklichung des Einzelnen in der Gesellschaft paradigmatisch inszeniert werden. Die Merkmale des traditionellen Bildungsromans fasst Feiski (1986, S. 138) prägnant zusammen: Briefly, the Bildungsroman can be defined as biographical, assuming the existence of a coherent self; dialectical, understanding identity to be conditioned by a process of interaction between psychological and social forces; historical, describing identity changing over time; and optimistic, in the belief in a possibility of meaningful development.
Ein derartiger Quest-Verlauf, der sich durch lineare Progression, durch einen kohärenten, liberal-humanistischen Subjektbegriff sowie durch den Glauben an eine reibungslose Harmonisierung der inneren und äußeren Welt auszeichnet, konfligiert jedoch in verschiedener Hinsicht mit dem in vielen zeitgenössischen fictions of memory inszenierten Identitätskonzept. In fictions of memory erscheint Identität als das vorläufige, in sozialer Interaktion ausgehandelte Selbstbild, das eine Person retrospektiv qua erinnerungsbasierter Selbstnarrationen von sich entwirft. Die in den fictions of memory inszenierte Identität erweist sich zumeist als ein prozessuales, dynamisches und prinzipiell wandelbares Produkt, das im und durch den Akt der Narration erst gebildet wird. Für den im Medium der fictions of memory realisierten Quest-Plot hat dies zur Folge, dass er durch eine Abnahme eindeutiger, teleologisch-progressiver Handlungsverläufe sowie durch eine zunehmende Prozessualität, Pluralität und Ambiguität gekennzeichnet ist. Auch der im traditionellen Quest-Muster des Bildungsromans implizierte Optimismus bezüglich der Möglichkeit eines harmonischen Ausgleichs zwischen sozialen Anforderungen bzw. Rollenzuschreibungen und intrapsychischen Bedürfnissen erfährt in zahlreichen zeitgenössischen fictions of memory eine kritische Modifikation. 181 Die Konstitution von Identität - und dies gilt für Individuen ebenso wie für Kollektive - erfolgt auch im Medium der Fiktion nicht im ahistori-
181 Die Relativierung der erfolgsorientierten und harmonistischen Prämissen des dem klassischen Bildungsroman zugrunde liegenden Quest-Plots wird natürlich schon im so genannten .negativen Bildungsroman' vollzogen. In dieser Gattungsausprägung endet die Entwicklung des Protagonisten „nicht mit privatem Glück sowie Ausgleich mit der Gesellschaft, sondern letztlich scheitert dieser Held an den Normen und Institutionen" (Gutenberg 2000, S. 173) einer restriktiven sozialen Umwelt sowie an den Abgründen des eigenen Bewusstseins.
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sehen, vorpolitischen Raum, sondern ist maßgeblich durch soziokulturelle Vorgaben geprägt: Faktoren wie class, ethnicity oder gender legen fest, welche Identitätsentwürfe für bestimmte Individuen und Gruppen überhaupt imaginierbar und gesellschaftlich realisierbar sind. Gerade für Angehörige ethnischer Minoritäten in Multikulturen oder für Frauen in patriarchalisch organisierten Gesellschaften bedeutet dies, dass ihre soziokulturelle Umwelt ihnen oftmals stereotype Zuschreibungen bezüglich ,ihrer' Identität nahe legt, die ihr voluntatives Selbstverständnisse schlicht missachten. Stehen die konfliktreichen Erfahrungen einer Figur oder einer Gruppe, die einer kulturellen Minderheit angehört, im Zentrum der Quest, so geht dies mit einer grundlegenden Verschiebung ihrer traditionellen Semantik einher. Eine .Ethnisierung' oder .Feminisierung' generiert neue Problemstellungen sowie alternative Vorstellungen von Identitätskonstruktionen (vgl. Gutenberg 2000, S. 173). So etwa rücken im Falle einer multikulturellen Quest die Immigrationserfahrung, kulturelle Marginalisierungen sowie das damit verbundene NichtVertretensein im öffentlichen Erinnerungsraum in den Vordergrund. Gerade für solche fictions of memory, in denen die Quest von sozial benachteiligten Protagonisten im Vordergrund steht, gewinnen die erwünschten möglichen Welten an zusätzlicher Bedeutung. In zeitgenössischen kanadischen fictions of memory geht es nicht nur um Möglichkeiten der individuellen Identitätskonstruktion, sondern auch um die Frage, wie Gruppen erinnern und wie sie auf der Basis der geteilten Vergangenheitsauslegung kollektive Identitäten imaginieren. In solchen, auf gruppenspezifischen Plotmustern basierenden fictions of memory stehen die Interaktionen zweier oder mehrerer Figuren und ihre gruppenspezifischen Formen des Erinnerns im Zentrum. Figuren sind in diesem Fall eng in einen Kontext persönlicher und sozialer Beziehungen eingebunden, womit sich der Fokus auf die gruppendynamischen Prozesse und die damit verbundenen Themen wie gruppenspezifische Werte- und Normensysteme, Identitätskonstruktionen sowie Zugehörigkeits- und Ausschlusskriterien verlagert (vgl. Gutenberg 2000, S. 194f.). Für die Analyse der in den fictions of memory inszenierten Erinnerungen ist vor allem die inhärente Struktur der gruppenspezifischen Plotmuster relevant, d.h. die Frage nach Korrespondenzen bzw. Divergenzen zwischen einzelnen Vergangenheitsversionen. Zwar steht in allen gruppenspezifischen Plotmustern die soziale Situiertheit des Erinnerns im Vordergrund. Gruppenspezifische Plotmuster sind allerdings nicht zwangsläufig an die Darstellung von stabilen Erinnerungsgemeinschaften gebunden. Im Gegenteil können derartige Plots auch die Probleme jedweder Erinnerungsgemeinschaft zur Darstellung bringen, die Schwierigkeit nämlich, sich auf eine konsensfähige Vergangenheitsrepräsentation zu einigen. Um diese Differenzen hinsichtlich der Harmonisierung der inszenierten Vergangenheitsversionen beschreibbar zu machen, ist eine Unterscheidung zwischen konsensorientierten und konfliktorientierten Plottypen zu treffen. Während es in konsensorientierten Plotmustern primär um die kommunikative Tradierung von gruppenspezifischen Erfahrungen geht, richtet sich das Hauptaugenmerk des kon-
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fliktorientierten Gruppenplots auf die Aushandlung von Erinnerungen. Im konsensorientierten Gruppenplot stehen gruppeninterne Praxen der kommunikativen oder rituellen Weitergabe von gruppenspezifischen Gedächtnisinhalten im Zentrum. Die transgenerationale Handlungsstruktur illustriert hier die Sicherung identitätsrelevanter Wissensbestände, also die Kontinuierung einer organisierten Struktur von gemeinsamen Vergangenheitsreferenzen in Geschichten, Riten und Ritualen. In der konsensorientierten Variante des Gruppenplots stellt sich der Erinnerungsakt als der Versuch dar, sich der Gruppenzugehörigkeit und entsprechender evaluativaffektiver Kollektiworstellungen zu vergewissern. Dieser Prozess ist nicht nur produktiv — im Sinne der Herstellung von kollektivem Sinn und kollektiver Identität — zu verstehen, sondern kann unter Umständen auch repressiv wirken. Dort, wo Gruppen eine allzu eindeutige Wir-Identität formulieren, stellt sich die Frage nach dem konstitutiven Außen des Kollektivgedächtnisses, also nach den Vergangenheitsdeutungen, die - um mit der possible-worlds theory zu sprechen — als nichtrealisierte Alternativen an die Ränder gedrängt werden. In konfliktorientierten Gruppenplots hingegen verschiebt sich der Akzent von der Weitergabe auf die intersubjektive Aushandlung von Erinnerungsversionen. 182 Hier steht der Streit um die .richtige' Deutung der Vergangenheit im Zentrum. In konfliktorientierten Gruppenplots wird das gruppenspezifische Gedächtnis zugunsten konkurrierender und einander widersprechender Erinnerungsversionen aufgelöst. Konfliktorientierte Gruppenplots können sowohl den /«/irgruppalen als auch den /«/ragruppalen Streit um Erinnerungen zum zentralen Erzählgegenstand haben. 183 Im so genannten intragruppalen Plot geht es zumeist um die kommunikative Aushandlung der gemeinsamen, gelebten Vergangenheit und deren Bedeutung für den individuellen Identitätsentwurf. Die Unmöglichkeit, eine konsens fähige, sozial geteilte Vergangenheitsversion herzustellen, kann einen Bruch der Gemeinschaft provozieren. Dagegen verlassen Erinnerungen in so genannten intergruppalen Plots die private Sphäre und öffnen sich hin zum kulturellen, gesamtgesellschaftlichen Gedächtnisraum: Erinnerungen werden in diesem Plottypus zwischen verschiedenen, kulturell koexistierenden Gruppen bzw. deren Vertretern ausgehandelt. Der Fokus liegt auf der Frage nach der kulturellen Bedeutung bestimmter vergangener Ereignisse sowie auf Forderungen nach Anerkennung und Repräsentation im gesellschaftlich dominanten Kollektivgedächtnis. Im Gegensatz zum intragruppalen Plot werden Erinnerungen im intergruppalen Plot als Inhalte des kulturellen Fernhorizontes inszeniert. Damit verbunden ist die Frage nach Möglichkeiten ihrer medialen Stabilisierung und Visibilisierung im öffentlichen Raum.
182 Ryan (1991, S. 119-123) zufolge erweist sich diese Unvereinbarkeit der Teilwelten (hier: der Erinnerungsversionen) unterschiedlicher Figuren als der produktivste Konflikttypus narrativ-fiktionaler Texte. Einen guten Uberblick über die unterschiedlichen Konflikttypen als „Störungen des Systemgleichgewichts" liefert auch Gutenberg (2000, S. 64-68). 183 Vgl. zur Explikation der aus der Sozialpsychologie stammenden Termini „inter"- und „intragruppal" z.B. Brown (2003 [2002), S. 537-576).
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Die in den fictions of memory aktualisierten Plotmuster präfigurieren den Gestaltungsraum der Identitätskonstitution und generieren je eigene, identitätsrelevante Konflikte und Erinnerungsthematiken. Durch die von der Theorie möglicher Welten vorgeschlagene Differenzierung zwischen realisierten und bloß imaginierten, erhofften und gewünschten Ereignissen werden die gesellschaftlich verankerten Begrenzungen der Definitionsräume individueller Identität sichtbar und somit hinterfragbar gemacht. Die Unterscheidung erlaubt es auch, die gerade für zeitgenössische fictions of memory konstitutive Variabilität und Polyvalenz der Vergangenheit in den Blick zu bringen und der Bedeutung dieser Alternatiwersionen für die Sinn- und Identitätsstiftung Rechnung zu tragen. Ein zentrales Privileg von fictions of memory besteht darin, neue, alternative Vorstellungen von Identität (und damit oftmals auch Alterität) zu vermitteln und innovative, in der Erinnerungskultur so nicht vorhandene Plotsemantiken zur Verfügung zu stellen. Denn fictions of memory aktualisieren bei ihrer Sinnkonstitution durch den Plot nicht nur vorherrschende, traditionelle Muster. Vielmehr können sie diese auch kritisch verarbeiten und alternative Formate generieren, die die kulturelle Vorstellungswelt produktiv zu beeinflussen vermögen.
2.5 Intertextualität und Intermedialität: Der Stoff der Erinnerung Formen der Intertextualität und der Intermedialität stellen ein weiteres, zentrales Element der Rhetorik der Erinnerungen und Identitäten dar. 184 In ihrer Eigenart als ,Echokammer' (Roland Barthes) sind fictions of memory ebenso wie auch andere Texte des Symbolsystems Literatur in ein komplexes Netzwerk von intertextuellen Bezügen eingebettet. „Kein Text setzt am Punkt Null an", lautet der Befund von Karl-Heinz Stierle (1996, S. 199). Bei ihrer Sinnkonstitution rekurrieren literarische Texte unweigerlich auf kulturell semantisierte Prätexte und standardisierte Gattungsformate. Die literarische Erzeugung von fiktionalen Welten ist stets auch ein
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Der Begriff der Intertextualität wird hier nicht im universellen Sinne eines Spiels endloser Textbeziehungen verstanden, das unweigerlich „zu einer Entgrenzung des Textbegriffs und zu einer A u f lösung etablierter Gattungsvorstellungen führt" (Nünning 1995, S. 68). Zwar ist das Verständnis v o n literarischen Texten als Teil eines weitverzweigten, umfassenden Netzwerks gewiss zutreffend, sein heuristischer Wert aber zweifelhaft; deutlich markierte Referenzen stünden so etwa unterschiedslos neben beliebigen anderen Texten (vgl. Gutenberg 2000, S. 115). Daher wird Intertextualität gemäß des strukturalistischen bzw. hermeneutischen Modells als „Oberbegriff für jene Verfahren eines mehr oder weniger bewußten und im Text selbst auch in irgendeiner Weise konkret greifbaren Bezugs auf einzelne Prätexte, Gruppen von Prätexten oder diesen zugrundeliegenden Codes und Sinnsystemen" (Pfister 1985, S. 15) konzeptualisiert. Gute Überblicke über die Konzepte der Intertextualitätsforschung liefern u.a. der Sammelband v o n Broich/Pfister (1985), Suerbaum (1993), Genette (1993 [1982]), Plett (1991), Heibig (1996) sowie Allen (2000). Innovative Perspektiven auf das Verhältnis zwischen Intertextualität und kulturellem Gedächtnis entwickelt Scheiding (2005).
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Gedächtnisakt, bei dem tradierte Elemente aktualisiert und neu kontextualisiert werden. Aufgrund der gattungskonstitutiven Bezogenheit der fictions of memory auf das kulturelle Erbe treten intertextuelle Verweise in diesem Genre — wie übrigens auch in anderen Gedächtnisgattungen (u.a. im historischen Roman, dem memory play oder der fiktionalen Biographie) - in kondensierter Form auf. Die eminente Bedeutung der Intertextualität für die Erzeugung fiktionaler Gedächtniswelten gründet auf ihrem Potential, textuelle Elemente auf die außertextuelle, materiale Erinnerungskultur zurückzubeziehen: Intertextualität ermöglicht vielfältige Austauschprozesse zwischen den unterschiedlichen Gedächtnissen einer Kultur (vgl. A. Assmann 1991, S. 13-35). Intertextuelle Referenzen weisen über den Einzeltext hinaus und rufen kulturell verfugbare, textexterne Deutungsmuster, Erinnerungssymbole und -Ordnungen zur produktiven Auslegung eigener Sinnwelten auf. Literarische Prätexte können Antworten auf gegenwärtige Fragestellungen und erinnerungskulturelle Herausforderungslagen liefern. Durch Verfahren der Intertextualität werden Vergangenheitsversionen und Identitätsmodelle einer Figur oder einer Gemeinschaft zu vorgängigen literarischen Konzepten und Versionen von Identität und Erinnerung in einen Bezug gestellt. Sie werden damit nicht nur vergleichbar gemacht, sondern auch mit zusätzlicher Bedeutung aufgeladen. Durch intertextuelle Verfahren stehenfictionsof memory im ständigen Dialog mit literarischen und nicht-literarischen Texten der Kultur, die sie zur Gedächtnisdarstellung, -Stiftung und -reflexion gewissermaßen .einspielen' (vgl. Lachmann 1990, S. 11) können. Texte stellen keine isolierten Einheiten dar, sondern Knotenpunkte in einem Netz kultureller und literarischer Relationen. Das ,Gedächtnis der Literatur', das vor allem von Renate Lachmann (1990, 1993, 2001) theoretisiert und analysiert wurde, gründet auf einer Resemiotisierung von Zeichen, auf einem „Wieder-Aufladen" (Erll/Nünning 2003, S. 7) von Überliefertem mit aktueller Bedeutung. Dieses ,Wieder-Holen' eröffnet einen sich neu formierenden Gedächtnisraum: Durch die (resemiotisierende) Aktualisierung und Modifikation literarischer Phänomene konstituiert sich auf textinterner Ebene das Gedächtnis der Literatur. Lachmann situiert die Kategorie der Intertextualität folglich konsequent in einem gedächtnistheoretischen Rahmen: „Das Gedächtnis des Textes ist seine Intertextualität." (Lachmann 1990, S. 350)185 Der Verweis auf vorhandene Texte bzw. das Spiel der Referenzen in einem fortlaufenden Prozess der „De- und Resemiotisierung" (Lachmann 1993, S. XVIII) lässt den literarischen Text „zum Ort der dynamischen pluralen Sinnkonstitution" (Lachmann 1990, S. 63) werden. Durch
185 Anders als von Lachmann vorgeschlagen wird der Begriff .Gedächtnis der Literatur' hier nicht als ein ausschließlich innerliterarisches Phänomen konzeptualisiert. Fictions of memory funktionalisieren intertextuelle Verweise auf Literatur nicht nur in ihrer Eigenart als Symbolsystem, sondern auch als Sozialsystem. So akzentuieren etwa Bezüge auf kulturell konventionalisierte Gattungen das besondere Leistungsvermögen von Literatur als Sozialsystem: Zitate, Gattungsmuster oder Plotstrukturen stellen sich in vielen Fällen nicht nur als rein literarische Phänomene dar, sondern zugleich als Konstituenten bzw. bedeutungstragende Formen der extratextuellen Erinnerungskultur.
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Fiktionale Weisen der Erinnerungs- und Identitätsbildung
den Bezug auf das kulturell Tradierte eignen sich literarische Texte stets auch einen Teil des strukturierenden und gedächtnisstiftenden Bedeutungspotentials des (Prä-)Texts an. Das Gedächtnis einer Kultur hat demnach seinen Ort auch in der Verwobenheit einzelner Texte. Intertextuelle Referenzen können sowohl in quantitativer als auch in typologischer Hinsicht variieren. Der erste Aspekt bezieht sich in diesem Kontext auf die Streubreite und Dichte der Referenzen, der zweite auf die Unterscheidung zwischen literarischen Einzeltext- und Gattungsreferenzen. Beide Formen der Intertextualität statten den literarischen Text mit einem semantischen Mehrwert aus, der ebenso zur affirmativen Gedächtnisstiftung wie zur subversiven Gedächtnisreflexion genutzt werden kann: „So verschiedenartig wie die Formen sind auch die Funktionen der Intertextualität in der Literatur. Es kann darum gehen, den Präxtext zu kritisieren, zu verlachen (wie es bei der Parodie üblich ist) oder umzudeuten; es kann aber auch das Ziel sein, dem eigenen Werk Sinn zuzuschreiben" (Suerbaum 1993, S. 115). Für eine Analyse der Formen und Funktionen der Einzeltext- sowie Gattungsreferenzen stellt sich daher nicht nur die Frage, auf welche (Prä-)Texte und Gattungen fictions of memory rekurrieren, sondern auch — und das ist mit Blick auf die Reflexion bestehender Erinnerungsinhalte und -formen sehr viel wichtiger — wie sie diese verarbeiten. Hinsichtlich einer Analyse der Einzeltextreferenzen und ihrer Bedeutung für die Gedächtnisinszenierung und -reflexion in den fictions of memory erweist sich vor allem der Rückgriff auf solche Einzeltexte als aufschlussreich, die als kanonisierte Inhalte eines Kollektivgedächtnisses die diachrone Dimension bzw. das kulturelle Erbe konstituieren. Mit auffallender Häufigkeit finden sich in zeitgenössischen kanadischen fictions of memory Referenzen auf Werke des britischen Kanons (z.B. Charlotte Brontes Roman Jane Eyre) sowie auf die Bibel. Die Bedeutung der Referenz auf kanonisierte Texte resultiert aus ihrer kulturellen Autorität, Deutungshoheit und Traditionshaltigkeit. Als Bestand eines kollektiven Gedächtnisses transportieren klassische Texte normative Wertvorstellungen, Deutungsschablonen und kollektive Identitätsmuster. In kanonischen Texten thematisieren Kulturen sich selbst (vgl. A. Assmann 1998). Kanonisierte Werke stellen verbindliche Kriterien für die Selektion und Signifikation von erinnerungskulturell bedeut- und wirksamen Vergangenheiten bereit und fungieren als zentrale Stabilisatoren des gesellschaftlich vorherrschenden Selbstverständnisses. Sie stellen die Kontinuität des kollektiven Selbstverständnisses sowie der vorherrschenden symbolischen Ordnungen in der und durch die Zeit sicher. Die im kanonisierten Prätext propagierten Sinnstiftungsstrategien und Wertehierarchien können durch intertextuelle Verweise in Form von Zitaten, Symbolik oder typischen Figuren im Folgetext affirmiert und legitimiert werden. In diesem Fall funktionalisieren fictions of memory intertextuelle Bezüge, um sich einen Teil der Autorität der Prätexte zu Eigen zu machen und auf diese Weise ihren eigenen Anspruch auf Deutungshoheit zu unterstreichen (vgl. Erll 2003a, S. 172). Indem sich literarische Texte in bestehende Traditionen einschreiben, signalisieren sie,
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dass sie am kulturellen Erbe affirmativ partizipieren. Verfahren der Intertextualität sorgen in diesem Fall dafür, dass Elemente des literarischen Gedächtnisses in das System der Wissenszirkulation eingespeist werden. Durch die textuelle Neukontextualisierung werden die Inhalte und Formen der vorgängig existenten Erinnerungskultur an gegenwärtige symbolische Sinnwelten bzw. ,Verstehensrahmen' (J. Assmann 2002b) angeschlossen. Hiermit schaffen fictions of memory die Voraussetzung dafür, dass die literarischen Bestände des Kollektivgedächtnisses unter aktuellen Bedingungen aktualisiert werden können. Sie treten damit als Medium des ,re-membering' in Erscheinung, das die Stabilität und Kohäsion der Erinnerungskultur sicherstellt. Fictions of memory können die im kanonisierten Prätext entworfenen Deutungsschablonen und Wertehierarchien allerdings auch produktiv modifizieren, unterminieren und kritisieren, ihnen also alternative Wirklichkeitsmodelle entgegenstellen. 186 Intertextualität wird so zu einer bedeutsamen Strategie der Kritik an gesellschaftlich dominanten Formen der kollektiven Erinnerung und an präskriptiven Identitätsmodellen. Durch die kritische Perspektivierung solcher zentralen Bestände des Kollektivgedächtnisses machen fictions of memory gesellschaftlich unartikulierte Deutungsmuster und Interpretationsschemata sichtbar und tragen zur Reflexion von vorherrschenden Erinnerungsinhalten des Symbolsystems Literatur bei. Gerade in solchen fictions of memory, in denen es um die Inszenierung eines Gegengedächtnisses geht, wird die intertextuelle Evokation konventionalisierter Vergangenheitsrepräsentationen oftmals dazu funktionalisiert, den gesellschaftlich dominanten Diskurs produktiv zu verändern. Die intertextuelle Subversion kann blinde Flecke bestehender Vergangenheitsmodelle zutage bringen und die vorausgesetzten Vorstellungen davon, was und wer als erinnerungswürdig gelten, offenbaren. Nicht zuletzt lenkt sie die Aufmerksamkeit auf die historische und kulturelle Variabilität von Sinnstiftungssystemen und bringt deren prinzipielle Kontingenz in den Blick. Neben Einzeltextreferenzen operieren zeitgenössische fictions of memory bei der narrativen Inszenierung von Erinnerungen und Identitäten mit einem breiten Spektrum von Gattungsreferenzen. Vor allem Bezüge auf konventionalisierte Gattungen, die als zentraler Teil der mentalen Erinnerungskultur bestimmte, kulturell typisierte Formgebungs- und Sinnstiftungsmodelle für die Kodierung von Erfahrung bereitstellen, spielen eine eminente Rolle. Hierzu zählen etwa literarische Gattungen wie der Bildungsroman, Abenteuerroman, der Western oder Reiseberichte, die Bestand des kulturellen Gedächtnisses (vgl. van Gorp/MusarraSchroeder 2000a) sind und häufig ideologische Implikationen haben. Als integraler, historisch und kulturell variabler Inhalt des kulturellen Gedächtnisses stellen Gat186 Das subversive und revisionistische Potential intertextueller Bezugnahmen wird von Ostriker (1985, S. 317) prägnant herausgestellt: „Whenever a poet employs a figure or story previously accepted and defined by a culture, the poet is using myth, and the potential is always present that the use will be revisionist that is, the figure or tale will be appropriated for altered ends."
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tungen gesellschaftlich erprobte und akzeptierte Strukturierungsmatrizen für die Verarbeitung spezifischer Herausforderungslagen bereit (vgl. van Gorp/MussarraSchroeder 2000b, S. ii), die nicht nur auf individuelle, sondern auch auf kollektive Gedächtnis- und Identitätsbildung Einfluss nehmen. In dem Maße, in dem standardisierten Gattungsmustern stets auch kulturspezifische, ideologisch befrachtete Deutungsmuster eingeschrieben sind, 187 beeinflussen sie maßgeblich, welche vergangenen Erfahrungsaspekte überhaupt erzählbar sind und wie diese gedeutet werden (vgl. White 1973). Intertextuelle Bezüge auf gattungsspezifische Konventionen eröffnen die Möglichkeit, die Voraussetzungen und Folgen strukturell angelegter Formgebungs- bzw. Erinnerungsmuster beobachtbar zu machen. In zeitgenössischen kanadischen fictions of memory spielen etwa Bezüge auf den traditionellen Western eine prominente Rolle, um Kritik an einseitigen, historischen Deutungsmustern zu üben. Eine zentrale Strategie der intertextuellen Desavouierung vorgängiger Kodierungsformate besteht darin, eben jene Erfahrungsaspekte oder Akteure in den Vordergrund zu rücken, die mit bestehenden Repräsentationsmustern gar nicht erst in den Blick geraten konnten — im Falle einer kritischen Modifikation des Gattungsmodells des Western kann dies etwa bedeuten, die Perspektive der indigenen Bevölkerung ins Zentrum zu rücken. Durch das ,writing back' können fictions of memory ein genetisches Gegengedächtnis etablieren und damit auch für nachfolgende Sinnstiftungen alternative Interpretationsschablonen zur Verfügung stellen. Neben intertextuellen gehören auch intermediale Verfahren zu den zentralen Komponenten der Rhetorik der Erinnerungen und Identitäten. Fictions of memory können sich des gesamten Spektrums verfugbarer, sprachlich verfasster Medien und ihrer Formen bedienen und so die Funktionsweise der materialen Dimension der Erinnerungskultur veranschaulichen. Hierzu zählen historische Dokumente im weitesten Sinne — etwa Zeitungsausschnitte, Gerichtsprotokolle,
Reiseberichte,
Memoiren, Geschichtsbücher oder Predigten —, die maßgeblich an der Tradierung des kollektiven Gedächtnisses beteiligt sind. Die Inkorporation solcher Textfragmente kann in den fictions of memory im Wesentlichen auf zweierlei Weisen erfolgen: Zum einen kann sie zur Grundlage einer additiven, strukturellen Multiperspektivität werden. In diesem Fall wird Intermedialisierung dazu funktionalisiert, die Glaubwürdigkeit der eigenen Erinnerungsversion qua wechselseitiger Validierung der Einzelperspektiven unter Beweis zu stellen. Zum anderen können Verfahren der Intermedialität eine kontrastive Multiperspektivität zur Folge haben und die um Erinnerungshoheit konkurrierende, oftmals widersprüchliche Diskursvielfalt zur Anschauung bringen. Da gesellschaftliche Anerkennung und mediales Vertretensein im öffentlichen Erinnerungsraum Hand in Hand gehen, geraten durch die Bezugnahme auf zirkulierende Gedächtnismedien auch erinnerungspolitische Stra-
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Vgl. Wesseling (1991, S. 18), die gattungsspezifische Repertoires als „bodies of shared knowledge" bezeichnet.
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tegien — Medienkonkurrenzen also 188 — in den Blick, die auf die Dissemination bestimmter Erinnerungsversionen und auf die bewusste Unterdrückung anderer abzielen. Die Bezugnahme auf Elemente anderer Kommunikationsmedien wie der bildenden Kunst, des Filmes, der Photographie oder der Musik eröffnet schließlich die Möglichkeit, die Vielzahl von Gedächtnismedien, die innerhalb einer Gesellschaft um Definitionsmacht konkurrieren, anklingen zu lassen und die Pluralisierung der Erinnerungskultur vor Augen zu fuhren. 189 Verfahren der Intermedialisierung haben reflexive Implikationen, wenn sie die Konstruktivität von Medien, d.h. die medienspezifische Prägung von Gedächtnisinhalten, in den Blick bringen und deren je distinktes Erinnerungspotential offenbaren. 190 Ob Erinnerungen etwa im Medium des Texts oder des Bilds vermittelt werden, hat wesentliche Implikationen für die Sinndimension des Dargestellten. Medien des Gedächtnisses schaffen erst die Vergangenheiten, die sie abzubilden scheinen. Angesichts ihrer distinkten Materialität bieten Medien ganz unterschiedliche Gestaltungsräume bzw. Leistungsspektren, die sich Figuren bei der Artikulation ihrer Erinnerungen nutzbar machen können. Um die eigenen strukturellen Begrenzungen zu kompensieren, kann Literatur auf die Qualitäten anderer Medien zurückgreifen. Sie ergänzt auf diese Weise ihre symbolspezifische „Aussagekompetenz und steigert ihre Erinnerungssemantik und -dynamik" (Dickhaut 2005). So stellen etwa Evokationen des Mediums ,Bild' und eine damit verbundene ,fingierte Visualisierung' eine zentrale Strategie dar, auch solchen Erfahrungen zur Anschaulichkeit zu verhelfen, die sich angesichts ihres traumatischen Charakters einer direkten Narrativierung entziehen. Referenzen auf das Medium der Photographie wiederum werden häufig dazu instrumentalisiert, ein quasi photographisches Gedächtnisvermögen zu suggerieren und die Authentizität des Erinnerten zu akzentuieren. Durch intertextuelle sowie intermediale Bezüge können fictions of memory also verschiedenartige Elemente der materialen Dimension der Erinnerungskultur inkorporieren und diese zur Inszenierung und Auslegung eigener Erinnerungsversionen funktionalisieren. Während die unveränderte Einspielung tradierter Phänomene des mnemonischen Inventars einer Kultur oft mit dem Versuch verbunden ist, sich einen Teil des autoritätsgesicherten Potentials zu Eigen zu machen und so den eigenen Anspruch auf Deutungshoheit zu unterstreichen, kann deren Modifikation zum wirkungsvollen Instrument der Kritik an konventionalisierten Deutungsmustern werden. Intermediale Referenzen können schließlich nicht nur die Vielfalt konkurrierender Gedächtnismedien evozieren. Vielmehr können sie auch die medienspezifische Prägung von Gedächtnisinhalten sowie das Erinnerungspotential von Gedächtnismedien im Streit um die Repräsentation der eigenen Vergangenheit 188 Zum Konzept der Medienkonkurrenz siehe Dickhaut (2005). 189 Vgl. zu Formen und Funktionen von Intermedialität die Studie von Rajewsky (2002). 190 Mit Blick auf „Eigensinnigkeit von Medien" betont Krämer (1998b, S. 81): „Das Medium ist nicht einfach die Botschaß; lielmehr bewahrt sich an der Botschaft die Spur des Mediums
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offenbaren. Indem intertextuelle und -mediale Verweise die Angewiesenheit der Kollektivgedächtnisse auf materiale Externalisierung in den Blick rücken, haben sie nicht zuletzt reflexive Implikationen: Sie bieten Anlass, die Kontingenz der Verfügbarkeit gruppenspezifischer Medien im öffentlichen Erinnerungsraum zu hinterfragen.
2.6 Raum- und Zeitdarstellung: Literarische Erinnerungsräume Die Bedeutung des Raums für die kollektive Gedächtnisbildung und Identitätskonstitution betonen Maurice Halbwachs und Pierre Nora, wenn sie von der topographischen Organisiertheit von Gruppengedächtnissen ausgehen. „So gibt es kein kollektives Gedächtnis, das sich nicht innerhalb eines räumlichen Rahmens bewegt", lautet Halbwachs' (1967, S. 142) Befund. Das kollektive Gedächtnis „haftet am Konkreten, im Raum, an der Geste, am Bild und Gegenstand", konstatiert Nora (1990, S. 14). 191 In diesen „lieux de memoire" bzw. Erinnerungsorten konkretisieren und materialisieren sich gruppenspezifische Erinnerungen; hier findet eine soziale Gruppe sich und ihre identitätsrelevante Geschichte wieder. Angesichts der Stabilität und Beständigkeit von Orten eignen diese sich in besonderem Maße dazu, die Kontinuität des kollektiven Gedächtnisses sicherzustellen. Auch der extraliterarische Raum, den sich Gruppen als Kristallisationspunkt ihres spezifischen
Gedächtnisses und ihrer Identität zu Eigen machen, ist daher zumeist
schon ein symbolisch gedeuteter bzw. ein semantisierter. Angesichts seines Bedeutungsüberschusses, d.h. seines ,,Verweischarakter[s] [...] als Symbol, Allegorie und Assoziationsstimulus" (Hoffmann 1978, S. 267) wird ihm das besondere Vermögen zugesprochen, Erinnerungsprozesse in Gang zu setzen und hiermit als Instanz zur Vermittlung vergangener Erfahrungen zu fungieren. Die literarische Semantisierung von Räumen als Bestandteil der fiktionalen Erinnerungswelt stellt in fictions of memory eine konstitutive Strategie dar, um den Zusammenhang von Identität und Erinnern sowohl auf individueller als auch auf kollektiver Ebene zu inszenieren. Fictions of memory funktionalisieren die imaginäre Verräumlichung des kollektiven Gedächtnisses, wenn der fiktionale Raum über seine Minimalfunktion als Schauplatz hinaus als semantisch aufgeladene Materialisierung des Gruppengedächtnisses wirkt und die Präsenz der Vergangenheit in der Gegenwart evoziert. Räume können in den fictions of memory als symbolische Ausdrucksträger in Erscheinung treten, in denen sich vergangene Ereignisse physisch
191 Schon seit der antiken Mnemotechnik und ihrer Methode der loci et imagines (vgl. Yates [1966] 1990) wird die Bedeutung des Raumes für die Gedächtnisbildung hervorgehoben. Diese Mnemotechnik basiert auf der Überzeugung, dass sich Sachverhalte am besten durch eine imaginäre Verräumlichung einprägen und memorieren lassen: Bei der Enkodierung von Erinnerungen werden Bilder {imagines) gedanklich an bestimmte Orte {loci) geheftet. Ein späteres Abgehen der Orte ermöglicht eine Reaktualisierung der Bilder.
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materialisieren.192 Der erzählte Raum ist in den fictions of memory daher nicht nur ein Aktionsraum, vielmehr fungiert er zugleich als Projektionsfläche des erinnerungsbasierten Vergangenheitsbewussteins von Gruppen und Individuen. Als Bedeutungsträger korrelieren ,,R[aum] strukturen mit übergreifenden Sinnmodellen" (Nünning 2001, S. 537) der fiktionalen Welt. Eine Untersuchung der „sozialkonventionellen" bzw. „sozial-konsensuellen" (Würzbach 2001, S. 120) Dimensionen des erzählten Raums erlaubt daher Rückschlüsse auf die in fictions of memory implizierten Vorstellungen von dem Zusammenhang zwischen Gedächtnis und Identität. Der literarische Raum kann als Ort der Erinnerung auf kollektiver Ebene ein breites Spektrum von Funktionen erfüllen.193 Als Gedenkort können sich in ihm die Erfahrungen einer sozialen Gruppe exemplarisch konkretisieren. Fictions of memory können Gedenkorte inszenieren, indem sie auf der diegetischen Ebene zeigen, wie sich Gruppen bestimmte Räume aneignen und diese durch die Besetzung mit gruppenspezifischen Erinnerungszeichen für das eigene Andenken funktionalisieren. Kontrastive Semantisierungen wiederum veranschaulichen, wie unterschiedlich der gleiche Raum und die mit ihm assoziierten Erinnerungen von verschiedenen sozialen Gruppen gedeutet und instrumentalisiert werden können: Der Raum wird zu einem „Kampfplatz rivalisierender Erinnerungsgemeinschaften" (A. Assmann 1999, S. 306) stilisiert. In einem solchen, umstrittenen Raum konkurrieren diverse Vergangenheitsversionen und Identitätsmodelle um Deutungshoheit. Als traumatischer Ort kann er die Virulenz und andauernde Präsenz eines einschneidenden, identitätszersetzenden vergangenen Ereignisses darstellen und Anlass zur historischen Reflexion bieten. Schließlich kann er als diasporischer Ort das Nichtrepräsentiertsein im offiziellen Gedächtnisraum sowie die Identitätsprobleme, die sich für .mnemonisch Andere' stellen, narrativ inszenieren. Die literarische Raumdarstellung hat reflexive Implikationen, wenn sie soziale Hierarchisierungen, also den Ausschluss bestimmter und die hegemoniaie Dominanz anderer Vergangenheitsversionen im öffentlichen Erinnerungsraum beobachtbar macht. Die Semantisierung des Raums geht häufig mit einer Kontrastierung verschiedener Orte einher. Räumliche Oppositionen können in diesem Fall „zum Modell für semantische Oppositionen werden" (Pfister 2001 [1977], S. 339) werden, die für kulturelle Sinnstiftungen vereinnahmbar sind. Mit Blick auf die kollektive Identitätskonstitution ist im Kontext diasporischer Literaturen vor allem die Opposition von Heimat/Exil bzw. von heimischen und fremden Erinnerungsräumen ein
192 Neben der Bewusstseinsdarstellung fungieren im narrativ-fiküonalen Text eine Reihe weiterer Darstellungstechniken als Gestaltungsmittel des Raums, so vor allem die Beschreibung und Bildlichkeit bzw. Tropen. 193 Einen Überblick über unterschiedliche Formen und Funktionen von d e m „Gedächtnis der Orte" liefert A. Assmann (1999, S. 298-339).
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rekurrentes Motiv (vgl. Macfarlane 2003, S. 223).194 Da der Raum als mentale Koordinate allererst eine dauerhafte Verortung der kollektiven Erinnerungen und Identitäten verbürgt, ist das Verlassen vertrauter, gewachsener Erinnerungsräume häufig mit einer Destabilisierung der Kollektividentität sowie mit einer prekären mnemonischen Ortlosigkeit verbunden: „Living in diaspora means living in forced or voluntary exile and living in exile usually leads to severe identity confusion and problems of identification with an alienation from the old and new cultures and homelands." (Bharucha 2001, S. 70f.) Angesichts der Interdependenz der Erinnerungs- und Identitätsbildung sowie ihrer Gebundenheit an ein spezifisches, soziokulturelles Umfeld hat ein Ortswechsel stets auch eine Neuverhandlung des eigenen Selbstverständnisses zur Folge: „Identitätsprobleme" werden mithin zu „Orientierungsproblemen" (Straub 1998b, S. 86).195 Wird die kulturelle Instabilität des Exils als identitätsbedrohend empfunden, kann die „Sehnsucht nach einem ,sicheren Ort' [...] zum zentralen Thema" (Sommer 2001, S. 15) werden und sich in einem mnemonischen Rückzug auf heimische Erinnerungsräume manifestieren: „These nostalgic narratives [...] are the diasporic expressions of [...] trying to come to terms with life in Anglo-North America, often through the retelling of a particularised socio-cultural collectivity, creating thereby not only a memory of home, but a home in memory." (Chakraborty 2003, S. 128) Die Auseinandersetzung mit dem Exil — das sich aus der Perspektive der Migrantinnen als ein erinnerungsloser Raum darstellt - kann auch den Versuch motivieren, bislang marginalisierten Erfahrungen einen legitimen Platz im öffentlichen Raum zu verschaffen. In diesem Fall wird die räumliche Opposition Heimat/Exil durch die Dichotomie zwischen marginalisiertem und öffentlichem Erinnerungsraum (vgl. Kunow 2002, S. 180) abgelöst.196 Der narrativ inszenierte Wechselbezug zwischen Kollektividentität und Raum erscheint dann als mnemonisches ,(re-)mapping', wobei die Aneignung eines vorerst fremden Raumes über seine öffentliche .Besetzung' mit identitätsrelevanten Erinnerungen erfolgt. In solchen Romanen, in denen die Identitätskonstitution im Zwischenraum der Kulturen stattfindet, gewinnen die symbolische Territorialisierung und Grenzüberschreitungen (vgl. Gehrke 1999, S. 18; Würzbach 2001, S. 120-122) an besonderer Relevanz. Das vor allem in multikulturellen Kontexten bedeutsame Wechselverhältnis zwischen Identität und Alterität wirft mit Blick auf die literarische Raumaufteilung folgende Frage auf: Werden kulturelle Erfahrungs- und Hand194 Vgl. zu der Bedeutung des diasporischen Raums in der kanadischen Literatur Smart (1994, S. 64), die von einer „Canadian preoccupation with origin, displacement and settlement" spricht. 195 Vgl. Halbwachs (1991 (1950), S. 130), der auch darauf hinweist, dass Ortswechsel stets eine tief greifende Veränderung der Gruppe selbst sowie ihres kollektiven Gedächtnisses impliziert: „Von diesem Augenblick an wird es nicht mehr genau dieselbe Gruppe geben, auch nicht mehr dasselbe kollektive Gedächtnis". 196 Die Begriffe Zentrum/Peripherie werden hier im weitesten Sinne verwandt; mit Blick auf erinnerungspolitische Strategien bezeichnen sie den Unterschied und die Friktionen zwischen der offiziellen Vergangenheitsrepräsentation und dem subalternen Gegengedächtnis.
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lungsräume als in sich geschlossene, durch rigide Grenzziehungen voneinander getrennte Bereiche imaginiert, oder sind die Grenzen zwischen ihnen durchlässig, so dass kulturelle Transgressionen möglich erscheinen? Während starre Grenzen zwischen sozialen Territorien häufig auf binäre, ethnisch exklusive Identitäts- und Alteritätskonstruktionen verweisen und daher mit Segregation, Ghettoisierung und Marginalisierung verbunden sind (vgl. Würzbach 2001, S. 120), können permeable Grenzen transkulturelle Kontakte und hybride Identitäts- und Erinnerungsaushandlungen im .dritten Raum des Dazwischen' (tn-be twee η space, Bhabha 1994, S. 2) begünstigen. 197 Diese so genannten .kulturellen Grenzgänger' können zwischen den unterschiedlichen Semantiken sozialer Territorien vermitteln, rigide kulturelle Demarkationslinien neu verhandeln und so essentialistische Auffassungen vom Eigenen und Fremden aufbrechen: „Identities under these conditions become terrains of struggle, always already enmeshed in .overlapping territories,' in contrasting and conflicting practices of signifying cultural difference within the postnational cultural field." (Kunow 2002, S. 202) 198 In individuenzentrierten fictions of memory stellt sich mit Blick auf den Wechselbezug zwischen Erinnerung, Identität und Raum vor allem die Frage nach dem subjektiven Umgang der Figuren mit sozial-konsensuellen Semantisierungen von Räumen·. Akzeptieren Figuren die soziokulturell konventionalisierten Bedeutungszuschreibungen des Raumes sowie die gesellschaftliche Raumaufteilung oder ziehen sie bestehende Raumsemantiken in Zweifel? Das Infragestellen von Raumsemantiken kann zum Anlass werden, bestehende Grenzen zwischen kultureller Majorität und Minorität sowie zwischen Vergessen und Erinnern neu zu verhandeln. Eng damit verbunden ist die Frage, ob der spezifische Sinn, den gruppenkonstitutive Gedächtnisorte transportieren, von Gruppenangehörigen als solcher (an-)erkannt wird. Vermögen es Gedächtnisorte nicht länger, einen Erinnerungsprozess in Gang zu setzen und einen verbindlichen Vergangenheitshorizont zu evozieren, so steht die Stabilität von Erinnerungsgemeinschaften auf dem Spiel. Jenseits der individuellen Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Semantik von sozialen Räumen bildet die „durch Denken, Fühlen, Wahrnehmen gestaltete Beziehung des Subjekts zum Raum [...] eine wesentliche Komponente für die Entwicklung, Gefährdung oder Stabilisierung der Identität" (Würzbach 2001, S. 117). Da Wahrnehmungen vor dem Hintergrund des individuellen Vorausset197 Vgl. Kunow (2002, S. 184), der die Besonderheiten des multikulturellen Raums konzise zusammenfasst: „Space must (...) be constantly negotiated, becomes the scene of crossings and interactions, is never neutral, or a quasi,empty' space. (...) For such an organization of social and cultural space, the critical instant lies in the mo(ve)ment of transgression, the passage across boundaries, dividing lines, demarcations. Borders, limits, fault-lines of culture are in this perspective no longer merely the end point of a definable, circumscribed space, but in a sense its beginning, the point at which or from which the inscription of a revisionist, differential cultural location will have to start." 198 Zur hybriden Identitätskonstitution im Zwischen-Raum der Kulturen vgl. auch Fludernik (1999b, S. 107).
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zungssystems operieren, liefert das subjektive Raumempfinden Aufschluss über die Figurenpsychologie. Das subjektive Raumerleben sowie die Wahl des Lebensraums tragen maßgeblich zur individuellen Identitätskonstitution bei, bestimmt der Raum doch, welche Interaktionen ein Individuum überhaupt erleben kann. Der Zusammenhang von Raum und identitätsprägenden Interaktionen manifestiert sich in literarischen Texten oftmals darin, dass eine Veränderung des Handlungsorts bzw. des sozialen Umfelds mit einer Neuverhandlung des individuellen Selbstverständnisses einhergeht und somit eine neue Phase der Identitätsentwicklung einleitet (vgl. Gymnich 2003, S. 45). 199 Die Bedeutung des Raums für die Gedächtnis- und Identitätsbildung tritt schließlich auch dann zutage, wenn eine (bewusste) Wiederbegegnung mit einem Ort einen Erinnerungsprozess initiiert und so bislang verborgene oder verdrängte Lebenserfahrungen reaktualisiert. Räume können als cues fungieren, die die Reaktivierung von individuellen Erinnerungen in Gang setzen und sich somit unmittelbar auf die Identität des Einzelnen auswirken können. In diesem Fall verschmilzt der erinnerte Raum mit dem Handlungsraum: Die individuell erlebte Vergangenheit materialisiert sich in verräumlichter Gestalt in der Gegenwart, so dass die Außenwelt zugleich als Abbild der erinnerten Innenwelt erscheint. Neben dem Raumerleben stellen zeitliche Beziehungen eine Grunddimension der menschlichen Wirklichkeitserfahrung dar. Ebenso wie die Wahrnehmung des Raums keine universale Konstante ist, sondern gruppenspezifischen und individuellen Deutungsmustern unterliegt, so stellt sich auch die Zeit als ein eminent soziokulturelles Phänomen dar. Wir haben es mit einem Spektrum gruppenspezifischer Zeiten zu tun: „Es gibt keine universale, einheitliche Zeit, sondern die Gesellschaft zerfällt in eine Vielheit von Gruppen, von denen jede ihre eigene Zeitdauer hat" (Halbwachs 1991 [1950], S. 122). Zeit - im Sinne einer „Kultur als Zeit" (Baecker 2001, S. 179) — ist mithin stets im Kontext eines variabel gestaltbaren, gruppenspezifischen Bezugssystems zu betrachten. Die Bedeutung kulturell überformter Zeiten für das Gedächtnis liegt auf der Hand: Allen Erscheinungsformen von Gedächtnis und Erinnerung ist Zeit immanent, sind diese Prozesse doch stets auf Vergangenes bezogen. Die Zeitstruktur narrativ-fiktionaler Texte ist eine weitere Konstituente der Rhetorik der Erinnerungen und Identitäten, die in vielfacher Weise dazu funktionalisiert werden kann, die temporale Dimension von Erinnerungen und ihre Implikationen für Sinn- und Identitätsstiftungen vor Augen zu führen. 200 Die spezifische
199 Vgl. zu diesem Aspekt auch Gymnich (2000, S. 84), die betont: „Zum einen tendieren lebensweltlich bedeutsame Veränderungen, also biographische Brüche in Form einer einschneidenden privaten oder beruflichen Veränderung, dazu, mit einem Wechsel des sozialen Umfeldes einherzugehen. Zum anderen kann eine Veränderung des sozialen Umfeldes aufgrund des interaktiven Charakters von Identitätsentwicklung einen Entwicklungsschritt initiieren, denn von einem veränderten sozialen Umfeld können Impulse für eine Revision der Selbstdefinition ausgehen." 200 Vgl. zur Zeitdarstellung im Roman v.a. Nünning/Sommer (2002).
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Zeitsemantik von individuell und kollektiv Erinnertem kann in den fictions of memory durch Darstellungsverfahren inszeniert werden, die Gerard Genette (1994 [1972]) unter den drei Grundkategorien .Ordnung', .Dauer' und .Frequenz' subsumiert. Die Ordnung der in einem literarischen Text inszenierten Ereignisse ergibt sich aus den Relationen zwischen der zeitlichen Reihenfolge der zu erzählenden Vorkommnisse und ihrer Konfiguration in der erzählerischen Vermittlung. Die Kategorie Dauer beschreibt das variable Verhältnis zwischen den Ereignissen der Geschichte und ihrer narrativen Inszenierung in der Erzählung, d.h. die Differenz zwischen Erzählzeit und erzählter Zeit. Die Frequenz bezieht sich schließlich auf die „Wiederholungs- bzw. Häufigkeitsbeziehungen" (Müller 2001, S. 194), die sich zwischen den erzählten Ereignissen einerseits und den narrativen Aussagen andererseits ergeben. Die Bedeutung der Ordnung der repräsentierten Ereignisse ergibt sich aus dem konstitutiven Gattungsmerkmal der fictions of memory. Die vergangenen Ereignisse werden in diesem Genre in der erinnernden Rückschau, also vom Standpunkt der Gegenwart aus reaktualisiert. Erinnerungen verfahren selten chronologisch. Je nach aktuellen Fragestellungen oszillieren sie zwischen unterschiedlichen Zeitebenen, beziehen Vergangenes auf Gegenwärtiges, wobei nicht selten „das Allernächste in unbestimmte Ferne und das Ferne in bedrängende Nähe" (A. Assmann 1999, S. 337) gerückt wird. Aus dieser diskontinuierlichen Funktionsweise von Erinnerungen resultiert das fur die fictions of memory charakteristische Spannungsverhältnis zwischen unterschiedlichen Zeitebenen, das sich in einer anachronischen Darstellung des Erzählten manifestieren kann (vgl. Cohen 1978, S. 183). 201 Das grundlegende Verfahren der Inszenierung von Erinnerungen ist die Rückwendung bzw. Analepse: Ereignisse, die in der zeitlichen Abfolge zu einem früheren Zeitpunkt stattfinden, werden erst später — in der erinnernden Rückschau — aktualisiert bzw. erzählt. Während in Analepsen die Ereignisse der erinnerten Vergangenheit zur Darstellung gelangen, liefert die so genannte Basiserzählung (Genette 1994, S. 32) Einblick in die gegenwärtigen Bedingungen, die die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit motivieren. Zentrale Differenzkriterien für das Spektrum der narrativ inszenierten Erinnerungen und Identitäten bieten sowohl die Relationen der Analpesen untereinander als auch die Beziehung zwischen Analpesen und Basiserzählung. An dem einen Pol sind solche fictions of memory zu situieren, in denen die Analepsen relativ chronologisch auseinander hervorgehen, an dem anderen Pol bewegen sich jene Genreausprägungen, in denen unterschiedliche Zeitebenen lose nebeneinander stehen. Rückblicken, die chronologisch strukturiert sind und in der erinnernden Rückschau einen Bogen schlagen bis zu dem Zeitpunkt des gegenwärtigen Erinnerungsabrufs (so genannte komplette Analepsen), ist eine Tendenz inhärent, die präsentische und konstruktive Qualität von 201
Zu Recht stellt Cohn (1978, S. 183) heraus, dass sich der diskontinuierliche und anachronische Charakter von Erinnerungen lediglich in der temporalen Makrostruktur niederschlägt, einzelne Episoden, also die Elemente der Mikrostruktur, aber zumeist relativ chronologisch erzählt werden.
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Erinnerungen zu verschleiern und ein relativ teleologisches, lineares Entwicklungskonzept zu unterstellen. Die gegenwärtige Identität scheint sich in solchen Fällen fast folgerichtig und zwangsläufig aus den vergangenen Ereignissen zu ergeben. Der produktive, Kontinuität erzeugende Charakter von Erinnerungsnarrationen wird zugunsten eines scheinbar vorgängig bedeutungstragenden Gedächtnisbestands dissimuliert. Hingegen lenken das Nebeneinander unterschiedlicher Zeitebenen und ein Oszillieren zwischen Basiserzählung und Analpese den Blick auf die gegenwärtigen Bedingungen der Aneignung und Deutung der Vergangenheit und unterstreichen die Erinnerungshaftigkeit des Dargestellten. Die Chronologie des faktischen Ereignisablaufs wird zugunsten des subjektiven Zeitempfindens aufgebrochen, so dass oftmals verschiedene Zeitebenen unverbunden, rein assoziativ aneinander gereiht werden. Das Oszillieren zwischen dem Jetzt des Erinnerungsabrufs und dem Damals des Erlebens illustriert, dass Erinnerungen mit den Rahmen, innerhalb derer sie aktualisiert werden, verschränkt und somit als gegenwartsgebundene Rekonstruktionen des Vergangenen zu konzipieren sind. Die Gegenwartsgebundenheit von Erinnerungen tritt in fictions of memory vor allem dann markant zutage, wenn die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit über weite Strecken zugunsten der Darstellung der situativen und kontextuellen Bedingungen des Erinnerungsabrufs in den Hintergrund gedrängt wird. Mit der Auflösung der Ereignischronologie vermitteln fictions of memory innovative, prozessuale Vorstellungen von der Konstitution von Identität: Sie zeigen, dass Identität nicht das Resultat eines teleologischen Entwicklungsprozesses ist, sondern die nur aus pragmatischen Gründen zeitweise unterbrochene Praxis der aktiven Aneignung von vergangenen Zeiten vom Standpunkt der Gegenwart. Auch die Kategorie der Dauer kann Spezifika individueller sowie kollektiver Erinnerungsprozesse und Identitätskonstruktionen in den fictions of memory zum Ausdruck bringen. Angesichts des für narrativ-fiktionale Texte kennzeichnenden „double time structuring" (Chatman 1980, S. 122) und der damit einhergehenden strukturellen Differenzierung zwischen Erzählzeit und erzählter Zeit können vergangene Ereignisse in unterschiedlicher Intensität und Detailliertheit erinnert werden. Die aus dem Verhältnis zwischen Erzählzeit und erzählter Zeit resultierende Dauer kann in fictions of memory dazu funktionalisiert werden, die Bedeutung bestimmter, identitätsrelevanter Ereignisse zu fokussieren und andere, im Lichte gegenwärtiger Bedingungen irrelevant erscheinende Episoden zu vernachlässigen. Weder das kollektive noch das individuelle Gedächtnis sind darauf angelegt, die vergangene Realität in ihrer Gesamtheit präsent zu halten. Im Gegenteil implizieren Sinn- und Identitätsstiftungen notwendigerweise eine selektive Vorgehensweise: Um eine ,usable past' zu generieren, werden bestimmte, für gegenwärtige Selbstverständnisse als konstitutiv erachtete Ereignisse profiliert, während andere, weniger signifikante oder dys funktionale Erfahrungen ausgeblendet werden. So können etwa Zeitraffungen, also Zusammenfassungen der Begebenheiten der Geschichte durch die Erzählinstanz, sowie implizite und explizite Ellipsen, d.h.
Die Rhetorik der Erinnerungen und Identitäten
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Aussparungen bestimmter Zeiträume auf der Ebene der erzählten Zeit, die relative Bedeutungslosigkeit dieser Phasen für das Selbstverständnis eines Individuums oder einer Erinnerungsgemeinschaft signalisieren. Umgekehrt können Zeitdeckungen, d.h. eine Übereinstimmung von Erzählzeit und erzählter Zeit, oder Zeitdehnungen (vgl. Chatman 1974) auf die Identitätsrelevanz der erinnerten Ereignisse verweisen. Schließlich können die unter der Kategorie der Frequenz zusammengefassten Wiederholungs- und Häufigkeitsbeziehungen die Bedeutung von kontinuitätsstiftenden, oftmals rituellen Repetitionen oder sinnkonstituierenden Mehrfachthematisierungen für die Gedächtnisbildung veranschaulichen. Insbesondere Abweichungen von der üblichen anaphorischen Erzählung (n-mal erzählen, was sich n-mal zugetragen hat), wie sie etwa durch Mehrfachthematisierung (n-mal erzählen, was einmal geschehen ist) entstehen, lassen Rückschlüsse auf die besondere, identitätskonstitutive Rolle von bestimmten Erfahrungen zu (vgl. Toolan 1988, S. 61). In welchem Maße Vergangenheitsdeutungen präsentischen Relevanzkriterien unterliegen, wird vor allem dann deutlich, wenn das gleiche vergangene Ereignis im Lichte gewandelter gegenwärtiger Bedingungen unterschiedlich narrativiert wird. Mehrfachthematisierungen offenbaren, dass Erinnerungen die Spuren der Zwecke ihrer Rekonstruktion tragen. Sie zeigen, dass Erinnerungen ebenso viel Aufschluss über vergangene Begebenheiten wie über aktuelle Sinnanforderungen liefern. Darüber hinaus bezeugen Abweichungen von der Norm der ,„singulative' frequency" (ebd.) die Schwierigkeit, zurückliegenden Ereignissen Bedeutung zu verleihen; sie indizieren kognitive und affektive Ambivalenzen. Dies gilt gerade für traumatische Erfahrungen, deren Kontingenz sich im Vergleich zu anderen, vorhersehbareren Ereignissen nur schwer reduzieren lässt. Mit Blick auf die Inszenierung von kollektiven Erinnerungen werden Wiederholungen ein und derselben vergangenen Episode oftmals dazu genutzt, die Mechanismen zu illustrieren, die der Stabilisierung von Kollektivgedächtnis zugrunde liegen: Besonders identitätsrelevante Ereignisse werden .überlebensgroß' (J. Assmann) präsent gehalten. Repetitive Erzählweisen machen die herausragende Rolle, die Kontinuität für Erinnerungsgemeinschaften spielt, ersichtlich. Darüber hinaus kann die mehrfache Thematisierung des gleichen Ereignisses als Authentisierungsstrategie eingesetzt werden: Im Sinne der so genannten „frequency validity" (Gigerenzer 1984) führt allein die Wiederholung der gleichen Information zur Steigerung von deren subjektiv empfundener Glaubwürdigkeit bzw. Validität. 202 Mehrfach-
202 Vgl. zu diesem Aspekt aus sozialpsychologischer Perspektive auch Fiedler (2000, S. 14f.), der dieses Phänomen unter dem Stichwort des „mere considering" behandelt und empirisch analysiert: „[Experimental research has shown that the mere repetition of a piece of information can increase its subjective truth [...). Just as mere thinking about an attitude object has been shown to strengthen that attitude [...], merely considering a proposition can strengthen the subjective feeling that the proposition is true."
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Fiktionale Weisen der Erinnerungs- und Identitätsbildung
thematisierungen des gleichen Ereignisses dienen als bedeutsames Instrument zur Legitimierung auch vormals nicht-sanktionierter Ereignisse. Erzählungen - auch fiktionale — lassen sich als .Sinnbildungen über Zeiterfahrung' (Rüsen) beschreiben, denn sie operieren mit komplexen Interrelationen zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Eng verbunden mit der Temporalisierung ist die Dramatisierung der erzählten Ereignisse. Erzählungen haben menschliche, auf einen Telos angelegte Handlungen zum Gegenstand. Sie vermitteln daher stets auch spezifische Konzepte von Entwicklungsverläufen, denen deutlich evaluative Implikationen eingeschrieben sind (vgl. Gergen 1998, S. 178). Bezüglich des Spannungsbogens einer Geschichte - d.h. bezüglich der konkreten Relationierung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft — lassen sich drei elementare Formen differenzieren, die sich auch für eine Analyse der in fictions of memory inszenierten Selbsterzählungen als aufschlussreich erweisen. Bleibt der Bogen gleich einer horizontalen Entwicklungslinie relativ konstant, d.h. treten während einer Zeitperiode wenig relevante Veränderungen ein, so haben wir es mit einer identitären Stabilitätserzählung zu tun. Vergangenheit und Gegenwart können aber auch so zueinander in Bezug gesetzt werden, dass sich der Verlauf der Zeit angesichts identitätsrelevanter Veränderungen entweder als Anstieg oder als Abstieg darstellt. Während es sich im ersten Fall um eine klassische progressive Erzählung handelt, bei der sich ausgehend von der Gegenwart zunehmend Verbesserungen einstellen, markiert der zweite Verlauf eine regressive Erzählung, die eine kontinuierliche Verschlechterung impliziert (vgl. ebd., S. 179). Die Selbstnarrationen zugrunde liegenden Zeitkonzepte korrelieren mit spezifischen Identitätskonzepten. Während progressive Erzählungen von einer teleologisch-progressiven Identitätsentwicklung ausgehen, implizieren regressive Erzählungen den „Zerfall des Selbst" bzw. die Offenlegung der „Fiktion des autonomen Ich" (Straub 1991, S. 49). Stabile Erzählungen wiederum unterstellen eine positiv zu bewertende Gleichheit des Selbst über die Zeit hinweg. Auf der Basis des dynamischen Zusammenwirkens der mnemonischen Raumund Zeitsemantiken konstruieren fictions of memory im Medium der Fiktion spezifische ,Erinnerungsräume'. Raum und Zeit lassen sich nur als interdependente Relationen denken, bedarf doch die Kategorie der Zeit stets einer räumlichen Vermittlung: Die Vermittlung geschieht durch den Raum, der nach Kant die eine der apriorischen Formen der Anschauung darstellt, während die Zeit die andere ist. So verfließt die objektive Zeit nicht ohne ein reales, gegenständliches Substrat, und auch die psychische Zeit bedarf des sinnlichen Bildes für die Erinnerung wie für die Vorausschau. (Hoffmann 1978, S. 356)
In ihrer topographischen Strukturiertheit verweisen literarische wie auch reale Erinnerungsräume nicht nur auf symbolische Orte, sondern auch auf bestimmte historische Zeiträume (vgl. A. Assmann 1999, S. 338). Orte evozieren Reminiszenzen an vergangene Zeiten. Das besondere Leistungsvermögen von Erinnerungsräumen besteht darin, dass sie vergangene Zeiten an symbolisch beladenen Orten
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D i e Rhetorik der Erinnerungen und Identitäten
im Hier und Jet2t präsent machen. Bachtin hat diese unauflösliche Verschmelzung von semantisierten Raum- und Zeitstrukturen in literarischen Texten als „Chronotopos" bezeichnet: Zeit und Raum existieren nur als aufeinander verweisende, kulturell konstruierte Größen (vgl. Bender/Wellbery 1989, S. 4). D e r Chronotopos beschreibt, so Bachtin (1989, S. 7), den „grundlegenden wechselseitigen Zusammenhang
der
in
der
Literatur
künstlerisch
erfaßten
Zeit-und-Raum-
Beziehungen". 2 0 3 Hieraus ergibt sich die auch für Erinnerungsräume charakteristische „Verräumlichung der Zeit" und „Verzeitlichung des Raumes"
(Nünning
1995a, S. 76): „Im künstlerisch-literarischen Chronotopos verschmelzen räumliche und zeitliche Merkmale zu einem sinnvollen und konkreten Ganzen." (Bachtin 1989, S. 8) Ebenso wie Eigenheiten der Zeit sich für bestimmte Handlungsakteure sinnhaft nur im Raum konkretisieren, so gewinnt auch der Raum nur durch seine konkrete Zeitlichkeit an Bedeutung (vgl. ebd.). Für retrospektive Sinn- und Identitätsstiftungen impliziert diese Interdependenz, dass „signifikante Momente oder auch ganze Entwicklungsphasen letztlich nur in Gestalt eines materialen, verräumlich ten Korrelats erinnert werden" können (Gymnich 2003, S. 44). Die Auseinandersetzung mit der diachronen Dimension der Identität, also mit der Frage nach dem individuellen bzw. kollektiven Gewordensein, stellt sich somit stets auch als eine Auseinandersetzung mit Handlungsräumen dar: In Erinnerungsräumen erkennen Personen bzw. Gruppen sich und ihre Geschichte wieder. Die narrative Inszenierung von semantisierten Raum- und Zeitstrukturen gehört in den fictions of memory zu den zentralen Verfahren, die Vorstellungen von der Funktionsweise von Erinnerungen sowie von den komplexen Zeitverhältnissen zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zur Anschauung bringen. Narrative Zeitsemantiken liefern Aufschluss über die Bedeutung von bestimmten Zeitabschnitten der Vergangenheit und vermitteln wertbesetzte Vorstellungen von Zeit- und Identitätskonzepten. Die Raumdarstellung kann die topographische Organisiertheit des Gedächtnisses veranschaulichen und das Wechselspiel von räumlicher Verortung und identitärer Stabilität bzw. gesellschaftlicher Visibilität im Rahmen von sozio-konsensuellen Strukturen der fiktionalen Welt reflektieren. Ein zentrales Privileg, das fictions of memory in der Erinnerungs kultur zukommt, besteht schließlich in der imaginativen Neustrukturierung des öffentlichen Erinnerungsraums: In den fictions of memory können gemeinhin marginalisierte Erinnerungsorte ins Zentrum gerückt und mit kollektiver Erinnerungsrelevanz ausgestattet werden. ***
Die hier genannten Kategorien - erzählerische Vermittlung, Perspektivenstruktur, Figurendialog, Intertextualität, Plotstrukturen sowie literarische Raum- und Zeit-
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A u f die Interdependenz von Raum- und Zeitstrukturen macht auch Koselleck ( 2 0 0 0 , S. 9) aufmerksam: „ D e n n Zeit ist nur über Bewegung in bestimmten Raumeinheiten anschaulich zu machen. D e r W e g , der v o n hier nach dort zurückgelegt wird, das Fortschreiten, auch der Fortschritt selber oder die Entwicklung enthalten veranschaulichende Bilder, aus denen sich zeitliche Einsichten gewinnen lassen."
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Fiktionale Weisen der Erinnerungs- und Identitätsbildung
darstellungen - sind zentrale Konstituenten der Rhetorik der Erinnerungen und Identitäten. Sie haben einen Einblick in die Vielfalt der für die Erzeugung von fiktionalen Gedächtniswelten und Identitätsmodellen relevanten Erzählverfahren geboten und verdeutlicht, dass literarische Texte einen geradezu prädestinierten imaginativen Raum bieten, um Fragen nach dem Zusammenhang von Erinnerung, Identität und Narration zu erschließen. Individuelle und kollektive Gedächtnisinhalte, Vorstellungen von dem Zusammenspiel von Identität und Erinnerung, aber auch gesellschaftlich verdrängte Erfahrungen können im fiktionalen Raum durch spezifisch literarische Verfahren modellhaft und ästhetisch verdichtet dargestellt werden. Die untersuchte Rhetorik der Erinnerungen und Identitäten verdeutlicht, dass narrative Formen einen eigenständigen und substantiellen Beitrag zur Vermittlung von Erinnerungs- und Identitätsmodellen und damit zur Konstitution von erinnerungskultureller Bedeutung leisten. Untersuchungen, die sich dem Themenkomplex Erinnerung und Identität rein inhaltlich annähern, greifen daher unweigerlich zu kurz. Die untersuchte Rhetorik der Erinnerungen und Identitäten trägt zudem dazu bei, die grundlegende Polyvalenz literarischer Formen zu präzisieren: Sie verdeutlicht, dass dieselben Erzählverfahren bei unterschiedlicher Semantisierung recht verschiedene erinnerungskulturelle Funktionspotentiale entfalten können: Welche metamnemonischen Implikationen etwa das für fictions of memory konstitutive Spannungsverhältnis zwischen dem Damals und dem Heute hat, ist maßgeblich davon abhängig, ob Vergangenes von einer personal voice oder einer communal voice artikuliert wird. Umgekehrt können aber auch unterschiedliche Verfahren sehr ähnliche Funktionen erfüllen: Sowohl die Auflösung von temporaler Kohärenz als auch die Darstellung von possible worlds und multiperspektivische Verfahren können dazu beitragen, den konstruktiven und ephemeren Charakter von Erinnerungen zu problematisieren. Diese Polyvalenz bzw. Multifunktionalität impliziert auch, dass sich das Wirkungspotential einzelner narrativer Verfahren nur kontextuell, also in ihrem Zusammenspiel mit anderen Darstellungsverfahren, sowie in ihrer dialogischen Bezogenheit auf kulturell zirkulierende Vorstellungen von Erinnerungen und Identitäten erfassen lässt. Die Charakteristika formalästhetischer Kategorien unterstreichen die Notwendigkeit, literarische Inszenierungen von Erinnerungen und Identitäten sowohl auf ihre formale Gestaltung als auch auf ihre erinnerungskulturellen Kontexte hin zu analysieren. Sie verweisen damit auch auf die Produktivität einer .erinnerungskulturellen Narratologie', einer Narratologie also, die historisch und kulturell variablen Vorstellungen von den Besonderheiten retrospektiver Sinnstiftung bei der Analyse der in den fictions of memory zur Anwendung kommenden erzählerischen Verfahren Rechnung trägt. Das Repertoire der narrativen Verfahren, die an der fiktionalen Inszenierung und Reflexion von Erinnerungen und Identitäten beteiligt sein können, ist mit der erarbeiteten Rhetorik natürlich noch nicht erschöpft. Zumindest kursorisch erwähnt werden sollen abschließend zwei weitere literarische Verfahren, denen für die Inszenierung des Konnex von Erinnerung und Identität eine zentrale Rolle
Die Rhetorik der Erinnerungen und Identitäten
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zukommt: zum einen Gedächtnismetaphern, zum anderen die Integration von fremdsprachlichen Wörtern. Für Gedächtnismetaphern gilt ebenso wie für andere literarische Verfahren und Formen, dass sie kulturell präfiguriert sind und daher kultur- und epochenspezifischen Konzeptionen von Erinnerung und Gedächtnis zur Anschaulichkeit verhelfen können. In Anlehnung an Harald Weinrichs Studie zu den „Typen der Gedächtnismetaphorik" (1964) hat Aleida Assmann (1999, S. 149-178) Gedächtnismetaphern systematisch untersucht und sie in drei zentrale Typen - schriftliche, räumliche und zeitliche Gedächtnismetaphern - gegliedert, die entsprechend ihres soziokulturellen Kontextes variabel aktualisiert werden. Wurde etwa in der Antike mit der Metapher von der Schrift bzw. des Siegels die permanente Verfügbarkeit von Gedächtnisinhalten nahe gelegt, so wird diese Dauerpräsenz spätestens durch das in der Romantik wurzelnde Gedächtnisbild des ephemeren Palimpsests in Frage gestellt. Jens Brockmeier (1999, S. 32) weist darauf hin, dass in den literarischen Gedächtnisgattungen des 20. Jahrhunderts Metaphern der Versteinerung eine Schlüsselfunktion zukommt. Sie evozieren die Notwendigkeit, „Erinnerungsschichten" sukzessive freizulegen, und stellen somit die Vorstellung einer problemlosen Verfügbarkeit des Erinnerten in Frage. Gerade für das begrifflich schwer zugängliche Phänomen Erinnerung erfüllt die „Bild-Orientierung" der Metaphorik wichtige Funktionen, denn „wer über Erinnerungen spricht, [kommt] dabei nicht ohne Metaphern" aus (A. Assmann 1999, S. 150). Metaphern sind in diesem Zusammenhang nicht bloß als poetische, ornamentale Sprachbilder zu konzipieren, sondern als symbolisch verdichtete Sinnstiftungsmodi, als „Formel für etwas [...], was sich begrifflich nicht hätte ausdrücken lassen" (Blumenberg 1979, S. 86). Als produktive Form der Bedeutungskonstitution und Komplexitätsreduktion tragen solche Denkfiguren zur konkreten Veranschaulichung vielschichtiger Zusammenhänge bei. Das besondere Potential von Gedächtnismetaphern besteht darin, einem komplexen Phänomen, das sich der direkten Versprachlichung entzieht, eine bildhafte, sinnerschließende und -konstituierende Gestalt zu verleihen und es auf diese Weise mitteilbar zu machen. Gedächtnismetaphern transportieren in symbolisch verdichteter Form soziokulturell geprägte Vorstellungen von den Besonderheiten von Erinnerungen und zeigen hiermit Möglichkeiten und Grenzen der retrospektiven Sinnstiftung auf: „Die Frage nach den Gedächtnis-Bildern wird damit zugleich zur Frage nach unterschiedlichen Gedächtnismodellen, ihren historischen Kontexten, kulturellen Bedürfnissen und Deutungsmustern." (A. Assmann 1999, S. 150) Metaphern vermitteln aber nicht nur Vorstellungen von der Funktionsweise von Erinnerungen. Sie können vielmehr auch als ideologisch befrachtete Medien von Kollektiverinnerungen wirksam werden. 204 Angesichts ihres Verdichtungs- und 204 Vgl. zu dem vielfältigen Funktionsspektrum von Metaphern v.a. Nünning (1998, 2002) sowie Butzer (2005). Einen Überblick über Formen und Funktionen von Gedächtnismetaphern liefert auch Birk (2003).
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Fiktionale Weisen der Erinnerungs- und Identitätsbildung
Visualisierungspotentials sind Metaphern ein besonders geeignetes Instrument, um komplexe, kollektiv relevante Zusammenhänge darzustellen. Metaphern haben keinen abbildenden, sondern einen produktiven Charakter: Sie konstituieren den Gegenstand ihrer Beschreibung erst durch das für sie konstitutive Wechselspiel von Bildspender und Bildempfänger (vgl. Kurz 1988, S. 23). Metaphern stellen konzeptuelle Zusammenhänge zwischen vorerst heterogenen Phänomenen her und machen somit eine unanschauliche Wirklichkeit anschaulich. Durch das Metaphern eigene Potential zur Simplifizierung und Visualisierung von mehrdeutigen Sachverhalten können sie einen maßgeblichen Beitrag zur konsensorientierten Stabilisierung der Erinnerungskultur leisten. Die metaphorische Repräsentation erlaubt eine bildliche Verdichtung von Deutungsmustern der Vergangenheit, die auf dem Wege der begrifflich-expositorischen Argumentation kaum zu erreichen ist. Schwer Fassbares wird durch visualisierende Metaphern eingängig in die kollektive Imagination eingeführt und damit auch in diachroner Perspektive erinnerbar. Metaphern sind daher ein hervorragendes Instrument zur Schaffung von sozial geteilten Weltsichten, von kollektiven Vergangenheiten und Identitäten. Das Mosaik als Metapher für die kanadische Gesellschaft ist ein eindrückliches Beispiel für das sinn- und identitätsstiftende Potential von Sprachbildern: Die Evokation eines vielfarbigen Kunstwerks (Bildspender) suggeriert ein harmonisches, kunstvolles und gleichberechtigtes Miteinander unterschiedlicher sozialer Gruppen, ein Bild, das die kanadische Bevölkerung (Bildempfänger) auf ihre friedliebende, tolerante und vor allem ,unamerikanische' Kollektividentität einschwören soll. 205 Dass diese Metapher keine Zustandsbeschreibung, sondern eine rhetorische Fiktion ist, die vor allem eine legitimatorische Funktion für die Vorherrschaft anglo-kanadischer Strukturen erfüllt, verdeutlichen nicht nur die zunehmende Kritik, die an dem diesem Bild geübt wird, sondern auch die im Medium der fictions of memory entworfenen Alternativmodelle. Eine weitere, insbesondere für ethnische Minoritätenliteraturen bedeutsame Konstituente der Rhetorik der Erinnerungen und Identitäten ist die Integration von fremdsprachlichen Wörtern. Dieses literarische Verfahren dient in erster Linie der Behauptung der Spezifität von partikularer Kollektividentität (vgl. Gymnich 2002): Fremdsprachliche Termini unterstreichen die Besonderheiten einer gruppenspezifischen Identität, sie veranschaulichen die Tradierung von identitätskonstitutiven Wissensbeständen und verweisen dabei oftmals auf verlassene, heimische Erinnerungsräume. Durch die Akzentuierung kulturspezifischer Eigenheiten bzw. kultureller Differenz leistet die Verwendung von fremdsprachlichen Begriffen einen Beitrag zur Rekonstitution einer durch kulturelle Marginalisierung und Diskriminierung beschädigten Identität. In diesem Sinne ist der Gebrauch von fremdsprachlichen Wörtern mit der Forderung verbunden, distinkte, gruppenspezifische
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Zur Bedeutung dieser Metapher für das kanadische Selbstverständnis vgl. Kap. II.4.3 sowie II.4.4 dieser Studie.
Die Rhetorik der Erinnerungen und Identitäten
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Merkmale anzuerkennen und der partikularen Vielfalt im öffentlichen Erinnerungsraum Rechnung zu tragen. Auch dieses Verfahren stellt die Vorstellung einer einheitlichen, verbindenden kanadischen Identität in Frage und lenkt das Augenmerk auf die irreduziblen Spezifika von diversen Erinnerungsgemeinschaften. Die Analyse der Rhetorik der Erinnerungen und Identitäten hat gezeigt, wie individuelle und kollektive Gedächtnisinhalte sowie Konzepte von Erinnerung und Identität durch spezifisch ästhetische und rhetorische Verfahren zur Anschauung gelangen können. Sie bietet damit eine Grundlage, um das in den fictions of memory inszenierte Spektrum individueller und kollektiver Erinnerungs- und Identitätskonstruktionen differenziert zu erfassen. Eine Antwort auf die Frage, in welchen Kombinationen die literarischen Formen in zeitgenössischen kanadischen fictions of memory (dominant) auftreten und wie sie im Sinne eines Wirkungspotentials auf die außerliterarische Wirklichkeit zurückwirken, steht hingegen noch aus. Auf der Basis der untersuchten Rhetorik der Erinnerungen und Identitäten soll im Folgenden der Versuch unternommen werden, unterschiedliche Erscheinungsformen der fictions of memory zu differenzieren und in Form eines Analyserasters miteinander vergleichbar zu machen. Es gilt, spezifische Kombinationen der in kanadischen fictions of memory rekurrenten formalästhetischen Darstellungsverfahren zu eruieren. Erst auf dieser Grundlage lässt sich das Spektrum von fictions of memory differenziert erfassen und das Wirkungspotential einzelner Gattungsausprägungen präzise bestimmen. Ricceurs Mimesis-Modell verdeutlicht, dass literarische Texte sowohl durch narrative Konfigurations- und Darstellungsverfahren als auch durch eine spezifische Selektionsstruktur, also durch bestimmte Weisen der Bezugnahme auf die symbolischen Ordnungen der extraliterarischen Erinnerungskultur gekennzeichnet sind. Daher muss bei der Entwicklung von gattungstyplogischen Differenzkriterien beiden Aspekten Rechnung getragen werden. Einzelne Gattungsausprägungen der fictions of memory konstituieren sich auf der Basis unterschiedlicher Merkmalskombinationen der Rhetorik der Erinnerungen und Identitäten sowie spezifischer Selektionsentscheidungen.
3. Von der Rhetorik der Erinnerungen und Identitäten zur Gattungstypologie der Fictions of Memory Die erarbeitete Rhetorik der Erinnerungen und Identitäten bildet die Grundlage, um unterschiedliche Erscheinungsformen der fictions of memory analytisch zu differenzieren und zueinander in Beziehung zu setzen. Die untersuchten formalästhetischen Konstituenten der Rhetorik stellen Anhaltspunkte zur Verfügung, um das synchrone Spektrum unterschiedlicher Typen der kanadischen fictions of memoiy auf der Basis von gemeinsamen textuellen Merkmalen zu erfassen und ihr kulturökologisches Funktionspotential systematisch zu beschreiben. Bereits der Begriff des .Typus' verdeutlicht den Status der angestrebten Binnendifferenzierung der fictions of memoiy. Wir haben es mit .Idealtypen' zu tun, die durch skalierende Grenzen und durch vielfältige Überschneidungen, nicht durch rigide Demarkationslinien charakterisiert sind.206 Die gattungstypologische Differenzierung unterstellt daher weder Objektivität noch Vollständigkeit, sondern will einen Beitrag zu einem umfassenderen Verständnis des heterogenen und weit gehend unerforschten Gegenstandsbereichs der fictions of memoiy leisten. Gerade in den letzten Jahrzehnten haben fictions of memoiy der kanadischen Literatur neue Impulse verliehen und die literarische Landschaft einschneidend verändert. Die gattungstypologische Herangehensweise verspricht literatur- und kulturwissenschaftlich relevante Einblicke in das Spektrum literarischer Inszenierungen von Erinnerung und Identität und kann damit zur wissenschaftlichen Orientierung beitragen. Die systematische Erforschung des fiktional inszenierten Nexus von Erinnerung und Identität ist gerade für eine Literaturwissenschaft, die ein kulturwissenschaftliches Erkenntnisinteresse verfolgt, von herausragender Bedeutung. Eine Auseinandersetzung mit den vielschichtigen Interdependenzen, die zwischen literarischen Werken und dem Themenkomplex Erinnerung und Identität bestehen, verspricht Einblicke in gesellschaftliche Sinngebungsprozesse, in vorherrschende Gedächtnisinhalte, Wertehierarchien sowie in die Rolle, die Literatur für die Aneignung von Erfahrungen spielen kann. Der theoretische Teil dieser Arbeit hat einen Eindruck von dem breiten Spektrum unterschiedlicher Formen und Funktionen der Vergangenheitsaneignung und deren Implikationen für die Identitätsstiftung vermittelt. Dabei sind vor allem die Unterscheidung zwischen Gedächtnis und Erinnerung, zwischen individuellen und kollektiven Sinn- und Identitätsstiftungen sowie zwischen der gemeinschaftlichen Stiftung und der konkurrierenden, sogar antagonistischen Aushandlung von Vergangenheit als zentrale Differenzierungskriterien sichtbar geworden. Um die Besonderheiten der literarisch inszenierten Sinn- und Identitätsstiftungen in zeitgenössischen kanadischen fictions of memory in den Blick zu bekommen und zu 206 Die Begriffe .Erscheinungsform', .Typ1 und ,Gattungsausprägung' werden in dieser Studie synonym verwendet. Sie bezeichnen gattungstypologische Binnendifferenzierungen des Genres der fictions of memory (vgl. Nünning 1995a, S. 293).
Gattungstypologie der Fictions of Memory
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klassifizieren, soll die theoretische Systematik auch im gattungstypologischen Teil dieser Studie in ihren Grundzügen fortgeführt werden. Diese theoriegeleitete Vorgehensweise bietet sich nicht nur an, um der Vielfalt literarischer Inszenierungen von Erinnerungen und Identitäten differenziert gerecht zu werden und so die in vielen literaturwissenschaftlichen Arbeiten vage bleibende These von ,dem identitätsstiftenden Potential von Erinnerung' zu spezifizieren. Vielmehr liefern die inhaltlichen Kategorien auch Hinweise darauf, welche formästhetischen Kategorien zur Strukturierung literarischer Vergangenheitsrepräsentationen herangezogen werden können. Es ist vor allem diese Zusammenfuhrung von zentralen theoretischen Konzepten und poetologischen Gestaltungsmitteln der Rhetorik der Erinnerungen und Identitäten, die der vorgeschlagenen Typologie einen einheitlichen, integrativen Charakter verleiht und einen aussagekräftigen Rückbezug der Theoriebildung auf literarische Weisen der Gedächtniserzeugung erlaubt. So lässt sich die Differenzierung zwischen Gedächtnis und Erinnerung durch den Zeitbezug von Erzähltexten und der damit verbundenen Relationierung der Erzählebenen präzise erfassen: Während die literarische Inszenierung von Gedächtnis (als einem tendenziell produktorientierten Erfahrungsbestand) in einer Vergangenheitsorientierung und der Dominanz der diegetischen Ebene der Handlung ihren Ausdruck findet, konkretisiert sich die Darstellung von Erinnerung (als einem dynamischen, prozessorientierten Akt) in einer Gegenwartsorientierung und der Dominanz der extradiegetischen Ebene der Erinnerungssituation. Bei Gedächtnisdarstellungen stehen die vergangenen, lebensweltlichen Erfahrungen einer rückblickenden Figur im Zentrum; bei der Inszenierung von Erinnerungen hingegen verlagert sich der Akzent auf die Darstellung der aktuellen, dynamischen Bedingungen der Rekonstruktion und Repräsentation von Vergangenem. Die Unterscheidung zwischen individuellen und kollektiven Sinnstiftungsakten findet in literarischen Texten in verschiedenen Formen der erzählerischen Vermittlung ihren prägnantesten Niederschlag. Während individuelle Sinn- und Identitätsstiftungen in der Regel von einer personal voice vermittelt werden, werden kollektive Akte des Vergangenheitsbezugs zumeist von einer communal voice oder aber von heterodiegetischen Erzählinstanzen zum Ausdruck gebracht. Die communal voice verleiht dem identitätskonstitutiven und gemeinschaftsstiftenden Erfahrungsschatz einer bestimmten Erinnerungsgemeinschaft Gehör; die heterodiegetische Erzählinstanz hingegen entwirft qua Innenweltdarstellung eine Matrix kollektiver Erinnerungen. Die Differenzierung zwischen der gemeinschaftlichen Stiftung und der rivalisierenden Aushandlung von Vergangenheiten und Identitäten korreliert schließlich mit der aufgezeigten Unterscheidung zwischen geschlossenen und offenen Perspektivenstrukturen. Fictions of memory, die sich durch eine geschlossene Perspektivenstruktur und ein konsensorientiertes Plotmuster auszeichnen, bringen die gemeinsamen und gemeinschaftsstiftenden Praxen der geteilten Vergangenheitsauslegung zur Darstellung. Hingegen führen Gattungsausprägungen, die sich durch eine offene Perspektivenstruktur auszeichnen, unterschiedliche, einander wechselseitig relativierende Erinnerungsversionen vor Augen und lösen die Ver-
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Filitionale Weisen der Erinnerungs- und Identitätsbildung
gangenheit in inkompatible, oftmals im Streit um Deutungshoheit konkurrierende Geschichten auf. Auf der Basis dieser Kategorien ergibt sich eine gattungstypologische Differenzierung zwischen vier grundlegenden Formen der fictions of memoiy, die im Rahmen der zeitgenössischen kanadischen Literatur sowohl in quantitativer als auch in qualitativer Hinsicht besonders relevant sind. Hierzu zählt erstens der autobiographische Gedächtnisroman, zweitens der kommunale Gedächtnisroman, drittens der autobiographische Erinnerungsroman und viertens der soziobiographische Erinnerungsroman. Gemäß den skizzierten Bestimmungen liegt der Akzent des autobiographischen Gedächtnisromans auf den Vergangenheitserfahrungen einer rückblickenden Figur, deren Selbstnarration das identitäts- und einsichtstiftende Potential von Gedächtnisakten exemplarisch veranschaulicht. Im kommunalen Gedächtnisroman verschiebt sich der Akzent von der individuellen auf die kollektive Ebene. In dieser Genreausprägung geht es um die Konstitution einer distinkten Kollektividentität auf der Basis von gruppenspezifischen, oftmals vorgängig marginalisierten Erfahrungen, wobei das gemeinschaftsstiftende und legitimatorische Potential von Erinnerungen im Streit um gesellschaftliche Visibilität zum zentralen Thema wird. Während in Gedächtnisromanen die zurückliegende Handlungsebene im Vordergrund steht, liegt in Erinnerungsromanen das Hauptaugenmerk auf der extradiegetischen Ebene des Erinnerungsabrufs, auf den präsentischen Bedingungen der Aneignung und Deutungen von Vergangenem, also. Mit dieser Gegenwartsorientierung ist eine Tendenz zur Metaisierung des Erinnerten verbunden: In Erinnerungsromanen avancieren die Probleme von sinnstiftenden Vergangenheitsrekonstruktionen selbst zum zentralen Thema. Der autobiographische Erinnerungsroman stellt die gegenwartsbezogenen Sinnstiftungsversuche einer aktiv deutenden und umdeutenden Figur in den Mittelpunkt und macht das ephemere, sogar prekäre und identitätsdestabilisierende Potential von Erinnerungen beobachtbar. Im soziobiographischen Erinnerungsroman rücken schließlich die pluralen, oftmals inkompatiblen Vergangenheitsversionen verschiedener Instanzen in den Vordergrund. In dieser Gattungsausprägung geht es u m die Aushandlung von Vergangenheiten im Spannungsfeld von Identität und Alterität sowie um die Frage, ob und wie Gemeinschaften bzw. Kulturen mit widerstreitenden Erinnerungen umgehen können. Die aufgezeigten Erzählverfahren bestimmen die konstitutiven Eckpunkte der einzelnen Gattungsausprägungen. Da sie zahlreiche Konvergenzen mit anderen formalästhetischen Verfahren der Rhetorik der Erinnerungen und Identitäten aufweisen, kann zur Präzisierung der gattungsspezifischen Besonderheiten auf das gesamte Spektrum der die Rhetorik konstituierenden Gestaltungsmittel zurückgegriffen werden. Vergangenheitsorientierte Gedächtnisdarstellungen auf der einen Seite und präsentische, dynamische Erinnerungselaborationen auf der anderen sind ebenso wie individuelle und kollektive Selbstnarrationen als Pole eines Kontinuums möglicher literarischer Formen des Vergangenheitsbezugs zu konzipieren. Zwar lassen sich auf theoretischer Ebene Gedächtnis und Erinnerung relativ prägnant vonein-
Gattungstypologie der Fictions of Memoiy
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ander unterscheiden. Mit Blick auf das Medium der Fiktion allerdings kann diese Differenzierung nur als heuristisches Instrument dienen. Literarische Texte zeichnen sich durch ihre Entpragmatisierung, also durch fiktionale Gestaltungsräume aus, in denen sie neue Modelle von Erinnerung und Identität erproben können. Narrative Inszenierungen entziehen sich daher notwendigerweise jedem Versuch, sie auf theoretisch eindeutige Konzepte von Gedächtnis, Erinnerung und Identität festzulegen. Hinzu kommt, dass literarische Texte Unterschiede zwischen Gedächtnis und Erinnerung nur selten - etwa in Form von metamnemonischen Reflexionen - auf den Begriff bringen bzw. .expositorisch' abhandeln. Literatur inszeniert diesen Themenkomplex vielmehr qua semantisierten und damit auch mehrdeutigen Formen. Angesichts der grundlegenden Polyvalenz ästhetischer Formen und des damit verbundenen semantischen Uberschusses von literarischen Texten können fictions of memoiy nicht vollständig auf theoretische Diskurse bzw. Differenzierungen zurückgeführt werden. Anstatt von klaren Grenzen ist daher bei der gattungstypologischen Unterscheidung von einem skalierenden Kontinuum unterschiedlicher Erscheinungsformen auszugehen, das die graduelle Einordnung konkreter Erscheinungsformen der fictions of memory erlaubt. Die entgegengesetzten Eckpunkte der Gattungstypologie spannen ein breites Spektrum gradueller Ausprägungen der fictions of memoiy auf. Die verschiedenen Gattungsausprägungen liegen nie in Reinform vor; literarische Werke belegen oftmals Zwischen- oder Ubergangspositionen im Kontinuum. Mithin dient das Prinzip der variablen Dominanzverhältnisse zwischen bestimmten narrativen Darstellungsformen dazu, einen Einzeltext unter eine spezifische Erscheinungsform zu subsumieren. Um dieser Kontinuität konzeptuell gerecht zu werden, sind die in dieser Arbeit vorgeschlagenen Gattungsdifferenzierungen im Sinne von Ludwig Wittgensteins (1969) Konzept der .Familienähnlichkeit' zu verstehen. Dieses Konzept basiert auf der Annahme, dass Worte, die einer lexikalischen Kategorie angehören, sich nicht durch eine eindeutige Anzahl definierbarer Merkmale auszeichnen, sondern lediglich partielle Überschneidungen aufweisen. Wörter einer Kategorie verhalten sich zueinander wie Mitglieder einer großen Familie, die nicht alle über ein- und dieselben Merkmale, sondern jeweils nur über Teilmengen gemeinsamer Charakteristika verfügen. Der Vorteil dieses Konzepts für die Entwicklung einer Gattungstypologie liegt auf der Hand: Es bietet die Möglichkeit, gattungsspezifische Merkmalskombinationen zu erstellen, die eine heuristische Distinktheit gewährleisten, ohne dass graduelle Abstufungen und Ausnahmefälle negiert werden müssten. 207 Eine Übertragung von Wittgensteins Konzept auf literarische Gattungen im Allgemei-
207 Vgl. hierzu das von Suerbaum (1993, S. 95) formulierte Desiderat: „Da die Gattungsgliederung literarischer Texte locker und unsystematisch ist, sollte man darauf verzichten, durch die Einführung differenzierter, präzis definierter Gruppenbegriffe ein straffes hierarchisches Schema vorzutäuschen. Es ist besser, den unscharfen und umfassenden Begriff .Gattung' für alle Textgruppen beizubehalten, zwischen denen ein deutlicher, den Autoren und dem Publikum bewusster Zusammenhang besteht."
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Fiktionale Weisen der Eiinnerungs- und Identitätsbildung
nen und fictions of memory im Besonderen legt nahe, dass sich spezifische Gattungsformen auf der Basis eines Ensembles von Merkmalen konstituieren, die in ihrer Gesamtheit die gattungskonstitutive Familienähnlichkeit begründen. 208 Die interne Struktur einer Gattung stellt sich als Spektrum kontinuierlich variierender Erscheinungsformen des gleichen übergeordneten literarischen Typus dar. Idealtypische Einzeltexte verfügen über alle gattungstypischen Merkmale und sind folglich an den markanten Eckpunkten des Koordinatensystems von möglichen Erscheinungsformen zu lokalisieren. Texte, hingegen, die für eine Gattungsform weniger charakteristisch sind, weisen nur einige der gattungstypischen Merkmale und darüber hinaus eine Reihe weniger typischer Spezifika auf. Kurzum, ein Einzeltext muss keineswegs alle gattungstypischen Charakteristika enthalten, um als der Gattungsausprägung zugehörig zu gelten. Zwischen den einzelnen Gattungsformen bestehen vielfältige Überschneidungen, so dass das Prinzip der Dominanz über die Gattungszugehörigkeit eines Einzeltextes entscheidet. Typologien basieren bekanntlich auf dem „Prinzip der Gruppenzuordnung aufgrund von gemeinsamen Merkmalen" (Gutenberg 2000, S. 99). Das Ergebnis ist ein analytisches Ordnungssystem unterschiedlicher Typen, das nicht nur die Spezifika der zu klassifizierenden Phänomene widerspiegelt, sondern auch die jeweiligen Selektionsprozesse und Erkenntnisinteressen des Betrachters. Daher sind auch literarische Gattungstypologien keine überzeitlichen und unumstößlichen Systeme oder gar eine „isomorphe Abbildung der Textlandschaft" (Nünning 1995a, S. 292), sondern lediglich heuristische Instrumente, die strukturelle Zusammenhänge zwischen einer Reihe von Einzelwerken aufzeigen (vgl. Suerbaum 1993, S. 95) und damit ihre systematische Betrachtung erleichtern. Was Gattungstypologien bei aller Konstruktivität und Vorläufigkeit zu leisten vermögen, „ist die Bereitstellung eines systematisch angelegten Rasters von Texttypen, das einerseits die Relationen zwischen Einzeltexten verdeutlichen kann und zum anderen bestimmte bisher übersehene oder vernachlässigte Merkmale oder Parameter von Texten ins Blickfeld rückt" (Gutenberg 2000, S. 99). Die gattungstypologische Systematisierung der fictions of memory suggeriert damit weder Objektivität noch Vollständigkeit, sondern will auf der Basis intersubjektiv nachvollziehbarer Kategorien zu einem besseren Verständnis dieser Gattung beitragen. Da der Gattungstypologie mit der untersuchten Rhetorik der Erinnerungen und Identitäten eine einheitliche Systematik zugrunde liegt, verspricht sie, formale Parallelen innerhalb des heterogenen Gegenstandsbereichs der fictions of memory aufzuzeigen und somit Gemeinsamkeiten und Unterschiede — auch hinsichtlich ihres jeweiligen erinnerungskulturellen Funktionspotentials - beschreibbar zu machen.
208 Die folgenden Überlegungen orientieren sich an Ray Jackendoffs (1999 [1983]) kognitiver Semantik. Sein Modell von semantischen Kategorien entwirft er ausgehend vom Konzept der Familienähnlichkeit.
Gattungstypologie der Fictions of Memory
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3.1 Der autobiographische Gedächtnisroman Im Zentrum des autobiographischen Gedächtnisromans stehen die partikularen Vergangenheitserfahrungen eines (erinnerten, erlebenden) Ichs, die aus der gegenwärtigen Perspektive eines erzählenden Ichs reaktualisiert werden. Die vergangenen Erfahrungen werden im autobiographischen Gedächtnisroman von einer autodiegetischen Erzählinstanz vermittelt, die sich typischerweise einer personal voice bedient. Der narrative Sinnstiftungsakt ist darauf angelegt, der Vielgestaltigkeit des persönlichen Erlebens erzählend Gestalt zu geben und so dem Selbst eine integrierende Identität zu verleihen. Im erinnernden Rückblick schlägt das gealterte, seine Vergangenheit rekonstruierende und analysierende Ich eine bedeutungsstrukturierende Brücke zwischen den im Laufe der Zeit eingetretenen Veränderungen. Auf diese Weise werden die komplexen Transformationen und Brüche zwischen dem ,self that was' und dem ,self that is' in eine plausible und aneignungsfähige Form gebracht. Das vor allem für autobiographische fictions of memory relevante Spannungsverhältnis zwischen Ich-Erzähler und Objekt-Ich wird in dieser Gattungsausprägung dazu genutzt, das kontinuitäts- und sinnstiftende Potential von Erinnerungen als integratives Moment der Identitätskonstitution zu illustrieren. Die Möglichkeit einer kohärenten, identitätsstabilisierenden Aneignung der individuellen Vergangenheit schlägt sich typischerweise in einer kompletten Analepse nieder (vgl. Genette 1994, S. 42): In verschiedenen, zumeist relativ chronologisch strukturierten Rückblenden werden die vergangenen Erfahrungen reaktualisiert und im narrativen Modus an die gegenwärtige Situation des Erinnerungsabrufs angebunden. Die auf der diegetischen Ebene der Figuren dargestellten Ereignisse können als ^Antworten' auf die subjektiven Sinnbedürfnisse und aktuellen Handlungsanforderungen des erzählenden Ichs verstanden werden, die dazu beitragen, die temporale und sinnbezogene Kluft zwischen Vergangenem und Gegenwärtigem zu überbrücken. Durch die sinnstiftenden Erzählakte konsolidiert sich die persönliche Vergangenheit zu einem stabilen Gedächtnisnarrativ. Die Hinwendung zur Darstellung des Gewordenseins der individuellen Identität findet in dem für diese Gattungsform typischen, individuenzentrierten Quest-Plot seinen deutlichsten Niederschlag. Ein für den autobiographischen Gedächtnisroman konstitutives Merkmal ist seine Vergangenheitsorientierung, also die Dominanz der diegetischen Ebene der Handlung gegenüber der aktuellen Situation der Erinnerungsrekonstruktion. Im Gedächtnisroman liegt der Akzent auf den zeitlich zurückliegenden, selbst erlebten Ereignissen des reminiszierenden Ichs, die tendenziell als abgeschlossener, chronologischer Erlebniszusammenhang repräsentiert werden. Der geschlossene Handlungsablauf evoziert den Eindruck eines vorgängig bedeutungstragenden Gedächtnisbestands. Aspekte der individuellen Vergangenheit werden in dieser Gattungsausprägung als bereits sedimentierte, auf frühere Deutungen zurückverweisende Bestände des individuellen Gedächtnisses inszeniert. Autobiographische Gedächtnisromane sind realistischen Erzählkonventionen verpflichtet. Da eines
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Fiktionale Weisen der Erinnerungs- und Identitätsbildung
der konstitutiven Merkmale realistischen Erzählens die Existenz einer „die Erfahrungen auf sinnvolle Weise sammelnde[n] und sich weiterentwicklendefn] Figur" (Böker 1993, S. 16) ist, bieten die in autobiographischen Gedächtnisromanen dargestellten Sinnstiftungsversuche eindrückliche Beispiele für die Mechanismen, nach denen gelungene Kontinuitäts- und Identitätsstiftung verfahren. Bei der Konstruktion ihrer Lebensgeschichten orientieren sich Erzählinstanzen in dieser Romanform an kulturell vorherrschenden, unifizierenden Konzepten, die als präexistente Deutungsschablonen eine sinnhafte Kodierung auch von schwer signifizierbaren Ereignissen sicherstellen. Durch zahlreiche .Realitäts-' bzw. Glaubwürdigkeitseffekte (vgl. Barthes 1984) wird der Konstruktcharakter der autobiographischen Erzählung dissimuliert. Ungereimtheiten und Zufälle des menschlichen Lebens gewinnen durch narrative Glättungen eine zwangsläufige und plausible Notwendigkeit. Der Anfang der Lebensgeschichte, ihre Höhe- und schicksalhaften Wendepunkte werden im autobiographischen Gedächtnisroman vor dem Hintergrund eines bereits bekannten Endes konfiguriert und narrativiert. Angesichts dieser „retrospektiven Teleologie" (Brockmeier 1999, S. 36) ist der Handlungsverlauf des autobiographischen Gedächtnisromans durch eine geschlossene Plotstruktur gekennzeichnet, die der Entwicklung der individuellen Identität eine ausgezeichnete Plausibilität unterstellt. Trotz der Dominanz der Vergangenheitsebene ist auch im autobiographischen Gedächtnisroman die gegenwärtige Situation des Gedächtniszugriffs nicht völlig ausgeblendet. Angesichts des konstitutiven Gattungsmerkmals der fictions of memory — nämlich der Reaktualisierung von Vergangenem in der erinnernden Rückschau — zeichnen sich alle zu der Gattung gehörenden Erscheinungsformen durch ein mehr oder minder stark ausgeprägtes Oszillieren zwischen verschiedenen Zeitebenen aus. Dieses Oszillieren führt in im autobiographischen Gedächtnisroman allerdings lediglich auf der makrostrukturellen Ebene des Gesamttextes zu einer punktuellen Durchbrechung der Chronologie. Auf der Figurenebene hingegen folgt die Darstellung der Ereignisse, angetrieben durch die vom erzählenden Ich erzeugte retrospektive Teleologie, einer linearen Chronologie. Das Ensemble heterogener Erfahrungen wird auf diese Weise für das rückblickende Ich als in sich geschlossener und kohärenter Erlebniszusammenhang erfahrbar, der eine identitätsstiftende Aneignung des Vergangenen gewährleistet. Die gegenwärtige Identität der sinnstiftenden Instanz erscheint so als notwendiges und folgerichtiges Resultat der Summe vergangener Erfahrungen. Der sinnstiftende Zugriff auf die eigene Erfahrungsrealität und damit die Verfügbarkeit des Vergangenen in der Gegenwart werden im autobiographischen Gedächtnisroman durch den Wechsel zwischen interner und externer Fokalisierung sichergestellt. Typischerweise wird das Vergangene im autobiographischen Gedächtnisroman über weite Strecken intern fokalisiert. Die durch interne Fokalisierung inszenierten field memories tragen dazu bei, die episodenhafte Unmittelbarkeit der Erfahrung und die Authentizität des Erinnerten zu akzentuieren. Nur punktuell wird die dominant interne Fokalisierung durch externe Fokalisierungen
Gattungstypologie der Fictions of Mtmofy
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der zurückliegenden Erfahrungsrealität durchbrochen. Während interne Fokalisierung zu einer emotionalen Wiedererschließung der vergangenen Erlebnisweise beiträgt, erlaubt externe Fokalisierung eine sinnstiftende Rückbindung des Vergangenen an die gegenwärtige Situation des Erinnerungsabrufs. Der homodiegetische Erzähler nähert sich durch dieses Verfahren seinem vergangenen Selbst an, so dass beide Identitätsaspekte schließlich zu einer einzigen Figur mit einem gemeinsamen Bewusstseinsstand verschmelzen. 209 Die .doppelte Präsenz' von erinnertem und erinnerndem Ich wird im autobiographischen Gedächtnisroman also durch den gelungenen Sinn- und Kontinuitätsstiftungsprozess aufgehoben. Das Resultat ist die Konstruktion einer kohärenten Geschichte, in der die Erzählerin sich selbst wiedererkennt und die ihr eine psychologisch intelligible Antwort auf die Frage gibt: Warum bin ich so geworden, wie ich bin? Aus der Fähigkeit der Erzählinstanz zur retrospektiven Sinnstiftung ergibt sich die für autobiographische Gedächtnisromane kennzeichnende progressive Plotstruktur. Mit der - qua interner Fokalisierung gewährleisteten - Akzentuierung der Erinnerungsfähigkeit des erzählenden Ichs ist eine für den autobiographischen Gedächtnisroman kennzeichnende „Authentizitätssuggestion durch eine formalmimetische Modellierung" (Löschnigg 1999, S. 175) des Vergangenen verbunden, die sich in einer Reihe weiterer, gattungskonstitutiver Spezifika niederschlägt. Die Authentizitätsillusion und der damit einhergehende implizite Anspruch des erzählenden Ichs, auch weit zurückliegende Ereignisse zutreffend zu rekonstruieren, manifestieren sich in dem relativ ereignishaften, oftmals spannungsreichen Handlungsablauf auf figuraler Ebene. Durch die für den autobiographischen Gedächtnisroman charakteristische interne Fokalisierung des Vergangenen erscheinen auf der Handlungsebene all jene Elemente (wie persönliche Erfahrungen, soziale Interaktionen, aber auch kulturelles Wissen und soziale Deutungsmuster), die die individuelle Gedächtnis- und Identitätsbildung prägen. Autobiographische Gedächtnisromane illustrieren auf der diegetischen Ebene die Besonderheiten vergangener Lebenserfahrung sowie die Partikularität der Wahrnehmungsweise und legen die Sozialisation des erlebenden Ichs offen. Auch detailgenaue Beschreibungen von vergangenen Orten und Zeiten sowie Unmittelbarkeit suggerierende Lokal- und Temporaldeiktika gehören zum konstitutiven Repertoire von autobiographischen Gedächtnisromanen, das die Authentizität des Dargestellten akzentuiert. Uber seine Funktion als Handlungsschauplatz hinaus wird der dargestellte Raum in dieser Erscheinungsform oftmals als semantisch aufgeladenes Medium inszeniert, als Gedächtnisort, in dem sich die identitätsrelevanten Erfahrungen der erinnernden Instanz konkretisieren. Die subjektive Auseinandersetzung mit der eigenen Lebensgeschichte stellt sich in diesem Fall als Auseinandersetzung mit dem Raum dar. Des Weiteren zählen zahlreiche intertextuelle und intermediale Referenzen auf 209 Vgl. Fludernik (1993, S. 444), die eine derartige homodiegetische Erzählinstanz definiert als „prototypical, .realistic' first person narrator persona, who looks back on his or her life and is caught in the writing process at a specific time and place for very specific realistically motivated reasons".
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Fiktionale Weisen der Erinnerungs- und Identitätsbildung
persönliche Gedächtnismedien wie Briefe, Photographien oder Tagebucheinträge zu den typischen Verfahren des Gedächtnisromans, die Einblick in die konstituierenden Bedingungen der vergangenen Realität liefern und im Sinne der Authentizitätssuggestion wirken. Obgleich die extradiegetische Ebene im autobiographischen Gedächtnisroman tendenziell nur minimal profiliert ist, kann das erzählende Ich doch punktuell mit expliziten, auf seinem übergeordneten Wissenshorizont gründenden Reflexionen in Erscheinung treten. Solche expliziten Reflexionen können nicht nur vergangene Verhaltens-, Denk- und Erfahrungsweisen vor dem Hintergrund aktueller moralischer sowie intellektueller Beurteilungsmaßstäbe perspektivieren und kritisch kommentieren. Als metamnemonische und metanarrative Reflexionen können sie auch die Besonderheiten des individuellen Gedächtnisses — dessen Konstruktivität, Selektivität oder Subjektivität — zum Thema machen. Anders als im Erinnerungsroman allerdings zielen die Thematisierungen der Spezifika von Gedächtnisleistungen im Kontext des autobiographischen Gedächtnisromans nicht darauf ab, die Glaubwürdigkeit des Dargestellten selbstreflexiv in Zweifel zu ziehen. Vielmehr wird die Betonung der prinzipiellen Konstruktivität und Selektivität der Gedächtnisbildung in Romanen dieses Typus zumeist als Authentisierungsstrategie eingesetzt, gelten diese Phänomene doch als konstitutiver Bestandteil jedes Sinnstiftungsakts. Aus den dargelegten gattungsspezifischen Charakteristika der syntagmatischen Achse der Konfiguration ergeben sich für die Selektionsstruktur des autobiographischen Gedächtnisromans folgende Merkmale: D a in dieser R o m a n f o r m die vergangenen Erfahrungen einer fiktionalen Erzählinstanz im Zentrum stehen, zeichnet sich die Selektionsstruktur durch ein breites Spektrum fiktionaler Elemente aus. Zwar finden auch vielfältige Realitätselemente, d.h. extraliterarische Referenzen auf unterschiedliche Inhalte der kollektiven Gedächtnisse, Eingang in das Textrepertoire des Gedächtnisromans. D a diese jedoch an das autobiographische Gedächtnis bzw. die persönlichen Sinnbedürfnisse des erinnernden Ichs gebunden sind, umreißen sie zumeist einen zeitlich und räumlich relativ eng begrenzten Gedächtnisraum und zeichnen sich durch eine starke Subjektivierung bzw. Fiktionalisierung aus. Referenzen auf den theoretischen Zusammenhang von Gedächtnis, Erzählen und Identität schlagen sich im autobiographischen Gedächtnisroman vor allem in den besprochenen semantisierten Formen nieder. Spezialdiskursive Einsichten werden also in erster Linie implizit zur Darstellung gebracht; sie kommen in nur geringer Dichte in expliziten Reflexionen zum Ausdruck. Die aufgezeigten Besonderheiten der paradigmatischen und syntagmatischen Achse legen nahe, dass der autobiographische Gedächtnisroman sein kulturökologisches Funktionspotential vor allem daraus bezieht, die stabilisierenden Leistungen der narrativen Identitätskonstitution vor Augen zu führen. Die für diese Genreausprägung konstitutive Inszenierung des Zusammenhangs von Identität und Erzählung zeichnet die Narration als menschliches Sinns tiftungs format par excellence aus. Die Transparenz des Erzählerdiskurses impliziert die Möglichkeit einer sinn-
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Gattungstypologie der Fictions of Memory
haften Aneignung der Wirklichkeit und präsupponiert eine kohärente Identitätskonstitution über und durch die Erinnerung. Indem diese Romane illustrieren, wie biographische Kontinuität und lebensweltliche Kohärenz auf der Basis von gelungenen Selbstnarrationen konstruiert werden, und verdeutlichen, wie die Vergangenheit in einen signifikanten Bezug zur Gegenwart gestellt werden kann, stellen sie erprobte, bereits semiotisierte Sinnstiftungsmuster zur Verfügung, die rezipientenseitig zur Deutung der eigenen Erfahrungsrealität herangezogen werden können. Der autobiographische Gedächtnisroman kann hiermit im Prozess der individuellen
Erfahrungsverarbeitung
zentrale
Orientierungs-
und
Stabilisierungs-
funktionen erfüllen. E r kann als Medium des individuellen Gedächtnisses wirksam werden und die rezipientenseitige Stabilisierung der Identitätskonstitution begünstigen. 210 Über diese Modellfunktion hinaus trägt der Gedächtnisroman in funktionaler Hinsicht zur Subjektivierung der Erinnerungskultur bei. Durch die Inszenierung des individuellen Vorraussetzungssystems, von dezidiert subjektiven Erinnerungswelten und der Spezifität der individuellen Erfahrungsweise erschließen solche Romane Bereiche, die in vorherrschenden Gedächtnisversionen zumeist unrepräsentiert bleiben, die „aber für eine angemessen komplexe Bestimmung des Menschen und seiner Stellung in der Welt unverzichtbar" (Zapf 2002, S. 64) erscheinen. D e m hypostasierten Einheitsmoment der Vorstellung von der Kultur als Gedächtnis werden hier individualisierte, affektive Sinnwelten entgegengestellt, die durch verschiedene Weisen der Innenweltdarstellung evoziert werden. Der autobiographische Gedächtnisroman vermag durch seine Subjektivierung des kollektiven Erfahrungsschatzes zuvor Unartikuliertes und Unartikulierbares in die extratextuelle Erinnerungskultur einzuspeisen und den Blick auch auf das ganze Spektrum individueller Erlebnisse zu lenken, die in die kollektive Gedächtnisbildung gemeinhin keinen Eingang finden.
3.2 Der autobiographische Erinnerungsroman Auch im Zentrum des autobiographischen Erinnerungsromans steht der Versuch eines sich erinnernden Ichs, seine persönlichen Erfahrungen zu rekonstruieren und diese in einen sinnhaften Bezug zu seiner gegenwärtigen Situation zu stellen. Die Spezifik der individuellen Erfahrungsrealität wird ebenso wie im autobiographischen Gedächtnisroman durch die Verwendung einer personal
voice
inszeniert. Wäh-
rend der autobiographische Gedächtnisroman allerdings die Geschlossenheit der Erfahrung suggeriert, problematisiert der autobiographische Erinnerungsroman die 210
Auf diese wichtige Modellfunktion von fiktionalen Erzählungen macht RiccEur (1985 [1991], S. 396) aufmerksam, wenn er konstatiert: „Ein erforschtes Leben aber ist in bedeutendem Maße ein gereinigtes und geklärtes Leben — gereinigt durch die kathartischen Wirkungen, die von den historischen und fiktiven Erzählungen unserer Kultur ausgehen."
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Fiktionale Weisen der Erinnerungs- und Identitätsbildung
aktuellen Bedingungen von Sinnstiftung. Damit verbunden ist eine Verlagerung des Akzents von der diegetischen Ebene der vergangenen Handlung auf die gegenwartsorientierte Ebene der erzählerischen Vermittlung bzw. der Erinnerungselaboration. Die für den autobiographischen Erinnerungsroman typische Gegenwartsorientiertheit und die damit verbundene Konturierung der Ebene der erzählerischen Vermittlung legen den standortgebundenen Charakter von Erinnerungen offen. Der autobiographische Erinnerungsroman illustriert das präsentisch ausgerichtete Bemühen einer homodiegetischen Erzählinstanz, die inkohärenten und disparaten Erfahrungsfragmente narrativ so zu synthetisieren, dass sie sich in den ordnenden, kontinuitätsstiftenden und kontingenzreduzierenden Zusammenhang eines Gedächtnisnarrativs einfügen. In der erinnernden Vergegenwärtigung des Vergangenen lotet die sinnstiftende Instanz die möglichen Bedeutungen dieser Ereignisse für ihre gegenwärtige Situation allererst aus und sucht nach rekurrenten, prägenden Mustern. Auf diese Weise werden die Prozesse der sinnstiftenden Narrativierung und Synthetisierung vergangener Erfahrungsfragmente, „the factmaking and meaning-granting processes" (Hutcheon 1989, S. 77) offenbart. Durch die Fokussierung des Konstruktionscharakters der individuellen Lebensgeschichte wird im autobiographischen Erinnerungsroman auch jene Dimension menschlicher Existenz sichtbar, die im autobiographischen Gedächtnisroman durch vielfältige Realitätseffekte sowie narrative Glättungen weit gehend bereinigt wird: die bizarren Zufälligkeiten, die zahlreichen Ungereimtheiten und hiermit die Kontingenz des Lebens. Die individuelle Identität erweist sich im autobiographischen Erinnerungsroman als eine performativ gestaltete, die sich erst im narrativen Modus, im Prozess des Erzählens herausbildet und dabei doch immer nur ein ausgesprochen ephemeres, instabiles und vorläufiges Konstrukt bleibt. 211 Es entspricht dem für den autobiographischen Erinnerungsroman konstitutiven Interesse an Möglichkeiten der retrospektiven Sinnstiftung und Identitätskonstitution, dass er sich der Konventionen des Quest-Plots bedient. Mit der für autobiographische Erinnerungsromane kennzeichnenden Gegenwartsorientierung verbinden sich zwei weitere, für diese Gattungsausprägung charakteristische Merkmale. Erstens geht die Verschiebung des Akzents auf den gegenwärtigen Akt des Erinnerns mit einer Tendenz zur Metaisierung sowie einem hohen Maß an Selbstreflexivität einher: Die Rhetorik der Erinnerungen und Identitäten wird in autobiographischen Erinnerungsromanen nicht nur zur Vergegenwärtigung von Vergangenem genutzt; sie dient vielmehr auch der Reflexion der Probleme, die mit der Rekonstruktion und identitätsstiftenden Aneignung der individuellen Erfahrungsrealität verbunden sind. Der autobiographische Erinnerungsroman zeichnet sich durch ein breites Spektrum metamnemonischer Referenzen aus, die die Perspektivität, Selektivität und Konstruktivität von Erinnerungen 211 Vgl. zu diesem Aspekt Wagner-Egelhaaf (2000, S. 62): „Das sich autobiographisch erinnernde Ich ist also eine offene, eine veränderliche Größe; es ist nicht nur der Konstrukteur seiner Erinnerung, sondern als solcher immer auch deren Konstrukt."
Gattungstypologie der
Fictions o/Memoiy
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zum zentralen Thema machen. Diese Reflexionen stellen die Authentizität des Erinnerten selbstreflexiv in Frage und tragen zu einer gesteigerten Erinnerungshaftigkeit des Erzählten bei. Zweitens fuhrt die Verlagerung des Akzents auf die Ebene des Erinnerungsabrufs dazu, dass das Vergangene in autobiographischen Erinnerungsromanen tendenziell dominant extern fokalisiert wird: Nicht qua authentizitätsuggerierende field memories, sondern durch gegenwartsgebundene observer memories wird die individuelle Vergangenheit erschlossen. Die hieraus resultierende Abhängigkeit des zurückliegenden Geschehens von gegenwärtigen Perspektivierungen und Sinnbedürfnissen der Erzählinstanz zeigt an, in welchem Maße die inszenierten Erinnerungen von präsentischen Bedingungen überformt sind. Das konstitutive, auch temporale Spannungsverhältnis zwischen erzählendem und erlebendem Ich wird im autobiographischen Erinnerungsroman dazu genutzt, die Schwierigkeiten der .Synthesis des Heterogenen', oftmals auch das Scheitern der angestrebten Kontinuitätsstiftung vor Augen zu führen. Autobiographische Erinnerungsromane konstituieren sich aus mindestens zwei deutlich konturierten Zeit- und Erzählebenen: Auf der diegetischen Ebene der Handlung kommen versatzstückartig relevante Erfahrungen, Denk- und Empfindungsmuster zur Darstellung, auf denen das gegenwärtige Selbstverständnis des erzählenden Ichs basiert. Die zumeist nur lose assoziierten Erinnerungsfragmente werden immer wieder durch die Schilderung der gegenwärtigen Situation des Erinnerungsabrufs, durch die Offenlegung der Sinnstiftungsprozesse sowie durch zahlreiche explizite Reflexionen des homodiegetischen Erzählers durchbrochen. Die Ereignischronologie wird im autobiographischen Erinnerungsroman zugunsten eines heterogenen Nebeneinanders von temporal disparaten Erinnerungs- und Reflexionselementen aufgelöst. Das vergangene Geschehen erscheint tendenziell fragmentiert und inkohärent. Die temporale Diskontinuität und narrative Inkohärenz lassen die literarisch inszenierte Lebensgeschichte als „work in progress" (Löschnigg 1999, S. 196) erscheinen, als einen nie abreißenden Prozess des Interpretierens und Reinterpretierens vergangener, identitätsrelevanter Begebenheiten. Im Gegensatz zum autobiographischen Gedächtnisroman zeichnet sich der Handlungsverlauf des autobiographischen Erinnerungsromans durch seine nicht-teleologische, offene Plotstruktur aus. Die Spezifik dieser Genreausprägung „liegt in der Unabgeschlossenheit der Krisensituation, aus der erzählt wird, der Rückblick erfolgt nicht aus einer gesicherten Endwarte. Das Subjekt und dessen zeitliche Dimensionen, dessen frühere Ich-Positionen, bleiben umkämpft, zweifelhaft." (Härtung 2001, S. 191) Die für autobiographische Erinnerungsromane typische anachronische Zeitstruktur bringt mithin nicht nur die diskontinuierliche, oftmals sprunghafte Funktionsweise von Erinnerungen zur Anschauung und akzentuiert die Inkommensurabilität zwischen einer linearen Ereignischronologie und der subjektiv erlebten bzw. erinnerten Zeit. Sie verweist ebenso auf die Schwierigkeit, disparate Elemente der Vergangenheit und Gegenwart zu einem psychologisch intelligiblen, übergeordneten Ganzen zu synthetisieren. Im autobiographischen Erinnerungsroman gelingt es der Erzählinstanz nur bedingt, ihre vergangenen Erfahrungen sinnhaft auf die Gegenwart zu beziehen. Im Gegensatz zum autobiographischen Gedächtnisroman
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Fiktionale Weisen der Erinnerungs- und Identitätsbildung
verbürgt die narrative Repräsentation von identitätsrelevanten Erfahrungen im Erinnerungsroman nicht die Stabilität einer ganzheitlichen Identität: Vergangenes und gegenwärtiges Ich verschmelzen nicht zu einer Figur, sondern bleiben einander fremd. Die Überführung vergangener Erlebnisse in einen mehr oder weniger kohärenten Zusammenhang erweist sich in dieser Gattungsausprägung angesichts der Mehrdeutigkeit und oftmals auch Widersprüchlichkeit der eigenen Erlebensund Denkweise als zunehmend problematisch. Die mangelnde Fähigkeit der Erzählinstanz, die Kontingenz von Ereignissen durch deren Einbettung in einen diachron strukturierten Verweisungszusammenhang zu reduzieren, findet in der für autobiographische Erinnerungsromane typischen regressiven Plotstruktur einen deutlichen Ausdruck. Teleologische und progressive Identitätskonzepte werden als Illusion entlarvt. Die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit führt nicht zu dem erhofften Verständnis für das Gewordensein der individuellen Identität. Vielmehr bleibt die Identität instabil und bis zu einem gewissen Grad unerschließbar. Amnestische Störungen und aktive Verdrängungsversuche avancieren im autobiographischen Erinnerungsroman zum zentralen Thema. Die Unfähigkeit, die eigene Vergangenheit zu rekapitulieren und ihr eine stabile und eindeutige Bedeutung zu verleihen, schlägt sich im autobiographischen Erinnerungsroman in der mehrfachen Thematisierung des gleichen Ereignisses sowie in der Konstruktion von möglichen, bloß imaginierten (Erinnerungs-)Welten nieder. Divergente, oftmals sogar widersprüchliche narrative Elaborationen der gleichen Erinnerungsspur verweisen auf die prinzipielle Kontextualität und Perspektivität retrospektiver Sinnstiftungen und verdeutlichen, dass narrative Wirklichkeitserschließungen niemals eine endgültige Erklärung für vergangene Handlungen und Motive liefern. Der Versuch, der eigenen Vergangenheit einen subjektiv plausiblen Sinn zuzusprechen, kann sich im autobiographischen Erinnerungsroman bis zur Konstruktion von rein virtuellen Vergangenheiten steigern. Die Auflösung der Vergangenheit in eine Pluralität von Vergangenheitsversionen unterstreicht den ephemeren Charakter von Erinnerungen und zeichnet diese als nicht verifizierbare Entitäten aus. Überdies verdeutlicht sie, dass auch fabulierte Sinnzusammenhänge einen wesentlichen Beitrag zur Identitätsstiftung leisten können: Weniger die Faktizität des Erinnerten als vielmehr dessen Anschließbarkeit an die Gegenwart steht bei der retrospektiven Sinnstiftung zur Disposition. Die für den autobiographischen Erinnerungsroman kennzeichnende Darstellung von possible worlds bzw. possible pasts geht - im Sinne eines „saturated s e l f (Gergen 1991) - mit einem Spektrum möglicher Identitäten einher, denn in dem Maße, in dem die Lebensgeschichte anders erzählt wird, verändert sich auch die Identität, die eine Person sich gibt. Daher steht im autobiographischen Erinnerungsroman die erste Person Singular zumeist für eine Vielzahl möglicher Identitäten, für ein „Neu-Entwerfen und Durchspielen möglicher (oder unmöglicher), versäumter oder erhoffter Lebensoptionen" (Brockmeier 1999, S. 24). Autobiographisches Erinnern wird als hochgradig kontextualisierte, das heißt von gegenwärtigen Bedingungen abhängige Praxis darge-
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stellt, die sich durch ihren offenen, provisorischen und unabschließbaren Charakter auszeichnet. Ein weiteres, für den autobiographischen Erinnerungsroman typisches Darstellungsmittel ist die strukturelle Multiperspektivität, die ebenso wie die Inszenierung von possible worlds dazu beitragen kann, die grundlegende Mehrdeutigkeit des Vergangenen sowie die Standortgebundenheit von Erinnerungen zu beleuchten. Strukturelle Multiperspektivität findet sich im autobiographischen Erinnerungsroman typischerweise in zwei unterschiedlichen Ausprägungen: Zum einen kann die erinnernde Instanz ihre persönlichen Erinnerungen durch Verfahren der Intermedialität in verschiedenen Gedächtnismedien präsentieren. Die intertextuell oder intermedial evozierten Vergangenheitsversionen perspektivieren die aktuelle, narrative Deutung und unterstreichen die Vorläufigkeit sowie Konstruktivität jedes einzelnen Sinnstiftungsversuchs. Zum anderen können Referenzen auf kulturell verfugbare Gedächtnismedien wie Notizen, Zeitungsausschnitte, Gerichtsprotokolle oder Tagebucheinträge als kontradiktorische Perspektiven eingeführt werden, die die Vergangenheitsversion des homodiegetischen Erzählers kritisch in Zweifel ziehen bzw. relativieren. Intermediale oder -textuelle Referenzen sowohl auf eigene, koexistierende Vergangenheitsdeutungen als auch auf kulturell zirkulierende Gedächtnismedien werden im autobiographischen Erinnerungsroman oft dazu funktionalisiert, die Kontextabhängigkeit und Subjektivität der inszenierten Wirklichkeitsaneignung herauszustellen. Aus der grundsätzlichen Standortgebundenheit eines in das vergangene Geschehen emotional involvierten Erzählers resultiert die Affinität des autobiographischen Erinnerungsromans zu Formen von unreliable narration. Aktives Verdrängen, Vergessen und Umdeuten sind im autobiographischen Erinnerungsroman konstitutive Elemente des Sinnstiftungsprozesses. Unreliable narration illustriert, in welchem Maße Erinnerungen von idiosynkratischen Interessen geprägt sind, und zieht die Möglichkeit einer detailgenauen Vergangenheitsrekonstruktion selbstreflexiv in Zweifel. Das Verfahren wirft grundlegende Fragen nach dem spezifischen Wahrheitsgehalt autobiographischen Erzählens auf und problematisiert den schmalen Grad, der zwischen der unreüabiäty of narration und der unreäabiäty of memoiy liegt. Es verdeutlicht, dass es beim Erinnern „nicht primär um das, was war [geht], sondern um das, was im autobiographischen Prozeß daraus gemacht wird" (Brockmeier 1999, S. 25). Die Vorstellung einer einzigen, wahren Lebensgeschichte wird in Frage gestellt. Der Einsatz von unzuverlässigen Erzählinstanzen führt vor Augen, dass Gedächtnisnarrative trotz oder bisweilen gerade wegen produktiver Sinnanreicherungen einen bedeutsamen Beitrag zur Idenütätssicherung leisten. Indem solche Instanzen demonstrieren, dass eine gewisse ,Unzuverlässigkeit' unverzichtbarer Bestandteil von Sinnstiftungen ist, problematisieren sie nicht zuletzt die Aussagekraft des Etiketts ,unreliable narratof. Verschärft wird die Problematik der Identitätskonstitution im autobiographischen Erinnerungsroman schließlich auch dadurch, dass sie sich vor dem Hintergrund soziokultureller Konstellationen vollzieht, die einen oftmals restriktiv wirkenden Definitionsraum abstecken. Das Hauptaugenmerk des autobiographischen
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Fiktionale Weisen der Erinnerungs- und Identitätsbildung
Erinnerungsromans liegt zwar auf der partikularen Erfahrungsrealität einer individualisierten Erzählinstanz; gleichwohl findet der sinnstiftende Akt vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Kollektivgedächtnisse statt. Individuelle Erinnerungen sind in dieser Gattungsausprägung mit der Geschichte und den symbolischen Ordnungen des Gemeinwesens verwoben. Die Verquickung von individueller und kollektiver Vergangenheit macht sichtbar, dass sich die individuelle Identitätskonstitution nicht im vorpolitischen oder ahistorischen Raum vollzieht, sondern an kulturell vorherrschende Diskurs formationen und Wertehierarchien geknüpft ist. D e r autobiographische Erinnerungsroman zeigt, dass die Frage, welche Identität sich eine Figur verleihen kann, auch von kulturell verfügbaren Deutungsmustern und normativen Kollektiworstellungen abhängt. Diese präexistenten Sinnstiftungsformate können vor allem für diejenigen ein destabilisierendes Potential entfalten, die Angehörige einer kulturellen Minderheit sind. Die Kontextualität und soziokulturelle Situiertheit des Individuums akzentuiert der autobiographische Erinnerungsroman auch durch die besondere Bedeutung, die signifikanten Anderen für den Aufbau der persönlichen Identität zukommt. Nicht nur erzählen die sich erinnernden Instanzen im autobiographischen Erinnerungsroman streckenweise auch die Geschichte anderer Figuren - ein Tribut an die relationale Konstitution individueller Identität (vgl. Eakin 1999). 2 1 2 Vielmehr zeichnet sich ihre Erinnerungserzählung oftmals durch einen ausgeprägten Adressatenbezug aus. Die Adressatenorientierung akzentuiert die inhärente Dialogizität der Identität und indiziert, dass Selbstnarrationen auch auf intersubjektive Validierung signifikanter Bezugspersonen angewiesen sind. Implikate dieser adressatenorientierten Kommunikation sind wiederum die grundlegende Konstruktivität der narrativ elaborierten Erinnerungen: So können je nach Adressat ganz verschiedene Geschichten des eigenen Lebens ersonnen werden. Ebenso wie der autobiographische Gedächtnisroman zeichnet sich schließlich auch der autobiographische Erinnerungsroman durch seine ausgeprägte Semantisierung des Raums aus. Die literarische Raumgestaltung wird in dieser Genreausprägung dazu genutzt, das .Außen' des Erinnerns zu inszenieren. Der für den Erinnerungsroman typische Raum fungiert als Erinnerungsanlass und wird so zum Projektionsraum des Vergangenheitsbewusstseins der Figuren: Ihre Erinnerungen und Assoziationen laden den Raum mnemonisch auf und transformieren ihn in einen erlebten bzw. subjektiv ,gestimmten' Raum. Auch die Gebundenheit der Erinnerungen an den Raum bringt in dieser Erscheinungsform die grundlegende Kontextabhängigkeit und Variabilität der präsentierten Vergangenheitsversion zum Ausdruck: Entsprechend des externen, räumlichen cue variiert auch der mnemonische Elaborationsprozess.
2 1 2 Vgl. dazu Eakin (1999, S. 60), der diese Relationalität auf den Punkt bringt: „Narrative structure in these cases is telling us something fundamental about the relational structure o f the autobiographer's identity, about its roots and involvement in another life and story."
223
Gattungstypologie der Fictions of Memory
Mit Blick auf die Selektionsstruktur lassen sich für den autobiographischen Erinnerungsroman folgende Spezifika konstatieren: Ebenso wie die Selektionsstruktur des autobiographischen Gedächtnisromans zeichnet sich auch die des Erinnerungsromans
durch ein breites Spektrum
fiktionaler Elemente
aus, die die
partikulare Erfahrungsrealität einer Erzählinstanz evozieren. Angesichts der inszenierten Interdependenz von individueller und kollektiver Gedächtnisbildung umfasst die Selektionsstruktur darüber hinaus zahlreiche Realitätsreferenzen auf Inhalte
und
Formen
verschiedener,
in
der
kanadischen
Kultur
koexistierender
Kollektivgedächtnisse. D a die Aktualisierung der Realitätselemente an die Sinnstiftungskompetenz des erinnernden Ichs gebunden ist, sind diese zumeist deutlich perspektivisch gebrochen und in einem hohen Maße fiktionalisiert. Schließlich ist die paradigmatische Ebene der Selektion im autobiographischen Erinnerungsroman durch eine Vielzahl metamnemonischer Elemente charakterisiert, die die Funktionsweise von Erinnerungen problematisieren und deren konstruktive Qualität offenbaren. Diese spezialdiskursiven Elemente verleihen dem autobiographischen Roman seine konstitutive reflexive Dimension. Sein kulturökologisches Funktionspotential bezieht der autobiographische Erinnerungsroman vor allem aus der Offenlegung der Prozesse der narrativen Sinnstiftung sowie aus der Vermittlung von innovativen Identitätskonzepten. D e r autobiographische
Erinnerungsroman
reflektiert
die
Bedingungen
der
Vergangenheitsaneignung, lotet die Grenzen und Schwierigkeiten der individuellen Identitätskonstitution aus und kann damit für die Erinnerungskultur als reflexiver Metadiskurs fungieren. Durch seine Tendenz zur prozesshaften Pluralisierung sowie zur prononcierten Subjektivierung des Vergangenen stellt er die Offenheit der individuellen Sinnstiftungsversuche dar und unterstreicht die Bedeutung, die auch konstruktiv verzerrte, fabulierte oder imaginierte Elemente für die Identitätskonstitution haben. Autobiographische Erinnerungsromane problematisieren die konservative Epistemologie, die der Identitätsbildung im autobiographischen Gedächtnisroman zugrunde liegt, und ziehen die Vorstellung einer einzigen, authentischen Lebensgeschichte und eines darauf aufbauenden einheitlichen Selbst in Zweifel. Im autobiographischen Erinnerungsroman erweist sich Identität als ein prinzipiell unabschließbarer Prozess der Vergangenheitsaneignung und -deutung. Durch die Betonung der prozessualen Aspekte kann diese Gattungsform zu einer Akzeptanz von Polyvalenz und identitärer Offenheit beitragen und so als zentrales Medium der kulturellen Selbsterneuerung Wirksamkeit entfalten. Indem der autobiographische Erinnerungsroman von einer inhärenten Dialogizität der individuellen Lebensgeschichte ausgeht und persönliche Erfahrungen in einen Bezug zu kulturell vorherrschenden Diskursformationen und Machverhältnissen stellt, akzentuiert er, dass die Erzeugung einer gelungenen, identitätsstiftenden Narration keineswegs nur von individuellen Sinnstiftungskompetenzen abhängt. Der autobiographische Erinnerungsroman bietet damit nicht zuletzt Anlass, die Konstitutionsbedingungen und Gestaltungsspielräume zu reflektieren, die dem Einzelnen bei der Konstruktion von narrativen Identitäten zur Verfügung stehen.
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Fiktionale Weisen der Erinnerungs- und Identitätsbildung
3.3 Der kommunale Gedächtnisroman Im kommunalen Gedächtnisroman verschiebt sich der Akzent von der individuellen Gedächtnisbildung hin zur Konstruktion und Stabilisierung eines kollektiven, gruppenspezifischen Gedächtnisses und einer darauf aufbauenden Kollektividentität. Romane, die dieser Gattungsausprägung zuzuordnen sind, inszenieren den Versuch einer bestimmten sozialen Gruppe, durch eine organisierte Struktur von geteilten Vergangenheitsreferenzen in Geschichten, Riten oder Ritualen ein überindividuelles Gedächtnis zu konstituieren und sich auf diese Weise ihrer kollektiven Identität zu vergewissern. Häufig handelt es sich bei der Erinnerungsgemeinschaft um eine kulturelle Minorität, die ihre heimischen Gedächtnisräume verlassen hat und in der neuen Heimat Kanada zum ,mnemonischen Anderen', zur Gedächtnisminderheit wurde. Das gruppenspezifische Repertoire an Erfahrungen, Identitätskonzepten und Werten wird im kommunalen Gedächtnisroman typischerweise von einer communal voice vermittelt, die als Sprachrohr einer bestimmten Erinnerungsgemeinschaft sowie ihrer Erfahrungen, Wertehierarchien und Identitätsvorstellungen auftritt. Die Erinnerungen der communal voice bieten einen paradigmatischen ^Ausblickspunkt' (Halbwachs) auf das übergeordnete Gedächtnis der Gruppe. Da der gruppenspezifische Gedächtnisbestand in der Regel gesellschaftlich unterrepräsentierte Erfahrungen umfasst, verbindet sich mit seiner Artikulation die Forderung nach gesellschaftlicher Anerkennung. Als eine von der Gruppe autorisierte Erzählinstanz eignet sich die communal voice in ausgezeichneter Weise dazu, den gruppenspezifischen Erfahrungen im gesellschaftlichen Ringen um Deutungshoheit Gehör zu verleihen.213 Im Gegensatz zu den autobiographischen Ausprägungen der fictions of memoiy geht es im kommunalen Gedächtnisroman also nicht um die Spezifität der individuellen Erfahrung, sondern um die Konstitution und Repräsentation der geteilten Kollektiwergangenheit. Nicht Individualität, sondern Kollektivität und Kommunalität des Erinnerns stehen in diesem Genre im Zentrum. Die skizzierten Ausführungen implizieren bereits, dass der Selektionsstruktur für die Bestimmung der Besonderheiten des kommunalen Gedächtnisromans eine vergleichsweise zentrale Bedeutung zukommt. Die Selektionsstruktur von kommunalen Gedächtnisromanen zeichnet sich durch ein breites Spektrum extraliterarischer bzw. heteroreferentieller Bezüge aus. Sie konstituiert sich vor allem aus vormals marginalisierten, tabuisierten oder gesellschaftlich verdrängten Elementen der
213 Vgl. hierzu Lansers (1992, S. 21) Bestimmung der communal mice·. ,,[T]he communal mode seems to be primarily a phenomenon of marginal or suppressed communities; I have not observed it in fiction by white ruling-class men". Vgl. zum Zusammenhang der Kategorie .Stimme' und Repräsentation außerdem Chakraborty (2003, S. 128), die betont: „This self-representation takes the form, often, of what Toni Morrison calls .literary archaeology' [...], whereby absent or lost narratives are (re)constructed from memory as a way of giving a legitimate and necessary voice to the present of cultures".
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Gattungstypologie der Fictions of Memory
Erinnerungskultur, also aus solchen Erfahrungen, Identitätskonstrukten und Normen, die den gesellschaftlich partikularen Kollektivgedächtnissen
zuzurechnen
sind. D e r kommunale Gedächtnisroman nutzt fiktionale Privilegien der Selektion dazu, gesellschaftlich vergessene oder verdrängte Erinnerungen an die Oberfläche zu bringen und sie mit subversiver Gegenmacht auszustatten. 214 D i e literarische Aktualisierung v o n bislang marginalisierten Erfahrungen ist zumeist auf die Bildung eines Gegengedächtnisses angelegt, das gesellschaftlich dominante Vergangenheitsdeutungen kritisch perspektiviert und die etablierte Grenze zwischen Erinnern und Vergessen in Frage
stellt. D i e
für jedes literarische
ebenso
wie
extraliterarische Gedächtnisnarrativ konstitutive Selektivität erfährt im kommunalen Gedächtnisroman also insofern eine Steigerung, als in dieser Gattungsausprägung ausschließlich die Erinnerungsreferenzen, Identitätskonzepte und Werte einer spezifischen Gemeinschaft Berücksichtung finden. Die Selektion, Konfiguration und Interpretation des Erinnerten unterliegen in markanter Weise den Sinnbedürfnissen und Handlungsanforderungen der communal voice. Die inszenierten Erinnerungen zeichnen sich daher in der Regel durch eine ausgeprägte Deutungshomogenität aus. D i e für kommunale Gedächtnisromane konstitutive communal voice kann zwei unterschiedliche Ausprägungen annehmen. Mit auffalliger Häufigkeit tritt sie als homodiegetische Erzählinstanz auf, die ihre Erfahrungen als exemplarischen Ausblickspunkt auf das Kollektivgedächtnis der Gruppe inszeniert und in struktureller Hinsicht einem Wir-Erzähler ähnelt. 215 D i e communal voice kann aber auch in heterodiegetischen Erzählungen zum Einsatz kommen. In dieser — wenngleich seltener realisierten - Erscheinungsform nimmt sie die Gestalt einer Fokalisierungsinstanz
214 Die Besonderheiten der Selektionsstruktur und das damit einhergehende revisionistische bzw. subversive Funktionspotential teilt der kommunale Gedächtnisroman mit dem so genannten revisionistischen historischen Roman (vgl. zu den Besonderheiten dieses Genres Nünning [1995], S. 268-276). Auch im revisionistischen historischen Roman stehen die Vergangenheitserfahrungen einer gesellschaftlich marginalisierten Gruppe im Zentrum. Während allerdings der revisionistische historische Roman die Selektionskriterien des etablierten historiographischen Diskurses kritisch hinterfragt und durch die Fokussierung ehemals vergessener oder verdrängter Erfahrungen auf eine Neustrukturierung des historiographischen Diskurses abzielt, geht es dem kommunalen Gedächtnisroman um eine kritische Modifikation des gesellschaftlich dominanten Kollektivgedächtnisses, d.h. um ein Aufbrechen der etablierten Grenzen zwischen kollektivem Erinnern und Vergessen. Der kommunale Gedächtnisroman ist nicht auf einen wissenschaftlichen Diskurs, sondern auf alltagsweltliche Kontexte bezogen. Er hinterfragt nicht der ontologischen Status von Vergangenem, sondern die Mechanismen und Prinzipien, die dazu beigetragen haben, partikulare und subalterne Vergangenheitsdeutungen vom Kollektivgedächtnis auszuschließen. Ein weiterer Unterschied zwischen dem kommunalen Gedächtnisroman und dem revisionistischen historischen Roman besteht schließlich in der mode of emplotmenl. Wie Nünning (1995, S. 271) zu Recht darlegt, greifen etliche revisionistische historische Romane auf dominant satirische oder ironische Darstellungsweisen zurück. Im kommunalen Gedächtnisroman spielen solche ironisierenden Verfahren eine untergeordnete Rolle: Sie stehen dem Ziel dieser Erscheinungsform entgegen, die Anerkennung von marginalisierten Vergangenheitsversionen gesellschaftlich einzufordern. 215 Zu so genannten ve-narraliits vgl. Margolin (2001).
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Fiktionale Weisen der Erinnerungs- und Identitätsbildung
an, die als Vermittler Einblick in die gruppenkonstitutive Vergangenheit und die Erfahrungsrealität der Gruppe gewährt. Eine derartige Innenweltdarstellung bringt die geteilten Erfahrungen, Wertungen und gemeinschaftlichen Sinndeutungen einzelner Angehöriger eines Erinnerungskollektivs zur Anschauung und macht einander ergänzende und stützende Perspektiven auf das übergeordnete Gruppengedächtnis beobachtbar. Die Kommunalität der gemeinsamen Vergangenheit wird in diesem Fall durch kollektive Fokalisierung inszeniert, durch die Darstellung von gruppenspezifischen field memories also.216 Die erinnernden Figuren stellen nicht die Summe von isolierten Einzelnen dar, sondern bilden ein Netzwerk von Wechselwirkungen. Das Gewebe von Beziehungen widersetzt sich den aggressiven Grenzziehungen, von denen kommunale Gedächtnisromane handeln (vgl. Zapf 2002, S. 179). Erst aus dem Dialog der Einzelerinnerungen entsteht ein übergeordnetes Bild der gruppenkonstitutiven Vergangenheit. Ebenso wie der autobiographische Gedächtnisroman zeichnet sich auch der kommunale Gedächtnisroman durch seinen dominanten Vergangenheitsbezug aus. Im kommunalen Gedächtnisroman werden auf der Figurenebene die vergangenen, oftmals schmerzhaften Erfahrungen, die sich für das aktuelle Selbstverständnis der Gruppe als konstitutiv erweisen, in Form von reaktualisierten Gedächtnisbeständen szenisch dargestellt. Die gruppenspezifische Vergangenheit wird im Gedächtnisroman zumeist als kohärenter und geschlossener Ereigniszusammenhang repräsentiert. Die für den kommunalen Gedächtnisroman typische interne Fokalisierung des Vergangenen bzw. die Inszenierung von field memories evoziert die anhaltende emotionale Virulenz der Vergangenheit in der Gegenwart und suggeriert die Authentizität des Erinnerten. Neben den gruppenkonstitutiven Erfahrungen wird auf der Handlungsebene ein breites Spektrum gedächtnis- und gemeinschaftsstiftender Praktiken inszeniert. Der kommunale Gedächtnisroman bringt die erinnerungskulturellen Prozesse der Aktualisierung und Aneignung des Vergangenen in potenzierter Form zur Darstellung: Dialoge der Figuren über die geteilte Vergangenheit oder die Darstellung von Gedenkfeiern, Riten und Ritualen bieten Einblick in die Vergangenheitsdeutungen, Identitätskonzepte und Wertehierarchien der Erinnerungsgemeinschaft. Rituelle Wiederholungen von bedeutsamen Gedächtnisinhalten gehören im kommunalen Gedächtnisroman zu den zentralen Strategien, um die gruppenspezifische Vergangenheit .überlebensgroß' (J. Assmann) präsent zu halten und die Kontinuität der Vergangenheit sicherzustellen. An die Stelle der üblichen Ereignischronologie rücken im kommunalen Gedächtnisroman daher typischerweise rituelle Ereignisse wie Hochzeiten, Beerdigungen, Feier- bzw. Gedenktage, so genannte „Zeitinseln" (J. Assmann 1988, S. 12) des Gruppengedächtnisses also. Der kommunale Gedächtnisroman nutzt die Rhetorik der Erinnerungen und Identitäten mithin nicht nur dazu, die gruppenkonstitutive Vergangenheit zu vergegen-
216 Vgl. zu dieser Ausprägung der communal voice die Analyse von Jane Urcjuharts Roman Aivay in Kapitel IV.3.2 dieser Studie.
Gattungstypologie der
Fictions of Mtmory
227
wärtigen. Er setzt sie vielmehr auch dazu ein, die Mechanismen beobachtbar zu machen, durch die kollektive Erinnerungen verfügbar gehalten und als Teil der Kollektividentität ausgezeichnet werden. Die gemeinschaftsstiftenden Prozesse der Aneignung und Aktualisierung des Vergangenen setzen sich im kommunalen Gedächtnisroman bis in die — auf der Ebene der erzählerischen Vermitdung dargestellte - Gegenwart fort. Die Erzählung der communal voice stellt einen Akt des ,re-membering' dar, durch den die Gruppenzugehörigkeit bezeugt, der Fortbestand des gruppenspezifischen Kollektivgedächtnisses sichergestellt und somit die Kohäsion der Gruppe gestärkt wird. Dieser Akt leistet einen zentralen Beitrag zum Prozess der Vergegenwärtigung ehemals marginalisierter Erfahrungen. Durch die geteilte Praxis des Erinnerns vergewissern sich Einzelne ihrer Identität als Teil der Gemeinschaft. Das fur fictions of memory konstitutive Spannungsverhältnis zwischen dem Damals und dem Heute wird im kommunalen Gedächtnisroman in erster Linie dazu genutzt, den Eindruck einer in die Gegenwart fortwirkenden Vergangenheit zu evozieren und auf diese Weise der anhaltenden Verbindlichkeit der Kollektiwergangenheit Ausdruck zu verleihen. Der inszenierte Gedächtnisakt zielt darauf ab, dem gesellschaftlichen Vergessen entgegenzuwirken und das bislang Unverfügbare für die Erinnerungskultur verfügbar zu machen. Das Perspektivenangebot und die damit eng verbundene Struktur des gruppenspezifischen Plotmusters bieten weitere wichtige Anhaltspunkte, um die Besonderheiten des kommunalen Gedächtnisromans zu präzisieren. Dass in dieser Gattungsausprägung die Konstruktion eines identitätsstiftenden und legitimatorischen Gruppengedächtnisses im Vordergrund steht, hat erstens eine kulturelle Homogenität des literarisch inszenierten Perspektivenangebots zur Folge. Kulturell fremde Sichtweisen, die der gruppenspezifischen Vergangenheitsauslegung widersprechen könnten, finden zumeist keinen oder nur verkürzten Eingang in das Textrepertoire des kommunalen Gedächtnisromans. Wir haben es in solchen Romanen in der Regel mit dem relativ geschlossenen Gedächtnis einer Familie, einer ethnischen Gruppe, einer Religionsgemeinschaft oder einer bestimmten Klasse zu tun. Zweitens ist die innere Struktur des gruppenspezifischen Plots tendenziell konsensorientiert, unifizierend und integrativ, nicht konflikthaft angelegt. Das Plotmuster bzw. der Handlungsverlauf des kommunalen Gedächtnisromans zeichnet sich durch die gemeinschaftsstiftende Tradierung von Vergangenem und das strategische Beschwören der geteilten Erfahrung aus. Verhandlungen über .richtiges' oder .falsches' Erinnern spielen eine untergeordnete Rolle oder können zumindest so bewältigt werden, dass die Stabilität des Gruppengedächtnisses nicht beeinträchtigt ist. Ein Gedächtnis, das nach innen Gemeinschaft stiftet, kann Gefahr laufen, nach außen Fremdheit zu induzieren: „Gesteigerte Einheit nach innen verstärkt zweifellos die Grenze nach außen." (J. Assmann 2000, S. 152) Angesichts der inneren Geschlossenheit und einer damit verbundenen Unifizierung der Vergangenheit wirft der für kommunale Gedächtnisromane kennzeichnende gruppenspezifische Plot Fragen nach der kulturellen Alterität auf, nach den Gruppen also,
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Fiktionale Weisen der Erinnerungs- und Identitätsbildung
die aus den präsentierten Vergangenheitsdeutungen ausgeschlossen werden und gegen die es sich im Kampf um Anerkennung zu behaupten gilt. Kennzeichnend für den kommunalen Gedächtnisroman sind des Weiteren all jene Strategien, die einen Beitrag zur Aktualisierung und Authentisierung der gruppenspezifischen Vergangenheitsversion leisten können. Dazu gehört zum einen die Integration fremdsprachlicher, auf die heimischen Gedächtnisräume verweisender Begriffe. Fremdsprachliche Termini in der Rede der Erzählinstanzen oder der Figuren akzentuieren die kulturspezifischen Besonderheiten des eigenen Gedächtnisses und können hiermit einen substantiellen Beitrag zur Rekonstitution einer durch die Erfahrung der Immigration beschädigten Kollektividentität leisten. Zum anderen funktionalisiert der kommunale Gedächtnisroman ein breites Spektrum intertextueller Referenzen auf gruppenspezifische Gedächtnismedien (wie Briefe, Dokumente oder Zeitungsausschnitte) dazu, die vergangenen Erfahrungen des Erinnerungskollektivs in kondensierter Form zu revitalisieren. Die intertextuellen bzw. intermedialen Bezüge spielen das identitätskonstitutive Erbe der Gemeinschaft ein und evozieren die mediale Präsenz des Vergangenen in der Gegenwart. Ebenso wie das Perspektivenangebot zeichnen sich auch die Referenzen auf gesellschaftlich verfügbare Gedächtnismedien üblicherweise durch ihre Deutungshomogenität aus. Im Gegensatz zum soziobiographischen Erinnerungsroman reflektieren sie nicht die agonale Pluralität von Erinnerungen, sondern authentisieren die dargestellte Gedächtnisversion tendenziell eindimensional. Referenzen auf kulturell verfugbare Gedächtnismedien veranschaulichen im kommunalen Gedächtnisroman außerdem die Funktionsweise der materialen Dimension der Kultur und machen den engen Zusammenhang von medialer Repräsentation und gesellschaftlicher Anerkennung begreifbar. Die im kommunalen Gedächtnisroman inszenierte Forderung „nach Repräsentation und Vertretensein, nach einem legitimen Platz im öffentlichen (Erinnerungs-) Raum" (Saar 2002, S. 275) deutet auf ein weiteres, konstitutives Merkmal dieser Genreausprägung hin, nämlich die Semantisierung von Räumen und Objekten, in denen sich das Gedächtnis der Gemeinschaft konkretisiert. Der kommunale Gedächtnisroman veranschaulicht die topographische Dimension von Kollektivgedächtnissen, indem er den repräsentierten Raum als symbolischen Ausdruckträger des gruppenspezifischen Gedächtnisses funktionalisiert. Die spezifischen Erfahrungen von Gedächtnisminderheiten — die sich in einer Art „Diasporasituation der Erinnerung" (Saar 2002, S. 272) manifestieren - werden im kommunalen Gedächtnisroman häufig durch die Kontrastierung semantisierter Gedächtnisräume wie Heimat/Exil oder Zentrum/Peripherie vermittelt. Die literarische Darstellung eines Gegengedächtnisses geht nicht zuletzt mit dem Versuch einher, einen vorerst rein privaten, marginalisierten Gedächtnisraum in einen öffentlichen zu transformieren und auf diese Weise bestehende Grenzen zwischen Zentrum und Rändern der Erinnerungskultur imaginativ neu zu strukturieren (vgl. Chakraborty 2003, S. 128).
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Auch im kommunalen Gedächtnisroman dient die Rhetorik der Erinnerungen und Identitäten nicht nur der Vergegenwärtigung von vergangenen Erfahrungen. Vielmehr wird sie typischerweise auch dazu genutzt, die Bedingungen der Repräsentation der gruppenspezifischen Vergangenheit im öffentlichen
Erinnerungs-
raum zu reflektieren. Solche expliziten Reflexionen können das ganze Spektrum des Verhältnisses von Kollektivgedächtnis, Identität und gesellschaftlicher Anerkennung umfassen und hiermit Fragen aufwerfen wie: Welche Vergangenheitsversionen setzen sich im K a m p f um historische Definitionsmacht durch? W e r fordert von wem das Erinnern einer spezifischen Vergangenheitsversion? Und wer reklamiert mit welchem Recht seine Repräsentation im öffentlichen Erinnerungsraum? In expliziten Leseranreden kann die communal voice das Nichtvergessen und Nichtverdrängen der partikularen Vergangenheit einfordern und an fiktive Leser appellieren, Mitverantwortung für die Kontinuierung der gruppenkonstitutiven Erfahrungen zu tragen. Aus den genannten Besonderheiten der E b e n e der Selektion und der Konfiguration lassen sich für das kulturökologische Funktionspotential des kommunalen Gedächtnisromans prägnante Hypothesen ableiten. Das besondere Leistungspotential, das der kommunale Gedächtnisroman für die Erinnerungskultur erfüllen kann, besteht in der Inszenierung von vorgängig marginalisierten Erfahrungen und Identitätskonzepten, die sich den Homogenisierungstendenzen des gesellschaftlich hegemonialen Gedächtnisses entziehen. Die literarische Artikulation von partikularen Vergangenheiten lenkt das Augenmerk auf die Bereiche der Erinnerungskultur, die im öffentlichen Gedächtnisraum gemeinhin unterrepräsentiert bleiben. Die Darstellung von alternativen Gedächtnisversionen bietet Anlass, das kulturell dominante Gedächtnis, seine Ausschlussmechanismen, seine blinden Flecke und die hiermit verbundene Grenze zwischen gesellschaftlichem Vergessen und Erinnern kritisch zu hinterfragen. D e r kommunale Gedächtnisroman rückt das Ausgegrenzte und Unterdrückte in den Mittelpunkt, womit er einen Prozess der symbolischen Vergegenwärtigung und Bewältigung jener vorgängig verdrängten
Erfahrungen
initiiert. Romane dieses Typus greifen aktiv in den gesellschaftlichen K a m p f um Erinnerungen und Identitäten ein: Sie statten bislang marginalisierte Gedächtnisversionen mit kollektiver Erinnerungsrelevanz aus und können damit in der Erinnerungskultur als .imaginativer Gegendiskurs' (Zapf) wirksam werden. Als ein Medium des kollektiven Gedächtnisses sind kommunale Gedächtnisromane aktiv an der Erzeugung, Tradierung und Modifikation der Erinnerungskultur beteiligt.
3.4 D e r soziobiographische Erinnerungsroman Soziobiographische Erinnerungsromane demonstrieren, dass geteilte Vergangenheit nicht nur Gemeinschaft stiftet, sondern auch zum Anlass veritabler Erinnerungskonflikte werden kann. Nicht die gemeinschaftsstiftende Tradierung, sondern die intersubjektive bzw. intergruppale Aushandlung von Vergangenem und damit
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Fiktionale Weisen der Erinnerungs- und Identitätsbildung
die Auflösung der Vergangenheit in inkompatible Erinnerungsversionen stehen im Mittelpunkt dieser Genreausprägung. Der so2iobiographische Erinnerungsroman stellt ein Spektrum von Erinnerungs- und Identitätskonstruktionen unterschiedlicher Figuren dar und illustriert die Pluralisierung der Vergangenheitsdeutungen. E r nutzt Privilegien der Selektion dazu, kulturell getrennte Erinnerungsräume zusammenzubringen und deren Interrelationen in komplexer Weise neu zu bestimmen. Der soziobiographische Erinnerungsroman bietet Einblick in die Vielfalt gesellschaftlich kursierender Sinnstiftungsversuche, in geteilte, aber auch divergierende Erfahrungs- und Denkweisen. Durch dieses Geflecht von sich ergänzenden, sich widersprechenden und einander relativierenden Erinnerungsperspektiven inszeniert diese Genreausprägung die wohl signifikantesten Merkmale von Erinnerungen, also ihre Subjekt- bzw. Gruppengebundenheit. Damit lenkt der soziobiographische Erinnerungsroman den Blick zugleich auf die sozialen Funktionen von Erinnerungen: Erinnerungen können Gemeinschaft stiften, sie können diese aber auch destabilisieren und brüchig werden lassen. Der soziobiographische Erinnerungsroman löst die Vergangenheit in eine Pluralität verschiedener Deutungsversuche auf, die um Erinnerungs- und Interpretationshoheit in der jeweiligen Gegenwart konkurrieren. Nicht nur die Inkompatibilität und die Brüche innerhalb einer symbolisch gedeuteten Vergangenheit, sondern auch die Verwerfungen der aus dieser Vergangenheit resultierenden Gegenwarts- und Identitätsverständnisse werden folglich zum zentralen Gegenstand des soziobiographischen Erinnerungsromans. Die multiplen Vergangenheitsversionen werden im soziobiographischen Erinnerungsroman über multiperspektivische Verfahren präsentiert, die auf zwei verschiedene Weisen realisiert werden können. Zum einen kann eine heterodiegetische Erzählinstanz Einblick in die Bewusstseins- und Erinnerungsvorgänge unterschiedlicher Figuren gewähren und so individuelle bzw. gruppenspezifische Voraussetzungen, subjektive Sinnbedürfnisse und persönliche Muster der jeweiligen Vergangenheitsdeutung sichtbar machen. Auf diese Weise treten Gemeinsamkeiten und Parallelen zwischen unterschiedlichen Erinnerungsversionen, noch deutlicher aber Differenzen und Abweichungen in den Vordergrund. Zum anderen können vergangene Ereignisse im soziobiographischen Erinnerungsroman aus der Sicht zweier oder mehrerer homodiegetischer Erzähler rekapituliert werden. 217 In diesem Fall werden die aktuellen Bedingungen der Erinnerungsaktualisierung auf der extradiegetischen Ebene der Vermittlung von mindestens zwei rückschauenden, die Ver-
217 Lansers Kategorie der communal voice, die sie unter anderem im sequentiellen Wechsel verschiedener homodiegetischer Erzählinstanzen realisiert sieht, erfährt in diesem Zusammenhang also eine Modifikation: Bei zwei oder mehreren homodiegetischen Erzählinstanzen ist nur dann von einer communal mice zu sprechen, wenn deren Erinnerungsperspektiven sich einander wechselseitig stärken. Widersprechen sich die Perspektiven der homodiegetischen Erzählinstanzen hingegen — wie etwa in Anita Rau Badamis Roman Tamarind Woman - kann von einer communal mice, die als Repräsentant einer Gemeinschaft auftritt, nicht länger die Rede sein.
Gattungstypologie der Fictions of Memory
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gangenheit analysierenden und wertenden Ich-Erzählern dargestellt. Auf der diegetischen Ebene der Handlung werden die verschiedenen Erlebnisse und Wahrnehmungen der gemeinsamen Vergangenheit inszeniert und unterschiedliche Deutungsmöglichkeiten der zurückliegenden Erfahrungen beobachtbar gemacht. Sowohl im Falle des heterodiegetischen als auch des homodiegetischen Erzählens gilt, dass sich die präsentierten Erinnerungsperspektiven nicht in ein übergeordnetes, gemeinschaftliches und gemeinschaftsstiftendes Narrativ überfuhren lassen. Im Gegensatz zum kommunalen Gedächtnisroman stehen sich im soziobiographischen Erinnerungsroman die inszenierten Vergangenheitsversionen (in mehr oder weniger ausgeprägtem Maße) unvereinbar und einander wechselseitig perspektivierend gegenüber. Das Hauptaugenmerk wird in dieser Gattungsform auf subjektive oder gruppenspezifische Brechungen, auf die Konstruktivität und Relativität von mnemonischen Vergangenheitsdeutungen, aber auch auf das agonale - potentiell gemeinschaftszersetzende - Moment von Erinnerungen gelenkt. Im soziobiographischen Erinnerungsroman werden Erinnerungen mithin als zweckgebundene Bedeutungskonstrukte inszeniert, die ebenso viel Aufschluss über subjektive bzw. gruppengebundene Sinnbedürfnisse, Interessen und Wertevorstellungen liefern wie über die Vergangenheit selbst. Ebenso wie der kommunale Gedächtnisroman zeichnet sich auch der soziobiographische Erinnerungsroman durch seinen gruppenspezifischen Plot aus. In dieser Gattungsausprägung interagieren verschiedene Figuren miteinander, sie konstruieren ihre Erinnerungen und ihre Identitäten sowohl im Dialog mit als auch in Abgrenzung von signifikanten Anderen. Mit dem gruppenspezifischen Plotmuster wird auch im soziobiographischen Erinnerungsroman der Fokus auf die dialogische Prägung, auf die soziale oder kulturelle Uberformung von Erinnerungs- und Identitätskonstruktionen gelenkt. Im Gegensatz zum kommunalen Gedächtnisroman, in dem es um die Stiftung eines verbindenden Kollektivgedächtnisses geht, zeichnet sich der soziobiographische Erinnerungsroman in der Regel allerdings nicht durch einen konsensorientierten, sondern durch einen konfliktorientierten Plot aus. Erinnerungen an die gemeinsame Vergangenheit sind hier erstritten, sie können ab- und anerkannt werden. Die für individuelle ebenso wie für kollektive Identitätsbildung so zentrale Validierung von Wirklichkeitsdeutungen durch andere Figuren steht im soziobiographischen Erinnerungsroman auf dem Spiel. Gemeinschaften sind in dieser Gattungsausprägung stärker durch innere Verwerfungen und Differenzen als durch ihr vereinheitlichendes und konsonantes Potential charakterisiert. Eng verbunden mit dem konfliktorientierten Gruppenplot sind zwei weitere formale Besonderheiten des soziobiographischen Erinnerungsromans: Zum einen zeichnet er sich häufig durch eine sozial heterogene Perspektivenstruktur aus. Personen, die unterschiedlichen sozialen oder kulturellen Gruppen angehören, ringen im soziobiographischen Erinnerungsroman miteinander um die normativ .richtige' Vorstellung von der Kollektiwergangenheit und der überindividuellen Identität. Auf diese Weise offenbart der soziobiographische Erinnerungsroman zahlreiche Interrelationen zwischen gemeinhin kulturell getrennten Bereichen. Zum anderen — dies implizieren die bisherigen Ausfuhrungen bereits — ist diese
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Fiktionale Weisen der Erinnerungs- und Identitätsbildung
Gattungsausprägung durch eine offene Perspektivenstruktur charakterisiert. Die präsentierten Erinnerungen lassen sich nicht in einem übergeordneten Fluchtpunkt bündeln. Es herrscht, um mit Bachtin zu sprechen, eine ,echte' Erinnerungspolyphonie vor. Um die Frage nach der sozialen Reichweite der im soziobiographischen Erinnerungsroman inszenierten Vergangenheitsversionen zu spezifizieren, soll auf die getroffene Unterscheidung zwischen intergruppalen und intragruppalen Plotmustern zurückgegriffen werden. Damit lassen sich zwei Subtypen des soziobiographischen Erinnerungsromans differenzieren. Soziobiographische Erinnerungsromane, die sich durch ein intragruppales Plotmuster auszeichnen, inszenieren die intersubjektive Aushandlung von gruppenspezifischen Erfahrungen: Hier werden die Erinnerungen an gemeinsame Erlebnisse von Gruppen - etwa Familien oder Freunden — präsentiert, die in einem primär privaten Raum interagieren. Intragruppale Plotmuster inszenieren individuelle Deutungen der geteilten Vergangenheit und deren Implikationen für das Selbstverständnis des Einzelnen als Teil einer Gruppe. In soziobiographischen Erinnerungsromanen, die sich dieses Plotmusters bedienen, rücken folgende Fragen in den Vordergrund: Wie viele Erinnerungsdifferenzen und widerstreitende Inhalte ertragen Gruppen? Droht die Gruppe angesichts unterschiedlicher Vergangenheitsauslegungen zu zerbrechen oder können Differenzen mit dem gruppenspezifischen Selbstverständnis in Einklang gebracht und versöhnt werden? In soziobiographischen Erinnerungsromanen, die sich durch intergruppale Plotmuster auszeichnen, sind die Figuren primär Träger kollektiver Erinnerungen. Damit verbunden ist eine Akzentverschiebung vom privaten in den öffentlichen Erinnerungsraum. In dieser Gattungsausprägung werden die divergenten Erinnerungs- und Identitätskonstruktionen von Vertretern unterschiedlicher sozialer Gruppen präsentiert, die sich im öffentlichen Raum antagonistisch gegenüberstehen und um „die Geschichte des Gemeinwesens und um historische Definitionsmacht" (Saar 2002, S. 275) ringen. Hier geht es um Aushandlungen von kollektiver Identität und um Definitionen der Kollektiwergangenheit. Dieser Prozess ist in hohem Maße vielstimmig und plurimedial angelegt. Soziobiographische Erinnerungsromane, die solche gruppenexternen Erinnerungsaushandlungen inszenieren, machen sichtbar, dass innerhalb einer Kultur verschiedene Erinnerungsversionen um Deutungsanspruch bzw. -hoheit konkurrieren. Sie führen vor Augen, dass Kulturen „plurale Handlungsräume" (Niethammer 2000, S. 365) sind, in denen eine synchrone Vielfalt von Erinnerungen, Stimmen und kollektiven Identitäten ihren Anspruch auf Geltung einfordert. Durch die Kontrastierung disparater Erinnerungsversionen machen soziobiographische Erinnerungsromane den gruppengebundenen, perspektivischen Konstruktcharakter sowie die Ausschlusskriterien verschiedener Kollektivgedächtnisse beobachtbar. Soziobiographische Erinnerungsromane sind - wie auch autobiographische Erinnerungsromane — durch ihre Gegenwartsgebundenheit charakterisiert, sie sind prozess-, nicht produktorientiert. Sie fuhren vor Augen, nach Maßgabe welcher
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gegenwärtigen Sinnbedürfnisse und Wertehierarchien spezifische Erinnerungsversionen konstruiert und perpetuiert werden. Ebenso wie im autobiographischen Erinnerungsroman werden in dieser Gattungsvariante die ,meaning-granting processes' (Hutcheon) offen gelegt. Durch die Akzentuierung der Ebene der gegenwärtigen Erinnerungselaboration wird nicht nur die Polyvalenz von vergangenen Geschehnissen herausgestellt, die unterschiedlichste Interpretationen erfahren können. Vielmehr werden die erzeugten Vergangenheitsmodelle und die daraus hervorgehenden Identitätsmuster als präsentische Konstrukte ausgezeichnet: Erinnerungen tragen die Spuren und Kontexte ihrer Rekonstruktion und antworten auf gegenwärtige Bedingungen bzw. auf je spezifische Handlungsanforderungen. Die bereits durch das Verfahren der Multiperspektivität inszenierte Standortgebundenheit von Erinnerungen wird also durch die Gegenwartsbezogenheit zusätzlich akzentuiert. Mit der für soziobiographische Erinnerungsromane typischen Gegenwartsorientierung ist typischerweise eine anachronische Strukturierung des Geschehens verbunden. Das Oszillieren zwischen mindestens zwei Zeitebenen, die sich zwischen den Polen der Gegenwart und der Vergangenheit bewegen, hat eine Fragmentierung des narrativen Ereigniszusammenhangs sowie die Auflösung von temporaler Kontinuität zur Folge. Die Fragmentierung der Vergangenheit sowie die zeitlichen Diskontinuitäten verweisen auf die internen Brüche und Risse, die zeitgenössische Erinnerungskulturen charakterisieren. Darüber hinaus zeigen sie auch die Komplexität von retrospektiven Sinnstiftungen an, die Schwierigkeit also, vorerst Heterogenes zu synthetisieren und Kontingentes zu plausibilisieren. Die temporalen Brüche und die fehlende narrative Geschlossenheit indizieren, dass eine abschließende, für alle Mitglieder einer Gruppe gültige und damit Differenzen vereinheitlichende Narration nicht möglich ist. Der soziobiographische Erinnerungsroman zieht sich nicht auf eine verabsolutierte Gegenposition zurück, sondern entwirft holistische Deutungen der Vergangenheit, die die Möglichkeit der kulturellen Revitalisierung eröffnen. Die Gegenwartsgebundenheit des soziobiographischen Erinnerungsromans geht außerdem mit der Tendenz zur Selbstreflexivität und zur Metaisierung des Erinnerten einher. Im soziobiographischen Erinnerungsroman wird die Rhetorik der Erinnerungen und Identitäten in hohem Maße zur Problematisierung der Modalitäten des Erinnerungsakts genutzt. Auf der Ebene des Erinnerungsabrufs können Erzählinstanzen ebenso wie Figuren explizite Reflexionen über die Bedingungen des Erinnerungsakts anstellen, Probleme der narrativen Reaktualisierung thematisieren und Besonderheiten von Erinnerungen und Erinnerungsnarrationen herausstellen. Die Frage nach dem ,Wie' des Erinnerns gehört im soziobiographischen Erinnerungsroman zum Bestand des Erinnerten selbst. In soziobiographischen Erinnerungsromanen, in denen es um gruppenexterne Erinnerungsaushandlungen geht, zählen neben metamnemonischen und -narrativen Reflexionen auch explizite Thematisierungen der Besonderheiten von Kulturen zum typischen Textrepertoire. In den Blick geraten auf diese Weise die Differenzierung zeitgenössi-
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Fiktionale Weisen der Erinnerungs- und Identitätsbildung
scher Kulturen in plurale Gedächtnisgemeinschaften sowie die Bedingtheit und Historizität des kulturell erzeugten Sinns. Die für die soziobiographischen Erinnerungsromane konstitutive Multiperspektivität wird häufig durch ein breites Spektrum intertextueller und intermedialer Referenzen, also durch strukturelle Multiperspektivität verstärkt. Die dichte Streuung intertextueller und intermedialer Referenzen evoziert die Präsenz des Vergangenen in der Gegenwart und zeichnet individuelle ebenso wie kollektive Gedächtnisse als .Echokammern' (Barthes) bereits bestehender, kulturell semiotisierter Elemente aus. Vor allem in solchen soziobiographischen Erinnerungsromanen, in denen es um den Streit zwischen verschiedenen, kulturell koexistierenden Erinnerungsgemeinschaften geht, legen intertextuelle und intermediale Referenzen die Funktionsweise der materialen Dimension von Kulturen offen. Verfahren der Intertextualität liefern Einblick in das synchrone und diachrone Spektrum gesellschaftlich kursierender Gedächtnismedien. Soziobiographische Erinnerungsromane können prinzipiell auf alle in einer Kultur zirkulierenden und um Deutungsmacht konkurrierenden Medien zurückgreifen und sie in innovative Konstellationen überführen. Intermediale Referenzen unterstreichen die Konstruktivität jedweder Sinnstiftung und problematisieren Erinnerungskonkurrenzen als Streit um mediale Repräsentation. Sichtbar wird so, dass die Frage, welche Erinnerungen in einer Kultur überhaupt möglich sind, nicht zuletzt von der Verfügbarkeit massenwirksamer Medien abhängt. Im soziobiographischen Erinnerungsroman wird der Raum durch Semantisie rungsverfahren zum Träger der individuellen oder gruppenspezifischen Vergangenheit. In dem Maße, in dem es im soziobiographischen Erinnerungsroman um den Streit um Vergangenheiten geht, konkurrieren verschiedene Gruppen darum, den eigenen Erinnerungs- und Identitätsverständnissen zur Durchsetzungsfähigkeit zu verhelfen, sie also im öffentlichen Raum zu verorten. Der Raum, zumal der öffentliche, wird in soziobiographischen Erinnerungsromanen als ein Kampfplatz rivalisierender Erinnerungen dargestellt, den es mit den eigenen Vergangenheitsund Identitätsmodellen zu besetzen und zu vereinnahmen gilt. Die für den soziobiographischen Erinnerungsroman typischen kontrastiven Semantisierungen des Raums zeichnen diesen als einen pluralen Erinnerungsraum aus, in dem unterschiedliche Vergangenheitsversionen um Anerkennung streiten. Diese Semantisierungsstrategien illustrieren, wie unterschiedlich der gleiche Raum von verschiedenen Erinnerungsgemeinschaften gedeutet werden kann. Um die Spezifika der paradigmatischen Ebene der Selektion soziobiographischer Erinnerungsromane zu bestimmen, muss die getroffene Unterscheidung zwischen intragruppalen und intergruppalen Plotmustern im Blick behalten werden. Während sich soziobiographische Erinnerungsromane, die auf intragruppale Plotmuster zurückgreifen, durch zahlreiche fiktionale Elemente auszeichnen und nur wenige, zumal fiktionalisierte Referenzen auf die externe Erinnerungskultur integrieren, sind intergruppal orientierte Romane durch eine Vielzahl extraliterarischer bzw. heteroreferentieller Bezüge gekennzeichnet. Soziobiographische Erin-
Gattungstypologie der Fictions of Memory
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nerungsromane dieses zweiten Typs nutzen fiktionale Privilegien der Selektion dazu, um auf unterschiedliche, gesellschaftlich koexistierende Kollektivgedächtnisse zurückzugreifen und sie im Medium der Fiktion anklingen zu lassen. Sie führen eine Pluralität von ansonsten erinnerungskulturell getrennten Bereichen zusammen und lassen sie in ein Verhältnis der wechselseitigen Beeinflussung treten. Soziobiographische Erinnerungsromane transzendieren bei ihrem Selektionsprozess vertikale und horizontale Grenzen, die zwischen kulturell koexistenten Erinnerungsgemeinschaften bestehen und führen das Heterogene moderner Gesellschaften in holistisch-regenerativen Prozessen zusammen. Für die Selektionsstruktur von soziobiographischen Erinnerungsromanen beider Ausprägungen gilt außerdem, dass sie auf spezialdiskursive Einsichten zum Zusammenhang von Erinnern, Erzählen und Identität zurückgreifen und diese zur selbstreflexiven Problematisierung des Dargestellten einspielen. Ihre innovative Kraft in der Erinnerungskultur gewinnen soziobiographische Erinnerungsromane vor allem aus ihrer polyphonen und selbstreflexiven Erzählanlage. Durch die Offenlegung der Sinnstiftungsprozesse unterschiedlicher Figuren bietet diese Gattung Anlass, die Konstruktionsmechanismen, Perspektivierungsstrategien und Ausschlusskriterien der individuellen, aber vor allem auch der kollektiven Gedächtnisbildung zu reflektieren. Kollektivgedächtnisse werden in soziobiographischen Erinnerungsromanen nicht nur inszeniert, sondern auch beobachtbar gemacht. Durch die Reflexion der Voraussetzungen von Gedächtnisbildung werden Kollektivgedächtnisse als funktionale und interessengebundene Bedeutungskonstrukte ausgewiesen. In dieser ausgeprägten reflexiven Dimension liegt das kulturökologische Potential des soziobiographischen Erinnerungsromans als Medium der kulturellen Selbstreflexion begründet: Auch Kollektivgedächtnisse der extraliterarischen Erinnerungskultur werden als zweckgerichtete Konstruktionen einer bestimmten Gemeinschaft hinterfragbar. Darüber hinaus kommt soziobiographischen Erinnerungsromanen eine bedeutsame gesellschaftliche Reintegrationsfunktion zu (vgl. Zapf 2002, S. 65). Indem sie vorerst kulturell unverbundene Gedächtnisversionen und Erinnerungsdiskurse dialogisch zusammenführen, wägen sie deren Plausibiütät spielerisch ab und lassen sie in einen Dialog der wechselseitigen Perspektivierung treten. Der soziobiographische Erinnerungsroman inszeniert ein ungewöhnlich breites Spektrum anderweitig nicht artikulierter Erinnerungen und stiftet Interrelationen zwischen ansonsten kulturell getrennten Erinnerungsbereichen. Binäre Trennungen zeitgenössischer Erinnerungskulturen wie Zentrum/Peripherie werden dabei aufgegriffen und ständig überschritten. Soziobiographische Erinnerungsromane können damit in der Erinnerungskultur als .reintegrierender Interdiskurs' (Zapf) fungieren: Als literarische Akte des ,re-membering' ebnen sie einer integrativen Sichtweise des Vergangenen den Weg, einer Sichtweise also, die die Erinnerungsvielfalt nicht zerstört, sondern wahrt. Gerade durch die Verweigerung einer abschließenden Synthese eröffnet der soziobiographische Erinnerungsroman die Möglichkeit einer symbolischen Erneuerung der Erinnerungskultur. ***
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Fiktionale Weisen der Erinnerungs- und Identitätsbildung
Die typologische Differenzierung zwischen dem autobiographischen Gedächtnisund Erinnerungsroman, dem kommunalen Gedächtnisroman und dem soziobiographischen Erinnerungsroman stellt ein analytisches Modell zur Verfügung, das die Vielfalt narrativ-fiktionaler Repräsentationen von Erinnerung, Gedächtnis und Identität präzise beschreibbar macht. Die vorgeschlagene Typologie leistet damit einen wesentlichen Beitrag zur umfassenden Bestandsaufnahme des heterogenen Gegenstandsbereichs der fictions of memory. Die der Typologie zugrunde liegende erzähltheoretische Systematik gewährleistet die Vergleichbarkeit der einzelnen Typen und ermöglicht es, Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Gattungsausprägungen differenziert zu erfassen. Die gattungstypologische Differenzierung geht dabei nicht von klaren Grenzen, sondern von einem skalierenden Kontinuum unterschiedlicher Erscheinungsformen aus. Zwischen den einzelnen Gattungsformen können vielfältige Überschneidungen bestehen. Die Gattungstypologie verdeutlicht, dass sich unter dem Oberbegriff der fictions of memoiy ganz unterschiedliche Konzepte von Erinnerung, Identität und Narration verbergen, die durch sehr verschiedene formalästhetische Kategorien vermittelt werden und ganz unterschiedliche kulturökologische Funktionen erfüllen können. Erinnerungen stiften Identität, sie können die biographische Kontinuität allerdings auch erschüttern; Erinnerungen bilden die Grundlage von Gemeinschaft, sie können diese jedoch auch destabilisieren. Gleich welche Potentiale und Leistungen die einzelnen Gattungsausprägungen Erinnerungen zusprechen und welche Identitätsentwürfe sie erproben, allen gemeinsam ist, dass sie den unhintergehbaren Zusammenhang von Erinnern, Erzählen und Identität in ästhetisch verdichteter Form begreifbar machen. Mit der Inszenierung von Erinnerungen und Identitäten stellen fictions of memoiy Modelle für die narrative Erfahrungsverarbeitung zur Verfügung und übernehmen damit zentrale Orientierungs- und Stabilisierungsfunktionen für die individuelle Identitätsarbeit. Darüber hinaus reflektieren sie die Bedingungen und Grenzen der narrativen Sinnstiftung und können so in der Erinnerungskultur als reflexiver Metadiskurs Wirksamkeit entfalten. Fictions of memoiy gestalten die individuelle ebenso wie die kollektive Gedächtnis- und Identitätsbildung aktiv mit. Sie können vorgängig marginalisierte Gedächtnisversionen in die Erinnerungskultur einspeisen und auf diese Weise selbst zum Medium kollektiver Erinnerung werden; sie können gemeinhin kulturell getrennte Erinnerungen zu einem neuen Ganzen konfigurieren und somit zur Reintegration der Erinnerungskultur beitragen. Allen fictions of memoiy gemeinsam ist, dass sie einen kaum zu überschätzenden Beitrag zur Stabilisierung, Modifikation und Reflexion der Erinnerungskultur (in ihrer individuellen und kollektiven Dimension) leisten. Die folgende Tabelle stellt zusammenfassend die zentralen Merkmale, Verfahren und erinnerungskulturökologischen Funktionspotentiale dar, die für die einzelnen Gattungsausprägungen der fictions of memoiy kennzeichnend sind. Es sei nochmals betont, dass es sich hierbei um gattungs- bzw. idealtypische Tendenzen, nicht um feststehende Merkmalsbündel handelt.
Gattungstypologie der Fictions of Memoiy
Autobiographischer Gedächtnisroman
Soziobiographischer Autobiographischer Kommunaler Ε rinne rungs rom an Gedächtnisroman Erinnerungsroman
Selektionsstruktur
Primat fiktionaler Elemente
Primat fiktionaler Elemente; metamnemonische Reflexionen
Primat außertextueller Vergangenheitsreferenzen; gesellschaftlich marginalisierte Erinnerungen
Referenzen auf kulturell heterogene Erinnerungsdiskurse, metamnemonische Reflexionen
Erzählerische \ 7 ermittlung
homodiegetisch, personal wies
homodiegetisch, personal roice unreliable narration
homodiegetisch communal ι vice
heterodiegetisch, Wechsel zwischen mehreren homodiegetischen Instanzen
Perspektivenstruktur
monoperspektivisch, geschlossen
strukturelle Multiperspektivität, tendenziell offen
sozial homogen, geschlossen
Multiperspektivität, offen
Relationierung der Hr/ahlebenen
Dominanz der diegetischen Handlungsebene
Akzentuierung der extradiegetischen Ebene des Erinnerungsabrufs
Dominanz der diegetischen Handlungsebene
Akzentuierung der extradiegetischen Ebene des Erinnerungsabrufs
Dominanter '/.eitbezug
vergangenheitsbezogen gegenwartsbezogen, anachronische Anordnung
vergangenheitsbezogen
gegenwartsbezogen, anachronische Anordnung
Plottypus
individuenzentriert (progressive Erzählung)
individuenzentriert (regressive Erzählung)
gruppenspezifisch (konsensorientiert)
gruppenspezifisch (tendenziell kon fliktorienriert)
Raum
privater, lebensweltlicher Gedächtnis räum
Interdependenz zwischen privatem und öffentlichem Erinnerungsraum
diasporischer Gedächtnis räum, Neuverhandlung der Grenzen zwischen Zentrum und Peripherie
pluralisierter Erinnerungsraum, kontrastive Raumsemantiken
Intertextualität und -medialität
Referenzen auf fingierte persönliche Gedächtnis medien (Authentisierung)
strukturelle Multiperspektivität
Referenzen auf gruppenspezifische Gedächtnismedien (Authentisierung)
Referenzen auf gesellschaftlich konkurrierende Gedächtnismedien
Funktionspotential
Modellfunktion für Reflexiver individuelle Metadiskurs Erfahrungsverarbeitung
Imaginativer Gegendiskurs
Kulturelle Reintegrationsfunktion, Medium der kulturellen Selbstreflexion
\
Romantypus
Literarische^ Form
Tab.: Gattungstypologie der Fictions ojMemory
IV.
Fictions of Memory: Formen und Funktionen literarischer Gedächtnisbildung und Erinnerungsprozesse im kanadischen Gegenwartsroman Mit der typologischen Differenzierung zwischen den vier verschiedenen Erscheinungsformen der fictions of memory ist ein orientierungsbildender Bezugsrahmen für den anschließenden textanalytischen Teil der Arbeit geschaffen. Die vier Kapitel des Interpretationsteils sind jeweils einer Gattungsausprägung der zeitgenössischen kanadischen fictions of memory gewidmet, wobei die vorgenommene Anordnung der Logik der gattungstypologischen Systematik folgt: Die Interpretationen spannen damit einen Bogen vom autobiographischen Gedächtnisroman über den autobiographischen Erinnerungsroman und den kommunalen Gedächtnisroman hin zum soziobiographischen Erinnerungsroman. Sie illustrieren je einzelne Facetten der individuellen und kollektiven Erinnerung und zeigen fiktional zugeschriebene Möglichkeiten sowie Grenzen von individueller und kollektiver Identitätsarbeit auf. Diese Anordnung ermöglicht es, gattungsspezifische Besonderheiten der einzelnen Texte sowie signifikante Akzentverschiebungen in den Blick zu nehmen. Zwar zeichnen sich einzelne, zu einer Gattungsausprägung zugehörige Romane in erster Linie durch sehr ähnliche textuelle Merkmale aus. Gleichwohl nutzen sie ihr Variationspotential, um eine Bandbreite von Identitätsentwürfen und Vergangenheitsversionen zu erproben. Der textinterpretatorische Teil dieser Studie macht es sich zur Aufgabe, die bislang nur abstrakten Konzeptualisierungen der Spezifika der fictions of memory an konkreten Beispielen der zeitgenössischen kanadischen Literatur vor Augen zu führen und die literarisch vermittelten Versionen und Modelle von Erinnerung und Identität interpretatorisch zu erschließen. Der bislang eingeschlagene Weg dieser Arbeit führte von der theoretischen Beschreibung des Nexus von Erinnerung und Identität über die Konzeptualisierung des Verhältnisses von Literatur und Kultur bis hin zur Entwicklung eines narratologischen Analyseinstrumentariums und einer gattungstyplogischen Differenzierung unterschiedlicher Ausprägungen der fictions of memory. Um die im Interpretationsteil anstehenden Desiderata zu spezifizieren, sei dieser Weg kurz rekapituliert: In Teil I dieser Studie wurde der konstitutive Zusammenhang von Erinnerung, Identität und Erzählen theoretisch expliziert und es wurde gezeigt, dass Gruppen ebenso wie Individuen zum Zwecke der Selbstvergewisserung eine gedächtnisbasierte Autobiographie schaffen. Diese Ausführungen mündeten in ein
Formen und Fuktionen literarischer Gedächtnisbildung
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integratives Modell, das nicht nur Interdependenzen von individueller und kollektiver Gedächtnisbildung sichtbar macht, sondern auch zentralen Merkmalen heutiger Erinnerungskulturen wie ihrer Pluralisierung, Multikulturalität und den ihr inhärenten Erinnerungskonkurrenzen Beachtung schenkt. Mit diesem Modell ist ein konzeptueller Bezugsrahmen für die Verortung von Literatur als Teil der übergeordneten Sinnstiftungsprozesse einer Kultur geschaffen. In Teil II wurde das dialogische Verhältnis von Literatur zur Erinnerungskultur sowie zu gedächtnistheoretischen Erkenntnissen spezifiziert und dargelegt, aus welchen textuellen Spezifika das Symbolsystem Literatur sein kulturökologisches Funktionspotential bezieht. An die gewonnene Einsicht, dass Literatur vor allem auch angesichts der Semantisierung ihrer Formen einen eigenständigen und produktiven Beitrag zur Erinnerungskultur leisten kann, schloss sich in Teil III die Untersuchung der Rhetorik der Erinnerungen und Identitäten an. Diese zeigt beispielhaft, welche literarischen Formen und narrativen Verfahren an der Inszenierung von Erinnerungen und Identitäten im Medium der fictions of memory beteiligt sein können. Die Analyse der Rhetorik der Erinnerungen und Identitäten bildete wiederum die Grundlage, um den heterogenen Gegenstandsbereich der fictions of memory gattungstypologisch zu differenzieren und so zu einem besseren Verständnis dieser noch kaum erforschten Gattung beizutragen. Mit den einzelnen Theorieentwürfen ist zwar ein konzeptueller und integrativer Bezugsrahmen für eine umfassende Bestandsaufnahme der fictions of memory geschaffen. Eine Antwort auf die Frage, wie der konstitutive Zusammenhang zwischen Identität und retrospektiver Sinnstiftung in den einzelnen kanadischen Werken als narrativ gestalteter Gedächtnisakt oder Erinnerungsprozess inszeniert wird, steht allerdings noch aus. Welche Antworten liefern einzelne Romane auf erinnerungskulturelle Herausforderungen und welche Vorstellungen vermitteln sie von den Möglichkeiten und Grenzen individueller und kollektiver Sinnstiftungen? Welche Rückschlüsse können durch die Analyse literarischer Formen auf kulturell bestehende Gedächtnis- und Identitätsdiskurse gezogen werden? Wie also indizieren poietische Konfigurationen ihre erinnerungskulturelle Präfiguration und wie können diese Konfigurationen rezipientenseitig zur erinnerungs- und identitätsbezogenen Refiguration beitragen? Diese Fragen zu beantworten, ist das wesentliche Ziel des interpretatorischen Teils dieser Studie. Die vier Kapitel des Interpretationsteils folgen jeweils einem ähnlichen Strukturierungsprinzip. Nach einer kurzen Einführung in die jeweilige Gattungsausprägung werden exemplarisch ausgewählte Romane ausführlich interpretiert. Die Romanbeispiele sollen Gemeinsamkeiten, aber auch Variationsmöglichkeiten innerhalb der einzelnen Erscheinungsformen sichtbar machen. 218 Die detaillierten 218 Da literarische Werke sich durch Typologien zwar klassifizieren lassen, sie jedoch nie vollständig durch ihre Gattungszugehörigkeit determiniert sind (vgl. Suerbaum 1993, S. 96), kann die Analyse einzelner Romanbeispiele unter dem Aspekt ihrer Gattungsklassifikation nur einen Teil der Gesamtinterpretation ausmachen.
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Kanadische Fictions of
Memory
Untersuchungen verfolgen dabei auch das Ziel, ausgewählte Werke von kanadischen Autoren und Autorinnen der Gegenwart, die der Gattung der fictions of memory wichtige Impulse verliehen haben, vorzustellen und damit das Verständnis des kanadischen Romans der Gegenwart voranzutreiben. An die Einzelinterpretationen schließen sich kurze Ausblickskapitel an, die die ausfuhrlich besprochenen Werke in einem übergeordneten Kontext verorten und kursorisch einige weitere Romanbeispiele dieses Gattungstyps heranziehen. Auf diese Weise sollen Tendenzen innerhalb der jeweiligen Gattungsausprägungen begreifbar und hinsichtlich ihrer Leistungen im Kontext der kanadischen Erinnerungskulturen spezifiziert werden. Um der Bandbereite der in fictions of memory inszenierten Entwürfe von Identitäten und Erinnerungen gerecht zu werden und das Spektrum verschiedener erinnerungskultureller Funktionspotentiale zu reflektieren, werden Werke männlicher und weiblicher Autoren unterschiedlicher ethnischer Herkunft berücksichtigt. Dieses Auswahlkriterium erweist sich insbesondere angesichts der für Kanada kennzeichnenden Multikulturalität als notwendig. So sind es oftmals gerade Angehörige von ethnischen Gruppen, die etablierte, hegemoniale Gedächtnisversionen und normative Vorstellungen von Identität mit literarischen Mitteln in Frage stellen und der vermeintlich einzigen Legitimitätserzählung Alternativen entgegenstellen. Bei der Auswahl der Romanbeispiele werden neben Werken, die sich durch ihre thematische und formalästhetische Experimentierfreudigkeit auszeichnen, auch solche Romane berücksichtigt, die in der Kanadistik bislang kaum Aufmerksamkeit gefunden haben. Dazu zählen vor allem Texte, die einer realistischen Erzähltradition verpflichtet und zumeist dem autobiographischen Gedächtnisroman zuzurechnen sind. Für das in dieser Studie verfolgte Interesse am Zusammenspiel von Identität und Erinnerung sowie an kulturökologischen Funktionspotentialen von Literatur sind solche Werke in zweierlei Hinsicht von Bedeutung: Da realistischen Konventionen folgende Romane zumeist die gelungene Erfahrungsverarbeitung von Figuren darstellen, bieten sie zum einen anschauliche Beispiele für das positive Leistungsspektrum von Erinnerungen und Narrationen. Da gerade realistische Erzähltexte den Rezipientinnen zahlreiche Anknüpfungsmöglichkeiten an eigene Lebenserfahrungen ermöglichen, werden sie häufig in weiten gesellschaftlichen Kreisen rezipiert. Sie können daher zu besonders einflussreichen Medien der Erinnerungskultur avancieren. Um einen aussagekräftigen Vergleich zu gewährleisten, orientiert sich die Anordnung der Interpretationen ausgewählter kanadischer fictions of memory an der gattungstypologischen Differenzierung. In einem ersten Schritt geht es um die Besonderheiten der retrospektiven Sinnstiftung im autobiographischen Gedächtnisroman. Bei den Interpretationen stehen folgende Fragen im Vordergrund: Durch welche literarischen Verfahren wird das positive Leistungsspektrum von Erinnerungen und Narrationen zur Darstellung gebracht? Und wie wird der mnemonische Rekonstruktionsspielraum zum Zwecke der Identitätsstabilisierung genutzt? Mit der Analyse von autobiographischen Erinnerungsromanen verschiebt sich der Akzent im zweiten Kapitel von der Inszenierung des identitätsstiftenden
Formen und Fuktionen literarischer Gedächtnisbildung
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Potentials hin zur Darstellung und Reflexion auch der destruktiven und destabilisierenden Macht von Erinnerungen. Welche Erinnerungsprozesse werden als kontinuitätsstiftend und welche als potentiell identitätsdestabilisierend ausgezeichnet? Nach welchen Mechanismen werden identitätsrelevante Erinnerungen verfügbar gehalten und nach welchen Kriterien werden sie abgestoßen oder umgeformt? Im autobiographischen Erinnerungsroman kann der Narrativierungsprozess sein Sinnversprechen nur noch bedingt einlösen. Von zentralem Interesse ist daher eine Untersuchung der Auswirkungen der narrativen Strukturlosigkeit auf die Konstitution von individueller Identität. Im Mittelpunkt des dritten Kapitels steht die Erschließung von vorgängig marginalisierten Erfahrungen, von gesellschaftlich unterrepräsentierten Identitätskonzepten und Wertehierarchien im kommunalen Gedächtnisroman. Von Interesse ist in diesem Zusammenhang nicht nur die Frage, wie solche Romane ihre Privilegien bei der Selektion nutzen, um neue Vorstellungen von der kanadischen Kollektiwergangenheit zu vermitteln. Vielmehr geht es auch darum zu zeigen, wie diese bislang marginalisierten Vergangenheits- und Identitätskonstruktionen mit literarischen Verfahren vermittelt und authentisiert werden. Gerade bei kommunalen Gedächtnisromanen, die partikulare Gedächtnisversionen und Kollektividentitäten entwerfen, stellt sich schließlich die Frage, wie diese im Kontext der kanadischen Erinnerungskultur verortet werden, wie also das Wechselspiel mit anderen Erinnerungsgemeinschaften konturiert wird. Im vierten Kapitel werden schließlich verschiedene Spielarten des soziobiographischen Erinnerungsromans vorgestellt. Dabei wird illustriert, mittels welcher Darstellungsverfahren die Vergangenheit in eine Pluralität von Vergangenheitsversionen aufgelöst wird. Vor allem solche soziobiographischen Erinnerungsromane, die den gesellschaftlichen Streit um Deutungshoheit inszenieren, werfen die Frage auf, welche Inhalte der Erinnerungskultur als streitbar angesehen werden. Alle Interpretationen gehen der literatur- und kulturwissenschaftlich zentralen Frage nach, wie die einzelnen Texte die Semantisierung der Form sowie Besonderheiten der Selektion dazu funktionalisieren, das Leistungsspektrum von Erinnerungen für die Konstruktion, Stabilisation und Modifikation von Identitäten darzustellen. An die vier Teilkapitel schließt sich ein Ausblick auf eine fünfte Erscheinungsform der fictions of memory an: den metamnemonischen Roman. Wenn dieser Gattungsausprägung in den bisherigen Ausführungen keine Beachtung geschenkt wurde, so liegt dies daran, dass sie — zumindest für die kanadische Erinnerungskultur - in quantitativer Hinsicht von untergeordneter Bedeutung ist und sich daher nur vorläufige Hypothesen über seine gattungsspezifischen Besonderheiten und Funktionspotentiale aufstellen lassen. Da die für den metamnemonischen Roman charakteristische Tendenz zur Metaisierung und Hybridisierung für zeitgenössische Erinnerungskulturen zunehmend an Relevanz gewinnt, soll das letzte Kapitel exemplarisch einen ersten Einblick in die Spezifika und Wirkungsmöglichkeiten dieser Gattungsausprägung liefern.
1. Autobiographische Gedächtnisromane: Gedächtniskonsolidierungen Die zeitliche Dimension der individuellen Identität ist unweigerlich an das Erzählen von Geschichten geknüpft. Diese sprachliche Praxis leistet eine Synthese der temporalen, lebensgeschichtlichen Differenz, eine sinnstiftende Konsolidierung der heterogenen Erfahrungswirklichkeit, die die fluktuierende Identität als relative Einheit auszuweisen vermag. Die zentrale Herausforderung dieser komplexen Sprachhandlung besteht in der Plausibilisierung von diachronen Transformationen und Brüchen. Die narrative bzw. diachrone Identität ist das Resultat einer retrospektiven Aufbereitung vergangener Erfahrungen, die eine kontinuitätsstiftende Relation zwischen Gegenwart und Vergangenheit herzustellen vermag. Selbstnarrationen schaffen Kontinuität und die damit verbundenen Identitätsaspekte, sie bilden keinen vorgängigen Wesenskern ab. Die Möglichkeit von subjektiv erlebter biographischer Kontinuität und lebensweltlicher Kohärenz hängt daher in hohem Maße von der Konstruktion einer gelungenen Geschichte ab. Autobiographische Gedächtnisromane fuhren beispielhaft vor Augen, nach welchen Mechanismen und Prinzipien gelungene Selbstnarrationen verfahren, und akzentuieren damit die sinnstiftenden Funktionen des sich erinnernden Ichs. Sie illustrieren, welche Gedächtnisoperationen Kontinuität erzeugen, wie sich die Vergangenheit durch sinnstiftende Akte des Erzählens zu einem stabilen Gedächtnisnarrativ konsolidiert und wie der mnemonische Rekonstruktionsspielraum für die Schaffung einer subjektiv plausiblen Vergangenheitsversion genutzt werden kann. In diesem Kapitel werden zunächst zwei Romane analysiert, die realistischen Erzählkonventionen verpflichtet sind. Sie veranschaulichen das positive Leistungsspektrum von Gedächtnisakten vor allem durch solche, für den autobiographischen Gedächtnisroman typischer Verfahren, die die Unmittelbarkeit und Authentizität der vergangenen Erfahrungsrealität suggerieren. Sowohl in Matt Cohens Roman Nadine (1986) als auch in Terence Μ. Greens Roman Λ Witness to Life (1999) tragen vor allem interne Fokalisierung und die damit verbundene detailgenaue und subjektivierte Darstellung des Vergangenen zur Festigung des autobiographischen Bewusstseins der Erzählinstanzen bei. Die qua Gedächtnisakten vermittelte Kontinuität wird in beiden Gedächtnisromanen durch die chronologischprogressive Zeitstruktur sowie die Erzeugung einer retrospektiven Teleologie begünstigt, die in einer progressiven Erzählstruktur münden. An die Analyse dieser beiden typischen Beispiele des autobiographischen Gedächtnisromans schließt sich die Interpretation von Yann Martels Roman Seif (1996) an, der als eine kritischparodistische Ausprägung dieser Gattungsform konzipiert werden kann. Mit seiner Vergangenheitsorientierung, der dominant internen Fokalisierung des Vergangenen und der Inszenierung von temporaler Kontinuität greift er zwar auf die typischen Konstituenten des autobiographischen Gedächtnisromans zurück. Allerdings nutzt Seif die Rhetorik der Erinnerungen und Identitäten auch dazu, die Konstruktionsbedingungen von retrospektiven Teleologien und biographischer Kontinuität
Autobiographische Gedächtnisromane
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selbstreflexiv zu hinterfragen. Damit legt Martels Roman jene produktiven Aspekte offen, die in autobiographischen Gedächtnisromanen in der Regel durch zahlreiche Realitätseffekte verschleiert werden, und entlarvt die authentizitätssuggerierenden und kontinuitätsstiftenden Verfahren als .Erinnerungsfiktion', als „a fiction of memory" (Eakin 1999, S. 95).
1.1 ,,[W]aiting to become myself': Inszenierungen von narrativer Geschlossenheit und identitärer Kontinuität in Matt Cohens Nadine (1986) Der identitäts- und kontinuitätsstiftende Charakter der autobiographischen Gedächtnisbildung und das bedeutungsverleihende Potential von Selbstnarrationen werden in Matt Cohens Roman Nadine auf exemplarische Weise vor Augen gefuhrt. Bereits der Titel verweist auf den zentralen Erzählgegenstand dieses autobiographischen Gedächtnisromans: Im Zentrum steht Nadine Santangels Versuch, ihre individuelle Vergangenheit in der erinnernden Rückschau zu reaktualisieren und durch narrative Kohärenzstiftung die Einheit ihrer Identität, metonymisch evoziert durch ihren Eigennamen, herzustellen. Die Rückkehr in ihre Geburtsstadt Paris bildet für die nunmehr in Kanada lebende, vierzigjährige homodiegetische Erzählerin den Anstoß für eine Auseinandersetzung mit ihrer persönlichen Geschichte, die schließlich in der Niederschrift ihrer Memoiren mündet: „Of course it is exciting to be back in Paris. As I walk through the streets I find myself reconstructing my favourite movie - the one about me." (S. 3) Mit der Akzentuierung der Bedeutung des Raums stellt die Erzählerin gleich zu Beginn ihrer Quest eine zentrale Besonderheit der individuellen Gedächtnisbildung heraus: So ist es der Raum, in dem sich die Erfahrungen ihrer Kindheit materialisieren und der für sie als Abrufreiz ihrer individuellen Erinnerungen fungiert. Die bereits durch die Angabe des setting — im Paris der 1980er Jahre — erfolgte Kontextualisierung ihres Gedächtnisakts spezifiziert die Erzählerin im Folgenden in einem metanarrativen Kommentar, der Aufschluss über die Motivation ihres autobiographischen Unterfangens liefert: „The afternoons I spend at the table by the window, looking at my mementoes and writing stories to myself. Therapy, yes, because the mind must be healed as well as the body." (S. 5) Die Erzählerin stellt hier das positive Leistungsspektrum von Narrationen heraus, das den Erzähl- bzw. Schreibakt im autobiographischen Gedächtnisroman typischerweise motiviert: Selbstnarrationen gleichen einem therapeutischen Akt, der dazu beitragen kann, die zurückliegenden, bisweilen prekären Erfahrungen in ein identitätsrelevantes Format zu transformieren. Nadine Santangel hat ihre jüdischen Eltern bereits im frühen Kindheitsalter verloren, nachdem diese auf der Flucht vor dem Nationalsozialismus von Soldaten gefangen und nachfolgend vermutlich in Konzentrationslagern ermordet wurden. Versteckt bei ihrer Tante Leonie und dem französischen Freiheitskämpfer Robert Lemieux konnte Nadine selbst den Grauen des Nationalsozialismus entkommen. Aber weniger ihre gruppenspezifischen Erfahrungen als Holocaust-Überlebende
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Kanadische Fictions
of
Memory
der zweiten Generation als vielmehr die - für autobiographische Gedächtnisromane kennzeichnende - Spezifität bzw. Singularität ihrer individuellen Erfahrungsrealität konstituieren den zentralen Gegenstand von Nadines Narration. Im Mittelpunkt ihrer Selbsterzählung stehen ihre frühe Kindheit, die sie an der Seite Leonies in Paris verbringt, ihre Emigration nach Toronto, ihre Jugend bei ihren benevolenten Pflegeeltern, den Borsteins, ihr Studium der Astrophysik, aber vor allem ihre Liebesbeziehung zu Miller. Zum Eindruck einer gelebten und authentischen Vergangenheit tragen in Nadine nicht nur die detailgenauen Beschreibungen von vergangenen Orten und Zeiten, von sinnlichen Eindrücken und Emotionen bei, sondern auch die qua interner Fokalisierung ermöglichte Darstellung von Ereignissen aus der Perspektive des erlebenden, emotional involvierten Ichs. Die Illusion einer detailgenauen Darstellung der vergangenen Erfahrungsrealität wird außerdem durch zahlreiche intertextuelle und intermediale Referenzen erzeugt, die Einblick in die Bedingungen von Nadines Vergangenheitsrekonstruktion bieten. Das heilende und identitätsstiftende Leistungsspektrum, das sich Nadine von ihrer Gedächtnisnarration erhofft und das sie auch zu realisieren vermag, wird durch eine Reihe von Erzähltechniken gewährleistet, die als konstitutiv für den autobiographischen Gedächtnisroman gelten. In ihrer Gesamtheit tragen diese Darstellungsverfahren dazu bei, die für den Sinnstiftungsprozess so zentrale Annäherung des vergangenen an das gegenwärtige Ich sicherzustellen und die Geschlossenheit der Lebensgeschichte herzustellen. Nadines Gedächtnisnarration zeichnet sich durch eine relativ chronologische Zeitstruktur aus, durch welche die — in der erinnernden Rückschau als prägend erachteten — Lebensphasen in linearer Progression präsentiert werden. Insbesondere die Orientierung an unifizierenden Konzepten wie Kindheit, Jugend oder Berufseinstieg schafft die Voraussetzung für die Konstruktion einer kohärenten, auf sinnhafte Schwerpunkte ausgerichteten Geschichte und suggeriert eine kontinuierliche, nahezu teleologische Identitätsentwicklung. Die bereits durch die chronologische Zeitstruktur inszenierte Kontinuität von Nadines Identität wird überdies durch das für den autobiographischen Gedächtnisroman typische Wechselspiel zwischen interner und externer Fokalisierung gewährleistet. Dieses Alternieren schafft die Voraussetzung für eine sinnstiftende Relationierung zwischen Vergangenem und Gegenwärtigem. ***
,,[M]y name is Nadine Santangel. I am neither young nor old. I am a woman, a scientist, a Jew. I was born in France and am now a citizen of Canada." (S. 7) Mit diesen knappen Angaben zu ihrer Person führt sich Nadine Santangel auf recht konventionelle Weise in ihre fiktionale Autobiographie ein und postuliert ein ebenso unproblematisches wie statisches Verständnis ihres Selbst. Losgelöst von ihrem narrativen Kontext und das heißt von einem temporal strukturierten Verweisungszusammenhang verfügen diese autobiographischen Fakten allerdings nur über ein geringes Leistungsspektrum für die Konstruktion der individuellen Identität. Die individuelle Identität bezeichnet das „Selbst in der Zeit" (Brockmeier 1999, S. 23) und ist daher ohne ihre diachrone Dimension, die identitätsrelevante Erfahrungen
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aufbereitet und so erst das subjektive Gefühl einer „integrierenden Identität" (Polkinghorne 1998, S. 28) erzeugt, weder subjektiv fassbar noch interaktiv vermittelbar. Um ein tiefer gehendes Verständnis von ihrer individuellen Identität zu gewinnen, stellt sich für die Erzählerin daher die Aufgabe, ihre prägenden Erfahrungen narrativ zu verarbeiten und sie auf einer diachronen Achse des Gewordenseins zu projizieren. So verbindet sich mit Nadines Rückkehr nach Paris der Versuch, Zeugnis von ihrer bewegten Vergangenheit abzulegen und durch diesen autobiographischen Akt ihr Identitätsverständnis voranzutreiben: „At this moment I am back where I began — in the Paris apartment where I was born. [...] I busily recreate myself amidst the letters, the documents, the photographs" (S. 7). Wie die Erzählerin nun spezifiziert, ist ihre individuelle Identität keineswegs etwas Vorgegebenes, das der lebensgeschichtlichen Entwicklung gleich einer Substanz zugrunde liegt. Vielmehr wird diese Identität im Akt des Erzählens der eigenen Geschichte erst herausgebildet und stabilisiert. Die individuelle Identität nimmt Gestalt an, indem Erinnerungen narrativ geordnet bzw. geglättet und zu einer kohärenten Narration geformt werden. Da sich das Selbst nicht monologisch, sondern im Spannungsfeld zwischen der eigenen Lebensgeschichte und dem sozialen Umfeld konstituiert, entstehen auch Identitätsnarrative im diskursiven Wechselspiel mit .signifikanten Anderen' (Taylor). Darauf macht die Erzählerin aufmerksam, wenn sie ihre eigenen Erfahrungen zu den Lebensgeschichten anderer Personen in Bezug setzt: „I pick up my pen and continue where I left off, writing this memoir. Leonie, Gabrielle, Piakowski, Yaakov, Lemieux - each of them will find their place. But most of all this will be my story" (S. 7f.). Mit der Betonung, dass ihre Selbstnarration zugleich die Geschichten von zentralen Bezugspersonen umfasst, stellt die Erzählerin einen wesentlichen Aspekt der individuellen Identitätsbildung heraus: ihren relationalen Charakter. Die individuelle Identität entwickelt sich im Dialog mit signifikanten Anderen. Der Akt des autobiographischen Erzählens weist daher stets über den Kreis persönlicher Reminiszenzen hinaus und berührt die Lebensgeschichten wichtiger Interaktionspartner. Die interaktionistische Dialogizität der individuellen Identität und das damit verbundene Bedürfnis nach intersubjektiver Anerkennung gewinnen im Rahmen von genealogischen Relationen wie der Eltern-Kind-Beziehung an Bedeutung (vgl. Nelson 1993), prägen sie doch die kindliche Identitätsentwicklung nachhaltig. Es ist daher insbesondere die Geschichte ihrer Eltern, die Nadine lange unbekannt war, der für ihre Identitätskonstitution bzw. für ihr sense of self-inrelationship (vgl. Chodorow 1978) eine zentrale Rolle zukommt: „I am hungry for the scenes I was too young to remember, the truths that were covered up by lies, the past I was too young to live." (S. 4) Diesem Bedürfnis versucht die Erzählerin dadurch gerecht zu werden, dass sie in ihrer Autobiographie ausführlich die Erfahrungen ihrer Eltern wiedergibt, wie sie ihr von verschiedenen Personen vermittelt und in ihrer Imagination ausgestaltet wurden: „I spent thousand of hours imagining what they must have been. A lot of details took shape for me after Leonie began showing me their pictures" (S. 69). Nadines Bewusstheit fur die konstitutive
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Bedeutung von Anderen für ihre individuelle Identitätskonstitution schlägt sich in der Modifikation des üblichen Referenzbereichs von Autobiographien nieder. Neben ihren eigenen Erfahrungen reaktualisiert die Erzählerin punktuell zentrale Erlebnisse ihrer Eltern und fuhrt auf diese Weise die Wechselwirkung zwischen sozialer Identität und Alterität vor Augen: „The stories of my parents, their friends — I can't get enough of them." (S. 6) Nach Nadines einleitenden Beschreibungen der gegenwärtigen Bedingungen, Motivationen und Zielsetzungen ihres autobiographischen Erzählakts tritt sie als erzählendes Ich mehr und mehr in den Hintergrund und bringt ihre vergangenen Erfahrungen über weite Strecken aus der Perspektive ihres jüngeren, erlebenden Ichs zur Anschauung. Es ist charakteristisch für den autobiographischen Gedächtnisroman und für den in ihm inszenierten Versuch, die Geschlossenheit der vergangenen Erfahrungsrealität herzustellen, dass die extradiegetische Ebene der Erinnerungssituation nur minimal ausgestaltet wird: Durch die Unterbelichtung der aktuellen Erinnerungssituation wird der rekonstruktive, an gegenwärtige Rahmen geknüpfte Charakter von Gedächtnisoperationen dissimuliert und der Eindruck einer an sich bedeutungsvollen Vergangenheit evoziert. Nadines Gedächtnis narration erscheint auf diese Weise als geschlossenes Produkt, nicht als ein in Entstehung begriffener Prozess. Die erzählerische Minimierung des Spannungsverhältnisses zwischen erinnerndem und erinnertem Ich verhindert weit gehend die Möglichkeit einer Diversifizierung der Selbstnarration und der darauf gründenden Identität. Indem in Nadine zumeist nur eine temporale Perspektive deutlich konturiert wird, erscheint das erlebende Ich als in sich geschlossene Entität, die sich in fast teleologischer Weise auf das erzählende Ich zuzubewegen scheint. Nadines Erzählung führt exemplarisch die strukturellen Besonderheiten vor Augen, die zur Schaffung von biographischer Kontinuität und Stabilität beitragen. Die Erzählerin präsentiert ihre vergangenen Erfahrungen auf chronologische, linear-progressive Weise, weit gehend bereinigt von emotionalen und kognitiven Uneindeutigkeiten und Diskontinuitäten. Es ist insbesondere die Orientierung an unifizierenden Lebensphasen wie .Kindheit', Jugend' und .Berufseinstieg', die es ihr ermöglicht, die Heterogenität der vergangenen Erfahrungen zu kohärenten Episoden zu bündeln und sie in eine ebenso signifikante wie plausibilisierende Relation zueinander zu stellen. Der Roman gliedert sich — nach einem kurzen Prolog - in fünf Kapitel, deren Titel den Ort und Zeitpunkt der zurückliegenden Erfahrungen präzisieren: „Book One: Paris 1940"; „Book Two: Toronto 1948"; „Book Three: England 1964"; „Book Four: Toronto 1968", „Book Five: 1982". Die einzelnen Kapitel, die linear-chronologisch aneinander anknüpfen, korrelieren in etwa mit den übergeordneten Konzepten Geburt/Kindheit (1); Jugend/Ausbildung/erste Beziehungserfahrung (2); Abschluss des Studiums und Partnersuche (3); Berufseinstieg, erste große Liebe und deren Scheitern (4); Erfüllung dieser Liebe (5). Nadines narrativer Entwicklungsbogen, also die Ubergänge von einem zum nächsten Stadium ihres Lebens werden durch Wendepunkte markiert, die als „entwicklungspsychologische Gelenkstelle[n]" (Brockmeier 1999, S.
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34) ihrer Autobiographie fungieren. An diesen Wendepunkten tritt ein unerwartetes, vom kulturell standardisierten .Lebensscript' (vgl. Rubin/Berntsen 2003) abweichendes Ereignis ein, das einen Konflikt bzw. eine Lebenskrise initiiert und das in einen - für den autobiographischen Gedächtnisroman kennzeichnenden .Moment des Erwachens' (vgl. Bruner 1993) mündet. Erst diese Schlüsselstellen transformieren die - durch die Orientierung an unifizierenden Konzepten erzeugte - konventionalisierte Lebensgeschichte in eine individualisierte, auf die Singularität von Nadines Erfahrungen abgestimmte Geschichte. Für den Sinnstiftungsprozess ist in diesem Zusammenhang signifikant, dass Wendepunkte erst vor dem Hintergrund des bereits bekannten Ausgangs von Nadines Geschichte konturiert werden können. Sie verweisen damit implizit auf die Perspektive des erzählenden Ichs. Obgleich die gegenwärtige Situation von Nadine als erinnerndes Ich auf der extradiegetischen Ebene kaum profiliert ist, schlägt sich ihre aktuelle Perspektive gleichwohl in der Selektion, Konfiguration und diskursiven Perspektivierung des Vergangenen nieder. Es ist vor allem diese implizite Präsenz des erzählenden Ichs, die die Plausibilisierung des Vergangenen maßgeblich begünstigt. Am Anfang von Nadines Memoiren („Book One: Paris 1940") steht die Geschichte ihrer jüdischen Eltern, des aus Polen stammenden Jakob Bronski und der Französin Gabrielle Santangel, die sich im Paris der 1940er Jahre kennen lernen. Detailgenau rekonstruiert Nadine deren erstes Treffen, die Entwicklung der Liebesbeziehung, die baldige Hochzeit bis hin zu den Umständen der versuchten Flucht nach Spanien. Es ist typisch für den autobiographischen Gedächtnisroman und der darin inszenierten Suche nach den eigenen Ursprüngen, dass die Erzählerin vor Beginn ihrer eigenen, persönlichen Geschichte einen Abriss ihrer Familienhistorie bis hin zu den Umständen ihrer eigenen Geburt (vgl. S. 26) präsentiert und ihre Identität damit genealogisch verankert. Markiert die Geburt den Beginn von Nadines physischer Existenz, so signalisiert die erste Erinnerung den Beginn ihrer individuellen, auch psychisch aktiv vermittelten Identität. Als Nadine nach Kriegsende in die ehemalige Wohnung ihrer Tante Leonie zurückkehrt, ist sie fester Uberzeugung, ihrem Vater wiederzubegegnen: „And here is my first memory: I look up to where my father's face should be, but see nothing through the narrow opening. I shove the door impatiently and it opens wider. Still, I can see nothing." (S. 45) Diese emphatische Beteuerung stellt eine für den autobiographischen Gedächtnisroman kennzeichnende Authentisierungsstrategie dar: Mit der exakten Rekonstruktion ihrer ersten Erinnerung nimmt die Erzählerin implizit für sich in Anspruch, auch weit zurückliegende Erfahrungen zutreffend zu erinnern und gibt sich damit als zuverlässige Vermittlungsinstanz ihrer eigenen Geschichte aus. Das Ende des ersten Kapitels markiert zugleich das Ende von Nadines Kindheit in Paris bei ihrer Tante Leonie. Diese, für Nadines gesamte Autobiographie kennzeichnende Korrelation der einzelnen Kapitel mit bestimmten Lebensphasen verleiht ihrer Geschichte eine für Gedächtnisromane typische innere Geschlossenheit. Der Beginn des Kapitels 2 korreliert mit Nadines Emigration nach Toronto im Jahre 1948. Ihre erste Beschreibung von Toronto als „city of Miller's childhood" (S. 51) ist ein prototypisches Beispiel für eine retrospektive Umdeutung, die eine
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nahezu unvermeidliche Zwangsläufigkeit von ihrer erst zu einem späteren Zeitpunkt erfolgenden Begegnung mit Miller unterstellt: Im Sinnstiftungsakt werden Erfahrungen im Lichte nachfolgender Erkenntnisse gedeutet, um ihnen so eine besondere Eingängigkeit zuzusprechen. Die Immigration nach Kanada leitet einen Wendepunkt in Nadines jungem Leben ein: „In Paris I had been a war orphan, yes — but so were tens of thousands of others. Now I was someone new, a Displaced Person landing on the shores of the continent of riches." (S. 64) Entgegen ursprünglicher Vereinbarungen, bis zur Ankunft ihrer Tante Leonie bei ihrem Halbonkel Piakowski zu leben, wird sie dauerhaft bei den Borsteins, ihren Pflegeeltern, untergebracht. Ihre anhaltende emotionale Leere und Einsamkeit versucht sie mit prekären Grenzerfahrungen zu kompensieren. Vor allem ihre inzestuöse Beziehung zu Piakowski, die sie rückblickend als „juncture" (S. 98) visualisiert, destabilisiert ihr Selbstbild mehr und mehr und kulminiert schließlich in einem Selbstmordversuch: „Had I truly wanted to commit suicide? I think I wanted to be rid of Piakowski, the nights in his apartment, the strange hold he had over me, his unwanted presence in my dreams." (S. 130) Dieses drastische Ereignis leitet einen erneuten Wendepunkt in Nadines Leben ein: Es führt zu einem ,awakening' (Bruner) bezüglich des identitätszerstörenden Einflusses ihrer Beziehung zu Piakowski und mündet in der nachfolgenden Entscheidung, sich von ihm zu lösen und ein Stipendium an der Universität von Cambridge anzunehmen. Dass es der Erzählerin gelingt, selbst so extrem prekäre Erfahrungen wie die ihres Selbstmordversuchs retrospektiv in einen narrativen Verweisungszusammenhang einzubetten und ihnen damit eine subjektive Plausibilität zuzusprechen, führt die für den autobiographischen Gedächtnisroman kennzeichnende Fähigkeit zur Kontingenzreduktion paradigmatisch vor Augen. Nach einem kurzen Aufenthalt in England kehrt Nadine - einem Stellenangebot der Universität von Toronto folgend - im Jahre 1968 in die Stadt ihrer Jugend zurück. Hier endlich verwirklicht sich ihr lang ersehnter Wunsch nach einer Beziehung zu Miller: „And now I was in a happy semi-coma beside Miller, feeling that for the first time in my life I knew what love was, real love, love that pours out of you the way light pours out of the sun" (S. 218). Nadines Beteuerung, mit Miller die erste und wahre Liebe erfahren zu haben, ist auf eine für den autobiographischen Gedächtnisroman charakteristische Aktualisierung eines kulturell extrem standardisierten Konzepts zurückzuführen, das für die sinnstiftende Deutung eines persönlichen, emotional komplexen Phänomens herangezogen wird. Affektive und kognitive Ambivalenzen werden auf diese Weise retrospektiv nivelliert und in konventionalisierte Eindeutigkeit transformiert. Die allmähliche Entwicklung ihrer Beziehung zu Miller wird fortan zum bedeutungstragenden Schwerpunkt ihrer Erzählung, vor dessen Hintergrund sie ihre übrigen Erfahrungen perspektiviert: „When I have told myself the story of my beginnings, I always return to Miller." (S. 52) Die Liebesbeziehung zwischen Nadine und Miller kommt unverhofft zu einem Ende, als sich Miller dazu entschließt, seiner Ehe mit Amanda eine zweite Chance zu geben und nach Kalifornien zu ziehen. Damit wird aus Sicht der rekonstruie-
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renden Erzählerin der projektierte Lebensplan ein weiteres Mal unterbrochen, die Erreichung des biographischen Telos abermals aufgeschoben. Das aufgebaute Narrativ wird somit zunehmend dynamisiert, wodurch die Gerichtetheit der Identitätsentwicklung umso deutlicher zutage tritt. Erst einige Jahre später trifft Nadine den mittlerweile geschiedenen Miller wieder. Gemeinsam unternehmen sie bezeichnenderweise eine Reise nach Israel, womit der Roman erneut die Geschichte des jüdischen Volkes aufgreift. In Jerusalem werden die beiden Opfer eines Anschlags, dessen schlimmste Konsequenzen Nadine dadurch zu verhindern vermag, dass sie die Granate an sich reißt und in ihrer Hand zur Explosion kommen lässt: ,,[A]s I fall, I reach out gratefully, happy to know that — when my moment finally arrived - I was not a coward. My hands close around the grenade." (S. 280) Offensichtlich stellt dieser .endlich eingetretene* Moment in der erinnernden Rückschau ein vorläufiges Ende ihrer beschriebenen Identitätsentwicklung dar, denn es gelingt Nadine, ihre bisherige Passivität und Mutlosigkeit zu überwinden und aktiv auf eine lebensgefahrliche Situation Einfluss zu nehmen. Diese Aktion wird zur Klimax ihrer autobiographischen Erzählung stilisiert, zu einer markanten Zäsur, in der sich die Rückgewinnung von Nadines Selbstwirksamkeit symbolisch konkretisiert. In Folge ihrer Verletzungen kehrt Nadine nach Paris zurück, um sich dort unter der Obhut ihrer Tante Leonie zu kurieren. Wie bereits am Anfang ihres autobiographischen Unterfangens dargelegt, wird die Rückkehr in die Stadt ihrer Geburt für Nadine zum Anlass, eine Bilanz ihrer zurückliegenden Erfahrungen zu ziehen und ihre Memoiren zu verfassen. Durch diese zyklische Struktur wird das Ende des Romans mit seinem Anfang verbunden; es liegt also eine für autobiographische Gedächtnisromane typische .komplette Analepse' (Genette 1994, S. 42) vor, die ohne Kontinuitätsbruch die in der erinnernden Rückschau erschlossene Vergangenheit an die Gegenwart des Erinnerungsabrufs anbindet und so exemplarisch die Fähigkeit der Erzählerin zur Kontinuitätsstiftung betont. Der Schluss markiert
damit
auch
die erfolgreiche
Realisierung
ihres
autobiographischen
Schreibaktes und indiziert die Geschlossenheit ihres narrativen Synthetisierungsbzw. Sinnstiftungsprozesses: „It is time for me to being my afternoon's work looking at the photographs and writing. Soon — today or tomorrow or next week — I will be finished. It will be time to allow the past to seal over, my life to resume." (S. 290) Das geschlossene Ende von Nadines Autobiographie stellt nicht nur deren sinnstiftende Kompetenz unter Beweis, meint doch erfolgreiches Erzählen vor allem, eine Geschichte zu Ende erzählen zu können (vgl. Ricceur 1991). Es bedeutet auch die endgültige Realisierung ihrer Liebe zu Miller und damit den positiven Kulminationspunkt einer Erfahrung, die Nadine Zeit ihres Lebens begleitet hat und oftmals problembehaftet war: „Miller is telling me that he loves me, that he is coming to see me, that when he arrives he is never going to leave me." (S. 290) Wie der Überblick über die makrostrukturellen Besonderheiten von Nadines Gedächtniserzählung zeigt, verleiht die Erzählerin ihren heterogenen Erfahrungen dadurch identitätsstabilisierenden Sinn, dass sie diese in eine diachron strukturierte und damit Kausalität suggerierende Ordnung integriert und im narrativen Modus
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die Einheit ihres ganzen Lebens herstellt. Narrative Glättungen verdichten bestimmte Aspekte ihrer Erfahrungswirklichkeit zu kompakten Lebensabschnitten und elaborieren andere zu schicksalhaften Wendepunkten, von denen ausgehend sich die übergeordnete Bedeutung ihrer gesamten Geschichte entfaltet. Die Verwendung von zahlreichen untergeordneten Konjunktionen („that's why", „this is how", „and then") forcieren den Eindruck einer kausal-sinnhaften Entwicklung ihres Lebens. Die nach diesem Prinzip strukturierte Selbsterzählung legt den Verlauf Nadines identitätsrelevanter Erfahrungen auf ein Telos an und evoziert rezipientenseitig den Eindruck einer „integrierenden Identität" (Polkinghorne 1998, S. 28). Ihren Erfahrungen wird damit eine nahezu zwangsläufige Intentionalität unterstellt. Offensichtlich sind die spezifischen Formen der Gestaltgebung das Resultat einer retrospektiven Teleologie: Welche Erfahrungen von Nadine als identitätsrelevant ausgezeichnet und welche als Wendepunkte markiert werden, ergibt sich erst im erinnernden Rückblick, vor dem Hintergrund eines bereits bekannten Endes. Auf diese Besonderheit macht Nadine aufmerksam, wenn sie mit Blick auf Miller zu dem Schluss gelangt: „I have known him almost my whole life, a younger-older brother so knitted into the fabric of my past I can't remember being a child without in my mind walking down the street where we both lived, without seeing the houses which faced each other, without smiling over our first snowy kiss." (S. 270; vgl. auch S. 52) Das Zurückliegende kann demnach nur durch den Schleier der eigenen Gegenwart betrachtet werden. Hierin offenbart sich ein zentrales Merkmal der sinnstiftenden Gedächtnisbildung: ihr Operieren mit verschiedenen, kopräsenten Zeitperspektiven, zwischen denen komplexe Interrelationen bestehen und die sich zu einer symbolischen Bedeutungseinheit verdichten. Im Akt der Sinnstiftung geht es darum, das vergangene Ich dem gegenwärtigen Ich anzunähern. Diese Annäherung kann nur gelingen, wenn, wie im Falle von Nadines Erzählung, vergangene Erfahrungen im Lichte nachfolgender Entwicklungen und des gegenwärtigen Wissenshorizonts selegiert und interpretiert werden. Die Manifestation ihrer gegenwärtigen Perspektive im Vergangenen, d.h. eine Anachronizität, schafft die Voraussetzung dafür, das vergangene und gegenwärtige Ich ,zu einer einzigen Person mit einem gemeinsamen Bewusstsein' (vgl. Bruner 2001, S. 27) zu reintegrieren.219 Wie vor allem der Spannungsbogen sowie die für Autobiographien so zentrale Schlussgebung sichtbar machen, handeln Selbstnarrationen nicht nur von Entwicklungen, sondern transportieren auch evaluative Vorstellungen von Entwicklungs219 Vgl. hierzu Bruners (2001, S. 27) prägnante Definition der Autobiographie: „What after all is an autobiography? It consists of the following. A narrator, in the here and now, takes upon himself or herself the task of describing the progress of a protagonist in the there and then, one who happens to share his name. He must by convention bring that protagonist from the past into the present in such a way that the protagonist and the narrator eventually fuse and become one person with a shared consciousness."
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mustern. Offensichtlich haben wir es bei Nadines Erzählung mit einer prototypischen progressiven Erzählung (vgl. Gergen 1998, S. 178) zu tun, die einen problematischen Ausgangspunkt über die Zeit hinweg in einen positiven Endpunkt transformiert. Solche progressiven Selbstnarrationen sind nicht nur von der Vermutung durchdrungen, dass destabilisierende Erfahrungen in ein identitätsstabilisierendes Format gebracht werden können. Ihnen liegt auch die Prämisse zugrunde, dass die individuelle Entwicklung auf ein positives Ziel ausgerichtet ist, das durch hinreichende Selbstwirksamkeit zu erreichen ist. Im Falle von Nadine konkretisiert sich diese progressive Ausrichtung in ihrer Verbindung zu Miller sowie in ihrem mutigen Einsatz im Rahmen des verübten Anschlags. Im Gegensatz zu so genannten postmodernen Identitätstheorien, die vom „Niedergang des Subjekts" bzw. vom „Zerfall des Selbst" (Straub 1991, S. 49) ausgehen, vermittelt Nadine eine für autobiographische Gedächtnisromane kennzeichnende Vorstellung eines sich selbst verfügbaren Ichs, das seine Erfahrungen sinnhaft zu bündeln vermag. Diesen Glauben an die Selbstverfügbarkeit und die damit verbundene Annahme einer an sich bedeutungsvollen Identitätsentwicklung bringt Nadine mit der Phrase „waiting to become myself' (S. 72) auf den Punkt. Dieses konventionelle Identitätskonzept unterstellt eine abschließende Findung — nicht Erfindung — der Identität, die auch durch die geschlossene Struktur der Erzählung suggeriert wird. Die für den autobiographischen Gedächtnisroman kennzeichnende formale Geschlossenheit wird im autobiographischen Erinnerungsroman zunehmend fragwürdig und zugunsten eines offenen Endes abgelöst, das die Instabilität des Sinnstiftungsprozesses indiziert. Der unterstellten, teleologischen Sinnhaftigkeit und der damit assoziierten Entschlüsselbarkeit von Nadines Identitätsentwicklung werden auch durch rekurrente, sich leitmotivisch durch ihre Autobiographie ziehende Referenzen auf das Sternensystem zur Anschaulichkeit verholfen: „,Suppose the universe has a code. Suppose the maps we make of the sky are the maps of our own psyches, and the constellations in fact the ancient countries of the heart.'" (S. 175) Der Vergleich zwischen der Konstruktion von astrophysikalischen und psychisch-kognitiven Landkarten verweist zum einen auf die Suche nach einer universalen Wahrheit, die allen Seins formen zugrunde liegt und die angesichts der an sich bedeutungsvollen Qualität des Universums auch erfolgversprechend scheint. In dieser Hinsicht ist Nadines Beruf als Astrophysikerin letztlich wenig anderes als individuelle Identitätsarbeit. Zum anderen legt der Vergleich auch eine Parallelisierung zwischen der individuellen Psyche bzw. Emotionalität („the ancient countries of the heart") und den astronomischen Konstellationen nahe und evoziert damit den Eindruck eines vorgegebenen, natürlichen Entwicklungsmotivs. Die Herausbildung bzw. die Konfiguration des Sternensystems wird zum Sinnbild für die Entwicklung von Nadines Identität. Auch diese naturalisierende Metapher trägt mithin dazu bei, die Plausibilität, ja die unausweichliche Zwangsläufigkeit von Nadines Lebensgeschichte zu unterstreichen. Die Parallele zwischen der Suche nach der individuellen Geschichte und der Erkundung des planetarischen Systems erhält durch die Modalitäten eines von Nadine und Miller initiierten Forschungsvorhabens zusätzliches Gewicht. Gemein-
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sam arbeiten die beiden an einem astrophysikalischen Projekt, in dem es um die Rekonstruktion eines vor Millionen Jahren zerstörten Planeten geht, eines „missing tooth in the planetary smile" (S. 238): „For Miller this is science, the discovery of the real; for me it is an exercise in nostalgia, a continuation of the childhood fantasy of a perfect kingdom" (ebd.). Die Suche nach dem zerstörten Planeten gleicht für Nadine der nostalgischen Suche nach der verlorenen Zeit ihrer Kindheit — ein Unterfangen, das durch zahlreiche intertextuelle Verweise auf Prousts Romane evoziert und vor allem durch die Darstellung der Geschichte ihrer Eltern (vgl. S. 45) realisiert wird. Nadines Projekt, dessen Vollendung mit dem Schlusspunkt ihrer Autobiographie korreliert, kulminiert in der Entfaltung bzw. Freisetzung ihres eigentlichen Selbst. So stellt die Erzählerin fest: ,,[M]y soul has torn free and is flying through the universe like a runaway star" (S. 290). Die Auseinandersetzung mit ihrer Vergangenheit ermöglicht der Erzählerin, den zerstörten Stern zu rekonstituieren und so die Stabilität ihres Selbst sicherzustellen. Diese metaphorisch inszenierte Realisierung ihrer eigentlichen Bestimmung, die den Höhepunkt ihrer Entwicklung markiert, wird auch durch die Bezeichnung von Miller als ihrem „twin star" (S. 8) akzentuiert. Die Metapher des planetarischen Systems leistet in Cohens Gedächtnisroman einen zentralen Beitrag dazu, Nadines Identitätsbildung qua Naturalisierung teleologisch zu plausibilisieren. Sie wird damit zu einem wirkungsvollen Darstellungsmittel, um die Zwangsläufigkeit der autobiographischen Gedächtnisnarration zu gewährleisten und die „Vorstellung einer naturhaften Faktizität des Vergangenen [zu] evozieren" (Brockmeier 1999, S. 32). Der für die retrospektive Sinnstiftung maßgebliche Versuch, das erinnerte Ich auf das erinnernde Ich zuzuführen und damit die Kontinuität der Identität zu generieren, wird in Nadine außerdem durch das für autobiographische Gedächtnisromane kennzeichnende Zusammenspiel von interner und externer Fokalisierung inszeniert. So erschließt Nadine solche vergangenen Ereignisse, die eine hohe Emotionalität besitzen und sich damit als psychologisch besonders bedeutsam erweisen, aus der Perspektive ihres vergangenen, erlebenden Ichs, also durch interne Fokalisierung. Exemplarisch schlägt sich diese Art der Fokalisierung des Vergangenen in der Darstellung von Nadines Reaktion auf den Plan Leonies nieder, sie solle nach Kanada emigrieren und dort bei einer Pflegefamilie leben: „While I absorbed this news, Leonie and Henry Brimmer watched me across the kitchen table. I felt a sudden emptiness beginning to grow in my stomach, an emptiness that quickly turned into panic. [...] My panic increased. Nothing had been said about Leonie in the letter" (S. 61). Interne Fokalisierung bringt field memories zur Darstellung, also solche Erinnerungen, die das Vergangene scheinbar aus den Augen von Nadines erlebendem, emotional involviertem Ich .wieder aufleben lassen*. Mit ihrem Akzent auf sinnlichen Eindrücken führen sie die Spezifität des subjektiven Erlebens vor Augen und inszenieren die anhaltende Virulenz der vergangenen Erfahrungen. Field memories sind daher besonders geeignet, um zu einem Verständnis für vergangene Erfahrungsweisen zu gelangen und diese in der erinnernden Rückschau emotional nachvollziehbar zu machen. Da sie das Vergangene schein-
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bar detailgenau und lebhaft wiedergeben, leisten sie außerdem einen substantiellen Beitrag dazu, die Authentizität des Erinnerten zu akzentuieren: Mit Blick auf die Mimesis der Erinnerungen rufen field memories einen für autobiographische Gedächtnisromane konstitutiven ,Glaubwürdigkeitseffekt' hervor. 220 Potenziert wird der Glaubwürdigkeitseffekt durch Nadines gelegentliche Verwendung des Präsens. Besonders eindrücklich gelangt das textuelle Wirkungspotential dieses Darstellungsverfahrens im Zuge von Nadines szenischer Schilderung des von ihr verhinderten Attentats zur Anschauung: „I am already in motion, twisting around Haidasz's hand, watching it clutch at air as I dash forward. I am running towards the grenade, unsure what to do — only something — and then I am arriving. I hear Miller behind me. He is shouting my name but I am aware only of the grenade." (S. 280) Das erzählende Ich tritt hier völlig hinter das erlebende Ich zurück, wodurch die Vermitteltheit des Erinnerten verschleiert wird. Das Präsens sowie die kurze, hastige Syntax suggerieren den Eindruck einer Immersion in das zurückliegende Ereignis und verleihen so Nadines andauernder, emotionaler Involviertheit Ausdruck: Auch in der erinnernden Rückschau scheint sie von dem Ereignis derart absorbiert zu sein, dass ihr eine distanzierte und reflektierte Auseinandersetzung nicht möglich ist. Es sind insbesondere solche lebhaften, szenisch dargestellten Erinnerungen, die vergangene Emotionen scheinbar unbeeinträchtig von nachfolgenden Einsichten wiedergeben, die das Verständnis für die Besonderheiten der zurückliegenden Erfahrungsrealität maßgeblich vorantreiben und damit die Stabilisierung der Identität sicherstellen. Interne Fokalisierung alleine stellt keine hinreichende Bedingung für den Sinnstiftungsprozess dar, reaktualisiert dieser Erinnerungsmodus doch Vergangenes ausschließlich aus der Perspektive des erlebenden Ichs; nachfolgende Erkenntnisse schlagen sich nicht in der Vergangenheitsaneignung nieder. Soll vergangenen Erfahrungen Bedeutung zugeschrieben und sollen sie an die Gegenwart angebunden werden, so müssen sie auch extern, also aus der Perspektive des erzählenden Ichs fokalisiert werden. Nadines Gedächtniserzählung zeichnet sich durch punktuelle Ubergänge von interner zu externer Fokalisierung aus. Insbesondere solche Erlebnisse, die ihr zum Zeitpunkt ihres kindlichen und adoleszenten Erlebens schwer verständlich erscheinen, perspektiviert sie aus der Warte ihres gegenwärtigen, gereiften Erfahrungshorizonts, d.h. „with the clarity of hindsight" (S. 243). Besonders deutlich wird das Leistungsspektrum der externen Fokalisierung an Nadines rückblickender Darstellung ihres Verhältnisses zu ihrem Halbonkel Piakowski und ihrer gemeinsamen Drogenexzesse: Piakowski was well supplied with opium. This he smoked in pipes that I shared with him. With the first puff I was plunged into a weird aqueous world of dreams [...]. At the time I wrote it all off to experience, to love [...]. Then I began to wonder if the love was less than love, if the experience was more than an experience 220 Der Begriff ist naturlich in Analogie zu Barthes' Konzept des e f f c t dt rttl (1984) konzipiert und bezeichnet den spezifischen Realitätseffekt von Gedächtnisinszenierungen.
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a book read or a strange country visited. First I progressed to the idea that it was something that was making me; and then eventually I understood that it wasn't .something outside' of me that was happening to me [...] - it was my life itself, the absolute innermost part of me that had been in hiding every [sic] since Leonie whisked me away to the outskirts of Paris [...]. Drugged, lost in old childhood nightmares, touching Piakowski [...] I felt as though I was the anvil and Piakowski the hammer of history collapsing impotently on top of me. (S. 98f.) Die spezifische Leistung von externer Fokalisierung und des durch sie erzeugten Effekts von observer memories für den Sinnstiftungsakt scheinen darin zu liegen, dass vergangene Erfahrungen nicht nur reaktualisiert, sondern mit einer Bedeutung aufgeladen werden, die sich aus nachfolgenden Erkenntnissen ergibt. Nadines Erinnerung, sich wie ein Amboss gefühlt zu haben, auf den Piakowski gleich .einem Hammer der Geschichte' einschlägt, kann nicht ihrer damaligen Erlebensweise entspringen, denn sie wird sich erst zu einem späteren Zeitpunkt darüber bewusst, dass ihre Beziehung zu ihrem Halbonkel auch ihrer spezifischen Geschichte als verwaiste Jüdin geschuldet ist. Observer memories synthetisieren vergangene Erfahrungen mit gegenwärtigen Einsichten des sinnstiftenden Ichs und leisten damit einen wesentlichen Beitrag zur biographischen Kontinuitätsstiftung. Der Glaubwürdigkeitseffekt von Nadines Gedächtniserzählung wird zudem durch ein breites Spektrum intertextueller bzw. -medialer Referenzen auf verschiedenartige Gedächtnismedien, wie Briefe, Zeitungsausschnitte und Photographien hervorgerufen. Wieder und wieder macht Nadine während ihres Schreibprozesses auf die Medien aufmerksam, derer sie sich zur Rückversicherung und Komplettierung ihrer individuellen Erinnerungen bedient: „Afterwards, sorting through the papers, I found a letter written by my father, addressed to me." (S. 260) Die schon durch das Verfahren der Intertextualität evozierte Absicherung ihrer individuellen Erinnerungen wird durch die Integration von einigen Briefen gesteigert. Ein Brief von ihrer Tante Leonie etwa, in dem sie die für Nadine folgenschwere Entscheidung mitteilt, nicht nach Kanada zu ziehen, bestätigt die bereits von Nadine zuvor elaborierten Erinnerungen. Nadines Gedächtnisversion erfährt auf diese Weise eine intersubjektive Validierung. Ihre Glaubwürdigkeit als erinnernde Figur wird damit wirkungsvoll akzentuiert. So liegt die .Objektivität' von Erinnerungen ja in erster Linie in ihrer interaktiven Bestätigung, denn erst geteilte Erinnerungen schaffen eine geteilte soziale Realität. Die für den autobiographischen Gedächtnisroman konstitutive Authentisierung des Erinnerten wird in Nadine schließlich auch durch Nadines gelegentliche Beteuerungen der Zuverlässigkeit ihres Erinnerungsvermögens gewährleistet (vgl. Löschnigg 1999). Vor allem mit emphatischen Bekräftigungen ihrer Gedächtnisleistung durch Phrasen wie ,1 remember exactly' nimmt die Erzählerin in Anspruch, sich zutreffend und vollständig auch an zeitlich weit zurückliegende Ereignisse erinnern zu können. Nicht selten liefern diese eingeschobenen Verweise Explikationen für die Detailgenauigkeit ihrer Vergangenheitsrekonstruktion, die streng genommen ein fast vollkommenes Erinnerungsvermögen der Erzählerin voraussetzen: „It was four A.M. I know this because Piakowski's question was
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followed by the chiming o f an absurd cuckoo clock which he had beside his chair." (S. 100) Nadines Spezifizierung der konkreten Modalitäten ihrer Erinnerungsfähigkeit intendiert, potentielle Zweifel an der korrekten Wiedergabe des Vergangenen zu zerstreuen, die bei einer allzu großen Detailgenauigkeit rezipientenseitig leicht aufkommen können. Aber selbst solche Reflexionen, die die prinzipielle UnZuverlässigkeit von Erinnerungen oder Schwierigkeiten beim Erinnerungsabruf problematisieren, zielen nicht darauf ab, die Faktizität des Dargestellten in Frage zu stellen. I m Kontext der bereits besprochenen strukturellen und formalen Spezifika von Nadines Gedächtniserzählung - wie interne Fokalisierung, minutiöse Beschreibungen, Intertextualität und geschlossene Form - fungieren sie vielmehr als Authentisierungs- bzw. .Inokulationsstrategie', gehören doch kleinere Gedächtnislücken konstitutiv zur menschlichen
Erinnerung.
Exemplarisch
tritt dieses
Authentisierungspotential
anhand von Nadines Darstellung ihrer Reaktion auf Janis' Mitteilung, ein Kind von John zu erwarten, und ihrer nachfolgenden Reflexionen zutage: I felt as though she [Janis] was appealing to me, that her appeal was one even more abject and total than the one I'd made the night I'd knelt before John's chair. [...] Whether I had these reactions at the time or in retrospect is impossible to say; after all, the psychologists tell us that, like Stalin, we are continually reconstructing the past. But whatever psychologists say, I have now, and have had for many years, what is like a photograph in my mind. My eyes are the camera. In the foreground are my own hands and the thick white porcelain mug in which I always drank my coffee; these are not in sharp focus, but they make the bridge over which I am staring - and in the place of the troubled waters is Janis. (S. 172) Im Anschluss an die detaillierte Rekonstruktion ihrer vergangenen Emotionalität gesteht die Erzählerin selbstreflexiv und unter Rückriff auf gedächtnispsychologische Einsichten ein, dass die mnemonische Detailgenauigkeit durchaus trügerisch sein könne. Ihre Analogie zwischen der Funktionsweise bzw. der Organisation von individuellen Erinnerungen und der eines totalitären Regimes erinnert an das Konzept des ,totalarian ego', das von dem Gedächtnispsychologen Anthony Greenwald (1980) entworfen wurde: Die erinnernde Person gleicht den Machtinhabern von totalitären Regimes, die das Vergangene gemäß aktueller Sinnbedürfnisse und Handlungsanforderungen fortwährend umschreiben. 221 Dieses gewichtige Argument gegen die Glaubwürdigkeit von Erinnerungen wird im vorliegenden Kontext allerdings vornehmlich in der Absicht angeführt, um es nachfolgend zu desavouieren (,,[b]ut whatever psychologists say"). Mit ihrem Verweis auf die ephemere und unzuverlässige Qualität von Erinnerungen macht die Erzählerin kenntlich, dass sie sich über die Besonderheiten von Gedächtnisleistungen durchaus bewusst ist. Dieses selbstreflexive Eingeständnis schafft die Voraussetzung dafür, die Authentizität ihres Gedächtnisakts umso wirkungsvoller reklamieren zu können. Intensiviert wird dieser Glaubwürdigkeitseffekt durch intermediale Referenzen auf das Vgl. dazu ausführlich Kap. II.1.2 dieser Arbeit.
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Medium der Photographie. So spricht sich die Erzählerin die Gabe eines photographischen Gedächtnisses zu, das die dauerhafte Speicherkapazität von externalisierten Gedächtnismedien aufweist. Die Betonung der prinzipiellen Fehlbarkeit von Erinnerungen schmälert den Authentizitätsanspruch von Nadines Narration daher nicht, sondern bekräftigt diese im Sinne einer Inokulation (vgl. McGuire 1964) und nimmt sie vor potentiellen Zweifeln in Schutz. 2 2 2 In Nadines fiktionaler Autobiographie wirken interne Fokalisierung, detaillierte Beschreibungen von vergangenen Orten und Zeiten, intertextuelle Referenzen sowie metamnemonische Spezifikationen der individuellen Erinnerungsfähigkeit zusammen, um die Realitätsfiktion ihrer Gedächtnisnarration sicherzustellen. Diese Konzeptualisierung des autobiographischen Gedächtnisses als eine relativ zuverlässige Instanz für die Reaktualisierung der individuellen Erfahrungswirklichkeit erscheint als Voraussetzung für eine sinnstiftende Aneignung ihrer Erfahrungen und ermöglicht damit erst die Stabilisierung von Identität. Die durch Gedächtnisakte vermittelte Kontinuität wird durch die Syntheseleistungen von Narrationen stabilisiert. Mittels narrativer Glättungen, einer retrospektiv generierten Teleologie und externer Fokalisierung gelingt es Nadine, selbst prekäre Erfahrungen ihrer Vergangenheit in eine signifikante und plausibilisierende Beziehung zu ihrer Gegenwart zu setzen und auf diese Weise die Geschlossenheit und Einheit ihres ganzen Lebens herzustellen. Individuelle Gedächtnis- und Narrativierungsakte werden in mithin als Sinnstiftungsinstanz
par excellence
Nadine
ausgewiesen, die die Kohärenz und
Kontinuität der individuellen Identität verbürgen. Mit der Inszenierung einer gelungenen, narrativen Identitätskonstitution nutzt Cohns autobiographischer Gedächtnisroman sein kulturökologisches Funktionspotential dazu, Modelle für die effektive Stiftung von biographischer Kontinuität und lebensweltlicher Kohärenz bereitzustellen. Individuelle Erfahrungen mögen problematisch, sogar hochgradig belastend sein, sie können jedoch durch das positive Leistungsspektrum von Gedächtnis- und Narrativierungsoperationen, durch die Konstruktion einer ,guten' Geschichte also, als notwendige und identitätsstiftende Elemente einer Lebensgeschichte ausgezeichnet werden. Wie vergangene Erfahrungen für die Konstitution einer stabilen und kohärenten Identität verfügbar gemacht werden und wie die ursprüngliche Kontingenz von prekären Erfahrungen reduziert werden kann, führt der literarisch inszenierte Narrativierungsprozess beispielhaft vor Augen. In dem Maße, in dem der Roman somit ein bereits verbürgtes Strukturierungsformat für die Deutung und Aneignung von Erfahrung zur Verfügung stellt, erfüllt er eine für autobiographische Gedächtnisromane typische Modellfunktion für die individuelle Erfahrungsverarbeitung. Cohns Roman kann
222 Gemäß der Inokulationstheorie werden Rezipientinnen durch die Darbietung von möglichen Gegenargumenten — in diesem Fall der Unmöglichkeit einer exakten Rekonstruktion von vergangenen Gegebenheiten — kognitiv .geimpft', also von der Falschheit bzw. nur bedingten Gültigkeit der Gegenposition überzeugt. Durch die vergrößerte Widerstandsfähigkeit gegenüber Kritik wird die ursprüngliche Sichtweise gestärkt.
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zum Ort des individuellen Gedächtnisses werden und im Prozess der individuellen Verarbeitung und Deutung von Vergangenheit zentrale Orientierungs- und Stabilisierungsfunktionen übernehmen.
1.2 Retrospektive Vollendung einer Lebensgeschichte in Terence Μ. Greens A Witness to Life (1999) Der Versuch, den individuellen Erfahrungen retrospektiv Sinn und Bedeutung zu verleihen und durch den Akt der narrativen Formgebung zu einem gesteigerten Verständnis für vergangene Widerfahrnisse, subjektive Verhaltens- und Empfindungsweisen zu gelangen, steht auch im Zentrum von Terence Μ. Greens autobiographischem Gedächtnisroman A Witness to Life. In der erinnernden Rückschau nähert sich der autodiegetische Erzähler Martin John Radey sukzessive seiner persönlichen Lebensgeschichte an und stiftet in der Narrativierung seiner zurückliegenden Erfahrungen die Kontinuität und Einheit seines ganzen Lebens. Die für den autobiographischen Gedächtnisroman typische gesicherte Endwarte, von der aus die eigene Geschichte .olympisch' überblickt wird, wird in A Witness to Life auf die Spitze getrieben: So ist der Erzähler Radey bereits seit einigen Jahren verstorben, als er seine persönliche Vergangenheit rückblickend reaktualisiert und das Gewordensein seiner individuellen Identität nachvollzieht. Radey war Zeit seines Lebens unfähig, sich den prekären Schichten seines Gedächtnisses anzunehmen. Die Implikationen dieser unrealistischen Erzählsituation sind gleichermaßen gedächtnistheoretischer wie religiös-normativer Art. So ist seine Vergangenheit zwar faktisch abgeschlossen, abschließen kann er allerdings erst mit ihr, nachdem er sich diese im und durch den Akt der Narration sinnstiftend zu Eigen gemacht und damit auch Verantwortung für sein vergangenes, oftmals problematisches Tun übernommen hat. Dass seine Erinnerungen ihn nach wie vor im Bann halten, verdeutlicht den engen Zusammenhang, der zwischen Erinnern, Verantwortung und Vergessen besteht. Erst nachdem Radey sich selbstkritisch mit seiner Geschichte auseinander gesetzt hat, verliert diese ihre quälende Omnipräsenz und kann vergessen werden, ein Prozess, der in dem endgültigen Seelenfrieden Radeys mündet. Martins höchst realistisch anmutende Darstellung seiner vergangenen Erfahrungsrealität stellt ein Gegenwicht zu den unrealistischen Begebenheiten der Rahmenerzählung dar. Das sinnstiftende Potential von der in A Witness to Life inszenierten Selbsterzählung basiert ähnlich wie in Cohens Roman Nadine auf detailgenauen Beschreibungen der vergangenen Realität, die es der Erzählinstanz erlauben, aus der Retrospektive Einsicht in ihre früheren, oftmals problematischen Erfahrungen zu gewinnen. Nicht nur die szenische Darstellung von solchen Erfahrungen, die eine signifikante Veränderung im Prozess der Identitätsbildung einleiten (vgl. Bai 1985, S. 73), leistet einen maßgeblichen Beitrag dazu, zurückliegende Verhaltensweisen nachvollziehbar zu machen und zu plausibilisieren. Auch die
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interne Fokalisierung von Vergangenem sowie die präsentische Vermittlungsweise ermöglichen es Radey, seine vergangene Erlebnisweise emotional nachzuempfinden und so zu einem gesteigerten Selbstverständnis zu gelangen. Der Eindruck einer regelrechten Immersion in die Vergangenheit wird nicht zuletzt dadurch evoziert, dass Martin über weite Strecken hinweg als Wahrnehmungszentrum, nicht als Vermittlungsinstanz in Erscheinung tritt. Aus seiner überlegenen kognitiven Position greift der Erzähler kaum vermittelnd in die Darstellung seiner vergangenen Erfahrungsweise ein. Auch durch diese Erzählstrategie scheint das Vergangene unmittelbar, von nachfolgenden Perspektivierungen unbeeinträchtigt zur Anschauung zu gelangen. Wenn der Sinnstiftungsakt in Λ Witness of Life trotz der scheinbar fehlenden Rückbindung des Vergangenen an die aktuelle Erinnerungssituation gelingt, so ist dies vor allem auf narrative Spezifika wie unifizierende Konzepte und Wendepunkte zurückzuführen. Wie auch die Interpretation von Cohens Roman Nadine gezeigt hat, verweisen diese strukturellen Besonderheiten implizit auf die übergeordnete Perspektive des erzählenden Ichs und sind folglich darauf abgestimmt, auf gegenwärtige Sinnbedürfnisse zu antworten. Auch in Λ Witness of Life tragen die chronologische Erschließung der vergangenen Erfahrungen sowie die Orientierung an Wendepunkten, die als sinnverdichtete Scheitelpunkte der Erzählung fungieren, dazu bei, der zurückliegenden Identitätsentwicklung eine sinnhafte Notwendigkeit zu unterstellen und sie in eine aneignungsfähige Form zu bringen. So schlägt die Erzählinstanz im erinnernden Rückblick einen Bogen von ihrer Geburt im Jahre 1880 über ihre Jugend und ihre zweimalige Heirat bis hin zu ihrem Tod im Jahre 1950 und bindet damit die Vergangenheit kontinuitätsstiftend an die Gegenwart an. Der bereits durch die kausalteleologische Vermittlung des Vergangenen suggerierten sinnhaften Intentionalität wird durch die für autobiographische Gedächtnisromane typische progressive Plotstruktur zusätzliches Gewicht verliehen. „My name is Martin John Radey. I was born in Elora, a village some sixty miles northwest of Toronto, in 1880. I have been dead [...] for thirty-four years. I accept what has happened to me, but I do not understand it. Perhaps acceptance is the beginning. Maybe understanding never comes." (S. 18) Mit diesen Angaben zu seinen faktischen Lebensdaten führt sich der autodiegetische Erzähler in seine Autobiographie ein und spezifiziert - auch das ist für den autobiographischen Gedächtnisroman typisch - den Anlass für seine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Er versucht sich das positive, einsichtstiftende Leistungsspektrum von Narrationen zu Nutze zu machen und zu einem tieferen Verständnis von seiner persönlichen Vergangenheit, zumal von seiner Familiengeschichte und seiner oftmals fragwürdigen Rolle als Vater zu gelangen. Es ist der Tod seiner ältesten Tochter Margaret, des letzten, noch am Leben gewesenen Familienmitglieds, der ihm sein Unverständnis für seine vergangenen Verhaltensweisen, seinen nachlässigen Umgang mit seinen Kindern erneut ins Bewusstsein ruft: „I understand very little anymore. Death has not taught me what I thought it might. [...] I know, suddenly,
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that there is not much more time." (S. 16) Dem Erzähler ist es bislang nicht gelungen, mit seiner Vergangenheit ins Reine zu kommen. Seine Vergangenheit scheint sich vielmehr durch eine andauernde Präsenz auszuzeichnen, mit der angesichts ihrer fehlenden narrativen Aufbereitung nicht abgeschlossen werden kann. Implizit wird somit deutlich, dass das heilende Leistungsspektrum von Narrationen auch darin besteht, durch die Stiftung von Bedeutung und Einsicht mit bestimmten, zumal prekären Erfahrungen abzuschließen, sie durchzuarbeiten und zu verarbeiten, und sie damit letztlich dem Vergessen anheim zu geben. Diese dynamische Wechselwirkung zwischen Erinnern und Vergessen bringt ein Zitat von Marquard (2000, S. 50f.) anschaulich zum Ausdruck: „Am effektivsten vergißt, wer durch Erinnern vergißt: indem er lebendigste Traditionen zur obsoleten Vergangenheit umerinnert". In diesem Sinne konzipiert meint Vergessen nicht das negative Gegenstück des Gedächtnisses, sondern eine positive, weil normalisierende Folge der narrativen Elaboration von vergangenen Begebenheiten (vgl. Weinrich 1997). Auch die Erzählung von Martin Radey ist damit auf eine spezifische Zukunft ausgerichtet. Seine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit beschreibt der Erzähler im Sinne einer Zeitreise; diese schafft die Voraussetzung dafür, das Vergangene erneut zu reaktualisieren bzw. wiederzuerleben: This is what happens, I thought: a new clarity, a new vantage point. [...] Time vanished. The past was here, to be felt, viewed, examined. I could see the old houses on McNab, the post office in Godfrey's shoe store on Metcalfe Street, the carpet factory, the old bridges across the Grand. [...] Through piercing avian eyes, above the earth, free, in death, I saw things and places I had forgotten [...]. (S. 18f.) Martin Radeys Verständnis von seiner Vergangenheitsexploration als einer mentalen Zeitreise, „exploding a rainbow of memories" (S. 19), erinnert an Tulvings (1999, S. 278) Definition des episodischen Gedächtnisses: Tulving zufolge erlaubt das episodische Gedächtnis einen Zugriff auf ein früheres Selbst, es ermöglicht das Wiedererleben von subjektiven Erfahrungsepisoden und beinhaltet eine Reise des sich erinnernden Ichs in und durch seine Vergangenheit, eine „mental travel through subjective time". Von seinem übergeordneten Standpunkt scheint der Erzähler seine Vergangenheit nicht nur in ihrer raumzeitlich kontextualisierten Totalität wahrzunehmen. Er scheint sie auch emotional und affektiv aus der Perspektive seines früheren Ichs wieder zu erleben und sich durch dieses autonoetische Bewusstsein aktiv in Relation zu seiner Umwelt zu setzen: ,,[M]emory is beyond time, traveling forward with me, forging lives out of life" (S. 240). Es ist vor allem diese detailgenaue Beschreibung der Operationsweise seines Gedächtnisses, die trotz des unrealistischen setting einen maßgeblichen Beitrag dazu leistet, rezipientenseitig einen Glaubwürdigkeitseffekt hervorzurufen. Nach diesen einleitenden Informationen zu den Modalitäten seiner Vergangenheitsrekonstruktion reaktualisiert der Erzähler in linearer Progression und mit großem Detailrealismus signifikante Erfahrungsepisoden, von denen er sich eine Antwort auf die Entwicklung seiner Identität erhofft. Es ist typisch für die im
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autobiographischen Gedächtnisroman inszenierte Suche nach den eigenen Ursprüngen, dass der Erzähler vor Beginn seiner eigenen, persönlichen Geschichte einen kurzen Abriss seiner Familienhistorie bis hin zu seiner Geburt präsentiert und seine Identität damit genealogisch verwurzelt: „Father and Mother were Irish Catholics. [...] They settled, along with several other families, in and around Guelph for their first decade, then finally in Elora [...]. We were all born there." (S. 20f.) Martin lässt seine eigene Geschichte im Toronto des Jahres 1898 beginnen, wo er als 18-Jähriger seiner ersten beruflichen Beschäftigung als kaufmännischer Angestellter nachgeht und seine erste große Liebe erfährt. Die von dem Erzähler beschriebene Funktionsweise seines episodischen Gedächtnisses, das zurückliegende Erfahrungen scheinbar unmittelbar, aus der Perspektive des früheren, emotional involvierten Ichs Wiederaufleben lässt (,,[t]he past was here, to be felt"), wird erzähltechnisch durch die präsentische Vermittlungsform sowie durch die interne Fokalisierung des Vergangenen umgesetzt. Die vermittelnde Erzählinstanz scheint vollständig hinter dem erlebenden, als Wahrnehmungszentrum fungierenden Ich zurückzutreten, so dass eine Gleichzeitigkeit von Erzählen und Erleben suggeriert wird: Lillian is nineteen, has soft black hair, small lips [...]. I can think o f nothing but her since we m e t at the St. Francis dance in the summer. [...] I plot and scheme to be alone with her, to touch her, to let her touch me. I know about sin, about honour, about being a gentleman, but these things evaporate when we are together, and I am only what I am. [...] W e make love. It is my first time, as it is Lillian's. I am thrilled, relieved, shaken, terrified. (S. 26f.)
Interne Fokalisierung, die detaillierte Wiedergabe seiner sinnlichen Eindrücke sowie die Verwendung des Präsens wirken zusammen, um den Eindruck einer authentischen Darstellung der Erfahrungsrealität zu evozieren. Sie führen zu einer dezidierten Subjektivierung des Vergangenen, die kennzeichnend für den autobiographischen Gedächtnisroman ist. Auch die sprachliche Gestaltung der Bewusstseinsvorgänge, die zahlreichen kurzen, stakkatoartigen Sätze, treiben die Subjektivierung bzw. Emotionalisierung des Dargestellten voran und akzentuieren die nachhaltige affektive Präsenz des Vergangenen (vgl. S. 202f.). Wie bereits ausführlich in der Analyse von Cohens autobiographischem Gedächtnisroman Nadine dargelegt, liegt das positive Leistungsspektrum von interner Fokalisierung für den Sinnstiftungsakt vor allem darin begründet, dass sie vergangene Empfindungs- und Erfahrungsweisen aus der Retrospektive nachvollziehbar macht. Sie ermöglicht es, rückblickend jene Bestände des autobiographischen Gedächtnisses zu erschließen und für die aktuelle Identitätsstiftung verfügbar zu machen, die den Kern des vergangenen Selbstverständnisses konstituieren. 223
223 Auch Schacter (2001, S. 326) stellt heraus, dass die „lebhaftesten Erinnerungen" in der Regel „sehr persönliche Erlebnisse mit hoher emotionaler Bedeutung" seien.
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Die durch die interne Fokalisierung inszenierte anhaltende emotionale Intensität seiner Liebesbeziehung lässt darauf schließen, dass diese auch für das aktuelle Selbstverständnis des Erzählers eine große Rolle spielt und er sich stark über zwischenmenschliche Beziehungen definiert. Diese These wird dadurch gestützt, dass die Darstellung seiner ersten Liebesbeziehung am Anfang seiner autobiographischen Gedächtnisnarration steht und ihr damit ein sehr prominenter Platz eingeräumt wird. Auch mit Blick auf die Gesamtheit seiner aktualisierten Erinnerungen fällt auf, dass Beziehungen durchgängig eine wichtige Rolle spielen, der Erzähler mithin über einen ausgeprägten sense of self-in-relatio ηship verfügt. Ebenso wie Nadine führt damit auch A Witness of Life vor Augen, dass sich autobiographische Erzählungen angesichts der Relationalität der individuellen Identitätskonstitution nur selten auf die Darstellung rein persönlicher Lebenserfahrungen beschränken, sie im Gegenteil auch das Leben von signifikanten Bezugspersonen berühren. So kreisen seine Erinnerungen immer wieder um seine erste Ehefrau Maggie, seine zweite Frau Gert und vor allem um seine Kinder Margaret, Jack und Joan. Wie seine Gedächtnisnarration sukzessive offen legt, quälen ihn rückblickend vor allem die Erinnerungen an sein bisweilen verantwortungsloses und emotional indifferentes Verhalten gegenüber seinen Kindern. Seine Erzählung stellt daher nicht nur einen Versuch dar, eine Antwort auf die Frage nach der Ursache für diese problematische Verhaltensweise, zumal für seine ausgeprägte - sich in der Metapher des reißenden Flusses konkretisierende — Passivität zu gewinnen: „I see myself swept along in a river, Jack and Margaret on the banks, their faces receeding into the past. I do not know how any of this has happened to me, where I slipped into the current, why I cannot climb out, where I will wash up." (S. 172f.) In dem Maße, in dem seine Selbsterzählung eine kritische Auseinandersetzung mit seinen vorgängigen Verhaltensweisen impliziert, ist sie vielmehr auch als Akt der Wiedergutmachung bzw. der Reue zu verstehen: „Oh Margaret. Oh Jack. I look at them both, see babies, then children, see everything good that I managed to spoil, and silently ask for their forgiveness." (S. 89) Das Verständnis seiner Erzählung als Wiedergutmachung vergangener Sünden wird durch die rekurrenten Referenzen auf den religiösen Diskurs, insbesondere auf das Konzept der Erlösung (vgl. S. 232) sowie des jüngsten Gerichts, gestützt: ,,[T]he Day of Judgement is ongoing, in constant session, and [...] we are not punished for our sins, but by them." (S. 34) Mit der in seiner Erzählung nachvollzogenen Vergangenheit scheint er folglich Rechenschaft über sein vorgängiges Verhalten abzulegen. Er wird — wie der Romantitel indiziert - zum .Zeugen seines Lebens'. A Witness of Life stellt damit nicht zuletzt die ethische Dimension, die sich mit der Erinnerung an Vergangenes, an eigene Verhaltensweisen, an andere Personen oder an Kollektivereignisse verbindet, heraus. So schafft erst — dies betonte bereits John Locke - die Erinnerung und die durch sie erzeugte .affizierende' Vergangenheit die Voraussetzung für die Übernahme von Verantwortung. Ebenso wie Cohens Roman Nadine zeichnet sich auch A Witness to Life durch eine relativ chronologische Zeitstruktur aus, die eine linear-progressive Entwicklung der individuellen Identität suggeriert und die die Fähigkeit der Erzählinstanz
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zur .Synthesis des Heterogenen' (Ricceur) betont. Es ist typisch für den autobiographischen Gedächtnisroman, dass Martin Radey die Vielfalt seiner Erfahrungen in einen diachron strukturierten Verweisungszusammenhang bringt, sie zu unifizierenden Lebenskonzepten bündelt, die auf kausal-lineare Weise auseinander hervorzugehen scheinen. Dieses Konfigurationsprinzip evoziert den Eindruck einer einheitlichen und an sich bedeutungshaften Identitätsentwicklung und dissimuliert den Konstruktcharakter der Selbsterzählung. Nach einem knappen Verweis auf seine Geburt im Jahre 1880 und einem Überblick über seine Kindheit in Elora bis hin zum Umzug nach Toronto elaboriert er in der erinnernden Rückschau sukzessive die Zeit von 1898, seinem 18. Lebensjahr, bis hin zu seinem Tod im Jahre 1950. Diese narrativ elaborierte Zeitspanne gliedert sich in etwa entlang der unifizierenden Konzepte Jugend und erste Liebe', ,Heirat mit Maggie', .Geburt seiner Kinder Margaret und Jack', ,Tod Maggies', .Heirat mit Gert', .Geburt seiner Tochter Joan', ,Tod Gerts' und schließlich dem eigenen Tod. Diese Konzepte korrelieren in A Witness ίο Life zwar nur bedingt mit den 21 Kapiteln des Romans. Da sie allerdings wiederholt thematisiert werden — in Prolepsen auf sie vorausgedeutet und in Analepsen auf sie zurückgegriffen wird — verknüpfen sie die Vielfalt heterogener Erfahrungen. Sie fungieren also als kohärenzstiftendes Organisationsprinzip bzw. als emotionale Kristallisationspunkte von Martins Selbstnarration. Die einzelnen Kapitel umreißen sehr unterschiedlich lange Zeitperioden, in denen sich in einem engen Bedeutungszusammenhang stehende Ereignisse zutragen. Während einzelne Kapitel in sequentiell verdichteter Form etwa die sich über zwei Jahre erstreckende Entwicklung seiner Beziehung zu Maggie bis hin zu ihrer Hochzeit rekonstruieren (Seven: 1907-9), geben andere Kapitel die Ereignisse eines einzelnen, besonders herausragenden Tages — wie etwa Martins Geburtstag (Five: Wednesday, June 15, 1904) oder den verheerenden Flächenbrand in Toronto (Four: Tuesday, April 19, 1904) - wieder. Als Ordnungs- und Strukturierungsprinzip der einzelnen Kapitel fungiert also nicht nur die faktische Chronologie verschiedener Ereignisse und Widerfahrnisse, sondern auch deren emotionale, aus individuellen Relevanzkriterien resultierende Bedeutsamkeit. Auffällig ist in diesem Zusammenhang, dass vor allem solche Erfahrungen, die von dem Erzähler als Wendepunkte visualisiert werden und die eine Veränderung in seinem Selbstbild initiieren, zumeist szenisch dargestellt werden, in diesem Fall also ein Kapitel mit einem Tag oder einem Monat korreliert.224 Die Besonderheiten der Zeitstruktur zeigen, dass das Gedächtnis nicht gleich einem Speicher funktioniert, der Erlebnisdaten ungeachtet ihrer Bedeutsamkeit registriert. Es operiert vielmehr selektiv und schematisiert Erfahrungen gemäß ihrer subjektiv zugesprochenen Identitätsrele224 Vgl. zum Zusammenhang zwischen Wendepunkten und Zeitdeckung auch Bai (1985, S. 73), die betont: „The so-called .dramatic climaxes' — events which have a strong influence on the course of the fabula — the turning-points, moments at which a situation changes, a line is broken, such events are presented in scenes, while insignificant events — insignificant in the sense that they do not gready influence the course of the fabula — are quickly summarized."
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vanz. Implizit verweisen die Unterschiede in Hinsicht auf die Dauer der rekonstruierten Ereignisse damit zugleich auf die Perspektive des sich erinnernden Ichs und seine aktuellen Sinnbedürfnisse. Deutlich wird damit einmal mehr, dass Gedächtnisnarrationen mit ungleichzeitigen bzw. kopräsenten zeitlichen Perspektiven operieren und die Position des erzählenden Ichs - seine Fragestellungen und Sinnanforderungen - sich implizit in der Selektion und Konfiguration der rekonstruierten Erfahrungen niederschlägt. Martin Radey strukturiert seine Lebensgeschichte entlang von narrativen Wendepunkten, denen er aus seiner übergeordneten, von dem .Gang der Dinge' wissenden Perspektive eine herausragende Bedeutung zuschreibt. Diese narrativen Wendepunkte dienen als Scheitelpunkte seiner autobiographischen Erzählung; sie markieren den Übergang von einem Entwicklungsabschnitt zum nächsten und machen auf diese Weise identitäre Veränderungen, einschneidende Entscheidungen und Transformationen retrospektiv plausibel. Durch solche Gelenkstellen gewinnen die einzelnen Lebensphasen den für den autobiographischen Gedächtnisroman typischen Anschein einer inneren Abgeschlossenheit. Dies zeigt etwa Martins Darstellung seiner ersten sexuellen Erfahrung, die er zugleich als Endpunkt seiner Jugend visualisiert: ,,[S]exually exhausted, clothes disheveled, Lillian and I lie entangled side by side. [...] Then I drop my hand from my brow, close my eyes, and through sun-spotted lids I see that my boyhood is gone forever." (S. 30) Die durch diesen Mechanismus erzeugte strukturelle Kohärenz ermöglicht es dem Erzähler, sich seine vergangenen Erfahrungen sinnstiftend anzueignen und ein Gefühl von biographischer Kontinuität zu schaffen. Auch die Darstellung seiner folgenden identitätsrelevanten Erfahrungen orientiert sich an solchen Wendepunkten, in denen sich die einsichtstiftende .Quintessenz' von bestimmten Lebensperioden konkretisiert und die in einen .Moment des Erwachens' (Bruner 1993) münden. Der sich im Jahre 1904 zutragende Großbrand, der einen Großteil der Downtown Torontos zerstört, 225 seine Hochzeit mit Maggie und die Geburt ihrer gemeinsamen Kinder Margaret und Jack, aber vor allem der frühe Tod Maggies stellen Knotenpunkte seiner autobiographischen Erzählung dar. Wie an der Darstellung des Verlusts von Maggie deutlich wird, bedeuten sie eine starke emotionale Inanspruchnahme des Protagonisten, die seine Sinnstiftungsbemühungen kondensiert: „I am empty inside. I need more than Jack and Margaret. The space, dark, and deep, has not always been there. This is new. I am alone, for the first time ever." (S. 160) Formal werden diese Wendepunkte in A Witness of Life typischerweise durch szenisches Erzählen markiert, ein Darstellungsverfahren, das es dem erinnernden Ich erlaubt, die außerordentliche, identitätsprägende Bedeutsamkeit dieser Erfahrungen zu akzentuieren und deren Implikationen retrospektiv nachzuempfinden. Begreifbar wird das Wirkungspotential dieser Strategie an der Darstellung von Maggies Tod: 225 Vgl. hierzu die folgende Bemerkung: „Things will never be the same. [....] I am changed. W e are changed." (S. 42)
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It is a dream, a bad dream, beyond imagining. I am out of body as I crouch down beside her where she has slumped on the bathroom floor. I must be somewhere else, I think, as I hear myself shouting her name. Margaret is beside me, her hands covering her mouth, her eyes wide. [...] The tap is still running. Even squeezing her, holding her, I cannot make her talk to me. Maggie! I shout. What happened? What happened? Her skin beneath my fingers is white, like chalk. (S. 144) D e r Mentalstil, d.h. die kurze, hastige Syntax, die Beschreibung seiner visuellen, auditiven und taktilen Eindrücke sowie die gehäuften Fragen veranschaulichen, in welchem Maße sich Martin von diesem Ereignis herausgefordert fühlt. Bedeutet dieses dramatische Ereignis für das erlebende Ich einen Bruch in seinem Kontinuitätsgefühl, so ermöglicht dessen lebhafte und minutiöse Rekonstruktion dem erzählenden Ich eine plausibilisierende Aneignung des Vergangenen und leistet damit einen wesentlichen Beitrag zur Uberwindung der damals empfundenen Diskontinuität. Die eminente Bedeutung von Maggies T o d und der sich hieraus ergebenden alleinigen Verantwortung für seine Kinder scheinen sich rückblickend daraus zu ergeben, dass es dem erlebenden Ich nicht gelang, diese Lebenskrise erfolgreich zu bewältigen. So empfindet Martin wiederholt eine extreme Distanz zu seinen Kindern und fühlt sich von der Aufgabe, sich fortan alleine um sie zu kümmern, hoffnungslos überfordert: [Margaret] has assumed the role of housekeeper and family cook. I would be lost without her. Jack resents my absence. I can see it in his eyes. He misses his mother in a way that makes me feel responsible, and he seldom talks to me. [...] [I]t was my mother who saw to it [...] that the little things were remembered and dealt with. Only now they don't seem so little anymore. Now I am mother and father. They are huge. They are swallowing me. (S. 155-7) Es ist die verhinderte Intentionalität seiner Handlungen und das Scheitern an diesem ,critical life event' (vgl. Filipp 1995 [1981]), aus denen sich die Signifikanz dieser Lebensphase für seine Selbstdefinition ableitet. Seine Hilflosigkeit und vor allem sein Egoismus halten ihn davon ab, sich stärker für die Erziehung seiner Kinder zu engagieren: „I cannot stop myself. I deserve a life, I think." (S. 168) Als er nur kurz nach dem T o d seiner ersten Frau vornehmlich aus Unfähigkeit, mit seiner Einsamkeit umzugehen, eine Beziehung mit der jungen Gert aufbaut, sie wenig später heiratet, scheinen seine Kinder fast gänzlich in Vergessenheit geraten zu sein. Obgleich er sich der Tragweite seiner Nachlässigkeit durchaus bewusst ist, 2 2 6 ist er nicht zuletzt aus Angst, den erhofften Neuanfang mit Gert und ihrer gemeinsamen Tochter Joan zu gefährden, unfähig, sein Verhaltensmuster zu durchbrechen (vgl. S. 179). War es Radey damals unmöglich, Verantwortung für seine Kinder zu übernehmen, so setzt er sich durch seinen Erzählakt in einen aktiven und kritischen Bezug zu seiner Vergangenheit. Das spezifische Leistungsver226 Vgl. in diesem Zusammenhang folgende Einsicht: „My life has become what I never dreamed it could become. I am becoming what I never dreamed I would become." (S. 168)
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mögen seiner Erinnerungserzählung liegt daher auch darin, dass diese eine retrospektive Kompensation vergangener Fehltaten ermöglicht. Es ist erst der plötzliche Tod seiner zweiten Frau Gert und die damit gewonnene Gewissheit, nunmehr alleine für ihre gemeinsame Tochter Joan sorgen zu müssen, die ihn zu einer kritischen Hinterfragung seiner vorgängigen Verhaltensweisen veranlassen: ,,[S]uddenly, [Joan] is all that I have. My life with Jack and Margaret is over. Gone. I can never get it back. I can never undo my neglect, my selfishness. I was unwilling to pay the price for parenting." (S. 203) Trotz der Tragweite dieses Ereignisses hat der Tod Gerts folglich einen Moment der Einsicht zur Folge, denn es bringt Martin seine Verantwortung als Vater zu Bewusstsein und mündet in der schlagartigen Einsicht, seine Kinder aus erster Ehe, Margaret und Jack, schmerzlich vernachlässigt zu haben. Diese Einsicht stellt eine Klimax in seiner autobiographischen Erzählung dar: Sie leitet eine prägnante Zäsur ein und markiert die Überwindung seiner emotionalen Indifferenz. Es ist kennzeichnend für die im autobiographischen Gedächtnisroman inszenierte Sinnstiftung, dass die herausfordernde Komplikation retrospektiv als Moment der Einsicht gedeutet wird und somit selbst ein so folgenreiches Ereignis wie der Tod eines nahe stehenden Menschen für die Orientierungsbildung nutzbar gemacht werden kann. Die bereits durch die linear-kausale Chronologie suggerierte Sinnhaftigkeit von Martins Lebensgeschichte wird durch die progressive Plotstruktur von A Witness of Life unterstrichen. Die durch den Tod seiner zweiten Frau Gert ausgelöste Einsicht, sich fortan verantwortungsvoller für seine Kinder zu sorgen, initiiert eine Verhaltensmodifikation. Er kümmert sich nunmehr aktiv um die Erziehung seiner Tochter Joan, bemüht sich um den Aufbau einer Beziehung zu Margaret sowie um die Suche nach seinem verschollenen Sohn Jack. Seinem Identitätswandel verleiht er durch seinen Entschluss, eine Reise, bezeichnenderweise in das Kloster Gethsemani in Kentucky, zu unternehmen, deutlichen Ausdruck: „Gethsemani, I think. I know the name from the Bible: the garden where Christ went to pray before He was crucified. Somewhere in Kentucky." (S. 227) Vor allem das Aufsuchen einer christlichen Stätte unterstreicht den eingeleiteten Entwicklungsprozess: So nimmt er Distanz zu seinem frühren Selbst und bemüht sich - wie sein Verweis auf Christus nahe legt - um identitäre .Erneuerung', um die Schaffung eines neuen Lebenssinns. Die in dem Kloster stattfindenden Gespräche mit einem Mönch über die Grundkonzepte der christlichen Theologie stellen die symbolische Klimax seiner spirituellen Erkenntnisbildung dar, ein moralisches „denouement" (S. 208), das ihn in seiner Verhaltensänderung bestärkt und ihn dauerhaft prägt. Konkret manifestiert sich diese Identitätsveränderung, sein nunmehriges „giving of s e l f (S. 232), in seinem Verhältnis zu seinen Kindern. Zwar bleibt die Suche nach Jack erfolglos, allerdings gelingt es ihm, eine emotional innige Bindung zu seinen Töchtern aufzubauen. Sein autobiographischer Rückblick schließt (auf der Ebene des erlebenden Ichs) mit der Darstellung seiner von Vertrauen geprägten Interaktionen mit Joan, die - unmittelbar vor seinem Tod - den positiven Endpunkt seiner beschriebenen Identitätsentwicklung markieren:
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.Thank you,' [Joan] says, and squeezes my hand. The words, with her face radiant, are a gift, all that I want. Joan is my second chance and I have not failed. There will be no further losses. I smile back, for me a rare smile, dance foolishly to the music, sway, and when it is over I surprise myself when I kiss her on the forehead, my heart thudding, and see that she is still, gloriously, smiling back at me. (S. 235f.) Die progressive Struktur seiner Erzählung — also die Transformation eines prekären Ausgangspunkts (Martins mangelnde Verantwortung für seine Kinder) in einen positiven Kulminationspunkt (seine innige Beziehung zu Joan) — unterstreicht die für den autobiographischen Gedächtnisroman konstitutive Annahme einer bedeutungsvollen, auf die Verwirklichung eines moralischen Ziels ausgerichteten Identitätsentwicklung. Iii Λ Witness o f U f e wird dieser sinnhaften Intentionalität durch die deutlich normativen Referenzen auf den Diskurs der Religion, zumal der Eschatologie besonderes Gewicht verliehen. Die Besonderheiten der Plotstruktur und das geschlossene, sich durch die Klärung aller wesentlichen Konflikte auszeichnende Ende stellen die Fähigkeit des Erzählers zur narrativen Sinnstiftung unter Beweis. Es ist der narrativen Syntheseleistung zu verdanken, dass seine Identität retrospektiv als das Resultat einer chronologisch-linearen Entwicklung erscheint. Im und durch den narrativen Modus stattet der Erzähler seine Erfahrungsrealität mit nahezu zwangsläufiger Notwendigkeit aus. Martins detailreicher Erinnerungsprozess wird nur selten von Reflexionen und Kommentaren, die auf seine gegenwärtige, kognitiv überlegene Warte verweisen, unterbrochen. Auch diese - noch deutlicher als in Nadine — profilierte Vergangenheitsbezogenheit der Narration veranschaulicht, in welchem Maße seine Identität auf seinen Erinnerungen beruht. Seine gegenwärtige Identität konstituiert sich aus der Summe seiner vergangenen, nunmehr sinnstiftend aufbereiteten Erfahrungen. Wenn Martins Sinnstiftungsversuch trotz der scheinbar fehlenden Rückbindungen erfolgreich ist, so liegt dies vor allem daran, dass sich seine gegenwärtige Perspektive implizit in der Auswahl und Deutung des Vergangenen manifestiert. Die strukturellen Besonderheiten seiner Erzählung wie unifizierende Konzepte, Wendepunkte und die Plotstruktur zeugen von einer retrospektiv generierten Teleologie, lassen sie sich doch nur aus einer die Vergangenheit in ihrer Gesamtheit überblickenden Warte konstruieren. In diesem Sinne verstanden beschreiben sie Martins Identitätsentwicklung nicht nur, sondern erklären und plausibilisieren sie, unterstellen ihr also ein Entwicklungsmotiv. Sie leisten einen substantiellen Beitrag zur Annäherung des erinnernden an das erinnerte Ich, die erfolgreicher Bedeutungsstiftung zugrunde liegt. Neben den aufgezeigten Besonderheiten der Makrostruktur tragen auch all jene, für Martins Gedächtnisnarration kennzeichnende Phänomene, die unter dem Stichwort ,Detailrealismus' subsumiert werden können, dazu bei, die sinnstiftende Aneignung des Vergangenen zu gewährleisten. Höchst detaillierte Beschreibungen von vergangenen Orten und Zeiten stellen die Realitätsfiktion von Martins Selbsterzählung sicher und ermöglichen es ihm, sich die prägenden Konstituenten seiner Vergangenheit in der erinnernden Rückschau kontinuitätsbildend zu Eigen zu machen: „At 10 A.M., on Saturday, October 6, 1923, I alight from the streetcar at
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the Queen-King-Roncesvalles-Lake Shore intersection with Jack who is twelve, Margaret, fourteen" (S. 130). Eine auffallige Konstante, die sich durch die Vergangenheitserzählung zieht, ist die ausfuhrliche Beschreibung des Raums sowie Martins intensives Raumerleben. Der Raum fungiert in Λ Witness to Life als Vermittler von vergangenen Zeiten (vgl. Hoffmann 1978, S. 356); im Sinne einer .Verräumlichung der Zeit' materialisieren sich in ihm signifikante Momente von Martins Autobiographie, oftmals sogar ganze Entwicklungsphasen. Der Raum wird von dem Erzähler als überdauernde, stabilitätsgewährende Dimension erfahren, der an seine identitätsrelevanten Erfahrungen und Interaktionen erinnert, ,,[t]ime and space and memory unrolled into one giant net" (S. 137). Einschneidende Erlebnisse werden von Martin oftmals in Form von „verräumlichten Korrelaten]" (Gymnich 2003, S. 44) memoriert: This is the old city, spared the fire o f '04. Across the street, at number 66, I see B r o w n Bros., Ltd., the stationers and bookbinders where I once interviewed for a job that I did not get. A t number 46, the Canada Life Building towers upward. It, too, has a place in my memory. Inside are the offices of Heam & Lamont, Barristers, Solicitors and Notaries, in r o o m 47, where I also have been turned d o w n for clerical work. (S. 57)
Die Beschreibung seiner Heimatstadt Toronto ist ein typisches Beispiel fur die Semantisierung der Raumdarstellung im autobiographischen Gedächtnisroman. Der Raum wird zum Träger von Martins vergangenen Erfahrungen und begründet damit dessen subjektives Gefühl der Kontinuität. Auf dieses positive Leistungsspektrum macht er aufmerksam, wenn er feststellt: „I begin to think [...] that perhaps I belong here. [...] I walk on. At Power Street, I stop: another memory." (S. 114) Räume scheinen nicht nur seine Erinnerungen zu verankern, sondern auch seine individuelle Identität. Akzentuiert wird die herausragende Bedeutung, die der Erzähler dem Raum für seine Identitätskonstitution zuspricht, schließlich dadurch, dass er seiner autobiographischen Erzählung neben einem Stammbaum eine Karte von Toronto voranstellt. So scheinen seine Genealogie und die Topographie Torontos im gleichen Maße die Verankerung und Stabilisierung seiner Identität zu begünstigen. Auch die extrem minutiöse Wiedergabe von determinierenden Bedingungen seiner vergangenen Erfahrungsrealität, wie alltäglichen Gegenständen, ihren Preisen, Modetrends, Speisen oder Zeitungsbereichten unterstützt seine kontinuitätsstiftende Vergangenheitsaneignung. Ebenso wie im Raum scheinen sich auch in ihnen seine Erinnerungen zu vergegenständlichen, denn sie evozieren episodische Erfahrungsaspekte. In der detailgenauen Schilderung dieser ,Dingkultur' gleicht seine Erzählung einer „Bestandsaufnahme der Spurenelemente" (Welzer 2001b, S. 9) der vergangenen Zeit, einem Archiv für die kanadische Alltagsgeschichte des frühen 20. Jahrhunderts. Exemplarisch konkretisiert sich die Inszenierung dieses Zeitkolorits in der Darstellung des Erwerbs einer Waschmaschine und den gängigen Zahlungsmodalitäten:
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[W]e gave ourselves a washing machine as a Christmas present, and it cost $ 1 2 0 . Few have $ 1 2 0 ; but most, including us, can find fifteen dollars d o w n and five dollars a month. The fact that the machine cannot equal the dirt-removing ability o f the washboard and scrub brush and old-fashioned elbow grease, or that Maggie often calls me to disentangle clothes f o r m the sprockets, has not lessened our fascination with it. It is a marvel, and affordable. Payments are the key. (S. 1 4 3 )
Auch die Integration von Zeitungsausschnitten, die etwa seine Hochzeit ankündigen, von Telegrammen, persönlichen Briefen, seinem Entlassungsschreiben, Todesnachrichten oder den Insignien von Werbetafeln bieten einen panoramischen Uberblick über die Bedingungen seiner zurückliegenden Erfahrungsrealität und leisten einen maßgeblichen Beitrag zur Akzentuierung der Partikularität seiner vergangenen Erfahrungsrealität. Sie lenken das Augenmerk auf alltägliche und beiläufige Begebenheiten, die im Kollektivgedächtnis zumeist unterrepräsentiert bleiben. Es ist allerdings gerade ihr selbstverständlicher Charakter, der sie als „Subtext der Vergangenheit" (Welzer 2001b, S. 17) für individuelle Identitätskonstruktionen und Wirklichkeitsmodelle so wirkmächtig werden lässt. Die für autobiographische Gedächtnisromane kennzeichnende Subjektivierung des Vergangenen wird in Λ Witness to Life nicht zuletzt dadurch gewährleistet, dass kollektive Ereignisse nur in dem Maße Eingang in Martins Narration finden, in dem sie einen deutlichen Bezug zu Martins Erfahrungsspezifität aufweisen. Zwar erinnert der Erzähler an eine Vielzahl von Kollektivereignissen wie den Großbrand in Toronto im Jahre 1904, an den Beginn des Ersten Weltkriegs, die Entführung des Kindes von Charles A. Lindbergh oder an den Untergang der Titanic und führt auf diese Weise die Interdependenz des kollektiven und des individuellen Gedächtnisses vor Augen; allerdings verbindet sich mit der Darstellung dieser Ereignisse ein eminent persönliches Anliegen. Die Kollektivgeschichte wird in A Witness to Life deutlich den individuellen Sinnbedürfnissen unterstellt, sie wird im Lichte subjektiver Handlungsanforderungen und Interessen angeeignet und perspektiviert. Beobachtbar wird diese, für den autobiographischen Gedächtnisroman konstitutive Subjektivierung der Kollektivgeschichte an Martins Rekonstruktion des dramatischen Untergangs der Titanic: Just before Midnight on Sunday, April 14, 1 9 1 2 , the world's largest floating vessel, the White Star liner
R.M.S. Titanic,
strikes an iceberg in the Atlantic and sinks
within three hours. O f her 2,206 passengers, 1,503 drown. [...] In the days that follow, w e discover that of the 7 0 3 w h o are picked up by the Carpathia,
several are
f r o m Toronto. A fellow named Arthur Peuchon [...] is soundly criticized by the local press upon his arrival home for not adhering to the time-honoured code o f w o m e n and children first. [...] I think o f Maggie, o f Margaret, o f Jack. I think o f drowning so that they may live, o f the honorable thing to do. (S. 96)
Die Reaktualisierung dieses Unglücks zeigt, dass Ereignisse der Kollektiwergangenheit im individuellen, autobiographischen Gedächtnis gemäß subjektiver Relevanzkriterien repräsentiert werden. Die individuelle Gedächtnisbildung ist zwar deutlich von kollektiven Bezügen geprägt; allerdings werden diese nach Maßgabe persönlicher Schemata verarbeitet und auf diese Weise an bestehende Erfahrungs-
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bestände anschlussfähig gemacht. So scheint die individuelle Kontinuitätsstiftung und Orientierungsbildung auch davon abhängig zu sein, ob und in welchem Maße es gelingt, überindividuellen Erfahrungen eine subjektiv eingängige Bedeutung zu verleihen. Das Zusammenspiel von interner Fokalisierung, szenischem Erzählen, der Semantisierung des Raums und der detailgenauen Bestandsaufnahme von konstituierenden Bedingungen der vergangenen Erfahrungsrealität gewährleistet die Realitätsfiktion von Martins Gedächtnisnarration und schafft die Voraussetzung für seine sinn- und kontinuitätsstiftende Aneignung des Vergangenen. E s ist vor allem die durch interne Fokalisierung und szenisches Erzählen ermöglichte narrative Profilierung der Momente bzw. Entwicklungsphasen, die er als besonders signifikant erachtet, die ihm eine Antwort, auf die Frage, wer er geworden ist, bietet. Die Orientierung an unifizierenden Konzepten, die Strukturierung durch narrative Wendepunkte sowie die Intentionalität suggerierende Ereignischronologie erlauben es dem Erzähler schließlich, die Diversität seiner Erfahrung in eine dauerhafte und kohärente Gestalt zu bringen und in der erinnernden Rückschau die Einheit seines ganzen Lebens zu stiften. Unterstrichen wird die gelungene Kontinuitätsstiftung dadurch, dass Martin seine Erzählung mit der Darstellung des Todes seiner Tochter Margaret im Jahre 1984 beschließt und damit den Ausgangspunkt seines erinnernden Rückblicks mit seinem Endpunkt verbindet. Es ist typisch für den autobiographischen Gedächtnisroman, dass sich die Geschlossenheit der Erfahrung in kompletten Analepsen manifestiert. Die kritische Auseinandersetzung mit seiner Vergangenheit, die Reaktualisierung seiner prekären Verhaltensweisen und die damit verbundene Übernahme von Verantwortung scheint nicht nur die lang ersehnte Einsicht in seine Situation, sondern auch eine veritable Freisetzung seiner Seele zu bewirken: „I [...] understand what I have been waiting for how it was to happen why it was to happen and am grateful am carried higher into the white clouds [...] as I join my family my sisters my brothers [...] and am filled with joy" (S. 240). Die Implikation dieses ,Höhenflugs' und der Wiedervereinung mit seiner Familie ist die durch seinen Erzählakt realisierte Freisprechung von seinen vergangenen Fehlern. Die Schlussgebung bringt erneut das Wechselspiel zwischen Gedächtnisbildung und ethischmoralischen Fragestellungen in den Blick: So muss sich der Erzähler erst von seiner Vergangenheit emotional affizieren lassen, muss sie also in all ihren Facetten nachempfinden, bevor er in einen neuen Daseinsmodus eintreten kann. Darüber hinaus zeigt sie ein weiteres Mal den engen Zusammenhang auf, der zwischen Erinnern und Vergessen besteht: Erst die selbstreflexive Auseinandersetzung mit seiner Vergangenheit ebnet den Weg dafür, sich von dieser zu lösen und in einem weiteren Sinne mit ihr abzuschließen zu können. Die Erinnerung an Vergangenes, die aktive, emotionale Auseinandersetzung mit zurückliegenden Erfahrungsweisen und ihre narrative Aneignung werden in Λ Witness of Life damit als konstitutive Faktoren ausgezeichnet, die positive, identitätsrelevante Veränderungen möglich machen. Ebenso wie Nadine bezieht daher auch der in Λ Witness to Life entworfene Sinnstiftungsakt sein kulturökologisches Funktionspotential aus der Tatsache, dass
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hier mit literarischen Mitteln versucht wird, Kodierungsformate für schwer zu deutende Vergangenheitserfahrungen zur Verfugung zu stellen. Vor allem durch das progressive Erzählmuster, das vorerst prekären Erfahrungen retrospektiv identitätsstabilisierende Bedeutung verleiht, stellt der autobiographische Gedächtnisroman eingängige Sinnstiftungsschablonen bereit. Λ Witness to Life kann damit — bei entsprechender rezipientenseitiger Aktualisierung — zentrale Orientierungsfunktionen im Prozess der individuellen Erfahrungsverarbeitung erfüllen.
1.3 Yann Martels Seif (1996) als kritisch-parodistische Ausprägung des autobiographischen Gedächtnisromans: Field memories als Erinnerungsfiktion Die Frage nach den Voraussetzungen einer stabilen Identitätskonstruktion wird auch in Yann Martels autobiographischem Gedächtnisroman Seif zum zentralen Thema. Ebenso wie in Nadine und A Witness to Life resultiert das kontinuitätsstiftende Potential von Gedächtnisoperationen auch in Seif vornehmlich aus dem Alternieren zwischen field und observer memories und der so ermöglichten Rückbindung des Vergangenen an die Gegenwart der Erzählsituation. Der extensive Rückgriff auf field memories, der eine affektive Reaktualisierung der zurückliegenden Ereignisse erlaubt, führt zu einer prononcierten Emotionalisierung des Vergangenen, die die Singularität der präsentierten Lebensgeschichte zu begründen scheint. Wirkungsvoll akzentuiert wird die Bedeutung, die der zurückliegenden Erfahrungsrealität für das gegenwärtige Selbstverständnis der Erzählinstanz zukommt, außerdem durch die nur minimale Ausgestaltung des gegenwärtigen Erinnerungskontexts. Angesichts der bloß implizit erschließbaren Ebene der erzählerischen Vermittlung bleiben zentrale Identifikatoren der Erzählinstanz — ein 30-jähriger Schriftsteller — wie etwa ihr Name, ihre Geschlechtsidentität227 sowie der Erinnerungsanlass unerwähnt. Dass zur Identitätskonstitution nur auf die reaktualisierte Vergangenheit zurückgegriffen wird, autobiographische Daten hingegen keine Berücksichtigung finden, unterstreicht die herausragende Bedeutung von Erinnerungen: Erinnerungen und Identität fallen in eins und so scheint die gegenwärtige Identität vollständig in den Erinnerungen aufzugehen. Die durch das Wechselspiel zwischen interner und externer Fokalisierung gewährleistete sinnstiftende Aneignung des Vergangenen wird in Martels Gedächtnisroman durch die relativ chronologische Erschließung der individuellen Lebensgeschichte begünstigt. Zumindest auf der Makroebene zeichnet sich die Zeitstruktur des Romans durch eine linear-progressive Entwicklung aus; so schlägt die Erzähl-
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Angesichts der Unspezifität der biologischen Geschlechtsidentität wird - um die Wiederholung des geschlechtsneutralen Begriffs ,Erzählinstanz' zu vermeiden - im Folgenden abwechselnd von Erzählerin und Erzähler die Rede sein.
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instanz in der erinnernden Rückschau einen Bogen zwischen ihrer frühen Kindheit und der Gegenwart des Erinnerungsabrufs. Die Erzählinstanz orientiert sich an unifizierenden Konzepten und Wendepunkten, die die heterogene Erfahrungswirklichkeit sinnhaft strukturieren. Dass durch diese retrospektive Teleologie der Anfang ihrer Lebensgeschichte gewissermaßen als „Keimzelle" (Brockmeier 1999, S. 36) des Endes erscheint, suggeriert einen ebenso bedeutungsvollen wie plausiblen Entwicklungsprozess der individuellen Identität. Allerdings werden eben diese retrospektive Teleologie und der durch sie hervorgerufene Eindruck einer an sich bedeutungsvollen Identitätsentwicklung in Seif zugleich einer kritischen Prüfung unterzogen und ironisch parodiert. Die extensive interne Fokalisierung der vergangenen Erfahrungen, die in dieser Gattungsform typischerweise dazu eingesetzt wird, die Authentizität des Erinnerten zu suggerieren, wird in Seif geradezu als Erinnerungsfiktion entlarvt. So manifestieren sich in den field memories deutlich die Wertevorstellungen und Sinnanforderungen, kurz die Idiosynkrasien der rückblickenden Erzählinstanz. Dieses erzähltechnische Verfahren wirft grundlegende Fragen nach der in autobiographischen Gedächtnisromanen unterstellten Authentizität von field memories und das durch sie erst ermöglichte Gefühl von biographischer Kontinuität auf. Problematisiert wird in Seif auch die Fähigkeit der Erzählinstanz zur narrativen Kohärenzstiftung und Gedächtniskonsolidierung. Die übliche narrative Geschlossenheit des autobiographischen Gedächtnisromans, die ein stabiles Identitätskonzept impliziert, wird in diesem Werk punktuell brüchig. Die Auflösung der narrativen Kohärenz zugunsten der Heterogenität der Erinnerungen zeigt, dass die Sinnstiftungsbemühungen der Erzählinstanz an ihre Grenzen stoßen. Sie scheitert vor allem daran, die hochgradig belastende Erfahrung einer Vergewaltigung zu narrativieren und in ein aneignungsfähiges Format zu überfuhren. Erschwert wird die Möglichkeit einer kohärenten Identitätsbildung in Martels Roman schließlich durch die Besonderheiten der Figurendarstellung. Das erlebende Ich durchläuft zweimal eine natürliche Geschlechtstransformation: E s ist zunächst männlichen, ab dem Alter von 18 Jahren weiblichen und schließlich, acht Jahre später, wieder männlichen Geschlechts. Die Komplexität der narrativen Sinnstiftung und die damit einhergehende Destabilisierung der individuellen Identität verweisen über die Rhetorik des autobiographischen Gedächtnisromans hinaus auf die des Erinnerungsromans. Yann Martels Roman Seif ist damit auch ein ausgezeichnetes Beispiel für das gattungstypologische Kontinuum, das den einzelnen Erscheinungsformen der fictions of memory zugrunde liegt. ***
Der für autobiographische Gedächtnisromane kennzeichnende Versuch, den Ursprüngen der individuellen Identität durch die Rekonstruktion der ersten Erinnerung („my earliest memory", S. 2) auf den Grund zu gehen, steht am Anfang des Romans: I awoke and my mother was there. Her hands descended upon me and she picked me up. It seems I was mildly constipated. She sat me on my potty on the diningroom table and set herself in front of me. She began to coo and urge me on, run-
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ning het fingers up and down my back. But I was not receptive. I distinctly remember finding the woman quite tiresome. (S. 1) Die bereits durch die höchst konstruiert anmutende Vorstellung einer ,ersten Erinnerung' zum Ausdruck gebrachte Fähigkeit zur exakten Vergangenheitsrekonstruktion wird durch die Inszenierung von field memories zusätzlich betont. In Seif wird die zurückliegende Erfahrungsrealität über weite Passagen dem Wahrnehmungshorizont des kindlichen Ichs unterstellt. Die detailgenaue Darstellung der kindlichen Erlebnisweisen sowie der taktilen, auditiven und visuellen Eindrücke erscheinen als eindrucksvoller Beleg für das Erinnerungsvermögen der Erzählinstanz. Sie legt den Grundstein für die Exploration der vergangenen Erfahrungsspezifität. Die minutiöse Erschließung der zurückliegenden Erfahrungen gelangt zu einem ironisch zugespitzten Höhepunkt, wenn die Rekonstruktion der „earliest memory" in der Darstellung des ersten koprophilen Erlebnisses mündet: „I remember it very, very warm, my first memory of temperature. It ended in a perfect moist peak." (S. 2) Dass ausgerechnet diese Erinnerung, die gemeinhin keinen Eingang in autobiographische Erzählungen findet, in Seif eine derart prominente Rolle spielt, wirft grundlegende Fragen nach den Bewertungsmaßstäben dessen auf, was als identitätsrelevant bzw. als erzählenswert zu erachten ist, was also gemäß konventionalisierten Vorstellungen in Autobiographien überhaupt erzählbar ist. Diese Reminiszenz verweist darüber hinaus auch auf die Bedeutung, die die Erzählinstanz alltäglichen körperlichen Erfahrungen beimisst, stellt sie doch zu einem späteren Zeitpunkt fest: „Colour, consistency, quantity, smell - so many chapters in an autobiography." (S. 172) Bereits in diesem metanarrativen Kommentar deutet sich an, dass die rekonstruierte .erste Erinnerung' weniger die authentische Erfahrungsrealität des erlebenden Ichs widerspiegelt. Vielmehr scheint sich in ihr die von der Erzählinstanz im Lichte nachfolgender Entwicklungen und Einsichten unterstellte Empfindungsweise zu materialisieren. In der Erinnerung verschmelzen kopräsente Zeitperspektiven sowie Identitätsaspekte des erlebenden und erinnernden Ichs zu einer sinnhaften Bedeutungseinheit, die gegenwärtigen Relevanzkriterien gerecht werden kann, nicht aber die vergangene Realität reflektiert. Auf diese Unzuverlässigkeit des Gedächtnisses deutet auch der Umstand, dass die scheinbar detailgenaue Rekonstruktion der ersten Erinnerung nur wenig später in Frage gestellt wird: „My other earliest memory is vague, no more than a distant feeling that I can sometimes seize, most often not. Being so dimly remembered, perhaps it came first." (S. 2) Diese Episode lässt sich in eine ganze Reihe ähnlicher Passagen einordnen, bei denen die Erzählinstanz ihre kindlichen Erfahrungen qua interner Fokalisierung erschließt, um die detaillierte und lebhafte Erinnerung wenig später als unzulänglich zu desavouieren. Dieses, für Seif kennzeichnende Verfahren legt die Frage nahe, ob sich frühkindliche Erlebnisweisen tatsächlich detailgenau rekonstruieren lassen oder ob sie nicht immer von präsentischen Bedingungen überformt sind. Anders gefragt: Liegt die spezifische Wahrheit von Erinnerungen nicht gerade darin, dass vergangene Gedächtnisspuren im Lichte gegenwärtiger Sinnbedürfnisse elaboriert werden?
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In Seifwerden field memories in einer Weise mit Erkenntnissen und Einsichten aufgeladen, die berechtigterweise daran zweifeln lässt, ob diese Beobachtungen tatsächlich dem kindlichen Erfahrungshorizont entspringen. Die als kindlich ausgezeichneten Perspektivierungen werden immer wieder von späteren, auf die überlegene Perspektive des Erzählers verweisenden Erkenntnissen und Sinnbedürfnissen überlagert. Sichtbar wird dieser Mechanismus etwa an der Darstellung des Verlusts der ersten Milchzähne, in dem das erlebende Ich den ultimativen Beweis für die permanente menschliche Metamorphose zu erkennen vermeint: Indeed, from my earliest years the idea of transformation has been central to my life. [...] When I started to lose my baby teeth and was told that larger, more durable teeth would grow in their stead, I took this as my first tangible proof o f human metamorphosis. [...] I envisioned life as a series of metamorphic changes, one after another, to no end. (8f.)
Die Konzeptualisierung des menschlichen Lebens als Serie von endlosen Metamorphosen, die Reminiszenzen an Ovid evoziert, transzendiert den Wissenshorizont des erlebenden Ichs und verweist auf die kognitive Position der vermittelnden Erzählinstanz. Offensichtlich perspektiviert die Erzählinstanz ihre kindlichen Erlebnisweisen vor dem Hintergrund kulturell standardisierter Sinnstiftungsformate sowie der nachfolgenden Erfahrung ihrer Geschlechtstransformation und projiziert damit aktuelle Einsichten auf ihr erlebendes Ich. Sichtbar wird diese Tendenz zur retrospektiven Sinnanreicherung vor allem an jenen Aspekten der frühkindlichen Erfahrungsrealität, die - wie die nachfolgende Erzählung offen legt - für das Identitätsverständnis der lELr^ählinstanζ von herausragender Relevanz sind. Dies gilt insbesondere für ihre Geschlechtstransformation. Dieser Identitätsaspekt erscheint durch retrospektiv angereichte field memories — etwa durch die rekurrente Behauptung des Protagonisten, biologische Geschlechtsdifferenzen seien für ihn von marginaler Bedeutung (vgl. S. 5), oder das Entsetzen darüber, dass die Komplementarität von Geschlechtsorganen biologisch bestimmt ist 228 — als zwangsläufiges Resultat einer fast deterministisch anmutenden Identitätsentwicklung. Durch die Überlagerung zeitlich differentieller Erfahrungs- und Wissensaspekte zeigt Seif, dass selbst field memories, die das Vergangene aus den Augen des erlebenden Ichs darzustellen scheinen, stets von der Gegenwart aus operieren. Sie lassen daher zurückliegende Erfahrungen nicht detailgenau Wiederaufleben, sondern rekonstruieren diese verschränkt mit den Rahmen ihres Abrufs. Mag die Projektion von gegenwärtigen Erkenntnissen auf die kindliche Sichtweise den Erzähler gemäß herkömmlicher DeGnitionen als .unzuverlässig' desavouieren, so stellt sie im Rahmen von Gedächtniserzählungen ein konstitutives 228 „Things were far more limited than my open mind had imagined. There were in fact only two sexes, not infinite numbers. And those little bums and little fingers that I had seen in the various I'll-show-you-mine-if-you show-me-yours exercises I had conducted were the complementary sexual organs in question, all two of them, one little bum for one little finger. I was amazed. (...) I was grief-stricken." (S. 21 f.)
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Element der Mimesis der Erinnerungen dar, das einen maßgeblichen Beitrag 2ur Sinnstiftung leistet und den Eindruck der Erinnerungshaftigkeit unterstreicht. Vergangene Erlebnisse werden durch die temporale Verdichtung und kognitive Anreicherung erst plausibilisiert und können in eine subjektiv aussagekräftige Relation zu Gegenwärtigem gestellt werden. Offensichtlich scheinen ,unzuverlässige Erinnerungen' eine Möglichkeit zu bieten, die Identitätskonstitution auf ein Ziel hin zu entwerfen, Anfänge also so zu interpretieren, dass sich die spätere Entwicklung folgerichtig und nahezu zwangsläufig aus ihnen zu ergeben scheint. In dem Maße, in dem die UnZuverlässigkeit der Erinnerung einen substantiellen Beitrag zur Sinnstiftung leistet, wirft sie die grundsätzliche Frage nach den Modalitäten jeder retrospektiv generierten Teleologie auf. Impliziert Sinnstiftung nicht gerade auch die Erfindung von Vergangenem, also die Konstruktion einer ,usable past'? Anders formuliert: Operieren nicht alle Gedächtnisleistungen zum Zwecke der Kontinuitätsstiftung und der Plausibilisierung des Vergangenen mit angereicherten Erinnerungen, mit Erinnerungen also, die mit gegenwärtigen Bedeutungen und Emotionen aufgeladen werden? 229 Yann Martels Roman bejaht diese Frage implizit, indem er zeigt, dass die Herstellung von autobiographischer Kontinuität ohne konstruktive Akte unmöglich ist. Die .spezifische Wahrheit' von Erinnerungen scheint daher gerade auch in deren .UnZuverlässigkeit', also in ihrer Konstruktivität zu liegen. Erst nach der Rekonstruktion weiterer frühkindlicher, vornehmlich sinnlicher Erfahrungen (wie etwa die „earliest aesthetic experience revolved around a small, clear plastic bottle", S. 3) präsentiert die Erzählinstanz jene faktischen Informationen, die gemeinhin am Anfang von Autobiographien stehen: „Other facts o f my early life that are held to be important — that I was born in 1963, in Spain, o f student parents — I heard only later, through hearsay. For me, memory starts in my own country, in its capital city, to be exact." (S. 3) Nicht nur die höchst knappe Abhandlung dieser blass anmutenden Lebensdaten, sondern auch der Verweis darauf, dass diese (nur) üblicherweise für bedeutsam gehalten werden, akzentuieren, dass außerhalb der eigenen Empfindungsfahigkeit liegende Informationen für das Identitätsverständnis der Erzählinstanz von untergeordneter Bedeutung sind. Die darauf folgende, lapidare Bemerkung, dass sein Erinnerungsvermögen erst im Alter von 12 Jahren in der Hauptstadt seines Landes, also in Ottawa, einsetze, legt abermals nahe, dass ein Großteil seiner kindlichen Erinnerungen erst in der erinnernden Rückschau konstruiert wird. Deutlich wird damit einmal mehr, dass es
229 Vgl. in diesem Kontext A. Assmann (1999, S. 257): „Solche Umdeutung, die (...] nicht notwendig mit .Umfälschung' gleichzusetzen ist, leistet einen wichtigen Beitrag zur Stabilisierung von Erinnerungen im Aufbau einer persönlichen Identität. [...] Von der Frage, ob sich eine solche Bedeutung hinzuerfinden läßt oder nicht, hängt die Stabilität eines wesentlichen Teils unserer Erinnerungen ab. Sie dazuzuschaffen entspricht nicht nur menschlichem Bedürfnis, sondern auch menschlicher Bestimmung [...]. Solche Gestaltgebung nennen wir Sinn; sie ist das Rückgrat gelebter Identität." Eine vergleichbare Position vertreten u.a. Schacter (2001), Brockmeier (1999) und Eakin (1999).
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beim Erinnern vor allem um das bedeutungsstiftende Potential auch von fabulierten Geschichten geht; die faktisch rekonstruierten Begebenheiten bleiben blass. Es ist charakteristisch für den autobiographischen Gedächtnisroman und den in ihm inszenierten Versuch, das Vergangene auf authentische Weise zur Darstellung zu bringen, dass sich die narrativ elaborierten Erinnerungen entlang des Konzepts ,des ersten Mals' strukturieren. Dieses Organisationsprinzip wird nicht nur als Authentisierungsstrategie eingesetzt; es ist auch ein ausgezeichnetes Verfahren, um das Gewordensein der individuellen Identität zu plausibilisieren. Aber auch diese Konvention und die in ihr implizierte Erinnerungsfähigkeit werden von dem Erzähler kritisch hinterfragt und parodiert. So konzediert er nun explizit, dass das Gedächtnis von der Gegenwart aus verfährt, frühere Erinnerungsspuren daher unweigerlich von späteren überlagert und so zu sequentiell verdichteten, nicht länger distinkten Bedeutungseinheiten synthetisiert werden: „Though there are notable exceptions, it often happens that we do not remember the first time we did something, or even any one particular time, but remember only the repetition, the idea that we did the things over and over." (S. 8) Trotz dieser eingestandenen Einschränkung organisiert er seine Erzählung entlang bedeutender erster Erfahrungen und versucht sich damit implizit als eine „notable exception" auszuweisen. Der Widerspruch zwischen Metakognition einerseits und Narrativierungsmodi andererseits legt abermals nahe, dass die unreäability of memory ein zentrales Element jeder Sinnstiftung ist. So mag die Vorstellung, sich an das erste Mal zu erinnern, zwar trügerisch sein; dennoch scheint sie einen nicht unwesentlichen Beitrag zur struktur- und kohärenzstiftenden Aneignung von Vergangenem zu leisten. Das Gedächtnisnarrativ des Erzählers entfaltet sich ausgehend von einschneidenden ersten Erfahrungen, die als Scheitelpunkte des Geschichtenverlaufs fungieren und damit als besonders identitätsprägend ausgezeichnet werden. Ausführlich berichtet er von „THE FIRST TIME TELEVISION MESMERIZED ME AS A CHILD" (S. 13), von der ersten Begegnung mit einem Staubsauger (ebd.), der Entdeckung seiner Faszination für Waschmaschinen, der ,ersten kindlichen Liebe' (S. 35-41), dem ersten Kontakt mit Gewalt (S. 42) und von der ersten enttäuschten Liebe (S. 42-45). Auch die impressionistisch-eklektische Aneinanderreihung dieser recht heterogenen Erfahrungsepisoden, die von dem Protagonisten gleichermaßen als emotional bedeutsam erlebt werden, wirft Fragen danach auf, was als identitätsrelevant und somit auch als erzählenswert zu erachten ist. Implizit signalisieren diese unkonventionellen Themenbereiche den Konstruktcharakter, die Kulturspezifität und damit letztlich auch die Beliebigkeit von konventionellen autobiographischen Erzählungen. Zwar werden auch diese .ersten Erfahrungen' dominant intern fokalisiert und damit für die Erzählinstanz in ihrer kindlich-affektiven Dimension nachvollziehbar gemacht.230 Allerdings manifestiert sich nunmehr die Vermittlungsinstanz zunehmend auch explizit in wertenden Kommentaren. Auch die do230 Vgl. etwa folgende Bemerkung: „But though I liked most animals, I warmed to the beast television only with time and misgiving. [...] I felt the television was selfish and uncaring." (S. 13)
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minant externe Fokalisierung, die einen Brückenschlag zwischen Vergangenem und Gegenwärtigem ermöglicht, verweist auf die Perspektive des erzählenden Ichs. Die Inszenierung seiner Erinnerungen an Jugend und Erwachsenenalter zeichnet sich durch einen häufigen Wechsel zwischen interner und externer Fokalisierung aus, wodurch die für retrospektive Sinnstiftungsversuche notwendige Annäherung zwischen erinnerndem und erinnertem Ich gewährleistet wird. Mit dem Eintritt in sein Jugendalter, dem Umzug nach Ottawa erscheinen auch die rekonstruierten field memories kompatibel mit seinem vergangenen, also zum Zeitpunkt des Erlebens vorherrschenden Bewusstseins- und Kenntnistand. Legt die Rekonstruktion der Kindheit angesichts der extensiven, zumal psychologisch unplausiblen Inszenierung von field memories sowie der Erschließung von unkonventionellen Themenbereichen die Klassifizierung von Seif als kritisch-parodistischen Gedächtnisroman nahe, so ist mit dem Ubergang in die Jugend zumindest in erzähltheoretischer Hinsicht auch eine Rückkehr zu den Konventionen herkömmlicher Gedächtnisromane zu verzeichnen. Ebenso wie in Nadine und in A Witness to Life wird auch in Seif das Ende von bestimmten Lebensphasen durch Wendepunkte markiert, deren Bedeutung durch szenisches Erzählen und interne Fokalisierung narrativ akzentuiert wird. Zwar korrelieren diese Wendepunkte nicht mit der Kapitelstruktur, gleichwohl fungieren sie als globale, kohärenzstiftende Organisationsprinzipien der Gedächtniserzählung, von denen ausgehend sich die Identitätsentwicklung entfaltet. Zumeist gehen diese Wendepunkte, die dem erlebenden Ich eine außerordentliche Reaktion zum Zwecke der Bewältigung einer neuen, destabilisierenden Situation abverlangen, in Seif mit einer Veränderung des Handlungsorts einher. So fällt etwa das Ende seiner Kindheit für den Erzähler in der erinnernden Rückschau mit dem Umzug von Paris nach Ottawa zusammen: „We were leaving Paris for Ottawa after a stay of nearly four years. [...] I didn't know that it was not only Europe that was waving its hand good-bye to me, but my childhood. I was twelve years old." (S. 50) Es ist typisch fur den autobiographischen Gedächtnisroman und für die in ihm inszenierte Geschlossenheit der individuellen Identität, dass der Erzähler einen definitiven Endpunkt seiner Lebensphasen zu setzen vermag und auf diese Weise Uneindeutigkeiten und Zwischenpositionen qua narrativer Glättung minimiert. Die durch narrative Glättungen erzeugte .Illusion der biographischen Kontinuität' (Bourdieu) wird durch die detaillierte und lebhafte Darstellung seiner folgenden Lebensphase, der Adoleszenz, begünstigt. Es ist vor allem die Entdeckung seines Körpers, der der Erzähler in der erinnernden Rückschau eine besondere Rolle zuspricht und — darauf lassen die überbordenden, szenischen Schilderungen schließen — die er für seine gegenwärtige Selbstdefinition als äußerst relevant erachtet. Die mit der Pubertät einsetzenden körperlichen Veränderungen visualisiert das erlebende Ich als weiteren Beleg für die nicht endende Metamorphose seines Lebens: „It is difficult to describe the metamorphosis that begins at puberty." (S. 50) Die Wahrnehmung des eigenen Körpers wird nun zum zentralen Thema, das die Erinnerungen des Erzählers an seine Pubertät dominiert:
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I discovered my body. Till then my mental and physical selves had been in such harmony that I had never considered them separately [...]. But now my mind's vessel began to show signs of waywardness [...]. The result was a more complicated, multifaceted ,Γ, with more mouths to feed, more needs to tend to. (S. 51) Die multiplen Facetten seines Selbst und dessen gesteigerten Bedürfnisse werden von dem erlebenden Ich zunächst nicht negativ oder gar beunruhigend erlebt, sondern zum Anlass zahlreicher, extrem befriedigender Erfahrungen: ,,[0]ne day my hand happened to start a to-and-fro motion with my foreskin. [...] The motion was distinctly pleasurable. [...] A strange physical tension, a compelling ache, drew me on. [...] Faster still. Then, in a spasm of physical tension, a response both fresh and ancestral was triggered by my body for the first time." (S. 70f.) Interne Fokalisierung, die präzise Darstellung von sinnlichen Eindrücken, die oftmals kurzen, stakkatoartigen Sätze und die abermalige Betonung, die erste Masturbationserfahrung zu reaktualisieren, tragen zur Illusion einer unmittelbaren Darstellung dieses „most powerful, sensuous experience of [his] adolesence" (S. 77) bei. Der so erzeugte Realitätseffekt erhält durch die Aktualisierung solcher Erfahrungen, die (in der westlichen Kultur) als prototypisch für bestimmte Lebensphasen angesehen werden, zusätzliches Gewicht. So strukturiert sich die Darstellung seiner Pubertät entlang der Erfahrung seiner Schüchternheit, seiner ,,[l]arge yellow pimples" (S. 54), seines Muskeltrainings, des Bartwuchses, der Masturbationserlebnisse, dem Konsum von Playboy-Heften, der ersten sexuellen Erfahrungen und vor allem entlang seiner Akne: „Acne. The word belongs to adolescence. Like the anxiety of virginity, it is something most adults hardly remember. I remember. Acne was the lowest circle of hell that I visited during my adolescence." (S. 53) Dass es ausgerechnet die - üblicherweise als ebenso banal wie peinlich angesehenen — Erfahrungen der Akne sowie der Masturbation sind, denen der Erzähler eine derartige Bedeutung beimisst und in denen er die Singularität seiner Lebensgeschichte zu erkennen meint, wirft erneut Fragen nach herkömmlichen Relevanzkriterien von autobiographischen Erzählungen auf. Auf einer Reise durch Portugal, die der Protagonist nach seinem Schulabschluss unternimmt, kommt es schließlich zu der Geschlechtstransformation, die sich durch die leitmotivischen Verweise auf die verschiedenen Stadien seiner Metamorphose bereits ankündigte. Zwar verstößt diese natürliche Geschlechtsverwandlung gegen die für den autobiographischen Gedächtnisroman typische Konvention des realistischen Erzählens. Allerdings verleiht die rekurrente Rede von verschiedenen Formen der Metamorphose diesem Entwicklungsschritt eine notwendige Plausibilität. Die bereits in der Kindheit des Protagonisten angelegte Metapher der Metamorphose fokussiert die heterogenen, sich im Laufe der Zeit entfaltenden Aspekte ihres Transformationsprozesses auf einen bedeutungsvollen Schwerpunkt hin und evoziert eine naturalisierende Zwangsläufigkeit seiner Geschlechtstransformation. Rezipientenseitig wird die Plausibilität der Geschlechtsmetamorphose nicht zuletzt durch ihren augenfälligen intertextuellen Bezug zu dem literarischen Prätext Orlando sichergestellt. Die in Seif inszenierte Geschlechts-
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Verwandlung erhält schon dadurch ein höheres Maß an Vorhersehbarkeit, dass sie bereits auf recht ähnliche Weise in einem kanonisierten Prätext vollzogen wurde: It was over the course of a night that things came to completion. [...] I couldn't remember anything — my name, my age, where I was — complete amnesia. I knew that I was thinking in English, that much I knew right away. My identity was tied to the English language. [...] The rest [...] came several seconds later, after some mental groping. What I remember most clearly of this confusion is the feeling that came upon me afterwards, the feeling that everything was all right. (S. 107f.) Die Geschlechtstrans formation wird von dem erlebenden Ich nicht als identitäre Bedrohung empfunden, sondern als folgerichtige Entwicklung, gleichsam als .Vollendung' seiner Identität. Zwar markiert sie einen Wendepunkt in seinem Leben, der durch den Umstand profiliert wird, dass sie sich in der Nacht von ihrem 18. Geburtstag vollzieht. Durch seine kohärente Integration in einen narrativstrukturierten Verweisungszusammenhang wird diesem Ereignis allerdings sein potentiell destabilisierender Charakter genommen und als kohärenzstiftende Komponente der Identität aneignungsfähig gemacht. Auf diese Weise wird die Kontinuität der Selbsterfahrung über die Geschlechtsverwandlung hinweg gewährleistet. Die Kontinuität der Erfahrungs- und Empfindungsweise lässt darauf schließen, dass das erlebende Ich seine aktuelle Identität als Synthese seiner früheren Erfahrungen als Mann und seiner derzeitigen Situation als Frau erfährt. Das zugrunde gelegte Identitätskonzept geht nicht von ausschließenden Oppositionen aus, sondern von einer identitären Komplementarität zwischen Männlichkeit/Weiblichkeit, die bereits in der mehrfachen Negierung des essentialistisch-natürlichen Charakters von Geschlechtsdifferenzen ihren Ausdruck fand. 231 Durch diese Permeabilität der Geschlechtergrenzen wird die übliche Merkmalsopposition weiblich/männlich durchbrochen und als gesellschaftliches Konstrukt ausgewiesen. Evoziert wird das Konzept einer komplementären Identität zudem durch die bilinguale Wiedergabe von besonders identitätsrelevanten Ereignissen, die für die inszenierte Selbstnarration insgesamt charakteristisch ist. Auch ihre Geschlechtsmetamorphose rekonstruiert die Erzählerin in englischer und in französischer Sprache: Cela s'est termine au cours d'une nuit. [...] Je ne me souvenais de rien, ni de mon nom, ni de mon äge, ni oü j'etais. L'amnesie totale. Je savais que je pensais en fran^ais, ςζ au moins, c'etait sür. Mon identite etait liee ä la langue fra^aise. [...] Je me suis souvenue du reste [...] seulement apres un bon moment d'hesitation. Ce dont je me rappeile le plus clairement de cet etat de confusion, c'est le sentiment qui m'est venu apres, que tout allait bien. (S. 107f.) Die Identität der Erzählinstanz ist nicht nur an ihre Weiblichkeit und Männlichkeit gebunden, sondern gleichermaßen auch an die französische und englische Sprache. 231 Vgl. folgende Bemerkung: „It shouldn't be this way, not MEN, not WOMEN. It should be FRIENDS and ENEMIES. That should be the natural division of things, one that would better reflect reality." (S. 64)
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Auch diese beiden Identitätskomponenten stehen sich nicht unvereinbar gegenüber. Sie ergänzen sich vielmehr wechselseitig und konstituieren in dieser Interdependenz einen weiteren, zentralen Identitätsaspekt der Erzählerin, nämlich ihre Identität als Kanadierin. In dieser identitären Komplementarität konkretisiert sich die Feststellung ihrer Eltern: „.You'll be bilingual. Even trilingual,' [...]. Very Canadian.'" (S. 18) Die nationalkulturelle Prägung ihres Selbstverständnisses stellt die Erzählerin prägnant heraus, wenn sie unmittelbar nach der bilingualen Rekonstruktion ihrer Geschlechtstransformation bemerkt: „I [...] stood naked in front of the mirror looking at myself and thought, ,I'am a Canadian, a woman — and a voter. [...] A full citizen.'" (S. 108) Die Protagonistin verwehrt sich also nicht nur gegen ein essentialistisches und damit zumeist dichotom angelegtes Konzept ihrer geschlechtlichen, sondern auch ihrer kulturellen Identität: Im Gegensatz zu dem oftmals nahe gelegten kulturellen Identitätsmodell als entweder franko-kanadisch oder anglo-kanadisch synthetisiert die Erzählerin in ihrer Identitätsbildung beide Komponenten und ebnet damit einer integrativen kanadischen Identität den Weg. Auch der Umstand, dass sie sich zuerst als Kanadierin, dann als Frau bezeichnet, legt nahe, dass sich die Kontinuität ihrer Selbsterfahrung nicht zuletzt ihrer nationalen Identität verdankt. Interne Fokalisierung und die dadurch erzielte Stiftung von emotionaler Bedeutsamkeit, detaillierte Beschreibungen von vergangenen Orten und Zeiten, die kohärenzstiftende Metapher der lebenslangen Metamorphose wirken in Seif zusammen, um die identitätsstiftende Aneignung des Vergangenen sicherzustellen und die Kontingenz selbst von solchen prekären Erfahrungen wie denen der Geschlechtstransformation zu reduzieren. Die Orientierung an unifizierenden Konzepten wie Kindheit und Pubertät sowie die externe Fokalisierung von Geschehnissen, die diesen eine plausibilisierende Notwendigkeit unterstellt, schaffen die Voraussetzung dafür, das Vergangene in eine signifikante Relation zur Gegenwart der Erzählerin zu setzen und die Geschlossenheit der Erfahrungsrealität herzustellen. Die Sinnstiftungsbemühungen der Erzählerin stoßen allerdings schlagartig an ihre Grenzen, als es um die retrospektive Aktualisierung eines besonders einschneidenden Erlebnisses geht, nämlich um ihre Vergewaltigung, die sich im Alter von 26 Jahren in ihrer damaligen Heimatstadt Montreal zuträgt und die den Verlust ihres ungeborenen Kindes zur Folge hat: „There was no warning. Things went from normal to terribly wrong in a fraction of a second." (S. 286) Die Erzählerin ist nicht dazu fähig, das extrem prekäre und angstbesetzte Ereignis in der erinnernden Rückschau zu narrativieren und ihm durch die Einbettung in eine kohärente Struktur eine aneignungsfähige Form zu verleihen. Im Gegensatz zu der Repräsentation ihrer übrigen Erfahrungen wird dieses Ereignis auf ebenso fragmentarische wie narrativ inkohärente Weise dargestellt. Die einzelnen Aspekte dieses traumatischen Ereignisses stehen lose nebeneinander und werden über weite Passagen von den zwei, fast zwanghaft wiederholten Begriffen „pain" und „fear" durchzogen. Die kurze, abgehackte Syntax evoziert die anhaltende emotionale Virulenz dieses Ereignisses und veranschaulicht, wie schwierig es der Erzählerin auch in der Retro-
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spektive fallt, sich dieser problematischen Schicht ihres Gedächtnisses anzunähern und sie als Teil ihrer Lebensgeschichte auszuzeichnen: „I could hear a roar. The subway? It was my heart. [...] His penis fell out. He lifted himself to his knees. He wasn't saying anything. I wanted to say something, but I couldn't get any words out." (S. 292) Die Unfähigkeit, die schmerzhafte Erfahrung ihrer Vergewaltigung zu versprachlichen, findet ihren deutlichsten formalen Ausdruck in den Leerstellen, die ihre Narration durchziehen und die durch Punkte („ ") markiert werden. Die narrativen Leerstellen zeigen, dass die vergangene Erfahrungsrealität angesichts ihrer hochgradig belastenden Qualität nicht in das ordnungs- und einsichtsstiftende Format einer Erzählung überfuhrt werden kann. Die Desintegration der Narration verweist auf eine ebenso desintegrierte Identität des erlebenden Ichs (vgl. S. 319). Ihr Unvermögen, diesem Ereignis Bedeutung zu verleihen und es als Komponente ihrer Identität anzuerkennen, veranlasst sie nicht nur dazu, die Beziehung zu ihrer großen Liebe Tito aufzukündigen, ihre derzeitige Heimat Montreal überstürzt zu verlassen und in die Prärie nach Saskatchewan zu ziehen. Handlungslogisch scheint die Vergewaltigung auch die Ursache für ihre zweite Geschlechtstransformation zu sein: „This time it started with a terrible headache. [...] Breasts flattened, vulva closed up and then grew outwards, my every subtle aspect changed" (S. 313). Ihr Unvermögen, sich die Erfahrung des sexuellen Missbrauchs und der damit verbundenen Verletzlichkeit identitätsstabilisierend anzueignen, mündet in der Negation ihrer weiblichen Geschlechtsidentität. Im Gegensatz zur ersten veranschaulicht die nunmehr handlungslogisch motivierte zweite Geschlechtstransformation, dass Geschlechtsidentitäten zwar sozial konstruiert sind und damit nicht als Folge des biologischen Geschlechts binär strukturiert sein können; angesichts gesellschaftlicher Machtverhältnisse und sozialer Handlungsorientierungen sind sie nichtsdestoweniger als höchst wirksam anzusehen. Es ist typisch für die Plotstruktur des autobiographischen Gedächtnisromans, dass auch extrem prekäre und destabilisierende Ereignisse schließlich überwunden werden können. Zwar konzediert der Erzähler, dass er vier Jahre benötigte, um die Erfahrung des sexuellen Missbrauchs zu verarbeiten;232 allerdings lässt die Verwendung des Präteritums vermuten, dass dieser aufreibende Prozess an einem Endpunkt angelangt ist. So schließt sich an die Schilderung der psychischen Beeinträchtigungen, die die Vergewaltigung für das erlebende Ich bedeutet, und an die Beschreibung der verzweifelten Versuche eines Neuanfangs die Darstellung des Beginns seiner Liebesbeziehung mit Cathy an. Es ist insbesondere die Schilderung der zurückgewonnenen Beziehungs- und Handlungsfähigkeit, die die Überwindung des emotionalen Tiefs seines Lebens deutlich markiert. Am Ende seiner Autobiographie steht der hoffnungsvolle Wunsch der beiden nach einem gemeinsamen
232 Vgl. in diesem Kontext folgende Einsicht: „This thing wasted four years of my life. Four years of vagrancy and confusion." (S. 315)
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Kind: „She liked the name Adam for a boy - she wanted a boy. I fell asleep." (S. 329) Ebenso wie die übrigen hier besprochenen autobiographischen Gedächtnisromane schließt mithin auch Seif mit der Überwindung einer Lebenskrise, wodurch die Sinnstiftungskompetenzen der Erzählinstanz erneut unterstrichen werden. Trotz der hochgradig belastenden Qualität ihrer Erfahrungen vermag sie es, ihre Empfindungs- und Handlungsfähigkeit zurückzugewinnen und ihre identitäre Entwicklung rückblickend auf ein positives Ziel hin auszulegen. Die Erzählinstanz transformiert einen problematischen Ausgangspunkt in einen positiven Endpunkt. Die auf diese Weise realisierte progressive Erzählung unterstreicht die erfolgreiche Nutzung des sinnstiftenden Leistungsspektrums von Gedächtnisnarrativen. Dass der Akt der Bedeutungsstiftung an einen Schlusspunkt gelangt und die Frage des Erzählers nach dem Gewordensein seiner Identität hinreichend beantwortet ist, wird durch den Satz „I fell asleep" (S. 329) zusätzlich akzentuiert. E r verbindet das Ende seiner Gedächtnisnarration mit ihrem Anfang „I awoke" (S. 1) und verweist so auf die Geschlossenheit der Erzählung. Dieser narrativen Geschlossenheit wird in Seff nicht zuletzt dadurch Ausdruck verliehen, dass das erlebende Ich am Ende der Erzählung 30 Jahre alt ist und damit das Alter des erzählenden Ichs erreicht hat. Auch diese progressive Linearität ist auf die Fähigkeit der Erzählinstanz zur Kontinuitätsstiftung zurückzuführen. Implizit findet die Realisierung des positiven Leistungsspektrums der Selbsterzählung schließlich durch das extrem knappe zweite Kapitel des Romans seine Bestätigung: „I am thirty years old. I weigh 139 pounds. I am five foot seven and a half inches tall. My hair is brown and curly. My eyes are grey-blue. My blood type is Ο positive. I am Canadian. I speak English and French." (S. 331) Die höchst knappe Bestandsaufnahme der aktuellen Lebensdaten des Erzählers, die sich an das 329 Seiten lange erste Kapitel seiner Gedächtniserzählung anschließen, veranschaulichen, in welchem Maße sich sein gegenwärtiges Selbstverständnis seinen Erinnerungen verdankt. Seine Identität scheint so vollkommen in der narrativ elaborierten Vergangenheit aufzugehen, dass die Darstellung der gegenwärtigen Situation überflüssig wird. So konstituiert sich sein Selbst auf der Basis seiner vergangenen, narrativ integrierten Identitätsaspekte. Erinnerung und Identität fallen praktisch in eins. Die Beschreibung gegenwärtiger, faktischer Bedingungen bleibt gegenüber der erinnerten, bisweilen fabulierten Lebensgeschichte blass. Die integrierende Identität der Erzählinstanz konstituiert sich auch in Seif vor allem aus der detailgenauen Reaktualisierung der vergangenen Erfahrungs- und Empfindungsweise. Dass die durch interne Fokalisierung generierten field memories mit retrospektiver Bedeutung angereichert werden, scheint den Sinnstiftungsversuch der Erzählinstanz nicht zu beeinträchtigen, sondern in gewissem Maße allererst zu ermöglichen. Auch in Seif entwirft die Erzählinstanz einen teleologischen, an progressiven Plotmustern orientierten Entwicklungsprozess, der eine sinnhafte Qualität ihrer Erfahrungen suggeriert und der die Kontingenz des Vergangenen retrospektiv in Plausibilität transformiert. Diese für Gedächtnisromane konstitutive retrospektive Teleologie wird allerdings nicht nur durch die ironisch zugespitzte
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Rekonstruktion der Kindheitserinnerungen als Erinnerungskonstrukt entlarvt. Sie wird auch durch die diskontinuierliche Vermittlungsweise der Vergewaltigung problematisiert und punktuell durchkreuzt. Mit Blick auf die Inszenierung der Grenzen der narrativen Sinnstiftungskompetenz verstößt JV^somit zwar gegen die Rhetorik des Gedächtnisromans. Allerdings begünstigt die fragmentarische Vermittlungsweise die von der Erzählinstanz angestrebte Emotionalisierung ihrer vergangenen Erfahrungsrealität; die strukturellen Spezifika leisten daher einen nicht unwesentlichen Beitrag zur Identitätsstiftung. Dass das Ziel der Identitäts- und Sinnstiftung realisiert wird, indiziert nicht zuletzt die positive Schlussgebung des Romans. Individuelle Identität, so lassen sich die Besonderheiten der Gedächtnisinszenierung in Seif zusammenfassen, bedeutet für die Erzählinstanz im Wesentlichen die Gesamtheit ihrer subjektiven Empfindungsweisen, die Summe ihrer vergangenen, auch aktiv konstruierten Affekte und Emotionen. Im Gegensatz zu den anderen, hier besprochenen autobiographischen Gedächtnisromanen bezieht Martels Roman Seif sein kulturökologisches Funktionspotential vor allem aus der Illustration des sinnstiftenden Potentials von .unzuverlässigen Erinnerungen'. Implizit wirft der Roman damit die Frage auf, ob es überhaupt sinnvoll ist, emotional bedeutsame und subjektiv stimmige Vergangenheitsentwürfe als unzuverlässig' zu etikettieren. Konstruktive Erinnerungsakte scheinen ein unverzichtbarer Bestandteil jeder Sinnstiftung zu sein. Dass die aktive Deutung und Umdeutung von Vergangenem dem Bemühen um Identitätsstiftung keineswegs abträglich ist, stellt Seif nicht zuletzt dadurch heraus, dass es dem erinnernden Ich erst durch das Erzählen und Fabulieren seiner eigenen Geschichte gelingt, sein autobiographisches Bewusstsein zu konsolidieren. Indem Seif vor Augen führt, dass Kontinuität und Identität in erster Linie „a fiction of memory" (Eakin 1999, S. 95) sind, kann der Roman als Medium der mnemonischen Selbstreflexion fungieren und so zu einem veränderten Verständnis der Konstitutionsbedingungen von Identität bzw. des komplexen Zusammenhangs von Erinnerung, Identität und Narration beitragen.
1.4 Tendenzen des autobiographischen Gedächtnisromans: Überlegungen zu literarischen Gestaltungsspielräumen Die Romananalysen von Naditie und A Witness to Life haben exemplarisch die für autobiographische Gedächtnisromane typische Tendenz vor Augen geführt, das identitätsstiftende Potential von Gedächtnisakten durch die Schaffung von narrativer Geschlossenheit und temporaler Kontinuität zu inszenieren. Die Realitätsfiktion des autobiographischen Gedächtnisromans ergibt sich aus dem Zusammenspiel von interner Fokalisierung, die eine emotionale Wiedererschließung von identitätsrelevanten Erfahrungen ermöglicht, der szenischen und episodenhaften Darstellung von besonders einschneidenden, rückblickend als Wendepunkte ausgezeichneten Erfahrungen sowie der detailgenauen Rekonstruktion der konstituierenden
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Bedingungen der individuellen Sozialisation. Die bereits durch das ausgezeichnete Erinnerungsvermögen der Erzählinstanz gestiftete biographische Kontinuität wird durch den Einsatz von Verfahren gestützt, die die Rückbindung des Vergangenen an die gegenwärtige Situation der Erzählinstanz ermöglichen und damit zur Konsolidierung des Gedächtnisnarrativs beitragen. Dazu zählen neben der punktuellen externen Fokalisierung des Vergangenen all jene narrativen Gestaltungsmittel, die unter dem Schlagwort der .retrospektiven Teleologie' subsumiert wurden und die einen wesentlichen Beitrag dazu leisten können, die Heterogenität der individuellen Erfahrungsrealität sinnhaft zu fokussieren und so der Diversifizierung der individuellen Identität entgegenzuwirken. Vor allem die für autobiographische Gedächtnisromane typische progressive Plotstruktur und das mit dem denouement einhergehende geschlossene Ende tragen dazu bei, der individuellen Identitätsentwicklung eine sinnhafte Intentionalität, ja eine schicksalhaft anmutende Notwendigkeit zu unterstellen. In Yann Martels Roman Seif wird die für autobiographische Gedächtnisromane typische Authentizitätssuggestion insbesondere durch die Offenlegung der Konstruktivität von Gedächtnis konterkariert. Die scheinbar authentischen, tatsächlich aber von gegenwärtigen Sinnbedürfnissen überformten Kindheitserinnerungen und die dadurch hypostasierte retrospektive Teleologie entlarven die im Gedächtnisroman unterstellte Authentizität des Erinnerten als identitätssichernde Erinnerungsfiktion. Trotz - oder gerade wegen - dieser Unzuverlässigkeit seiner Erinnerungen gelingt es dem Erzähler, seine disparaten Identitätsaspekte auf einen bedeutungsvollen Schwerpunkt hin zu fokussieren und in ein relativ geschlossenes Format zu bringen. Das sinnstiftende Potential von Gedächtnisleistungen, so die narrativ inszenierte Einsicht, scheint gerade in dieser Konstruktivität zu liegen. Kontinuität und Geschlossenheit der individuellen Identität, so lässt sich aus den formalen und strukturellen Spezifika der untersuchten autobiographischen Gedächtnisromane schließen, implizieren kein unwandelbares Substrat, sondern eine narrative Bearbeitung von temporaler Differenz und lebensweltlicher Heterogenität, die die Erzählinstanzen in unterschiedlichem Maße zu realisieren vermögen. Die Geschlossenheit der Erzählung dissimuliert den konstitutiven Konstruktcharakter von Gedächtnisleistungen und verleiht der entworfenen Lebensgeschichte so eine ausgezeichnete Plausibilität. Autobiographische Gedächtnisromane führen das positive Leistungsspektrum von Gedächtnisnarrationen sowie Möglichkeiten zur narrativen Stabilisierung der individuellen Identität mit literarischen Mitteln vor Augen. Sie zeigen exemplarisch Formen der narrativen Sinnstiftung auf: Sie illustrieren Funktionsweisen der alltäglichen Identitätsarbeit, stellen kontinuitätsstiftende Gedächtnisleistungen dar, und zeigen, wie selbst problematische Erfahrungen durch ihre Integration in eine diachron strukturierte Ordnung identitätsstiftend aufbereitet werden können. Damit übernehmen sie gerade in einer Zeit der .Patchwork-Identitäten', in der der „Niedergang des Subjekts" (Straub 1991, S. 49) beschworen und die Multiphrenie eines in unverbundene ,Selbste' zerfallenen Subjekts diagnostiziert werden (vgl. Echterhoff/Straub 2004), wichtige Funktionen für die zeitgenössische Erinnerungskul-
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tur. Autobiographische Gedächtnisromane nutzen ihr kulturökologisches Funktionspotential in erster Linie dazu, verbürgte Modelle für die rezipientenseitige Identitätsarbeit zur Verfügung zu stellen und exemplarische Anhaltspunkte für die narrative Formung, Gestaltung und sinnhafte Deutung der eigenen Lebenserfahrung anzubieten. Mit den besprochenen Romanen ist das Repertoire der kanadischen Romane, die dem Typus des autobiographischen Gedächtnisromans zuzuordnen sind, natürlich keineswegs erschöpft. So stellen beispielsweise auch W.O. Mitchells How I spent my Summer Holidays (1981) oder Wayne Johnstons The Navigator of New York (2001) Varianten dieser Erscheinungsform dar. Ebenso wie Nadine und A Witness to Life greifen auch diese Romane zur Darstellung des einheits- und einsichtsstiftenden Potentials von Erzählungen auf das für autobiographische Gedächtnisromane typische Spektrum von Erzählverfahren zurück, das von interner Fokalisierung, szenischem Erzählen über den Einsatz von naturalisierenden Metaphern und Intertextualität bis hin zur Konstruktion einer retrospektiven Teleologie reicht. Ingesamt fällt bei der Untersuchung der literarischen Verfahren, die bei der Inszenierung des identitätsstiftenden Potentials von Gedächtnisnarrationen Verwendung finden, auf, dass diese eine relativ geringe Variationsbreite aufweisen. Der für autobiographische Gedächtnisromane typische Glaubwürdigkeitseffekt impliziert notwendigerweise einen weit gehenden Verzicht auf jene Verfahren, die die narrative Erinnerungs- und Identitätsbildung selbstreflexiv problematisieren. Die für homodiegetische Erzählsituationen konstitutive Dualität von erlebendem und erzählendem Ich, die zahlreiche Möglichkeiten bietet, den Sinnstiftungsprozess zu reflektieren, wird vom autobiographischen Gedächtnisroman primär dazu genutzt, die Annäherung des erlebenden an das erzählende Ich zu inszenieren und somit die Geschlossenheit der Identität darzustellen. Die Erinnerungshaftigkeit - und damit auch die Konstruktivität und Prozessualität — des Dargestellten werden im autobiographischen Gedächtnisroman somit zumindest punktuell dissimuliert. Die Gedächtnisromanen zugrunde liegende Annahme, das durch und durch komplexe und potentiell stets fluktuierende Phänomen Identität ließe sich im narrativen Modus stabilisieren, wird in Erinnerungsromanen gleich in verschiedener Hinsicht einer kritischen Prüfung unterzogen. Während Erinnerungen im autobiographischen Gedächtnisroman als relativ zuverlässige Vermittler der vergangenen Realität inszeniert werden, erscheinen sie im Erinnerungsroman als ephemere, trügerische und präsentische Konstruktionen. Verschärft wird diese Instabilität dadurch, dass sich die mnemonisch vermittelte Erfahrungsrealität im Erinnerungsroman angesichts ihrer grundlegenden Polyvalenz nicht länger zu einem kohärenten Identitätsnarrativ synthetisieren lässt. Der Erzählakt kann sein Sinnversprechen kaum einlösen. Die Vergangenheit wird in lose, unzusammenhängende und inkompatible Erinnerungsfragmente aufgelöst, die einer ebenso fragmentarischen Identitätsbildung Vorschub leisten. Während Selbstnarrationen im autobiographischen Gedächtnisroman eine relativ endgültige Antwort auf die Frage nach dem Gewordensein der individuellen Identität bieten, kann diese Frage im autobiogra-
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phischen Erinnerungsroman nicht stillgestellt werden. Erinnerungen, so die von autobiographischen Erinnerungsromanen vermittelte Einsicht, sind unzuverlässige, oftmals auch destabilisierende Phänomene, die zur Grundlage eines wandelbaren und pluralen Identitätsentwurfs werden.
2. Autobiographische Erinnerungsromane: Erinnerungsreflexionen Führt der autobiographische Gedächtnisroman vor Augen, wie die erinnerte Vergangenheit durch komplexe narrative Syntheseleistungen zur Grundlage von stabilen Identitätsentwürfen werden kann, so verschiebt sich der Akzent im autobiographischen Erinnerungsroman auf die Problematisierung der Bedingungen von retrospektiver Sinnstiftung. Damit verbunden ist eine prägnante Konturierung der extradiegetischen Ebene der Erinnerungselaboration und eine ästhetische Intensivierung der Erinnerungshaftigkeit des Dargestellten: Nicht das Produkt, sondern der präsentische Prozess der narrativen Erinnerungs- und Identitätsbildung konstituiert den zentralen Gegenstand des Erinnerungsromans. Der autobiographische Erinnerungsroman nutzt die Rhetorik der Erinnerungen und Identitäten weniger zur Vergegenwärtigung der persönlichen Vergangenheit als vielmehr zur selbstreflexiven Problematisierung der narrativen Identitätsstiftung. Er legt die Herausforderungen offen, die sich mit der Aktualisierung und sinnstiftenden Aneignung der persönlichen Vergangenheit verbinden. Erinnerungen werden in dieser Gattungsausprägung als äußerst ephemere, gegenwartsgebundene und unzuverlässige Gebilde ausgewiesen, die allenfalls einen perspektivisch gebrochenen Einblick in die vergangene Realität bieten. Darüber hinaus stößt auch der Prozess der Narrativierung an seine Grenzen. Angesichts der Polyvalenz und Uneindeutigkeit der zurückliegenden Erfahrungen können identitätsrelevante Erinnerungen in ganz unterschiedliche Sinnzusammenhänge eingebettet werden. Während sich die Erzählinstanz im autobiographischen Gedächtnisroman bei der Bildung und Präsentation ihrer Identität an prästrukturierten biographischen Konzepten orientiert, lotet sie im Erinnerungsroman die möglichen Bedeutungen der Ereignisse für ihre gegenwärtige Situation allererst aus und sucht nach prägenden Mustern. Die damit verbundene Auflösung des vergangenen Ereigniszusammenhangs in lose Erinnerungsfragmente indiziert kognitive und emotionale Instabilitäten und lässt auf eine fluktuierende Identität der narrativ tätigen Figur schließen. Problematisiert wird die Herstellung von autobiographischer Kohärenz nicht zuletzt dadurch, dass sich die Identitätskonstitution vor dem Hintergrund normativer Diskursformationen und gesellschaftlicher Machtverhältnisse vollzieht, die die Möglichkeiten der individuellen Selbstdefinition einschränken. In diesem Kapitel werden drei autobiographische Erinnerungsromane analysiert, die die Offenheit und Vorläufigkeit von Selbsterzählungen durch ein Spektrum literarischer Verfahren inszenieren, das als kennzeichnend für diese Gattungsausprägung gilt. In Jane Urquharts Roman The Underpainter (1997) werden vor allem eine strukturelle Multiperspektivität sowie das metonymische Leitmotiv des ,underpainting' dazu genutzt, die Instabilität des Sinnstiftungsversuchs zu illustrieren. In Mordecai Richlers Erinnerungsroman Barney's Version (1997) veranschaulicht das Verfahren der unreliable narration, der aktive Versuch der Umdeutung und Lossagung von der eigenen Geschichte, den schmalen Grad, der zwischen der Rekon-
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struktion und Konstruktion von Vergangenem liegt. Erinnerungslosigkeit wird in diesem Roman allerdings nicht nur als willentliche Verdrängungsstrategie inszeniert, sondern auch als passiv erlittener Mangel: Das Vergessen avanciert in diesem Erinnerungsroman selbst zum zentralen Thema. 2 3 3 Margaret Atwoods Roman Cat's Eye (1988) schließlich problematisiert einen ,Erinnerungsüberschuss', ein übermäßig exaktes Erinnern der eigenen Vergangenheit, das einer konstruktiven Aufbereitung des Vergangenen entgegensteht. Interne Fokalisierung, Spezifika der Zeitstruktur, strukturelle Multiperspektivität, metamnemonische Reflexionen
sowie
zahlreiche Verdoppelungsmotive wirken in dem Erinnerungsroman zusammen, um das destruktive Potential von Erinnerungen und die Desintegration der individuellen Identität zu inszenieren.
2.1 Die Kunst des Vergessens, das Narrativ der Erinnerung: Strukturelle Multiperspektivität und Ekphrasis in Jane Urquharts The Underpainter (1997) „Each afternoon now, when I have finished with my work, memory beckons me into the street, insists that I walk with her in the snow. [...] Even though there is nothing in me that wants to court the past, it fills my mind, enters my painting." (S. 9) Diese von dem autodiegetischen Erzähler Austin Frazer gleich zu Beginn artikulierten Worte versinnbildlichen die in dem Roman inszenierten Dimensionen des Vergangenheitsbezugs. Jane Urquharts autobiographischer Erinnerungsroman The Underpainter fuhrt vor Augen, wie sich der alternde amerikanische Künstler Austin Frazer zögerlich, fast widerwillig seiner Vergangenheit annähert und diese schließlich, in einem bisweilen schmerzhaften Prozess, narrativ reaktualisiert. Die im obigen Zitat evozierte Personifizierung der Memoria lässt seine Erinnerungen als ein belebtes Objekt erscheinen, dem eine nahezu unkontrollierbare Eigendynamik inhärent ist. Einem ungeliebten, aber umso persistenteren Besucher gleich fordern sie Beachtung ein und drängen auf Integration in seine Lebensgeschichte. So wird eine Wiedererschließung der Vergangenheit in Gang gesetzt, die in der Niederschrift von Frazers Memoiren mündet (vgl. S. 77). Im Prozess der retrospektiven Sinnstiftung entfalten sich sukzessive nicht nur ein komplexes Erinnerungsnarrativ, sondern auch ebenso vielschichtige Erinnerungsbilder, in denen der Erzähler die unterschiedlichen Facetten seines vergangenen Selbst nachzuzeichnen und einen plausibilisierenden Zusammenhang zwischen seinem vergangenen und gegenwärtigen Ich herzustellen versucht. Allerdings stößt Austin Frazer bei dem Versuch, der Heterogenität seiner vergangenen Erfahrungswirklichkeit eine kohärente und dauerhafte Form zu verleihen, immer wieder
233 Vgl. in diesem Zusammenhang Humphrey (2004, S. 393), der diese innovative Tendenz des Erinnerungsromans prägnant auf den Begriff bringt: „The genre o f memory remembers memoryloss."
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an die Grenzen seiner Sinnstiftungskompetenzen. Vor allem die Auflösung eines kohärenten, ereignischronologischen Narrative in ein heterogenes Nebeneinander von temporal disparaten Erinnerungs- und Reflexionselementen indiziert die prinzipielle Offenheit seiner Bedeutungskonstruktion sowie die Instabilität seines der Zeit unterworfenen, prinzipiell wandelbaren Identitätsentwurfs. Die narrative Inkohärenz und die temporalen Diskontinuitäten unterstreichen, dass Frazers Selbstnarration allenfalls eine vorläufige Antwort auf die Frage nach dem Gewordensein seiner individuellen Identität liefert. Im Zentrum von Austins Frazers Erinnerungsnarration stehen seine langjährige Freundschaft zu dem kanadischen Porzellanmaler George Kearns und seine Liebesbeziehung zu der Kanadierin Sara Pengelly. Obgleich Sara und George zu Austins wichtigsten Bezugspersonen zählen, gelingt es ihm zeitlebens nicht, eine emotional vertraute Bindung zu ihnen aufzubauen. Zu sehr ist er von seinen künstlerischen Aspirationen absorbiert, um Verständnis für die Belange seiner Freunde aufzubringen. So zerbrechen schließlich in den 1930er Jahren beide Beziehungen an Austins ebenso egozentrischer wie emotional indifferenter Verhaltensweise.234 Uber 40 Jahre später erhält der mittlerweile in seine Heimatstadt Rochester zurückgekehrte Austin einen Brief, der ihn über den Tod seiner einstigen Geliebten Sara sowie über ihr Vermächtnis, ein kleines Haus im Norden Kanadas, unterrichtet. Es ist dieses Ereignis, das Frazer dazu veranlasst, sich seiner beharrlich verdrängten Vergangenheit anzunähern und die Fragmente seiner Erinnerung Stück für Stück zu seiner Lebensgeschichte zusammenzusetzen. Neben der komplexen Zeitstruktur, in der Rückblenden in die fernere und nähere Vergangenheit mit der Darstellung der gegenwärtigen Situation des Erinnerungsabrufs verwoben werden, tragen weitere Erzählverfahren dazu bei, die für autobiographische Erinnerungsromane konstitutive Offenheit des Erinnerungsprozesses zu inszenieren. Die explizite Ausgestaltung der gegenwärtigen Erinnerungssituation lenkt das Augenmerk auf die Voraussetzungen des Sinnstiftungsprozesses und legt so die Kontextabhängigkeit der narrativ elaborierten Erinnerungen offen. Wir haben es in diesem Roman mit einem seif consdous narrator zu tun, der Vergangenes in der erinnernden Rückschau nicht bloß vergegenwärtigt. Vielmehr problematisiert er die Bedingungen des Sinnstiftungsversuchs auch in zahlreichen metamnemonischen und metanarrativen Kommentaren und bringt auf diese Weise die emotionalen und kognitiven Instabilitäten der Auslegung, Deutung und Aneignung seiner Vergangenheit in den Blick. Zur Reflexion des Sinnstiftungsprozesses trägt auch die von Austin entwickelte Zeichentechnik des ,underpainting' bei, die metonymisch den Voraussetzungen und Folgen der Vergangenheitsverarbeitung zur Anschaulichkeit verhilft. Dass Austin seine vergangenen 234 Dieser Charakterzug findet in Austins ausgeprägter Faszination für die nordische Landschaft Kanadas einen symbolischen Ausdruck. Die nordische Landschaft fungiert als Spiegelbild seiner eigenen emotionalen Kälte. Deutlich wird diese Korrespondenz etwa in der Rede des Erzählers von seiner „own interior Arctic" (S. 178).
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Lebenserfahrungen nicht nur versprachlicht, sondern sie zugleich in seinen - über das Verfahren der Ekphrasis evozierten — Bildern .nachzeichnet', lässt den Roman zu einem Palimpsest von Gedächtnisbildern werden. 235 Sichtbar wird so das besondere Leistungsspektrum von Bildern als Modus der Erfahrungsverarbeitung. Die Intermedialisierung wirft Fragen nach dem Erinnerungspotential von Medien auf und lenkt das Augenmerk auf die Konkurrenz von Erinnerung vermittelnden Medien. Durch das Nebeneinander von sprachlichen Bildbeschreibungen und Narration entsteht eine strukturelle Multiperspektivität, ein Geflecht von sich ergänzenden und widersprechenden Erinnerungsperspektiven, das die Mehrdeutigkeit von Austins identitätsrelevanten Erfahrungen zusätzlich akzentuiert. ***
Es ist die Nachricht des Todes seiner ehemaligen Geliebten Sara, die für den nunmehr in einsamer Zurückgezogenheit lebenden Künstler zum Anstoß wird, sich selbstreflexiv mit seinen vergangenen Lebenserfahrungen auseinander zu setzen. Versucht Austin Frazer anfänglich, sein Vermächtnis beharrlich zu ignorieren und darauf zu insistieren, mit der ganzen Angelegenheit ,nichts zu tun zu haben' (vgl. S. 12), so zwingt die Persistenz seiner Erinnerungen ihn nach und nach dazu, seinen Widerstand aufzugeben: „She [my memory] wants to see me circling in the cold, going nowhere." (S. 9) Seine Erinnerungen scheinen sich zu verselbstständigen und immer stärker in das Hier-und-Jetzt einzudringen, so dass seine Vergangenheit schließlich selbst zur Gegenwart wird. Die Durchdringung der Gegenwart von der erinnerten Vergangenheit bringt Austin auf den Punkt, wenn er konstatiert: „I [...] am visited only by the past." (S. 30) Offensichtlich überwältigt von den zurückliegenden Geschehnissen, ist der Erzähler zunächst nicht dazu bereit, sich mit seiner Geschichte auseinander zu setzen und diese als Teil seiner Identität anzuerkennen. Saras Vermächtnis des Hauses und die mit ihm assoziierten Erinnerungen interpretiert er als einen bewussten .Gewaltakt', der seine Verdrängungsversuche durchkreuzt und somit seinen Untergang in der Vergangenheit besiegelt: „This legacy was a deliberate act of cruelty on her part, I'm convinced of this. She knew I would be unable to cope, that I would drown in the vast sea of the past imprisoned by that house" (S. 65). Wieder und wieder betont Austin die destabilisierende Qualität seiner Erinnerungen, die angesichts ihrer fehlenden Aufarbeitung sein Gefühl der individuellen Kontinuität tief greifend in Frage stellen. Schon die ersten, zunächst nur tentativen Annäherungen an seine vergangenen Erfahrungen gestalten sich für ihn als mühsame Erinnerungsarbeit: „It is the sound of memory at work, creating a necklace of narrative" (S. 9). Der Erzähler ist sich offenbar darüber bewusst, dass seine Vergangenheitsaufarbeitung mit einer narrativen Gestaltgebung verbunden ist, bei der es darum geht, die vorerst unverbundenen Erinnerungsfragmente zu
235 Einen guten Überblick über die Formen und Funktionen von intermedialen Bezügen auf die Malerei liefert z.B. Mosthaf (2000). Die Frage, welche Funktionen intermediale Referenzen für die Rekonstruktion und Darstellbarkeit von Erinnerungen erfüllen, wird in dieser Studie leider nicht gestellt.
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einer kohärenten .Ereigniskette' zu verknüpfen, sie also in eine diachron strukturierte Ordnung zu integrieren. Aber gerade diese für Sinnbildungsprozesse notwendige Narrativierung gelingt Austin anfänglich nur schwerlich. Als Maler entschließt er sich daher zunächst zu einer ^raharrativen Verbildlichung des Erlebten, die ihm die nötige Distanz gestattet, sich den prekären Schichten seines Gedächtnisses anzunähern: I will paint Sara, the inherited house, the fist of Thunder Cape on the horizon, the frozen lake, her hands, the Quebec heater, the slowly fading fires. I will paint the small-paned window, the log walls, a curtain illuminated from behind by winter sun, the skein of grey I never saw in Sara's hair. (S. 14) Wie seine Erzählung allmählich offen legt, neigte Austin zeitlebens dazu, seine identitätsrelevanten, zumal problematischen Erfahrungen ausschließlich in seinen Bildern zu verarbeiten. Verbildlichung, nicht Versprachlichung stellt sich für ihn als dominanter Modus der Sinnstiftung dar. In seinen - durch intermediale Verweise evozierten — Bildern wie Τ'he Surprise Appearance oder Night Journey from the North materialisieren sich jene prekären Erfahrungsfragmente, die sich für das erlebende Ich einer Narrativierung entziehen. Bilder, zumal künstlerisch entfremdete, scheinen ein alternatives Repräsentationsformat zu bieten, das im Vergleich zu Narrationen ein geringes Bedrohungspotential aufweist und das ein Spektrum diffuser, kognitiv und affektiv ambivalenter Erfahrungsaspekte in visuell anschaulicher Gestalt verdichtet. Im Gegensatz zu der kreativen Uneindeutigkeit von Bildern ist eine erzählerische Darstellung nicht nur angesichts ihrer Sequentialität mühsamer und dadurch schmerzhafter. Auch der mit dem Narrativierungsprozess verbundene Rückgriff auf kulturell verfügbare und kulturell standardisierte Erzählmuster bzw. Deutungsschemata birgt ein ambivalentes, oftmals sogar bedrohliches Potential, denn er führt zu einer Konventionalisierung der individuellen Erfahrungen und negiert damit unweigerlich deren subjektiv empfundene Singularität (vgl. Roth 1998, S. 167). Dass mit dem Narrativierungsprozess daher auch eine Verlusterfahrung verbunden ist, betont der Erzähler, wenn er mit Blick auf den memory talk seines Vaters lakonisch feststellt: „I came to understand that by telling me about the past, he had been removing it [...] so that there would be room for the new person he was becoming. A well-swept, clean and empty space for the present" (S. 36). Es typisch fur den autobiographischen Erinnerungsroman, dass das - im Gedächtnisroman als positiv vorausgesetzte - Leistungsspektrum von Narrationen einer kritischen Prüfung unterzogen wird. Bildliche Repräsentationen bieten dem erlebenden Ich eine Möglichkeit, sich seinen hochgradig belastenden Erfahrungen anzunähern, ohne sich diesen jedoch direkt stellen zu müssen. Sichtbar wird das medienspezifische Erinnerungspotential insbesondere an der von Austin eigens entwickelten Technik des ,underpainting'. Diese aufwändige Zeichentechnik besteht darin, die gegenständliche Konkretheit der ursprünglich gezeichneten Szene durch zahlreiche weitere Bildschichten zu übermalen und sie so mehr und mehr zu dissimulieren bzw. sie bis zur Unkenntlichkeit zu entstellen. Mit Blick auf die projektierte Zeichnung von Sara stellt Aus-
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tin fest: ,,[C]arefully, painstakingly, I will remove the realism from it, paint it all out." (S. 14) Der künstlerische Kompositionsprozess zielt darauf ab, den originären Realismus der Untermalung schichtweise .auszulöschen': I wanted to concretize the images, turn them into the kind of physical realities that occupy space and suggest depth - however illusory. Then I wanted the physical reality veiled. This was not a simple task. It wasn't long before I discovered that the underpainting - the original scene - was going to be at least as crucial as the overpainting, not only intellectually but also visually since I had decided that carefully chosen parts of its line, form, and composition were to be faintly visible in the completed painting. (S. 149)
Zwar scheint dieser Schichtungsprozess der relativ normalen Funktionsweise des individuellen Gedächtnisses zu gleichen, denn ebenso wie die Konturiertheit der Untermalung durch die Applikation neuer Farbschichten zunehmend verblasst, wird auch die Erinnerung an vergangene Ereignisse durch nachfolgende Erfahrungen und Bedeutungszuweisungen überlagert. So können vergangene Ereignisse in der Regel kaum gemäß ihrer primären Erfahrungsrealität, sondern nur durch den .Schleier' späterer Sinnstiftungen bzw. Schemata erinnert werden. Gleichwohl konkretisiert sich in diesem künstlerischen Verfahren eine genuin für Austin charakteristische Weise der Erfahrungsverarbeitung: Er funktionalisiert das künstlerische Verfahren dazu, die in der Untermalung dargestellten prekären Erfahrungen unter nachfolgend aufgetragenen, entfremdenden Farbschichten für .immer zu begraben' („to paint out forever", S. 149). Auch die mehrfache Assoziation des unterlegten Bildes mit „ghosts" (vgl. S. 29, 39, 149) bzw. mit „drowned corpses, bloated and obscene" (S. 149) suggeriert, dass seine Kunst ihm eine Möglichkeit bietet, das von ihm ersehnte Vergessen voranzutreiben. Der Prozess der ,Untermalung' (der korrekterweise als .Ubermalung' 236 bezeichnet werden müsste) bietet dem erlebenden Ich einen Schutzmechanismus, der darauf abzielt, destabilisierende Ereignisse aus seinem Gedächtnis auszuschließen („the casting off of despair, about catharisis, anesthetic", S. 152). Austins Kunst ist somit in erster Linie eine Kunst der aktiven Auslöschung bzw. eine Kunst des Vergessens: „I wanted total disguise." (S. 208) Mit Blick auf die Mimesis der Erinnerungen simuliert das künstlerische Verfahren des .underpainting' die für das erlebende Ich typische Weise der Vergangenheitsverarbeitung, d.h. seine Tendenz, problematische, seine Sinnstiftungskompetenz überfordernde Erinnerungen willentlich dem Vergessen anheim zu geben: „I wanted to forget all about it. [...] One is kept so busy with oil paint." (S. 161) Das bedrohliche, destabilisierende, nicht identitätsstiftende Potential von Erinnerungen rückt damit ins Zentrum des autobiographischen Erinnerungsromans. Erst am Ende seines Lebens gelangt Austin zu der desillusionierenden Einsicht, dass sich die visuell-künstlerische Aneignung der Wirklichkeit als recht defizi-
236 So lautet auch der Titel der deutschen Übersetzung Vbcrmalungtn.
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tares Medium der Bedeutungsstiftung erwies, das seine zunehmende Isolation zur Folge hatte. Sein mehrfach zum Ausdruck gebrachtes Gefühl der Selbstentfremdung deutet darauf hin, dass die in seiner Kunst praktizierte Verdrängung von identitätsrelevanten Erfahrungen die Herstellung von biographischer Kontinuität verhindert: „I cannot see myself, the boy I was then" (S. 22). Die in seiner Kunst realisierte .Auslöschung' führte zu einer bedenklichen Distanzierung von seiner sozialen Umwelt. Nach und nach erkennt Austin, dass die primär visuelle Annäherung an die Wirklichkeit eine Objektivierung von ihm nahe stehenden Personen mit sich brachte. Während Sara, George und auch dessen Freundin Augusta stets darum bemüht waren, durch das Erzählen ihrer Geschichten soziale Bande zu knüpfen, verschloss sich Austin diesen Versuchen beharrlich: „Sara always attempted to give me her autobiography - whole. But I tore it apart, silenced her, tossed the parts of her narrative I felt I couldn't use, like shredded paper, into the wind. I was constructing her, after all, in my paintings. I wanted no interference with the project." (S. 89)237 Anstatt sich auf einen kommunikativ-sozialen Austausch einzulassen und so zur sozialen Integration beizutragen, missbraucht er die ihm dargebotenen Geschichten seiner Freunde vor allem dazu, sich diese als Stoff für seine Kunstwerke anzueignen und sie dort kreativ zu verarbeiten: „I ask myself: what has your life been? You have used everything around you. And for what? An arrangement of colours on a flat surface." (S. 267)238 Das Ausmaß dieses Fremdbezugs schlägt sich in Austins Unfähigkeit nieder, seine eigenen Erfahrungen von denen anderer zu unterscheiden: „I scarcely know which images are mine and which have been taken by me, fully developed, from others [...] This is the uncertainty I have been left with." (S. 179) Austins Zeichnungen liefern ein nur sehr unvollständiges Bild seines vergangenen Selbst, das auf seine aktuellen Sinn- und Identitätsbedürfnisse keine Antwort zu liefern vermag: „It is what I live with now, this vacancy. I am full of emptiness." (S. 136) Seine Versuche, sich in seinen Bildern wiederzuerkennen, laufen daher immer wieder ins Leere. Sich selbst steht Austin wie einem Fremden gegenüber, beruht doch sein individuelles Selbstbild maßgeblich auf .Diebesgut': „I am haunted by robbed histories, stolen goods." (S. 29) Die diachrone Dimension seiner Identität basiert nicht auf Selbst-, sondern auf .Fremdgeschichten', die seine Identität zu einer .geliehenen' und fremdbestimmten machen. Sein Eingeständnis, sich von den Geschichten anderer Personen verfolgt zu fühlen, zeigt überdies, dass sich vergangene Erfahrungen, die Geister, eben nicht unproblematisch und widerstandslos unter dick aufgetragenen Farbschichten begraben lassen. Ganz im Gegenteil stellt der Erzäh-
237 Vgl. in diesem Zusammenhang auch folgende Einsicht: „George, Rockwell, Augusta, Sara. I cannot forget how they crept near and, like merchants unfurling silk scarves on tabletops, placed narrative after colourful narrative in front of me." (S. 178) 238 Siehe hierzu auch: „Slicing into the lives of others, I have walked away with only disparate pieces; walked away with both permanent and fugitive colours, with distinguishable and vague shapes." (S. 89) Vgl. des Weiteren S. 108, 117,149.
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ler wiederholt beunruhigt fest, dass diese Geister ihn fortwährend heimsuchen und ihm seine Vergangenheit in Erinnerung zu rufen suchen: „Ghosts whose only reason for being here is to haunt me." (S. 28) An seinem Lebensende steht der Erzähler daher vor der Aufgabe, unter den vielen Schichten der in seine Bilder eingegangenen, ,gestohlenen' Erfahrungen die übermalten Facetten seiner persönlichen Geschichte freizulegen. Will er die disparaten Aspekte seiner vergangenen Erfahrungsrealität und seines vergangenen Selbst an sein gegenwärtiges Identitätsverständnis anbinden, so muss er die Erfahrungen, die er bislang nur bildlich darstellen konnte, versprachlichen: „Unable until now to muster the concentration necessary to report my memories verbally to anyone, all my energies have gone into the past, to exorcising ghosts, to obliterating conscience." (S. 178) Seine Identitäts- und Erinnerungsarbeit gestaltet sich als Versuch, die sorgsam zum Verschwinden gebrachten Untermalungen („those ghosts of formerly rendered shapes that the artist had intended to paint out forever", S. 149) in narrativierter Form an die Oberfläche zu bringen, sie als Teil seiner gegenwärtigen Identität auszuweisen und damit auch Verantwortung für sein vergangenes Tun zu übernehmen. Im Gegensatz zum autobiographischen Gedächtnisroman, in dem die Erzähler zur sinnhaften Gestaltung ihrer Erfahrung auf standardisierte, kulturell verfügbare Erzählmuster zurückgreifen, stellt sich die Kreation eines subjektiv geeigneten Repräsentationsformats für die Erzähler im Erinnerungsroman typischerweise als zentrale Herausforderung dar. Austins Narration ist von einem Spektrum intermedialer Referenzen auf seine vorgängig gemalten Bilder durchzogen. Die intermediale Evokation seiner Bilder stellt einen integralen Teil seiner Vergangenheitserzählung dar, die seine zurückliegende Erfahrungsrealität einspielt. E s kommt zu einem Zusammenspiel von versprachlichter und visualisierter Erinnerung, das im Sinne einer Intensivierung der Erinnerungshaftigkeit wirkt: Much later I would paint the dark water with bright-blue lights reflecting on it [...]. I would paint the angular form o f the sawhorse in lamp black, and, for the first time, I would put myself almost a silhouette, shown from the rear. Oddly enough it was this dark figure, this witness to departure, that was the m o s t difficult to transform, that bled through the subsequent layers o f paint, and finally had to be scraped o f f with a knife. (S. 200f.)
Den versprachlichten Referenzen auf seine Bilder ist ein besonderes Leistungsvermögen inhärent: Sie bringen zum einen seine bislang verdrängten Erfahrungen zur Sprache und schaffen so die Grundlage für eine selbstreflexive Auseinandersetzung mit seiner Vergangenheit. Zum anderen ermöglicht ihm die ausgeprägte Ekphrasis, 239 sich weiterhin das spezifische Erinnerungspotential von visuellen Darstellungen nutzbar zu machen. Sie führt zu einer .fingierten Visualität'. Bilder zeichnen sich vor allem durch das Fehlen einer chronologischen und kausalen Struktur aus. 239 Vgl. zu dem Leistungspotential von Ekphrasis für die Wiedererschließung von problematischen Erfahrungen v.a. Mitchell (1994, S. 153f ).
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Sie stellen bestimmte Episoden als sinnverdichtete Bedeutungseinheit dar; in ihnen überlagern sich heterogene, temporal differente Erfahrungsaspekte zu einem einzigen .Erinnerungsbild'. Die rekurrente Evokation seiner Bilder konstituiert allmählich eine palimpsestartige Erinnerungscollage seiner Vergangenheit. Das hochgradig impressionistische Darstellungsverfahren gestattet es Austin, auch jene Erfahrungsepisoden bildlich aufzurufen, die sich einer direkten Narrativierung entziehen. Die für Austins Erzählung kennzeichnende Ekphrasis führt zu einem Nebeneinander von (erzähltem) Bild und Narrativ und hat damit eine für autobiographische Erinnerungsromane typische strukturelle Multiperspektivität zur Folge. Sie verleiht der Polyvalenz und Uneindeutigkeit seiner Vergangenheit Ausdruck. Die anfänglich nur kursorisch erwähnten Inhalte seiner Bilder werden im Laufe seiner Erzählung allmählich elaboriert, ausgestaltet und fortgeschrieben. Die intermedialen Referenzen stützen und ergänzen sich nicht nur, sondern durchkreuzen sich auch, und tragen so einer ästhetischen Steigerung der Erinnerungshaftigkeit bei. Besonders deutlich wird dieses repetitive Verfahren bei Bildern wie Night in the China Hall, die später als Kapitelüberschriften fungieren und dort zum Gegenstand einer ausführlichen narrativen Exploration werden. Signifikant ist in diesem Zusammenhang, dass die Beschreibung seiner Bilder einerseits und deren nachfolgende narrative Wiedererschließung andererseits oftmals unterschiedliche Aspekte seiner vergangenen Erfahrungsrealität zutage bringen. So bezieht sich Austin etwa mehrfach auf ein Bild namens The Sawhorse, lädt es im Zuge seiner Vergangenheitsrekonstruktion mit verschiedenen Bedeutungen auf — die von der gewöhnlichen Vergänglichkeit von Gebäuden (vgl. S. 40) über seine Interaktionen mit zentralen Bezugspersonen (vgl. S. 89) bis hin zu seinem Gefühl der Verzweiflung reichen (vgl. S. 151) - und trägt so der Polyvalenz seiner Erfahrungsrealität Rechnung. Die Implikate der sukzessiven Fortschreibung seiner Vergangenheitsbilder sind der changierende Charakter von Erinnerungen sowie die Vielschichtigkeit seines Selbst (vgl. Löschnigg 2000, S. 105): The Underpainter setzt damit literarisch die gedächtnistheoretische Einsicht um, das sich auf der Basis der gleichen Erinnerungsspur ganz unterschiedliche Vergangenheitsversionen und divergente Identitätsaspekte entwerfen lassen. Die häufigen intermedialen Verweise auf seine vorgängig gezeichneten Bilder sowie die Darstellung seiner aktuellen Situation des Erinnerungsabrufs führen zu einer Auflösung der linearen Ereignischronologie in lose assoziierte, palimpsestartige Episoden. Das für seine Zeichnungen kennzeichnende Fehlen einer kausalen und chronologischen Struktur wird zum Gestaltungsprinzip seiner gesamten Erinnerungserzählung. Sichtbar wird die fehlende kausale Chronologie insbesondere an der Rekonstruktion seiner Beziehungen zu Sara sowie zu seinem Freund George, die im Zentrum seiner Lebensgeschichte stehen und die ihm sein persönliches Versagen retrospektiv deutlich ins Bewusstsein rufen. Den Beginn seiner Selbstnarration markiert eine Szene, in der Austin imaginiert, wie seine einstige Liebe Sara auf ein - tatsächlich geschriebenes - Telegramm
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reagiert, in dem er ihr, zwei Jahre nach Beziehungsabbruch, ein erneutes Treffen vorschlagt. In einem Hotel, in der Nähe von Port Arthur auf ihre Ankunft wartend, malt er sich aus, wie Sara die kanadische Winterlandschaft durchquert: „Tomorrow, she will ski sixteen miles across Thunder Bay to the modest lakehead city o f Port Arthur. All o f this is a very long time ago now, forty years at least. A very long time ago and purely hypothetical on my part." (S. 4) Den Fortgang dieser wie die prominente Platzierung suggeriert - als äußerst signifikant erachteten Szene schildert Austin erst nahezu am Ende seiner Erzählung. Die für seine gesamte Narration kennzeichnende anachronische Zeitstruktur, die diskontinuierliche O f fenlegung seiner Vergangenheit, zeigt, wie schwer es dem Erzähler fallt, sich seiner vergangenen Erfahrungen anzunehmen. Sie illustriert die Schwierigkeit, die Heterogenität seiner Erfahrungsrealität zu einem einheitlichen Narrativ zu synthetisieren: ,,[C]ontrolling things", so auch Austins selbstreflexives Eingeständnis, „ordering them, became untenable" (S. 177). Dass Austin seine autobiographische Erzählung mit einer Szene beginnt, in der Imaginiertes und Erinnertes zu einem unauflöslichen Ganzen verschmelzen, akzentuiert die ausgesprochen ephemere Qualität seiner Erinnerungen und lenkt den Blick auf den schmalen Grad, der zwischen der Erfindung und der Findung der eigenen Vergangenheit liegt. Auch fabulierte Szenen können offenbar eine sinnstiftende Funktion erfüllen: So geht es beim Erinnern um die Schaffung eines subjektiv stimmigen Bedeutungszusammenhangs, nicht um die detailgenaue Wiedergabe des Vergangenen. Mit Sara verbindet ihn eine 15-jährige Liebesbeziehung, die für Austin vornehmlich darin besteht, sie als williges Modell für seine Zeichnungen zu instrumentalisieren. Seine ihm durch die Malerei ermöglichten Objektivierungs- und Distanzierungsstrategien, seine Versuche, sein Modell nach dem Vorbild der arktischen Kälte zum Erstarren zu bringen („Freezing it", S. 13), bleiben über die Jahre hinweg konstitutiver Bestandteil seiner Beziehung. In der erinnernden Rückschau versucht Austin, seine vergangenen Verhaltensweisen zu plausibilisieren und ihnen durch das Heranziehen von zahlreichen kunsttheoretischen Floskeln ihre prekäre Qualität zu nehmen: „Between the artist and the model, you see, there must always be a distance." (S. 82) Seine langatmigen Ausführungen über die Grundsätze der Porträtmalerei (vgl. S. 83f.) wirken wie verzweifelte Versuche der Selbstrechtfertigung. Zwar kann er sein Fehlverhalten nicht völlig leugnen, aber doch die Tragweite seines Tuns durch eine entsprechende, auf Normalisierung angelegte Kontextualisierung
bagatellisieren.
Allerdings
scheitert
die
angestrebte
Legitimierung
regelmäßig und mündet in die desillusionierende Einsicht in sein egozentrisches Verhalten:
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It would by years before I could admit that although I wanted every detail of her in my painting - her body, her ancestry, her landscape, her house - wanted the kind of intimacy that involved not just the rendering of her physical being but also the smell of her skin and her hair, the way she moved around the kitchen, the sounds at the back of her throat when she made love, I would have preferred not to have been known by her at all. (S. 140f.) Austin gelingt es nicht, eine als kohärent erlebbare Verbindung zwischen seinem vergangenen und gegenwärtigen Ich herzustellen. Es werden immer wieder Brüche und Widersprüche zwischen vergangenen Verhaltensweisen und gegenwärtigen Einsichten sichtbar, die darauf hindeuten, dass er seine zurückliegenden Erfahrungen nicht hinreichend plausibilisieren kann, seine Erzählung also eine äußerst instabile Grundlage für die Konstitution von biographischer Kontinuität bildet. Der Narrativierungsprozess kann sein Sinnversprechen kaum einlösen. Seine vergangenen Empfindungsweisen stehen zu seinem gegenwärtigen Selbstverständnis und Erkenntnishorizont bisweilen in einem solch prägnanten Gegensatz, dass sie einen identitätsgefährdenden Bruch der Kontinuität bedeuten. Der Bedeutung vergangener Erfahrungen, so etwa auch seiner Beziehung zu Sara, wird er sich erst retrospektiv bewusst. Rückblickend erinnert er seine Zeit im Urbanen New York, wo er sich in bewusster Distanz zu Sara aufhielt, als ebenso erfüllend wie aufregend: „I went to parties and the art openings of friends. I performed duties attached to the various clubs and organizations to which I belonged. For me, winter was always a busy season, one I enjoyed immensely, especially as my reputation grew and my sales increased." (S. 79f.) Für Sara, die für ihn die faszinierenden Facetten des unberührten kanadischen Nordens versinnbildlicht, ist in der großstädtischen Betriebsamkeit kein Raum: „She had no place, no relevance at all, in this part of my life" (S. 81). Nur wenig später stellt der Erzähler diese lebhaften und detaillierten Erinnerungen allerdings in Frage, muss er doch eingestehen, dass seine Aufenthalte in New York längst nicht so erfüllend waren wie zuvor suggeriert. Im Gegenteil gibt er nun zu, dass er sich damals regelrecht davon überzeugen musste, Sara nicht sehen zu wollen, denn er befürchtete, sie könnte die Seiten seines Selbst entdecken, die er tunlichst zu verbergen suchte: ,,[A]11 through those long winters in New York, winters when I had convinced myself that I had no wish to see Sara, the truth of the matter must have been this: I did not want Sara to see the man I really was." (S. 86) Dass der Erzähler erst nach und nach zu dieser desillusionierenden Einsicht gelangt und er damit vorgängige Erinnerungen als unzulängliche, von seinem gegenwärtigem Rechtfertigungsdrang überformte Konstruktionen preisgibt, veranschaulicht die Schwierigkeit, vergangenen, zumal als problematisch erachteten Verhaltens- und Empfindungsweisen retrospektiv Sinn zuzusprechen und sie als Komponente der eigenen Lebensgeschichte anzuerkennen. Zusätzlich akzentuiert wird sein Unwille, sich seiner Vergangenheit zu stellen, auch durch rekurrente Versuche, bestimmte Erinnerungen gänzlich zu verdrängen: „I don't like to think of that now; my name on her lips, the sound of it so near." (S. 68)
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Diese zögerliche und widersprüchliche Weise der Erkenntnisbildung lässt sich in eine ganze Reihe vergleichbarer Prozesse einordnen, bei denen die ursprüngliche Erinnerungsversion vor dem Hintergrund späterer Eingeständnisse als unzutreffende, trügerische Einschätzung desavouiert wird. Immer wieder kommt der Erzähler zu dem Schluss, dass er sich bei seinen vorgängigen Einschätzungen irrte (vgl. S. 23, 39, 218), oder muss eingestehen, dass er die Bedeutung von Erfahrungen für seine Selbstverständnis nicht einzuschätzen vermag: „I am like an old museum filled with relics no one is able to identify any more." (S. 39) Die diskontinuierliche und bruchstückhafte Wiedererschließung von Austins vergangener Erfahrungsrealität und die so bewirkten Abweichungen von der Norm der ,„singulative' frequency" (Toolan 1988, S. 61) illustrieren in diesem Fall weniger die oftmals sprunghafte, assoziative Funktionsweise von Erinnerungen. Vielmehr verweist sie auf die Komplexität der Praktiken des meaning making, also auf den offenen, prinzipiell unabschließbaren und stets provisorischen Charakter von Vergangenheitsauslegungen. Die narrative Offenheit zeigt, dass einzelne Erinnerungsspuren in ganz unterschiedliche Kontexte integriert werden können; die daraus resultierenden Erklärungen jedoch immer nur einen vorläufig letzten Versuch darstellen, eigene Motive zu deuten. Erst nahezu am Ende seiner Autobiographie vermag Austin das Ereignis zu thematisieren, das ihn Zeit seines Lebens im Bann gehalten hat: die Mitschuld an den Selbstmorden seines Freundes Georges („a particularly tenacious ghost", S. 39) und dessen Freundin Augusta Moffat. E r muss sich mehrfach dazu überreden, sich dieser prekären Schicht seines Gedächtnisses überhaupt anzunähern: „[It] has to be remembered." (S. 90) Austins gedankenlose Entscheidung, den beiden in Begleitung von Vivian, Georges einstiger Geliebten, einen spontanen Besuch in Davenport abzustatten, bildet den Anstoß für eine dramatische Handlungsentwicklung: Die Offenlegung, dass der vor 20 Jahren eingegangene eheliche Bund zwischen Vivian und George noch immer besteht, setzt bei Augusta eine Reaktualisierung ihrer quälenden Erinnerungen an den Ersten Weltkrieg in Gang, die sie derart überfordert, dass sie sich schließlich mit Morphium das Leben nimmt. Augustas Selbstmord veranlasst George dazu, sich ebenfalls umzubringen, nicht ohne zuvor seine zeitlebens geliebte und gepflegte Porzellansammlung zu zerstören. Die Scherben dieser Sammlung werden zum metaphorischen Ausdruck für Austins persönliches Scheitern, zum Ausdruck einer identitären Fragmentierung, die dieses bislang nicht verarbeitete Ereignis für ihn zur Folge hat: „[George] had left a personal message for me: the shards of his china collection" (S. 255). Der bruchstückhafte und fragmentarische Charakter von Austins retrospektiver Sinnstiftung findet in seinem - sich leitmotivisch durch den Roman ziehenden — Versuch Ausdruck, die Porzellansammlung seines Freundes Georges zu rekonstruieren. Stand er der in seinen Augen naiv-sentimentalistischen Kunst seines Freundes bislang mit kaum zu übertreffender Arroganz gegenüber, so macht er es sich nach Georges Selbstmord zur Aufgabe, die einzelnen Fragmente von dessen Sammlung Stück für Stück zusammenzufügen. Der Rekonstruktionsprozess wird zur Metapher für Austins Bemühen, die Disparität seiner eigenen Erfahrungen
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narrativ zu reintegrieren und damit der Diversifizierung bzw. dem .Zerfall' seiner individuellen Identität entgegenzuwirken. Ebenso wie es gilt, die einzelnen Elemente der Sammlung zu einer übergeordneten Einheit zusammenzufügen, fehlende Teile zu rekonstruieren, sie also so zu remodellieren, dass sie sich in das Ganze der Sammlung einfügen lassen, so muss auch Austin seine heterogenen Erinnerungsfragmente dergestalt elaborieren, dass diese sich in die übergeordnete Struktur seiner Lebensgeschichte einpassen. Elemente, die sich als nicht kompatibel mit der Gesamtstruktur seines Narrativs erweisen, werden ausgespart oder kreativ umgedeutet: „Some of the tinier fragments were impossible to place" (S. 273). Impliziert ist damit die Einsicht, dass auch Gedächtnisinhalte nicht gegeben sind, sondern den Erfordernissen unterliegen, die sich aus ihrer Passung in die jeweiligen Rahmen ihrer Abrufsituation ergeben. 240 Angesichts des rekonstruktiven Charakters von Erinnerungen ist auch die individuelle Identität als Resultat einer produktiven Syntheseleistung heterogener Identitätsaspekte anzusehen. Gleich der Fragilität der Porzellansammlung kann es sich hierbei nur um eine ephemere Gestaltgebung eines der Zeit unterworfenen Selbst handeln. Verantwortung für die tragischen Ereignisse, die sich in der China Hall zutragen, versucht der Erzähler aber nicht nur dadurch zu übernehmen, dass er sich um die Rekonstitution von Georges Sammlung bemüht. Auch die detaillierte narrative Wiedergabe von Augustas Erinnerungen, die diese vor allem in jener Nacht mit ihm teilt, können als Ausdruck für seine nunmehrige Bereitschaft konzipiert werden, sich in einen aktiven Bezug zu seinen vergangenen Verfehlungen zu stellen: „One long winter night in the China Hall she told me the story of her life. There is nothing to modify, to obscure." (S. 90) Augustas Erinnerungen, die sie in verschiedenen, auf der Handlungsebene des Romans inszenierten Gesprächen an Austin weitergibt, konstituieren einen zentralen Gegenstandsbereich seiner Autobiographie, so dass sich trefflich von einer (Auto-)Biographie innerhalb von Austins autobiographischer Erzählung sprechen lässt. Augustas Erinnerungen an den Ersten Weltkrieg verleihen Austins Erzählung eine für autobiographische Erinnerungsromane kennzeichnende kollektive Dimension, denn sie problematisieren zentrale Aspekte einer übergeordneten, kanadischen Identitätsbildung. Im Zentrum von Augustas memory talk stehen ihre Erlebnisse in Frankreich, wo sie während des Ersten Weltkrieges in einem kanadischen Lazarett, dem Number One Canadian Hospital, arbeitet. Sukzessive legt sie ihre traumatischen Erfahrungen offen, ihre sich bis zum Wahnsinn steigernde Angst vor fortwährenden Luftangriffen, ihre Sorge um ihren vermissten Bruder Fred, die zahlreichen, oftmals erfolglosen Operationen, den Verlust ihrer besten Freundin Maggie und ihre Versuche, die Schrecken des Krieges durch den Konsum von Morphium zumindest 240 Diese Konzeption von Erinnerungsprozessen erinnert an die viel zitierte Analogie des Psychologen Ulric Neisser (1967). Neisser vergleicht die erinnernde Person mit einem Paläontologen, der auf der Grundlage der verfügbaren fossilen Reste und seines Wissens versucht, die Gestalt eines Dinosauriers zu rekonstruieren.
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punktuell zu vergessen. Neben die universale Schreckensdimension des Kriegs rückt eine spezifisch kanadische Komponente, nämlich die Reflexion der problematischen, mit dem Ersten Weltkrieg zur Kulmination gelangenden Folgen des kolonialen Verhältnisses zwischen Kanada und dem Mutterland Großbritannien. Diese Beziehung wird in zahlreichen Gesprächen zwischen Augusta und Maggie zum Gegenstand von Kritik. So hat das koloniale Abhängigkeitsverhältnis den Tod von über 60.000 kanadischen Soldaten zur Folge. Wiederholt stellt Augusta dem vermeintlichen Ewigkeitsanspruch des nationalen Symbols Kanadas, dem „Maple Leaf', seine Vergänglichkeit und Anfälligkeit entgegen; die Phrase „Britannia est magna insula" mündet in der Einsicht, dass dieser Ort viel zu klein sei, um auch über seine Grenzen hinweg so viel Leid zu verschulden. Auch ein rekurrenter Traum Augustas, in dem sich Erinnertes mit Imaginiertem verbindet, bringt das verzehrende Verhältnis zwischen Kanada und Großbritannien eindrücklich zur Darstellung. Als Jugendliche muss Augusta ihre Brüder regelmäßig beim Auswendiglernen von Gedichten kontrollieren. Viele dieser Gedichte beschwören die nahezu grenzenlose Treue zum Mutterland. Augusta träumt, dass ihre Brüder ein Lobesgedicht auf England und seine Errungenschaften deklamieren, während sie verzweifelt versucht, sie vor der Glorifizierung Englands zu warnen. Ihre Warnungen laufen allerdings ins Leere: „In the dream she would try to warn her brothers, but they behaved as if she weren't there, as if her voice weren't reaching them." (S. 175) Mit der Integration von Augustas Erinnerungen an den Ersten Weltkrieg erschließt The IJnderpainter ein Ereignis, dem im Kollektivgedächtnis Kanadas eine kaum zu überschätzende Rolle zukommt. Der Erste Weltkrieg sollte das Selbstverständnis Kanadas und insbesondere auch die Beziehung zum ,Mutterland' Großbritannien nachhaltig verändern. Kanada leistete einen extrem hohen Beitrag zu diesem Krieg, einen Beitrag, der in der Phrase der .Crucified Canadians' (vgl. Tate 1998) einen sinnfälligen Ausdruck findet. Dieser Einsatz ist nicht nur auf den britischen Patriotismus von zahlreichen Anglo-Kanadiern zurückzuführen, sondern auch und vor allem auf das strategische Kalkül der Regierung, durch die immense Unterstützung endlich der nationalen Unabhängigkeit den Weg zu ebnen. Im Gegensatz zu vorherrschenden Vergangenheitsdeutungen, die den Ersten Weltkrieg als eine vornehmlich (zentral-)europäische und männliche Erfahrung erinnern, wird dieses weltpolitische Ereignis in The IJnderpainter konsequent aus kanadischer, zumal aus einer weiblichen Perspektive dargestellt. In The Underpainter stehen diejenigen historischen Akteure im Zentrum, deren Erfahrungen in dominanten Vergangenheitsauslegungen des britischen Zentrums häufig unterrepräsentiert bleiben. Bestehenden Deutungsmustern, insbesondere des britischen Mutterlandes, stellt Jane Urquharts Roman subversive Gegenerinnerungen entgegen, die nicht nur eine .Kanadisierung', sondern auch eine Feminisierung des Ersten Weltkrieges zur Fol-
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ge haben. 2 4 1 Indem The Onderpainter dieses weltpolitische Ereignis aus dem Blickwinkel gemeinhin marginalisierter Stimmen repräsentiert, inszeniert er ein Gegengedächtnis, das die etablierte Grenze zwischen Erinnern und Vergessen, zwischen Zentrum und Peripherie, nachhaltig in Frage stellt. D e r Roman macht neue, bislang kaum beachtete Erfahrungsbereiche erinnerbar und bietet — als Medium der kollektiven Erinnerung - alternative Deutungsschablonen für den Ersten Weltkrieg an. Zusätzlich ausgelotet wird das Verhältnis zwischen Großbritannien und Kanada, zwischen Zentrum und Peripherie, durch zahlreiche intertextuelle Referenzen auf Charlotte Brontes Roman ]ane Eyre (1847), die vor allem Augustas Erinnerungserzählung durchziehen (vgl. S. 92, 124, 125-131, 132, 134, 248). Manifest werden die intertextuellen Anspielungen insbesondere in der Figurenkonzeption. Signifikant ist, dass Augusta ebenso wie ihre literarische Vorgängerin J a n e entdecken muss, dass ihr Geliebter George Kearns bereits verheiratet ist. Für beide wird diese Entdeckung zu einem destabilisierenden Schlüsselereignis, das die Integrität ihrer Identität erheblich gefährdet. Suggeriert wird die Parallelisierung der beiden weiblichen Figuren überdies in zahlreichen Albträumen und Halluzinationen, die Augusta in Folge einer Mandeloperation heimsuchen. Ihre T r ä u m e haben ein reales Ereignis, das sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts zuträgt, zum Gegenstand: das Verschwinden eines jungen Mädchens namens J a n e Eyre in den Wäldern von Davenport. In ihrem Delirium verschmilzt diese junge kanadische Frau mit der gleichnamigen Protagonistin aus Charlotte Brontes Roman zu einem einzigen „lost female spirit" (S. 125). In ihren von Betäubungsmitteln vorangetriebenen Albträumen identifiziert sich Augusta mit dieser verlorenen Frauengestalt: „She [Jane Eyre] had Augusta's face, her will." (S. 126) Augusta halluziniert, wie sie verzweifelt versucht, ihren Verfolgern zu entkommen, da diese das hilflose K i n d gewaltsam zum Sprechen zwingen wollen: „She had no voice, it had been ripped from her throat. T h e followers, Augusta knew, would force the child to commit the act o f speech, and there would be the pain o f crying out. [...] Nothing in the child, or in Augusta, wanted to answer." (Ebd.) In Augustas Wahnvorstellung verbindet sich dieser angstvolle Fluchtversuch mit ihren Erfahrungen als Krankenschwester im Ersten Weltkrieg, mit den zahllosen gebrochenen Soldaten, die in ihrer Agonie nach ihr verlangen und denen zu helfen sie unfähig ist (vgl. ebd.). Die Flucht in die Schutz verheißenden Wälder und eine hiermit verbundene Regression in die frühe Kindheit unterstreichen nachdrücklich, von welch' bedrängender Natur ihre Kriegserinnerungen sind. Die zahlreichen intertextuellen Referenzen verdeutlichen die grundlegende Rolle von Literatur als Medium der kollektiven Erinnerung. Sie evozieren — im Sinne von Barthes' Konzept des chambre d'echos — die textuelle Präsenz der kulturge241
Die Feminisierung des Ersten Weltkrieges wird an Augustas shell shock besonders deutlich (vgl. S. 123Γ.). Im Gegensatz zu Hysterie gilt shell slrnck als ein gemeinhin nur bei Männern bzw. Soldaten auftretendes psychisches Phänomen.
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schichtlichen Vergangenheit und zeigen, wie nachhaltig sich literarische Texte in das kollektive Gedächtnis einschreiben können. Es ist - mit Blick auf das Verhältnis zwischen Kanada und England - von besonderer Bedeutung, dass The Urtderpainter Brontes Klassiker Jane Eyre nicht nur aktualisiert, sondern ihn auch produktiv umdeutet und ihm eine alternative Lesart entgegenstellt. Durch das postkoloniale .writing back' setzt sich Urquharts Roman kritisch mit den Folgen des Kolonialverhältnisses auseinander und zeigt innovative Deutungsmöglichkeiten der Kollektiwergangenheit auf. Die kritisch-reflexive Dimension des Erinnerungsromans manifestiert sich insbesondere in der Remodellierung der Figurenkonzeption Augustas, die sich — bei allen Analogien - in zwei wesentlichen Punkten von ihrer literarischen Vorgängerin unterscheidet. Erstens vermag es Augusta im Gegensatz zu Jane Eyre nicht, sich von ihren traumatischen, destabilisierenden Erfahrungen zu lösen und so zu einer stabilen Konstruktion der Identität zu gelangen. Für Jane Eyre eröffnet die selbstreflexive Auseinandersetzung mit ihrer Vergangenheit die Möglichkeit, ihr vergangenes Selbst in einen plausibilisierenden und signifikanten Bezug zu ihrem aktuellen Identitätsverständnis zu setzen. Augusta hingegen gelingt keine vergleichbare Verarbeitung ihrer bedrängenden Vergangenheit. Ihre Erinnerungen zeichnen sich durch eine andauernde, nicht einzuholende Gegenwärtigkeit aus. So fällt sie ihren Erinnerungen schließlich zum Opfer, eine Entwicklung, durch die die progressive Struktur des Bildungsromans in ein regressives Plotmuster transformiert wird. Durch die Kontrastierung Augustas mit ihrer Vorgängerin Jane Eyre unterstreicht The Underpainter die eminente Schwierigkeit, hochgradig belastenden Ereignissen retrospektiv Sinn zu verleihen. Der Roman stellt damit die negativen Konsequenzen des kolonialen Abhängigkeitsverhältnisses in aller Deutlichkeit heraus. Das Potential von Narrationen zur Sinnstiftung und Kontingenzreduktion ist offenbar begrenzt, denn es ist unhintergehbar an kulturspezifische Modalitäten und gesellschaftliche Diskursordnungen geknüpft. Augustas imaginierte Sprachlosigkeit legt zweitens nahe, dass diese sich nicht nur mit Jane Eyre - die sich ja sprachlich auf ausgezeichnete Weise zu behaupten vermag - identifiziert, sondern auch mit der auf den Speicher verbannten Kreolin Bertha Mason. Die in Jane Eyre auf den Dachboden verdammte Bertha, das „bad animal" bzw. die „mad woman in the attic", gilt in der Literaturgeschichte als Inbegriff des ausgegrenzten, kolonialisierten Anderen (vgl. Spivak 1997). Durch ihre psychisch labile Disposition, durch ihre imaginierte Sprachlosigkeit sowie ihren Status als Kolonisierte Großbritanniens rückt The Underpainter Augusta in die Nähe von Bertha. Diese ügurale Korrespondenzrelation lässt Augusta zu einem integrativen Charakter werden: Sie verkörpert sowohl Elemente Berthas als auch Janes und synthetisiert damit zwei gemeinhin kulturell getrennte Kategorien:2"12 zum 242 Diese in der Figurenkonzeption Augustas vollzogene Integration entspricht jenen Interpretationen (vgl. exemplarisch Gilbert/Gubar 1979, S. 336-370) von Jane Eyre, die postulieren, dass Bertha und Jane Eyre lediglich zwei unterschiedliche psychische Facetten ein und derselben Figur darstellen.
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einen das Marginalisierte, Abwesende bzw. Vergessene, 243 und zum anderen das Erinnerte, Präsente und sozial Konventionalisierte. Durch diese Synthetisierung wird Augusta trotz ihrer psychischen Fragilität und ihrer gesellschaftlichen Randstellung eine Stimme verliehen, die es ihr gestattet, die kulturell ausgegrenzten Erfahrungen von Frauen und Kolonialisierten zu Gehör zu bringen. Ihre Geschichte fordert das Nichtvergessen und Nichtverdrängen der schmerzlichen Erfahrungen ein, die der Erste Weltkrieg auch für Frauen und die kanadische Bevölkerung zur Folge hatte. Damit entwirft sie ein postkoloniales Gegengedächtnis und zieht die dominanten Legitimitätserzählungen, die master narratives des Zentrums Großbritannien in Zweifel.244 Die in Augusta symbolisch vollzogene Integration von gemeinhin kulturell Getrenntem ist eine wirkungsvolle Strategie, um der Forderung Ausdruck zu verleihen, die Erfahrungen kulturell und gesellschaftlich Randständiger als inhärenten Teil der Geschichte des britischen Zentrums selbst zu begreifen. 245 The Underpainter leistet damit einen wesentlichen Beitrag zur Vergegenwärtigung und symbolischen Bewältigung dieses kulturgeschichtlichen Traumas. Welche Folgen aber ergeben sich daraus, dass Augustas Erinnerungen einen integralen Bestandteil von Austins autobiographischer Erzählung darstellen? Aus der Integration von Augustas Vergangenheit in Austins Selbstnarration lassen sich zentrale Implikationen für die individuelle Erinnerungs- und Identitätsarbeit ableiten. Durch die detailreiche Darstellung von Augustas Erinnerungen versucht der Erzähler nicht nur, seinem gewandelten Selbstverständnis Ausdruck zu verleihen. Vielmehr bietet ihm die extensive Wiedergabe der Gräuel des Krieges auch eine Möglichkeit, sein vergangenes Desinteresse an kollektiven Ereignissen und seine damit verbundene Unverantwortlichkeit zu kompensieren. Die ausführliche Dar-
243 Gymnich/Lazarescu (2003, S. 135) weisen außerdem darauf hin, dass die übliche Assoziation von Bertha mit dem Ausgegrenzten und in einem weiteren Sinne dem Vergessenen außerdem durch den O r t ihrer Verbannung akzentuiert wird, ist doch der Dachboden eine gängige Metapher für verdrängte Erfahrungen. So expliziert A. Assmann (1999, S. 161): „Auch der Dachboden ist ein Bild für das Langzeitgedächtnis. Es hat den Charakter eines Überrests, eines Speichergedächtnisses, das von keiner Sinngebung beleuchtet, aber durch Vergessen und Verdrängen auch noch nicht völlig entzogen ist. Wie das Gerümpel auf dem Dachboden, das noch präsent ist, aber selten besichtigt wird, verfestigt sich dieses Gedächtnis im Schatten des Bewußtseins." 244 Ein ganz ähnliches Unterfangen vollzieht die karibische Autorin Jean Rhys in ihrem Roman Wide Sargasso Sea (1966). Zu den postkolonialen Implikationen dieses Romans vgl. Howells (1991) sowie Gymnich/Lazarescu (2003). 245 Zugleich muss bei Augustas Verbalisierung ihrer Erfahrungen berücksichtigt werden, dass diese auch in The Underpainter nur vermittelt zur Darstellung gelangen. Es ist Austin Frazer, der die Geschichte Augustas repräsentiert, und Austin Frazer ist nicht nur ein Mann, sondern zudem auch Amerikaner. Neben die Auseinandersetzung mit dem kolonialen Erbe tritt so in The Underpainter auch die kritische Reflexion des Verhältnisses zwischen Kanada und dem übermächtigen Nachbarn, den USA. Dass Augustas Geschichte nur durch den Amerikaner Frazer präsent gehalten wird, lenkt den Blick auf die aktuelle Abhängigkeit Kanadas von den USA, die oftmals als neue Kolonialbeziehung gedeutet wird (vgl. Heibich 1992, S. 55-57).
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Stellung von Augustas Kriegserfahrungen bildet eine Kontrastfolie zu seinen eigenen, von einem übersteigerten Asthetizismus gezeichneten Vergangenheitserfahrungen: „The war [...] simply slipped my mind." (S. 112) Die Integration von Augustas Erinnerungen erfüllt für Austin offenbar eine identitätskonstitutive Funktion, trägt sie doch dazu bei, einen von ihm rückblickend empfundenen autobiographischen Mangel zu kompensieren. Auch der .Import' von Erfahrungen anderer Bezugspersonen scheint demnach eine Möglichkeit zu bieten, persönliche Problemstellungen bzw. Legitimationsanforderungen zu .beantworten' (vgl. Eakin 1999, S. 61; Welzer 2002). Das individuelle Gedächtnis, so führt Austins Selbstnarration mit literarischen Darstellungsmitteln vor Augen, konstituiert sich gemäß eines komplexen Montageprinzips, das Selbsterlebtes und die Erfahrungen anderer, signifikanter Personen, „who make up the fabric of one's life" (S. 35), zu einer subjektiv stimmigen, auf persönliche Sinnstiftungen antwortenden Geschichte verwebt. Die individuelle Erinnerungs- und Identitätsarbeit, so die in The Underpainter narrativ inszenierte Einsicht, stellt sich im Sinne eines relationalen Selbst als das Resultat einer andauernden Auseinandersetzung mit bedeutsamen Interaktionspartnern und ihren Selbstgeschichten dar. Autobiographische Erinnerungen gehen mithin immer über den rein persönlichen Erfahrungshorizont hinaus. Akzeptiert man die von sozialpsychologischen Identitätstheorien dargelegte Einsicht, dass die individuelle Erinnerungs- und Identitätsarbeit sich nicht im monologisch-abgeschlossenen Raum konstituiert, sondern sie das Resultat einer interaktiven Auseinandersetzung mit der sozialen Umwelt darstellt, so wird auch einsehbar, wie und warum die oft konstatierten psychologischen Grenzen der homodiegetischen Erzählinstanz, die sie angeblich zum Erzählen ihrer Geschichte verpflichten, konstruktiv überschritten werden können (vgl. Scholes/Kellog 1966; Edmiston 1991). Die Erfahrungen anderer sind dem persönlichen Selbstverständnis inhärent; die Grenzen zwischen individueller Autobiographie und Biographie sind daher permeabel. So gesehen transzendiert der homodiegetische Erzähler, der nicht seine eigenen Widerfahrnisse, sondern die anderer Figuren erinnert, keine wie auch immer geartete Grenze, sondern betreibt ganz gewöhnliche Identitätsarbeit. Fast am Ende seiner Lebensgeschichte wendet sich Austin erneut dem projektierten Treffen mit Sara zu, das am Anfang seines autobiographischen Schreibaktes nur kursorisch erwähnt wird. Das von ihm initiierte Treffen findet nicht statt, da er befürchtet, Sara könne sein .wahres' Ich entdecken, und er zu diesem Akt der Selbstoffenbarung — das verdeutlicht auch die bewusste Vermeidung eines Spiegels - nicht bereit ist: „I, who had previously been so restrained, would now engage in such blatant exposure that when I was finished she would have the entirety of my life in her possession. [...] [TJhere could only have been anti-climax." (S. 270f.) Kurz vor dem Eintreffen Saras entschließt er sich dazu, überstürzt abzureisen. In der Antiklimax seiner Selbsterzählung gelangt die für den autobiographischen Erinnerungsroman typische Tendenz zum Ausdruck, teleologische und progressive Entwicklungsläufe in Frage zu stellen und ihnen nicht-lineare Identitätsentwicklungen entgegenzusetzen. In diesem - zumindest auf der diegetischen Ebene der Handlung umgesetzten - regressiven Plotmuster (vgl. Gergen 1998, S. 179) kon-
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kretisiert sich eine tief greifende Skepsis gegenüber der Annahme einer an sich bedeutungsvollen Identitätsentwicklung und eines sich selbst verfügbaren Selbst. Das Ende von Austins Schreibprozess koinzidiert mit der nun endlich abgeschlossenen Rekonstruktion von Georges Porzellansammlung — eine Korrelation, die erneut das Augenmerk auf die Konstruktivität seiner eigenen Vergangenheitsund Identitätsbildung lenkt. So verkündet der mittlerweile 83-jährige Erzähler, dass es ihm nunmehr gelungen sei, die verfügbaren Reste der Sammlung zu einem mehr oder weniger kohärenten Ganzen zusammenzufügen: „For I am pleased to be able to tell you that the huge task of reassembling the collection is completed. Completed as successfully as an old man can ever complete the task of piecing together all that has been broken." (S. 273) Die erfolgreiche Rekonstruktion von Georges Sammlung legt nahe, dass auch Austins narrative Sinn- und Identitätsstiftung einen Endpunkt erreicht hat. Dieser Eindruck wird allerdings durch Austins nur wenig später geäußertes Vorhaben, nun ein Selbstporträt zu zeichnen, entscheidend relativiert: Tonight I will begin The Onderpattiter, the last canvas of the series, a portrait of myself. In it, I will carefully detail both of my inheritances. Every piece of reconstructed china on the shelves that mar the famous modernist architect's cold and empty walls. Each object and all the histories contained by Sara's house. [...] Then I will paint myself with the love I could not accept coming towards me, despite my cloak of fear, the implacable rock man, the miles and miles of ice. [...] And when it is finished, I will want to keep it close to me so that I may look at the images from time to time. (S. 276f.) Sein Bedürfnis, unmittelbar nach der Narrativierung seiner zurückliegenden Erfahrung zu deren visueller Darstellung anzusetzen, unterstreicht den für autobiographische Erinnerungsromane typischen offenen und stets unabgeschlossenen Charakter von Selbsterzählungen. The Underpainter führt so vor Augen, dass die Frage nach der eigenen Identität zeitlebens virulent bleibt, Narrationen nur eine vorläufige, provisorische Antwort auf die Frage, wer jemand geworden ist, zu liefern vermögen. Offenbar sind Selbstnarrationen an das Paradox gebunden, stets neue Erzählungen zu motivieren, ohne dass diese jemals das letzte Wort sein könnten. Erinnerungen, so ließe sich die in Urquharts autobiographischem Erinnerungsroman inszenierte Vergangenheitsrekonstruktion zusammenfassen, sind nicht nur äußerst ephemere, gegenwartsgebundene und zweckgerichtete Gebilde, in denen sich Identitätsmuster und Sinnbedürfnisse der rückblickenden Person manifestieren. Sie haben auch eine destabilisierende Qualität, die die Kohärenz der individuellen Identität in Frage stellt. Wie die für autobiographische Erinnerungsromane charakteristische Offenheit des Sinnstiftungsprozesses vor Augen führt, lässt sich diese prekäre Dimension von Erinnerungen im narrativen Modus zwar reduzieren, aber nicht vollständig bearbeiten oder gar in Zwangsläufigkeit transformieren. Angesichts dieser nicht zu behebenden Instabilität und Vorläufigkeit von Erinnerungserzählungen bleibt der sinnstiftenden Person — dies verdeutlicht Austins Wunsch nach einem Selbstporträt — nur, zu immer neuen Selbstthematisierungen anzusetzen.
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Die Betonung der Vorläufigkeit jeder einzelnen narrativen Wirklichkeitserschließung sowie die Offenlegung des individuellen Sinnstiftungsprozesses verleihen Jane Urquharts autobiographischem Erinnerungsroman eine deutlich reflexive Dimension. Indem der Roman die Probleme, die mit der narrativen Identitätskonstruktion verbunden sind, in den Vordergrund rückt, und illustriert, dass der Aufbau einer stabilen Identität maßgeblich von der Konstruktion einer .guten Geschichte' abhängig ist, stellt er herkömmliche Vorstellungen von einem kohärenten und autonomen Selbst sowie einer an sich bedeutsamen Identitätsentwicklung in Frage. Damit diagnostiziert der Roman nicht die Multiphrenie eines in unverbundene .Selbste' zerfallenden Individuums; er stellt jedoch deutlich heraus, dass das Leistungsspektrum von Narrationen begrenzt ist. Τhe Underpainter lenkt das Augenmerk auf die Grenzen der Sinnstiftung und auf die nicht einzuholende Offenheit der individuellen Identität. In diesem Sinne ist Jane Urquharts Roman ein eindrucksvolles Beispiel für das reflexive und metadiskursive Funktionspotential, das fictions of memory für die Erinnerungskultur besitzen können. Diese reflexiven Funktionen erfüllt The Underpainter nicht nur mit Blick auf die Frage nach den Konstitutionsbedingungen von individueller, sondern auch von kollektiver Identität. Der Roman nutzt intertextuelle Referenzen auf den kanonisierten Text Jane Eyre dazu, die Folgen der kolonialen Abhängigkeit Kanadas von Großbritannien zu reflektieren und etablierte, höchst normative Vorstellungen von dem Zusammenhang von Erinnerung, Identität, Artikulation und gesellschaftlicher Anerkennung zu konterkarieren. The Underpainter zeigt, dass die Frage, welche Identitäten Individuen und Kulturen ausbilden können, auch maßgeblich von gesellschaftlich verfügbaren Geschichtenmustern, von historischen Diskursformationen abhängt. Er bietet damit Anlass, Konstitutionsbedingungen von individuellen und kollektiven Identitäten zu hinterfragen, und kann so - bei entsprechender Aktualisierung durch die Leserschaft - als revisionistisches Medium der kulturellen Selbsterneuerung Wirksamkeit entfalten.
2.2 „But possibly I only wish that had happened" - Mordecai Richlers Barney's Version (1997): Unreliable narration zwischen aktiver Sinnstiftungsstrategie und erlittenem Gedächtnisverlust Auch in Mordecai Richlers autobiographischem Erinnerungsroman Barney's Version steht der Versuch eines rückblickenden Ichs im Zentrum, sich selbstreflexiv mit seiner Vergangenheit auseinander zu setzen. Im Zuge seiner fortschreitenden Selbstmodellierung versucht der autodiegetische Erzähler Barney Panofsky, die ihm verfügbaren Fragmente seiner Erinnerung zu einem plausibilisierenden Ganzen zusammenzufügen, um so mit sich und seiner Geschichte ins Reine zu kommen. Anstoß für Barneys autobiographisches Unterfangen bildet die eben veröffentliche Autobiographie seines einstigen Freundes und jetzigen Rivalen Terry Mclver:
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Terry's the spur. The splinter under my fingernail. To come clean, I'm starting on this shambles that is the true story of my wasted life (violating a solemn pledge, scribbling a first book at my advanced age), as a riposte to the scurrilous charges Terry Mclver had made in his forthcoming autobiography [...]. (S. 1) Bereits in Barneys Spezifikation des Erinnerungsanlasses konkretisiert sich das zentrale Dilemma seines autobiographischen Schreibprozesses: So verspricht der Erzähler zwar, die .wahre Geschichte' seines desillusionierenden Lebens zu offenbaren; gleichwohl stellt seine Vergangenheitsw-jio» offensichtlich einen Versuch dar, sich gegen die von Mclver lancierten Vorwürfe zu verteidigen. Noch bevor Barney also überhaupt beginnt, seine Lebensgeschichte zu rekonstruieren, stellen seine hohe emotionale Involviertheit, die prononcierte Adressatenorientiertheit und Rechtfertigungsabsicht die Glaubwürdigkeit seiner Erzählung selbstreflexiv in Frage. Erinnerungen werden in Richlers Roman als zweckgerichtete (Re-)Konstruktionen ausgezeichnet, die mindestens ebenso viel Einblick in momentane Sinnbedürfnisse der rückblickenden Person wie in die Vergangenheit selbst liefern. Aber nicht nur die faktische, sondern auch die normative Unzuverlässigkeit des Erzählers gibt Anlass, an der Glaubwürdigkeit der Erzählung zu zweifeln. Zu den ethisch ebenso wie politisch zweifelhaften Haltungen Barneys zählen Sexismus, Rassismus sowie Ressentiments gegenüber Homosexuellen und Frankokanadiern. Vor allem auch der Umgang mit seiner Zugehörigkeit zum Judentum sowie die ironisierende Rekapitulation der jüdischen Geschichte, zumal des Holocaust, legen das prekäre Wertesystem des Erzählers offen und machen eine ethisch zuverlässige Rekonstruktion des Vergangenen unmöglich. Neben der UnZuverlässigkeit des Erzählers trägt eine Reihe weiterer erzählerischer Verfahren dazu bei, die für autobiographische Erinnerungsromane konstitutive Polyvalenz der eigenen Vergangenheit zu inszenieren. Barney's Version zeichnet sich durch eine komplexe, anachronische Zeitstruktur aus, in der Rückblenden in die nähere und fernere Vergangenheit mit der Darstellung der gegenwärtigen Situation des Erinnerungsabrufs verbunden werden. Die narrative Kohärenz und temporale Kontinuität der Narration werden durch ständige Digressionen, Ana- und Prolepsen sowie durch das repetitive Erzählen in lose aneinander gereihte Erinnerungsfragmente aufgelöst, wodurch die Instabilität von Barneys Sinnstiftung in den Blick rückt. Bekräftigt wird die inszenierte Offenheit seines Sinnstiftungsprozesses durch zahlreiche metamnemonische und metanarrative Reflexionen. Barneys Überlegungen machen wiederholt auf die Schwierigkeit aufmerksam, sich an seine vergangenen Erfahrungen zu erinnern. Offene Eingeständnisse, wesentliche Details vergessen zu haben, aktive Verdrängungsversuche und häufige Modifikationen des vorgängig Erinnerten verstärken den Verdacht, dass Barney als unzuverlässige Erzählinstanz einzustufen ist. Dass seine Vergangenheitsdarstellung als höchst perspektivische, idiosynkratische Version anzusehen ist, wird nicht zuletzt durch die für autobiographische Erinnerungsromane typische strukturelle Multiperspektivität unterstrichen. So veranschaulichen vor allem die integrierten Ausschnitte aus Mclvers Autobiographie, in welchem Maße Barneys Interpretation der zurückliegenden Ereignisse von subjektiven Bedürfnissen und Relevanzkriterien geleitet ist.
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Schließlich problematisieren zahlreiche intertextuelle Anspielungen auf die Gattung des Detektivromans sowie auf die des Märchens die Bedingungen von retrospektiver Erkenntnisbildung und suggerieren eine Affinität von Erinnertem und Imaginiertem. Diese Referenzen tragen auf eindrucksvolle Weise dazu bei, das Augenmerk auf den schmalen Grad zu lenken, der zwischen der Konstruktion und Rekonstruktion von Vergangenem liegt. Motiviert durch die angeblichen Verleumdungen Mclvers entschließt sich der in Montreal lebende Filmproduzent Barney Panofsky im Alter von 67 Jahren dazu, Rechenschaft über seine vergangenen Erfahrungen abzulegen und ihnen - zumindest in der Retrospektive - Sinn und Bedeutung zu verleihen: „Scribbling away here and now at my roll-top desk at two in the morning in twenty-below-zero Montreal, pulling on a Montecristo, trying to impose sense on my incomprehensible past" (S. 112). Es sind nicht nur die Memoiren von Mclver, sondern auch der Verdacht seiner Mitschuld an dem Verschwinden seines Freundes Boogie sowie seine kürzliche Scheidung von seiner dritten Ehefrau Miriam, die Barney ins soziale Abseits gedrängt haben und gegen die er sich in seinem überbordenden Erinnerungsmonolog, in seinem „ill-starred manuscript" (S. 167), zu verteidigen sucht. Offenbar in der Absicht, die Autoritätsgesichertheit seiner Memoiren zu unterstreichen und die Glaubwürdigkeit seiner Erzählung zu bekräftigen, verortet der Erzähler seine eigene Autobiographie, seinen „sorry attempt at autobiography" (S. 52) im Kontext klassischer Werke. Er vergleicht sein autobiographisches Unterfangen mit dem Jean-Jacques Rousseaus (vgl. S. 312), zieht eine Parallele zwischen seinem Erstlingswerk und den „initial efforts" (S. 377) von Gustave Flaubert und rechtfertigt seine erzählerischen Digressionen mit dem Hinweis, dass sich sein Plot zumindest zügiger entfalte als die von Laurence Sterne und Thomas Hardy: „Laurence Sterne got away with [digressions], so why not me? [...] Readers don't have to wait until the end of volume three before I'm even born. Something else. It doesn't take me six pages to cross a field, as it would if this had been written by Thomas Hardy." (S. 258) Das breite Spektrum intertextueller und intermedialer Referenzen indiziert, dass Barney sich bereits semiotisierter Schablonen zu bedienen sucht, um seine eigenen, schwer zu deutenden Erfahrungen sinnhaft zu gestalten („making order out of chaos", S. 6). Der Import von sozial konventionalisierten Deutungsmustern erfüllt eine Orientierungs- und Authentisierungsfunktion, die er selbst nur bedingt zu erbringen vermag. Spätestens der Vergleich seines Werkes mit dem von Samuel Pepys weckt allerdings erhebliche Zweifel an der Integrität seines autobiographischen Akts. Das „making order out of chaos" (ebd.), der Versuch also, die Vielzahl heterogener Erfahrungen zu einer kohärenten Erzählung zu bündeln, stellt sich fortan als zentrale Herausforderung dar. Sein Bemühen um Sinnstiftung läuft jedoch immer wieder ins Leere. Es ist insbesondere sein oftmals verantwortungsloses und egozentrisches Verhalten, das Barney Panofsky nachhaltig quält und auf das er keine Antwort zu finden vermag: „My problem is, I am unable to get to the bottom of things. I don't mind not understanding other people's motives, not any more, but why don't I understand why I do things?" (S. 112) Das Unverständnis für seine
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vergangenen Taten, das Barney mit der Phrase ,,[t]he past is a foreign country" (S. 26) auf den Begriff bringt, findet in der losen, anachronischen Zeitstruktur seiner Narration einen deutlichen Ausdruck. Bereits die sich aus den einzelnen Kapitelüberschriften ableitende Makrostruktur des Romans illustriert die temporale Diskontinuität und narrative Inkohärenz, die für seine gesamte Erzählung charakteristisch sind. Die insgesamt drei Kapitel des Romans tragen die Namen seiner drei Ex-Ehefrauen und umreißen vorgeblich den Zeitraum der entsprechenden Ehe: 1. „Clara 1950-1952"; 2. „The Second Mrs. Panofsky 1958-1960"; 3. „Miriam 1960- ". Die Fragmentarität, die sich aus den zahlreichen Brüchen innerhalb der Makrostruktur ergibt, wird dadurch potenziert, dass die entsprechenden Kapitel die angegebenen Zeitperioden nur ausgesprochen lose und eklektisch thematisieren. Im ersten Kapitel „Clara" etwa erinnert er sich an den Beginn seiner Karriere als Filmproduzent in den späten 1960er Jahren, an seine Freundschaft mit Boogie und ihre gemeinsame Zeit in Paris, sowie an seine ersten sexuellen Erfahrungen, bis er schließlich zum ersten Mal auf Seite 52 Clara zur Sprache bringt: „Where was I? Paris 1951 is where. Terry Mclver. Boogie, Leo. Clara, of blessed memory." (S. 52) Nach dieser knappen Rückbesinnung schweift er wiederum ab, um u.a. Überlegungen über die Bedeutung von Atombomben sowie über Julius und Ethel Rosenberg anzustellen. Schließlich werden im ersten Kapitel „Clara" die Erinnerungen an seine erste Frau beständig von seinen Erinnerungen an Miriam, der Liebe seines Lebens verdrängt, obgleich er diese zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal kannte. Die für autobiographische Erinnerungsromane kennzeichnende Auflösung von temporaler Kontinuität lenkt das Augenmerk auf die assoziative, oftmals sprunghafte Funktionsweise von Erinnerungen und unterstreicht Barneys Schwierigkeit, seine vergangenen Erfahrungen in einen subjektiv signifikanten Bezug zu seiner aktuellen Situation zu stellen. Die narrative Strukturlosigkeit indiziert einen Bruch der biographischen Kontinuität. Sie problematisiert die Vorstellung von Erinnerung als integratives Moment der Identitätskonstitution ebenso wie sie lineare und progressive Konzepte von Identitätsentwicklung in Frage stellt. Es ist typisch für den autobiographischen Erinnerungsroman, dass nicht nur die Makrostruktur, sondern auch die Mikrostruktur durch das Fehlen von Kontinuität und Kohärenz charakterisiert ist. Zahlreiche Pro- und Analepsen, erzählerische Digressionen, Abweichungen von der Norm der ,„singulative' frequency" (Toolan 1998, S. 41) sowie die Verlagerung des Akzents auf die extradiegetische Ebene des Erinnerungsabrufs lassen an die Stelle einer linear-kausalen Handlungsstruktur disparate und lose assoziierte Momentaufnahmen von Barneys Leben treten. Die Darstellung seiner vergangenen Erfahrungen tritt wiederholt hinter die Schilderung seiner gegenwärtigen Situation zurück. Auf der extradiegetischen Ebene der Vermittlung reflektiert der Erzähler die Bedingungen seines Sinnstiftungsprozesses und thematisiert seine aktuellen Erlebnisse, seinen „present state of decline" (S. 315): Angeschlagen von seinem exzessiven Lebensstil, drei geschiedenen Ehen, der kürzlichen Scheidung von Miriam, einer Anklage wegen Mordes und seinem fortgeschrittenen Alter sucht er der Monotonie seines Alltags durch ausschweifende
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Kneipenbesuche, Hockeyspiele, dem Schreiben von anonymen Briefen und eben dem ,,[c]racking up over old stories" (S. 311) zu entkommen. Das Alternieren zwischen unterschiedlichen Zeitebenen sowie der Wechsel zwischen involvierten Erinnerungsperspektiven und distanzierten Reflexionen des Erinnerten wirken zusammen, um die Erinnerungshaftigkeit des Dargestellten zu akzentuieren. Die bereits durch das ständige Oszillieren zwischen dem Hier-und-Jetzt der Erinnerungssituation und dem Damals des Erinnerten erreichte Anachronie wird durch zahlreiche Digressionen potenziert. Barneys überbordender Erinnerungsmonolog ist von einer Vielzahl erzählerischer Abschweifungen durchzogen, die oftmals als strategischer Versuch wirken, um von bestimmten Erfahrungen abzulenken: „I'm rambling again. Wandering o f f the point. But this is the true story o f my wasted life [...]. Furthermore, at my age, with more to remember and sort out than there is to look forward to [...] I'm entitled to ramble." (S. 52) Barney erschließt insbesondere solche Ereignisse, die er aus seiner gegenwärtigen Warte als prekär einstuft und die er eingestandenermaßen am liebsten vergessen würde, auf höchst diskontinuierliche Weise. Den T o d seiner ersten Frau Clara etwa, sein niederträchtiges Verhalten gegenüber seiner zweiten Ehefrau, der namenlos bleibenden „Second Mrs. Panofsky", das ungeklärte Verschwinden seines Freundes Boogie und den Bruch mit Miriam bringt der Erzähler mehrfach zur Sprache, interpretiert und reinterpretiert diese Episoden aus verschiedenen Blickwinkeln und bettet sie in unterschiedliche Sinnverbindungen ein. Sein Wissen von den vergangenen Ereignissen gibt er erst allmählich preis, er ergänzt vorgängige Erinnerungselaborationen Stück für Stück um neue, oftmals widersprüchliche oder rein imaginierte Aspekte. So muss der Erzähler im Zuge seiner Vergangenheitsrekonstruktion wiederholt konzedieren, dass er bestimmte Sachverhalte bewusst verzerrt oder signifikante Informationen zurückgehalten hat: „Whoops. I forgot to mention something." (S. 382) Als er etwa ein desaströs verlaufendes Abendessen mit seiner zukünftigen Ehefrau, „The Second Mrs. Panofsky", rekonstruiert, legt er dieser folgende Worte in den Mund: ,„Oh, Barney,' she gushed." (S. 192) Seine lebhafte und detaillierte Erinnerung entpuppt sich schon wenig später als idiosynkratische Projektion: „I shouldn't have written „Oh Barney', she gushed.' That was rotten o f me. A lie. [...] Okay, okay. The truth, then. .You're far too precious to me,' I gushed." (S. 191-193) Das repetitive Erzählen der Vergangenheit, das sukzessive Fortschreiben von zurückliegenden Erfahrungsepisoden lassen Barneys Selbsterzählung als stets vorläufiges und instabiles Produkt erscheinen und unterstreichen seine ausgeprägte Verweigerungshaltung gegenüber seiner Vergangenheit. Seinen Unwillen, sich mit dieser auseinander zu setzen und seinen Wunsch nach aktiver Lossagung von seiner Geschichte stellt der Erzähler unverfroren heraus: „When I try to reconstruct
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these days, failing memory is an enormous blessing." (S. 193)246 So gibt Barney zunehmend zu erkennen, dass sein Sinnstiftungsversuch nicht auf eine Wiedergabe des Vergangenen angelegt ist, sondern auf die Konstruktion einer ,usable past': „I have embellished other incident in my life, enabling me to appear in a more favourable light." (S. 315) Barneys Erinnerungen erscheinen als zweckgerichtete Konstruktionen, die maßgeblich von seinen gegenwärtigen Motiven beeinflusst sind. Uberformt sind diese Motive nicht zuletzt von dem übermäßigen Alkoholkonsum des Erzählers. Barney muss mehrfach eingestehen, dass er während des Schreibprozesses unter erheblichem Alkoholeinfluss steht: ,„Of course I'm drunk. It's four o'clock in the morning.'" (S. 13) Eine zuverlässige Rekapitulation der Vergangenheit und deren kontinuitätsstiftende Anbindung an gegenwärtige Anforderungen sind auf dieser Basis kaum möglich. Barneys Bedürfnis, seine vergangene Erfahrungsrealität positiv umzudeuten und auf diese Weise ein neues Selbst zu erfinden, wird durch die wiederholte Anreicherung des Erinnerten um fabulierte Elemente illustriert. Der Versuch einer Selbsterfindung durch Fabulation konkretisiert sich etwa in der mehrfachen, divergierenden Rekonstruktion des Selbstmordes seiner ersten Frau Clara. Nach seinem Entschluss, sich von Clara zu trennen, sendet diese ihm ein Telegram, in dem sie um ein erneutes Gespräch bittet. Aufgrund widriger Umstände allerdings erhält Barney dieses Telegramm erst einige Tage später. Als er schließlich in der gemeinsamen Wohnung eintrifft, findet er Clara tot in ihrem Zimmer vor. Unfähig, seine Mitschuld an Claras Tod in Betracht zu ziehen, entwirft er in seiner Imagination wiederholt divergente Versionen dieses Ereignisses: I set the spool of my life on rewind, editing out embarrassments, reshooting them in my mind's eye ... and that Monday afternoon in 1952 as I entered my hotel on the rue de Nesle, the concierge rapped on her cubicle window, slid open the glass, and sang out: J/j a mipmumatiquepour vous, MonHeur Panofsky.' (S. 172f.)
In dieser possible world bzw. wish-world (vgl. Ryan 1992), in einer von eigenen Fehlern bereinigten Vergangenheit, visualisiert Barney sich als glorreicher Held, der durch sein aufopferndes Verhalten Claras Leben zu retten vermochte. Diese Sinnanreicherung lässt sich in eine ganze Reihe ähnlicher Idiosynkrasien einordnen, bei denen es Barney offenbar stets darum geht, prekäre Erinnerungen umzudeuten, sie zu bagatellisieren und sich seine Vergangenheit schönzureden. So .erfindet' er etwa eine so genannte Mrs. Ogilvy — vorgeblich eine ehemalige Lehrerin, de facto wohl eher ein weiteres Indiz für seine Tendenz, sein Leben durch den Import von literarischen Versatzstücken auszuschmücken - mit der er seine sexuellen Phantasien auslebt: „Tossing and turning in bed last night, I was finally able to conjure up the luscious Mrs. Ogilvy of cherished memory, in a stimulating fantasy of my own
246 Vgl. zu dieser Verweigerungshaltung auch folgendes Eingeständnis: „Arguably the days my memory functions perfectly are heavier to bear than those when it fails me. Or, put another way, as I continue to tour the labyrinth of my past there are some episodes I recall all too clearly." (S. 316)
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invention." (S. 141) Anstatt sich mit den faktischen Begebenheiten seines „wasted life" (S. 52) auseinander zu setzen, verliert sich Barney immer wieder in schimärenartigen Wunschvorstellungen, die die Authentizität seiner Erzählung in Zweifel ziehen und eine Affinität von Fabulation und Erinnerung nahe legen. Diesen diskursiven Prozess des „fine-tuning" (S. 233) der Realität bringt der Erzähler auf den Punkt, wenn er konstatiert: „But possibly I only wish that had happened. Dining out on a story, I tend to put a spin on it. To come clean, I'm a natural born burnisher. But then, what's a writer, even a first-timer like me?" (S. 234) 247 Offensichtlich geht es ihm bei der identitätsstiftenden Vergangenheitsaneignung weniger um das Kriterium der Tatsächlichkeit als um die Förderung seines Selbstbildes und die Herstellung von subjektiver Plausibilität, um die Konstruktion einer auf individuelle Sinnbedürfnisse abgestimmten ,usable past' also. Seine Erzählung liefert damit mindestens ebenso viel Aufschluss über die Frage, wer er gerne geworden wäre wie über die Frage, wer er geworden ist: „Damn. Damn damn. Had I suspected I would survive to such an advanced age, sixty-seven, I would prefer to have earned a reputation as a gentleman" (S. 164). Die formalen und inhaltlichen Spezifika der Selbsterzählung wirken damit in Richlers autobiographischem Erinnerungsroman zusammen, um die Subjektivität von Barneys Erinnerungen offen zu legen und diesen als unzuverlässige Erzählinstanz zu entlarven. Dass die präsentierte Erinnerungsversion mehr über die spezifischen Motive des Erzählers aussagt als über die Vergangenheit als solche, wird in Barney's Version auch dadurch beobachtbar, dass sich maßgebliche Diskrepanzen zwischen dem Vergangenheitsbild ergeben, das Barney entwirft, und demjenigen, das andere Figuren konturieren. Vor allem die Integration von Ausschnitten aus Mclvers Autobiographie, die zu einer für autobiographische Erinnerungsromane typischen strukturellen Multiperspektivität fuhrt, dokumentiert auf eindrucksvolle Weise die Perspektivität des Erinnerungsprozesses. Ein Vergleich zwischen Barneys und Mclvers Rekonstruktion ihrer gemeinsamen Zeit in Paris zeigt, dass beide ihre Vergangenheitsdarstellungen so gestalten, dass sie ihr persönliches Ansehen steigern bzw. das des Anderen diskreditieren. So behauptet Barney etwa, er habe sich in Paris dem verstockten und verarmten Schreiberjüngling Mclver einzig zu dessen Wohle angenommen und ihn großzügigerweise in seinen amerikanischen Freundeskreis eingeführt. Mclver wiederum legt in seiner Autobiographie dar, dass Barney sich ihm regelrecht aufgedrängt habe und es ihm erst nach hartnäckigen Bemühungen gelungen sei, sich seiner zu entledigen: „Eventually I succeeded in unloading him onto a clatch of frivolous Americans, whose company I did my utmost to avoid." (S. 97) Und während Barney Mclvers erste Lesung als klägliche Veranstaltung beschreibt, die gerade mal von neun Personen besucht wurde, erinnert Mclver dieses Ereignis als fulminanten Erfolg, der von mindestens 45 Perso247 Zu Barneys Tendenz, seine Vergangenheit umzudeuten vgl. auch: „But I've never known a writer or a painter anywhere who wasn't a self-promoter, a braggart, and a paid liar of a coward, driven by avarice and desperate for fame." (S. 184)
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nen gefeiert wurde. Die multiperspektivische Inszenierung des Vergangenen verdeutlicht einmal mehr, dass Erinnerungen in erster Linie den Erfordernissen unterliegen, die sich aus ihrer Assimilation an subjektive Sinnbedürfnisse ergeben. Personen können sich nicht auf identische Weise erinnern, wenn die jeweiligen Fragen, die an die Vergangenheit gestellt werden, divergieren. Die Frage nach dem tatsächlichen Verlauf der zurückliegenden Ereignisse muss daher angesichts der unweigerlichen Perspektivität von individuellen Erinnerungsprozessen unbeantwortet bleiben. Auch die rezipientenseitige Suche nach einer autoritativen Version läuft damit ins Leere. Konterkariert wird die Glaubwürdigkeit der Erinnerung schließlich auch durch die ausgeprägte Adressatenorientierung seiner Erzählung und die damit verbundene Absicht, in seinen Memoiren die von Mclver artikulierten Vorwürfe zu widerlegen. 2 4 8 Die Verflochtenheit seiner Erinnerungen mit den gegenwärtigen Zielen ihrer Rekonstruktion, also die adressatenorientierte Kommunikation, 2 4 9 signalisieren, dass die strategische Praxis des .Glaubhaftmachens' und nicht die Wahrheitsfindung das vorrangige Ziel Barneys Narration ist. In welchem Maße seine Erinnerungen
mit ihrem
spezifischen
Adressaten
verwoben
sind, wird an
seiner
verzweifelten Reaktion auf Mclvers T o d sichtbar, der seine ursprüngliche Erzählmotivation abrupt zunichte macht und seinem Manuskript seine Daseinsberechtigung entzieht: Bad news. Check out page one of these meandering memoirs and you will see that Terry was the spur. The splinter caught under my fingernail. [...] Anyway, my point is that after having written a kazillion words, this doorstop of a manuscript has suddenly been deprived of its raison d'etre. That inconsiderate bastard has died on me. (S. 377) Nach kurzem Zögern sowie der Erwägung, sein autobiographisches Projekt aufzugeben, entscheidet sich der Erzähler kurzerhand dazu, seine Memoiren an ein neues Publikum zu richten: „I'm not giving up on this scribbling, just because Mclver has let me down. Instead I'm rededicating these all-but-finished confessions anew. They are now for my loved ones: Miriam, Mike, Saul, and Kate. Solange and Chantal. But not Caroline." (S. 379f.) Barneys Entschluss, seine Autobiographie fortan seiner Familie zu widmen, unterstreicht, wie stark er auf das responsive Verhalten anderer angewiesen ist, und stellt die konstitutive Rolle heraus, die Interaktionspartnern beim Aufbau der narrativen Identität zukommt. Selbsterzählungen, zumal solche, die auf Rechtfertigung angelegt sind, bleiben für die Konstitution einer stabilen Identität weit gehend wirkungslos, werden sie nicht von signifikanten Anderen validiert. Die Adressatenorientierung von Barneys Erzählung ruft noch einmal ins Bewusstsein, dass die sprachlich repräsentierte Auto248 Vgl. hierzu folgende Bemerkung Barneys: „To recap. This sorry attempt at autobiograply, triggered by Terry Mclver's calumnies, is being written in the dim hope that Miriam, reading these pages, will be overwhelmed by guilt." (S. 52) 249 Vgl. zur Strategie des audience tuning Kap. II.2.2 dieser Arbeit.
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biographie als ein „gemeinsames Produkt von Erzähler und Zuhörer" (Welzer 2002, S. 207) zu konzeptualisieren ist, und die individuelle Vergangenheit und die darauf aufbauende Identität somit eine Vielzahl mögächer Identitäten umfassen. Die ständigen Revisionen des Erinnerten, die divergenten Elaborationen der gleichen Episode, die fortwährenden Digressionen, explizite Reflexionen über die Bedingungen und Ziele des Schreibprozesses, die Integration von Passagen aus Mclvers Autobiographie lösen Barneys Narration in eine Vielzahl disparater Fragmente auf. Die verschiedenen Episoden seiner vergangenen Erfahrungsrealität lassen sich weder zu einer Lebensgeschichte synthetisieren noch lässt sich die oftmals bedenkliche und kontingente Qualität seiner Erfahrungen durch ihre Einbettung in einen diachronen Sinnzusammenhang problemlos reduzieren. S o muss Barney im Zuge seiner Vergangenheitserschließung mehrfach zu der desillusionierenden Erkenntnis gelangen, dass sich sein vergangenes Fehlverhalten einfach nicht rechtfertigen lässt: „ I am an impenitent rotter to this day, a malevolent man, exulting in the transgressions of my betters." (S. 276) 2 5 0 Sein sorgfältig auf Beschönigung aufgebautes Erinnerungsgebäude fällt immer wieder in sich zusammen. D e r Gestaltungsspielraum von Selbstnarrationen ist offensichtlich nicht beliebig zum Zwecke der Selbstrechtfertigung dehnbar. Dies scheint insbesondere für solche Erzählungen zu gelten, die - wie im Falle Barneys - nicht von signifikanten Bezugspersonen bestätigt und .mitgetragen' werden. Die sich in den formalen Besonderheiten von Barneys Erzählung konkretisierenden Grenzen der retrospektiven Sinnstiftung werden in zahlreichen metamnemonischen Kommentar explizit thematisiert: „These increasingly frequent bouts of memory loss are driving me crazy." (S. 11) Mehrfach macht der Erzähler auf seine Unfähigkeit aufmerksam, autobiographische Erfahrungen, einfache Gegenstandsbezeichnungen, Buch- und Filmtitel sowie Autorennamen zu reaktualisieren: I'm trying to remember the name of the author of The Man in the Gray Flannel Suit. Or was it The Man in the brooks Shirt? No, that was written by the fibber. Lilian what's-her-name? Come one. I know it. [...] The name of the author of The Man in the Gray Flannel Suit doesn't matter. (S. lOf.) Barneys Unvermögen, sich an vergangene Erfahrungsaspekte zu erinnern, geht mit der zunehmenden Unfähigkeit einher, seinen Alltag zu bewältigen. E r verwechselt immer wieder Daten und Termine, diktiert seinen Sekretärinnen mehrfach den gleichen Brief und vergisst, mit wem und warum er verabredet ist: „ S o m e b o d y was coming to interview me at eleven, but I could no longer remember who. Or why." (S. 109) Erinnerungslosigkeit stellt für Barney also nicht nur einen aktiven Versuch dar, sich von seiner Vergangenheit loszusagen und so eine neue Identität zu erfinden. Vielmehr wird sie auch mehr und mehr zu einem erlittenen Mangel, dem der Erzähler hilflos gegenübersteht. Paradoxerweise ist es gerade diese .Rhetorik des
250
Zur Einsicht in sein persönliches Versagen vgl. auch S. 164, 166.
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Vergessens', die im Sinne einer ästhetischen Intensivierung der Erinnerungshaftigkeit des Erzählten wirkt. Intensiviert wird die Rhetorik des Vergessens durch eine Vielzahl von Fußnoten, die Barneys Erzählung durchziehen und die gravierende Gedächtnisschwäche des Erzählers — „glaring memory lapses" (S. 145) — offen legen. In Barneys Erzählung findet sich ein ganzes Spektrum von klassischen Gedächtnisfehlern, das von Quellenverwechselung, Plagiarismus über präsentische Überformung des Vergangenen bis hin zu narrativen Widersprüchen reicht. Fehlattributionen zählen zu den häufigsten, von Barney begangenen Gedächtnisfehlern. Wie die Fußnoten offenbaren, schreibt der Erzähler Zitate falschen Autoren zu, verwechselt Clifford Odest mit Arthur Miller (vgl. S. 7), E.M. Forster mit L.P. Harüey (vgl. S. 26) und Sartre mit Camus (vgl. S. 44), vergisst die Namen von berühmten Bildern (vgl. S. 20, 109), Schauspielern (vgl. S. 243) und wissenschaftlichen Einrichtungen (vgl. S. 165). Auch wiederholte historische Fehlaussagen unterstreichen sein mangelhaftes Erinnerungsvermögen. Die Behauptung des Erzählers etwa, die Inseln Quemoy und Matsu seien im Jahre 1951 von Kommunisten bombardiert worden, wird in einer Fußnote mit dem Hinweis richtig gestellt, dass die kommunistische Regierung Chinas ihre Übergriffe nicht vor 1958 begann (vgl. S. 58).251 Über diese Fehlattributionen hinaus zeichnet sich Barneys Narrativ durch zahllose innere Widersprüche und narrative Inkohärenzen aus, die seine Unsicherheit bezüglich den korrekten Modalitäten seiner vergangenen Erfahrungsrealität zutage treten lassen. So wird aus einem Citroen (vgl. S. 32) ein Peugeot (vgl. S. 37), aus .weniger als 24 Stunden' (vgl. S. 140) werden zwei Tage (vgl. S. 152), aus dem Lied „Mair-zy Doats" (vgl. S. 12) wird „Mr. Five by Five" (vgl. S. 239) und ein Kleid, das zuvor (vgl. S. 279) als zwei Nummern zu klein beschrieben wurde, ist nun nur noch eine Nummer zu klein (vgl. S. 299). Schließlich scheitert Barney auch daran, die chronologische Abfolge der zurückliegenden Ereignisse zu rekapitulieren. So behauptet er, er habe seine eigene Hochzeitsfeier nach Ende eines Hockeyspiels verlassen, um Miriam zum Bahnhof zu folgen. In der Fußnote hingegen wird richtig gestellt, dass das Hockeyspiel erst um 22.29 Uhr endete, Miriams Zug nach Toronto allerdings bereits um 22.25 Uhr abfuhr und Barney Miriam daher — zumindest unter den von ihm dargelegten Umständen — unmöglich begleiten konnte (vgl. S. 215). Die applizierten Fußnoten legen die vielen Täuschungen und Selbsttäuschungen offen, denen der Erzähler unterliegt, und illustrieren damit die enorm unzuverlässige Funktionsweise seiner Erinnerungen. Sie demonstrieren, dass nicht ursprüngliche Episoden oder Informationen, sondern aktive Konstruktionen erinnert werden, die im Lichte gegenwärtiger Bedingungen als plausibel erscheinen. Auch die Fußnoten sind damit eine wirkungsvolle Strategie, um die grundlegend unzuverlässige Qualität von Erinnerungen zu veranschaulichen und die Erinnerungshaftigkeit der Erzählung zu unterstreichen.
251 Vgl. zu den zahlreichen Fehleinschätzungen auch S. 116,118,122, 272.
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Problematisiert wird die Möglichkeit einer Wahrheitsfindung in Barney's Version schließlich durch intertextuelle Anspielungen auf die Konventionen des Kriminalbzw. Detektivromans. Im Zentrum von Barneys Erinnerungsnarrativ stehen neben den Beziehungen zu seinen drei Ehefrauen seine Freundschaft zu Boogie: „The truth is, Boogie was the most cherished friend I ever had" (S. 8). Nachdem Boogie Ende der 1950er Jahre einige Tage mit Barney und dessen zweiter Ehefrau in deren Sommerhaus verbracht hat, verschwindet er spurlos. Barneys Erinnerungen kreisen wiederholt um die Ereignisse, die dem dubiosen Verschwinden seines langjährigen Freundes vorangehen. Er bemüht sich wieder und wieder darum, die ihm verfugbaren Erinnerungsfragmente zu einem kohärenten Ganzen zusammenzufügen und dem Verschwinden Boogies auf den Grund zu gehen. Barney wird so zum Ermittler in Sachen seiner eigenen Vergangenheit und Identität. Allerdings sind die im Zuge seiner Gedächtnisnarration aufgedeckten Informationen so widerspruchsvoll, dass alle Bemühungen um Sinnstiftung ins Leere laufen. Als der Erzähler diese Episode zum ersten Mal gegenüber Miriam zur Sprache bringt, beharrt er darauf, das sein letztes Zusammentreffens mit Boogie freundschaftlich und harmonisch ablief (vgl. S. 107). Seine nachfolgende, zweite und ausführliche Erinnerungselaboradon hingegen widerlegt diese Aussage und bringt im Gegenteil zutage, dass dem Verschwinden Boogies ein harscher Disput voranging, im Zuge dessen Barney seinem Freund androhte, ihn zu töten und - angeblich im Spaß und ,weit über Boogies K o p f hinweg' (S. 297) — einen Schuss abfeuerte. Erschöpft von dem Streit sowie von seinem ausschweifenden Alkoholgenuss fallt Barney in einen komagleichen Tiefschlaf: „Getting down on all fours, I made it back to the sofa and fell into a contented sleep instandy." (Ebd.) Als er Stunden später, aufgeschreckt von Flugzeugmotoren, erwacht, scheint sein Freund spurlos verschollen zu sein. Nach einer erfolglosen Suche ruft Barney schließlich die Polizei, um das rätselhafte Verschwinden Boogies zu Protokoll zu geben. Gegenüber der Polizei schildert der Erzähler den Tathergang wiederum in modifizierter Form: „I gave them an edited version of what had happened." (S. 298) Erst ein anschließendes rüdes Verhör durch den Detektiv Sean O'Hearne zwingt ihn dazu, zentrale Details des Ereignisses preiszugeben. Die auf dieses Geständnis folgende Anklage wegen Mordes bringt Barney zu dem Schluss, dass es sich selten auszahle, die Wahrheit zu sagen: „These meandering memoirs do have a point after all. Over the wasting years I have levered free of many a tight spot leaning on a fulcrum of lies large, small, or medium-sized. Never tell the truth. Caught out, lie like a trooper." (S. 359) Mit diesem offenen Eingeständnis desavouiert der Erzähler den Glaubwürdigkeitsanspruch seiner Memoiren ein weiteres Mal und weist diese als ebenso idiosynkratisches wie manipulatives Bedeutungskonstrukt aus. E s nimmt daher kaum Wunder, dass Barney - als er in einsamer Reflexion abermals dem Tathergang auf den Grund zu gehen versucht - konzedieren muss, bislang signifikante Details verschwiegen zu haben: Bad days my memory functions no better than an out-of-focus kaleidoscope, but other days my recall is painfully perfect. Today I seem to be pumping on all cylinders, so I'd better get down on paper what I've been avoiding until now before I
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expunge it again. I didn't lie about those last two days with Boogie, but neither did I tell everything. (S. 388) So entwirft er in seiner folgenden Erinnerungselaboration wiederum eine alternative Version der Vorgänge, die zum Verschwinden Boogies geführt haben. Diese Erinnerungsvariante legt nunmehr offen, dass seine Freundschaft zu Boogie längst nicht mehr so stabil war, wie er zuvor versicherte, und mündet in der desillusionierenden Bilanz: „I only raised my gun hand at the last minute. So if I wasn't guilty of murder in fact, I was by intent." (S. 392) Mit der Existenz eines Verdächtigen (Barney), eines Motivs (Eifersucht), Beweismaterials (eine Pistole) sowie eines Detektivs (Sean O'Hearne) greift Richlers Erinnerungsroman auf die konstituierenden Elementen der Gattung des Kriminalromans zurück und stellt eine Analogie zwischen der Aufdeckung eines Verbrechens und den Mechanismen der Erinnerungsbildung her. Die erinnernde bzw. narrativ tätige Person gleicht einem Kriminalisten, der auf der Grundlage seines verfügbaren Wissens versucht, die Ursachen und Zusammenhänge der vergangenen Geschehnisse zu rekonstruieren. Allerdings laufen alle Versuche, Boogies rätselhaftes Verschwinden in der erinnernden Rückschau auf den Grund zu gehen, ins Leere, wodurch der durch und durch ephemeren Qualität von Erinnerungen Ausdruck verliehen wird. Auch für den Leser — der ebenfalls gleich eines Detektivs versucht, seine eigene Version des zurückliegenden Geschehens zu kreieren252 bleiben die Fragen nach Boogies Verschwinden sowie nach Barneys Schuld aus Mangel an Beweisen letztlich offen. Die für Barneys Narrativ kennzeichnende Aneinanderreihung inkompatibler Erinnerungsfragmente zieht die Möglichkeit der Erfassbarkeit von Vergangenheit über die Erinnerung in Zweifel und zeichnet diese als intransparente, nicht verifizierbare Entitäten aus. An die Stelle der tatsächlich determinierenden Bedingungen der zurückliegenden Ereignisse tritt ein Geflecht subjektiver, sich wechselseitig relativierender und perspektivierender Vergangenheitsversionen. Die Unmöglichkeit, die vorhandenen Erinnerungsfragmente zu einem einzigen Ganzen zusammenzufügen, Brüche zu überbrücken und damit den Fall zu klären, unterstreicht die Offenheit jedes einzelnen Bedeutungskonstrukts für alternative Lesarten: Sie indiziert, dass Erinnerungserzählungen stets neue, narrative Erklärungen motivieren, sie als Orte der Polyvalenz daher nie das letzte Wort sein können. Zusätzlich akzentuiert wird die durch den Rückgriff auf die Konventionen des Kriminalromans suggerierte Unmöglichkeit der Wahrheitsfindung in Barney's Version durch wiederholte Referenzen auf Märchen, insbesondere auf Grimms' „Schneewittchen und die sieben Zwerge". Mit Blick auf die ,Mimesis der Erinnerung* bringt die Evokation von Märchen einen tief greifenden Skeptizismus gegenüber der Möglichkeit von Authentizität zum Ausdruck, lenkt sie doch das Augenmerk auf die Affinität von Erinnertem und Imaginiertem. Dieser grundlegende
252 Zur Detektiv-Metapher als Lesestrategie vgl. z.B. Birke (2003).
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Zweifel an der Zuverlässigkeit von Erinnerungen wird dadurch verstärkt, dass Barney stets in solchen Momenten auf das Grimmsche Märchen Bezug nimmt, in denen es ihm darum geht, die Funktionstüchtigkeit seines Gedächtnisses unter Beweis zu stellen, er defacto allerdings seine Gedächtnisschwäche offen legt: „Memo-
ry test. Quick Zarney. Names of the Seven Dwarfs. Grouchy, Snee^y, Sleepy, Doc. I know the names of the other three. Got them rightjust last night. They ΊΙ come to me. I'm not looking them up" (S. 57) 253 Seine amnestischen Störungen manifestieren sich sowohl in der Unfähigkeit einer vollständigen Rekapitulation als auch in der Nennung eines falschen Namens (Grouchy). Der sich leitmotivisch durch Barneys Erzählung ziehende Gedächtnistest wird so zum Symbol der Unverfügbarkeit seiner Vergangenheit. Die Zahl der von ihm memorierten Namen nimmt stetig ab, ein Prozess, der schließlich in der vollständigen Kapitulation vor der selbst gestellten Aufgabe kulminiert: „There are Seven Dwarfs, who cares what they're called?" (S. 403) Während Barneys Gedächtnislücken zu Beginn seiner Narration lediglich gelegentlich auftreten und für eine recht normale Begleiterscheinung seines fortgeschrittenen Alters gehalten werden könnten, häufen sie sich im Verlauf seiner Erzählung und gipfeln in dem weit gehenden Verlust seines raum-zeitlichen Orientierungsvermögens: „I must have walked for an hour, maybe more [...]. I had no idea where I was" (S. 400). Der Abbau seiner kognitiven Kompetenzen korreliert mit der zunehmenden temporalen Diskontinuität und Inkohärenz seiner Erzählung. Seine nunmehr gehäuften Eingeständnisse, wesentliche Aspekte seiner Vergangenheit vergessen zu haben, finden in der wachsenden Fragmentierung seines Narrativs einen formalen Niederschlag. Immer wieder schweift Barney vom Thema ab und verliert sich bisweilen völlig in erzählerischen Digressionen: „Digression, but a pertinent one." (S. 378) Das Ende seiner Erzählung setzt sich aus zeitlich heterogenen und inkohärenten Erinnerungsfragmenten zusammen, die auch für den Leser nicht mehr in einen sinnvollen Zusammenhang zu bringen sind. Wie auch die Fußnoten herausstellen, scheitert der Erzähler daran, zurückliegende Ereignisse auf eine diachrone Achse zu projizieren und ihnen durch ihre Integration in eine sequenzielle Ordnung eine Kausalität zu unterstellen: ,,[P]ages of this manuscript were put together in a haphazard fashion. The referendum was on October 30,1995, but what follows happened a years or so later." (S. 386, FN) Wo Vergangenes nicht mehr sinnhaft rekonstruiert und in einen psychologisch bedeutsamen Bezug zum Selbst gestellt werden kann, wird die Stiftung von biographischer Kontinuität unmöglich. Die Fragmentierung seiner Erzählung reflektiert die zunehmende Desintegration seiner personalen Identität; der Gedächtnisverlust wird mehr und mehr zu einem Identitätsverlust. Als der Erzähler schließlich von seinen besorgten Freunden dazu überredet wird, einen Arzt aufzusuchen und dieser mit ihm einige gewöhnliche Gedächtnistests durchführt, ist er weder dazu fähig, das exakte Datum zu memorieren noch
253 Weitere intertextuelle Anspielungen auf das Märchen finden sich auf den Seiten 58, 66, 282, 353.
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die Provinz seiner Heimatstadt Montreal zu benennen: „We are in the blessed province that's squeezed between Alberta and the other one, on the continent of North America, the World, the Universe" (S. 395). Angestoßen von dieser besorgniserregenden Einsicht in seine Gedächtnisstörungen konsultiert Boogie in Folge ein medizinisches Lexikon, von dem er sich Aufschluss über seinen Zustand erhofft: ,When Alzheimer (1907) described the disease which now bears his name, he considered it an atypical form of dementia ..." [...]. Oh, my God. Kate. Saul, Michael. What have I done, Miriam? .Pathology The brain shows extreme atrophy. Coronal sectioning confirms the uniform gyral atrophy, widening sulci, reduction in white matter and ventricular dilatation...' Yeah yeah yeah. (Ebd.)
Mit der Offenlegung, dass Barney an Alzheimer Demenz leidet, wird die Glaubwürdigkeit seiner gesamten Erinnerungserzählung auch rückwirkend tief greifend erschüttert, bestätigt die Diagnose doch den sich im Laufe der Erzählung immer dringlicher einstellenden Verdacht, dass Barney die grundlegende Voraussetzung für die Konstruktion von Erinnerungserzählungen, also ein intaktes Erinnerungsvermögen, nicht erfüllt. Seine Selbstnarration kommt zu einem jähen Schlusspunkt, als der Erzähler bemerken muss, dass er nicht einmal mehr dazu fähig ist, sich Miriams Telefonnummer zu entsinnen: „I picked up the phone, started to dial — stopped — and began to curse. I couldn't remember Miriam's number." (S. 403) Vergessen, weniger Erinnern avanciert damit zum zentralen Gegenstand von Richlers autobiographischem Erinnerungsroman. Der zunehmende Regress der individuellen Identität, nicht die Progression einer auf einen positiven Endpunkt angelegten Identitätsentwicklung, fungiert also als das strukturierende Prinzip von Barney's Version. Mit der für autobiographische Erinnerungsromane typischen regressiven Plotstruktur und der offenen Schlussgebung akzentuiert der Roman die Unverfügbarkeit des Selbst und stellt damit teleologische Entwicklungsmuster und die ihnen inhärenten Prämissen einer kohärenten und monolithischen Identität in Frage. Mit dem Verlust seiner narrativen Kompetenz, die der Persönlichkeits- und Identitätsbildung als ebenso zentrale wie komplexe Fähigkeit zugrunde liegt, können die identitätsbezogenen Leistungen von Erzählungen nicht länger wirksam werden. Paradoxerweise ist es gerade die Amnesie, die die Bedeutsamkeit von Erinnerungen prononciert herausstellt: Der Verlust von Erinnerungen zieht eine narrative Strukturlosigkeit nach sich, die wiederum zu einer Destabilisierung der Identität führt. Der enge Zusammenhang zwischen Erinnern, Erzählen und Identität könnte kaum deutlicher vor Augen geführt werden. Verschärft wird die Problematik von Barneys Identitätskonstitution auch dadurch, dass sie sich vor dem Hintergrund soziokultureller Konstellationen vollzieht: Zahlreiche Analogien suggerieren, dass Barneys eigene Desintegration als Symbol für die innere Zerrissenheit Kanadas, zumal seiner Heimat Quebec, „Canada's one and only, ,distinct society'" (S. 144) anzusehen ist. Durch die narrative
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Parallelisierung zwischen Barneys Zustand und dem Quebecs lenkt Barney's Version das Augenmerk auf die Fragmentierung der kanadischen Kultur und inszeniert damit eine für autobiographische Erinnerungsromane typische Interdependenz zwischen individuellen und kollektiven Phänomenen. Eine Vielzahl außertextueller Referenzen auf die Kollektivgeschichte Kanadas verdeutlicht, dass die relative Einheit des Landes durch die schwelende Rivalität der franko- und anglophonen Kultur Kanadas sowie durch die separatistischen Aspirationen Quebecs auf dem Spiel steht.254 Die Gefahr der inneren Spaltung des Landes konkretisiert sich in erster Linie in dem im Jahre 1995 anstehenden Referendum, das nicht nur wiederholt zum Gegenstand von Barneys Kontemplation wird, sondern auf welches sich seine Narration auch zuzubewegen scheint. In diesem zweiten Referendum, das häufig als Reaktion auf die durch die Multikulturalismuspolitik Pierre Trudeaus bewirkte Schwächung der frankophonen Kultur betrachtet wird,255 steht die Unabhängigkeit Quebecs erneut zur Disposition: ,,[M]y neighbours [...] wait for the Quebecois pure laine (that is to say, racially pure Francophones) to vote in a second referendum on independence of a sort, yes or no, for this provincial backwater called Quebec." (S. 77) Zwar scheitert auch dieses Referendum, wodurch die faktische Spaltung des Landes erstmal abgewandt wird; das Ergebnis ist allerdings so knapp, dass der Separatismus damit keineswegs überwunden ist. Im Gegenteil wird die Verfassungskrise Kanadas damit sogar noch verschärft: „The hard-fought referendum of October 30, 1995, did not disgrace la belle province's time-honoured election traditions. [...] It was a squeaker all right: NO to independence, 50.57: YES, 49.43." (S. 385) Dass die Darstellung des Wahlausgangs nahezu das Ende von Barneys Selbstnarration markiert und hiermit mit dem Tiefpunkt seiner psychischen Verfassung zusammenfällt, insinuiert einen nicht minder problematischen Zustand der kanadischen Nationalität.256 Barneys persönliche Unfähigkeit, die heterogenen Aspekte seiner Identität zu einer einheitlichen und kohärenten Identität zu synthetisieren, scheinen sich auf kollektiver Ebene fortzusetzen. So scheitert auch Kanada, „a cloud-cuckoo-land, an insufferably rich country governed by idiots" (S. 386), in den Augen des Erzählers daran, Fragmentierungstendenzen entgegenzuwirken und ein gemeinschaftliches Identitätsbewusstsein herzustellen.257
254 Vgl. hierzu exemplarisch S. 68, 69, 77, 81, 84,144, 169-171, 185f., 395f.. 255 Vgl. folgende Aussage, die sich auf einer Hauswand findet: „FUCK PIERRE T R U D E A U [...] VI VE LE Q U E B E C L I B R E " (S. 68). 256 Symbolisch auf die Spitze getrieben wird der Zerfall Quebecs durch Barneys Unfähigkeit, sich im Zuge des Gedächtnistests an den Namen der Provinz zu erinnern (vgl. S. 395). 257 Die mit dem Separatismus Quebecs evozierte Identitätsproblematik Kanadas wird in Barney's Version zudem durch die rekurrent thematisierte kulturelle .Kolonialisierung' durch die Übermacht der USA potenziert. In zahlreichen Kommentaren verleiht der Erzähler der viel beschworenen Befürchtung Ausdruck, die kanadische Kultur könnte von der amerikanischen gänzlich vereinnahmt werden. So rechtfertigt er etwa seine Filmprodukrionen mit dem ironisch zugespitzten Argument: „,We are defining Canada to Canadians [...]. We are this country's memory, its soul, its hypostatis, the last defence against our being overwhelmed by the egregious cultural imperialists to
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Der am Ende von Barneys unvollständig bleibender Erinnerungsnarration geäußerte Verdacht, dass dieser an Alzheimer Demenz leidet, wird von seinem Sohn Michael Panofsky in einem Nachwort bestätigt: „The Alzheimer diagnosis had been confirmed four months earlier [...]. From an increasingly frequent inability to find the right word for the most commonplace objects, or to remember the names of those near and dear to him, he might waken unaware of where or who he was." (S. 407-410) Da Barney mittlerweile in eine Klinik eingeliefert ist, sich sein gesundheitlicher Zustand rapide verschlechtert und er sich zunehmend infantileren Beschäftigungen hingibt, liegt die Verantwortung für die Veröffentlichung der Memoiren in den Händen seiner Kinder. Aufgelöst wird damit auch das Rätsel um die zahlreichen Fußnoten, die Barneys Erzählung durchziehen. Angesichts Barneys Unfähigkeit, sein Manuskript fertig zu stellen, der vielen narrativen Inkohärenzen und logischen Widersprüche kann Michael den Verleger nicht nur von der Notwendigkeit eines klärenden Nachwortes, sondern auch von korrektiven Fußnoten überzeugen: „After protracted negotiations with the publisher, it was agreed that I could add footnotes, correcting the most eregious factual errors, a chore that obliged me to do a good deal of reading." (S. 415) Dieser Eingriff in Barneys Memoiren ruft einmal mehr die Instabilität seines Sinnstiftungsprozesses und der darauf aufruhenden Identität ins Bewusstsein. Er lässt seine ,Selbst'-Narration zumindest teilweise zu einer ,Fremd'-Narration werden.258 In Harney's Version wirken das repetitive Erzählen der Vergangenheit, der Entwurf von imaginierten Erfahrungen, also von wtsh-rvorlds, sowie die strukturelle Multiperspektivität zusammen, um die Glaubwürdigkeit des Erzählers zu konterkarieren und seine Erinnerungsversionen als idiosynkratische Konstruktion auszuweisen. Barneys Versuche, sich seine Vergangenheit schönzureden, sein Verlangen nach Umdeutung sowie seine Verweigerungshaltung lenken das Augenmerk auf den schmalen Grad, der zwischen Erinnern und Fabulieren liegt, und bieten rezipientenseitig Anlass, eigene Sinnstiftungsstrategien zu hinterfragen. Sie bringen die für autobiographische Erinnerungsromane typische Ambivalenz von Erinnerungen zum Ausdruck, denen nicht nur ein identitätsstiftendes, sondern auch ein eminent destruktives, ein durch und durch identitätszersetzendes Potential inhärent sein
the south of us.1" (S. 5) Vgl. zur Problematisierung des Verhältnisses zwischen Kanada und den USA sowie der oftmals humoristischen Darstellung eines kanadischen Minderwertigkeitskomplexes gegenüber dem übermächtigen Nachbarn S. 34f., 47,167. 258 In seinem Nachwort liefert Michael Panofsky außerdem einen weiteren Erklärungsversuch für das Verschwinden von Boogie. Nachdem Boogies Leiche in der Nähe von Barneys Ferienhaus gefunden worden ist, scheint Barneys Täterschaft zunächst nahe zu liegen. Allerdings wird dieser Verdacht durch Michaels Beobachtung eines riesigen Wasserbombers in Zweifel gezogen, die suggeriert, dass Boogie durch eine tonnenschwere Fuhre Wasser getötet wurde. Da diese Erklärung im Einklang mit den von Barney beschriebenen Flugzeugmotoren steht, gewinnt sie natürlich eine gewisse Plausibilität. Angesichts des Fehlens von eindeutigen Indizien kann aber auch sie nur als ein weiterer Versuch verstanden werden, den vergangenen Ereignissen auf den Grund zu gehen und eine subjektiv eingängige Bedeutung zu generieren.
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kann. Barneys - sich in der anachronischen Zeitstruktur, den Anspielungen auf den Detektivroman und dem regressiven Plotmuster konkretisierende - Unvermögen, den Ansprüchen seiner Erinnerung gerecht zu werden und seine zurückliegenden Erfahrungen sinnstiftend anzueignen, kulminieren in seinem Identitätsverlust. Es sind gerade das Versagen der Erinnerung und der Verlust von kohärenzstiftenden Erzählmustern, die den Rezipienten eine besonders eindrückliche Vorstellung von der veritablen Macht von Erinnerungen und Narrationen vermitteln und die herkömmliche Konzepte einer substantiellen Identität und einer an sich bedeutsamen Vergangenheit nachhaltig erschüttern. Indem Richlers Erinnerungsroman die Bedeutung von Narrationen und die Kontextualität der Identität akzentuiert, stellt er innovative Vorstellungen von dem Zusammenspiel von Identität, Erinnerung und Erzählung zur Verfügung, die deren Konstruktivität und Performativität hervorheben. Die individuelle Identität befindet sich immer im Werden, gleich wie viele Geschichten auch erzählt werden mögen. Das Zusammenwirken von aktiver Aneignung, passivem Vergessen sowie Verdrängung der Vergangenheit verdeutlicht die Komplexität des Erinnerungsprozesses, der den Zustand einer abschließenden Synthese kaum erreichen kann. Der Roman bezieht sein kulturökologisches Funktionspotential als reflexiver Metadiskurs aus dieser selbstreflexiven Offenlegung der Grenzen von Sinnstiftungsprozessen sowie aus der Inszenierung einer Identitätspluralisierung. Der Roman verneint nicht die Möglichkeit von Sinn- und Identitätsstiftung; er unterminiert allerdings die Vorstellung von eindeutiger und definitiver Signifikation und kann damit rezipientenseitig zu einer größeren Akzeptanz von Polyvalenz und Offenheit beitragen. Als reflexiver Metadiskurs kann Barney's Version nicht nur auf individueller, sondern ebenso auf kollektiver Ebene Wirksamkeit entfalten. Die in Richlers Erinnerungsroman suggerierte Parallele zwischen Barneys identitärer Fragmentierung und der inneren Zerrissenheit der kanadischen Gesellschaft legt nahe, dass auch die Stabilisierung der kollektiven Identität nur durch Akte des Erinnerns, durch das ,re-membering' sicherzustellen ist. Barney's Version delegiert diese Aufgabe an seine Leserschaft. Indem der Roman die destabilisierenden Konsequenzen des Vergessens in aller Deutlichkeit vor Augen führt, kann er für die Erinnerungskultur (ex negativa) somit nicht zuletzt eine bedeutsame Reintegrationsleistung erbringen.
2.3 „There is never only one, of anyone" — Inszenierungen einer pluralistisch-fragmentierten Identität in Margaret Atwoods Cat's "Eye (1988) Ebenso wie die Erzähler in The Onderpamter und in Barney's Version steht auch die Erzählerin Elaine Risley in Margaret Atwoods autobiographischem Erinnerungsroman Cat's Eye mit den Ansprüchen ihrer Erinnerung in einem Konflikt: Aktive Verweigerungsversuche auf der einen Seite und übermäßig exakte, schmerzhaft genaue Erinnerung auf der anderen Seite verhindern in Cat's Eye eine sinn- und identitätsstiftende Verarbeitung des Vergangenen. In diesem Zusammenhang ist
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signifikant, dass die persönliche Vergangenheit in Atwoods Roman - im Unterschied zu den übrigen Erinnerungsromanen —vornehmlich qua interner Fokalisierung zur Darstellung gelangt. Anders als in autobiographischen Gedächtnisromanen allerdings funktionaKsiert Cat's Eye die interne Fokalisierung und die so inszenierten Felderinnerungen nicht zur Bekräftigung der Authentizität des zurückliegenden Geschehens. Vielmehr illustriert diese Fokalisierungstechnik die enorme Schwierigkeit, belastenden und destabilisierenden Ereignissen retrospektiv Sinn zu verleihen und sie als Teil der eigenen Identität auszuweisen. Interne Fokalisierung bringt die fehlende Anbindung des Vergangenen an die Gegenwart zur Anschauung und stellt den stets offenen und provisorischen Charakter des autobiographischen Prozesses heraus. „You don't look back along time but down through it, like water. Sometimes this comes to the surface, sometimes that, sometimes nothing. Nothing goes away." (S. 3) Diese von der autodiegetischen Erzählerin Elaine Risley, einstige Studentin der Archäologie und nunmehr Malerin, zu Beginn des Romans angestellte Reflexion verweist paradigmatisch auf die in Cat's Eye inszenierten Dimensionen der Sinnstiftung, bei der aktive Aneignung und eigendynamische Wiederkehr des Vergangenen zusammenwirken. Elaines Uberzeugung, dass letztlich alle Erfahrungen präsent bleiben, lässt ihre Identität als Konglomerat von bewussten sowie unbewussten Erinnerungen erscheinen. So gleicht die Erzählerin einer Archäologin, die vor der Aufgabe steht, auch die verborgenen, bislang verdrängten Schichten ihrer Vergangenheit freizulegen und auf dieser Basis ihre persönliche Geschichte und Identität zu rekonstituieren (vgl. Fiamengo 2000, S. 148). 259 Wie prekär der Prozess der Wiedererschließung des Vergangenen für die Erzählerin ist, stellt sie mit einer Anspielung auf Dantes Inferno heraus, die eine Parallele zwischen ihrer Reise in die Vergangenheit und einem Gang durch die Hölle suggeriert: „This is the middle o f my life. I think of it as a place, like the middle of a river, the middle o f a bridge, halfway across, halfway over." (S. 13) Um diese sinnstiftende Brücke zwischen ihrem vergangenen und gegenwärtigen Selbst zu schlagen, muss die Erzählerin die Heterogenität der an die Oberfläche dringenden Erfahrungsfragmente zu einem aneignungsfähigen Ganzen zusammenfügen (vgl. Robinson 2002, S. 226). Margaret Atwoods Erinnerungsroman Cat's Eye schildert die rückblickend aktualisierte Lebensgeschichte der Künstlerin Elaine Risley, die anlässlich einer Retrospektive ihres Werkes in ihre Heimatstadt Toronto zurückkehrt. Die Rückkehr nach Toronto, die verhasste Stadt ihrer Kindheit (vgl. S. 13), wird für die mittlerweile in Vancouver lebende Erzählerin zugleich zu einer schmerzhaften Wiederbegegnung mit ihrer Vergangenheit. Als persönlicher Gedächtnisort, der Elaines Erinnerungen kodifiziert, ruft ihr die Metropole ihre bis dahin weit gehend verdrängten Kindheitserlebnisse ins Bewusstsein, die sie sukzessive narrativ elaboriert.
259 Zur Metapher des Archäologen als Versinnbildlichung von Erinnerungsprozessen vgl. A. Assmann (1999, S. 162-165).
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Im Verlaufe ihres Aufenthalts in Toronto wird Elaine Risleys visuell-künstlerische Retrospektive somit um einen narrativ gestalteten Lebensrückblick ergänzt. Durch das Nebeneinander von (sprachlich evoziertem) Erinnerungsbild und Erinnerungsnarrativ entsteht ein Geflecht von sich wechselseitig perspektivierenden und ergänzenden Perspektiven auf Elaines Vergangenheit: Unterschiedliche Motivstränge werden zusammen- und wieder auseinander geführt, ohne je den Zustand einer endgültigen Synthese zu erreichen. Ebenso wie in The Underpainter zeigt diese — für autobiographische Erinnerungsromane typische - strukturelle Multiperspektivität auch in Cat's Eye eindrücklich, dass sich die individuelle Vergangenheit aus einer Pluralität von Geschichten konstituiert und zur Identität einer Person stets eine Vielzahl möglicher Identitäten gehört. Die grundlegende, für autobiographische Erinnerungsromane kennzeichnende Instabilität der erzählerischen Sinnstiftung wird in Cat's Eye durch eine Reihe weiterer narrativer Verfahren inszeniert. Die dominant interne Fokalisierung evoziert den Eindruck einer anhaltenden, in die Gegenwart fortwirkenden Vergangenheit und veranschaulicht, dass die Erzählerin noch immer derart von ihren Kindheitserfahrungen absorbiert ist, dass eine selbstreflexive Distanzierung und plausibilisierende Kohärenzstiftung kaum möglich sind. Die anhaltende Virulenz ihrer vergangenen Erfahrungen, also die Schwierigkeit, ihre Erinnerungen kontinuitätsstiftend an die aktuelle Situation anzubinden, manifestiert sich außerdem in der anachronischen Zeitstruktur des Romans. Temporale Brüche und fehlende kausale Verknüpfungen zwischen dem Damals und dem Heute fuhren zu einer Amalgamierung von temporal disparaten Erfahrungsaspekten. Sie veranschaulichen damit die Einsicht der Erzählerin in die Mehrdimensionalität ihrer Erlebnisweise: „There are, apparently, a great many more dimensions than four." (S. 332) Die Instabilität von Elaines Identität wird zudem durch zahlreiche Verdoppelungs- und Spaltungsmetaphern implizit dargestellt und in vielen metanarrativen und metamnemonischen Reflexionen explizit problematisiert. Auch diese, für die Rhetorik des autobiographischen Erinnerungsromans kennzeichnenden Reflexionen stellen heraus, dass sich die Frage nach dem Gewordensein der individuellen Identität niemals endgültig beantworten lässt. ***
Obgleich Elaine Risleys erste Retrospektive den Höhepunkt ihrer bisherigen Karriere markiert, kehrt sie nur widerwillig nach Toronto zurück: „Staying here is possibly a silly thing to do, too retrospective." (S. 16) Als Stadt ihrer Kindheit und Jugend ist Toronto für die Erzählerin primär mit dem bedrängenden, aber diffusen Gefühl des Leidens, der Orientierungslosigkeit und der Klaustrophobie verbunden. Zum Zeitpunkt ihrer Rückkehr hat die mittlerweile 50-jährige Erzählerin nur wenig konkrete und kaum kommunizierbare Erinnerungen an ihre Jugend. Nach ihrer verzweifelten Flucht nach Vancouver in den 1960er Jahren versuchte sie beharrlich, ihre Erfahrungen in Toronto, wo sie nach glücklichen Jahren des Nomadenlebens mit ihrer Familie den zweiten Teil ihrer Kindheit verbrachte, aus dem Gedächtnis zu bannen: „Toronto lies behind it, at a great distance, burning in thought like Gomorrah. At which I dare not look." (S. 382) Von ihrer Kindheit in Toronto
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ist vornehmlich das Gefühl einer schmerzlichen und unartikulierbaren Leere geblieben: „I have nothing to say. [...] Even to myself I am mute." (S. 117) Erst Elaines Rückkehr nach Toronto Ende der 1980er Jahre und die hiermit verbundene Wiederbegegnung mit den Orten ihrer Kindheit setzen eine narrative Reaktivierung ihrer weit gehend verdrängten Erfahrungen in Gang. Dieser Prozess füllt sukzessive das emotionale und mnemonische Vakuum und wird so zum Ausgangspunkt von Elaines autobiographischer Selbstmodellierung. Auf der extradiegetischen Ebene der Vermittlung präsentieren die einzelnen Kapitel in kurzen Sequenzen Elaines Aufenthalt in Toronto, die Vorbereitung ihrer Vernissage, das Wiedersehen mit ihrem ersten Mann Jon, aber vor allem ihre zahlreichen Spaziergänge durch die Stadt. Die durch die Orte der Metropole evozierten Erinnerungen erschließt Elaine auf der diegetischen Ebene in szenischen Sequenzen. Der Erinnerungsprozess, bei dem die Erzählinstanz mehr und mehr hinter das erlebende Ich zurücktritt, hebt die lineare Ereignischronologie auf und erweckt den Eindruck einer simultanen Verschmelzung von Vergangenem und Gegenwärtigem. Immer wieder verliert sich die Erzählerin in den komplexen Windungen ihrer Vergangenheit. In der Stadt konkretisiert sich ihre Kindheit in verräumlichter Gestalt, so dass die Spaziergänge durch die Straßen Torontos für Elaine zu einer ,Zeitreise in ihre Vergangenheit' (vgl. S. 220) werden. Diese Verräumlichung der Zeit bzw. Verzeitlichung des Raums (vgl. Nünning 1995b, S. 179f.) setzt Elaines Einsicht in die Interdependenz von Raum und Zeit, die sie mit der Phrase ,,[s]pace-time is what we live in" (S. 219) auf den Begriff bringt, narrativ um.260 Mit der Affinität von Erinnerung und Raum unterstreicht der Roman die physische Präsenz des Vergangenen in der Gegenwart. Die räumlichen Koordinaten kodifizieren palimpsestartig Elaines individuelle Geschichte und lassen ihre Vergangenheit damit zu ihrer Gegenwart werden. Die Semantisierung des Raums löst die Grenzen zwischen psychischer Innerlichkeit und physischer Äußerlichkeit ebenso auf wie die zwischen unterschiedlichen temporalen Dimensionen. Indem die Orte eine Reaktivierung des Vergangenen in Gang setzen, entwirft Cat's Eye eine topographische Auffassung vom Gedächtnis, die an die antike Mnemotechnik und ihrer Methode der Raumbilder, der loa et imagines anknüpft. Durch die subjektive Semiotisierung des Raums werden die Orte Torontos für Elaine gewissermaßen zu loci, an denen ihre Gedächtnisbilder (imagines) haften. Das spätere .Abgehen' der Orte eröffnet ihr die Möglichkeit, die Bilder ihrer Vergangenheit .aufzusammeln' und so vergessene Episoden zu reaktivieren. In Cat's Eye werden die mnemotechnischen Auffassungen allerdings in zwei wesentlichen Aspekten auf den Kopf gestellt. Während die antike Mnemotechnik als Verfahren des bewussten Memorierens genutzt wurde, findet der Prozess der Erinnerung in Cat's Eye zunächst unfreiwillig statt. Orte wie ihre frühere Schule,
260 Vgl. zur Semantisierung des Raums exemplarisch S. 13f, 112, 364, 375, 376, 383, 386, 399, 400, 410, 413.
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Bushaltestellen, Brücken oder Spielwiesen werden von Elaine, zumindest zu Beginn ihres Aufenthaltes, nicht in der Absicht aufgesucht, sich Vergessenes ins Bewusstsein zu rufen. Im Gegenteil bringen diese Orte Elaine ihre beharrlich verdrängten, traumatischen Erinnerungen widerwillig und fast gewaltsam zu Bewusstsein: „I am dragged downwards, into the layers o f this place as into liquefied mud" (S. 13). Die Stadt zwingt sie regelrecht, sich den verborgenen Schichten ihres Gedächtnisses anzunähern und sich ihnen in einem bisweilen höchst schmerzhaften Prozess anzunehmen: „I've been walking for hours it seems, down the hill to the downtown [...]. I can feel my throat tightening, a pain along the jawline. " (S. 8f.) Mehrfach spielt die Erzählerin daher mit dem Gedanken, Toronto schnellstmöglich zu verlassen. Darüber hinaus tragen die topographischen Bezugspunkte in Cat's Eye weder zur Kontinuität des individuellen Gedächtnisses bei noch begünstigen sie eine stabilitätsgewährende Orientierung. Im Gegenteil provoziert die Konfrontation mit den erinnerungsbehafteten Orten ihrer Kindheit das Gefühl der Orientierungslosigkeit, des Schwindels und der temporalen Diskontinuität: „This is bad, confusing directions like that, or am I jumping time, did I go down already?" (S. 113) Elaine scheint in ihrer Vergangenheit regelrecht unterzugehen, so dass eine sinnhafte Situierung in der Gegenwart unmöglich wird. Die Erfahrung der Desorientierung legt eine weit reichende Diskrepanz zwischen früheren Erfahrungen und ihrer aktuellen Selbstdefinition nahe. Als überdauernder Träger ihrer hochgradig belastenden Erinnerung wird Toronto somit zum zentralen „villain o f the piece" (French 1988; zit. n. Vevaina 1996, S. 241), der die Integrität von Elaines Identität zunächst maßgeblich gefährdet. Erst im Laufe ihres Aufenthaltes in Toronto macht sich die Erzählerin die erinnerungsbezogene Funktion der Orte stärker zunutze. Ihr ursprüngliches Verlangen, Toronto den Rücken zu kehren, weicht nach und nach dem vorsätzlichen Aufsuchen der Orte ihrer Kindheit. Die ausgeprägte Semantisierung des Raums suggeriert, dass Elaines Quest bzw. ihre Selbstsuche als Bemühen um bewusste Verortung zu verstehen ist. Die inszenierte Topologie des Gedächtnisses lässt Erinnerungen in Cat's Eye als das Resultat einer Auseinandersetzung der Figur mit sich und mit ihrer Umwelt erscheinen. Die Gebundenheit von Erinnerungen an aktuelle, räumliche Rahmen lenkt das Augenmerk auf die Gegenwartsorientiertheit bzw. Kontextualität von Erinnerungsprozessen, die potentiell immer auch anders ablaufen können und daher als variabel anzusehen sind. Im Zentrum von Elaines - in zahlreichen Rückblenden aktualisierter — Selbstgeschichte stehen ihre Erlebnisse mit ihren drei Jugendfreundinnen Carol Campell, Grace Smeath und Cordelia im Toronto der 1940er Jahre. Nachdem Elaine ihre frühen Kindheitsjahre im Norden Kanadas verbrachte, wo ihr Vater als Entomologe arbeitete, ändert sich ihr Lebensstil mit dem Umzug nach Toronto drastisch. Die Familie lebt nicht länger in Zelten oder Blockhütten, sondern bezieht ein Haus, und die Eltern passen sich zumindest äußerlich mehr und mehr den Standards der Stadt an. Gegenüber dem negativ konnotierten Stadtleben scheint die Natur Freiheit, Abenteuer und Selbstverwirklichung abseits von etablierten Normvorstellungen zu symbolisieren und wird daher von Elaine mehr und mehr zum
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verlorenen Paradies stilisiert (vgl. Bach 1994, S. 382). Da Elaine in Folge ihrer ungewöhnlichen Sozialisation in der Wildnis wenig Einblick in gesellschaftliche Gepflogenheiten des Städtelebens hat, machen es sich ihre Freundinnen, allen voran Cordelia, fortan zur Aufgabe, sie mit den wesentlichen .Leitbildern' der westlichen Zivilisation vertraut zu machen. So bringen sie Elaine die Bedeutung von „twin sets" (S. 50), „cold wave" (S. 51), „chintz curtains" (S. 48), „frying pans" (S. 67), „ladies", „washing machines" (S. 67), Modekatalogen, der Menstruation und Sonntagsschulen nahe.261 In der Uberzeugung, dass diese sekundäre Sozialisation zu ihrem Besten geschehe („[Cordelia] wants to help me, they all do", 120), akzeptiert Elaine ihre Freundinnen als Erfahrungs- und Verhaltensmaßstab und gibt damit die Selbstsicherheit und innere Stabilität auf, die sie paradoxerweise während ihres unsteten Nomadenlebens in der Wildnis empfand: „I want to be back [...] in my old rootless life of impermanence and saftey" (S. 33). An die Stelle ihrer natürlichen Unmittelbarkeit tritt nunmehr eine enkulturierte, zumal fremdbestimmte Lebensführung. Ihre Wünsche, Bedürfnisse und vor allem ihre Selbstdefinition lässt sich Elaine zunehmend aufoktroyieren: „I begin to want things I've never wanted before: braids, a dressing-gown, a purse of my own. [...] All I have to do is sit on the floor and cut frying pans out of the Eaton's Catalogue" (S. 54). Diese scheinbar harmlosen Instruktionen ihrer Freundinnen gehen mit zunehmend vernichtender Kritik an Elaines Person einher und nehmen schließlich die Gestalt von rüden, disziplinären Maßnahmen an. Vor allem Cordelia quält Elaine wiederholt und setzt bei zwei Gelegenheiten deren Leben leichtfertig aufs Spiel: Einmal begräbt sie Elaine lebendig, und ein anderes Mal zwingt sie ihr Opfer dazu, in eine Schlucht zu steigen, in der Elaine in einen zugefrorenen Fluss einbricht und dabei fast ums Leben kommt. Die physisch und psychisch brutalen Versuche ihrer Freundinnen, Elaines Identität zu remodellieren, sowie ihre eigene Bereitschaft, die Fremdzuschreibungen als Selbstbeschreibungen zu akzeptieren, reduzieren ihr Selbstverständnis schließlich auf das Gefühl des Nichts: „What do you have to say foryourselfi Cordelia used to ask. Nothing, I would say. It was a word I came to connect with myself, as if I was nothing, as if there was nothing there at all." (S. 41) In welchem Maße die Erzählerin noch immer von ihren Kindheitserinnerungen okkupiert ist, tritt an ihrer anhaltenden, emotionalen Fixierung auf Cordelia zutage. Der Gedanke an ihre vermeintliche Jugendfreundin, die sie in Toronto gleichermaßen wieder zu treffen hofft wie auch furchtet, überflutet sie mit Hassgefühlen, die sich bis zu Mordphantasien steigern: „Cordelia is unconscious. [...] I sit there wondering whether to pull [...] the plug out of the wall. [...] Even better: an iron lung" (S. 7). Auch der Umstand, dass Elaine wiederholt ein Treffen mit Cordelia imaginiert und in ihrer Phantasie Zwiegespräche mit dieser führt, illustriert die 261 Insbesondere angesichts seines Fokus auf die weibliche Sozialisation wird Atwoods Roman häufig als feministischer Bildungsroman angesehen. Vgl. zu Analysen von Cat's Bye aus feministischer Perspektive v.a. die Studien von Ahern (1993), Howells (1994) und Osborne (1994).
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anhaltende Virulenz der Jugendfreundschaft. Der durch ihre Rückkehr nach T o ronto angestoßene Dialog mit ihrer Vergangenheit wird somit zugleich zum Dialog mit Cordelia: „If I were to meet Cordelia again, what would I tell her about myself? The truth, or whatever would make me look good? Probably the latter." (S. 6) Signifikant ist nicht nur, dass die Erzählerin auf die unweigerliche Kontext- bzw. Adressatenabhängigkeit von Selbsterzählungen aufmerksam macht und damit die soziale Prägung von individuellen Erinnerungen herausstellt. Vielmehr zeigt auch ihr Bedürfnis, sich gegenüber Cordelia in einem möglichst positiven Licht darzustellen, dass sie mit ihren kindlichen Erfahrungen noch längst nicht abgeschlossen hat. Die Unmöglichkeit, die hochgradig belastenden Erfahrungen ihrer Kindheit zu verarbeiten, setzt bei der jungen Elaine ein motiviertes Vergessen ihrer identitätszersetzenden Vergangenheit in Gang, eine Verweigerungshaltung, die offenbar bis zum Zeitpunkt ihrer Rückkehr nach Toronto wirksam ist. Angesichts der weit gehenden Unverfügbarkeit von prägenden Erfahrungen ihrer Kindheit ist die Kontinuität von Elaines individueller Identität gefährdet. Die Frage, die sich die Erzählerin mit Blick auf ihr jüngeres Selbst stellt, weiß sie nicht zu beantworten: „What was I like, what did I want?" (S. 28). Dieser autobiographische Bruch gelangt durch die Unmöglichkeit der Erzählerin, sich im Spiegel zu erkennen, metaphorisch zur Darstellung: „[T]oo close to the mirror and I'm a blur, too far back and I can't see the details. [...] I am transitional; some days I look like a worn-out thirty five, others like a sprightly fifty." (S. 5) 2 6 2 Elaine entwirft eine fur autobiographische Erinnerungsromane typische Vorstellung eines der Zeit unterworfenen, sich stets wandelnden Selbst, das lediglich eine transitorische, nie vollständig fassbare Identität aufzuweisen vermag. Ihre „eye problems" (ebd.) sind somit metaphorisch auch als ihre Identitätsprobleme, ihre ,I-problems' anzusehen: Sich selbst steht Elaine zunächst wie einer maskierten Unbekannten gegenüber, die stets nur „half of [her] face" (S. 410) zu erkennen gibt. Erinnerungen sind in Cat's Eye keine integrativen Stabilisatoren der individuellen Identität; ihnen scheint vielmehr ein eminent zerstörerisches, identitätszersetzendes Potential inhärent zu sein. Cat's Eye zieht die Vorstellung der Identitätskonstitution über die Erinnerung in Zweifel und lotet im Gegenteil die Möglichkeiten einer Identitätserfindung durch eine aktive Lossagung von der eigenen Vergangenheit aus. Konstitutive Ereignisse ihrer Kindheit sind dem erlebenden Ich unverfügbar und werden lediglich als „a black square Glied with nothing" (S. 107), als „receding darkness" (S. 108), als „hazy space" (S. 192) oder als „square o f darkness" (S. 253) fassbar. An ein besonders einschneidendes Kindheitserlebnis, bei dem sie von ihren Freundinnen Carol, Grace und Cordelia im Garten begraben wurde, fehlt der Protagonistin fast jede Erinnerung: „I have no image of myself in the hole" (S. 262
Vgl. hierzu auch Elaines Unwillen, sich überhaupt im Spiegel erkennen zu wollen: „ I f I ran a store like this I'd paint all the cubicles pink and put s o m e money into the mirrors: whatever else w o m e n want to see, it's not themselves" (S. 44).
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107). Als Cordelia nur wenige Jahre später an diesen Vorfall erinnert, hat Elaine diesen bereits aus ihrem Gedächtnis ausgeschlossen: .„What holes?' [...] I don't remember any holes." (S. 252) Ebenso wenig erschließt sich Elaine die Bedeutung eines Verweises ihrer Mutter auf ihre Jugendfreundinnen: .„What girls?' I say." (S. 394) Und als Elaine in ihrem frühen Erwachsenenalter ihre einstige Freundin Cordelia wieder trifft, sieht sie in dieser vor allem die Gefahr, sie könnte ihr ihre schmerzhafte Vergangenheit in Erinnerung rufen: „But I don't want her to remember any more. I want to protect myself from any further, darker memories of hers" (S. 258). 2 6 3 Erinnerungslosigkeit erscheint als aktiver Versuch der Protagonistin, sich von den prekären Erfahrungen ihrer Vergangenheit loszusagen. Ebenso wie in Barney's Version geht es demnach auch in Cat's Eye um das Vergessen. Allerdings sind die Bemühungen, das Vergangene hinter sich zu lassen, in Atwoods Erinnerungsroman nur für das erlebende Ich konstitutiv. Im Rahmen ihrer Selbstnarration erinnert die Erzählerin paradoxerweise an ihr vorgängiges Vergessen. Das erzählende Ich erinnert sich, wie zu zeigen sein wird, häufig viel zu genau an die zurückliegende Erfahrungsrealität. Nicht nur durch aktive Verdrängungen, sondern auch durch Umdeutungen ihrer Erinnerungen versucht sich das erlebende Ich vor der schmerzhaften Realität zu schützen. Trotz ihrer beharrlichen Verdrängungsversuche, dringen einige Erfahrungen in das Bewusstsein der Protagonistin. Allerdings gelingt es ihr nicht, diese Erinnerungsfragmente in einen signifikanten und identitätsrelevanten Bezug zu ihrem eigenen Selbst zu setzen: „I know that these things must be memories, but they do not have the quality of memories. [...] I have no image of myself in relation to them. They are suffused with anxiety, but it's not my own anxiety." (S. 337) Zwar erkennt Elaine die vergangenen Erfahrungen an; sie erkennt sie allerdings nicht als Teil ihrer Realität an. Um sich von ihrer Vergangenheit loszusagen und sich ein neues Selbst zu erfinden, versucht die Protagonistin offenbar, ursprünglich episodische und das heißt selbstbezogene und identitätsrelevante Erinnerungen in dekontextualisierte, semantische Gedächtnisbestände zu transformieren. 264 Wie die in dem gedächtnistheoretischen Teil dieser Arbeit dargelegte Unterscheidung zwischen den Besonderheiten unterschiedlicher Gedächtnissysteme illustriert, halten semantische Erinnerungen Vergangenes zwar verfugbar. Da sie allerdings ohne Erwerbskontext, d.h. ohne einen räumlich-zeitlichen Bezug gespeichert werden, rekapitulieren sie Vergangenes im Sinne eines neutralen knowing und nicht als identitätskonstitutive und emotional bedeutsame Selbsterfahrung. Dieser Transforma-
263 Vgl. zu den zahlreichen Referenzen Elaines auf ihre Amnesie auch S. 172, 1 7 3 , 1 9 2 , 1 9 8 , 200, 201, 203, 204, 229-230, 334, 359, 395. Darüber hinaus stellt die Erzählerin zahlreiche explizite Reflexionen über Amnesie an: „There are several diseases o f the memory. (...) I sometimes wonder which o f these will afflict me, later; because I know one o f them will." (S. 263) 264 Vgl. Schacter (2001, S. 245), der die emotionale Bedeutsamkeit von episodischen Erinnerungen in aller Deutlichkeit herausstellt: „Ein Leben ohne episodisches Gedächtnis ist psychologisch steril — das seelische Äquivalent einer öden sibirischen Landschaft."
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tionsprozess erweist sich für die Protagonistin als effektive Strategie zur Abspaltung ihrer höchst belastenden Erlebnisse und treibt damit ihre identitäre Fragmentierung voran. Elaines motivierte Amnesie findet in ihrer kindlichen Tendenz, sich bedrängenden Ereignissen durch willentlich induzierte Ohnmacht zu entziehen, ihren deutlichsten Ausdruck. Ohnmächten erlösen sie aus unerträglichen Situationen: „There's a way out o f places you want to leave, but can't. Fainting is like stepping sideways, out o f your own body, out o f time or into another time." (S. 171) Der Zustand der Bewusstlosigkeit bietet der jungen Elaine ebenso wie ihre häufigen psychosomatischen Krankheiten die Möglichkeit, sich durch die Dissoziation von ihrem eigenen Selbst vor den permanenten Schmähungen ihrer Freundinnen zu schützen. Schon nach einiger Zeit muss sie allerdings bemerken, dass sich diese einstmals willentliche Lossagung von ihrem Körper gegen sie gewandt hat. Sie ist nunmehr zur Empfindung von Stabilität und Kontinuität regelrecht auf den körperlichen Schmerz angewiesen: „The pain gave me something definite to think about, something immediate. It was something to hold onto." (S. 114) Ihre Selbstentfremdung bzw. -negierung reicht bis zu der Vorstellung, dass ihr Körper von einer anderen Person besetzt wird: „I'm afraid I'll find out that there's someone else trapped inside my body; I'll look into the bathroom mirror and see the face o f another girl, someone who looks like me but has half o f her face darkened, the skin burned away." (S. 212) Ihre Weigerung, ihre kindlichen Erfahrungen anzuerkennen und damit den Ansprüchen ihrer Erinnerung gerecht zu werden, konkretisieren sich in einer Ich-Spaltung: Sich selbst visualisiert die junge Elaine als entstellte Andere. Elaines kindliche Unfähigkeit, sich mit ihren bedrängenden Erlebnissen direkt auseinander zu setzen — und das bedeutet auch sie zu verbalisieren — manifestiert sich in ihrer ausgeprägten Faszination für bildhaft-visuelle Repräsentationsformate. Wie Elaines Erinnerungsprozess aufdeckt, nähert sie sich der Realität vor allem qua visueller, zumal kreativ verzerrender Darstellungsschablonen an. Die Zentralität des Sehens für ihre kindliche Erfahrungsverarbeitung wird durch die sich leitmotivisch durch ihre Erzählung ziehenden Verweise auf Augen, Spiegel, Brillen und Lupen akzentuiert (vgl. Hite 1995a, 1995b). Als Kind ist sie von Mikroskopen, Fernrohren, Kameras und Teleskopen fasziniert, die ihr erlauben, ihre Außenwelt vermittelt und distanziert wahrzunehmen. Besonders deutlich wird die distanzierte und distanzierende Auseinandersetzung mit ihren Erfahrungen durch die im Titel des Romans genannte Murmel cat's eye, mit der Elaine und ihr Bruder in ihrer Kindheit spielen. Diese Murmel ist für die junge Elaine deshalb von so herausragender Bedeutung, weil sie in ihr die Möglichkeit zu entdecken glaubt, ihre Umwelt auf neue, alternative Weise zu perspektivieren (vgl. S. 62f.). Der Blick durch die Glasmurmel führt zu einer vollständigen Umkehrung der Außenwelt: So wird rechts zu links, oben zu unten, und Entfernungen werden perspektivisch gebrochen und enorm vergrößert (vgl. S. 155). Die distanzierende Sicht durch die Murmel gewährt ihrer gepeinigten Psyche zumindest kurzfristige Ruhe. Im Laufe der Zeit spricht sie dem cai's eye eine fast übernatürliche Kraft zu, und insbesondere
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wenn es darum geht, sich vor den Grausamkeiten ihrer Freundinnen zu schützen, macht sie die Macht ihres Talismans geltend: „She [Cordelia] doesn't know what power this cat's eye has, to protect me. Sometimes when I have it with me I can see the way it sees. I can see people moving [...] without feeling anything else about them. I am alive in my eyes only." (S. 141) Offensichtlich fungiert die Murmel fur die junge Elaine als Schutzschild, das ihr gestattet, sich von ihren bedrängenden Kindheitserfahrungen emotional zu dissoziieren. Dieser Abspaltungsprozess wird auch durch die phonetische Entsprechung von I und eye problematisiert, denn so verschwindet Elaines (erlebendes) I mehr und mehr hinter dem eye. Die Annäherung des I an das eye bzw. die Verschiebung vom eye hin zum I wird somit zur zentralen Herausforderung, der sich die Erzählerin stellen muss. Das Unvermögen des erlebenden Ichs, sich mit zentralen Komponenten seiner Vergangenheit auseinander zu setzen, führt zu einem identitätsgefährdenden Bruch der biographischen Kontinuität und leistet dem Gefühl der identitären Fragmentierung Vorschub. Diese Desintegration ihrer individuellen Identität wird durch die zahlreichen Motive der Verdoppelung, der Spiegelung (vgl. Cowart 1992, S. 128-131) sowie der Maskerade (vgl. Howells 2000, S. 145) zur Anschaulichkeit verholfen. Vor allem zahlreiche Referenzen auf „twins" (S. 51, 233, 219), „twin sets" (S. 51), „twin beds" (ebd.) und „twin foetuses" evozieren das Motiv der mäandernden Doppelung. Am deutlichsten manifestiert sich dieses Spaltungsphänomen in Elaines Phantasie: „.That's not me,' I say. .That's my twin. You've never known, but I'm one of a twins.'" (S. 233) Das durch verschiedene Metaphern aufgerufene Phänomen der Replikation bzw. der Spaltung lenkt das Augenmerk auf die Grenzen von Elaines individueller Identitätserschließung. Die Unverfügbarkeit zentraler Komponenten ihrer Identität versucht sie durch eine Uberidentifikation mit ihren Freundinnen Cordelia und später Susie zu kompensieren, die so zu ihren Alter Egos werden. Elaine imaginiert immer wieder alternative Spiegelbilder eines möglichen Selbst und begegnet vor allem in Cordelia „Reflektionsflächen, die umgedeutet zu Reflexionsflächen, ihr ein Selbsterkennen aufzwingen" (Bach 1994, S. 392). Bereits bei ihrem ersten Treffen vermag sich Elaine plötzlich in den Augen Cordelias wieder zu erkennen. Bei späteren Begegnungen zwingt Cordelia Elaine ihr Selbstbild fast gewaltsam auf: „Cordelia takes her sunglasses out [...] and puts them on. There I am in her mirror eyes, in duplicate and monochrome, and a great deal smaller than life-size." (S. 303) Die Spiegelmetaphorik und die durch sie evozierte Doppelung legen nicht nur eine Spaltung, sondern auch eine regelrechte Inversion von Elaines Identität nahe. Elaine visualisiert Cordelia wiederholt als das omnipräsente, aber sich stets entziehende Andere, also als negatives Gegenstück ihres Selbst: „I'm not afraid of seeing Cordelia. I'm afraid of being Cordelia." (S. 227) Wie auch die Imagination von Cordelia als ihrer vampirischen Zwillingsschwester nahe legt (vgl. S. 223), scheinen sich in Cordelia all die abgespaltenen, nicht gelebten Komponenten bzw. verdrängten Möglichkeiten ihres eigenen Selbst zu versinnbildlichen. Dass diese nicht gelebten Möglichkeiten bisweilen auch ersehnte Charakterzüge darstellen und die Identifikationen hiermit eine kompensato-
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fische Funktion erfüllen, wird insbesondere an Elaines Wahrnehmung ihres ,twin* Susie deutlich, die jene Emotionen und Leidenschaft zu verkörpern scheint, die sie selbst zu empfinden unfähig ist (vgl. S. 293). Die autodiegetische Erzählerin fasst die in Cat's Eye auf vielfältige Weise inszenierte Dezentrierung ihrer personalen Identität prägnant zusammen, wenn sie konstatiert: „There is never only one, of anyone." (S. 6) Elaines Identität wird durch diese Verdoppelungs- und Spaltungsphänomene als ein stets offenes und plurales Konstrukt inszeniert, das sich — auch angesichts seiner unauflöslichen Verquickung mit signifikanten Anderen - einer endgültigen Erschließung bzw. Fixierung entzieht. Während Elaine Cordelia in ihrer Kindheit hilflos ausgeliefert ist, löst sie sich in ihrer Jugend mehr und mehr aus ihrem Bann und beginnt, Rache an ihr zu nehmen. Manifest wird dieser Prozess vor allem im Überwechseln von ihrer einstigen Opfer- in die nunmehrige Täterrolle: ,,[I]n some way we changed places, and I've forgotten when" (S. 227). Es ist nun Cordelia, die Elaines beißendem Zynismus zum Opfer fällt: „The person I use my mean mouth on the most is Cordelia." (S. 235) Dass ihre Identität allerdings auch in der Täterrolle maßgeblich auf ihr Alter Ego angewiesen bleibt, zeigt sich an ihrem Zorn über solche Verhaltensweisen Cordelias, die nicht in Einklang mit ihren eigenen Idealvorstellungen stehen: ,,[I]t makes me angry. It makes me want to kick her. How can she be so abject? When will she learn?" (S. 249) Zentrale Aspekte ihrer Identität projiziert Elaine auf Cordelia, so dass sie zum Zwecke ihrer Selbstdefinition von ihrer Freundin als Identifikations- und Kontrastfigur abhängig bleibt. Diese anhaltende Abhängigkeit tritt in Elaines Reaktion auf Cordelias Selbstmordversuch besonders deutlich zutage, versteht sie diesen doch als erhebliche Bedrohung für ihr eigenes Selbst: „I am angry with her [...]. It's as if Cordelia has placed herself beyond me, out of my reach, where I can't get at her. [...] She is lost." (S. 358) Hat es zunächst den Anschein, als ermögliche dieser Verlust Elaine, sich von Cordelia loszusagen und ihre eigene Selbstfindung voranzutreiben, so findet Cordelias Selbstmordversuch wiederum seine Spiegelung in Elaines Verhalten: Diese versucht sich wenig später ebenfalls das Leben zu nehmen: „I hear the voice, not inside my head at all but in the room, clearly: Do it. Come on. Do it. [...] The Exacto knife is what I use, to make a slash." (S. 373) Auch der Rollentausch bedeutet für Elaine nur vordergründig eine Lossagung von Cordelias Bann, hat aber faktisch noch längst keine Heilung bzw. identitäre Reintegration zur Folge. Die Stimme, die sie zum Selbstmord treibt, ist ,,[t]he voice of a nine-year-old child" (S. 374), die ihr ihre verdrängten Kindheitserfahrungen ins Bewusstsein zu rufen versucht. Unfähig, sich ihren Erinnerungen zu stellen, kehrt sie Toronto den Rücken, beendet ihre Ehe mit Jon und zieht mit ihrer Tochter Sara nach Vancouver: „It's the city that's killing me." (S. 375) Nicht Cordelia, sondern die Stadt Toronto erscheint nun als Reflexionsfläche ihrer traumatischen Kindheitserfahrung, die für ihre Ich-Spaltung verantwortlich ist. Die äußerliche Durchbrechung ihrer Abhängigkeit von Cordelia während ihrer Adoleszenz ermöglicht Elaine, sich ihren vergangenen Erfahrungen zumindest in ihren Gemälden anzunehmen. In Bildern wie Falling Woman, Leprosy, One Wing
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erschließt sie jene traumatischen Erinnerungen an ihre Kindheit, die sich noch immer einer Versprachlichung durch ihr erlebendes Ich entziehen: „A lot o f my paintings then began in my confusion about words." (S. 268) 2 6 5 Die bildhafte Annäherung an die Realität stellt jedoch weniger eine bewusste Auseinandersetzung mit der Vergangenheit denn einen vorbewussten Prozess dar. Eine sinnstiftende Verarbeitung des Vergangenen zieht er nicht nach sich. Die Gegenstände ihrer Gemälde, wie Mrs. Smeath, die Mutter ihrer .Freundin' Grace, scheinen sich reflexartig, fast widerwillig und zwanghaft einzustellen: „I paint Mrs Smeath. She floats up without warning [....]. One picture o f Mrs. Smeath leads to another." (S. 338) In welchen Erfahrungen Elaines Bedürfnis, Mrs. Smeath wieder und wieder zu zeichnen, seinen Ausgangspunkt nimmt und wofür sie die Mutter ihrer Freundin Grace so sehr hasst („It's still a mystery to me, why I hate her so much", S. 352), ist Elaine zunächst unergründlich. Eine Antwort auf die Frage nach der Bedeutung von Mrs. Smeath für ihr gegenwärtiges Selbstverständnis erhält sie erst im Zuge der allmählichen Narrativierung ihrer vergangenen Ereignisse. Die bereits in ihren Bildern erfolgte, tentative Annäherung an ihre Vergangenheit wird durch ein weiteres, sich während ihres jungen Erwachsenenalters zutragendes Ereignis vorangetrieben: die Wiederentdeckung der Glasmurmel, des cat's eye. Als Elaine mit ihrer Mutter ihre abgelegten Sachen durchstöbert, entdeckt sie in einer alten Geldbörse die schon in Vergessenheit geratene Murmel: „Something rattles. I open it up and take out my blue cat's eye. [...] I look into it, and see my life entire." (S. 398) Bezeichnenderweise muss sie für diese Entdeckung in den Keller gehen, der oftmals als Metapher für Verdrängung und Vergessen gedeutet wird. Die so evozierte Konnotation einer .unabgeschlossenen' Vergangenheit wird durch die Bezeichnung des Kellers als „unfinished" (ebd.) zusätzlich verstärkt. Ebenso wie ihre Bilder wird folglich auch die Murmel für das erlebende Ich zum Gedächtnismedium, zu einem ,stummen' Zeitzeugen, in dem sich ihre persönliche Lebensgeschichte bildhaft, nahezu visionär konkretisiert. Ähnlich wie in Jane Urquharts Roman The Onderpainter fungiert auch in Cat's Eye die visuelle und hiermit pränarrative Konstruktion der Vergangenheit als Kontrastfolie zu dem prinzipiell positiven Leistungsspektrum von Narrationen, das sich die Erzählerin erst mit der Rückkehr nach Toronto nutzbar macht. Wie aktualisiert und versprachlicht die Erzählerin die Erfahrungen, die sie bislang verdrängte und deren Realität sie in der Vergangenheit beharrlich negierte („I've forgotten things, I've forgotten that I've forgotten them.", S. 200)? Elaines Selbstnarration zeichnet sich durch die dominant interne Fokalisierung ihrer vergangenen Erfahrungen aus. Qua interner Fokalisierung bringt die Erzählerin die einschneidenden Schlüsselerlebnisse ihrer Kindheit, die sich bislang angesichts ihrer traumatischen Qualität nicht in Worte fassen ließen, szenisch zur Darstellung.
265 Vgl. zu diesem Aspekt auch die Feststellung der Erzählerin: „Language is leaving me behind." (S. 42)
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Höchst minutiöse Beschreibungen von Personen, Dingen und Orten, aber vor allem die Schilderung sinnlicher Wahrnehmungen, der visuellen, olfaktorischen, auditiven und taktilen Eindrücke liefern Einblick in ihre frühere Erlebens- und Wahrnehmungsweise. Deutlich wird diese affektive Wiedererschließung ihrer vergangenen Realität etwa an der Rekonstruktion ihres - von Cordelia bewusst herbeigeführten - Sturzes in den vereisten Fluss: I try to move my feet. They're very heavy, because of the water inside my boots. If I wanted to I could just keep standing here. It's true dusk now and the snow on the ground is bluish-white. [...] If I don't move soon I will be frozen in the creek. I will be a dead person [...] I can see lights along the edges of the ravine, from the houses there, impossibly high up. I don't know how I'm going to climb up the hill with my hands and feet hurting like this; I don't know how I'm going to get home. (S. 188) Das erzählende Ich tritt gänzlich hinter das erlebende Ich zurück, so dass der Eindruck einer Immersion in die Vergangenheit entsteht. Der bereits durch interne Fokalisierung suggerierte Anschein, dass ihre kindlichen Erfahrungen .Wiederaufleben', wird durch die einfache Wortwahl und Syntax sowie durch die durchgängig präsentische Vermittlung des Vergangenen intensiviert. Interne Fokalisierung, Spezifika des Vokabulars und der Syntax sowie die Verwendung des Präsens wirken zusammen, um die unmittelbare Aktualität bzw. anhaltende Virulenz ihrer vergangenen Eindrücke und Emotionen zu akzentuieren. Die Besonderheiten der erzählerischen Vermittlung legen nahe, dass sich das Vergangene unwiderruflich in Elaines Gedächtnis eingebrannt hat, sie gewissermaßen in einem überbordenden ,Erinnerungsfluss' ertrinkt und noch immer von der „voice of a nine-year-old child" (S. 374) gefangen gehalten wird. Die durchgängig interne Fokalisierung des Vergangenen und die auf diese Weise inszenierten field memories haben für Elaines Sinnstiftungsprozess ein ambivalentes Potential. Field memories bieten der Erzählerin zum einen die Möglichkeit, ihre bislang verdrängten kindlichen Emotionen zu reaktualisieren, sie als Teil ihrer Vergangenheit und Identität verfügbar zu machen und auf diese Weise ihr anhaltendes emotionales und mnemonisches Vakuum zu überwinden. Zum anderen führen field memories vor Augen, wie wenig emotionale Distanz die Erzählerin zu ihrer Vergangenheit gewonnen hat und wie stark sie nach wie vor von dieser vereinnahmt wird, ja gänzlich hinter ihr verschwindet. Field memories stellen das Vergangene aus den ,Augen' des erlebenden Ichs dar, die Perspektive des erzählenden und sinnstiftenden Ichs schlägt sich nicht in ihnen nieder. Soll vergangenen Erfahrungen Sinn zugeschrieben werden und sollen sie in einen signifikanten Bezug zur aktuellen Situation des erinnernden Ichs gestellt werden, so müssen sie auch qua externer Fokalisierung bzw. durch observer memories erschlossen werden. Externe Fokalisierungen fehlen jedoch fast vollkommen in Elaines Selbstnarration. Ihre durchgängig interne Fokalisierung — und damit kindliche Perspektivierung — des Vergangenen verweisen auf einen Mangel an kontingenzreduzierenden Bedeutungszuschreibungen und illustrieren die Unabgeschlossenheit von Elaines Vergangenheit. Auf den hieraus resultierenden autobiographischen Mangel macht die
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Erzählerin deutlich aufmerksam, wenn sie konzediert, dass sie den Folgen ihres Erinnerungsprozesses ahnungslos gegenübersteht: „It's as if I vanish at the moment and reappear later, but different, not knowing why I have been changed." (S. 108)
Das weit gehende Fehlen von kontingenzbearbeitenden Sinnstiftungen wird nicht zuletzt dadurch veranschaulicht, dass die Erzählerin aus ihrer überlegenen kognitiven Position nahezu keine plausibilisierenden, wertenden oder erklärenden Reflexionen über ihre kindlichen Erfahrungen anstellt. Hinsichtlich ihrer vergangenen Erlebnisse tritt Elaine nahezu ausschließlich als Wahrnehmungszentrum, nicht als Vermittlungsinstanz in Erscheinung. Ihre vergangenen Erfahrungen stehen unverbunden neben ihren gegenwärtigen Erlebnissen, ohne dass es der Erzählerin möglich wäre, eine Brücke zwischen Vergangenem und Gegenwärtigem zu schlagen und damit den Sinn des Geschehenen für ihr aktuelles Selbstverständnis zu extrapolieren. Sichtbar wird dieser Sinnstiftungsmangel etwa an Elaines kindlicher Vision der Jungfrau Maria, die sie nach ihrem Sturz in den vereisten Fluss dazu inspiriert, unter Aufbietung ihrer letzten Kräfte aus dem Wasser zu klettern, und die sie so vor einem Kältetod bewahrt: ,„You can go home now,' she says. ,It will be all right. Go home.'" I don't hear the words out loud, but this is what she says." (S. 189) Trotz der nur schwer nachvollziehbaren Qualität dieser Vision liefert die Erzählerin rückblickend keinerlei Erklärung für dieses einschneidende Widerfahrnis. Die Jungfrau Maria taucht zu einem späteren Zeitpunkt erneut auf. Die Frage allerdings, welche Bedeutung der Jungfrau Maria für ihr gegenwärtiges Selbstverständnis zukommt, bleibt unbeantwortet, mögliche Erklärungsversuche oder selbstreflexive Kontemplationen werden nicht angestellt. In kausaler und handlungslogischer Hinsicht bleibt dieses signifikante Ereignis, wie auch Grace (1994, S. 201) herausstellt, somit ungeklärt: The Virgin will surface again later, but she will never be explained as a cause or a link; she will never be invoked to prove a reason, a purpose or a meaning. Nothing in Elaine's past leads into or explains her present, and her future, because her past coexists in her present. What the Virgin restores is a conscious awareness o f what she already has or is [...].
Die fehlende Anbindung von ihren kindlichen Erinnerungen führt die Schwierigkeit der Erzählerin vor Augen, ihre hochgradig belastenden Erfahrungen retrospektiv sinnhaft zu deuten. So gelingt es ihr nunmehr zwar, das Vergangene zu verbalisieren; das positive Leistungsspektrum von Narrationen, das durch die Integration von vergangenen Widerfahrnissen in einen diachron strukturierten, auf die Gegenwart verweisenden Zusammenhang entsteht, kann sie sich allerdings kaum zu Nutze machen. Wie von Elaine auch explizit herausgestellt, scheint die Vergangenheit in ihre Gegenwart hinein zu drängen und sich als verselbstständigte Seinsdimension zu manifestieren: „Time is not a line but a dimension" (S. 3). Die fehlenden plausibilisierenden bzw. kausalen Bezüge sind für Elaines gesamtes Narrativ kennzeichnend, stehen doch die einzelnen Sequenzen sowohl auf der Handlungsebene also auch in Relation zur extradiegetischen Ebene nur lose-
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assoziativ nebeneinander. Die Erzählerin bringt ihre vergangenen Erfahrungen in erster Linie in eine konsekutive, sequenzielle, nicht aber in eine kausal-lineare Ordnung, die — wie in Kapitel II.1.3 dargelegt - allererst die Voraussetzung dafür schafft, Entwicklungen zu plausibilisieren. Krisen oder Komplikationen, denen eine zentrale Schlüsselfunktion für Elaines Identitätsentwicklung zugesprochen wird, lassen sich für den Rezipienten somit zwar indirekt erschließen, werden von der Erzählerin jedoch nicht kommentiert oder erläutert. Die fehlende kausale Anbindung von Elaines vergangenen Erfahrungen an die Gegenwart sowie die durch interne Fokalisierung inszenierte Fortwirkung des Vergangenen suggerieren eine „atemporal stasis" (Ahern 1993, S. 8), die eine Situierung ihres Selbst auf einer diachronen Achse verhindert. 266 Auch in der formalen Struktur von Elaines Selbstnarration schlägt sich folglich ihr anhaltendes Gefühl einer Diskontinuität nieder, auf das die Erzählerin hinweist, wenn sie lakonisch bemerkt: „Things that are falling apart encourage me: whatever else, I'm in better shape than they are." (S. 42) Während Elaines überbordender Erinnerungsmonolog angesichts seiner viel zu intensiven Qualität ihren Sinn- und Identitätsstiftungsprozess nur bedingt vorantreibt, scheint interessanterweise gerade der bewussten Konstruktion von vorgängig Vergessenem eine herausragende Bedeutung für die Erkenntnisbildung zuzukommen. Die Erzählerin gibt mehrmals zu erkennen, dass sie unverfügbare Elemente ihrer Vergangenheit, die „missing time" (S. 201), durch imaginative und kreative Akte der Konstruktion zu kompensieren sucht. So fehlt ihr etwa noch immer jede Erinnerung an die Emotionen, die sie, in einem Erdloch von ihren Freundinnen begraben, durchlitten haben muss: „Maybe nothing happened, maybe these emotions I remember are not the right emotions. [...] I can't remember." (S. 107f.) Erst nach und nach stellen sich Bilder ein, die ihr eine Ahnung von ihren vergangenen Ängsten vermitteln und die die unerträgliche mnemonische Leere zu füllen vermögen: „At first there's nothing; just a receding darkness, like a tunnel. But after a while something begings to form [...]. A smell of loam and another, pungent scent rises from among the leaves, a smell of old things; dense and heavy, forgotten." (S. 108) Ihre .Erinnerungen', die sie an die Pflanzen, die Gerüche, an die Geräusche und ihre Ängste hat, fasst sie unter dem „dark word" (ebd.) ,Nachtschattengewächs' zusammen - und entlarvt ihre mnemonische Rekonstruktion somit als bloße Konstruktion, denn, wie sie eingesteht, gedeiht diese Pflanze im November nicht. Dennoch ist die Erzählerin nicht willens, ihre imaginativ geschaf-
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G r a c e ( 1 9 9 4 , S. 191) konzipiert diese Prozessualität und formale O f f e n h e i t von Elaines Erinnerungserzählung als Ausdruck eines genuin weiblichen Identitätsverständnisses: „ T h e female autobiographical , Γ is m o r e like a process than a product, and its discourse is m o r e likely to be iterative, cyclical, incremental
and unresolved,
even
a mystery."
Wie
aber
nicht
nur
Richlers
Erinnerungsroman, sondern auch zahlreiche andere zeitgenössische R o m a n e zeigen, scheinen diese strukturelle Offenheit und identitäre Prozessualität eher ein Ausdruck v o n so genannten postmodernen denn von genuin weiblichen Identitätskonzeptionen zu sein.
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fene Vergangenheitsversion preiszugeben: „I can tell it's the wrong memory. But the flowers, the smell, the movement of the leaves persist, rich, mesmerizing, desolating, infused with grief." (S. 108) Diese Episode mag zwar nicht den faktischen Begebenheiten entsprechen, allerdings vermag sie auf Elaines gegenwärtige Sinnbedürfnisse eine Antwort zu liefern, manifestiert sich in ihr doch Elaines subjektiv gestiftete Bedeutung. Dass es ausgerechnet solche .erfundenen' Erinnerungen sind, die es der Erzählerin ermöglichen, sich in einen aktiven und selbstreflexiven Bezug zu ihrer Vergangenheit zu setzen, lenkt erneut den Blick auf die ambivalente bzw. destruktive Qualität ihrer Erinnerungen, die ihre Identitätskonstitution oftmals eher erschwert denn begünstigt. Die aktive Konstruktion, also die Schaffung von emotionaler Bedeutsamkeit, nicht die stechend scharfe Rekonstruktion von Vergangenem scheint - zumindest wenn es um die Aneignung von höchst belastenden Erfahrungen geht — für die Stabilisierung der individuellen Identität ein besonderes Sinnpotential zu verheißen. Die Offenheit und Uneindeutigkeit der autobiographischen Sinnstiftung sowie die Unmöglichkeit, die Vielzahl heterogener Ereignisse und Emotionen in den kohärenten Zusammenhang einer Lebensgeschichte zu überführen, wird in Cat's 'Eye schließlich auch durch Elaines zweifache, teils korrelative, teils kontrastive Vergangenheitsdarstellung inszeniert. Elaines Rückkehr nach Toronto setzt nicht nur eine narrative Erschließung ihrer vergangenen Erfahrungen in Gang. Vielmehr veranlasst die anstehende Vernissage sie auch zu einer selbstreflexiven Auseinandersetzung mit ihren Gemälden. Ihr narrativ verfasster Lebensrückblick ist von zahlreichen intermedialen Referenzen auf ihre Kunst durchzogen, die ebenso wie ihre Erzählung Einblick in ihre vergangenen Erfahrungen bieten. Gemälde wie Deadly Nightshade, Silver Paper, Life Drawing oder Falling Woman, die Elaine im Zuge ihrer erinnernden Rückschau ausfuhrlich beschreibt, fungieren als Komplement zu ihrer narrativ verfassten Autobiographie (vgl. Howells 1996, S. 150). Der komplementären Struktur von Elaines narrativer und visueller Retrospektive wird formal dadurch Rechnung getragen, dass nahezu alle der fünfzehn Kapitelüberschriften des Romans Titel von Elaines Bildern tragen. Die Intermedialisierung wirft die Frage nach dem spezifischen Erinnerungspotential von Medien auf, denn so wird die Erinnerungsfunktion der Gemälde durch ihre Narration im Zusammenspiel nicht nur ergänzt und intensiviert, sondern auch durchkreuzt und gebrochen. Die ausgeprägte Ekphrasis ermöglicht Elaine, sich weiterhin das spezifische Leistungsvermögen von visuellen Repräsentationen, das in der indirekten, kreativ entfremdeten Aneignung des Vergangenen liegt, zu Eigen zu machen. Aus dem Nebeneinander von (beschriebenem) Gemälde und Narrativ entsteht allmählich eine vielschichtige, palimpsestartige Erinnerungscollage, die die bereits durch die Zeitstruktur des Romans evozierte .Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen' verstärkt und die Elaines Identität als Konglomerat von heterogenen Elementen erscheinen lässt. In dem Maße, in dem Elaines sprachlich evozierten Gemälde die narrativierten Ereignisse nicht nur voraussetzungslos widerspiegeln, sondern sie auch um neue Aspekte ergänzen und modifizieren, tritt ihre visuelle Autobiographie in einen
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perspektivischen Dialog mit ihrer Erinnerungserzählung: „Throughout the narrative, individual paintings offer a disruptive commentary figuring events from a different angle to the memoir, so that it is only appropriate that they should be collected and shown in a gallery named ,Sub-Versions'." (Howells 1994, S. 205) Ebenso wie in The Underpainter wird auch in Cat's Eye der qua intermedialen Referenzen evozierte bildhafte Subtext zu einer Subversion ihrer Selbstnarration, die die Pluralität der individuellen Identität vor Augen fuhrt. Deutlich wird dieses kontrastive Konstruktionsprinzip an Elaines Gemälde Unified Field Theory, das als visuelles Pendant zu ihrer autobiographischen Narration fungiert: So enthält es alle Komponenten ihrer narrativen Autobiographie, perspektiviert und konfiguriert diese aber in einem anderen Licht. Der Titel des Bildes erinnert an einen gleichnamigen Vortrag, den ihr Bruder Stephen, ein passionierter Physiker, kurz vor seinem Tod hielt. In seinem Vortrag expliziert er zentrale Mechanismen des Universums; u.a. erklärt er, dass Sterne Ereignisse reflektieren, die Lichtjahre zurückliegen und sich das Universum folglich aus unendlich vielen Vergangenheitsfragmenten konstituiert — eine Vorstellung, die an Elaines Uberzeugung erinnert, dass letztlich nichts aus dem Gedächtnis verschwinde. Elaines Gemälde ist ein „vertical oblong" (S. 408) und muss daher — gemäß der Funktionsweise ihrer Erinnerungen — in Schichten gelesen werden. Es zeigt die Brücke, die Elaine mit ihren traumatischen Erinnerungen an den Sturz in den vereisten Fluss assoziiert. Uber dieser Brücke schwebt die Jungfrau Maria, die „Virgin of Lost Things" (S. 408), die eine Murmel, eine „oversized cat's eye marble" (ebd.) in der Hand hält, die diese mit Elaines pränarrativer Phase des Sehens in Verbindung bringt (vgl. Hite 1995b, S. 203). Und schließlich illustriert das Gemälde einzelne Ausschnitte des galaktischen Nachthimmels, der mit der Darstellung eines — mit ihren verstorbenen Familienangehörigen assoziierten - Friedhofs verschmilzt. Dieser wiederum evoziert Reminiszenzen an ihre eigene Begrabung durch Cordelia, Carol und Grace. In dem Gemälde stellt Elaine also in extrem kondensierter Form alle Elemente ihrer Lebensgeschichte dar und vereint Getrenntes in fast mystischer Weise. Im Gegensatz zu den oftmals diskontinuierlichen und zusammenhangslosen Darstellungen ihrer Narration entwirft sie in dem Bild eine integrative Vorstellung von ihrer Vergangenheit und Identität: „The image of the Self portrayed in this painting remains enigmatic and mysterious, but the mystery nevertheless exists in a unified field of time-space where nothing is lost and everything connects." (Grace 1994, S. 202) Die realisierte Syntheseleistung lässt sich in eine ganze Reihe ähnlicher visuell-künstlerischer Sinnstiftungen einordnen, bei denen es Elaine offenbar immer darum geht, solche Elemente, die in ihrer Narration unverbunden und lose nebeneinander stehen, in einen Dialog treten zu lassen. Cat's Eye verdeutlicht durch diese für autobiographische Erinnerungsromane typische strukturelle Multiperspektivität, dass sich die individuelle Identität einer endgültigen Erschließung entzieht. In dem Maße, in dem Elaine die Geschichte ihres Lebens anders zeichnet oder neu erzählt, ihre Vergangenheit interpretiert und reinterpretiert, verändert sich auch die Identität, die sie sich verleiht. Weder ihre Gemälde noch ihre Lebenserzählung liefern daher eine endgültige Antwort auf die
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Frage nach dem Gewordensein ihrer individuellen Identität.267 Beide Gedächtnismedien sind an das Paradox gebunden, immer neue Antworten zu motivieren, ohne dass diese jemals eine endgültige Erklärung für das Gewordensein ihrer Identität liefern. Dass die Identitäts frage zeitlebens virulent bleibt, wie viele Bilder auch gemalt oder Geschichten erzählt werden mögen, bringt Elaine auf den Punkt, wenn sie bilanziert: „I can no longer control these paintings, or tell them what to mean. Whatever energy they have came out of me. I'm what's left over." (S. 409) Die individuelle Identität wird in Cat's Eye somit als ein stets fluktuierendes und wandelbares Phänomen inszeniert, das nur bedingt der eigenen Kontrolle unterliegt. Die am Ende des Romans dargestellte Retrospektive, die als strukturierendes Prinzip und vermeintlicher Höhepunkt den Verlauf von Elaines Narration bestimmt, liefert kaum neue Einblicke in ihre Vergangenheit. Da Elaine schon fast alle Exponate im Zuge ihrer narrativen Selbsterschließung beschreibt, wird die Vernissage zu einer Antiklimax, zum „non-event" (Grace 1996, S. 201) ihrer Lebensgeschichte. 268 Auch der strukturelle Aufbau des Romans unterminiert die Vorstellung einer sich progressiv entwickelnden, auf einen kulminierenden und abschließenden Endpunkt ausgerichteten Identität. An die Stelle eines erkenntnisbringenden Kulminationspunktes tritt eine Repetition von bereits Bekanntem. Es ist jedoch gerade dieses repetitive Verfahren, das den Blick auf einen signifikanten Unterschied lenkt: War Elaines Bildern ihre verdrängte Lebensgeschichte bereits inhärent (vgl. Davidson 1997, S. 97), so muss sie ihre traumatischen Erinnerungen doch erst narrativieren, um der Frage nach dem Gewordensein ihrer Identität - wenngleich provisorisch - auf den Grund zu gehen. Das bloße .Sehen' und die damit verbundene bildhafte Repräsentation ihrer Vergangenheit bot ihr offensichtlich kein hinreichendes Fundament für die Konstitution ihrer individuellen Identität. Vielmehr muss sie die bislang lediglich visuell appräsentierten Erfahrungen, wie ihren Sturz in den Fluss, ihre Begrabung durch ihre Freundinnen sowie den Tod ihrer Eltern und ihres Bruders, erst in Worte fassen und in den, obgleich offen bleibenden Zusammenhang ihrer Lebensgeschichte überführen: „To see, however, is not the same as to tell [...]. Indeed, when in the narrative present she talks about what is depicted in the paintings, she does the very thing the paintings originally partly precluded and put into words what they first consigned to silence." (Davidson 1997, S. 96f.) Ebenso wie The Underpainter stellt hiermit auch Cat's Eye das positive Leistungsspektrum von Narrationen heraus und spielt dieses gegen den pränarrativen, visuellen Modus der Sinnstiftung aus.
267 Vgl. in diesem Zusammenhang Cowart (1992, S. 131): „The reader is invited to recognize the impossibility of perfect congruence between signifier (art) and signified (life)." 268 Vgl. hierzu Grace (1994, S. 201), die diese Besonderheit prägnant zusammenfasst: „The opening of her retrospective seems the most likely teleological moment, except that Atwood appears almost to have used it parodically, paradoxically to subvert that function."
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Dass die Erzählerin bei aller Instabilität und Offenheit ihrer Erzählung zu einem gesteigerten Selbstverständnis gelangt ist, illustriert das letzte Kapitel, das bezeichnenderweise den Titel „Bridge" trägt. Kurz vor ihrer Abreise nach Vancouver entschließt sich die Erzählerin dazu, das Ufer, an dem sie in Folge der bedenklichen Gemeinheiten ihrer Freundinnen fast erfroren wäre, aufzusuchen. Die Erzählerin besucht die Orte, die sie zu Beginn ihres Aufenthaltes bewusst gemieden hat, nunmehr willentlich und lenkt damit den Blick auf die vollzogene, positive Identitätsveränderung, die einer identitären Verortung zu gleichen scheint. Die Rückkehr an diesen traumatischen Gedächtnisort motiviert sie zu der Einsicht, nach ihrem hoffnungslosen Sturz in den Fluss keine inspirierenden Worte der Jungfrau Maria vernommen zu haben; im Gegenteil muss sie zugeben: „There was only darkness and silence. Nobody and nothing." (S. 418) Elaine entlarvt ihre Vision als bloße Illusion, an der sie festhielt, um dem schmerzhaften Gefühl des Nichts zu entgehen. Dass sich die Erzählerin nun von dieser Illusion lossagt, impliziert, dass sie die damals empfundene emotionale Leere durch das sinnstiftende Potential ihrer Erzählung ertragen bzw. bis zu einem gewissen Grad auch kreativ füllen kann. An diesem Gedächtnisort hat Elaine zudem eine erneute Vision von ihrer Freundin Cordelia, die sie noch immer in ihrem Bann hält. Cordelia ist nicht auf ihrer Vernissage erschienen, und das von Elaine erhoffte Gespräch hat folglich nicht stattgefunden: „There are things I need to ask her. [...] I need to ask her why." (S. 411) Der imaginäre Anblick Cordelias löst bei Elaine zunächst die alten Gefühle der Angst, der Einsamkeit, der Scham und Schwäche aus, die sie seit ihrer Kindheit quälen: „There is the same shame, the sick feeling in my body [...]. But these are not my own emotions any more. They are Cordelia's; as they always were." (S. 419) Mit der Erkenntnis, dass diese bedrängenden Gefühle weniger ihrem eigenen Identitätsverständnis als vielmehr Cordelias Projektionen
entspringen,
vermag Elaine zugleich, ihrer einstigen Freundin eine Absage zu erteilen: „It's all right, I say to her. You can go home now." (S. 419) Die Implikation der symbolischen Verbannung Cordelias ist die durch die narrative Wiedererschließung bewirkte Reintegration Elaines Identität (vgl. Ingersoll 1991, S. 20). Elaine endässt Cordelia mit just den Worten, die einst angeblich die Jungfrau Maria sprach. Hiermit tritt die Erzählerin an die Stelle Marias und signalisiert, dass die Verantwortung für ihr psychisches und physisches Wohlergehen nunmehr in ihrer eigenen Hand liegt. Es ist die durch die Narrativierung bewirkte Verarbeitung ihrer bedrängenden Vergangenheit, die die Voraussetzung dafür schafft, sich von dieser zu distanzieren. In der bewussten Lossagung von Cordelia liegt paradoxerweise Elaines Gewinn für die Konstitution ihrer individuellen Identität. Aber auch am scheinbaren Ende des autobiographischen Prozesses bleibt das sinn- und identitätsstiftende Potential von Elaines Selbstnarraüon ein nur vorläufiges. Zwar hat Elaine einen, wenngleich flüchtigen Einblick in ihre Geschichte gewonnen: „It's old light, and there's not much o f it. But it's enough to see by." (S. 421) Allerdings ist ihre Selbsterzählung nicht nur eine unvollständige Version ihrer Vergangenheit: ,,[W]hat have I forgotten?" (S. 334) Vielmehr verliert Elaine mit der Absage an Cordelia auch einen Teil ihres Selbst und büßt den wichtigsten Ko-
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konstrukteur ihrer Vergangenheitssicht ein (vgl. S. 411). Erzählungen sind Angebote an einen Adressaten, „sich auf eine gemeinsame soziale Realität [...] einzulassen und [...] an der Konstruktion einer interaktiv validierten Realitätssicht teilzunehmen." (Echterhoff/Straub 2004, S. 174f.) Dass in diesem Sinne auch Elaines Erinnerungsnarrativ ein Angebot an Cordelia darstellt, eine geteilte soziale Realität zu schaffen und deren Bedeutung gemeinsam auszuhandeln, zeigen die zahlreichen imaginativen Dialoge mit Cordelia ebenso wie folgende Überlegung, die Elaine kurz vor ihrer Abreise anstellt: I need to ask [Cordelia] why. If she remembers. Perhaps she's forgotten the bad things, what she said to me, what she did. [...] She will have her own version. I am not the centre of her story, because she herself is that. But I could give her something you can never have, except from another person: what you look like from outside. (S. 411) Ihre eigene Narration liefert ihr keine hinreichende Erklärung für die konkreten Begebenheiten und Folgen der zurückliegenden Erfahrungen, ihres eminent identitätsrelevanten Verhältnisses zu Cordelia. Ebenso wie sie für Cordelia als Spiegel fungieren könnte, benötigt auch sie zu ihrer Selbstvergewisserung die Außenperspektive Cordelias. Damit das identitätsstiftende Potential von Selbsterzählungen vollständig wirksam werden kann, bedürfen diese der intersubjektiven Anerkennung bzw. der Validierung durch maßgebliche Interaktionspartner. 2 ' 9
Darauf
macht Elaine deutlich aufmerksam, wenn sie feststellt: „We are like the twins in old fables, each o f whom has been given half a key." (S. 411) Genau diese Hälfte des Schlüssels zu ihrer Vergangenheit und zu ihrer Identität, bleibt Elaine jedoch versagt. Selbstgeschichten liefern eben nie eine endgültige Antwort auf die Frage, wer jemand geworden ist. Dies gilt umso mehr für Identitätserzählungen, die keine intersubjektive Validierung erfahren. Die transitorische, stets unvollendete bzw. ,schwebende' Qualität ihrer Sinn- und Identitätsstiftung konkretisiert sich nicht zuletzt in der Positionierung der Erzählerin, die sich am Ende ihrer Geschichte in der Luft, zwischen ihrer alten und neuen Heimat befindet. 2 7 0 Als sie schließlich im Flugzeug sitzt, beobachtet sie zwei sorglose alte Damen, die lachend Karten spielen und sich prächtig amüsieren. Die vertraute Zweisamkeit dieser Damen ruft der Erzählerin ihren eigenen autobiographischen Mangel erneut ins Bewusstsein: „This is what I miss, Cordelia: not something that's gone, but something that will never happen." (S. 421) D e r spezifische Teil ihrer Vergangen-
269 Vgl. zu dem Aspekt der InterSubjektivität Mycak (1996, S. 192), die in ihrer psychoanalytischen Studie zu einem ähnlichen Schluss gelangt: „It is precisely because the subject is constructed in and through discourse that it needs the intervention o f alterity, and this is well illustrated by the fact that the adult Elaine longs to see Cordelia in order to explain her own life." 270
Immerhin befindet sich die Erzählerin am Ende ihrer Geschichte in der Luft, und nicht, wie zu deren Beginn, in der metaphorisch evozierten Hölle. Mit diesem metaphorischen Aufstieg wird abermals Dantes Inferno aktualisiert und das positive Leistungsspektrum von Elaines Narrativ offenbart.
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heit und Identität, der mit Cordelia verknüpft ist, wird sich Elaine daher niemals vollständig erschließen. Das Zitat von Stephen Hawkings, das Elaines autobiographischer Exploration vorangestellt ist „Why do we remember the past, and not the future?" mag paradox Idingen, verweist aber paradigmatisch auf die konstitutive Interdependenz von Vergangenheit und Zukunft. So reaktualisiert Elaine in ihrer Narration nicht nur ihre vergangenen Erfahrungen, sondern entwirft auch zukünftige Identitätsszenarien oder schließt diese aus. Die am Ende des Romans stehende Desillusionierung illustriert einmal mehr die Ambivalenz ihrer Erinnerungserzählung, die Elaine nicht nur ihre Identität nahe bringt, sondern sie auch zum Aufgeben von anderen identitätsrelevanten Komponenten zwingt. Interne Fokalisierung, Verdoppelungs- und Spaltungsmetaphern, die strukturelle Multiperspektivität sowie die offene Struktur wirken in Cat's Eye zusammen, um die destabilisierende Qualität von Elaines Erinnerungen und die Komplexität ihres Sinnstiftungsversuchs narrativ zu inszenieren. Zwar bringt die Macht des Gedächtnisorts Toronto Elaine dazu, ihren mnemonischen Widerstand aufzugeben und ihre bislang verdrängten Erfahrungen zu versprachlichen; doch auch der Narrativierungsprozess vermag sein Sinnversprechen nur bedingt einzulösen und verheißt daher keine abschließende Bewältigung der vergangenen Ereignisse. Es ist kennzeichnend für autobiographische Erinnerungsromane, dass die Vergangenheits- und Identitätskonstruktion der Erzählerin unabgeschlossen bleiben und daher keine eindeutige Selbsterkenntnis nach sich ziehen. Weder das Vergessen der vergangenen Erfahrungen noch deren allzu genaue Erinnerung erscheinen in Cat's Eye als geeignete Strategie, um die Integrität und Kontinuität der individuellen Identität sicherzustellen. Es ist gerade das Dilemma zwischen Erinnern und Vergessen, zwischen Erinnerungsüberschuss einerseits und Erinnerungsverweigerung andererseits, das das Ich unentrinnbar an seine Vergangenheit bindet und es zu einer ständigen Auseinandersetzung mit dieser zwingt. Dass es letztlich vor allem die ,Erfindung' von Erinnerungen ist, die Elaine eine bedeutungsstiftende Aneignung ihrer Erfahrungsrealität ermöglicht, unterstreicht das prekäre Potential von Erinnerungen und die damit verbundene Konstruktivität der individueller Identität in aller Deutlichkeit. Vergangenheiten, so die in Cat's Eye literarisch inszenierte Einsicht, bleiben wirkungslos, wenn sie nicht durch konstruktive Deutungsprozesse an aktuelle Sinnhorizonte angeschlossen werden. Ebenso wie die anderen, in dieser Studie analysierten autobiographischen Erinnerungsromane stellt damit auch Cat's Eye innovative Vorstellungen von dem Zusammenhang von Identität und Erinnerung zur Verfügung und fungiert in kulturökologischer Hinsicht für die Erinnerungskultur als reflexiver Metadiskurs. Identität wird in diesem Roman als ausgesprochen ephemeres und relationales Konstrukt ausgewiesen, das nicht nur von individuellen Sinnstiftungskompetenzen abhängt. Vielmehr ist die Bildung von Identität auch unentrinnbar an kulturell vorherrschende Normenvorstellungen sowie an Interaktionspartner gebunden, die die selbst gesponnene Erinnerungswelt mittragen. So ist die Frage, welche Identität sich jemand verleihen kann, auch maßgeblich von etablierten Wertehierarchien abhängig. Die Selbstverfügbarkeit des Einzelnen ist daher gleich in mehrerer Hin-
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sieht eingeschränkt. Mit der Darstellung des destruktiven Potentials von Erinnerungen und der unhintergehbaren Relationalität des eigenen Selbst bietet Margaret Atwoods autobiographischer Erinnerungsroman nicht zuletzt Anlass, die spezifischen Konstitutionsbedingungen gerade von weiblicher Identität im Rahmen von vorherrschenden Diskursformationen zu reflektieren.
2.4 Tendenzen des autobiographischen Erinnerungsromans Die Erinnerungs- und Identitätsbildung wird in den hier behandelten autobiographischen Erinnerungsromanen zu einem krisenhaften und prekären Phänomen. Der narrative Sinnstiftungsprozess der Erzähler gerät immer wieder ins Stocken, er ist von unlösbaren kognitiven und emotionalen Uneindeutigkeiten durchzogen und zeichnet sich durch narrative Inkohärenzen und temporale Diskontinuität aus. Nicht nur ist den Erinnerungen ein destruktives Potential inhärent, das die sinnhafte Aneignung, Formgebung und Interpretation des Vergangenen erheblich erschwert. Auch scheitern die Erzählinstanzen an der .Synthesis des Heterogenen' (Ricceur). Sie können ihren Erinnerungen keine kohärente, narrative Gestalt verleihen, die der Diversifizierung der Identität entgegenwirkt. Prästrukturierte Geschichtenschemata bzw. unifizierende Konzepte, die die Deutung von prekären Erfahrungen und die Stiftung von Kohärenz erleichtern, werden von den Erzählern des autobiographischen Erinnerungsromans als unzulängliche, weil konventionalisierende Formate zurückgewiesen. Die Offenheit und Instabilität der narrativen Formgebung, die fehlenden temporalen und kausalen Verknüpfungen zwischen den disparaten lebensweltlichen Erfahrungen lassen die individuelle Identität im autobiographischen Erinnerungsroman als prozesshaft und unabgeschlossen erscheinen. In der Fragmentierung der Selbstnarration schlägt sich die Einsicht nieder, dass die Frage nach dem Gewordensein der individuellen Identität niemals endgültig beantwortet werden kann, sondern stets neue narrative Selbstthematisierungen motiviert. Neben der narrativen Offenheit nutzen autobiographische Erinnerungsromane eine Reihe weiterer, genuin literarischer Erzählverfahren, um das Verhältnis zwischen Erinnerung und Identität zu explorieren. Dazu gehört die strukturelle Multiperspektivität, die die Pluralität von möglichen Vergangenheitsdeutungen und alternativen Identitäten inszeniert, ebenso wie intertextuelle Bezüge, die das Augenmerk auf die versatzstückartige Konstruktion der Erinnerung lenken. Auch der Einsatz von unretiabk narrators sowie die bloße Imagination von möglichen Vergangenheitsverläufen, von possible pasts, bringen die ephemere Qualität von Sinnstiftungsprozessen zur Darstellung und loten die Grenze aus, die zwischen der Findung und Erfindung der eigenen Vergangenheit liegt. Neben diesen impliziten Formen der Inszenierung des konstitutiven Zusammenhangs von Erinnerung und Identität unterstreichen schließlich auch explizite Reflexionen die Konstruktivität, Perspektivität und Zweckgebundenheit der Erinnerung. Es sind vor allem diese
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genuin fiktionalen Möglichkeiten der Gestaltung des Verhältnisses zwischen Erinnerung und Identität, die rezipientenseitig im Sinne einer ästhetisch verdichteten Erinnerungshaftigkeit des Dargestellten wirken. Werden Konzepte wie subjektive Sinnstiftungskompetenz, Selbstverfügbarkeit und autobiographische Kohärenz in autobiographischen Erinnerungsromanen demnach gänzlich in Zweifel gezogen und konterkariert? Die Antwort kann nur eine zweideutige sein: Ja und Nein. Zweifelsohne stoßen die Erzählinstanzen an die Grenzen ihrer Sinnstiftungskompetenzen und fuhren die Probleme vor Augen, die sich mit der kontinuitätsstiftenden Aneignung der eigenen Vergangenheit verbinden. Das Aufzeigen dieser Grenzen ist jedoch kein beliebiges Spiel mit herkömmlichen Konzepten von Identität, sondern hat durchaus produktive Implikationen. Autobiographische Erinnerungsromane vermitteln alternative Vorstellungen von der Funktionsweise von Sinnstiftungsprozessen. Indem sie veranschaulichen, dass sich die Vergangenheit in der erinnernden Rückschau nie detailgenau rekonstruieren lässt, legen sie nahe, dass die kreative Konstruktion von Vergangenem nicht nur unausweichlich, sondern auch ein zentraler und produktiver Bestandteil der individuellen Bedeutungsstiftung ist. Begriffe wie individuelle Identität und Sinnstiftung werden damit nicht grundlegend in Frage gestellt, sie bezeichnen jedoch keine homogenen oder objektiven, sondern grundlegend polyvalente und kontextualisierte Phänomene. Zu der Erscheinungsform des autobiographischen Erinnerungsromans lässt sich eine Reihe weiterer Romane zuordnen, deren formale Besonderheiten abschließend kurz erläutert werden sollen. Insgesamt ist festzustellen, dass in der anglo-kanadischen Literatur wie auch in den übrigen englischsprachigen Literaturen ein stetiger Anstieg dieser selbstreflexiven Erinnerungsfiktionen zu verzeichnen ist, der in Zusammenhang mit einer verbreiteten Skepsis gegenüber autonomen Subjektkonzepten, Objektivitätsidealen und großen master narratives steht und für ein gestiegenes Bewusstsein für die Grenzen der sinnstiftenden Vergangenheitsaneignung zeugt.271 Die drei weiteren Kurzinterpretationen bestätigen den bislang gewonnenen Eindruck, dass sich autobiographische Erinnerungsromane zur selbstreflexiven Problematisierung des Zusammenspiels von Erinnerung, Identität und Narration eines breiten Spektrums formalästhetischer Verfahren bedienen können, das die Erinnerungshaftigkeit des Dargestellten in den Vordergrund rückt. Während der autobiographische Gedächtnisroman zur Inszenierung von narrativer Geschlossenheit offenbar auf einen relativ eng gefassten Fundus von Darstellungsverfahren angewiesen ist, der im Sinne einer Dissimulation der Konstruktivität des Erinnerten wirkt, kann die Problematisierung von Erinnerungs- und Identitätsprozessen auf ein erheblich vielfältigeres Repertoire zurückgreifen und zahlreiche, genuin fiktionale Privilegien nutzen.
271 Vgl. zu diesem Befund exemplarisch Basseler (2003), Birke (2003), Gymnich (2003), Henke (2003), Nadj (2003) sowie Nünning (2003b, 2003c).
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Die Schwierigkeit, der eigenen Vergangenheit auf den Grund zu gehen und das Gewordensein der individuellen Identität retrospektiv zu plausibilisieren, steht auch im Zentrum von Childhood (1998), dem autobiographischen Erinnerungsroman des karibisch-kanadischen Autors Andre Alexis. In der erinnernden Rückschau versucht der nunmehr 30-jährige Ich-Erzähler Thomas, sein nur latent ausgeprägtes Identitätsverständnis zu konsolidieren, indem er seine ,singuläre' Vergangenheit (vgl. S. 5) rekapituliert. Der Pluralität seines Vergangenheits- und Selbstverständnisses verleiht der Erzähler insbesondere durch eine intensive Intermedialisierung des Dargestellten Ausdruck: Seine Selbsterzählung konstituiert sich aus Gedichtfragmenten, Zeitplänen, Lexikoneinträgen sowie Abbildungen, die einen graphischen Einblick in die Modalitäten seiner Vergangenheitsrekonstruktion bieten: „The vagueness of my x-axis is perfectly suited to my memory and imagination, or lack of memory and lack of imagination." (S. 114) Die qua Intermedialität bewirkte Pluralisierung des Erinnerungsdiskurses fuhrt zu einer Amalgamierung zeitlich disparater Erfahrungsaspekte und unterminiert die Vorstellung von linearer Kontinuität ebenso wie von identitärer Geschlossenheit. Sie stellt die Vorstellung einer homogenen Identität in Frage und lenkt den Blick auf deren palimpsestartige Konstitutionsweise, bei der immer neue Elemente angeeignet und aufbereitet werden. Verweist die Auflösung der narrativen Kohärenz auf die Offenheit des Sinnstiftungsprozesses, so unterstreicht die mehrfache Gegenüberstellung von faktischen Informationen bzw. ,Erinnerungsspuren' auf der einen Seite und deren narrative Elaboration auf der anderen Seite die Konstruktivität von Erzählungen. Von dem Tod seines Großvaters etwa sind Thomas lediglich fünf faktische Begebenheiten bekannt. In ihrer pränarrativen Form muten diese wenig aussagekräftig und nüchtern an: 1. 2. 3. 4. 5.
It was a sunny day. (Sunlight circa 1950) My grandparents were at a corner on Petrolia Street. My grandparents were speaking of something. My grandfather stepped off the curb. He was struck by a car.
Diese Informationen nimmt der Erzähler zum Ausgangspunkt für seine narrative Vergangenheitsdarstellung und bringt damit den engen Zusammenhang zwischen Erinnerungs- und Konfabulierungsprozessen in den Blick: „Like all good stories, it sounds plausible. [...] But all this is just modest guessing, and the details are so clearly speculative they make a paltry, therapeutic fiction." (S. 36) Die Parallelisierung von Selbstnarrationen und therapeutischen Fiktionen zeigt einmal mehr, dass die narrative Identitätsstiftung auf der konstruktiven Deutung der Vergangenheit, auf der Erfindung von subjektiv plausibler Bedeutung basiert. Gelingt es dem Erzähler in diesem Fall noch, die verfügbaren Erinnerungsfragmente zu einem mehr oder weniger kohärenten Ganzen zu konfigurieren, so wird diese Fähigkeit im Laufe seiner Erzählung zunehmend in Frage gestellt. Der Erzähler muss mehrfach ernüchtert konzedieren, dass sich die faktischen Bege-
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benheiten („given", S. 42) und ihre „Variables" (ebd.) nicht zusammenführen lassen, dass das Erinnerungsrätsel also unlösbar bleibt: „There are too many missing pieces. I can't follow the logic." (S. 52) Angesichts dieser Inkohärenz seines Sinnstiftungsprozesses nimmt es kaum Wunder, dass sich der Erzähler trotz seines überbordenden Erinnerungsmonologs in seiner Narration nur schwerlich wiederentdecken kann. Desillusioniert und fast wütend muss er sich das Scheitern seines autobiographischen Unterfangens eingestehen: „Mind you, I can barely scratch the surface of ,Who am I?'[...]. Know thyself? Pardon my language, but the ancient Greeks should bugger off. [...]. Besides, who I am is a function of when I am, and when I am is only a near fact, as evanescent as breath on a window pane." (S. 222) Die Selbsterkenntnis wird als illusionäre Vorstellung entlarvt, denn der ephemere Charakter von Erinnerungen lässt auch die individuelle Identität zu einem stets wandelbaren und diffusen Phänomen werden. So tritt an die Stelle der Vergangenheit und der Identität eine Vielzahl möglicher, kontextabhängiger Vergangenheitsund Identitätskonstruktionen: „My life comes back to me in various pieces [...] each changing the contour of the life I've led." (S. 264) Childhood bringt die fur autobiographische Erinnerungsromane kennzeichnende Einsicht zur Darstellung, dass Selbstnarrationen immer nur vorläufige Produkte sind, die stets neue Antworten auf die Frage nach der individuellen Identität motivieren. Auch The Prowler (1989), der autobiographische Erinnerungsroman der isländisch-kanadischen Autorin Kristjana Gunnars, führt die destabilisierende Qualität der Erinnerung und die Fragmentierung der individuellen Identität vor Augen. Die Unverfügbarkeit der individuellen Identität wird bereits durch die Namenlosigkeit der Ich-Erzählerin suggeriert und durch den Umstand bekräftigt, dass die Erzählerin von ihrem erlebenden Ich wiederholt in der dritten Person spricht: „Perhaps the person telling these stories is a little older. [...] It is someone in the trail of ghosts." (17) Ständige Wechsel der Personalpronomina unterstreichen ihre Unfähigkeit, sich mit ihrem vergangenen Selbst zu identifizieren und dieses in ihr gegenwärtiges Selbstkonzept zu integrieren. Formal schlägt sich ihr Unvermögen zur biographischen Kontinuitätsstiftung in der Fragmentierung ihres Narrativs nieder, in dem sehr heterogene und zeitlich disparate Elemente unverbunden nebeneinander stehen. Auch die Substitution der konventionellen (und hiermit Orientierungsgewährleistenden) Seitenzahlen durch die Nummerierung der einzelnen Erzählsegmente ist eine wirkungsvolle Strategie, um die Vorstellung einer kontinuierlichen Entwicklung der individuellen Identität zu unterminieren. 272 Intensiviert wird der Eindruck der Fragmentierung der Identität durch das breite Spektrum intertextueller Referenzen auf Autoren, literarische Werke, theoretische Texte sowie auf die Gattung der Autobiographie und des Märchens, das die Selbstnarration der Erzählerin durchzieht. Offenbar nutzt die Erzählerin den Rückgriff auf textuelle Versatzstücke des kulturellen Archivs dazu, ihr eigenes 272
D a der T e x t nicht paginiert ist, beziehen sich die Angaben auf die Nummerierung der einzelnen Abschnitte.
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mnemonisches Vakuum zu kompensieren: Die bereits semiotisierten Elemente sollen die Sinnleistungen erfüllen, die sie selbst nicht zu erbringen vermag. Bekräftigt wird ihre Abhängigkeit von kulturell verfugbaren Sinnmatrizen von ihrer bereits im Titel genannten - Selbstbezeichnung als „prowler" (S. 86, 107f., 120), als eine Sammlerin von Geschichten. Die Vielzahl intertextueller Verweise lenkt das Augenmerk auf die Verzahnung der individuellen Identitätskonstitution mit kulturell vorherrschenden Diskursformationen. Der Einzelne muss bei der Gestaltung seiner Selbstgeschichten unweigerlich auf ein historisch und kulturell variables Repertoire von gesellschaftlich standardisierten Geschichtenschemata rekurrieren. Da dieser Rückgriff die Selbstdefinition präfiguriert, wird er vor allem für diejenigen zum Problem, die vom herrschenden Diskurs ausgeschlossen sind. Als eine „white Inuit" (7) in einer patriarchalisch und rassistisch organisierten Gesellschaft ist sich die Erzählerin dieser Restriktivität schmerzlich bewusst: „All stories are romances. Detective stories, spy thrillers, horror tales are all romances. They are not real. [....] I imagine a story that is not a romance." (53)273 Ihr Versuch, ihre eigene Geschichte zu erzählen, stellt sich daher auch als ein Versuch dar, einen unkonventionellen Plot zu entwerfen, der ihr eine identitäre Selbstverortung jenseits der negativen kulturellen Präformation erlaubt: „It is a relief not to be writing a story. Not to be imprisoned by character and setting. By plot, development, nineteenth century mannerisms." (3) Mit ihrer Erinnerungsnarration durchbricht die Erzählerin das Schweigen (vgl. 6), das ihr durch die hegemonialen Machtverhältnisse auferlegt wurde. Gleichwohl suggerieren die narrative Fragmentierung und Diskontinuität, die zahlreichen erzählerischen Widersprüche die außerordentliche Fragilität ihrer Selbstnarration. Sichtbar wird damit nicht zuletzt die Schwierigkeit, gegen gesellschaftlich vorherrschende Geschichtenmuster .anzuerzählen' und unter Bedingungen einer Stigmatisierung ein identitätsstiftendes Narrativ zu konstituieren. So hängt die Frage, welche Geschichte jemand erzählt und welche Identität er sich damit verleihen kann, maßgeblich von kulturell verfugbaren Geschichtenmustern ab.274 Als abschließendes Beispiel für den kanadischen autobiographischen Erinnerungsroman ist noch Margaret Atwoods Werk Alias Grace (1996) zu nennen. Bereits der Titel des Romans verweist auf das zentrale Thema des Romans, der die Grenzen zwischen der Findung und Erfindung der individuellen Identität auslotet: Wer ist diese Frau, die im Gefängnisregister als Grace Marks aufgeführt wird? Ist sie eine unschuldig Verurteilte, eine kaltblütige Mörderin oder ist sie geisteskrank und hysterisch? Ebenso wie in Mordecai Richlers Roman Barney's Version greift
273 Vgl. zum Einfluss von überlieferten Mustern auch folgende Äußerung: „The story knows the pattern is given. There are some things it cannot change. It would like to be free to rewrite itself. To surpass itself." (95) 274 Vgl. hierzu Neijmann (1999, S. 251), die zu einem ähnlichen Schluss gelangt: „Tlx Prowler is an impressive and moving text that demonstrates the violence inherent in rules and impositions, which always marginalize someone."
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auch Alias Grace auf die Konventionen des Kriminalromans sowie auf das Verfahren des unzuverlässigen Erzählens zurück, um die Grenzen der retrospektiven Sinnstiftung und die Unverfügbarkeit der individuellen Vergangenheit zu inszenieren. Auch Grace ist des Mordes anklagt und versucht, die fiktiven und realen Adressaten ihrer Vergangenheitsrekonstruktion von ihrer Unschuld zu überzeugen: „[A] little white lie such as the angels tell is a small price to pay for peace and quite." (S. 524) Wie fur Scheherazade so wird auch für Grace eine überbordende Erinnerungserzählung zur Überlebensstrategie und zum Mittel der Wiedererlangung ihrer Freiheit (vgl. Löschnigg/Löschnigg 1999, S. 448). Neben dem Verfahren der unreliable narration trägt auch die punktuelle Einführung einer heterodiegetischen Erzählinstanz dazu bei, die subjektive Gebrochenheit von Graces Vergangenheitsdarstellung zu offenbaren. Ebenso wie in den anderen, hier besprochenen autobiographischen Erinnerungsromanen wird die individuelle Sinn- und Identitätsbildung auch in Alias Grace durch gesellschaftlich vorherrschende Normen und Diskursformationen erschwert. So sieht sich Grace mit dem Problem einer weiblichen Identitätskonstitution in einer männlich dominierten kanadischen Gesellschaft der Kolonialzeit konfrontiert. Vor diesem Hintergrund ist ihre enigmatische und manipulative Erinnerungsrede als Absage nicht nur an kohärente Sinn- und Identitätsstiftungen, sondern auch an maskuline, normative Wertvorstellungen zu verstehen. ***
Die vorangehenden Interpretationen und der kurze Ausblick haben das besondere Leistungsvermögen, das autobiographische Erinnerungsromane für die Erinnerungskultur besitzen, verdeutlicht. Der Sinnstiftungsprozess wird in autobiographischen Erinnerungsromanen nicht als voraussetzungslose Kompetenz von autonomen oder wesenhaften Subjekten inszeniert. Ganz im Gegenteil illustrieren diese Romane die Kontextabhängigkeit und diskursive Bedingtheit der retrospektiven Rekonstruktion, Deutung und Vermittlung von Vergangenem. Autobiographische Erinnerungsromane zeigen, dass die Frage, welche Identität sich jemand durch die Narrativierung der eigenen Vergangenheit verleiht, auch maßgeblich von gesellschaftlichen Bedingungen abhängig ist. Durch ihre ausgeprägte Selbstreflexivität können sie — bei entsprechender rezipientenseitiger Aktualisierung — als reflexiver Metadiskurs erinnerungskulturelle Wirksamkeit entfalten und neue Vorstellungen von Identität perpetuieren. Autobiographischen Erinnerungsromanen geht es nicht um die Negation von Identität, sondern um die Verneinung von eindeutiger und einseitiger Selbstsignifikation. Indem sie vor Augen fuhren, dass sich die individuelle Identität aus einer Vielzahl möglicher Teilidentitäten konstituiert, die nie den Zustand einer abschließenden Synthese erreichen, können sie rezipientenseitig nicht zuletzt zu einer Akzeptanz von Ambiguität und Pluralität beitragen.
3. Kommunale Gedächtnisromane: Geteilte Akte des ,Re-membering' Do you mean that individuals must gather their identity from all the generations that touch them - past and future, no matter how slightly? Do you mean that an individual is not an individual at all, but a series of individuals — some of whom come before her, some after her? Do you think that this story isn't a story of several generations, but of one individual thinking collectively? Sky Lee Disappearing Moon Cafe (1990, S. 189) Erinnerungen stiften nicht nur auf individueller, sondern auch auf kollektiver Ebene Identität. Die Praxis des gemeinsamen Erinnems bildet den Ausgangspunkt für die Entstehung eines überindividuellen Gedächtnisses, das kollektive Identitätsmuster und Selbstverständnisse prägt. Kollektive Gedächtnisse, die nach innen Gemeinschaft und Zusammengehörigkeit stiften, sind auf gesellschaftlicher Ebene mit weit reichenden politischen Interessen, Geltungsansprüchen und politischer Legitimierung verbunden. Die Erinnerung an eine gruppenspezifische Vergangenheit wird daher vor allem für diejenigen zum Ansatzpunkt politischen Agierens, deren Vergangenheitsversionen im öffentlichen Gedächtnisraum nicht oder nur verkürzt repräsentiert sind. Dies betrifft vor allem ethnische Minoritäten in multikulturellen Gesellschaften wie Kanada. Die Praxis der geteilten Vergangenheitsauslegung steht im Zentrum des kommunalen Gedächtnisromans. Kommunale Gedächtnisromane inszenieren die erinnerungskulturellen Prozesse der Aktualisierung und Aneignung von Vergangenem in kondensierter Form. Sie stellen den Versuch einer partikularen Gemeinschaft dar, die gruppenspezifische Vergangenheit zu reaktualisieren und sich auf dieser Grundlage ihrer Kollektividentität zu vergewissern. Die gruppenspezifischen Erinnerungen, Identitätskonzepte und Wertehierarchien werden im kommunalen Gedächtnisroman typischerweise von einer communal voice zum Ausdruck gebracht, ein Verfahren, das die Kommunalität der Erfahrung eindrucksvoll betont. Mit den literarisch inszenierten Prozessen der Aktualisierung und Aneignung der partikularen Vergangenheit verbindet sich der Versuch, gesellschaftlich marginalisierten Erfahrungen eine Stimme zu verleihen und die kulturell dominante Vergangenheitsversion, die etablierten Grenzen zwischen Erinnern und Vergessen neu zu perspektivieren. Kommunale Gedächtnisromane nutzen Privilegien der Selektion dazu, ein literarisches Gegengedächtnis zu etablieren und gesellschaftliche verdrängte und vergessene Kollektiwergangenheiten in die Erinnerungskultur einzuspeisen. Der in kommunalen Gedächtnisromanen inszenierte Akt des ,re-membering', der kollaborativen Praxis des Erinnems, ist auf eine gemeinschaftsstiftende Refiguration durch die Leserschaft angelegt: Er soll auf extratextueller Ebene fort-
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wirken und dem gesellschaftlichen Vergessen, von dem die Romane handeln, entgegenwirken. In diesem Kapitel werden mit Alistair MacLeods No Great Mischief (1999), Jane Urquharts Away (1993) und Joy Kogawas Obasan (1981) drei kommunale Gedächtnisromane analysiert, die ganz verschiedene Vorstellungen von der Kollektiwergangenheit Kanadas entwerfen und ein Spektrum kollektiver Identitätsentwürfe erproben. Die Interpretationen gehen der Frage nach, welche und wessen Erinnerungen die Romane aktualisieren und welche erzählerischen Verfahren dazu funktionalisiert werden, das gemeinschaftsstiftende Potential von Erinnerungen zu inszenieren und vorgängig marginalisierten Erfahrungen in der Erinnerungskultur Geltung zu verleihen. Auch kommunale Gedächtnisromane nutzen die Rhetorik der Erinnerungen und Identitäten nicht nur zur Vergegenwärtigung, sondern auch zur Reflexion der Konstruktions- und Tradierungsbedingungen von Gedächtnis. Die Textanalysen sollen daher auch zeigen, welche Vorstellungen diese Romane von der spezifischen Wahrheit des Kollektivgedächtnisses sowie von den Möglichkeiten und Grenzen seiner gesellschaftlichen Repräsentation vermitteln. Eine weitere Frage, die sich bei der Analyse des kommunalen Gedächtnisromans stellt, ist die nach literarischen Aushandlungen von Erinnerungskonkurrenzen zwischen unterschiedlichen, kulturell koexistierenden Erinnerungsgemeinschaften. Welche Elemente der kollektiven Vergangenheit werden als streitbar angesehen? Wie imaginieren die Romane das Nebeneinander von heterogenen Kollektivgedächtnissen, und welche Vorstellungen entwerfen sie von der kanadischen (Erinnerungs-) Multikultur?
3.1 Die kommunikative und rituelle Tradierung der gruppenspezifischen Vergangenheit in Alistair MacLeods No Great Mischief (1999) Der für kommunale Gedächtnisromane kennzeichnende Versuch, gesellschaftlich bislang vergessenen Erinnerungen eine Stimme zu verleihen und die Anerkennung dieser gruppenspezifischen Erfahrungen einzufordern, steht im Zentrum von Alistair MacLeods Roman No Great Mischief. Der Roman inszeniert die komplexe, bis ins 14. Jahrhundert zurückreichende Familiengeschichte der MacDonalds, einem mittlerweile nach Kanada emigrierten Klan schottischer bzw. gälischer Provenienz. Als Highlanders ist ihre gruppenspezifische Vergangenheit von zahlreichen Erfahrungen des Verlusts und der Diskontinuität gezeichnet: Tief greifende ökonomische Entbehrungen sowie folgenschwere Schlachten im Zuge der so genannten Highland Clearances fuhren zu einer sukzessiven Dezimierung des Familienklans. Angesichts anhaltender Hungersnot sowie ständiger gesellschaftlicher Marginalisierungen im presbyterianischen Schottland emigriert Calum MacDonald 1779 mit seiner zweiten Frau Catherine MacPherson und seinen zwölf Kindern in die „New World", auf die kanadische Insel Cape Breton (im heutigen Nova Scotia). Die zahlreichen Nachfahren Calum Ruadh, dem ,rothaarigen Calum' (vgl. S. 17) bleiben
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großteils in Cape Breton ansässig und bilden die Ahnherren für die Entstehung eines neuen, diasporischen Klans, dem dann Chalum Ruaidh: „Nearly all of them had large families, which led in turn to complex interrelationships and complicated genealogies, over all of which his name continued to preside." (S. 25) Mit der Darstellung der Erfahrungen der Highlanders, insbesondere ihrer konstitutiven Rolle bei der Eroberung von Quebec, entwirft No Great Mischief ein Gegengedächtnis. Der Roman rückt das vom dominanten Diskurs Ausgegrenzte in den Mittelpunkt und lädt es mit subversiver Gegenmacht auf. Den verstrickten und oftmals tragischen Geschichten der MacDonalds sowie des clann Chalum Ruaidh versucht der Erzähler Alexander MacDonald, Ururgroßenkel von Calum Ruadh und erfolgreicher Kieferchirurg, Ende der 1980er Jahre im Laufe eines seiner wöchentlichen Besuche bei seinem Bruder Calum in Toronto auf den Grund zu gehen. In seiner mäandernden Gedächtniserzählung sowie im Dialog mit seinem Bruder rekapituliert Alexander zentrale Stationen der Kollektivvergangenheit der MacDonalds sowie prägende Episoden seiner persönlichen Vergangenheit. Insbesondere der frühe Tod seiner Eltern, seine Kindheit bei seinen Großeltern, seine Erfahrungen in einer Bergmine sowie die verheerenden Konsequenzen des dort schwelenden Antagonismus zwischen einigen Frankokanadiern und Klanangehörigen werden wiederholt zum Thema seiner Ausführungen. Sein Gedächtnisnarrativ schlägt folglich nicht nur eine Brücke zwischen Vergangenem und Gegenwärtigem und stellt so das Fortwirken zurückliegender Erfahrungen in der Gegenwart heraus. Vielmehr verortet es den Einzelnen auch im Kontext seiner familiären Gruppenzugehörigkeit und inszeniert damit die für kommunale Gedächtnisromane konstitutive Wechselwirkung von individueller und kollektiver Gedächtniskonstruktion. Individuelle Erfahrungen werden in No Great Mischief konsequent als gruppenspezifisch inszeniert. Durch die Schilderung gruppenkonstitutiver Ereignisse und Bräuche, die seine persönliche Situation in den Hintergrund treten lässt, wird Alexander ganz im Sinne der Funktionsbestimmung der communal voice zum Repräsentanten bzw. zum .Folkloristen' (vgl. S. 250) einer Gedächtnisgemeinschaft, deren Geschichten es vor dem Vergessen zu bewahren gilt. Mit seiner generationsübergreifenden Gedächtniserzählung bekräftigt er seine Gruppenzugehörigkeit und .verinnerlicht'275 die gruppenspezifischen Wertehierarchien. Umgekehrt trägt sein Akt der Erinnerung, des ,re-membering', allerdings auch zur Stabilisierung des Gruppengedächtnisses bei und stellt damit die Kohäsion des Kollektivs sicher. Die Artikulation von gruppenkonstitutiven Ereignissen sowie der Versuch, die Bedeutung einer partikularen, auch durch die Erfahrung des Exils beschädigten Kollektividentität zu legitimieren, wird in No Great Mischief außerdem durch die verdichtete Inszenierung der erinnerungskulturellen Prozesse der Aktualisierung 275 Etymologisch verweist das deutsche Wort „erinnern" tatsächlich auf ein Innen: Es leitet sich von dem althochdeutschen Raumadjektiv innaro, „der Innere, innerer", ab und bedeutet in etwa „machen, dass jemand etwas inne wird".
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und Aneignung von Vergangenem realisiert. Vor allem die Integration zahlreicher kulturspezifischer Lieder und Mottos sowie die Verwendung gälischer Begriffe tragen dazu bei, gruppenkonstitutive Ereignisse, Erfahrungen und Normen zu evozieren. Die rituell aktualisierten Vergangenheitsreferenzen werden zum Bodensatz für das geteilte, familiäre Selbstverständnis und wirken rezipientenseitig im Sinne einer symbolischen Überhöhung des partikularen Kollektivgedächtnisses. Zudem funktionalisiert No Great Mischief die Semantisierung des Raums dazu, die Präsenz des Vergangenen zu suggerieren und die topographische Verankerung des Gruppengedächtnisses, also die Fiktion eines gemeinsamen Ursprungs, zu inszenieren. So zeigt die strategische Beschwörung der neuen Heimat Cape Breton, wie durch die Konstruktion eines imaginierten Heimatortes, eines .imaginary homeland' (Rushdie), die aus dem Exil resultierenden Brüche und Diskontinuitäten im Kollektivgedächtnis des clann Chalum Ruaidh in relative Kontinuität und Stabilität transformiert werden. In dem Maße, in dem die sich durch zahlreiche narrative Wiederholungen und Digressionen auszeichnende Struktur des Romans Spezifika der gälischen, primär oral organisierten Erinnerungskultur reflektiert, leistet auch sie einen Beitrag zur Stabilisierung von gruppenspezifischen Erinnerungsmustern. Die Bandbreite der in No Great Mischief inszenierten erinnerungssymbolischen Strategien wirkt zusammen, um den Eindruck von kollektiver Erinnerungshaftigkeit hervorzurufen und die Authentizität einer gesellschaftlich bislang kaum beachteten Vergangenheitsversion zu bekräftigen. Beobachtbar werden so narrative Verfahren, die einen Beitrag zur identitären Rückversicherung bzw. zur Kompensation des Verlusts von heimischen Gedächtnisräumen leisten können. ***
Der Besuch bei seinem älteren Bruder Calum veranlasst Alexander MacDonald dazu, zentrale Episoden seiner familiären Vergangenheit zu reaktualisieren. In dem gemeinsamen memoiy talk explorieren die Geschwister zentrale Stationen der von zahlreichen Entbehrungen und Verlusterfahrungen gezeichneten Familiengeschichte. Die beharrlichen Fragen seines Bruders bilden den Anstoß für die geteilte Vergangenheitsauslegung: „,Do you remember Christy?' ,Yes,' I say, ,Of course I remember Christy.' [...] Do you remember our parents?" (S. 9-11) So entfaltet sich sukzessive ein Gedächtnisnarrativ, das mehr und mehr in die Vorstellungswelt des Erzählers verlagert und nur noch gelegentlich von Kommentaren und Fragen Calums durchbrochen wird. Es ist kennzeichnend für den kommunalen Gedächtnisroman, dass die Gegenwart zugunsten der vergangenen Erfahrungen verdrängt wird und so der Eindruck einer fortwirkenden Vergangenheit entsteht. Dass es sich bei dieser Vergangenheitsversion nicht um eine detailgenaue Beschreibung der vergangenen Realität, sondern um die Konstitution eines auf seine Sinnbedürfnisse abgestimmten Narrativs handelt, verdeutlicht Alexander gleich zu Beginn seiner Erzählung: „[Tjhese seem the facts, or some of them anyway, although the fantasies are my own." (S. 21) Offenbar verfährt der Erzähler als erinnernde und erzählende Person ganz ähnlich wie in seinem Beruf als Kieferchirurg: So muss er die verfügbaren Fragmente zu einem stimmigen Ganzen anordnen und Verzahnungen zwischen den disparaten Elementen herstellen, er muss Inkohärenzen und Brüche
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retrospektiv glätten und vorhandene Lücken oder .Löcher' kreativ füllen. Ebenso wie der kieferchirurgische Eingriff zielt auch Alexanders Erinnerungs- bzw. Narrativierungsprozess auf die Passung der überlieferten Bruchstücke ab. Die Hoffnungen seines vergangenheitsbesessenen Großvaters charakterisieren mithin auch die Ziele Alexanders Unterfangens: .„Everything would fit together just so, and you would see in the end something like a .perfect building called the past'.'" (S. 216) Bei der Schaffung von erinnerungskulturell wirk- und bedeutsamen Vergangenheiten geht es offenbar nicht um deren Faktizität. Ihre spezifische Wahrheit scheint vielmehr in ihrer Kohärenz und ihrer Anschlussfähigkeit an gegenwärtige Sinnhorizonte zu liegen. In einer lose assoziierten Folge einzelner Episoden geht Alexander sukzessive den Erfahrungen der MacDonalds auf den Grund. Es ist typisch für den kommunalen Gedächtnisroman, dass nicht die faktische Chronologie, sondern einschneidende Erfahrungen wie die Emigration, Hochzeiten, Geburten und Tode, so genannte „Zeitinseln" (J. Assmann 1988, S. 12) des Kollektivgedächtnisses, als Gliederungsprinzip seines Narrativs fungieren. Anhaltende soziale Diskriminierungen durch schottische Grundbesitzer, gesellschaftliche Stigmatisierungen als .„savage clans and roving barbarians'" (S. 89) sowie die systematische Dezimierung der Highlanders, die in der Schlacht von Culloden fur die MacDonalds zu einem dramatischen Höhepunkt kommt, veranlassen Alexanders „grand-great-great grandfather" (S. 9) Ende des 18. Jahrhunderts dazu, mit seiner Frau Catherine MacPherson und seinen zwölf Kindern nach Kanada zu emigrieren: „Anyone who knows the history of Scotland, particularly that of the Highlands and the Western Isles in the period around 1779, is not hard-pressed to understand the reasons for their leaving." (S. 17f.) Dass die spezifischen Begebenheiten der Kollektiwergangenheit der Highlanders von dem Erzähler weit gehend als bekannt vorausgesetzt werden, deutet bereits auf die angestrebte Authentisierung bzw. Naturalisierung seiner Erinnerungsversion hin. Sie wird als allgemeingültiges, von der Perspektive und den Interessen der Gemeinschaft losgelöstes Wissen von der Vergangenheit inszeniert, das scheinbar unmittelbar bedeutsam ist und kaum noch kritischer Aufarbeitung bedarf. Das für Erinnerungsgemeinschaften konstitutive Identitätsbewusstsein resultiert aus dem Bewusstsein dieser Erinnerungsevidenz. Die Emigration nach Kanada, in ,das Land der Bäume' (vgl. S. 18), setzt dem Elend der MacDonalds nicht wie erhofft ein Ende, sondern zieht zumindest vorerst eine Zuspitzung ihrer desolaten Situation nach sich: „.After they landed on the shores of Pictou [...] Calum Kuadh broke down and wept and he cried for two whole days [...]. He was [...] crying for his history. He had left his country and lost his wife and spoke a foreign language.'" (S. 21 f.) Die Erfahrung des displacement, also der Ortlosigkeit, wird fortan zur zentralen Komponente des Selbst- und Weltverständnisses des Klans. Die topographische Entfremdung resultiert nicht nur aus dem Leben in der Diaspora und hiermit einhergehenden Problemen wie der erzwungenen Aufgabe der eigenen Sprache und der Nichtbeteiligung an der offiziellen Erinnerungskultur. Vielmehr wird das Gefühl der topographischen und identi-
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tären Desorientierung auch durch die vielen nachfolgenden Neudefinitionen ihrer nunmehrigen Heimat Cape Breton verstärkt. Galt Cape Breton angesichts kolonialer Instabilitäten vorerst als politisch ungebundener Raum, so wird die Insel im Jahre 1748 zur britischen Provinz, 70 Jahre später, im Jahre 1820 wird ,„the colony o f Cape Breton"' (S. 23) Nova Scotia angegliedert und schließlich wird sie 1867 zum Teil der kanadischen Konföderation. Es ist typisch für den kommunalen Gedächtnisroman, dass das Schicksal der community von den übergeordneten politischen Modalitäten abhängig gemacht und so die Interdependenz unterschiedlicher Dimensionen der Erinnerungskultur illustriert wird. D e m dann Chalum Ruaidh gehört auch der Erzähler an, der als Teil einer Erinnerungsgemeinschaft seine persönliche Vergangenheit konsequent an den kollektiven Erfahrungsschatz anbindet und auf diese Weise eine Semiotik erinnerungskultureller Interrelationen entfaltet. So verwebt er die einschneidenden, zeitlich zurückliegenden Kollektivereignisse des Klans mit seiner persönlichen Geschichte und setzt sich durch diesen Akt der Synthetisierung aktiv zu seiner überindividuellen Geschichte in Bezug. Damit schafft der Erzähler die Voraussetzung für die für den kommunalen Gedächtnisroman typische — „ongoing narrative" (Humphrey 2004, S. 386), die die Kontinuität der Gemeinschaft sicherstellt. Seine persönlichen Erinnerungen kreisen vor allem um seine Kindheit und Jugend, die er und seine Zwillingsschwester Catherine angesichts des frühen Tods ihrer Eltern bei ihren Großeltern in Cape Breton verbringen (vgl. S. 29). Ausführlich schildert er die von Loyalität zu den übrigen Klanmitgliedern geprägte Lebensweise seiner Großeltern, benennt deren handlungsleitende Prinzipien 276 und bietet so Einblick in die übergeordneten Wertehierarchien und Normvorstellungen des clan η Chalum Ruaidh. Wie durchgreifend auch sein eigenes Selbst- und Weltverständnis von diesen generationsübergreifenden Maximen geprägt sind, wird vor allem anhand seiner fast wöchentlichen Besuche bei seinem alkoholkranken Bruder in Toronto deutlich, mit welchen er seine familiäre Loyalität unter Beweis stellt. No Great Mischief macht so nicht zuletzt den konstitutiven Zusammenhang begreifbar, der zwischen der Vorstellung einer gemeinsamen Vergangenheit und moralischer Verantwortung bzw. Anteilnahme besteht (vgl. Margalit 2002, S. 7). Es ist ein konstitutives Merkmal von kommunalen Gedächtnisromanen, dass Inhalte und Formen des gruppenspezifischen
Gedächtnisses in kondensierter
Form zur Geltung gelangen. Die anhaltende Virulenz seiner Kollektiwergangenheit lässt Alexanders Erinnerung an seine individuelle Erfahrungsrealität mehr und mehr in den Hintergrund treten. Sein Gedächtnisnarrativ konstituiert sich aus zahlreichen Geschichten, die die Gruppenmitglieder des clann Chakm
Ruaidh nicht
müde werden, sich wieder und wieder zu erzählen: „Sometimes those gathered would merely watch the fire and its shadows, but at other times it seemed to move them to tell stories o f real or imagined happenings from the near or distant past." 276
Vgl. z u m Beispiel folgendes M o t t o : „.Waste not, want not' was one, and »Always look after your blood* was another." (S. 35)
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(S. 60) 277 Vor allem die von General Wolfe geführte Eroberung Quebecs, die tragende Rolle, die die schottischen Highlanders, zumal der französisch sprechende MacDonald bei diesem Sieg spielen, sowie Wolfes Verrat an seinen schottischen Soldaten werden mehrfach zum Gegenstand der geteilten Vergangenheitsauslegung: ,Wolfe and the Highlanders at Quebec, on the Plains o f Abraham. He was just using them against the French. He was suspicious o f them and probably would have been satisfied if the French had killed them all. [...] Wolfe referred to the Highlanders as his secret enemy and once, speaking o f recruiting them as soldiers in a letter to his friend Captain Rickson, he made the cynical comment, ,No great mischief if they fall." (S. lOlf.) 2 7 8
Die Schlacht um Quebec wird qua erzählerischer Repetition .„überlebensgroß"' (J. Assmann 2000, S. 53) präsent gehalten, um so die kollektive Identitätsvergewisserung und die Schaffung gruppenbezogener Wertevorstellungen sicherzustellen. Die mehrfache Thematisierung dieses einschneidenden Ereignisses und damit die Abweichung von der Norm der .„singulative' frequency" (Toolan 1988, S. 61) verdeutlichen, dass die Konstruktion von Kontinuität von der rituellen Wiederholung des identitätssichernden Wissens abhängt. In diesen Geschichten erkennen Gruppen ihre Vergangenheit als gegenwärtige Realität wieder. Rezipientenseitig wirkt die rituelle Wiederholung der gruppenspezifischen Vergangenheitsversion im Sinne der so genannten „frequency validity" (Gigerenzer 1984), ein Konzept, das besagt, dass bereits die bloße Wiederholung von bestimmten Informationen deren subjektiv empfundene Gültigkeit bzw. Wahrheit erhöht (vgl. Fiedler 2000). Das repetitive Erzählen leistet damit einen wesentlichen Beitrag zur Authentisierung und sozialen Legitimierung der inszenierten Vergangenheitsversion. Die Eroberung Quebecs und der damit assoziierte, bis in die Gegenwart fortwirkende Konflikt zwischen Anglo- und Frankokanadiern spielen für das Kollektivgedächtnis Kanadas eine kaum zu überschätzende Rolle. Die Besetzung der französischen Provinz gilt als Wendepunkt in der Geschichte der Kolonialisierung Kanadas: Sie bildete den Grundstein für die endgültige englische Vorherrschaft über Kanada und liegt der anhaltenden Rivalität zwischen Anglo- und Frankokanadiern, den .two solitudes', damit als Schlüsselereignis zugrunde. Während der Ausgang der Schlacht für die franko-kanadische Bevölkerung eine anhaltende Bedrohung für das Fortbestehen ihrer Kultur, Sprache und Tradition bedeutete, wurde sie aus anglo-kanadischer Sicht zum Symbol der Einheit der kanadischen Nation stilisiert. Die herausragende Relevanz dieses Ereignisses für das Identitätsverständnis des Klans leitet sich allerdings weniger aus seiner (allgemein akzeptierten) historischen Tragweite ab als vielmehr aus den blinden Flecken seiner üblichen Signifi-
277
Zur interaktiven Konstruktion und Weitergabe von Geschichten vgl. auch S. 18, 21, 43, 89, 101, 105,135,160,177.
278 Vgl. zu weiteren Thematisierungen dieser folgenreichen historischen Episode S. 173, 217, 218f.,
222.
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kation. Wie der memoiy talk der Familienangehörigen illustriert, ist die Bedeutung von Wolfes Sieg über die in Quebec ansässigen Franzosen in gesellschaftlich zirkulierenden Vergangenheitsdeutungen unbestritten. Jedoch scheint der maßgebliche Beitrag der Highlanders sowie Wolfes gefahrliche Unloyalität im gesellschaftlich dominanten Kollektivgedächtnis weit gehend vergessen bzw. unterrepräsentiert zu sein: „,[H]e [grandfather] had confirmed his suspicions about Wolfe. Authenticated that passage where Wolfe refers to the Highlanders as ,a secret enemy'. It sort of changes the conventional picture of Wolfe with his ,brave Highlanders'.'" (S. 217) Der siegreiche Ausgang der Schlacht um Quebec ist offensichtlich maßgeblich auf das strategische Kalkül von Wolfe zurückzufuhren, den Highlanden die Führungsposition zu überlassen und damit die Gefahr ihrer Tötung bewusst in Kauf zu nehmen. In dem Maße, in dem die Vergangenheitsdeutung des Klans von der der sie umgebenden Mehrheit abweicht, ist sie als kritische Gegendarstellung, als ein Akt des .writing' bzw. .telling back' zu konzipieren, der die gesellschaftlich dominante Legitimitätserzählung in Zweifel zieht. Das in Alexanders Gedächtnisnarrativ zum Ausdruck kommende Bedürfnis seiner Familienangehörigen, die Eroberung der französischen Provinz wieder und wieder zu thematisieren, ist daher auch mit dem für kommunale Gedächtnisromane typischen Ziel verbunden, einer alternativen, halbverschütteten und gesellschaftlich marginalisierten Vergangenheitsversion Gehör zu verleihen: ,„[The Highlanders] were the best. [...] I think of them as winning Canada for us.'" (S. 101) Gemäß der Vergangenheitsdeutung des Klans ist der Sieg über die französische Kolonialmacht auch dem Umstand zu verdanken, dass MacDonald des Französischen mächtig war: „If MacDonald had not been able to speak French, to fool the sentries, the history of Canada might be different" (S. 217). Dass der Erzähler den Fortgang der kanadischen Geschichte von dem Highlander MacDonald abhängig macht, stellt eine für Gedächtnisgemeinschaften typische Tendenz zur symbolischen Überhöhung der eigenen Rolle dar, die als Kompensationsstrategie für die bisherige Nicht-Beachtung der eigenen Geschichte zu verstehen ist. Die ausführliche Darstellung der kommunikativen Praxis des Erinnerns illustriert, dass Geschichten für Gruppen zentrales Medium der Identitätsvergewisserung und der Erfahrungsverarbeitung sind. Die narrative Reaktualisierung von gruppenspezifischen Erinnerungen ermöglicht es, die Kontingenz historisch problematischer Ereignisse zu bearbeiten und so die Kontinuität von Erfahrung sowie die Stiftung von Identität zu gewährleisten. Geschichten liefern den einzelnen Gruppenmitgliedern Antworten auf das ,Wer', ,Was' und ,Wann' ihrer Kollektivvergangenheit. Dies führt No Great Mischief nicht nur durch die Inszenierung des memoiy talk auf der diegetischen Ebene der Handlung vor Augen, wo einzelne Akteure immer wieder zu neuen Geschichten ansetzen, um sich gruppenspezifische Erfahrungen, Lebensgeschichten, Normen und Bräuche zu vergegenwärtigen. Vielmehr wird das gemeinschaftsstiftende Potential der Vergangenheitsauslegung auch auf der extradiegetischen Ebene der Vermittlung dargestellt: So ist Alexanders Erinnerungsakt selbst in eine dialogische Struktur eingebettet, also sozial situiert.
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Einige der Geschichten, die der Erzähler in der erinnernden Rückschau reaktiviert, entstehen im dialogischen Austausch mit seinem Bruder und tragen so wiederum zur Schaffung von Gemeinschaft sowie zur Stabilisierung des Erinnerungskollektivs bei. Die allmähliche Entfaltung von Alexanders Gedächtnisnarrativ legt die Bedingungen und Voraussetzungen der Tradierung von Vergangenem eindrücklich offen und veranschaulicht, wie ein über die individuelle Erfahrung hinausgehendes, kollektives Gedächtnis konstituiert wird. Der Erzähler macht mehrfach darauf aufmerksam, dass viele seiner ,Erinnerungen' an seine Vorfahren nicht seinem eigenem Erfahrungsschatz entstammen, sondern ihm durch die Geschichten anderer vermittelt wurden (vgl. S. 52f., 147, 166). Ganz im Sinne von Maurice Halbwachs stellt er damit die kollektive Prägung des individuellen Gedächtnisses heraus. Alexander selbst hat etwa keine Erinnerungen an den tragischen Tod seiner Eltern und seines Bruders Colin, die bei ihrem Versuch, den vereisten Atlantik zu überqueren, ertranken (vgl. S. 166). Seine .Erinnerungen' an dieses Ereignis basieren ausschließlich auf den Narrationen anderer Personen: This is the story of how my sister and I, as three-year-old children, planned to spend the night with our grandparents and remained instead for sixteen years until we left to go to university. This is the story of lives which turned out differently than was intended. And obviously much of this information is not really mine at all - not in the sense that I experienced it. [...] [T|his information has come to be known in the manner that family members come to know one another because they share such close proximity. (S. 52f.) Offensichtlich sind zwischenmenschliche Interaktionen und soziale Nähe unauflöslich mit der Konstruktion einer gemeinschaftlichen Vergangenheit, die individuelle Identitätsmuster rahmt, verbunden. So müssen bestimmte Episoden nicht dem individuellen Erfahrungsschatz entspringen, um identitätsprägend und handlungsleitend wirksam zu werden. Diese unhintergehbare Sozialität des individuellen Erinnerns scheint die Konstitution eines übergeordneten, gemeinschaftsstiftenden Kollektivgedächtnisses allererst zu ermöglichen. Auf die unauflösliche Interdependenz von individueller und kollektiver Erinnerung weist der Erzähler auch mit der Feststellung hin: .„I'm not sure how many of the memories are real and how many I've sort of made up from other people's stories.'" (S. 12) Alexanders individuelles Gedächtnis erweist sich als untrennbar mit den sozialen Rahmen verwoben, die sich aus seiner Zugehörigkeit zur familiären Erinnerungsgemeinschaft ergeben. Diese Verzahnung scheint im Falle einer intensiven Gruppenzugehörigkeit derart ausgeprägt zu sein, dass eigene Erinnerungen kaum noch von denen anderer Gruppenmitglieder unterschieden werden können, Differenzen zwischen individuellem und kollektivem Gedächtnis mithin hinfällig werden. Gruppenzugehörigkeit und -kohäsion sind mithin nicht nur die Vorbedingung, sondern auch das Resultat von Alexander MacDonalds Erinnerungsakten. Die Inszenierung der kommunikativ geteilten Erinnerung legt immer wieder offen, dass diese Praxis weniger auf die Herstellung einer faktischen Realität abzielt als vielmehr auf die Verfertigung eines aneignungsfähigen, d.h. auf die Bedürfnisse
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der Gruppe abgestimmten Gedächtnisnarrativs. Dies unterstreichen die Gleichsetzung von realen und rein fiktiven Geschichten (vgl. S. 60) ebenso wie die abermaligen Eingeständnisse des Erzählers (vgl. S. 17, 21, 52f.), dass die .Tatsachen' der vergangenen Realität über die Zeit hinweg um rein imaginierte, mythische Elemente angereichert wurden: „There are some facts and perhaps some fantasies that change with our perceptions and interests." (S. 17) Da Kollektivgedächtnisse stets gruppenbezogen bzw. identitätskonkret sind, existieren keine reinen Fakten der Erinnerung, sondern immer nur bereits gedeutete, affektiv und wertbesetzte Vergangenheitsversionen. Daher werden weniger die „real people" (S. 216) als vielmehr „the .idea' of parents" (ebd.) erinnert. Im Prozess der kommunikativen Weitergabe und Fortschreibung wird das Vergangene unweigerlich mythisch verdichtet. Ein unvoreingenommener Zugriff auf die Vergangenheit scheint daher unmöglich: „It is difficult to know the exact shadings of dates which were never written down and to know the intricacies of events which we have not lived through ourselves but only viewed from the distances of time and space." (S. 58) No Great Mischief ist ein hervorragendes Beispiel fur die gruppenspezifische Intertextualität bzw. Interdiskursivität des kommunalen Gedächtnisromans: Alle gemeinschaftsstiftenden Erinnerungen scheinen anzuklingen. Neben dem memory talk wird die gemeinschaftliche Vergangenheit von den Angehörigen des dann Chalum Kuaidh in etlichen Riten, Ritualen, Liedern sowie in der Verwendung des gälischen Dialekts gegenwärtig gehalten. Auf diese Weise entsteht ein Netz sich wechselseitig stützender und ergänzender Vergangenheitsreferenzen: Die Erinnerungsfunktion eines Gedächtnismediums wird durch andere Medien im Zusammenspiel stabilisiert und intensiviert, so dass sich für die Leserschaft nach und nach ein übergeordnetes Bild von der Kollektiwergangenheit des Klans ergibt. Die in dem Klan zirkulierenden, auf einschneidende Ereignisse der Kollektiwergangenheit zurückverweisenden Mottos werden von den einzelnen Mitgliedern zur Vergewisserung ihres gemeinsamen Ursprungs und ihrer kollektiven Identität rituellappellativ rezitiert. Die Wiederholung Robert the Bruces Lob auf MacDonald (,„My hope is constant in thee, Clan Donald'", S. 82)279 etwa evoziert Reminiszenzen an die für das gälische Kollektivgedächtnis hochgradig bedeutsame Schlacht von Bannockburn im 14. Jahrhundert und mahnt die Klanmitglieder zur Fortführung gruppenspezifischer Normenvorstellungen: „[Grandpa] slapped Grandfather on the shoulder and said, ,My hope is constant in thee, Clan Donald,' which is what Robert the Bruce was supposed to have said to the MacDonalds at the Battle of Bannockburn in 1314." (S. 82) Dieser, der gruppenspezifischen Identitäts- und Vergangenheitskonzeption zugrunde liegende Leitspruch ist auch auf Ringen inskribiert („a hand-carved plaque bearing the coat of arms and the motto of the MacDonalds", S. 110), mit denen zahlreiche Gruppenmitglieder ihre Teilhabe am Kollektivgedächtnis bezeugen und so den Fortbestand des Erinnerungskollektivs gewährleisten. Wenn Alexander diesen Ring von seinem Grandfather in einem feier279
Vgl. hierzu auch S. 193, 206, 217.
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lichen Akt überreicht bekommt, so gleicht dies einem Initiationsritual, das nicht nur seinen Status als vollgültiges Mitglied der Gruppe besiegelt, sondern auch den Zusammenhalt der Gruppe durch die Weiterführung von Traditionen verbürgt (vgl. ebd.). Darüber hinaus werden wiederholt verschiedenartige gruppenspezifische Lieder eingespielt, die die Kollektiwergangenheit des dann Chalum Ruaidh reaktivieren: „And so we sang as I drove my uncle's car along the winding road beside the sea and towards the setting sun. We sang ,Failill-o Agus Ho Ro Eile', JsAo Nighean Dubh', ,0 Chruinneag', yAn Taltan Dubh', Mo Run Geal Dileas', and ,0 Suid An Taobh A Ghabhainn'." (S. 109) Durch die sich wechselseitig stützenden Vergangenheitsreferenzen entwirft der Roman eine „Semiotik der vielfältigen Interrelation" (Zapf 2002, S. 178), die die unhintergehbare Zusammengehörigkeit der Gruppe akzentuiert. Die extrem dichte Inszenierung der gruppenspezifischen Gedächtnisinhalte und -formen leistet einen substantiellen Beitrag zur Revitalisierung der vorgängig vergessenen Erfahrungen. Sie schafft die Voraussetzung, das vorgängig Marginalisierte in das kollektive Gedächtnis zu heben und ihm erinnerungskulturelle Relevanz zu verleihen. Intensiviert wird der erinnerungskulturelle Prozess der Aneignung und Aktualisierung außerdem durch die Verwendung gälischer Termini, die Alexanders Narration durchziehen. Es ist typisch für den kommunalen Gedächtnisroman, dass er die Integration kulturspezifischer Begriffe für die Konstitution einer gruppendistinkten Identität, zumal einer spezifisch diasporischen funktionalisiert. Fremdsprachliche Begriffe verweisen auf die Heimat und hiermit auf die gewachsenen, vertrauten Gedächtnisräume. Die Evokation gruppenspezifischer Sprachwendungen ist als Versuch anzusehen, auf die mit der Migration einhergehenden Erfahrungen der Dislokation und des identitären Orientierungsverlusts zu reagieren. Der Erzähler integriert einzelne gälische Phrasen und kulturspezifische Ausdrücke wie gille beag ruadh (,„the little red boy'", S. 16) oder Lochranaigh nam bochd („the Gaelic phrase for the moon, ,the lamp of the poor'", S. 69)280 ebenso wie gälische Gedichte und „communal songs" (S. 13), die die Angehörigen des Klans nicht müde werden zu rezitieren: ,Cbi mi bhuam, fada bhuam, Chi mi bhuam, ri muir lain; Chi mi Ceap Breatuinn mo kaidh Fada bhuam tharan t-saiL' (S. 13)281 Für die nach Kanada emigrierten Highlanders erweist sich das Festhalten an ihrer gruppenspezifischen Sprache offensichtlich als ein bedeutsames Instrument, sich ihrer entwurzelten Identität rückzuversichern und ihrer Ortlosigkeit, den durch die Diaspora erzeugten historischen Brüchen und Instabilitäten ein kontinuitätssi280 Weitere Beispiele für kulturspezifische Begriffe und Phrasen finden sich auf den Seiten 9, 15, 23, 24, 38, 43, 50, 71, 85, 89,105,109,122,129,139,175, 202 und 244. 281 Vgl. hierzu die Übersetzung des Erzählers: „It means something like: I see far, far away. I see far o'er the tide; I see Cape Breton, my love, Far away o'er the sea." (S. 13)
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cherndes Element ihres kulturellen Archivs entgegenzustellen. Zudem trägt der nunmehr selbstbewusste Rückgriff auf das Gälische sowohl der Figuren als auch der Erzählinstanz dazu bei, eine kollektive Identität zu rekonstituieren, die nicht zuletzt durch die Erfahrung gesellschaftlicher Marginalisierungen in Kanada beschädigt wurde. So war die Verwendung des Gälischen im öffentlichen Raum Kanadas lange Zeit mit Sanktionen verbunden, wodurch die kulturelle Orientierung der Migranten zusätzlich erschwert wurde: „Thankfully, however, we were of the generation who were no longer beaten because we uttered Gaelic, .beaten for your own good,' as the phrase seemed to go, ,so you will learn English and become good Canadian citizens."' (S. 16) Sprache und Inhalt der in MacLeods Roman integrierten Balladen stellen die herausragende Bedeutung des Raums für die Beschaffenheit des kollektiven Gedächtnisses heraus und wirken zusammen, um die durch die Erfahrung der Diaspora beschädigte Kollektividentität topographisch zu verorten. Da Orte relativ stabil und überdauernd sind, kann — dies zeigt nicht zuletzt Halbwachs' und Noras These von der topographischen Organisation des Gedächtnisses — der räumliche Erinnerungsbezug für die Schaffung von symbolischer Kontinuität des gruppenspezifischen Gedächtnisses vereinnahmt werden. Räumliche Erinnerungsrahmen, in denen sich die gruppenkonstitutive Vergangenheit „gerade in absentia als .Heimat'" (J. Assmann 2000, S. 38f.) konkretisiert, werden im diasporischen Raum, unter den Bedingungen der Dislokation, umso bedeutsamer. Mit Blick auf die räumliche Verankerung des Erinnerten ist signifikant, dass die gälischen Lieder nicht nur die neue Heimat des Klans, also Cape Breton beschwören: „Chi mi Ceap Breatuinn mo luaidh" („I see Cape Breton, my love", S. 13); vielmehr lassen sie auch Erinnerungen an die ursprüngliche Heimat des Klans aufleben. Mit diesem Oszillieren zwischen verlassenem und diasporischem Erinnerungsraum greifen die Lieder eine topographische Ambiguität auf, die sich leitmotivisch durch den Roman zieht. Alexanders Gedächtniserzählung veranschaulicht wiederholt das ambivalente Potential, das der Raum für diasporische Minoritäten innehat, also die Zerrissenheit zwischen alter und neuer Heimat, zwischen dem Rückzug auf heimische Ursprünge einerseits und der Exploration und Aneignung des unbekannten Raums andererseits. Die für kommunale Gedächtnisromane typische Semantisierung des Raums lässt die Suche nach einem sicheren Ort der Zugehörigkeit zum zentralen Thema werden. So rufen die Erinnerungen der Figuren mehrfach den Herkunftsort des Klans auf, also die schottischen Highlands, und perpetuieren die Vorstellung eines identitären Ursprungs: „.Most of us are Scottish people here,' she tells me. ,We are Highlanders. All up and down this coast and inland, too. A lot of us are descended from a man who came here long ago.'" (S. 248) Der Rückzug auf heimische Erinnerungsräume erreicht mit der Darstellung einer Reise, die Alexanders Zwillingsschwester Catherine nach Schottland unternimmt, seinen symbolischen Höhepunkt. Ihr Aufenthalt in Moidart, einem zentralen Schauplatz der gruppenspezifischen Geschichte, wird durch die zufällige Begegnung mit zahlreichen Angehörigen des Klans zu einer Wiederbegegnung mit ihrer Vergangenheit. Zwar ist
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Catherine der gälischen Sprache zumindest nicht bewusst mächtig, dennoch greift sie unmittelbar auf diese zurück und stellt damit die durchgreifende Wirkung der Gruppenzugehörigkeit unter Beweis: ,„[I]t was a few seconds before I realised that she had spoken in Gaelic and that I had understood her. It seemed I had been away from the language for such a long, long time. [...] It was just like it poured out of me'" (S. 150). Der so ermöglichte Akt des gemeinsamen Gedenkens wird zum Bodensatz der Erfahrung einer angeblich immer schon währenden Zusammengehörigkeit: „,1t is as if you had never left,' said the old man. ,Yes,' said the others all at once, ,as if you had never left.'" (Ebd.)282 Die gemeinsame Vergangenheit transzendiert raumzeitliche Grenzen und involviert den Einzelnen in dauerhafte und umspannende Bindungen. Die Implikation dieses fast übernatürlichen Gedenkakts ist die natürliche und unhintergehbare Zusammengehörigkeit der einzelnen Gruppenmitglieder. Der Anspruch auf unhintergehbare Legitimität der gruppenspezifischen Kollektividentität könnte kaum wirkungsvoller herausgestellt werden. Dem Festhalten an heimischen Gedächtnisräumen steht in No Great Mischief die wiederholt hervorgehobene Bedeutung der neuen Heimat des Klans Cape Breton gegenüber. Cape Breton wird zum affektiven Bezugspunkt stilisiert, an dem sich die neu geschaffene gruppenspezifische Identität physisch materialisiert: „When the front wheels of the car touched Cape Breton, Grandpa said, ,Thank Christ to be home again. Nothing bad can happen to us now.' We still had an hour's drive or perhaps more along the coast, but it was obvious that Grandpa already considered himself in .God's country', or ,our own country'." (S. 108)283 Wieder wird deutlich, dass das kollektive Gedächtnis des Klans zwischen zwei räumlichen Erinnerungsrahmen und damit verbundenen geographischen Bedeutungszuschreibungen oszilliert. Betrachtet man die gälischen Lieder vor dem Hintergrund dieser inneren Gespaltenheit zwischen alter und neuer Heimat, so wird evident, dass sie für das Kollektivgedächtnis des clann Ckalum Kuatdh eine synthetisierende Funktion erfüllen. Zum einen trägt der Rückgriff auf das Gälische zur Vergegenwärtigung heimischer Erinnerungsräume bei und dient damit der Kontinuitätsstiftung. Die Orte des Ursprungs des Klans werden durch die Verwendung des Gälischen symbolisch reproduziert. Zum anderen thematisieren die Lieder den diasporischen Raum des clann Chalum Ruaidh, also Cape Breton, und bereiten so der symbolischen Aneignung der neuen Heimat den Weg: When we were not working or sleeping we played the records of the Cape Breton violin which accompanied my brothers everywhere. [...] And sometimes we
282 Das Motiv der Rückkehr in heimische Gedächtnisräume - das „.coming to the past'" (S. 244) — wird auch mit der Emigration von Alexanders Bruder nach Schottland aufgegriffen (S. 243f.). 283 Die emotionale Bindung an Cape Breton steigert sich bei Alexanders Grandpa bis zum Gefühl der sexuellen Ekstase: „.When I was a young man [...] when we would come home in the spring from working in the woods, I would get a hard-on as soon as my feet touched the ground of Cape Breton. Yes sir, it would snap right up to attention at the front of my pants.'" (S. 108)
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hummed or sang the old Gaelic songs. And when we talked, often in Gaelic, it was mosdy of the past and of the distant landscape which was our home. (S. 135) Die gälischen, um Cape Breton kreisenden Lieder (vgl. S. 13f.) fungieren fur die Mitglieder des Klans als zentrale, erinnerungssymbolische Strategie, um sich einen vorerst fremden Raum durch seine Besetzung mit gruppenspezifischen Erinnerungen anzueignen und ihn auf diese Weise in einen belebten und heimischen Erinnerungsraum zu transformieren. In dem Maße, in dem die „old Gaelic songs" (S. 135) zugleich der neuen und alten Heimat gedenken, sind sie auch als Versuch der Gruppe zu konzipieren, ihren Status als ,mnemonische Andere' zu überwinden, ohne hierbei kultur- und identitätsspezifische Besonderheiten und Merkmale preiszugeben. Wenn sowohl Alexander als auch sein Bruder Calum wiederholt auf das kulturspezifische Repertoire an Gedächtnisinhalten und -formen zurückgreifen, so zeigen sie, wie grundlegend auch ihr aktuelles Selbstverständnis von den gruppenspezifischen Erinnerungen geprägt ist. So wird ihre Vergangenheit gleichsam zu ihrer Gegenwart: „Always I think of those visits of the past in the present tense" (S. 247). Der Erzähler wiederholt die gälischen Lieder fast reflexartig, wodurch er abermals betont, in welch' ausgeprägtem Maße er die gruppenkonstitutiven Motive, Normen und Werte verinnerlicht hat: ,,[T]he song continues and I am almost surprised to realise it is no longer coming from [Calum] but from somewhere deep within me. It rises up to the extent that my own lips move in an almost reflex action" (S. 14). Offensichtlich sind diese Lieder angesichts ihrer eingängigen und rhythmischen Struktur — „although the subject matter is much different, the verses and chorus come easily to my mind" (ebd.) - besonders dazu geeignet, Einfluss auf persönliche Weisen der Erfahrungsverarbeitung zu nehmen und die persönliche Gedächtnisbildung in kollektiv vorgegebene Bahnen zu lenken. Die Produktivität dieser kollektiven Erinnerungsform bringt der Erzähler nicht zuletzt dadurch in den Blick, dass er die sich unbewusst einstellende Präsenz der gälischen Lieder mit der ebenso automatischen Weise der Reaktualisierung seiner Vergangenheit vergleicht: ,,[T]hese seem the facts, or some of them anyway [...]. And as is the case with the Gaelic songs, I do not choose nor will myself to remember them. They are just there, from what, even in my relatively short life, seems like a long time ago." (S. 21) Die bereits angesprochene Naturalisierung der inszenierten Erinnerungen, die sich paradigmatisch in Alexanders Aussage ,,[t]hey are just there" (ebd.) konkretisiert, scheint sich folglich auch der Struktur der Lieder zu verdanken. Deren rhythmisch-repetitiver Aufbau wirkt im Sinne einer Dissimulation des konstruktiven Charakters der Erinnerungserzählung. Die spezifische Gestaltung suggeriert eine Erinnerungsevidenz und lässt die gruppenspezifische Vergangenheitskonstruktion als natürliches, immer schon vorhandenes Wissen erscheinen. Zusätzlich herausgestellt werden die Bedeutung der Songs und ihre Wirksamkeit als eingängiges Modell der gruppenspezifischen Formgebung durch die strukturellen Spezifika von Alexanders Gedächtnisnarration. Ebenso wie die gälischen Lieder sind auch die Erzählungen von zahlreichen, sich durch den Roman ziehen-
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Kanadische
Vidians ojMemory
den narrativen Repetitionen und Parallelismen geprägt. Einschneidende Erlebnisse und Episoden wie die Schlachten von Culloden oder Quebec, der Verrat Wolfes an seinen schottischen Soldaten sowie der Tod Alexanders Eltern werden von den Klangehörigen nicht nur mehrfach thematisiert und so zum übergeordneten, strukturgebenden ,Erinnerungsmotiv' der Narration stilisiert. Vielmehr scheinen sich auch spezifische Verhaltensmuster über die Generationenfolge des Klans hinweg fortzusetzen. So erinnert etwa der Umstand, dass Alexanders Eltern bei ihrem Versuch, den vereisten Atlantik zu überqueren, zu Tode kommen, an den Generationen voran liegenden Tod seiner „great-great-great-grandmother" (S. 53) Catherine MacPherson, die im Zuge der Überfahrt von Schottland nach Kanada ebenfalls umkommt und im gleichen Meer begraben liegt (vgl. ebd.). Ebenso findet auch der folgenreiche Verrat General Wolfes an den Highlanders und die hiermit assoziierte Rivalität zwischen den Anglo- und Frankokanadiern Generationen später in dem Verhalten des amerikanischen Klanmitgliedes Alexander MacDonald seine Entsprechung. Nachdem Angehörige des Klans, unter ihnen der Erzähler und sein Bruder Calum, während ihrer Arbeit in einer Mine von dem Frankokanadier Fern Picard des Diebstahls bezichtigt werden, ist Calum bestrebt, die Ehre des Klans um jeden Preis gegen diese — in seinen Augen — haltlose Anschuldigung zu verteidigen. In dem daraufhin entfachten Kampf zwischen einigen Frankokanadiern und Angehörigen des Klans tötet Calum Fern Picard scheinbar aus Notwehr. Erst nach dem Kampf, der eine lebenslängliche Gefängnisstrafe für Calum zur Folge hat, entdecken die Klanmitglieder in dem Spind des Amerikaners die gestohlene Geldbörse Picards. Diese Entdeckung lässt darauf schließen, dass der Amerikaner Alexander ähnlich wie General Wolfe vor ihm die Loyalität des dann Chalum Ruaidh ausgenutzt und die Unversehrtheit der Klanmitglieder leichtfertig aufs Spiel gesetzt hat. Schließlich evoziert auch der vermutlich auf dieses Ereignis zurückgehende Alkoholismus Calums Reminiszenzen an seinen Grandpa, der ein vergleichbar exzessives Trinkverhalten an den Tag legt. Die iterative Handlungsstruktur bringt die sich über Generationen hinweg erhaltenden Gemeinsamkeiten in potenzierter Form zur Anschauung und stellt folglich die fast zwangsläufige Zusammengehörigkeit des Familienklans heraus. Die zahlreichen Wiederholungen und Entsprechungen innerhalb der Familiengeschichte, die der Erzähler mit dem Satz ,,[e]ach of us repeating his own small history" (S. 11) auf den Punkt bringt, fungieren als strukturbildende Prinzipien und werden so zu thematisch-symbolischen Kristallisationspunkten der gruppenkonstituierenden Vergangenheit. Die inszenierten Wiederholungen des Gleichbleibenden evozieren die Vorstellung eines „never-ending circle" (S. 224) und illustrieren auf fast deterministisch-essentialistische Weise die Identität (im Sinne eines sich Gleichbleibens) des Familienklans und der ihr zugrunde liegenden Erfahrungen. 284 Die strukturel-
284
Dass sich die einzelnen Klanangehörigen daher in erster Linie über ihre Zugehörigkeit zum übergeordneten
Kollektiv definieren, versinnbildlicht der gescheiterte Versuch
von
Alexanders
Schwester Catherine, ihre Eltern aus einem Gruppenfoto herauszulösen und auf den Maßstab ei-
K o m m u n a l e Gedächtnisromane
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len Besonderheiten der Narration wirken damit im Sinne der Authentisierung der gruppenspezifischen Vergangenheit. Sie legen den Grundstein dafür, die Vergangenheitsversion auch rezipientenseitig in eingängiger Form erinnerbar zu machen. Der gruppenkonstitutive Gedächtnisbestand wird in No Great Mischief
schließ-
lich auch durch Spezifika der erzählerischen Vermittlung evoziert. E b e n s o wie die gälischen Lieder — „where one person sings the verse and the group sings the chorus" (S. 13) - konstituiert sich auch Alexanders Erzählung über weite Passagen aus den Geschichten anderer Personen, die er zum Zwecke der Vergangenheitsrepräsentation einspielt. Ähnlich des Vorsängers strukturiert er die dargebotene Erzählung und stimmt das Erinnerungsmotiv an, wobei die Stimmen und die Geschichten der Gruppe seine individuellen Erfahrungen immer wieder in den Hintergrund treten lassen. Durch das Alternieren zwischen unterschiedlichen Stimmen entsteht ein Geflecht von sich wechselseitig stützenden Erinnerungsperspektiven, die allmählich ein Gesamtbild von der gruppenspezifischen Vergangenheit vermitteln und die Kommunalität der Erfahrung eindrucksvoll dokumentieren. Die narrative Verfertigung der gruppenkonstitutiven Geschichten wird mithin ähnlich wie das Singen der gälischen Lieder zu einem gemeinsamen sowie gemeinschaftsstiftenden Ritual, durch das sich die Akteure ihrer Gruppenzugehörigkeit vergewissern. Die distinkte, erzählerische Formgebung reflektiert gruppenkonstitutive Besonderheiten und leistet so wiederum einen wesentlichen Beitrag zur Kontinuierung des Kollektivgedächtnisses des Klans. Durch die rituelle Sprachgestaltung, die Integration mündlicher Erzählformen und Songs sowie durch die Rhythmisierung des Dargestellten wird ein eigenständiges, mythopoetisches Repertoire aus der kulturellen Tradition des Klans reaktiviert, das bewusst für die literarische Selbstrepräsentation dieser marginalisierten Erinnerungsgemeinschaft genutzt wird. No Great
Mischief
nutzt die Rhetorik der Erinnerungen und Identitäten nicht
nur zur Vergegenwärtigung der gruppenspezifischen Vergangenheit, sondern auch zur Reflexion der Voraussetzung und Folgen von gemeinschaftsstiftenden Praktiken. Zwar zielen die in Alexanders Gedächtniserzählung aktualisierten Identitätsund Vergangenheitsreferenzen darauf ab, die Singularität der Erfahrungen des Klans herauszustellen und die Legitimierung eines bislang marginalisierten Kollektivgedächtnisses voranzutreiben. Gleichwohl wird das Bedürfnis nach einer Fortführung kulturspezifischer Besonderheiten, das Festhalten an kontinuitätswahrenden Traditionen und Ritualen in No Great Mtschief
kritisch reflektiert. So führt der
Roman vor Augen, dass Rituale und Prozesse, die nach innen Identität und Gemeinschaft stiften, Gefahr laufen, nach außen Fremdheit und Antagonismus zu induzieren. Besonders deutlich wird diese Polarisierung von kollektiver Identität und Alterität anhand von Alexanders Rekonstruktion seiner Erfahrungen in einer Mine in
nes individuellen Bildes zu vergrößern: „As the photographs b e c a m e larger the individual features o f their faces b e c a m e m o r e blurred. [...] After a while I stopped. I left them with their group. It seemed the only thing to d o . " (S. 221)
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Elliot Lake, im Kanadischen Schild. Nachdem der Cousin des Erzählers „the redhaired Alexander MacDonald" (S. 111) scheinbar bei einem Arbeitsunfall zu Tode gekommen ist, entschließt sich Alexander dazu, seine bereits seit einiger Zeit in der Mine arbeitenden Brüder zu unterstützen und zeitweilig den Part seines Cousins zu übernehmen. Die Minenarbeit wird vor allem von zwei Gruppen verrichtet, einigen Frankokanadiern und den Angehörigen des Klans. Spätestens seit dem T o d von Alexander MacDonald und dem sich verhärtenden Verdacht, dass dieser von den Frankokanadiern verschuldet wurde (vgl. S. 157, 203), ist deren Verhältnis von schwelendem Misstrauen und Argwohn gezeichnet: „We viewed them, as they did us, with a certain wariness; always on the lookout for the real or imagined slight or advantage; being like rival hockey teams" (S. 158). 285 Zwischen den Gruppen bestehen kaum Berührungspunkte, die einen Beitrag zur Herstellung eines kommunikativ-sozialen Austausche leisten könnten. Beide Gruppen pflegen ihre spezifischen Traditionen, erzählen ihre eigenen Geschichten, singen ihre gruppenkonstitutiven Lieder und sprechen ihre Sprache: „Within the dining hall the ethnic groups sat by themselves, each group speaking its own language" (S. 126). Unter den Bedingungen der anhaltenden Rivalität zwischen den frankokanadischen Arbeitern und den Angehörigen des clann Chalum Ruaidh spielen distinktive Merkmale, die die jeweilige Eigenart und Besonderheit der Gruppenidentität akzentuieren, eine zunehmende Rolle: Sometimes as we passed by certain voices would quietly attempt to identify us. ,Those are the Highlanders,' they would say, ,from Cape Breton. They stay mostly to themselves.' It is hard to know why, in such circumstances, we spoke Gaelic more and more. Perhaps by being surrounded by other individual groups we felt our lives more intensely through what we perceived as our own language. (S. 127)
Wie Alexanders Überlegung offen legt, weckt die Konfrontation mit anderen Gruppen das Bedürfnis nach Abgrenzung, die die „Differenz nach außen betont" (J. Assmann 2000, S. 40) und so zur Distinktion des Gruppenbildes bzw. zur gesteigerten Vergewisserung der eigenen Identität beiträgt. 286 Ein solches, nach einem Us/ Them-Schema operierenden Identitätskonstrukt verhindert nicht nur interkulturelle Verständigung sowie die Schaffung von längerfristiger sozialer Gemeinsamkeit; vielmehr kann es auch xenophobischen und gewaltsamen Tendenzen Vorschub leisten. In No Great Mischief steigert sich der qua gruppenspezifischer Distinktionsmechanismen stabilisierte Antagonismus bis zur äußersten physischen Aggressivität: Fern Picards Anschuldigung, die Mitglieder des clann Chalum Ruaidh 285
Vgl. zu diesem Antagonismus auch folgende Feststellung; „ W e never entered their bunkhouses, as they never entered ours. It would have been like going into the dressing r o o m o f the opposing team." (S. 136)
286
Dieser Zusammenhang wird von dem Sozialpsychologen Higgins (2000, S. 22) pointiert herausgestellt: „[The] cost o f shared reality is that by belonging to an ingroup whose members agree with one another and praise their similarity, differences with outgroup members are accentuated [...]. Because these differences include perceived values and goals, shared reality within ingroup increases the likelihood o f conflict with outgroups."
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seien Diebe und Lügner, „des voleurs et des menteurs" (S. 235), wird zum Anstoß eines brutalen Kampfes, in welchem Calum den Frankokanadier tötet. Wenngleich Alexanders Gedächtnisnarration das Bedürfnis nach gemeinschafts- und identitätsstiftenden Gedenkritualen also dezidiert herausstellt und selbst einen aktiven Beitrag zur Perpetuierung gruppenspezifischer Gedächtnisinhalte leistet, wird das Leistungspotential gruppenspezifischer Gedenkordnungen durchaus kritisch bewertet. Gruppenspezifische Erinnerungspraktiken bilden zum einen den Bodensatz für Zusammengehörigkeit und gewährleisten stabilisierende Kontinuität, die im Falle von diasporischen Erfahrungen der kulturellen Dislokation und identitären Orientierungslosigkeit entgegenzuwirken vermögen. Zum anderen führen insbesondere die Erfahrungen in der Mine vor Augen, dass gruppenkonstitutive Rituale stets Grenzen nach außen markieren, die dem Aufbau von wirkungsvollen interkulturellen Beziehungen und sozialer Integration entgegenstehen. Auf die Gefahr der kulturellen Isolation bzw. der bewussten ethnischen Ghettoisierung macht der Erzähler aufmerksam, wenn er mit Blick auf unterschiedliche ethnische Gruppen feststellt: „No one would know what they were saying except those with some kind of shared background." (S. 177) Dieser Eindruck eines Mangels an interkultureller Verständigung wird durch Alexanders wiederholte Schilderungen der gegenwärtigen kulturellen Diversifikation Kanadas und der oftmals isolierten Situation der zahlreichen ethnischen Minoritäten bestärkt. Mit der Akzentuierung der Ambivalenz von gruppendistinktiven Strategien lenkt MacLeods kommunaler Gedächtnisroman das Augenmerk auf die politischen Herausforderungen und Problematiken, mit denen sich die gegenwärtige kanadische Multikultur konfrontiert sieht: So fördert das Ideal des kanadischen Mosaiks zwar die Akzeptanz für ethnische und kulturelle Unterschiede sowie Eigenheiten; wie No Great Mischief mit den folgenschweren Ereignissen in der Mine darstellt, birgt die Bewahrung von kulturellen Besonderheiten gleichwohl die Gefahr, Differenzen zu essentialisieren und so transkulturelle Interaktionen sowie das Entstehen neuer, hybrider Identitäten zu verhindern.287 Diese Gefahr scheint insbesondere das Verhältnis zwischen Franko- und Anglokanadiern zu betreffen, zwei Gruppen der kanadischen Gesellschaft, zwischen denen fast jeder Versuch einer interkulturellen Annäherung und Verständigung gescheitert ist. Nicht zuletzt angesichts des Anspruchs der Provinz Quebec, eine .distinct society' mit einer eigenen Sprache und einer distinkten Identität zu sein, sieht sich Kanada nach wie vor mit dem Problem eines Separatismus konfrontiert. Als Lösung des Dilemmas zwischen der Wahrung von gruppenspezifischer Differenz einerseits und der Möglichkeit von transkultureller Verständigung andererseits legt No Great Mischief die wechselseitige Anerkennung der partikularen Gedächtnisgemeinschaften und ihrer jeweiligen identitätskonstitutiven Geschichten nahe. Nur eine offene Konstitution des Kollektivgedächtnisses, so die literarisch inszenierte Einsicht, scheint die Vorausset287 Zur Diskussion der Chancen und Gefahren des kanadischen Multikulturalismuskonzepts vgl. etwa Keefer (1991) und Bissoondath (1994) sowie Kap. II.4.3 dieser Arbeit.
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zung für interkulturelle Brückenschläge und für ein harmonisches Nebeneinander von heterogenen Erinnerungsgemeinschaften zu schaffen. Sein spezifisches, kulturökologisches Wirkungspotential bezieht No Great Mischief somit aus einem Zusammenspiel von zwei Merkmalen, nämlich aus der elementaren Wechselwirkung zwischen affirmativer Vergegenwärtigung einerseits und kritischer Reflexion des Vergangenen andererseits. No Great Mischief stellt - wie alle kommunalen Gedächtnisromane - auf einer wichtigen Ebene den Versuch dar, einer bislang in der kanadischen Erinnerungskultur kaum beachteten Gemeinschaft eine Stimme zu verleihen und die Bedeutung deren Erfahrungsrealität gesellschaftlich einzufordern. Der Roman nutzt Privilegien der Selektion dazu, die vorgängig marginalisierten Erfahrungen der Highlanders literarisch zu vergegenwärtigen und in das kollektiv dominante Gedächtnis einzuspeisen. Indem der Roman eine alternative Deutung der Schlacht um Quebec erprobt und damit den historisch tief verwurzelten Antagonismus zwischen Franko- und Anglokanadiern neu perspektiviert, kann er selbst zum Medium des kollektiven Gedächtnisses werden. In diesem Sinne fungiert No Great Mischief als ein .imaginativer Gegendiskurs' (Zapf), der aktiv in den gesellschaftlichen Streit um Erinnerungen und Identitäten eingreift: Das ausgegrenzte Andere wird aktiviert, wodurch eine Neustrukturierung der Erinnerungskultur ermöglicht wird. Auf einer anderen, kritisch-reflexiven Ebene macht der Roman allerdings auch die Gefahren, die die Kontinuierung von exklusiven Gedenkformen bergen, zum Inhalt des Gedenkens. Nicht nur das ,Was', sondern auch das ,Wie' finden Eingang in die gruppenspezifische Gedächtnisnarration. Der Roman legt offen, welche Probleme sich mit der Wahrung von kulturspezifischen Besonderheiten und mit der Vorstellung einer singulären Vergangenheit verbinden. Damit erteilt er homogenisierenden und geschlossenen Gedächtniskonstruktionen eine Absage und entwirft alternative Modelle von der Funktionsweise zeitgenössischer Erinnerungskulturen. Die beiden Pole von Affirmation und Reflexion sind mithin nicht als binäre Opposition zu verstehen; vielmehr bestimmt gerade ihr Zusammen- und Gegeneinanderwirken das kulturökologische Bedeutungspotential des Texts. Durch die Wechselwirkung der Pole kann No Great Mischief auch als ,kulturkritischer Metadiskurs' (Zapf) wirksam werden, der innovative Antworten auf die für die zeitgenössische kanadische Erinnerungskultur so zentrale Frage bietet, wie das Eigene erinnert werden kann, ohne Andere auszuschließen.
3.2 Mythische Gedächtnisakte in Jane Urquharts Away (1993) Ebenso wie in No Gnat Mischief werden auch in Jane Urquharts kommunalem Gedächtnisroman Au/ay die Erfahrung der Emigration und der kulturellen Marginalisierung sowie damit verbundene Versuche, sich einen vorerst fremden Raum zu Eigen zu machen, zum zentralen Thema. Beide Romane bieten damit Außenseiterfiguren eine anderweitig nicht gegebene Artikulationsmöglichkeit: Sie fokussieren den engen Zusammenhang zwischen topographischer Entwurzelung und kulturel-
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lern Orientierungs- bzw. Identitätsverlust und inszenieren erinnerungskulturelle Praktiken, die diese Destabilisierung zu kompensieren suchen. Stellt No Great Mischief die diasporischen Erlebnisse eines schottischen Klans in den Mittelpunkt, so fokussiert Away die identitätskonstitutiven Erfahrungen einer irisch-katholischen Familie, die in Folge des potato famine sowie anhaltender gesellschaftlicher Diskriminierungen im Irland des 19. Jahrhunderts nach Kanada auswandert. Die Handlung beider Romane nimmt in den Missständen des British Empire, in den Unterdrückungen durch die englische Krone, ihren Ausgangspunkt. Die Werke tragen somit auch zur Differenzierung der Gruppe bei, die oftmals verkürzt unter dem Schlagwort ,der Kolonisatoren Kanadas' subsumiert werden, und etablieren auf diese Weise ein Gegengedächtnis, das dominante gesellschaftliche Vergangenheitsdeutungen in Frage stellt (vgl. Wyile 2002, S. 84). In dem heterodiegetisch erzählten Roman Away trägt vor allem die von Beginn an etablierte communal voice der dominanten Fokalisierungsinstanz Esther zur narrativen Inszenierung eines repräsentativen, verbindenden ebenso wie verbindlichen Kollektivgedächtnisses bei. Als Trägerin des kollektiven Gedächtnisses reaktualisiert sie in der erinnernden Rückschau die Erfahrungen ihrer Familie und in einem weiteren Sinne die ihrer kulturellen Gruppe, den irischen Katholiken im 19. Jahrhundert, und schafft somit die Voraussetzung für die Stabilisierung der gruppenspezifischen Identität. Ermöglicht wird die symbolisch verdichtete Vergegenwärtigung vorgängig marginalisierter Erfahrungen auch durch die Semantisierung des Raums: Es ist typisch für den kommunalen Gedächtnisroman, dass dieser durch ausgeprägte Semantisierungen als (materialer) Träger des Kollektivgedächtnisses vereinnahmt wird. Die profilierten Semantisierungsstrategien des Raums in Away lassen sich treffend als eine ,archäologische Topik der Erinnerung' beschreiben. Der Roman macht sich das orientierungsbildende Potential des Raums zunutze, wenn er diesem die marginalisierten Erfahrungen der irischen Katholiken gewissermaßen .anheftet'. Intensiviert wird die Revitalisierung der Kollektiverinnerung durch ein breites Spektrum intertextueller Referenzen, das in verdichteter Form alle verfügbaren gruppenspezifischen Gedächtnisbestände anklingen zu lassen scheint. Durch die Integration gälischer Gedichte, Begriffe und des mythopoetischen Repertoires der Iren entsteht ein Gewebe von sich wechselseitig stützenden Vergangenheitsreferenzen, das die Spezifika der irisch-katholischen Gedächtnisgemeinschaft begreifbar macht. Es ist vor allem die Strukturierung der Narration entlang des Mythos des .being away', die die Prägekraft der gruppenspezifischen Erinnerungsmuster vor Augen führt und einen Prozess der Vergegenwärtigung der vorgängig marginalisierten Erfahrungen initiiert. Ebenso wie MacLeods Roman No Great Mischief nutzt schließlich auch Away die Rhetorik der Erinnerungen und Identitäten zur Reflexion der Bedingungen von kollektiver Identitätskonstitution. Zwar stellt der Roman das positive Leistungspotential von Kollektiverinnerung dezidiert heraus; gleichwohl wirft er Fragen nach den Gefahren einer allzu profilierten, monolithischen „collective voice" (S. 330) für ein proaktives, multikulturelles Miteinander auf. Auch Away problematisiert damit den multikulturellen Charakter Kana-
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das und entwirft innovative Vorstellungen einer integrativen Erinnerungspolitik, die der Vielzahl kulturell koexistierender Erinnerungen Rechnung zu tragen sucht. ***
Im Zentrum von Urquharts Roman stehen die generationsübergreifenden Erfahrungen der Entbehrung und des Verlusts der irischen Familie O'Malley. In ihrer Heimat, auf der kleinen Insel Rathlin, sehen sich der Schullehrer Brian und seine Frau Mary O'Malley nicht nur mit den verheerenden Folgen des potato famine in den 1840er Jahren konfrontiert. Auch die zunehmenden gesellschaftlichen Diskriminierungen gegen Personen katholischen Glaubens entziehen ihnen ihre stabile Lebensgrundlage und stürzen sie in bittere Armut: „Brian was a torn man. His crops had failed, his school had weakened and eventually died." (S. 80) Die miserablen Lebensbedingungen veranlassen Brian, Mary und ihren Sohn Liam dazu, auf das Angebot ihrer Grundbesitzer, der Gebrüder Sedgewick zu reagieren, und in die britische Kolonie Kanada zu emigrieren. Nachdem sie sich nach einer zehrenden Schiffsreise und mehreren Wochen in kanadischer Quarantäne im heutigen Ontario niederlassen, werden ihre Hoffnungen auf einen prosperierenden Neuanfang alsbald zerstört: Wie zahlreichen anderen irischen Emigranten auch wird ihnen ein Stück Land auf dem unkultivierten und unfruchtbaren Territorium des Kanadischen Schilds zugewiesen. Erst nachdem Eileen, die in Kanada geborene Tochter Marys und Brians, von einer Krähe den Hinweis erhält, dass sich auf ihrem Grundstück Gold befinde, wird der Armut der O'Malleys ein Ende gesetzt. Liam erwirbt ein Grundstück in Port Hope, an dem Ufer des Great Lake gelegen, tauft es in Reverenz an seine irische Heimat Lougbbreeye Beach und realisiert endlich seinen Traum einer florierenden Landkultivierung. Der verstrickten Geschichten der O'Malleys erinnert sich Esther, die Urenkelin Marys, die in den 1980er Jahren, im Sterben liegend, ihre letzte Nacht in dem Familienansitz am Great Lake verbringt. Als dominante Fokalisierungsinstanz rekapituliert sie die 140 Jahre zurückreichende Familiengeschichte, wie sie ihr selbst im Alter von zwölf Jahren von ihrer Großmutter Eileen erzählt wurde: „[Esther] will not sleep on this final night, instead she will tell herself the long story until dawn, the way old Eileen had told it to her during after-school twilights. [...] Esther [...] will work all night whispering in the dark." (S. 21) Gleich zu Beginn stellt Esther die Bedingungen ihres Erinnerungsaktes heraus, nämlich die für Gedächtnisromane konstitutive Dialogizität: Es ist der imaginäre Dialog mit Eileen, der die Voraussetzung für die Reaktualisierung der gruppenspezifischen Erinnerungserzählung und für die Stabilisierung der spezifischen Kollektividentität schafft. Dass Eileens kommunikative Weitergabe ihrer Erinnerungen an Esther eben auf diese Kontinuierung des Gruppengedächtnisses und auf die hiermit verbundene Herstellung von sozialer Integration abzielt, verdeutlicht das folgende Zitat: „[Esther] is recomposing, reaffirming a lengthy, told story; recalling it; calling it back. She also knows that by giving her this story all those years ago her grandmother Eileen had caused one circle of experience to edge into the territory of another." (S. 133) Esthers Erinnerung an die gruppendistinkte Geschichte wird zu einem Akt der
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Affirmation von Gemeinschaft. Durch den Prozess des ,re-membering' bezeugt sie ihre Gruppenzugehörigkeit und stellt damit den Fortbestand der gruppenspezifischen Narration, der .ongoing narrative', sicher, die die einzelnen Mitglieder über Generationen hinweg in eine gemeinsame Realitätssicht verwickelt. Auf eine für kommunale Gedächtnisromane typische Weise entfaltet Away damit eine Semiotik der Interrelation von individueller und kollektiver Gedächtnisbildung: Das überindividuelle Gedächtnis ist zu seinem Fortbestand auf das individuelle Gedächtnis, in dem sich das Erleben der Erinnerung vollzieht, angewiesen; umgekehrt können personengebundene Gedenkakte zur Stabilität des Kollektivgedächtnisses beitragen, weil sie durch gruppenspezifische Bezugsrahmen geprägt sind. Im Gegensatz zu Eileen, die ihre Geschichte mit Esther teilte und damit ein soziales Band zwischen Sprecher und Zuhörer knüpfte, führt Esther einen Erinnerungsmonolog. Als letztes noch lebendes Familienmitglied entbehrt ihre Geschichte eines Adressaten. Gleich einem irischen, mittelalterlichem Barden vergegenwärtigt sie die gruppenspezifischen Gedächtnisinhalte und -formen im einsamen Gespräch mit sich selbst: Esther lying still in her sleigh-bed feels like an Irish poet f r o m a medieval, bardic school. She is aware that those men and women lay in their windowless cells for days, composing and then memorizing thousands o f lines, their heads wrapped in tartan cloths, stones resting on their stomachs. Esther [...] shares with the old ones a focused desire. Nothing should escape. Line after line must be circulated by memory among the folds o f the brain. (S. 133)
Mit dem Verweis auf die irische Bardentradition erinnert Esther an ihren kulturspezifischen Hintergrund und setzt diesen in einen identitätsrelevanten Bezug zu ihrer eigenen, aktuellen Situation. Durch die explizite Akzentuierung, dass nichts von ihrer Geschichte verloren gehen dürfe, und die gleichzeitige Offenlegung, dass die Kontinuierung der Familiengeschichte mit ihrem anstehenden Tod auf dem Spiel steht, wird die Verantwortung für das Nichtvergessen implizit auch an die Leserinnen delegiert. Die Rezipienten werden in den Akt des ,re-membering' involviert, der dem Vergessen entgegenwirken soll. Angesichts der Gefahr des Vergessens bekräftigt der Roman die Notwendigkeit des Erinnerns, aus der heraus er selbst entstanden ist. Esthers explizite, metanarrative Reflexionen über die Bedingungen und Ziele ihres Erinnerungsaktes werden zum Ausgangspunkt der Entfaltung eines vielschichtigen Gedächtnisnarrativs, das Einblick in zentrale Episoden der Familiengeschichte der O'Malleys liefert und so einen kontinuitätsstiftenden Bogen von den Erfahrungen ihrer Urgroßmutter Mary im Jahre 1842 über die ihrer Großmuter Eileen bis hin zu ihrer eigenen Gegenwart im ausgehenden 20. Jahrhundert spannt: ,,[S]he knows that what she wants is to give shape to one hundred and forty years. She wants to reconstruct the pastures and meadows that have fallen into absence" (S. 21). Sie verortet sich im Kontext der Gedächtnisgemeinschaft und unterstreicht die anhaltende Bedeutung, die der Kollektiwergangenheit für ihr individuelles Identitätsverständnis zukommt. Diese Bedeutung resultiert vor allem daraus, dass Esther ihre eigene Vergangenheit als Teil einer über Generationen hinweg gleich
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bleibenden, gruppenspezifischen Erfahrungsrealität visualisiert. Diese wahrgenommene transgenerationale Gleichartigkeit der Erfahrung aller (weiblichen) Familienmitglieder schweißt diese fast zwangsläufig zu einer Gemeinschaft, zu einer monolithischen Entität zusammen: „In this famliy all young girls are the same young girl and all old ladies are the same old lady." (S. 325) Der Einzelne scheint völlig in der übergeordneten Kollektividentität aufzugehen, wodurch der unauflöslichen, quasi-natürlichen Zusammengehörigkeit der Gruppe Ausdruck verliehen wird. Die Vielzahl von Gruppenmitgliedern verschmilzt zu einem einzigen, repräsentativen ,Wir'. Diese Kommunalität findet in der Gestaltung der Erzählsituation einen ebenso prägnanten wie innovativen Niederschlag. So tritt Esther nicht nur als dominante Fokalisierungsinstanz ihrer individuellen Vergangenheit in Erscheinung. Indem sie Einblick in die Wahrnehmungsweisen der einzelnen Gruppenmitglieder bietet, fungiert sie vielmehr auch als Vermittlungsinstanz der gruppenspezifischen Erinnerungen. Im Laufe der Erzählung tritt Esther als Fokalisierungsinstanz mehr und mehr in den Hintergrund, so dass das Vergangene auf der Figurenebene aus der Perspektive von verschiedenen, zur Gedächtnisgemeinschaft gehörenden Fokalisierungsinstanzen szenisch zur Darstellung gelangt. Die Kommunalität der Erfahrung wird vor allem dadurch herausgestellt, dass die Erinnerungserzählung und die alternierende Fokalisierung an den Bewusstseinshorizont Esthers gebunden bleibt, sie mithin diejenige — quasi auktoriale — Instanz ist, die Einblick in die Bewusstseinsvorgänge der verschiedenen Figuren liefert. Die spezifische Gesaltung der erzählerischen Vermittlung impliziert, dass Esther — als Trägerin des Kollektivgedächtnisses — über ein perfektes Wissen von den Erfahrungen, Motiven und psychischen Dispositionen der einzelnen Gruppenmitglieder verfügt. Das Gruppengedächtnis ist nicht die Summe isolierter Erinnerungen, sondern konstituiert sich erst durch vielfältige Interrelationen der einzelnen Figuren und ihrer Wahrnehmungsweisen. Die für die communal mice kennzeichnende Repräsentativität bzw. ihre .Autorisierung durch das Kollektiv' (vgl. Lanser 1992, S. 21) könnte kaum markanter herausgestellt werden. Esthers Erzählung aktiviert die irische bzw. gälische Erzähltradition, deren eigenständiges, mythopoetisches Repertoire und nutzt dieses bewusst für die literarische Selbstrepräsentation der Gedächtnisgemeinschaft; Referenzen auf formale und inhaltliche Besonderheiten ihres kulturspezifischen Hintergrunds ziehen sich leitmotivisch durch ihre Narration. Dieser kulturspezifische Bezug wird schon durch eine dem Roman vorangestellte irische Triade gestiftet: „The three most short-lived traces: the trace of a bird on a branch, the trace of a fish on a pool, and the trace of a man on a woman." (o. S.) Diese drei .Spuren' sind für die Erzählung insofern richtungsweisend, als sie als Uberschriften der drei Kapitel fungieren und dort jeweils narrativ erschlossen werden. Dass somit das übliche chronologische (und hiermit teleologisch-progressive) Gliederungsprinzip von Gedächtniserzählungen durch sinnverdichtete Erinnerungsfiguren der irischen Kultur substituiert wird, verweist auf einen zentralen Mechanismus der Gedächtnisbildung: Das Ver-
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gangene wird in seinem Konstruktionsprozess zu einem vereinheitlichenden, temporale Differenzen und historische Brüche überbrückenden Mythos verdichtet. Erinnert werden nicht chronologisch distinkte Zeiten, sondern symbolisch angereicherte Bedeutungskomplexe bzw. .Zeitinseln' der Kollektiwergangenheit. Den .Spuren' kommt die Funktion eines übergeordneten, mnemonischen Leitmotivs zu, das die heterogenen Erfahrungen der Familienmitglieder metonymisch zueinander in Bezug stellt und auf diese Weise semantisch kondensiert zusammenhält.288 So können alle drei Kapitel als Variationen auf das dominante Motiv des Romans, den keltischen Mythos des ,being away' und hiermit als Reaktualisierung der gruppenspezifischen, auf die ursprüngliche Heimat Irland zurückverweisende kulturelle Folkloretradition gelesen werden. Die Integration übernatürlicher und phantastischer Elemente, die auch innerhalb der dargestellten Realität selbst wirksam werden, reaktiviert ein magisches Weltbild und läuft herkömmlichen Grenzziehungen zwischen Kultur und Natur, Mythos und Logos entgegen. Durch die erzählerischen Wiederholungen, Parallelismen, die rituelle Sprachgestaltung und die Rhythmisierung werden Besonderheiten eines primär kommunikativ tradierten Gruppengedächtnisses evoziert und die sich über Generationen hinweg erhaltenden Ähnlichkeiten zwischen den Familienmitgliedern akzentuiert. Das erste Kapitel „A Fish on a Pool" exploriert Marys Erfahrungen auf der irischen Insel Rathlin, ihre mysteriöse Begegnung mit ihrem unterweltlichen — „from an otherworld island" (S. 8) stammenden - Liebhaber. Dieser strandet in Folge eines Schiffsbruchs an der Küste, stirbt dort in Marys Armen — nicht ohne sie zuvor in ,Moira' umzubenennen — und wird fortan zu ihrem „demon lover" (S. 45). Als eine Person, die nunmehr „away" ist und somit zwischen den Welten lebt, wird Mary — gemäß der keltischen Mythologie - symbolisch selbst zu einem Fisch. Der Fisch fungiert in der keltischen Mythologie als Sinnbild der Demimonde, der „hidden tribes of the Tuatha de Oannatt (the people of the ancient Mother Goddess)" (Birch 1997, S. 116). Auch ihre Ehe mit dem skeptischen, wenig abergläubischen Schullehrer Brian vermag es nicht, sie aus ihrem Dasein in der Zwischenwelt zurückzuholen - sie bleibt „away": „Only traces of her previous self, her previous life remained when she was not by the sea. Fragments. [...] And herself a mere memory of herself." (S. 47) Auch im zweiten Kapitel „A Bird on a Branch", das die entbehrungsreichen Pioniererfahrungen der O'Malleys in Upper Canada schildert, werden die unterschiedlichen Facetten des .being away' zum zentralen Thema. Erstens folgt Mary hier ihrer inneren Obsession, verlässt ihren Mann, ihren Sohn und ihre neu geborene Tochter Eileen und zieht an die Ufer des Lake Moira, um dort an der Seite ihres acherontischen Liebhabers zu leben. Zweitens legt dieses Kapitel die generationsübergreifenden Ähnlichkeiten zwischen Mary und ihrer Tochter Eileen offen. So verfügt auch Eileen über übersinnliche Fähigkeiten und fühlt sich ebenso 288 Vgl. Wyile (1999a, S. 28), der zu einem ähnlichen Schluss gelangt: „(T)he section titles give a metaphoric cast to each stage of the family history, and effect a kind of narrative containment of the historical within the personal, the poetic, and the mythical."
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wie ihre Mutter auf unumgängliche Weise zum Wasser hingezogen: „A forest child, Eileen was disturbed by the immense fact of the lake. [...] But mostly she was disturbed by its familarity; her sense that she was related to it in ways she couldn't understand." (S. 239) Schließlich werden in dem dritten Kapitel „The Trace of a Man on a Woman" mit Eileens Liebe zu dem irischen Patrioten Aidan Lanighan ihre Erfahrungen des .being away' dargestellt und in einen unmittelbaren Bezug zu den Erlebnissen ihrer Mutter gestellt. Schon die Beschreibung des irischen Revolutionärs und vor allem Eileens Gefühl der unmittelbaren Vertrautheit erinnern an die Erlebensweise ihrer Mutter, die bei ihrer ersten Begegnung mit ihrem unterweltlichen Liebhaber ganz ähnlich reagierte (vgl. S. 290f.). Eileens Liebe zu Aidan veranlasst sie dazu, sich nunmehr vollständig dem bereits durch ihren Vater entfachten irischen Nationalismus zu verschreiben und sich zur passionierten Fürsprecherin der auch in der Neuen Welt marginalisierten Gruppe der irischen Katholiken zu machen: ,„Our people ... the oppression ... the injustice'" (S. 310). Erst Eileens tragische Mitverantwortung an der Ermordung von D'Arcy McGee, ehemaliges Mitglied der irischnationalistischen Fenier und nunmehr Befürworter der kanadischen Konföderation, entlässt sie aus dem Bann Lanighans und veranlasst sie zu der Einsicht, dass ihre Liebe ihr eigenes ,being away' besiegelte: „So this is what it is to be away, her mother's voice told her. You are never present where you stand. [...] Your flagstones are a series of dark lakes that you scour, and the light that touches and alters them sends you unspeakable messages. [...] Each corner is a secret and your history is a lie." (S. 345) Offenbar geht der Zustand der psychischen Absenz mit einem tief greifenden Identitäts- und Orientierungsverlust einher, der in der Unfähigkeit, der eigenen Geschichte adäquaten Ausdruck zu verleihen, seinen deutlichsten Niederschlag findet. Das zentrale Motiv des ,being away' bringt folglich über gruppenspezifische Gedächtnisinhalte hinaus auch den engen Nexus von psychischer/physischer Dislokation und der Destabilisierung des eigenen Selbstverständnisses zur Darstellung. Die durch die transgenerationalen Repetitionen bzw. durch Korrespondenzbezüge zwischen den weiblichen Figuren als familienspezifisch inszenierte Tendenz zum ,being away' setzt sich bis in die Gegenwart, also bis zu Esther fort. Auch ihr ist dieses Gefühl vertraut und auch sie fühlt sich auf unerklärliche Weise zum Great Lake hingezogen und pflegte zumindest zeitweilig eine amouröse Beziehung zu einem acherontischen Seemann. Ebenso wie in No Great Mischief wild damit auch in Away die iterative Handlungsstruktur dazu genutzt, die Zusammengehörigkeit der Familie in fast essentialistischer Weise zu bekräftigen und ihre über Generationen hinweg gleich bleibende Identität vor Augen zu führen. Die Evokation phantastischer Elemente revitalisiert ein an mythische Traditionen nichtwestlicher Kulturen anknüpfendes Weltverständnis, das rationalmodernistische Weltbilder in Frage stellt und bewusst zur aktiven Selbstbestimmung der gälischen Iren funktionalisiert wird. Die extensive Integration von mythischen Elementen sowie die Aktualisierung des ,being away'-Mythos als ein form-
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gebendes Prinzips bringen gruppenspezifische Gedächtnisinhalte, Erfahrungen, Kollektiworstellungen und Normen verdichtet zur Anschauung.289 Auf eine für kommunale Gedächtnisromane typische Weise werden in Away die erinnerungskulturellen Prozesse der Aktualisierung und Aneignung kollektiv geteilter Deutungsmuster inszeniert: Zur Formgebung ihrer Kollektiwergangenheit greift Esther auf gruppenspezifische Kodierungsschablonen zurück, bringt die Heterogenität des Vergangenen damit in eine sinnstiftende Form und schafft so auch die Voraussetzung für die rezipientenseitige Kontinuierung des gruppenkonstitutiven Gedächtnisbestandes. Gerade weil der gruppenspezifische Mythos des .being away' nicht nur inhaltlich aufgerufen wird, sondern sich auch in der formalen Gestaltung der Narration niederschlägt, er also als kohärenzstiftendes Organisationsprinzip figuriert, kann er eine besondere erinnerungsprägende Wirksamkeit entfalten. Das erinnerungssymbolische Motiv des ,being away' steht in Urquharts Roman im engen Zusammenhang mit der kulturellen Marginalisierung der katholische Iren im 19. Jahrhundert und den nachfolgenden Erfahrungen der kulturellen Entwurzelung und identitären Entfremdung in der kanadischen Diaspora.290 Ebenso wie in No Gnat Mischief liefern auch in Away die Raumdarstellung, die Landschaftsschilderung sowie die räumlichen Oppositionen wichtige Hinweise auf kulturspezifische und identitätsprägende Erfahrungen. Schon in Irland werden die O'Malleys angesichts ihres Glaubens durch die englische Monarchie zu Fremden in ihrer eigenen Heimat. Das Gefühl der kulturellen Entwurzelung konkretisiert sich für die irische Bevölkerung im fast wörtlichen Sinne in der erzwungenen Veränderung ihrer heimischen Landschaft, nämlich in der — durch die englische Monarchie befohlenen — Rodung ihrer Wälder. Dass der Verlust des eigenen Landes zugleich einen kulturellen Orientierungsverlust bedeutet, verdeutlicht die rituelle Inszenierung eines Liedes, mit der die gälische Gemeinschaft der „vanished woods of Ireland" (S. 107) gedenkt: Ο bonny Portmore, you shine where you stand, And the more I think on you, the more I think I long. If I had you now, as I had once before, All the Lords in old England would not purchase Portmore. (Ebd.)
289 Angesichts der extensiven Integration von mythischen Elementen wird Away auch als eine Ausprägung des magischen Realismus gelesen. Einen Überblick über die gattungstheoretischen Implikationen bietet Wyile (1999a). 290 Diesen Zusammenhang zwischen dem „being away" und fremden Territorien macht Brian explizit: „Something had claimed his wife as she had been claimed once before; some other history or geography had taken her away." (S. 162) In welchem Maße außerdem Bewusstseinszustände und Identitäten mit der Landschaft verwoben sind, wird nicht nur durch Esthers Gleichsetzung von „landscapes, states of mind" (S. 3) deutlich, sondern auch durch Marys regelrechte Verinnerlichung der Landschaft: „This coarse beauty — the ragged island offshore and the dark tumble of difficult costal landscape — was implanted in her bones, making her sure-footed on its surfaces." (S. 82)
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Die in dem Lied besungene Verlusterfahrung und das hierauf aufbauende Gefühl der kulturellen Destabilisierung bringt Mary mit ihrer nachfolgenden Feststellung explizit auf den Punkt: „It was not of her own landscpae - the earth beneath her feet - that the lone woman sang, but of a lost world that encompassed all losses." (Ebd.) 291 Die Beschreibung dieser Landschaft ist ein für den kommunalen Gedächtnisroman typisches Beispiel für die Semantisierung des Raums, die der gruppenspezifischen Erfahrung der gesellschaftlichen Dezimierung Ausdruck verleiht. D a räumliche und identitäre Stabilität Hand in Hand gehen (vgl. S. 167), wird der Verlust des eigenen Raums in Away zum leitmotivischen Ausdruck der Zerstörung der eigenen kulturellen Identität. Nachdem sich das Leid der irischen Bevölkerung mit dem potato famine dramatisch verschärft, drängt ihr Landherr Osbert die O'Malleys zur Emigration: „,You must go away [...] emigrate to Canada.'" (S. 124) Der Zustand der psychischen Abwesenheit wird nun zur tatsächlichen, physischen Emigration. Der Entschluss, in die britische Kolonie zu emigrieren, bringt Mary zu der Einsicht, dass sie mit ihrem Einzelschicksal nunmehr Teil einer globalen Migrationsbewegung ist: Then she saw the world's great leavetakings, invasions and migrations, landscapes torn from beneath the feet of tribes, the Danae pushed out by the Celts, the Celts eventually smothered by the English, warriors in the night depopulating villages, boatloads of groaning African slaves. Lost forests. The children of the mountain on the plain, the children of the plain adrift on the sea. And all the mourning for abandoned geographies. (S. 128) Auch diese Reflexion stellt deutlich heraus, in welchem Maße die Möglichkeit der kulturellen Orientierung an die Verfügbarkeit eines heimischen Raums gebunden ist. Ebenso wie Mary/Moira durch ihren inneren Zustand des ,being away' nur noch ein Replikat (vgl. S. 26), „traces of her previous self' (S. 47) bzw. „a mere memory of herself (ebd.) ist, so bleiben auch von den deplatzierten Völkern nur noch Fragmente bzw. Spuren ihres ursprünglichen, gemeinschaftlichen Daseins. Das „mourning for abandoned geographies" (S. 128) kulminiert mit der Emigration der O'Malleys nach Kanada, wo ihnen in den Hastings Countries (vgl. S. 138) ein Grundstück zuteil wird. Anstatt des erhofften Paradieses erwartet sie hier unkultiviertes Land, das mit seiner undurchdringlichen Vegetation zum Anlass von Furcht und Unbehagen wird: ,,[T]hey were filled with dread, knowing themselves to be in a region where nothing at all was constructed and everything was engaged in haphazard growth. [...] N o w they were terrified of the paradise they had imagined." (S. 139f.) Uber die Semantisierung des Raums wird in Away eine fur kommunale Gedächtnisromane kennzeichnende Erfahrung der Desillusionierung diasporischer Minoritäten inszeniert, also die schmerzhafte Einsicht, dass das selbst gewählte Exil nicht Paradies, sondern ein feindlicher und destabilisierender Raum ist. Die räumliche Opposition Heimat/Exil wird nicht zum Modell der von vielen 291 Vgl. zu dieser Verlusterfahrung auch: ,,[E]ach man, woman, and child was composing a poem of farewell to a landscape they had believed would hold them forever." (S. 129)
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Immigranten erhofften semantischen Oppositionen Elend/Erlösung bzw. Armut/Reichtum; im Gegenteil wird die topologische Parallelisierung zum paradigmatischen Ausdruck der anhaltenden Benachteiligung. Auch in den folgenden Jahren schlagen alle Bemühungen fehl, das Land zu kultivieren und es so zur sicheren Lebensgrundlage zu transformieren. Erst als Liam nach dem Tod seines Vaters eine geologische Landkarte zu Rate zieht, begreift er die Ursache für diese Unkultivierbarkeit. Ihr Grundstück ist auf dem felsigen Landstrich des Kanadischen Schilds gelegen: „[The Canadian Shield] had been put there by an ice age that would never happen again, it would be there for all time, and it was made of solid rock. [...] Liam looked up from the map and was confronted with the Irish word for famine" (S. 208f.). Auch durch die unmittelbare Assoziation der kanadischen Landschaft mit dem irischen Wort für .Hungersnot' wird der Raum zu einem materialen Ausdrucksträger der irisch-katholischen Geschichte stilisiert. Ebenso wie in Irland konkretisiert sich die Marginalisierung für die O'Malleys auch in Kanada nicht nur in der prekär infertilen Landschaft. Vielmehr wird auch ihr katholischer Glaube zum Anlass erneuter gesellschaftlicher Ausschließungen bzw. Grenzziehungen und damit zur Fortsetzung der „long history of the persecution of the Irish race" (S. 198). Der Antikatholizismus schlägt sich auch in der Neuen Welt im Ausschluss der Iren vom öffentlichen Leben nieder: „[Brian] was troubled by the presence of flourishing Orange Halls in his own country, knowing that many of his Protestant neighbours had taken the pledge to eliminate Catholicism wherever they might find it." (Ebd.) Im noch prä-konföderalen Kanada werden die O'Malleys zum kulturellen Anderen und schließlich fast vollkommen vom öffentlichen Diskurs ausgeschlossen, als Brian aufgrund seines katholischen Glaubens und seiner kulturspezifischen Traditionspflege vom Schuldienst entlassen wird: [T)n J u n e o f 1 8 6 6 , when a small band o f Fenians stumbled over the border f r o m the United States, determined to fight f o r Ireland [...] their sad, ineffectual skirmishes caused such a widespread outbreak o f anti-Irish sentiment that the Board o f Trustees for Madoc Township voted unanimously that Brian should be retired f r o m active duty. (S. 201 f.)
Soziale Hierarchisierungen gliedern den Raum in „zwei disjunkte Teilräume" (Lotman 1972, S. 327), die klare Grenzen zwischen kultureller Majorität einerseits und Minorität anderseits markieren. Die gewaltsame Zerstörung der Landschaft setzt sich bis in die Gegenwart von Esthers Erinnerungsakt fort. Zwar materialisieren sich die verschiedenartigen Fragmente der gruppenspezifischen Vergangenheit in den Gesteinsschichten der Landschaft von Loughbreeze Beach: „Under the sand of the peninsula that reaches out into the lake there exist rooms whose wallpaper depicts bridges, willows, and streams - the scenery of a foreign land." (S. 19) Allerdings sind eben diese Landschaft und mit ihr die Geschichten der Vergangenheit zunehmend von Zerfall und gewaltsamer, zivilisatorischer Zerstörung betroffen: „In Esther's lifetime she has seen architecture die violently. It has been demolished, burned, ripped apart, or
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buried. Nothing reclaims it." (S. 135)292 Während Esther ihre Erinnerungen rekonstruiert, wird im Hintergrund stetig Kalkstein abgebaut, ein Prozess, der zu der sukzessiven Destruktion und Ausbeutung der sie umgebenden Landschaft fuhrt, zu einer „annihilation of the geography of Loughbreeze Beach" (ebd.). Die Minenarbeiter der Nachtschicht sind nicht Symbol der Freilegung vergessener und verschütteter Gedächtnisschichten, sondern einer unreflektierten und gewaltsamen Auslöschung des Vergangenen: „They represent the most dangerous kind of shape changers: those who cannot see, because of darkness, beyond the gestures of the moment." (S. 238) Durch die .Transformation der lebendigen Landschaft in Zement* (vgl. Compton 1998, S. 213) steht auch die Kontinuität und die Erinnerbarkeit der gruppenspezifischen Vergangenheit auf dem Spiel, die eben dieser Landschaft eingeschrieben ist. Übrig bleiben nur mnemonische Spuren, eben die .shortlived traces', die auch in dem vorangestellten irischen Gedicht beschworen werden und die es vor dem Vergessen zu bewahren gilt. Indem Esther die Erfahrung der Zerstörung des eigenen Lebensraums, der „lost forests" (S. 128), der kulturellen Entwurzelung und anhaltenden gesellschaftlichen Marginalisierung der O'Malleys und in einem weiteren Sinne der irischkatholischen Bevölkerung fokussiert, entwirft sie eine ,archäologische Topik der Erinnerung', die der topographischen Destruktion und dem damit verbundenen Vergessen entgegenzuwirken versucht. Durch die Rekonstruktion der verfügbaren fossilen Reste (vgl. S. 20f.), der „fossilized narratives" (S. 356) und der landschaftlichen Fragmente (vgl. S. 266) bringt Esthers Erinnerungserzählung „Ireland's lost voice" (S. 203), d.h. die vergessenen Geschichten dieser diasporischen Gruppe zu Gehör und verankert diese — qua extensiver Semantisierung des Raums - in einer imaginären Landschaft (vgl. S. 4, 11). Die Erzählinstanz heftet ihre Erinnerungen den von Zerfall und gewaltsamer Transformation bedrohten Orten an und lädt diese damit mnemonisch auf. Im Sinne einer „farewell to a landscape" (S. 12) wird der Raum somit zur überdauernden Vermittlungsinstanz der gruppenspezifischen Erfahrung, die die Kontinuität des Kollektivgedächtnisses begünstigen soll. Zu dem Wirkungspotential einer repräsentativen und authentischen Erinnerung an die schmerzlichen Geschichten der irischen Katholiken trägt in vor allem die interne Fokalisierung bzw. die Inszenierung von gruppenspezifischen Wahrnehmungsmustern bei. Esthers Narrativ zeichnet sich durch eine multiperspektivische Vermittlung aus, durch eine alternierende interne Fokalisierung des Vergangenen. Interne Fokalisierung leistet einen wesentlichen Beitrag zur Subjektivierung einer vorgängig in Vergessenheit geratenen, entsubjektivierten Geschichte. Darüber hinaus verleiht dieses Darstellungsverfahren der anhaltenden, bis in die Gegenwart fortwirkenden Virulenz der Vergangenheit Nachdruck: 292 Vgl. zur Zerstörung der Erinnerungslandschaft auch folgende Reflexion Esthers: „Esther thinks of the million-year-old fossils that decorate these stones and how the limestone record of their extermination has brought about the demise of her own landscape, the enormous hole in the earth, the blanket of concrete dwellings that is obliterating the villages she knew as a child." (S. 20f.)
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While [Lanighan] caressed [Eileen] she told herself the brief, brutal story o f his life, c o m p o s e d partly o f the things the captains had said to her and partly o f the songs she had sung, innocendy, as a child. [...] She believed everything, the urgency o f his body, the touch o f his hands, the pressure o f his mouth, the insistence o f the narrative that ran and ran in her mind. In his arms she was assaulted, stolen, by a learned mythology. (S. 259)
Die detailgenaue Wiedergabe vergangener Eindrücke und Emotionen trägt zur Illusion einer gelebten Vergangenheit bei und suggeriert einen unmittelbaren Einblick in die authentischen Vergangenheitserfahrungen der Gruppenmitglieder. Die einzelnen, von Esther im Laufe ihrer Gedächtniserzählung präsentierten Perspektiven vermitteln je verschiedene Aspekte des Vergangenen, aus denen sich für den Rezipienten allmählich - gleich einer kollektiven Gedächtniscolkge - ein übergeordnetes Bild der gruppenspezifischen Kollektiwergangenheit ergibt. Durch die variable interne Fokalisierung des Vergangenen entsteht ein Gewebe von sich wechselseitig stützenden und ergänzenden Erinnerungsperspektiven, das die Kommunalität der Erfahrung eindrucksvoll vor Augen führt. Die Erinnerungen an die Vergangenheit sind keine abgrenzbaren Entitäten; vielmehr entfalten sie ihre Wirksamkeit über die Bewusstseinsgrenzen des Einzelnen hinaus und werden erst in dem Geflecht von Korrelationen und Interdependenzen bedeutsam. Gestützt wird die Inszenierung einer geteilten Vergangenheit durch die Integration eines breiten Spektrums unterschiedlicher Stimmen irisch-kanadischer Bürger, das panoramischen Einblick in das Schicksal der community bietet. Das mnemonische Stimmenspektrum reicht von den Besitzern des Seaman's Inn, die das Britische Empire als Quelle ihrer Misere ansehen (vgl. S. 252), über Mr. Dohertys Verweis auf die lange Leidensgeschichte der Iren (vgl. S. 276) und der schlaglichtartigen Darstellung ihrer Diskriminierung im öffentlichen Raum „ I R I S H N E E D N O T A P P L Y " (S. 340) bis hin zu Aidan Lanighans Schilderung der anhaltenden Ausbeutung von irischen Arbeitern: ,My father worked on the bridge out there [...] and once when they were sinking a piling they came to s o m e bones, and then more bones, and more bones. They'd found the mass grave, you see, where thousands o f us were thrown. Everyone working on the bridge was Irish, so it was their own brothers and children and wives they were uncovering.' (S. 314)
E s ist die sich sukzessive einstellende, gegenseitige Validierung der einzelnen Perspektiven und Erinnerungsstimmen und die so erreichte Engführung auf einen sinnhaften Schwerpunkt des Kollektivgedächtnisses, die die Kommunalität der Erfahrung nachdrücklich zur Geltung bringen. Die Polyphonie der Perspektiven und der Dialog der Stimmen münden in einen übergeordneten, verbindenden und verbindlichen Fluchtpunkt, der der ,Wir-Identität' der kanadischen Iren wirkungsvoll Ausdruck verleiht. Diese übergreifende Konstruktion der kollektiven Vergangenheit ist nicht von einzelnen Individuen zu leisten, sondern ergibt sich erst aus deren vielfältigen Wechselwirkungen. Die Stimmen, Erinnerungen und Wahrnehmungen bilden ein Netzwerk von Beziehungen, das sich einer willkürlichen Frag-
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mentierung — von der der Roman handelt — entzieht und das eine Regeneration einer nunmehr ganzheitlichen community ermöglicht (vgl. Zapf 2002, S. 179). Gegenüber herkömmlichen Vergangenheitsdeutungen, die die europäischen Kolonisatoren als monolithische, gesellschaftlich sowie ökonomisch privilegierte Gruppe visualisieren, die bei der Konstruktion der kanadischen Nation ihre ethnisch exklusiven Interessen durchsetzte (vgl. Smart 1994, S. 64), entfaltet Λη/ay ein Gegengedächtnis, das gesellschaftlich verdrängte Aspekte in den Mittelpunkt stellt. Der Text lenkt das Augenmerk auf die leidvolle Geschichte der irischen Bevölkerung und zeigt, dass die Täter des Kolonialismus in gewisser Hinsicht auch seine Opfer waren. Gegenüber der konventionalisierten kategorialen Trennung von Opfer und Täter der kanadischen Kolonialisierung versucht der Roman, Parallelen und Wechselwirkungen zwischen gemeinhin kulturell getrennten Gruppen auf komplexe Weise neu zu bestimmen. Zur erzählerischen Begünstigung und Plausibilisierung dieses partikularen Gegengedächtnisses, das des Opferstatus der irischen Immigranten gedenkt, trägt nicht zuletzt die sich leitmotivisch durch den Roman ziehende Parallelisierung des Schicksals der Iren mit dem der indigenen Bevölkerung Kanadas bei. Nachdem Mary die Geschichte ihres Volkes mit Exodus Crow, einem Angehörigen der Ojibway teilt, sie „the stolen lands [...], lost language and the empty villages" (S. 184) lamentiert, erkennt er in ihren Erinnerungen die Vergangenheit seines eigenen Stammes wieder: ,)rAnd so I told her [...] that some white men had seized my people's land and killed many animals for sport and abused our women.'" (S. 184f.) Die Erfahrungen der autochthonen Bevölkerung können als paradigmatisches Beispiel für eine vorerst gesellschaftlich verdrängte Erinnerungsversion angesehen werden, mit der sich immer stärker das Bewusstsein für eine allgemeine moralische Pflicht zu erinnern verbindet. Vor diesem Hintergrund stellt die Parallelisierung der Erfahrung der irischen und indigenen Bevölkerung eine wirkungsvolle Strategie dar, um den Anspruch auf Gültigkeit der inszenierten irischen Gegenerinnerungen zu unterstreichen und herkömmliche, simplifizierende Dichotomisierungen von Kolonisatoren und Kolonisierten zu konterkarieren: Das zu etablierende irische Gegengedächtnis macht sich das subversive Potential der Erinnerungen der autochthonen Bevölkerung zu Eigen, um seinem eigenen Anspruch auf gesellschaftliche Repräsentation Geltung zu verleihen. Die anhaltenden kulturellen Diskriminierungen sowie der sich verbreitende Antikatholizismus im Kanada der Präkonföderationsära veranlassen viele irische Immigranten dazu, sich mehr und mehr auf die Pflege von kulturspezifischen Riten zurückzuziehen und ihr Identitätsbewusstsein in ihrer singulären Vergangenheit, nicht aber in ihrer Gegenwart in der .Neuen Welt' zu verankern. Zahlreiche irische Katholiken, vor allem Assoziierte der Fenier, pflegen in Kanada auf bisweilen aggressive Weise ihre spezifisch gälischen Geschichten und Riten und erinnern sich in nostalgischer Manier ihrer verlorenen Heimat. Insbesondere Brian und seine Tochter Eileen wenden sich zur Vergewisserung ihres Selbst- und Weltverständnis-
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ses verstärkt ihrem kulturellen Erbe zu und versuchen durch diese Gedenkrituale ihr Gefühl der sozialen Isolation und Orientierungslosigkeit zu kompensieren: [Brian] knew his hero, D'Arcy McGee [...] had entered Canadian politics [...]. This gave Brian some comfort; this and the Irish revolutionary songs he loved to sing to his children - songs with such heartbreakingly beautiful tunes that his daughter, Eileen, had committed them all to memory by the age of thirteen. On winter afternoons she cheerfully sang about the hanging of brave young men, wild colonial boys, the curse of Cromwell, cruel landlords, the impossibility of requited love, and the robbery of landscape [...]. (S. 199) Die Rezitation gälischer Gedichte und Lieder (vgl. S. 17, 31, 164, 285), das Erzählen kulturspezifischer Geschichten und Mythen, „the Celtic sages of ,old sorrows'" (S. 292), die Auffuhrung ritueller Tänze, „demanding space, territory, a promised land, hills" (S. 257) sowie die Verwendung der gälischen Sprache (vgl. S. 204, 206) fungieren für die irischen Katholiken als zentrales Instrument zur Stabilisierung ihrer Kollektividentität. Durch die rituelle Reaktualisierung der gruppenspezifischen Gedächtnisbestände verleihen sie ihrer Forderung nach gesellschaftlicher Anerkennung ihrer leidvollen Vergangenheit sowie ihren nationalen Interessen Ausdruck: „This was to be our nation, you see — that's at the heart of it. [...] Are we to be ignored, used as workhorses, as badly treated here as we were there?" (S. 255f.) Das gruppenspezifische Gedenken wird zu einem veritablen politischen Akt des Widerstands, der auf die Delegitimation der vorherrschenden Machtverhältnisse in Kanada und der Durchsetzung partikularer, irischer Interessen, der „Irish liberty and independence" (S. 283), abzielt. Erinnerungen und ihre gesellschaftliche Perpetuierung durch gruppenspezifische Gedächtnismedien (vgl. S. 285) werden als Machtinstrumente im Kampf um die Konstruktion der Nation funktionalisiert. Away ist hiermit auch ein hervorragendes Beispiel für das legitimatorische und kontinuitätsstiftende Potential von Intermedialität. So scheinen alle gruppenspezifischen Erinnerungen mit ihren verschiedenartigen Tradierungsformen und Wirkungspotentialen (von der Identitätsstiftung über die Kompensation des Orientierungsverlusts bis zum Akt des Widerstands) anzuklingen. Die einzelnen intertextuellen Referenzen stehen nicht unverbunden nebeneinander, sondern verbinden und intensivieren sich wechselseitig in vielfältiger Weise, womit der Roman zugleich einen Prozess der Vergegenwärtigung der „Ireland's lost voice and stolen poetry" (S. 203) leistet. Ebenso wie in MacLeods Gedächtnisroman bleiben auch in Away Identitätsund Gedächtniskonstruktionen, die ein allzu eindeutiges und auf Ausschluss ange · legtes ,Wir* reklamieren, die „oneness of the tribe, the imagined collective voice" (S. 330) unstrittig voraussetzen, nicht unhinterfragt. Bei aller Akzentuierung der Notwendigkeit, gruppenspezifische Vergangenheiten zu kontinuieren, führt Away auch vor Augen, dass solche gemeinschaftsstiftenden Praktiken Gefahr laufen, ein gleichberechtigtes Miteinander unterschiedlicher Gruppen zu verhindern. Die kritische Perspektivierung der starren Fortführung kulturspezifischer Besonderheiten wird in Away durch die — für kommunale Gedächtnisromane untypischen — kontrastiven Figurenperspektiven erreicht. Es ist Liam, Eileens Bruder, der das
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rigide Festhalten an gruppendistinkten Praktiken sowie den — in seinen Augen defätistischen Rückzug auf heimische Gedächtnisräume nachdrücklich in Frage stellt: 293 What was it that lodged the homeland so permanently and so painfully in the heart o f his father? [...] His father's stories, which had entertained him as a child [...] had left his centre untouched. But his sister, he knew, had ingested the stories, their darkness [...]. She who was born into a raw, bright new world would always look back towards lost landscapes and inward towards inherited souvenirs, while he sought the forward momentum o f change and growth, the axe in the flesh of the tree, the blade breaking open new soil. (S. 207f.)
Die Tradierung von gruppenspezifischen, auf die Heimat zurückverweisenden Praktiken interpretiert Liam als Rückwärtsgewandtheit; sie steht in seinen Augen dynamischen Veränderungen im Hier-und-Jetzt entgegen. Im Gegensatz zu Eileen leitet sich sein Selbstverständnis weniger aus seiner irischen Vergangenheit und gruppenspezifischen Tradition denn aus seiner kanadischen Gegenwart ab: ,„What does this Irish misery matter, Eileen? We're in Canada now, we're Canadian, not Irish.'" (S. 256) Zwar ist Liams Perspektive quantitativ denen von Eileen, Brian und anderen Gruppenangehörigen unterlegen; gleichwohl erhält seine Skepsis gegenüber der starren Fortfuhrung von ethnisch exklusiven Praktiken durch die Figurenkonzeption von Aidan Lanighan sowie die Darstellung der Ermordung des einflussreichen Politikers D'Arcy McGee zusätzliches Gewicht. In den Augen Eileens, Aidans und zahlreicher weiterer irischer Katholiken stellt McGee, ein ehemaliger irischer Nationalist und nunmehr Befürworter der kanadischen Konföderation, ein Verräter der irischen Interessen dar. In einer zukunftsweisenden Rede entfaltet McGee seine Vision von einem multikulturellen Kanada, das der ethnischen Diversifikation, der Vielfalt kultureller Stimmen, Erinnerungen und Identitäten gerecht werden soll: The country described by the speaker was one in which there would be no factions, no revenge for old sorrows, old grievances. Everything about it was to be new, clear; a landscape distanced by the ocean from the zones of terror. A sweeping territory, free o f wounds, belonging to all, owned by no one. (S. 337f.)
Eileen hat für die Zukunftsperspektive eines Landes, in dem den irischen Interessen kein privilegierter Platz zukommen soll, kein Verständnis: „ T o her, McGee was the worst kind o f enemy, the truly guilty" (S. 339). Leichtfertig lässt sie sich von einigen irischen Nationalisten instrumentalisieren und in einen Komplott gegen Anhänger der kanadischen Konföderation verwickeln. Durch ihr unreflektiert-
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Vgl. zu den Kontrastrelationen zwischen der Perspektive Liams und der Eileens die Feststellung Wyiles (1999a, S. 38): „Through the contrast between Liam and Eileen, Urquhart suggests the need in such a situation for moderate accommodation: Liam's attempt to slough o f f his Irish heritage comes across as a distorted, extreme assimilation, a form o f colonial cringe, whereas Eileen's clinging to a fetishized mythology is portrayed as a distorted, extreme resistance to a c c o m m o d a tion which has serious, potentially disastrous, consequences."
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patriotisches Verhalten wird sie unfreiwillig zur Mitverantwortlichen an der Ermordung von McGee. Die Darstellung der Ermordung McGees, eines bedeutsamen Gründungsvaters der kanadischen Konföderation, zeigt die brutalen Folgen einer aktivistischen und auf Ausschluss angelegten Durchsetzung einer monolithischen Gruppenidentität auf. Die komplexen Meinungsbildungsprozesse, in denen pluralistische Gesellschaften aushandeln, was überhaupt zum Gegenstand der kollektiven Kommemoration wird, werden bewusst unterlaufen. Das irische Erbe wird nicht als ein Teil einer übergeordneten kanadischen Erinnerungskultur visualisiert, sondern als ihr exklusiver Ursprung. Das Trachten nach Erinnerungshoheit führt unweigerlich zum Ausschluss anderer kultureller Gruppen aus dem öffentlichen Raum (sogar zur regelrechten Auslöschung Andersdenkender). Für eine gemeinsame Aushandlung von kollektiven Erinnerungen und Identitäten lassen solche monolithischen erinnerungspolitischen Strategien keinen Raum. Bietet demnach nur — wie von Liam nahe gelegt — das Vergessen gruppendistinkter Spezifika eine geeignete Grundlage für ein friedliches, multikulturelles Miteinander? Oder ist es möglich, kulturspezifische Charakteristika und partikulare Vergangenheitserfahrungen zur Geltung zu bringen, ohne den öffentlichen Gedächtnisraum zu monopolisieren? Jane Urquharts kommunaler Gedächtnisroman lässt diese Frage nicht unbeantwortet. Durch die Integration der Figurenperspektive Exodus Crows und deren Korrelation mit der Perspektive Marys führt der Roman auf innovative Weise Möglichkeiten vor Augen, der gruppendistinkten Geschichte zu gedenken, ohne die kulturelle Gedächtnis- und Identitätsvielfalt zu zerstören. Nachdem Mary/Moira bereits seit sieben Jahren verschwunden ist, taucht eines Tages Exodus Crow, Angehöriger der Ojibway, auf, um ihre Hinterbliebenen über den Tod Marys zu unterrichten und sie über die Ursache ihres mysteriösen Verschwindens aufzuklären (vgl. S. 176). Ausfuhrlich schildert Exodus Crow die wundersame — in der keltischen Tradition verwurzelte — Geschichte Marys, ihre Liebe zu dem Geist des Sees Moira und ihre spirituelle Verbundenheit mit anderen Geistern, den „.others'" (S. 180): „She told him about Finn Mac Cumhail and the Fianna, about Finn's great dog Bran, and about the poet Oisin who had disappeared into Tir na n 0 g , the land of the young" (S. 179). Exodus Crow kann Marys Legenden Glauben schenken, weil er diese in einen Dialog mit dem mythopoetischen Repertoire seines eigenen Volkes treten lässt. Marys Erinnerungen werden für ihn zum Spiegel seines kulturspezifischen Vergangenheitsverständnisses: „Exodus did believe because, he said, it was as if his own mother were telling the stories of the spirits. [...] [A]nd he knew, as he had said to Liam, that this woman was blessed with manitou, and because of what she had told him he felt a great kinship with her." (S. 180) Die Kontinuierung von heimischen Traditionen, das Erinnern von kulturspezifischen Besonderheiten werden im Fall von Mary und Exodus Crow nicht zum Anlass von Ausschließungen oder Homogenisierungen; im Gegenteil legen sie ganz im Sinne von Leonard Cohens Diktum ,let us compare mythologies' — den Grundstein für die Herstellung von Gemeinsamkeiten und Gemeinschaft. Durch
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ihre wechselseitige Bereitschaft, in den partikularen Geschichten der Anderen einen Teil ihrer eigenen Vergangenheit und Identität zu entdecken, schaffen sie die Voraussetzung für den Aufbau von sozialer Integration, für die Schaffung einer gemeinsamen, kulturelle Differenzen anerkennenden und zugleich überbrückenden Welt. Mit der Parallelisierung der keltischen und indigenen Mythologie entwickelt Away eine Semiotik transkultureller Interrelationen und zeigt, wie die eigene Vergangenheit erinnert werden kann, ohne Andere auszugrenzen. Ein inter- bzw. multikulturelles Miteinander in Bezug auf Erinnerungen kann nicht nur eine faktische Vielfalt von kultur- bzw. gruppenspezifischen Gedenkformen, heterogenen Erinnerungsgemeinschaften und kollektiven Identitäten bedeuten; vielmehr muss die gesellschaftliche Pluralität von Erinnerungen und Identitäten auch mit einer Auseinandersetzung mit und wechselseitigen Anerkennung von kulturell differenten Stimmen einhergehen. 294 Die Erinnerung an die eigene Vergangenheit stellt ein unhintergehbares Medium der identitären Rückversicherung dar; um allerdings interkulturelle Verständigung zu ermöglichen, müssen gruppenspezifische Gedenkformen ein reflexives Bewusstsein für ihre eigene Partikularität wahren." Esthers Erinnerungserzählung begleitet sie durch ihre gesamte letzte Nacht; in den frühen Morgenstunden, die nicht nur das Ende ihrer Narration, sondern auch das der Nachtschicht in der nahe liegenden Mine markieren, lässt sie ihren Blick ein letztes Mal über die Ufer des Great Lake schweifen und beobachtet den Transport des abgebauten Gesteins: Now the land itself fragments, moves away from piers in boats named after brief histories towards other waters, other shores. [...] The men at the quarry, angered by something they don't quite understand, set their jaws and shift the gears of their equipment with grim forcefulness. Under the glare of artificial light the fossilized narratives of ancient migrations are crushed into powder. (S. 356) Die Reflexionen Esthers beklagen ein weiteres Mal die topographische Deformation und den damit verbundenen Verlust zahlreicher, im Gestein fossilierter Erinnerungen, Erzählungen und Erfahrungen der Immigration. In diesem Zusammenhang ist signifikant, dass die fossilen Reste des „Canadian limestone - landscape and fossils" (S. 352) von Booten namens The New Dominion und Daughter of Confederation verschifft werden, Namen, die auf die mittlerweile realisierte Konstitution eines konföderierten kanadischen Staates verweisen, der — entgegen der Ziele der irischen Nationalisten — eine Politik des kulturellen Pluralismus verfolgt. Darüber hinaus impliziert dieser Prozess metaphorisch die Forderung, den verdrängten und verschütteten Geschichten der Immigration im öffentlichen Diskurs zu gedenken
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Vgl. Smart (1994, S. 67): „Urquhart's story [...] raises difficult questions about national identity and the relationship o f immigrants to their culture o f origin — questions o f considerable relevance in present-day debates about Canadian multiculturalism. How much o f a culture will survive the move from the old country to the new, and how much slxuld survive? At what point is it wiser and more constructive to shed the past and create something new?"
383
Kommunale Gedächtnisromane
und sie als Teil eines übergeordneten kanadischen Selbstverständnisses, einer .kulturellen Archäologie der Nation' präsent zu halten. Indem der Roman verdrängte und vergessene Erfahrungen in den Mittelpunkt stellt, setzt er der beschriebenen Deformation eine kulturelle Revitalisierung entgegen. Es sind vor allem die Besonderheiten der Erzählsituation und das Wirkungspotential der internen Fokalisierung, die in Away
dazu beitragen, die für den kom-
munalen Gedächtnisroman konstitutive Kommunalität einer gelebten Vergangenheit
zu
inszenieren
und
die
einen
Prozess
der
Vergegenwärtigung
und
symbolischen Bewältigung bislang marginalisierter Erfahrungen initiieren. Die partikularen Erfahrungen und subjektiven Wahrnehmungsweisen stehen nicht lose nebeneinander, sondern kulminieren in einem facettenreichen Bild einer als kollektiv gültig angesehenen Vergangenheit. Die Implikation dieses Darstellungsverfahren ist der Anspruch auf Zusammengehörigkeit einer durch die Erfahrung der Diaspora und gesellschaftlichen Diskriminierung gewaltsam auseinander gerissenen Community. Away
Durch die Darstellung vorgängig marginalisierter Erfahrungen greift
aktiv und gestaltend in die Erinnerungskultur ein und kann damit selbst als
Medium des kollektiven Gedächtnisses Wirksamkeit entfalten. Als .imaginativer Gegendiskurs' (Zapf) regt der Gedächtnisroman dazu an, einseitige Deutungen der Kollektiwergangenheit zu hinterfragen. Intensiviert wird die komplexe Reintegration gemeinhin kulturell getrennter Erfahrungsbereiche durch die Evokation eines eigenständigen, mythopoetischen Repertoires aus der kulturellen Folkloretradition der gälischen Iren, das etablierte, binär-hierarchische Konzepte von Kultur und Natur konterkariert und surreale, üblicherweise vom dominanten Diskurssystem ausgeschlossene Phänomene zur Geltung bringt. Das kulturökologische Funktionspotential des Romans liegt jedoch nicht allein darin, bislang gesellschaftlich marginalisierte Erfahrungen in das kollektiv dominante Gedächtnis zu heben. Ebenso wie MacLeods kommunaler Gedächtnisroman nutzt auch Away
die Rhetorik der Erinnerungen und Identitäten dazu, die prekären
Folgen einer allzu monolithischen Wir-Identität beobachtbar zu machen. Als kulturkritischer Metadiskurs liefert der Roman mit ästhetischen Mitteln Antworten auf aktuelle, erinnerungskulturelle Herausforderungslagen der kanadischen Multikultur. Mit dem literarisch unterbreiteten Vorschlag, gruppenspezifische
Mythologien
miteinander zu vergleichen und sie in einen proaktiven Dialog treten zu lassen, zeigt Away
Möglichkeiten auf, die Pluralität des öffentlichen Gedächtnisraums zu
wahren und zu einem besseren Verständnis für kulturelle Differenz zu gelangen. Urquharts Roman bietet alternative Erinnerungsformate an, die darauf angelegt sind, der faktischen Vielfalt von kollektiven Gedächtnissen, die innerhalb der kanadischen Multikultur koexistieren, Rechnung zu tragen, und Wege zu finden, der eigenen Vergangenheit zu gedenken, ohne andere auszugrenzen.
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Kanadische Fictions
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Memory
3.3 „You have to remember [...]. You are your history" - Literarisches Gegengedächtnis in Joy Kogawas Obasan (1981) Der fur kommunale Gedächtnisromane kennzeichnende Versuch, gesellschaftlich bislang vergessene oder verdrängte Erinnerungen zur Darstellung zu bringen und die Anerkennung der Bedeutung dieser gruppenspezifischen Erfahrungen einzufordern, steht auch im Zentrum von Joy Kogawas Roman Obasan. Die von der homodiegetischen Erzählinstanz Naomi Nakane, einer Japano-Kanadierin der dritten Generation reaktualisierten Erinnerungen kreisen um die schmerzlichen Erfahrungen ihrer Familie, der Katos und der Nakanes, während des 2. Weltkrieges in ihrer Heimat Kanada. Die nach den verheerenden Angriffen auf Pearl Harbour folgende Kriegserklärung an Japan nimmt die kanadische Regierung zum Anlass, tief greifende Sanktionsmaßnahmen gegen die in Kanada lebende japanische Bevölkerung — gleich ob eingebürgert oder nicht — einzuleiten. Diese, mit dem Vorwand der Existenz einer „yellow peril" (S. 20) gerechtfertigten Diffamierungen haben für die Familienangehörigen Naomis eine staatlich erzwungene Konfiszierung ihres Besitzes, ein Berufs- und Ausbildungsverbot und schließlich den fast vollständigen Ausschluss vom öffentlichen Leben zur Folge. Durch staatliche Segregationsprogramme wird die ursprüngliche „togetherness" (S. 24) der Familie gewaltsam aufgelöst und der Fragmentierung anheim gegeben. Die Familienmitglieder werden zur Aufgabe ihres Zuhauses in Vancouver gezwungen und nachfolgend in verschiedene Teile des Landes deportiert, interniert und zur .freiwilligen' Zwangsarbeit (vgl. S. 106) verpflichtet. Der Tod ihres Onkels im Jahre 1972 veranlasst Naomi dazu, sich diesen belastenden Episoden, die sich in ihrer Kindheit zutrugen, anzunähern und das bis zu diesem Zeitpunkt gewahrte Schweigen ihrer Familie in einer bisweilen schmerzhaften Erinnerungsarbeit zu durchbrechen. So nimmt Naomi die unzusammenhängenden Fragmente ihrer kindlichen Erinnerungen sowie die zahlreichen, von ihrer Tante Emily gesammelten Dokumente, Briefe und Zeitungsausschnitte zum Ausgangspunkt einer fortschreitenden Wiedererschließung des Verdrängten. Als communal voice liefert sie im Zuge dieser narrativ-symbolischen Annäherung nicht nur Einblick in ihre individuelle Vergangenheit, sondern auch in die ihrer kulturellen Gruppe, also der japanisch-kanadischen Bevölkerung der ersten (so genannte Issel), der zweiten (so genannte Nisei) und der dritten Generation (so genannte Sansei).2M Ebenso wie die Erzähler Alexander in No Great Mischief und Esther in Away wird auch Naomi Nakane zum Sprachrohr ihrer Gemeinschaft und schafft mit ihrem individuellen Erinnerungsakt die Voraussetzung für die Stabilisierung des überindividuellen Kollektivgedächtnisses. Die detailreiche Exploration der vergangenen Erfahrungen dieser kulturellen Minderheit innerhalb der kanadischen Gesellschaft bildet die Grundlage für die Fundierung eines Gegengedächtnisses: Die Erinnerung 295 Vgl. hierzu die Erklärung der Erzählerin: ,,[M]y grandparents, born in Japan, were Issei, or first generation, while the children of the Nisei were called Sansei, or third generation." (S. 9)
Kommunale Gedächtnisromane
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an den rassistischen Umgang mit den Japano-Kanadiern stellt das dominante Vergangenheitsbild eines friedliebenden, demokratischen und multikulturellen Kanadas in Frage (vgl. S. 44) und wird so zu einem veritablen Akt des Widerstands gegen das staatlich auferlegte Vergessen. 296 Die für Naomis Gedächtnisnarration charakteristische interne Fokalisierung, d.h. die Darstellung von sinnlichen Eindrücken und Emotionen aus der Perspektive des erlebenden, kindlichen Ichs, führt zu einer dezidierten Subjektivierung der zurückliegenden Geschehnisse und erzeugt die Illusion einer gelebten Vergangenheit. Durch ihre Tendenz zur Emotionalisierung des Vergangenen ist interne Fokalisierung besonders dazu geeignet, gesellschaftlich bislang marginalisierte Erfahrung intersubjektiv nachvollziehbar zu machen und die für kommunale Gedächtnisromane maßgebliche Authentizitätssuggestion zu begünstigen. Zum Eindruck einer ebenso authentischen wie repräsentativen Erinnerung trägt auch die Integration des Tagebuchs von Naomis Tante Emily bei. So wird die Kommunalität der Erfahrung durch kollektive Fokalisierung inszeniert, also durch die Darstellung von geteilten field memories. Es ist charakteristisch für den kommunalen Gedächtnisroman, dass zahlreiche intertextuelle Referenzen sowie die direkte Integration von Zeitungsausschnitten, gerichtlichen Beschlüssen und Briefen dazu funktionalisiert werden, Einblick in gruppenspezifische Modi der Gedächtnisstiftung zu bieten. Die intertextuellen Referenzen dienen jedoch nicht nur der Affirmation, sondern auch der Reflexion von Gedächtnisstiftung, denn sie legen die Funktionsweise der materialen Dimension von Erinnerungskulturen offen. Die ausgeprägte Intertextualität offenbart, nach welchen Bedingungen bestimmte Vergangenheitsdeutungen im öffentlichen Raum repräsentiert und disseminiert, andere hingegen unterrepräsentiert bleiben. Der durch die Unverfügbarkeit eines selbstbestimmten Repräsentationsorgans bewirkte Ausschluss vom öffentlichen Diskurs gelangt auch in Obasan durch die für kommunale Gedächtnisromane typische Semantisierung des Raums zur Anschauung. In seiner ambivalenten Signifikation als heimische Fremde wird der Raum zum Spiegelbild der Erfahrung des internen Exils der JapanoKanadier. Vor diesem Hintergrund stellt Naomis Erzählung auch einen Versuch dar, einen fremd gewordenen, enteigneten Raum durch seine Besetzung mit gruppen- und identitätsrelevanten Erinnerungen zurückzugewinnen und soziokonsensuelle Grenzen neu zu verhandeln. Uber diese für kommunale Gedächtnisromane kennzeichnenden formästhetischen Verfahren hinaus greift Obasan auf ein für diese Romanform weniger typisches Darstellungsmittel zurück: Obgleich sich das Figurenpersonal in Kogawas Roman ebenso wie in No Great Mischief und Away durch seine kulturelle Homogenität auszeichnet (so gehören alle Hauptfiguren der japanisch-kanadischen Gemeinschaft an), ist die Figurenkonstellation auf Kontrastrelationen angelegt, an denen sich ein Konflikt über den angemessenen Umgang mit der gruppenkonstitutiven 296 Einen guten historischen Überblick über die Situation der japanisch-kanadischen Bevölkerung liefern Lowe (19%) sowie Jakubowski (1997).
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Memory
Vergangenheit entzündet: Während Tante Emily auf einem aktivistischen Mobilisieren und einer unermüdlichen Thematisierung der hochgradig problematischen Erlebnisse der Japano-Kanadier besteht, erachten Obasan, die andere Tante Naomis, und vorerst auch Naomi Verdrängung, Vergessen und Schweigen als adäquaten Umgang mit dem vergangenen Leid. Die mit der Inszenierung von gesellschaftlich marginalisierten Geschichten üblicherweise verbundene konsensorientierte Plotstruktur weicht in Obasan mithin (zunächst) einem konfliktorientiertem Plotmuster, bei dem die Effektivität bestimmter Verarbeitungs formen intersubjektiv ausgehandelt wird und sich die Erzählerin des positiven, handlungsermächtigenden Leistungsspektrums des Erinnerns erst allmählich bewusst wird. Die Bedingungen für den Akt des ,re-membering', der die Gruppenmitglieder im kommunalen Gedächtnisroman typischerweise in eine gemeinsame soziale Realität .verwickelt', müssen in Obasan allererst geschaffen werden. ***
Die für kommunale Gedächtnisromane konstitutive rituelle Aktualisierung und Aneignung von gruppenspezifischen Gedächtnisinhalten steht auch am Anfang von Kogawas Roman: Wie jedes Jahr besucht Naomi im August des Jahres 1972 mit ihrem Onkel einen abgelegenen Landstrich, ein Flussbett, in der Nähe von Granton: „We come here once every year around this time, Uncle and I." (S. 1) Das durch die explizite communal voice etablierte ,Wir' verweist zwar auf das gemeinschaftsstiftende Potential des geteilten Gedächtnisaktes; der Erzählerin ist der Inhalt des Gedenkrituals allerdings unbekannt, wodurch der gemeinschaftliche Aspekt von Erinnern erheblich relativiert wird: „,Uncle,' I whisper, ,why do we come here every year?' He does not respond. From both Obasan and Uncle I learned that speech often hides like an animal in a storm." (S. 4) Mit ihren 36 Jahren erachtet ihr Onkel Naomi noch immer zu jung, um sie über den Anlass ihres gemeinsamen Erinnerns aufzuklären. Das Schweigen ihres Onkels und ihrer Tante Obasan zu durchbrechen, der Bedeutung des für sie nahezu entsemiotisierten Gedenkrituals auf den Grund zu gehen und auf dieser Basis auch ihre eigenes Identitätsbewusstsein zu stabilisieren, wird so zur zentralen Herausforderung, der sich Naomi im Laufe ihrer Quest stellen muss. In Obasan geht es zunächst weniger um die selbstbewusste Vermittlung einer gruppenspezifischen Vergangenheitsversion als vielmehr um die grundsätzliche Frage nach den Möglichkeiten ihrer Verarbeitung. Nicht nur die hochgradig belastende Qualität ihrer Vergangenheit, sondern auch die Erfahrung des erinnerungspolitischen Ausschlusses vom öffentlichen Diskurs (vgl. S. 132) erschweren der Erzählerin die Auseinandersetzung mit ihrer Geschichte: „The very last thing in the world I was interested in talking about was our experiences during and after World War II." (S. 40) Zu schmerzlich sind die Erinnerungen an ihre zurückliegenden Erlebnisse, an die anhaltenden Diskriminierungen, die sukzessive Zerstörung der familiären Gemeinschaft und insbesondere an den Verlust ihrer Mutter, als dass Naomi sich ihnen in der erinnernden Rückschau stellen und ihnen durch ihre narrative Be- und Verarbeitung eine sinnhafte Qualität verleihen könnte: „And
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I am tired, I suppose, because I want to get away from all this. From the past [...], from the present, from the memories, from the deaths [...]. I want to break loose from the heavy identity, the evidence of rejection" (S. 218). Naomis Bewusstsein für das destabilisierende Potential ihrer Erinnerung scheint ihre Sinnstiftungsstrategien derart zu überfordern, dass sie Verdrängung zunächst als einzig möglichen Verarbeitungsmodus visualisiert: „Some memories [...] might better be forgotten. Didn't Obasan once say, ,It is better to forget'? [...] If it is not seen, it does not horrify. What is past recall is past pain." (S. 54) Im Gegensatz zu der üblichen Betonung des positiven, therapeutischen Leistungsspektrums von Erinnerungserzählungen insistiert Naomi ebenso wie ihre Tante Obasan auf die heilende Qualität des Vergessens: ,„The time of forgetting is now come.'" (S. 36) Es ist vor allem ihre Tante Emily, die Naomi wieder und wieder dazu auffordert, sich mit ihrer Vergangenheit auseinander zu setzen und ihre Erfahrungen an die Öffentlichkeit zu tragen: ,„We have to deal with all this while we remember it.'" (S. 43) Naomis Bedürfnis, das erlittene Leid dem Vergessen anheim zu geben, stellt Tante Emily die Notwendigkeit einer kompromisslosen Aufarbeitung entgegen: „All her life, it seemed to me, Aunt Emily toiled to tell of the lives of the Nisei in Canada in her effort to make familiar, to make knowable, the treacherous yellow peril that lived in the minds of the racially prejudiced." (S. 49) Während Naomis Verhaltensweise von dem Bedürfnis nach einer endgültig abgeschlossenen Vergangenheit geleitet ist, beharrt Tante Emily darauf, dass die Vergangenheit sowohl die Gegenwart als auch die Zukunft bestimmt. Angesichts dieser wechselseitigen Interrelation sei eine Zukunft ohne Vergangenheit nicht denkbar: .„Life is so short,' I said, sighing, ,the past so long. Shouldn't we turn the page and move on?' ,The past is the future,' Aunt Emily shot back." (S. 51) Die prekäre Qualität, die die von Tante Emily aufoktroyierte Vergangenheitsaufarbeitung fur Naomi impliziert, wird durch den Gebrauch des Verbs „shot back" in den Blick gebracht und durch die Verwendung einer Reihe semantisch ähnlich konnotierter Begriffe bekräftigt: So bezeichnet die Erzählerin ihre Tante als „word warrior" (S. 39), die sie fast gewaltsam aus ihrer Unsichtbarkeit reißt (vgl. S. 38), vergleicht Gespräche mit ihr mit einem ,Gang über ein Minenfeld' (vgl. S. 42) und setzt die von Emily gesammelten Dokumente mit Brennstoff für ihre Gedanken gleich (vgl. S. 38). Für Emily besteht die aspirierte Aufarbeitung der erlittenen Diskriminierung insbesondere in der Archivierung unzähliger historischer Dokumente, in der Sammlung von Briefen, legislativen Beschlüssen und Zeitungsausschnitten sowie in dem unermüdlichen Verfassen von Petitionen, in denen sie die öffentliche Anerkennung des vergangenen Unrechts einfordert. Es sind jedoch gerade die verallgemeinernde Nüchternheit, die Anonymität und die unterstellte Faktizität dieser Dokumente (vgl. S. 225), die Naomis subjektive Sinnbedürfnisse nicht zufrieden stellen können. 297 Während Emilys Zeitungsausschnitte, Gesetzestexte, Briefe und 297 Vor allem aufgrund von Naomis Skepsis gegenüber den erinnemngskulturellen Dokumenten ihrer Tante verstehen Goellnicht (1989) und Helms (2003) Obasan als historiographische Metafiktion im
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Memory
Petitionen auf eine hypostasierte Homogenisierung der Vergangenheit angelegt sind (.„What's right is right. What's wrong is wrong.'", S. 219) und kaum Raum für kognitive und affektive Uneindeutigkeiten lassen, zeichnet sich Naomis Vergangenheitsverständnis gerade durch dissonante Ambivalenzen, Instabilitäten und Zwischenpositionen aus: „The truth for me is more murky, shadowy and gray." (S. 38) Naomis eigenem Bedürfnis nach einer spürbaren, .leibhaftigen' und damit auch singulären Vergangenheitsrepräsentation können diese Dokumente nicht gerecht werden: „All of Aunt Emily's words, all her papers, the telegrams and petitions, are like scratchings in the barnyard, the evidence of much activity [...]. But what good they do, I do not know - those little black typewritten words - rain words, cloud droppings. [...] The words are not made flesh." (S. 226) Die Gedanken der Erzählerin fassen die Inkommensurabilität ihrer persönlichen Erfahrungen und der offiziellen Texte ihrer Tante exemplarisch zusammen: Angesichts ihrer konventionalisierten Unifizierung des Vergangenen sind diese Gedächtnismedien kaum dazu geeignet, der empfundenen Einzigartigkeit von Naomis individueller Geschichte adäquaten Ausdruck zu verleihen (vgl. Grewal 1996). Die Erzählerin bringt hiermit ein grundlegendes Problem der Narrativierung von hochgradig belastenden und traumatischen Erfahrungen in den Blick: Da Individuen bei der narrativen Repräsentation ihrer Erfahrungen unweigerlich auf vorhandene und das heißt gesellschaftlich konventionalisierte Geschichtenmuster zurückgreifen, impliziert der Narrativierungsprozess stets eine Standardisierung und hiermit auch eine Negierung der Singularität dieser Erfahrungen (vgl. Caruth 1995). Die in Obasan inszenierte Diskussion um den angemessenen Umgang mit der gruppenspezifischen Vergangenheit entfacht sich demnach nicht nur an der Opposition .Erinnern vs. Vergessen'. Vielmehr geht es auch um die Frage, wie die prekäre Qualität der vergangenen Erfahrungen so repräsentiert werden kann, dass die von Naomi empfundene Singularität nicht der narrativen Konventionalisierung preisgegeben wird: „I cannot tell about this time, Aunt Emily." (S. 235) Bereits der Prolog etablierte diesen Grundkonflikt zwischen Versprachlichung und Schweigen und problematisiert den Mangel an geeigneten Darstellungsformen für leidvolle, subjektiv als singular erachtete Erfahrungen:
Sinne der von Linda Hutcheon vorgenommenen Gattungsdefinition. Allerdings ist Naomis ablehnende Haltung gegenüber den historischen Dokumenten nur bedingt auf den für historiognphische Metafiktion kennzeichnenden epistemologischen Skeptizismus zurückzuführen. In Obasan geht es nicht um Fragen der unweigerlichen Textuaütät, Konstruktivität und Relativität der Historiographie, sondern um Fragen der Narrativierung traumatischer Erinnerungen und um die Forderung nach Anerkennung der gruppenspezifischen Erinnerung im öffentlichen Raum. Im Gegensatz zum historiographischen Diskurs, in dem die Konstruktivität und Subjektivität retrospektiver Sinnstiftungen unweigerlich deren Relativität bedingen, werden diese Komponenten im Rahmen des Erinnerungsdiskurses als psychologisch notwendiger Teil von Sinnstiftung angesehen. Die konstruktive Subjektivierung schmälert den Geltungsanspruch der Vergangenheitsversion nicht, sondern verleiht dieser allererst Plausibilität, Sinn und Bedeutung.
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There is a silence that cannot speak. There is a silence that will not speak. Beneath the grass the speaking dreams and beneath the dreams is a sensate sea. The speech that frees comes forth from that amniotic deep. To attend its voice, I can hear it say, is to embrace its absence. But I fail the task. (o. S.) Die Einsicht in die Schwierigkeit, individuelle Erlebnisse, Motive und Emotionen in all ihrer emotionalen und kognitiven Vielschichtigkeit zu versprachlichen, liegt Naomis narrativer Reaktivierung ihrer Vergangenheit demnach von Beginn an zugrunde. Die Erzählerin steht somit nicht nur vor der Herausforderung, sich ihrer vergangenen Angst und ihrem Entsetzen anzunähern. Sie muss vielmehr auch ein narratives Repräsentationsformat finden, das ihrem individuellen Vergangenheitsund Selbstverständnis hinreichend Ausdruck zu verleihen vermag. E s ist erst die Nachricht von dem Tod ihres Onkels und der daraufhin folgende Besuch bei ihrer Tante Obasan in Granton, die Naomi die anhaltende Virulenz ihrer Vergangenheit begreifbar machen. Die Konfrontation mit alltäglichen Gegenständen, die eher .Spuren' denn (intentionale) Medien des Gedächtnisses sind (vgl. Welzer 2001b), die unzähligen, von ihrer Tante über die Zeit hinweg bewahrten Spielsachen, die „tiny specks of memory" (S. 18), reaktivieren eine Flut von schlummernden Erinnerungen. Als sie mit Obasan auf dem Speicher abgelegte Alltagsgegenstände durchforstet, gelangt sie zu der Einsicht in die unhintergehbare Omnipräsenz ihrer Vergangenheit: [WJe're trapped, Obasan and I, by our memories of the dead — all our dead — those who refuse to bury themselves. Like threads of old spiderwebs, still sticky and hovering, the past waits for us to submit, or depart. When I least expect it, a memory comes skittering out of the dark, spinning and netting the air, ready to snap me up and ensnare me in old and complex puzzles. (S. 30f.) In welchem Maße sich die Erzählerin ihren an die Oberfläche drängenden Erinnerungen ausgeliefert fühlt, unterstreicht die Metapher des Spinnennetzes: Offenbar umgarnen sie die .Erinnerungsfäden' unaufhaltsam, halten sie fast gewaltsam in ihrer Umschlingung und zwingen sie dazu, sich den verdrängten Komponenten ihrer Vergangenheit anzunehmen. Der Vergleich ihrer Erinnerungen mit einer Spinne stilisiert diese zu einem belebten Objekt, zu einem persistenten Fremdkörper, dem eine unkontrollierbare und beängstigende Eigendynamik innewohnt. Dass ihre Erinnerungen zudem keine vollständige Geschichte, sondern nur Fragmente und lose Enden preisgeben, die allererst entwirrt und zu einem sinnstiftenden Ganzen verwoben werden müssen, suggeriert die Metapher der Fäden ebenso wie die des Rätsels. Als Gefangene ihrer eigenen Vergangenheit beschäftigt sich die Erzählerin insbesondere mit der quälenden Frage nach der langjährigen Abwesenheit ihrer Mutter: „Just a glimpse of a worn-out patchwork quilt and the old question comes thudding out of the night again like a giant moth. Why did my mother not return? After all these years, I find myself wondering, but with the dullness of expecting no response" (S. 31). Naomis Mutter reiste vor mehr als dreißig Jahren, im Jahre 1941, mit ihrer Mutter (Naomis Grandma Nakane) nach Japan, um dort ihrer im Sterben liegenden Großmutter beiseite zu stehen. Seither fehlt Naomi jeder Hinweis auf
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den Verbleib ihrer Mutter. Unter dem Vorwand, es sei ,zum Wohl der Kinder' (vgl. S. 26), blieben Naomis persistente Fragen stets unbeantwortet: „.Please tell me about Mother,' I would say as a child to Obasan. I was consumed by the question. Devoured alive. But Obasan gave me no answers." (S. 31) Die wachsende Einsicht der Erzählerin, dass all ihre Versuche, sich von ihrer Vergangenheit loszusagen, zum Scheitern verurteilt sind, die quälende Ungewissheit über das Schicksal ihrer Mutter sowie der Erhalt eines Pakets mit den gesammelten Schriften Tante Emilys bringen sie schließlich dazu, ihren mnemonischen Widerstand aufzugeben und sich ihrer Geschichte anzunehmen. Ihr anfänglich noch deutlich vorhandener Unwille (vgl. S. 56) sowie die erneute verzweifelte Beteuerung, dass sich das Geschehene .nicht erinnern ließe' (vgl. S. 60), wird durch die Vergegenwärtigung von Tante Emilys Motto endgültig zu Fall gebracht: ,„You have to remember,' Aunt Emily said. ,You are your history.' [...] All right, Aunt Emily, all right! [...] If I search the caverns of my mind, I come to a collage of images" (S. 60f.). In dem Prozess der Wiedererschließung ihrer Vergangenheit tritt sie immer wieder in einen imaginierten Dialog mit ihrer Tante, ein Vorgang, der illustriert, dass die Verfügbarkeit und Kontinuität ihrer persönlichen Erinnerungen ganz im Sinne Halbwachs' - von sozialen bzw. intersubjektiven Rahmen abhängig sind. So entfaltet sich sukzessive ein vielschichtiges Gedächtnisnarrativ, in dem Naomi ihre eigenen Erinnerungsfragmente mit den Erinnerungen Emilys verknüpft und auf diese Weise Einblick in ihre — konsequent als gruppenspezifisch inszenierte - Vergangenheit in den 1940er und 1950er Jahren liefert. Es ist typisch für den kommunalen Gedächtnisroman, dass Naomis Narration ihre gegenwärtige Situation, also ihren dreitägigen Besuch bei Obasan, mehr und mehr in den Hintergrund treten lässt, und so der Eindruck einer fortdauernden und omnipräsenten Vergangenheit entsteht. Mittels welcher erzählerischen Strategien aber gelingt es Naomi, das Schweigen in eine kommunizierbare Gedächtniserzählung zu transformieren bzw. ein Repräsentationsformat zu konstituieren, das ihren subjektiven Sinnbedürfnissen und ihren traumatischen Vergangenheitserfahrungen Ausdruck zu verleihen und die von ihr empfundene Unzulänglichkeit herkömmlicher Kodierungsformate zu überwinden vermag? Im Gegensatz zu den von ihrer Tante akkumulierten historischen Texten zeichnet sich Naomis Gedächtnisnarrativ durch eine konsequente Subjektivierung des Vergangenen aus: Ihre Erzählung rekapituliert die Vergangenheit als gelebte Erfahrung und perspektiviert die Kollektiverfahrungen vor dem Hintergrund ihrer partikularen, individuellen Erlebnisse und subjektiver Empfindungen (vgl. Kanefsky 1996, S. 20). Ins Zentrum ihrer Narration stellt sie ihre persönlichen, zumal kindlichen Erlebnisse: ihre frühe und glückliche Kindheit, die sie mit ihren Eltern und ihrem Bruder Stephen in Vancouver verbrachte, die ihr unerklärliche Abwesenheit ihrer Mutter, das nachfolgende Verschwinden ihres Vaters sowie die staatlich forcierten Umzüge nach Slocan, später in die Präriestadt Granville. Die zunehmende gesellschaftliche Diskriminierung sowie die sukzessive Fragmentierung ihrer Familie macht die Erzählerin nahezu durchgängig an ihrer
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kindlichen Erfahrungswelt fest. Die ihr schwer nachvollziehbare Erfahrung der erzwungenen Dispersion ihrer Familie etwa konkretisiert sich für Naomi in dem Verlust ihrer Puppenfamilie, den der staatlich erzwungene Umzug nach Slocan nach sich zieht: „Later, it was the family of dolls I missed more than anything else - the representatives of the ones I loved." (S. 64) Ihre Puppen werden zur Metapher für ihr einstmals glückliches Zuhause298 und mit dem endgültigen Verlust ihrer letzten Puppe gibt Naomi auch die Hoffnung auf, jemals nachhause zurückzukehren: „No matter how I wish it, we do not go home. Ojisan does not bring my doll and I no longer ask for her." (S. 149) Zur Subjektivierung des Vergangenen tragen aber gerade auch die formalen Spezifika des Erzähldiskurses bei. So wird die Vergangenheit von Naomi über weite Strecken intern fokalisiert, d.h. zurückliegende Erfahrungen werden aus der Perspektive ihres kindlichen Erfahrungs- und Wissenshorizontes rekapituliert. Exemplarisch kann diese Form der erzählerischen Vermittlung und ihr Wirkungspotential an der Darstellung eines von der Protagonistin mitgehörten Gesprächs illustriert werden, in dem ihr Vater und Tante Emily die befürchtete Internierung ihres Großvaters in dem Arbeitslager Sick Bay diskutieren. Aus ihrer kindlichen Perspektive kann sie die zum Ausdruck gebrachte Sorge über den Verbleib ihres Großvaters kaum nachvollziehen; die Rede von Sick Bay evoziert für sie Reminiszenzen an den English Bay, und dieser ist im Lichte ihrer bisherigen Erfahrungen in erster Linie ein attraktiver Ausflugsort: Grandpa Nakane at Sick Bay? Where, I wonder, is that? And why is it a cause of distress? Is Sick Bay near English Bay or Horsehoe Bay? When we go to Stanley Park we sometimes drive by English Bay. Past English Bay are the other beaches, Second and Third Beach, where I once went to buy potato chips and got lost. [...] If Grandpa Nakane is at the beach now, could he be lost the way I was? Should we not go to find him? (S. 89) Erst später wird sich Naomi darüber bewusst, dass Sick Boy kein Strand ist und der Pool, der zur Inhaftierung zahlreicher Japano-Kanadier errichtet wurde, keine Ähnlichkeiten mit einem Swimmingpool hat: „Sick Bay, I learned eventually, was not a beach at all. And the place they called the Pool was not a pool of water, but a prison" (S. 92). Die für Naomis Erzählung charakteristische interne Fokalisierung und die damit verbundene Inszenierung von field memories suggerieren die Unmittelbarkeit und anhaltende Präsenz der Vergangenheit.299 Dieser Eindruck wird auch durch den häufigen Gebrauch der Lokal- und Temporaldeixis (,that', ,now*) sowie durch die rekurrente Verwendung des Präsens intensiviert. Die so generierte Illusion einer
298 Vgl. in diesem Zusammenhang folgende Bemerkung: „Memories of my doll. Memories of home." (S- 151) 299 Auf diese Weise wird zugleich eine Annäherung der Perspektiven Naomis und ihrer Tante Emilys erreicht, von der Naomi zuvor fast verständnislos behauptet: „For her [Aunt Emily], the injustice done to us in the past was still a live issue." (S. 41)
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subjektiv gelebten Vergangenheit leistet einen wesentlichen Beitrag zur Suggestion der Authentizität des Erinnerten: Eine ehemals anonyme, entsubjektivierte Geschichte wird an individuelle Trägerinstanzen zurückgebunden und so mit erinnerungskultureller Verbindlichkeit ausgestattet. Darüber hinaus zeigen die Speziflka der erzählerischen Vermittlung auch, wie wenig Distanz die Erzählerin zu ihren kindlichen Erfahrungen gewonnen hat. Die interne Fokalisierung und die präsentische Vermittlungsweise indizieren, dass Naomi das Vergangene weniger erinnert als vielmehr unmittelbar wieder erlebt. Anstelle von kritisch-distanzierter Sinnstiftung steht in Obasan die regelrechte Immersion in die Vergangenheit. Die Wahl der kindlichen Perspektive ist somit auch ein geeignetes Mittel, um der empfundenen Hilflosigkeit bzw. dem Gefühl des Ausgeliefertseins an willkürliche und undurchdringliche Machtstrukturen innerhalb der kanadischen Gesellschaft zur Anschaulichkeit zu verhelfen. Was anderweitig nicht artikuliert werden kann, wird in narrativ-symbolischen Darstellungsverfahren sagbar gemacht. Obasan bewirkt damit einen Prozess der Vergegenwärtigung vorgängig verdrängter und traumatischer Erfahrungen. Neben der Subjektivierung der Vergangenheit trägt auch die oftmals bildliche, metaphorische Darstellungsweise dazu bei, die eminent belastende Qualität von Naomis Erfahrung zugänglich zu machen. Naomi macht sich das Erinnerungspotential des Visuellen zu Eigen, um das vorerst Unartikulierbare intersubjektiv mitteilbar zu machen. Sichtbar wird diese erzählerische Strategie an Naomis Beschreibung einer Henne und ihrer Küken, ein Bild, das im Laufe ihrer Erzählung zu einer sinnverdichteten Metapher für ihre persönliche Hilflosigkeit und in einem weiteren Sinne für die Machtverhältnisse zwischen der japanisch-kanadischen Minderheit und der dominant weißen Bevölkerung stilisiert wird. Im Alter von vier Jahren beobachtet Naomi, wie eine weiße Henne erbarmungslos auf ihre jungen Küken einpickt: „Without warning, the hen's sharp beak jabs down on the chick, up again and down, deliberate as the needle on the sewing machine." (S. 70) Obgleich diese Beschreibung auf einer realen Erfahrung basiert, scheint sie weniger an dieses brutale Spektakel erinnern zu wollen; sie scheint vielmehr als erste symbolische Annäherungsform an Naomis traumatische, ins Unbewusste abgesunkene Erfahrung des sexuellen Missbrauchs zu fungieren, die sie unmittelbar im Anschluss reaktualisiert. Als Kind wird Naomi zum Opfer eines Missbrauchs durch ihren Nachbarn Old Man Gower. Ebenso wie die Küken den Trieben ihrer Mutterhenne ausgeliefert sind, so fällt auch Naomi den Affekten von Gower zum Opfer: „His hands are large and demanding. He caresses my head as if I were a small animal." (S. 75) Die metaphorische Parallelisierung zwischen ihrem Opferstatus und dem der Küken legt nahe, dass Naomi die metaphorische Darstellungsform eine erste Möglichkeit bietet, sich ihren traumatischen Erinnerungen anzunähern und deren Unsagbarkeit zu überwinden. Bilder bieten ein alternatives Repräsentationsformat, das ein vergleichsweise geringes Bedrohungspotential aufweist und das anderweitig Unsagbare zu einem Spektrum teils diffuser Erfahrungsaspekte verdichtet. Im
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Unterschied hierzu wäre eine erzählerische Darstellung alleine schon aufgrund ihrer Sequentialität mühsamer, langwieriger und dadurch schmerzhafter. Im Laufe von Naomis Erzählung wird das Bild der Henne und der Küken rekurrent aufgegriffen, unterschiedlich kontextualisiert und sukzessive fortgeschrieben. Die verschiedenen, von Naomi und ihrer Familie erlittenen Demütigungen werden auf diese Weise ebenso sinnverdichtet wie erfahrungsnah reaktiviert. Wiederholt stellt die Erzählerin die Schutzlosigkeit der Küken heraus (vgl. S. 225) und etabliert einen Zusammenhang zu ihrer eigenen Situation im zunehmend undemokratischen und rassistischen Kanada. Als Naomi in Folge eines Unfalls in Slocan in ein Krankenhaus eingeliefert wird, visualisiert sie ihren Vater in einem wiederkehrenden Traum als Küken: „I am in a hospital. Father is in a hospital. A chicken is in a hospital. Father is a chicken is a dream that I am in a hospital [...] and I am reading the careful table of contents of a book that has no contents." (S. 178) Ihr durch den Verweis auf das Küken zum Ausdruck gebrachtes Gefühl der Wehrlosigkeit und des Orientierungsverlusts - das durch den Hinweis, sie versuche das Inhaltsverzeichnis eines inhaltsleeren Buches zu lesen, intensiviert wird — konkretisiert sich in dem zunehmenden krankheitsbedingten Verfall ihrer Familie. So befindet sich nicht nur Naomi im Krankenhaus; auch zahlreiche weitere Familienmitglieder sind aufgrund der entbehrungsreichen Lebensbedingungen in der „ghost town" Slocan und der zehrenden Zwangsarbeit körperlich angeschlagen. Ihr Vater liegt mit Tuberkulose im Krankenhaus und kommt schließlich an den Folgen dieser Krankheit zu Tode; sowohl ihr Großvater als auch ihre Großmutter Nakane sterben in Folge der Inhaftierung in Hasting Park, und ein Beinbruch von Naomis Bruder Stephen heilt selbst nach mehreren Jahren nicht vollständig.300 Zu ihrer vielschichtigsten Entfaltung gelangt die Metapher, als Naomi wenig später von Obasan ein Bilderbuch geschenkt wird, in dem u.a. ein Küken abgebildet ist. Dieses Bild wird für Naomi zum Impuls folgender Überlegung: „What is this thing about chickens? When they are babies, they are yellow. Yellow like daffodils. Like Goldilocks' yellow hair. [...] Yellow like the yellow pawns in the Yellow Peril game." (S. 180) Mit dem „Yellow Peril game", ,,[m]ade in Canada" (ebd.) verweist Naomi auf ein Kriegsspiel, bei dem es darum geht, die zahlreichen gelben Figuren, die offenbar die japanischen Angreifer („a very great number of enemies", S. 181) symbolisieren, zu besiegen. Auch diese gelben Figuren stellen in den Augen Naomis den Inbegriff an Schwäche dar und sind damit nichts anderes als Hühnchen: „To be yellow in the Yellow Peril game is to be weak and small. Yellow is to be chicken." (Ebd.) Natürlich ruft das „Yellow Peril game" zugleich reale gesellschaftliche Begebenheiten im Kanada der 1940er Jahre auf, wo soziale und staatliche Diskriminierungen der japanisch-kanadischen Bevölkerung mit dem Schlagwort der „yellow peril" sanktioniert wurden. Auch im öffentlichen Diskurs wurden die Japano-Kanadier als ,gelb', als „.lower order of people'" (S. 104) und hiermit als 300 Vgl. zu diesem Aspekt Peterson (2001, S. 161), die zu dem Schluss gelangt: „These numerous physical ailments testify obliquely to a fundamental and debilitating kind o f dis-ease."
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animalisch und unzivilisiert repräsentiert (vgl. S. 123). Naomis Vergleich der Japano-Kanadier mit Küken verliert seinen metaphorischen Charakter und wird zur brutalen Realität, als Teile ihrer Familie im Jahre 1945 in Folge abermaliger Segregationsprogramme zum Umzug gezwungen werden. Während ihr Vater in New Denver verbleiben muss, werden Naomi, Stephen, Obasan und ihr Onkel gezwungen, nach Alberta zu ziehen und werden dort — ebenso wie deutsche Kriegsgefangene - zur Unterstützung beim Zuckerrohranbau verpflichtet. Es ist vor allem das ,Haus', welches ihnen auf einer Farm zugewiesen wird, das ihre ohnehin prekären Lebensbedingungen gefahrlich verschärft: „It's the chicken coop ,house' we live in that I mind. [...] The only place that is warm is by the coal stove, where we rotate like chickens on a spit, and the feet are so cold they stop registering." (S. 233) In dem von Naomi wiederholt verwendeten Bild des „chicken" verschmelzen gesellschaftliche Stigmatisierungen, zugefugte Demütigungen und internalisierte Selbstverständnisse. Es fungiert damit als paradigmatischer Ausdruck der von Naomi empfundenen Machtlosigkeit. Darüber hinaus begünstigt das Bild des Kükens die mnemonische bzw. narrative Kohärenzstiftung: Als strukturierendes Leitmotiv von Naomis Erzählung hält es die Vielzahl heterogener, schwer verständlicher Episoden des familiären Erfahrungsschatzes metaphorisch zusammen, fokussiert die Polyvalenz dieser Ereignisse auf einen sinnverdichteten Schwerpunkt hin und macht die Vergangenheit so auf eine erinnerungskulturell bedeut- und wirksame Weise sagbar. Es ist typisch für den kommunalen Gedächtnisroman, dass die Narration die Bewusstseinsgrenzen einzelner Figuren überschreitet und ein Netzwerk von überbzw. transindividuellen Erinnerungen umfasst. Naomis Gedächtnisnarrativ konstituiert sich nicht nur aus ihren eigenen autobiographischen Erinnerungen; vielmehr integriert sie in ihre Erzählung auch die von Emily gesammelten Schriften und Dokumente, die sie nach und nach liest. Wenn die Erzählerin allererst Emilys Tagebuch rezipiert und dieses vollständig in ihre Vergangenheitsnarration aufnimmt, so lässt dies auf die von ihr empfundene Unzulänglichkeit der übrigen, offiziellen Dokumente schließen und setzt die aspirierte Subjektivierung der Erfahrungsrealität fort. Ebenso wie Naomis Erzählung rekapituliert auch Emilys Tagebuch das Vergangene als subjektiv gelebte Erfahrung: Nothing affects me much just now except rather detachedly. [...] There's no sadness when friends o f long standing disappear overnight — either to Camp or somewhere in the Interior. No farewells — no promise at all of future meetings or correspondence - or anything. W e just disperse. It's as if we never existed. (S. 104f.)
Der durch das Medium des Tagebuchs ermöglichte, unmittelbare Einblick in die determinierenden Bedingungen der vergangenen Erlebnisweise trägt ebenso wie die interne Fokalisierung Naomis dazu bei, die Glaubwürdigkeit des Erinnerten zu unterstreichen. Anders als Naomi, die vergangene Geschehnisse über weite Strecken aus ihrer begrenzt-kindlichen Perspektive darstellt, bindet Emily ihre individuellen Erfahrungen allerdings zugleich an übergeordnete, soziokulturelle Modalitäten zurück:
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All Nisei are liable to imprisonment if we refuse to volunteer to leave. A t least that is the likeliest interpretation of Ian Mackenzie's .Volunteer or else' statement. He is the Minister o f Pensions and National Health. [...] Can you w o n d e r that there is a deep bitterness among the Nisei w h o believed in democracy? (S. 103)
Im Sinne einer korrelativen Multiperspektivität bietet Emilys Erzählung erinnerungsrelevante Ergänzungen zu Naomis kindlicher Perspektive (vgl. Banerjee 1999, S. 110). Sie überschreitet die Partikularität des individuellen Erfahrungshorizonts und beansprucht mit ihren kritischen Beobachtungen Validität fur ein übergreifendes, gruppenspezifisches Erinnerungskollektiv. Durch die Integration von Emilys Tagebuch entsteht ein für kommunale Gedächtnisromane typisches Geflecht von sich wechselseitig stützenden und ergänzenden Erinnerungsperspektiven, das die Kommunalität der gruppenspezifischen Erfahrung vor Augen führt. Erst aus dem Dialog von Naomis und Emilys Erinnerungen ergibt sich ein umfassendes Bild von der Kollektiwergangenheit der japanisch-kanadischen community. Die einzelnen Erinnerungen bilden ein dichtes Gewebe von Wechselwirkungen und entziehen sich damit jenen willkürlichen Trennungen und Grenzziehungen, von denen Kogawas Roman handelt. Nur langsam und noch immer widerwillig nimmt sich Naomi auch der zahlreichen Dokumente an, die sich neben dem Tagebuch in Emilys Paket befinden: „Along with the letters from the government, there are copies of telegrams and the copy of the memorandum for the House of Commons and Senate prepared by the Co-operative Committee on Japanese-Canadians. Do I really want to read these?" (S. 217f.) In einem oftmals schmerzlichen Prozess der Vergegenwärtigung und Versprachlichung bindet die Erzählerin die überlieferten Informationen an ihren eigenen Erfahrungshorizont an. Das breite Spektrum intertextueller und intermedialer Referenzen lässt die Heterogenität gesellschaftlich zirkulierender Erinnerungsdiskurse anklingen und bietet multiperspektivischen Einblick in das Schicksal der japanisch-kanadischen Bevölkerung. Ein Pamphlet unter dem Titel „Racial Discrimination by Orders-in-Council" etwa liefert Aufschluss über die staatlichen Konfiszierungs- und Deportationsprogramme; Telegramme, die von Missionaren in Slocan geschrieben wurden, prangern die zahllosen Verstöße der kanadischen Regierung gegen die Grundrechte der japanisch-kanadischen Bevölkerung an (vgl. S. 220); ein Zeitungsausschnitt aus der Vancouver Daijy Province berichtet von dem Vorschlag Norman Robertsons, einem Vertreter des Außenministeriums, die Japano-Kanadier nach dem Krieg zu ihrem eigenen Besten in ihre ,Heimat' Japan zu repatriieren, und ein weiterer Artikel rekapituliert die Realisierung dieses Plans und die Reaktionen der Repatrianten: „Solemness was written in their faces; only indifference they showed." (S. 221) Die zahlreichen intertextuellen Referenzen haben in Obasan reflexive Implikationen, denn sie machen die Funktionsweise der materialen Dimension der Kultur eindrucksvoll beobachtbar: Sie illustrieren, dass das Verhältnis zwischen gesellschaftlicher Mehrheit und Minderheiten durch Medien bzw. durch mediale Repräsentationen mitbestimmt ist. Offenbar prägt der Zugang zu Medien öffentliche Aushandlungen von kollektiver Identität und Alterität. Er ist hiermit auch ein
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zentraler Faktor für die Perpetuierung und Legitimation bestimmter VergangenheitsVersionen. Während des 2. Weltkrieges wird den Japano-Kanadiern der Zugang zu Medien sukzessive verwehrt, bis ihnen schließlich kein eigenständiges Organ mehr zur Verfugung steht (vgl. S. 97). Es ist dieser Ausschluss vom öffentlichen Diskurs, der den Grundstein für die Askription einer minderwertigen kulturellen Identität und hiermit für die Verbreitung des gesellschaftlichen Rassismus legt: „We are defined and identified by the way we were seen. A newspaper in B.C. headlined: .They are a stench in the nostrils of people in Canada.'" (S. 139f.) Die japanisch-kanadische Bevölkerung wird in kanadischen Medien als „Japs" (S. 99) bzw. als .„lower order of people'" (S. 104) stigmatisiert; ihr Leid bleibt medial entweder unterrepräsentiert (vgl. S. 107) oder fällt kruden Verkürzungen anheim: ,,[T]he newspapers are printing outright lies" (S. 101). Auch die von Naomi herausgestellten medialen Manipulationen lenken das Augenmerk auf den engen Zusammenhang, der zwischen selbstbestimmter Repräsentation und der Anerkennung als vollgültiges Mitglied einer Gesellschaft besteht. So perspektiviert die Erzählerin die in den Dokumenten vermittelten Vergangenheitsversionen wiederholt vor dem Hintergrund ihres eigenen Erfahrungsschatzes und macht auf Unzulänglichkeiten medialer Darstellungen aufmerksam. Dem in dem Zeitungsartikel „Facts about evacuees in Alberta" (S. 231) vermittelten Eindruck von .lachenden und zufriedenen' (vgl. ebd.) Zwangsarbeitern stellt Naomi folgende Deutung entgegen: „Facts about evacuees in Alberta? The fact is I never got used to it and I cannot, I cannot bear the memory. [...] There is a word for it. Hardship. [...] My fingernails are black from scratching the scorching day and there is no escape." (S. 232) 301 Die Kontrastierung der offiziellen Texte der Erinnerungskultur mit den Erfahrungen der Erzählerin zeigt, wie einseitig Vergangenheitsinterpretationen ausfallen können, die auf eine Legitimation staatlicher Vorgehensweisen angelegt sind. Vor dem Hintergrund dieses Ausschlusses vom öffentlichen Diskurs ist Naomis Vergangenheitserzählung auch ein Versuch, die gesellschaftlich auferlegte Sprachlosigkeit zu überwinden und den negativen Fremdbeschreibungen selbst bestimmte Identitätsentwürfe entgegenzusetzen. Ihre kritische Gegendarstellung stellt einen für den kommunalen Gedächtnisroman typischen Akt des .writing back* dar, der darauf angelegt ist, die hegemoniale Legitimitätserzählung in Zweifel zu ziehen und das bislang Ausgegrenzte zur Geltung zu bringen. Begreifbar wird damit nicht zuletzt, dass erst die Verfügbarkeit von Medien — und dazu zählt auch das Medium Literatur - die Voraussetzung bietet, eigenen Vergangenheitsauslegungen und selbst bestimmten Identitätsprofilen im öffentlichen Diskurs Gehör zu verleihen. Die Vielzahl intertextueller und -medialer Referenzen und die direkte Integration von Gedächtnismedien hat eine dezidierte Pluralisierung von Naomis Gedächtnisnarration zur Folge. So tritt an die Stelle der von der Erzählerin kritisierten 301
Vgl. zu dieser kritischen Perspektivierung auch das folgende Zitat: .„Grinning and happy' and all smiles around a pile of beets? That is one telling. It's not how it was." (S. 236)
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monologischen Unifizierung des Vergangenen eine palimpsestartige Gedächtniscollage (vgl. McAlpine 1995, S. 135; Banerjee 1999, S. 101; Helms 2003, S. 34), die unterschiedliche Perspektiven auf die Geschichte der japanisch-kanadischen Bevölkerung gewährt. Durch das Verfahren der strukturellen Multiperspektivität entsteht ein Geflecht von kontrastierenden, sich wechselseitig perspektivierenden und relativierenden Erinnerungen. Um eine „echte" Polyphonie (Bachtin), bei der unterschiedliche Vergangenheitsversionen um Deutungshoheit konkurrieren, handelt es sich in Obasan jedoch nicht. Indem die Erzählerin die verschiedenen, von den Gedächtnismedien transportierten Vergangenheitsversionen mit ihren eigenen Erinnerungen in einen Dialog treten lässt und Wechselwirkungen zwischen ihnen erprobt, legt sie blinde Flecke und Ausschlussmechanismen der etablierten, offiziellen Gedächtnisversionen offen. Die Erzählerin nutzt ihre Position als übergeordnetes Orientierungszentrum dazu, die medial perpetuierten Gedächtnisversionen, die ihren eigenen Deutungen zuwiderlaufen, zu desavouieren. Durch diese Hierarchisierung wird die vorgebliche Erinnerungspolyphonie zugunsten der übergeordneten Sichtweise der Erzählerin aufgelöst bzw. homogenisiert. Das für Obasan konstitutive Verfahren der strukturellen Multiperspektivität führt nicht zu einer Auflösung des Vergangenen in plurale Erinnerungsperspektiven. Im Gegenteil stellt es eine - für den kommunalen Gedächtnisroman - bedeutsame Authentisierungsstrategie dar. Durch die Gegenüberstellung und Konterkarierung mit der hierarchisch übergeordneten Perspektive der Ich-Erzählerin werden die dargebote nen Vergangenheitsversionen wirkungsvoll desavouiert. 302 Die Integration verschiedenartiger Gedächtnismedien, ihre Verbindung mit Naomis eigenen Erinnerungen sowie ihre explizite Kommentierung aus Naomis gegenwärtiger Perspektive fuhren zu einer Auflösung der ereignischronologischen Kohärenz in heterogene und zeitlich disparate Fragmente. Obasan zeichnet sich durch eine komplexe Zeitstruktur aus, in der Erinnerungen an die ferne und nähere Vergangenheit mit der Darstellung der gegenwärtigen Bedingungen der Erinnerungsrekonstruktion verwoben werden. Mit dieser ausgeprägten Diskontinuität ihres Gedächtnisnarrativs verleiht die Erzählerin der ebenso fragmentarischdissoziativen Funktionsweise ihrer Erinnerungen Ausdruck („a crowded collage of memories", S. 190) 303 und illustriert die Komplexität des Narrativierungsprozesses: „[T]he full story never emerges in a direct line" (S. 22). Offensichtlich lassen sich die heterogenen Erfahrungen, Empfindungen und Motive angesichts ihrer Vielgestaltigkeit, ihrer Polyvalenz und ihres traumatischen Charakters nicht zu einem einheitlichen und geschlossenen Narradv synthetisieren. Die formale Offenheit 302 Vgl. auch Banerjee (1999, S. 102f): „Obasan is heterogenous, discordant, and polyphonic, but it is never in any doubt about the truth and falsehood or justice and injustice [...]. Its heterogeneity of material, multiplicity of voices, metafictional reflexivity, perspectivism, and narrative disjunction are brought into aesthetic coherence". 303 Vgl. zur Betonung der fragmentarischen Qualität von Naomis Erinnerungen auch folgende Feststellung: „Only fragments relate me to them now, to this young woman, my mother, and me, her infant daughter. Fragments of fragments. (...) Segments of stories." (S. 64)
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Naomis Narrativs indiziert die Schwierigkeit, prekären Erfahrungen durch die Einbettung in einen narrativ strukturierten Verweisungszusammenhang Sinn und Bedeutung zu verleihen: Ein solch hochgradig kontingentes, belastendes und destabilisierendes Potential, wie es Naomis Erfahrungen inhärent ist, lässt sich offenbar nicht durch deren Integrationen in eine narrative Ordnung reduzieren und retrospektiv in Plausibilität transformieren. Jenseits dieser, dem Sinngebungsprozess inhärenten Besonderheiten evoziert die Fragmentierung des Narrativs Reminiszenzen an einen besonders folgenreichen Aspekt der gruppenkonstitutiven Vergangenheit, nämlich an die Erfahrung der stetigen, durch die „[Repatriation and dispersal policies" (S. 220) vorangetriebenen Dispersion der familiären Gemeinschaft. In zahlreichen Reflexionen stellt Naomi heraus, dass die ursprüngliche Gemeinschaft der Familie durch die systematische Dispersionspolitik unwiederbringlich zerstört wurde. Während die Familienangehörigen einst von Naomis Eltern sorgfältig zu einem einheitlichen .Teppich verwoben ' waren und sie als Inbegriff der „original .togetherness' people" (S. 24) galten, ist die Stabilität dieses Arrangements zunehmend brüchig geworden: „If we were knit into a blanket once, it's become badly moth-eaten with time." (S. 25) 304 Die staatlichen Umsiedlungsprogramme haben eine tief greifende Fragmentierung der ganzen Familie zur Folge, die auch nach Kriegsende nicht überwunden werden kann: „The fact is that families already fractured and separated were permanently destroyed. The choice to go east of the Rockies or to Japan was presented without time for consultation with separated parents and children." (S. 219) Welch' destabilisierende Implikationen die systematische Zerstörung der ursprünglichen Gemeinschaft für das Selbstverständnis der Japano-Kanadier hat, verdeutlicht Emily mit ihrer Feststellung: „To a people for whom community was the essence of life, destruction of community was the destruction of life" (S. 223). Die Fragmentierung von Naomis Gedächtnisnarration reflektiert die Folgen der willkürlichen Zerstörung von familiären Beziehungen: Wo sich einzelne Gruppenangehörige nicht länger in einer kontinuierlich geteilten Vergangenheitsaktualisierung wechselseitig rückversichern, bestätigen und ergänzen können, steht auch die Konstruktion einer geschlossenen Narration, die zur stabilen Basis der kollektiven Identität werden könnte, auf dem Spiel. Ebenso wie in No Gnat Mischief und in Away wird auch in Obasan die narrative Strukturierung dazu funktionalisiert, die Erfahrungen der japanisch-kanadischen Bevölkerung zu evozieren und den irreversiblen Brüchen und Diskontinuitäten der gruppenspezifischen Identität Ausdruck zu verleihen. Die Erfahrung der Fragmentierung und der erzwungenen topographischen Entwurzelung führt bei Naomis Familienangehörigen zu einem kulturellen und identitären Orientierungsverlust, der vor allem in der ambivalenten Signifikation 304 Dass dieser familiäre Zusammenhalt eine zentrale Komponente des gruppenspezifischen Identitätsverständnisses war, macht Emilys naturalisierender Vergleich mit „mochi", einer besonders klebrigen japanischen Reissorte, deutlich: „[Aunt Emily] insisted the Nakanes and Katos were intimate to the point of stickiness, like mochi." (S. 24)
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des Raums, der Heimat Kanada, begreifbar wird.305 Die Vorstellung einer sicheren Heimat, das Gefühl des kulturellen belonging werden im Zuge von Naomis Gedächtniserzählung sukzessiv destabilisiert und zunehmend durch die Erfahrung der Ortlosigkeit und Entfremdung verdrängt. Während des Zweiten Weltkrieges wird die japanische Minderheit durch die internen Umsiedlungsprogramme, die im offiziellen Sprachgebrauch euphemistisch als .„Interior Housing Projects'" (S. 41) bezeichnet werden und Teil des umfassenderen Programms .„within and without' Canada" (S. 102) darstellen, zu Fremden in ihrer eigenen Heimat degradiert: ,„The intention of the government is that every single Japanese - man, woman, and child - shall be removed from Vancouver as speedily as possible.' [...] It's all so frightening. Rumors are that we're going to be kept as prisoners and war hostages - but that's so ridiculous since we're Canadians." (S. 112) Diese Beschreibung ist ein typisches Beispiel für die Semantisierung des Raums im kommunalen Gedächtnisroman: So werden die räumliche Ghettoisierung und Segregation zum Ausdruck der zunehmend aggressiven Grenzziehung zwischen kultureller Majorität und Minorität sowie der auf Ausschluss angelegten Identitäts- und Alteritätskonstruktionen. Auf die prekäre identitäre Ambivalenz, die die Stigmatisierung als Fremder in der eigenen Heimat zur Folge hat, macht ein Rätsel Stephens aufmerksam: „We are both the enemy and not the enemy." (S. 84) Auch die nachfolgende Evakuierung von Naomis Familie von der Pazifikküste British Columbias nach Slocan und später in die Prärie Albertas illustrieren die destabilisierenden Konsequenzen dieser kulturellen Ausgrenzung. Zur Beschreibung dieser Umsiedlung bedient sich die Erzählerin räumlicher Oppositionen, die zum „Modell für semantische Oppositionen" (Pfister 2001 [1977], S. 339) werden: „We are those pioneers who cleared the bush and the forest with our hands, the gardeners tending and attending the soil with our tenderness, the fishermen who are flung from the sea to flounder in the dust of the prairies." (S. 132) Die bereits durch die Kontrastierung der See mit dem trockenen Staub der Prärie hervorgerufene topographische Entfremdung wird im Folgenden durch die Beschreibung des Orientierungsverlusts in eben dem Wald, den die japanisch-kanadische Bevölkerung einst kultivierte und der mithin ihre kulturelle Zugehörigkeit bezeugte, gesteigert. So wird der ursprünglich kultivier- und kontrollierbare Wald mehr und mehr zum Zeichen der Undurchdringlichkeit und Desorientierung: „In the morning, will I not find my way out of the forest and back to my room [...] ?" (S. 149) Der abermalige Umzug in den Prärieort Granton treibt die von der Landschaft ausgehende Bedrohung auf die Spitze. So imaginiert sich Naomi in der erinnernden Rückschau - im buchstäblichen wie im übertragenen Sinne - als Gefangene des Landes: „All the oil in my joints has drained out and I have been invaded by dust and grit from the fields and mud is in my bone marrow. I can't move anymore [...] and there is no escape." (S. 232) Ihre 305 Vgl. zu der Bedeutung der Raum- und Naturdarstellung in Obaia/t etwa Quimby (1999, S. 258), die betont: „The landscape functions, in Obasan, to signify the problems of national and personal identity."
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bedrängende Vorstellung, mit der Umsiedlung in die Prärie am ,Rande der Welt' (vgl. S. 229) angelangt zu sein, konkretisiert sich in der Position ihrer Wohnstätte: „We are at the far end of a large yard that has a white house in the middle. [...] O u r hut is at the edge o f a field that stretches as far as I can s e e " (ebd.). Die räumliche Randerfahrung sowie die starren Grenzen zwischen den sozialen Territorien der weißen Kanadier und der janapanisch-kanadischen Minorität (vgl. S. 165) werden zum Sinnbild der kulturellen Marginalisierung und der ebenso unüberwindlichen Distanz zwischen kultureller Identität und Alterität. Wie in den übrigen untersuchten kommunalen Gedächtnisromanen fungiert der Raum auch in Obasan als zentraler Ausdrucksträger, als gruppenspezifischer Gedächtnisraum, in dem sich die Erfahrung der Unterdrückung, der kulturellen Dezimierung und der identitären Entfremdung materialisieren. Obgleich alle legislativen Restriktionen gegenüber der japanisch-kanadischen Bevölkerung im Jahre 1949 aufgehoben werden, wirken die Erfahrungen der Entwurzelung bzw. der Desorientierung als prekäre Identitätsprobleme der Gemeinschaft auch in der Gegenwart fort. So setzt sich nicht nur Emily in ihrer Erzählung „ T H E STORY O F T H E NISEI IN CANADA: A S T R U G G L E F O R L I B E R T Y " (S. 46) ausführlich mit der Frage nach der Bedeutung des heimischen Raums auseinander: „This is my own, my native land. [...] Is this my own, my native land? T h e answer cannot be changed. Yes. It is. For better or worse, I am Canadian." (S. 48) Auch die Erzählerin wirft wiederholt die Frage nach ihrer kulturellen Herkunft und Zugehörigkeit auf, problematisiert die Erfahrung der Unverfügbarkeit eines legitimen Platzes im öffentlichen Raum und äußert die Sehnsucht nach einem sicheren Ort: Where do any of us come from in this cold country? Oh Canada, whether it is admitted or not, we come from you we come from you. From the same soil, the slugs and slime and bogs and twigs and roots. We come from the country that plucks its people out like weeds and flings them into the roadside. [...] Where do we come from, Obasan? We come from cemeteries full of skeletons with wild roses in their grinning teeth. We come from our untold tales that wait for their telling. (S. 271)
N a o m i bringt hier erneut die Grenzen des kanadischen Multikulturalismus in den Blick, seine Ausschlussmechanismen und kategorialen Trennungen und setzt diesen nachdrücklich ihren Anspruch auf Zugehörigkeit entgegen. Dieser Forderung wird vor allem durch die Evokation der Nationalhymne ( „ O h Canada"), dem nationalen .Erinnerungsort' par excellence, wirkungsvoll Ausdruck verliehen. Die Implikation dieses Aneignungsakts ist der Anspruch auf eine veränderte Konzeptualisierung von nationaler Zugehörigkeit und Identität: 306 Ihre gruppenspezifischen Erfahrungen sind nicht außerhalb des nationalen Gedächtnisses, sondern als inte-
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Vgl. Helms (2003, S. 40), die in diesem Zusammenhang betont: „ N a o m i uses the discourse o f the anthem to show how a national symbol may purport to speak for a nation while its construction o f that nation relies on the exclusion o f its minorities.'*
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graler Teil desselben anzusehen. Wie der von Naomi herausgestellte Wechselbezug zwischen topographischer Verankerung bzw. Zugehörigkeit und den (noch) nicht artikulierten oder artikulierbaren Geschichten illustriert, versteht sie ihre Gedächtniserzählung als bedeutsamen Versuch, gesellschaftliche Demarkationslinien neu zu verhandeln und den bislang marginalisierten Erfahrungen ihrer Gemeinschaft einen legitimen Platz in der Mitte des öffentlichen Raums zu verschaffen. 307 Dass die Forderung nach Anerkennung freilich nicht mit der assimilatorischen Negierung von kulturell Differentem einhergehen kann, macht vor allem die Integration von zahlreichen japanischen Begriffen deutlich, die eine für den kommunalen Gedächtnisroman typische Strategie zur Akzentuierung von kulturspezifischen Besonderheiten darstellt. Ebenso unterstreicht auch die Betonung Emilys, dass das japanische Märchen Momotaro in dem Moment zu einem kanadischen wird, in dem es von einer Kanadierin erzählt wird, die Notwendigkeit eines integrativen Verständnisses von nationaler Identität: „.Momotaro is a Canadian story. We're Canadian, aren't we? Everything a Canadian does is Canadian."' (S. 68) Der Erfahrung eines rassistischen kanadischen Staates, in dem kulturelle Besonderheiten zum Anlass von Ausschluss und Diskriminierung werden (vgl. Amoko 2000, S. 49), stellt Kogawas Gedächtnisroman Obasan die Vision einer faktischen multikulturellen Gesellschaft entgegen, die die schmerzlichen Geschichten der Minderheiten anerkennt und den vielen Stimmen, den vielen Erinnerungen und den vielen Identitäten Rechnung trägt. Erst am Ende ihres Aufenthaltes bei Obasan, unmittelbar nach dem häuslichen Todesgottesdienst für ihren Onkel, erfährt Naomi schließlich von dem tragischen Schicksal ihrer Mutter, das von Großmutter Kato in zwei Briefen dokumentiert wurde. Beide aus dem Jahre 1949 stammenden, in japanisch verfassten Briefe werden von dem Pfarrer Nakayamka-sensei in Anwesenheit Naomis, ihres Bruders Stephen, Emilys und Obasans verlesen und offensichtlich von Naomi ins Englische übersetzt. Wie die Briefe offen legen, befinden sich Naomis Mutter und deren Mutter im Jahre 1945 gemeinsam in Nagasaki, bis sie sich in Folge des Atombombenabwurfs durch die USA aus den Augen verlieren. Als Grandma Kato die Suche nach ihrer Tochter schon fast aufgegeben hat, trifft sie schließlich in dem Chaos der zerstörten Stadt auf eine bis zur Unkenntlichkeit entstellte Frau: „The woman was utterly disfigured. Her nose and one cheek were almost gone. [...] She sat in a cloud of flies, and maggots wriggled among her wounds. As Grandma watched her, the woman gave her a vacant gaze, then let out a cry. It was my mother." (S. 286) Offenbar starb Naomis Mutter wenig später, nicht ohne ihrer eigenen Mutter zuvor nahe zu legen, gegenüber ihren Kindern, also gegenüber Naomi und Stephen, ihr Schicksal zu verschweigen.
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stellt Naomi den Konnex von Artikulation und der Verfügbarkeit eines legitimen Platzes im multikulturellen Raum mit Blick auf ihre Tante Obasan heraus: „(Obasan] does not dance to the multicultural piper's tune or respond to the racist's slur. She remains in a silent territory." (S. 271)
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Die Nachricht von den Todesumständen ihrer Mutter, ihre Bitte, ihr Unheil gegenüber ihren Kindern unartikuliert zu lassen, werden für Naomi am Ende des Romans erneut zum Anlass, über die Grenzen von retrospektiver Sinnstiftung und die Bedeutung des Schweigens als Modus der Erfahrungsverarbeitung zu reflektieren: Silent Mother, you do not speak or write. You do not reach through the night to enter morning, but remain in the voicelessness. From the extremity of much dying, the only sound that reaches me now is the sigh of your remembered breath, a wordless word. How shall I attend that speech, Mother, how shall I trace that wave? (S. 289) Obschon Naomi hier abermals die Schwierigkeit herausstellt, traumatische Erfahrungen angemessen zu versprachlichen und somit das Unsagbare sagbar zu machen, ist sie sich gleichwohl der destruktiven Konsequenzen ihrer vorgängigen Sprachlosigkeit bewusst geworden. So geht ihre Selbstvisualisierung als Verletzte, die auf einem toten Baumstumpf sitzt und deren Wunden für immer offen bleiben — gleich wie viele Verbände sie auch anlegen mag —, mit der Einsicht einher: „The child is forever unable to speak. The child forever fears to tell. [...] Gentle Mother, we were lost together in our silences. Our wordlessness was our mutual destruction." (S. 291) Die Sprachlosigkeit wird von der Erzählerin nunmehr nicht länger als verheißungsvoller Schutzmechanismus, sondern im Gegenteil als Ursache ihres Leids angesehen. Dieses Schicksal verbindet sie zwar mit ihrer Mutter; gleichwohl widerlegt sie diese Affinität performativ: Im Gegensatz zu ihrer verstorbenen Mutter, von der einzig die Aufforderung zum Schweigen geblieben ist (vgl. ebd.), ist Naomi durchaus dazu fähig, ihre Geschichte und die ihrer Mutter zu verbalisieren, ihnen so retrospektiv Bedeutung zu verleihen und ihr Nichtvergessen einzufordern. Im Prozess der Narrativierung — und vor allem durch die interne Fokalisierung des Vergangenen - lässt die Erzählerin eben dieses einstmals hilflose und im Schweigen verharrende Kind zur Sprache kommen. Dass es ihr auf diese Weise gelingt, ihre traumatischen Erfahrungen zumindest teilweise zu bewältigen, wird nicht nur durch das past tense des obigen Zitats („Our wordlessness was our mutual destruction", S. 291) signalisiert; auch ihre Betonung, nicht länger Kind zu sein, stellt die positive, therapeutische Wirkung ihres Narrativierungsprozesses heraus: I am thinking that for a child there is no presence without flesh. But perhaps it is because I am no longer a child I can know your presence though you are not here. The letters tonight are skeletons. Bones only. But the earth sill stirs with dormant blooms. Love flows through the roots of the trees by our graves. (S. 292) Zwar muss die Erzählerin erneut konzedieren, dass auch die Briefe, die ihr Aufschluss über das Schicksal ihrer Mutter bieten, die Vergangenheit nicht ganzheitlich oder leibhaftig aufleben lassen - was von der Vergangenheit bleibt, sind eben nur Fragmente. Dennoch hat sie sich ihrer Mutter und damit einem zentralen Aspekt ihrer vorgängig unartikulierten Vergangenheit symbolisch angenähert und sie als Teil ihrer Identität reintegriert. Das heilende Potential dieses Versprachli-
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chungsprozesses wird durch die Transformation des toten Baumstumpfes in einen Wurzel schlagenden Baum anschaulich illustriert. Die reflexive Auseinandersetzung mit Möglichkeiten, Grenzen und Folgen der Vergangenheitserschließung tritt schließlich am Ende des Romans abermals zugunsten der erinnerungskulturellen Prozesse der Aneignung und Aktualisierung des gruppenspezifischen Gedächtnisses in den Hintergrund. Bekleidet mit Tante Emilys Jacke sucht die Erzählerin jenen Erinnerungsort auf, den sie bereits am Anfang des Romans mit ihrem Onkel besuchte. Erst jetzt erschließen sich für Naomi ebenso wie für die Leserschaft die erinnerungssymbolischen Implikationen dieses Landstriches, der offenbar als Gedenkort für das Schicksal ihrer Mutter figuriert. Dass dieser rituelle Erinnerungsakt das Ende des Romans mit seinem Anfang verbindet, unterstreicht die durch Naomis Narrativierungsprozess bewirkte Veränderung, bringt er doch ihr neu gewonnenes Verständnis für ihre Geschichte in den Blick. Im Gegensatz zum Anfang des Romans, wo sie diesen Landstrich fast passiv und ohne Verständnis für seine erinnerungssymbolische Bedeutung begeht, sucht sie ihn nun aktiv, im Wissen um die Geschichte ihrer Mutter auf. Auch diese Verschiebung fuhrt die Signifikanz von Naomis Erzählung vor Augen: Erst ihr Gedächtnis narrativ transformiert den Ort in einen Gedächtnisort, in dem die Geschichten der japanisch-kanadischen Bevölkerung auch rezipientsenseitig nachvollziehbar werden. Die bereits durch den Gedenkakt illustrierte Einsicht in die Notwendigkeit des Erinnerns wird zusätzlich dadurch akzentuiert, dass Naomi ihre Narration mit einem Exzerpt beschließt, das dem Parlament Kanadas bereits im April 1946 vorlegt wurde: „It is urgently submitted that the Orders-in-Council [for the deportation of Canadians of Japanese racial origin] are wrong and indefensible and constitute a grave threat to the rights and liberties of Canadian citizens" (S. 297). Mit der Integration dieses von ihr einst zurückgewiesenen Dokuments transzendiert die Erzählerin den Bereich des persönlichen Gedenkens und fordert symbolisch die Anerkennung ihrer gruppenspezifischen Vergangenheit im öffentlichen, kanadischen Erinnerungsraum ein. Durch die abermalige Aktualisierung dieses Dokuments unterstreicht die Erzählerin die andauernde Virulenz der vergangenen Diskriminierungen und verdeutlicht, dass das .Verzeihen' (vgl. S. 288) des zugefügten Unrechts und ein gleichberechtigtes multikulturelles Miteinander nur unter der Voraussetzung einer gesellschaftlichen Anerkennung der bislang marginalisierten Geschichten möglich wird. E s ist insbesondere die Forderung nach Vertretensein im offiziellen Gedächtnis, die die Annäherung von Naomis und Emilys Perspektive verdeutlicht, eine perspektivische Konvergenz, die die ursprünglich konfliktorientierte Plotstruktur in eine konsensorientierte transformiert. Das erinnerungsstrategische Potential dieser Dynamik liegt auf der Hand: Gerade indem Naomi den (vermeintlichen) Nutzen des Vergessens zunächst thematisiert, ihn dann durch die Darstellung seiner negativen, destruktiven Folgen desavouiert, kann sie das Nichtvergessen und Nichtverdrängen der Geschichte der japanisch-kanadischen Minorität umso wirkungsvoller einfordern.
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Dass diese Forderung auf gesellschaftlicher Ebene zumindest teilweise eingelöst wurde, zeigen die Wirkungen, die die gesellschaftliche Rezeption von Obasan hatten. Waren die Erfahrungen der japanisch-kanadischen Bevölkerung bis 1981, dem Jahre der Publikation von Kogawas kommunalem Gedächtnisroman, gesamtgesellschaftlich weit gehend in Vergessenheit geraten, so bildete das Werk einen wirkungsvollen Anstoß für die Auseinandersetzung mit dem kulturgeschichtlich verdrängten Trauma und ebnete der anstehenden Integration der rassistischen Vergangenheit in eine multikulturelle Gegenwart den Weg (vgl. Beauregard 2001, S. 6; Wyile 2002, S. 69). Im September 1988 wurden unter Präsident Brian Mulroney Passagen des Werkes im kanadischen House of Commons verlesen. Der Roman spielte eine Schlüsselrolle für nachfolgende, nun endlich realisierte staatliche Kompensationen für die Entbehrungen, die die kanadisch-japanische Bevölkerung während des 2. Weltkrieges erleiden musste. Obasan ist hiermit auch ein hervorragendes Beispiel für die gesellschaftliche Wirksamkeit des kommunalen Gedächtnisromans, also für seine Legitimationsfunktion als Medium des kollektiven Gedächtnisses: The ability of Kogawa's novel to shape the course of recent events in the nationalpolitical arena suggests that the contemporary historical literature [...] can play a significant role in restoring collective memory, and that ultimately such acts of historical recovery are needed for personal, collective, and national healing to occur. (Peterson 2001, S. 168) Sein kulturökologisches Funktionspotential als imaginativer Gegendiskurs und als Medium des kollektiven Gedächtnisses bezieht Kogawas kommunaler Gedächtnisroman aus den Wechselwirkungen zwischen Spezifika der Selektionsstruktur und formästhetischen Darstellungsverfahren. Obasan kann gedächtnisbildende Wirksamkeit entfalten, weil er die vorgängig marginalisierten Erfahrungen der kanadisch-japanischen Bevölkerung als subjektive und gelebte Vergangenheit inszeniert, weil er durch interne Fokalisierung und metaphorische Darstellungsverfahren auch solche Eindrücke in die Erinnerungskultur befördern kann, die in anderen Diskursen unartikulierbar bleiben. Schließlich leistet auch die für Obasan charakteristische Zusammenfuhrung von dominanten Vergangenheitsdeutungen mit Naomis eigenen, subalternen Erinnerungen einen wesentlichen Beitrag dazu, Verkürzungen und Unzulänglichkeiten gesellschaftlich zirkulierender Gedächtnisversionen in den Blick zu bringen und so die Legitimität des literarisch inszenierten Narrativs zu akzentuieren. Der willkürlichen Zerstörung der japanisch-kanadischen Gemeinschaft stellt Obasan eine Semiotik der vielfältigen Interrelationen zwischen den Einzelerinnerungen der community entgegen, die diese symbolisch rekonstituiert und so einen maßgeblichen Beitrag zur Bewältigung der traumatischen Erfahrung der Marginalisierung leistet.
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3.4 Tendenzen des kommunalen Gedächtnisromans: Vielstimmigkeit im kanadischen Gedächtnisdiskurs Die vorangehenden Interpretationen vermitteln einen Eindruck von dem Spektrum verschiedener Konzepte von Kollektivgedächtnis und kollektiver Identität, das im Medium des kommunalen Gedächtnisromans erprobt wird. Kommunale Gedächtnisromane verdeutlichen die Orientierungsleistung, die die gemeinschaftlich gestiftete Vergangenheit für den Einzelnen erfüllen kann und lenken das Augenmerk auf den engen Zusammenhang, der zwischen Kollektivgedächtnis, Identität und gesellschaftlicher Legitimation besteht. Damit machen sie die Notwendigkeit der Kontinuierung von gruppenspezifischen Vergangenheiten, Identitätskonzepten und Wertevorstellungen sichtbar, die gerade unter den Bedingungen von diasporischen Lebensverhältnissen
identitätsrelevante
Funktionen
erfüllt.
Kommunale
Gedächtnisromane reaktivieren die Vergangenheit aus der Sicht und der Erlebnisweise von marginalisierten Gruppen, denen im Text eine anderweitig nicht verfügbare Artikulationsmöglichkeit eröffnet wird. Die literarisch entworfenen Gegengedächtnisse
gehen
mit
der
Forderung
einher,
die
Bedeutung
der
gruppenspezifischen Vergangenheit anzuerkennen und gesellschaftlich etablierte Vergangenheitsdeutungen neu zu perspektivieren. Der Vorstellung eines monolithischen Kollektivgedächtnisses stellen solche Romane die einer pluralen Erinnerungskultur entgegen, die der faktischen Vielzahl von Erinnerungsgemeinschaften gerecht zu werden vermag. Der imaginative Gegendiskurs des kommunalen G e dächtnisromans zieht sich nicht allein auf eine Gegenposition zu kulturell dominanten Vergangenheitsdeutungen zurück, sondern versucht
Wechselwirkungen
und Interdependenzen von kulturell Erinnertem und Vergessenem in komplexer Weise neu zu definieren. Ihr kulturökologisches Funktionspotential als imaginativer Gegendiskurs beziehen kommunale Gedächtnisromane aus literarischen Privilegien der Selektion, die sie dazu befähigen, ehemals Vergessenes und Verdrängtes zu reaktivieren und Marginalisierten, Außenseiterfiguren und Ohnmächtigen eine Stimme zu verleihen. Darüber hinaus leisten die für kommunale Gedächtnisromane kennzeichnenden formalen Besonderheiten einen maßgeblichen Beitrag dazu, vorgängig Unartikuliertes und Unartikulierbares zur Sprache zu bringen. Dazu zählen Spezifika der diskursiven Perspektivierung wie die Verwendung einer expliziten communal voice oder interne Fokalisierung ebenso wie metaphorische oder metonymische Formen der Vergangenheitsdarstellung, die zu einer konsequenten Subjektivierung der kollektiven Vergangenheit beitragen und das Unsagbare sagbar machen. Das gedächtnisbildende Wirkungspotential, das kommunale Gedächtnisromane in der Erinnerungskultur entfalten können, beruht auf der Verbindung dieser Merkmale. Die Romaninterpretationen führen auch vor Augen, dass kommunale G e dächtnisromane die Rhetorik der Erinnerungen und Identitäten nicht nur dazu nutzen, vorgängig marginalisierte Vergangenheiten zu vergegenwärtigen. Sie funktionalisieren die Rhetorik vielmehr auch, um Voraussetzungen und Folgen des
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gruppenspezifischen Gedenkens zu extrapolieren und Möglichkeiten einer Koexistenz verschiedener Gruppen im Rahmen der kanadischen Erinnerungskultur auszuloten. So akzentuieren zwar alle Romane gruppenspezifische Differenzen und fordern die gesellschaftliche Anerkennung des literarisch inszenierten Gegengedächtnisses und des kollektiven Wir ein. Die Forderung nach Anerkennung und gesellschaftlicher Visibilität findet allerdings stets vor dem Hintergrund einer pluralen Erinnerungskultur statt. Bei aller Betonung der Singularität des entworfenen Kollektivgedächtnisses wahren die kommunalen Gedächtnisromane ein Bewusstsein für die Partikularität der inszenierten Vergangenheits- und Identitätsversion und vermeiden damit jene Tendenz zur Essentialisierung oder Verabsolutierung, die Gegendiskursen häufig vorgeworfen wird. Kommunale Gedächtnisromane stellen nicht nur ein machtvolles Medium der Inszenierung von marginalisierten Erfahrungen dar. Vielmehr problematisieren sie auch die Voraussetzungen der gesellschaftlichen Positionierung dieser Vergangenheitsversion im öffentlichen Erinnerungsraum. Sie entwerfen erinnerungskulturelle Modelle, die eine Erinnerung ohne Ausschluss, eine Behauptung der Identität ohne Stigmatisierung von Alterität erlauben. Ihr besonders Leistungsspektrum für die kanadische Erinnerungskultur besteht darin, dass sie sowohl Medien des kollektiven Gedächtnisses als auch Medien der Reflexion dieses Gedächtnisses sind. Zahlreiche kommunale Gedächtnisromane fungieren als imaginativer Gegendiskurs und als kulturkritischer Metadiskurs und beziehen gerade aus dieser Kombination ihr Potential, eine kulturelle Regeneration zu initiieren. Die drei ausführlich analysierten Romane stellen nur einen kleinen Teil des groß angelegten kanadischen Literaturprojekts dar, das in kritisch-revisionistischer Absicht die kontinuitätsstiftende Aktualisierung der partikularen Kollektiwergangenheit sowie die Heterogenität von Erinnerungen und Identitäten darstellt. Daher sollen überblicksartig weitere kommunale Gedächtnisromane, die an diesem Projekt partizipieren, vorgestellt werden. Abschließend soll der Frage nachgegangen werden, warum gerade kommunale Gedächtnisromane für die kanadische Erinnerungskultur eine derart zentrale Rolle spielen. Im Zentrum des Romans Disappearing Moon Caß (1990) der chinesischkanadischen Autorin Sky Lee stehen die generationsübergreifenden Exilerfahrungen chinesischer Immigranten in der Chinatown Vancouvers, denen die homodiegetische Erzählinstanz Kae Ying Ende der 1980er Jahre auf den Grund zu gehen versucht.108 Gleich zu Beginn ihrer Narration verortet sich die Erzählerin im Kontext ihrer Gemeinschaft und etabliert sich damit als explizite communal voice·. „I've been brought up to believe in kinship, or in those with whom we share. [...] All my
308 Disappearing Moon Cafe gilt als der erste chinesisch-kanadische Roman. Die Bedeutung, die diesem Roman für die chinesisch-kanadische Bevölkerung zukommt, wird häufig mit der von Joy Kogawas Roman Obasan verglichen (vgl. Lutz 2003, S. 199). In beiden Romanen geht es darum, gesellschaftliche und staatliche Diskriminierungen mit literarischen Mitteln aufzuarbeiten und so bislang weit gehend unbeachtete Erfahrungen erinnerbar zu machen.
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life, I have been faithfully told, and I have also respectfully remembered." (S. 19) In der erinnernden Rückschau erschließt Kae die zahlreichen innerfamilären Verstrickungen, die in dem Selbstmord ihrer Tante Suzie Wong sowie in inzestuösen Beziehungen innerhalb der „chinese-canadian community" (S. 147) ihren dramatischen Höhepunkt finden. Wie Kaes Gedächtniserzählung sukzessive aufdeckt, sind diese inzestuösen Konstellationen nicht nur dem Wunsch geschuldet, um jeden Preis einen .ethnisch reinen Stammbaum' zu kontinuieren - ein Wunsch, der tradierten konfuzianischen Wertevorstellungen verpflichtet ist (vgl. S. 54, 223). Vielmehr sind sie auch eine Folge des institutionellen Rassismus, der xenophobischen kanadischen Immigrationspolitik, die die 1920er Jahre kennzeichnete: „Since 1923 the Chinese Exclusion Act had taken its heavy toll. The rapidly diminishing chinese-canadian community had withdrawn into itself, ripe for incest." (S. 147) Der im Zuge der „Keep Canada White"-Kampagne erlassene .Exclusion Act' zielte auf eine radikale Eindämmung der chinesischen Immigration ab. Bis zu seiner Aufkündigung im Jahre 1947 leistete dieser Erlass einer verheerenden Dezimierung und Fragmentierung der chinesisch-kanadischen Bevölkerung Vorschub und wirft diese - dies illustriert die Krankheitsmetaphorik ebenso wie die rigide räumliche Grenzziehung — mehr und mehr auf ihre eigenen Ressourcen zurück (vgl. Huggan 1994, S. 40). Mit der retrospektiven Aktualisierung dieser ebenso schmerzlichen wie gesellschaftlich vergessenen Episode der kanadischen Kollektiwergangenheit begründet Kaes Narration ein Gegengedächtnis, das überkommene Vorstellungen von gleichberechtigten Interaktionen zwischen einer kulturellen Majorität und verschiedenen Minoritäten nachhaltig erschüttert: „Those whites who hated yellow people never needed an excuse to spit on Chinese." (S. 70) In Disappearing Moon Cafe ist es vor allem die fragmentarische Erzählweise, die als formaler Ausdrucksträger der Kollektiverfahrung der chinesisch-kanadischen Bevölkerung fungiert. Kaes versatzstückartige, von narrativen und temporalen Diskontinuitäten durchzogene Erzählung evoziert Reminiszenzen an das Vorhaben ihres Urgroßvaters Wong Gwei Chang, die Knochen der unzähligen chinesischen Arbeiter einzusammeln, die beim Bau der Canadian Pacific Railway zu Tode kamen: „,My mission is to search out the bones of those who have died on the iron road, so they can be sent back home'" (S. 2). Ebenso wie Kae versucht auch ihr Großvater, die verfügbaren Reste ihrer Kollektiwergangenheit, der „scattered, shattered bone" (S. 13), vor dem Vergessen zu bewahren und so an die schmerzlichen, in offiziellen Vergangenheitsrepräsentationen verdrängten Erfahrungen der chinesischen Immigranten zu erinnern: „They were still waiting as much as half a century after the ribbon-cutting ceremony by the whites at the end of the line, forgotten as chinamen generally are." (S. 6) Der metaphorische Prozess der Vergangenheitsrekonstruktion, der Versuch, aus den einzelnen Knochen das Leben verstorbener Arbeiter wiederzuerschließen, verweist auf die Schwierigkeit diasporischer Gemeinschaften, eine beschädigte Kollektividentität und die Einheit der Gemein-
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schaft zu rekonstituieren (vgl. Goellnicht 2000, S. 3II). 309 Die erzählerische Vermittlungsform figuriert in Disappearing Moon Cafe als Ausdrucksträger der gruppenspezifischen Erfahrung der Diskontinuität. Es ist die aktive - von der versatzstückartigen Erzählweise geforderten - Partizipation der Leser an dem sinnstiftenden (Re-)Konfigurationsprozess, die einen wesentlichen Beitrag zur Vergegenwärtigung und symbolischen Rekonstitution jener verdrängten Erfahrung der erzwungenen Dispersion leistet. Auch Michael Ondaatjes Roman In the Skin of a Lion (1987) stellt ein eindrucksvolles Beispiel für den kommunalen Gedächtnisroman dar. Das dem Roman vorangestellte Zitat von John Berger „Never again will a single story be told as though it were the only one" bringt das in dem Roman angestrebte Unterfangen auf den Punkt: Es geht darum, gesellschaftlich marginalisierten Erinnerungen eine Stimme zu verleihen und so dominante und oftmals einseitige Deutungsmuster der kanadischen Kollektiwergangenheit zu konterkarieren. Im Zentrum der Erzählung, die von der Fokalisierungsinstanz Patrick Lewis während einer nächtlichen Autofahrt entfaltet wird, stehen die Erfahrungen einer Gruppe mazedonischer und bulgarischer Immigranten, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts vorwiegend als einfache Arbeiter an dem Bau des gigantischen Bloor Street Viaduct in Toronto mitwirken und deren substantieller Beitrag an der Stadtgründung nachfolgend systematisch aus dem offiziellen Gedächtnis ausgeblendet wird: ,„There was no record kept'" (S. 236). Die fur kommunale Gedächtnisromane typische revisionistische Absicht wird in Ondaatjes Roman vor allem durch eine symbolische Erhöhung des Partikularen zum Monumentalen und Mythischen erreicht. Die extrem minutiöse und ästhetisierende Darstellung der verrichteten Bauarbeiten, die poetisch stilisierte Schilderung des Arbeitsablaufs und die apotheotischen Figurencharakterisierungen transformieren das Gewöhnliche zum Außerordentlichen und statten es auf diese Weise mit kollektiver Relevanz aus.310 Zu dem Wirkungspotential einer ebenso repräsentativen wie authentischen Erinnerung an die Erfahrungen der Arbeiter trägt vor allem die interne Fokalisierung bzw. die Inszenierung von gruppenspezifischen field memories bei. Ebenso wie in Jane Urquharts Roman Away wird auch in Ondaatjes In the Skin of a Lion die Kommunalität der Exilerfahrung durch alternierende interne Fokalisierung inszeniert, die ein vielschichtiges Gesamtbild von der Kollektiwergangenheit der Arbeiter ergibt: „All these fragments of memory... so we can retreat from the grand story" (S. 148). Die Verbindung der dezidierten Subjektivierung bzw. Individualisierung des Vergangenen mit einer Monumentali309 Vgl. zu diesem Aspekt Beauregard (1999, S. 66), der zu einem ähnlichen Schluss gelangt: „Disappearing Moon Cafe is thus less a teleology than an attempt to work through the specificities of individual historical moments while at the same time making bold, sweeping connections between them. [...] The problem raised in Diasppearing Moon Cafe - how to link discrete historical moments to a larger concept of,Chinese Canadian history' - is [...] closely related to other postcolonial investigations of .history,' collectivity, and resistance." 310 Vgl. zu dem revisionistischen Funktionspotential des Romans auch die Interpretationen von Barbour (1993), Duffy (1994) und Colavincenzo (2001).
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sierung von gemeinhin als irrelevant erachteten Erfahrungen verleiht In the Skin of a Lion sein gedächtnisbildendes Wirkungspotential und macht den Roman zu einem machtvollen Medium, das vorgängig anonymen und in Vergessenheit geratenen Akteuren einen legitimen Platz in der Erinnerungskultur verschafft („sewn into history", S. 149). Als weitere Beispiele für den kanadischen kommunalen Gedächtnisroman sind schließlich noch Hiromi Gotos Chorus of Mushrooms (1994), Anne Michals Fugitive Pieces (1996), Austin Clarkes The Poäshed Hoe (2002) sowie Thomas Kings Green Grass, Run/ting Water (1993) zu nennen. Da Thomas Kings Roman ein eindrucksvolles Beispiel für eine autochthone Spielart des kommunalen Gedächtnisromans darstellt, sollen abschließend augenfällige Besonderheiten und Darstellungsformen dieses Romans skizziert werden. 311 Thomas King führt in seinem Roman die indigene Mythentradition mit dem modernen Alltag der kanadischen Blackfoot zusammen und bietet so einen panoramischen Einblick in ein minoritäres Kollektivgedächtnis. Gruppenkonstitutive Besonderheiten manifestieren sich in Green Grass, Running Water in kulturspezifischen Inhalten des Kollektivgedächtnisses wie etwa im Ritual des Sun Dance, der Sprache der Blackfoot sowie in der Figur des Trickster. Die Figur des Trickster wird in Green Grass, Running Water dazu genutzt, auch surreale und phantastische Phänomene zu revitalisieren und so das rationalistische Weltverständnis der dominant weißen Bevölkerung Kanadas kritisch zu relativieren. Der Trickster evoziert ein eigenständiges, mythopoetisches Repertoire aus der külturellen Tradition der Blackfoot und wird in Kings Roman bewusst für die literarische Selbstrepräsentation dieser marginalisierten Gruppe eingesetzt. Begünstigt wird die Revitalisierung eigenständiger Traditionen der Blackfoot auch durch Spezifika der Zeitstruktur. Zwar weisen alle evozierten Elemente einen ausgeprägten Vergangenheitsbezug auf. Allerdings werden sie in dem Roman aus ihrer diachronen Dimension gelöst und auf eine synchrone Achse der Gleichzeitigkeit projiziert — eine Vorstellung, die sich in den ca. 500-jährigen Protagonisten (vgl. S. 52), die in der Gegenwart als Weltverbesserer auftreten, paradigmatisch konkretisiert. Die Zeitdarstellung trägt zum Eindruck einer vollständigen Präsenz des Vergangenen in der Gegenwart bei und akzentuiert auf diese Weise nicht nur wirkungsvoll die anhaltende Virulenz der Vergangenheit, sondern bringt auch die transgenerationale Kommunalität der Erfahrung zur Anschauung. Die für kommunale Gedächtnisromane typische revisionistische Absicht wird in Green Grass, Running Water vor allem durch die subversive Umdeutung zentraler .westlicher' Mythen, Traditionen und Normvorstellungen, also durch intertextuelle und intermediale Refunktionalisierungen des kulturellen Archivs bewirkt: Die Geschichte Kanadas, die biblische Tradition, die Film- und Literaturgeschichte wer311
Einen guten Überblick über formale Besonderheiten des Romans und ihre Implikationen für die Konstitution eines indigenen Gegengedächtnisses liefert zum Beispiel Colavincenzo (2003, S. 107127).
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den in Kings kommunalem Gedächtnisroman konsequent aus indigener Perspektive geschildert; sie treten dabei in einen grenzüberschreitenden Dialog mit der mündlichen Mythentradition der Blackfoot. Im Zuge dieser subversiven Strategie wird die biblische Genesis in eine indigene Schöpfungsgeschichte transformiert, in der First Woman und Ahdamn mit GOD über den Konsum seiner Äpfel verhandeln; Gattungsmuster und die ihnen inhärenten Wertehierarchien werden parodistisch in Frage gestellt. Während zwei Charaktere einen Western anschauen, entfaltet sich zwischen ihnen folgende Diskussion: „,How come the Indians always get killed?' ,It's just a movie.' ,But what if they won?' ,Well, [...] if the Indians won, it probably wouldn't be a Western.'" (S. 216) Es ist insbesondere diese für Green Grass, Running Water kennzeichnende Neukontextualisierung dominanter Erzählformen und -inhalte, die einen wesentlichen Beitrag dazu leistet, überkommene Kodierungsmuster kritisch zu hinterfragen und alternative Identitäts- und Vergangenheitsentwürfe zu erproben. Gerade weil die indigenen Erinnerungsperspektiven an dominante Kollektiworstellungen und verfügbare Gedächtnisinhalte anschließbar bleiben, können sie in der Erinnerungskultur Wirksamkeit entfalten und zu einer kritischen Modifikation vorherrschender Vergangenheitsdeutungen beitragen. ***
Dass ausgerechnet der kommunale Gedächtnisroman in der Gegenwartsliteratur Kanadas eine derart prominente Rolle spielt, diese Gattungsausprägung der fictions of memory mithin im Vergleich zu den anderen Erscheinungsformen vermehrt auftritt, ist sicherlich kein Zufall.312 Die Vielfalt imaginativer Gegengedächtnisse kann vielmehr als literarische Reaktion „einer sich ihres multikulturellen Charakters immer bewußter werdenden Gesellschaft begriffen werden, die das Bemühen um eine allumfassende kanadische Identität allmählich durch das Postulat einer .Einheit in Vielheit' ersetzt" (Klooß 1992, S. 187). Kommunale Gedächtnisromane loten die Grenzen und Möglichkeiten der kollektiven Identitätsstiftung aus, lokalisieren diese Identität im Rahmen der kanadischen Multikultur und treiben hiermit auch die Redefinition Kanadas als nunmehr multikulturelle Nation voran (vgl. Kuester 1998, S. 30): „On the one hand, this has meant that groups within the Canadian spectrum have been concerned with recognizing their authentic selves instead of identifying with the .other', dominant culture; on the other hand, it has also meant that by now, cultural plurality has been elevated to the status of a national characteristic." (Ertler/Löschnigg 2000b, S. 7) Zwar geht es den Erzählinstanzen in allen Romanen darum, sich ihrer jeweiligen — irischen, schottischen, indigenen oder japanischen — Herkunft und der entsprechenden Identitätskomponenten zu vergewissern. Allerdings findet die jeweilige kollektive Identitätskonstitu-
312 Vgl. hierzu auch Corse (1997), die in ihrem aufschlussreichen Vergleich zwischen dem amerikanischen und dem kanadischen Kanon zu einem ähnlichen Schluss gelangt: Während amerikanische Werke primär individuelle Erfahrungen ausloten, liegt der Fokus zahlreicher kanadischer Texte auf den Erlebnissen eines Kollektivs und damit verbundenen Problemstellungen wie der kollektiven Identitätsbildung.
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tion stets vor dem Hintergrund spezifisch kanadischer Herausforderungslagen statt. Die Romaninterpretationen verdeutlichen auch, dass das Konzept vom kanadischen Mosaik einen Idealzustand evoziert, der bei Weitem noch nicht erreicht ist. Der kommunale Gedächtnisroman rückt ja gerade die gesellschaftlich vernachlässigten oder verdrängten Themen in den Vordergrund und lenkt hiermit das Augenmerk auf gesellschaftliche Ausschlusskriterien·. ,,[T]hey concern themselves with the politics of historical representation, adressing some of the darker corners of Canadian history" (Wyile/Andrews/Viau 2002, S. 9). Wie Joy Kogawas Roman Obasan, Sky Lees Disappearing Moon Cafe oder Thomas Kings Green Grass, Running Water begreifbar machen, ist die fehlende Anerkennung der gruppenspezifischen Gedächtnisversion Grund für anhaltende soziale Diskriminierungen. Kommunale Gedächtnisromane nutzen ihr kulturökologisches Funktionspotential im Sinne eines imaginativen Gegendiskurses und leisten auf diese Weise einen substantiellen Beitrag zu der allererst noch zu realisierenden gesellschaftlichen Anerkennung der inszenierten Gedächtnis- und Identitätsmodelle. Sie ebnen einer Remodellierung der kanadischen Erinnerungskultur den Weg, die nicht an der Synthetisierung von Heterogenem interessiert ist, sondern an .zentrifugaler Vielstimmigkeit' (Reckwitz) und einer interaktiven Pluralität von partikularen, nicht verabsolutierten Vergangenheiten.
4. Soziobiographische Erinnerungsromane: Die Pluralisierung der Erinnerung und Identität Kollektive Vergangenheiten stiften nicht nur Gemeinschaft, sie können auch zum Anlass von Erinnerungskonkurrenzen und Verwerfungen werden und einen Streit um Deutungshoheit heraufbeschwören. Die Aneignung, Interpretation und Signifikation von Vergangenheiten ist stets an individuelle oder gruppenspezifische Perspektivierungen und aktuelle Sinnbedürfnisse gebunden. Gruppen oder Individuen können sich nicht auf gleiche Weise erinnern, wenn die Fragen, die sie aus ihrer jeweiligen Gegenwart an die Vergangenheit stellen, divergieren. Wo die Vergangenheit auf partikulare Fragestellungen antworten und subjektiven Relevanzkriterien entsprechen soll, löst sie sich in eine Vielzahl heterogener, oftmals inkommensurabler und um Erinnerungshoheit konkurrierender Geschichten auf. Der soziobiographische Erinnerungsroman inszeniert diese Pluralisierung der Erinnerung und Identität durch unterschiedliche Formen der Multiperspektivität. Im Gegensatz zum kommunalen Gedächtnisroman, in dem das gemeinschaftsstiftende Potential von geteiltem Gedächtnis und die Geschlossenheit der Wiridentität im Vordergrund stehen, problematisiert der soziobiographische Erinnerungsroman die Bedingungen einer gemeinsamen Vergangenheitskonstruktion. Weniger die geteilte Vergangenheit und die erinnerungskulturellen Prozesse der Aktualisierung von Vergangenem als die gegenwartsgebundenen Versuche unterschiedlicher Figuren, diese Vergangenheit zu deuten und sinnstiftend anzueignen, sind das zentrale Thema des soziobiographischen Erinnerungsromans. Der soziobiographische Erinnerungsroman nutzt die Rhetorik der Erinnerungen und Identitäten zur Reflexion von gemeinsamer Gedächtnisbildung. Er inszeniert die präsentischen Sinnstiftungsversuche von Individuen oder Gruppen und stellt die Probleme, die sich mit der Rekonstruktion und Repräsentation von vergangenen Ereignissen verbinden, in den Mittelpunkt. Der soziobiographische Erinnerungsroman zeigt, dass Vergangenheiten nicht voraussetzungslos bewahrt, sondern so erinnert werden, dass sie als Grundlage von plausiblen Gegenwartsdeutungen fungieren können. Im soziobiographischen Erinnerungsroman löst sich die Vergangenheit in ein Gewebe einander wechselseitig perspektivierender Erinnerungsversionen auf. Damit lenkt diese Genreausprägung das Augenmerk nicht nur auf die wohl wichtigsten Merkmale von Erinnerungen, auf ihre Konstruktivität, Gegenwartsgebundenheit und Selektivität. Mit ihrem gruppenzentrierten Plotmuster veranschaulicht sie vielmehr auch die Probleme, die diese Perspektivität mit sich bringt, und wirft Fragen nach den Folgen einer fehlenden intersubjektiven Validierung des Erinnerten auf: Wie beeinflussen divergierende Vergangenheitsversionen die eigene Sinn- und Identitätsstiftung? Welche Konsequenzen ergeben sich aus der fehlenden gesellschaftlichen Anerkennung von gruppenspezifischen Erinnerungen und Identitäten? In diesem Kapitel werden zwei soziobiographische Erinnerungsromane analysiert, die sich primär durch Besonderheiten ihres gruppenspezifischen Plotmusters
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voneinander unterscheiden: Während es in Anita Rau Badamis Tamarind Woman (1996) um die intragruppale Aushandlung von Vergangenem geht, stellt Guy Vanderhaeghes The Englishman's Boy (1997) den intergruppalen Streit um Erinnerungen und Identitäten in den Mittelpunkt. Rau Badamis multiperspektivisch erzählter Roman präsentiert die inkommensurablen Deutungen der Familiengeschichte von zwei Ich-Erzählerinnen und zeigt die destabilisierenden Konsequenzen dieses Erinnerungskonflikts für die familiäre Gemeinschaft auf. Vanderhaeghes soziobiographischer Erinnerungsroman inszeniert hingegen den gesellschaftlichen Streit um die Deutung der Kollektiwergangenheit, das Ringen um Erinnerungshoheit. Der Roman bringt die Selektionsmechanismen zutage, die der Konstruktion kollektiver Gedächtnisse zugrunde liegen. Durch das Verfahren der Multiperspektivität führt er vor Augen, in welchem Maße Vergangenheitsversionen an gruppenspezifische Sinnbedürfnisse und politische Zielsetzungen geknüpft sind.
4.1 „Go, [...] build your own memories": Der verweigerte memory talk in Anita Rau Badamis Tamarind Woman (1996) Im Zentrum von Anita Rau Badamis soziobiographischem Erinnerungsroman Tamarind Woman stehen die divergierenden Erinnerungen von Kamini und ihrer Mutter Saroja an ihre gemeinsame Vergangenheit. Die für soziobiographische Erinnerungsromane typische multiperspektivische Vermittlungsweise des Vergangenen legt die Brüche und Verwerfungen offen, die dieses Familiengedächtnis auszeichnet, und macht die Konsequenzen begreifbar, die die Erinnerungsdivergenzen für den Aufbau und die Stabilisierung der familiären Gemeinschaft haben. Es geht in diesem soziobiographischen Erinnerungsroman also um gruppeninterne Konstellationen, um die abweichenden Vergangenheitsversionen zweier Familienmitglieder und um die Implikationen dieser mnemonischen Inkompatibilität für die Gestaltung einer sozialen Beziehung. Der individuelle Akt des .remembering' wird nicht — wie dies für kommunale Gedächtnisromane typisch ist - zum Ausgangspunkt für die Schaffung von Gemeinschaft und somit zum ,re-membering'. Die multiperspektivische Auflösung der geteilten Vergangenheit in inkommensurable Erinnerungen von in ihrer jeweiligen Gegenwart situierten Subjekten geht im Gegenteil mit der zunehmenden Instabilität der familiären Gemeinschaft einher. Die zentrale Frage, die der Roman aufwirft, lautet: Was geschieht, wenn sich Gruppenmitglieder nicht länger auf eine gemeinsame Vergangenheitssicht verständigen können? Die aus Indien stammende homodiegetische Erzählerin Kamini lebt mittlerweile in Calgary - in größtmöglicher Distanz zu ihrer Mutter —, um dort zu promovieren. Das anhaltende Gefühl der Fremde und eine unterdrückte Sehnsucht nach kultureller Zugehörigkeit werden für Kamini zum Anlass, sich mit ihrer Vergangenheit, vor allem ihrer in Indien verbrachten Kindheit, selbstreflexiv auseinander zu setzen. Insbesondere ihr oftmals problematisches, von gegenseitigem Un-
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Verständnis und Ablehnung gezeichnetes Verhältnis zu ihrer Mutter Saroja wird wiederholt zum Gegenstand ihrer narrativen Vergangenheitsexploration. Kaminis Erinnerungsarbeit involviert sie in einen beständigen, zumeist nur imaginär bleibenden Dialog mit ihrer Mutter. Ihre Versuche, dem mysteriösen Verhalten ihrer in Kaminis Augen - lieblosen Mutter in der erinnernden Rückschau auf den Grund zu gehen und sie in die Schaffung einer intersubjektiv validierten Vergangenheitssicht zu verwickeln, laufen allerdings ins Leere. Zwischen Kaminis und Sarojas Vergangenheitsbild ergeben sich kaum Konvergenzen. Mit dem Scheitern der gemeinsamen Vergangenheitsaushandlung führt Tamarind Woman die unhintergehbare Perspektivität von Erinnerungen vor Augen und zeigt, in welchem Maße diese Idiosynkrasien zwischenmenschliche Konflikte motivieren können. Darüber hinaus illustriert der soziobiographische Erinnerungsroman, dass identitätsbezogene Vergangenheitserzählungen auf intersubjektive Validierung angewiesen (vgl. Festinger 1954; Hardin/Higgins 1996) und Erinnerungen daher weit mehr als nur zweckgerichtete Bedeutungskonstrukte sind.313 Im Anschluss an Kaminis narrative Erinnerungsaktualisierung präsentiert der Roman die ebenfalls homodiegetisch erzählte Vergangenheitsversion von Saroja. Nach einem wenig erfüllten, weil an den restriktiven Maßstäben einer patriarchalischen Gesellschaft ausgerichteten Leben trifft die alternde, in Indien lebende Saroja den Entschluss, die versäumten Freiheiten und Lebensoptionen nachzuholen und eine Zugreise durch ihr Land zu unternehmen. Im Verlaufe dieser Reise nähert sie sich zentralen Komponenten ihrer Vergangenheit an, rekapituliert und imaginiert ihre bewegte Lebensgeschichte und teilt diese freimütig mit den übrigen Reisenden ihres Abteils. Ihre Erinnerungsversion wirft nicht nur Licht auf all jene Erfahrungen und Geschehnisse, die von Kamini ausgespart oder nur unzureichend verstanden werden. Vielmehr erinnert und interpretiert sie auch eine Vielzahl gemeinsamer Erlebnisse gänzlich anders als ihre — in ihren Augen — nostalgisch verklärte Tochter. Durch die multiperspektivische Kontrastierung dieser beiden Vergangenheitsversionen macht Tamarind Woman die individuellen Dispositionen und identitären Sinnbedürfnisse beobachtbar, die bei der narrativen Erinnerungs(re-)konstruktion wirksam werden, und illustriert, dass auf der Basis des gleichen Ereignisses ganz unterschiedliche Erinnerungen entworfen werden können. Die Erinnerungspolyphonie wirft nicht nur die grundsätzliche Frage nach der Glaubwürdigkeit subjektiver Sinnstiftungen auf: „Who to believe?" (S. 12) Vielmehr verdeutlicht sie auch, dass Erinnerungen nicht nur Bodensatz von Gemeinschaft, sondern auch Anlass von veritablen Konflikten und sozialer Isolation sein können. Die durch die Multiperspektivität offenbarte Subjektabhängigkeit der Erinnerung wird durch ein breites Spektrum metamnemonischer Reflexionen bekräftigt. Erinnerungen erscheinen als fragil und stets wandelbar. Die Erzählungen von Kamini und Saroja kombinieren involvierte Erinnerungsperspektiven, die Auf313 Vgl. zu der intersubjektiven Prägung von Erinnerungen und Identitäten Kap. II.2 dieser Studie.
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schluss über vergangene Erlebensweisen geben, mit zeitlich distanzierten, den Erinnerungsakt reflektierenden Perspektiven. Durch die für soziobiographische Erinnerungsromane charakteristische metamnemonische Selbstreflexivität avancieren die Probleme der Erinnerungsrekonstruktion zum zentralen Thema. Schließlich illustrieren auch die soziobiographische Erinnerungsromane kennzeichnende anachronische Vermittlung des Geschehens und die oftmals nur lose-assoziative Aneinanderreihung einzelner Erinnerungsfragmente die Schwierigkeit, disparate und heterogene Erfahrungen in das geschlossene Ganze einer Geschichte zu überführen. Insbesondere Kaminis Erzählung zeichnet sich durch eine komplexe Zeitstruktur aus, in der Rückblenden in die fernere und nähere Vergangenheit mit der Darstellung der gegenwärtigen Bedingungen des Erinnerungsabrufs verwoben werden.314 Die Schwierigkeit der narrativen Kohärenz- und Kontinuitätsstiftung ergibt sich offenbar vor allem dort, wo individuelle Erinnerungen keine intersubjektive Validierung erfahren. ***
Am Anfang von Kaminis Erzählung stehen ihr Eingeständnis der Einsamkeit, die sie in ihrer neu gewählten Heimat Calgary beständig quält, 3 ' 5 und ihr fast kindliches Verlangen nach mütterlichem Trost: „/ called my mother every Sunday from the silence of my basement apartment, reluctant to tell her how I yearned to get away from this freezing cold city" (S. 2). Doch bereits das darauf folgende Telefont mit ihrer Mutter verdeutlicht, wie wenig diese dazu bereit ist, Verständnis für Kaminis Situation aufzubringen und sich auf die Schaffung einer gemeinsamen Realitätssicht, die Kaminis soziale Isolation kompensieren könnte, einzulassen. Als Kamini während ihres Telefongesprächs die Berglandschaft um Calgary mit den Eastern Ghats vergleicht, die sie angeblich während eines gemeinsamen Familienausflugs besucht haben, entzündet sich zwischen ihnen einen Streit darüber, ob es sich tatsächlich um die Western oder aber die Eastern Ghats handelt. Auch Kaminis nachfolgend geäußerten Erinnerungen an einzelne Begebenheiten, die sich ihr zufolge während des Ausflugs zutrugen, werden von ihrer Mutter nicht geteilt, sondern setzen einen Disput in Gang: ,„Kamini, what tribals? You are making up stories.' ,Why do you always believe that I am making up stories? I don't, I never have'." (S. 3) Mit der Inszenierung dieses Streits um Erinnerungen, der sich in einem Vorwurf der freien Erfindung von Vergangenem („,You are inventingyour memories1", ebd.) konkretisiert, wird der Grundkonflikt des Romans etabliert: Wie unterschiedlich können Gruppenangehörige die gemeinsame Vergangenheit erinnern, ohne die Gemeinschaft aufs Spiel zu setzen? Erinnerungserzählungen stellen Angebote an den Adressaten dar, sich auf eine geteilte Vergangenheitssicht einzulassen und an der Schaffung einer intersubjektiv validier-
314 Die Geschehnisse und Reflexionen auf der extradiegetischen Ebene der Vermittlung sind in Tamarind Woman kursiv gesetzt, die Ereignisse auf der diegetischen Ebene der Handlung hingegen rede. 315 Eine Analyse der postkolonialen Implikationen von Kaminis Leben in der Diaspora liefert Chakraborty (2003).
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ten Realität zu partizipieren. Was aber geschieht, wenn Personen das Angebot ihres Interaktionspartners zurückweisen und, wie im Falle von Kamini und Saroja, die Erinnerungen des Anderen als unglaubwürdig, als non-veridikale Imaginationen desavouieren? Die Diskussion mit ihrer Mutter über ihre gemeinsame Vergangenheit veranlasst Kamini dazu, sich ihrer persönlichen Geschichte anzunehmen und dem Grund für die andauernden Querelen nachzuspüren, die sich nicht selten bis zur offenen Feindseligkeit steigern: „Ten years ago, I had felt a simmering resentment against my mother." (S. 147) Kaminis Erinnerungsprozess, der zwischen unterschiedlichen Zeitebenen mäandert, liefert Einblick in ihre verstrickte und bisweilen schwer nachvollziehbare Familiengeschichte. Im Zentrum ihrer Erzählung stehen ihre Kindheit und frühe Jugend, die sie mit ihren Eltern und ihrer Schwester Roopa in den Railway Colonies verschiedener indischer Städte verbrachte. Ihren Vater, einen Zugingenieur, erinnert sie als einen ruhigen, introvertierten Mann und damit als Gegenpol zu ihrer impulsiven Mutter, deren regelmäßigen Wutausbrüche, hoch dramatisierten Emotionen und latente Unzufriedenheit die familiäre Harmonie aufs Spiel setzten. Die beständigen Androhungen ihrer Mutter, Mann und Kinder zu verlassen, lösen in der jungen Kamini eine quälende Furcht aus, die im Jugendalter mehr und mehr in Wut und Aggression umschlägt (vgl. S. 31). In welchem Maße Kamini noch immer von ihrer Vergangenheit absorbiert ist, wird vor allem durch interne Fokalisierung des Vergangenen und die so inszenierten field memories deutlich. Im Laufe ihres Erinnerungsakts tritt das erzählende Ich immer wieder hinter das kindliche, erlebende Ich zurück, wodurch der Eindruck einer Gleichzeitigkeit von Erleben und Erzählen entsteht, der die anhaltende Virulenz des Vergangenen unterstreicht: He knew that I was the nosy-parker girl and now he was going to yell at me. I edged back towards the safety of the besharam hedge. Would he catch me before I could squeeze through the hole to my own garden? Did it hurt to be turned into a moth and put in a bottle? My mouth was dry, my ponytail stuck to my neck. (S. 26)
Nicht nur die detailgenaue Darstellung ihrer vergangenen sinnlichen Eindrücke, sondern auch die Wiedergabe des Geschehens aus ihrer kindlich-naiven Perspektive tragen zu einer dezidierten Subjektivierung des Vergangenen bei. Die Verlagerung der Geschehnisse in die subjektive Vorstellungswelt der kindlichen Kamini akzentuiert die Perspektivengebundenheit ihres Sinnstiftungsversuchs. Der so erzeugte Eindruck der Subjektivität wird durch weitere Techniken der Bewusstseinsdarstellung wie indirekte Rede und erlebte Rede sowie leitmotivisch wiederkehrende Kindheitsphantasien verstärkt. Mehr als die konkreten Begebenheiten ihrer Vergangenheit illustrieren Kaminis Kindheitserinnerungen vor allem eines: die herausragende Rolle von Geschichten für ihre Sozialisation. Geschichten dienen nicht nur der Unterhaltung und Sinnstiftung, sondern sind auch zentrales Mittel zur Herstellung von Gemeinschaft. Auf der diegetischen Handlungsebene wird ein breites Spektrum kursierender
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Geschichten inszeniert, das Einblick in die Vielfalt der innerhalb der Familie verfügbaren Vergangenheitsdeutungen bietet. Die einzelnen Mitglieder von Kaminis Familie scheinen fortwährend in das Erzählen von Geschichten involviert zu sein: „My father came home from his long trips with bags full of stories. I liked to think that the stories were for me alone." (S. 41) Geschichten werden in Kaminis Familie angeboten und gehandelt wie wertvolle Geschenke: „,Do you want to hear those stories?"' (S. 27) Nicht nur der Entwurf von Geschichten, sondern auch ihre Rezeption kann offenbar ein Gefühl von Sicherheit und Stabilität erzeugen, zur Reduktion von Angst oder anderen negativen Gefühlen beitragen: „I wanted desperately to believe in the charmed world he had conjured up, so different from mine of cold silences, angry voices in my parents' room and Dadda's long absences." (S. 80) Kaminis kindliches Verlangen zu immer neuen, fabelhaften Geschichten anzusetzen und sich ständig weitere Geschichten erzählen zu lassen, zeigt, dass Erzählungen der individuellen Formgebung vorerst unverständlicher Erfahrungen ebenso dienen wie der Stiftung von sozialer und kultureller Integration. Ihrem nigerianischen Nachbarn etwa, der von ihrer Familie als .furchterregender Schwarzer' gebrandmarkt und geschmäht wird, lernt sie zu vertrauen, nachdem er ihr eine Geschichte erzählt. Geschichten werden mit anderen geteilt, um durch die Schaffung einer gemeinsamen, vergangenen Realität soziale Bande zu knüpfen; Geschichten werden von Adressaten dankbar angenommen, vor allem dann, wenn sie deren subjektive Sinnbedürfnisse erfüllen: „Aunt Viajaya accepted everything that was handed out [...]. In return, she gave Roopa and me her own memories, romantic and gently coloured, devoid of unpleasantness." (S. 71) Die familiär kursierenden Geschichten reflektieren allerdings keine vorgängige Realität; vielmehr schaffen sie erst erinnerungskulturell wirk- und bedeutsame Vergangenheiten. Zahlreiche explizite Reflexionen akzentuieren, dass der Wahrheitsanspruch der Erzählungen alles andere als gesichert ist: ,„Why do you have to think all stories are true?"' (S. 97) Die fehlende Faktizität von Geschichten scheint deren Sinnstiftungspotential nicht abträglich zu sein, sondern es im gewissen Maße erst zu begründen: „In stories things could be made to happen. You could grow wings on heroes, or give the heroine a voice tike a koyal bird, and people never died. In real l i f e [...] people went away and returned only as memories." (S. 59) Offenbar liegt die besondere Leistung von Erzählungen gerade darin, dass sie einen kreativen Gestaltungsspielraum ermöglichen, der auf individuelle Sinnbedürfnisse zu antworten vermag. Angesichts dieser subjektiv variablen Deutungsmöglichkeiten nimmt es kaum Wunder, dass über zahlreiche Begebenheiten der Familiengeschichte ganz unterschiedliche Versionen zirkulieren. Geschichten werden je nach Anlass und Adressat in „varying versions" (S. 102) wiederholt; sie werden im Zuge jedes erneuten Erzählakts fortgeschrieben und um neue, schillernde Details angereichert. Vergangene Erlebnisse scheinen dabei unweigerlich mythisch verdichtet zu werden: „I had heard versions of this story a hundred-thousand times. It was repeated to every new officer and wife and child in the club, part of the folklore passed from memory to memory" (S. 101). Durch die Fülle und Verschiedenheit der erzählten Geschichten entsteht ein Netzwerk von sich verstärkenden und einander wechselseitig perspektivieren-
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den Erinnerungsstimmen, das die soziale Gemeinschaft der Familie und ihr Kollektivgedächtnis als polyphones und plurales Gebilde auszeichnet. Im Gegensatz zum kommunalen Gedächtnisroman, in dem die relative Einheit des gruppenspezifischen Gedächtnisses inszeniert wird, rückt im soziobiographischen Erinnerungsroman die Vielzahl möglicher Vergangenheitsdeutungen in den Vordergrund. Genau dieser Gestaltungsspielraum, die Möglichkeit also, die Vergangenheit auf individuelle Fragestellungen und Selbstverständnisse abzustimmen, macht auch für Kamini die Attraktivität ihrer Erinnerungserzählung aus: „In real l i f e , I reflected, you warmed yourself on cold winter days in a forgein land by pulling out a rag-bag collection of those memories. You wondered which ones to keep and which to throw away, paused over a fragment hfre, smiled at a scrap." (S. 59) Der nostalgische Rückzug auf heimische Erinnerungen hilft Kamini dabei, auf das Gefühl der kulturellen Dislokation und der damit verbundenen identitären Destabilisierung sinnstiftend und schützend reagieren zu können. Damit Erinnerungen diese heilende Funktion erfüllen können, müssen sie allerdings selegiert werden, d.h. sie müssen in identitätsstiftende einerseits und in destabilisierende Erinnerungen andererseits unterschieden werden. Mit der Betonung der perspektivischen Selektivität ihrer Narration macht Kamini sehr deutlich, dass ihre Erzählung von ihren gegenwärtigen Sinnbedürfnissen überformt ist und damit nicht darauf angelegt ist, ein möglichst vollständiges, objektives Bild der Vergangenheit wiederzugeben. Vielmehr schlägt sich in ihren Erinnerungen die Bedeutung nieder, die sie ihren zurückliegenden Erfahrungen im Hier-und-Jetzt zuspricht. Letztlich sind es daher die Sinnanforderungen der Produzenten und der Adressaten, die über die Wahrheit der Geschichten entscheiden: .„Everything is true, and everthing is false. It is the story-teller and the listener who decide whatwhat is what'" (S. 58). Die spezifische Wahrheit von Erinnerungserzählungen scheint in Tamarind Woman den Sinn- und Identitätsbedürfnissen des Einzelnen unterstellt zu sein. Subjektive Tauglichkeit bzw. Zweckgerichtetheit und (narrative) Wahrheit von Erinnerungen fallen damit erstmal in eins. Kaminis Kindheitsjahre sind schließlich derart mit Geschichten jedweder Art angefüllt, dass sie sich selbst nur noch in Erzählungen, zumal in denen anderer Personen, wieder erkennen kann: Linda Ayah still spun her spider webs, Dadda crammed moreandmore stories in my head, and soon it was summer, time for the Aunties to arrive, for Aunty Viaya to cover the heated months with trailing histories, rambling family sagas, [...] till I felt that I did not exist except in somebody's story, completely fictional. (S. 57f.)
Offenbar basiert das individuelle Selbstverständnis nicht nur auf den Geschichten, die wir selbst über uns erzählen, sondern auch auf denen, die uns von signifikanten Anderen erzählt werden. Die individuelle Identität wird in Tamarind Woman als relational und dialogisch konzeptualisiert (vgl. Eakin 1999): Sie konstituiert sich im Wechselspiel von eigenen Erzählungen und den von außen attribuierten Wahrnehmungen und Erwartungen. Gerade angesichts der Dialogizität der Identitätskonstitution erhält die Anerkennung durch andere, die sich paradigmatisch in der Anerkennung der eigenen Selbst- und Vergangenheitsnarrationen konkretisiert,
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besonderes Gewicht. Wie aber wirkt sich die fehlende Anerkennung der eigenen, identitätsrelevanten Geschichten aus? Geschichten und Erinnerungen sind nicht nur Medien zur Herstellung von Gemeinschaft, Kontakt und Bindung. Sie können, wie Kaminis Erinnerungen an ihre Mutter illustrieren, auch zum Anlass für das Zerbrechen von sozialen Beziehungen werden. Nicht-geteilte Geschichten und Erinnerungen zeigen die Grenzen von kollektiver Sinnstiftung auf, denn sie verhindern die wechselseitige Stabilisierung des Selbstbildes im Antlitz des Anderen. Schon als Kind ist Kaminis Beziehung zu ihrer Mutter von Misstrauen und Unbehagen gekennzeichnet, da diese unterschiedliche, unbekannte oder nicht nachvollziehbare Versionen ihrer Vergangenheit ersinnt: „Ma was Eke that, she said one thing and meant something else. [...] She used to say that no good ever came out of telling the whole truth." (S. 117) In den Augen Kaminis stellt ihre Mutter ein Rätsel dar, das aus zahlreichen, heterogenen Einzelteilen besteht, die sich nur schwer zu einem kohärenten Ganzen zusammenfügen lassen: „Ma [...] had dozens of stories surrounding her. In fact, there were so many conflicting ones form her brothers and sisters, her mother, grandmother and Chinna, that sometimes Ma seemed as much a puzzle as Dadda." (S. 11) Der Umstand, dass ihre Mutter von unterschiedlichen, nicht-kompatiblen Geschichten umgeben ist, motiviert Kaminis wachsendes Misstrauen gegenüber ihrer Mutter: „I believed that if I knew every little thing about Ma, I would be able to understand why she was happier here in this old building [...] than in the grand Railway colony houses where my Dadda waited for u s " (S. 10). Vor allem das rätselhafte Verhalten ihrer Mutter gegenüber dem anglo-indischen Automechaniker Paul da Costa, ihr nächtliches Verschwinden, das ihre Mutter konsequent negiert bzw. als schlechten Traum Kaminis abtut, ihre ständigen Lügen gegenüber ihrem Mann sowie die offensichtliche Bevorzugung ihrer Schwester Roopa bleiben Kaminis kindlicher Perspektive unerschließbar und sorgen für ein quälendes Gefühl der Entfremdung gegenüber ihrer Mutter: „Ma had touched Paul's hand but she was still the same, wasn't she? Wasn't she?" (S. 95) Auch das nach Pauls Selbstmord einsetzende Schweigen ihrer Mutter, der fast vollständige Rückzug auf sich selbst verhindern den Aufbau einer längerfristigen Gemeinsamkeit und haben eine weitere Destabilisierung des Mutter-Tochter Verhältnisses zur Folge. Nicht nur fehlendes und widersprüchliches Wissen von der Geschichte ihrer Mutter, sondern auch deren permanente Weigerung, sich mit Kamini auf eine gemeinsame, intersubjektiv validierte Realitätssicht einzulassen, stehen der Knüpfung eines sozialen Bands entgegen. Die von Kamini sorgfältig bewahrten Erinnerungen an die Herkunft ihres Vaters werden von ihrer Mutter immer wieder jäh in Frage gestellt oder gänzlich desavouiert: „Hating my mother for destroying the carefully constructed details that recreated my father's world, I clung obstinately to their veracity. But Ma insisted that nothing in the world was a fact." (S. 66) Kamini beginnt ihre Mutter regelrecht zu hassen, da diese sich weigert, die für Kaminis Selbstverständnis so konstitutiven Erinnerungen anzuerkennen. Ihre Mutter hat für die — in ihren Augen romantisch-verklärten - Erinnerungen, die in der Familie über die Vergangenheit Kaminis Vater kursieren, kein Verständnis, denn sie widerspre-
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chen ihrer eigenen Vergangenheitsversion: „When I told Ma that I wanted to visit this beautiful village of my ancestors, she laughed. ,There is no village any more, you silly girl. Your aunt is telling you a tourist magazine story.' [...] I preferred to believe my aunt." (S. 68f.) Zwar entschließt sich Kamini dazu, ihrer Tante zu glauben und damit an ihrem sorgfaltig konstruierten Erinnerungsgebäude festzuhalten, doch steht dieses angesichts der fehlenden Zustimmung ihrer Mutter auf einem äußerst instabilen und brüchigen Fundament. Bereits mit der Darstellung der fehlenden intersubjektiven Validierung von Vergangenem stellt sich die Frage, inwieweit Erinnerungen tatsächlich nur individuellen, zweckgerichteten Sinnbedürfnissen unterliegen. Dass sich Saroja bereits in Kaminis Kindheit beharrlich weigert, zum Kokonstrukteur eines gemeinsamen Realitäts- und Vergangenheitsverständnis zu werden und so die Möglichkeit einer Koordination zukünftiger Urteile, Wahrnehmungen, und Handlungen vereitelt, setzt den sozialen Zusammenhalt nachhaltig aufs Spiel. Die zunehmende psychische Distanz zwischen Kamini und ihrer Mutter weckt in der jugendlichen Kamini das Bedürfnis nach physischer Distanz und legt schließlich den Grundstein für ihren Entschluss, nach Kanada zu emigrieren: „I had to get away from my mother. As quickly as possible." (S. 122) Kaminis Erinnerungserzählung illustriert, dass ihre Vergangenheit, insbesondere ihr verstricktes Verhältnis zu ihrer Mutter, sie auch noch als junge Erwachsene im Bann hält: „My mother, who had seemed unchanging as the Dhruva star through my childhood, looked so different in my memory now when viewed from the distance that separated us." (S. 15) Offenbar findet sie auch aus der Perspektive ihres gereiften, rückblickenden Ichs keine Antwort auf die Fragen, die bereits ihre Kindheit dominierten. Trotz ihres überbordenden Erinnerungsstroms, der ihre gegenwärtige Situation bisweilen vollständig in den Hintergrund treten lässt, und trotz ihrer emotional aufgeladenen Erinnerungen laufen ihre Erklärungsversuche immer wieder ins Leere. Sie stößt an die Grenzen ihres retrospektiven Sinnstiftungsversuchs und muss sich der fragilen Qualität von Erinnerungen bewusst werden: You reached out to grasp peopleyou knew and came up with a handful of air, for they were only chimeras, spun out of your imagination. You tried to pin down a picture, thought thatyou had it exactly the way it smelled and looked so manyyears ago, and thenyou noticed, out of the corner of your eye, a person who had not been there before (...]. (S. 59) In der Erinnerung verflüchtigen sich Personen und Ereignisse oftmals zu unfassbaren, bloß enigmatischen Eindrücken. Erinnertes und Imaginiertes verschmelzen unter dem Eindruck von zeitlicher Distanz zu einem unauflöslichen Ganzen, so dass der Zugriff auf die faktischen Bedingungen der vergangenen Realität für immer verstellt bleibt. Was von der Vergangenheit bleibt, sind subjektive Schimären, die nach Maßgabe gegenwärtiger Bedingungen symbolisch verdichtet und angereichert werden. Da Kamini um die Begrenztheit ihrer eigenen Vergangenheitsversion weiß und sich die von ihr konstruierten Erinnerungen wie Trugbilder entziehen, sehnt sie
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sich nach einer Person, die ihre Vergangenheitsversion mittragen und so zur Schaffung eines aneignungsfahigen Erinnerungsnarrativs beitragen kann: I wished that I could summon Linda Ayah up from the past and ask her, ,Tell me, was Paul da Costa real or not? Tell me, if he was such a magician with cars, if he fixed them so they neverever broke, why did he come every Sundayfor one wholeyear?' Perhaps Linda Ayah would have asked, Who is this Paulperson you keep talking about? (S. 58f.) Trotz ihrer scheinbar lebhaften und detailgenauen Erinnerung kann Kamini rückblickend nicht einmal mehr mit letzter Sicherheit behaupten, ob Paul da Costa je existierte oder er ein reines Produkt ihrer Phantasie darstellt. Offenbar können Erinnerungen nur durch eine Bezugnahme auf andere Personen stabile und kohärente Bedeutung erhalten. Wo individuelle Erinnerungen nicht validiert werden, verflüchtigen sie sich zu bloßen Imaginationen, die für das individuelle Vergangenheits- und Selbstverständnis letztlich wirkungslos bleiben. Tamarind Woman lenkt damit das Augenmerk auf einen zentralen Aspekt der spezifischen Wahrheit von Erinnerungen: So genügt es nicht, dass sich Erinnerungen als funktionale, auf persönliche Sinnbedürfnisse abgestimmte Bedeutungskonstrukte erweisen. Sie müssen vielmehr auch von signifikanten Anderen als wahr akzeptiert werden. Dass die spezifische Wahrheit von Erinnerungen damit auch wesentlich in ihrer Intersubjektivität liegt, verdeutlicht Kamini, wenn sie feststellt, dass ihr mittlerweile verstorbener Vater allein durch Akte des gemeinsamen Erinnerns präsent gehalten wird: „Roopa and I exchanged our own memories of him, hoarding them like a pair of misers. For if we did not, Dadda wouldfloat away like a puff of dandeüon seed." (S. 40) Angesichts der wenig zuverlässigen Qualität ihrer Erinnerungen wendet sich Kamini im Zuge ihrer individuellen narrativen Vergangenheitserschließung wiederholt an ihr nahe stehende Personen, insbesondere an ihre Mutter und ihre Schwester Roopa. Jedoch ist keine der beiden daran interessiert, an kollaborativen Erinnerungsakten zu partizipieren und sich auf die Konstruktion einer geteilten Vergangenheitssicht einzulassen. Ihre pragmatische Schwester, die ebenso wie Kamini schon früh die Entscheidung getroffen hat, ihrer Mutter den Rücken zu kehren und in die USA zu emigrieren, bemüht sich im Gegenteil darum, ihre Vergangenheit bewusst dem Vergessen anheim zu geben: When I asked her if she remembered this incident or that, Roopa said, J^et the past sleep. Why shouldyou poke here and there looking for memories? Afteryou find them, and dust o f f aU the cobwebs, you see that they are ugly and sad I prefer living in today not in flashback, baba!' Roopa did not allow stories to invade her life, turn the world into a kaleidoscope with believing and not believing, true and untrue. (S. 72) Für Roopa steht die Beschäftigung mit dem Vergangenen ihrem emotionalen Bezug zum Hier-und-Jetzt entgegen. Roopa weigert sich jedoch nicht nur, sich auf den gemeinsamen memoiy talk einzulassen. Die wenigen Erinnerungen, die Roopa nach persistentem Nachfragen mit ihrer Schwester zu teilen bereit ist, kollidieren vielmehr ganzlich mit Kaminis Vergangenheitsversion. Sie schaffen nicht den Bodensatz von Gemeinschaft und Zusammengehörigkeit, sondern werden im Gegen-
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teil zum Anlass eines erneuten, erbitterten Streits um die Definition der familiären Vergangenheit: Roopa claimed not to remember the times that Ma had faded away from us. ,She was always there, large as life and twice as noisy, too much noisy and nosy if you ask me.' [...],Rubbish!' I said ,She lefiyou alone, it was always me she concentrated on! You never remember things the way they were, just the way you want them to be.' ,AndyoH have of course a memory as precise as the part inyou hair,' laughed Roopa. (S. 73) Kaminis Versuch, ihre eigene epistemologische Verunsicherung durch Bezugnahme auf andere Menschen, also in Prozessen der Kommunikation und sozialen Aushandlung zu reduzieren, schlagen folglich auch in diesem Fall fehl. Ein weiteres Mal wird ihr die ersehnte Antwort auf das Rätsel ihrer Vergangenheit, insbesondere des kuriosen Verhaltens ihrer Mutter, verwehrt. Ihre Erinnerungen werden als unauthentisch und non-veridikal desavouiert und mit einer gänzlich differenten Sichtweise konfrontiert. Die faktische Realität löst sich für Kamini in inkompatible und ephemere Erinnerungsversionen auf, wodurch ihrer aspirierten Identitätsstabilisierung die Grundlage entzogen wird. Ebenso scheitern auch Kaminis andauernden, fast verzweifelten Versuche, ihre Mutter in einen gemeinsamen, Differenzen überbrückenden memory talk zu involvieren. Ihre Mutter, die noch immer über Kaminis Entschluss verärgert ist, nach Kanada, an den „North Pole place" (S. 2) zu emigrieren, ist an Gesprächen mit ihrer Tochter wenig interessiert: „,Once you are gone, who will I have to talk to anyway? Better get used to silence now itself.'" (S. 152) Kaminis allwöchentlichen Anrufen begegnet sie mit barscher Abwehr: ,„Why you are wasting your money calling me every week?'" (S. 15) Ebenso wie Roopa zieht es auch Saroja vor, die Vergangenheit ruhen zu lassen, und lässt daher jedes Bemühen Kaminis, sie in ein Gespräch über die geteilte Vergangenheit zu verwickeln, ins Leere laufen: „I phoned Ma in India and asked her about this picture or that, but she only wanted to know why I was wasting my time thinking about ghosts, and a useless bunch at that" (S. 41). Die wenigen, für Kamini ausgesprochen unbefriedigenden Telefonate brechen endgültig ab, als sich ihre Mutter dazu entschließt, eine Zugreise durch Indien zu unternehmen. Ihre Kommunikation beschränkt sich fortan auf einzelne Postkarten, deren Inhalte allerdings oftmals kryptisch und für Kamini wenig aufschlussreich sind: „I called Roopa to discuss the situation. We talked to each otherfrequently now and compared postcards, for Ma did not always write the same things to both of us." (S. 50) Die Neigung ihrer Mutter, ihren Töchtern Roopa und Kamini divergente Erinnerungsversionen zu schildern, offenbart ein weiteres Mal die Brüche, Verwerfungen und Diskontinuitäten innerhalb des Familiengedächtnisses. Da sich ihre Mutter folglich dem gemeinsamen Akt des Erinnerns konsequent entzieht, kann Kamini über die spezifische Erinnerungsversion ihrer Mutter nur spekulieren: 7 wondered what Ma saw those dark nights. She seemed to have forgotten so many things, she might not even remember. Or she might remember it all differently. Sometimes it seemed as if the
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past was a painting that she had dipped in water, allowing the colours to run and drip, merge and fade so that an entirely altered landscape remained. (S. 137) Ihr eigenes Vergangenheitsverständnis kann Kamini in den Erinnerungsversionen ihrer Mutter, in der von ihr generierten „altered landscape" nicht wieder finden. Die faktischen Begebenheiten der Vergangenheit scheinen unter dem Eindruck der zunehmenden zeitlichen Kluft mehr und mehr zu verblassen. Was bleibt, ist das ungestillte Bedürfnis nach intersubjektiver Bekräftigung. Wie sehr Kamini daran gelegen ist, ihre .Landschaft' an die Sichtweise ihrer Mutter anzugleichen, konkretisiert sich in der Semantisierung des Raums. Die Raumdarstellung und die subjektive Raumerfahrung veranschaulichen nicht nur Kaminis kulturellen Orientierungsverlust, sondern vor allem ihr Verlangen nach Rettung durch ihre Mutter. So visualisiert Kamini den sie umgebenden Raum in einem Traum als existentielle Bedrohung: „I dreamed of snow cämbing higher and higher against the house, muffing the entrance to my underground dwelling. [...]! was buried alive in my burrow dying slowly from the cold." (S. I l l ) In Kaminis Imagination verwandelt sich die Landschaft Kanadas in den von ihrer Mutter mehrfach heraufbeschworenen „North Pole" (S. 149), der ihren Vereisungstod zur Folge hat. Es ist auch ihre Mutter, die sie in ihrem Traum zu retten vermag, indem sie ihre Tochter dazu ermutigt, ihren einsamen Reflexionen ein Ende zu setzen. In der Realität allerdings bleibt diese erhoffte Rettung aus. Zwar erhält Kamini am darauf folgenden Tag eine Postkarte von ihrer Mutter, die die Kälte Kanadas zumindest kurzzeitig mit ,der Wärme, den Gerüchen und den Geräuschen' (vgl. S. 112) Indiens erfüllt. Jedoch gelangt Kamini schließlich zu der ebenso ernüchternden wie schmerzhaften Bilanz, dass ihre Mutter es vorzieht, ihre eigenen Geschichten zu ersinnen: „She preferred to spin her own stories." (S. 137) Nicht der gemeinschaftsstiftende memory talk, sondern dessen Verweigerung durch die einzelnen Gruppenmitglieder und die daraus resultierende Erinnerungskonkurrenz stellen mithin den zentralen Erzählgegenstand von Tamarind Woman dar. Angesichts der fehlenden intersubjektiven Validierung ihrer Vergangenheitsversion bleibt Kaminis narrative Sinn- und Bedeutungskonstruktion unabgeschlossen, von zahlreichen kognitiven und affektiven Uneindeutigkeiten durchzogen. Dieser Mangel findet in der lose-assoziativen und anachronischen Strukturierung ihrer Erzählung seinen formalen Niederschlag. Kaminis Erzählung liegt weder eine chronologisch-kausale Struktur noch ein bedeutungsvoller Schwerpunkt zugrunde, von dem ausgehend sich das Erzählpotential in kohärenter Weise entfalten könnte. Ihre Selbstnarration konstituiert sich aus einzelnen, zeitlich heterogenen Erinnerungsfragmenten, die sich einer integrativen Synthetisierung in einen übergeordneten Zusammenhang entziehen. Auch die fehlenden temporalen Verknüpfungen zwischen der gegenwärtigen Ebene des Erinnerungsabrufs und der vergangenen Ebene der Handlung veranschaulichen die Instabilität ihrer Vergangenheits- bzw. Selbstnarration. Diese Zeitsprünge indizieren die Unfähigkeit der Erzählerin, ihre zurückliegenden Erfahrungen in einen plausibilisierenden und identitätsrelevanten
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Bezug zu ihrer aktuellen Situation zu stellen.316 Schließlich wird die Unabgeschlossenheit von Kaminis Sinnstiftungsversuch auch durch das abrupte Ende ihrer Erzählung unterstrichen: „Silence." (S. 152) Diese, sogar auf syntaktischer Ebene defizitäre Schlussgebung bringt Kaminis Unverständnis für ihre vergangenen Erfahrungen mit aller Deutlichkeit zur Darstellung, ist es doch gemeinhin gerade das Bewusstsein für einen (vorläufigen) Endpunkt einer Entwicklung, das den Impuls für die Konstruktion einer Erzählung darstellt. Die anachronische Zeitstruktur, die Diskontinuität sowie die fehlende Geschlossenheit ihrer Narration wirken in Tamarind Woman zusammen, um die Uneindeutigkeit und Offenheit von Kaminis Sinnstiftung narrativ zu inszenieren und die destabilisierenden Folgen der ausbleibenden sozialen Rückversicherung herauszustellen. Saroja legt ihre Version der Vergangenheit schließlich offen. Allerdings erzählt sie ihre Geschichte nicht ihrer Tochter, sondern tritt mit fremden Mitreisenden auf ihrer Zugfahrt in einen Erinnerungsdialog: And I, depending on where my memories cany me, will tell them about my husband the builder of tracks, or Paul the Anglo mechanic, perhaps my widowed Aunt Chinna. We have a long way to go and I have so many stories for this compartmentfull of strangers who smile at me kindly, nodding as they listen to the reminiscences of an old woman. (S. 154f.)
Sarojas Erinnerungen ergänzen, relativieren und perspektivieren die vorgängig inszenierte Vergangenheitsversion Kaminis. Die für soziobiographische Erinnerungsromane kennzeichnende multiperspektivische Auffächerung des Vergangenen in heterogene, nicht synthetisierbare Versionen verhilft der — mehrfach explizit formulierten — Einsicht in die Subjektabhängigkeit und Konstruktivität von Erinnerungen eindrucksvoll zur Anschaulichkeit. Die Kontrastierung konkurrierender Geschichten rückt die unüberwindbaren Frakturen innerhalb des familiären Gedächtnisses ins Blickfeld und wirft die Frage auf, ob und woran sich die Zuverlässigkeit von individuellen Erinnerungen überhaupt festmachen lässt. Wenn Erinnerungen — wie von Rau Badamis Roman nahe gelegt - das Vergangene stets perspektivisch gebrochen wiedergeben, dann kann ihre spezifische Objektivität nur darin bestehen, dass sie von anderen bestätigt werden. Nur punktuell unterbrochen von eigenen Reflexionen über die Besonderheiten ihres Erinnerungsprozesses sowie von den Kommentaren ihrer Zuhörer entfaltet sich ein Erinnerungsnarrativ, das Aufschluss über Sarojas Sicht des Vergangenen bietet. Folglich liefert Sarojas Erzählung auch Antworten auf die von Kamini aufgeworfenen Fragen. Im Zentrum ihrer Erinnerungsnarration stehen ihre Jugendjahre, ihre nachfolgende unglückliche Ehe mit dem — aus ihrer Perspektive — verschwiegenen und verbohrten Moorthy, ihr Verhältnis zu ihren Töchtern Kamini
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Vgl. Gymnich (2003, S. 43), die bezüglich der fehlenden Kontinuität zwischen Gegenwart und Vergangenheit bemerkt: „Diese Relationen [zwischen Gegenwart und Vergangenheit] tendieren zu einer narrativen Formung, wie sie letztlich bereits Denkmustern wie dem Konzept der Krise, des biographischen Bruchs oder auch dem Konzept der (Identitäts-) Entwicklung an sich zugrunde liegen."
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und Roopa sowie zu dem Automechaniker Paul da Costa. Sarojas Erinnerungen konturieren ein von Kaminis Narrativ deutlich divergierendes Bild ihrer gemeinsamen Vergangenheit. So etwa berichtet sie über ihre spezifische Sozialisation, über ihre persönlichen Zukunftsvorstellungen und Handlungsmotive, die ihre nachfolgenden Verhaltensweisen, insbesondere die von Kamini so dezidiert herausgestellte Verbitterung, in einem gänzlich anderen Licht erscheinen lassen. Aber vor allem das von Saroja entworfene Bild des gemeinsamen Familienlebens steht dem Kaminis in vielen Punkten diametral entgegen. Der von Kamini als liebenswürdig und fürsorglich erinnerte Vater, der regelmäßige Wutausbrüche seiner Frau erdulden musste, erscheint in Sarojas Erinnerungen als hartherziger und emotional verarmter Mensch, der den Wünschen seiner Frau Verständnis- und vor allem interesselos gegenüber steht: „I [...] am married to a man w h o has no feelings to spare for a wife. A dried-out lemon peel whose energies have already been squeezed out caring for a sick mother" (S. 216). Alle Versuche Sarojas, ihm im gemeinsamen Gespräch näher zu kommen, scheint er kaltherzig ins Leere laufen zu lassen: „Two and a half days of solitude in spite of the fact that there were two of us." (S. 196) Ebenso wie das Verhältnis zwischen Kamini und ihrer Mutter ist auch Sarojas Beziehung zu ihrem Mann von fehlender Kommunikationsbereitschaft und einer daraus resultierenden Entfremdung geprägt (vgl. S. 226). Die fehlende Emotionalität ihres Mannes wird für Saroja in Folge zur Rechtfertigung, ihre Bedürfnisse anderweitig zu befriedigen: „Why, even a cat demands a caress, a gentle word. Deprive it of attention and it will wander to another home." (S. 216) „Another home" bietet ihr Paul da Costa, mit dem sie sich nicht nur auf eine langjährige außereheliche Beziehung einlässt, sondern der vermutlich - dies legen die wiederholten Andeutungen auf äußerliche Ähnlichkeiten nahe - auch der leibliche Vater Roopas ist. Es ist vor allem Pauls sozial marginalisierter Status als hybrider Anglo-Inder, der Saroja davon abhält, ihren Mann endgültig zu verlassen: „When Dadda leaves on line and Paul da Costa creeps onto the shadowy verandah of the Ratnapura house like a thief, I tell him that I cannot destroy my life for a half-breed man, a caste-less soul." (S. 229) Ebenso wie Kaminis Erinnerungserzählung zeichnet sich auch die Sarojas durch die Dominanz von interner Fokalisierung aus, wodurch der perspektivische und subjektive Charakter des Erinnerten zusätzlich akzentuiert wird. Zwischen den Perspektiven und Deutungen Sarojas und Kaminis bleibt eine unüberbrückbare Kluft, die die beiden Figuren voneinander trennt und die Grenzen der intersubjektiven Verständigung prägnant in den Blick bringt. Sarojas Erzählung könnte sicherlich auf viele der Fragen, die ihre Tochter so dringlich beschäftigen, eine Antwort bieten und damit einen wichtigen Beitrag zur Schaffung einer gemeinsamen Realitätssicht leisten. Doch wie auch Sarojas metamnemonische Reflexionen akzentuieren, ist sie nicht willens, ihre Erinnerungen mit ihrer Tochter zu teilen:
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Why tell her what I remember? My memories are private realms, rooms that I wander into, sometimes sharply focused, sometimes puffy and undefined. [...] [TJhese are my memories, I want to remind Kamini. Why should you worry about them? Why do you allow my history to affect yours? (S. 263) Entgegen üblicher Vorstellungen visuaEsiert Saroja Erinnerungen nicht als Produkte des sozialen Austauschs, sondern als rein innerpsychische Gebilde eines erinnernden Subjekts im Selbstgespräch mit sich selbst. Wertvoll sind ihre Erinnerungen nicht weil sie intersubjektiv geteilt, sondern weil sie einen privilegierten Ort der individuellen Sinnerfullung darstellen. Zwar erkennt Saroja an, dass zwischen ihrer Geschichte und der Kaminis durchaus Berührungspunkte bestehen; der Gedanke, sich auf eine gemeinsame Vergangenheitsversion mit ihrer Tochter einigen zu müssen, ist für sie allerdings wenig attraktiv: „Yesyes, our stories touch and twine, but they are threads of different hues. Mine is almost at an end, but yours is still unwinding. Go, you silly girl, build your own memories." (S. 263) In dem .Recht' auf eigene Erinnerungen, auf das Ersinnen ihrer persönlichen Mythen (vgl. S. 266), konkretisiert sich für Saroja ihre - mit dem Tod ihres Mannes und dem Weggang ihrer Töchter - erstmals gewonnene Freiheit: „I do not belong to anyone now." (ebd.) Sie ist nicht länger auf eine Bestätigung ihrer Wirklichkeitssicht angewiesen, da sie am Ende ihres Lebens steht und die praktische Identitätsfrage an Virulenz verloren hat: „I [...] have reached that stage in my life where I only turn the pages of a book already written, I do not write." (Ebd.) Die multiperspektivische Vermittlung des Erinnerten wird in Tamarind Woman dazu genutzt, die konkurrierenden Geschichten einzelner Gruppenmitglieder zu präsentieren, die wenige Anschlussstellen für die Konstruktion eines übergeordneten, gruppenspezifischen Narrativs und einer damit verbundenen Kollektividentität bieten. In den entworfenen Erinnerungen scheinen sich individuelle Perspektivierungen und Idiosynkrasien mindestens ebenso markant zu konkretisieren wie die .faktischen' Bedingungen der Realität. Die Auffächerung der Vergangenheit in konkurrierende Versionen macht damit auch die Probleme einer kollektiven Gedächtnis· und Identitätsbildung beobachtbar. Bereits auf sozialer bzw. gruppaler Ebene koexistieren divergente Vergangenheitsversionen, die sich oftmals kaum zur abstrakten Synthese eines Kollektivgedächtnisses — in diesem Fall eines Familiengedächtnisses — zusammenfassen lassen. Wie Kaminis und Sarojas Erinnerungen illustrieren, können individuelle Dispositionen, unterschiedliche Erfahrungshorizonte und differente identitäre Aspirationen die Konstruktion eines überindividuellen Gedächtnisses bzw. einer .imaginierten Gemeinschaft' verhindern. Wo sich Individuen nicht mehr auf eine gemeinsame Vergangenheitsdeutung einlassen, steht ein interaktives, harmonisches Miteinander in Frage. Erinnerungen sind folglich nicht nur ein geeignetes Mittel zur Stiftung von Gemeinschaft. Sie können im Gegenteil auch zum triftigen Anlass von sozialer Verwerfung und Isolation werden. Dieser Fragmentierung der familiären Gemeinschaft wird in Tamarind Woman auch durch die Semantisierung des Raums Ausdruck verliehen. So haben alle (verbleibenden) Familienmitglieder — Kamini, Roopa und nun auch Saroja — ihrer Heimat und damit den Ursprüngen ihrer gemeinsamen Vergangenheit den
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Rücken gekehrt. Ausdrücke wie „go away" bzw. „run away", die das Verlangen nach Dissoziation vom gruppenspezifischen Ursprungsort indizieren, ziehen sich leitmotivisch durch den Roman.317 Nicht die Beschwörung eines gemeinsamen Ursprungs, wie dies in kommunalen Gedächtnisromanen geschieht, sondern dessen Zurückweisung bestimmt das Verhältnis zwischen gruppenrelevanter Raumerfahrung und Identitätsbildung in Tamarind Woman. In dieser, für soziobiographische Erinnerungsromane typischen, offenen Raumstruktur mit ihren disjunkten Teilräumen (vgl. Lotman 1972, S. 327) materialisieren sich die Brüche und Verwerfungen innerhalb des Kollektivs. Auch die Raumsemantik trägt somit dazu bei, die fehlenden Verknüpfungen zwischen den Gruppenmitgliedern und die der Gruppe inhärenten Diskontinuitäten zu offenbaren. Die Erinnerungen der Gruppe erweisen sich als ebenso fragmentiert und räumlich disseminiert wie die Gruppe selbst, „scrawled all over the country, little trails here and there, moving, moving all the time, and never in one fixed direction" (S. 155). Interne Fokalisierung, die multiperspektivische Vermittlungsweise und metamnemonische Reflexionen wirken in Tamarind Woman zusammen, um die Schwierigkeit vor Augen zu führen, eine gemeinsame, die Gruppe stabilisierende Vergangenheitssicht aufzubauen. Die subjektiven Perspektivierungen zeigen zwar, dass individuelle Erinnerungen auf individuelle Bedürfnisse nach Kohärenz- und Identitätsstiftung abgestimmt sind. Gleichwohl verdeutlicht Tamarind Woman auch, dass die Bedeutung von bloß subjektiv viablen Erinnerungserzählungen erheblich eingeschränkt ist: Sollen Erinnerungen als stabile Grundlage des individuellen Identitätsentwurfs wirksam werden, so bedürfen sie der intersubjektiven Validierung. Nicht nur die individuelle Identitätsbildung ist durch die Inkompatibilität der Vergangenheitsdeutungen beeinträchtigt, sondern auch die kollektive Identitätsbildung. Dort, wo sich die verschiedenen Gruppenmitglieder nicht länger auf eine geteilte Deutung ihrer gemeinsamen Vergangenheit einigen können, ist die soziale Integration gefährdet. Diese Korrelation zwischen der Auflösung der geteilten Vergangenheit in inkompatible Erinnerungsnarrationen und der Auflösung der Gemeinschaft unterstreicht die herausragende Bedeutung, die Erzählungen auch auf kollektiver Ebene für die Stiftung von Identität zukommt. Sein erinnerungskulturelles Funktionspotential gewinnt dieser soziobiographische Erinnerungsroman vor allem aus seiner ausgeprägten Selbstreflexivität, die Anlass zur Reflexion der Bedingungen von Gedächtnisstiftung bietet. Tamarind Woman inszeniert Vergangenes nicht nur, sondern macht auch die Konstruktionsmechanismen von Erinnerungen beobachtbar und legt damit die Probleme offen, die mit der Schaffung von überindividuellen Realitäten, von Kollektivgedächtnis und -identität verbunden sind. Als Medium der kulturellen Selbstreflexion illustriert Tamarind Woman, dass die Vergangenheit nur im Plural existieren kann, gleich, wie homogen und unifi2ierend bestimmte Gedächtniskonstruktionen erscheinen mö317 Vgl. etwa folgende Fragen und Bemerkungen Sarojas: „Do I ask you ιιΊ/yyou bait to Hit in tlx North Pole, hanb? Did I ask your sister w l j y six ran away? [...] And now [...] it is my turn to go away." (S. 30)
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gen. Gedächtnis bildet nicht nur die Grundlage von gemeinsamer Identität, sondern kann ebenso zum Anlass von identitärer Abgrenzung werden und somit agonale Verwerfungen motivieren. Indem der Roman eine einseitige und eindeutige Signifikation verneint, schafft er zugleich eine Grundlage für eine Akzeptanz von Heterogenität und Ambiguität auf sozialer Ebene. Tamarind Woman verdeutlicht, dass überindividuelle Vergangenheiten unweigerlich an individuelle Trägerinstanzen gebunden sind, und regt damit dazu an, Konzepte wie .Kollektividentität' und .Kollektivgedächtnis', die eine hypostasierte Homogenität implizieren, kritisch zu hinterfragen.
4.2 Mediale Erinnerungskonkurrenzen in Guy Vanderhaeghes The Englishman's Boy (1997) In Guy Vanderhaeghes soziobiographischem Erinnerungsroman The Engäshman's Boy werden die gesellschaftliche Pluralisierung der kollektiven Erinnerungsbildung und die hiermit verbundenen Konkurrenzen um historische Definitionsmacht in zeitgenössischen Kulturen zum zentralen Thema. Im Gegensatz zu Rau Badamis Roman, in dem die divergierenden Erinnerungsversionen innerhalb einer Gruppe im Mittelpunkt stehen, fokussiert The Englishman's Boy den Streit um Erinnerungshoheit zwischen unterschiedlichen Gruppen im öffentlichen Raum. Hier verlagert sich der Akzent also von der sozialen bzw. intragruppalen auf die kulturelle, intergruppale Ebene. Nicht die Aushandlung der gruppenspezifischen Vergangenheit, sondern die der kanadischen bzw. amerikanischen Kultur und darauf aufbauende Vorstellungen einer Kollektividentität stehen im Zentrum von Vanderhaeghes Roman. Kulturen werden auf diese Weise als intern plurale und agonale Handlungsräume inszeniert, in denen verschiedene Erinnerungsgemeinschaften um das Recht konkurrieren, die Vergangenheit des Gemeinwesens zu definieren. The Engäshman's Boj setzt somit die Einsicht in die konstitutive Heterogenität und den Antagonismus von Kollektivgedächtnissen erzählerisch um. In pluralistischen Gesellschaften bedarf es komplexer Meinungsbildungsprozesse, in denen ausgehandelt wird, was überhaupt zum Gegenstand der kollektiven Kommemoration wird. Sie können sich kein einheitliches, für alle Mitglieder einer Gesellschaft verbindliches Kollektivgedächtnis verordnen. Die für soziobiographische Erinnerungsromane typische Pluralisierung der Vergangenheit ist in The Engäshman's Boy das Resultat der multiperspektivischen Vermittlung der zurückliegenden Ereignisse sowie einer damit einhergehenden strukturellen Multiperspektivität. Der hohe Grad an erzähltechnischer Komplexität ist auf den häufigen Wechsel von Erzähl- bzw. Fokalisierungsinstanzen sowie auf die montagehafte Struktur des Romans zurückzuführen, in dem unterschiedliche Erzählweisen und Diskurse unvermittelt nebeneinander stehen. Eingebettet in eine nur im ersten und letzten Kapitel dargestellte Rahmenhandlung konstituiert sich der Roman aus zwei dominanten Erzählsträngen, die von Kapitel zu Kapitel alter-
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nieren. Zum einen wird das vergangene Geschehen von der homodiegetischen Erzählinstanz Harry Vincent vermittelt, der, zurück in seiner Heimat Kanada, rückblickend seine Erfahrungen im Hollywood der 1920er Jahre rekapituliert. Zum anderen werden zentrale Begebenheiten der Westexpansion im ausgehenden 19. Jahrhundert heterodiegetisch erzählt und durch interne Fokalisierung der Reflektorfigur Shorty McAdoo, „the Englishman's Boy", vermittelt. Intensiviert wird die Pluralisierung des Vergangenen durch die strukturelle Multiperspektivität, die einen panoramischen Überblick über die synchrone und diachrone Erinnerungsvielfalt und die Pluralität ihrer medialen Vermittlungs formen gewährt. Mit dem breiten Spektrum von Referenzen auf verschiedene Gedächtnismedien sowie den vielfältigen metamedialen Reflexionen avancieren in Vanderhaeghes Roman die Fragen nach Voraussetzungen und Folgen der kollektiven Erinnerungsbildung, ihrer medialen Stabilisierung und gesellschaftlichen Proliferation zum zentralen Thema. Die strukturelle Multiperspektivität legt die Selektionsmechanismen offen, die der Konstruktion und Perpetuierung von Erinnerungen zugrunde liegen, und reflektiert die ideologischen Relevanzkriterien, an die die Vergangenheitsversionen geknüpft sind. Kollektive Erinnerungsbildung wird in The Englishman's Boy nicht nur inszeniert, sondern auch als perspektivisches, medial geprägtes und hiermit von gesellschaftlichen Machtzusammenhängen abhängiges Konstrukt beobachtbar gemacht. Auch die für soziobiographische Erinnerungsromane typische kontrastive Semantisierung des Raums trägt in Vanderhaeghes Roman dazu bei, den gesellschaftlichen Streit um Kollektiverinnerungen zu inszenieren. Kanada bzw. die — für das heutige kanadische Selbstverständnis so relevante - Grenzregion zu den USA wird als Vakuum, als terra incognita präsentiert, das mit sehr unterschiedlichen Vergangenheitsversionen besetzt und für je eigene, kollektive Sinn- und Identitätsbedürfnisse funktionalisiert werden kann. Durch die ausgeprägte Semantisierung wird der Raum zum „Kampfplatz rivalisierender Erinnerungsgemeinschaften" (A. Assmann 1999, S. 306) und deren je distinkter Sinnstiftungsstrategien. Schließlich evoziert der Roman durch das räumliche und temporale setting — die nordamerikanische Prärie im ausgehenden 19. Jahrhundert - gattungsspezifische Besonderheiten des Westerns. Er veranschaulicht die erinnerungskulturelle Bedeutsamkeit dieser Gattung und zeigt, wie nachhaltig diese als ,Ort des kulturellen Gedächtnisses' Deutungsmuster, Wertehierarchien und Kollektividentitäten prägte und prägt (vgl. van Gorp/Musarra-Schroeder 2000a, 2000b). The Englishman's Boy entwickelt innovative Konfigurationen und diskursive Perspektivierungen, die das herkömmliche (primär amerikanische) Gattungsmuster produktiv modifizieren. Durch die gleichzeitige Aneignung und Subversion generiert der Roman alternative (d.h. kanadische) Formate für die Kodierung der Kollektiwergangenheit. Auch auf der Ebene der Gattungsbestimmung setzt sich der Streit um die Deutung der Kollektiwergangenheit sowie die Problematisierung der medienspezifischen Signifikation von Erinnerungen also fort: Durch die subversive Abwandlung der Gattungskonventionen tritt The Englishman's Boy (implizit) in Konkurrenz zu bestehenden, gattungsspezifischen Interpretationsschemata. ***
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Der erste Handlungs- bzw. Erzählstrang des Romans basiert auf den Erinnerungen des mittlerweile in seine Heimat Kanada zurückgekehrten Ich-Erzählers Harry Vincent, der sich in der Rückschau bemüht, seine noch immer schwer nachvollziehbaren Erfahrungen im Hollywood der 1920er Jahre zu Papier zu bringen: I typed four names. Damon Ira Chance. Denis Fit^simmons. Kochet Gold. Shorty McAdoo. I sat and stared at these names for some minutes, then I typed a fifth, my own. Harry Vincent. I did not know how to continue. It's true that once I was a writer of a sort, but for thirty years I've written nothing longer than a grocery list, a letter. [...] So begin, I told myself. (S. 15) So entfaltet sich sukzessive eine Erinnerungsnarration, die Vincents Gegenwart mehr und mehr in den Hintergrund treten lasst und nur punktuell von seinen Reflexionen über die aktuellen Bedingungen der Vergangenheitsrekonstruktion unterbrochen wird. Primär aus ökonomischen Erwägungen — so muss er seine psychisch labile Mutter unterstützen - zieht Vincent in den 1920er Jahren in die USA und arbeitet dort als Drehbuchautor für den amerikanischen Filmmogul Damon Ira Chance. In der scheinbar idealistischen Absicht, die originäre Quintessenz der amerikanischen Kollektiwergangenheit und -identität zu offenbaren, plant dieser einen Filmepos, der an die Geschichte der amerikanisch-kanadischen Besiedlung erinnern soll: „I intend to make the American Odyssey. The story o f an American Odysseus, a westerer, a sailor of plains, a man who embodies the raw vitality o f American, the raw vitality which is our only salvation in the days which lie ahead." (S. 110) Bereits die intertextuelle Anspielung auf den Odysseus-Mythos verweist auf die Grundproblematik in Vanderhaeghes Roman: Offenbar impliziert die sinnund identitätsstiftende Vergangenheitsaneignung unweigerlich die Verdichtung dieser Vergangenheit zum Mythos. Diese Mythologisierung scheint insbesondere dann unhintergehbar, wenn vergangene Ereignisse nach Maßgabe von solch kulturell hochgradig konventionalisierten und symbolträchtigen Gattungsmustern wie dem des Westerns kodiert werden. Um die Authentizitätssuggestion seines Films zu begünstigen, macht es Chance Harry zur Aufgabe, den gealterten Cowboy Shorty McAdoo aufzusuchen, der als Zeitzeuge das Rohmaterial für das Drehbuch liefern soll (vgl. S. 27). 318 Shorty McAdoo zeigt sich vorerst höchst unwillig, mit Harry seine Vergangenheit zu teilen. Die Aussicht, seine offensichtlich problematischen Erfahrungen zu rekapitulieren, ist für ihn wenig verheißungsvoll. Harry muss ihn immer wieder zum Weiterreden überreden, seine Hemmschwelle mittels Whiskey abbauen, zahlreiche materielle Versprechungen ankündigen und Drohungen formulieren: „My publisher is getting impatient. He wants Indians." (S. 141) Erst nachdem es Harry gelingt, McAdoo davon zu überzeugen, dass er für ein Buch über den amerikanischkanadischen Westen recherchiere und er ihm eine beträchtliche Geldsumme für 318 Vgl. zu der angestrebten Authentisierung folgende Äußerung von Chance: „If I can convince the audience the details are impeccably correct, who will dispute the interpretation? The truth of small things leads to confidence in the truth of the large things." (S. 219)
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sein Zeugnis in Aussicht stellt, erklärt sich MacAdoo dazu bereit, die desillusionierende Geschichte seiner Adoleszenz zu erzählen: He knew exactly what he wanted to say and would frequently request me to read back to him what I had written in my shorthand notes. He listened very intendy and then he might add or omit some detail. [...] It was a long, long night. Several times I asked if we couldn't continue tomorrow but he said no, this was like amputating a leg, you didn't stop in the middle, pick up the saw in the morning. (S. 196) MacAdoos Bedürfnis, seine Aussagen wieder und wieder zu revidieren, stellt die ephemere Qualität seiner Erinnerungen heraus, die folglich ein äußerst fragiles Fundament für die aspirierte Authentizität des Historienfilms abgeben. Im Zentrum seiner — im Rahmen dieses Erzählstrangs nur eklektisch angedeuteten - Geschichte steht das folgenreiche Cypress Hills Massaker, das sich 1873 in der heutigen Grenzregion zwischen Kanada und den USA zutrug. Im Mittelpunkt des zweiten Erzählstrangs stehen die von einer heterodiegetischen Erzählinstanz präsentierten Erlebnisse des .Englishman's Boy' in der nordamerikanischen Prärie im ausgehenden 19. Jahrhundert. Der plötzliche Tod seines Reisebegleiters und Geldgebers sowie der von ihm begangene Mord an einem Pensionsbesitzer zwingen den Jungen dazu, sich einer Gruppe von derbgrobschlächtigen Wolfsjägern anzuschließen. In der Überzeugung, dass ihre Pferde von einigen Natives gestohlen wurden, reiten diese in das nördliche ,Whoop-Up Country' (das heutige südwestliche Saskatchewan und Süd-Alberta), um Rache zu nehmen. Als sie auf eine Gruppe von Assiniboine Cree Indians stoßen, entfachen die Wolfsjäger einen Kampf, in dem sie ihren rassistischen Ressentiments gegenüber der indigenen Bevölkerung brutalsten Ausdruck verleihen: In dem Gefecht, das später als das Cypress Hills Massaker bezeichnet wird, töten sie mehr als 30 Assiniboine Cree Indians, verwüsten deren Siedlung und vergewaltigen ein indigenes Mädchen. Der Verlauf dieser desillusionierenden Erzählung legt sukzessiv offen, dass der in das Massaker involvierte Jugendliche, ,the Englishman's Boy', identisch ist mit dem alternden Cowboy McAdoo, der Vincent fünfzig Jahre später seine Geschichte erzählt. Während der erste, auf Harrys individuellen Erinnerungen basierende Handlungsstrang von vielen metamnemonischen, metanarrativen und metamedialen Reflexionen durchzogen ist, die insgesamt die Konstruktivität und Perspektivität der individuellen ebenso wie kollektiven Sinnstiftung akzentuieren, zeichnet sich der zweite, heterodiegetisch erzählte Handlungsstrang durch zahlreiche .Glaubwürdigkeitseffekte' aus. Detailgenaue Beschreibungen der Lebenswelt. Innenweltdarstellungen, interne Fokalisierungen des .Englishman's Boy' (die eine Verbindung zu dem gealterten Shorty MacAdoo herstellen), elaborierte Figurenbeschreibungen, Dialoge und wechselnde Sprachregister suggerieren die Spezifität der individuellen Erfahrungen und rufen so den Eindruck von Realismus hervor (vgl. Genette 1994, S. 120f.; Fludernik 1996, S. 38). Vor aüem auch die Darstellung der sinnlichen Wahrnehmungen — der visuellen, olfkatorischen, auditiven und taktilen Eindrücke - während und nach dem Kampf gegen die Assiniboine
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evozieren die individuelle, verkörperte Erfahrung und legen die Unmittelbarkeit des Erlebten nahe: He began to sag on the blade, dragging it down with a great heaviness beyond the tug of gravity, the greatest weight the Englishman's boy had ever supported [...]. The Englishman's boy was fighting it with all his strength [...]. He'd seen some tough doings in his short life, but nothing to compare to this. When the Assiniboine had finally cut and run, the wolfers crept out of their hidey-hole, sniffed the air like cautious dogs before they commenced to scalping. (S. 271) Der Detailrealismus sowie der vollzogene Wechsel von einem homodiegetischen Erzähler fragwürdiger Glaubwürdigkeit (MacAdoo steht nicht nur unter Alkoholeinfluss, sondern konzediert auch, schwerwiegende Abrufprobleme zu haben) zu einer heterodiegetischen, Objektivität suggerierenden Erzählinstanz trägt zur Bewahrung der formalmimetischen Illusion und somit zur Authentizitätssuggestion bei. Auf das textuelle Wirkungspotential dieses Realismus weist Wyile (1999b, S. 33) hin: In this narrative, Vanderhaeghe creates a strong sense of verisimilitude and immediacy by effacing the narrating subject, providing a wealth of historical ,realemes' or atmospheric and cultural detail, and making use of an elaborate figurative repertoire that helps to convey a vivid sense of the territory and the tenuousness of the situation, especially for the Englishman's boy. Die formästhetischen Besonderheiten wirken in The Englishman's Boy zusammen, um den von Shorty MacAdoo geschilderten .Grenzerfahrungen' eine besondere Glaubwürdigkeit zu verleihen. Sie werden gewissermaßen zum Authentizitätsgaranten und somit zum Maßstab für die Beurteilung nachfolgender Interpretationen dieser — für das amerikanische und kanadische Kollektivgedächtnis hochrelevanten - Ereignisse. Das ständige Oszillieren zwischen den beiden Erzählsträngen und den von ihnen aufgerufenen vergangenen Orten und Zeiten bringt die Pluralität von Vergangenheitserfahrungen zur Darstellung und unterstreicht die Fragmentarität vergangener Realität. Vergangenheiten haben keine Bedeutung, sondern werden erst durch intentionale Akte der narrativen Synthetisierung für bestimmte Gruppen oder Individuen bedeutungstragend. Der Wechsel zwischen unterschiedlichen Zeitebenen evoziert darüber hinaus den Eindruck einer kontinuierlichen, fortwirkenden Vergangenheit. Die andauernde Präsenz des Vergangenen bringt Harry Vincent auf den Punkt, wenn er feststellt: ,,[T]he past cannot be so easily dismissed." (S. 309) Die temporalen Interpenetrationen akzentuieren Parallelen zwischen den verschiedenen zeitlichen Ebenen und machen die Beständigkeit von kulturell wirksamen Deutungsmustern beobachtbar. Insbesondere rassistische Vorurteile gegenüber der indigenen Bevölkerung und damit verbundene Annahmen der Superiorität der .Weißen', die im ausgehenden 19. Jahrhundert zu xenophoben Verhaltensweisen wie dem Cypress Hills Massaker führten, finden im Hollywood der 1920er Jahre eine gefährliche Fortführung. Damals wie heute - dies zeigt Damon Chances Reaktion auf Shortys Geständnis - stehen sie einem gleichberechtigten multikulturellen
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Miteinander und einem kollektiven Erinnern, das den vielen Vergangenheitserfahrungen gerecht wird, im Wege. Der Filmproduzent Damon Chance hat wenig übrig für die Geschichte des infamen Verhaltens der amerikanischen und kanadischen Pioniere, die ihm Harry Vincent auf der Basis von Shortys Enthüllungen präsentiert. Mit dem .idealistisch'didaktischen Ansinnen seines Filmes lassen sich die brutalen Vorgehensweisen der Wolfsjäger nicht in Einklang bringen. Sein Western soll einen substantiellen Beitrag zur gegenwärtigen Erinnerungskultur Amerikas leisten und nicht nur Amerikanern als beflügelnder Ausdruck ihrer Kollektividentität dienen: „The American destiny is forward momentum. What the old frontiersman called westering. What the American spirit required was an art form of forward momentum, an art form as bold and unbounded as the American spirit. A westering art form!" (S. 110) Das Filmepos soll darüber hinaus auch allen Immigranten ein Vorbild für die wahre Americanness, für die uramerikanischen, d.h. aus dem Gründungsmythos abgeleiteten Werte und KollektiworsteUungen bieten: .Two years ago Congress adopted a new immigration policy. Each European nation is allowed a quota o f three per cent o f the number o f its nationals living in our country. But what o f the millions we have already let in? [...] The only solution, Harry, is conversion. Convert the strangers with lightning! [...] The lightning o f pictures! American pictures!' (S. 2 4 1 )
Seinen projektierten Historienfilm konzeptualisiert Chance als verbindende und verbindliche .Geschichtsstunde' (vgl. S. 109), die gerade Einwanderern als eine Art Lehrstück dienen und ihre spirituelle Konversion zum .Amerikanismus' vorantreiben soll. Als Schmiede der nationalistischen Erinnerung soll der Film die dominante Fiktion von Nationalstaaten nähren: die Vorstellung ihrer Einheit und Einheitlichkeit (vgl. Anderson 1983). Ganz im Sinne von hegemonialen Gedenkstrukturen ist Chances Erinnerungsarbeit daraufhin orientiert, Widerstrebendes zu unifizieren und Identität zu schmieden, wo kulturelle Differenzen bestehen. Um seine partikulare Deutung der Vergangenheit gesellschaftlich als die .eigentliche' zu legitimieren, setzt Chance auf die Prägekraft des Bildes, d.h. auf seine scheinbare Eindeutigkeit. In zahlreichen metamedialen Reflexionen legt Chance das besondere Leistungsspektrum von Bildern dar: Images take root in your mind, hot and bright, like an image o n a photoplate. [...] They burn themselves in the mind. Because there's no arguing with pictures. Y o u simply accept or reject them. [...] A book invites argument, invites reconsideration, invites thought. A moving picture is beyond thought. Like feeling, it simply is. (S. 109)
Chance spielt das Erinnerungspotential von Bildern gegen das von Texten aus und schreibt allein dem Bild den Anspruch auf identitätsstiftende Vergangenheitsvermittlung zu. 319 Sein angeblich naturalisierender Präsenzcharakter („it simply is"), 319 Vgl. zur Inszenierung von Medienkonkurrenzen im Medium der Literatur den Überblick von Dickhaut (2005).
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sein symbolisches Verdichtungspotential und seine genuine Eindrücklichkeit verleihen dem Visuellen Chance zufolge sein medienspezifisches Erinnerungspotential: An die Stelle der für literarische Texte konstitutiven Polyvalenz trete im Film die unmittelbare Anschaulichkeit des Bildes und seine zwangsläufige Prägekraft im individuellen Gedächtnis. Uber Bilder können kulturell kodierte ideologische Wiedererkennungseffekte erreicht werden (vgl. Schindler 2002, S. 176): Gleichsam als imagines agentes greifen sie auf semiotisierte Bestände des kulturell verfugbaren Bildgedächtnisses zurück. Bilder prägen gesellschaftliche Erinnerungsprozesse aktiv mit und emotionalisieren diese durch die Darstellung von Nationalstolz, patriotischer Begeisterung und Siegen über kulturell Andere. Dieses medienspezifische Homogenisierungspotential, das eine kritische Auseinandersetzung mit dem Dargebotenen erschwert, will sich Chance zu Eigen machen, um die unhinterfragte Gültigkeit seiner Vergangenheitsdarstellung zu beanspruchen (vgl. S. 70). 3 2 0 Die in Harrys Filmscript vorgenommene Offenlegung der rassistischen Verhaltens- und Denkweise der wolfers steht Chances nationalpatriotischem Unterfangen diametral entgegen: „The psychology is all wrong. Absolutely wrong." (S. 238) Zwar beteuert Harry, Shorty MacAdoos Erzählung fast wortgetreu transkribiert zu haben; es ist aber gerade diese historische Wahrheit und die damit verbundene Dämonisierung derjenigen Akteure, die in Chances Vergangenheitsversion als Nationalhelden und Idenfiktionsfiguren figurieren sollen, woran er mitnichten interessiert ist: ,„Yes, you wrote it exactly as MacAdoo described it. But where is the artistic intuition? You've assembled the facts like a stock boy stacking cans on a shelf. You must reach beyond that.'" (Ebd.) Es geht Chance mithin nicht um die historische Wahrheit, sondern um eine — in seinen Augen - tiefer gehende symbolische Wahrheit, um eine „psychological truth, poetic truth" (S. 240), die er zum authentischen Ausdruck uramerikanischer Erfahrungen und der darauf aufbauenden Wertehierarchie stilisiert: „After all, art is elastic not rigid." (S. 214) Wie flexibel diese Wahrheit für Chance ist, legen intertextuelle Referenzen auf den Autor Sorel und dessen Bestimmung des Mythos nahe: Sorel zufolge muss der Mythos nicht einmal auf historische Begebenheiten Bezug nehmen. Seine genuine Leistung liege vielmehr in der Konstruktion einer ,usable past', einer erinnerungskulturell bedeutsamen Vergangenheit also, die identitätsstiftende Werte, Normen und handlungsleitende Ideale transportiert: ,,[T]he myth doesn't need to have any grounds in reality, or have any possibility of being accomplished; it's there to motivate people, provide the impetus for violent action." (S. 256) Historische Wahrheit fällt für Chance demzufolge mit mythischer Wahrheit in eins. Die letztere unterliegt allein zweckgerichteten Kriterien: Sie muss selbstwertfördernde Identitätsmuster rahmen, den American Dream nähren und kollektiv erwünschte Sinnzusammenhänge in
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Zu einem ähnlichen Schluss gelangt auch Wyile (1999b, S. 45): „Chance intends to use film to .impress' his lesson on his audience and to discourage reflection, a demagogic approach to history that Harry later ties to overdy fascist figures such as Hitler and Mussolini."
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symbolisch verdichteter Form generieren: „Myth as a complex of pictures which express the deepest desire of a group." (Ebd.) Mit der Diskussion um spezifische Wahrheitskriterien macht The Engtishman's Boy Konstruktionsmechanismen der Gedächtnisbildung beobachtbar. Offenbar geht es bei der Konstitution von Kollektivgedächtnis nicht darum, ein möglichst detailgetreues Bild der vergangenen Ereignisse zu vermitteln. Vielmehr geht es um die Herstellung und Perpetuierung eines perspektivischen, auf gegenwärtige Herausforderungslagen und Relevanzkriterien abgestimmten Bedeutungskonstrukts, eines Gründungsmythos also, der handlungsleitende Kodierungsmuster zur Verfügung stellt: „Erinnerte Vergangenheit", so auch Aleida Assmann (1999, S. 82), „ist stets verquickt mit Identitätsentwürfen, Gegenwartsdeutungen und Geltungsansprüchen. [...] Die Erinnerung trägt zu einer Geschichte des Imaginären bei". Dass bei dieser kollektiven Selbsterfindung das Gedächtnis nicht nur für Leistungen des Erinnerns, sondern auch und oftmals vor allem für die des Vergessens in Anspruch genommen wird, verdeutlicht Chances Forderung an Harry, Shorty MacAdoos Geschichte umzuschreiben und vor allem die Vergewaltigung und Ermordung des jungen Mädchens dem Vergessen preiszugeben: „,They who resurrect the savage ghosts of their past must be challenged with the savage ghosts of our past. I will help, I will raise up our ghosts. [...] Rewrite it. Change the girl. The enemy is never human."' (S. 243) Offenbar werden solche Vergangenheitsaspekte, die nicht im Einklang mit kollektiven Selbstbildern stehen, bewusst ausgespart bzw. motiviert vergessen. Dieser Akt des Vergessens bezweckt die bewusste Abgrenzung von kulturell Anderen, ein Ausspielen des eigenen Vergangenheitsbildes gegen konkurrierende Versionen. So ist das von Chance konstruierte Kollektivgedächtnis darauf angelegt, eine polarisierende Grenze zwischen dem Eigenen und dem Fremden zu ziehen und diejenigen, die seine Vergangenheitsauslegung nicht teilen, strategisch auszuschließen bzw. ihnen eine Artikulationsmöglichkeit zu verweigern. Durch die indizierte Fremdheit und die damit einhergehende Distinktion soll eine gesteigerte „Einheit im Inneren" (J. Assmann 2000, S. 152), ein ebenso ausgeprägtes wie monolithisches Wir-Bewusstsein also, sichergestellt werden. Für widerstrebende Vergangenheitsversionen lässt ein solches, nach Hegemonie trachtendes Gedächtnis keinen Raum: „American pictures! Make the Sicilian living in New York American. Make the Pole living in Detroit American. Convert all those who can be converted — damn the rest!" (S. 241) Seine eigene Vergangenheitsversion bedarf nicht nur keiner Aufarbeitung und Diskussion; sie lässt auch ihr konstitutives Außen, die notwendige Alterität der Identität, unberücksichtigt und setzt damit auf eine einseitige Monophonisierung des öffentlichen .Erinnerungschors'. Im Zuge der vorgeblich idealistischen, de facto aber rassistischen und antisemitischen Ausführungen Chances wird sich Harry Vincent immer deutlicher darüber klar, dass er der Forderung nach einer Umschrift von MacAdoos Geschichte nicht gerecht werden kann: „,I've got to get out of this picture [...].' [I]f I write what Chance wants, there's every likelihood I'll have a hand in attaching Shorty McAdoo's name to a lie. [...] I can guess at the savage, distorted, paranoid lens through which this picture is going to be shot" (S. 253). Schließlich fasst Harry den
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Entschluss, aus dem Filmprojekt auszusteigen und Hollywood den Rücken zu kehren. Nach Harrys Ausstieg nimmt sich Chance nunmehr selbst des Unterfangens an, McAdoos Geschichte dergestalt umzuschreiben, dass sie seinen Sinn- und Identitätsbedürfnissen Rechnung tragen kann: ,„[T]he time has now come to rewrite history in lightning. Yes, rewrite the history of the foreigner [...] and light their minds with the glory of American lightning.'" (S. 282) Auf Harrys Präzisierung ,„You mean your lightening'" (ebd.) entgegnet Chance: ,„Of course, my lightning'" (ebd.) und reklamiert damit erneut seinen Anspruch auf alleinige Deutungshoheit der Kollektiwergangenheit. Gleich einem — wie sein Name impliziert .Dämon historischer Kontingenz' spart Damon Chance in seiner filmischen Vergangenheitsrepräsentation jede Referenz auf die Vergewaltigung und den Mord des indigen Mädchens aus und perpetuiert hiermit eine von kollektiver Schuld und Scham bereinigte Erinnerungsversion.321 Im Einklang mit dem übergeordneten Deutungsschema eines manifest destiny figurieren die Pioniere in seiner Filmversion als ehrwürdige und legendäre Helden, die entgegen jeder Erwartung den Kampf gegen eine nahezu unbesiegbare Anzahl an Assiniboine Indians für sich zu entscheiden vermochten und hiermit die .rechtmäßige' Überlegenheit der weißen Kultur unter Beweis stellten (vgl. Kuester 2000, S. 285). Mit der Offenlegung der bewussten Verzerrung bzw. Verfälschung von filmischen Bildern konterkariert der Roman die von Chance entfaltete Vorstellung ihrer mnemonischen Evidenz und ihres dokumentarischen Abbildcharakters. Selbst Gedächtnismedien, die wie filmische Bilder scheinbar einen stark referentiellen Charakter aufweisen, sind alles andere als zuverlässige und stabile Speicher vergangener Realität. Mitnichten reproduzieren sie die eingespeisten Daten zu einem späteren Zeitpunkt unverändert, sondern können diese bewusst verfalschen und für politische Zielsetzungen funktionalisieren. Die Inszenierung und Reflexion der Modalitäten der kollektiven Gedächtnisbildung bietet mithin Anlass, über die Selektivität und Manipulation von Gedächtnismedien zu reflektieren und Ausschlusskriterien des gesellschaftlich dominanten Kollektivgedächtnisses zu hinterfragen. Auf gesellschaftlicher Ebene (der fiktionalen Welt) treten die von Shorty erzählte und von Harry niedergeschriebene Vergangenheitsversion folglich mit Chances Filmversion in ein Verhältnis der Konkurrenz um Erinnerungshoheit. Auf der einen Seite steht Shortys Erzählung, die die Grausamkeiten der amerikanischkanadischen wolfers fokussiert und damit bestehende, gesellschaftlich tradierte und dominante Vergangenheitsversionen in Frage stellt. Auf der anderen Seite versucht Damon Ira Chance, in seiner Filmversion eben diese Aspekte auszusparen und damit ein ethnisch exklusives und selbstlegitimierendes Vergangenheitsbild zu stabilisieren. Die antagonistischen Erinnerungsversionen entziehen sich einer abschließenden Synthese und fuhren so vor Augen, dass sich Erinnerungskulturen kein einheitliches Kollektivgedächtnis verordnen können. In ihnen konkurrieren 321 Vgl. Janes (2002, S. 98), die betont: „Chance is depicted as a counterfeiter of history. He exploits and distorts Shorty's narrative to satisfy his own malign political and artistic agenda."
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heterogene Erinnerungsgemeinschaften um das Recht auf Anerkennung. Dass dieses Recht auf Anerkennung häufig mit dem Trachten nach Erinnerungshegemonie verbunden ist, verdeutlicht Chances mehrfach artikuliertes Ziel, kulturelle Erinnerungsminderheiten zu .bekehren' und die alleinige Gültigkeit seines kollektiven Vergangenheits- und Identitätsmodells zu reklamieren. Chance funktionalisiert seine filmische Vergangenheitsrepräsentation als erinnerungssymbolisches Machtinstrument zur Dissemination hegemonialer Deutungsmustern. Die beiden zentralen Handlungsstränge (die heterodiegetische Inszenierung des Cypress Hills Massakers und die von dem homodiegetischen Erzähler Harry reaktualisierten Ereignisse in Hollywood) sind schließlich von einem dritten umrahmt, den nur im ersten und letzten Kapitel präsentierten Erfahrungen einer Gruppe von Assiniboine Indians. Im Zentrum dieses — durch interne Fokalisierungsinstanzen vermittelten — Handlungsstrangs steht der Diebstahl der den Wolfsjägern gehörenden Pferdeherde, der nachfolgend zum Anstoß für das Cypress Hills Massaker wird. Im letzten Kapitel des Romans fuhren Fine Man und Broken Horn die gestohlenen Pferde triumphierend zu ihrem Stamm zurück: „Pushing hard, Fine Man and Broken Horn had driven the stolen horses a two-day ride to the northwest of Cypress hills, making for where their band waited" (S. 310). Da diese Natives offensichtlich nicht mit der beim Massaker ermordeten Gruppe identisch sind, wird die Rache der wolfers als völlig willkürlicher Gewaltakt entlarvt. Zugleich wird mit der Darstellung dieser Geschehnisse ein weiterer, bislang ungekannter Vergangenheitsaspekt aufgedeckt und so wiederum die Selektivität und Perspektivität der beiden zuvor präsentierten Vergangenheitsdeutungen akzentuiert. 322 Auch die auf Shortys Augenzeugenbericht basierende und durch zahlreiche e f f e t s de reel Authentizität suggerierende heterodiegetische Erzählung erweist sich damit als unvollständiges und perspektivisch gebrochenes Vergangenheitskonstrukt. The Englishman's Boy problematisiert das medienspezifische Erinnerungspotential, zumal die Authentizitätssuggestion verschiedener Medien, indem er nicht nur den konstruktiven Charakter von Filmen, sondern auch den von scheinbar transparenten und referentiellen Narrationen offenbart: Vanderhaeghe suggests that historical representation, no matter how wellintentioned, is always a distillation of personalities, facts, and feelings from their original context: the historical details, separated from the specifity of their own time and place, become prey to a new imaginative force [...]. (Janes 2002, S. 92) Durch die multiperspektivische Inszenierung des Vergangenen entsteht ein Gewebe von sich widersprechenden und einander relativierenden Vergangenheitsperspektiven, das die Heterogenität der in einer Gesellschaft koexistierenden Kollektiverinnerungen zur Darstellung bringt. Die Inszenierung eines Nebeneinanders
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Vgl. zu diesem Aspekt Kuester (2000, S. 290Γ): ,,[T|his version o f the events leading to the Cypress Hills Massacre, in its turn is once again embedded in yet another frame narrative telling the whole story f r o m yet another perspective. T h e various versions thus relativi2e each other so that none o f them can claim final authority."
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unterschiedlicher deutender Stimmen fuhrt die vielfältigen Ausprägungen der kollektiven Erinnerungsbildung vor Augen, die sich offensichtlich — entgegen den Aspirationen von Chance — nicht zur unifizierenden Synthese eines Kollektivgedächtnisses bündeln lassen: „By juxtaposing different views and versions of the Cypress Hills Massacre, Vanderhaeghe succeeds in showing how a narrative and historical .vacuum' can be filled up [...] differently by different national and ethnic interests" (Kuester 2000, S. 289). The Englishman's Boy inszeniert ein enorm breites Spektrum heterogener Erinnerungsperspektiven und stiftet zahlreiche Interrelationen zwischen ansonsten getrennten kulturellen Bereichen. Intensiviert wird die aus der multiperspektivischen Struktur resultierende erinnerungskulturelle Polyphonie dadurch, dass die unterschiedlichen Perspektiven auf der syntagmatischen Achse lose nebeneinander stehen, dass also keine Integrationsinstanz vorhanden ist, die die konkurrierenden Sichtweisen sinnstiftend zueinander in Bezug setzt. Der gesellschaftliche Antagonismus, der Streit um Erinnerungen findet in den unterschiedlichen, gruppenspezifischen Semantisierungen des Raums einen prägnanten Niederschlag: „From three different narrative positions, The Englishman's Boj tries to appropriate and fill the semiotic vacuum that the Canadian Prairies [...] situated in a no-man's-land between American Frontier und Canadian wilderness - seem to represent." (Kuester 2000, S. 289) Der Handlungsraum, die Grenzregion zwischen den USA und Kanada bzw. die Umgebung der so genannten .Medicine Line' (S. 182), erscheint vorerst — aus der Perspektive der amerikanischkanadischen Pioniere — als ein vakantes, ebenso gesetz- wie geschichtsloses Territorium: ,,[T]he treaties say you're in Canada, but they're dead wrong. You're in Whoop-Up country." (Ebd.) Das Territorium wird als ,Νο Man's Land' konzipiert, als .lonesome country' (vgl. S. 162), als Un-Ort, der keinen wirklich belebten bzw. .gestimmten' (Hoffmann), sondern allenfalls einen geographischen Raum darstellt (vgl. Calder 2000, S. 97f.). Erst im Verlaufe der jeweiligen Aktualisierung und Aneignung des Vergangenen wird der Raum Stück für Stück semiotisiert und damit als symbolischer Ausdrucksträger der gruppenspezifischen Vergangenheit und Identität instrumentalisiert. Für Damon Ira Chance wird die Grenzregion - offenbar in Reverenz an Frederick Jackson Turners (1984 [1893]) frontier thesis - zur symbolträchtigen Materialisierung des manifest destiny und der darauf aufruhenden amerikanischen Wertehierarchien: „The American spirit is a frontier spirit, restless, impatient of constraint [...] The American destiny is forward momentum." (S. 110)323 Für Shorty MacAdoo hingegen konkretisieren sich in diesem Raum die desillusionierenden Verhaltensweisen der amerikanisch-kanadischen Pioniere und hiermit seine eigene Scham und Schuld. Und aus den Augen der Angehörigen der indigenen Bevölkerung ist die Grenzregion schließlich mit der Erinnerung an ihren eins-
323 Vgl. zur Semantisierung der Raumdarstellung und den damit korrelierten essentialistischen Identitätsprofilen auch folgende Äußerung von Chance: „The blood of America is the blood of the pioneers — the blood of lionhearted men and women who carved a splendid civilisation out of the uncharted wildemess." (S. 230)
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tigen, freien Lebensraum und der nunmehrigen Erfahrung der gesellschaftlichen Marginalisierung und Dezimierung durch die dominant weiße Bevölkerung besetzt (vgl. S. 314). Durch diese - für den soziobiographischen Erinnerungsroman typische — kontrastierende Semantisierung und die agonale Raumappropriation wird der Raum zum Kampfplatz konkurrierender Erinnerungsgemeinschaften und ihrer je distinkten Vergangenheiten sowie Kollektividentitäten. Verdeutlicht die multiperspektivische Inszenierung der Vergangenheit die Gebundenheiten von Vergangenheitskonstruktionen an gruppenspezifische Voraussetzungssysteme, so offenbart das Spektrum inszenierter Gedächtnismedien die mediale Verfasstheit von Vergangenheitsversionen sowie medienspezifische Bedingungen der Erinnerungstradierung. Kollektive Vergangenheitsdeutungen und Identitäten müssen nicht nur geschaffen werden. Sie bedürfen auch der gesellschaftlichen Anerkennung. Jenseits der gruppeninternen Vergangenheitskonstruktionen stellt sich somit auch die Frage nach ihrer Sichtbarkeit und Durchsetzungsfähigkeit im öffentlichen Erinnerungsraum. So sind die drei in The Engüshman's Boy präsentierten und um Deutungshoheit konkurrierenden Erinnerungsversionen an unterschiedliche Medien des Gedächtnisses gebunden: Shorty MacAdoo vermittelt seine Erfahrungen in Form einer mündlichen Erzählung, Damon Ira Chance greift bei seiner kollektiven Erinnerungsarbeit auf das Medium des Films zurück und Strong Bull, Angehöriger der Assiniboine Indians, hält die gruppenspezifischen Erinnerungen seiner Gemeinschaft in Erzählungen sowie in Zeichnungen fest: „Strong Bull traded his prime robes for drawing sticks and the books the white men made the marks in [...]. [...] ,1 draw the pictures — so the grandchildren will recognize us', he said." (S. 312-314) Die intermedialen Referenzen auf mündliche Erinnerungserzählungen, Filme und Bilder veranschaulichen nicht nur die Heterogenität der Gedächtnismedien, derer sich Gruppen zur Stabilisierung ihrer Vergangenheiten bedienen und die in einer bestimmten Erinnerungskultur koexistieren. Sie verdeutlichen auch den wirklichkeitskonstituierenden Charakter von Gedächtnismedien, die bestimmte Erfahrungsaspekte allererst intersubjektiv vermittelbar und damit — zumindest im kulturellen Fernhorizont einer ,zerdehnten Situation' (Ehlich) - auch gesellschaftlich wirkfähig machen. Was von der Vergangenheit bleibt, sind nur Medien des Gedächtnisses, die als materiale Zeichen Einblicke in vergangene Realitäten bieten. Dass von der Materialität der Medien schließlich auch das gesellschaftliche Erinnerungspotential bzw. die soziale Reichweite der jeweiligen Gedächtnisversion abhängen, zeigen Harry Vincents Überlegungen. Während seines Schreibprozesses reflektiert der von Hollywood enttäuschte und mittlerweile in seine Heimat Saskatoon zurückgekehrte Drehbuchautor über seine vergangenen Erfahrungen und wirft die Frage auf, was denn nun von der Geschichte der Besiedlung des Westens übrig geblieben sei. Offenbar hat sich der von Damon Chance hergestellte Film angesichts der tragischen Begleitumstände seiner Premiere - der Filmproduzent wurde von Shorty McAdoos bestem Freund Wylie erschossen — zum Kassenflop entwickelt. Allerdings bleibt auch McAdoos Vergangenheitsversion, die von ihr zutage gebrachte brutale Vorgehensweise der Wolfsjäger im Rahmen des Cypress
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Hills Massakers, gesellschaftlich marginalisiert und unterrepräsentiert. Die Erinnerung an diese Geschehnisse fand weder in das amerikanische noch in das kanadische Kollektivgedächtnis Eingang: Shorty's story fared no better in the history books I consulted when I got back home to Canada. Searching them, I found a sentence here, a paragraph there. What I learned was little enough. For a brief time the Cypress Hills Massacre had its day in the sun; members of Parliament rose in the House, hody denouncing the wolfers as American cutthroats, thieves, and renegades. Nobody seemed to mention that among them were Canadian cutthroats too. (S. 309) Die von McAdoo artikulierten Erinnerungen bleiben gegenüber der hegemonialen Legitimitätserzählung des noblen Pioniers und des glorreichen manifest destiny — wie sie von Damon Chances patriotisch-manipulativer Filmproduktion stabilisiert werden sollte — wirkungslos. Mit der literarischen Darstellung der Pluralität von kollektiven Gedächtnissen illustriert Vanderhaeghes soziobiographischer Erinnerungsroman also nicht nur das agonale Moment heutiger Kulturen im Streit um Erinnerungen. Vielmehr verdeutlicht er auch, dass die gesellschaftliche Visibilität und Durchsetzungsfähigkeit der gruppenspezifischen Erinnerungsversionen maßgeblich von ihrer jeweiligen Medialität abhängt. Durch die Fokussierung der Medienspezifik und des komplexen Verhältnisses von medialer Vermittlung und erinnerter Präsenz bestimmt The Englishman's Boy die wirklichkeitskonstituierende Macht von Gedächtnismedien auf komplexe Weise neu. In The Englishman's Boy geht es nicht nur um Konstruktions- und Verbreitungsmodalitäten von kollektiven Erinnerungsversionen im Allgemeinen und um das hegemoniale Trachten nach Erinnerungshoheit eines ideologisch verblendeten Amerikaners im Besonderen. Vielmehr stehen auch Fragen nach der Bedeutung dieser Kollektiwergangenheit für das kanadische Selbstverständnis zur Disposition. Sowohl für das verheerende Massaker als auch für die Produktion des imperialistischen Filmepos Besieged sind kanadische Figuren maßgeblich mitverantwortlich. Beide Formen der Beteiligung haben weit reichende Implikationen für den literarischen Entwurf einer kanadischen Identität sowie für das damit eng assoziierte, identitäre Wechselspiel zwischen Kanada und den USA. Während das Cypress Hills Massaker aus amerikanischer Perspektive als Teil der mythischen Westbesiedlung gedeutet und als territoriale Vollendung der Nation legitimiert wird, ist seine Bedeutung für das kanadische Kollektivgedächtnis eine gänzlich andere, aber nicht weniger symbolträchtige. Wie Harry Vincent darlegt, wird diese Schlacht in Kanada zum entscheidenden Anstoß für die Etablierung der North West Mounted Police, der so genannten .Mounties', und führt in Folge zur Errichtung der ersten staatspolizeilichen Festung in den Cypress Hills·. „The Canadian government formed the North West Mounted Police, sent it on a long, redjacket march into a vast territory, establishing claim to it. A mythic act of possession." (S. 309) Es ist insbesondere die Etablierung der Mounties, die dazu beigetragen hat, dass die Besiedlung des Westens im kanadischen Kollektivgedächtnis auf idealisierte Weise repräsentiert ist. Angeblich wachten die Mounties über die
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Rechtmäßigkeit der Expansion, eine Aufgabe, die ihnen einen Ruf als friedfertig, gewaltlos und gesetzestreu einbrachte. Die euphemistische Deutung der Westbesiedlung stellt eine zentrale Komponente des kanadischen Selbstverständnisses dar, die schon früh zur Abgrenzung von dem offensichtlich aggressiven und gewaltsamen Nachbarn - also den USA - sowie zur Konstruktion einer toleranten kanadischen Kollektividentität funktionalisiert wurde. So stellt Daniel Francis (1997, S. 34) in seiner Studie über nationale Mythen Kanadas, National Dreams: Myth, Memory, and Canadian History, fest: According to popular legend begun by the Mounties themselves, the Indians were quick to acknowledge that the police were their friends, come to protect them from whiskey traders and other unscrupulous whites. [...] This is what marks Canadians as different from Americans. South of the border they waged genocidal war against their Native population. In Canada, we sent the Mounted Police to befriend and protect the Indians. 124
Aus dem Cypress Hills Massaker leitet sich einer der zentralen, bis heute wirksamen kanadischen Mythen ab: Das Selbstverständnis als ein friedliebendes Volk, dessen Stolz sich gerade aus seiner Differenz zu den streitbaren USA nährt. 325 Die kanadische Nation wird hiermit im Wesentlichen als eine unamerikanische Nation imaginiert, die sich als Korrektiv zu der zerstörerischen Kraft des amerikanischen manifest destiny und des ungebremsten Individualismus begreift (vgl. Groß 1992, S. 196). Wie The Englishman's Boy mit der Darstellung des Cypress Hills Massaker zeigt, kann dieses Selbstbild nur durch die bewusste Verdrängung der kanadischen Mitschuld an der systematischen Dezimierung der indigenen Bevölkerung aufrechterhalten werden: Dass auch „Canadian cutthroats" an dem Gefecht beteiligt waren, bleibt im kanadischen Kollektivgedächtnis offenbar ausgespart. Vanderhaeghes Roman lenkt das Augenmerk auf diesen verdrängten Aspekt der kanadischen Kollektiwergangenheit und führt damit nicht nur vor Augen, dass jede Gedächtnisbildung selektiv operiert und auf die Konstruktion einer ,usable past' (Zamora) angelegt ist. Dies gilt für Damon Ira Chances Filmproduktion ebenso wie für das offizielle Gedächtnis Kanadas. Vielmehr unterminiert der Text auch das zentrale Distinktionsmerkmal zwischen Kanada und den USA und entmystifiziert auf diese Weise das kanadische Selbstverständnis als friedfertiges Volk. Dieses Identitätsver-
324 Parodiert wird der Mythos der friedlichen Besieldung des kanadischen Westens von dem kanadischen Lyriker Stephen Scobie (1990, S. 63): „The Canadian West was never Wild; we take the perverse delight in insisting that the Mounties got there first. Since we never had outlaws, we make do with politicians." 325 Auf die Implikationen des Cypress Hills Massaker für das kanadische Identitätsverständnis weist Kuester (2000, S. 287) prägnant hin: „So while the Cypress Hills Massacre may not have meant much to Americans, representing one of many similar minor skirmishes in the epic struggle for land in the West, it lies at the base of one of the central myths about Canadian identity and one of the widespread distinctions between the American and the Canadian West, if not even of the Canadian self-image as a peace-loving people taking pride in being different from the more aggressive United States."
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ständnis wird als ebenso stereotypes, mythisch verdichtetes Konstrukt entlarvt wie die amerikanische Vorstellung von einem manifest destiny und einem triumphalen frontier spirit (vgl. Wyile 1999b, S. 36). Es ist typisch für den soziobiographischen Erinnerungsroman, dass er bislang kulturell verdrängte Aspekte reaktiviert, Erinnertes und Vergessenes, Konventionalisiertes und Nicht-Sanktioniertes zusammenführt und so einer integrativen Neuperspektivierung des kanadischen Vergangenheits- und Selbstbildes den Weg ebnet. Die kanadische Beteiligung beschränkt sich nicht auf das Cypress Hills Massaker. Auch in die Produktion des Historienfilms Besieged ist mit dem Drehbuchautor Harry Vincent ein Kanadier auf zentrale Weise involviert. Warum ausgerechnet ein Kanadier? Entgegen Harrys Beteuerungen gehen seine Motive zur Mitarbeit an diesem fraglichen Projekt über bloße ökonomische Erwägungen hinaus. Seine Reflexionen legen offen, dass sein Engagement für das hegemoniale Unterfangen des amerikanischen nation building primär dem Bedürfnis entspringt, sein fehlendes Bewusstsein für seine kanadische Identität zu kompensieren. Zwar quält Harry anfänglich sein schlechtes Gewissen darüber, dass er gegenüber Damon Chance seine kanadische Identität verschwiegen hat. Er beruhigt sich allerdings damit, dass der Unterschied zwischen Amerikanern und Kanadiern, zumal aus amerikanischer Perspektive, ohnehin kaum wahrnehmbar sei: „I have found that Americans, by and large, recognize no distinction between us. Why should I?" (S. 112) Harry spricht der kanadischen Identität damit ihre Eigenständigkeit ab; als nicht-distinkte gehe sie gleichsam in einer umfassenden und homogenisierenden (nord-)amerikanischen Identität auf. Erst langsam und unter dem zunehmenden Eindruck von Damon Chances ambitioniertem Nationalismus begreift er, dass es gerade die kulturelle und nationale Selbstgewissheit Amerikas ist, in der seine Faszination für dieses Land begründet liegt und derer Kanada so bitterlich entbehrt. Als ihm seine Freundin Rachel Gold die Frage stellt, .warum er als Kanadier sich so darum bemühe, Amerikanern zu lehren, was es bedeutet amerikanisch zu sein' (vgl. S. 176), konturiert er programmatisch das viel beschworene .Identitätsproblem' Kanadas: .Because I chose this place. And I'm not the only one in Hollywood. [...] Canada isn't a country at all, it's simply geography. There's no emotion there, not the kind that Chance is talking about. There are no Whitmans, no Twains, no Cranes. Half the English Canadians wish they were really English, and the other half wish they were Americans. If you're going to be anything, you have to choose.' (Ebd.) Harry imaginiert Kanada als ein kultur- und geschichtsloses Land, das unter der zählebigen Vorherrschaft des kolonialen Mutterlands Großbritannien und dem Kulturimperialismus der Vereinigten Staaten auf einen bloß geographisch existenten Ort und auf fremd vergebene Etikette reduziert sei. Während andere Länder, allen voran die übermächtigen USA, sich ständig weiterentwickelten und zu Hauptakteuren auf der globalen Bühne avancierten, führe Kanada ein peripheres Schattendasein und beschränke sich auf die passive Konsumption fremder Kulturgüter.
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Paradigmatisch konkretisiert sich die passiv-immobile Identität Kanadas für Harry in der Metapher des unbeteiligten Zuschauers in freier Natur: [W]hen I listen to Chance, maybe I understand that my memory is the truest picture of my country, bystanders huddled on a riverbank, cheering as the world sweeps by. In our hearts we preferred the riverbank, preferred to be spectators, preferred to live our little moment of excitement and then forget it. (S. 177) 526 Seine Hoffnung, eben diese Rolle zu überwinden, stellt den eigentlichen Antrieb für sein Engagement an der Seite des ambitionierten Amerikaners Chance dar. A u f die positiven Aspekte seiner kanadischen Identität besinnt sich Harry erst, als er sich der verheerenden Konsequenzen des amerikanischen Nationalismus und der Formen seiner Traditionspflege bewusst wird. Die Einsicht in seine Mitverantwortung an dieser ideologisch fragwürdigen Vergangenheitsdarstellung bildet für ihn den Anstoß, sich nach seiner .eigentlichen' Bestimmung als bloßer Zuschauer zurückzusehnen. Eine vollständige Lossagung von der amerikanischen Dominanz ist ihm allerdings mitnichten möglich. Sein nunmehriges Ziel, mit seiner Mutter nach Kanada zurückzukehren, kann er erst realisieren, nachdem er — entgegen seiner moralischen Vorgaben - von Damon Chance Geld für seine Mitarbeit an dem Filmprojekt akzeptiert. Und auch zurück in Kanada kann sich Harry Vincent dem Einfluss der USA kaum entziehen. Zwar realisiert er mit seinem Beruf als Kinobetreiber par excellence seinen Wunsch, lediglich Zuschauer auf der Weltbühne zu sein. Allerdings zeigt er in seinem kleinen Kino aller Wahrscheinlichkeit nach — berücksichtigt man die schwindend geringe Anzahl kanadischer Eigenproduktionen (vgl. Corse 1997, S. 148) - amerikanische Filme und wird auch so nolens volens zum Stabilisator des amerikanischen Kulturimperialismus: „Harry's employment as a projectionist in Saskatoon consists o f showing to others the Hollywood movies and the Hollywood values that he himself sought to escape." (Calder 2000, S. 99) Mit der Unmöglichkeit, den ökonomischen und kulturellen Einflussgrößen der USA zu entkommen, lenkt The Englishman 's Boj das Augenmerk ein weiteres Mal auf die Probleme der kanadischen Identitätskonstitution: die Dominanz amerikanischer Kulturgüter und die damit verbundene Schwierigkeit, eigenständige kanadische Deutungsmuster und Sinnstiftungsstrategien zu etablieren, die ein Identitätsverständnis jenseits fremd vergebener Etikette sicherstellen könnten. Ganz in diesem Sinne betont Kuester (2000, S. 291): „It is possible and even tempting to read Harry Vincent's story as an allegory o f the Canadian situation in a world dominated by the United States ever since the days o f the Wild West and its frontier."
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Auch Harrys psychisch labile und fast sprachlose Mutter kann als Symbol für die kanadische Sprachlosigkeit verstanden werden. Das einzige, von ihr artikulierte W o r t ist denn auch ,Home'. A u f die symbolische Funktion der Figurenkonzeption macht auch K r a m e r (1999, S. 5) aufmerksam: „ O n e is tempted to call Harry's inarticulate and nearly abandoned m o t h e r by her real name·. Saskatchewan."
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Bleibt demnach nur der defätistische Rückgriff auf amerikanische Deutungsschablonen und Sinnstiftungsformate, und ist der Versuch, selbst bestimmte, kanadische Vergangenheits- und Identitätsmodelle zu schaffen, immer schon zum Scheitern verurteilt? Guy Vanderhaeghes Roman lässt diese Fragen nicht unbeantwortet. Berücksichtigt man seinen Umgang mit bestehenden generischen Konventionen, so wird deutlich, dass sich der Roman gewissermaßen aus der Vorherrschaft amerikanischer Traditionen befreit und eigenständige, alternative Formate für die Deutung der Kollektiwergangenheit entwickelt. Offensichtlich greift Vanderhaeghes kanadischer Erinnerungsroman -
dies
zeigen vor allem die Selektionsstruktur und die erzählerischen Vermittlung der Erfahrungen um die Wolfsjäger - auf die Konventionen des Westerns zurück: Das räumliche und temporale setting im amerikanisch-kanadischen Westen des 19. Jahrhunderts, die Darstellung der Westexpansion und der damit verbundenen Konflikte zwischen so genannten .Cowboys' und der indigenen Bevölkerung sowie die Vermittlung bzw. Perspektivierung des Geschehens aus der Sicht von .weißen' Akteuren stellen gattungskonstitutive Merkmale des Westerns dar. D e m
Gat-
tungsmuster des Westerns kommt im amerikanischen Kollektivgedächtnis eine wohl paradigmatische Funktion als konventionalisiertes Deutungsschema für die Besiedlung des Westens und die Konstruktion einer amerikanischen Identität zu (vgl. Cawelti 1984, S. 29). 3 2 7 Für das amerikanische kulturelle Gedächtnis erfüllte diese Gedächtnisgattung nicht nur die Funktion, die neuartige, schwer zu deutende Pioniererfahrung sinnhaft zu gestalten; vielmehr übernahm und übernimmt es auch die Aufgabe, die Dezimierung der indigenen Bevölkerung zu legitimieren und den Besiedlungsprozess mit bestimmten normativen Vorstellungen von der Überlegenheit der ,weißen' Kultur zu korrelieren: „The vehicle for that particular [American] national mythology o f manifest destiny is the Western." (Calder 2000, S. 105) Durch den Rückgriff auf gattungsspezifische Besonderheiten des Westerns aktualisiert The Englishman's Boy demnach kulturspezifische, d.h. als genuin amerikanisch ausgewiesene Sinnstiftungsschablonen. The Englishman's Boy belässt es jedoch nicht bei dieser Reaktualisierung; vielmehr modifiziert er die Gattungskonventionen des Westerns produktiv. In dem Prozess der Aneignung und Subversion konstituiert er ein generisches — originär kanadisches - Gegengedächtnis. Die kritische Modifikation und kreative Weiterentwicklung der gattungsspezifischen
Charakteristika
realisiert
Vanderhaeghes
Roman sowohl durch die Gestaltung seiner Selektionsstruktur als auch durch die diskursive Perspektivierung des Geschehens. Die spezifische Ausgestaltung der Selektionsstruktur von The Englishman's Boy trägt zur einer Steigerung des von Wolfgang Iser (1993, S. 24f.) untersuchten reflexiven Potentials literarischer Texte bei: Durch Abweichungen von den Genrekonventionen wird das Augenmerk verstärkt auf die Bezugsfelder des Textes gelenkt. So erinnern Shortys Erfahrun327 Auf die anhaltende Wirksamkeit des Grenzmythos und die Bedeutung des Westerns in der heutigen amerikanischen Erinnerungskultur weist Slotkin (1992) hin.
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gen, insbesondere das Cypress Hills Massaker, die Ermordung zahlreicher Assiniboirte Indians sowie die Vergewaltigung des indigenen Mädchens an die grausamen Folgen der Besiedlung des Westens, die gemeinhin (dies zeigt Chances Filmprojekt in aller Deutlichkeit) keinen Eingang in das Textrepertoire des Westerns finden und somit auch in seinem spezifischen Gattungsgedächtnis unterrepräsentiert bleiben. Durch die Fokussierung dieser marginalisierten Vergangenheitsaspekte desavouiert The Englishman's Boy herkömmliche Deutungsmuster des Westerns als ebenso verkürzt wie ideologisch fragwürdig. Die Desavouierung des gattungsspezifischen Kodierungsformats und seines gesellschaftlichen Wirkungspotentials erhält durch Harrys Offenlegung der Konstruktionsbedingungen des filmischen Westerns sowie durch seine explizite Kritik an der Vorgehensweise des Produzenten Damon Chance zusätzliches Gewicht. Was also durch die Modifikation der Selektionsstruktur auf dem einen Erzählstrang implizit einer Kritik unterzogen wird, wird auf der Ebene des zweiten Strangs zum Gegenstand einer expliziten Kritik und kann durch diese Dopplungsstruktur umso wirksamer als unzulänglich diskreditiert werden. Auch die Perspektivenstruktur und ihre textuelle Konfiguration leisten einen wesentlichen Beitrag dazu, gattungskonstitutive Modalitäten des Westerns zu konterkarieren. Dies wird insbesondere durch die Integration kulturell fremder Sichtweisen erreicht: So sind die beiden zentralen Erzählstränge in The Englishman's Boy von der Inszenierung der Erfahrungen von Fine Man und Broken Horn, Angehörigen der Assiniboine, umrahmt. Entgegen den herkömmlichen Gattungskonventionen, gemäß derer Angehörige der autochthonen Bevölkerung lediglich Objekt, nicht aber Subjekt der Wahrnehmung und Sinnstiftung sind, werden sie in Vanderhaeghes Western von der übergeordneten heterodiegetischen Erzählinstanz als Fokalisierungsinstanzen zugelassen. Ihrer üblichen Stigmatisierung als kulturell Andere können sie, zumindest punktuell, mit einer eigenen Stimme entgegentreten. Durch die Visibilisierung des Marginalisierten bzw. des konstitutiven Außen wird den hegemonialen Erinnerungsträgern das Recht auf alleinige Deutungshoheit abgesprochen und die von ihnen perpetuierte Erinnerungsversion als Resultat von Ausschließungen begreifbar gemacht. Die im traditionellen Gattungsmodell vollzogene konsensorientierte, im Dienste nationaler Identitätsstiftung stehende Kollektiverinnerung, die Konflikte und Problemlagen notwendigerweise minimiert, wird mithin durch die Integration divergenter Perspektiven konterkariert. Die erinnerungskulturellen Implikationen dieser Ergänzung liegen in der Einsicht, dass die vom Western üblicherweise privilegierten Perspektiven weißer Protagonisten notwendigerweise unvollständig und perspektivisch gebrochen sind und damit einer ebenso ethnisch exklusiven wie selbst legitimierenden Kollektiverinnerung Vorschub leisten. Homogenisierenden Erinnerungsversionen, wie sie von traditionellen Western entwickelt und disseminiert werden, stellt The Englishman 's Boy mithin eine Polyphonie sich erinnernder und deutender Stimmen entgegen. Schließlich ist mit der Berücksichtigung der Perspektiven der Assiniboine zugleich eine signifikante Veränderung der konventionellen, für die Sinnbildung so bedeutsamen Schlussgebung verbunden. In The Englishman's Boy haben die Assiniboine nicht nur das letzte Wort. Vielmehr erringen sie durch den geglückten Pferde-
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diebstahl auch einen Sieg über die Weißen und invertieren damit die übliche Schlussgebung, bei der sie den glorreichen, Zivilisationsbringenden Pionieren unterliegen. Auf das kritische Wirkungsspektrum dieser Gattungsmodifikationen macht Wyile (1999b, S. 32f.) aufmerksam: [G]iven the subversion of the imperialism of the western that Harry's and Shorty's narratives effect, it is [...] compelling to read the frame story as subverting the usual ending of the western (in which the whites are victorious and the Indians are vanquished) and as resisting the perspectival closure typical of western [...]. In Vanderhaeghe's novel the whites' narratives are instead contained within the story of a successful coup on the part of the two Assiniboine [...]. Die produktive Veränderung der Schlussgebung trägt somit dazu bei, die mit ihr korrelierten ideologischen Implikationen von einer unbedingten Überlegenheit der weißen Kultur zu hinterfragen und damit bestehende Vergangenheitsdeutungen zum Gegenstand der kritischen Reflexion zu machen. Durch produktive Gattungsmodifikationen unterzieht Vanderhaeghes (kanadischer) Erinnerungsroman bestehende Konventionen eines primär als amerikanisch angesehenen Genres einer Kritik und stellt kulturell semiotisierten Deutungsschablonen und Erinnerungsformaten im Prozess der kritischen Abgrenzung innovative, kanadische Sinnstiftungsstrategien entgegen. 328 Im Gegensatz zu dem klassischen amerikanischen Gattungsformat, das offensichtlich auf rigiden, hegemonial legitimierten Ausschlusskriterien beruht und damit einer homogenisierenden Erinnerungsbildung den Weg ebnet, versucht das in Vanderhaeghes Roman entworfene Gattungsmodell des Westerns, den vielen Erinnerungen, den vielen Vergangenheiten und heterogenen Identitätsbildungen gerecht zu werden. Indem es eine abschließende Synthese verhindert, schafft dieses generische Modell die strukturelle Voraussetzung für ein gemeinsames, integratives Erinnern. Das in The Englishman's Boy entworfene Gattungsgedächtnis bezieht sein kulturökologisches Funktionspotential aus der Tatsache, dass hier mit literarischen Mitteln versucht wird, Kodierungsformate für die schwer zu deutenden, weil mit Scham und Schuld behafteten Vergangenheitserfahrungen der indigenen Bevölkerung zu entwickeln. Diese Erfahrungen stellen die kanadische Erinnerungskultur offenbar vor eine Herausforderung, da sie gängige Selbstdeutungen hinterfragen, die maßgeblich auf dem Status des Kolonisierten (erst durch Großbritannien, später durch die USA), nicht aber des Kolonisators gründen. Durch die produktive Zusammenführung von vorerst kulturell getrennten Erinnerungsversionen kann The Engäshman's Boy für die kanadischen Erinnerungskultur als ,reintegrierender Interdiskurs' (Zapf) wirksam werden, der Möglichkeiten aufzeigt, etablierte Gren328 The YLngtisbman's Boy ist nicht der erste kanadische Roman, der die Gattungskonventionen des Westerns kritisch modifiziert. Literarische Vorgänger dieses antikolonialen Unterfangens stellen Rudy Wiehes Roman Tlx Temptalions of Big Bear (1973) und George Bowerings Caprice (1987) dar. Während Wiehes Roman herkömmliche Deutungen der Westexpansion durch extensiven Rückgriff auf indigene Perspektiven unterminiert, werden in Caprice stereotype Motive des Westerns satirisch überzeichnet und so der Lächerlichkeit preisgegeben.
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zen zwischen Vergessen und Erinnern, zwischen Mehrheit und Minderheit neu zu bestimmen. Es geht dem Roman nicht darum, wiederum einseitige, wenn auch aus anderer Perspektive gedeutete Vergangenheitsversionen zu legitimieren. Es geht ihm vielmehr um ein holistisches Erinnerungsmuster, das antagonistische Bereiche zusammenbringt und durch die Versöhnung mit dem ausgegrenzten Anderen die Möglichkeit einer Revitalisierung der Erinnerungskultur eröffnet. Soll Akzeptanz für ethnisch-kulturelle Differenzen geschaffen werden, so ist ein kultureller Erinnerungspluralismus, der die Bedeutung jeder einzelnen Erinnerungsversion und jedes einzelnen Identitätsmodells anerkennt, offensichtlich unabdingbar. Mit diesem Anspruch verbindet sich nicht nur eine kritisch-reflexive, sondern auch und vor allem eine affirmative, identitätsstiftende Dimension. So bezieht Vanderhaeghes Erinnerungsroman sein erinnerungskulturelles Funktionspotential in nicht unerheblichem Maße aus dem Umstand, dass er auf ein zentrales kanadisches Identitätsbedürfnis antwortet, nämlich das Selbstverständnis als eine .unamerikanische' Nation: Die von dem Roman lancierte Vorstellung einer Erinnerungspolitik, die Vielfalt nicht zerstört, konstituiert sich in dezidierter Abgrenzung zu amerikanischen Erinnerungsformen und -Inhalten (vgl. Brown 1994, S. 24) Diese identitätsstiftenden Distinktionsmechanismen können sich zwar nicht länger auf den Mythos eines friedfertigen kanadischen Besiedlungsprozesses stützen, jedoch auf die Vorstellung eines anderen, ethisch gerechten Umgangs mit dieser Kollektiwergangenheit: „Canadians, it is implied, can show America the real West, shorn of white symbols and alibis." (Kramer 1999, S. 10) Kollektive Erinnerungen und die auf ihnen aufbauenden Kollektividentitäten werden in The Englishman's Boy als perspektivische und zweckgerichtete Konstrukte inszeniert, die um gesellschaftliche Erinnerungshoheit konkurrieren. Wie das für soziobiographische Erinnerungsromane typische Verfahren der strukturellen Multiperspektivität veranschaulicht, ist die Durchsetzungsfähigkeit dieser diversen Erinnerungsversionen an gesellschaftliche Hierarchien gebunden und von der Verfügbarkeit massenwirksamer Medien abhängig. Durch die Darstellung der Interdependenz von gesellschaftlicher Anerkennung und Möglichkeiten der medialen Repräsentation bietet The Engüshman's Boj Anlass, die Ausschlusskriterien von gesellschaftlich dominanten Vergangenheitsrepräsentationen zu überdenken. Obgleich die Kollektiwergangenheit nur in Gestalt von pluralen, inkompatiblen Erinnerungskonstruktionen fassbar wird und die Frage nach den faktischen Bedingungen der vergangenen Realität unbeantwortet bleiben muss, scheinen sich die Konstruktionsmechanismen, die diesen Versionen zugrunde liegen, doch in normativer Hinsicht zu unterscheiden. Wie die explizite Kritik sowie die produktiven Modifikationen der Gattungskonventionen des Westerns vor Augen führen, ergibt sich aus der Kollektiwergangenheit eine - über die partikularen Gruppeninteressen hinausgehende — Verantwortung, auch marginalisierte Erfahrungen zu erinnern (vgl. Margalit 2002 [2000]). In diesem Sinne stellt Vanderhaeghes soziobiographischer Erinnerungsroman alternative Deutungsformate zur Verfügung, die der - für die kanadische Multikultur konstitutiven - Vielzahl heterogener Kollektiwergangenheiten gerecht zu werden suchen. In seiner Funktion als reintegrierender Inter-
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diskurs kann The Engtishman's Boy damit zentrale Orientierungsfunktionen für die kanadische Erinnerungskultur erfüllen.
4.3 Tendenzen des soziobiographischen Erinnerungsromans Soziobiographische Erinnerungsromane zeigen mithilfe multiperspektivischer Verfahren, dass von jedem Ereignis, von jeder Vergangenheit viele Wahrheiten koexistieren, die ihren Anspruch auf Deutungshoheit und ihr Recht auf Anerkennung geltend machen. Diese Koexistenz pluraler Vergangenheitsdeutungen scheint soziale Gemeinschaften wie die Familie ebenso zu charakterisieren wie größere kulturelle oder nationale Gebilde. Der Vorstellung eines einheitlichen und homogenen Kollektivgedächtnisses stellen soziobiographische Erinnerungsromane eine soziale und kulturelle Diversifizierung entgegen. Dass diese mnemonische Diversität Anlass für veritable Zerwürfnisse und agonale Konstellationen geben kann, illustriert Rau Badamis Tamarind Woman ebenso wie Vanderhaeghes The Englishman 'J· Boy. Wo es Individuen nicht länger gelingt, sich auf eine geteilte Vergangenheitsdeutung zu einigen, Erinnerungserzählungen es also nicht vermögen, andere in die Schaffung einer gemeinsamen Welt zu involvieren, wird die Einheit und die Geschlossenheit von Gruppen nachhaltig erschüttert. Es ist gerade die Destabilisierung der Gemeinschaft, die den konstitutiven und unverzichtbaren Zusammenhang, der auch auf kollektiver Ebene zwischen Erinnern, Erzählen und Identität besteht, eindrucksvoll dokumentiert. Durch die Auflösung der Vergangenheit in eine Vielfalt partikularer, sich wechselseitig relativierender Erinnerungsversionen bleibt die Frage nach den faktischen Begebenheiten und Handlungsmotiven bzw. nach der .richtigen' Deutung unbeantwortet. Da die Informationsvergabe an die individuellen Perspektiven gebunden ist, besteht keine Möglichkeit, hinter den Erinnerungskonstruktionen die authentischen Bedingungen des Vergangenen auszumachen. Jede einzelne Vergangenheitsdeutung kann insofern Gültigkeit beanspruchen, als sie auf individuelle oder gruppenspezifische Sinnbedürfnisse zu reagieren vermag. Soziobiographische Erinnerungsromane legen damit auch nahe, dass weniger die Faktizität als vielmehr die Funktionalität der Erinnerung zentral ist. Diese Pluralität impliziert aber keineswegs, dass kollektive Erinnerungen beliebig bewahrt und perpetuiert würden. So bestimmen gesellschaftliche Dominanzverhältnisse wessen Vergangenheitsversionen auf kollektiver Ebene letztlich erinnert werden, welche Deutung sich also im Streit um Erinnerungshoheit durchsetzt und somit als die .eigentliche' betrachtet wird. Die im öffentlichen Raum durch verschiedene mediale Repräsentationen bereitgestellten Erinnerungsanlässe begünstigen eine gesellschaftliche Visibilisierung und damit auch die politische Legitimation eines spezifischen kollektiven Vergangenheits- und Selbstbildes. Durch ihr ausgeprägtes Reflexionspotential, also durch die Offenlegung der Konstruktionsbedingungen von Erinnerungen, können soziobiographische Erinnerungsromane in der Erinnerungskultur als Medium der
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kulturellen Selbstreflexion fungieren. Sie machen damit auch gesellschaftlich zirkulierende Vergangenheitsdeutungen als zweckgerichtete Konstruktionen hinterfragbar. Es versteht sich von selbst, dass mit Tamarind Woman und The 'Englishman's Boy das Repertoire der zeitgenössischen kanadischen fictions of memory, die dem soziobiographischen Erinnerungsroman zuzuordnen sind, noch nicht erschöpft ist. Zahlreiche kanadische Romane, wie etwa Margaret Atwoods The Robber Bride (1993), Timothy Findleys Famous hast Words (1981) oder Rudy Wiebes Α Discovery of Strangers (1994) illustrieren durch die Semantisierung der multiperspektivischen Erzählstruktur und die dialogische Stimmenvielfalt die Perspektivengebundenheit von Erinnerungen und die Inkommensurabilität der Vergangenheitserfahrung. Alle drei Romane nutzen über das bisher analysierte Darstellungsrepertoire des soziobiographischen Erinnerungsromans hinaus weitere Besonderheiten, um die Konstruktivität von Erinnerungen im sozialen Kontext zu reflektieren: Mit der Figur einer professionellen Historikerin führt The Robber Bride eine kritische Metaperspektive auf die Erinnerungskonstrukte ein und problematisiert das komplexe Verhältnis von Erinnerung und Geschichte. In Famous Last Words wird über die Erinnerungsproduktion hinaus auch die divergierende Rezeption von Erinnerungen dargestellt und so die Pluralisierung der Vergangenheiten intensiviert. In Α Discover y of Strangers schließlich wird die intergruppale Konkurrenz zwischen indigenen und kolonial geprägten Erinnerungen prägnanter und weit reichender als in The Engäshman's Boy inszeniert. Diese Intensivierung ist insbesondere auf die montagehafte Struktur von Wiebes Roman zurückzuführen, in dem diverse Erzählweisen, Textsorten, Gattungsmuster und Diskurse unverbunden nebeneinander stehen. Um den Eindruck von den Varianten des soziobiographischen Erinnerungsromans abzurunden, sollen diese Werke abschließend in Grundzügen vorgestellt werden. In Margaret Atwoods Roman The Robber Bride wird die Vergangenheit qua Multiperspektivität in eine Vielzahl heterogener Erinnerungsversionen aufgelöst. Das überraschende Auftauchen ihrer ehemaligen Freundin Zenia wird für Tony, Charis und Roz zum Anlass, sich ihrer gemeinsamen Vergangenheit auf je idiosynkratische Weise zu erinnern. Zahlreiche intertextuelle Anspielungen auf die Gattung des Märchens und des Detektivromans tragen dazu bei, die Möglichkeit einer detailgenauen Vergegenwärtigung von Vergangenem zu hinterfragen und eine Affinität von Erinnertem und Imaginiertem zu suggerieren. Die für soziobiographische Erinnerungsromane typische Inszenierung der Variabilität und Subjektabhängigkeit gewinnt in The Rabber Bride insofern eine zusätzliche, erinnerungskulturell relevante Dimension, als mit der Figur Tonys eine Historikerin eingeführt wird, die ausführliche Reflexionen über das Verhältnis von subjektiven Erinnerungen zum Objektivitätsideal der Geschichtswissenschaft anstellt. Bei ihrem Versuch, die Identität der enigmatischen Zenia zu rekonstruieren, gelangt Tony zu dem Schluss, dass diese aus historischer Perspektive nicht einmal existiert: „As for the truth about her, it lies out of reach, because - according to the record, at any rate she was never born" (S. 461). Offensichtlich ist ein derartiger Rückgriff auf objektivierte Medien allerdings wenig aufschlussreich, lässt er doch die Frage nach der
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subjektiv als real erlebten Bedeutung von vergangenen Ereignissen völlig außer Acht. Vergangenheiten, gleich ob subjektiv erinnert oder wissenschaftlich .bewahrt', existieren nie an und für sich. ,Real' werden sie nur in Bezug zu gegenwärtigen Fragestellungen und Interessen von sinnstiftenden Akteuren: „She [Zenia] will only be history if Tony chooses to shape her into history" (ebd.). Der Roman nähert die Objektivität der Geschichte der Subjektivität der Erinnerung an und illustriert, dass diese Subjektivität nicht nur unausweichlich, sondern auch höchst produktiv ist: Orientierungsleistungen kann eine - historische oder erinnerte Vergangenheitsrekonstruktion offensichtlich nur dann erbringen, wenn sie in einen subjektiv signifikanten Bezug zum Hier-und-Jetzt gestellt wird. Auch dem Objektivitäts- und Verabsolutierungsanspruch der Geschichtswissenschaft begegnet der Roman mit der Einsicht in die unweigerliche Heterogenität des Vergangenen. Was von der Vergangenheit bleibt, sind konkurrierende Erinnerungsperspektiven. Timothy Findleys Roman Famous Lasi Words stellt auf innovative Weise heraus, dass nicht nur die Perspektiven von Erinnerungsproduzenten, sondern auch die der Rezipienten von Erinnerungen in einem solchen Maße divergieren können, das eine einheitliche, gemeinschaftliche Vorstellung von Vergangenheit unmöglich macht. Der Roman legt sowohl die Mechanismen der Vergangenheitskonstruktion als auch der Vergangenheitsrezeption selbstreflexiv offen und zeigt, dass beide Akte als ebenso konstruktiv wie idiosynkratisch anzusehen sind. Im Zentrum von Findleys Roman steht der Versuch des in den Faschismus verwickelten Schriftstellers Mauberley, sich seiner bedenklichen Vergangenheit anzunähern und diese zu narrativieren. Um sein Zeitzeugnis vor der befürchteten Vernichtung durch seine Verfolger zu bewahren, schreibt er dieses auf den Wänden eines Hotelzimmers nieder, in dem er sich kurz vor Kriegsende versteckt hält. Seine Memoiren werden wenig später von den eintreffenden amerikanischen Soldaten Quinn und Freyberg entdeckt. Ihr Prozess der Aktualisierung und Aneignung von Mauberleys Zeugnis wird zum Anlass eines erbitterten Streits über die .eigentliche' Bedeutung dieser Geschichte. Während Freyberg in dieser Niederschrift vor allem den Versuch einer beschönigenden Selbstrechtfertigung sieht, meint Quinn in ihm eine tiefer gehende, mythische Wahrheit zu entdecken: „Mythology can have two meanings, that's all. [...] The Iitiad, The Odyssey ... I mean there was a Trojan War. The Trojan War did happen" (S. 150). Freybergs und Quinns divergierende Deutungen dokumentieren, dass der Streit um die Vergangenheit des Gemeinwesens nicht nur angesichts der Perspektivität der Erinnerungsproduzenten, sondern auch der der Rezipienten nicht stillgestellt werden kann. Wenn das Hotel wenig später abgerissen wird und Mauberleys Bericht auch aufgrund der Weigerung der Soldaten, diesen zu archivieren, dem endgültigen Vergessen anheim fällt, so illustriert Famous Last Words, dass Vergangenheiten eben erst durch mediale Konstruktions- und Vermittlungsprozesse erinnerungskulturell bedeutsam werden. Zwar mag es — wie Quinn konstatiert — einen Trojanischen Krieg gegeben haben; erinnerungskulturelle Wirksamkeit kann dieser allerdings erst durch mediale Vergegenwärtigungsprozesse entfalten. Ebenso wie The Englishman 's Boy problematisiert damit auch Findleys Roman Erinnerungs-
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konkurrenzen als Streit um mediale Repräsentation. Famous Last Words veranschaulicht, dass gesellschaftliche Machtverhältnisse und aktuelle Sinnbedürfnisse darüber entscheiden, wessen Vergangenheiten überhaupt erinnert werden. Welche Elemente eine Erinnerungskultur in der Gegenwart verfügbar hält, wird über die spätere Deutung des Kriegs entscheiden. Rudy Wiebes jüngster Roman A Discoveiy of Sirangers ist ein eindrucksvolles Beispiel für die reintegrierende Funktion, die viele soziobiographische Erinnerungsromane für die Erinnerungskultur zu erbringen vermögen. Im Zentrum von Wiebes Roman stehen die multiperspektivisch erzählten und fokalisierten Ereignisse um eine Überlandsexpedition von 1819-1822 an die arktische Küste, den heutigen Northwest Territories Kanadas (die so genannte Franklin-Expedition). Ebenso wie The Englishman's Boy nutzt auch A Discoveiy of Strangers fiktionale Privilegien der Selektion um, bestehende Grenzen zwischen gesellschaftlich bestehenden Kollektivgedächtnissen zu transzendieren und gemeinhin kulturell getrennte Erinnerungsperspektiven in einen Dialog der wechselseitigen Perspektivierung treten zu lassen. Die alternierende Darstellung der Expedition aus der Sicht einzelner Angehöriger der Dene Indians und britischer Expeditionsteilnehmer sowie die Integration von zahlreichen Briefen, fingierten und faktischen Tagebucheinträgen und Dokumenten lösen das zurückliegende Geschehen in ein Geflecht von einander widersprechenden, verstärkenden und relativierenden Vergangenheitsperspektiven auf. Den Erinnerungen der britischen Kolonialisten 329 stellt Wiebes Roman die Wahrnehmungs- und Denkweisen der indigenen Bevölkerung gegenüber (,„When [their boss, Thick English] explained to us that it was for our benefit they had come to find what was in our land, I should have laughed again. Louder.'", S. 13f.) und zeigt so die Perspektivität der verschiedenen Vergangenheitsdeutungen auf. Gesteigert wird die Erinnerungspolyphonie durch das für soziobiographische Erinnerungsromane typische Spektrum intertextueller Referenzen, das die Pluralität der in einer Erinnerungskultur kursierenden Gedächtnismedien evoziert. Das kulturelle Archiv der Dene Indians, ihre zahlreichen Mythen und Erzählungen, gehen in A Discoveiy of Strangers eine innovative Verbindung mit den Repräsentationsmechanismen des kolonialen Diskurses ein, ein Montageverfahren, das blinde Flecke und Perspektivverengungen jeder einzelnen Vergangenheitsdeutung in den Blick bringt. Durch die Zusammenführung der kulturell dominanten Erinnerungen mit den weit gehend vergessenen Erfahrungen der Dene Indians lotet der Roman Wechselwirkungen zwischen den antagonistischen Erinnerungsversionen auf komplexe Weise aus, ohne sich allein auf eine Gegenposition zu der kolonialen Deutung zu beziehen und die bislang marginalisierte Vergangenheitsrepräsentation zu verabsolutieren. So bietet Α Discoveiy of Strangers ein holistisches Bild der kanadischen Kollektiwergangenheit, das eine Erinnerung ohne Ausgrenzung und Hierarchisierung möglich macht.
329 Vgl. zum Beispiel folgende Äußerung: „Perhaps in our proposal we had been somewhat too strong for these primitive people." (S. 42)
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Deutlich wird damit einmal mehr, welch' bedeutsame Leistungen soziobiographische Erinnerungsromane für die Erinnerungskultur übernehmen können. In ihrer Selbstreflexivität und ihrer Vielstimmigkeit liegen zwei der zentralen Besonderheiten dieser Genreausprägung, die sie zu einem privilegierten Medium innerhalb der Erinnerungskultur machen. Ihr kulturökologisches Funktionspotential beziehen soziobiographische Erinnerungsromane nicht allein daraus, dass sie die Konstruktionsbedingungen von Gedächtnis und die Aushandlung konkurrierender Erinnerungen in einem als fiktional ausgezeichneten Raum beobachtbar machen und damit als Medium der kulturellen Selbstreflexion Wirksamkeit entfalten können. Durch die Zusammenführung von andersweitig Getrenntem erproben soziobiographische Erinnerungsromane darüber hinaus neue Vergangenheits- und Identitätsmodelle, die einen Beitrag dazu leisten können, bestehende Ungleichgewichte zwischen dem kulturell dominanten Gedächtnis einerseits und den minoritären Gedächtnisversionen andererseits zu überbrücken. Soziobiographische Erinnerungsromane verbinden die Forderung nach Anerkennung von vorgängig Marginalisiertem und Tabuisiertem mit der Forderung nach einem offenen und integrativen Aushandlungsprozess von kollektiver Erinnerung und in dieser Verbindung dürfte ein Hauptaspekt für ihr Potential als Medium der kulturellen Selbsterneuerung liegen.
5. Ausblick: Der Metamnemonische Roman. Erinnerungshybridisierungen und -metaisierungen in Michael Ondaatjes Running in the Family (1982) Die vorangehenden vier Kapitel haben mit dem autobiographischen Gedächtnisund Erinnerungsroman, dem kommunalen Gedächtnisroman und dem soziobiographischen Erinnerungsroman vier prominente Gattungs formen behandelt, denen sich ein Großteil der zeitgenössischen fictions of memory in Kanada zuordnen lässt. Die wesentlichen Unterscheidungskriterien zwischen diesen Gattungsausprägungen bestehen in der Form ihrer erzählerischen Vermittlung, in ihrer Zeitstruktur, ihrem Metaisierungsgrad sowie in ihrer Perspektivenstruktur. In Michael Ondaatjes autobiographisch inspirierter Familiensaga Running in the Family werden diese gattungsspezifischen Distinktionskriterien in kreativer Form weiterentwickelt, unterminiert und zu neuen, hybriden Synthesen verbunden. Schlagwortartig lassen sich die innovativen Tendenzen dieses Romans mit den Begriffen Pluralisierung, Hybridisierung und Metaisierung zusammenfassen: Zahlreiche Genreüberschreitungen und Verfahren der Intermedialisierung lösen die Vergangenheit in Running in the Family in ein vielstimmiges, hybrides Erinnerungskaleidoskop auf und stellen konventionalisierte Deutungsmuster in Frage. Um diesen auffalligen Neuerungen und dem erinnerungskulturellen Wirkungspotential gattungsterminologisch Rechnung zu tragen, wird der Begriff des metamnemonischen Romans eingeführt, der eine erste Annäherung an die Spezifika dieser Erscheinungsform erlaubt. Wenngleich der metamnemonische Roman in Kanada in quantitativer Hinsicht von geringer Bedeutung ist, leistet er mit seinem ausgeprägten Reflexions- und Innovationspotential einen nicht zu unterschätzenden Beitrag für die gegenwärtige Erinnerungskultur. Zur Beschreibung der gattungsspezifischen Besonderheiten von Ondaatjes Roman wurden bereits zahlreiche unterschiedliche Termini vorgeschlagen und diverse Gattungszuordnungen vorgenommen. 330 Linda Hutcheon (1988) sowie Monika Gomille (2003) subsumieren Running in the Family unter die sehr weit gefasste Gattung der „historiographic metafiction"; Cynthia Carey (2001) bezeichnet Ondaatjes Roman als „postmodern memoir novel", Graham Huggan (1995) als „ethnic autobiography", Susanna Egan (1999) schlicht als „autobiography" und Janet Giltrow und David Stouck (1992) als .Pastorale'. Wenn in dieser Studie ein weiterer Gattungsbegriff eingeführt wird, so liegt dies an der Unzulänglichkeit und mangelnden Trennschärfe bestehender Bezeichnungen, die in einem kurzen Überblick erläutert werden sollen. Die von Hutcheon und Gomille vorgenommene Subsumtion von Running in the Family unter die Gattung der „historiographic metafiction" insinuiert eine Bezogenheit des Romans auf den geschichtstheoretischen Diskurs und auf damit assoziierte Probleme wie der Konstruktivität und Textualität von Vergangenheitsreprä330 Zu einer Problematisierung der Gattungszuordnung vgl. Kamboureb (1988).
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sentationen. Tatsächlich allerdings problematisiert Running in the Family weniger die mit der Historiographie verbundenen Probleme der Faktmtät als vielmehr die Möglichkeit einer auf der Erinnerung basierenden Konstruktion einer subjektiv bedeutsamen Vergangenheit. Obgleich Ondaatjes Roman die Fragilität von Gedächtnismedien ebenso wie die Konstruktivität von Erinnerungen reflektiert, steht der Status dieser Vergangenheitsdeutungen nicht in Frage. Im Gegensatz zur historiographischen Metafiktion, in der die produktiven Dimensionen von Vergangenheitsdarstellungen deren Wahrheitsanspruch konterkarieren, schaffen sie in Ondaatjes metamnemonischem Roman erst die Voraussetzung dafür, subjektiv bedeutsame Vergangenheiten zu schaffen. Kontingent — einer der zentralen Begriffe zur Beschreibung der in historiographischer Metafiktion inszenierten Geschichtsbilder - werden die Erinnerungen angesichts ihrer Konstruktivität in Running in the Family also nicht. Der Begriff „postmodern memoir novel" ist insofern problematisch, als er die für Running in the Family konstitutive Metaisierung des Erinnerungsdiskurses mit der Epochenbezeichnung .Postmoderne' gleichsetzt. Es ist jedoch zu bedenken, dass Formen der erzählerischen Selbstreflexivität in der postmodernen Literatur zwar eine besonders hohe Prävalenz haben, sie aber keineswegs auf Werke dieser Epoche zu beschränken sind. Die Gattungsbezeichnungen .Autobiographie' und .Pastorale' sind schließlich zu weit gefasst, um die Besonderheiten von Ondaatjes Roman terminologisch erfassen zu können. So geht es in Running in the Family nicht nur um die individuelle Erinnerung, sondern auch um die vielfältigen und unauflöslichen Interrelationen zwischen persönlicher und kollektiver Vergangenheit. Eine Subsumtion von Running in the Family unter die Gattung der Pastorale bringt schließlich die markantesten Merkmale des Romans, nämlich die narrative Inszenierung von Erinnerungen, ebenso wenig in den Blick wie seine selbstreflexiven, metamnemonischen Dimensionen. Um zu einer präziseren Begriffsbildung zu gelangen und den formästhetischen Besonderheiten ebenso wie dem erinnerungskulturellen Wirkungspotential von Ondaatjes Roman Rechnung zu tragen, wird der Gattungsbegriff metamnemonischer Roman als terminologischer Ansatzpunkt gewählt. Auch wenn angesichts der geringen Prävalenz des metamnemonischen Romans kein umfassender Merkmalskatalog erstellt werden kann, lassen sich doch vier zentrale Besonderheiten dieser Genreausprägung ausmachen, die eine Vorstellung von den Erzähltechniken vermitteln, die ihrer konstitutiven Pluralisierung, Metaisierung und Hybridisierung des Erinnerungsdiskurses dienen. Erstens nutzt Ondaatjes Roman Privilegien der Selektion dazu, die Vergangenheit in heterogene und inkompatible Versionen aufzulösen und so eine unhintergehbare Pluralität der Erinnerung anzuzeigen.331 Mit der Integration von Zei331
Vgl. zu diesem Aspekt auch Pesch (1997, S. 57), der feststellt: „It seems as if Running in the Famitf is a deliberate exploration of all modes of memories and their mediation, covering the whole range of memories from communicative to cultural".
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tungsausschnitten, Photographien, Gedichten, Lexikoneinträgen, historischen Dokumenten und Referenzen auf literarische sowie historiographische Werke bringt der Roman die synchrone Pluralität kulturell zirkulierender Gedächtnismedien und Vergangenheitsdeutungen zur Darstellung. Die Vielzahl von intertextuellen und -medialen Verweisen, die den Roman durchzieht, trägt jedoch weniger zur kontinuitätsstiftenden Präsenz der kollektiven Vergangenheit bei. Sie akzentuiert im Gegenteil immer wieder die Grenzen retrospektiver Sinnstiftungs- und Selbstvergewisserungsversuche — gleich wie viele Dokumente akkumuliert werden mögen (vgl. Giltrow/Stouck 1992, S. 163). Dieses Spektrum kollektiver Gedächtnismedien wird durch die Darstellung von kommunikativen Kontexten der Weitergabe von Erinnerungen ergänzt und oftmals auch kritisch perspektiviert. Die so erreichte Pluralisierung des Erinnerten macht den wirklichkeitserzeugenden Charakter jedes einzelnen Gedächtnismediums sichtbar und indiziert, dass so viele verschiedene Versionen der Vergangenheit zirkulieren, wie sinnstiftende Personen existieren. Die palimpsestartige Pluralisierung des Erinnerungsdiskurses wird zweitens durch formale Hybridisierung, also durch Gattungsüberschreitung bzw. kontamination intensiviert.332 Uber die vereinzelten intertextuellen Verweise hinaus aktualisiert Ondaatjes Roman systematisch bestehende Gattungsmuster und modifiziert diese auf komplexe Weise. Running in the Famijy treibt ein subversives Spiel mit tradierten Gattungstraditionen: Der Roman greift auf unterschiedlichste Gattungen und Textsorten zurück, kombiniert sie zu einem neuen, hybriden Ganzen und stellt damit innovative Kodierungsformate für die Aneignung und Deutung des Vergangenen zur Verfügung. Die zahlreichen Gattungsreferenzen bzw. die „generic slippages" (Kamboureli 1988, S. 85) evozieren nicht nur die textuelle Präsenz der literarischen Vergangenheit und konstituieren damit ein innerliterarisches Gedächtnis (vgl. Bachtin 1971 [1929]; Lachmann 1990; Humphrey 2005; Scheiding 2005). Sie problemaüsieren überdies etablierte generische Ordnungskategorien und zeigen deren kulturelle Kontingenz auf. 333 Die Aktualisierung von multiplen Gattungskonventionen sowie die Zusammenführung von literarischen und nicht-literarischen Textsorten stellen überkommene Vorstellungen von kultureller Homogenität in Frage (vgl. Galster 2002, S. 34) und bringen die prinzipielle Variabilität orientierungsbildender Kategorien in den Blick (vgl. Thieme 1991, S. 41)· Die Problematisierung herkömmlicher literarischer Konventionen wird in Ondaatjes Roman schließlich dadurch gesteigert, dass auch die übliche Unterscheidung zwischen extratextueller und intratextueller Kommunikationsebene in Frage 332 Unter dem Begriff .Gattungskontamination' werden generische Mischungen bzw. hybride Gattungen (vgl. Fowler 1981; Galster 2002) im Bereich der fiktionalen Erzählung verstanden. 333 Die Überschreitung von Gattungsgrenzen lässt die gattungsspezifische Besonderheiten mithin keineswegs obsolet werden; ganz im Gegenteil steigert sie, wie Nünning (1995b, S. 342) hervorhebt, „die Bedeutung solcher Konzepte, weil sie damit einhergeht, Gattungskonventionen bewußt zu machen". Vgl. zu den Implikationen von Gattungsüberschreitungen auch Hutcheon (1989), die diese Tendenz im Kontext postmoderner Literaturen diskutiert.
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gestellt wird: Michael Ondaatje ist nicht nur realer Autor des Romans, vielmehr inszeniert er sich zugleich als autodiegetischen Erzähler der fiktionalen Erinnerungserzählung (vgl. Verhoeven 1992, S. 183). 334 Auch mit dieser Annäherung von Realität und Fiktionalität bringt Running in the Family grundlegende Mechanismen der Erfahrungsverarbeitung und Gedächtnisbildung in den Blick: Da Erinnerungserzählungen Vergangenes nicht abbilden, sondern im Licht gegenwärtiger Sinnbedürfnisse narrativ elaborieren, ist eine klare Grenze zwischen Konstruktion und Rekonstruktion, zwischen Fakt und Fiktion sowie zwischen Erzähler und Erzähltem kaum zu ziehen. Der (reale) Autor konstituiert sich in gewissem Maße erst durch seine fiktionalen Erzählakte. Viertens legt der Erzähler die Prozesse der narrativen Strukturierung in zahlreichen metanarrativen sowie metamnemonischen Reflexionen offen. Der metamnemonische Roman nutzt die Rhetorik der Erinnerungen und Identitäten in noch ausgeprägterem Maße als Erinnerungsromane dazu, die Bedingungen der Vergangenheitsrekonstruktion sowohl auf individueller als auch auf kollektiver Ebene zu problematisieren. Die hohe Dichte selbstreflexiver Kommentare verweist nicht nur auf die konstitutive Konstruktivität und Subjektivität der Erinnerungserzählung. Sie unterstreicht auch die epistemologischen und affektiven Uneindeutigkeiten sowie die Offenheit der narrativen Sinnkonstruktion für Revisionen, für alternative Lesarten und ständige Reinterpretationen. Die folgende Interpretation von Running in the Family soll die aufgezeigten Entwicklungstendenzen exemplarisch vor Augen führen, um abschließend zu einer Bestimmung des kulturökologischen Funktionspotentials des metamnemonischen Romans zu gelangen. ***
Die Unverfügbarkeit von zentralen Komponenten seiner eigenen Geschichte wird für den mittlerweile in Kanada lebenden Erzähler Michael zum Anlass, in seine Heimat Ceylon (das heutige Sri Lanka) zu reisen, um dort in einen Dialog mit seiner Vergangenheit zu treten. Den Anstoß, diese schon lang projektierte Reise schließlich zu realisieren, bildet ein Alptraum. In seinem Traum wird Michael von seinem mittlerweile an den Folgen von Alkoholismus verstorbenen, ihm fast unbekannten Vater heimgesucht: „What began it all was the bright bone o f a dream. [...] I saw my father, chaotic, surrounded by dogs, and all of them were screaming and barking into the tropical landscape." (S. 21) Dass es ausgerechnet ein Traum ist, der die Erinnerung an seinen Vater Wiederaufleben lässt, unterstreicht gleich zu Beginn der Erzählung den ephemeren und unzuverlässigen, nichtsdestoweniger wirkungsmächtigen Charakter von Erinnerungen.
334
Die Identität von fiktionalem Erzähler und realem Autor wird in
Running in the Famify
mehrfach
suggeriert. Vgl. exemplarisch folgende Passage: ,,[W]hen I sent my mother my first book o f poems, she met my sister at the door with a shocked face and in exactly the same tone and phrasing said, .What do you
think, Janet'
has become a poef'" (S. 118f.)
(her hand holding her cheek to emphasize the tragedy), ,Michael
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Mit Michaels Rückkehr nach Ceylon setzt eine fast manische Suche nach Erinnerungsspuren ein, die ihm Aufschluss über seine Vergangenheit liefern sollen: ,,[W]e will trade anecdotes and faint memories, [...] interlocking them all as if assembling the hull of a ship." (S. 26) Erinnerungen und Anekdoten werden — gleich den einst von den Kolonialmächten erbeuteten Gütern - als Kostbarkeiten gehandelt und in kreativen Akten der Konstruktion zu kohärenten Ganzheiten synthetisiert. Michaels Gesprächspartner - seine Schwester Gillian, seine Halbschwester Susan sowie seine Tanten Phyllis und Dolly, Familienfreunde und Bekannte entfalten für ihn Geschichten über seine farbenprächtigen Verwandten und deren oftmals skurrile Erfahrungen, die Michael begierig absorbiert. Allerdings stellt Michael bei der Suche nach seinen Ursprüngen immer wieder fest, dass er anstatt auf die Wahrheit nur auf unentwirrbare Gerüchte, widersprüchliche Erinnerungsversionen, Legenden und Mythen stößt. In zahlreichen Episoden illustriert Running in the Famity, dass Narrationen ein breites Spektrum unterschiedlicher Funktionen — von der Sinn- und Identitätsstiftung über kommunikative und rhetorische Leistungen bis hin zu sozial-pragmatischen Wirkungen der Unterhaltung — erfüllen können, dass dem Faktor der Faktizität dabei allenfalls eine zweitrangige Bedeutung zukommt. Figuren schmücken ihre Erzählungen mit exorbitanten Übertreibungen aus und erinnern das zurückliegende Geschehen auf differente, oftmals inkompatible Weise (vgl. S. 137f.). Paradigmatisch konkretisiert sich die Unerschließbarkeit des vergangenen Geschehens in Michaels Versuch, die letzte, „most dramatic" (S. 152) Zugfahrt seines Vaters zu rekonstruieren. Zwar kennt Michael drei oder vier verschiedene Versionen dieses absurden Zwischenfalls, auf deren Basis er die Einzelheiten auf relativ kohärente Weise zu rekonstruieren vermag. Allerdings kann keiner seiner Gesprächspartner als zuverlässige Quelle gelten: So haben sie während der Fahrt entweder geschlafen, sind zu einem späteren Zeitpunkt hinzugestiegen oder aber waren zu betrunken, um die Details der Ereignisse zu erinnern. Diese Episode lässt sich in eine ganze Reihe ähnlicher Erfahrungen einordnen, die immer wieder veranschaulichen, dass die Bedeutung vergangener Ereignisse erst im Zuge der narrativen Elaboration und kommunikativen Weitergabe erschaffen wird: „No story is ever told just once. Whatever a memory or funny hideous scandal, we will return to it an hour later and retell the story with additions and this time a few judgments thrown in." (S. 26) Im Prozess der kommunikativen Weitergabe von Erinnerungen werden vergangene Erfahrungen allmählich fortgeschrieben, also mit immer neuer, zunehmend sagenhafter Bedeutung ausgestattet. Was von der Vergangenheit bleibt ist ein babylonisches Stimmengewirr, ein in zahlreichen Erinnerungserzählungen gesponnenes bzw. fabuliertes Bedeutungsnetz: „Truth disappears with history and gossip tells us in the end nothing of personal relationships." (S. 53) Dass narrative Sinnstiftung daher immer nur eine vorläufige Antwort auf die Frage nach den Bedingungen der vergangenen Realität bietet, stellt Michael heraus, wenn er mit Blick auf seinen Vater zu dem desillusionierenden Schluss gelangt: „In the end all your children move among the scattered acts and memories with no more clues. Not that we ever thought we would be able to fully understand you." (S. 201) Auch
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Michaels Erzählung ist damit nur eine Version, eine von vielen zirkulierenden Legenden, deren Zuverlässigkeit nicht nur angesichts ihrer überaus fragwürdigen Quellen in Frage steht, sondern auch mit jedem weiteren Erzählakt bereits wieder dementiert und relativiert wird (vgl. Snelling 1997, S.28). Intensiviert wird die inszenierte Erinnerungspolyphonie durch die zahlreichen intertextuellen und -medialen Verweise auf ein breites Spektrum von Gedächtnismedien. Michael versucht, seiner familiären Vergangenheit nicht nur in zahlreichen Dialogen auf den Grund zu gehen, sondern auch durch das Heranziehen überlieferter Medien des Gedächtnisses wie Photographien, Geschichtsbüchern, Zeitungsausschnitten, Lexikoneinträgen oder Gästebüchern. Michaels Bezugnahme auf Gedächtnismedien trägt allerdings weniger zu einer unproblematischen, epistemologische und temporale Differenzen überbrückenden Exploration vergangener Ereigniszusammenhänge bei. Sie bringt ihm vielmehr immer wieder die Grenzen der medialen Vergangenheitsvermittlung zu Bewusstsein. An die Stelle von Kontinuitätsstiftung und Selbstvergewisserung treten so unüberwindbare Frakturen, Leerstellen und Bedeutungspluralisierungen. Medien des kollektiven Gedächtnisses sind natürlichen Zerfallsprozessen, willentlicher Zerstörung, bewussten Manipulationen ausgesetzt und folglich alles andere als beständige und zuverlässige Speicher vergangener Realität. Es scheint, als führe die Natur gleichsam einen Krieg gegen stabilisierende Erinnerungstechniken: Gedächtnismedien sind unter den Witterungsverhältnissen Ceylons einem schier unaufhaltsamen Verfall ausgeliefert — Fotos und Kirchenurkunden werden von Silberfischen zersetzt und Zeitungsausschnitte fallen auseinander wie „wet sand" (S. 136). Selbst in Stein gemeißelte Inskriptionen bieten keine Möglichkeit, den Zerfallsprozessen und dem unaufhaltsamen Vergessen zu trotzen: So ist eine auf dem Boden der St. Thomas Kirche eingravierte Inschrift, von der sich Michael Aufschluss über seine familiäre Genealogie erhofft, nahezu bis zur Unlesbarkeit entstellt: „The slab was five feet long, three feet wide, a good portion of it had worn away." (S. 66) Die von den verwitterten Grabsteinen auf Briefumschläge übertragenen Namen und Daten seiner Familiengeschichte hält der Erzähler in seinem Notizbuch fest. Die Vergegenwärtigung des Vergangenen hinterlässt zwar ihre Spuren - und dies nicht nur im autobiographischen Bewusstsein des Erzählers, sondern auch an dessen Händen; allerdings ist diese Stofflichkeit ebenso ephemer und fragil wie die übrigen Gedächtnismedien: „When I finish there will be that eerie moment when I wash my hands and see very clearly the deep grey colour of old paper dust going down the drain." (S. 68) Das Vergangene zerfällt zu Staub und entschwindet endgültig im Ausguss. Der beschleunigte Verfall kündigt bereits die Auflösung von Michaels eigenem Gedächtnismedium, seinem autobiographischen Roman, an: „In the bathroom, ants had attacked the novel thrown on the floor by the commode. A whole battalion was carrying one page away from its source, carrying the intimate print" (S. 189). Es ist Seite 189, die den Ameisen zum Opfer fällt; ebenso ist es Seite 189 des Romans, auf welcher diese Episode geschildert wird. Michaels Versuch, durch die
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Niederschrift der individuellen und kollektiven Vergangenheit identitätsstiftende Stabilität und Kontinuität zu gewähren, wird ins Gegenteil gekehrt und so zum Symbol der Diskontinuität und des Vergessens. Alle Versuche, die instabile und changierende Qualität der individuellen Erinnerung durch den Rückgriff auf Gedächtnismedien zu kompensieren, laufen angesichts ihrer konstitutiven Flüchtigkeit ins Leere. Was von der Vergangenheit bleibt, sind keine medial gesicherten Fakten vergangener Realität, sondern allenfalls Erinnerungsfragmente, die kreativ ergänzt und zusammengefügt werden: „It makes your own story a lyric." (S. 66) Die kulturelle Weitergabe von Erinnerungen ist jedoch nicht nur an die Materialität ihrer Speicherung, sondern auch und vor allem an institutionelle Bedingungen, politische Machtzusammenhänge und Funktionalisierungsversuche geknüpft. Spuren, die an den ceylonesischen Volksaufstand im Jahre 1971 erinnern, werden von der ceylonesischen Regierung einfach ausgelöscht. Nach der gescheiterten Rebellion, bei der vor allem junge Menschen für eine Umverteilung der ländlichen Besitzverhältnisse kämpften, interniert die Regierung unzählige Verdächtige in der Universität von Ceylon. Ihren Ängsten, Hoffnungen und ihrem Protest verleihen die Insurgenten in zahlreichen, auf den Wänden der Universität niedergeschriebenen Gedichten Ausdruck: „When the university opened again the returning students found hundreds of poems written on walls, ceilings, and in hidden corners of the campus." (S. 84) Unmittelbar nach der Wiedereröffnung der Universität werden die auf diese bedenkliche Episode der ceylonesischen Kollektiwergangenheit verweisenden Erinnerungszeichen ausgelöscht und so dem institutionell auferlegten Vergessen anheim gegeben: Die Protesdyrik wird von der ceylonesischen Regierung übermalt, „covered with whitewash and lye" (ebd.), quasi ersetzt durch Lüge, „die sich als Homonym in ,lye' verbirgt" (Werth 2003, S.158). Zwar gelingt es einigen Studenten die Gedichte zu transkribieren, ihre Veröffentlichung und gesellschaftliche Verbreitung wird jedoch durch Zensurmaßnahmen der ceylonesischen Regierung bewusst unterbunden. Verdeutlicht die multiperspektivische Erzählstruktur vor allem die individuelle Standortgebundenheit, so illustrieren die intermedialen Referenzen, dass die Aneignung der Vergangenheit auch durch die Bedingungen der medialen Tradierung eingeschränkt ist. So sind für den Einzelnen nur solche Erinnerungen möglich, für die die Kultur äußere Stützen zur Verfügung stellt. Dies impliziert auch, dass die Frage, wessen Vergangenheitsversion erinnert wird und welche Erinnerungen sich gesellschaftlich durchsetzen, von institutionellen Möglichkeiten ihrer Speicherung abhängt. Die von Michael akkumulierten Gedächtnismedien liefern ihm nicht die erhoffte Antwort auf die Frage nach seiner Vergangenheit, sondern verweisen auf immer neue Texte und fuhren so den prinzipiell offenen und stets vorläufigen Charakter von Sinn- und Identitätsstiftung vor Augen (vgl. Ray 1993, S. 43). Die Unmöglichkeit der narrativen Synthetisierung des Heterogenen indiziert die irreduzible Vielstimmigkeit der Vergangenheit: So geben alle kursierenden Vergangenheitsdarstellungen zwar Einblick in einzelne Facetten der Vergangenheit, einen authentischen oder letztendlichen Aufschluss über die zurückliegenden Ereignisse
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liefern sie jedoch nicht. Mit der Pluralisierung seiner Erinnerungserzählung trägt Michael damit einer polyphonen kollektiven Vergangenheit Rechnung, die sich kaum in die übergeordnete Synthese eines Kollektivgedächtnisses überführen lässt. Dass daher viele Fragen unbeantwortet bleiben müssen, stellt der Erzähler deutlich heraus: „There is so much to know and we can only guess. [...] We are still unwise." (S. 200) Die versatzstückartige Montage unterschiedlichster Erinnerungsfragmente und Diskurselemente führt zu einer dezidierten Hybridisierung des Erinnerungsdiskurses. Unfähig, die grundlegende Polyvalenz des Vergangenen in eindeutige Signifikation zu transformieren, integriert Michael in seine Autobiographie ein Spektrum unterschiedlicher Textsorten und Gedächtnismedien, das von den Gedichten des ceylonesischen Lyrikers Wikkramasinhas über Familienphotos, Landkarten, Zeitungsausschnitten, Passagen aus den Memoiren von Robert Knox bis hin zu den botanischen Lexikoneinträgen seines Vorfahren William Charles Ondaatje reicht. Das Spektrum der Textsorten und Gedächtnismedien bringt die kulturelle Prägung des individuellen Gedächtnisses zum Ausdruck und lässt die Identitäts- und Erinnerungsarbeit als palimpsestartigen Konstruktionsprozess erscheinen, bei dem verschiedenartige kulturelle Versatzstücke zu einem neuen Ganzen amalgamiert werden (vgl. Nischik 1991b). Die Überschreitung von Gattungsgrenzen beruht nicht nur auf dem montagehaften Konstruktionsprinzip, sondern auch auf dem Rückgriff auf die Konventionen unterschiedlicher Genres. Ondaatjes Roman verbindet Elemente der fiktionalen Biographie sowie Autobiographie, des Bildungsromans, des historischen Romans und des Reiseberichts zu einem neuen, hybriden Ganzen (vgl. Ayothi 1995, S. 93). Durch diese innovative Synthese stellt Running in the Family konventionalisierte Gattungsunterscheidungen in Frage. Darüber hinaus bringt er auch die strukturellen Grenzen bzw. die ideologischen Präsuppositionen jedes einzelnen gattungsspezifischen Kodierungsformats in den Blick und hinterfragt die ihm inhärenten Konzepte von Identität und Vergangenheit. Die Kontamination von Gattungskonventionen ist jedoch nicht beliebig. Durch die gleichzeitige produktive Weiterentwicklung traditioneller literarischer Genres konstituiert Running in the Family ein kritisches Gattungsgedächtnis und stellt damit innovative Konzepte von Erinnerung und Identität zur Verfügung. Deutlich werden die produktiven Dimensionen dieser Erzählstrategie etwa an der konsequenten Zusammenführung der Konventionen von Biographie und Autobiographie, die Michaels Einsicht entspringt, dass seine eigene Identität unauflöslich mit der seines Vaters verbunden ist. Die generische Synthetisierung problematisiert die den traditionellen Gattungsausprägungen zugrunde liegende Vorstellung, die eigene Identität konstituiere sich im monologisch-abgeschlossenen Raum, und illustriert im Gegenteil die herausragende Bedeutung, die anderen Personen bei der Konstitution von individueller Identität zukommt. Dass die Frage nach der individuellen Identität nicht ohne ein Wissen von der Biographie signifikanter Bezugspersonen beantwortet werden kann, verdeutlicht Michaels fast manisches
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Bemühen, der Geschichte seines Vaters auf den Grund zu gehen. Die komplexe Interdependenz seiner Autobiographie und der Biographie seiner Vaters kommt zu einem fast surrealen Höhepunkt, als Michael diesen als Rezipienten seiner Erzählung imaginiert und so eine Grundlage für die realiter nie existente Vater-Sohn Beziehung zu schaffen versucht. Die produktive Verbindung der Konventionen von Autobiographie und Biographie signalisiert, dass die autobiographische Identitätsarbeit stets auch den Versuch beinhaltet, die Biographie von wichtigen Bezugspersonen zu erschließen. Deutlich wird damit, dass diese Genres bei Weitem nicht so eindeutig zu trennen sind, wie herkömmliche literatursystemische Klassifikationen insinuieren. Running in the Family entwickelt aber nicht nur die Konventionen der Auto/Biographie weiter, sondern auch die des Reiseberichts, des travelogue. Die Gattungskonventionen des kolonialen Reiseberichts werden vor allem durch die Referenzen auf Robert Knox' Memoiren An Historical Relation aktualisiert. Während sich dieser Bereicht allerdings durch ethnozentristische Wahrnehmungsweisen, stigmatisierende Darstellungen der ceylonesischen Bevölkerung und eine autoritative, homogenisierende Berichterstattung auszeichnet, versucht Running in the Family, die Begrenzung des konventionalisierten Gattungsmusters durch eine konsequente Pluralisierung und Selbstreflexivität des Erinnerungsdiskurses zu überwinden. Folgerichtig lautet der Titel des Kapitels, in welchem sich der Erzähler mit Knox' Memoiren auseinander setzt, „Historical Relations": Nicht ein sinnstiftender Bezug zur Vergangenheit, sondern eine Vielzahl von heterogenen, sich mal kreuzenden und mal auseinander klaffenden Verbindungslinien wird von dem Erzähler geschaffen. Die fur Running in the Family typische Modifikation standardisierter Gattungsmuster akzentuiert zum einen die Prägekraft von etablierten Deutungsschablonen, die als Teil des kulturellen Gedächtnisses einen Rahmen für die sinnhafte Interpretation von Vergangenem zur Verfügung stellen; zum anderen lenkt der Prozess der Aktualisierung und Modifizierung das Augenmerk auf die den Gattungsformaten inhärenten ideologischen Implikationen und strukturellen Verkürzungen. Durch die generische Hybridisierung entwickelt Running in the Family neuartige Formate für die Signifikation und identitätsstiftende Aneignung der Vergangenheit, die von einem gewandelten Vergangenheits- und Identitätsverständnis zeugen: So gilt es, nicht einer Vergangenheit, sondern einer Vielzahl von erinnerten, durch und durch pluralen Vergangenheitsversionen und relationalen Identitäten gerecht zu werden und diese qua Modifikation herkömmlicher Kodierungs formate in das kulturelle Gedächtnis einzuschreiben. Indem Running in the Family neue Gattungsschablonen generiert, leistet der Roman zugleich einen aktiven Beitrag zur kreativen Modifikation und Selbsterneuerung der Erinnerungskultur. Sein kulturökologisches Funktionspotential bezieht der metamnemonische Roman somit aus der Offenlegung der medialen Vergangenheits tradierung, die Anlass gibt, über die Selektivität und Relativität von Gedächtnisversionen zu reflektieren und damit verbundene Vereindeutigungsversuche des gesellschaftlich dominanten Kollektivgedächtnisses zu hinterfragen. Mit der für Running in the Fam-
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ijy konstitutiven generischen Hybridisierung bietet der metamnemonische Roman zudem alternative Kodierungs formate an, die Homogenisierungstendenzen des dominanten Kollektivgedächtnisses zuwiderlaufen und exemplarisch zeigen, wie eine Pluralität von koexistierenden, auch antagonistischen Vergangenheitsversionen erinnert werden kann. Die reflexiven Dimensionen verbinden sich in Running in the Family mit dem produktiven Entwurf von neuen Erinnerungsformaten. Es ist diese innovative Verbindung, die dem Roman sein Potential als Medium der kulturellen Selbsterneuerung verleiht.
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S chlus sbetrachtung: Fictions of Memory und Memories of Fiction Die vorangehenden Interpretationen der kanadischen fictions of memory vermitteln einen Einblick in das breite Spektrum literarischer Inszenierungen von Identität und Erinnerung sowie in die vielfältigen literarischen und kulturökologischen Funktionen, die solche Romane für die Erinnerungskultur zu erfüllen vermögen. Einsichten und Konzepte der interdisziplinären Gedächtnisforschung konnten dazu beitragen, die Bandbreite unterschiedlicher literarischer Repräsentationen der Erinnerungs- und Identitätsbildung in den Blick zu bekommen und differenziert zu beschreiben. Kulturwissenschaftliche und sozialpsychologische Theorien haben eine Grundlage dafür geschaffen, das dialogische Verhältnis der Romane zu erinnerungskulturellen Inhalten sowie zu den Erkenntnissen der Gedächtnistheorie zu explizieren und Wechselwirkungen zwischen Erinnerungskulturen und Literatur aufzuzeigen. Der Rückgriff auf literarischwissenschaftliche Ansätze bot Einblick in die Besonderheiten und das Leistungsspektrum des Symbolsystems Literatur und zeigte, dass formästhetische Verfahren konstitutiv an der Erzeugung und Reflexion von individueller und kollektiver Sinnstiftung beteiligt sind. Um die Vielfalt der in den zeitgenössischen fictions of memory inszenierten Entwürfe individueller und kollektiver Vergangenheitsaneignungen begreifbar und ihr spezifisches Leistungsvermögen für die Erinnerungskultur beschreibbar zu machen, waren sowohl konzeptuelle Differenzierungen als auch produktive Verknüpfungen von Konzepten der interdisziplinären Gedächtnisforschung mit literaturund kulturwissenschaftlichen Theorien vonnöten. Die in dieser Arbeit vorgeschlagenen Neuerungen beruhen im Wesentlichen auf der Integration sozialpsychologischer und kulturwissenschaftlicher Gedächtnistheorien innerhalb eines narratologisch und kulturökologisch fundierten Bezugsrahmens. Die Neuerungen und ihre Implikationen für eine kulturwissenschaftlich ausgerichtete Literaturwissenschaft sollen abschließend rekapituliert werden. Eine wesentliche Voraussetzung für ein Verständnis des Zusammenhangs von Literatur, Erinnerung und Identität ist ein theoretischer Bezugsrahmen, der sowohl die textinternen Prozesse der narrativen Inszenierung von Identität und Erinnerung als auch die textexternen Prozesse der literarischen Erinnerungs- und Identitätskonstruktion begreifbar machen kann. Daher wurde zunächst das Verhältnis von Erinnerung bzw. Gedächtnis und Identität sowohl in seiner individuellen als auch in seiner kollektiven Dimension aus gedächtnistheoretischer (sozialpsychologischer und kulturwissenschaftlicher) Perspektive expliziert und die essentielle
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Schlussbetrachtung
Rolle spezifiziert, die Narrationen für die identitätsstiftende Aufbereitung und Aneignung von Vergangenem zukommt. Die theoretische Beschreibung des Zusammenhangs von Erinnern und Identität in seiner individuellen, sozialen und kollektiven Dimension schafft die Grundlage für den Entwurf eines integrativen Modells heutiger Erinnerungskulturen, das kulturwissenschaftliche Konzepte mit Einsichten der Kognitionspsychologie verbindet. Dieses Modell erlaubt eine differenzierte Beschreibung verschiedener Systeme und Dimensionen der überindividuellen Gedächtnis- und Identitätsbildung und vermag Antworten auf drei zentrale Fragestellungen zu liefern, die in der kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung bislang nur unzureichend geklärt sind. Es macht erstens die Schnittstelle zwischen individuellen und kollektiven Akten der Gedächtnisbildung beschreibbar, spezifiziert zweitens das identitätsstiftende Potential von unterschiedlichen Gedächtnissystemen und beschreibt drittens die herausragende Bedeutung von Narrationen für die Bildung und Tradierung von Kollektivgedächtnis. Damit stellt das Modell zugleich einen Bezugsrahmen für die systematische Verortung von Literatur als Teil der materialen Dimension der Erinnerungskultur zur Verfügung. Um den Besonderheiten heutiger Erinnerungskulturen gerecht zu werden, bedarf es außerdem einer zweifachen Erweiterung bzw. Modifikation bestehender kulturwissenschaftlicher Gedächtnistheorien: Zum einen wird die Pluralisierung von Erinnerungskulturen theoretisch fundiert; zum anderen wird eine Unterscheidung zwischen partikularen Kollektivgedächtnissen und einem hegemonialen Gedächtnis getroffen, die bestehenden gesellschaftlichen Hierarchisierungen zwischen kultureller Majorität und Minorität Rechnung trägt und Erinnerungskonkurrenzen begreifbar macht. Wie am Beispiel der kanadischen Erinnerungskultur exemplifiziert, koexistieren in heutigen, zunehmend multikulturellen Gesellschaften heterogene Kollektivgedächtnisse, die ihr Recht auf kulturelle Anerkennung geltend machen und um Erinnerungshoheit konkurrieren. Ständige Wechselwirkungen und Friktionen zwischen dominantem und subalternem Kollektivgedächtnis haben eine diachrone Reorganisation der Erinnerungskultur zur Folge. Fictions of memoiy inszenieren den gesellschaftlichen Streit um Erinnerungen nicht nur; durch die Repräsentation von vorgängig vergessenen und nicht-sanktionierten Erinnerungen können sie auch einen aktiven Beitrag zur Neuvermessung des öffentlichen Gedächtnisraums leisten und diesen Streit aktiv mitgestalten. Indem fictions of memoiy marginalisierten Erfahrungen eine Stimme verleihen, machen sie diese rezipientenseitig erinnerbar und können so zur Grundlage von memories of fiction werden. Sowohl die Möglichkeiten der literarischen Inszenierung des konstitutiven Zusammenhangs von Erinnerungen und Identitäten als auch das besondere Leistungsvermögen, das fictions of memory für die Erinnerungskultur besitzen, basieren auf strukturellen und textuellen Spezifika des Symbolsystems Literatur. Literatur als Teil der übergeordneten Prozesse der kulturellen Sinnstiftung zu begreifen, so die zugrunde gelegte Prämisse, muss in erster Linie bedeuten, das Augenmerk auf ihre Besonderheiten als fiktionales Medium zu lenken. So ist Literatur zwar Teil eines übergeordneten, kulturellen Geflechts bzw. eines Ökosystems, sie ist allerdings ein
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System mit distinkten Konventionen, die sie im Vergleich zu anderen Symbolsystemen mit besonderen Privilegien und Wirkungspotentialen ausstattet: Durch ihr Reintegrationspotenial kann Literatur in ,brennpunktartiger' Form kulturell getrennte Referenzwelten in einen Dialog treten lassen; grenzüberschreitende .Akte des Fingierens' ermöglichen die Schaffung von imaginativen Alternativwelten, die durch Distanzierungsstrategien zugleich zum Gegenstand der kritischen Beobachtung gemacht werden können. Angesichts ihrer Semantisierung der Form stellen literarische Texte schließlich offene, mehrdimensionale Bedeutungsangebote zur Verfügung, die je nach soziokulturellem Kontext variabel aktualisiert werden. Diese symbolisch verdichteten Angebote können rezipientenseitig dechiffriert werden und damit in der Erinnerungskultur Wirksamkeit entfalten, weil Literatur die komplexen Gedächtniswelten in Form von partikularen, höchst individualisierten Innenwelten zur Anschauung bringt. Literarische Texte beziehen ihr spezifisches kulturökologisches Funktionspotential aus einem Zusammenspiel dieser Merkmale. Mit den kulturwissenschaftlichen Bestimmungen von Literatur wurde eine Grundlage geschaffen, um spezifische Merkmale und das Leistungsvermögen der bislang kaum erforschten Gattung der fictions of memory zu bestimmen. Um den Bogen der Bezogenheit auf die extraliterarische Wirklichkeit über die textinterne Inszenierung von Erinnerungen und Identitäten bis hin zu möglichen gesellschaftlichen Rückwirkungen zu spannen, wurde Ricceurs Modell einer dreistufigen Mimesis als Referenzfolie herangezogen. Die Mimesis der Erinnerung trägt zu einer Präzisierung des Verhältnisses der fictions of memoiy zur Erinnerungskultur bei und macht gattungsspezifische Merkmale der Selektion, Konfiguration sowie des Funktionspotentials präzise beschreibbar. Fictions of memory, so lautet die These, sind als besonders wirkmächtige Gedächtnisgattung anzusehen, weil sie in einem engen und vielschichtigen Bezug zur Erinnerungskultur stehen. Das Textrepertoire der fictions of memoiy konstituiert sich aus der diachronen Dimension der Kultur, also aus dem Gesamtinventar der kulturell verfügbaren Vergangenheitsreferenzen. Durch ihre Privilegien der Selektion können fictions of memoiy nicht nur heterogene, sogar antagonistische Elemente einer Erinnerungskultur anklingen lassen, sie können auch gesellschaftlich marginalisierte Erfahrungen und nicht-sanktionierte Identitätskonzepte in die Erinnerungskultur einspeisen. Privilegien der Konfiguration befähigen fictions of memoiy dazu, alternative Erinnerungswelten zu explorieren, die die Erinnerungskultur imaginativ neustrukturieren: Erinnertes und Vergessenes, Reales und Imaginäres, Konventionalisiertes und Stigmatisiertes können in den fictions of memory probeweise eine Verbindung eingehen. Durch entsprechende diskursive Perspektivierung werden die Akte der identitätsstiftenden Aufbereitung von Vergangenem im Medium der fictions of memoiy zugleich beobachtbar gemacht. Bei rezipientenseitiger Aktualisierung können fictions of memory zur aktiv gestaltenden Kraft innerhalb individueller und kollektiver Sinnstiftungsprozesse werden und somit die Erinnerungskultur mitprägen. Entsprechend ihrer syntagmatischen und paradigmatischen Achse können fictions of memoiy eine Reihe zentraler Orientierungsleistungen erfüllen, die von der Perpetuierung marginalisierter Erinnerungen
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Schlussbetrach tung
über die Reflexion von individuellen und kollektiven Identitätskonzepten bis hin zur Vermittlung von verbürgten Sinnstiftungsmustern reicht. Individuelle und kollektive Gedächtnisinhalte sowie Vorstellungen von Identität, aber auch gesellschaftlich verdrängte Erfahrungen werden im fiktionalen Raum durch spezifisch literarische Verfahren ästhetisch verdichtet zur Anschauung gebracht. Die Untersuchung der Rhetorik der Erinnerungen und Identitäten vermittelt einen Eindruck von dem breiten Spektrum formästhetischer Verfahren, die an der Inszenierung identitätsstiftender ebenso wie identitätszerstörender Vergangenheiten beteiligt sein können. In ihrer Vielstimmigkeit, narrativen Offenheit, Mehrdeutigkeit und Selbstreflexivität liegen vier der fiktionalen Besonderheiten, die fictions of memory geradezu prädestinieren, das komplexe Verhältnis zwischen Erinnerung und Identität zu explorieren. Die Analyse der Rhetorik verdeutlicht auch, welche Rückschlüsse sich aus ästhetischen Formen auf kulturell vorherrschende Vorstellungen von Gedächtnis, Identität und Narration ziehen lassen. Die entwickelte erinnerungskulturelle Narratologie verbindet die analysierten literarischen Formen mit inhaltlich-kontextuellen Kategorien und richtet das Augenmerk auf die erinnerungskulturellen Wirkungspotentiale narrativer Strukturen. Die untersuchte Rhetorik schafft außerdem eine Grundlage für die angestrebte gattungstypologische Differenzierung der fictions of memory. Einzelne Erscheinungsformen konstituieren sich auf der Basis von bestimmten Elementen der Rhetorik der Erinnerungen und Identitäten sowie von spezifischen Selektionsentscheidungen. Die Verbindung der theoretischen Unterscheidung von Formen und Funktionen des Vergangenheitsbezugs mit zentralen Elementen der Rhetorik hat eine gattungstypologische Differenzierung zwischen vier zentralen Erscheinungsformen der fictions of memory ergeben: dem autobiographischen Gedächtnisroman, dem autobiographischen Erinnerungsroman, dem kommunalen Gedächtnisroman sowie dem soziobiographischen Erinnerungsroman. Die der Typologie zugrunde liegende erzähltheoretische Systematik verdeutlicht Gemeinsamkeiten und Unterschiede, die zwischen den einzelnen Typen der fictions of memory bestehen, und offenbart deren je spezifisches kulturökologisches Funktionspotential. Die gattungstypologische Strukturierung unterstellt weder normierende Objektivität noch Vollständigkeit. Sie kann allerdings zu einer systematischen Erfassung des unübersichtlichen und weit gehend unerforschten Gegenstandsbereichs der fictions of memory beitragen. Der textanalytische Teil machte es sich zur Aufgabe, die Inszenierung des Zusammenhangs von Erinnerung und Identität an konkreten Beispielen der kanadischen fictions of memory zu illustrieren und die Antworten zu konkretisieren, die diese Romane auf erinnerungskulturelle Fragestellungen und Herausforderungslagen liefern. Die Interpretationen von ausgesuchten fictions of memory illustrieren, dass sich die Vielfältigkeit fiktionaler Identitäts- und Vergangenheitsmodelle nicht auf einzelne Schlagworte wie Rückkehr oder Zerfall des sinnstiftenden Subjekts, Stiftung oder Revision von Canadianness reduzieren lässt. Kanadische fictions of memory erinnern an persönliche ebenso wie an kollektive Vergangenheiten, sie problemati-
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sieren Vorstellungen von biographischer Kontinuität ebenso wie sie exemplarisch das kontinuitätsstiftende Potential von Erinnerungsnarrationen herausstellen. Sie imaginieren Gegengedächtnisse und tragen durch den literarischen Akt des .re membering' zur Reintegration der kanadischen Erinnerungskultur bei. Fictions of memoty vermitteln ganz unterschiedliche Vorstellungen von dem Potential, das Erinnerungen für die Stiftung von Identität und Gemeinschaft besitzen, und nutzen dazu eine Bandbreite literarischer Erzählverfahren. Autobiographische Gedächtnisromane führen mit literarischen Mitteln vor Augen, wie selbst prekäre, potentiell destabilisierende Erinnerungen durch ihre retrospektive Einbettung in einen narrativen, diachron strukturierten Verweisungszusammenhang eine identitätsstiftende Bedeutung gewinnen können. In den autobiographischen Gedächtnisromanen von Cohen oder Green tragen vor allem die Orientierung an kohärenzstiftenden Konzepten, der Wechsel von interner und externer Fokalisierung bzw. von field zu observer memories sowie die linearchronologische Zeitstruktur dazu bei, die Kontingenz der vergangenen Erfahrungen zu reduzieren und die Authentizität des Erinnerten zu unterstreichen. Intensiviert wird diese Authentizitätssuggestion durch einen geschlossenen Handlungsablauf, der den Eindruck eines vorgängig bedeutungstragenden Gedächtnisbestands evoziert und die Konstruktivität — und damit bis zu einem gewissen Grad auch die Erinnerungshaftigkeit - des Dargestellten dissimuliert. Die Fähigkeit der erinnernden Instanz zur Stiftung von biographischer Kontinuität findet in der fast vollständigen Konvergenz von erlebendem und erzählendem Ich ihren deutlichsten Niederschlag. Das dem homodiegetischen Erzählen inhärente Spannungsverhältnis zwischen erlebendem und erzählendem Ich, das die grundsätzliche Möglichkeit einer Diversifizierung in sich birgt, kann durch den autobiographischen Erzählakt völlig aufgehoben werden. Die progressive Erzählstruktur akzentuiert das auf diese Weise herausgestellte stabilisierende Potential von Erinnerungserzählungen, indem sie das Gewordensein der individuellen Identität plausibilisiert. Die Übersicht über verschiedene autobiographische Gedächtnisromane lässt den Schluss zu, dass das Repertoire zur Darstellung von gelingender Gedächtniskonsolidierung offenbar relativ begrenzt ist. Die für die autobiographischen Gedächtnisromane charakteristische interne Fokalisierung, die die Authentizität des Erinnerten suggeriert, wird in Martels Roman Seif, der eine kritisch-parodistische Ausprägung des Gedächtnisromans darstellt, einer Prüfung unterzogen. Zwar greift auch dieser Roman auf interne Fokalisierung zurück, um das Vergangene für die Identitätsarbeit verfügbar zu machen; durch die offensichtliche Projektion der Idiosynkrasien des Erzählers auf seine kindliche Erlebnisweise zeigt Seif allerdings, dass retrospektive Sinnstiftungen stets von der Gegenwart aus operieren und sie nicht ohne konstruktive Akte der Vergangenheitsi/findung möglich sind. Indem der Gedächtnisroman illustriert, dass die Schaffung von biographischer Kontinuität letztlich auf ,a fiction of memory' beruht, verdeutlicht er, dass es beim autobiographischen Erinnern um das bedeutungsstiftende Potential auch von fabulierten Vergangenheitswelten geht. Damit
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Schlussbetrachtung
stellt Seff herkömmliche Vorstellungen von false memory' ebenso in Frage wie das Etikett des ,unreliable narratoi Autobiographische Erinnerungsromane nut2en die Rhetorik der Erinnerungen und Identitäten dazu, um eine vermeintliche Geschlossenheit und Stabilität der narrativen Identitätsstiftung selbstreflexiv zu problematisieren. Sie legen die Prozesse der narrativen Kohärenzstiftung offen, die im autobiographischen Gedächtnisroman durch zahlreiche Realitäts- bzw. Glaubwürdigkeitseffekte verschleiert werden, und zeigen damit nicht nur die Konstruktivität, sondern auch das destabilisierende Potential von Erinnerungen auf. Die im autobiographischen Gedächtnisroman scheinbar mit Leichtigkeit vollzogene Synthetisierung des Heterogenen stößt in den autobiographischen Erinnerungsromanen von Urquhart, Richler, Atwood, Alexis und Gunnars gleich in mehrerer Hinsicht an ihre Grenzen. Erstens haben die Erzählinstanzen erhebliche Schwierigkeiten, sich ihrer Vergangenheit anzunähern und diese in kohärenter Weise zu erinnern. Erinnerungskrisen — gleich, ob diese auf eine aktive Verweigerungshaltung oder auf einen passiv erlittenen Mangel (der in Barney's Version mit einem Erzähler, der an Alzheimer leidet, auf die Spitze getrieben wird) zurückzuführen sind — avancieren im autobiographischen Erinnerungsroman selbst zum zentralen Thema. Diese Problematik schlägt sich in der versatzstückartigen Wiedergabe des Vergangenen, in Mehrfachthematisierungen des gleichen Ereignisses sowie in Revisionen vorgängiger Schilderungen nieder. In autobiographischen Erinnerungsromanen haben wir es mit aktiv deutenden und umdeutenden Instanzen zu tun, die ihre Lebensgeschichte im Akt der Narrativierung erst erzeugen. Schwierigkeiten des Abrufs gehen zweitens mit einer narrativen Strukturlosigkeit einher, die kognitive und emotionale Instabilitäten indiziert und auf die Vorläufigkeit der Selbsterzählung verweist. Temporale Diskontinuitäten, narrative Inkohärenzen, die offene Schlussgebung und die regressive Plotstruktur wirken im autobiographischen Erinnerungsroman zusammen, um die Polyvalenz, sogar Unverfügbarkeit der eigenen Vergangenheit zu illustrieren. Die narrative Offenheit verdeutlicht, dass die Frage nach dem Gewordensein der individuellen Identität nie endgültig beantwortet werden kann. Verschärft wird die Problematik der Identitätskonstitution im autobiographischen Erinnerungsroman drittens dadurch, dass sie sich vor dem Hintergrund soziokultureller Konstellationen vollzieht. So hängt die Frage, welche Identität sich eine Figur verleihen kann, auch von kulturell dominanten, oftmals restriktiv wirkenden Diskursordnungen ab. Durch die Betonung der Pluralität und Fragilität verneinen autobiographische Erinnerungsromane nicht die Möglichkeit narrativer Sinnstiftung. Sie verneinen allerdings geschlossene und eindeutige Signifikationen und illustrieren, dass jede für die Konstitution individueller Identität relevante Erzählung an das Paradox gebunden ist, neue Selbstnarrationen zu motivieren. Kommunale Gedächtnisromane illustrieren, dass Erinnerungen nicht nur in ihrer individuellen, sondern auch in ihrer kollektiven Dimension Identität stiften. Die Untersuchung der kommunalen Gedächtnisromane hat dreierlei gezeigt. Erstens nutzen kommunale Gedächtnisromane fiktionale Privilegien der Selektion
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dazu, um vorgängig marginalisierte Erfahrungen, Identitätskonzepte und Wertevorstellungen in die kanadische Erinnerungskultur einzuspeisen und damit das hegemoniale, auf Unifizierung angelegte Kollektivgedächtnis zu hinterfragen. Die Romane von MacLeod, Urquhart, Kogawa, Lee, Ondaatje oder King inszenieren gruppenspezifische Vergangenheiten und kollektive Identitäten, die im öffentlichen Raum bislang nicht oder nur verkürzt repräsentiert waren. Sie konstituieren damit im Medium der Fiktion ein veritables Gegengedächtnis. Auch intertextuelle und intermediale Refunktionalisierungen und Neukontextualisierungen von gesellschaftlich dominanten Erinnerungsinhalten und -formen sind prominente Strategien, um alternativen Vergangenheitsdeutungen Ausdruck zu verleihen. Zweitens haben die Untersuchungen der formalen Besonderheiten illustriert, wie diese alternativen Gegengedächtnisse ihren Anspruch auf Anerkennung geltend machen. In kommunalen Gedächtnisromanen wirken die geschlossene Perspektivenstruktur, die verdichtete Darstellung der erinnerungskulturellen Aneignung und Aktualisierung von konstitutiven Erfahrungen sowie die Inszenierung von gruppenspezifischen field memories zusammen, um die anhaltende Virulenz der Erfahrungen zu unterstreichen. Vor allem die wechselseitige Validierung der präsentierten Erinnerungsperspektiven, die sich sukzessive zu einem Gesamtbild der Kollektiwergangenheit zusammenfugen, sowie die Verwendung einer communal voice sind wirkungsvolle Instrumente, um der Kommunalität der Erfahrung Ausdruck zu verleihen und die Anerkennung des gruppenspezifischen Gedächtnisses im öffentlichen Erinnerungsraum einzufordern. Drittens schließlich wurde deutlich, dass der kommunale Gedächtnisroman im Vergleich zu anderen Erscheinungsformen der fictions of memory auffällig häufig vertreten ist. Diese Dominanz legt nahe, dass dieser Gattungstyp auf besonders dringliche Herausforderungen reagiert, die an die kanadische Erinnerungskultur gestellt werden. Die in den Romanen formulierte Forderung nach Anerkennung der gruppenspezifischen Vergangenheit und nach Repräsentation im öffentlichen Erinnerungsraum zeigt, dass das Leitprinzip des kanadischen Multikulturalismus, die Metapher des kanadischen Mosaiks, einen Idealzustand gleichheitlicher Anerkennung bezeichnet, der offenbar noch nicht erreicht ist. Indem kommunale Gedächtnisromane bislang marginalisierte oder verdrängte Erfahrungen inszenieren, bieten sie nicht nur Anlass, das gesellschaftlich dominante Verständnis von Kanada als einer exemplarischen Multikultur zu hinterfragen. Durch ihre modellhaften Inszenierungen eines Gedächtnisraums, der Vielfalt zulässt, schaffen sie vielmehr auch auf nationaler Ebene die Grundlage für den Akt des ,re-membering': Kommunale Gedächtnisromane zeigen, dass die Vergangenheiten von ethnischen oder anderen kulturellen Minoritäten nicht außerhalb des offiziellen Gedächtnisses Kanadas liegen, sondern integraler Teil dieses Kollektivgedächtnisses selbst sind. Die Reflexion von Möglichkeiten und Grenzen einer geteilten Vergangenheitsstiftung findet auch in soziobiographischen Erinnerungsromanen statt. Gemeinsam ist allen vorgestellten Texten, dass sie mithilfe unterschiedlicher Formen von Multiperspektivität zeigen, dass Vergangenheit nicht nur Gemeinschaft stiftet, sondern auch zum Anlass von veritablen Erinnerungskonkurrenzen werden kann. Soziobi-
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Schlussbetrachtung
ographische Erinnerungsromane illustrieren, dass sich Erinnerungen angesichts ihrer unauflöslichen Verwobenheit mit individuellen oder gruppenspezifischen Geltungsansprüchen einer Synthetisierung zu einem Gedächtnis entziehen. Die Romane von Rau Badami, Vanderhaeghe, Findley und Wiebe fuhren vor Augen, dass innerhalb sozialer oder kultureller Gruppen eine Vielzahl unterschiedlicher Vergangenheitsversionen zirkuliert und ihr Recht auf Deutungshoheit geltend macht. Indem sie der Unifizierung von Vergangenheiten eine Erinnerungsdiversifizierung entgegenstellen und die perspektivisch gebrochene Vergangenheitsaneignung offen legen, machen sie Kollektivgedächtnisse als interessengebundene Konstrukte hinterfragbar. Soziobiographische Erinnerungsromane nutzen Privilegien der Selektion dazu, kulturell antagonistische Erinnerungen anklingen und sie im Medium der Fiktion in einen Dialog treten zu lassen (Vanderhaeghe, Wiebe). Insbesondere durch die Zusammenführung von kulturell marginalisierten Erinnerungsversionen mit dem gesellschaftlich dominanten Kollektivgedächtnis problematisieren sie die Durchsetzungsfähigkeit von Erinnerungen im gesellschaftlichen Kampf um Definitionsmacht. Dass die marginalisierten Erinnerungsversionen sowohl in Vanderhaeghes als auch in Wiebes Roman die der autochthonen Bevölkerung sind, lässt darauf schließen, dass sich das dominante Kollektivgedächtnis besonders schwer damit tut, mit Schuld behaftete Erfahrungen zu integrieren. Indem der soziobiographische Erinnerungsroman Wechselwirkungen zwischen vormals kulturell Getrenntem erprobt, ohne sich allein auf eine Gegenposition zu beziehen, ebnet er einer integrativen Sicht der Kollektiwergangenheit den Weg. Auch der metamnemonische Erinnerungsroman setzt fiktionale Privilegien dazu ein, um Grenzüberschreitungen zu vollziehen — und dies gleich in mehrerer Hinsicht. Gattungskontaminationen und Intermedialisierung führen in Ondaatjes Roman zu einer dezidierten Hybridisierung des erinnerungskulturellen Diskurses. In Running in the Family gehen unterschiedlichste Formen und Inhalte des kulturellen Archivs eine produktive Allianz ein, die Vorstellungen von kultureller Homogenität ebenso in Frage stellt wie sie konventionalisierte Ordnungskriterien destabilisiert. Durch zahlreiche intermediale Referenzen sowie durch die Evokation verschiedenartiger Erzählungen, Legenden und Gerüchte entsteht ein polyphones Geflecht von sich wechselseitig relativierenden Erinnerungsperspektiven, das die Vorläufigkeit jeder einzelnen Vergangenheitsdeutung akzentuiert. Mit seiner ausgeprägten metamnemonischen Selbstreflexivität setzt der metamnemonische Erinnerungsroman die für zeitgenössische fictions of memory typische Tendenz, die Modalitäten des Erinnerungsakts selbst zum Gegenstand der Erinnerung zu machen, in gesteigerter Form fort. Durch die generische Hybridisierung stellt Running in the Vamily neuartige Formate für die identitätsstiftende Aneignung der Vergangenheit bereit, die kulturell Differentes nicht nivellieren, sondern akzentuieren. Die Interpretationen haben einen Eindruck von dem Spektrum formästhetischer Erzählverfahren vermittelt, die in den kanadischen fictions of memory zur Darstellung des Zusammenhangs von Erinnern und Identität beitragen. Deutlich wird dabei auch, dass die narrativen Darstellungsmittel, die in den kanadischen fictions of
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memory Verwendung finden, sich letztlich nicht von denjenigen unterscheiden, die in anderen Texten zum Tragen kommen. Dies verdient deshalb Erwähnung, weil sowohl in der Kanadistik als auch in der interkulturellen Literaturwissenschaft gelegentlich die These vertreten wird, es existierten kulturspezifische Erzählverfahren. Mit Ausnahme sprachlicher Besonderheiten - wie der Rückgriff auf fremdsprachliche Begriffe, die heimische Erinnerungsräume aufrufen - lassen sich in den vorgestellten Romanen indes keine solchen Erzählstrategien ausmachen. Allerdings — dies dokumentieren insbesondere die Analysen der kommunalen Gedächtnisromane - kann eine Vielzahl von Erzählstrategien dazu funktionalisiert werden, kultur- oder gruppenkonstitutive Spezifika zu inszenieren und der Eigenständigkeit der Kollektividentität Ausdruck zu verleihen. So werden etwa in den Romanen Away, No Great Mischief und Green Grass, Running Water die narrative Strukturierung und Vermittlung, aber vor allem auch die Zeitdarstellung dazu vereinnahmt, Inhalte und Formen des gruppenspezifischen Kollektivgedächtnisses zur Geltung zu bringen und verschiedenartige erinnerungskulturelle Semantiken zu erzeugen. Diese unterschiedlichen Semantisierungen sind als das Resultat der dialogischen Bezogenheit von Literatur auf extraliterarische Erinnerungsgemeinschaften anzusehen. Die verschiedenen literarisch generierten Semantiken rufen ins Bewusstsein, wie wichtig und gewinnbringend es ist, literarische Formen vor dem Hintergrund ihres erinnerungskulturellen Kontextes zu analysieren und diesen als pluralen Handlungsraum zu konzipieren - nicht als monolithische Entität im Sinne der kanadischen Nation. Sie unterstreichen damit nicht zuletzt auch die Bedeutung und Tragfähigkeit einer erinnerungskulturellen Narratologie, eines Analyseinstrumentariums also, das erzähltheoretische Kategorien kontextualisiert und funktionsgeschichtlich auf ihre erinnerungskulturellen Wirkungspotentiale bezieht. Das aufgezeigte Spektrum literarischer Formen und die Bandbreite verschiedenartiger Repräsentationen von Erinnerungen und Identitäten verleihen fictions of memory ein breit gefächertes kulturökologisches Funktionspotential. Durch unterschiedliche Merkmalskombinationen der Rhetorik der Erinnerungen und Identitäten sowie durch spezifische Selektionsentscheidungen können fictions of memory zentrale Leistungen fur die Erinnerungskultur erbringen. Mit der beispielhaften Inszenierung einer gelungenen narrativen Vergangenheitsaufbereitung und einer stabilen Identitätsstiftung nutzen autobiographische Gedächtnisromane ihr kulturökologisches Funktionspotential dazu, verbürgte Sinnstiftungsmodelle für die individuelle Erfahrungsverarbeitung bereitzustellen. Sie illustrieren, wie vorerst heterogenen Erfahrungen im Akt der Narrativierung eine sinnhafte Bedeutung zugesprochen wird, und stellen damit Modelle zur Verfugung, die rezipientenseitig für die Interpretation von persönlichen Erfahrungen herangezogen werden können. Autobiographische Erinnerungsromane problematisieren die gegenwärtigen Bedingungen der individuellen Erinnerungs- und Identitätsbildung und erproben neue, prozessuale Konzepte von Identität. Sie beziehen ihr kulturökologisches Funktionspotential aus der Offenlegung der Sinnstiftungsprozesse und aus dem Aufzeigen der Grenzen der identitätsstiftenden Vergangenheitsaneignung. Autobiographische Erinnerungsromane können - bei entsprechender Aktualisierung
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Schlussbetrachtung
durch die Leserschaft - als reflexiver Metadiskurs wirksam werden, der einen wesentlichen Beitrag zur Reflexion individueller Sinnstiftung leistet und neue Identitätskonzepte perpetuiert, die zu einer größeren Akzeptanz im Umgang mit identitärer Offenheit und Polyvalenz fuhren können. Kommunale Gedächtnisromane nutzen ihr kulturökologisches Funktionspotential vor allem dazu, bislang marginalisierte Erfahrungen in der kanadischen Erinnerungskultur zur Geltung zu bringen. Durch die Darstellung der Vergangenheit aus der Sicht sprachloser Opfer initiieren sie einen Prozess der Vergegenwärtigung und symbolischen Bewältigung vorgängig tabuisierter Erlebisse. Als imaginativer Gegendiskurs können sie selbst zum Medium des kollektiven Gedächtnisses werden und den Streit um Deutungshoheit aktiv mitgestalten. Soziobiographische Erinnerungsromane machen schließlich durch die Auffächerung der Vergangenheit in ein Geflecht von sich wechselseitig relativierenden Perspektiven die Prozesse der kollektiven Aushandlung von Erinnerungen beobachtbar und akzentuieren die unweigerliche Pluralität von Vergangenheiten. Indem viele soziobiographische Erinnerungsromane außerdem gemeinhin kulturell getrennte Erinnerungsversionen in einen Dialog treten lassen und deren mögliche Wechselwirkungen erproben, können sie in der kanadischen Erinnerungskultur als reintegrierender Interdiskurs Wirksamkeit entfalten und eine veränderte, holistische Sichtweise der Kollektiwergangenheit motivieren. Metamnemonische Erinnerungsromane schließlich beziehen ihr kulturökologisches Funktionspotential aus der konsequenten Metaisierung und Hybridisierung des Erinnerten, die die historische Variabilität von konventionalisierten Ordnungskriterien in den Blick bringt und neue Erinnerungsformate generiert. Als kulturkritischer Metadiskurs können sie erstarrte Vergangenheitsbilder und diskursive Eindeutigkeitsansprüche ,verflüssigen' (vgl. Zapf 2002, S. 3) und eine kreative Selbsterneuerung der Erinnerungskultur mitinitiieren. Metamnemonische Erinnerungsromane bewirken eine Revitalisierung der Kultur, indem sie gemeinhin als inkompatibel erachtete Inhalte und Formen von Gedächtnis eine produktive Allianz eingehen lassen. Kurzum: Fictions of memory leisten einen eigenständigen und produktiven Beitrag zur Konstitution, Modifikation und Reflexion von Gedächtnis und prägen die Erinnerungskultur auf vielfältigen Ebenen aktiv mit. Die Darlegung des kulturökologischen Funktionspotentials von fictions of memory konkretisiert den Beitrag, den diese Studie zur kulturwissenschaftlichen Beschäftigung mit Gedächtnis, Erinnerung und Identität leisten kann. Sie zeigt nicht nur, dass literarische Texte, zumal fictions of memory, als Teil der materialen Dimension von Erinnerungskulturen zu konzipieren sind. Die Explikationen offenbaren überdies drei weitere Aspekte, die zu einer Spezifizierung des Verhältnisses von Literatur und Erinnerungskultur aus kulturwissenschaftlicher Sicht beitragen können. Sie demonstrieren erstens, dass Literatur — und dazu zählen eben nicht nur kanonisierte Texte — als distinkte kulturelle Sinnstiftungsform ein breites Spektrum unterschiedlichster Funktionen für die Erinnerungskultur erfüllen kann. Dieses erschöpft sich weder in der Perpetuierung und Festigung einer einzigen, normati-
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ven Kollektividentität (wie die Gedächtnistheorien von Assmann oder Nora nahe legen) noch in der kritischen Subversion von bestehenden Sinnstiftungsmodellen (wie die funktionsgeschichtlichen Ansätze von Fluck [1997] und Zapf [2002] implizieren). Beide Positionen bedeuten eine Verkürzung bzw. Homogenisierung der Bandbreite erinnerungskultureller Potentiale von literarischen Werken. Literarische Texte können ebenso zur Stabilisierung von etablierten Wertehierarchien beitragen wie sie überkommene Vergangenheitsdeutungen in Frage stellen und alternative Erinnerungsversionen perpetuieren können. Die erinnerungskulturellen Funktionen von Literatur sind im Spannungsfeld zwischen transgressiver Imagination und stabilitätsgewährender Reproduktion zu verorten. Zweitens zeigt die Analyse des kulturökologischen Funktionspotentials, dass fictions of memory nicht nur als Medium des kollektiven Gedächtnisses zu konzipieren sind. Vielmehr erbringen sie auch zentrale Leistungen für die individuelle Erfahrungsverarbeitung. Dass Literatur als prästrukturiertes Sinnstiftungsformat der individuellen Gedächtnisbildung wirksam werden kann, verdeutlichen nicht zuletzt empirische Untersuchungen zu Inhalt und Struktur von autobiographischen Erinnerungen (vgl. Welzer 2002). Literatur als Ort des individuellen Gedächtnisses zu begreifen bedeutet daher nicht nur, die extraliterarische Wirkmacht von fiktionalen Texten anzuerkennen, sondern auch die literarische Formation der individuellen Identität hervorzuheben. Eine Untersuchung literarisch vermittelter Erzählmuster liefert somit auch Hinweise darauf, welche Erfahrungen in bestimmten soziokulturellen Kontexten überhaupt erzählbar sind und welche Identitäten sich Einzelne verleihen können. Durch die konsequente Fokussierung der Spezifika des Symbolsystems Literatur zeigt die Studie drittens, wie Literatur in der Erinnerungskultur Wirksamkeit entfalten kann. Fictions of memory können erinnerungskulturelle Prozesse mitgestalten, weil sie ihre imaginativen Gestaltungsspielräume dazu nutzen, partikulare, polyphone oder reintegrative Gedächtniswelten zu erzeugen, die — im Gegensatz zu nicht-künstlerischen Ökosystemen — mehrdimensionale Bedeutungsangebote machen. Fictions of memory können die Erinnerungserzählung den Akt der Erinnerung reflektieren lassen und so einen substantiellen Beitrag zur Neuperspektivierung kultureller Memorialkonzepte leisten. Angesichts symbolspezifischer Merkmale kann Literatur auch besondere — d.h. von anderen Symbolsystemen so nicht zu erbringende - Funktionen erfüllen. Dies unterstreicht einmal mehr, wie wichtig und gewinnbringend es ist, dass kulturwissenschaftliche Studien zum erinnerungskulturellen Leistungsvermögen von Literatur formale Besonderheiten dieses Symbolsystems berücksichtigen. Durch die Berücksichtigung von textuellen Strukturen und literarischen Formen vermag der in dieser Arbeit vorgeschlagene Ansatz, der weitergehenden literaturwissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Themenkomplex Erinnerung, Gedächtnis und Identität wichtige Impulse zu verleihen. Die in dieser Studie vorgenommene Integration sozialpsychologischer und kulturwissenschaftlicher Gedächtnistheorien innerhalb eines kulturwissenschaftlich und narratologisch fundierten Bezugsrahmens folgt der Einsicht, dass textinterne Inszenierungen von
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Schlussbetrachtung
Erinnerung nur in ihrer dialogischen Bezogenheit auf Inhalte der Memorialkultur adäquat erfasst werden können. Durch die Verbindung der gedächtnistheoretischen Konzepte mit formästhetischen Analysekategorien wurde ein textinternes Gedächtniskonzept erarbeitet, das an die außertextuelle Erinnerungskultur sowie an die interdisziplinäre Gedächtnisforschung anschließbar bleibt. Gerade für eine kulturwissenschaftlich ausgerichtete Literaturwissenschaft (vgl. Nünning/Sommer 2004) ist ein solches Konzept der Inszenierung von Erinnerungen und Identitäten in mehrerer Hinsicht von hohem Erkenntniswert. Es trägt erstens zu einer differenzierten und theoretisch fundierten Beschreibung der literarischen Inszenierung von individuellem und kollektivem Gedächtnis bei und gewährleistet damit die interdisziplinäre Anschließbarkeit der literaturwissenschaftlichen Forschung. Zweitens zeigt das Konzept, welche Rückschlüsse die Untersuchung von textuellen Formen auf kulturell vorherrschende Vorstellungen von Gedächtnis und Identität sowie auf Wertehierarchien, Selbstbilder und Wissensordnungen zulässt. Drittens schließlich spezifiziert dieses Konzept, wie ästhetische Formen für die Konstitution von erinnerungs- und identitätsbezogener Bedeutung funktionalisiert werden können. Damit ermöglicht es ein differenziertes Verständnis der Prozesse der literarischen Aushandlung von kulturell relevanten Themen wie kollektiver Identität und Alterität, Erinnerungskonkurrenzen, Wertehierarchien oder individuellen Identitätskonzepten, die nicht nur für kanadische fictions of memoiy, sondern auch für weitere (zeitgenössische) Gedächtnisgattungen wie die fiktionale (Meta-)Biographie oder den historischen Roman konstitutiv sind. Die konsequente Kontextualisierung von literarischen Formen sowie die kulturökologische Perspektivierung formästhetischer Kategorien überwindet ein reduktionistisches Verständnis von Gedächtnisinszenierungen als ein ausschließlich innerliterarisches Phänomen und schafft die Voraussetzung für eine stärkere kulturwissenschaftliche Ausrichtung der narratologischen Praxis. Literaturwissenschaftliche Relevanz gewinnt der hier entwickelte Ansatz schließlich auch durch die vorgeschlagene Gattungstypologie, die der zukünftigen literaturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung und Gattungsgeschichte innovative Impulse verleihen kann. Die entwickelte Poetik und Typologie der fictions of memoiy ist nicht auf die gegenwärtige Erzählliteratur Kanadas beschränkt. Sie bietet auch eine Grundlage, um Parallelen und Unterschiede zwischen Entwicklungstendenzen der fictions of memoiy in verschiedenen Nationalliteraturen und Epochen zu benennen. Fictions of memoiy haben in den vergangenen Jahrzehnten nicht nur der kanadischen Literatur neue Impulse gegeben; sie sind auch in anderen Erinnerungskulturen allgegenwärtig. Die Vielzahl literarischer Werke, die sich mit dem Zusammenhang von Erinnern und Identität auseinander setzen, legt nahe, dass es sich bei den fictions of memoiy um ein transnationales Phänomen handelt. Eine sowohl synchrone als auch diachrone Untersuchung der fictions of memory stellt daher ein zentrales Desiderat einer zukünftigen literaturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung dar. Obschon eine differenzierte synchrone und diachrone Analyse der fictions of memory freilich epochen- und kulturspezifisch vorherrschenden Memorial-
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konzepten stärker Rechnung tragen müsste, können die in dieser Studie entwickelten Konzepte Anhaltspunkte bieten, die signifikante Konvergenzen und Differenzen sowie unterschiedliche Dominanzverhältnisse der einzelnen Gattungsausprägungen in den Blick bringen. Einige synchrone Tendenzen der fictions of memory in verschiedenen Nationalliteraturen seien abschließend benannt. Kommunalen Gedächtnisromanen kommt nicht nur innerhalb der kanadischen fictions of memory eine quantitativ herausragende Bedeutung zu, sondern auch innerhalb anderer .neuer englischsprachiger Literaturen', die sich offenbar in besonderem Maße durch ihre zentrifugale Vielstimmigkeit auszeichnen. Ebenso wie in der kanadischen Literatur liegt der Akzent auch in neuseeländischen und australischen fictions of memory auf einer Neuverhandlung der Kollektiwergangenheit aus Sicht ethnischer Minoritäten. Die Romane von Peter Carey, Thomas Kenneally oder Ian Wedde nutzen Privilegien der Selektion dazu, um die vorgängig marginalisierten Erfahrungen der autochthonen Bevölkerung und haf-breeds in die Erinnerungskultur einzuspeisen und durch die literarische Konstitution eines Gegengedächtnisses gesellschaftlich etablierte Vergangenheitsdeutungen in Zweifel zu ziehen. Ebenso wie in den kommunalen Gedächtnisromanen von Urquhart oder MacLeod geht die Darstellung gruppenspezifischer Erfahrungen auch in den Romanen dieser Autoren mit einer Reinterpretation der Geschichte des British Empire sowie mit einer Subversion der Repräsentationsmechanismen des kolonialen Diskurses einher. Auch für die gegenwärtige literarische Landschaft Großbritanniens spielen fictions of memory eine kaum zu überschätzende Rolle. Zeitgenössische englische Romane weisen hinsichtlich ihrer formalen Besonderheiten und der vermittelten Vorstellungen von Identität und Erinnerung zahlreiche Parallelen zu kanadischen fictions of memory auf. Diese Parallelen betreffen vor allem den autobiographischen Erinnerungsroman. Zahlreiche Werke der britischen Erzählliteratur - von Kazuo Ishiguros When We Were Orphans (2000) über Ian McEwans Enduring Lave (1997) bis hin zu Penelope Livelys Perfect Happiness (1983) - loten die komplexe und oftmals problematische Bedeutung aus, die der Erinnerung für die narrative Identitätsstiftung zukommt. Ebenso wie kanadische autobiographische Erinnerungsromane nutzen auch die englischen Werke die Rhetorik der Erinnerungen und Identitäten dazu, um die Probleme der narrativen Vergangenheitsaneignung zu fokussieren und das destabilisierende Potential von Erinnerungen zu akzentuieren. Überdies findet sich auch in der englischen Erzählliteratur ein ähnlich breites Spektrum kommunaler Gedächtnisromane wie in der kanadischen Literatur. Autoren wie Paul Scott, David Dabydeen oder Fred D'Aguiar setzen sich im Medium der Fiktion mit der imperialen Vergangenheit Großbritanniens auseinander, inszenieren alternative Gegengedächtnisse und bringen damit die Erfahrungen derjenigen zur Darstellung, die im kolonialen Diskurs zu sprach- und geschichtslosen Anderen degradiert wurden. Ebenso wie kanadische kommunale Gedächtnisromane fordern auch diese Werke die Repräsentation der vorgängig marginalisierten Erfahrungen im offiziellen Kollektivgedächtnis der englischen Erinnerungskultur ein und leisten
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Schlussbetrachtung
einen Beitrag zur Vergegenwärtigung und symbolischen Bewältigung des kulturell Verdrängten. Aber nicht nur in der englischsprachigen Literatur, sondern auch in der frankophonen Literatur Kanadas bzw. in der so genannten litterature quebecoise haben fictions of memory Hochkonjunktur. Neben zahlreichen autobiographischen Erinnerungsromanen, die gerade in jüngster Zeit an Bedeutung gewinnen, spielt auch der kommunale Gedächtnisroman für die Literatur Quebecs eine zentrale Rolle. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang die Akzentverschiebung vom Nationalen hin zum Kollektiv-Partikularen, die seit zwei Jahrzehnten zu beobachten ist: So setzen sich zeitgenössische Gedächtnisromane weniger mit der Konstruktion einer übergeordneten, genuin franko-kanadischen Identität als vielmehr mit der Pluralisierung gruppenspezifischer Identitäten auseinander. Während sich in den 1970er und 1980er Jahren zahlreiche Werke - etwa von Hubert Aquin oder Roch Carrier — einem bisweilen aggressiven Nationalismus verschrieben und versuchten, die Sonderstellung Quebecs als .distinct society' zu behaupten, melden sich in kommunalen Gedächtnisromanen heute verstärkt Vertreter ethnischer Minoritäten zu Wort. Werke von Emile Ollivier, Gerard Etienne oder Regine Robin zeichnen sich durch eine intensive Erinnerungsarbeit aus und sind eng mit den Erfahrungen der Emigration und der Forderung nach Anerkennung im öffentlichen Erinnerungsraum verbunden. Den zeitgenössischen franko-kanadischen Gedächtnisroman ausschließlich unter dem Etikett der ,ecritures migrantes' zu verbuchen, wird dessen Variationsbreite allerdings nicht gerecht, denn nach wie vor verhandeln einige kommunale Gedächtnisromane weiterhin Fragen nach der genuinen Geschichte und Identität der Provinz Quebec. Diese Spannungsverhältnisse auch innerhalb der frankophonen kanadischen fictions of memoiy bestätigen die in dieser Studie entfaltete These, dass erinnerungskulturelle Modelle von Gedächtnis und Identität nicht ohne Berücksichtigung ihrer Pluralität auskommen. Ingesamt verdeutlichen die thematische Vielfalt sowie die formästhetische Variationsbreite der fictions of memory sowohl in der kanadischen als auch in zahlreichen weiteren Nationalliteraturen, wie präsent Erinnerungen heute sind — und dies nicht nur in ihrer Vergegenwärtigung, sondern auch und gerade als Herausforderung. Die gegenwärtigen kanadischen fictions of memory bieten vielfaltige Antworten auf diese erinnerungskulturellen Herausforderungen. Fictions of memory nutzen imaginative Gestaltungsräume, um den vielschichtigen Zusammenhang von Erinnerungen, Identitäten und Narrationen zu explorieren. Sie kombinieren involvierte Erinnerungsperspektiven mit kritisch-reflektierenden und erheben das ,Wie' des Erinnerns zum Gegenstand der Erinnerung. Fictions of memory werden damit zu zentralen Instanzen, die individuelle ebenso wie kollektive Erinnerungsprozesse nicht nur beobachtbar machen, sondern auch aktiv mitgestalten. Fictions of memoiy prägen die Erinnerungskultur in all ihren Facetten und können so zur Grundlage von memories of fiction werden.
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Personenregister Assmann, Aleida 4, 44,75, 85-93,126-128, 189,195, 205, 274, 302 Assmann, Jan 2,4, 73, 75, 85-93,101,103, 126-128,191 Bachtin, Michail 171,176-177,181, 203,232, 398,455 Barthes, Roland 74,103,121, 300, 253 Bartlett, Frederic C. 24,25,26, 50, 51,151 Bissoondath, Neil 115 Brockmeierj e n s 39, 40,42, 43, 47, 63, 66, 67, 68,69,154,244, 253,271 Bruner, Jerome S. 19,21, 34, 35, 38,51,64, 66,67,68,69,154,250 Carr, David 43,101 Eakin, Paul John 3, 36,40, 49,222 Echterhoff, Gerald 35,36, 37,40,41,42,43, 54,56,60,61,98,154 Edmiston, William F. 172,173 Erll, Astrid 3,60, 95,124,134,144, 153,156, 157,172,189 Finke, Peter 129,130 Fluck, Winfried 132,153 Foucault, Michel 69,113 Freud, Sigmund 30, 53,173 Genette, Gerard 188,199,213 Goodman, Nelson 16,130,148 Gramsci, Antonio 111,112 Gutenberg, Andrea 159,160-161,178,213 Halbwachs, Maurice 52,53-56,73,74,76-80, 124-125,194 Helms, Gabriele 5,10,12,114,157 Hobsbawm, Eric J. 73,75 Hutcheon, Linda 109,116, 218,233,388, 453 Iser, Wolfgang 132-133,145,148 Lachmann, Renate 4, 142,177,189, 455 Lanser, Susan 159,224 Levi-Strauss, Claude 103
Locke, John 20 Löschnigg, Martin 5, 7,10,12,13,156,163, 164,165,219 Lotman, Yuri 135,177, 375 Lyotard, Jean-Fran^ois 112 Maclntyre, Alasdair 44,69 Margalit, Avishai 100,167 Mead, George H. 31, 63 Neisser, Ulric 23,26 Niethammer, Lutz 75, 86 Nora, Pierre 4,75, 80-84,125-126,194 Nünning, Ansgar 7, 8,122,123,135,153,154, 157,178,205,225 Ohly, Friedrich 6 Olick, Jeffrey 20,21,53,73, 81,110 Polkinghorne, Donald 37,39,40, 69,103 Ranger, Terence 73,75 Rüsen, Jörn 7,102,106,150, 200 Saar, Martin 20,73,100,110,111, 228 Schacter, Daniel 21,24,25, 27, 28, 29, 30,173 Schmidt, Siegfried J. 20, 23,41, 45,66, 72, 106,152 Straub, Jürgen 20, 35, 37, 38, 39,42, 43, 51, 60, 74,76,101,102,154,251, 284 Taylor, Charles 63,108 Tulving, Endel 24,27 Voßkamp, Wilhelm 129,131,133,140,185 Weber, Max 74,121 Weinrich, Harald 205 Welzer, Harald 24, 25,26, 28,30, 51, 52,57, 58,61,63,64,66, 67,68,73 White, Hayden 36,135,154,192 Wittgenstein, Ludwig 211 -212 Yates, Frances 194 Zapf, Hubert 129,130,131,133,135,140, 150,153,176, 217,226, 228, 229, 235
Sachregister Akte des Fingierens 132-133,465 Amnesie 30, 58 (s. auch Vergessen) Ästhetik- und Polyvalenzkonvention 152 Authentisierungsstrategie 247, 255, 275, 307, 352, 354, 397 Authentizitätssuggestion 173,175,193,215, 216,219, 226, 228, 243, 253, 255, 256, 271, 283, 363, 392, 397, 430, 432,437, 467 Auto/Biographie 298, 461 Autobiographie, fiktionale 7,454 Bildungsroman 137,191,185, 326 Collected vs. collective memory 53, 74, 77, 94 Conversational Remembering 56-62 Adressatenorientierte Kommunikation 61,63 Saying-is-Believing 61 cue 23, 27,174,198 Diaspora 112,196, 228 Ekphorie 28 Ekphrasis 289,293 Entpragmatisierung 129,131,136,155, 211 Erinnern, kommunikatives 53-59,61, 77-78, 103 Erinnerung, individuelle biographische Kontinuität 2-3, 26, 30, 33 field und observer memories 30-31 Konstruktivität 2, 22-29,57 kulturelle Prägung 49, 50-53 literarische Prägung 67-68 Perspektivität 22-29 soziale Prägung 49, 52, 53-62 Subjektivität 2 , 1 7 , 2 8 Variabilität 28, 31, 32, 43, 63, 64, 69 Veridikalität 45-48 Erinnerung, kollektive 2 , 7 3 , 9 7 , 1 0 3 (s. auch Gedächtnis, kollektives) Erinnerungshaftigkeit 164,165, 200, 219, 274, 284, 286, 293, 294, 314, 343, 351, 467 Erinnerungskultur 2, 17, 72, 76, 97, 80, 84, 91, 92
Erinnerungslosigkeit 287, 313, 318-319, 327, 328-329 (s. auch Vergessen) Erinnerungsroman, autobiographischer 210, 217-223, 236,240-241, 286-347, 467-468 Erinnerungsroman, soziobiographischer 210, 229-235, 241,469-470 false memory 27 Fictions of Memory als imaginativer Gegendiskurs 181,229, 237, 366, 383,404, 405, 406, 411 als Medien der Erinnerungskultur 138, 149-155, 240 (s. auch als Sozialsystem) als Medium der kulturellen Selbsterneuerung 462 als Medium der kulturellen Selbstreflexion 427-428, 449, 452 als Medium der Erinnerungsreflexion 143,146,149,150 als Medium des individuellen Gedächtnisses 217 als reflexiver Metadiskurs 223, 305, 321, 341,347,406 als reintegrierender Interdiskurs 236,447, 451 als Sozialsystem 76, 92,105-106,120, 137-138 als Symbolsystem 120,137, 464, 473 als transnationales Phänomen 474-476 erinnerungskulturelles Funktionspotential 5 , 9 , 1 5 , 59-60,117,129,149-153,157, 236-237, 240 Gattungsbestimmung 2-4,6, 7-8,137-138 (s. auch Gattungstypologie) Gattungstypologie 9 , 1 4 , 1 8 , 208-238, 466,474 kulturelle Präformation 139-146 Poetik 16, 474 Privilegien der Konfiguration 146-149 Privilegien der Selektion 139-146, 348, 405,451, 454, 465,470,475 Familienähnlichkeit 211-212 Fingierte Visualisierung 193 form-to-function-mapping 158 Fragmentierung, narrative 280,287, 289, 308, 317, 344, 398,423-424,448
505
Register Funktionsgeschichte 16,119,136,152,157 Gattungsgedächtnis 429,446-447, 460 Gattungskontamination 455, 460, 470 Gedächtnis der Literatur 4,189 Gedächtnisgattung 1,154,444, 465,474 Gedächtnis, individuelles Speichermodelle 23 Gedächtnissysteme 24 episodisches Gedächtnis 24,25 semantisches Gedächtnis 24, 25,96 autobiographisches Gedächtnis 24-25, 30-31,58 Wechselwirkung mit kollektivem Gedächtnis 17, 93, 94, 95-97 Gedächtnis, kollektives cadres sociaux 52, 53,76 Erinnerungsgemeinschaft 79, 92, 99, 106 Erinnerungshoheit 110,114,117 Erinnerungskonflikte 110-118 Erinnerungskonkurrenz 92,110,113 Erinnerungsorte s. Nora, Pierre Familiengedächtnis 77 floating gap 86-87 Funktionsgedächtnis 89, 90-91,127-128 Gegengedächtnis 113 hegemoniales Gedächtnis 111,112,113 kollektiv-autobiographische Erinnerungen s. kollektiv-episodisches Gedächtnis kollektiv-episodisches Gedächtnis 99101,105 kollektiv-semantisches Gedächtnis 97-99, 105 kommunikatives Gedächtnis 85-87, 91 (s. auch Erinnern, kommunikatives) Konflikterinnerungen 110 Kultur als Gedächtnis 73, 74,77 kulturelles Gedächtnis 85-91,95 memoire collective 72,76-80 (s. auch Halbwachs, Maurice) minoritäres Gedächtnis 111,112 Perspektivität 73, 78 Pluralität 74-75,77,79-80, 81, 83, 85, 89, 104-109 Rekonstruktivität 2, 73, 78 Selektivität 78, 87-88, 89,105 Speichergedächtnis 89, 90-91,127-128 Wechselwirkung mit individuellem Gedächtnis 17, 93, 94, 95-97 Gedächtnismedien 47, 96 Gedächtnisroman, autobiographischer 210, 213-217, 240, 242-285, 467 Gedächtnisroman, kommunaler 210, 241, 224-230, 348-411,468,469 Gegengedächtnis, generisches 445
Gegengedächtnis, literarisches 302, 350, 366, 367, 3 7 8 , 4 0 0 , 4 0 7 , 4 1 0 , 4 6 9 Glaubwürdigkeitseffekt 214, 253, 260, 284, 431,468 Historiographische Metafiktion 11,387-388, 453-454 Historischer Roman 6, 7, 225 Hybridisierung der Erinnerung 453, 460,461 Hybridisierung, kulturelle 89 Identität, individuelle (s. auch Identität, narrative) Konstruktivität 19,29, 31-32,40,44 Prozessualität 20, 42-43, 64 Patchwork-Identität 42 soziale Prägung 49,62-65 kulturelle Prägung 49, 65-71 Dialogizität 62- 65, 245-246 Identität, kollektive vs. Alterität 76, 80,88, 106 Konstruktivität 74 nationale Identität 75,79, 83, 85 Pluralität 72-75, 79-80, 90,104-109 Identität, kulturelle 95 Identität, narrative 36-45, 64-65, 65-71 Imaginäre, kulturelle 132-133 imgaines agentes 435 Kanada ,Crucified Canadians' 299 Canadian Muüiculturalism Act 108, 115 Canadianness 12,466 Kolonialisierung 107 Metapher des Mosaiks 109,114,116, 206, 411 Multikulturalismus 12,17, 92,107-110, 114-118 nationale Identität 10 postkoloniale Identität 11,13 two soitudes 354 Kognitionpsychologie 17, 222-229 Konversationspsychologie s. Conitnattonal Rtmembering Kulturanthropologie 95,121 Kulturökologie 17,129,131-133 Kultursemiotik 121-123 Lieux dt memoire s. Nora, Pierre Literarisches ,re-membering' 349, 350, 369, 413 Literatur als Erinnerungsort 125-126 als Medium der Reflexion 133-134
506 als reintegrativer Interdiskurs 131,147, 465 als Sozialsystem 4,120,189, 464 als Symbolsystem 4 , 5 , 1 2 0 , 1 2 3 , 1 2 4 , 1 2 6 , 128,129,130,133,135,137,146,155, 191,188 Literatur und Erinnerungskultur 123-129,130 Literatur und Kultur 121-123 loci et imagines 194, 324 Medien des Gedächtnisses 86, 93 Memories of fiction 464,476 Memory talk 57, 70 (s. auch Conversational Remembering) Metaisierung des Erinnerten 219,233-234, 287, 413, 415,427,431, 436,448,450, 454, 476 Metamnemonischer Roman 241,453-462,470 Metaphorische Vergangenheitsdarstellung 392-394,405, 407 Mimesis der Erinnerung 138-153, 253, 274, 291,316 Mythos 87,103,104,112 Narration als Medium der Gemeinschaftsstiftung 92,99,101-104 Emplotment 35-36,41,154 Erzählmuster 66-71 Kontingenzreduktion 38-39 Kontinuitätsstiftung 37-38 paradigmatischer vs. narrativer Modus 35 Plot 41-42 Selektivität 154 Sinnstiftung 15,21, 34, 44, 67 Synthesis des Heterogenen 36, 147,154, 163,219 Temporalisierungsfunktion 6, 36, 37,43, 149,153 Narrativistische Ansätze 2, 34-45 Narratologie, erinnerungskulturelle 16,156158,471 Narratologie, kognitive 151 Narratologie, postklassische 135,157 Narratologie, pragmatische 151 Naturalisierung 103,152 New English Literatures 1,475 Offenheit, narrative 39,166, 223,286,288, 297,304, 305,306,316, 321, 336,342, 344, 398, 424, 456, 466 Ökologie des Gedächtnisses 47 Pluralisierung des Vergangenen, literarische 382,413-414, 428,449,451, 455
Register Politics of difference 108 Polyphonie 177,181, 377,397, 414, 438,451, 458 Proteus-Prinzip 168 Radikaler Konstruktivismus 45 Realitätseffekt 214,243, 253, 277 Retrospektive Teleologie 40, 214, 251, 266, 283 Rhetorik der Erinnerungen und Identitäten authorial voice 169 communal voice 166-168, 224,226,227, 348, 367,370,384, 386,406 Detailrealismus 259, 266,432 Erinnerungsräume 202-203 erzählerische Vermittlung 158-170 field memories 173,215,226,271-274, 385, 391-392,408, 416-417, 467 Figurencharakterisierung 408 Figurenkonstellation 385-386 Figurenperspektive 380, 381 Figurenrede 173,177, 356 Fokalisierung 170 Fokalisierung, externe 173, 252,253-254, 256,270,276,333 Fokalisierung, interne 172-173,215,242, 252-253,322, 333-334, 376-377,387, 416, 425,429 Gedächtnismetaphern 205-206 Handlungsstruktur 362, 372 Innenweltdarstellung 169,171-176,264 Interdiskursivität 142 I n t e r m e d i a t e 142,192-199, 290-291, 293,336, 379,409, 433-434, 439-440, 458, 459 Intertextualität 4,121,142,188-192, 217, 300-302,307, 315, 357, 346, 385, 395397,409, 458 Mehrfachthematisierung 220, 310 Multiperspektivität 180, 230-231, 234, 286-287,312, 376, 395,412, 413, 414, 424,426, 437-438,447, 448, 449, 451, 459 Multiperspektivität, strukturelle 192, 221, 287, 306, 311-312, 324, 336-338, 397, 429 obsener memories 173, 219, 254, 270,333, 467 personal voice 161-166, 218 Perspektivenstruktur 176-181,445,453, 469 Perspektivenstruktur, geschlossene 180 Perspektivenstruktur, offene 180 Plotmuster, individuenzentriert 182-186 Plotmuster, gruppenspezifisch 186-188, 227-228,231,412
507
Register Plotstruktur 181 -188,258, 386 possible-worlds theory 183,187, 204,221, 310, 342 progressive Erzählung 202,265-266, 281 Quest-Plot 184-185,186,213,218,243, 325,386 Raumdarstellung 135,148,194-198, 222223,228, 232-233,234, 267, 269, 324325, 351, 359-361, 367, 373-375,385, 399-400,403, 423,426-427,429,438 regressive Erzählung 202, 303, 318 Stabilitätserzählung 202 unrekabilq of memory 165-166, 221, 282 unreliable narration 70,164-165,166,179, 221-222, 274, 287, 306, 311, 342, 347 ZeitdarsteUung 148-149,199-201, 220, 227,242, 244,249, 261-262, 270-271, 295, 308-309, 321, 323, 324, 336, 351, 397,409, 415,467,471 Rhetorik des damals-und-heute 7,148 Rhetorik des Vergessens 312 Schemata 25-26, 28,30- 31, 33,41,49,50, 5152, 53, 56, 61, 95,151 (s. auch Selbstschemata)
Selbstnarrationen s. Identität, narrative Selbstschemata 31-33 Semantik, (erinnerungs-)kulturelle 95,471 Semantisierung der Form 135,136,471 Sinnbildungen über Zeiterfahrung 7,102,202 Sozialpsychologie 2,17, 53, 56, 59, 60, 92, 94, 97 Subjektivierung des Vergangenen 260, 268, 376, 385, 390-391, 394, 405, 408-409,416 Texte, kulturelle 127 Trauma 32-33,44,163,172,193,279, 298, 301, 302, 325, 331, 338, 388,390, 392, 397, 402 Unifizierende Konzepte 66-67, 247 usable past 45,77,434, 441 Vergessen 26, 32,72, 86,104,105,113,141, 259 Vielstimmigkeit, literarische 171, 405, 411, 452, 459, 466,475 (s. auch Polyphonie) writing back 192, 301, 355, 396