160 4 1MB
German Pages 261 [262] Year 2021
Außenbeziehungen und Erinnerung
Außenbeziehungen und Erinnerung
Funktionen, Dynamiken, Reflexionen Herausgegeben von Friedrich Kießling und Caroline Rothauge
ISBN 978-3-11-072687-9 e-ISBN [PDF] 978-3-11-072644-2 e-ISBN [EPUB] 978-3-11-072649-7 Library of Congress Control Number: 2021931815 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2021 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Cover: Angela Merkel und Emmanuel Macron gedenken am 10. November 2018 in Compiègne dem Ende des Ersten Weltkriegs. Bildnachweis: picture alliance/AP, Photo: Philippe Wojazer Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com
Inhalt Caroline Rothauge, Friedrich Kießling und Andreas N. Ludwig Einleitung 1
Teil I: Außenpolitische Ereignisse in Erinnerungsprozessen Christoph Kampmann Der Westfälische Friede als Fundament von Völkerrecht und Staatenpolitik. 21 Präfigurationen des „Westfälischen Systems“ im 18. Jahrhundert Tobias Hirschmüller Vom „Bruderkrieg“ zur „Waffenbrüderschaft“. Der Deutsche Krieg von 1866 in österreichisch-ungarischen Erinnerungskulturen 37 Sönke Kunkel Nixon in China: Politische Erzählungen, Außenbeziehungen und Erinnerung im Medienzeitalter 57
Teil II: Epochenkonstruktionen in Außenbeziehungen Karsten Ruppert Die politische Wirkungsmacht von Geschichtsbildern und kulturellen 75 Prägungen: der Philhellenismus in Europa Jonas Klein Antikenrezeption in der „Weltpolitik“ des Deutschen Kaiserreiches
97
Till Knobloch Wahn und Wirklichkeit: Wie die Illusion einer gemeinsamen Erinnerung an die Julikrise 1914 die Entfesselung des Zweiten Weltkriegs beeinflusste 117
VI
Inhalt
Teil III: Erinnerung als außenpolitisches Argument und Legitimationsressource Christian Wenzel Geschichte als Argument in den französisch-spanischen Außenbeziehungen 137 während der französischen Sukzessionskrise (1584 – 1593) Eric Sangar Die Fragmentation nationalstaatlicher kollektiver Erinnerung und ihre Auswirkung auf strategische Narrative: Legitimationsschwierigkeiten deutscher Außenpolitik seit dem Ende des Kalten Kriegs 153 Anuschka Tischer „Das deutsche Volk und sein Führer sind jetzt im Begriffe, den Dreißigjährigen Krieg zu gewinnen . . .“: Nationalsozialistische Geschichtsrezeption zwischen Instrumentalisierung, historischer Forschung und traditionellem Geschichtsbild 173
Teil IV: Außenbeziehungen und Erinnerung im bi- und transnationalen Kontext Yvonne Blomann Verdun 1984 – Diplomatie und Erinnerung in den deutsch-französischen 193 Beziehungen der frühen 1980er Jahre Kristiane Janeke Die deutsch-belarussischen Beziehungen im Spiegel des Erinnerungsortes Trostenec 213
Inhalt
Teil V: Podiumsdiskussion Diskutantinnen und Diskutanten: Charlotte Bühl-Gramer (CBG), Michael Epkenhans (ME), Dominik Geppert (DG), Jörn Leonhard (JL) Moderation: Friedrich Kießling (FK) 1914/19 – 2014/19: Erkenntnisse aus fünf Jahren Gedenken an den Ersten 231 Weltkrieg Verzeichnis der Autorinnen und Autoren sowie der Diskutantinnen und 251 Diskutanten
VII
Caroline Rothauge, Friedrich Kießling und Andreas N. Ludwig
Einleitung
Die Beiträge des vorliegenden Bandes basieren auf den Vorträgen und einer Podiumsdiskussion, die im Rahmen der dritten Jahrestagung der Arbeitsgruppe „Internationale Geschichte“ im „Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands“ präsentiert beziehungsweise geführt wurden. Sie fand auf Einladung des Lehrstuhls für Neuere und Neueste Geschichte der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt Mitte Mai 2019 in Eichstätt statt.¹ Für die Unterstützung der Tagung durch die „Maximilian-Bickhoff-Stiftung“ bedanken wir uns herzlich. Bei der Durchführung der Tagung, der Transkription der Podiumsdiskussion wie auch bei der Durchsicht des Manuskripts zu diesem Sammelband haben uns die Sekretärinnen und mehrere Hilfskräfte der Lehrstühle für Neuere und Neueste Geschichte beziehungsweise Internationale Beziehungen geholfen. Ihnen gilt ebenfalls großer Dank.
1 Außenbeziehungen und Erinnerung Die Beitragenden des vorliegenden Sammelbandes entstammen der Geschichtswissenschaft, der Geschichtsdidaktik und der Politikwissenschaft. Sie perspektivieren ihre Untersuchungsgegenstände jeweils anders, zudem reichen die gewählten Fallbeispiele von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart und betreffen unterschiedliche Weltregionen. Dennoch werden alle hieran Beteiligten von einem geteilten Interesse geleitet: dem verbindenden „und“ in dem titelgebenden „Außenbeziehungen und Erinnerung“. Welchen Einfluss haben Erinnerungen auf Außenbeziehungen? Wie und wann wird Bezug genommen auf vergangene Außenpolitik? Die Beiträge des vorliegenden Bandes nehmen somit zum einen den Umgang mit Vergangenheit im Vollzug von Außenpolitik in den Blick. Zum anderen geht es ihnen um die Rolle von Phänomenen der Außenbeziehungen in erinnerungskulturellen Prozessen. Im Fokus steht also der Zusammenhang von „Außenbeziehungen und Erinnerung“.
Die Beschäftigung mit „Außenbeziehungen und Erinnerung“ bildet nicht nur einen ausgewiesenen Forschungsschwerpunkt des Lehrstuhls, sondern steht auch im Mittelpunkt des interdisziplinären Lehr- und Forschungsprojekts „Memory Matters?! Kollektives Erinnern und Außenpolitik“, das Caroline Rothauge (Neuere und Neueste Geschichte) und Andreas N. Ludwig (Internationale Beziehungen) im Oktober 2016 an der Geschichts- und Gesellschaftswissenschaftlichen Fakultät der KU initiiert haben. https://doi.org/10.1515/9783110726442-001
2
Caroline Rothauge, Friedrich Kießling und Andreas N. Ludwig
Um diesen Zusammenhang zu untersuchen, greifen die Beitragenden auf Konzepte der kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung zurück. Der spätestens für die 1980er Jahre in westlichen Ländern konstatierte memory boom ² ging mit einem nicht zuletzt akademischen Interesse an der Erforschung von Bezugnahmen auf Vergangenheit einher.³ Im deutschsprachigen Raum machte er sich vor allem in der Wiederentdeckung der Studien zum mémoire collective bemerkbar, welche der Soziologe Maurice Halbwachs bereits Mitte der 1920er Jahre veröffentlicht hatte.⁴ Begriffe wie der des „kollektiven Gedächtnisses“, das sich in ein „kulturelles“ und ein „kommunikatives“ unterteile,⁵ oder die Vorstellung „zweier komplementärer Modi der Erinnerung“,⁶ im Zuge derer ein „Funktions-“ von einem „Speichergedächtnis“ unterschieden werden müsse, fanden hier ab den 1990er Jahren durch die zahlreichen Publikationen des Ehepaars Assmann Verbreitung.⁷ Nach wie vor wird mithilfe dieser Begrifflichkeiten untersucht, wie Kollektive – vor allem Gesellschaften, aber beispielsweise auch Familien oder Vereine – mit vergangenen Ereignissen und Prozessen oder historischen Persönlichkeiten umgehen. Als gemeinsamer Nenner sämtlicher Formen kollektiven Erinnerns gilt dabei, dass Auswahl und Präsentation vergangener Aspekte immer nur Folgen einer Entscheidung in einer spezifischen Gegenwart sein können: Welche Individuen, Ereignisse oder Zusammenhänge erinnert werden und wie, ist an den jeweils aktuellen Kontext gebunden.⁸ Das bedeutet auch, dass es stets Aspekte und Personen der Vergangenheit gibt, die nicht erinnert werden – was
Den Ausdruck prägte der Literaturwissenschaftler Andreas Huyssen: Andreas Huyssen, Twilight Memories. Marking Time in a Culture of Amnesia, London 1995. Vgl. Jay Winter, Notes on the Memory Boom. War, Remembrance and the Uses of the Past, in: Duncan Bell (Hg.), Memory, Trauma and World Politics. Reflections on the Relationship Between Past and Present, London 2006, S. 54– 73, hier S. 60 – 62. Zum aktuellen Stand der Professionalisierung bzw. Institutionalisierung der (cultural) memory studies und den Herausforderungen, mit denen sich entsprechend spezialisierte Forscherinnen und Forscher konfrontiert sehen: Vgl. Anamaria Dutceac Segesten u. Jenny Wüstenberg, Memory Studies: The State of an Emergent Field, in: Memory Studies 10/4. 2017, S. 474– 489. Maurice Halbwachs, Les cadres sociaux de la mémoire, Paris 1976 [1925]. Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1992. Aleida Assmann, Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 1999, S. 134. Zusammenfassend, und dabei über den deutschsprachigen Kontext hinausgehend: Vgl. Susannah Radstone u. Bill Schwarz (Hg.), Memory. History, Theories, Debates, New York 2010; Jeffrey K. Olick, Vered Vinitzky-Seroussi u. Daniel Levy (Hg.), The Collective Memory Reader, Oxford 2011. Vgl. Wulf Kansteiner, Finding Meaning in Memory. A Methodological Critique of Collective Memory Studies, in: History and Memory 41. 2002, S. 179 – 197, hier S. 188.
Einleitung
3
jedoch nicht mit „Vergessen“ gleichzusetzen ist.⁹ Im Rahmen der kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung sind Forscherinnen und Forscher somit primär daran interessiert zu untersuchen, wer sich wann, wie, warum und mit welchen Konsequenzen auf Vergangenes bezieht. Für die sogenannten (cultural) memory studies der 1980er/1990er Jahre waren Studien zu spezifisch „nationalen“ Ausprägungen von Erinnerungskulturen emblematisch.¹⁰ Sie betonen zumeist, dass sich über Bezugnahmen auf Vergangenes innerhalb einer spezifischen Gruppe „kollektive Identität“ herstellen lässt,¹¹ die sich wiederum als konstitutiv für aktuelle beziehungsweise zukünftige Handlungen eben dieser Gruppe erweist. Seit Mitte der 2000er Jahre wird mithilfe des Begriffs der „Erinnerungskulturen“ in den deutschen Kulturwissenschaften allerdings die dynamische Prozesshaftigkeit und Heterogenität kollektiver Formen des Umgangs mit Vergangenheit stärker betont.¹² Rein semantisch betrachtet spricht für den Begriff des „Erinnerns“, dass er den Fokus auf Akteure zu richten hilft und weniger an „Gedächtnis“ als eine Art abstrakt funktionierendes „storage-retrieval-System“ denken lässt, in dem Vergangenheit konserviert und bei Bedarf beziehungsweise auf Abruf in unveränderter Form wieder ausgegeben wird.Vor allem aber vermag ein Konzept von Erinnerungskulturen deren Pluralität und ihr Konfliktpotenzial herauszustellen, wodurch „das Moment des funktionalen Gebrauchs von Vergangenheit für gegenwärtige Zwecke“¹³ noch mehr Gewicht erhält.
Generell ist ein Problem der kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung, dass sie sich höchst metaphorischer Begrifflichkeiten bedient, die aus der Individualpsychologie stammen. Wörter wie „Gedächtnis“, „Erinnern“, „Vergessen“ oder – besonders im deutschen Kontext prominent vertreten – das „Bewältigen“ einer als „traumatisch“ empfundenen Vergangenheit legen irrigerweise nahe, soziokulturelle Prozesse innerhalb eines Kollektivs vollzögen sich ähnlich wie bei einzelnen Menschen. Doch Gruppen, Gesellschaften oder Nationen besitzen kein Gehirn und Erinnerungskulturforschung ist keine Neurologie: Vgl. Martin Zierold, Gesellschaftliche Erinnerung. Eine medienkulturwissenschaftliche Perspektive, Berlin 2006, S. 66, S. 84 u. S. 88 – 91. Diese Konjunktur maßgeblich befördert hat: Pierre Nora, Les lieux de mémoire, Paris 1984– 1992 [3 Bde.]. Vgl. Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, S. 30 u. S. 132. Auf derart „imagined communities“ hat Anderson bereits 1983 hingewiesen: Vgl. Benedict Anderson, Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts, Frankfurt, erw. Neuausgabe 1996. Die prozessorientierte kulturwissenschaftliche Erinnerungsforschung geht im deutschsprachigen Raum maßgeblich auf die interdisziplinäre Arbeit des Gießener Sonderforschungsbereichs 434 „Erinnerungskulturen“ (1997 bis 2008) zurück, wobei die Anglistin Astrid Erll als besonders prominente Vertreterin zu nennen ist: Vgl. Astrid Erll, Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung, Stuttgart 42017. Christoph Cornelißen, Erinnerungskulturen.Version 2.0, http://docupedia.de/zg/Erinnerungs kulturen_Version_2.0_Christoph_Corneli%C3%9Fen.
4
Caroline Rothauge, Friedrich Kießling und Andreas N. Ludwig
Individuen sind stets gleichzeitig Teil mehrerer – privater wie öffentlicher – „Erinnerungsgemeinschaften“.¹⁴ Gerade in offenen, pluralistischen Gesellschaften konkurrieren mehrere Interpretationen von Vergangenem miteinander. Aber auch „transkulturell“¹⁵ betrachtet, beeinflussen sich Bezugnahmen auf ganz unterschiedliche vergangene Ereignisse oder Episoden gegenseitig, können sich stützen oder aber untergraben.¹⁶ Es gibt zwar dominante Lesarten: zumeist diejenigen, die offiziell gefördert werden und dabei auf Dauer angelegt sind. Diese mögen besonders anlässlich bestimmter Gedenktage einen „kollektiv“ stark geteilten Eindruck vermitteln, stehen aber beispielsweise mit bestimmten Familiengedächtnissen in Widerspruch.¹⁷ So gesehen, scheitern „Erinnerungspolitiken“¹⁸ durchaus regelmäßig beziehungsweise können sich umgekehrt bestimmte
Während Jan Assmann bereits 1992 – in Anschluss an Pierre Nora – von „Gedächtnisgemeinschaften“ gesprochen hat, geht der Begriff „Erinnerungsgemeinschaft“ auf Zerubavels Konzept der „mnemonic communities“ zurück: Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, S. 30; Eviatar Zerubavel, Time maps. Collective Memory and the Social Shape of the Past, Chicago 2003. Astrid Erll, Travelling Memory, in: Parallax 17/4. 2011, S. 4– 18, hier S. 9: „transcultural“. Vgl. Andreas Huyssen, Present Pasts. Urban Palimpsests and the Politics of Memory, Stanford, CA 2003; Daniel Levy u. Natan Sznaider, The Holocaust and Memory in the Global Age, Philadelphia 2006; Michael Rothberg, Multidirectional Memory. Remembering the Holocaust in the Age of Decolonization, Stanford, CA 2009; Susannah Radstone, What Place Is This? Transcultural Memory and the Locations of Memory Studies, in: Parallax 17/4. 2011, S. 109 – 123; Ljiljana Radonić u. Heidemarie Uhl (Hg.), Gedächtnis im 21. Jahrhundert. Zur Neuverhandlung eines kulturwissenschaftlichen Leitbegriffs, Bielefeld 2016. Dieses Interesse an den Wechselbeziehungen zwischen unterschiedlichen Erinnerungen markiere eine dritte Phase in der kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung: Erll, Travelling Memory, S. 15. Aus u. a. geschichtswissenschaftlicher Warte: Vgl. Winter, Notes on the Memory Boom, S. 55; Gregor Feindt u. a., Entangled Memory. Toward a Third Wave in Memory Studies, in: History and Theory 53. 2014, S. 24– 44. Zu den Differenzen zwischen offiziellen Bezugnahmen auf die NS-Vergangenheit in Deutschland, wie sie einerseits bspw. im Schulunterricht präsentiert werden, und Erinnerungen, wie sie andererseits in Familien kursieren: Vgl. Harald Welzer, Sabine Moller u. Karoline Tschugnall, „Opa war kein Nazi“. Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis, Frankfurt 32002. Der Begriff der „Erinnerungspolitiken“ betont die Bedeutung von strategischen Bezugnahmen auf Vergangenheit für politische Ziele, wobei hier als Akteure nicht nur bestimmte Eliten, sondern auch andere, möglicherweise transnational agierende, zivilgesellschaftliche Gruppierungen in den Blick genommen werden: Vgl. Michael Kohlstruck, Erinnerungspolitik. Kollektive Identität, Neue Ordnung, Diskurshegemonie, in: Birgit Schwelling (Hg.), Politikwissenschaft als Kulturwissenschaft. Theorien, Methoden, Problemstellungen, Wiesbaden 2004, S. 173 – 194. Im Gegensatz zu „Geschichtspolitik“ bietet der Begriff der „Erinnerungspolitiken“ die semantische Genauigkeit, dass Kollektive sich eben auf Vergangenheit beziehen und nicht auf „Geschichte“.
Einleitung
5
erinnerungspolitische Lesarten durchsetzen, die lange unbeachtet geblieben sind.¹⁹ Im Zuge des cultural turn der letzten vierzig Jahre haben Konzepte wie das des „kollektiven Gedächtnisses“ und später der „Erinnerungskulturen“ Forschungsperspektiven der (Neuen) Kulturgeschichte geprägt. Sie haben hier mittlerweile einen zentralen Stellenwert inne.²⁰ Daneben haben sie fachspezifische konzeptuelle Überlegungen angestoßen,²¹ die sich unter anderem in Begrifflichkeiten wie „Erinnerungsorten“,²² „Vergangenheitspolitik“²³ oder „Geschichtspolitik“²⁴ und „Public History“²⁵ niederschlagen. Darüber hinaus äußern sie sich in zu-
Wie z. B. in Spanien, wo die Bestrebungen und Aktionen des Vereins für die „Rückgewinnung der historischen Erinnerung“ sowohl die offiziellen Erinnerungspolitiken als auch populärkulturelle Formen des Vergangenheitsbezugs seit den Nullerjahren zunehmend zu beeinflussen vermochten: Vgl. Caroline Rothauge, Zweite Republik, Spanischer Bürgerkrieg und frühe FrancoDiktatur in Film und Fernsehen. Erinnerungskulturen und Geschichtsdarstellungen in Spanien zwischen 1996 und 2011, Göttingen 2014. Zum Aufstieg des Konzeptes „Erinnerungskulturen“ in der Neuen Kulturgeschichte: Vgl. bspw. Cornelißen, Erinnerungskulturen; Ute Schneider, Geschichte der Erinnerungskulturen, in: Christoph Cornelißen (Hg.), Geschichtswissenschaften. Eine Einführung, Frankfurt 2004, S. 259 – 270. Beispiele hierfür: Lutz Niethammer, Gedächtnis und Geschichte. Erinnernde Historie und die Macht des kollektiven Gedächtnisses, in: Werkstatt Geschichte 30. 2001, S. 32– 37; Christoph Cornelißen, Was heißt Erinnerungskultur? Begriff, Methoden, Perspektiven, in: GWU 54. 2003, S. 548 – 563. Das Konzept der lieux de mémoire geht auf den französischen Historiker Nora zurück: Nora, Les lieux de mémoire. Zu deutschen Erinnerungsorten als „Kristallisationskerne[n] des […] kollektiven Gedächtnisses“, und dies nicht in einem ausschließlich geographischen oder materiellen Sinne: Vgl. Etienne Francois u. Hagen Schulze, Einleitung, in: Dies. (Hg.), Deutsche Erinnerungsorte. Eine Auswahl, Berlin 2005, S. 8. Die Wortschöpfung „Vergangenheitspolitik“ geht auf Norbert Frei zurück und diente ursprünglich der Bezeichnung eines konkreten historischen Phänomens, nämlich dem des Umgangs mit dem NS-Regime in Westdeutschland nach 1945: Vgl. Norbert Frei, Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit, München 1996. Das Aufkommen des Begriffs „Geschichtspolitik“ wird im deutschsprachigen Raum dem sogenannten „Historikerstreit“ Mitte der 1980er Jahre zugeordnet, wo er genutzt worden ist, um eine bestimmte Form (neo‐)konservativer Geschichtsschreibung zu bezeichnen – in seinen Ursprüngen war es daher mehr ein ideologisches als ein analytisches Konzept: Vgl. Stefan Troebst, Geschichtspolitik, http://docupedia.de/zg/Geschichtspolitik; Edgar Wolfrum, Geschichtspolitik in der Bundesrepublik Deutschland. Der Weg zur bundesrepublikanischen Erinnerung 1948 – 1990, Darmstadt 1999. Laut Irmgard Zündorf umfasst „Public History“ als Begriff „neben der Analyse auch die Vermittlung von Geschichte in der Öffentlichkeit“. Sie ist demnach stärker als ein „Anwendungsfeld“ zu verstehen, das den „Praxisbereich und dessen Rückwirkung auf die Geschichts-
6
Caroline Rothauge, Friedrich Kießling und Andreas N. Ludwig
nehmend selbstreflexiven Arbeiten zur Rolle der Vertreterinnen und Vertreter der historischen Zunft selbst, sind Historikerinnen und Historiker doch – wenn auch um größtmögliche Objektivität bemüht und nach spezifischen methodischen Standards operierend – „integraler Bestandteil“²⁶ von Erinnerungskulturen und durch bestimmte Erinnerungspolitiken in ihrer Arbeit beeinflusst.²⁷ Über Forschungsperspektiven der (Neuen) Kulturgeschichte hinaus ist die Frage nach dem Umgang mit vergangenen Ereignissen in historiographischen Arbeiten heute verbreitet,²⁸ wobei der Untersuchung (trans‐)nationaler Erinnerungskonflikte beziehungsweise von Erinnerungskonkurrenzen auf globaler Ebene sowie den damit verbundenen Akteuren und Legitimationsstrategien ein zentraler Stellenwert zukommt.²⁹ Ein generell zunehmendes Interesse für Fragen nach Wahrnehmungen und Bedeutungszuschreibungen sowie für Aspekte des Kulturtransfers hat seit den späten 1990er Jahren auch zu einer Erweiterung des Analyseinteresses und -schwerpunkts der Internationalen Geschichte beigetragen.³⁰ Insgesamt betrachtet wenden sich ihre Vertreterinnen und Vertreter mitt-
wissenschaft mit ein[bezieht]“: Irmgard Zündorf, Public History. Version 2.0, https://docupedia. de/zg/Zuendorf_public_history_v2_de_2016. Cornelißen, Erinnerungskulturen. Vgl. bspw. Christiane Bürger, Deutsche Kolonialgeschichte(n). Der Genozid in Namibia und die Geschichtsschreibung der DDR und BRD, Bielefeld 2017. Vgl. Alan Confino, History and Memory, in: Axel Schneider u. Daniel Woolf (Hg.), The Oxford History of Historical Writing. V: Historical Writing since 1945. Oxford 2011, S. 36 – 51. Vgl. u. a. Jan Eckel u. Claudia Moisel (Hg.), Universalisierung des Holocaust? Erinnerungskultur und Geschichtspolitik in internationaler Perspektive, Göttingen 2008; Aleida Assmann u. Sebastian Conrad (Hg.), Memory in a Global Age, Discourses, Practices and Trajectories, Basingstoke 2010; Nina Elsemann, Umkämpfte Erinnerungen. Die Bedeutung lateinamerikanischer Erfahrungen für die spanische Geschichtspolitik nach Franco, Frankfurt 2010; Thomas Lindenberger u. Muriel Blaive, Zeitgeschichte und Erinnerungskonflikte in Europa, in: APuZ 62/1– 3. 2012, S. 21– 27; Ulf Engel, Matthias Middell u. Stefan Troebst (Hg.), Erinnerungskulturen in transnationaler Perspektive, Leipzig 2012; Yvonne Robel, Verhandlungssache Genozid. Zur Dynamik geschichtspolitischer Deutungskämpfe, München 2013; Annette Weinke, Gewalt, Geschichte, Gerechtigkeit. Transnationale Debatten über deutsche Staatsverbrechen im 20. Jahrhundert, Göttingen 2016. Vgl. Friedrich Kießling, Der „Dialog der Taubstummen“ ist vorbei. Neue Ansätze in der Geschichte der internationalen Beziehungen des 19. und 20. Jahrhunderts, in: HZ 275. 2002, S. 651– 680; Jessica C. E. Gienow-Hecht u. Frank Schumacher (Hg.), Culture and International History, New York 2003; Eckart Conze, Guido Müller u. Ulrich Lappenküper (Hg.), Geschichte der internationalen Beziehungen. Erneuerung und Erweiterung einer historischen Disziplin, Köln 2004; Reiner Marcowitz, Von der Diplomatiegeschichte zur Geschichte der internationalen Beziehungen. Methoden, Themen, Perspektiven einer historischen Teildisziplin, in: Francia. Forschungen zur westeuropäischen Geschichte 32/3. 2005, S. 75 – 100. Aus politikwissenschaftlicher Perspektive: Ursula Lehmkuhl, Diplomatiegeschichte als internationale Kulturgeschichte: Theoretische
Einleitung
7
lerweile der Rolle von Erinnerungen bei der Formulierung von und in der gesellschaftlichen Verständigung über Außenpolitik sowie in Praktiken der Außenbeziehungen zu.³¹ In der politikwissenschaftlichen Teildisziplin der Internationalen Beziehungen wiederum lässt sich ebenfalls eine langsam wachsende Auseinandersetzung mit „Gedächtnis“ und „Erinnerung“ beobachten.³² Derartige Überlegungen korrespondieren mit dem auch hier feststellbaren cultural turn. ³³ Im Zuge der dritten großen Theoriedebatte³⁴ hat in diesem Rahmen insbesondere die These Anhängerinnen und Anhänger gewonnen, dass außenpolitisches Entscheidungshandeln primär durch immaterielle, soziokulturelle Konstrukte einer
Ansätze und empirische Forschung zwischen Historischer Kulturwissenschaft und Soziologischem Institutionalismus, in: GG 27/3. 2001, S. 394– 423. Vgl. Patrick Finney, The Ubiquitous Presence of the Past? Collective Memory and International History, in: The International History Review 36. 2014, S. 443 – 472; Caroline Klausing u.Verena von Wiczlinski (Hg.), Die Napoleonischen Kriege in der europäischen Erinnerung, Bielefeld 2017; Margaret MacMillan u. Patrick Quinton-Brown, The Uses of History in International Society. From the Paris Peace Conference to the Present, in: International Affairs 95. 2019, S. 181– 200. In den IB begannen sich im Laufe der 2010er Jahre gar Ansätze eines memory turn abzuzeichnen: Vgl. bspw. Eric Langenbacher u. Yossi Shain (Hg.), Power and the Past. Collective Memory and International Relations, Washington DC 2010, S. 13 – 49; Thomas U. Berger, War, Guilt, and World Politics after World War II, Cambridge, MA 2012; Andrei S. Markovits u. Simon Reich, The German Predicament. Memory and Power in the New Europe, Ithaca, NY 2018; Zheng Wang, Memory Politics, Identity and Conflict. Historical Memory as a Variable, Basingstoke 2018; Krystof Kozák u. a., Memory in Transatlantic Relations. From the Cold War to the Global War on Terror, London 2019. 2018 tauchte das Thema erstmals prominent auf der Agenda wichtiger Konferenzen der Zunft auf, auch führende Zeitschriften zeigten Interesse: Vgl. Australian Journal of Politics & History 63. 2017; Foreign Affairs 97. 2018, S. 2– 43. Insbesondere bei der Beschäftigung mit bilateralen Beziehungen wird die Rolle des Erinnerns jüngst vermehrt thematisiert: Vgl. bspw. Andreas N. Ludwig u. Caroline Rothauge, Memory Matters! Zur Bedeutung des Erinnerns und kollektiver Identitätskonstruktionen in grenzüberschreitenden Beziehungen, in: Klaus Brummer u. Friedrich Kießling (Hg.), Zivilmacht Bundesrepublik? Bundesdeutsche außenpolitische Rollen vor und nach 1989 aus politik- und geschichtswissenschaftlichen Perspektiven, Baden-Baden 2019, S. 235 – 255; Hagen Fleischer, Krieg und Nachkrieg. Das schwierige deutsch-griechische Jahrhundert, Wien 2020; Yaena Kwon, Vergangenheitsbewältigung in den südkoreanisch-japanischen Beziehungen. Ein Vergleich zu Deutschland und Polen, Wiesbaden 2020. Ähnlich wie in der Geschichtswissenschaft wurden infolge des cultural turn in der Politikwissenschaft seit den 1980er Jahren Ansätze der Kulturwissenschaften vermehrt rezipiert: Vgl. bspw. Birgit Schwelling (Hg.), Politikwissenschaft als Kulturwissenschaft. Theorien, Methoden, Problemstellungen,Wiesbaden 2004. Für die IB: Vgl. bspw. Richard Ned Lebow, A Cultural Theory of International Relations, Cambridge 2008; Gabi Schlag, Außenpolitik als Kultur. Diskurse und Praktiken der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik, Wiesbaden 2016, hier S. 33 – 66. Einen Überblick zu den Theoriedebatten der IB liefern bspw. Alexander Siedschlag u. a., Grundelemente der internationalen Politik, Wien 2007, S. 173 – 186.
8
Caroline Rothauge, Friedrich Kießling und Andreas N. Ludwig
Gesellschaft konstituiert wird. Die dynamische, historisch kontingente (Fort‐) Entwicklung derartiger Konstrukte – etwa politische Normen, (nationale) Rollenbilder und Identitäten, oder jüngst eben zunehmend Erinnerungskulturen – stellt seither einen entsprechend wichtigen Analysegegenstand der Disziplin dar. So treffen sich diese Trends in Geschichts- wie Politikwissenschaft in der Prämisse, dass – in den Worten Eckart Conzes – „Außenpolitik Teil des politischen Prozesses und damit ganz unterschiedlichen und vielfältigen gesellschaftlichen Entwicklungen ausgesetzt“³⁵ ist. Als zentral gilt nunmehr die Einsicht in beziehungsweise die Erforschung der vielfältigen Interdependenzen und Vernetzungen zwischen „den verschiedenen Akteuren in den internationalen Beziehungen – staatlichen wie nicht-staatlichen –“³⁶ auf der einen und „Strukturen und zeitgenössischen Vorstellungen“³⁷ auf der anderen Seite. Angesichts dessen ist der vorliegende Sammelband einer generellen Verschiebung des Forschungsinteresses sowohl in der Internationalen Geschichte als auch in einer poststrukturalistischen Perspektive der Internationalen Beziehungen zuzurechnen, die Wilfried Loth wie folgt beschreibt: von den Staaten zu den Gesellschaften, von den Diplomaten zu den öffentlichen Meinungen, von der Machtpolitik zur soft power, von militärischer zu wirtschaftlicher und moralischer Kraft, von der Betrachtung vermeintlich statischer Systeme zur Rekonstruktion ihres permanenten Wandels und der stetigen Verhandlungen, aus denen sie hervorgehen.³⁸
Und genau hier liegt die Bedeutsamkeit der Untersuchung von Bezugnahmen auf Vergangenes in Verbindung mit den komplexen Prozessen von Außenbeziehungen: Wie können Erinnerungen zum Verständnis innergesellschaftlicher Machtverhältnisse beitragen, die auf die inter- beziehungsweise transnationale Aushandlungsebene einwirken? Wie beeinflusst außenpolitisches Handeln wiederum Erinnerungsprozesse innerhalb unterschiedlicher Kollektive? Inwiefern tragen Rekurse auf Vergangenheit zur Klärung bestimmter außenpolitischer Situationen und Phänomene beziehungsweise zu den daraus resultierenden Entscheidungen bei?
Eckart Conze, Zwischen Staatenwelt und Gesellschaftswelt. Die gesellschaftliche Dimension in der Internationalen Geschichte, in: Wilfried Loth u. Jürgen Osterhammel (Hg.), Internationale Geschichte. Themen, Ergebnisse, Aussichten, München 2000, S. 117– 140, hier S. 121. Conze, Zwischen Staatenwelt und Gesellschaftswelt, S. 118. Kießling, Der „Dialog der Taubstummen“ ist vorbei, S. 658. Wilfried Loth, Internationale Geschichte als pluralistisches Programm, in: Barbara HaiderWilson, William D. Godsey u. Wolfgang Mueller (Hg.), Internationale Geschichte in Theorie und Praxis/International History in Theory and Practice, Wien 2017, S. 253 – 264, hier S. 261.
Einleitung
9
In den letzten Jahren haben eine Reihe großer Gedenkjahre und Jubiläen die erinnerungskulturelle Relevanz gerade von außenpolitischen Ereignissen sowohl für die Geschichtswissenschaft als auch für eine breitere Öffentlichkeit hervortreten lassen – etwa der Westfälische Friede 1648 oder der Kriegsausbruch 1914 und weitere Stationen des Ersten Weltkriegs. Nichtsdestotrotz fehlen in neueren Überblickswerken zur Internationalen Geschichte Auseinandersetzungen mit den Potenzialen und Grenzen der Verknüpfung ihrer Untersuchungsgegenstände mit Konzepten und Fragestellungen der kulturwissenschaftlichen Erinnerungsforschung.³⁹ Auch sind die empirischen Forschungen hierzu bislang nicht besonders zahlreich, bleiben häufig unverbunden und haben keine generelleren terminologischen oder konzeptionellen Überlegungen hervorgebracht.⁴⁰ Angesichts dessen liefert der vorliegende Band zunächst einmal eine Reihe verschiedener Beispiele und Befunde für das Verhältnis von „Außenbeziehungen und Erinnerung“. In unterschiedlichem Maße liefern die Beiträge dabei tentativ theoretisch-konzeptionelle Überlegungen, wie sich Aspekte dieses Zusammenhangs systematisieren oder begrifflich fassen ließen. In jedem Fall zeigen die Beiträge, dass das Aufgreifen von Erkenntnissen der kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung eine genauere Beschreibung und somit ein besseres Verständnis für die Wurzeln und Konsequenzen ganz bestimmten außenpolitischen Entscheidungshandelns beziehungsweise komplexer Außenbeziehungen ermöglicht.⁴¹ So eröffnet die Einbindung der (cultural) memory studies in die geschichtsund politikwissenschaftliche Analyse von Außenbeziehungen Forschungsperspektiven, die der Internationalen Geschichte als einem „pluralistische[n] Programm“⁴² zuträglich sind. Aber auch umgekehrt ist der Beitrag zur kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung nicht zu verkennen, sind die Beitragenden dieses Bandes doch Expertinnen und Experten für zwischenstaatliche oder transnationale Beziehungen in Vergangenheit und Gegenwart.
Jost Dülffer u. Wilfried Loth (Hg.), Dimensionen internationaler Geschichte, München 2012; Haider-Wilson, Godsey u. Mueller, Internationale Geschichte in Theorie und Praxis. Vgl. Finney, The Ubiquitous Presence of the Past, S. 443, S. 445 f. u. S. 450 f. Ebd., S. 464. Loth, Internationale Geschichte als pluralistisches Programm, S. 253.
10
Caroline Rothauge, Friedrich Kießling und Andreas N. Ludwig
2 Funktionen, Dynamiken, Reflexionen: Die Beiträge des Bandes Welche Rolle spielen also Erinnerungen in Außenbeziehungen und welche Funktionen, Mechanismen und Dynamiken sind dabei zu erkennen? Die elf Aufsätze des Bandes geben auf diese Fragen vor allem in vier Hinsichten Antworten. Eine erste Gruppe von Beiträgen beschäftigt sich mit dem Eingang von konkreten außenpolitischen Ereignissen in Erinnerungsprozesse. Dabei kann Christoph Kampmann zeigen, wie sich die heute so einflussreiche Vorstellung eines auf den Friedensschlüssen von 1648 basierenden jahrhundertelangen „Westfälischen Systems“ bereits im 18. Jahrhundert in Expertendiskursen wie in der politischdiplomatischen Welt bildete. Voraussetzung dafür war erstens der Aufstieg des Westfälischen Friedens zu einem anerkannten innen- wie außenpolitischen Grundgesetz des Reiches. Zweitens begann der Frieden in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts darüber hinaus zu einem Fundament des europäischen Völkerrechts überhaupt zu werden. Auch Friedensschlüsse, die materiell gar nichts mit 1648 zu tun hatten, wie etwa der zwischen England und Spanien von 1783, rekurrierten nun auf 1648 als eine ihrer Grundlagen. Deutlich wird damit, dass es beim Verweis auf den Westfälischen Frieden längst nicht mehr um konkrete Inhalte ging, sondern ein bestimmtes Konzept der internationalen Beziehungen beziehungsweise des Völkerrechts aufgerufen wurde. Während diese Funktion in der politisch-diplomatischen Sphäre nach 1789 verloren ging, behielt der Westfälische Frieden in der Völkerrechtslehre insbesondere außerhalb der deutschsprachigen Welt seinen grundsätzlichen Modellcharakter, woran die Diskussionen um das „Westphalian System“ in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts anschließen konnten. Zu beachten ist dabei allerdings, wie Kampmann ebenso deutlich macht, dass das in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts oder in den Gelehrtendebatten des 19. Jahrhunderts mit 1648 verbundene Modell keineswegs der heutigen Vorstellung entsprach. Während sich mit dem „Westfälischen System“ gegenwärtig vor allem die Vorstellung einer von Souveränität und Gleichheit der Völkerrechtssubjekte geprägten internationalen Ordnung verbindet, war der Friede von 1648 im 18. Jahrhundert nicht zuletzt wegen seines überkonfessionellen Charakters sowie als Grundlage einer mit dem Reich verbundenen Friedensordnung attraktiv. Aus erinnerungskultureller Perspektive lässt sich dennoch für beide Fälle konstatieren, dass – wie Kampmann schreibt – die „Aufwertung“ von 1648 im 18. wie im späten 20. Jahrhundert jeweils mit einem „grundlegenden Wandel des Völkerrechtsverständnisses“ beziehungsweise mit „neue[n] Denk-
Einleitung
11
muster[n] auswärtiger Politik“ einherging.⁴³ Die Attraktivität des Westfälischen Friedens ergab sich damit jeweils daraus, dass er an grundlegende zeitgenössische Vorstellungen vom Funktionieren internationaler Politik angepasst werden konnte. Gerade diese Verbindung zwischen zeitgenössischen außenpolitischen Grundorientierungen und der Erinnerung an einzelne Ereignisse machte den Krieg von 1866 in Österreich-Ungarn zu einem schwierigen „Erinnerungsort“, verband die Habsburgermonarchie mit dem einstigen Kriegsgegner doch bald ein mehr und mehr als Existenzgrundlage verstandenes Bündnis. Vor diesem Hintergrund kam es, wie Tobias Hirschmüller im zweiten Beitrag konstatiert, in der deutschsprachigen Öffentlichkeit Österreich-Ungarns eigentlich nie zu einer auch nur einigermaßen einheitlichen Sicht auf 1866. Zwar lässt sich der häufig vermutete Umschwung vom „Bruderkrieg“ zur „Waffenbrüderschaft“ im Gedenken an den deutsch-deutschen Krieg in den Quellen durchaus feststellen. Solche Ergebnisse sind aber zeitlich, regional oder je nach politischer Ausrichtung deutlich zu differenzieren. So kam es gerade in sprachlichen beziehungsweise ethnischen Grenzregionen innerhalb der Habsburgermonarchie auf deutsch-österreichischer Seite tendenziell zu einer deutsch-nationalen beziehungsweise rassistisch-nationalistischen Aufladung des Kriegs, der nun als Sieg des „Deutschtums“ interpretiert wurde. In der Arbeiterpresse wiederum markierte 1866 den Anfang vom Ende des höfisch-absolutistischen Regimes und damit der Reaktion in Österreich. In militärischen Kreisen fungierte die Erinnerung an die Niederlage noch Jahrzehnte später als Argument für die notwendige Modernisierung und Aufrüstung der österreich-ungarischen Armee. Selbst 1916, als sich mitten im Ersten Weltkrieg der Krieg von 1866 zum 50. Mal jährte, kam es zu keiner einheitlichen Erinnerung. Die Bandbreite reichte von einem Eingang der Schlacht von Königgrätz in einen österreichischen Hindenburg-Mythos bis zum weitgehenden Verschweigen des deutsch-deutschen Kriegs auch jetzt. Dem Fehlen einer homogenen Narration entsprach dabei, dass die Benennung des Kriegs über den gesamten Zeitraum in Österreich (wie in Deutschland) uneinheitlich blieb. Diese changierte zwischen „Bruderkrieg“ in deutsch-nationalen Kreisen und „preußisch-deutscher Krieg“ in eher antipreußischen Kontexten oder „österreichisch-preußisch-italienischer Krieg“ in österreichischen Schulbüchern. Noch 1966, aus Anlass des hundertjährigen Gedenkens, nannte das „Heeresgeschichtliche Museum“ in Wien einen zur entsprechenden Sonderausstellung herausgegebenen Band „Krieg vor hundert Jahren“ und vermied damit einmal mehr eine genaue inhaltliche Benennung des historischen Ereignisses.
Kampmann in diesem Band, S. 23.
12
Caroline Rothauge, Friedrich Kießling und Andreas N. Ludwig
Sperrte sich der deutsch-deutsche Krieg von 1866 damit noch nach hundert Jahren einem klaren Vergangenheitsbezug, so bemühten sich im Falle von Nixons Staatsbesuch in China 1972 die beteiligten Akteure von vornherein, das außenpolitische Ereignis in ihrem Sinne erinnerungsgängig zu machen. Auch wenn dies kaum überraschend nicht in allen Einzelheiten gelang, wurde der erste Staatsbesuch eines amerikanischen Präsidenten in China, wie die Analyse von Sönke Kunkel deutlich macht, doch zu einem der ikonischen Momente in den internationalen Beziehungen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Stärker als die anderen Beiträge berücksichtigt Kunkel dabei die medialen Dimensionen und medialen Wandlungen der Erinnerungsprozesse. Neben der sorgfältigen Pflege der Erinnerung in Nixons eigenem, ungewöhnlich umfangreichem publizistischen Werk bemühten sich die amerikanische wie die chinesische Seite von Anfang an um ein fernsehtaugliches Bildprogramm, das etwa im Umfeld der zahlreichen späteren Chinabesuche des elder statesman Nixon stets zur Wiederholung bereitstand. Seit den 1980er Jahren schließlich fand der Besuch vermehrt Eingang in die Populärkultur, sei es in Kinofilmen wie Robert Zemeckis’ „Forrest Gump“ und Oliver Stones „Nixon“ oder auch in der 1987 uraufgeführten Minimal Music-Oper „Nixon in China“, die nicht nur in den USA, sondern auch in zahlreichen anderen Ländern erfolgreiche Inszenierungen erlebte. Gerade letztere Formen scheinen laut Kunkel auf einen gewissen kulturellen Wandel des Erinnerns hinzudeuten: Im Medienzeitalter wurde Erinnerung „ephemerer“ und „fluider“ oder auch vieldeutiger. Im Falle von Nixons Staatsbesuch jedenfalls löste sich das Erinnern so zunehmend vom eigentlichen Kontext der chinesischamerikanischen Beziehungen und ihren Wandlungen. Erinnern findet hier seinen Sinn dann weniger als kommentierendes Begleitprogramm zu den politisch-diplomatischen Beziehungen, sondern wird stattdessen zu „kulturelle[n] Erlebnisformen“, bei welchen sich der Unterhaltungswert vorwiegend aus dem „medialen Bekanntheitsgrad“ des Erinnerten ergibt.⁴⁴ Nicht um einzelne Ereignisse, sondern um Konstruktionen ganzer vergangener Epochen geht es in einer zweiten Gruppe von Beiträgen. Zu Beginn dieses Abschnitts untersucht Karsten Ruppert eines der bekanntesten Beispiele für Vergangenheitsbezüge in den modernen Außenbeziehungen, den europäischen Philhellenismus während des griechischen Unabhängigkeitskriegs der 1820er Jahre. Bei aller Skepsis gegenüber der Wirkungsmacht dieser Bewegung auf die konkrete Außenpolitik der europäischen Mächte lehrt das Beispiel doch einiges über die Mobilisierungskraft von Geschichtsbildern bei der gesellschaftlichen Wahrnehmung von außenpolitischen Ereignissen. Auch wenn das aus dem an-
Kunkel in diesem Band, S. 72.
Einleitung
13
tiken Griechenland hergeleitete Idealbild wenig bis gar nichts mit der Realität vor Ort zu tun hatte und dies den Philhellenen und Philhelleninnen im Laufe der Jahre keineswegs verborgen blieb, ist die große und anhaltende Aufmerksamkeit der europäischen Öffentlichkeit für den „griechischen Freiheitskampf“ ohne die historische Konstruktion dennoch kaum zu erklären. Sie machte, wie Ruppert mit Teilen der neueren Forschung argumentiert, den Philhellenismus zu einer der ersten zivilgesellschaftlichen Strömungen im modernen Sinne, der es gelang, am Ende doch spürbaren Einfluss auf den Gang der Ereignisse zu nehmen. Dabei weist der Autor ebenso auf die wichtigen transnationalen Dimensionen sowie die Öffnung der Philhellenen zu zeitgenössischen politischen Problemlagen als Voraussetzungen für diese Wirkung hin. Dessen ungeachtet ist es doch bemerkenswert, dass eines der ersten Beispiele, an dem sich der Einfluss gesellschaftlicher Gruppen auf staatliche Außenpolitik diskutieren lässt, eine Bewegung betrifft, deren erinnerungskulturelle Wurzeln nicht zu leugnen sind. Ein Dreivierteljahrhundert später, bei den Debatten um die deutsche Weltpolitik, die Jonas Klein untersucht, überrascht es dagegen fast schon, wie zurückhaltend Politiker und Intellektuelle im Ganzen dabei waren, ihre Argumente mit Verweisen auf antike Beispiele von (See‐)Machtpolitik anzureichern. Dabei wird – wie in vielen anderen Beiträgen des Bandes auch – bei Klein deutlich, wie arbiträr Vergangenheitsbezüge in zeitgenössisch aktuellen Debatten eingesetzt werden konnten. Mit Beispielen aus der Antike ließ sich ebenso für wie gegen eine verstärkte deutsche Weltpolitik beziehungsweise Flottenrüstung argumentieren. Angesichts dessen sind zwei andere Beobachtungen von Klein bemerkenswert: Bei den historischen Bezügen ging es zum einen nicht nur um inhaltliche Argumente. Mit einer inzwischen geläufigen Unterscheidung aus der Kommunikationslehre ist neben dem Sachbezug gerade bei öffentlichen Äußerungen ebenfalls der Sozial- sowie der Selbstbezug historischer Anleihen zu beachten. In Kleins Terminologie ging es nicht zuletzt auch um „gelehrte Ornamentik“,⁴⁵ bei der das Aufrufen des historischen Bildungskanons der sozialen Distinktion beziehungsweise Selbstvergewisserung einer außenpolitischen Elite diente. Zum anderen bot der Bezug auf antike außenpolitische Situationen den politischen Beobachtern Sinngebungsangebote in außenpolitisch unübersichtlichen Zeiten. Vielleicht war, so Kleins Überlegung, diese Form der „Kontingenzeinhegung“⁴⁶ durch Geschichte, in Zeiten, in denen Außenpolitik weiterhin vor allem als staatliche Arkanpolitik betrieben (und verstanden) wurde, für die außenstehenden Beobachter und politischen Kommentatoren sogar besonders wichtig.
Klein in diesem Band, S. 114. Ebd., S. 115.
14
Caroline Rothauge, Friedrich Kießling und Andreas N. Ludwig
Die Vielfalt der möglichen beziehungsweise vermeintlichen Lehren, die aus einem komplexen außenpolitischen Ereignis resultieren können, ist schließlich auch das Thema von Till Knoblochs Beitrag über die Rolle, die die Erinnerung an den Ersten Weltkrieg am Beginn des Zweiten Weltkriegs spielte. Im Unterschied zu anderen Beiträgen geht Knobloch von den individuellen Erinnerungen wichtiger außenpolitischer Akteure aus, bindet diese in einem weiteren Schritt aber wiederum an kollektive Erinnerungsprozesse zurück. Was die Bedeutung solcher Erinnerungsdynamiken für die internationalen Beziehungen der Zwischenkriegszeit anbelangt, wird einmal mehr deutlich, wie unterschiedlich gerade die westlichen Entscheidungsträger auf der einen Seite sowie die NS-Elite und namentlich Adolf Hitler selbst auf der anderen den Krieg „erinnerten“. Brisanz erhielten diese divergierenden Vergangenheitsbezüge dadurch, dass beide Seiten (und mit einem kurzen Blick auf die polnischen Akteure bei Knobloch noch eine dritte Seite) ihre Erinnerung letztendlich eben nicht nur als eine individuelle, sondern als eine überindividuelle oder kollektive konstruierten beziehungsweise, wie Knobloch schreibt, in der Interaktion mit ihren außenpolitischen Gegenübern „antizipierten“.⁴⁷ Das daraus resultierende Nichtverstehen trug zur Verschärfung der diplomatischen Situation am Vorabend des Zweiten Weltkriegs bei. Eine gemeinsame Erinnerung und deren vermeintliche Lehren für die Gegenwart zu postulieren, entpuppte sich als krisentreibende Illusion. Paradoxerweise, so ließe sich folgern, hatten die Akteure dabei durchaus Recht darin, die Vergangenheit in ihre Kalküle einzubeziehen. Bei dem Versuch, diese zu kontrollieren und für die aktuellen Beziehungen nutzbar zu machen, scheiterten sie dann allerdings katastrophal, weil es nur die vielen Geschichten und eben nicht die eine Geschichte des Ersten Weltkriegs gab – und geben konnte. Die damit berührte Frage, wie Vergangenheit für die außenpolitische Gegenwart nutzbar gemacht werden kann und welche Bedingungen und Mechanismen dabei wirken, steht ganz im Zentrum des dritten Abschnitts über „Erinnerung als Argument und Legitimationsressource in Außenbeziehungen“. An dem Beispiel von Christian Wenzel lassen sich dabei vor allem zwei Dinge zeigen. Erstens wird deutlich, wie zentral Vergangenheitsbezüge in den französischspanischen Beziehungen während der französischen Sukzessionskrise im späten 16. Jahrhundert waren. Sowohl französische als auch spanische Vertreter stützten ihre Positionen auf ganz erhebliche Weise auf historische Argumente. Dabei ist es bemerkenswert, dass namentlich die spanische Seite nicht nur – wie vielleicht vermutet werden könnte – den Erbanspruch der spanischen Infantin Isabella Klara Eugenia mit historischen Präzedenzfällen und also im Kern rechtlich un-
Knobloch in diesem Band, S. 131.
Einleitung
15
termauerte, sondern darüber hinaus eine sicherheitspolitische Position entwickelte, in der wiederum historische Argumente eine entscheidende Rolle spielten. Die französische Geschichte zeige, so führte der spanische Gesandte Inigo de Mendoza mit Verweis auf Beispiele aus den letzten knapp 300 Jahren 1593 vor den französischen Generalständen an, dass der Ausschluss der weiblichen Thronfolge konstant zu einer existentiellen Bedrohung der französischen Sicherheit geführt habe. Ob diese im Kern historische Argumentation gelang, hing nun aber zweitens, wie Wenzel in seinem Beitrag konstatiert, maßgeblich von dem Kontext ab, in den sie gestellt wurde. Zwar antwortete das spanische Argument sehr genau auf die innerfranzösische Debatte, in der die Sicherheit des französischen Staats zentral war, es wurde aber sozusagen von der falschen Seite vorgebracht. Als Geschichtsdeutung „von außen“ konnte die spanische Position von deren Gegnern selbst zum Sicherheitsproblem gemacht werden. Das Scheitern der Argumentation Mendozas zeigt damit, so Wenzel, die „Akteursabhängigkeit“⁴⁸ bei der versuchten Nutzung des historischen Arguments. Die Analyse der Bedingungen, unter denen Geschichte erfolgreich als Legitimationsressource bestimmter außenpolitischer Positionen dienen kann, ist auch das Thema des Beitrags von Eric Sangar. Er beschäftigt sich allerdings mit einer ganz anderen historischen Periode und tut dies zudem nicht aus geschichtswissenschaftlicher, sondern aus politologischer Perspektive. Sangars Ausgangspunkt ist die Beobachtung, dass sich etwa seit der Wiedervereinigung die Rekurse auf die deutsche Vergangenheit innerhalb der Begründungen sogenannter strategischer Narrative der bundesdeutschen Außenpolitik erheblich gewandelt haben. Während der Verweis auf die NS-Verbrechen den außenpolitischen Eliten es bis dahin ermöglichte, das Rollenbild der Zivilmacht gesellschaftlich zu etablierten, gelang es nach 1990 deutlich weniger, die nun aktivere deutsche Außenpolitik gleichermaßen durch Verweise auf den Nationalsozialismus plausibel zu machen. Am Anfang des 21. Jahrhunderts hörten die bundesdeutschen außenpolitischen Eliten, so Sangar, sogar weitgehend damit auf, ihre strategischen Narrative mit dem Verweis auf die deutsche Geschichte zu legitimieren. Stattdessen wurde auf überzeitliche Werte, wie die Sicherung des Friedens oder der Menschenrechte, zurückgegriffen. Den Grund für diesen Wandel sieht der Autor in dem Zerfall eines zumindest einigermaßen kohärenten Blicks auf die deutsche Vergangenheit seit den 1980er Jahren. Unter den Bedingungen zunehmend heterogener Geschichtsbilder ließ sich diese Vergangenheit nicht mehr als außenpolitische Legitimationsressource nutzen. Um effektiv zu sein, benötigen Vergangenheitsbezüge, so schließt Sangar, einen erinnerungskultu-
Wenzel in diesem Band, S. 150 und 152.
16
Caroline Rothauge, Friedrich Kießling und Andreas N. Ludwig
rellen Resonanzraum in der Gesellschaft, der im heutigen Deutschland im Unterschied zur alten Bundesrepublik nicht mehr gegeben sei. Geschichte als Legitimationsressource in einem noch ganz anderen Sinne untersucht Anuschka Tischer anhand der Rezeption des Dreißigjährigen Kriegs im nationalsozialistischen Geschichtsbild. Hier geht es nicht um die wahrscheinlich immer heterogenen Geschichtsbilder in offenen Gesellschaften, sondern um die Instrumentalisierung von Vergangenheit innerhalb einer totalitären Propaganda. Anlass, die Erinnerung an den Dreißigjährigen Krieg und den Westfälischen Frieden für die eigene Außenpolitik zu vereinnahmen, bot sich für den Nationalsozialismus im besonderen Maße während des Zweiten Weltkriegs. Die NSPropaganda entwarf ein Bild, wonach die französische Außenpolitik seit dem Dreißigjährigen Krieg konsequent und historisch durchgehend darauf abgezielt habe, Deutschland und Europa zu beherrschen. Der Sieg gegen Frankreich 1940 wurde zur Revanche nicht nur für 1919, sondern auch für 1648. „Das deutsche Volk und sein Führer“ seien im Begriff, schrieb der Völkerrechtsprofessor Friedrich Grimm 1942, „den Dreißigjährigen Krieg zu gewinnen und den Westfälischen Frieden zu überwinden“.⁴⁹ Für 1948 wurde eine „Reichsausstellung“ vorbereitet, die ebenfalls den Zweiten Weltkrieg als endgültige Überwindung der französischen Unterdrückungspolitik seit 1648 präsentieren sollte. Auch wenn sich die Deutung des Dreißigjährigen Kriegs und seines Endes in populären Gesamtdarstellungen der deutschen Geschichte aus der NS-Zeit, die Tischer im Anschluss untersucht, deutlich weniger konsistent darstellte und hier eher viele traditionelle Deutungen aus dem 19. Jahrhundert fortgeschrieben wurden, zeigen die Beispiele der NS-Propaganda aus dem Zweiten Weltkrieg doch, wie weit die Vereinnahmung der Geschichte für die eigenen Zwecke in einem System wie dem Nationalsozialismus gehen konnte. Die eigene Außenpolitik wurde hier als Überwindung einer ideologisch imaginierten Vergangenheit stilisiert. Die letzten beiden Aufsätze des Bandes widmen sich einem Aspekt, der auch in verschiedenen anderen Beiträgen schon berührt wurde: Ereignisse der Außenbeziehungen finden nicht nur Eingang in Erinnerungsprozesse und historische Sinngebungen fungieren nicht nur als außenpolitische Legitimationsressource. Erinnerungen können ebenso selbst Gegenstand von Außenbeziehungen werden. Der Zusammenhang von Erinnerungen und Außenbeziehungen ist dann als ein bi- oder multilaterales, ein inter- oder transnationales Geschehen zu beschreiben. Zum Beispiel geschieht dies an historischen Gedenktagen, wie Yvonne Blomann am Fall der deutsch-französischen Beziehungen in der ersten Hälfte der 1980er Jahre zu zeigen vermag. Den „Umgang mit Vergangenheit in den in-
Grimm 1942; zit. n.: Tischer in diesem Band, S. 180.
Einleitung
17
ternationalen Beziehungen“⁵⁰ beschreibt sie auf drei Ebenen: Zunächst können Vergangenheitsbezüge initiatorische Wirkung in Außenbeziehungen entfalten. Das Treffen zwischen Staatspräsident François Mitterrand und Bundeskanzler Helmut Kohl 1984 in Verdun ist ein prominentes Beispiel dafür. Man traf sich, um zu gedenken, weitere wichtige Programmpunkte gab es nicht. Erinnerung wurde hier selbst zum außenpolitischen Ereignis. Vergangenheitsbezüge werden damit zweitens Teil der außenpolitischen Praktiken. Sie erweitern das Handlungsspektrum, fungieren als Indikatoren, aber auch als Faktoren in bi- oder multilateralen Beziehungen. Es lässt sich auch so ausdrücken: Da Vergangenheitsbezüge in bilateralen Kontexten wie den deutsch-französischen stets ausgehandelt werden müssen, werden sie selbst zum Gegenstand von Außenbeziehungen und bestimmen deren Verlauf mit. Dies geschieht dann – drittens – nicht zuletzt über die gesellschaftliche Rezeption der außenpolitischen Erinnerungspraktiken, wie Blomann an den ganz unterschiedlichen Wirkungen der Besuche von Kohl in Verdun sowie von US-Präsident Ronald Reagan in Bitburg ein Jahr später verdeutlicht. Blomann verweist zudem – in Übereinstimmung mit weiten Teilen der Forschung – auf einen erinnerungskulturellen Boom seit den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts. Diese zunächst jeweils innergesellschaftliche Entwicklung hatte auch Auswirkungen auf die Außenbeziehungen. Vergangenheitsbezüge erfuhren eine Inter- und Transnationalisierung, wie nicht nur an den deutsch-französischen Beziehungen oder den Gedenkfeiern zur hundertjährigen Wiederkehr des Ersten Weltkriegs gezeigt werden kann. Auch im deutsch-belarussischen Verhältnis, dem sich Kristiane Janeke zuwendet, fungiert Erinnerung als ein wichtiger Teil der beiderseitigen Beziehungen. Der Beitrag legt am Beispiel der Gestaltung der NS-Vernichtungsstätte Malyj Trostenec als einer Erinnerungslandschaft anschaulich dar, wie kompliziert sich die entsprechenden Aushandlungsprozesse im konkreten Fall gestalten. Auch Janeke fragt, inwieweit das Bemühen um eine gemeinsame Erinnerung die Verständigung fördern und inwieweit dabei von einer Transnationalisierung der Erinnerungskultur gesprochen werden kann. Im Ergebnis werden vor allem die dabei notwendigen und äußerst schwierigen Aushandlungsprozesse deutlich. Nicht nur existieren in den beteiligten Gesellschaften sehr unterschiedliche Bezugnahmen auf Vergangenheit; Erinnerung ist ebenso mit ganz unterschiedlichen Erwartungen, Praktiken und gesellschaftlichen wie außenpolitischen Zielen verknüpft. Die angesichts dieser Ausgangslage notwendigen Kompromisse sorgten etwa dafür, dass sich Österreich, das aufgrund der großen Zahl der in Trostenec ermordeten österreichischen Juden als
Blomann in diesem Band, S. 195 und 197.
18
Caroline Rothauge, Friedrich Kießling und Andreas N. Ludwig
dritter Partner beteiligt war, teilweise aus der Kooperation zurückzog. Janeke selbst plädiert am Ende ihrer Überlegungen dafür, die Aufmerksamkeit, die der Gedenkort inzwischen erreicht hat, für weitere ideologisch unabhängige Forschungen und so auch zur Überwindung der gerade in Deutschland verbreiteten Unkenntnis der Vergangenheit Belarus’ zu nutzen. Darüber hinaus ginge es um weitere Bildungsarbeit vor Ort, die nicht zuletzt den wechselvollen Umgang mit dem Erinnerungsort Trostenec in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg bis heute thematisiert. Schließlich wird es ohne Toleranz und Verständnis für den jeweils anderen Umgang mit der Vergangenheit nicht gehen. Dies gilt ausdrücklich, so Janeke, für die deutsche Seite, die erkennen sollte, dass ihr offizieller erinnerungskultureller Weg nicht der alleinige Maßstab sein kann. Die den Band abschließende Diskussion greift im Rückblick auf das Gedenken an den Ersten Weltkrieg in den letzten Jahren viele der in den Einzelbeiträgen berührten Aspekte auf. Das gilt für die sich wandelnden erinnerungskulturellen Formen ebenso wie für den vermeintlichen oder tatsächlichen aktuellen memory boom, die Frage nach einer Transnationalisierung von Erinnerung oder auch die Versuche, aus der Erinnerung an den Ersten Weltkrieg Lehren für die außenpolitische Situation der Gegenwart zu ziehen. Darüber hinaus fragt die Diskussion danach, welche Rolle Historikerinnen und Historiker in dem zurückliegenden Gedenken an den Ersten Weltkrieg gespielt haben. Da auch die Geschichtswissenschaft Teil erinnerungskultureller Prozesse ist, steht ihr die reflektierende Rückschau auf diese Rolle gut an.
Teil I: Außenpolitische Ereignisse in Erinnerungsprozessen
Christoph Kampmann
Der Westfälische Friede als Fundament von Völkerrecht und Staatenpolitik. Präfigurationen des „Westfälischen Systems“ im 18. Jahrhundert Der Westfälische Friede von 1648 bietet zahlreiche Ansatzpunkte für eine Auseinandersetzung mit der Thematik „Außenbeziehungen und Erinnerung“.¹ Große Aufmerksamkeit der Forschung findet schon seit Längerem der radikale Wandel bei der Beurteilung dieses Friedens in der deutschsprachigen Geschichtsschreibung – ein Wandel, in dem sich die verändernden Hoffnungen und Zielvorstellungen der außenpolitischen Position Deutschlands in Europa spiegeln.² Im Mittelpunkt der folgenden Ausführungen soll eine einflussreiche Interpretation des Friedens in der internationalen Politik- und Völkerrechtswissenschaft stehen, jene des „Westphalian System“ beziehungsweise, präziser formuliert: die bislang nur wenig beachteten älteren Wurzeln dieser Vorstellung im 18. Jahrhundert. Die Denkfigur des „Westphalian System“ basiert auf einer spezifischen Deutung des Westfälischen Friedens als zentraler Zäsur in der Geschichte des internationalen Staatensystems. Seit dem Friedensschluss von 1648 bis mindestens 1919 seien die Staatenbeziehungen von den Prinzipien der Souveränität und der Egalität der Völkerrechtssubjekte geprägt gewesen, die keine übergeordnete Gewalt mehr in politischer oder religiöser Hinsicht akzeptiert und sich in erbitterter Konkurrenz um ökonomischen Einfluss und territorialen, auch kolonialen Besitz gegenübergestanden hätten. In dieser Hinsicht sei der West-
Aus Platzgründen wird der Belegapparat auf das notwendige Maß beschränkt und auf Quellenzitate in den Fußnoten weitgehend verzichtet. Für ausführlichere Darlegungen: Vgl. Christoph Kampmann, Der Westfälische Friede als Grundlage von Völkerfrieden und Völkerrecht: Frühneuzeitliche Wurzeln einer Vorstellung, in: Katrin Keller u. Martin Scheutz (Hg.), Die Habsburgermonarchie und der Dreißigjährige Krieg, Wien 2020, S. 419 – 432; Ders., „The Treaty of Westphalia as Peace Settlement and Political Concept. From a German Security System to the Constitution of International Law“, in: Marc Weller u. a. (Hg.), International Law and Peace Settlements, Cambridge 2021, S. 64– 85. Zum Wandel der Beurteilung des Westfälischen Friedens in der deutschsprachigen Geschichtsschreibung, unter Bezug auf die jeweiligen politischen Leitbilder und Zielvorstellungen, liegt inzwischen eine recht breite Literatur vor: Vgl. zuletzt (mit weiterer Literatur) Siegrid Westphal, Der Westfälische Friede, München 2015; Barbara Rommé (Hg.), Ein Grund zum Feiern? Münster und der Westfälische Friede, Dresden 2018. https://doi.org/10.1515/9783110726442-003
22
Christoph Kampmann
fälische Friede daher – so die charakteristische, in zahllosen Variationen immer wieder anzutreffende Formulierung einer einschlägigen politikwissenschaftlichen Überblicksdarstellung – als „normative structure or constitution of the modern world order“³ zu betrachten. Seit einiger Zeit setzt sich die einschlägige Frühneuzeitforschung kritisch mit der Denkfigur des „Westfälischen Systems“ auseinander, deren Problematik deutlich herausgearbeitet worden ist. Zunächst war der Westfälische Friede kein Friede mit universalem beziehungsweise globalem Geltungsanspruch, sondern im Prinzip auf das Heilige Römische Reich deutscher Nation beschränkt; dort schuf er eine halbwegs stabile Sicherheitsordnung, während der Krieg im übrigen Europa, zum Teil im unmittelbaren territorialen Umfeld des Reiches, unvermindert weiterging. Darüber hinaus war der Westfälische Friede in keiner Weise „modern“ im oben skizzierten Sinne, also im Sinne von Souveränität und Gleichheit der Völkerrechtssubjekte. Im Gegenteil: Die Grenzen zwischen Innen und Außen waren in diesem Frieden gar nicht klar gezogen, viel weniger klar jedenfalls als in vielen Friedensverträgen zuvor.⁴ Im Folgenden geht es also nicht darum, den „Mythos“⁵ eines „Westfälischen Systems“ ein weiteres Mal zu dekonstruieren, sondern der Entstehung der Vorstellung vom Westfälischen Frieden als Grundverfassung von Völkerrecht und Staatensystem nachzuspüren. Nach bisherigem Stand der Forschung ist die Vorstellung, dass der Westfälische Friede als die fundamentale Zäsur in der Geschichte des Staatensystems hin
Anthony McGrew, Globalization and Global Politics, in: John Baylis, Steve Smith u. Patricia Owensa (Hg.), The Globalization of World Politics. An Introduction to International Relations, Oxford 2005, S. 14– 31, hier S. 23. Vgl. Heinz Duchhardt, Das „Westfälische System“. Realität und Mythos, in: Ders., Frieden im Europa der Vormoderne. Ausgewählte Aufsätze, hg. und eingel. von Martin Espenhorst, Paderborn 2012, S. 150 – 159; Heinhard Steiger, Der Westfälische Friede – Grundgesetz für Europa?, in: Heinz Duchhardt (Hg.), Der Westfälische Friede. Diplomatie – politische Zäsur – kulturelles Umfeld – Rezeptionsgeschichte, München 1998, S. 33 – 80; Heinz Duchhardt, Peace Treaties from Westphalia to the Revolutionary Era, in: Randall Lesaffer (Hg.), Peace Treaties and International Law in European History. From the Late Middle Ages to World War One, Cambridge 2004, S. 45 – 58; Christoph Kampmann, Das „Westfälische System“, die Glorreiche Revolution und die Interventionsproblematik, in: HJb 131. 2011, S. 65 – 92; Randall Lesaffer, Peace Treaties from Lodi to Westphalia, in: Ebd., S. 9 – 44, hier S. 9 f.; Brendan Simms, „A False Principle in the Law of Nations“. Burke, State Sovereignty, [German] Liberty and Intervention in the Age of Westphalia, in: Brendan Simms u. David J. B. Trim (Hg.), Humanitarian Intervention. A History, Cambridge 2011, S. 89 – 110; Peter M. Stirk, The Westphalian Model and Sovereign Equality. Review of International Studies 38. 2012, S. 641– 660, hier S. 642 f. Die Formulierung vom „Mythos“ des Westfälischen Friedens wurde – wenn ich richtig sehe – erstmals verwendet von Benno Teschke, The Myth of 1648. Class, Geopolitics and the Making of Modern International Relations, London 2009.
Der Westfälische Friede als Fundament von Völkerrecht und Staatenpolitik
23
zu „moderner“ Souveränität und Egalität anzusehen sei, nach dem Zweiten Weltkrieg, in den 1940er Jahren entstanden,⁶ wobei der in die Vereinigten Staaten emigrierte Völkerrechtswissenschaftler Leo Gross (1903 – 1990) als entscheidender Ideengeber gilt.⁷ Eine genauere Analyse freilich zeigt, dass die Wurzeln dieser Vorstellung weit älter und bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts zurückzuverfolgen sind. Dabei waren es politische Philosophen, Völkerrechtler, vor allem aber politisch-diplomatische Praktiker, die zur Entstehung dieser Vorstellung beigetragen haben. Dieser Vorgang ist über den Einzelfall hinaus für den in diesem Band betrachteten Gesamtzusammenhang von Interesse. So wird deutlich, wie eng die Aufwertung des Westfälischen Friedens seit der Mitte des 18. Jahrhunderts mit einem grundlegenden Wandel des Völkerrechtsverständnisses verbunden war – einem Wandel, der sowohl in der gelehrten Literatur als auch in der politisch-diplomatischen Praxis greifbar ist. Exemplarisch wird so deutlich, dass die Analyse erinnerungskultureller Wandlungsprozesse Einblicke geben kann, wie neue Denkmuster auswärtiger Politik entstehen und Einfluss gewinnen. Dies verweist auf einen zweiten Punkt. Die Hauptakteure bei dieser Entwicklung waren keineswegs in erster Linie die gelehrten Geschichtsschreiber. Der Anstoß ging vielmehr von der aktualitätsbezogenen, durchaus kontroversen politischen Diskussion aus, die dann ihrerseits die Geschichtsschreibung beeinflusst hat. Die folgenden Darlegungen gliedern sich in zwei unterschiedlich gewichtete Schritte: Zunächst folgt ein kurzer Blick auf den Aufstieg des Westfälischen Friedens zur Lex Fundamentalis Imperii – ein Aufstieg, der sich sowohl in der politischen Sprache des Reiches selbst als auch in jener des Völkervertragsrechts vollzog. Ohne diesen Vorgang wäre die Entwicklung nicht zu verstehen, um die es dann im zweiten, entscheidenden Teil der vorliegenden Ausführungen geht, nämlich die Transformation dieser Vorstellung und der Aufstieg des Westfälischen Friedens zur Grundverfassung des gesamtchristlichen beziehungsweise gesamteuropäischen Staatensystems im 18. Jahrhundert.
Jüngst in diesem Sinne: Vgl. Martin Hardsted, The Westphalian Peace Congress. Understanding and Consequences from a Swedish Perspective, in: Dorothée Goetze u. Lena Oetzel (Hg.), Warum Friedenschließen so schwer ist. Frühneuzeitliche Friedensfindung am Beispiel des Westfälischen Friedenskongresses, Münster 2019, S. 65 – 73, hier S. 67 f. Vgl. Leo Gross, The Peace of Westphalia, 1648 – 1948, in: American Journal of International Law 42. 1948, S. 20 – 41, mit der Bezeichnung des Friedens als „the first great European or World charter“: Ebd., S. 20. Zum Einfluss von Leo Gross für die Ausformulierung des Westfälischen Systems: Vgl. Stirk, Model, S. 642 f.; Kampmann, Treaty.
24
Christoph Kampmann
1 Der Aufstieg eines Konzepts I: Der Westfälische Friede als Lex Fundamentalis Imperii Schon im Westfälischen Friedensvertrag selbst war festgelegt worden, dass die Friedensschlüsse von Münster und Osnabrück auf dem ersten Reichstag nach dem Krieg offiziell zum Reichsgesetz erhoben werden sollten.⁸ Dies war eine der vielen Regelungen, die dazu dienten, dem Friedensvertrag zusätzliche Absicherung zu geben. Umgesetzt wurde diese Regelung dann tatsächlich auf dem Regensburger Reichstag von 1653/54.⁹ In den folgenden Jahrzehnten stieg der Westfälische Friede zum allgemein akzeptierten Reichsfundamentalgesetz auf, auf das allenthalben Bezug genommen und das ständig beschworen wurde, und zwar in der Reichsgesetzgebung, in der gelehrten Reichspublizistik,¹⁰ aber auch in tagespolitischen öffentlichen Diskussionen.¹¹ Die Betonung der Heiligkeit und Unverletzlichkeit des Westfälischen Friedens blieb allen unterschiedlichen konfessionellen Akzentsetzungen zum Trotz fester Bestandteil der politischen Kultur im römisch-deutschen Reich.¹² Für den hier betrachteten Zusammenhang ist dabei von besonderer Bedeutung, dass auch im Völkervertragsrecht seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts Bezug auf den Westfälischen Frieden als fundamentum pacis publicae genommen wurde. Dies geschah in speziellen Klauseln von Verträgen zwischen Frankreich
Vgl. Instrumentum Pacis Osnabrugensis (IPO), Artikel XVII (2). Vgl. Regenspurgischer Jüngster Reichs-Abschied vom Jahr 1654, Wetzlar 1717, http://reader.di gitale-sammlungen.de/de/fs1/object/display/bsb10492593_00005.html. Unter §§ 4– 5 wird der Westfälische Friede als „norma iudicandi“ bezeichnet. Vgl. Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, 4 Bde., hier Bd. 1, München 1988, S. 225; Sven Externbrink, Staatensystem und kulturelles Gedächtnis. Frankreich, das Alte Reich und Europa (17. – 18. Jh.), in: Eva Dewes u. Sandra Duhem (Hg.), Kulturelles Gedächtnis und interkulturelle Rezeption im europäischen Kontext, Berlin 2007, S. 89 – 102, hier S. 91– 93. Für die Bedeutung des Westfälischen Friedens in der Alltagspublizistik: Vgl. Martin Wrede, Das Reich und seine Feinde. Politische Feindbilder in der reichspatriotischen Publizistik zwischen Westfälischem Frieden und Siebenjährigem Krieg, Mainz 2004, S. 455 – 463, mit breiten Quellenbelegen. Zur Stellung des Westfälischen Friedens in der politischen Kultur des Reiches: Vgl. Fritz Dickmann, Der Westfälische Friede, Münster 1984 [zuerst 1959], S. 1 f. Zu den unterschiedlichen konfessionellen Akzentsetzungen: Vgl. Westphal, Friede, S. 110 f.; Étienne Franҫois u. Claire Gantet,Vergangenheitsbewältigung im Dienste des Friedens und der konfessionellen Identität, in: Johannes Burkhardt (Hg.), Krieg und Frieden in der historischen Gedächtniskultur. Studien zur friedenspolitischen Bedeutung historischer Argumente und Jubiläen von der Antike bis zur Gegenwart, München 2000, S. 102– 123.
Der Westfälische Friede als Fundament von Völkerrecht und Staatenpolitik
25
und dem römisch-deutschen Reich, die der Bestätigung vorangegangener Verträge dienten. Grundsätzlich war es in völkerrechtlichen Verträgen seit dem 15. und 16. Jahrhundert üblich, bei Abschluss eines Friedensvertrags ältere Verträge zwischen den Vertragschließenden zu bekräftigen, und zwar gerade in der französischen diplomatischen Tradition. Die Botschaft dieser Bestätigungen war klar: Der Friedenszustand war durch den Friedensschluss wiederhergestellt, und damit auch die älteren Vertragsverhältnisse, insoweit sie nicht ausdrücklich durch den neuen völkerrechtlichen Vertrag revidiert worden waren.¹³ Die Bestätigung des Westfälischen Friedens in den gerade erwähnten Verträgen zwischen Kaiser, Reich beziehungsweise Reichsständen und Frankreich ging in ihrer rhetorischen Ausgestaltung weit über die herkömmliche Praxis hinaus – eine Tatsache, die die symbolische Bedeutung des Westfälischen Friedens und der Frankreich im Frieden zugestandenen Westfälischen Friedensgarantenrolle für die französische Krone unterstreicht.¹⁴ Die Beschwörung des Friedens als Lex Fundamentalis im Reichskontext und in Verträgen zwischen dem Reich und Frankreich sollte erhebliche Bedeutung erlangen, weil dies aufgegriffen und auf eine quasi umfassende, universaleuropäische beziehungsweise universalchristliche Ebene erhoben wurde.
Dazu mit ausführlichen Belegen: Vgl. Kampmann, Treaty. Vgl. den Friedensvertrag zwischen dem Reich und Frankreich, 5. Februar 1679, in: 15 CTS 1, Article II; Vertrag zwischen Frankreich und Preußen, 11. April 1713, in: 28 CTS 141, hier S. 145 f.Vgl. auch den Bündnisvertrag zwischen Frankreich und Preußen zur Herbeiführung des Friedens mit Schweden, 14. September 1716, in: 30 CTS 9, hier S. 15; Randall Lesaffer, Peace Treaties and the Formation of International Law, in: Bardo Fassbender u. Anne Peters (Hg.), The Oxford Handbook of the History of International Law, Oxford 2012, S. 71– 94, hier S. 86 f. Für Quellenbelege zur hohen symbolischen Bedeutung der französischen Friedensgarantenrolle: Vgl. Christoph Kampmann, Arbiter und Friedensstiftung: Die Auseinandersetzung um den politischen Schiedsrichter im Europa der Frühen Neuzeit, Paderborn 2001, S. 202– 206.
26
Christoph Kampmann
2 Der Aufstieg eines Konzepts II: Der Westfälische Friede als Fundament des allgemeinen Friedens und der Verfassung des Völkerrechts 2.1 Westfälischer Friede und Staatenpolitik in der Mitte des 18. Jahrhunderts Es gehört zu den bemerkenswerten, bislang nur unzulänglich erklärten Aspekten der Staatenpolitik des 18. Jahrhunderts, dass der Rekurs auf den Westfälischen Frieden seit den 1750er Jahren – also hundert Jahre nach seiner Unterzeichnung – beträchtlich an Bedeutung gewann und wiederholt ins Zentrum der europäischen Politik rückte. Als ein wichtiges Beispiel sei der Ausbruch des Siebenjährigen Kriegs (1756 – 1763) genannt, bekanntlich einer der zerstörerischsten Kriege dieser letzten Phase des Ancien Régime. ¹⁵ Als Frankreich und Schweden auf der Seite des habsburgischen Kaisertums gegen Preußen in den Krieg eintraten, rechtfertigten sie ihren Kriegseintritt offiziell ausschließlich mit ihrer Rolle als Garanten des Westfälischen Friedens – obwohl es weitere Möglichkeiten zur Kriegslegitimation gegeben hätte.¹⁶ Ein ähnlich prominenter Vorgang, der die gewachsene politische Bedeutung des Westfälischen Friedens in der europäischen Staatenpolitik dieser Zeit unterstreicht, betrifft die gewandelte Stellung Russlands im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation, zu der es im Zusammenhang mit dem Bayerischen Erbfolgekrieg 1778/79 kam.¹⁷ Sinnfälligen Ausdruck fand sie in der förmlichen Erhebung Russlands in den Rang eines mit Frankreich gleichberechtigten Garanten des Westfälischen Friedens im Friedensvertrag von Teschen 1779.¹⁸ Für die russische Seite war dies Grund zu größter Genugtuung, hatte der russische Außenminister den Frieden, zu dessen Garant seine Kaiserin nun aufgestiegen war, in bezeich-
Zum Siebenjährigen Krieg: Vgl. Marian Füssel, Der Preis des Ruhms. Eine Weltgeschichte des Siebenjährigen Kriegs, München 2019; Sven Externbrink (Hg.), Der Siebenjährige Krieg (1756 – 1763). Ein europäischer Weltkrieg im Zeitalter der Aufklärung, Berlin 2011. Vgl. Kampmann, Der Westfälische Friede, S. 421. Vgl. Heinz Duchhardt, Balance of Power und Pentarchie. Internationale Beziehungen 1700 – 1785, Paderborn 1997, S. 384– 394. Vgl. Friede von Teschen zwischen Österreich und Preußen, 13. Mai 1779, in: 47 CTS 153, hier S. 160 (Artikel XII), in Verbindung mit der Garantieklausel, S. 165 f.
Der Westfälische Friede als Fundament von Völkerrecht und Staatenpolitik
27
nender Terminologie im Vorfeld als „cette paix sacrée, la plus solemnelle, qui a jamais existé dans le monde chrétien“ gepriesen.¹⁹ Der Bedeutungsgewinn des Westfälischen Friedens in der Staatenpolitik der Mitte des 18. Jahrhunderts ist in engem Zusammenhang mit einer gewachsenen, zugleich fundamental gewandelten Bedeutung des Westfälischen Friedens im Völkerrecht zu sehen, sowohl in der intellektuell-gelehrten Debatte als auch im Völkervertragsrecht, die bislang nur wenig thematisiert worden ist.
2.2 Zur Aufwertung des Westfälischen Friedens in der Völkerrechtstheorie Kürzlich hat der Historiker Benjamin Durst eine umfassende Studie zu völkerrechtlichen Vertragssammlungen des ausgehenden 17. und des 18. Jahrhunderts vorgelegt.²⁰ Durst vermag dabei nachzuweisen, dass es im Hinblick auf die generelle Deutung des Völkerrechts klare Parallelen zwischen diesen Werken gegeben hat. Das Völkerrecht wird regelmäßig implizit oder explizit als „Droit de gens contract铲¹ verstanden und bezeichnet. Anders als das „Droit de gens naturel“,²² das auf das Naturrecht gegründet wird, wurde unter dem Droit de gens contracté das auf Verträgen und Abmachungen zwischen Souveränen beruhende Völkerrecht verstanden. Völkerrecht war aus dieser Perspektive also gesetztes Recht, in den Worten von Leibniz das „Ius gentium voluntarium“.²³
Vgl. das Schreiben des russischen Außenministers Nikita Iwonowitsch Panin an Alexander Galitzin, 21. September 1778, gedruckt in: F. Martens (Hg.), Actes Diplomatiques concernant de congrès de Tesc tires des archives du Prince N. Repnine (Sbornik Imperatorskago Russkago Istoricekago Obscestva, Bd. 65 [1888]), S. 15 – 17, hier S. 16. Für den Hinweis auf das Schreiben danke ich Christian Wenzel. Vgl. Benjamin Durst, Archive des Völkerrechts: Gedruckte Sammlungen europäischer Mächteverträge in der Frühen Neuzeit, Berlin 2016. So die Formulierung bei Jean Dumont (Hg.), Corps universel diplomatique du droit des gens. contenant un recueil des traitez d’alliance, de paix, de treve […] qui ont été faits en Europe depuis le regne de l’empereur Charlemagne jusques à present, Bd. I (Den Haag 1726), Préface I.Vgl. Durst, Archive, S. 222 f. Éméric de Vattel, Le droit des gens ou principes de la loi naturelle […], Nouvelle édition, Partie I, Neuchâtel 1777 [zuerst 1758], Préface, S. 4. Durst, Archive, S. 222 f. Für den Terminus Ius gentium voluntarium: Gottfried Wilhelm Leibniz (Hg.), Codex juris gentium diplomaticus, in quo tabulae authenticae actorum publicorum, tractatuum, cet. pleraeque ineditae vel selectae continentur, a fine seculi undecimi ad nostra usque tempora aliquot, tomis comprehensus, Hannover 1693, S. 172.
28
Christoph Kampmann
Einer der energischsten Vertreter dieser Vorstellung vom Völkerrecht war der Philosoph und Rechtsgelehrte Gabriel Bonnot de Mably (1709 – 1785).²⁴ Sein einschlägiges, vielfach wieder aufgelegtes Werk trug den programmatischen Titel „Le droit public de l’Europe, fondé sur les traités“ und darf als eines der einflussreichsten völkerrechtlichen Publikationen des 18. Jahrhunderts überhaupt gelten.²⁵ Für den hier betrachteten Zusammenhang ist wichtig, welch herausragende Stellung Mably dem Westfälischen Frieden zusprach. Aus Mablys Sicht markierte der Westfälische Friede den entscheidenden Wendepunkt in der Geschichte des völkerrechtlichen Vertragsrechts. Er sei die eigentliche Geburtsstunde des Droit de Gens und des zivilisierten Umgangs der Staaten miteinander; alle vorherigen Entwicklungen sind in den Augen Mablys lediglich als „Vorgeschichte“ des Westfälischen Friedens anzusehen.²⁶ Mably begründet diese Auffassung mit dem paradigmatischen Charakter dieses Friedensschlusses, der an Klarheit, Genauigkeit und vernunftgemäßer Anordnung der Vertragsmaterien unübertroffen sei.²⁷ Vor allem aber habe – so Mably – der Westfälische Friede jene „ordre lumineux“ geschaffen, die seither die Beziehungen der Staaten bestimme und wenig Raum für Missverständnisse und Auseinandersetzungen lasse. Die Artikel des Westfälischen Friedens seien laut Mably zu einer „loix pour l’Europe“²⁸ geworden, anders formuliert: zu einer Grundverfassung des Völkerrechts. Mablys Perspektive auf den Westfälischen Frieden hat die weitere geistige und gelehrte Auseinandersetzung stark beeinflusst. Ein herausragendes Beispiel für eine Übernahme der Mably’schen Einschätzung des Westfälischen Friedens ist Jean-Jacques Rousseau. In seiner 1761 erstmals publizierten, rasch berühmt gewordenen Kurzfassung des nicht minder bekannten Universalfriedensplans des
Zum Einfluss Mablys, der in der Völkerrechtswissenschaft lange unterschätzt worden ist: Vgl. Martti Koskenniemi, The Advantage of Treaties. International Law in the Enlightenment, in: Edinburgh Law Review 13. 2009, S. 27– 67, hier S. 37– 40. Genannt seien die Auflagen von 1746, 1748, 1764, 1767, 1776, 1789 und 1793/94. Die Belege im Folgenden beziehen sich (wenn nicht anders angegeben) auf die Auflage von 1748: Gabriel Bonnot de Mably, Le droit public de l’Europe, fondé sur les traités, Genf 21748. Vgl. Mably, Le droit public, 1748, S. 1– 97; Stirk, Model, S. 649. Vgl. Mably, Le droit public, 1748, S. 87. Gabriel Bonnot de Mably, Le droit public de l’Europe, fondé sur les traités, in: Ders., Œuvres comple`tes de l’abbe´ de Mably, Bd. 5, Lyon 1792, S. 181 [recte S. 281]: „On veut rétablir la transquillité de l’Europe, mais on ne veut point d’une paix qui rallume la guerre. De-là sagesse admirable des articles de Westphalie, qui sont devenus autant de loix pour l’Europe, de-là cet ordre lumineux qui regne dans les matieres; de-là ces expressions simples, claires précises qui ne laissent que très rarement quelque resource aux subtilités de la chicane.“ In der Auflage von 1748 war eine etwas andere Formulierung gewählt worden: „leurs conventions sont devenues autant de loix pour les Puissances de l’Europe“: Mably, Le droit public, 1748, S. 88.
Der Westfälische Friede als Fundament von Völkerrecht und Staatenpolitik
29
Abbé Charles Irénée Castel de Saint Pierre (1658 – 1743) bezeichnete Rousseau den Westfälischen Frieden als Basis des politischen Systems nicht nur im Reich, sondern in ganz Europa.²⁹ Im Universalfriedensplan des Abbé de Saint Pierre von 1714 selbst, den Rousseau ja in seinem „Extrait“ zusammenzufassen vorgab, findet sich eine entsprechende Würdigung des Westfälischen Friedens bezeichnenderweise noch nicht. Rousseau hat hier nicht Gedanken St. Pierres, sondern wohl eher Mablys aufgegriffen, mit dem ihn ohnehin eine enge, wenn auch wechselvolle Beziehung verband.³⁰ Zu einer ganz ähnlichen Einschätzung gelangt ein Werk, das einer völlig anderen literarischen Gattung als Rousseaus „Extrait“ angehört, nämlich das „Siècle de Louis XIV.“ Voltaires, das erstmals 1752 publiziert wurde und in dem Voltaire ebenso beiläufig wie selbstverständlich den Westfälischen Frieden als Fundament aller folgenden Friedensverträge würdigt.³¹ Vielleicht noch aufschlussreicher als diese Beispiele aus der „Höhenkammliteratur“ ist, dass Mablys Einschätzung auch Eingang in die juristische „Alltagsund Gebrauchsliteratur“ gefunden hat. Auch hier wurde regelmäßig die Auffassung vertreten, dass der Westfälische Friede den entscheidenden Wendepunkt des Völkerrechts sowohl im Hinblick auf die diplomatischen Techniken als auch die zentralen Normen des Völkerrechts darstelle. Zu nennen sind hier beispielsweise der Göttinger Rechtsgelehrte Peter Joseph Neyron (1740 – 1810)³² oder der Schweizer Diplomat und Völkerrechtsprofessor Christoph Guillaume Koch (1737– 1813), der darauf hinwies, dass der Westfälische Friede als Basis aller folgenden Abmachungen zwischen europäischen Souveränen diene.³³
Vgl. Jean-Jacques Rousseau, Extrait du Projet de la paix perpetuelle, Paris 1761, S. 50: „[…] le traité de Westphalie sera peut-être à jamais parmi nous la base du systême politique. Ainsi le droit publie, que les Allemands étudient avec tant de soin, est encore plus important quʼils ne pensent, & nʼest pas seulement le droit publie Germanique, mais, à certains égards, celui de toute lʼEurope“. Vgl. zur wechselvollen Beziehung Rousseaus zu Mably: Peter Friedemann, Die politische Philosophie des Gabriel Bonnot de Mably (1709 – 1785). Eine Studie zur Geschichte des republikanischen und des sozialen Freiheitsbegriffs, Münster 2014, S. 167– 178. Vgl. Voltaire (Jean-Marie Arouet), Siècle de Louis XIV [1752], in: Voltaire, Œuvres comple`tes, Paris 1836, S. 87. Vgl. Pierre Joseph Neyron, Essai historique et politique de garanties, Göttingen 1777, S. 112. Ich danke Christian Wenzel für den Hinweis auf diese Arbeit. Vgl. Christoph Guillaume Koch, Abrégé de l’histoire des traités de paix entre les puissances de l’Europe depuis la paix de Westphalie, Basel 1796, S. 4. Eine weitere Vertragssammlung, die 1648 als Startpunkt wählt, ist Charles Jenkinson (Hg.), A Collection of All Treaties of Peace, Alliance and Commerce between Great Britain and other Powers, London 1785. Allerdings begründet er diesen Epochenschnitt anders als Koch, wie bereits Stirk festgestellt hat, nämlich mit der nie-
30
Christoph Kampmann
2.3 „Fondement à la paix générale“: Die Aufwertung des Westfälischen Friedens im Völkervertragsrecht Parallel zu dieser Entwicklung auf der Ebene der gelehrten oder intellektuellen Diskussion ist ein grundlegender Wandel der Stellung des Westfälischen Friedens in völkerrechtlichen Verträgen der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zu beobachten. Seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurde der Westfälische Friede nicht mehr nur dann erwähnt, wenn es darum ging, dass vertragschließende Parteien konkrete, früher zwischen ihnen geschlossene Friedensverträge bestätigten.Vielmehr bezogen sich völkerrechtliche Verträge nun auf den Westfälischen Frieden als „Grundlage des allgemeinen Friedens“, als „fondement à la paix générale“. Ein herausragendes Beispiel dafür sind die für die Entwicklung der Staatenpolitik des 18. Jahrhunderts bedeutsamen, zwischen Großbritannien auf der einen und den bourbonischen Monarchien Frankreich und Spanien auf der anderen Seite geschlossenen Friedensverträge zu nennen, mit denen die beständige Serie der Kriege zwischen diesen Mächten jeweils nur kurz unterbrochen wurde.³⁴ Der erste dieser Friedensverträge war der von Aachen von 1748, mit dem der Österreichische Erbfolgekrieg (1740 – 1748) zu Ende ging und der aus völkerrechtshistorischer Perspektive eine wichtige Zäsur markiert, darf er doch als erster multilateraler Friedensvertrag und damit als Vorläufer des Wiener Vertrags von 1815 gelten.³⁵ Wichtig in dem hier betrachteten Zusammenhang ist die Art und Weise, in der dieser Friedensvertrag auf den einhundert Jahre zuvor geschlossenen Westfälischen Frieden Bezug nahm. Im Artikel III dieses Aachener Friedensvertrags bestätigten die Vertragsparteien vorhergehende Friedensverträge, indem sie diese symbolisch wortgetreu in den Vertrag aufnahmen. Gleich der erste Friedensvertrag, auf den sich der Aachener Friede bezog, war jener von Westfalen, gefolgt von weiteren Verträgen, die allesamt als Basis und Fundament dieses speziellen Friedens und des allgemeinen Friedens, eben als „fondement à la Paix générale“,³⁶ anerkannt wurden. Diese Formulierung war in einem solchen Be-
derländischen Unabhängigkeit, die durch den Frieden von Münster hergestellt wurde: Vgl. Stirk, Model, S. 650. Als fundierte Überblicksdarstellung über die verschiedenen Kriege 1740 – 1748, 1755 – 1763 und 1778 – 1783: Vgl. Hamish Scott, The Birth of a Great Power System. 1740 – 1815, Harlow 2006. Vgl. Randall Lesaffer, The Peace of Aachen (1748) and the Rise of Multilateral Treaties, opil.ouplaw.com/page/Peace-Aachen. Vgl. Friedensvertrag zwischen Frankreich, Großbritannien und den Niederlanden, 18. Oktober 1748, in: 38 CTS 297, hier S. 305 f.: „Les Traités de Westphalie de 1648 […] servent de base & de fondement à la Paix générale, & au présent Traité: & pour cet effet ils sont renouvellés & confirmés
Der Westfälische Friede als Fundament von Völkerrecht und Staatenpolitik
31
stätigungsartikel ungewöhnlich und zeigt den Einfluss des Droit de gens contracté auf den Vertrag. Auch mit anderen rhetorisch-stilistischen Mitteln wurde die Nähe des Friedens von Aachen zum Westfälischen Frieden unterstrichen. Artikel I des Friedens von Aachen war ein wörtliches Zitat des berühmten ersten Satzes des Westfälischen Friedens („Pax sit christiana, universalis, perpetua“), der hier nun in französischer Fassung wiedergegeben wurde: „Il y aura une Paix chrétienne, universelle & perpetuelle.“³⁷ Beides – die feierliche Bestätigung des Westfälischen Friedens und die Wiedergabe der beiden berühmten ersten Sätze – war bis dahin ohne Vorbild in englisch-französischen Verträgen, aus einem naheliegenden Grund: England war gar nicht Vertragspartner des Westfälischen Friedens gewesen. Im Hinblick auf den Westfälischen Frieden beziehungsweise den Umgang mit diesem Frieden begründete der Friede von Aachen eine Tradition. Der englischfranzösische Frieden von Paris von 1763, der dem Siebenjährigen Krieg in Westeuropa und Übersee ein Ende setzte, gebrauchte die gleichen Formulierungen bei der Bestätigung des Westfälischen Friedens, und zwar sowohl, was die symbolische Bestätigung des Westfälischen Friedens anbelangte, als auch die wörtliche Übernahme der ersten Sätze des Friedensschlusses von Westfalen.³⁸ Genauso verfuhren auch die Friedensverträge von Versailles zwischen Großbritannien und Frankreich sowie zwischen Großbritannien und Spanien von 1783. Gerade Letzterer ist von besonderem Interesse in unserem Zusammenhang, denn dass auch der Englisch-Spanische Vertrag von 1783 den Westfälischen Frieden in dieser Weise bestätigte,³⁹ deutet eindrücklich darauf hin, dass der Westfälische Friede eine neuartige Rolle im Völkerrecht spielte; ihm kam im Kontext der völkerrechtlichen Verträge des ausgehenden 18. Jahrhunderts offensichtlich eine neue Funktion zu, denn weder Großbritannien (beziehungsweise England und Schottland) noch Spanien hatten den Westfälischen Frieden unterzeichnet. Vor diesem Hintergrund erscheint es geradezu widersinnig, dass beide Mächte 1783 den Westfälischen Frieden in dieser feierlichen Form bestätigten. Doch dieser dans la meilleure forme, & comme s’ils étoient insérés ici mot à mot; en sorte qu’ils devront exactement être observés à l’avenir dans toute le teneur, & religieusement exécutés de part & autre, à l’exception cependant des points, auxquels i lest dérogé par le présent Traité.“ Ebd., S. 305. Vgl. Friedensvertrag zwischen Frankreich, Großbritannien und Spanien, 10. Februar 1763, in: 42 CTS 279, hier S. 284. Der Einfluss des Friedens von Aachen wird auch sichtbar beim Blick auf weitere Verträge, so auf den kaiserlich-französischen Vertrag von Versailles, der in Hinblick auf den Westfälischen Frieden die gleiche Formulierung wählte wie jener. Vgl. Bündnis- und Freundschaftsvertrag zwischen Frankreich und Österreich, 1. Mai 1756, in: 40 CTS 335, hier S. 339. Vgl. Friedensvertrag zwischen Großbritannien und Spanien, 3. März 1783, in: 48 CTS 481, hier S. 483.
32
Christoph Kampmann
Eindruck wäre verfehlt, bezog sich die Bestätigung des Westfälischen Friedens im Vertrag von 1783 doch gar nicht auf seine konkreten Artikel, sondern auf seine inzwischen anerkannte Stellung als Grundverfassung des Völkerrechts und Grundlage aller folgenden Friedensverträge.⁴⁰ Gerade der Friede von Versailles von 1783 zeigt eindrücklich, dass sich die grundlegende Stellung des Westfälischen Friedens im Völkerrecht gewandelt hatte.⁴¹
3 Der Westfälische Friede als Grundlage des Völkerrechts: Weitergehende Überlegungen Warum aber gewann der Westfälische Friede seit der Mitte des 18. Jahrhunderts eine gewachsene und gewandelte Bedeutung als Basis des Staatensystems und Grundverfassung Europas, und zwar sowohl in der intellektuellen Debatte als auch in der praktischen Diplomatie? Prinzipiell ist diese Entwicklung vor dem Hintergrund der Tatsache zu sehen, dass Völkerrecht stärker als Droit de gens contracté, als Ius gentium voluntarium verstanden wurde. Die Analyse der völkerrechtlichen Verträge zeigt, dass diese Vorstellung nun auch unmittelbar Eingang in das Völkerrecht fand. Mit dem Aufstieg der Vorstellung vom Droit de gens contracté schien es folgerichtig, dass einem speziellen Vertrag die Rolle eines Grundvertrags, einer Art „Grundverfassung“ zugesprochen wurde: einem Vertrag, der als Zäsur zwischen der quasi vorkonstitutionellen Zeit des Völkerrechts und der nun konstitutionellen gelten, der als Wasserscheide zwischen der „vorzivilisatorischen“ und der „zivilisatorischen“ Epoche der Völkerrechtsgeschichte angesehen werden konnte. Warum aber wurde diese herausgehobene Position ausgerechnet dem Westfälischen Frieden zugesprochen? Diese Frage ist nicht mit letzter und vollständiger Eindeutigkeit zu beantworten, daher seien im Folgenden einige eher hypothetische Überlegungen zu ihrer Beantwortung angestellt: (1) Zunächst hat zweifellos eine Rolle gespielt, dass der Westfälische Friede aus einem universalen Friedenskongress erwachsen ist, auch wenn dieser Uni-
Darauf, dass auch der Friede von Teschen in diesem Sinne Bezug auf die „Traités de Westphalie“ nahm, hat bereits Steiger, Friede, S. 64, hingewiesen. Diese These wird auch dadurch unterstrichen, dass in völkerrechtlichen Verträgen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts kaum noch auf Verträge aus der Zeit vor 1648 Bezug genommen wurde. Das war noch in der zweiten Hälfte des 17. und im frühen 18. Jahrhundert gänzlich anders. Für ausführliche Belege: Vgl. Kampmann, Treaty. Seit der Mitte des 18. Jahrhunderts hatte „präwestfälisches Völkerrecht“ seine Bedeutung fast komplett eingebüßt.
Der Westfälische Friede als Fundament von Völkerrecht und Staatenpolitik
33
versalfriedenskongress seinerzeit zu keinem Universalfriedensvertrag geführt hatte. Es war zweifellos kaum ein Zufall, dass ausgerechnet der gleichfalls auf einem Universalfriedenskongress beruhende, genau hundert Jahre nach dem Westfälischen Frieden geschlossene und von entsprechenden Jubiläumsfeierlichkeiten begleitete Friede von Aachen so stark zur Entstehung der Vorstellung beigetragen hat, der Westfälische Friede sei „Fundament des allgemeinen Friedens“.⁴² (2) Zu verweisen ist zudem auf die Bedeutung des Westfälischen Friedens für das Heilige Römische Reich deutscher Nation nach 1648. Wie skizziert, war der Westfälische Friede – lange bevor er als Konstitution des Ius Publicum Europaeum angesehen wurde – schon regelmäßig als Fundamentalverfassung des römischdeutschen Reiches bezeichnet worden (Lex fundamentalis Imperii). Begriffshistorisch betrachtet ist es ein durchaus geläufiger Vorgang, dass eine politische Leitvorstellung, die zunächst in einem ganz konkreten politischen Zusammenhang Verwendung gefunden hatte, nun in einem anderen, breiteren Kontext genutzt wurde.⁴³ Dies scheint sich hier im Falle des Aufstiegs vom Grundgesetz des Reiches zum Grundgesetz Europas wiederholt zu haben. (3) Der letztgenannte Punkt verweist auf einen weiteren Aspekt, der in der jüngeren einschlägigen Literatur angesprochen, aber noch nicht systematisch untersucht worden ist. Die aufgeklärte Diskussion über Friedensstiftung und Friedenswahrung im Europa der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zeigte ein wachsendes Interesse am Heiligen Römischen Reich als Modell für eine europäische Friedensordnung. Dies traf auf Frankreich zu, weil das römisch-deutsche Reich im Rahmen der aufgeklärten Kritik am kriegstreiberischen monarchischen „Despotismus“ als eine Art positiver Gegenentwurf erheblich an Reputation gewann.⁴⁴ Dies galt beispielsweise auch im Rahmen der englischen und schottischen Aufklärung. Bedeutende ihrer Vertreter feierten das Reich als erfolgreiches
Zu den Jahrhundertfeiern des Westfälischen Friedens: Vgl. Franҫois u. Gantet, Vergangenheitsbewältigung, S. 114– 116; Heinz Duchhardt, Friedensjubiläen, in: Ders., Friede, S. 175 – 181, hier S. 177. Allerdings warnt Duchhardt davor, das Ausmaß der Centenarfeiern zu überschätzen. Ein Beispiel ist die Vorstellung vom „Arbitre de Paix“, dessen politischer Gehalt sich zwischen dem 16. und dem 18. Jahrhundert komplett wandelte. Im Hinblick auf Heinrich IV. von Frankreich war diese Vorstellung in der herrscherlichen Panegyrik zunächst verbunden mit jener des Friedensstifters, der die französischen Bürgerkriege beendet habe; im weiteren Verlauf seiner Herrschaft und nach seinem Tod bezog es sich auf seine (angebliche) Stellung als gesamteuropäischer Friedensstifter: Vgl. Kampmann, Arbiter, S. 66 – 125. Vgl. Klaus Malettke, Frankreich, Deutschland und Europa im 17. und 18. Jahrhundert. Beiträge zum Einfluss französischer politischer Theorie, Verfassung und Außenpolitik in der Frühen Neuzeit, Marburg 1994, S. 379 – 388.
34
Christoph Kampmann
Friedensmodell.⁴⁵ In diesem Zusammenhang lag es natürlich nahe, auch den Westfälischen Frieden aufzuwerten, vom Reichfundamentalgesetz zur europäischen Grundverfassung. (4) Schließlich sei noch ein vierter Aspekt genannt, der die Attraktivität des Westfälischen Friedens für politisch-diplomatische Theoretiker und Praktiker des 18. Jahrhunderts erklären könnte. Dies war der in dieser Form bis dahin ungewöhnliche, explizit christliche, aber zugleich nicht-konfessionelle Charakter des Westfälischen Friedens. Der Westfälische Friede betonte gleich zu Beginn seine christliche Fundierung, zugleich lösten sich die Friedensverträge von 1648 von einer allzu engen konfessionellen Bindung. Der Westfälische Friede war somit ein wichtiger Schritt einer Entkirchlichung, freilich nicht einer Säkularisierung der auswärtigen Politik.⁴⁶ Genau in diese Richtung zielte die Selbstbeschreibung des Westfälischen Friedens als Pax Christiana, die bis 1648 ungewöhnlich war und die dann nach 1748 Eingang in britisch-französische und britisch-spanische Verträge fand.⁴⁷ Es spricht einiges für die Vermutung, dass diese christliche Verortung des Friedens bei gleichzeitiger Lösung der Bindung an kirchliche Autoritäten seine Attraktivität für die politisch-diplomatisch Verantwortlichen und die intellektuelle Diskussion der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zu erklären vermag.
4 Fazit und Ausblick Mit dem europäischen Revolutionszeitalter ging die starke Betonung des Westfälischen Friedens im Völkervertragsrecht zu Ende. Der Westfälische Friede er Vgl. z. B. Edmund Burke, Three Memorials on French Affairs. Written in the Years 1791, 1792, and 1793, London 1797, S. 20 f.; Harald Kleinschmidt, Geschichte des Völkerrechts in Krieg und Frieden, Tübingen 2013, S. 286 – 291. Vgl. Westphal, Friede, S. 100; Heinhard Steiger, Friedensschluss und Amnestie in den Verträgen von Münster und Osnabrück, in: Heinz Duchhardt u. Patrice Veit (Hg.), Krieg und Frieden im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit. Theorie – Praxis – Bilder, Mainz 2000, S. 207– 245, hier S. 215. Zu dieser entkirchlichenden Tendenz des Westfälischen Friedens, die nicht mit einer dechristianisierenden Orientierung verwechselt werden darf: Vgl. Derek Croxton u. Anuschka Tischer, Art. Protest and Anti-Protest Clause, in: Dies., The Peace of Westphalia. A Historical Dictionary, Westport 2002, S. 241. Der Begriff Pax Christiana war dem Prager Frieden von 1635 entlehnt. Dort war er auf Initiative der kursächsischen Diplomatie zustande gekommen. Dass diese Formulierung so in dem ersten Satz des Westfälischen Friedens gewählt worden war, hatte in erster Linie rhetorische Gründe und keine spezielle inhaltliche Bedeutung: Vgl. Maria-Elisabeth Brunert, Der Westfälische Frieden 1648 – eine Friedensordnung für das Reich und Europa, in: Peter Geiss u. Peter Arnold Heuser (Hg.), Friedensordnungen in geschichtswissenschaftlicher und geschichtsdidaktischer Perspektive, Bonn 2017, S. 69 – 96, hier S. 82.
Der Westfälische Friede als Fundament von Völkerrecht und Staatenpolitik
35
schien nun als Anachronismus, und dies aus einer ganzen Reihe von Gründen. Eine zentrale Ursache ist zweifellos, dass der konkrete politische Bezugspunkt und zentrale Regelungsbereich des Westfälischen Friedens, das Heilige Römische Reich, im Revolutionszeitalter von der politischen Landkarte verschwand. Zudem erschienen gerade Aspekte des Westfälischen Friedens, die im Ancien Régime die Attraktivität des Westfälischen Friedens ausgemacht hatten, nun in wachsendem Maße obsolet. Hier ist zum Beispiel der gerade erwähnte Bezug auf die gemeinsame christliche Grundlage des Völkerrechts zu nennen, der seit der Französischen Revolution nicht mehr als angemessen angesehen wurde. Auch nach dem Revolutionszeitalter wurde auf den Westfälischen Frieden nicht wieder verwiesen. Eine Rolle mag gespielt haben, dass zentrale politische Akteure im Umfeld des Wiener Kongresses, etwa Alexander I. von Russland, nun dezidiert den Bruch mit dem Staatensystem des Ancien Régime betonten.⁴⁸ Auf theoretisch-gelehrter Ebene sah es freilich anders aus. Hier behielt die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wirksam gewordene Vorstellung vom Westfälischen Frieden als Basis des Völkerrechts und konstitutionellem Grundvertrag seine Bedeutung.⁴⁹ Bemerkenswerterweise galt dies ausgerechnet in der deutschsprachigen Welt nicht; hier verlor der Westfälische Friede angesichts des wachsenden Einflusses nationalstaatlichen Denkens seinen Nimbus und galt bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts als Ausdruck deutscher Schwäche und französischer Hegemonie.⁵⁰ Dagegen änderte sich in der einschlägigen Völkerrechtslehre anderer Länder – so im französisch- und englischsprachigen Raum – am Rang des Westfälischen Friedens wenig.⁵¹ Daran konnte die völkerrechts- und politikwis Vgl. Paul W. Schroeder, The Transformation of European Politics 1763 – 1848, Oxford 1994, S. 575 – 582; Ders., International Politics, Peace and War, in: Tim Blanning (Hg.), The Nineteenth Century. Europe 1789 – 1914, Oxford 2000, S. 158 – 209; Wolfram Pyta, Idee und Wirklichkeit der „Heiligen Allianz“, in: Frank-Lothar Kroll (Hg.), Neue Wege der Ideengeschichte. Festschrift fü r Kurt Kluxen zum 85. Geburtstag, Paderborn 1996, S. 315 – 346. Für eine Analyse der völkerrechtlichen Diskussion über Souveränität und Egalität im 19. und 20. Jahrhundert im Lichte der Rezeption des Westfälischen Friedens: Vgl. Stirk, Model, S. 652– 659. Vgl. Westphal, Friede S. 112 f. Dort blieb es auch bei der Praxis, Vertragssammlungen mit 1648 beginnen zu lassen: Vgl. Guillaume Laurent Garden (Hg.), Histoire ge´ne´rale des traite´s de paix et autres transactions principales entre toutes les puissances de l’Europe depuis la paix de Westphalie; ouvrage comprenant les travaux de Koch, Schoell, etc, entièrement refondus et continue´s jusqu’à ce jour, 15 Bde., Paris 1848 – 1887; Friedrich Wilhelm Ghillany (Hg.), Diplomatisches Handbuch. Sammlung der wichtigsten europäischen Friedensschlüsse, Congressacten und sonstigen Staatsurkunden vom westfälischen Frieden bis auf die neueste Zeit, mit kurzen geschichtlichen Einleitungen, 3 Bde., Nördlingen 1855 – 1868; Friedrich Schoell (Hg.), Histoire abrégé des traités de paix, entre les puissances de l’Europe, depuis la paix de Westphalie, 15 Bde., Paris 1817– 1818. Zur Betonung des Zäsurcharakters von 1648: Vgl. Montague Bernard, Four Lectures on Subjects
36
Christoph Kampmann
senschaftliche Diskussion der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit ihrer spezifischen Deutung des Westfälischen Friedens als „basic constitution and normative structure of the world order“ unmittelbar anknüpfen.⁵² Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass schon in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts drei verschiedene, sich gegenseitig beeinflussende Deutungen des Westfälischen Friedens nebeneinander existierten. Zum einen wurden die Verträge als wichtige völkerrechtliche Verträge zwischen dem römisch-deutschen Reich und Frankreich beziehungsweise Schweden angesehen. Zum anderen galten die Verträge als Lex Fundamentalis Imperii, als wichtigstes Reichsgrundgesetz. Schließlich galten sie spätestens seit Mitte des 18. Jahrhunderts als Grundverfassung des Ius Publicum Europaeum. Es waren dabei nicht so sehr Historiker, sondern Publizisten und politische Praktiker, die diese Denkfigur geprägt haben – eine Denkfigur, die dann Eingang in die Historiographie und Memorialkultur gefunden hat. Die bis heute so einflussreiche Vorstellung vom „Westfälischen System“, das seit 1648 die Beziehungen der souveränen Staaten bestimmt habe, ist eine Schöpfung von Diplomaten, Politikern und Intellektuellen des 18. Jahrhunderts.
Connected with Diplomacy, London 1868, S. 5, unter direktem Bezug auf die einschlägige Literatur des 18. Jahrhunderts. Für eine ähnliche Einschätzung: Vgl.Walter G. F. Phillimore, Three Centuries of Treaties of Peace and their Teaching, London 1917. McGrew, Globalization, S. 23. Vgl. Bernard, Four Lectures (1868), S. 6, zum Zäsurcharakter des Westfälischen Friedens: „the family of States, divided amongst themselves, have yet acknowledged themselves bound by common ties, and have learnt to watch with a vigilant anxiety over the preservation of the general peace. Systems of policy have sprung up, have been methodized, taught and practiced.“
Tobias Hirschmüller
Vom „Bruderkrieg“ zur „Waffenbrüderschaft“. Der Deutsche Krieg von 1866 in österreichisch-ungarischen Erinnerungskulturen „Eine Katastrophe ist über Oesterreich hereingebrochen, wie sie trauriger kein Feind ersinnen konnte.“¹ So schrieb am 5. Juli 1866 die Wiener Neue Freie Presse über die Schlacht von Königgrätz in Nordböhmen, in der zwei Tage zuvor die verbündeten österreichischen und sächsischen Armeen gegen das verfeindete Preußen eine Niederlage erfahren hatten, die den Ausgang des „Deutschen Krieges“ entschied.² Ein halbes Jahrhundert später, im Jahr 1916 und damit mitten im Ersten Weltkrieg, zitierte das Blatt aus Bernhard von Bülows (1849 – 1929) Buch „Deutsche Politik“,³ das der Rezensent für „glänzend geschrieben“ hielt: Das heute oft zitierte Beispiel von 1866 und der bald darauf erfolgenden Entwicklung des deutsch-österreichischen Freundschafts- und Bündnisverhältnisses kann auf keinen unserer Feinde auch nur mit dem Schein der Berechtigung angewandt werden, denn mit keinem verbindet uns eine jahrtausendalte gemeinsame nationale Geschichte, mit keinem die Gemeinschaft deutscher Sprache, Bildung, Literatur, Kunst und Sitte.
Das Zitat war unkritisch aus der Einleitung von Bülows Werk übernommen worden, entsprach aber wohl der Auffassung der Redaktion und verdeutlicht somit
O.V., Die Niederlage bei Königgrätz, in: Neue Freie Presse (Morgenblatt), 5.7.1866, o. S. Die Wiener Neue Freie Presse erschien seit 1864 unter diesem Namen und konnte sich im liberalen Bildungsbürgertum eine große Leserinnen- und Leserschaft erwerben: Vgl. Kurt Paupié, Handbuch der österreichischen Pressegeschichte 1848 – 1959, Bd. 1: Wien, Wien 1960, S. 144– 150; Gabriele Melischek u. Josef Seethaler (Hg.), Die Wiener Tageszeitungen. Eine Dokumentation, Bd. 3: 1918 – 1938, Frankfurt 1992, S. 138 – 140; Edith Walter, Österreichische Tageszeitungen der Jahrhundertwende. Ideologischer Anspruch und ökonomische Erfordernisse, Wien 1994, S. 48; Emil Brix, Ein Fenster nach Europa. Die „Neue Freie Presse“ als Zeitung des liberalen Bürgertums, in: Julius Kainz u. Andreas Unterberger, Ein Stück Österreich. 150 Jahre „Die Presse“, Wien 1998, S. 54– 61. In der deutschen Historiographie existiert keine einheitliche Namensgebung für den Krieg von 1866, alternative Titel sind daher auch „preußisch-österreichischer Krieg“, „preußischdeutscher Krieg“, „zweiter Einigungskrieg“. Zur Diskussion: Vgl. Tobias Hirschmüller, Vom „Bruderkrieg“ zum Klischee. Die Erinnerungen an den Krieg von 1866 in Deutschland, in: Dieter Storz u. Daniel Hohrath (Hg.), Nord gegen Süd. Der Deutsche Krieg 1866, Ingolstadt 2016, S. 93 – 103, hier S. 94. Bernhard Bülow, Deutsche Politik, Berlin 1916. https://doi.org/10.1515/9783110726442-004
38
Tobias Hirschmüller
den elementaren Wandel der Haltung zum Ausgang des Kriegs zwischen Österreich und Preußen sowie zu den damit verbundenen Folgen. Die Ereignisse des Jahres 1866 und ihre Folgen für den Staat der Habsburger in außen- und innenpolitischer Dimension wurden bereits vielfach untersucht⁴ – und in der österreichischen Geschichtswissenschaft lange immer wieder beklagt.⁵ Die Forschung fokussierte sich hauptsächlich ereignisgeschichtlich auf die Neujustierung von Wiens Außenpolitik sowie die Versuche der innenpolitischen Stabilisierung des Kaiserstaates. Der Aspekt der Erinnerungskultur in der deutschsprachigen Bevölkerung der Donaumonarchie wird in der historischen Forschung dagegen kaum berücksichtigt, wodurch es oft nahezu als selbstverständlich gilt, dass die Entscheidung von 1866 akzeptiert und der Schwenk vom „Bruderkrieg“ zur „Waffenbrüderschaft“ gleichfalls von der Öffentlichkeit hingenommen wurde. Doch in Österreich, wo die Ereignisse der Jahre 1870/1871 nicht das Gedächtnis an das Jahr 1866 überdecken konnten und sollten, war die Herausforderung der Verarbeitung wesentlich größer, als es dieses glatte Bild zu vermitteln vermag. Der Historiker Michael Wladika kommentiert hierzu, der „preußische Sieg über Österreich bedeutete auch den Sieg des protestantischen Deutschland über das katholische Österreich der Gegenreformation“ und „besiegelte auch den endgültigen Untergang des Heiligen Römischen Reiches“.⁶ Insofern hatte der Deutsche Krieg in Österreich eine bedeutsame mentalitätsgeschichtliche Dimension. Denn, wie unter anderem der Historiker Ernst Bruckmüller festhielt: Egal, ob eine Person
Theodor Schieder, Das Jahr 1866 in der deutschen und europäischen Geschichte, in: Bundeszentrale für Politische Bildung (Hg.), Entscheidungsjahr 1866, Bonn 1966, S. 9 – 26; Heinrich Lutz, Von Königgrätz zum Zweibund. Aspekte europäischer Entscheidungen, in: HZ 217. 1973, S. 347– 380; Frank Zimmer, Bismarcks Kampf gegen Kaiser Franz Joseph. Königgrätz und seine Folgen, Graz 1996; Gordon Alexander Craig, Königgrätz 1866. Eine Schlacht macht Weltgeschichte, Wien 4 1997; Konrad Canis, Die bedrängte Großmacht. Österreich-Ungarn und das europäische Mächtesystem 1866/67– 1914, Paderborn 2016; Stefan Kurz, 150 Jahre Schlacht von Königgrätz – Betrachtungen zum Forschungsstand, https://blog.hgm.at/2017/08/28/150-jahre-schlacht-vonkoeniggraetz-betrachtungen-zum-forschungsstand/; Michael Epkenhans, 1866 – Die Schlacht bei Königgrätz: Ein Wendepunkt in der deutschen und europäischen Geschichte?, in: Winfried Heinemann, Lothar Höbelt u. Ulrich Lappenküper (Hg.), Der preußisch-österreichische Krieg 1866, Paderborn 2018, S. 351– 371; Lothar Höbelt, Königgrätz und der Ausgleich mit Ungarn: Kehrtwende oder Katalysator, in: Ebd., S. 333 – 350. Richard Georg Plaschka, Zwei Niederlagen um Königgrätz, in: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 74/3. 1966, S. 137– 164; Adam Wandruszka, Schicksalsjahr 1866, Graz 1966. Michael Wladika, Hitlers Vätergeneration. Die Ursprünge des Nationalsozialismus in der k. u. k. Monarchie, Wien 2005, S. 20.
Vom „Bruderkrieg“ zur „Waffenbrüderschaft“
39
sich in der Donaumonarchie zuerst als „deutsch“ oder als „österreichisch“ fühlte, sie war gezwungen, sich zum Ausgang des Kriegs zu positionieren.⁷ Im Folgenden soll untersucht werden, wie der Krieg von 1866 in ÖsterreichUngarn bis zum Ersten Weltkrieg erinnert worden ist. Dabei wird in der Untersuchung, entsprechend den eingangs formulierten Überlegungen, insbesondere folgenden Fragen nachgegangen: Welche Rolle besaß das Jahr 1866 in den unmittelbaren Nachkriegsjahren in der Erinnerungspraxis in Österreich-Ungarn? Welche Entwicklung durchlief die Memorialkultur, als nach 1871 zunächst wieder außenpolitische Abkommen mit dem einstigen Kriegsgegner und schließlich 1879 ein Bündnis geschlossen wurde? Brachten die Kriegsjahre von 1914 bis 1918 eine entscheidende Neubewertung der Ereignisse von 1866 mit sich oder wurde der einstige „Bruderkrieg“ eher verdrängt? Im Ergebnis soll dann gezeigt werden, ob eine konstante Narration über den Krieg von 1866 in Österreich-Ungarn und damit die Generierung eines Mythos erfolgte, oder ob lediglich jährlich neue Interpretationen vor dem Hintergrund der sich wandelnden diplomatischen Verhältnisse und schließlich der Kriegslage erfolgten. Als Quellengrundlage des Beitrags dienen ausgewählte deutschsprachige Tageszeitungen der Donaumonarchie, mit dem Fokus auf die Berichterstattung zu den Jahrestagen. Grundsätze der Auswahl waren, dass auflagenstarke Zeitungen aus möglichst allen deutschsprachigen Regionen behandelt und dabei die wichtigsten ideologischen Ausrichtungen – liberale, katholische, nationale Blätter sowie solche aus dem Arbeitermilieu – berücksichtigt werden. Zeitungen waren in dieser Epoche das entscheidende Medium, über welches gesellschaftspolitische Debatten ausgetragen worden sind.
1 Forschungsstand Die wissenschaftliche Aufarbeitung der Erinnerung an den Deutschen Krieg von 1866 steht in Deutschland im Schatten von Untersuchungen des Gedenkens an die Reichsgründung und hierbei insbesondere an die sogenannten Sedantage.⁸
Ernst Bruckmüller, Deutsches und österreichisches Bewußtsein im Österreich des 20. Jahrhunderts, in: Gerhard Botz u. Gerald Sprengnagel (Hg.), Kontroversen um Österreichs Zeitgeschichte. Verdrängte Vergangenheit, Österreich-Identität, Waldheim und die Historiker, Frankfurt a. M. 1994, S. 325 – 337, hier S. 327. Hirschmüller, Bruderkrieg; nur die Erinnerung zum 100. Jahrestag 1966 behandelt: Sebastian Schubert, Abschied vom Nationalstaat? Die deutsche Reichsgründung 1871 in der Geschichtspolitik des geteilten Deutschlands von 1965 bis 1974, in: Heinrich August Winkler (Hg.), Griff nach
40
Tobias Hirschmüller
Gleichzeitig besitzen die Wahrnehmung und das Gedächtnis an jenen Konflikt in der Presse eine über 100 Jahre alte Forschungstradition. In zahlreichen Arbeiten über die Haltung der Presse wurde und wird jedoch voreingenommen eine kleindeutsche Perspektive eingenommen.⁹ So werden nicht nur bei den älteren Arbeiten, wie von Otto Bandmann,¹⁰ Medien aus Österreich kaum oder gar nicht berücksichtigt wie etwa bei August Bierling.¹¹ Auch Nikolaus Buschmann, der für sich in Anspruch nimmt, die „Entscheidung von 1866 aus Sicht der historischen Verlierer“ zu betrachten, und daher die Kommentierung des Zeitgeschehens in österreichischen Zeitungen bearbeitet, wertet dann aber vorwiegend deutsche Medien hinsichtlich der Einschätzung der „Waffenbrüderschaft“ im Ersten Weltkrieg aus.¹² Somit ist bis heute eine der wenigen Arbeiten, die sich dezidiert mit den Ereignissen von 1866 in der österreichischen Presse beschäftigen, die im Jahr 1927 unter dem Titel „Der Friede von Nikolsburg und die öffentliche Meinung in Oesterreich“¹³ erschienene Dissertation von Friedrich Cornelius (1893 – 1976). Die Arbeit war 1919 bei dem deutschnationalen Erich Marcks (1861– 1938)¹⁴ in München eingereicht worden, der wiederum in seinen Arbeiten konsequent seine Bewunderung für Otto von Bismarck (1815 – 1898) zum Ausdruck brachte.¹⁵ Sein in
der Deutungsmacht. Zur Geschichte der Geschichtspolitik in Deutschland, Göttingen 2004, S. 230 – 264, hier S. 237– 242. Zum Krieg in der Presse unter anderem: Eberhard Naujoks, Bismarcks auswärtige Pressepolitik und die Reichsgründung (1865 – 1871), Wiesbaden 1968; Ralf Ecke, Franken 1866. Versuch eines politischen Psychogramms, Nürnberg 1972, S. 77– 120 u. 137– 164; Hubert Lengauer, Kulturelle und nationale Identität. Die deutsch-österreichische Problematik im Spiegel von Literatur und Publizistik der liberalen Ära (1848 – 1873), in: Heinrich Lutz u. Heinrich Rumpler (Hg.), Österreich und die deutsche Frage im 19. und 20. Jahrhundert. Probleme der politisch-staatlichen und soziokulturellen Differenzierung im deutschen Mitteleuropa, München 1982, S. 189 – 211; Frank Becker, Bilder von Krieg und Nation. Die Einigungskriege in der bürgerlichen Öffentlichkeit Deutschlands 1864– 1913, München 2001. Otto Bandmann, Die deutsche Presse und die nationale Frage 1864– 66, Diss. Universität Leipzig 1909, S. 7. August Bierling, Die Entscheidung von Königgrätz in der Beurteilung der deutschen Presse, Diss. Universität Leipzig, München 1932. Nikolaus Buschmann, Niederlage als retrospektiver Sieg? Die Entscheidung von 1866 aus Sicht der historischen Verlierer, in: Horst Carl (Hg.), Kriegsniederlagen. Erfahrungen und Erinnerungen, Berlin 2004, S. 125 – 143. Friedrich Cornelius, Der Friede von Nikolsburg und die öffentliche Meinung in Österreich. Eine Studie zur Völkerpsychologie, München 1927. Jens Nordalm, Historismus und moderne Welt. Erich Marcks (1861– 1938) in der deutschen Geschichtswissenschaft (Historische Forschungen 76), Berlin 2003. Erich Marcks, Otto von Bismarck. Ein Lebensbild, Stuttgart 2–51915.
Vom „Bruderkrieg“ zur „Waffenbrüderschaft“
41
München geborener Schüler Cornelius wurde 1930 Mitglied der NSDAP und trat später durch seine Arbeit am Institut zur Erforschung der Judenfrage in Frankfurt am Main antisemitisch in Erscheinung.¹⁶ Cornelius rechtfertigte das Thema seiner Promotion damit, dass das „deutsche Volk“ 1919 ähnlich wie 1866 vor einem Zusammenbruch und Scheideweg stehe. Dementsprechend vorgefasst war auch seine propreußische Haltung. Pejorativ wertete Cornelius etwa die Verklärung des Deutschen Bundes in der Presse nach 1866, was nur erfolgt sei, weil der alte Bund 50 Jahre genügt habe, den Frieden zu erhalten.¹⁷ Dies stellte für Cornelius jedoch keinen entscheidenden Wert dar und letztlich seien die „Wunden des Krieges“ auch „schneller geheilt als sonst“.¹⁸ Noch stärker ideologisch geprägt ist die Dissertation von Adolf Stein mit dem Titel „Bismarck im Urteil der liberalen Wiener Tagespresse von 1866 bis 1874“, die 1943 in Wien eingereicht wurde.¹⁹ Doktorvater war Wilhelm Bauer (1877– 1953), Professor der Allgemeinen Geschichte der Neuzeit, der nach dem Zweiten Weltkrieg als zu belastet galt und daher von der Lehrtätigkeit an der Universität Wien enthoben und 1946 in den Ruhestand versetzt wurde.²⁰ Stein legte eine Entwicklung dar, nach der die liberale Presse Wiens Bismarck für die Verdrängung aus Deutschland zunächst den Kampf ansagte, dann aber sukzessive die Leistungen des Reichskanzlers für Deutschland anerkannte und schließlich im „Kulturkampf“ entschieden auf dessen Seite gestanden habe. Bismarck galt ihm daher als Persönlichkeit, die „wir stolz zu unseren Grössten zählen“.²¹ Steins Arbeit verdeutlicht zumindest, dass eine Untersuchung der Erinnerung an das Jahr 1866 in Österreich in unmittelbarer Korrelation mit dem dortigen Verhältnis nicht nur zu Deutschland, sondern konkreter mit der dortigen Wahr-
Hinrich Jantzen, Namen und Werke. Biographien und Beiträge zur Soziologie der Jugendbewegung, Bd. 4, Frankfurt 1976, S. 41– 44; Volker Losemann, Nationalsozialismus und Antike – Bemerkungen zur Forschungsgeschichte, in: Beat Näf (Hg.), Antike und Altertumswissenschaft in der Zeit von Faschismus und Nationalsozialismus. Kolloquium Universität Zürich 14. – 17. Oktober 1998, Mandelbachtal 2001, S. 71– 88, hier S. 74; Evelyn Adunka, Der Raub der Bücher. Plünderung in der NS-Zeit und Restitution nach 1945 (Bibliothek des Raubes 9), Wien 2002, S. 181. Cornelius, Nikolsburg, S. 68. Ebd., S. 77. Adolf Stein, Bismarck im Urteil der liberalen Wiener Presse von 1866 – 1874 (von Königgrätz bis zum Höhepunkt des Kulturkampfes), Diss. Universität Wien 1943, S. 135 f. Elisabeth Dietrich-Schulz, Wilhelm Bauer. Studien zu Leben und Werk (Dissertationen der Universität Wien 142), Wien 1979; Roman Pfefferle u. Hans Pfefferle, Glimpflich entnazifiziert. Die Professorenschaft der Universität Wien von 1944 in den Nachkriegsjahren, Göttingen 2014, S. 283. Stein, Bismarck, S. 126.
42
Tobias Hirschmüller
nehmung beziehungsweise Mythisierung von Bismarck steht.²² Zum Beispiel kann der Historiker Lothar Höbelt dabei aufzeigen, dass der Kreis der Zeitungen, die dem deutschen Reichskanzler wohl gesonnen waren, sich bis zu dessen Entlassung zunächst auf deutschnationale bis völkische Blätter konzentrierte und später auf liberale zu erweitern begann, während konservative und klerikale Medien ihre Distanz wahrten.²³ Die österreichische Bismarckverehrung spielte ebenso in Ingeborg Winklers Dissertation von 1974 über die deutschnationalen Bestrebungen und den Anschlussgedanken der Deutschösterreicher an das Deutsche Kaiserreich von 1870/ 71 bis 1907 eine wichtige Rolle.²⁴ Über die mentalitäts- und ideengeschichtlichen Folgen des Kriegs von 1866 hält Winkler darüber hinaus fest: Solange eine großdeutsche Lösung noch für möglich gehalten worden war, hatten die breiten Schichten der deutschen Bevölkerung der Monarchie die Arbeit daran eigentlich der Regierung überlassen. Erst nach der Entscheidung von 1866 begann sich in der deutschösterreichischen Öffentlichkeit eine national-ideologische Entwicklung anzubahnen.²⁵
Dabei mussten alle politischen Richtungen „die weitere politische Entwicklung aus der Sicht der Unterlegenen“ betrachten.²⁶ Insgesamt stellt Winkler insbesondere drei Reaktionen auf 1866 unter der deutschen Bevölkerung der Donaumonarchie heraus. Die erste Gruppe habe Berlin den „Bruderkrieg“ nicht vergeben können, wollte dessen Konsequenzen nicht akzeptieren und weiterhin eine
Helmut Rumpler, „Es ist ein Kampf auf Leben und Tod, der noch lange nicht aus ist“. Bismarcks Erfolgspolitik und das deutsch-österreichische Problem, in: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 101. 1993, S. 37– 68; Heinrich Schnee, Bismarck und der deutsche Nationalismus in Österreich, in: Historisches Jahrbuch der Görres-Gesellschaft 81. 1961, S. 123 – 151; Lothar Höbelt, Kornblume und Kaiseradler. Die deutschfreiheitlichen Parteien Altösterreichs 1882– 1918, Wien 1993; Carsten Kretschmann, Bismarck und das deutsch-österreichische Problem, in: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 111/1. 2003, S. 429 – 444; Lothar Höbelt, Die österreichischen Alldeutschen und der 1. Weltkrieg: Der Irredentismus vor dem Ende, in: Jaroslav Láník u. Tomáš Kykal (Hg.), Léta do pole okovaná 1914. Proměny společnosti a státu ve válce, Prag 2015, S. 50 – 60. Lothar Höbelt, Weltgeist und Zauberlehrling. Das Bismarckbild in Österreich, in: Klaus Hildebrand (Hg.), Otto von Bismarck im Spiegel Europas, Paderborn 2006, S. 1– 24. Auch der ältere Beitrag sei noch genannt: Monika Glettler, Karl Kraus zwischen Prussophilie und Prussophobie. Bismarck und Wilhelm II. in der „Fackel“, in: Österreich in Geschichte und Literatur 23. 1979, S. 148 – 166. Ingeborg Winkler, Die deutschnationalen Bestrebungen und der Gedanke des Anschlusses der Deutschösterreicher an das Deutsche Reich von 1870/71 bis 1907, Diss. Universität Wien 1974. Winkler, Bestrebungen, S. 26 f. Ebd., S. 28.
Vom „Bruderkrieg“ zur „Waffenbrüderschaft“
43
Orientierung Wiens nach Mitteleuropa anstreben. Die zweite Gruppe habe in ihrer „Verbitterung“ noch „das Beste aus der gegebenen Situation zu machen“²⁷ versucht und sei bereit gewesen, „ein Bündnis zwischen Österreich und Deutschland als Ersatz für eine engere Bindung zu akzeptieren“.²⁸ Die dritte, „radikalste deutschnational gesinnte Gruppe“ habe „die deutsche Einigung vorbehaltlos“ begrüßt und den Verlauf und Ausgang des Deutschen Kriegs als deren Voraussetzung erachtet. Da Habsburg sich als unfähig erwiesen habe, die Führung in Deutschland zu übernehmen, waren sie bereit, das „vorübergehende Opfer des Ausschlusses aus Deutschland“ auf sich zu nehmen, und hofften auf ein künftiges großdeutsches Reich.²⁹ Bei diesen Thesen handelt es sich aber nur um eine Bestandsaufnahme von Winkler, die auf einzelnen Aussagen insbesondere aus dem Umfeld von Universitäten oder in Schriftstellerkreisen fußt. Es fehlt die langfristige Perspektive auf den Umgang mit dem Erinnern an das Jahr 1866.
2 Von der unmittelbaren Nachkriegszeit bis zum Zweibundvertrag Bei der Beschäftigung mit dem Krieg von 1866 fällt als Parallele zwischen Deutschland und Österreich auf, dass sich weder in der politischen noch in der gesellschaftlichen oder wissenschaftlichen Erinnerungsdimension eine einheitliche Namensgebung durchsetzen konnte. Noch aus dem Kriegsjahr stammt die Umschreibung vom verhängnisvollen „Bruderkrieg“ in Deutschland.³⁰ Sie fand bereits vor dem Beginn des Konflikts im Rahmen der Zunahme der Spannungen zwischen Wien und Berlin Verwendung.³¹ Diese Charakterisierung, die eine Volkszusammengehörigkeit zum Ausdruck bringen sollte, konnte sich sowohl bei Gegnerinnen und Gegnern als auch Befürworterinnen und Befürwortern der preußischen Politik etablieren: bei den einen als Vorwurf, bei den anderen als Mahnung, dass die Deutschen in Zukunft mit Berlin zusammenstehen sollten.³² Die Verwendung unter den Deutsch-Österreicherinnen und -Österreichern war zudem nicht nur eine Bekundung der Verbundenheit mit den übrigen Deutschen, Ebd., S. 29 f. Ebd., S. 31. Ebd., S. 32 f. O.V., Die Bibel in preußischem Dienste, in: Sonntags-Blatt für alle Stände, 5. 8.1866, S. 493 – 495. Zur Diskussion um den Namen des Krieges in Gesellschaft, Politik und Wissenschaft: Hirschmüller, Bruderkrieg, S. 94. O.V., Innsbruck, 31. Mai, in: Feldkircher Zeitung, 6.6.1866, S. 1. Hirschmüller, Bruderkrieg, S. 94.
44
Tobias Hirschmüller
sondern eine Abgrenzung zu den anderen ethnischen Gruppen, die nicht als „Brüder“ verstanden wurden.³³ In der Donaumonarchie blieb der Begriff „Bruderkrieg“ tendenziell in jener Presse in Gebrauch, die die Spaltung zwischen den Österreichern und den übrigen Deutschen im Jahr 1866 als Katastrophe wertete.³⁴ Er fand jedoch zunehmend weniger Verwendung, wie auch die Beschreibung „preußisch-deutscher Krieg“, die eine Vertretung der deutschen Angelegenheiten auf der Seite Österreichs suggerieren sollte.³⁵ In Schulbüchern wurden Formulierungen wie „österreichisch-preußisch-italienischer Krieg“³⁶ oder die auch bis heute in Deutschland geläufige Bezeichnung „deutscher Krieg“³⁷ angewendet. Während die ebenfalls noch geläufige, aber umstrittene Umschreibung „Einigungskriege“ in der österreichischen Presse kaum anzutreffen war,³⁸ dominierten unabhängig von der Ausrichtung der Blätter begriffliche Fokussierungen auf die „Böhmischen Schlachtfelder“³⁹ oder auch nur auf den Krieg „von 1866“.⁴⁰ Noch 1966 wählte das „Heeresgeschichtliche Museum“ in Wien den Titel „Krieg vor hundert Jahren“⁴¹ und umging somit begrifflich eine nationalgeschichtliche wie geographische Festlegung. Neben einer Reihe von kleineren Schlachten, wie etwa dem letzten Gefecht zwischen Preußen und Österreich bei Blumenau am 22. Juli 1866, um die jeweils eine lokale Erinnerungskultur entstand,⁴² entwickelte sich als Fixpunkt des
Markus Erwin Haider, Im Streit um die österreichische Nation. Nationale Leitwörter in Österreich 1866 – 1938, Wien 1998, S. 55 – 57. O.V., X-Strahlen, in: Neue Warte am Inn, 24. 8.1901, S. 2. O.V., Actenmäßige interessante Enthüllungen über den badischen Verrath an den deutschen Bundestruppen in dem soeben beendigten preußisch-deutschen Kriege, Wien 51866. Anton Gindely, Lehrbuch der allgemeinen Geschichte für die unteren Klassen der Mittelschulen, Bd. 3: Neuzeit, Prag 1877, S. 109. Emanuel Hannak, Lehrbuch der Geschichte der Neuzeit für die mittleren Classen der Mittelschulen, Wien 51883, S. 125. O.V., Wie Bismarck seinen Geburtstag feierte, in: Grazer Tagblatt. Zweite Morgenausgabe, 1.4. 1915, S. 10. O.V., Gedenkfeierlichkeiten auf den Böhmischen Schlachtfeldern, in: Die Presse (Abend), 30.6.1896, S. 1. O.V., War Bismarck ein Revolutionär?, in: Siebenbürgisch-Deutsches Tageblatt, 21.11.1906, S. 2. Auch in Schulbüchern war diese Begrifflichkeit anzutreffen: Franz Martin Mayer, Lehrbuch der Geschichte für die unteren Klassen der Mittelschulen. 3. Teil: Neuzeit, Wien 1907, S. 117. Heeresgeschichtliches Museum (Hg.), Gedenkschrift, herausgegeben aus Anlaß einer Sonderausstellung über den Krieg vor hundert Jahren. Die Ausstellung vom 23. Juni bis 31. Dezember 1966, Wien 1966. Vgl. o.V., Zum Jahrestag des Gefechtes bei Blumenau, in: „Neuigkeits-Welt-Blatt“, Extra-Beilage, 23.7.1891, o. S.
Vom „Bruderkrieg“ zur „Waffenbrüderschaft“
45
jährlichen Gedenkens der 3. Juli, der Tag der Schlacht von Königgrätz.⁴³ Als zweiter Bezugspunkt stand daneben etwas untergeordnet der 26. Juli, an dem die Unterzeichnung des Vorfriedens von Nikolsburg stattgefunden hatte, während der Jahrestag des Prager Friedens am 23. August wenig begangen wurde. Die Erinnerungsveranstaltungen an Königgrätz konzentrierten sich um die Denkmäler an den Schlachtorten in Böhmen.⁴⁴ Zudem wurden an allen Garnisonsorten jährlich Aufmärsche und Ehrungen für die jeweils gefallenen Regimentsangehörigen abgehalten.⁴⁵ Die damit verbundenen Festveranstaltungen ähnelten den Sedanfeiern in Deutschland und ließen die militärische und politische Niederlage in den Hintergrund treten. So wurden die Veranstaltungen in den Medien häufiger mit dem Begriff „Feier“ und weniger mit „Gedenken“ umschrieben, um statt einer Trauerzeremonie einen Festcharakter zu suggerieren.⁴⁶ Der „Centralverein zur Erhaltung der Kriegerdenkmale vom Jahre 1866 in Böhmen“ erwirkte für seine Mitglieder von der staatlichen Eisenbahn sogar vergünstigte Fahrten zu den Feiern.⁴⁷ Während unterschiedliche gesellschaftliche Korporationen an den Denkmälern Präsenz zeigten, war die Anwesenheit von Angehörigen des Herrscherhauses eine Seltenheit, wie 1876, als Kronprinz Rudolf am zehnten Jahrestag anlässlich einer Armeeinspektion an den Feiern bei Königgrätz teilnahm.⁴⁸ Bereits in den Jahren unmittelbar nach dem Kriegsende waren sich die Autoren in den unterschiedlichen Zeitungen allesamt der einschneidenden Folgen des Jahres 1866 bewusst.⁴⁹ Zwar ist, wie Cornelius bilanzierte, selten Unmut gegenüber dem preußischen Heer festzustellen, und es wurde einhellig betont, dass kein Federstrich die Bande zwischen Österreich und Deutschland trennen kön Vgl. o.V., Ein Jahrestag, in: Neue Freie Presse, 4.7.1867, S. 1; o.V., Zum dritten Juli!, in: Die Debatte und Wiener Lloyd, 3.7.1867, S. 1; o.V., Nichtamtlicher Theil, in: Klagenfurter Zeitung, 5.7. 1867, o. S.; o.V., Zum 3. Juli, in: Linzer Volksblatt, 4.7.1871, S. 1; o.V., Zehn Jahre, in: Tagespost (Graz). Morgenblatt, 25.6.1876, S. 1. Vgl. o.V., Prag, in: Wiener Abendpost. Beilage zur Wiener Zeitung, 3.7.1891, S. 1; o.V., Gedächtnisfeier bei Königgrätz, in: Das Vaterland, 2.7.1891, S. 4; o.V., Gedenkfeier von Königgrätz, in: Grazer Volksblatt, 5.7.1896, S. 2 f.; o.V., Gedenkfeierlichkeiten auf den böhmischen Schlachtfeldern, in: Linzer Volksblatt, 2.7.1896, S. 3; o.V., Einladung zur feierlichen Einweihung des Hesser-Denkmal am Königgrätzer Schachtfelde, in: Badener Bezirks-Blatt, 1.7.1896, S. 5 f. Vgl. o.V., Zur Königgrätz-Feier, in: Siebenbürgisch-Deutsches Tageblatt, 2.7.1908, S. 3. Vgl. o.V., Königgrätzfeier, in: Siebenbürgisch-Deutsches Tageblatt, 2.7.1904, S. 296; o.V., öniggrätzfeier, in: Ebd., 2.7.1906, S. 6. Vgl. o.V., Fahrbegünstigung für Besucher der Schlachtfelder in Böhmen, in: Reichspost, 21.6. 1896, S. 10. Vgl. o.V., Kronprinz Rudolf, in: Leitmeritzer Zeitung, 5.7.1876, S. 1; o.V., Se. Kaiserl. Hoheit der Kronpinz auf den böhmischen Schlachtfeldern, in: Oesterreichisch-ungarische Wehr-Zeitung „Der Kamerad“, 5.7.1876, S. 4; o.V., Wien, 3. Juli, in: Die Presse. Abendblatt, 3.7.1876, S. 1. Vgl. o.V., Die Friedensverhandlungen, in: Morgen-Post, 24. 8.1866, S. 1 f.
46
Tobias Hirschmüller
ne.⁵⁰ Nur vereinzelt wurde eine Neuausrichtung Österreichs in der Außenpolitik als Ordnungsmacht im Osten gefordert.⁵¹ Auch trifft zu, wie Cornelius kritisierte, dass das Ende des Deutschen Bundes als friedenwahrende Institution bedauert wurde, wie im katholisch-konservativen Vorarlberger Volks-Blatt. ⁵² Doch dominierte zunächst nicht die Achtung vor Bismarcks Milde gegenüber Österreich, sondern eine Geringschätzung seiner Person und das Bedauern, dass die Verbindung zu den anderen Deutschen zerrissen worden sei.⁵³ Die Morgen-Post prophezeite gar, Preußen werde Deutschland furchtbar machen.⁵⁴ Ein weiteres mentalitätsgeschichtlich bedeutendes Ereignis war die Gründung des Deutschen Kaiserreiches als kleindeutsche Lösung unter preußischer Führung, da damit die Entscheidungen von 1866 zementiert waren.⁵⁵ Die Neuen Tiroler Stimmen, ein Sprachrohr des politischen Katholizismus, schrieben im August 1871: „[W]ie Bismarck Österreich in den Jahren 1864 bis 1866 betrog, so zeigt sich, dass er Frankreich bis 1870 belogen hat“.⁵⁶ Parallel entwickelte sich schon am Vorabend des Deutsch-Französischen Kriegs in bürgerlichen Kreisen wie auch bei Studierenden in Böhmen, Kärnten, der Steiermark und in Tirol sowie in Siebenbürgen eine preußenfreundliche Haltung, die zu offenen Sympathiebekundungen für Preußen und Siegesfeiern führte.⁵⁷ In den Medien konnte sich die Haltung dieser deutschnationalen Bewegungen noch kaum artikulieren, wenngleich ab der Mitte der 1870er zumindest teilweise Distanz zum Jahr 1866 gewonnen wurde, etwa in der liberalen Grazer Tagespost. ⁵⁸
Vgl. o.V., Ein Rath für die Deutsch-Österreicher, in: Tagespost (Graz), 8.8.1866, o. S.; o.V., Klagenfurt, 30. Juli, in: Klagenfurter Zeitung, 31.7.1866, S. 2; Cornelius, Nikolsburg, S. 66 – 68. Vgl. o.V., Oesterreichs östlicher Beruf, in: Neue Freie Presse, 23.8.1866, S. 1 f. Vgl. o.V., Zur Lage, in: Vorarlberger Volks-Blatt, 28.8.1866, S. 2. Vgl. o.V., Deutschland, in: Grazer Zeitung (Morgen-Blatt), 7.7.1871, S. 3. Vgl. o.V., Zur politischen Geschichte des Tages. Die Nikolsburger Konvention, in: Morgen-Post, 5.8.1866, S. 1. Zu der österreichisch orientierten Zeitung: Vgl. Paupié, Pressegeschichte, S. 140 – 142. Vgl. Heinrich Lutz, Österreich-Ungarn und die Gründung des Deutschen Reiches. Europäische Entscheidungen 1867– 1871, Frankfurt 1979, insbesondere S. 316 – 341; Wladika, Ursprünge, S. 27. O.V., Zwischen uns sei Wahrheit, in: Neue Tiroler Stimmen, 17. 8.1817, S. 2 f. Zu der Zeitung: Lothar Höbelt, Das „nationale“ Pressewesen, in: Helmut Rumpler u. Peter Urbanitsch (Hg.), Die Habsburgermonarchie 1848 – 1918, Bd. VIII/2: Politische Öffentlichkeit und Zivilgesellschaft – Die Presse als Faktor der politischen Mobilisierung, Wien 2006, S. 1819 – 1894, hier S. 1838 u. S. 1857. Auch im vom „Katholischen Presseverein“ begründeten Linzer Volksblatt: Vgl. o.V., Zum 3. Juli, in: Linzer Volksblatt für Stadt und Land, 4.7.1871, S. 1. Heer, Identität, S. 271 f. O.V., Zehn Jahre, in: Tagespost (Graz). Morgenblatt, 25.6.1876, S. 1.
Vom „Bruderkrieg“ zur „Waffenbrüderschaft“
47
3 Von den 1880er Jahren bis zum Ersten Weltkrieg Ab den 1880ern begann die Erinnerung an den Krieg komplexer zu werden. Dies lag zum einen daran, dass die zunehmenden internationalen Spannungen die Friedenslösung von 1866 als positiven Wert erscheinen ließen und die Verluste in den Hintergrund traten.⁵⁹ Zudem stellte ab 1879 der „Zweibund“ eine veränderte außenpolitische Situation dar.⁶⁰ Gleichzeitig nahm in der deutschsprachigen Gesellschaft der Donaumonarchie völkisches Gedankengut zu, welches eine Zunahme der Bismarck-Verehrung beförderte.⁶¹ Diese Nationalisierung traf insbesondere auf die Sprachgrenzregionen zu, die sogenannten „Volkstumsgrenzen“, an denen von gesellschaftlichen Eliten aus städtischen bürgerlichen Schichten, dem Beamtentum und auch von Geistlichen Nationalitätenkonflikte geschürt wurden.⁶² Neben dem Bismarckturm von Georg von Schönerer (1842– 1921) im niederösterreichischen Rosenau entstanden weitere Türme in Eger und auf dem Hainberg bei Asch im äußersten Nordwesten sowie in Nixdorf im Bezirk Tetschen im Norden Böhmens.⁶³ Weitere Exemplare waren bis zum Ersten Weltkrieg geplant, kamen aber nicht zur Ausführung, wie in Graz.⁶⁴ Die Neuzeithistorikerin Julia Schmid hielt in ihrer Dissertation fest:
O.V., Der vierzigjährige Friede, in: Neues Wiener Tagblatt. Demokratisches Organ, 26.7.1906, S. 1. Vgl. Helmut Rumpler, Der „Zweibund“ 1879. Das deutsch-österreichisch-ungarische Bündnis und die europäische Diplomatie, Wien 1996. Vgl. Winkler, Bestrebungen, S. 282– 289. Vgl. Pieter Judson, Tourismus, Nationalisierung der Landschaft und lokales Identitätsmanagement um die Jahrhundertwende: Böhmen, die Steiermark, und Trentino/Südtirol, in: Peter Haslinger (Hg.), Regionale und nationale Identitäten. Wechselwirkungen und Spannungsfelder im Zeitalter moderner Staatlichkeit, Würzburg 2000, S. 113 – 128; Markus Krzoska, Frieden durch Trennung oder Beherrschung? Deutsche und Tschechen in Böhmen zwischen 1897 und 1920, in: Dieter Bingen (Hg.), Die Destruktion des Dialogs. Zur innenpolitischen Instrumentalisierung negativer Fremd- und Feindbilder. Polen, Tschechien, Deutschland und die Niederlande im Vergleich, 1900 – 2005, Wiesbaden 2007, S. 85 – 96. Vgl. Gerhard Fink, Eger in Wort und Bild, Eger 1913, S. 39; Gustav Markus, 100 Jahre Bismarckturm auf dem Hainberg in Asch. Erinnerungsausstellung des Heimatverbandes des Kreises Asch e.V., Rehau 2004; Sieglinde Seele, Lexikon der Bismarck-Denkmäler. Türme, Standbilder, Büsten, Gedenksteine und andere Ehrungen. Eine Bestandsaufnahme in Wort und Bild, Petersberg 2005, S. 36 f. (Asch), S. 125 (Eger) u. S. 294 (Nixdorf). Renate Kniely, Aussichtswarten um Graz, in: Historisches Jahrbuch der Stadt Graz 38/39. 2009, S. 413 – 457, hier S. 433 f.
48
Tobias Hirschmüller
Neben der kollektiven nationalen Identitätsstiftung dienten die Bismarckdenkmäler hier zudem der Formulierung eines territorialen deutschen Machtanspruches und beinhalteten implizit eine politische Einheitsforderung, die aus der Perspektive des österreichischen Staates Irredentacharakter besaß.⁶⁵
Für die deutschnationalen, völkischen und auch liberalen Bismarckverehrerinnen und -verehrer galt das Jahr 1866 als Lehrstück deutscher Machtpolitik. Jedes Jahr wurde zwar die Leistung der österreichischen Armee gepriesen, gleichzeitig aber Bismarcks Politik gegenüber Österreich als Naturnotwendigkeit entschuldigt, wie unter anderem die deutschnationalen Freien Stimmen in Klagenfurt zeigen.⁶⁶ Die Niederlage wurde zum Sieg für das Deutschtum uminterpretiert und für die Diskreditierung des politischen Katholizismus instrumentalisiert.⁶⁷ Nach dem Abschluss des Zweibundes wurde der Frieden als Indikator für die Weitsicht Bismarcks gesehen, wie unter anderem neben den Freien Stimmen ⁶⁸ auch im liberalen Neuen Wiener Tagblatt zu lesen war.⁶⁹ Die Bilanz des liberal-demokratischen Prager Tagblattes lautete zudem, dass die „1866 geschaffenen Verhältnisse […] längst rückhaltslos acceptirt worden“ seien.⁷⁰ Karl Neisser (1859 – 1935), Redakteur der deutschnationalen Deutschen Zeitung, schrieb 1886, dass Bismarck nie wirklich Gegner Österreichs gewesen sei und nur das „geschichtlich Unabwendbare vollzogen“ habe. Daher plädierte er: „Die Deutschen Oesterreichs aber sollten sich seinen Rath, seinen Tadel und seine Warnungen immer vor Augen halten.“⁷¹ Hierzu zählten eine Annäherung an Russland als Vorbeugung gegen Revolution, Heeresreformen und Wachsamkeit im Nationalitätenkonflikt. Die alldeutsche Ostdeutsche Rundschau forderte zum 30. Jahrestag, sich darüber zu freuen, dass 1866 die Grundlage von Deutschlands Aufstieg zur Weltmacht gelegt habe.⁷²
Schmid, Kampf um das Deutschtum, S. 221. O.V., Geschichtliche Erinnerungen, in: Freie Stimmen, 3.7.1901, S. 1 f. O.V., Klagenfurt. Bismarck-Feier im katholisch-constitutionellen Verein, in: Freie Stimmen, 4.4.1885, S. 3 f. O.V., Otto von Bismarck, in: Freie Stimmen, 30. 5.1895, S. 1. O.V., Bismarck, in: Neues Wiener Tagblatt. Demokratisches Organ, 31. 3.1895, S. 1. Zu der Zeitung: Paupié, Pressegeschichte, S. 150. Ähnlich: O.V., Aus dem Leben Bismarcks, in: MontagsRevue aus Böhmen, 24. 3.1890, S. 9. O.V., Das Bismarck-Jubiläum, in: Prager Tagblatt, 31. 3.1885, S. 1. Karl Neisser, Fürst Bismarck’s Aussprüche über Österreich (1848 – 1866). Sonderdruck der in der „Deutschen Zeitung“ im August und September 1886 erschienenen Aufsätze,Wien 1886, S. 3 f. O.V., Dreißig Jahre, in: Ostdeutsche Rundschau, 3.7.1896, S. 3. Zu der Zeitung: Melischek u. Seethaler, Wiener Tageszeitungen, Bd. 3, S. 159 f.
Vom „Bruderkrieg“ zur „Waffenbrüderschaft“
49
Der Bismarckkult veranlasste die Gegner der preußischen Politik von 1866, zum Protest gegen Bismarckfeiern aufzurufen.⁷³ In der katholischen Salzburger Chronik hieß es 1895, es habe eben 1866 keine „Naturnotwendigkeiten“, sondern nur Machtpolitik gegeben.⁷⁴ Österreich habe wenig Veranlassung, einen Bismarck zu feiern, und wer dies beabsichtige, der solle sich vorher die Schlachtfelder in Böhmen zur Abschreckung ansehen, bemerkte die Neue Warte am Inn aus Braunau.⁷⁵ Auffälligerweise wurde die im völkischen Gedankengut vorhandene Linie großer Deutscher – Martin Luther (1483 – 1546), Bismarck, Schönerer – auch von den Gegnern zu Jahrestagen aufgegriffen, allerdings als Linie von Persönlichkeiten zum Nachteil Österreichs.⁷⁶ Zudem äußerten auch liberale Zeitungen wie Die Presse weiter ihren Unmut über 1866, schließlich habe man „mit unserem Blute, mit der Preisgebung eines guten Theiles unserer schönsten Hoffnungen einen Theil der Kosten bezahlt“.⁷⁷ Die Südsteirische Post, eine deutsche Zeitung für slowenische Interessen, schrieb 1886, der Pakt liege im Interesse Deutschlands, dem nach den Kriegen von 1866 und 1871 gar kein anderer potenzieller Verbündeter mehr geblieben sei.⁷⁸ Unter Berufung auf eine Broschüre des Mainzer Bischofs Wilhelm Emmanuel von Ketteler (1811– 1877) widersprach die Kärntner Zeitung nicht nur der Bezeichnung als „geschichtliche Nothwendigkeit“. Sie erklärte, Bismarck sei „zeitlebens der Vorkämpfer des Borussianismus“ gewesen, und lehnte dessen Einigungswerk daher als Gefahr für Österreich wie den europäischen Frieden ab.⁷⁹ Eine wiederum andere Interpretation war in der Arbeiterpresse anzutreffen, was sich anhand von zwei Aspekten festmachen lässt. Zunächst galt Königgrätz als Niederlage der Reaktion: „Auf den Schlachtfeldern von Königgrätz und Sol-
O.V., Wien, 1. April, in: Das Vaterland, Abendblatt, 1.4.1895, S. 1. Zu der Zeitung: Paupié, Pressegeschichte, S. 96 f. O.V., Die Bismarckfeier in Oesterreich und speziell in Salzburg, in: Salzburger Chronik, 1.4.1895, S. 1 f. O.V., Die Bismarck-Ehrung, in: Neue Warte am Inn, 30. 3.1895, S. 2 f. O.V., Schönerer, Bismarck und Luther, in: Salzburger Chronik, 3.4.1905, o. S. O.V., Otto v. Bismarck, in: Die Presse. 1.4.1885, S. 1. O.V., Journalstimmen über die Entrevue von Gastein, in: Südsteirische Post, 21.8.1886, S. 1 f. Zu der Zeitung: Matjaž Birk u. Anja Urekar Osvald, Selbst- und Fremdbilder vom „Krankenbette Österreichs“ in der ausgewählten deutschen und slowenischen Presse Marburgs (1900, 1907, 1914), in: Zoltán Szendi (Hg.), Medialisierung des Zerfalls der Doppelmonarchie in deutschsprachigen Regionalperiodika zwischen 1880 und 1914, Wien 2014, S. 67– 82, hier S. 68. O.V., Preußen und das Jahr 1866. (Eine zeitgemäße Erinnerung), in: Kärntner Zeitung, 10.4.1895, S. 1 f. Die Broschüre, auf die sich bezogen wurde: Wilhelm Emmanuel von Ketteler, Deutschland nach dem Kriege von 1866, Mainz 1867.
50
Tobias Hirschmüller
ferino erstickte das absolutistisch-pfäffische Altösterreichertum.“⁸⁰ Somit stand die Ablehnung der aristokratischen Führung von 1866 im Zentrum.⁸¹ Zudem galt das Ereignis durch die für die Schriftstellerin Bertha von Suttner (1843 – 1914) nachhaltig prägenden Erfahrungen als Beispiel für die verheerenden Folgen von Krieg.⁸² Für die Arbeiterpresse entwickelte sich der 3. Juli daher als Tag der Erinnerung an demokratische Reformen wie „die Erhaltung des Friedens in Europa“,⁸³ eine Parallele zum Organ der Sozialdemokratie im Deutschen Kaiserreich.⁸⁴ Die Zeitungen versuchten unter Verweis auf 1866 als „Katalysator der Demokratisierung“ zu wirken.⁸⁵ So wurde die Erinnerung an Königgrätz eingesetzt, um Reformen in der Verfassung voranzutreiben.⁸⁶ Hiervon unterschied sich die Berichterstattung in Militärzeitungen, die den Jahrestag der Schlacht nutzten, um eine Aufrüstung und Modernisierung der Armee anzumahnen.⁸⁷ Je mehr internationale Krisen nach 1900 auftraten, desto intensiver wurden jene Anliegen vorgebracht. Danzers Armee-Zeitung druckte 1909 einen Artikel mit der Überschrift „Die Vorbereitung für den Krieg 1866 und 19**“.⁸⁸ Hierin wurden Ausrüstungsmängel in der Armee beklagt, weswegen ein in naher Zukunft ausbrechender Krieg wie ein großes Königgrätz ausgehen könne. Somit diente je nach gesellschaftlicher Zugehörigkeit der Deutsche Krieg als Argument für Pazifismus oder aber für Militarismus.
O.V., Neujahrsbetrachtungen über die politische Verwaltung Steiermarks, in: Arbeiterwille. Organ des arbeitenden Volkes für Steiermark und Kärnten, 1.1.1911, S. 2. Albert Horviek, Schule und Lehrer, in: Arbeiterwille. Organ des arbeitenden Volkes für Steiermark und Kärnten, 5.1.1899, S. 7 f.; o.V., Die Große Volksversammlung in der Industriehalle, in: Ebd., 6.9.1900, S. 3 f.; o.V., Die Wehrreform und die Sozialdemokratie, in: Ebd., 5.11.1911, S. 3. Bertha von Suttner, Die Waffen Nieder! Eine Lebensgeschichte, in: Montags-Revue aus Böhmen, 24. 8.1891, S. 7– 9; Bertha von Suttner, in: Arbeiterinnenzeitung, 7.7.1914, S. 7. O.V., Für die Erhaltung des Friedens in Europa, in: Arbeiterwille. Organ des arbeitenden Volkes für Steiermark und Kärnten, 24.10.1912, S. 2. O.V., Frieden auf Erden, in: Vorwärts. Berliner Volksblatt. Zentralorgan der sozialdemokratischen Partei Deutschlands, 29.12.1891, S. 1 f. Frank Bösch, Katalysator der Demokratisierung? Presse, Politik und Gesellschaft vor 1914, in: Frank Bösch u. Norbert Frei (Hg.), Medialisierung und Demokratie im 20. Jahrhundert, Göttingen 2006, S. 25 – 47. O.V., Linz, 29. August, in: Tages-Post (Linz), 30. 8.1866, S. 1; o.V., Wien, 22. August, in: Neue Freie Presse, 23. 8.1866, S. 1; o.V., Der Frieden, in: Bozner Zeitung, 26. 8.1866, S. 2; o.V., Nichtamtlicher Theil, in: Klagenfurter Zeitung, 26. 8.1866, S. 1. O.V., Zum 3. Juli 1876, in: Militär-Zeitung, 1.7.1876, S. 1; o.V., Königgrätz, in: Ebd., 3.7.1891, S. 1; o.V., Die Schuld an Königgrätz, in: Danzers Armee-Zeitung, 28.6.1906, S. 2 f.; o.V., Memento! Am Gedenktage von Königgrätz, in: Ebd., 2.7.1908, S. 1 f. O.V., Die Vorbereitung für den Krieg 1866 und 19**, in: Danzers Armee-Zeitung, 4. 2.1909, S. 3 f.
Vom „Bruderkrieg“ zur „Waffenbrüderschaft“
51
Auch in jüdischen Zeitungen der Donaumonarchie wurde über das „Unglücksjahr“ 1866 geschrieben,⁸⁹ aus dem Österreich politisch „wiedergeboren“⁹⁰ worden sei. Zentrales Anliegen der Redaktionen war es, die Leistungen jüdischer Soldaten und damit deren Loyalität gegenüber dem Habsburgerstaat zu betonen.⁹¹ Dies ist in erster Linie als Reaktion auf den zunehmenden Antisemitismus zu lesen, dessen sich die jüdischen Redakteure durch die Erinnerung an Königgrätz zu erwehren suchten. Was immer wieder vor allem in liberalen Blättern mit Wohlwollen zur Kenntnis genommen wurde, war, dass im Deutschen Kaiserreich auf Festlichkeiten seitens der Regierung in Berlin verzichtet wurde. Lediglich lokale Feiern von Veteranenvereinen galten als „private Kneiperei“ für hinnehmbar.⁹² Wie sensibilisiert manche Personenkreise in der Donaumonarchie hierfür waren, zeigt ein Kommentar von Heinrich Friedjung (1851– 1920), einem gebürtig aus Roschtin in Mähren stammenden Historiker.⁹³ Kaiser Wilhelm II. (1849 – 1941) hatte in seiner Thronrede bei der Eröffnung des Deutschen Reichstages in Berlin am 25. Juni 1888 als erstes deutsches Staatsoberhaupt 1866 erwähnt.⁹⁴ Friedjung schrieb hierzu: „Sorgfältig hatten die preußischen Staatsmänner es bis dahin vermieden, an die Zeit vor 1866 anzuknüpfen, wenn sie Österreich-Ungarns gedachten.“ Er entschuldigte Wilhelm II. damit, dass dieser „nicht wie sein Großvater und Vater bei Sadowa gekämpft“ habe und daher an „den alten deutschen Bund“ habe erinnern
O.V., Reminiscenz an das Unglücksjahr 1866, in: Oesterreichische Wochenschrift, 31.7.1891, S. 542. O.V., Trinkspruch des Oberrabbiners Dr. M Güdemann, in: Oesterreichische Wochenschrift, 23. 3.1906, S. 190. Leo Ehrenteil, Die wandernde Thorarolle. Erinnerungen eines Feldpredigers, in: Oesterreichische Wochenschrift, 29.7.1898, S. 570 f.; o.V., Juden auf dem Schlachtfelde, in: Oesterreichische Wochenschrift, 14.7.1899, S. 520; o.V., Jüdische Soldaten vor dem Feinde, in: Oesterreichische Wochenschrift, 25. 3.1904, S. 199 f.; Moritz Frühling, Die Juden in der österreichisch-ungarischen Armee, in: Oesterreichische Wochenschrift, 7.11.1910, S. 2 f.; o.V., Husarenmajor Wolf Bardach von Chlumberg, in: Neue National-Zeitung, 19. 5.1911, S. 8; o.V., Jüdische Kriegshelden, in: Neue National-Zeitung, 14.8.1914, S. 124– 126. O.V., Berlin, 3. Juli, in: Wiener Allgemeine Zeitung. Mittagblatt, 4.7.1881, S. 2; o.V., Nach 25 Jahren, in: Siebenbürgisch-Deutsches Tageblatt, 9.7.1891, S. 662. Vgl. Robert A. Kann, Friedjung, Heinrich, in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 5: Falck–Fyner (voran: Faistenberger), Berlin 1961, S. 451; Karl Glaubauf, Bismarck und der Aufstieg des Deutschen Reiches in der Darstellung Heinrich Friedjungs, Eduard von Wertheimers und Ottokar Lorenz, Diss. Universität Wien 1979. Kaiser Wilhelm II., Thronrede bei der Eröffnung des Deutschen Reichstages, Berlin, 25. Juni 1888, in: Johannes Penzler (Hg.), Die Reden Kaiser Wilhelms II. in den Jahren 1888 – 1895. Erster Teil, Leipzig 1897, S. 14.
52
Tobias Hirschmüller
dürfen, „ohne daß die 1866 geschlagenen, vernarbten Wunden schmerzten“.⁹⁵ Gleichzeitig führte er an, dass die „Deutschen Österreichs“, nachdem sie von ihrem „Mutterlande losgerissen“ wurden, ihren „politischen Schwerpunkt“ verloren und diesen „noch nicht wieder gefunden“ hätten.⁹⁶ Eine gemeinsame Erinnerung auf politischer Ebene konnte sich so in der Zeit nach Königgrätz bis zum Ende der Monarchien zwischen dem Deutschen Reich und Österreich-Ungarn nicht etablieren.
4 Die Erinnerung im Ersten Weltkrieg Gedenkfeiern und Kranzniederlegungen anlässlich des Jahrestages von Königgrätz wurden landesweit auch während des Ersten Weltkriegs praktiziert, wie etwa am Deutschmeisterdenkmal in Wien.⁹⁷ Gerade in dieser Zeit jährten sich die Ereignisse des Deutschen Kriegs zum 50. Mal,⁹⁸ während mit Franz Joseph (1830 – 1916) an der Spitze des Hauses Habsburg immer noch derselbe Kaiser stand, dessen Truppen der preußischen Armee 1866 unterlegen waren. Die deutschen wie die österreichisch-ungarischen Truppen an der Ostfront standen seit zwei Jahren unter dem Oberbefehl von Paul von Hindenburg (1847– 1934), der 1866 als Leutnant im 3. Garderegiment zu Fuß auf preußischer Seite an der Schlacht von Königgrätz teilgenommen hatte. Seine Heroisierung und Selbstinszenierung ist zwar bereits eingehend untersucht worden,⁹⁹ nicht aber ihre Ausstrahlung auf die Deutschen im Habsburgerstaat. Dabei galt er bereits unmittelbar nach der sogenannten Schlacht von Tannenberg im September 1914 auch in Österreich-Ungarn als Siegesgarant sowohl in liberalen Blättern¹⁰⁰ wie auch im katholischen Neuigkeits-Welt-Blatt. ¹⁰¹ Letzteres hatte noch zum 40. Jahrestag 1906 die Ansicht
Heinrich Friedjung, Der Kampf um die Vorherrschaft in Deutschland 1859 bis 1866, Bd. 2, Stuttgart 61905, S. 569. Ebd., S. 561 f. O.V., Deutschmeister-Kameradschaftsverband, in: Neues 8 Uhr Blatt, 4.7.1916, S. 3. In Deutschland wurde der preußische Sieg in der Schlacht von Königgrätz auch zu diesem runden Jubiläum nur in geringem Umfang thematisiert: Vgl. Hirschmüller, Bruderkrieg, S. 95 f. Vgl. Jesko von Hoegen, Der Held von Tannenberg. Genese und Funktion des HindenburgMythos, Köln 2007; Wolfram Pyta, Hindenburg. Herrschaft zwischen Hohenzollern und Hitler, München 22007. O.V., Generaloberst von Hindenburg, in: Tages-Post (Linz), 16.9.1914, S. 3. O.V., Hindenburg als Leutnant in der Schlacht bei Königgrätz, in: Neuigkeits-Welt-Blatt, 22.9. 1914, S. 11. Eine teilweise Integration katholischer Bevölkerungsteile in die Bismarck-Verklärung lässt sich auch in Regionen des Deutschen Reiches nachweisen: Vgl. Tobias Hirschmüller, Erin-
Vom „Bruderkrieg“ zur „Waffenbrüderschaft“
53
vertreten, dass die „Wunden“ von 1866 in Österreich noch nicht verheilt seien.¹⁰² Nun galt Hindenburg unter anderem deswegen als kompetenter Feldherr, weil er bei Königgrätz seine „Feuertaufe“ erhalten habe.¹⁰³ Dabei handelte es sich um die Meinung einzelner Blätter; zum Beispiel die klerikale Salzburger Chronik, die Bismarck immer ablehnend gegenübergestanden hatte, schwenkte in diese Neuinterpretation nicht ein. Sie vermied 1916 eine Thematisierung des Jahrestages von Königgrätz und erinnerte nur an die Kämpfe von 1866 gegen Italien.¹⁰⁴ Die Behauptung Friedjungs, dass Bismarcks Mäßigung in den Friedensschlüssen von 1866 das Fundament für einen dauerhaften Frieden mit Österreich geschaffen habe,¹⁰⁵ lässt sich auch im Ersten Weltkrieg zunächst in deutschnationalen Blättern belegen, wie etwa in den Freien Stimmen,¹⁰⁶ dem Salzburger Volksblatt ¹⁰⁷ oder dem Deutschen Volksblatt. ¹⁰⁸ Diese Sicht wurde zudem durch Autoren aus Deutschland bestärkt, wie etwa von Julius von Pflugk-Harttung (1848 – 1919) im Prager Tagblatt. ¹⁰⁹ Die katholisch-konservative Reichspost, die zuvor die Leistungen der österreichischen Soldaten auf dem Schlachtfeld von Königgrätz betont hatte,¹¹⁰ konnte sich dem anschließen.¹¹¹ Alldeutsche Blätter lobten darüber hinaus die Weitsicht Bismarcks, die Voraussetzung geschaffen zu haben, den Weltkrieg zu bestehen.¹¹²
nerungskultur in Kriegsgesellschaften. Bismarck und die beiden Weltkriege im Rheinland und in Westfalen, in: Westfälische Forschungen 68. 2018, S. 183 – 221, hier S. 208 – 210. O.V., Nach dem Tage von Königgrätz, in: Neuigkeits-Welt-Blatt, 3.7.1906, S. 1 f. O.V., Hindenburg bei Königgrätz, in: Neuigkeits-Welt-Blatt, 23. 2.1915, S. 11. O.V., Kämpfe in Südtirol vor fünfzig Jahren, in: Salzburger Chronik, 5.7.1916, S. 8. Heinrich Friedjung, Bismarck und Österreich-Ungarn, in: Neues Wiener Tagblatt. TagesAusgabe, 1.4.1915, S. 2. O.V., Bismarck und Österreich, in: Freie Stimmen, 1.4.1915, S. 2; o.V., Der Bismarcktag im Weltkriege, in: Freie Stimmen, 1.4.1915, S. 1. Richard Sternfeld, Der hundertste Geburtstag Bismarcks, in: Salzburger Volksblatt, 31.3. 1915, S. 1. O.V., Bismarck, in: Deutsches Volksblatt. Morgen-Ausgabe, 1.4.1915, S. 1 f. Julius von Pflugk-Harttung, Nikolsburg und Prag. Zum fünfzigjährigen Gedenken, in: Prager Tagblatt, 23.7.1916, S. 1. Pflugk-Harttung war Archivar am Geheimen Staatsarchiv in Berlin: Vgl. Stefan Weiß, Pflugk-Harttung, Julius, in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 20: Pagenstecher–Püterich, Berlin 2001, S. 358 f. O.V., Bei Königgrätz, in: Reichspost, 21.7.1896, S. 1 f.; o.V., Zum 40. Jahrestag der Schlacht von Königgrätz, in: Ebd., 26.6.1906, S. 1 f. O.V., Bismarck und Oesterreich. Zum 100. Geburtstage Otto von Bismarcks am 1. April 1915, in: Reichspost, 1.4.1915, S. 7. Karl Herlinger, Wenn Bismarck noch lebte, in: Deutsche Presse. Zeitung für alldeutsche Politik, 1.4.1915, S. 7.
54
Tobias Hirschmüller
Hingegen schrieb der jüdische Redakteur Hans Wantoch im Wiener Montagblatt: „Kein anderes Gefühl ist in uns Oesterreichern mehr lebendig als das bewundernder Verehrung für die geistige und seelische Größe unseres Kaisers Franz Josef, der in die Hand einschlug, die sich ihm zur Versöhnung bot.“¹¹³ Somit stellt es für ihn eher eine Leistung des österreichischen Kaisers dar, dass die Verständigung mit Deutschland gelungen war. In der Zeitung Arbeiterwille fand die Mäßigung beim Frieden von Nikolsburg auch eine Erwähnung. Autor war der SPD-Politiker Hermann Wendel (1884– 1936), er stammte gebürtig aus Metz, war vor dem Krieg für deutsch-französische Verständigung eingetreten¹¹⁴ und hatte sich bereits zuvor mit Bismarcks Politik 1866 beschäftigt.¹¹⁵ Die zentrale Intention von Wendel war nicht, den preußischen Staatsmann aufzuwerten. Er wollte den Kontrast zum Frieden von Frankfurt am Main 1871 aufzeigen, der für ihn keine außenpolitische Entspannung gebracht hatte, um die Notwendigkeit einer Mäßigung gegenüber Frankreich als Ausweg aus dem Weltkrieg aufzuzeigen.¹¹⁶ Wiederum eine andere Sicht wurde in der Feldzeitung Streffleur’s Militärblatt noch im August 1918 vertreten, wo es zunächst hieß, der Frieden zwischen Berlin und Wien sei ein „Gewaltfriede“ gewesen. Dies bedeutete keine Distanzierung von Bismarck, sondern sollte einen Siegfrieden rechtfertigen, denn dieser sei auch 1866 notwendig gewesen und habe ein „späteres freundschaftliches Verhältnis zwischen dem Sieger und dem Besiegten nicht gestört“.¹¹⁷ Die Entwicklung der Erinnerung im Ersten Weltkrieg verdeutlicht, dass sich die Presse des katholischen Milieus in der Donaumonarchie teilweise der Kriegssituation anpasste. In der Arbeiterpresse blieb die Distanz zu den deutschnationalen Interpretationen aus der Vorkriegszeit hingegen erhalten und aus einem Teil der jüdischen Presse ist zu entnehmen, dass sich hier eher eine österreichische und weniger eine deutsche Identität herausgebildet hat.
Hans Wantoch, 1866 – 1916, in: Wiener Montagblatt. Oesterreichische Finanz-Revue. GroßOesterreichisches Organ, 7.7.1916, S. 1. Zu Wantoch: Vgl. Österreichische Nationalbibliothek (Hg.), Handbuch österreichischer Autorinnen und Autoren jüdischer Herkunft 18. bis 20. Jahrhundert, Bd. 3. S–Z, München 2002, S. 1425 f. Vgl. Rainer Stübling, Vive la France! Der Sozialdemokrat Hermann Wendel (1884– 1936), Frankfurt 1983. Hermann Wendel, Frankfurt am Main von der großen Revolution bis zur Revolution von oben 1789 – 1866, Frankfurt 1910. Hermann Wendel, Feder und Schwert, in: Arbeiterwille, 2.12.1916, S. 8. O.V., Verständigungsfrieden, in: Streffleur’s Militärblatt. Feldzeitung, 3. 8.1918, S. 17.
Vom „Bruderkrieg“ zur „Waffenbrüderschaft“
55
5 Fazit Je länger die historischen Ereignisse zurücklagen, desto heterogener wurden die Interpretationen des Kriegsausgangs und desto mehr wurde das Urteil über den Deutschen Krieg ein Ausdruck der zunehmenden gesellschaftlichen Spannungen. Eine feste Narration vermochte sich um den Deutschen Krieg dabei nicht zu etablieren, woraus folgende Rückschlüsse gezogen werden können: Erstens ist die Kontextgebundenheit der Erinnerung durch eine räumliche Differenzierung gekennzeichnet, da entlang der Sprachgrenzen die Abgrenzung von anderen Volksgruppen die Bewältigung der Niederlage begünstigt und eine Ausrichtung auf den Sieger befördert hat. Hier zeigt sich, dass außenpolitische Erinnerung als lokale Konfliktkultur praktiziert wurde. Zweitens, je länger der Krieg zurücklag, desto mehr strebten die deutschnationalen und völkischen Kreise danach, den Sieger als Vorbild zu verklären, um sich von der Donaumonarchie zu distanzieren. Ihre aus 1866 gezogenen Rückschlüsse waren Ausdruck ihrer zunehmenden Radikalisierung und der von ihnen ausgehenden gesellschaftspolitischen Destabilisierung, da sie durch einen wie auch immer gestalteten „Anschluss“ an das Deutsche Kaiserreich die bestehenden Verhältnisse zu revolutionieren suchten. Drittens widerstanden die Arbeiterzeitungen dem Einschwenken in nationalistische Denkrichtungen; wenn sie auf eine Modernisierung drängten, waren sie auf den Erhalt des Staates ausgerichtet. Ihre pazifistische Haltung behielten sie im Ersten Weltkrieg bei, was die Grenzen des „Burgfriedens“ aufzeigt. Viertens waren die Interpretationen innerhalb eines ideologischen Lagers manchmal heterogen. Nur Teile der katholischen Presse lenkten später auf einen nationalen Erinnerungskurs ein. Fünftens war die jüdische Gedenkkultur von der Selbstrechtfertigung gekennzeichnet, ihren Beitrag als Österreicher im Krieg geleistet zu haben, und nahm keinen Bezug zur deutschen Frage. Dass sich somit keine konstante Narration etablieren konnte, zeigt auch der Ausblick auf die Entwicklung der Erinnerung an 1866. Galten noch in der Zeit der Monarchie in liberalen und deutschnationalen Kreisen die Folgen von Königgrätz als überwunden, so vertraten in der Ersten Republik die gleichen gesellschaftlichen Richtungen die Auffassung, dass dies nur durch den Anschluss an das Deutsche Reich gelingen könne.¹¹⁸ Unmittelbar nach dem Ende des Nationalsozialismus wurde dieses Kernnarrativ erneut zerstört, nun galt der Deutsche Krieg
O.V., Auf dem Schlachtfeld von Königgrätz, in: Neue Freie Presse, 2.7.1926, S. 5.
56
Tobias Hirschmüller
als fataler Beginn und Vorgeschichte der Weltkriege.¹¹⁹ Das „Vergessen“ des zeithistorischen Kontextes erklärt schließlich auch, warum die Schlacht am historischen Ort des Geschehens sich jährlich bei deutschen, österreichischen und tschechischen Laiendarstellerinnen und -darstellern großer Beliebtheit erfreut.¹²⁰
Wilhelm Böhm, Ein „deutscher Krieg“. Am 3. Juli 1866 siegten die Preußen bei Königgrätz, in: Wiener Zeitung, 3.7.1946, S. 2; o.V., Hölzerne Schiffe, eiserne Herzen, in: Tiroler Bauern-Zeitung, 25.7.1946, S. 1; L. Loreck, Die Lösung der deutschen Frage. Zum Jahrestag der Schlacht bei Königgrätz, in: Salzburger Volkszeitung, 3.7.1947, S. 2; o.V., Der Friede von Nikolsburg. 26. Juli 1866, in: Salzburger Volkszeitung, 26.7.1947, S. 2. Vgl. VisitCzechRepublic, Jubiläum der Schlacht bei Königgrätz, https://www.visitczechrepu blic.com/de-DE/a3f3899d-d4c3-4721-b6af-390d08bfa242/event/e-battle-of-hradec-kralove.
Sönke Kunkel
Nixon in China: Politische Erzählungen, Außenbeziehungen und Erinnerung im Medienzeitalter Als der US-amerikanische Präsident Richard Nixon im Februar 1972 zu einem einwöchigen Staatsbesuch in der Volksrepublik China eintraf, schuf er einen der großen historischen Momente des Kalten Kriegs. Dass der erklärte Antikommunist Nixon 23 Jahre nach dem Abbruch der diplomatischen Beziehungen zwischen den USA und der Volksrepublik China in das kommunistische Land reiste, noch dazu auf dem Höhepunkt des Vietnamkriegs, war eine Sensation, die eine neue Ära der Weltpolitik anzukündigen schien. Zugleich markierte der Besuch aber auch den Auftakt des amerikanischen Präsidentschaftswahlkampfes und war von Nixon und seinen Beratern entsprechend sorgfältig vorbereitet worden: Monatelang hatten Nixons Mitarbeiter mit den chinesischen Gastgeberinnen und Gastgebern photo opportunities und Fernseharrangements für den Besuch des Präsidenten ausgehandelt. Die chinesische Regierung hatte sogar eine Sendestation angekauft, damit der Besuch mittels Fernsehsatellit live übertragen werden konnte.¹ Wesentliche Programmpunkte waren so geplant worden, dass sie zur besten amerikanischen Sendezeit stattfanden und von den Fernsehzuschauerinnen und -zuschauern in den USA Tag für Tag verfolgt werden konnten – ein Kalkül, das mit Spitzenquoten und der beinahe ungeteilten Aufmerksamkeit der amerikanischen Medienöffentlichkeit belohnt wurde.² Hillary Clinton etwa erinnerte sich noch vierzig Jahre später, wie sehr der Besuch sie in seinen Bann gezogen hatte: Now, I was a law student in 1972. I was a poor law student. I did not own a television set. But I was not about to miss history being made, so I rented one – a portable model with those rabbit ears. I lugged it back to my apartment and tuned in every night to watch scenes of a
Zur Vorbereitung und medialen Inszenierung des Besuchs: Vgl. Margaret MacMillan, Nixon and Mao: The Week that Changed the World, New York 2007, S. 273 – 287; Yao Zhang, The Making of the „Week that Changed the World“: Nixon’s Media Strategy for the U.S.-China Rapprochement, in: The Chinese Historical Review 19/2. 2012, S. 128 – 149. So zeigten Gallup-Umfragen nach dem Besuch, dass 98 % der befragten Amerikaner von dem Besuch gehört oder ihn gesehen hatten – ein Wert, den kaum ein anderes politisches Ereignis der Nachkriegsjahre erreichte: Vgl. MacMillan, Nixon and Mao, S. 321. https://doi.org/10.1515/9783110726442-005
58
Sönke Kunkel
country that had been blocked from view for my entire life. Like many Americans, I was riveted and proud of what we were accomplishing through our president.³
Nixons Besuch in China fehlt heute in keiner Abhandlung zur Geschichte amerikanischer Außenpolitik in den frühen 1970er Jahren, ist aber auch in Öffentlichkeit und Kultur der USA ein populärer Mythos geblieben.⁴ In der amerikanischen Politik ist der Ausdruck „Only Nixon could go to China“ heute eine feststehende Redewendung.⁵ Medien und Politik kennen aber auch den „Nixon in China-Moment“, der immer dann als Deutungsfigur bemüht wird, wenn amerikanische Präsidenten besonders überraschende und risikoreiche Kurswechsel vollziehen – so zuletzt etwa im Umfeld des Gipfeltreffens von Präsident Trump und dem nordkoreanischen Machthaber Kim Jong-un im Frühjahr 2018.⁶ Anliegen des Beitrags ist es im Folgenden, den Zusammenhang zwischen amerikanischen Außenbeziehungen und den vielfältigen Erinnerungen an Nixons Besuch in China herauszuarbeiten: Wer erinnerte an den Besuch und warum? Welchen Zielen und Zwecken diente das Erinnern an Nixons China-Besuch? Wie wandelten sich die Formen und Kontexte, in denen an den Besuch erinnert wurde? Der Beitrag adressiert dabei die Bedeutung von politischen Erzählungen im Kontext internationaler Beziehungen – ein Forschungsfeld, das erst allmählich entsteht.⁷ Kollektives Erinnern, so die Ausgangsüberlegung, wird markiert durch Prozesse der aktiven erzählerischen Vergegenwärtigung von Vergangenheit, durch die bestimmte Verständnisse und Deutungen des historischen Geschehens stabilisiert, mitgeformt oder auch umgeformt werden. Erinnern als aktives gesellschaftliches, kulturelles und/oder politisches Erzählen über Vergangenheit steht dabei in engem Bezug zu den üblicherweise in diesem Zusammenhang aufgerufenen Bezugsgrößen kollektives, soziales, kommunikatives und kulturel-
Hillary Clinton, Remarks at the U.S. Institute of Peace China Conference, 7. 3. 2012; zit. n.: https://2009-2017.state.gov/secretary/20092013clinton/rm/2012/03/185402.htm. „Mythos“ verstehe ich in Anlehnung an den Historiker Matthias Waechter als „gemeinsam erlebte und durch herausragende Individuen geprägte Geschichte, die auf eine besondere Weise präsentiert wird“: Matthias Waechter, Mythos. Version 1.0, http://docupedia.de/zg/waechter_my thos_v1_de_2010. So etwa in den TV-Duellen zwischen Barack Obama und John McCain im amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf 2008. Vgl. etwa Lawrence Freedman, Trump-Goes-To-Korea Is the New Nixon-Goes-To-China, https:// foreignpolicy.com/2018/04/30/trump-goes-to-korea-is-the-new-nixon-goes-to-china/. Grundlegend dazu: Vgl. Frank Gadinger (Hg.), Politische Narrative. Konzepte, Analysen, Forschungspraxis, Wiesbaden 2014; Ronald Krebs, Narrative and the Making of U.S. National Security, Cambridge 2015; Wilhelm Hofmann, Judith Renner u. Katja Teich (Hg.), Narrative Formen der Politik, Wiesbaden 2014.
Nixon in China: Politische Erzählungen, Außenbeziehungen und Erinnerung
59
les Gedächtnis. Versteht man Letztere als je anders akzentuierte Sammelbegriffe für jene historischen Erfahrungen, Ereignisse, Bilder, Personen, Symbole oder Mythen, die mittels medialer Berichterstattung, Bildung, mündlicher Tradierung oder auf anderen Wegen zum abrufbaren Allgemeinwissen großer (oder auch kleiner) Teile der Gesellschaft geworden sind, dann lässt sich Erinnern als der aktive Vorgang der intersubjektiven Vergegenwärtigung solcher kollektiven Speicherinhalte begreifen.⁸ Diesem Vorgang wohnt in der Regel eine erzählerische Komponente inne, mittels derer historisches Geschehen in bestimmten „Erzählweisen des Vergangenen“⁹ geordnet, perspektiviert, selektiert, ästhetisiert, vergegenwärtigt und mit Sinnhaftigkeit ausgestattet wird.¹⁰ Unterscheiden lässt sich dabei zwischen Erinnern als aktivem Prozess und Erinnerung als der Gesamtheit der vorhandenen Formen und Vorstellungen, in denen etwas intersubjektiv oder kollektiv erinnert wird. Interessieren sollen im vorliegenden Beitrag insbesondere politische Erzählungen, verstanden als solche Erzählungen über Vergangenes, die dezidiert politische Funktionen erfüllen oder von Politik selbst in Anschlag gebracht werden.¹¹ Solche politischen Erzählungen sind im Medienzeitalter als Technik politischen Handelns kaum noch aus Politik und Kultur der USA wegzudenken. Sie sind aber auch dort wichtig, so soll gezeigt werden, wo es um die internationalen Bezüge und Beziehungen der USA geht. Außenbeziehungen konstituieren sich nicht allein durch Interaktionen zwischen Diplomatinnen und Diplo-
Zum breiteren Kontext: Vgl. Aleida Assmann, Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik, München 2006; Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 2007; Harald Welzer, Das kommunikative Gedächtnis. Eine Theorie der Erinnerung, München 2005; Maurice Halbwachs, Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, Frankfurt 1985; François Étienne u. Hagen Schulze (Hg.), Deutsche Erinnerungsorte, 3 Bde., München 2009. Zum Begriff „Erinnerungskultur“ vgl. den guten Überblick von Christoph Cornelißen, Erinnerungskulturen. Version 2.0, http://docupedia.de/zg/cornelissen_erinnerungskulturen_v2_de_2012. Konrad Jarausch u. Martin Sabrow (Hg.), Die historische Meistererzählung. Deutungslinien der deutschen Nationalgeschichte nach 1945, Göttingen 2002, S. 17. Vgl. zur Bedeutung von Narrationen und dem Erzählen auch Astrid Erll, Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung, Stuttgart 2017, insbesondere S. 175 f. Politische Erzählungen sind in diesem vergangenheitsbezogenen Sinne also historische Erzählungen mit politischer Funktion. Grundsätzlich sind politische Erzählungen nicht auf Vergangenheit beschränkt, sondern können auch von Gegenwart und Zukunft handeln. In diesem Beitrag interessiert aber nur die historische Dimension. Gesellschaftliche, kulturelle und politische Erzählweisen über Vergangenes gehen häufig ineinander über: Kulturträger und gesellschaftliche Gruppen, die Geschichte erzählen, können dies aus politischen Motivationen heraus tun; umgekehrt übersetzen sich die historischen Erzählungen der Politik häufig auch in Formen des gesellschaftlichen und kulturellen Erzählens.
60
Sönke Kunkel
maten, Politikerinnen und Politikern und Institutionen. Sie werden auch mitgeformt von transnational zirkulierenden Erzählungen, die das außenpolitische Geschehen begleiten und es bewerten. Der Beitrag rekonstruiert in Abschnitt 1 zunächst, wie der Mythos der Begegnung von Nixon und Mao in den USA entstand. Abschnitt 2 argumentiert, dass die Erinnerung an Nixons Besuch in China zentral für die Stabilisierung der chinesisch-amerikanischen Beziehungen war. Abschnitt 3 verschiebt den Fokus dann auf die transatlantischen Beziehungen. Am Beispiel der Oper „Nixon in China“ zeigt der Abschnitt zunächst, wie die Erinnerung an Nixons Besuch in China zu einer neuen „Staatserzählung“¹² umgeformt wurde. Anschließend wird mit Blick auf die deutsche Rezeption herausgearbeitet, wie sich die Oper zu einer Begleiterzählung der transatlantischen Beziehungen entwickelte, die den in der Ära Trump steigenden deutschen Akzeptanzverlust gegenüber dem transatlantischen Führungsanspruch der USA kommentierte.
1 Die Grundlegung des Mythos: Vom Wahlkampf 1972 zu Watergate Im Wahlkampfjahr 1972 war Nixons Besuch in China im Sinne eines gezielt inszenierten „Live broadcasting of history“¹³ ganz auf Geschichtsmächtigkeit hin angelegt: Die Medieninszenierung sollte Bilder von Dauer schaffen, die am Wahltag im November 1972 an den Februar erinnern und ein Bild des Kandidaten als Friedensmacher konturieren sollten. Grundlage dafür war ein Inventar von „Schlagbildern“,¹⁴ die sich in das kollektive Gedächtnis der Amerikaner einbrennen sollten und im Sinne des „headline-picture-storyboard“¹⁵-Ansatzes der Regierung Nixon professionell vorbereitet worden waren. Zentral für diesen Ansatz war die sorgfältige Vorbereitung von Medienereignissen, die immer schon die daraus resultierenden Zeitungsschlagzeilen und die dabei entstehenden konkreten Bilder antizipieren und entsprechend rahmen sollte. Zu diesen BildEreignissen gehörten insbesondere der erste Handschlag von Nixon und dem
Grit Straßenberger u. Felix Wassermann (Hg.), Staatserzählungen. Die Deutschen und ihre politische Ordnung, Berlin 2018. Daniel Dayan u. Elihu Katz, Media Events. The Live Broadcasting of History, Cambridge 2010. Michael Diers, Schlagbilder. Zur politischen Ikonographie der Gegenwart, Frankfurt 1997. Vgl. National Archives II [im Folgenden NA II], Richard Nixon Presidential Materials [im Folgenden RNPM], WHSF, SMOF, Stephen B. Bull, Box 2, Higby to Bull, HPS, 18.4.1972.
Nixon in China: Politische Erzählungen, Außenbeziehungen und Erinnerung
61
chinesischen Premierminister Zhou Enlai auf dem Flughafen von Peking,¹⁶ das große Staatsbankett in der Großen Halle des Volkes, die unterschiedlichen Termine der First Lady, Pat Nixon, sowie der Spaziergang auf der Chinesischen Mauer. Zwar gab es Grenzen der amerikanischen Bildpolitik, die genau dort verliefen, wo die inszenatorischen Eigeninteressen der chinesischen Regierung begannen: Als Nixon in Peking eintraf, waren beispielsweise keine jubelnden Menschenmassen auf den Straßen anzutreffen. Doch fügten sich selbst von der chinesischen Regierung in Inszenierung und Veröffentlichung kontrollierte Bilder wie das später zur Ikone gewordene Foto des Handschlags zwischen Nixon und Mao in das beabsichtigte mediale Bilderspektakel ein.¹⁷ Solche Bilder sollten im Hier und Jetzt wirken und beeindrucken, zugleich aber auch Ansatzpunkte und Möglichkeiten zu späterer Verwendung und Überhöhung schaffen. Zunächst schien diese Strategie aufzugehen: Schon im März 1972 veröffentlichte der Bantam-Verlag einen opulenten Bildband über den Besuch und im April erinnerte ein New Yorker Fernsehsender mit einer zwölfstündigen Sondersendung noch einmal an Nixons Begegnung mit Mao.¹⁸ Seit dem Sommer bezogen sich auch die Wahlspots der Nixon-Kampagne immer wieder gezielt auf den ChinaBesuch, so etwa „Richard Nixon: Portrait of a President“ (Sommer 1972).¹⁹ In einem Spot, der eine Art Bilanz der ersten Nixon Präsidentschaft versuchte, hieß es: He’s gone to China to talk peace with Mao Tse Tung. He’s gone to the Soviet Union to talk peace with Leonid Breshnev. For four years, President Nixon has responded to the needs of the people. That’s why we need President Nixon, now more than ever.²⁰
Schließlich stellte die Nixon-Kampagne im Oktober 1972 einen knapp fünfminütigen Film vor, der sich ausschließlich auf den Besuch fokussierte, indem er noch einmal viele der gewohnten Bilder zeigte, mit traditioneller asiatischer Musik Auch hier war nichts dem Zufall überlassen worden: Ein Berater blockierte innerhalb des Flugzeugs den Weg zum Ausgang, um sicherzugehen, dass sich weder Außenminister Rogers noch Sicherheitsberater Kissinger im Hintergrund in das Willkommensbild hineinschieben konnten, wie Henry Kissinger beschrieb: Henry Kissinger, The White House Years, London 1979, S. 1054. Bis zuletzt ließ Mao offen, ob es überhaupt zu einem Treffen kommen würde; die beim Treffen entstehenden Bilder wurden zunächst von der chinesischen Regierung bearbeitet und erst dann freigegeben. Richard Wilson (Hg.), The President’s Trip to China: A Pictorial Record of the Historic Journey to the People’s Republic of China, New York 1972; 12-hour Cable TV Special to Review Nixon in China, in: New York Times, 11.4.1972, S. 83. Richard Nixon Presidential Library and Museum, Motion Picture Films Collection, MFF 063, Richard Nixon: Portrait of a President (Summer 1972, Wash., D. C.; USSR; PRC). Richard Nixon Presidential Library and Museum, Motion Picture Films Collection, MFF 626, The Record.
62
Sönke Kunkel
unterlegte und von einem Sprecher kommentieren ließ. Nixons Reise nach China, so der Tenor des Wahlspots, habe ein „opening of minds, an opening of hearts, an opening of doors between two great powers“ herbeigeführt: „President Nixon has opened the door. Now the work must continue. That’s why we need President Nixon now more than ever.“²¹ Im Wahlkampfjahr 1972 prägte der Rekurs auf den Besuch so ein Image des Kandidaten als Friedensmacher und legte den Grundstein für einen überwältigenden Wahlsieg Nixons, der im November 1972 mit einer heute kaum mehr denkbaren Mehrheit von 18 Millionen Stimmen den Präsidentschaftswahlkampf gewann. Dann aber ereignete sich Watergate: jene Affäre, die mit der Festnahme einer Gruppe von Einbrechern in den Räumen der Demokratischen Partei im Watergate Hotel begann, sich schrittweise zu einer Staatskrise weiterentwickelte, als die Verbindungen zwischen den Einbrechern und dem Weißen Haus deutlich wurden, und unter dem Druck von Kongress und Öffentlichkeit 1974 schließlich zum Rücktritt Nixons führte. „Watergate“ wurde im Kontext der innergesellschaftlichen Verwerfungen rund um den Vietnamkrieg zum Synonym für die Auswüchse und den Machtmissbrauch der imperial presidency und schlug die amerikanische Öffentlichkeit dank der vielen Gerichtsverfahren gegen Nixon und seine Berater auch nach dem Rücktritt des Präsidenten noch lange in den Bann. Immer wieder machten aber auch Bücher und Filme wie „All the President’s Men“ (Regie: Alan Pakula, 1976), die Fernsehserie „Blind Ambition“ von 1979 (Regie: George Schaefer), das Theaterstück „Secret Honor: A Political Myth“ (Autoren: Donald Freed und Arnold Stone), 1984 auch von Robert Altman verfilmt, oder der Film „The Final Days“ (Regie: Richard Pearce, 1989) den Skandal zum zentralen Thema. Zusammen zeichneten sie das Bild eines sinistren und machtbesessenen Präsidenten, der sich mit allerlei schmutzigen Tricks über das Gesetz gestellt hatte. „Watergate“ prägte lange Jahre den öffentlichen Diskurs über Nixon und überwölbte damit auch die Erinnerung an Nixons China-Besuch. Gleichwohl geriet Nixons Begegnung mit Mao auch in den 1970er und 1980er Jahren nicht in Vergessenheit. Dafür sorgte nicht zuletzt Nixon selber. Immer wieder machte er in seinen Reden und Büchern die Suche nach Frieden und Ausgleich zu seinem Hauptthema, etwa in seinen Memoiren „RN: The Memoirs of Richard Nixon“, 1978 erschienen, in denen er seine Reise nach China in Analogie zu Columbus’ Entdeckung Amerikas rückte: Die Reise sei eine „voyage of philosophical discovery as uncertain, and in some respects as perilous, as the voyages of geographical
Warren Weaver, G.O.P. switches TV Campaign to Attack on McGovern, in: New York Times, 4.10.1972, S. 32.
Nixon in China: Politische Erzählungen, Außenbeziehungen und Erinnerung
63
discovery of a much earlier time“ gewesen.²² Reden und Bücher – in den 1980er und 1990er Jahren folgten noch Titel wie „Real Peace“ (1983), „No More Vietnams“ (1985), „1999: Victory without War“ (1988), „In the Arena“ (1990), „Seize the Moment“ (1992) oder „Beyond Peace“ (1994) – entwarfen so das Bild eines elder statesmen, dienten aber auch der historischen Imagepflege, mittels derer die Erinnerung an „Watergate“ überschrieben werden sollte.²³
2 Erinnern als Begleiterzählung der amerikanisch-chinesischen Beziehungen Die Erinnerung an Nixons Begegnung mit Mao spielte aber auch in den chinesisch-amerikanischen Beziehungen der 1970er und 1980er Jahre eine wichtige Rolle. 1972 hatten beide Regierungen ihre gemeinsame Absicht zur Aufnahme voller diplomatischer Beziehungen bekräftigt, doch war dieser Prozess wegen der komplizierten Taiwan-Frage und des Widerstands einiger Senatoren im US-Kongress danach ins Stocken geraten.²⁴ 1976 nahm die chinesische Regierung dies zum Anlass, Nixon noch einmal als Privatmann nach China einzuladen, wo er mit allen Ehren eines offiziellen Staatsbesuchs empfangen wurde, einschließlich eines zweistündigen Treffens mit Mao und einem nochmaligen Abendbankett in der Großen Halle des Volkes.²⁵ Hier war es nun die chinesische Regierung, welche die historische Erinnerung an den ersten Besuch 1972 instrumentalisierte: Nixons Rückkehr nach China sollte noch einmal öffentlichkeitswirksam an die gemeinsame Vereinbarung von 1972 erinnern und die amerikanische Politik zu ihrer Umsetzung aufrufen. Nixon selber betätigte sich dabei gewissermaßen als Nebenaußenpolitiker, der seine eigenen Zielsetzungen verfolgte: an seine Erfolge von 1972 zu erinnern, um so dem Watergate-Narrativ etwas entgegenzusetzen. In den folgenden Jahren entwickelte sich Nixon auch in China immer mehr zur Symbolfigur der amerikanisch-chinesischen Beziehungen. Wiederholt wurde Nixon nach China eingeladen, reiste in den Jahren 1979, 1982 und 1985 dorthin, oft unter großer Anteilnahme der chinesischen Politik und Bevölkerung, die ihn als
Richard Nixon, RN. The Memoirs of Richard Nixon, New York 1978, S. 559. Zu Nixons eigener Imagepolitik: Vgl. David Greenberg, Nixon’s Shadow. The History of an Image, New York 2003. Vgl. Enrico Fardella, The Sino-American Normalization: A Reassessment, in: Diplomatic History 33/4. 2009, S. 545 – 578. Vgl. Robert Keatley, The Aftermath of Nixon’s China Visit, in: Wall Street Journal, 11. 3.1976; o.V., Nixon Sees U.S. and China Working Together in Future, in: New York Times, 26. 2.1976, S. 3.
64
Sönke Kunkel
„alten Freund Chinas“ begrüßten.²⁶ Wie weit seine Autorität reichte, zeigte sich insbesondere nach der chinesischen Niederschlagung der Studierenden- und Protestbewegung auf dem Tian’anmen-Platz im Juni 1989. Nachdem die amerikanische Regierung, wie andere Regierungen auch, Sanktionen gegen China verhängt hatte, schickte sie im Herbst 1989 Nixon in semi-offizieller Mission nach Peking, um wieder einen diplomatischen Gesprächskanal zu öffnen.²⁷ Kaum ein Kommentator oder eine Kommentatorin kam dabei umhin, diese Reise wieder in den Zusammenhang seiner ersten Reise 1972 zu stellen: „Just like Old Times“ titelte etwa die Los Angeles Times und beschrieb den Besuch als eine „small replica of his diplomatic master stroke 17 years ago“.²⁸ Vor Ort überraschte Nixon mit offenen Worten, beschrieb den „crack-down“ als „excessive and unjustified“²⁹ und warnte die chinesische Führung davor, in ein „backwater of oppression“ abzudriften.³⁰ Zugleich rief er aber auch zur Fortführung der Beziehungen und Kooperationen auf und erinnerte an die gemeinsame Geschichte.³¹ In einer Pressekonferenz rühmte Präsident George H. W. Bush Nixons diplomatischen Besuch später als „very helpful“ und betonte, wie sehr Nixon in China als politische Autorität respektiert sei: „He is a man who opened a relationship with China when things were extraordinarily difficult.“³² Er wolle das Gleiche, wie er, Bush: die schnelle Rückkehr zu normalen Beziehungen. Nixons diplomatische Mission im Jahr 1989 verdeutlicht, wie die im wiederkehrenden Rekurs auf „1972“ manifesten Prozesse historischen Erinnerns Nixons außenpolitische Autorität grundierten und ihn zu einem wichtigen Akteur in den amerikanisch-chinesischen Beziehungen machten. Zugleich erfüllte die Erinnerung an Nixons erste Begegnung mit Mao aber auch noch eine andere wichtige außenpolitische Funktion. Diplomatische Beziehungen bedürfen, allgemein formuliert, politischer und historischer Begleiterzählungen, in denen sich die beteiligten Akteure wechselseitig der historischen Vorläufer, Wegmarken und Tra-
Vgl. o.V., Nixon Visits China, lauds closer ties, in: New York Times, 18.9.1979, S. A 16; John F. Burns, Nixon Returns to China: It Seems Like Old Times, in: New York Times, 5.9.1985, S. A 2. Vgl. Daniel Southerland, „Nixon in China for Talks with Top Officials“, in: Washington Post, 29.10.1989, S. A 25. Roger Morris, Just like Old Times, Except…, in: Los Angeles Times, 11.11.1989, S. B 8. Nixon; zit. n.: Adi Ignatius, China’s ‚Old Friend‘ Nixon Takes Beijing to Task for June Massacre, in: Wall Street Journal, 2.11.1989, S. A 15. Nixon; zit. n.: Sherryl Wudunn, Shun ‚Backwater of Oppression‘, Nixon Tells China, in: New York Times, 31.10.1989, S. A 3. David Hofmann, Nixon Reports to Bush on China Visit, in: Washington Post, 7.11.1989, S. A 8. Bush; zit. n.: Document 320. Former President Nixon’s Visit to China, Press Conference by President Bush, November 7, 1989, in: Nancy Golden u. Sherrill Wells (Hg.), American Foreign Policy. Current Documents, 1989, Washington 1990, S. 526.
Nixon in China: Politische Erzählungen, Außenbeziehungen und Erinnerung
65
ditionszusammenhänge versichern, in denen sie stehen. Dafür schufen Nixons Reisen und diplomatische Missionen die Anlässe, forderten doch schon die Regeln der Höflichkeit dazu heraus, in Grußwörtern, Toasts oder Reden Nixons historische Bedeutung zu würdigen. Dies zeigen die nach Nixons Tod im Jahr 1993 immer häufiger stattfindenden Staatsbesuche amerikanischer und chinesischer Regierungen, bei denen der Verweis auf Nixon selten fehlte. Besonders deutlich wurde dies etwa anlässlich des Staatsbesuchs von George W. Bush im Februar 2002, dessen Beginn genau auf den 30. Jahrestag des Nixon-Besuchs fiel. In seiner Rede vor Studierenden der Tsinghua-Universität betonte Bush die Bedeutung dieser Reise Nixons als „a trip designed to end decades of estrangement and confront centuries of suspicion“. Nixon, betonte Bush, habe der Welt gezeigt, „that two vastly different governments could meet on the grounds of common interest“. Damit habe er den Grundstein für Handel und Austausch und letztlich auch für den Aufschwung Chinas gelegt.³³ Auch Barack Obama stellte sich im September 2016 in eine Traditionslinie mit Nixon, als er sich mit dem chinesischen Präsidenten Xi am West Lake in Hangzhou traf – am gleichen Ort also, an dem 44 Jahre zuvor schon Nixon und Zhou miteinander verhandelt hatten. Momente wie diese machen einen wichtigen Aspekt des Erinnerns im Kontext von Außenbeziehungen deutlich: Solches Erinnern dient nicht allein der Binnenkommunikation von Gesellschaften oder der ihr zugehörigen sozialen Gruppen. Es ist daneben auch auf Außenwirkung hin angelegt. Zielsetzungen, Interessen und Instrumente können dabei changieren, haben aber oft den Zweck, Verbundenheit zu demonstrieren sowie politische Nähe zwischen den beteiligten Staaten und Gesellschaften herzustellen. Dass die beteiligten Akteure dabei aber nicht immer die gleichen Geschichten erzählen, zeigt der Vergleich zwischen den Darstellungen der chinesischen und amerikanischen Botschaften im jeweils anderen Land: Wird von der amerikanischen Botschaft in China die Bedeutung Nixons in der Anbahnung diplomatischer Beziehungen akzentuiert,³⁴ so hebt die chinesische Botschaft in den USA die Rolle Maos als Initiator und Taktgeber hervor.³⁵
President Bush, Remarks at Tsinghua University Beijing, People’s Republic of China, 22. 2. 2002, https://georgewbush-whitehouse.archives.gov/news/releases/2002/02/20020222.html. Vgl. die Darstellung auf der Seite der amerikanischen Botschaft, https://china.usembassy-chi na.org.cn/our-relationship/policy-history/io/. Vgl. etwa die Darstellung der chinesischen Botschaft in den USA anlässlich des 30. Jahrestages der Aufnahme diplomatischer Beziehungen, http://www.china-embassy.org/eng/zt/xw/sinous/ t532311.htm.
66
Sönke Kunkel
3 Umformung zur „Staatserzählung“: Die Oper „Nixon in China“ und ihre Rezeption in Deutschland Weitet man den Blick über den unmittelbaren Kontext der amerikanisch-chinesischen Beziehungen hinaus, so fällt auf, dass die Erinnerung an Nixons Begegnung mit Mao seit den 1980er Jahren vermehrt auch Eingang in die amerikanische Populärkultur – und damit auch in die transatlantischen Beziehungen – fand. Neben einem Roman, „The China Card“ von John Ehrlichman (1986), begannen auch Kinofilme wie „Forrest Gump“ (Regie: Robert Zemeckis, 1994) und „Nixon“ (Regie: Oliver Stone, 1995) in je unterschiedlicher Weise auf den Besuch zu verweisen. Selbst Captain Spock erinnerte 1991 in dem Star Trek-Film „The Undiscovered Country“ (Regie: Nicholas Meyer) seine Mitstreiterinnen und Mitstreiter an die Weisheit eines alten vulkanischen Sprichworts: „Only Nixon could go to China.“ Hinzu kamen Ausstellungen und Fernsehdokumentationen, die immer wieder an die Geschichte des Besuchs erinnerten.³⁶ Vielleicht am bemerkenswerten war, dass Nixons Begegnung mit Mao in den 1980er Jahren zum Sujet einer eigenen, auch in Europa viel aufgeführten, Oper wurde: der Oper „Nixon in China“,³⁷ die 1987 in Houston Premiere feierte. Komponiert von John Adams im Stile der Minimal Music, geschrieben von Alice Goodman und inszeniert von Peter Sellars war „Nixon in China“ eine der ersten zeitgenössischen Polit-Opern – und ein entsprechend großes Medienereignis. NBC News und Opernkritikerinnen und Opernkritiker berichteten von den Proben, allen großen Zeitungen und Zeitschriften des Landes war die Uraufführung in Houston einen Bericht wert. Sogar Nixon selbst war zur Uraufführung eingeladen worden, sagte dann aber doch in letzter Minute ab.
Etwa in der Nixon Presidential Library, deren Dauerausstellung eine eigene Sektion zum Besuch enthält, in der mittels eines Nachbaus des Präsidenten-Flugzeugs mit Gangway vor allem der erste Handschlag von Nixon und dem chinesischen Premier Zhou Enlai prominent akzentuiert wird. Für eine Fernsehdokumentation: Vgl. PBS, Nixon’s China Game, USA 2000, https://www. pbs.org/wgbh/americanexperience/films/china/. „Nixon in China“ ist bisher vor allem von Musikwissenschaftlerinnen und Musikwissenschaftlern untersucht worden: Timothy A. Johnson, Harmony in the Music of John Adams. From ‚Phrygian Gates‘ to ‚Nixon in China‘, Diss. State University of New York at Buffalo 1991; Stephan Prock, Reading Between the Lines. Musical and Dramatic Discourse in John Adams’s ‚Nixon in China‘, Diss. Cornell University 1993; Matthew Daines, Telling the Truth about Nixon. Parody, Cultural Representation, and Gender Politics in John Adams’s Opera Nixon in China, Diss. University of California, Davis 1995.
Nixon in China: Politische Erzählungen, Außenbeziehungen und Erinnerung
67
„Nixon in China“ erzählte in Gesang und Bühnenbild noch einmal die einzelnen Stationen des Staatsbesuchs nach. Explizit rief die Oper dabei die 1972 entstandenen, vertrauten Bildtableaus wieder auf, darunter die Ankunft Nixons in China (Szene 1), das Treffen Maos und Nixons in Maos Arbeitszimmer (Szene 2), das große Bankett in der Halle des Volkes (Szene 3), Pat Nixons Besuche in einer Landkommune, einem Krankenhaus und einer Schule (Szene 4) sowie die abendliche Ballettaufführung (Szene 5). Genau darin lag ihre Wirkkraft: Die Oper, so der Regisseur Peter Sellars, wollte noch einmal absichtlich jene Bilder reaktivieren, mit denen die amerikanischen Zuschauerinnen und Zuschauer aufgewachsen waren: „When we stage those actual photographs, we are reliving history, and you were there.“ Dabei wolle man diese Bilder aber kritisch brechen: „At the same time I think, then, the opera begins to make the point of how staged those photographs were, and how in fact history was staged. All of this is a set up.“³⁸ Dass dieses Kalkül jedoch nicht immer aufging, zeigte sich an einer Sondersendung des amerikanischen Fernsehsenders PBS, der 1988 einen Mitschnitt der Oper zeigte. Moderiert wurde die Sendung von Walter Cronkite, dem Starreporter unter den US-amerikanischen Fernsehjournalisten. Cronkite zeigte noch einmal die Bilder des Besuchs, welche die Vorlagen für die Oper lieferten, erzählte Anekdoten und berichtete von seinen eigenen Erfahrungen während des Besuchs – eine kritische Betrachtung allerdings fehlte.³⁹ „Nixon in China“ war ein vielschichtiges Werk, das verschiedene Deutungen zuließ. Im Wesentlichen erzählte es aber eine Entwicklungsgeschichte: Begegneten einem der amerikanische Präsident und seine Frau im ersten Akt noch als schematische Abziehbilder der Geschichte, wandelte sich die Figurenzeichnung im Verlauf der Handlung. Mehr und mehr legte die Oper ihr Innenleben frei, wurden ihre Zweifel, Erfahrungen und – naturgemäß – auch die großen Gefühle hinter den historischen Personen in den Mittelpunkt gerückt. Es sei den drei Urheberinnen und Urhebern der Oper darum gegangen, so der Komponist John Adams, eine Grundbewegung herzustellen, von den „plastic cartoon versions of public people that the media is always presenting us with, to the real, uncertain, vulnerable human beings who stand behind these cardboard cutouts“.⁴⁰ Letztlich präsentierte die Oper damit eine gefühlige Weichzeichnung des ehemaligen Präsidenten: Am Ende, kurz bevor der Vorhang fällt, zeichnete sie das Ehepaar
Peter Sellars; zit. n.: Matthew Daines, ‚Nixon in China‘: An Interview with Peter Sellars, in: Tempo 197. 1996, S. 12– 19, hier S. 18. Richard Dyer, Nixon in China Fares Well on Tube, in: Boston Globe, 15.4.1988, S. 89. Andrew Porter, ‚Nixon in China‘: John Adams in Conversation, in: Tempo 167. 1988, S. 25 – 30, hier S. 26. Ähnlich auch in Matthew Daines, An Interview with John Adams, in: Opera Quarterly 13/1. 1996, S. 37– 54, hier S. 41.
68
Sönke Kunkel
Nixon als zwei Liebende, die um die Tragik politischer Ämter wissen, weil ihnen der Dienst für die Sache der Nation in die Quere gekommen ist. „Nixon in China“ bewegte die Erinnerung an Nixon damit in den Horizont der großen amerikanischen Staats- und Nationserzählung hinein; in der Oper ging es nicht mehr um die dunklen Motive und Machenschaften Nixons, sondern um Nixon als den Repräsentanten der amerikanischen Nation, und damit letztlich auch um die Werte, Ideale, Größe und Geschichte der Nation.⁴¹ Die Oper, erklärte ihr Komponist John Adams, sollte von Nixons „heroischen Qualitäten“⁴² erzählen, den Präsidenten als Verkörperung amerikanischer Werte darstellen: „I think what we were trying to do with this Nixon, our operatic Nixon, was not only to use the historical Richard Nixon but also to try to develop an archetype of an American public leader.“⁴³ Nixon sei für ihn „part of our mythology the same way Oedipus and an Ulysses were for the Ancient Greeks“ und die Oper daher auch der Versuch, auszudrücken, was es bedeute, Amerikanerin beziehungsweise Amerikaner zu sein.⁴⁴ Amerikanische Opernbesucherinnen und -besucher schienen das ähnlich zu sehen. Jedenfalls begann es sich einzubürgern, dass Zuschauerinnen und Zuschauer klatschten, sobald Nixon auf der Gangway des Bühnen-Flugzeugs erschien, um seinen Staatsbesuch anzutreten.⁴⁵ Doch auch außerhalb der USA wurde „Nixon in China“ ein Erfolg. Bühnen in den Niederlanden, Schottland, Finnland, Österreich und sogar in Bielefeld (1989) und Frankfurt (1992) adaptierten die Oper in den folgenden Jahren unter großem Beifall des Publikums; seit den 2000er Jahren folgten Aufführungen unter anderem in London (2000, 2012), Freiburg (2000), Berlin (2012), Paris (2012), Stockholm (2016), Würzburg (2018), Stuttgart (2019) und Hannover (2020). Wie andere amerikanische Kulturexporte auch wurde die Oper damit Teil des weiten Feldes der amerikanischen Kultur- und Außenbeziehungen, rief bestimmte Vorstellungen und Amerika-Bilder auf und schuf gleichzeitig kulturelle Anlässe zur Auseinandersetzung mit solchen kollektiven Bildern. Je nach Inszenierung boten europäische Opernregisseurinnen und -regisseure dabei nicht nur ihre eigenen Deutungen des historischen Geschehens, sondern formulierten auch hier
Zum größeren Kontext: Vgl. Thomas Hertfelder, In Presidents we trust. Die amerikanischen Präsidenten in der Erinnerungspolitik der USA, in: GWU 2. 2006, S. 76 – 95. Adams; zit. n.: Daines, Telling the Truth, S. 209. Adams; zit. n.: Porter, ‚Nixon in China‘, S. 26. Adams; zit. n.: Megan Rosenfeld, The Operatic Nixon: A Theatrical Collaboration Making Headlines from Idea to Reality, in: Washington Post, 20. 3.1988, S. G 1. Vgl. Martin Bernheimer, Gala Opera Premiere: John Adams’ ‚Nixon in China‘ in Houston, in: Los Angeles Times, 24.10.1987, S. E 1.
Nixon in China: Politische Erzählungen, Außenbeziehungen und Erinnerung
69
Begleiterzählungen der amerikanischen Außenbeziehungen, die vor allem den Zustand der transatlantischen Beziehungen kommentierten. Vor allem in der Frühphase übernahmen Intendantinnen und Intendanten sowie Regisseurinnen und Regisseure üblicherweise die ursprüngliche Inszenierung aus Houston und damit die in ihr angelegte positive Staatserzählung. In Frankfurt, wo der Komponist John Adams die Oper 1992 persönlich dirigierte, zeigte sich der taz-Journalist Eike Wernhard besonders von der Eröffnungssequenz mit der einschwebenden Präsidentenmaschine beeindruckt: Langsam schwebt die Präsidentenmaschine vom Himmel herab, der gleich einem Götterboten des American Way of Life Richard Milhouse Nixon entsteigt. UNITE – Vereinigt Euch! – ist als Ausschnitt des Schriftzugs ‚United States‘ auf dem Flugzeug zu lesen, als ironische Anspielung auf die diplomatische Mission der Reise.⁴⁶
In Freiburg sah der Rezensent Siegbert Kopp im Jahr 2000 in der Oper eine „Friedensmission“ dargestellt, die hinter den Politikern auch „die Privatpersonen spürbar“ werden ließ, die „sich bei der Überwindung der kulturellen Unterschiede mit ihrem eigenen Leben und System beschäftigen müssen“.⁴⁷ Über die Londoner Aufführung aus dem gleichen Jahr schrieb der Rezensent der Welt, dass die Oper Richard Nixon, „durch Watergate entehrt und diffamiert“, das „unwahrscheinliche Glück“ einräume, „wenigstens in die Operngeschichte als positiver Held einzugehen“.⁴⁸ Hier schwang noch ganz das überwiegend positive Amerika-Bild der Deutschen aus den 1990er Jahren mit, dem eine hohe Akzeptanz der globalen amerikanischen Führungsrolle zu eigen war. Eine ganz andere Interpretation der Begegnung zwischen Nixon und Mao zeigte nur die Inszenierung von John Dew am Theater Bielefeld. Vorherrschend war hier ein kritischer Gestus, der ganz auf die Dekonstruktion der historischen Bilder, Personen und Mythisierungen rund um den Besuch abzielte. Zu sehen war ein „weltpolitisches Kasperletheater“, in dem Nixon und Mao Pappnasen trugen, Mao permanent seinen Anhängerinnen nachstellte und die Protagonisten am Ende auf dem Flugzeug sitzend über die Vergangenheit sinnierten. „Breitete sich anfangs streckenweise noch ziemliche Langeweile aus, weil historische Hofberichterstattung angesagt schien“, so der Kritiker Dieter Lechner, wandelte sich die Oper „später [in] pures Vergnügen“, das mit „brausende[m] Beifall“ belohnt wurde.⁴⁹
Eike Wernhard, Diplomatischer Klangteppich, in: Tageszeitung, 8.7.1992, S. 15. Siegbert Kopp, Es war einmal im Osten, in: Südkurier, 31.1. 2000, S. G. Siegfried Helm, Bühne Frei für Nixon, in: Welt am Sonntag, 11.6. 2000, S. 43. Dieter Lechner, Weltpolitisches Kasperletheater, in: Nordwest Zeitung, 14.12.1989, S. 39.
70
Sönke Kunkel
Radikal kritische Ansätze im Sinne der Bielefelder Inszenierung blieben auf den europäischen Bühnen lange ein Sonderfall, begannen sich seit den 2010er Jahren aber mehr und mehr durchzusetzen. Exemplarisch zeigte sich dies etwa an den beiden Neuinszenierungen von Tomo Sugao und Marco Štorman in Würzburg (2018) und Stuttgart (2019). Aufgeführt in den Zeiten der Trump-Präsidentschaft ging es hier nicht mehr um ironische Brechung historischer Erfahrungen, um Heldentum oder kulturelle Missverständnisse. Thema war das Wesen moderner Politik selbst: ihre Mechanismen von Macht, Gewalt und medialer Inszenierung, die Hybris ihrer Personenkulte, ihre Natur „als Kunst der Auslöschung von Menschen und Selbstzweifeln“.⁵⁰ Beide Opern arbeiteten entsprechend mit opulenten Bilderwelten und starken klischeehaften Figurenzeichnungen. So ließ Tomo Sugaos Würzburger Inszenierung die amerikanische Delegation in CowboyHüten und -Stiefeln auftreten, in Stuttgart griffen die beiden Protagonisten immer wieder zu Zeitschriften mit ihrem Bild auf dem Titel. Dabei markierte gerade die Stuttgarter Neuinszenierung den Bruch zum Original aus Houston sehr deutlich: Statt des salbungsvoll einschwebenden Flugzeugs klatschte nun eine Mao-Bibel auf die Bühne, gefolgt von einem hereinrauschenden Präsidenten, der nach seiner Ankunft als Erstes die amerikanische Flagge in den Boden rammt.⁵¹ In den Feuilletons stieß gerade die Stuttgarter Neuinszenierung auf einhellige Begeisterung. Viele Kommentatorinnen und Kommentatoren sahen in ihr „einen energiegeladenen Exkurs über Wirklichkeit und Fiktion“⁵² und zogen direkte Parallelen zur Ära Trump. „Nixon trifft Mao im Zeitalter von Fake News“ titelte beispielsweise die Schwäbische Zeitung. ⁵³ Auch Elisabeth Schwind vom Südkurier fand es „fast unmöglich“, beim Betrachten der Oper „nicht an den aktuellen amerikanischen Präsidenten zu denken“.⁵⁴ In der Zeit wiederum rühmte der Kritiker Mirko Weber die Oper dafür, einen „House of Cards-Moment“ zwischen den „beiden Machtmenschen“ Nixon und Mao geschaffen zu haben, der zwar „aktuell Naheliegendes – Donald Trumps Treffen mit Kim Jong Un – nicht“ zi-
Peter Jungblut, Landung auf dem Blutmond, in: BR Klassik, 8.4. 2019, https://www.br-klassik. de/aktuell/news-kritik/kritik-john-adams-nixon-in-china-staatsoper-stuttgart-marco-storman100.html. Zu beiden Opern vgl. die Besprechungen von: Peter Jungblut, Landung auf dem Blutmond; o.V., Das ist der Wahnsinn: „Nixon in China“ begeistert in Würzburg, in: BR, 20. 5. 2018, https://www.br.de/nachrichten/kultur/das-ist-der-wahnsinn-nixon-in-china-in-wuerzburg, QsX7iOw. Jürgen Kanold, Große und kleiner Geister, in: Haller Tagblatt, 9.4. 2019. Nixon trifft Mao im Zeitalter von Fake News, in: Schwäbische Zeitung, 9.4. 2019, S. 11. Elisabeth Schwind, So nutzen Politiker die Macht der Bilder, in: Südkurier, 9.4. 2019, S. 13.
Nixon in China: Politische Erzählungen, Außenbeziehungen und Erinnerung
71
tieren, die „Parallelen“ aber dennoch „unsichtbar“ in den „Raum“ stellen würde.⁵⁵ Tomo Sugaos und Marco Štormans Neuinszenierungen standen damit nicht nur für einen neuen Blick auf das historische Ereignis der Begegnung zwischen Nixon und Mao. Man konnte sie vielmehr auch als zeitaktuellen Kommentar zur Lage der deutsch-amerikanischen Beziehungen sehen. Was beide Opern zeigten, waren politische Repräsentanten, auf die offenbar kein weltpolitischer Verlass war, weil es ihnen nicht um kulturelle Verständigung und Frieden, sondern nur noch um sich selbst ging. Letztlich konnte man beide Opern so auch als Ausdruck eines weitergefassten deutschen Vertrauensverlustes gegenüber der Führungsmacht Amerika begreifen, der gerade in den Jahren der Trump-Präsidentschaft unübersehbar neuen Schub bekommen hatte.
4 Fazit: Erinnern im Medienzeitalter Am Ende steht so ein doppelter Befund: Vergleicht man die vielfältigen Kontexte, Formen und Medien, in denen seit den 1970er Jahren an Nixons China-Besuch erinnert wurde, so zeigt sich, dass die Erinnerung an Nixons Staatsbesuch in China in den amerikanischen Außenbeziehungen vorrangig der Formulierung von diplomatischen Begleiterzählungen diente. Diese Begleiterzählungen differierten: Im amerikanisch-chinesischen Verhältnis dienten sie der Anbahnung und Stabilisierung von Beziehungen und wurden dazu strategisch von amerikanischen und chinesischen Akteuren eingesetzt, in den transatlantischen Beziehungen wiederum stellten die untersuchten Begleiterzählungen eher einen kulturellen Begleitkommentar dar, der Auskunft über den Zustand dieser Beziehungen gab. Beide Beispiele legen dabei jedoch eine grundsätzliche Einsicht nahe: Außenbeziehungen werden mitgeformt von historischen Begleiterzählungen, die politische Verbundenheit herstellen oder aber den Sinn solcher Verbundenheit kritisch hinterfragen sollen. In den unterschiedlichen Konjunkturen des Erinnerns an Nixons Besuch in China scheint sich dabei auch ein gewisser kultureller Wandel des Erinnerns abzuzeichnen, der regional oder national begrenzte Erinnerungskulturen und Prozesse des Erinnerns im Kontext von Außenbeziehungen gleichermaßen betrifft. Formen und Bedingungen des Erinnerns verändern sich offenbar im Medienzeitalter: An die Seite von Denkmal, Memorial oder Ehrenfriedhof treten heute zunehmend museale Ausstellung, Film, Musical oder Oper. Damit wird
Mirko Weber, Weitgehend abgeschminkt, aber poetisch, in: Die Zeit, 11.4. 2019, S. 49.
72
Sönke Kunkel
Erinnerung ephemerer, fluider, ist nicht mehr in symbolischen Formen gebunden, welche die Erinnerungssituation in Raum und Zeit fixieren. Prägend für das Erinnern werden stattdessen kulturelle Erlebnisformen, die ihren Unterhaltungswert aus dem medialen Bekanntheitsgrad eines Ereignisses beziehen. Dafür steht nicht zuletzt das neuere Phänomen der dinner-Erlebnisabende.⁵⁶ Immer wieder veranstalten speziell New Yorker Restaurants Abende, an denen Restaurantbesucherinnen und -besucher noch einmal die Menüfolge des großen Staatsbanketts nacherleben können oder ambitionierte Küchenchefs mit eigenen Kreationen aufwarten, um an den Abend eben dieses Banketts zu erinnern. Das kulinarische Erlebnis macht Nixons Begegnung mit den Traditionen Chinas so sinnlich erinnerbar – und soll zugleich dazu beitragen, die kulturellen Beziehungen zwischen China und den USA mit Bedeutung zu füllen.
Vgl. DinnerLab, Nixon in China, Veranstaltung am 12. April 2019 im New Yorker Museum of Food and Drink, https://www.mofad.org/events/2019/3/18/dinnerlab-nixon-in-china; Dan Dao, This New York Restaurant Is Recreating President Nixon’s Iconic 1972 Welcome Dinner In China, in: Forbes, 7.11. 2019, https://www.forbes.com/sites/dandao/2019/11/07/junzi-kitchen-nixon-chi na-dinner/#5ae3996d555b; Florence Fabricant, Nixon in China, the Dinner, is Recreated, in: New York Times, 26.1. 2011, S. D 3.
Teil II: Epochenkonstruktionen in Außenbeziehungen
Karsten Ruppert
Die politische Wirkungsmacht von Geschichtsbildern und kulturellen Prägungen: der Philhellenismus in Europa Zu dem Thema „Außenbeziehungen und Erinnerung“ kann eine Studie über den europäischen Philhellenismus der 20er Jahre des 19. Jahrhunderts mehrere spezifische Einsichten vermitteln: Das Wissen um die Vergangenheit wird zu einem bewahrenswerten Gut, wenn mit ihm Werte verbunden werden, die auch die Gegenwart hochschätzt. Die Vergangenheit wird dann nicht nur gekannt, sondern auch vergegenwärtigt als Bestandteil des kulturellen Gedächtnisses. Es war die Erinnerung an die griechische Antike als Höhepunkt künstlerischen und geistigen Schaffens und eines Menschenideals, die das europäische Bildungsbürgertum antrieb, den Aufstand der Griechen gegen ihre osmanischen Besatzer zu ihrer Sache zu machen. Die durch ein solches Geschichtsbild gegebenen Grenzen für eine politische Bewegung wurden in der Praxis durch die Emotionalisierung der aktuellen Ereignisse überwunden, zum einen durch die Betonung des religiösen Gegensatzes zwischen christlichem Abendland und islamischer Tyrannei, zum anderen durch die unausgewogene Berichterstattung über Gräueltaten und zu Herzen gehende Schicksale. Die Struktur des damaligen Pressewesens und die Möglichkeiten der Nachrichtenbeschaffung spielten den Philhellenen dabei in die Hände. Mit den Philhellenen hat eine gesellschaftliche Bewegung nicht nur ihre außenpolitischen Forderungen artikuliert, sondern selbst aktiv in einen internationalen Konflikt eingegriffen. Das dürfte erst- und einmalig in der modernen Staatengeschichte sein. Aufgrund der Aktivitäten und Propaganda der Philhellenen mussten darüber hinaus immer mehr Regierungen, die weder deren Geschichtsbild noch deren Einschätzung der aktuellen Situation teilten, ihre Bewertung des griechischen Aufstands als einer Rebellion gegen die rechtmäßige Herrschaft zugunsten eines berechtigten Freiheitskampfes korrigieren. Wenn dieser Wandel auch nicht allein dadurch herbeigeführt wurde, so konnten die Philhellenen es sich doch auch als ihr Verdienst anrechnen, dass sich drei Großmächte zur ausschlaggebenden Intervention entschlossen. Die Epoche des Philhellenismus war also eine Scharnierstelle in der europäischen Geschichte von der Außenpolitik der Staaten hin zu den Außenbeziehungen, die von gesellschaftlichen Kräften mitgestaltet werden.
https://doi.org/10.1515/9783110726442-007
76
Karsten Ruppert
1 Der Ausbruch des Aufstands Im März 1821 drang ein kleines Heer von Griechen aus der Diaspora in die halbautonomen Fürstentümer Moldau und Walachei des Osmanischen Reiches mit der völlig überzogenen Absicht ein, die Wiedererrichtung des Byzantinischen Reiches in Angriff zu nehmen.¹ Die einheimische Bevölkerung erhob sich aber nicht wie erhofft und auch die erwartete Unterstützung der Großmächte blieb aus. Denn diese schätzten die osmanische Herrschaft im Osten des Mittelmeeres als einen Faktor der Stabilität. Wegen der angespannten wirtschaftlichen Lage löste der Einfall aber sporadische Aufstände auf der Peloponnes aus. Diese gingen in einen Kampf gegen die bald 400-jährige osmanische Besatzung über, da die Kriege gegen Russland und die Kämpfe gegen unbotmäßige Statthalter im Innern das Reich geschwächt hatten. Für den gesamten Verlauf des Aufstands wurde entscheidend, dass die Kämpfenden regional verwurzelt blieben und ihre politischen und sozialen Vorstellungen weit auseinanderklafften. Dennoch wurden mehrere Anläufe zur Nationalstaatsbildung unternommen, die an den Rivalitäten zwischen den Regionen und den Machtkämpfen zwischen den Clans immer wieder scheiterten. Zeitweise gingen Befreiungskrieg und Bürgerkrieg ununterscheidbar ineinander über. Nach ersten griechischen Erfolgen auf der Peloponnes 1821 verhärteten sich die Fronten bis 1825. Die osmanischen Truppen mussten sich jedes Jahr von der umkämpften Halbinsel auf ihre Basis in Mittelgriechenland zurückziehen. Auf der anderen Seite waren die dortigen aufständischen Guerillaeinheiten zu schwach für eine Offensive nach Norden.
2 Das Ideenkonstrukt des Philhellenismus und seine Verbreitung Die Werke der europäischen Klassik waren für die Rezeption des griechischen Befreiungskampfes nicht mehr von großer Bedeutung. Eine der wenigen Ausnahmen war Friedrich Hölderlins „Hyperion“. Der Held dieses Briefromans nahm in exemplarischer Form das Schicksal eines Philhellenen vorweg, kämpfte er doch im Aufstand von 1770 für die Befreiung seiner Heimat von der osmanischen Ty-
Ausführlich zu Anlass und Verlauf der Kämpfe: Vgl. Karsten Ruppert, Griechischer Freiheitskampf und deutscher Philhellenismus, in: Jahrbuch der Hambach-Gesellschaft 25. 2018, S. 13 – 44; das Folgende S. 13 – 23.
Die politische Wirkungsmacht von Geschichtsbildern und kulturellen Prägungen
77
rannei als Voraussetzung für die Wiederbelebung des antiken Geists. Daher drängten Griechenfreunde den Verleger Johann Friedrich Cotta dazu, das inzwischen längst vergriffene Werk 1822 in zweiter Auflage herauszubringen.² Obwohl die Schöpfungen der Klassik nachrangig waren, so war doch deren ästhetisch-humanistisches Bild des antiken Griechenlands fundamental für den Philhellenismus. Es wurde das entscheidende Motiv für den Einsatz des Bürgertums. Am Anfang stand der Archäologe und Antiquar Johann Joachim Winckelmann,³ der in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts mit seinen Schriften Künstlern und Dichtern die griechische Antike als die Heimat von Freiheit und Schönheit nahegebracht hatte.⁴ Da sie noch wenig von der Zeit der „Alten“ wussten, konnte diese umso mehr zu einer Projektionsfläche ihrer Ideale werden.⁵ Noch wirkmächtiger war das Bemühen akademischer Altertumswissenschaftler, ihrer Gegenwart den Wert der klassischen Antike zu vermitteln. Sie prägten in Europa die Generation der Philhellenen und stießen zugleich eine Reform der höheren Schulbildung an. Diese beruhte auf der Überzeugung, dass die lebendige Auseinandersetzung mit der Antike sowohl Wissenschaft und Kunst eines Volkes fördern als auch dessen Jugend moralisch und ästhetisch erheben könne.⁶ Dabei wurde auch gerne auf die Ähnlichkeit des Kosmos der antiken Stadtstaaten mit der Vielzahl der Staaten des Deutschen Bundes verwiesen; wie jene, so würden auch diese ihr Selbstverständnis aus ihrem Dichten und Denken ziehen.⁷
Vgl. Vasilios Maliaridis, Friedrich Hölderlin als Vorläufer des deutschen Philhellenismus. Zur Interpretation des „Hyperion“, in: Evangelos Konstantinou u. Ursula Wiedenmann (Hg.), Europäischer Philhellenismus. Ursachen und Wirkungen, Neuried 1989, S. 241– 271, hier S. 266 ff. Zu Winckelmanns Rolle bei der Formierung des klassischen Griechenlandbildes: Vgl. Wolf Seidl, Das Land der Griechen mit der Seele suchend. Über das Griechenlandbild der deutschen Klassik, in: Konstantinou u. Wiedenmann, Europäischer Philhellenismus, S. 15 – 36, hier S. 21 ff. Vgl. Friedrich Heyer, Das philhellenische Argument. „Europa verdankt den Griechen seine Kultur, also ist jetzt Solidarität mit den Griechen Dankesschuld.“, in: Evangelos Konstantinou (Hg.), Die Rezeption der Antike und der europäische Philhellenismus, Frankfurt 1998, S. 79 ff. Das betont Seidl, Griechenlandbild der deutschen Klassik, S. 28 ff. Vgl. Stavroula N. Patsourakou, Aspekte der Antike-Rezeption im deutschen Geistesleben des 19. Jahrhunderts und Wurzeln des deutschen Philhellenismus, in: Konstantinou, Die Rezeption der Antike, S. 209 – 219, hier S. 213 ff. So schrieb der Begründer der humanistischen Gymnasialbildung in Preußen, Wilhelm von Humboldt: „Die Griechen sind uns nicht bloß ein nützlich historisch zu kennendes Volk, sondern ein Ideal. Sie sind für uns das, was ihre Götter für sie waren; Fleisch von unserem Fleisch und Bein von unserem Bein.“ Humboldt; zit. n.: Harald Lönnecker, „In Hellas geht die Sonne der Freiheit auf!“ Studentische Griechenland-Begeisterung seit 1820, in: Anne-Rose Meyer (Hg.),Vormärz und Philhellenismus, Bielefeld 2012, S. 39 – 72, hier S. 48.
78
Karsten Ruppert
Dieses neuhumanistische Ideal des antiken Griechenlands und die gleichzeitige kritische Sicht auf Islam und Osmanisches Reich waren Grundlagen des Philhellenismus. Für seine politische Stärke und Wirkungskraft wurde aber nicht zuletzt die Aufmerksamkeit entscheidend, die er und der griechische Freiheitskampf in den meinungsbildenden Zeitungen fanden. Bis zum Frühjahr 1821 wurde über die türkische Besatzung Griechenlands in den Blättern Deutschlands und Europas kaum berichtet. Auch von den ersten Unruhen war wenig Notiz genommen worden. Erst als Sultan Mahmud II. als Reaktion darauf und zur Abschreckung befahl, den Patriarchen von Konstantinopel zusammen mit anderen orthodoxen Würdenträgern, die zur Feier des Osterfestes 1821 in Istanbul versammelt waren, zu lynchen,⁸ änderte sich dies rasch und nachhaltig. Die sich daraufhin organisierenden Philhellenen fanden in Deutschland ihren stärksten Rückhalt im Umfeld der Augsburger Allgemeinen Zeitung. Wenn das Blatt mit unter 4.000 Exemplaren auch keine Massenauflage hatte, so prägte es doch die politischen Anschauungen der Eliten und besonders des Bildungsbürgertums wie kein anderes.⁹ Diese Stellung konnte der progriechische Verleger Johann Friedrich Cotta in den nächsten Jahren durch die Berichte über den Aufstand mithilfe eines Wiener Korrespondenten ausbauen. Er war in der dortigen griechischen Gemeinde gut vernetzt und ihm arbeiteten Informanten auf dem Balkan und in den wichtigsten europäischen Levante-Häfen zu. Diese (meist griechischen) Kaufleute oder Publizisten gaben das weiter, was sie von Diplomaten oder von aus dem Aufstandsgebiet zurückkommenden Händlern, Matrosen und Soldaten erfahren hatten.¹⁰ Das war meist sechs bis acht Wochen nach dem Ereignis in der europäischen Presse zu lesen.¹¹ Da der Großteil der Zeitungen im Deutschen Bund und in Europa über keine vergleichbaren Informanten verfügte, übernahmen diese mehr oder weniger direkt und oft ohne Quellenangabe die Artikel der gut unterrichteten Blätter. Diese beobachteten sich wiederum gegenseitig, indem sie manches kommentierten wie korrigierten und gern gegen die Darstellung der anderen polemisierten. Da dies auch über die Ländergrenzen hinweg geschah, entstand in der orientalischen Frage ein europäischer Kommunikationsraum, von dem der ebenfalls interna-
Vgl. Ruppert, Freiheitskampf, S. 35. Vgl. Steffen L. Schwarz, Despoten – Barbaren – Wirtschaftspartner. Die Allgemeine Zeitung und der Diskurs über das Osmanische Reich 1821– 1840, Köln 2016, S. 296. Vgl. ebd., S. 58 ff. Vgl. Regine Quack-Manoussakis, Nachrichten vom griechischen Kriegsschauplatz im Jahre 1821. Ihre Übermittlung und Verwendung in deutschsprachigen Zeitungen. Am Beispiel der Eroberung von Tripolitsas durch die Griechen, in: Meyer,Vormärz und Philhellenismus, S. 129 – 150, hier S. 136.
Die politische Wirkungsmacht von Geschichtsbildern und kulturellen Prägungen
79
tional agierende Philhellenismus erkennbar profitierte.¹² So verstärkten die Usancen des damaligen Pressewesens die Konformität der Sichtweise, vor allen Dingen die gerade im griechischen Freiheitskampf begrenzte und oft recht einseitige Beschaffung und Verbreitung von Nachrichten. Die Gewalttaten der Griechen gegen die türkische Bevölkerung blieben unerwähnt oder wurden verharmlost. Dafür wurden ihre militärischen Erfolge überhöht wie ihre meist wegen ihrer propagandistischen Wirkung in der europäischen Öffentlichkeit unternommenen Bemühungen um die Begründung eines konstitutionellen und nationalen Staates für bare Münze genommen. Das taten Griechenfreunde und Liberale umso lieber, als in diesem Zusammenhang ihre politischen Ideale gefeiert und zugleich verdeckte Kritik an den Zuständen zu Hause geübt werden konnten. Vor allem in der Augsburger Allgemeinen Zeitung wurde ihnen, unterstützt von Altertumswissenschaftlern, Philologen und Philosophen, ein Forum geboten,¹³ um das Bild eines Gegners zu konstruieren, der wegen seiner despotischen Herrschaftsform, seiner dem Christentum feindlichen Religion, seiner zivilisatorischen Rückständigkeit und seiner in den Massakern sichtbaren moralischen Verkommenheit in einem unaufhebbaren Gegensatz zum aufgeklärten und christlichen Europa stehe. Mit dieser Sichtweise wollten die Philhellenen und die Blätter, die ihnen nahestanden, nicht zuletzt moralischen Druck auf die Großmächte ausüben, um diese zum Eingreifen zu bewegen.¹⁴ Wenn sich diese Hoffnung auch nicht so rasch wie erhofft erfüllte, so hatte der Philhellenismus doch den Boden für eine Neuorientierung der Griechenland-Politik bereitet, als Mitte der 1820er Jahre neue Regenten und einflussreiche Politiker, unter anderem in Großbritannien, Russland, aber auch Bayern, an die Macht kamen. Eine türkische Gegenoffensive gab es in Europa so gut wie nicht. Selbst die akademische Orientalistik brachte keine alternativen Sichtweisen in die öffentlichen Kontroversen ein.¹⁵ Umso wichtiger war es für den Sultan, dass die in
Vgl. Thomas Scheffler, „Wenn hinten, weit in der Türkei die Völker aufeinander schlagen …“ Zum Funktionswandel „orientalischer“ Gewalt in europäischen Öffentlichkeiten des 19. und 20. Jahrhunderts, in: Jörg Requate u. Martin Schulze Wessel (Hg.), Europäische Öffentlichkeit. Transnationale Kommunikation seit dem 18. Jahrhundert, Frankfurt 2002, S. 205 – 230, hier S. 222. Vgl. Schwarz, Despoten, S. 223. Vgl. Günther Heydemann, Philhellenismus in Deutschland und Großbritannien, in: Adolf M. Birke u. Günther Heydemann (Hg.), Die Herausforderung des europäischen Staatensystems. Nationale Ideologie und staatliches Interesse zwischen Restauration und Imperialismus, Göttingen 1989, S. 31– 60, hier S. 39 f. Dort wird darauf hingewiesen, dass der ehemalige Minister von Hessen-Nassau, Hans von Gagern, ausgewogener kommentiert habe. Vgl. Scheffler, Funktionswandel „orientalischer“ Gewalt, S. 222. Vgl. ebd., S. 211 f.
80
Karsten Ruppert
Smyrna ansässigen Kaufleute und Händler mit dem Spectateur Oriental eine französischsprachige Zeitung herausgaben, welche die politischen Interessen seines Reiches und die wirtschaftlichen ihrer Besitzer vertrat.¹⁶ Wenn dieses Organ auch eine bevorzugte Quelle war, dürften die Blätter, die den Mächten des Status quo nahestanden, den Herrschern des Osmanischen Reiches von größerem Nutzen gewesen sein. Sie betrachteten die Philhellenen wie die Griechen kritisch. Im deutschsprachigen Raum war der Österreichische Beobachter von besonderem Gewicht. Da er dem Außenministerium nahestand und von diesem mit Informationen versorgt wurde, hatte er sich den Ruf eines zuverlässigen Informanten erworben. Dennoch hat er sich immer wieder von der Allgemeinen Zeitung Manipulation und Unzuverlässigkeit vorwerfen lassen müssen und mit selber Münze zurückgezahlt.¹⁷ Die teils scharfen Polemiken der Augsburger Redaktion gegen den Österreichischen Beobachter waren im Kern verdeckte Angriffe gegen die griechische Politik des österreichischen Staatskanzlers Clemens von Metternich. Exemplarisch lässt sich die Bedeutung der philhellenischen Presse an der Eroberung von Tripolitsa, der Hauptstadt der Peloponnes, zeigen.¹⁸ Dort hatten Klephten, in der türkischen Besatzungszeit formierte Kampfverbände zwischen Räuberbanden und Guerillatruppen, am 5. Oktober 1821 an der mehrheitlich muslimischen und jüdischen Bevölkerung ein dreitägiges Massaker verübt. Die philhellenischen Zeitungen versuchten, dies damit zu rechtfertigen, dass die türkischen Verteidiger zuvor griechische Geiseln ermordet hätten und die meisten Opfer der von ihnen gelegte Stadtbrand gekostet habe. Eine Quelle war ein von griechischer Seite lancierter Augenzeugenbericht, der vorgab, dass Frauen und Kinder verschont worden seien. Die regierungsnahen Zeitungen von Österreich bis Großbritannien nahmen das Massaker hingegen zum Anlass, Europa die Augen über die griechische Kriegsführung zu öffnen und zugleich den Philhellenen die Förderung der Anarchie vorzuwerfen. Als die Polemik um Tripolitsa noch nicht ganz abgeklungen war, stellten diese daraufhin das türkische Massaker an der Bevölkerung der Insel Chios groß heraus, sodass allein die Bluttat auf der Ägäis-Insel über die Presse hinaus auch in der Lyrik, der Literatur und der Malerei verbreitet wurde.¹⁹ Der griechische Aufstand fand in der europäischen und am Rande auch der amerikanischen Öffentlichkeit Aufmerksamkeit weit über die tagespolitische
Vgl. Schwarz, Despoten, S. 69 f. Vgl. Quack-Manoussakis, Nachrichten, S. 133 ff. Vgl. die eingehende Detailstudie von Quack-Manoussakis, Nachrichten, S. 129 – 150. Vgl. ebd., S. 148 f. Zur Resonanz in der internationalen Diplomatie: Vgl. Fabian Klose, „In the Cause of Humanity“. Eine Geschichte der humanitären Intervention im langen 19. Jahrhundert, Göttingen 2019, S. 294 f.
Die politische Wirkungsmacht von Geschichtsbildern und kulturellen Prägungen
81
Debatte hinaus, weil sich die Kunst seiner annahm. Ihre Produkte waren durch die Zensur schwerer zu erfassen und wurden zudem in Kreisen wahrgenommen, die sonst der Politik fernstanden. Die qualitative wie die soziale Spannbreite der begabten und weniger begabten Männer und Frauen, die markige Verse gegen die osmanischen Tyrannen schmiedeten,²⁰ ist beeindruckend. Sie reichte von schlichten Produkten bis hin zu solchen von renommierten Schriftstellern wie Adalbert von Chamisso, Ferdinand Freiligrath, E. T. A. Hoffmann, Johann Wolfgang von Goethe und vom Handwerker wie Soldaten über Bürger und Bürgerinnen, vom Pfarrer bis hin zum Hochadel und König Ludwig I. von Bayern. Spektakuläre Ereignisse wie der Tod des englischen Dichters Lord Byron,²¹ der Fall von Messolongi, das Massaker von Chios und die Seeschlacht von Navarino heizten die Produktion an. Die politische Gebrauchslyrik eignete sich besonders dazu, Gefühle anzusprechen durch das Ausspielen angeblichen griechischen Edelmuts gegen vermeintliche muslimische Gefühlskälte und Grausamkeit. Doch selbst in einem der Wissenschaftlichkeit verpflichteten „Conversations-Lexicon“ von 1824 wurden die Türkinnen und Türken als ein räuberisches und rohes „Mischlingsvolk“ tituliert, das schon „vier Jahrhunderte lang den klassischen Boden“, „auf dem Freiheit, gesetzliches Bürgerthum“ und „edelste Bildung des geistigen Lebens“ erblüht seien, entweiht hätte.²² Das Leid Einzelner wie unterschiedlicher Gruppen des griechischen Volkes wurde auch in Novellen und Romanen beklagt. Hier ließ sich noch stärker die Überzeugung von der kulturellen wie zivilisatorischen Überlegenheit Europas gegenüber der osmanischen Despotie herausarbeiten, die auch die Lyrik durchzog. Auf den Bühnen wurden Dramen und Opern mit vergleichbarer Thematik populär, darunter manches Auftragswerk.²³ Maler ließen bei der Darstellung griechischer Heldentaten wie türkischer Gräuel ihrer Phantasie freien Lauf. Pamphlete und Flugblätter rechtfertigten den Ruf der Griechinnen und Griechen
Vertiefende Studie zur Identität und Alterität in der philhellenischen Lyrik: Vgl. Silke vom Berg, „Bis zertreten die Türken – bis erschienen wir werth unseres Ursprungs“. Identität und Alterität in der Lyrik der griechischen Befreiungskriege 1821– 1829, in: Meyer, Vormärz und Philhellenismus, S. 151– 184. Einen guten Überblick über die vorwiegend zwischen 1821 und 1828 erschienenen Gedichte bietet: Michael Busse (Hg.), Corpus philhellenischer Gedichte des deutschsprachigen Raumes zum griechischen Freiheitskampf von 1821, 2 Bde., Oldenburg 2006. Zu Lord Byrons Bedeutung in der europäischen Öffentlichkeit: Vgl. Evangelos Konstantinou, Trägerschichten des Philhellenismus und Frühliberalismus in Europa, in: Konstantinou u. Wiedenmann, Europäischer Philhellenismus, S. 53 – 84, hier S. 69 ff. Conversations-Lexicon von 1824; zit. n.: Scheffler, Funktionswandel „orientalischer“ Gewalt, S. 222. Vgl. Frank Hethey, „Homers Volk – ist Homers Schande geworden“. Harro Harring – ein unbequemer Philhellene, in: Meyer, Vormärz und Philhellenismus, S. 323 – 342, hier S. 333.
82
Karsten Ruppert
nach Freiheit und kommentierten die aktuelle Entwicklung im progriechischen Sinne.²⁴ Mit Vorliebe vertrieben die Griechenvereine auch Broschüren mit den griechischen Verfassungen, durch die dem deutschen Publikum vorgegaukelt wurde, dass das von ihnen erstrebte Gemeinwesen dort schon erreicht sei.²⁵ Diese sprachen besonders Liberale und Demokraten an. Sie konnten – wie die Burschenschaftler, die sich in den Griechenvereinen der politischen Überwachung entzogen – an ihre noch junge Erfahrung in den Befreiungskriegen anknüpfen.²⁶ Wie damals eine schwache deutsche Kulturnation aus eigener Kraft die napoleonische Fremdherrschaft abgeschüttelt habe, so werde jetzt die griechische Kulturnation die osmanische Gewaltherrschaft überwinden.²⁷ Gern wurde gegen die autokratische Herrschaftsform nicht ohne verdeckte Beziehung zum Hier und Heute polemisiert. Dabei stand der Topos der „orientalischen Despotie“ im Zentrum – ein Begriff, der erst mit dem Niedergang des Osmanischen Reiches seit dem 18. Jahrhundert im Liberalismus zum Gegensatz eines Gemeinwesens der bürgerlichen Freiheit geworden war.²⁸ Die Missstände, welche die liberalen Philhellenen dort ausmachten, waren oft die, unter denen sie in ihren Bundesstaaten litten. Sie bescheinigten den aufständischen Griechen zudem, auf dem Weg zu einer freien Nation zu sein, die man ebenfalls anstrebte, wenn auch mit anderen Mitteln. Politische Bewegungen, die verfolgt und unterdrückt wurden, konnten sich so unter dem Deckmantel kultureller und karitativer Solidarität organisieren und inkriminierte Ideen verbreiten.²⁹ Es gelang dem politischen Philhellenismus, auch einen Bogen zum kulturellen zu schlagen, indem er darauf verwies, dass am Anfang der europäischen Zivilisation in Griechenland die kulturelle Blüte mit Freiheit und Demokratie einhergegangen sei.³⁰ Im Deutschen Bund richtete sich der politische Impetus gegen die restaurative Unterdrückung und die Verweigerung politischer Mitbestimmung. In England wurden die Griechenvereine zu einem Sammelbecken der Kritiker der Tory-Regierungen;³¹ in Frankreich trafen sich dort die Gegner der
Vgl. Regine Quack-Manoussakis, Der deutsche Philhellenismus während des griechischen Freiheitskampfes 1821– 1827, München 1984, S. 20 ff. Vgl. Ruppert, Freiheitskampf, S. 24 f. Vgl. Lönnecker, Studentische Griechenland-Begeisterung, S. 59 f. Vgl. vom Berg, Bis zertreten die Türken, S. 152 f. Vgl. Scheffler, Funktionswandel „orientalischer“ Gewalt, S. 221. Vgl. Patsourakou, Antike-Rezeption, S. 218. Vgl. vom Berg, Bis zertreten die Türken, S. 180 f. Detaillierte Untersuchung der Zusammensetzung: Vgl. Christopher Montague Woodhouse, The British Philhellenes, in: Konstantinou u. Wiedenmann, Europäischer Philhellenismus, S. 85 – 99,
Die politische Wirkungsmacht von Geschichtsbildern und kulturellen Prägungen
83
bourbonischen Restauration.³² In den Kolonialmächten Großbritannien und Frankreich konnte der Philhellenismus zudem an den Kampf der Zivilgesellschaft gegen die Sklaverei anknüpfen.³³ In allen europäischen Ländern war der Philhellenismus also ein Surrogat für das Drängen des Bürgertums auf mehr politische Mitbestimmung, das sich jetzt schon besonders nachdrücklich in dessen Einmischung in das fürstliche Reservatrecht der Außenpolitik manifestierte. Schließlich reihte sich in Deutschland noch der Protestantismus ein. Trotz der bis dahin ablehnenden Distanz zur Orthodoxie wandten sich dessen Würdenträger bereits zu Beginn in Predigten und Publikationen an ihre Gläubigen, um sie zur Solidarität mit den orthodoxen Brüdern und Schwestern aufzurufen. Diese lehnten sich gegen die Vormacht des Islam auf, der die heiligen Stätten beherrsche und das byzantinisch-christliche Reich zerstört habe. Der Protestantismus konnte an Martin Luthers eschatologisch aufgeladene Beschwörungen vom Ende der Welt durch das Vordringen der Osmanen, die mit dem „Satan“ im Bunde seien, anknüpfen. Die antitürkischen Schriften des Reformators, die im 18. Jahrhundert weitgehend vergessen waren, erlebten zwischen 1822 und 1828 vier Neuauflagen!³⁴ Es wurde aber auch der intellektuelle Beitrag des Griechentums zum Christentum herausgestellt. Die Leistungen der griechischen Kirchenväter wurden gewürdigt und in Erinnerung gerufen, dass Sprache und Geist des Neuen Testaments dem Hellenismus entsprungen seien.³⁵ Damit einher gingen die oft weniger ideologischen Appelle an Karitas und Nächstenliebe.³⁶ Die Philhellenen hatten keine konkreten Kenntnisse von den aktuellen und außerordentlich unterschiedlichen Lebensbedingungen der Griechinnen und Griechen unter der türkischen Herrschaft. Das sie motivierende Bild der Griechen war ganz vom neuhumanistischen Idealismus überlagert. So kam es zu dem grotesken Missverständnis, dass die deutschen Philhellenen glaubten, der griechische Freiheitskampf werde für die Wiederbelebung des antiken Griechenlands geführt, während für die dortige Elite das politische Ideal die Wiedererrichtung des Byzantinischen Reiches war und jenseits der Eliten die ungehinderte Entfaltung der orthodoxen Kirche eine wichtige Rolle spielte – politische Ziele, die zu keinem Zeitpunkt ins Blickfeld des Philhellenismus gelangten, da die moralisie-
hier S. 89 ff. Danach waren im „London Greek Comittee“ über die Hälfte der Mitglieder Oppositionelle des Ober- und Unterhauses! Vgl. ebenfalls Heydemann, Philhellenismus, S. 47. Vgl. Oliver Schulz, Ein Sieg der zivilisierten Welt? Die Intervention der europäischen Großmächte im griechischen Unabhängigkeitskrieg (1826 – 1832), Berlin 2011, S. 191 ff. Vgl. Klose, Humanity, S. 301 ff. Vgl. vom Berg, Bis zertreten die Türken, S. 160 ff. Vgl. Heyer, Philhellenisches Argument, S. 86. Vgl. Ruppert, Freiheitskampf, S. 25.
84
Karsten Ruppert
rende Geschichtsschreibung der Aufklärung alles Byzantinische abgewertet hatte und Katholizismus wie Protestantismus die Orthodoxie traditionell als Häresie einschätzten.³⁷ Die Gebildeten Europas waren davon überzeugt, dass sie für die klassische Kultur wie das humanistische Persönlichkeitsideal den Griechen Dank schuldig seien. Die Gläubigen fühlten sich zur Solidarität mit der durch den Islam bedrohten Orthodoxie aufgerufen und der politische Liberalismus sah in der Unterstützung der griechischen Freiheitsbewegung die Chance zu kryptopolitischer Betätigung. Dass der Philhellenismus so jeweils ganz verschiedene Schichten ansprach³⁸ und er in ganz unterschiedlichen Medien vermittelt wurde – das gab ihm Breitenwirkung und Durchschlagskraft. Dadurch fand sich ein Kontinent zusammen, dessen Selbstverständnis nicht zu einem geringen Teil darin bestand, ein Gegenentwurf zur orientalischen Despotie und zum Islam zu sein.
3 Der Philhellenismus in Aktion Zahlreiche Publikationen hatten also nachdrücklich zur Hilfe und Unterstützung Griechenlands aufgerufen. Diese umzusetzen, war der nächste Schritt. Wenn der Philhellenismus auch nicht nur ein deutsches Phänomen war, so lag doch gerade in dieser Hinsicht der Schwerpunkt in der Schweiz und im Deutschen Bund, und hier wiederum in der bis 1823 dauernden Phase bezeichnenderweise in den konstitutionellen Staaten Hessens und Südwestdeutschlands wie der bayerischen Pfalz.³⁹ Der Philhellenismus, der sich europaweit mit illustren Namen schmücken konnte,⁴⁰ trat praktisch vor allem in zwei Formen in Erscheinung. Bürgerliche Honoratioren, Kaufleute, Lehrer und evangelische Pfarrer gingen, meist ange-
Vgl. Johannes Irmscher, Das Antikebild des deutschen Philhellenismus, in: Konstantinou, Rezeption der Antike, S. 121– 138, hier S. 123 ff. Das betont auch Konstantinou, Trägerschichten, S. 65 f. u. S. 79. Dazu umfassend: Vgl. Christoph Hauser, Anfänge bürgerlicher Organisation. Philhellenismus und Frühliberalismus in Südwestdeutschland, Göttingen 1990. Speziell zur Pfalz: Vgl. Ruppert, Freiheitskampf, S. 29 f. Unter anderem aus Frankreich die Schriftsteller Pierre-Jean de Béranger, René Chateaubriand und Victor Hugo, dazu der Maler Eugène Delacroix; aus England der Dichter Lord Byron, der für die griechische Sache vor Messolongi sein Leben ließ; aus Deutschland die Dichter Heinrich Voss, Adalbert von Chamisso, Gustav Schwab und Ludwig Uhland. Zur ambivalenten Haltung des russischen Dichters Alexander Puschkin, der das Recht der Griechen auf Befreiung wegen ihrer Leistungen in der Antike anerkannte, doch aufgrund seiner Begegnungen mit Griechen in Odessa die seiner Zeit wenig schätzte: Vgl. Heyer, Philhellenisches Argument, S. 87 f.
Die politische Wirkungsmacht von Geschichtsbildern und kulturellen Prägungen
85
lehnt an bereits bestehende bürgerlich-gesellige Vereine, in die Initiative. Sie bildeten in den Städten Komitees, die sich um die Sammlung von Spenden in allen Schichten bemühten. Ein besonderes Stimulans war, dass die Listen der Spender oftmals in den lokalen Blättern veröffentlicht wurden. Gelegentlich wurden Wohltätigkeitskonzerte, Basare, Lesungen wie Vorträge veranstaltet. Die gesammelten Gelder wurden an die nächstgelegenen Vereine überwiesen. Neben den Komitees, die häufig nur zeitweise bestanden oder sich zu bestimmten Anlässen formierten, gab es die Griechenvereine. Die wichtigsten saßen zunächst in Hamburg, Frankfurt am Main, Darmstadt und Stuttgart. Sie hielten untereinander Kontakt und bildeten so die wohl erste überregionale bürgerliche Bewegung im Deutschen Bund. Von Darmstadt aus wurden die Fäden sogar nach London und von Stuttgart aus nach Zürich, Genf sowie Paris geknüpft.⁴¹ Die Zusammenschlüsse haben das Vereinswesen in Deutschland erkennbar politisiert.⁴² In der ersten Phase war die militärische Unterstützung der griechischen Kämpfer das zentrale Anliegen. Männer, die selbst niemals eine Waffe in der Hand gehabt hatten und denen jegliche Vorstellung von den Kämpfen in Griechenland fehlte, haben nach ersten Hilferufen aus Griechenland dafür geworben, für Freiheit und Glauben gegen den Erbfeind des Abendlandes wie des Christentums in den Kampf zu ziehen.⁴³ Die Freiwilligen, die sich daraufhin meldeten, waren nach den napoleonischen Kriegen abgedankte Offiziere und Soldaten, nicht wenige idealistische Studenten,⁴⁴ begeisterte Handwerker, doch kaum Bauernsöhne. Auch für manchen, der zu Hause keine Zukunft mehr sah oder sich sogar einer Strafverfolgung entziehen wollte, war dies eine Option.⁴⁵ Vor allem in Stuttgart wurden in Kooperation mit den Schweizer Griechenvereinen seit November 1821 die Expeditionen zusammengestellt, ausgerüstet und versorgt,⁴⁶ um sich meist über Marseille einzuschiffen. Bis der Durchzug 1823
Zur internationalen Dimension des Philhellenismus vgl. die Spezialuntersuchung von Natalie Klein, „L’humanité, le Christianisme, et la liberté“. Die internationale philhellenische Vereinsbewegung der 1820er Jahre, Mainz 2000. Vgl. auch Heydemann, Philhellenismus, S. 40 ff. Vgl. Ruppert, Freiheitskampf, S. 27. Vgl. Lönnecker, Studentische Griechenland-Begeisterung, S. 59 f. Einer der bekanntesten Philhellenen Deutschlands,Wilhelm Traugott Krug, hatte im Befreiungskrieg ab 1813 als Reitender Jäger gekämpft und stand der Leipziger Burschenschaft nahe: Vgl. ebd., S. 51. Exemplarisch der windungsreiche Lebenslauf des verfolgten Burschenschaftlers Franz Lieber, der nach drei Monaten 1822 restlos enttäuscht zurückkam und nach seiner Emigration in die USA 1826 eine erfolgreiche akademische Karriere absolvierte: Ebd., S. 61 f. Vgl. dazu Wilhelm Barth u. Max Kehrig-Korn, Die Philhellenenzeit. Von der Mitte des 18. Jahrhunderts bis zur Ermordung Kapodistrias’ am 9. Oktober 1831, München 1960. Mit einem ausführlichen Namensverzeichnis der europäischen und amerikanischen Philhellenen und einer
86
Karsten Ruppert
verboten wurde, sind so etwa zehn Expeditionen mit einer Stärke von insgesamt zwischen 700 und 1.200 Freiwilligen nach Griechenland gelangt.Von ihnen ist ein Drittel nicht zurückgekommen, da sie entweder gefallen sind oder von Krankheiten hinweggerafft wurden. Sie kamen fast aus ganz Europa; die meisten aber waren Deutsche, mit deutlichem Abstand gefolgt von Franzosen.⁴⁷ Die Entsendung von Freiwilligen nach Griechenland war insgesamt ein Fehlschlag, vielleicht sogar ein Desaster. Ausbildungsstand und Ausrüstung der jeweiligen Kontingente war sehr unterschiedlich. Die Ankommenden kannten die Landessprache nicht und litten unter dem Klima.Vor allem aber kamen sie mit der Kampfweise des Guerilla- und Bürgerkriegs nicht zurecht. So zerfielen die Trupps bald, die zudem zu ihrer Enttäuschung von niemandem erwartet wurden.⁴⁸ Einige schlossen sich den griechischen Kampfverbänden an. Die meisten schlugen sich in die Heimat durch. Dort wurden sie anfangs als Vagabunden und Versager verleumdet.⁴⁹ Mit ihren seit 1822 erstaunlich zahlreich erscheinenden Erlebnisberichten wollten die Heimkehrer warnen und ihre Enttäuschungen verarbeiten. Man habe nicht Hellas vorgefunden, sondern ein karges und vom Krieg zerstörtes Land, dessen Bewohnerinnen und Bewohner von der glorreichen Vergangenheit, wegen der man gekommen sei, nicht einmal etwas wussten.⁵⁰ Die Griechen seien die Opfer nicht wert und mancher wünschte diesen jetzt sogar die Fortdauer der „türkischen Sklaverei“.⁵¹ Manche hielten ihre ehemaligen Kampfgefährten für nicht weniger brutal als deren muslimische Gegner.⁵² Die Philhellenen hielten dagegen, indem sie der langen türkischen Besatzung die Schuld für den Zustand von Land und Volk gaben. Ohne große Überzeugungskraft versuchten besonders Eifrige nachzuweisen, dass in der zeitgenössischen griechischen Kultur die Antike noch fassbar sei.⁵³ Deutsche Philhellenen haben ihren Landsleuten gerne suggeriert, dass sie besonders dazu prädestiniert seien, den durch Islam und Byzantinismus erstickten Geist der Antike in ihrem Heimatland wiederzubeleben.⁵⁴ Dennoch haben die Vereine auf den Vorwurf,
Liste der von Marseille aus aufgebrochenen Schiffe, zusammen mit einer unvollständigen Liste der von da aus verschifften Griechenlandkämpfer. Vgl. Heydemann, Philhellenismus, S. 43 ff. Vgl. Quack-Manoussakis, Deutscher Philhellenismus, S. 87. Vgl. Hethey, Harring, S. 328 f. Vgl. Lönnecker, Studentische Griechenland-Begeisterung, S. 62. Vgl. Patsourakou, Antike-Rezeption, S. 209 Vgl. Heydemann, Philhellenismus, S. 37 f. Vgl. Heyer, Philhellenisches Argument, S. 90. Vgl. Hethey, Harring, S. 337.
Die politische Wirkungsmacht von Geschichtsbildern und kulturellen Prägungen
87
leichtfertig das Leben junger Männer aufs Spiel zu setzen, reagiert,⁵⁵ nicht zuletzt weil der Aufstand ab 1823 in einen Bürgerkrieg überging.⁵⁶ Die deutschen und schweizerischen Vereine beschlossen, keine Freiwilligen mehr auszurüsten. Die Kabinette in Wien und Berlin beobachteten die philhellenischen Aktionen im Deutschen Bund misstrauisch. Die Regierungen der anderen Bundesstaaten teilten die Aversion. Da sie aber nicht wussten, wie sie mit einer Bewegung umgehen sollten, deren Anliegen jeder Christ und Bürger unterstützen müsse, warteten sie ab, was die Führungsmächte tun würden. Für den österreichischen Staatskanzler Metternich war der Aufstand in Griechenland eine Rebellion gegen die rechtmäßige Herrschaft des Sultans, den er deswegen durch die Lieferung von Waffen unterstützte.⁵⁷ Er war davon überzeugt, dass in der griechischen Erhebung „zu viel revolutionärer Stoff“ sei. Deswegen unterstellte er den Griechenvereinen, auf Veränderungen im Deutschen Bund aus zu sein. Er versuchte mithilfe Preußens, die südwestdeutschen Staaten zum Vorgehen gegen die Philhellenen zu bewegen.⁵⁸ Gegenüber Österreichs Festhalten an der Legitimität des europäischen Staatensystems beriefen sich diese aber auf die Legalität ihres humanitären Handelns. Ihre moralische wie kulturell-religiöse Argumentation ermöglichte es trotz Zensur immer wieder, das Ansehen von Metternichs Österreich, in dem sich der Philhellenismus nicht entfalten konnte, im Deutschen Bund zu schwächen.⁵⁹ Insgesamt haben aber weder die diplomatischen Initiativen noch die publizistischen Offensiven seiner Gegner dem Philhellenismus in Deutschland nachdrücklich schaden können, zumal sich die Unterstützung ab 1823 hin zur Mobilisierung von Geldern auf dem englischen Finanzmarkt verschob. Die Griechenvereine des Vereinigten Königreiches wurden besonders aktiv, als in denen auf dem Kontinent das Engagement nachließ. Getragen wurden sie von führenden Whig-Oppositionellen, hohen Offizieren, Großkaufleuten wie Bankiers und einigen Intellektuellen. Freunde der griechischen Sache waren selbst im Königshaus zu finden.⁶⁰ Das Osmanische Reich war ein wichtiges Absatzgebiet und Außen Insofern ist die These von Heydemann, Philhellenismus, S. 47, dass die Polemik keine Folgen gehabt habe, zu relativieren. Vgl. Ruppert, Freiheitskampf, S. 31. Metternich hatte dazu eigens den Marineoffizier Anton Graf Prokesch als Beauftragten ins östliche Mittelmeer entsandt. Prokesch war ein Vertreter der damals unter den Diplomaten nicht seltenen Haltung, den griechischen Aufstand zu bekämpfen, obwohl er in der Bewunderung der Antike den Philhellenen in nichts nachstand. Vgl. Konstantinou, Trägerschichten, S. 67 ff. Vgl. Quack-Manoussakis, Deutscher Philhellenismus, S. 43 ff. Vgl. Schwarz, Despoten, S. 101 ff. u. S. 298 f. Zur französischen Presse in diesem Zusammenhang: Vgl. Schulz, Sieg der zivilisierten Welt?, S. 250. Vgl. Woodhouse, British Philhellenes, S. 85 ff.
88
Karsten Ruppert
minister Castlereagh hatte die Wiener Nachkriegsordnung mit ausgehandelt. Er hat daher bis zu seinem Selbstmord im August 1822 jede offene Unterstützung verhindert. Nach dem türkischen Massaker von Chios einige Monate zuvor erfolgte aber der Durchbruch. In dessen Verlauf wurde mit dem „London Greek Committee“ im März 1823 die mit Abstand wichtigste Unterstützungseinrichtung gegründet.⁶¹ Zwischen Philanthropie und Gewinninteressen schwankend, war es der passende Ansprechpartner zur Auflegung einer Anleihe über 800.000 Pfund. Abgesichert nur durch die Hoffnung auf den Sieg der Griechen, von geringem Nominalwert, doch mit hohen Zinsen versehen, erbrachte sie der provisorischen griechischen Regierung wenig.⁶² Dem Komitee wurde Raffgier und Betrug unterstellt und da auch dem englischen Philhellenismus zu lascher Umgang mit den Spenden vorgeworfen wurde, verebbte dieser schon im nächsten Jahr. Das „London Greek Committee“ löste sich auf.⁶³ Am wirkungsvollsten war die Entsendung von Freiwilligen gewesen, waren diese doch – anders als auf dem Kontinent – meist erfahrene Offiziere, die nach den napoleonischen Kriegen ihren Abschied hatten nehmen müssen.⁶⁴ Der provisorischen griechischen Regierung gelang es dennoch im Februar 1825, nochmals eine Anleihe zu platzieren. Attraktiv war, dass ein Teil der zwei Millionen Pfund für Rüstungskäufe in England, insbesondere für den Bau von Fregatten vorgesehen war, die für den Kampf gegen die ägyptisch-osmanische Flotte benötigt wurden. Doch sorgten niedrige Auszahlungsquoten, Unkosten, Kursmanipulationen und Schmiergelder auch diesmal dafür, dass wenig übrigblieb. Dennoch hatte der griechische Fiskus über 100 Jahre an Verzinsung und Tilgung der beiden Anleihen zu tragen.⁶⁵
4 Der Philhellenismus und die europäischen Mächte Das Konzert der europäischen Großmächte war durch den griechischen Aufstand zum ersten Mal mit der orientalischen Frage konfrontiert worden, die es bis zu
Vgl. Heydemann, Philhellenismus, S. 48 f. Vgl. ausführlich Korinna Schönhärl, Finanziers in Sehnsuchtsräumen. Europäische Banken und Griechenland im 19. Jahrhundert, Göttingen 2017, S. 48 ff. Vgl. Heydemann, Philhellenismus, S. 51 f. Vgl. Woodhouse, British Philhellenes, S. 91 ff. Vgl. Schönhärl, Finanziers, S. 49 ff.
Die politische Wirkungsmacht von Geschichtsbildern und kulturellen Prägungen
89
seinem Untergang so oft wie keine andere beschäftigen sollte.⁶⁶ Das bisher von ihnen verfolgte Prinzip, mit Berufung auf die monarchische Legitimität alle Veränderungen innerhalb der Staaten wie zwischen ihnen zu verhindern, half bei der verzwickten Herausforderung nur begrenzt weiter. Die daraus folgende Konsequenz, dem Sultan eine legitime Herrschaft zu bescheinigen, konnte der liberalen Opposition zu Hause Auftrieb geben und verbot sich schon allein aufgrund der bisherigen religiösen wie ideologischen Abgrenzung zu dessen Regime. Umgekehrt konnte ein Erfolg der Aufständischen die Nationalitäten auf dem Balkan und im Habsburgerreich zur Nachahmung animieren. Und wie würde der Zerfall der osmanischen Herrschaft in Europa das Gleichgewicht zwischen den Mächten verschieben, von denen sich Österreich und Frankreich als die Schutzmächte der Katholiken und Russland als die der Orthodoxen gerierten? Durch die Festlegung auf die Politik der Nicht-Intervention ließen sich die Probleme zunächst entschärfen.⁶⁷ Die Widersprüche in der Politik der für die orientalische Frage entscheidenden Großmächte trieben die Entwicklung aber weiter. In Frankreich sahen sich die Regierungen der restaurierten Bourbonenmonarchie immer wieder mit Vorwürfen der Liberalen in Parlament und Öffentlichkeit konfrontiert, dass sie Griechenland nicht nur nicht unterstützten, sondern für die dort begangenen Grausamkeiten Verantwortung trügen – würden sie doch vor allen Dingen durch die von Frankreich ausgerüsteten und ausgebildeten Truppen des ägyptischen Vasallen verübt.⁶⁸ Schließlich verlangten französische Fernhandelskaufleute, die Handelswege in die Levante zu sichern, die durch die Piraterie beider Seiten gefährdet seien.⁶⁹ Mit ähnlichen Forderungen drängten britische Exporteure ihre Regierung zum Eingreifen im östlichen Mittelmeer. Sie wurden dabei, wenn auch aus anderen Motiven, von einem zwar quantitativ nicht großen, doch wegen seines Rückhalts in der Opposition politisch starken Philhellenismus unterstützt.⁷⁰ Beide Regierungen wollten einerseits keine Niederlage der Griechen, da dann die
Nach Scheffler, Funktionswandel „orientalischer“ Gewalt, S. 209, haben sich bis zum Ersten Weltkrieg 14 der 27 internationalen Kongresse und Konferenzen damit befasst. Vgl. Schulz, Sieg der zivilisierten Welt?, S. 183 ff., eingehender zur französischen Schutzherrschaft S. 177 ff. Diese Widersprüche verkörpern sich exemplarisch in dem französischen Philhellenen René Chateaubriand, der als Außenminister die Reform der ägyptischen Truppen vorantrieb, die dann gegen die Griechen eingesetzt wurden. Vgl. Konstantinou, Trägerschichten, S. 77 f., und Klose, Humanity, S. 306 f. Vgl. ebd., S. 237 f. u. S. 482 f. Vgl. Heydemann, Philhellenismus, S. 50 ff.
90
Karsten Ruppert
Gefahr bestand, dass Russland zugunsten der Orthodoxen intervenieren würde. Andererseits musste das Osmanische Reich stark bleiben, um der russischen Expansion Einhalt gebieten zu können und weil es sich zu einem immer lukrativeren Exportmarkt entwickelte.⁷¹ Obwohl Russland seit den Lynchmorden an den orthodoxen Würdenträgern Ostern 1821 innenpolitisch unter Druck stand, hat sich Alexander I. von seiner strikt antirevolutionären Politik nicht abbringen lassen. Dies gelang umso leichter, als es in seinem Reich nur kleine, elitäre Zirkel von Philhellenen mit panorthodoxen Neigungen gab. Daher beschränkte er sich gegenüber der Pforte darauf, auf die Einhaltung der den Zaren seit 1774 verbrieften Schutzherrschaft über die orthodoxen Christinnen und Christen zu bestehen und die Aufständischen 1823 diplomatisch anzuerkennen. Obwohl mit dem Osmanischen Reich immer wieder im Krieg, wollte Russland dies als Schutzwall gegen seine europäischen Rivalen erhalten.⁷² Die europäische Diplomatie hat in der ersten Phase der philhellenischen Öffentlichkeit misstraut, da sie den griechischen Aufstand im Zusammenhang mit den Unruhen in Spanien und Italien als Revolution verstand. Die Diplomaten ließen sich den Blick auch nicht durch Idealvorstellungen von der Antike trüben. Eine geringe Überschneidung gab es mit dem konservativen Philhellenismus, soweit er die christliche Zivilisation gegen die islamische Despotie abgrenzte. Die Gedanken der liberalen Griechenlandfreunde von Freiheit und Selbstständigkeit hingegen wurden als für den inneren Zustand der Staaten wie die internationale Ordnung gleich gefährlich bekämpft.⁷³ Diese Position ließ sich nach dem Wiedererwachen des Philhellenismus nicht mehr durchhalten. Die relative Ruhe an der russischen Front hatte nämlich den Sultan zusammen mit dem inzwischen ausgebrochenen griechischen Bürgerkrieg ermuntert, eine neue militärische Initiative zu ergreifen. Im Sommer 1824 brach ein Expeditionsheer zusammen mit einer Flotte zur Peloponnes auf, die bis April 1826 fast die gesamte Halbinsel und das mittelgriechische Festland unter osmanische Kontrolle brachten. Bis dahin war auch die letzte noch von den Griechen gehaltene Festung Messolongi gefallen. Deren elfmonatige Verteidigung war zum Symbol des ungebrochenen Freiheitswillens der Griechen geworden.⁷⁴
Vgl. Paul W. Schroeder, The Transformation of European Politics 1763 – 1848, Oxford 1994, S. 639 ff.; Schulz, Sieg der zivilisierten Welt?, S. 241, S. 470 f. u. S. 483. Vgl. Schroeder, Transformation, S. 650 ff.; Schulz, Sieg der zivilisierten Welt?, S. 188 f., S. 478 f. u. S. 480 f. Vgl. Schulz, Sieg der zivilisierten Welt?, S. 170 ff. Vgl. Ruppert, Freiheitskampf, S. 32.
Die politische Wirkungsmacht von Geschichtsbildern und kulturellen Prägungen
91
Die dadurch neu entfachte Welle der Begeisterung in Europa erhielt mehr Durchschlagskraft durch den inzwischen erfolgten Umschwung in der Politik der Mächte, welche die sich abzeichnende Niederlage der Griechen zum Handeln zwang. Nun war die philhellenische Warnung plausibler, dass die Türken eine Bedrohung des zivilisierten Europa seien und dass den Christen in Griechenland massenhaft Deportation und Versklavung drohe.⁷⁵ Es schien sich der immer wieder erhobene Vorwurf zu bestätigen, dass das hochgehaltene Prinzip der Legitimität und das politische Ideal des christlichen Europa dort machtpolitischem Kalkül geopfert werde. Die Sicherung wirtschaftlicher Interessen und Erwägungen machtpolitischer Balance kamen hinzu. Und schließlich waren in Großbritannien mit Außenminister Castlereagh und in Russland mit Zar Alexander I. Schöpfer der Wiener Nachkriegsordnung inzwischen verstorben und in Bayern bestieg der Griechenlandschwärmer Ludwig I. im Oktober 1825 den Thron. In völliger Abkehr von der Politik seines Vaters unterstützte er den Freiheitskampf der Griechinnen und Griechen. In Gedichten spornte er sie an und kommentierte das dortige Geschehen poetisch bis in die Zeit der griechischen Regentschaft seines Sohnes Otto hinein.⁷⁶ Bayerische Soldaten und Offiziere wurden nach Hellas abgeordnet. Söhnen gefallener Griechen wurde die Offizierslaufbahn in der bayerischen Armee und jungen Griechen eine Schul- und Universitätsausbildung im Königreich ermöglicht.⁷⁷ Aufgrund dieses Umschwungs konnte sich die philhellenische Bewegung seit dem Frühjahr 1826 im Deutschen Bund ungehinderter als in ihren ersten Jahren ausbreiten. In den Königreichen Preußen, Bayern und Sachsen engagierten sich jetzt sogar Regenten, Hofadel, führende Kirchenmänner und Staatsbeamte. Von dort und aus der Freien Hansestadt Hamburg kamen seitdem auch die meisten Gelder. Insgesamt war in Deutschland in der zweiten Phase das Spendenaufkommen etwa doppelt so hoch wie in der ersten. Es sollte nun ausschließlich zur Linderung der Not, für den Freikauf versklavter Christen und als Hilfe für die Kriegsopfer und deren Angehörige verwendet werden.⁷⁸ Darüber hinaus wurde die Wende dadurch vollzogen, dass jetzt nur noch Frankreich, Großbritannien und Russland sich des griechischen Problems annahmen, die inzwischen davon überzeugt waren, dass mit der bisherigen Konferenzdiplomatie unter der Führung Österreichs nicht mehr weiterzukommen
Vgl. Heyer, Philhellenisches Argument, S. 85 f.; Klose, Humanity, 310 ff. Vgl. Busse (Hg.), Corpus, Bd. 1, S. 422 ff. Umfassend zu diesen Aspekten: Reinhold Baumstark (Hg.), Das neue Hellas. Griechen und Bayern zur Zeit Ludwigs I., München 1999. Vgl. Quack-Manoussakis, Deutscher Philhellenismus, S. 127 f.
92
Karsten Ruppert
sei.⁷⁹ Zudem hatte unter ihnen die philhellenische Sicht an Boden gewonnen, dass sich in Griechenland Christen gegen ihre islamischen Unterdrücker erhöben und nicht liberale Revolutionäre gegen ihren legitimen Herrscher.⁸⁰ Die britisch-russische Allianz wollte zunächst die bestehende Ordnung weitgehend erhalten. Dazu schlug sie eine tributpflichtige Autonomie Griechenlands im Osmanischen Reich vor, die von den Griechen wie der Hohen Pforte abgelehnt wurde. Diese spielte vielmehr auf Zeit, da der Sieg 1826 greifbar nahe schien. Dieses Hinhalten zwang die Allianz zu einer militärischen Demonstration, an der sich auch Frankreich beteiligen wollte. Um die Nachschubwege der osmanischen Land- und Seestreitkräfte zu blockieren wie auch um Handelsverbindungen zu sichern, wurde ein Jahr später eine gemeinsame Flotte in die griechischen Gewässer beordert. Diese geriet gegen die Absicht der Regierungen am 20. Oktober 1827 bei Navarino in eine Schlacht, in welcher der Sultan seine letzten Kriegsschiffe verlor.⁸¹ Nachdem die drei Mächte vereinbart hatten, sich nicht in Griechenland festzusetzen, stand ihrer weiteren militärischen Unterstützung der Freiheitskämpfer nichts mehr im Wege. Zugleich vermittelten sie zwischen den griechischen Kampfparteien und politischen Rivalen, sodass eine gesamtgriechische Regierung ihre Arbeit aufnehmen konnte. Die Philhellenen Europas feierten den Einsatz der drei Mächte als ihren Erfolg und bis Ende des Jahres 1828 schien ihnen die Freiheit der Griechinnen und Griechen so sicher bevorzustehen, dass sie glaubten, ihre Hilfsleistungen einstellen zu können.⁸² Als die Gefahr einer Niederlage abgewendet und das Netz der Korrespondenten ausgebaut worden war, wurde auch die Berichterstattung über die andauernden Kämpfe auf dem griechischen Festland ausgewogener.⁸³ Diesen Stimmungsumschwung nutzte insbesondere Großbritannien, um in der europäischen Öffentlichkeit, seinem Interesse gemäß, für einen teilweisen Verbleib der Osmanen in Griechenland zu werben. Daher mussten diese zur Enttäuschung aller Hellenen und Philhellenen in den beiden Londoner Protokollen von 1830 und 1832 nur den Gebieten südlich der Linie zwischen dem Golf von Arta und
Aufgrund seiner Fragestellung reduziert Klose, Humanity, S. 293 ff., sowohl die politische Wende der Großmächte als auch den Philhellenismus zu sehr auf die „abolitionistischen Leitmotive“. Vgl. Schulz, Sieg der zivilisierten Welt?, S. 469. Vgl. Edgar Hösch, Griechenland in der Politik der Großmächte, in: Baumstark, Das neue Hellas, S. 33 – 41, hier S. 35 f. Vgl. Klein, „L’Humanité“, S. 148 f. Vgl. Schwarz, Despoten, S. 139 ff. u. S. 299 ff.
Die politische Wirkungsmacht von Geschichtsbildern und kulturellen Prägungen
93
jenem von Volos die Souveränität gewähren.⁸⁴ Den Thron in dem dort neu errichteten Erbkönigreich erhielt unter tätiger Mithilfe europäischer Philhellenen der minderjährige Sohn des bayerischen Königs. Unter ihm lebten von nun an etwa 600.000 von drei Millionen Griechinnen und Griechen.⁸⁵
5 Fazit: Die außenpolitische Wirkung des Philhellenismus Der Philhellenismus ist bisher vor allen Dingen als eine Etappe auf dem Weg zur Emanzipation des Bürgertums und zur Formung des Liberalismus verstanden worden. Dahinter ist seine außenpolitische Bedeutung zu Unrecht fast vollständig verschwunden. Denn mit dieser Bewegung setzte zumindest in Deutschland zum ersten Mal die dem Staat gegenüberstehende bürgerliche Gesellschaft die Themen und bestimmte die öffentliche Debatte auf einem Feld, das bis dahin das Monopol der fürstlichen Exekutive gewesen war. Dabei machten die Bürger frühe Erfahrungen mit dem politischen Machtfaktor der Öffentlichkeit durch die Erörterung freiheitlicher und nationaler Themen in ihrem Sinne. Die bundesweite, ja, europaweite Kommunikation förderte ein gemeinsames Selbstbewusstsein. Zugleich betrieben die Philhellenen eine aktive Außenpolitik. Zu einer Zeit, in der ihre Obrigkeiten die Politik der Aufrechterhaltung der Wiener Nachkriegsordnung und der koordinierten Bekämpfung aller Aufstandsbewegungen verfolgten, unterstützte eine sozial breite Bewegung unter Führung der europäischen Bildungsbürger die griechischen Aufständischen gegen die osmanische Besatzungsmacht militärisch, finanziell, propagandistisch und karitativ. Der dominante Antrieb dabei war eine ästhetisch-kulturelle und weniger die rein historische Erinnerung an die griechische Antike, wie sie sich in der Klassik geformt hatte. Durch verschiedene Institutionen und Medien wurde dieses Bild weitertransportiert. Sie vermittelten zugleich das Bewusstsein vom fortdauernden Wert der antiken Werke für die Gegenwart, das Grundlage für das Empfinden war, den zeitgenössischen Griechen Dank schuldig zu sein. Breitenwirkung und Durchschlagskraft erhielt diese ästhetisch-kulturelle Erinnerung dadurch, dass sie sich zur Politik und Religion hin öffnete. So gelang es den Philhellenen, von einer bildungsbürgerlichen Ideologie ausgehend durch
Vgl. Druck der Londoner Protokolle vom 3. 2.1830 und 30. 8.1832, in: Peter Brandt u. a. (Hg.), Quellen zur europäischen Verfassungsgeschichte im 19. Jahrhundert. Institutionen und Rechtspraxis im gesellschaftlichen Wandel. Teil 2: 1815 – 1847, Bonn 2010. Vgl. Hösch, Großmächte, S. 38.
94
Karsten Ruppert
die Verbreitung karitativer und religiöser Appelle in einer beeindruckenden Vielzahl unterschiedlicher Medien auch Schichten außerhalb dieses Milieus anzuschließen. Daher kämpften, in der Sicht der Liberalen, Aufständische für ihre Befreiung von der Fremdherrschaft und für die Mehrheit der Griechenfreunde verteidigten die Nachfahren der Hellenen die europäische Kultur, die auf Antike und Christentum ruhe, gegen islamische Barbaren. Die Philhellenen profitierten darüber hinaus davon, dass Herausgeber wie Leserinnen und Leser der damaligen europäischen Presse überwiegend Bürgerliche waren. Zusammen mit der Art der Nachrichtenbeschaffung ergab sich eine Berichterstattung, die sich erkennbar zugunsten der Griechinnen und Griechen auswirkte, besonders hinsichtlich der das europäische Publikum stark bewegenden grausamen Seiten des Kriegs. So entfaltete die kulturelle Prägung des Bildungsbürgertums ein erstaunliches emanzipatorisches Potenzial gegen eine adlige Diplomatie, die frei davon war und sich stattdessen an den Leitlinien der Stabilität und des Gleichgewichts orientierte. Zu dem außenpolitischen Erfolg hat auch die Taktik der Philhellenen gegenüber den Wiener Ordnungsmächten beigetragen. Mit Blick auf deren antirevolutionäre Politik wurde zum einen das Recht der Griechen auf ihre Unabhängigkeit von den Aufständen in Spanien und Italien abgegrenzt und zum anderen wurde durch die Aufdeckung der Widersprüche zwischen Prinzipien und Machtpolitik die Position der Mächte unterhöhlt. Die Unterwerfung der Wiege der europäischen Kultur unter eine rückständige und barbarische Despotie stehe im Widerspruch zu dem stets proklamierten Prinzip der Legitimität. Ebenso könne ein Konzert von sich bewusst als christlich verstehenden Mächten die Unterdrückung von Christen durch den Islam nicht hinnehmen. Erstaunlich ist, wie erfolgreich diese erste Bürgerbewegung der europäischen Außenpolitik gewesen ist. Während die Entsendung von Kriegsfreiwilligen ein Fehlschlag war, gelang es durch Organisation und öffentlichen Druck, in mehreren Ländern die Regierungen zum Kurswechsel zu bewegen. Während diese in der ersten Phase die Bewegung noch behinderten und den griechischen Freiheitskampf als eine Gefährdung der europäischen Staatenordnung verurteilten, haben sie ihn nach dem Wiederaufblühen des Philhellenismus militärisch und diplomatisch so lange unterstützt, bis ein Fünftel der Griechinnen und Griechen in einem eigenen Staat leben konnte. Der Philhellenismus ist also ein Beispiel dafür, dass die kulturelle Prägung eines Teils der Gesellschaft in den europäischen Staaten nicht nur die öffentliche Debatte über Außenpolitik beherrschte, sondern auch zu deren grundlegenden Änderung beitrug. Er ist aber auch ein Beispiel dafür, dass es für die politische Wirkung weder auf die Richtigkeit der Erinnerung noch auf genaue Kenntnisse der aktuellen Verhältnisse ankommt. Die Aktivitäten des Philhellenismus be-
Die politische Wirkungsmacht von Geschichtsbildern und kulturellen Prägungen
95
ruhten auf einer Selbsttäuschung und er hatte in mehrfacher Hinsicht eine illusionäre Sicht auf das Geschehen. Im Hinblick darauf, dass sich Teile einer Gesellschaft organisieren, um ihren Anspruch auf Mitsprache und Mitgestaltung in der Außenpolitik durchzusetzen, steht der europäische Philhellenismus in der Tradition des Kampfes gegen den Sklavenhandel in den angelsächsischen Ländern und Frankreich. Sucht man nach Vergleichbarem in den folgenden Jahrzehnten, wird man aber auch an den Einsatz für ein deutsches Schleswig Ende der 40er Jahre des 19. Jahrhunderts denken können, an die Resonanz, die der Kampf der USA gegen Spanien um Kuba in der amerikanischen Öffentlichkeit gefunden hat, oder aber an die Erregungen, wie sie für Teile der Gesellschaft im Zeitalter des Imperialismus typisch wurden.
Jonas Klein
Antikenrezeption in der „Weltpolitik“ des Deutschen Kaiserreiches Nur die That kann uns erretten, und wenn sie der Reichstag nicht auf sich nehmen will, dann sollte das Volk selbst, geführt von patriotischen Männern, damit vorgehen. Als in dem ersten punischen Kriege gewaltige Stürme die besten Flotten Roms vernichtet hatten und Senat und Behörden, verzagt ob des großen Unglücks, die Hände in den Schoß legten, da nahmen sich reiche Privatleute der Sache an und gaben die Gelder her, die den Bau einer neuen Flotte ermöglichten. Soll so etwas bloß in der Geschichte verzeichnet stehen, um durch die Bewunderung fremder Größe dem Gemüt für den Augenblick eine wohlthuende Erregung zu bereiten?¹
Solcherart appellierte der Gymnasiallehrer Arnold Fokke 1896 in der einflussreichen und regierungsnahen nationalliberalen Zeitschrift Die Grenzboten für die Durchsetzung einer bedingungslosen deutschen Flottenrüstung gegen all jene Opponentinnen und Opponenten einer solchen Politik, die den „warnenden Finger“ der Geschichte hartnäckig ignorierten.² Mit diesem weiten Rückgriff in die Alte Geschichte war Fokke in den wilhelminischen Flottendebatten keineswegs allein, auch wenn nicht jeder so viele Worte machte. Die lateinische Phrase civis Romanus sum – die 1850 bereits der britische Premier Palmerston als Schlagwort für den Anspruch in Dienst genommen hatte, dass Briten aufgrund der militärischen Macht Englands überall auf der Welt der Garantie ihrer Rechte sicher sein könnten – war in den Reichstagsdebatten über die Flottenvorlagen wiederkehrend zu hören. Schon Alfred von Tirpitz, damals Stabschef beim Oberkommando der Marine, hatte sie 1895 in einem Schreiben an den ehemaligen, langjährigen Chef der Admiralität, Albrecht von Stosch, zum anzustrebenden politischen Prinzip civis Germanus sum umformuliert.³ Überhaupt gilt das „lange“ 19. Jahrhundert in Europa als eine besonders geschichtsversessene Epoche.⁴ Während Profi- ebenso wie Amateurarchäologen zunächst vorrangig im Mittelmeerraum nach den dinglichen Überresten des Al-
Arnold Fokke, Freiwillige Flottensteuer, in: Die Grenzboten 55/1. 1896, S. 259 – 265, hier S. 265. Ebd., S. 260. Tirpitz an Stosch, 7.12.1895, in: Michael Behnen (Hg.), Quellen zur Deutschen Außenpolitik im Zeitalter des Imperialismus 1890 – 1911, Darmstadt 1977, Nr. 65, S. 126 f. Annette Schöneck, Literarische Geschichtsbilder in historischen Romanen und historiographischen Werken des 19. Jahrhunderts, Baden-Baden 2018, S. 13. https://doi.org/10.1515/9783110726442-008
98
Jonas Klein
tertums gruben, lag Letzteres auch im Europa nördlich der Alpen nicht fern.⁵ Zudem blieb die Kenntnisvermittlung der lateinischen und, mit Abstrichen, griechischen Sprache über mehrere Bildungsreformdebatten hinweg zentrale Aufgabe der höheren Schulen. Wenn der damalige Reichskanzler Bernhard von Bülow 1903 anlässlich einer Buchgabe an den prominenten Archäologen Wilhelm Dörpfeld schrieb: Es drängt mich aber, Ihnen auszusprechen, was ihrem Werk gegenüber mit mir alle diejenigen unserer Landsleute unmittelbar und lebhaft empfinden werden, deren Jugend sich an den Idealen des klassischen Altertums begeistert hat, und denen die homerischen Gestalten als vertraute Gebilde einer heiteren Welt des Schönen und Heroischen leuchtend vor Augen stehen […].⁶
So verwies er auf den festen Platz, den antike Autoren und altertumsbezogenes Wissen im Bildungskanon der gesellschaftlichen Eliten einnahmen.⁷ Die Reden Bülows waren nicht nur ein Füllhorn für bildungssprachliche Zitate, sondern der seit 1900 amtierende Reichskanzler gilt auch als Architekt der deutschen „Weltpolitik“.⁸ Abgesehen von Wilhelm II. selbst verbinden sich vor allem Bülows und Tirpitz’ Namen mit dem Streben nach einem „Platz an der Sonne“. Zeitgenössisch war die „Weltpolitik“ ein plakatives Schlagwort, das die weitgespannten, internationalen Ambitionen des Reiches handlich bündelte. Im vorliegenden Beitrag dient sie als Bezeichnung für einen bestimmten Zug der politischen Kultur des wilhelminischen Kaiserreiches, aus der konkrete politische Projekte, wie die Gesetze zur Flottenrüstung, entstanden. Dabei wird politische Kultur verstanden als die Summe aller orientierungsleitenden Grundannahmen und Koordinatensystem
Für die gesamteuropäische Verfügbarkeit der klassischen Antike als Referenzraum: Vgl. Gàbor Klaniczay u. a. (Hg.), Multiple Antiquities – Multiple Modernities. Ancient Histories in Nineteenth Century European Cultures, Frankfurt 2011. Bülow an Dörpfeld, 25.1.1903, in: Johannes Penzler (Hg.), Fürst Bülows Reden nebst urkundlichen Beiträgen zu seiner Politik, Bd. 1, Berlin 1907, S. 474. Bülow bezieht sich auf: Wilhelm Dörpfeld, Troja und Ilion. Ergebnisse der Ausgrabungen in den vorhistorischen und historischen Schichten 1870 – 1894, Athen 1902. Vgl. Susan Foley, Vercingetorix Meets Minerva. Gender, Politics and Classical Antiquity in the Letters of Léon Gambetta and Léonie Léon, in: French History 26/2. 2012, S. 222– 242; Wolfgang J. Mommsen, Der Historismus als Weltanschauung des aufsteigenden Bürgertums, in: Ders., Bürgerliche Kultur und politische Ordnung. Künstler, Schriftsteller und Intellektuelle in der deutschen Geschichte 1830 – 1933, Frankfurt 2002; Alexander Demandt, Natur- und Geschichtswissenschaft im 19. Jahrhundert, in: HZ 237/1. 1983, S. 37– 66. Gerd Fesser, Reichskanzler Fürst von Bülow. Architekt der deutschen Weltpolitik, Leipzig 2003.
Antikenrezeption in der „Weltpolitik“ des Deutschen Kaiserreiches
99
sämtlicher habitualisierter Ideen in einer Gesellschaft.⁹ Sie umfasst also insbesondere auch die prägende Grundanschauung, nach der im Kaiserreich zwar Innen- und Außenpolitik als getrennte Felder betrachtet wurden, jedoch auch innenpolitische Vorgänge maßgeblich unter der Prämisse ihrer Implikationen für die Außenbeziehungen des Reiches bewertet wurden. Leitstern dieser Beurteilungsmaßstäbe waren das Prestige und die Handlungsoptionen einer von der Welt anerkannten Großmacht.¹⁰ Von der grundsätzlich kommunikativen Struktur politischer Handlungen ausgehend,¹¹ widmet sich dieser Beitrag der Frage, inwiefern die Rezeption der Antike – als Ansammlung der den politischen Akteuren der Zeit „vertraute[n] Gebilde“¹² – im Begriffsspektrum der „Weltpolitik“ eine Rolle gespielt hat. Ebenso wie politische Handlungen haben auch kollektive Bezugnahmen auf Vergangenheit als soziales Phänomen zu gelten. Sie vollziehen sich in kommunikativen Akten sowie in verräumlichenden oder auch anders körperlich erfahrbaren Praktiken und transportieren dabei Erinnerungssemantiken, die Austausch und Selbstvergewisserung mit Blick auf Vergangenheit ermöglichen.¹³ Welches waren nun, in diesem Zusammenhang, die Muster und Funktionen von Erinnerungsrhetoriken und -semantiken, die sich auf die Antike bezogen? Wenn dabei mit „Antikenrezeption“ ein einigermaßen schillernder Begriff für alle möglichen Ausdrucksformen eines wie auch immer gearteten Fortlebens „der Antike“ benutzt wird, ist auf dessen systematische Theoretisierung im Rahmen des 2016 abgeschlossenen Sonderforschungsbereichs 644 „Transformation der Antike“ zu verweisen. Dort haben der Kulturwissenschaftler Hartmut Böhme und andere die Flexibilität von Vergangenheitsvorstellungen und -bezugnahmen hervorgehoben und mit den komplexen Wechselbeziehungen zwischen Vergangenheit und Gegenwart in Beziehung gesetzt, die auf ein gegenseitiges Erschaffen von Aufnahme- und Referenzkultur hinauslaufen.¹⁴ Im Folgenden ist mit „Anti-
Vgl. Karl Rohe, Politische Kultur und ihre Analyse. Probleme und Perspektiven der Politischen Kulturforschung, in: HZ 250. 1990, S. 321– 347, hier S. 333; Ders., Politische Kultur. Zum Verständnis eines theoretischen Konzepts, in: Oskar Niedermeyer u. Klaus von Beyme (Hg.), Politische Kultur in Ost- und Westdeutschland, Berlin 1994, S. 1– 15, hier S. 1 f. Konrad Canis, Von Bismarck zur Weltpolitik. Deutsche Außenpolitik 1890 – 1902, Berlin 1997; Ders., Der Weg in den Abgrund. Deutsche Außenpolitik 1902– 1914, Paderborn 2001. Willibald Steinmetz, Das Sagbare und das Machbare. Zum Wandel politischer Handlungsspielräume. England 1780 – 1867, Stuttgart 1993, S. 26. Bülow an Dörpfeld, 25.1.1903. Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 52005, S. 29 – 48. Hartmut Böhme, Einladung zu Transformation, in: Ders., Transformation. Ein Konzept zur Erforschung kulturellen Wandels, München 2011, S. 7– 37, hier S. 9.
100
Jonas Klein
kenrezeption“ also die dezidiert politische Rückkopplung der eigenen Gegenwart mit einer als geschlossen und abgrenzbar imaginierten Epoche Antike gemeint; und zwar zugleich als ein prozesshafter Vorgang und als Ergebnis von Wechselwirkungen zwischen sozialen Routinen, die auf diese Antike Bezug haben, einerseits und der zielgerichteten Mobilisierung oder Konstruktion von Geschichtsbildern andererseits. Ebenfalls dem SFB 644 zuzurechnen ist die Studie „Greater than Rome“ der Politikwissenschaftlerin Eva Marlene Hausteiner, eine stringente Diskursanalyse der Bezugnahme auf das antike Rom in der britischen Politik des Hochimperialismus, welche für die vorliegende Untersuchung eine maßgebliche Referenz darstellt.¹⁵ In einem wesentlichen Punkt wird – im Rahmen des hier zur Verfügung stehenden Raums – über dieses Referenzkonzept hinausgegangen. Quellenkompilation und -kontextualisierung sollen berücksichtigen, was ich in Anlehnung an Erving Goffmans Alltagssoziologie als die „Vorder-“ und „Hinterbühnen“ bezeichnen möchte, auf denen sich das menschliche Leben und mithin auch die Politik vollziehen.¹⁶ Daher sollen in einem ersten Schritt – auf der Vorderbühne – Antikenbezüge in den politischen Kulturzeitschriften des Kaiserreiches, als einschlägigen Debattenforen seiner Eliten, in den Periodika der imperialistischen Eva Marlene Hausteiner, Greater than Rome. Neubestimmung britischer Imperialität 1870 – 1914, Frankfurt 2015. Für die hier relevanten Ergebnisse des SFB 644 vgl. auch Sebastian Huhnholz, Krisenimperialität. Romreferenz im US-amerikanischen Empire-Diskurs, Frankfurt 2014; Stefan Schlelein (Hg.), Macht Antike Politik? Zum Nutzen der Antike in politischer Theorie und Praxis, Berlin [2020]. Diese Ansätze sind allgemeinen Forschungsentwicklungen im Sinne einer methodisch erneuerten Ideengeschichte zuzuordnen: Vgl. Lutz Raphael, Ideen als gesellschaftliche Gestaltungskraft im Europa der Neuzeit. Bemerkungen zur Bilanz eines DFG-Schwerpunktprogramms, in: Ders. u. Heinz-Elmar Tenorth (Hg.), Ideen als gesellschaftliche Gestaltungskraft im Europa der Neuzeit. Beiträge für eine erneuerte Geistesgeschichte, München 2006, S. 11– 27. Als lange singulär gebliebene Initialforschung zur politischen Antikenrezeption gilt Parkers ideengeschichtliche Studie über entsprechende Bezugnahmen im Kontext der Französischen Revolution: Vgl. Harold T. Parker, The Cult of Antiquity and the French Revolutionaries. A Study in the Development of the Revolutionary Spirit, Chicago 1937. Bisher vorliegende Studien zu spezifisch politischen Facetten von Antikenrezeption in Deutschland konzentrieren sich auf einzelne Rezeptionsgegenstände: Vgl. Anuschka Albertz, Exemplarisches Heldentum. Die Rezeptionsgeschichte der Schlacht an der Thermoplyen von der Antike bis zur Gegenwart, Oldenburg 2006; Rainer Kipper, Der Germanenmythos im Deutschen Kaiserreich. Formen und Funktionen historischer Selbstthematisierung, Göttingen 2002; Evangelos Konstantinou (Hg.), Die Rezeption der Antike und der europäische Philhellenismus, Frankfurt 1998; Andreas Dörner, Politischer Mythos und symbolische Politik. Sinnstiftung durch symbolische Formen am Beispiel des Hermannsmythos, Opladen 1995; Marie Osmers, Erziehung nach spartanischem Vorbild? Zur Rezeption und Bedeutung der Agoge im Nationalsozialismus, in: Gymnasium 123. 2016, S. 145 – 166. Vgl. Erving Goffman,Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag, München 72009.
Antikenrezeption in der „Weltpolitik“ des Deutschen Kaiserreiches
101
Agitationsverbände und in politischen Reden herausgearbeitet werden. In einem zweiten Schritt – auf der politischen Hinterbühne – sind diesen entsprechende Befunde aus einschlägigem Aktenmaterial gegenüberzustellen, also vor allem diplomatische Depeschen und die Korrespondenz leitender Staatsmänner und einflussreicher politischer Intellektueller. Dabei erscheinen besonders solche Personen reizvoll, die engagierte Akteure und Stichwortgeber in den politischen Debatten ihrer Zeit waren und als Historiker und Altertumswissenschaftler gleichzeitig anerkannte Experten für die historische Überlieferung. Letztere fungierten damit im Zeitalter der „Weltgeltung deutscher Wissenschaft“ gewissermaßen als die universitären Hüter der „Geschichte“ als Ressource der Politik.¹⁷
1 „Alte Geschichten“ auf den Vorderbühnen der Politik Wilhelm II. vereinte Widersprüchlichkeiten seiner Epoche augenfällig in seiner Person, auch was den Umgang mit vergangenen Zeiten anging. Zwar stellte er sich im Streit um die Schulreform auf die Seite der Realschulbildung und gegen die Dominanz des humanistischen Gymnasiums, andererseits förderte er aber etwa die Restaurierung des Saalburg-Kastells in Hessen, bei dessen Grundsteinlegung er sich als römischer Imperator inszenierte.¹⁸ Dieser Pomp war Programm:
Beispielhaft sei verwiesen auf William M. Calder u. Alexander Demandt (Hg.), Eduard Meyer. Leben und Leistung eines Universalhistorikers, Leiden 1990; Stefan Rebenich, Theodor Mommsen und Adolf von Harnack. Wissenschaft und Politik im Berlin des ausgehenden 19. Jahrhunderts, Berlin 1997; Wilfried Nippel, Johann Gustav Droysen. Ein Leben zwischen Wissenschaft und Politik, München 2008; Jonas Klein u. Andreas Rose, Zwischen Wissenschaft und Politik. Hans Delbrück – Ausgewählte Korrespondenz (1868 – 1929), in: Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften (Hg.), Jahresbericht 2018, München 2019, S. 37– 50. Zu Expertinnen und Experten als Sozialfigur: Vgl. Caspar Hirschi, Skandalexperten – Expertenskandale. Zur Geschichte eines Gegenwartsproblems, Berlin 2018. Zur wechselseitigen Ressourcenförmigkeit von Wissenschaft und Politik: Vgl. Mitchell G. Ash, Wissenschaft und Politik. Eine Beziehungsgeschichte im 20. Jahrhundert, in: AfS 50. 2010, S. 11– 46. Zur Einbettung des Topos von der „Weltgeltung deutscher Wissenschaft“ in den Kontext der „Weltpolitik“ und zur Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit: Vgl. Sylvia Paletschek, Was heißt „Weltgeltung deutscher Wissenschaft?“ Modernisierungsleistungen und -defizite der Universitäten im Kaiserreich, in: Michael Grüttner u. a. (Hg.), Gebrochene Wissenschaftskulturen. Universität und Politik im 20. Jahrhundert, Göttingen 2010, S. 29 – 53. Vgl. Jürgen Obmann u. Derk Wirtz, „Sie muß den Kaiser auf der Saalburg sehen“. Die Grundsteinlegung des wiedererrichteten Römerkastells am 11. Oktober 1900, in: Egon Schallmayer
102
Jonas Klein
Auf den Höhen des Taunus sollte die Jugend des Deutschen Reiches fortan lernen, „was ein Weltreich bedeutet“.¹⁹ Zwei Jahre später dozierte Wilhelm II. im Aachener Rathaus über die „großartige Anerkennung für die Leistungsfähigkeit“²⁰ der Germanen, welche die Kaiserkrönung Karls des Großen dargestellt habe. Die Sybel-Ficker-Kontroverse der frühen 1860er Jahre fortspinnend,²¹ gestand der Kaiser zwar zu, dass Karls Nachfolger ihre volkstümlichen Verpflichtungen zwischenzeitlich etwas aus dem Blick verloren hätten, doch das neue Reich seiner eigenen Regentschaft und dessen Stellung in der Welt wurzelten wieder fest im Germanentum. Das allseitige Vertrauen, das dem Reich und seiner militärischen Macht zunehmend entgegengebracht werde, und dem der Frieden in Europa wesentlich zu verdanken sei, ergab sich demnach ganz folgerichtig aus einer deutschen Außenpolitik, die in ihrem bestimmenden Wesen dem „Charakter der Germanen“ entspreche.²² Dass nicht nur dann die Antike in die Gegenwart des späten 19. Jahrhunderts eindrang, wenn sich der deutsche Kaiser von „römischen Soldaten“²³ und „germanischen Edlen“²⁴ eskortieren ließ, wie bei der Grundsteinlegung der neuen Saalburg,²⁵ sondern dass der plakative Antikebezug auch als folgenreiche Facette politischer Publizistik begegnen konnte, daran erinnert sich die historische Forschung heute vor allem im Zusammenhang mit dem Namen Ludwig Quidde. Der Bremer Historiker und liberale Politiker mochte 1894 noch so sehr darauf beharren, eine streng wissenschaftliche Studie über „Caligula und den römischen Cäsarenwahnsinn“ vorgelegt zu haben – selbst tendenziell wohlwollende Rezensenten wollten ihm nicht abnehmen, dass das fragliche Werk keine politische Satire im althistorischen Gewand war.²⁶
(Hg.), Hundert Jahre Saalburg. Vom römischen Grenzposten zum europäischen Museum, Mainz 1997, S. 33 – 54, hier S. 38 – 40. Ebd., S. 41. Wilhelm II. im Rathaus von Aachen („Das Welt-Imperium des deutschen Geistes“), 19. Juni 1902, in: Michael A. Obst (Hg.), Die politischen Reden Kaiser Wilhelms II. Eine Auswahl, Paderborn 2011, Nr. 142. Thomas Brechenmacher, Wie viel Gegenwart verträgt historisches Urteil? Die Kontroverse zwischen Heinrich von Sybel und Julius Ficker über die Bewertung der Kaiserpolitik des Mittelalters (1859 – 1862), in: Ulrich Muhlack (Hg.), Historisierung und gesellschaftlicher Wandel in Deutschland im 19. Jahrhundert, Berlin 2003, S. 87– 112. Wilhelm II. im Rathaus von Aachen. Zu Wilhelms II. Germanenbild: Vgl. Kipper, Der Germanenmythos im deutschen Kaiserreich, S. 223 – 225. Ebd., S. 38 – 40. Ebd. Ebd. Vgl. o.V., Maßgebliches und Unmaßgebliches, in: Die Grenzboten 53. 1894, S. 473 – 475.
Antikenrezeption in der „Weltpolitik“ des Deutschen Kaiserreiches
103
Dass „Caligula“ entgegen Quiddes Leugnen weithin als Statement gegen das „persönliche Regiment“²⁷ des Kaisers und den politischen Kurs des Reiches aufgefasst wurde, kostete den Verfasser letztlich die akademische Karriere und brachte ihm einen Prozess wegen Majestätsbeleidigung ein.²⁸ Dass der Außenseiter Quidde nicht als Einziger seiner Zunft zum Zweck politischer Publizistik aus der Geschichte schöpfte, sondern auch „gouvernementale Gelehrtenpolitiker“²⁹ ihre Fachkenntnis in diesem Sinne einsetzten, beklagte der sozialdemokratische Abgeordnete Bruno Schoenlank in der Reichstagsdebatte um das erste Flottengesetz im Winter 1897. Hier verlieh er seinem Misstrauen gegen jedwede Rückkopplung mit vormodernen Epochen Ausdruck: Diese „Romantik“ als Faktor nicht zuletzt der Flottenpolitik erschien ihm als „ein sehr gefährliches Moment in dem öffentlichen Leben und wir [die Sozialdemokraten] haben alle Ursache, dafür zu sorgen, daß sie keine realpolitische Bedeutung gewinnt“.³⁰ Beispielhaft für die dieser Dynamik Vorschub leistenden Professoren der Geschichte nannte Schoenlank damals den als „Flottenschäfer“³¹ bekannten Osteuropahistoriker Dietrich Schäfer.³² Letzterer ließ sich 1897 mit der Einsicht vernehmen, aus der Geschichte von Angeln, Sachsen und ähnlichen gentes der Spätantike eine spezifisch deutsche Berufung zur Beherrschung der See ableiten zu können: Geschichte als Argument, um seerüstungspolitischen Urteilen Autorität zu verleihen.³³ Schoenlank hätte aber durchaus noch einige mehr aufzählen können. Einer dieser Fachkollegen Schäfers – an dem man in kaum einer politischen Diskussion des Kaiserreiches vorbeikam – war Hans Delbrück, der mit den Preußischen Jahrbüchern eine der einflussreichsten Zeitschriften seiner Epoche herausgab. Die Jahrbücher sollten „eine Zentral-Zeitschrift für die gesamte deutsche Wissenschaft darstellen an dem Punkt, wo diese in die allgemeine Bildung übergeht“.³⁴ Zwar hatten die Jahrbücher, ebenso wie die eingangs zitierten
Christopher Clark, Wilhelm II. Die Herrschaft des letzten deutschen Kaisers, München 2008, S. 12. Vgl. Gerd Fesser u. a. (Hg.), Caligula – Wilhelm II. und der Cäsarenwahnsinn. Antikenrezeption und wilhelminische Politik am Beispiel des „Caligula“ von Ludwig Quidde, Bremen 2001. Rüdiger vom Bruch, Wissenschaft, Politik und öffentliche Meinung. Gelehrtenpolitik im Wilhelminischen Deutschland (1890 – 1914), Husum 1980, S. 271. Bruno Schoenlank; zit. n.: Reichstagsprotokolle, 1897/98, 1, S. 52. Folker Reichert, Gelehrtes Leben. Karl Hampe, das Mittelalter und die Geschichte der Deutschen, Göttingen 2009, S. 77. Schoenlank; zit. n.: Reichstagsprotokolle, 1897/98, 1, S. 52. Michael Epkenhans, „Clio“, Tirpitz und die Marine, in: Thomas Stamm-Kuhlmann u. a. (Hg.), Geschichtsbilder. Festschrift für Michael Salewski zum 65. Geburtstag, Stuttgart 2003, S. 466 – 485, hier S. 469. Klein u. Rose, Zwischen Wissenschaft und Politik, S. 41.
104
Jonas Klein
Grenzboten, Auflagen von teils weniger als 2.000 Exemplaren im Monat, doch müssen sie im Hinblick auf ihre qualitative Verbreitung, ihre Distributionsverfahren und die soziale Stellung ihrer Beiträgerinnen und Beiträger als außerordentlich einflussreich angesehen werden.³⁵ Über die drei Jahrzehnte der wilhelminischen Regentschaft betrachtet, zeugen die Jahrbücher von einer engen Verzahnung von Politik und Geschichte im Kaiserreich.³⁶ Auf diese Verzahnung deutet bereits die Zusammensetzung der Mitarbeiterschaft hin, da nämlich Historiker und historisch ausgewiesene Vertreter anderer Wissenschaften als Beiträger besonders stark vertreten waren. Deren politische Kommentare zum Zeitgeschehen waren nicht nur in ihren Argumentationssträngen stark durch historische Vergleiche und Beispiele geprägt, sie standen auch neben einer Fülle „zeitgeschichtlicher“ Publikationen mit mehr oder weniger explizit auf die zu gestaltende Zukunft gerichtetem, politischem „Mehrwert“.³⁷ Des Weiteren ist auf die bildungssprachliche Ornamentik tagespolitischer Einlassungen zu verweisen, welche gleichfalls vor allem auf historischem Wissen gründete, und auf die historiographischen Ambitionen politischer Amtsträger.³⁸ Als versierter Universalhistoriker griff auch Hans Delbrück selbst auf die Geschichte des Altertums zurück, wenn er das Tagesgeschehen in seiner „Politischen Correspondenz“ kommentierte, und verwies beispielsweise 1904 beim Abschluss der Entente cordiale zwischen England und Frankreich auf die historische Gesetzmäßigkeit von Krieg als Mittel der Politik und von (Welt‐)Herrschaftsstreben als Ausfluss einmal erlangter Machtstellung. So hätten schon die Römer, erläuterte Delbrück im Anschluss an Theodor Mommsen, nicht „mit Be-
In ganz überwiegendem Maße handelte es sich dabei um Beiträger. Texte aus der Feder von Autorinnen fanden vor allem im begrenzten Feld der Literatur- und Theaterkritik sowie punktuell zu spezifisch „frauenpolitischen“ Fragen Aufnahme. Außen- und rüstungspolitische Rubriken blieben weitgehend rein männliche Domänen, ebenso wie Universitätskarrieren und der höhere Schuldienst, Offizierskorps und Beamtenschaft. Die Personenkreise also, von denen öffentliches Engagement in den hier betrachteten Debatten ausging, wurden für Frauen verschlossen gehalten. Vom Bruch, Wissenschaft, Politik und öffentliche Meinung, S. 379 f. Im Deutschen Kaiserreich selbst war der Begriff der „Zeitgeschichte“ als Disziplin- und Paradigmenbeschreibung nicht etabliert und fand nur höchst selten Verwendung. Hier soll er die Historiographie der gegenwartsnahen Geschichte als „Vorgeschichte gegenwärtiger Problemkonstellationen“ bezeichnen: Vgl. Hans Günter Hockerts, Zeitgeschichte in Deutschland. Begriff, Methoden, Themenfelder, in: Historisches Jahrbuch 113. 1993, S. 98 – 127, hier S. 125. Vgl. Jonas Klein, Zwischen Wissenschaft und Politik. Hans Delbrücks Korrespondenz als Herausgeber der Preußischen Jahrbücher, in: Helmut Neuhaus u. Matthias Berg (Hg.), Briefkultur(en) in der deutschen Geschichtswissenschaft zwischen dem 19. und 21. Jahrhundert, Göttingen 2020, S. 139 – 161, hier S. 141.
Antikenrezeption in der „Weltpolitik“ des Deutschen Kaiserreiches
105
wusstsein nach der Weltherrschaft“³⁹ gegriffen, sondern der Menschennatur gemäß ihre Macht bis an deren Grenzen ausgekostet. Die eingangs hervorgehobenen, komplexen transformatorischen Beziehungen zwischen geschichtlicher Überlieferung und historischem „Exempel“ hatte Delbrück selbst bereits reflektiert und etwa über die politische Verwertbarkeit Kleons, als einem der maßgeblichen Politiker des Peloponnesischen Kriegs, geurteilt: Nichtsdestoweniger ist der Typus des Demagogen Kleon für den Tagesgebrauch nicht zu verwerten, da das Bild durch die Ueberlieferung schwer verunstaltet worden ist. Wir haben nicht nur das Porträt des Thucydides, sondern auch die Komödie des Aristophanes, und die traditionelle Auffassung hat sich gewöhnt, das eine Bild aus dem anderen zu ergänzen.⁴⁰
Diese Einschätzung von der Wirkmächtigkeit bis zur historischen Unsachlichkeit verknappter, kanonischer Geschichtsbilder hat Delbrück nicht daran gehindert, später selbst gelegentlich auf Kleon als Beispiel zurückzukommen. Die Wenigsten, die mit altertumsbezogenem Wissen armiert in politische Auseinandersetzungen zogen, haben die wissenschaftliche Korrektheit oder Fehlerhaftigkeit der einschlägigen Reminiszenzen reflektiert. Tatsächlich korrespondiert die Begrenztheit und gleichzeitige Offenheit jenes Fundus vertrauter Geschichte in augenfälliger Weise mit der Möglichkeit, die mehr oder weniger gleichen Überlieferungsinhalte für konträre politische Positionen zu bemühen oder dem Kontrahenten die sachliche Qualität des althistorischen Beispiels streitig zu machen, ohne das argumentative Verfahren an sich in Zweifel zu ziehen.⁴¹ Um diese Verschiedenartigkeit und gelegentliche Gegenläufigkeit von auf die Antike bezogenen Erinnerungssemantiken darzustellen, seien hier drei Einzelbeispiele angeführt, die allesamt zum gleichen Thema, nämlich der Flottenrüstung,⁴² am gleichen Ort, in den Blättern der Grenzboten, veröffentlicht wurden. Der schon eingangs zitierte Arnold Fokke klagte, dass man in seiner Gegenwart trotz oder womöglich auch wegen des schulischen Geschichtsunterrichts keine politischen Lehren aus der Geschichte ziehe, sondern sich den gebotenen Schlussfolgerungen gar ängstlich enthalte. Das Wesentlichste sei die Erkenntnis, dass die Herrschaft auf dem Meer der Schlüssel zur Macht sei. Allein durch kleine Seesiege hätten die Römer im Zweiten Punischen Krieg die großen Siege Han-
Delbrück, Deutschland in der Weltpolitik. Der Krieg, in: PJ 116/2. 1904, S. 377. Delbrück, Bebel der Demagog, in: PJ 153/3. 1913, S. 556 – 560, hier S. 556 f. Vgl. Delbrück, Censur. Kriegsziele. Innerer Kampf, in: PJ 165/1. 1916, S. 179. Zu den Flottenrüstungsdebatten allgemein: Vgl. Rolf Hobson, Maritimer Imperialismus. Seemachtideologie, seestrategisches Denken und der Tirpitzplan 1875 – 1914, München 2004.
106
Jonas Klein
nibals zu Lande entwertet und so die schlagende Bedeutung auch noch des kleinsten maritimen Engagements bewiesen: „Nur wer so diesen Riesenkampf zwischen den beiden Nationen des Altertums betrachtet, kann seinen wahren Sinn verstehen.“⁴³ Dass der Vergleich mit Rom aber nicht notwendigerweise für, sondern auch gegen die Flottenrüstung ins Feld geführt werden konnte, zeigte sich 1897, als der Seeoffizier und Marineschriftsteller Georg Wislicenus einen unter Pseudonym veröffentlichten, mit „Mars“ gezeichneten, Aufsatz „Zur Marinefrage“ in der Schlesischen Volkszeitung zu widerlegen suchte. „Mars“ hatte neben Russland das antike Rom als Beispiel dafür genannt, dass reine Landimperien ohne starke Flotte möglich seien. Wislicenus hielt in den Grenzboten dagegen und erklärte, dass die vielfältigen Lehren der Geschichte vom natürlichen Expansionstrieb „thatkräftiger Völker und Herrscher“ zwar solche Beispiele böten, aber gerade „Mars’“ Vergleich unrichtig und damit als politisches Argument nichtig sei: „Roms Glanzzeit begann erst, als Karthago zerstört war, als dem mächtigsten Handelsvolke der alten Welt nach schweren Kämpfen der Dreizack entrissen war.“⁴⁴ Otto Kaemmel, wie Fokke Gymnasiallehrer, hielt dagegen solchen Vergleich von Grund auf für nicht zielführend. Kaemmel erteilte denen, die die Geschichte sich ewig wiederholen lassen wollten, eine Absage und diagnostizierte stattdessen eine Art „fortschrittliche“ Ablösung der Moderne von Strukturelementen des Altertums. Die alten Weltreiche hätten stets die Alleinherrschaft über die ihnen bekannte Welt angestrebt: „[E]s hieß immer Amboß zu sein oder Hammer, bis der stärkste Staat sie alle beherrschte.“⁴⁵ Diese Ausschließlichkeit sei in der Moderne nicht mehr gegeben und auch nicht mehr nötig: „Weltpolitik“ und Flottenbau seien das Gebot der Stunde, aber durchaus im Verein mit den anderen Großmächten möglich.⁴⁶ Für den britischen Fall hat Hausteiner konstatiert, dass der Rekurs auf die alten Griechen im Imperialismus als wenig zugkräftig erachtet wurde.⁴⁷ Dieser Befund lässt sich auf Deutschland nicht ohne Weiteres übertragen. In dem Maße, in dem sich der Liberalismus, welchem der Philhellenismus als Phänomen im
Fokke, Freiwillige Flottensteuer, S. 263. Georg Wislicenus, Die Alten und die Jungen in der Flottenfrage, in: Die Grenzboten 56/3. 1897, S. 241– 249, hier S. 247. Otto Kaemmel, Alte und neue Weltpolitik, in: Die Grenzboten 60/1. 1901, S. 297– 308, hier S. 301. Vgl. ebd. Vgl. Hausteiner, Greater than Rome, S. 36.
Antikenrezeption in der „Weltpolitik“ des Deutschen Kaiserreiches
107
Wesentlichen zugeordnet wird,⁴⁸ mit der Bismarck’schen Reichsgründung arrangierte, wurde auch das vorherrschende Hellenen-Bild angepasst, ohne etwa in Vergessenheit zu geraten. Dafür steht augenfällig das Schlagwort „Von des attischen Reiches Herrlichkeit“, mit dem der prominente Altphilologe Ulrich von Wilamowitz-Moellendorf seine Universitätsrede zum Kaisergeburtstag 1877 überschrieb.⁴⁹ Bei allen demokratischen Reserven verwies Wilamowitz damit bereits auf die Anschlussfähigkeit liberaler Griechenlandbegeisterung für den expansionistischen Geist der wilhelminischen „Weltpolitik“.⁵⁰ So bemühte der bereits zitierte Fokke den athenischen Ursprungsmythos um Theseus, dessen Sieg über den Minotaurus Athen von der Tributsverpflichtung gegenüber dem minoischen Kreta befreite, für seine Flottenagitation. Im Hinblick auf das angeblich unabweisliche Bedürfnis des Reiches nach einer starken Seerüstung urteilte Fokke nämlich: Daß dem so ist, mögen die Widersacher unsrer überseeischen Politik leugnen; dennoch bleibt es eine Thatsache, eine Thatsache so unbezweifelbar wie die, daß im grauen Altertum die Athener den phönizischen König Minos mit Schiffen bekämpfen mußten, wenn anders sie nicht den schmählichen Tribut an Jünglingen und Jungfrauen, zu dem sie dem Phönizier verpflichtet waren, noch weiter entrichten wollten. Tribut irgend welcher Art zu zahlen, dazu ist auch das deutsche Volk zu gut, und deshalb müssen wir gerüstet sein für den Augenblick, wo die große Stunde der Abrechnung schlägt.⁵¹
In Großbritannien hat der Ausbruch des Ersten Weltkriegs den eigenen imperialen Exzeptionalismusanspruch als zentralen Ausgangspunkt rhetorischer Altertumsbezüge erschüttert, was einen signifikanten Konjunkturabschwung der politischen Antikenrezeption zur Folge hatte.⁵² Ganz anders in Deutschland: Auch als dessen „Weltpolitik“ gescheitert war, kam man in der dortigen politischen Publizistik auf das klassische Athen zurück, um den Zusammenbruch des „wilhelminischen Reiches“ einzuordnen. Delbrück – der stets für als maßvoll und international anschlussfähig erachtete Kriegsziele plädiert, die „Alldeutschen“ Korinna Schönhärl, Finanziers in Sehnsuchtsräumen. Europäische Banken und Griechenland im 19. Jahrhundert, Göttingen 2017, S. 109. Siehe auch den Beitrag von Karsten Ruppert in diesem Band. Ulrich von Wilamowitz-Moellendorf, Von des attischen Reiches Herrlichkeit (1877), in: Ders., Reden und Vorträge, Berlin 1901, S. 30 – 66. Vgl. Stefan Rebenich, Orbis Romanus. Deutungen der römischen Geschichte im Zeitalter des Historismus, in: Kurt Nowak (Hg.), Adolf von Harnack. Christentum, Wissenschaft und Gesellschaft. Wissenschaftliches Symposium aus Anlass des 150. Geburtstages, Göttingen 2003, S. 29 – 49, hier S. 29. Vgl. Fokke, Freiwillige Flottensteuer, S. 264. Hausteiner, Greater than Rome, S. 345.
108
Jonas Klein
heftig befehdet und die bei diesem Thema auch gegen ihn praktizierte Zensur mit einem Verweis auf Perikles gerechtfertigt hatte –⁵³ verglich beim Waffenstillstand im November 1918 den Weltkrieg abermals mit dem Peloponnesischen Krieg, als der „lehrreichste[n] historische[n] Analogie“.⁵⁴ Mittels dieser Analogie wies Delbrück seinen Gegnern in der Kriegszieldebatte die Verantwortung für die Art und Weise des Kriegsendes zu: Die patriotischen Demagogen waren es, die die friedliche Verständigung einst zwischen den griechischen Staaten verhinderten und sie in immer neue Kämpfe trieben. Ihr Urtypus ist Kleon. Daß der Krieg auch einen für Athen ungünstigen Ausgang nehmen könne, kam dem hochfahrenden Demagogen nicht in den Sinn […].
Nicht zuletzt der Kaiser hätte es versäumt, diesem Demagogentum entschieden entgegenzutreten. Dabei sei dies die nach Delbrücks Vorstellung Sicherheit verheißende Aufgabe einer auf Stabilisierung und Integration ausgerichteten Verfassungsentität Monarchie gewesen. Er prophezeite nun – im Anschluss an die Schlussworte von Xenophon – Deutschland und Europa den Niedergang, den Athen und ganz Griechenland durch den Peloponnesischen Krieg erlitten hätten.⁵⁵ Während also in den klassischen politischen „Kulturzeitschriften“ Rom und Griechenland die eklektizistischen Bezugspunkte lieferten, finden im Hausperiodikum des „Flottenvereins“ völkische Geschichtsvorstellungen mit ihren eigenen Motiven und Referenzen Ausdruck: Wie der Historiker Sebastian Diziol herausgearbeitet hat, wurde dort konsequent der Versuch unternommen, im Interesse der Flottenagitation ein einheitliches Geschichtsbild zu vermitteln. Militärische Expansion erschien hier im sozialdarwinistischen Völkerringen als Ausfluss unausweichlicher historischer Gesetzmäßigkeiten und man nahm dazu Heraklits Ausspruch vom „Krieg als Vater aller Dinge“ in Anspruch.⁵⁶ Demnach dränge es die Deutschen des frühen 20. Jahrhunderts nach weiter Ausdehnung über den Erdball und unter dem Schutz des Reiches sowie dessen weiter auszubauenden Flotte stehe nun glückliche Erfüllung dieses Bestrebens in Aussicht, wo Genera-
Vgl. Delbrück, Censur. Kriegsziele. Innerer Kampf, S. 179. Hans Delbrück, Waffenstillstand, Revolution, Unterwerfung, Republik, in: PJ 174/3. 1918, S. 434. Vgl. ebd. O.V., Krieg und Völkerfrieden, in: Die Flotte 191. 1911; zit. n.: Sebastian Diziol, Deutsche werdet Mitglieder des Vaterlandes! Der Deutsche Flottenverein 1898 – 1934, Bd. 1, Kiel 2015, S. 341.
Antikenrezeption in der „Weltpolitik“ des Deutschen Kaiserreiches
109
tionen von „Vorfahren“⁵⁷ – angefangen bei Kimbern und Teutonen – gescheitert seien. Die Geschichte als Repertoire politischer Semantik hielt hier nicht nur mahnende Beispiele und Einsicht in schicksalhafte Zwänge bereit, sondern auch den scheinbaren Nachweis von alters her angelegter nautischer Tugenden. Den germanischen Stämmen der Nordseeküste wurden so „regelrechte Seeschlachten“⁵⁸ gegen römische Flottenverbände attestiert und auf diesem völkischen Umweg auch die seefahrerischen Leistungen der skandinavischen Wikinger – inklusive der Entdeckung Amerikas – für die eigene Geschichte adoptiert. Gewissermaßen amtliche Bestätigung ihrer Geschichtskonstruktionen erhielten die Agitationsverbände, wenn etwa der nachmalige Präsident der „Bayerischen Akademie der Wissenschaften“, Karl Theodor von Heigel, bei der Hauptversammlung des „Flottenvereins“ 1903 die Festrede unter dem Titel „Die geschichtliche Entwicklung der deutschen Seemacht“ hielt.⁵⁹ In den zeitgenössischen deutschen Parlamentsdebatten wurden so weite Exkurse wie in der Publizistik eher nicht unternommen. Schoenlanks besorgter Einschätzung zum Trotz lag den meisten Rednern im Reichstag der tagesaktuelle Vergleich mit anderen Mächten und die „zeitgeschichtliche“ Kontextualisierung der Flottenthematik näher. Hier griff man seltener über das eigene Jahrhundert hinaus und bemühte die deutsche Geschichte in Mittelalter und Früher Neuzeit als Argument. Die Antike blieb aber dennoch präsent, nicht zuletzt in Form der den bürgerlichen Bildungskanon prägenden lateinischen Sprichwörter. Darin konnten die Abgeordneten dem Beispiel ihres Kaisers folgen, denn trotz seines Eintretens für mehr „nationale“ Geschichte und weniger alte Sprachen⁶⁰ bewegte sich auch Wilhelm II. selbst in diesen Bildungstraditionen. So blieb er in der Flottenfrage dem Ausspruch Navigare necesse est, vivere non est necesse verbunden, den Plutarch im griechischen Original Pompeius zuschreibt.⁶¹ In der Reichstagssitzung vom 6. Dezember 1897, in der Schoenlank seine eingangs zitierte Klage erhob, schleuderte der Staatssekretär des Inneren, Arthur von Posadowsky-Wehner, die ciceronische Formel si vis pacem, para bellum in die Debat-
O.V., Weltmächte der Gegenwart, in: Die Flotte 6. 1911; zit. n.: Diziol, Flottenverein I, S. 342. O.V., Unsere Seemannssprache, in: Die Flotte. 1913, S. 155; zit. n.: Diziol, Flottenverein I, S. 345. Vgl. Diziol, Flottenverein I, S. 346 f. Vgl. Eröffnung der Konferenz über die Reform der höheren Schulen, Berlin, 4. Dezember 1890, in: Michael A. Obst (Hg.), Die politischen Reden Kaiser Wilhelms II. Eine Auswahl, Paderborn 2011, Nr. 37; Schluss der Schulkonferenz, Berlin, 17. Dezember 1890, in: Ebd., Nr. 38, S. 66 – 69. Friedrich Wilhelm von Loebell, Rückblick und Ausblick, in: Siegfried Körte u. a. (Hg.), Deutschland unter Kaiser Wilhelm II., Bd. 3, Berlin 1914, S. 1699.
110
Jonas Klein
te.⁶² Folgt man dem flotten- und kolonialkritischen Fraktionsführer der Freisinnigen Volkspartei, Eugen Richter, dann muss die Phrase civis romanus sum in der Flottendebatte des Winters 1897 geradezu omnipräsent gewesen sein.⁶³ Auch in die kaiserlichen Festworte anlässlich der schon erwähnten Saalburg-Restauration fanden sich diese Worte eingeflochten.⁶⁴ Dass die Antikereferenz kein Monopol bürgerlicher und aristokratischer Parlamentarier war, bewies Schoenlanks prominenter Parteigenosse August Bebel. Dieser verband in der Etatdebatte vom 10. Dezember 1903 nicht nur militärische Rüstung und China-Intervention mit der sozialen Frage im Reich, sondern unterstrich seinen Standpunkt auch damit, dass er befand, zum Vergleich des Deutschen Reiches unter der Regierung des Kanzlers Bülow, „nur in die Geschichte des verfallenen Roms zurückgreifen“ zu können.⁶⁵ Interessanterweise hielt Bülow dem in seiner Antwort nicht nur entgegen, daß der Senat in Rom zur Zeit des Kaisers Tiberius ganz anders aussah als dieses Hohe Haus. Und wenn der Herr Abgeordnete Bebel unter Kaiser Caligula eine Rede gehalten hätte, wie er sie heute hier gehalten hat, so wäre es ihm schlecht bekommen. Deutschland ist kein dekadentes Volk, und sein Kaiser ist weder ein Caligula noch ein Nero.⁶⁶
Dabei berief Bülow sich, diese Überzeugung begründend, auf eigene Lektüre sowohl antiker Autoren wie auch neuzeitlicher Werke. Derart stellte er explizit nicht die Vergleichbarkeit selbst in Frage, sondern urteilte – ostentativ seine Bildung demonstrierend –, dass ein „hinkenderer Vergleich“ als der Bebels ihm „lange nicht mehr vorgekommen“ sei.⁶⁷
2 „Alte Geschichten“ auf den Hinterbühnen der Politik Die „Hinterbühne“ der politischen Kommunikation, die vornehmlich durch Briefquellen erschlossen werden muss, scheint eher karg mit ausführlichen Antikereferenzen bestückt worden zu sein, auch wenn Bülow seinem Herrn im
Vgl. Reichstagsprotokolle, 1897/98, 1, S. 59. Vgl. ebd., 1, S. 69. Vgl. Barbara Dölemeyer, Der Baumeister und sein Kaiser. Kaiser Wilhelm II., Louis Jacobi und die Saalburg, in: Schallmeyer, Saalburg, S. 28 – 33, hier S. 33. Bebel; zit. n.: Reichstagsprotokolle, 1903/05, 1, S. 52. Bülow; zit. n.: ebd., 1, S. 57. Ebd.
Antikenrezeption in der „Weltpolitik“ des Deutschen Kaiserreiches
111
Vorfeld eines Englandbesuchs 1899 die diplomatischen Feinheiten der „Weltpolitik“ mit dem folgenden, für besonders lehrreich erklärten Vergleich nahezubringen suchte: Ich denke aber wie Odysseus, als er von den Freiern gereizt wurde, bevor er alle Pfeile in seinem Köcher zusammen hatte. ‚Nichts erwiderte ihnen der kluge Odysseus, schweigend nur bewegt er das Haupt voll argen Entwurfs.‘ Als Odysseus seine Pfeile zusammen hatte und den Bogen dazu, streckte er die unverschämten Freier alle in den Sand und herrschte fortan zufrieden, glücklich und unbehelligt in Ithaka. Vorher ließ er seine Feinde nichts von seinen Absichten merken.⁶⁸
Geht man nun Briefe von und an leitende Staatsmänner wie eben Bülow und Bethmann Hollweg durch und konsultiert die einschlägigen diplomatischen Akteneditionen,⁶⁹ so findet sich Vergleichbares aber eher selten. Zwar wird häufig ganz ausgesprochen historisch argumentiert, jedoch vornehmlich aus der „Zeitgeschichte“ seit den Tagen Napoleons heraus. Die Antike war dennoch keine reine Requisite für die publizistische Bühne, sie bot ganz selbstverständlich Referenzen zur Beurteilung der eigenen Gegenwart und prägte Vorstellungen und Erwartungen im weltpolitischen Geschehen – nicht nur für Berufshistoriker.⁷⁰ Ganz selbstverständlich räsonierte der prominente Völkerrechtler Philipp Zorn 1918 beim Besuch deutscher Truppen auf dem Balkan in seinem Tagebuch, dass das Land seit den Tagen Alexanders des Großen im Dornröschenschlaf gelegen habe und nun erst, durch das „deutsche Schwert“⁷¹ erweckt, der „Zivilisierung“ und Nutzbarmachung harre. Ebenso wenig war es Zufall, wenn Ernst Kabisch, im Weltkrieg als General an diversen Fronten im Einsatz, sich nach der Niederlage vorstellte: „Vor mir liegt ein Thucydides, ein Tacitus oder ein Ranke aus dem Jahre 2000 […].“⁷² Hiermit gab er seinem eigenen Urteil über den Gang der Ereignisse des Jahres 1918 Gestalt. Diesem zufolge hätten die Deutschen aus 2.000 Jahren Geschichte nichts gelernt, wo doch schon Arminius an Zwietracht und Streitsucht unter seinen Stammesbrüdern gescheitert sei. Dass die Deutschen dem Vergleich mit Rom nicht standhielten, zeige sich, so Kabischs imaginierter Millennium-Thucydides, darin, dass sie der Not des Staates
Bülow an Wilhelm II., 8.11.1899, in: Fesser, Reichskanzler Fürst von Bülow, S. 199 – 201, hier S. 200. Vgl. Johannes Lepsius u. a. (Hg.), Die Grosse Politik der europäischen Kabinette. Sammlung der diplomatischen Akten des Auswärtigen Amtes, Reihen 1– 5, 40 Bde., Berlin 1922– 1927. Vgl. Delbrück an Bruns, 24. 8.1897, ms. Abschrift in: BArch Koblenz, N 1017/67, Bl. 116; Delbrück an Falkenhayn, o. D. [1916], ms. Abschrift in: BArch Koblenz, N 1017/76, S. 3. Zorn, Tagebucheinträge vom 22. 3.1918 und 23. 3.1918, in: BArch Koblenz, N 1206/2. Kabisch an Delbrück, 6.11.1919, in: SBB, Nl. Delbrück, Briefe Kabisch, Bl. 41– 43.
112
Jonas Klein
nicht etwa durch die Einsetzung eines kompetenten Diktators begegnet seien, hinter dem sich die ganze Nation hätte vereinen können. Vielmehr hätten sie sich dem von alters her angelegten furor teutonicus hingegeben. Wenn er des Weiteren ausführte, wie die deutschen Regierenden in der Krise, den Athenern gleich, der öffentlichen Meinung der breiten Volksmassen zu viel Beachtung geschenkt hätten – eben weil es in Deutschland, darin Karthago gleich, zwar große Feldherren, aber keine großen Staatsmänner gegeben habe –, dann versäumte er nicht, diese historisch-vergleichende Einschätzung adäquat zu belegen, indem er ausdrücklich auf Livius verwies.⁷³ Ohne auf ein konkretes rhetorisches Ziel ausgerichtet zu sein, wurden die Antikereferenzen in der Korrespondenz vielfach auf handliche, ornamentale Phrasen verkürzt, ähnlich wie sie auch in politischen Reden Verwendung fanden. Die Rückkopplung an die Antike konnte aber durchaus auch als auf Überzeugung zielender Vergleich gemeint sein und wurde in der Katastrophe der „Weltpolitik“ im Weltkrieg entsprechend herangezogen. So berief sich Hans Delbrück – als er sich bereits im Herbst 1917 dafür einsetzte, den Prinzen Max von Baden als international anerkannten Vertreter eines Verständigungsfriedens zum Reichskanzler zu machen – gegenüber Rudolf von Valentini auf Cäsar und Perikles. Dem Chef des Geheimen Zivilkabinetts erläuterte Delbrück, dass Max von Baden überdies innenpolitisch integrierend wirken würde, was die alten sozialistischen und katholischen „Reichsfeinde“ anginge. Hier waren ihm die beiden antiken Staatsmänner Zeugen für die Lehre der Weltgeschichte, „daß Demokraten sich ganz besonders gern von Aristokraten leiten lassen“.⁷⁴ Von kanonischen Überlieferungszusammenhängen, an die ohne Kontextualisierung angeknüpft werden konnte, zeugt etwa ein Brief Peter Rassows, im Weltkrieg Mitarbeiter des Reichskanzlers Bethmann Hollweg und später Mediävist in Köln, der in der auch 1918 fortdauernden Kriegszieldebatte seinen Onkel Hans Delbrück bedrängte: Nach Deinen letzten Äußerungen hielt ich für möglich, daß Du die Absicht hast, in der nächsten pol[itischen]. Corr[espondenz]. für Erzberger einzutreten. Ich möchte da sehr widerraten. Gerade das Urteil Rankes über Aristagoras bestärkt mich darin zu sagen: Du könntest Dir eine politische Unterstützung Erzbergers gefallen lassen, aber Du kannst Dich nicht belasten dadurch[,] daß Du Erzberger unterstützt.⁷⁵
Vgl. ebd. Delbrück an Valentini, 12.10.1917, in: GStA PK, VI. HA, Nl. Valentini, R. v., Nr. 4, B. 45 – 48. Rassow an Delbrück, 24. 5.1918, in: SBB, Nl. Delbrück, Briefe Rassow, Bl. 33 f.
Antikenrezeption in der „Weltpolitik“ des Deutschen Kaiserreiches
113
Im gleichen historischen Kontext des Frühsommers 1918 verweist das Beispiel des Amtsrichters in Krotoschin, Richard Bartholomäus, erneut darauf, dass nicht allein Professoren der Geschichtswissenschaft und ihr engster Kreis ihren politischen Standpunkt auf Überlieferungen aus der Antike gründeten. Im Juniheft der Preußischen Jahrbücher hatte Delbrück den Frieden von Brest-Litowsk behandelt und dabei an die enttäuschte Hoffnung gerührt, der Triumph im Osten würde die innerdeutschen Gegensätze überwinden helfen und indirekt einem Verständigungsfrieden im Westen Vorschub leisten.⁷⁶ Der Amtsrichter in der Provinz setzte nach dieser Lektüre dem Professor in der Hauptstadt auseinander, dass dessen „Realpolitik“ deswegen nicht verwirklicht werden könne, weil doch die ganze Geschichte der Deutschen von Anbeginn an von gänzlich unpragmatischer Ehrliebe und unpolitischer Denkweise der Deutschen zeuge, die stoisch ihre Pflicht in einem Kriege täten, über deren Anstoß und Ausgang sie nicht selbst befänden – eben ganz anders als die Römer und Spartaner der Vergangenheit oder deren „romanische“⁷⁷ Nachfahren in der Gegenwart des Jahres 1918.
3 Fazit Die verschiedentlich problematisierte Frage nach der Effizienz von Geschichte als Argument⁷⁸ kann nach diesen Ausführungen nicht beantwortet werden. Sie liefe womöglich auch in die falsche Richtung monokausaler Welterklärung. Sehr wohl kann aber in Grundzügen nachgewiesen werden, welches die wesentlichen Muster und Funktionen von auf die Antike bezogenen Erinnerungsrhetoriken und -semantiken in der „Weltpolitik“ des „wilhelminischen“ Kaiserreiches waren. Abgesehen von der womöglich banal wirkenden, aber nichtsdestotrotz grundlegenden Einsicht, dass ein nicht allzu kleiner Bestand von altertumsbezogenem Wissen während einer Zeitspanne der rasanten Modernisierung über den engen Kreis gelehrter Experten hinaus in weiteren Gesellschaftskreisen verankert blieb und, auf knappe Formeln reduziert, im politischen Diskurs abrufbar war, deren Verwendung keiner weiteren Kontextualisierung bedurfte, werden zwei Facetten deutlich: (1) Die Aneignung der antiken Vergangenheit erfolgte auf zweierlei Wegen. Einer war die Analogiebildung, nach der bestimmte Überlieferungsgegenstände als für die Zeitumstände der Moderne derart ähnlich erklärt wurden, dass sich
Vgl. Delbrück, Deutschlands Stellung im Osten, in: PJ 172/3. 1918, S. 444– 447. Bartholomäus an Delbrück, 23.6.1918, ms. Abschrift in: BArch Koblenz, N 1017/77, S. 80 f. Vgl. Georg Schild, Res Publica Americana, in: HZ 284/1. 2007, S. 31– 58, hier S. 56.
114
Jonas Klein
daraus Einsichten ableiten ließen, um die politischen Entwicklungen und Herausforderungen der eigenen Gegenwart einordnen, erklären und im Idealfall auch souverän meistern zu können. Als Motivreservoir fungierten dabei römisches wie griechisches Altertum gleichermaßen. Der zweite Weg ließe sich wohl am ehesten als derjenige der Genealogie bezeichnen, da über ihn eine überzeitliche Identität der Deutschen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts mit direkten Vorfahren im Altertum beansprucht wurde, die durch den Fluss der Geschichte unauflöslich mit der Gegenwart verknüpft blieben. Dieser Germanenmythos fand zwar Eingang in die hier der „Weltpolitik“ zugerechneten Debatten, doch dem Ausmaß, in dem er in weiten Bevölkerungskreisen eine Popularisierung erfuhr, entsprach der Umfang dieser genealogischen Anknüpfung nicht. Zwar dürften auch die Professoren, Abgeordneten und Minister des wilhelminischen Reiches einschlägige Romane, wie Felix Dahns „Ein Kampf um Rom“, und rassentheoretische Traktate, wie Houston Stewart Chamberlains „Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts“, gekannt haben. Doch während diese der Germanenbegeisterung Wilhelms II. nachweislich zuträglich waren, überwog bei der Mehrheit der klassisch gebildeten politischen Akteure wohl die Erinnerung an das Diktum Rankes von der romanisch-germanischen Synthese.⁷⁹ Diese stand der exklusiven, genealogischen Semantik des zunehmend völkisch aufgeladenen deutschen „Germanenmythos“ entgegen, die im Kontext der „Weltpolitik“ vorwiegend in der Publizistik der imperialistischen Agitationsverbände Ausdruck fand. Hans Delbrück hatte denn auch Chamberlains dort so eifrig rezipierte Schrift als „dillettantisch [sic] und langweilig“ abgetan.⁸⁰ (2) Auch funktional betrachtet dienten die Rekurse auf die Antike in der Politik zwei Zielen. Einerseits begegneten sie als gelehrte Ornamentik, die einen Ausweis kanonischen Bildungsguts darstellte und von daher als ein integrierendes respektive exkludierendes Moment der Kommunikation sozialer Eliten und der aus ihnen rekrutierten politischen Akteure wirken konnte. Andererseits fungierten sie explizit als Lehrmeisterin der „Weltpolitik“, die den Informierten sowohl nahezu naturgesetzliche historische Determinanten aufzeigte als auch potenziell handlungsleitende Vergleiche für die eigene Situation vor Augen stellte, von der man sich durchaus Überzeugungskraft in konkreten politischen Fragen erhoffte:⁸¹ Sie bot „Vertrauen aus Vergangenheit“.⁸² Quellenarmut und lebens-
Kipper, Der Germanenmythos im Kaiserreich, S. 353 – 355. Hans Delbrück an Otto Harnack, 6.1.1913, in: SBB PK, Nl. Hans Delbrück, Fasz. 157, Nr. 28, Bl. 13. Reinhard Koselleck, Historia magistra vitae. Über die Auflösung des Topos im Horizont neuzeitlich bewegter Geschichte, in: Ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt 1989, S. 38 – 66.
Antikenrezeption in der „Weltpolitik“ des Deutschen Kaiserreiches
115
weltliche Distanz taten dem offenkundig keinen Abbruch, im Gegenteil, diese Eigenschaften prädestinierten die Antike zur offenen Projektionsfläche, sodass die gleichen Überlieferungszusammenhänge umstandslos für einander entgegenstehende Ziele mobilisiert werden konnten. Diese verschiedenen Funktionen der Antikenrezeption sind in der wilhelminischen „Weltpolitik“ auf die politischen Kommunikationszusammenhänge unterschiedlich verteilt gewesen. So findet sich die selbstvergewissernde Bildungsornamentik als wiederkehrendes Motiv auf der „Hinterbühne“ von Korrespondenz und Aktenmaterial zwar auch. Die Antike als historia magistra vitae dagegen hatte dort nur gelegentliche Gastspiele und prägte im Wesentlichen die „Vorderbühne“ politischer Publizistik und öffentlicher Reden. Es liegt nicht fern, dass sie dort vor allem zum Ausfüllen kommunikativer „Leerstellen“ im Spannungsfeld zwischen politisch ambitionierter Öffentlichkeit einerseits und überkommenen Formen obrigkeitsstaatlicher Arkanpolitik andererseits diente.⁸³ Hier bot gerade die quellenarme und von längeren Kanonisierungsprozessen geschliffene Geschichte der Antike eingängige Sinngebungsmuster zur Erklärung komplexer Zusammenhänge und Beziehungsgeflechte, welche die vollmundig ausgerufene „Weltpolitik“ ausmachten. Nicht zuletzt die Zunahme weitgespannter historischer Reminiszenzen in der unübersichtlichen Situation während und kurz nach dem Ersten Weltkrieg scheint für eine solche Funktion der Kontingenzeinhegung, gerade in Umbruchszeiten, zu sprechen.⁸⁴
Hillard von Thiessen, Vertrauen aus Vergangenheit. Anciennität in grenzüberschreitender Patronage am Beispiel der Beziehungen von Adelshäusern des Kirchenstaats zur spanischen Krone im 16. und 17. Jahrhundert, in: Frank Bezner (Hg.), Zwischen Wissen und Politik. Archäologie und Genealogie frühneuzeitlicher Vergangenheitskonstruktionen, Heidelberg 2011, S. 21– 40. Andreas Gestrich, Jürgen Habermas’ Konzept der bürgerlichen Öffentlichkeit. Bedeutung und Kritik aus historischer Perspektive, in: Clemens Zimmermann (Hg.), Politischer Journalismus, Öffentlichkeiten und Medien im 19. und 20. Jahrhundert, Ostfildern 2006, S. 25 – 40. Uwe Walter, Kontingenz und Geschichtswissenschaft. Aktuelle und künftige Felder der Forschung, in: Frank Becker u. a. (Hg.), Die Ungewissheit des Zukünftigen. Kontingenz in der Geschichte, Frankfurt 2016, S. 95 – 118.
Till Knobloch
Wahn und Wirklichkeit: Wie die Illusion einer gemeinsamen Erinnerung an die Julikrise 1914 die Entfesselung des Zweiten Weltkriegs beeinflusste Lyon, Gare des Brotteaux im Jahr 1918. Am Bahnsteig: Ein einsamer, augenscheinlich verwirrter Mann. Rückkehrer wohl, entlassen aus deutscher Gefangenschaft sicherlich. Man nimmt sich seiner an, pflegt ihn, versucht seine Identität festzustellen – vergeblich: soldat inconnu. Schließlich: Veröffentlichung von Bild und Beschreibung des Mannes. Schwerlich wird sich jemand melden. Doch geschieht das Unerwartete: Aus ganz Frankreich kommen sie, man spricht von über 5.000, die Briefe der Verzweifelten. Sie alle erkennen ihn, oder glauben es doch: Mein Vater, mein Bruder, mein Ehemann, mein Sohn. France brisée – gebrochenes Frankreich.¹ Wie ganz anders dagegen die Erfahrung des Gefreiten Adolf Hitler, der sich bei Kriegsende im Lazarett in Pasewalk wiederfand. Eingeliefert nicht – wie er später selbst behaupten sollte – eines Gasangriffs wegen, sondern – wie die Ärzte dokumentierten – als „Psychopath mit hysterischen Symptomen“.² Blind hatte ihn die Nachricht vom deutschen Zusammenbruch gemacht und noch Jahre später soll er bei schlechter militärischer Lage gefürchtet haben, „wiederum, wie gegen Ende des Ersten Weltkrieges, zu erblinden“.³ Beispiele, die extrem scheinen und doch typisch sind für die einschneidende Natur des Kriegserlebnisses dieser génération du feu, die im August 1939 erneut an der Schwelle eines Weltkriegs stand. Einst Opfer einer fatalen Diplomatie, deren Kulminationspunkt sie im Kriegsausbruch 1914 sahen, traten sie – nun selbst an der Macht – an, um die Wiederholung alter Fehler zu verhindern. Nachfolgend soll daher gefragt werden, wie die Erinnerung⁴ an den Ersten Weltkrieg, kon-
Vgl. Jean-Yves Le Naour, Le soldat inconnu vivant, Paris 2002. Bernd Horstmann, Hitler in Pasewalk, Düsseldorf 2004, S. 28. Vgl. Gerhard Köpf, Hitlers psychogene Erblindung, in: Nervenheilkunde 9. 2005, S. 783 – 790; Thomas Weber, Hitlers erster Krieg, Berlin 2011, S. 294 f. Dagegen: Peter Longerich, Hitler, Hamburg 2015, S. 1036, Anm. 213. Hitler; zit. n.: Joachim Fest, Hitler, Frankfurt 1973, S. 115. „Erinnerung“ bezeichnet im Folgenden den sich kollektiv oder individuell vollziehenden Prozess der Vergangenheitskonstruktion unter Bezugnahme auf eigene Erfahrung und Beeinflussung durch andere Identitätsfaktoren. Zu den Schwierigkeiten einer Definition von „memory“: Vgl. Geoffrey Cubitt, History and Memory, Manchester 2007, S. 1– 22. Zur Spannung zwischen https://doi.org/10.1515/9783110726442-009
118
Till Knobloch
zentriert im Trauma⁵ der Julikrise, ihre Entscheidungen bei Kriegsausbruch 1939 prägte. Dieser Beitrag reiht sich damit ein in eine Reihe vorheriger Studien, deren gemeinsames Ziel es ist, Konzepte der memory studies für die Erforschung von Außenbeziehungen fruchtbar zu machen⁶ – geht dabei jedoch in zweierlei Hinsicht über bisherige Ansätze hinaus: Zum einen reagiert er auf die immer wieder vorgebrachte Kritik, die Ergebnisse kulturwissenschaftlich angelegter Arbeiten seien oft zu abstrakt,⁷ würden in ihrer konzeptuellen Herangehensweise dem induktiven Charakter der Geschichtswissenschaft mitunter nicht gerecht und vernachlässigten daher historische zugunsten literaturwissenschaftlicher Methoden.⁸ Demgegenüber versuchen die folgenden Ausführungen, anhand eines spezifischen Beispiels und unter Verwendung einer Fülle primärer Quellen,⁹ den ganz konkreten und – wie sich zeigen wird – höchst fatalen Einfluss der Kriegserinnerung nachzuzeichnen. Zum anderen konzentriert sich die Forschung bisher hauptsächlich auf kollektive, oft „national“ gefasste Erinnerung.¹⁰ Dabei ist es
kollektiver und individueller Erinnerung:Vgl. Noa Gedi u.Yigal Elam, Collective Memory – What Is it?, in: History and Memory, 8/1. 1996, S. 30 – 50. Für einen breiteren Überblick: Vgl. Astrid Erll u. Ansgar Nünning (Hg.), Cultural Memory Studies: An International and Interdisciplinary Handbook, Berlin 2008; Geoffrey Cubitt, History of Memory, in: Marke Tamm u. Peter Burke (Hg.), Debating New Approaches to History, London 2019, S. 127– 158. „Cultural trauma occurs when members of a collectivity feel they have been subjected to a horrendous event that leaves indelible marks upon their group consciousness, marking their memories forever and changing their future identity in fundamental and irrevocable ways.“ Jeffrey Alexander, Toward a Theory of Cultural Trauma, in: Ders. (Hg.), Cultural Trauma and Collective Identity, Berkeley 2004, S. 1. Im Folgenden soll gerade dieser doppelte – persönliche und doch kollektive – Aspekt des Traumas der Julikrise untersucht werden: Vgl. Douglas Becker, Memory and Trauma as Elements of Identity in Foreign Policy Making, in: Erica Resende (Hg.), Memory and Trauma in International Relations, London 2014, S. 57– 73, hier S. 62. Vgl. Patrick Finney, The Ubiquitous Presence of the Past? Collective Memory and International History, in: IHR XXXVI. 2014, S. 443 – 472; R. D. Schulzinger, Memory and Understanding U. S. Foreign Relations, in: M. J. Hogan (Hg.), Explaining the History of American Foreign Relations, Cambridge 2004, S. 336 – 352; Thomas Berger, The Power of Memory and Memories of Power, in: Jan-Werner Müller (Hg.), Memory and Power in Post-War Europe, Cambridge 2002, S. 76 – 99. Donald C. Watt, What About the People? Abstraction and Reality in History and the Social Sciences, London 1983, S. 4. Vgl. Robert Buzzanco, Where’s the Beef? Culture without Power in the Study of U. S. Foreign Relations, in: Diplomatic History 24/4. 2000, S. 623 – 632, hier S. 626. Zur Absicherung der zeitgenössischen, oft genug problematischen Quellen wurde dabei stets versucht, eine möglichst umfassende, die Argumentation somit mehrfach stützende, Parallelüberlieferung heranzuziehen. Vgl. Duncan Bell, Introduction, in: Ders. (Hg.), Memory, Trauma and World Politics, Basingstoke 2006, S. 1– 32, hier S. 3. Als Beispiele etwa: Eric Langenbacher (Hg.), Power and the
Wahn und Wirklichkeit
119
jedoch problematisch, wie durchaus zu Recht angemerkt wurde,¹¹ wenn der sich doch vornehmlich im Individuum vollziehende Vorgang des Erinnerns kurzerhand auf Kollektive übertragen wird. Daher sollen, in einem zweiten Schritt, die zuvor gewonnenen Ergebnisse genutzt werden, um am konkreten Beispiel das Verhältnis von kollektiver und individueller Erinnerung zu untersuchen. Am Anfang dieses Beitrags steht dabei zunächst die Rekonstruktion der – höchst unterschiedlichen – Kriegserfahrungen der einzelnen Akteure sowie deren Konsequenzen für die Entscheidungssituation des Augusts 1939. Die beiden darauffolgenden Abschnitte beschäftigen sich dann mit den zwei, aus diplomatischer Sicht, zentralen Aspekten dieser Erinnerung: Kriegsschuldfrage und Zweifrontenkrieg. Beide wurden von den handelnden Akteuren als vermeintliche Wiederholung der Julikrise verstanden und beide entfalten in dieser – falschen – Analogie ihre verheerende Wirkung. Wie dies möglich war, wieso die Erinnerung an die Julikrise 1914 es vermochte, die Entfesselung des Zweiten Weltkriegs zu beeinflussen und was dies am Ende für das Verhältnis von Außenbeziehungen und Erinnerung bedeutet, wird schließlich in einem Fazit zusammengefasst.
1 Das Trauma des Kriegs Georges Bonnet, brillanter Schüler des Lycée Henri IV, Student der Sciences Po und zukünftiger Außenminister der Französischen Republik, fand sich im Sommer 1914 auf den Schlachtfeldern Nordfrankreichs wieder. Mehrfach für seine Tapferkeit ausgezeichnet, erfuhr er hier vom Tod seines Bruders;¹² wurde er hier, wie so viele seiner Generation, zum erklärten Pazifisten.¹³ Er, der als Verteidiger die Nacht in der Zelle eines zum Tode verurteilten deutschen Offiziers verbracht hatte,¹⁴ machte nun, an der Spitze des Quai d’Orsay angelangt, die Vermeidung eines erneuten Kriegs zu seinem obersten Ziel:¹⁵ „la France ne peut plus se per-
Past: Collective Memory and International Relations, Washington 2010; Patrick Finney, Remembering the Road to World War Two: International History, National Identity, Collective Memory, London 2010. Insb. Gedi u. Elam, Collective Memory, S. 34 f. Vgl. Eric Langenbacher, Collective Memory as a Factor in Political Culture and International Relations, in: Ders. (Hg.), Power and the Past. Collective Memory and International Relations, Washington 2010, S. 13 – 49, hier S. 26. Vgl. Jacques Puyaubert, Georges Bonnet. Les combats d’un pacifiste, Rennes 2007, S. 29; Robert Young, France and the Origins of the Second World War, New York 1996, S. 146. Vgl. Puyaubert, Bonnet, S. 29. Vgl. Alexander Werth, France and Munich, New York 1969, S. 135. Vgl. Jean Daridan, Le Chemin de la défaite, Paris 1980, S. 80: „J’ai fait la guerre de 1914, et j’ai vu de près les souffrances qu’elle a entraînées. Eh bien! (montrant son fauteuil de ministre) tant
120
Till Knobloch
mettre une saignée comme celle de 1914“.¹⁶ Tatsächlich überkam ihn, wenn man seinem eigenen Zeugnis Glauben schenken darf, bei Ausbruch des Zweiten Weltkriegs die Erinnerung an 1914: Les souvenirs du 2 août 1914 me reviennent à l’esprit: le tocsin de la mobilisation, le départ vers le front dans les trains couverts d’inscriptions, avec les frères et les amis. Cette fois, comme il y a vingt-cinq ans, c’est la guerre!¹⁷
Erst vor diesem Hintergrund, des Traumas von 1914, sind Bonnets verzweifelte Friedensbemühungen zu erklären. Etwa wenn er, gegen alle Vernunft (und den Rat der eigenen Experten),¹⁸ an der Illusion der italienischen Friedensvermittlung festhielt und dafür – erste Erschütterung der französischen Bündnistreue – die der polnischen Regierung mehrfach zugesagte Kriegserklärung um entscheidende 48 Stunden verschieben ließ.¹⁹ Für diese „comédie de la conférence“²⁰ schickte er gar den unglücklichen Botschafter Noël zum polnischen Außenminister Józef Beck, um diesen, gerade zwischen zwei deutschen Luftangriffen aus dem Bunker kommend („die Gasmaske über der Schulter“²¹), von den Vorzügen der italienischen Friedensvermittlung zu überzeugen. Den Friedenswillen teilte Bonnet mit Édouard Daladier. Auch für den französischen Premier lag der Pazifismus im eigenen Kriegserlebnis begründet, war der Friede mit Deutschland selbstverständliche Folge der eigenen Erfahrung: il a combattu pendant quatre ans dans l’infanterie depuis la Somme jusqu’à l’Alsace, il a assisté à la destruction des dix provinces les plus riches de sa patrie, il a vu tomber ses meilleurs amis; il n’a qu’une pensée, qui est d’empêcher le retour de pareilles atrocités.²²
que je serai à cette place, la France ne déclarera jamais la guerre.“ Vgl. Georges Bonnet, Vor der Katastrophe, Zürich 1951, S. VI; Puyaubert, Bonnet, S. 150. Pierre Lazareff, De Munich à Vichy, New York 1944, S. 32 f. Georges Bonnet, De Munich à la guerre, Paris 1967, S. 510. Vgl. ebd., S. 501 f. u. S. 515. Vgl. Alexis Léger: „inconcevable, tant du point de vue de la moralité internationale que de la sauvegarde de nos intérêts essentiels“; zit. n.: Documents diplomatiques français [im Folgenden DDF] 2, XIX, S. 282, 31.8.1939. Vgl. Puyaubert, Bonnet, S. 215 f. Lazareff, Munich, S. 170. Léon Noël, L’Agression allemande contre la Pologne, Paris 1946, S. 474 f. Daladier; zit. n.: DDF 2, IX, S. 583, 28./29.4.1938. Über München: „It had been hard, perhaps a little dishonouring; but he had felt this was better rather than to begin again what we had seen 20 years ago. He had been there.“ Documents on British Foreign Policy [im Folgenden DBFP] 3, II, S. 528, 25.10.1938.
Wahn und Wirklichkeit
121
Mehrfach verwundet hatten die Schlachtfelder Verduns einen tiefen Eindruck bei Daladier hinterlassen.²³ Dort, bei Avocourt, war er im April 1916 Zeuge deutschfranzösischer Verbrüderung geworden und noch Jahre später erinnerte er sich an „le dialogue avec les Allemands dans la forêt d’Avocourt, pour une paix juste et durable“.²⁴ Von einem solchen „gerechten und dauerhaften Frieden“ mit Deutschland träumte Daladier, seit er 1933 das Amt des Premierministers übernommen hatte.²⁵ Noch wenige Tage vor Ausbruch des Kriegs, dessen Beginn just auf den Jahrestag seines Einsatzes in Verdun fiel,²⁶ erinnerte er Hitler an alte Weltkriegskameradschaft: Vous avez été, comme moi-même, un combattant de la dernière guerre. Vous savez, comme moi, tout ce que la conscience des peuples garde à jamais d’horreur et de réprobation des désastres de la guerre. […] Si le sang français et le sang allemand coulent de nouveau, comme il y a vingt-cinq ans, dans une guerre encore plus longue et plus meurtrière, chacun des deux peuples luttera avec la confiance dans sa victoire, mais la victoire la plus certaine sera celle de la destruction et de la barbarie.²⁷
Genährt wurden derartige Illusionen über die verbindende Kraft der Kriegserinnerung nicht zuletzt von Hitler selbst. Längst hatte der Diktator im Kriegstrauma westlicher Politiker die eigentliche Ursache der Appeasement-Politik erkannt und geschickt betonte er daher immer wieder die gemeinsame Fronterfahrung, die doch sicherer Bürge der eigenen Friedensliebe sei: Als Veteranen des Weltkrieges – ich stand selbst viereinhalb Jahre an vorderster Front britischen und französischen Soldaten gegenüber – haben wir alle sehr persönliche Erfahrungen mit dem Schrecken des Kriegs in Europa gemacht. […] Wir akzeptieren bereitwillig unsere Pflicht gegenüber Gott und unserer Nation, eine Wiederholung dieser Katastrophe mit allen möglichen Mitteln zu verhindern.²⁸
Vgl. Élisabeth du Réau, Édouard Daladier 1884– 1970, Paris 1993, S. 29 – 34. Zum „monstrueux charnier“: Édouard Daladier, Journal de Captivité, Paris 1991, 1.9.1944, S. 301. Daladier, Memoires inédites; zit. n.: Réau, Édouard Daladier, S. 32. Vgl. Jean-Baptiste Duroselle, La décadence. 1932– 1939, Paris 1979, S. 206; Roger Genebrier, Septembre 1939: La France entre en guerre, Paris 1982, S. 15 u. S. 49 f. Vgl. Daladier, Journal de Captivité, 1.9.1944, S. 301. DDF 2, XIX, S. 10, 26. 8.1939. Hitler an Rothermere, 1.12.1933; zit. n.: Weber, Hitlers erster Krieg, S. 420. Vgl.: Akten zur deutschen auswärtigen Politik [im Folgenden ADAP], D, IV, S. 251, 1.10.1938; Interview, 18.10.1933, in: Max Domarus (Hg.), Hitler. Reden 1932 bis 1945, Bd. 1, Würzburg 1988, S. 319; Paul Schmidt, Statist auf diplomatischer Bühne, Bonn 1949, S. 316 u. S. 335 f.
122
Till Knobloch
Ähnliche, täuschende Worte richtete Hitler im November 1938 auch an Daladier, mit dem er sich schon in München über gemeinsame Fronterlebnisse ausgetauscht hatte:²⁹ Je suis un ancien combattant, je sais ce que c’est que la guerre, je veux en épargner les épreuves à mon peuple; même une modification de frontière entre nos deux pays ne suffirait pas à justifier les sacrifices qui devraient être consentis. Voilà mon avis et je sais que c’est aussi celui du président Daladier. […] Nous sommes des anciens combattants; si jamais des difficultés surgissent, nous saurons les régler pacifiquement.³⁰
Nun, unmittelbar vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, setzte Hitler erneut auf die Wirkung der Erinnerung westlicher Politiker an den vorherigen Krieg. Während er dem französischen Botschafter ein Rührstück der eigenen Betroffenheit („Ach, die Frauen und die Kinder, daran habe ich oft gedacht!“³¹) vorspielte und, im Antwortbrief an Daladier, vor der „Wiederholung der Tragik von 1914 – 1918“ warnte („als alter Frontsoldat kenne ich wie Sie die Schrecken des Krieges“³²), schlug er dem englischen Botschafter gegenüber andere, härtere Töne an: „The result […] could be a bloody and incalculable war between Germany and England. Such a war would be bloodier than that of 1914 to 1918.“³³ Woher aber die – für westliche Staatsmänner so verwirrende – gänzlich abweichende Wahrnehmung der doch augenscheinlich so ähnlichen Kriegserlebnisse? Neben seiner ideologisch begründeten Kriegssehnsucht, die Hitler den Ausbruch der Kampfhandlungen in den letzten Augusttagen 1939 geradezu herbeisehnen ließ,³⁴ stößt man hier auf die, von dem Historiker Thomas Weber ausführlich beschriebene, durchaus eigentümliche Kriegserfahrung Hitlers. Für ihn, den „Untauglichen, Unmöglichen, zehnfach Gescheiterten, […] extrem faulen, zu keiner Arbeit fähigen Dauer-Asylisten“³⁵ (Thomas Mann), bot der Krieg erstmals Sinn und Bestätigung, wurde die „Schützengrabengemeinschaft“ zur Ersatzfamilie, zu der er sich noch im Fronturlaub zurücksehnte.³⁶ Von der Bürokratie hinter die Front versetzt und vom Zufall vor einigen der schlimmsten
Schmidt, Statist, S. 414. Vgl. Hitler zu Coulondre: „Wir sind beide ehemalige Kriegsteilnehmer“: Robert Coulondre, Von Moskau nach Berlin, Bonn 1950, S. 309. Hitler; zit. n.: DDF 2, XII, S. 733, 23.11.1938. Hitler; zit. n.: Coulondre, Von Moskau nach Berlin, S. 427. Hitler; zit. n.: ADAP, D, VII, S. 298, 27. 8.1939. Vgl. ebd. „Vielleicht können gerade wir uns als alte Frontsoldaten auf manchen Gebieten am leichtesten verstehen“. Hitler; zit. n.: DBFP 3, VII, S. 228, 25. 8.1939. Vgl. DBFP 3, VII, S. 393, 30. 8.1939. Vgl. D. C. Watt, How War Came, London 1989, S. 610. Thomas Mann, Bruder Hitler, in: Ders., Reden und Aufsätze, IV, Oldenburg 1960, S. 846. Vgl. Weber, Hitlers erster Krieg, S. 190 u. S. 270.
Wahn und Wirklichkeit
123
Schlachten bewahrt, erlebte Hitler das Kriegsende nur aus der Ferne.³⁷ Für ihn war daher gerade nicht das Blutvergießen von 1916, sondern der Zusammenbruch von 1918 das eigentliche, das wirklich traumatisierende Erlebnis. Nicht den Beginn eines Kriegs, sondern vielmehr die erneute Niederlage in demselben war es daher, was Hitlers unter allen Umständen zu verhindern suchte.
2 Das Trauma der Kriegsschuldfrage Lange hatte Hitler gegrübelt, sinniert, reflektiert, warum das Deutsche Reich, das doch eigentlich dem Gegner überlegen gewesen sei, dennoch besiegt wurde im „Großen Krieg“. Sicher, so hatte er oft verkündet: Wäre er schon damals Reichskanzler gewesen, die Dinge wären gewiss anders verlaufen. „More than once he repeated to me“, so der englische Botschafter Nevile Henderson, „that, if he had been Chancellor of Germany in 1914, she [Deutschland; Anm. d.Verf.] would never have lost that war in 1918.“³⁸ Dies waren beschwörende, nicht ohne Grund vornehmlich an ausländische Diplomaten gerichtete Worte. Und doch, für den Autodidakten Hitler war die eigene Beschäftigung mit der Geschichte mehr als nur zynische Legitimationsressource, vielmehr sicheres Mittel, um das erneute „[H]ineinschlittern […], wie die unfähigen Menschen des Jahres 1914“,³⁹ zu vermeiden, denn: Niemals würde ihm das passieren! ‚Man studiert nicht Geschichte, um dann, wenn sie zur praktischen Anwendung kommen soll, sich ihrer Lehren nicht zu erinnern oder zu glauben, daß nun die Dinge eben anders lägen und mithin ihre urewigen Wahrheiten nicht mehr anzuwenden wären.‘⁴⁰
Warum also die Niederlage? Feindliche Propaganda, so Hitlers charakteristische Antwort, habe den Boden bereitet für die deutsche Niederlage. Schon in „Mein Kampf“ hatte er vor der „unerhörte[n] Geschicklichkeit“ der englischen Kriegs-
Vgl. ebd., S. 272 u. S. 95 – 106. Zu Hitlers Abwesenheit bei wichtigen Schlachten: Vgl. ebd., S. 247, S. 268, S. 291 u. S. 293; zum Zusammenbruch: Vgl. ebd. S. 295 – 298. Nevile Henderson, Failure of a Mission, London 1940, S. 270. Vgl. Anthony Eden, Facing the Dictators, London 1962, S. 152; Albert Speer, Erinnerungen, Berlin 1969, S. 184; Bonnet, De Munich à la guerre, S. 419; DBFP 3, VI, S. 43 u. S. 722; VII, S. 202. Hitler; zit. n.: Schwerin von Krosigk, Es geschah in Deutschland, Tübingen 1951, S. 216. Vgl. Hans Frank, Im Angesicht des Galgens, München 1953, S. 354 f. u. S. 365; Henry Picker, Tischgespräche im Führerhauptquartier, Stuttgart 1976, 2.4.1942, S. 178; DBFP 3, VI, S. 715, 24.7.1939. Nikolaus von Vormann, Der Feldzug 1939 in Polen, Weißenburg 1958, S. 41. Vgl. Christian Hartmann u. a. (Hg.), Hitler, Mein Kampf. Eine Kritische Edition, München 2016, S. 1723.
124
Till Knobloch
propaganda und deren „ungeheuren Ergebnissen“⁴¹ gewarnt. Nun, den nächsten Krieg vor Augen, schien sich alles zu wiederholen: Die englische Politik zeige dieselben Merkmale wie 1914, argumentierte Hitler. Alle britischen Noten dienten nur dem Zweck, im Falle eines Krieges die Schuld von London abzuwälzen.⁴²
Erneut drohte also die Überrumpelung durch englische Propagandakunst. Der galt es vorzubeugen: „Schlau müssen wir jetzt sein, schlau wie die Füchse. Ich bin kein Bethmann-Hollweg [sic].“⁴³ Was folgte war die bewusste „Inszenierung“⁴⁴ der Krise als einem zur Chefsache erklärten Propagandaunternehmen, das nun, im Jahr 1939, den Erfolg garantieren sollte: Dieses Mal wird der Fehler von 1914 vermieden werden. Es kommt nun alles darauf an, der Gegenseite die Schuld zuzuschieben. 1914 wurde das stümperhaft angestellt. Auch jetzt wieder sind die Entwürfe des Auswärtigen Amtes einfach unbrauchbar. Die Noten verfasse ich am besten selbst.⁴⁵
Er selbst werde daher, wie Hitler vor Generälen verkündete, „einen propagandistischen Anlaß zur Auslösung des Krieges geben, gleichgültig, ob glaubhaft oder nicht“.⁴⁶ Als solche sind denn auch alle vorgeblichen Friedensangebote Hitlers zu verstehen: als „propagandistische Anlässe“ eines bereits beschlossenen Kriegs, als, wie Staatssekretär Ernst von Weizsäcker treffend bemerkte, „nur for show“.⁴⁷ Auch im Lager der ehemaligen Gegner, in Frankreich, in England zumal, fürchtete man eine erneute Kriegsschuldfrage. Trotz einer, dieses Mal wohl viel eindeutigeren Ausgangslage traute man der deutschen historischen Zunft und ihrer „höheren Kritik“ geradezu Unheimliches zu, wie der Herausgeber der Documents on British Foreign Policy, E. L. Woodward, an Lord Halifax schrieb:
Hartmann u. a. (Hg.), Hitler, Mein Kampf, S. 489. Hitler; zit. n.: Nicolaus von Below, Als Hitlers Adjutant, Mainz 1980, S. 192.Vgl. Goebbels über Daladiers Brief: „nur für die evtl. Kriegsschuld geschrieben“: Elke Fröhlich (Hg.), Die Tagebücher von Joseph Goebbels, München 1998, I, Bd. 7, 27. 8.1939, S. 79. Hitler; zit. n.: Vormann, Feldzug 1939, S. 36. Vgl. DBFP 3, III, S. 143, 8.10.1938; ADAP, D, VIII, S. 349, 23.11.1939. Speer, Erinnerungen, S. 182. Ebd., S. 179. Vgl. ADAP, D, VIII, S. 108, 19. 8.1939. Hitler; zit. n.: Krosigk, Es geschah in Deutschland, S. 216. Ernst von Weizsäcker, Erinnerungen, Freiburg 1950, S. 259.Vgl. Hitler: „Ich brauchte ein Alibi, vor allem dem deutschen Volke gegenüber.“ Zit. n.: Schmidt, Statist, S. 460.
Wahn und Wirklichkeit
125
[I] feel sure, from many dreary hours spend in studying the last Krieg[s]schuldfrage, that the Germans will again apply their pedantic literalism to every scrap of evidence about the origins of this war. Hence we ought to leave no gaps for the German type of ‚higher critic‘.⁴⁸
Und tatsächlich, so konnte Halifax – bei Kriegsausbruch immerhin Außenminister – bestätigen, schon im August 1939 habe ihn eben diese Problematik umgetrieben: What I feared all through those last weeks and days was that Hitler might produce specious terms which might appear superficially reasonable but which the Poles would feel bound to reject. If we supported their rejection, we might have been faced with a considerable body of neutral opinion in Europe and in the United States, and perhaps our own public opinion, which would have held that we had precipitated war by giving the Poles a ‚blank cheque‘.⁴⁹
„Kriegsschuldfrage“, „Blankoscheck“, dazu der leidige Vergleich mit der russischen Mobilmachung:⁵⁰ gefährliche Vokabeln in einer Situation, die doch so fundamental anders war als die der Julikrise 1914. Nun, wo „Schlafwandeln“ gefährlich – für den polnischen Verbündeten: tödlich – sein musste, schwächten falsche historische Analogien die Entschlusskraft, spaltete die Erinnerung an 1914 das alliierte Lager. Und doch lastete eine andere Frage noch schwerer auf den Verantwortlichen. Schon lange hatte britische Staatsmänner beschäftigt, warum Hitler, trotz aller deutlichen, ja überdeutlichen Warnungen, sich beharrlich weigerte, an die Möglichkeit eines englischen Kriegseintritts zu glauben.⁵¹ Albtraumhaft zeichnete sich in den Augen englischer Diplomaten auch hier die Wiederholung alter Fehler ab: We have often been told that the war of 1914 would never have come about had the attitude of this country been clearly understood in time. Whatever we think of this statement it is the duty of each one of us, press and public as well as Government, to take every step in our power to prevent such a repetition of tragedy.⁵²
Noch war es jedoch nicht zu spät, noch mochte es möglich sein, die Wiederholung der Katastrophe von 1914 zu vermeiden: „It might still be possible to deter him […]
Woodward to Halifax, 11.9.1943, Churchill Archives, Cambridge, Halifax papers, A4.410.3/ 10 (ii). Halifax’s comments, 11.9.1943, ebd. Vgl. Halifax, Fulness of Days, London 1957, S. 211 f. Vgl. Noël, Agression allemande, S. 463 f. Vgl. Goebbels-Tagebücher, 1.9.1939, S. 87. Eden, The Reckoning, Boston 1965, S. 27. Ebenso: L. S. Amery, My Political Life, III, London 1955, S. 275; DBFP 3, II, S. 141, S. 206 u. S. 216; Halifax, Fullness of Days, London 1957, S. 208; Henderson, Failure, S. 226 f.; Ders., Water under the Bridges, London 1945, S. 71.
126
Till Knobloch
if, as we had failed to do in 1914, we made it unmistakably clear that the particular acts of aggression which he was believed to have in mind would result in general war.“⁵³ Und so wandte sich, wenige Tage vor Kriegsausbruch, Chamberlain selbst per Brief an Hitler: It is alleged that if His Majesty’s Government had made their position more clear in 1914, the great catastrophe would have been avoided. […] His Majesty’s Government are resolved that on this occasion there shall be no such tragic misunderstanding.⁵⁴
Warnungen, die zwar ernst gemeint, aber doch, wie schon der Appell an gemeinsame Kriegserlebnisse, vergeblich waren – es wohl auch sein mussten, da doch die Logik des Foreign Office, der Grammar Schools, Placements Tests und Diplomatic Service Examinations ⁵⁵ nun einmal mitnichten die des Rassefanatikers und Schicksalsgläubigen, Dilettanten und Karl-May-Abenteurers war, der die Macht in Berlin innehatte und noch am Abend vor der englischen Kriegserklärung verkündete: Er „glaube nicht, dass die Engländer so dumm sein würden, ‚für zweitklassige slawische Staaten des Ostens‘ ihr Empire aufs Spiel zu setzen!“⁵⁶
3 Das Trauma des Zweifrontenkriegs Schon Bismarck sah sich vom „cauchemar des coalitions“ verfolgt und Schlieffen soll bekanntlich noch auf dem Sterbebett der Alb des Zweifrontenkriegs („Macht mir den rechten Flügel stark!“⁵⁷) bedrückt haben. Alte, tief verwurzelte deutsche Ängste vor feindlicher Übermacht und tückischer „Einkreisungspolitik“⁵⁸ mischten sich hier mit ganz persönlicher Nervosität und hatten schon Friedrich den Großen veranlasst, das Prävenire zu spielen.⁵⁹ Auch Hitler trieb bei Kriegsausbruch der Einkreisungsgedanke um: „Die Angst vor einem Zweifrontenkrieg
Halifax, Fulness, S. 205. Vgl. Richard Overy, 1939. Countdown to War, London 2009, S. 111. Chamberlain; zit. n.: DBFP 3,VII, S. 171, 23. 8.1939.Vgl. DBFP 3, II, S. 339 u. S. 346, 15.9.1938; II, S. 299, 12.9.1938; VI, S. 363; ADAP, D, VI, S. 774, 14.7.1939. Vgl. Duff Cooper, Old Men Forget, London 1953, S. 200. Reinhard Spitzy, So haben wir das Reich verspielt, München 1988, S. 370.Vgl. Fritz Hesse, Das Vorspiel zum Kriege, Leoni 1979, S. 199; Heinz Linge, Bis zum Untergang, München 1980, S. 177; Speer, Erinnerungen, S. 85. Schlieffen; zit. n.: Krosigk, Es geschah in Deutschland, S. 55. Wilhelm II, Ereignisse und Gestalten aus den Jahren 1878 – 1918, Leipzig 1922, S. 63. Vgl. Friedrich II. an William Pitt, 3.7.1761; zit. n.: Otto Bardong (Hg.), Friedrich der Große, Darmstadt 1982, S. 411.
Wahn und Wirklichkeit
127
bedrängte ihn mehr[,] als er zugeben wollte.“⁶⁰ Immer wieder auf das Trauma von 1914 zurückkommend fürchtete er, dass sich England und die USA „mit Rußland verbünden würden und Deutschland dann eines Tages gleichzeitig einem Angriff von Osten und Westen ausgesetzt sein werde, wie dies schon einmal 1914 geschehen war“.⁶¹ Es galt also, wie Hitler selbst verkündete, „nicht den Fehler von 1899, nicht den von 1905 und von 1912 [zu] übernehmen, nämlich zu warten, in der Hoffnung, es würde ein Wunder geschehen und man könne vielleicht eines Tages ohne dieser [sic] Auseinandersetzung durchkommen“.⁶² Er werde, gewappnet mit derartiger historischer Erkenntnis,⁶³ anders als „Kaiser Wilhelm II. und seine Ratgeber, die 1914 dumm und einfältig in einen Zweifrontenkrieg ‚hineingeschliddert‘“ seien,⁶⁴ die Dinge ungleich geschickter angehen. Eigene Kriegserfahrung mit historischer Analyse mischend, meinte der Gefreite von einst nun im Bündnis mit Russland den Schlüssel zum Sieg gefunden zu haben: I was a soldier in the First World War and I learnt all sorts of things then. Among others that a war on two fronts is inevitably fatal for Germany. If Germany had been fighting on only one front in 1914 – 18, we should have won that time too. I should not in any circumstances wish for a repetition of what happened then. That is why I made the pact with Russia.⁶⁵
Unmöglich, hier Ursache von Wirkung, tatsächliche Absicht von nachträglicher Rechtfertigung zu trennen. Hatte in Moskau wirklich geschickte Diplomatie militärische Handlungsfreiheit eröffnet oder nicht vielmehr der eigene, durchaus primäre, Kriegswille ihn in die Arme des Feindes getrieben? Genau wusste der Diktator es wohl selbst nicht. Sicher war hier nur der Krieg, der musste sein. Am Anfang der alliierten Strategie stand das Entsetzen über das Blutvergießen des Ersten Weltkriegs.Verdun, Passchendaele, Somme – das durfte sich nicht
Linge, Bis zum Untergang, S. 177. Vgl. Hitler: „Ich hatte nur den Alpdruck […]. Denn ein Zweifrontenkrieg, das wäre unmöglich gewesen.“ Zit. n.: Bernd Wegner, Hitlers Besuch in Finnland. Das geheime Tonprotokoll seiner Unterredung mit Mannerheim am 4. Juni 1942, in: VfZ 41. 1993, S. 117– 138, hier S. 132. Vgl. Keitel Interrogation, in: National Archives, USA, Interrogation Records Prepared for War Crimes Proceedings at Nuernberg, Roll 10, 28. 8.1945, S. 12; Rede Hitlers am 23. 5.1939, in: Domarus, Hitler, Bd. 3, S. 1198. Joachim von Ribbentrop, Zwischen London und Moskau, Leoni 1953, S. 239. Hitler; zit. n.: Speer, Erinnerungen, S. 539. Vgl. Frank, Im Angesicht des Galgens, S. 365. Vgl. Nikolaus von Vormann, So begann der Zweite Weltkrieg, Leoni 1988, S. 61. Vormann, Feldzug 1939, S. 41. Hitler; zit. n.: Sven Hedin, German Diary, Dublin 1951, S. 178.
128
Till Knobloch
wiederholen.⁶⁶ Folglich sollte dieses Mal nicht, wie noch im letzten Krieg, die offensive à outrance, sondern die starre Defensive – gestützt auf die einem gigantischen Schützengraben gleichende Maginot-Linie – den sicheren Sieg bringen:⁶⁷ [T]he French view was that their first objective should be the defence of French territory. The French relied for defence on the Maginot Line […], with the object of crushing any enemy who succeeded in penetrating at any point or in attacking France through the Low Countries or Switzerland.⁶⁸
Erneut erwartete man also im französischen Generalstab einen schnellen deutschen Vorstoß durch die Nordostflanke und erst nach der Abwehr dieser, nunmehr dritten, Marne-Schlacht, würde der erneute Zweifrontenkrieg,⁶⁹ im Verbund mit der bewährten englischen Blockade,⁷⁰ den deutschen Gegner bezwingen.⁷¹ Die Rolle des hierfür unabdingbaren⁷² östlichen Verbündeten war dabei, wie gehabt, zunächst Russland zugedacht: The Minister [for Coordination of Defence; Anm. d.Verf.] said that he had in mind, the classic example of 1914. In that case Russia invaded East Prussia, with the result that Germany withdrew two Army Corps from her Western to her Eastern Front and thereby lost the Battle of Marne.⁷³
Vgl. die Warnung vor einer erneuten „bataille de Verdun ou de la Somme“: DDF 1939, S. 33 f., 7.9.1939. Vgl. Réunion, 25.11.1938, Service historique de la Défense [im Folgenden SHD], 2N 225; Eugenia Kiesling, Arming Against Hitler, Lawrence 1996, S. 136 f.; Robert Doughty, The Seeds of Disaster. The Development of French Army Doctrine, Hamden 1985, S. 73 f.; Genebrier, Septembre 1939, S. 93. Protokoll der englisch-französischen Generalstabsbesprechungen im April 1939; zit. n.: SHD, 7 N 3441, 2nd meeting, S. 2. „It may be anticipated that the operation would be a repetition of the manoeuvre of 1914.“ SHD, 7 N 3441, A.F.C. (J.) 65, S. 1.Vgl. ebd., A.F.C. (J.) 11, S. 1; Daridan, Défaite, S. 153; Pierre-Etienne Flandin, Politique française, Paris 1947, S. 286 f.; Robert Young, In Command of France, Cambridge, MA 1978, S. 14 f. Vgl. Paul Stehlin, Témoignage pour l’histoire, Paris 1964, S. 175; Talbot Imlay, Facing the Second World War, New York 2003, S. 42 f. Vgl. ebd., S. 110; Martin Alexander, French Grand Strategy and Defence Preparations, in: John Ferris (Hg.), The Cambridge History of the Second World War, Bd. 1, Cambridge 2015, S. 78 – 106, hier S. 93. Zu den Einzelheiten dieses alliierten „Stufenplans“ vgl. in: SHD, 7 N 3441, A.F.C. (J.) 29, Conclusions on the Broad Strategic Policy for the Conduct of the War, S. 4; ebd. A.F.C. (J.) 27, S. 3. Vgl. Archives du ministère des Affaires étrangères, Papiers 1940, Hoppenot 5, Nr. 4. National Archives, Cabinet Papers, CAB 23/99, Cabinet Meeting, 24. 5.1939, S. 294 f. Vgl. Robert Coulondre, De Staline à Hitler, Paris 1950, S. 22; Bonnet, De Munich à la guerre, S. 337.
Wahn und Wirklichkeit
129
Pläne, die sich auf dem Papier wohl vernünftig ausnahmen, in der Praxis aber – zum Entsetzen französischer Staatsmänner – durch Hitlers Pakt mit Stalin schnell Makulatur wurden. Mochte Bonnet sich auch weigern, den Zusammenbruch der sowjetischen Allianz anzuerkennen („nous verrons“⁷⁴), so sah Daladier, wie er dem amerikanischen Botschafter anvertraute, die Dinge durchaus nüchtern: „The entire diplomatic structure which we had attempted to build up has been destroyed.“⁷⁵ Damit rückte – notgedrungen – der ungeliebte polnische Verbündete abermals ins Zentrum der Aufmerksamkeit, dem der französische Oberkommandierende Maurice Gamelin jedoch in der entscheidenden Ministerratssitzung kaum mehr als „une résistance honorable“⁷⁶ zutraute. Was also tun? Zwar hatten französische Militärs und Politiker der polnischen Regierung wiederholt für den Kriegsfall „une action offensive contre l’Allemagne avec les gros de ses forces“⁷⁷ zugesagt, doch war eben dies die Tragik der historischen Lehren aus 1914. War es richtig, dass erneut ein langer, ein zermürbender Krieg – „une guerre de longue durée“⁷⁸ – bevorstand, dann konnte es nicht richtig sein, gleich zu Beginn in die kräftezehrende Offensive zu gehen;⁷⁹ dann musste – gewiss, man bedauerte das – der polnische Verbündete wohl oder übel geopfert werden: „Ce qui importe, c’est le succès final.“⁸⁰ Tragisch war die Situation auch deshalb, weil die Regierung in Warschau, ebenfalls der Logik von 1914 folgend, die eigene Militärstrategie durchaus auf dem
Bonnet; zit. n.: DBFP 3, VII, S. 177, 23. 8.1939. Vgl. DBFP 3, VII, S. 131, 22. 8.1939; Jean Zay, Carnets secrets, Paris 1942, S. 66. Daladier; zit. n.: Imlay, Facing the Second World War, S. 46. Vgl. Bonnet, De Munich à la guerre, S. 450; Puyaubert, Bonnet, S. 202; Young, Command of France, S. 236 f. Gamelin; zit. n.: DDF 2, XVIII, S. 383, 23. 8.1939. SHD, GR 2 N 235, 19.5.1939.Vgl. Daladiers Erklärung vom 13. April: „La France et la Pologne se garantissent immédiatement et directement contre toute menace directe ou indirecte qui porterait atteinte à leurs intérêts vitaux.“ Zit. n.: Flandin, Politique, S. 338. Zit. n.: SHD, 7 N 3439, Conversations d’État-Major Franco-Britanniques, S. 8.Vgl. Robert Young, La Guerre de Longue Durée, in: Adrian Preston (Hg.), General Staffs and Diplomacy Before the Second World War, London 1974, S. 41– 64. Vgl. Martin Alexander, The Republic in Danger: General Maurice Gamelin and the Politics of French Defence, Cambridge 1992, S. 494. DDF 1939, S. 33, 7.9.1939.Vgl. SHD, 7 N 3439, Conversations Militaires Franco-Britanniques, S. 6, 13.7.1939. „Our military situation must have been known to them and they should have been quite aware of the imminence of the peril that threatened them. You might say that it was cynical. On a short view, perhaps it was. But it [die Garantie Polens; Anm. d.Verf.] did bring us into the war […]. And in the end we, with our Allies, won it. Though of course the poor Poles cannot be expected to appreciate the result for them.“ Brief Cadogans, 20.1.1964; zit. n.: Dilks (Hg.), The Diaries of Sir Alexander Cadogan, London 1971, S. 167.
130
Till Knobloch
immer wieder zugesagten Zweifrontenkrieg aufgebaut hatte.⁸¹ Mochte Beck nun, nach der deutschen Invasion, auch noch so viele verzweifelte Telegramme nach London schicken,⁸² und mochten polnische Botschafter noch so sehr an der Ehre ihrer westlichen Verbündeten zweifeln:⁸³ Im Westen schwiegen, zur Verwunderung deutscher Generäle und – wie wir heute wissen – Rettung Hitlers,⁸⁴ die Waffen: „Poland betrayed“.⁸⁵
4 Fazit Am Anfang dieser Untersuchung stand die Frage nach dem Einfluss der Erinnerung an die Julikrise auf den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs. Zwei Aspekte stechen hier besonders hervor: 1) Beide Seiten versuchten zu lernen aus dem, was sie für die jeweils zentralen Fehler von 1914 hielten: Für Hitler hieß dies, das rechtzeitige und propagandistisch wohl vorbereitete Zuschlagen, bevor die Gegner sich zum erneuten Zweifrontenkampf formieren konnten. Auf alliierter Seite hoffte man, die Verwüstungen der Jahre 1914– 1918 vor Augen, den Krieg zu vermeiden, sei es durch eine bis zum Äußersten getriebenen Diplomatie, sei es durch eine konsequente Strategie der Defensive. Tatsächlich liegt hier – jenseits aller Appeasement-Sünden – die eigentliche Tragik alliierter Staatsmänner. Gerade weil sie, die Lehren aus der Julikrise ziehend, den Frieden dieses Mal um jeden Preis wahren wollten, verweigerten sie das einzige sichere Mittel, den Weltkrieg zu vermeiden: die schnelle
Vgl. die Anweisung Marschall Rydz-Śmigłys [Übersetzung T. K.]: „Polens Operationsplan ist defensiv. Ziel ist, Deutschland größtmögliche Verluste zuzufügen und Durchhalten bis alliierte Operationen im Westen beginnen.“ W. T. Kowalski (Hg.), Polska w polityce międzynarodowej, Warschau 1989, S. 249. Vgl. Polskie Dokumenty Dyplomatyczne 1939/II, 3.9.1939, Nr. 17. Vgl. Lazareff, Munich, S. 171; DDF 2, XIX, S. 384, 2.9.1939. Vgl. Keitel, in: Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem internationalen Militärgerichtshof Nürnberg, Bd. 10, Nürnberg 1949, S. 583; Jodl, in: Ebd., Bd. 15, S. 385 f.; Halder, in: Trials of War Criminals before the Nuernberg Military Tribunals, Bd. 12, Nürnberg 1949, S. 1086. „The French have lied to the Poles in saying that they are going to attack. There is no idea of it.“ Roderick Macleod (Hg.), The Ironside Diaries, London 1962, 26.7.1939, S. 85. Vgl. Paul Armengaud, Batailles politiques et militaires sur l’Europe, Paris 1948, S. 93; David Williamson, Poland Betrayed: The Nazi-Soviet Invasions of 1939, Barnsley 2009.
Wahn und Wirklichkeit
131
und nachdrückliche bewaffnete Intervention an der Seite des polnischen Verbündeten – also einen Krieg, um den Krieg zu verhindern.⁸⁶ 2) Auf beiden Seiten kommt es zu einer Instrumentalisierung einer als kollektiv (das heißt auch und insbesondere beim Gegner) antizipierten Erinnerung: Sei es, wie im Lager der Alliierten, als Mahnung – „das darf sich nicht wiederholen“ – oder, im Falle Hitlers, als strategisches Argument – „das wird sich nicht wiederholen“ –, stets ist „1914“ beides: Ursache und Mittel, biographisches Trauma und rhetorisches Instrument. Baute man im alliierten Lager dabei vornehmlich auf die, selbst so eindringlich empfundene, abschreckende Wirkung der Kriegserfahrung, zeigte sich Hitler hier weitaus flexibler: Gegenüber Frankreich Kameradschaft und gegenüber Russland Besorgnis spielend („wählt Rußland englische Seite, so steht es in der Tat wie 1914 isoliert“⁸⁷), mimte er gegenüber England den überlegenen Strategen: „im Unterschied zu dem letzten Kriege würde Deutschland keinen Zweifrontenkrieg mehr zu führen haben“.⁸⁸ Am Ende scheiterten alle Bemühungen, diese vermeintlich kollektive Erinnerung an 1914 zur Verhütung des nächsten Kriegs zu nutzen. Den Alliierten gelang es nicht, durch Verweis auf vergangene Opfer, den künftigen Krieg zu verhindern, und auch Hitler konnte nicht zufrieden sein. Gescheitert war der Versuch, die westliche Öffentlichkeit, anders als 1914, von der Lauterkeit der deutschen Ziele zu überzeugen. Gescheitert damit auch die Isolierung des polnischen Konflikts und gescheitert sogar, wie man aus dem State Department vernehmen musste, die erneute Neutralisierung Amerikas: Es ist nicht mehr wie 1914, nicht einmal 1917 – keine geteilte Meinung, kein Für und Wider. Wir bemitleiden nur Ihr Volk, Ihre Regierung ist bereits gerichtet, sie wird von einem Ende der Welt bis zum anderen verurteilt, denn dieses Blutbad, wenn [es] jetzt zum Kriege England-Frankreich-Deutschland kommt, war völlig unnötig. Ganze Art Verhandlungsführung war so dumm wie möglich.⁸⁹
Es zeigen sich hier, und auch dies gehört zur Frage nach dem Einfluss der Kriegserinnerung, die Grenzen eben dieser Erfahrung. Grenzen, wie sie insbesondere an den Bruchlinien zwischen individueller und kollektiver Erinnerung sichtbar wurden:
„Wenn der Franzose sich verpflichtet fühlte, den Polen wirklich zu helfen, so brauchte er in den ersten Septembertagen nur zum Angriff anzutreten, als wir noch im Osten gebunden waren, und der Krieg war beendet.“ Vormann, So begann der Zweite Weltkrieg, S. 98. Hitler; zit. n.: ADAP, D, VII, S. 50, 14. 8.1939. Vgl. ADAP, D, VII, S. 190, 24.8.1939. Hitler; zit. n: ADAP, D, VII, S. 234, 25. 8.1939. Ähnlich: DBFP 3, VII, S. 228, 25. 8.1939. Aussage des stellvertretenden Pressechefs im State Department; zit. n.: ADAP, D, VII, S. 434, 2.9.1939.
132
Till Knobloch
I) So musste Daladier, trotz aller – durchaus beidseitigen – Beschwörungen von gemeinsamer Tragödie und gemeinsamem Leid, erkennen, dass es eine kollektive Erinnerung einer „Frontkämpfergeneration“, deren natürliche Folgerung doch die Ablehnung eines weiteren Kriegs sein müsse, gerade nicht gab. Mehr noch: Während der französische Premier im Krieg nur das Ende aller Zivilisation zu sehen vermochte,⁹⁰ erblickte Hitler dort den Beginn der eigenen Laufbahn, erhoffte er den Ausgangspunkt neuer, gewaltiger Eroberungen: „Wenn man dem deutschen Volke etwas Gutes wünschen will, dann wäre es, alle fünfzehn bis zwanzig Jahre einen Krieg zu haben.“⁹¹ II) Wo französische Diplomatie auf gemeinsame emotionale Lehren vertraute, setzte Chamberlain auf den kalten Zwang der Vernunft: „According to the information available to the government, Hitler would never risk a war on two fronts.“⁹² Schlussfolgerungen, die Hitler zwar durchaus teilte, aber – paradoxerweise – nicht befolgte. Im Moment der Entscheidung waren eben doch Rassekrieg und Lebensraum, Spielerlust und Weltherrschaftsphantasie für den Diktator wichtiger als die Erinnerung an die verheerende Wirkung des Zweifrontenkriegs. Und so zerschellte auch die, nicht zuletzt von westlichen Generalstäben propagierte,⁹³ Idee einer (strategisch einzusetzenden) kollektiven Erinnerung an 1914 an Hitlers unbedingtem Willen zum Krieg. III) Und noch eine Bruchlinie verhinderte das Herausbilden einer gemeinsamen Erinnerung: In Warschau, wo die Kriegserinnerung nicht durch die Schlachten der Westfront, sondern vielmehr von der Erlangung der eigenen Unabhängigkeit dominiert wurde, mochte man nicht so recht begreifen, warum die Alliierten der deutschen Aggression nicht die eigene, objektiv doch vorhandene Überlegenheit entgegensetzen sollten:
Vgl. Édouard Daladier, Défense du pays, Paris 1939, S. 20; Bonnet, Vor der Katastrophe, S. VI; Chamberlain, in: DBFP 3, II, S. 587, 28.9.1938. Hitler; zit. n.: Heinrich Heim, Monologe im Führerhauptquartier, Hamburg 1980, 19./20. 8. 1941, S. 58. Chamberlain; zit. n.: Gabriel Gorodetsky (Hg.), The complete Maisky diaries, Bd. 2, New Haven 2017, S. 499 f. Ein Informant hatte zuvor gemeldet: „Hitler ist viel zu klug, das Unmögliche zu beginnen. […] Einen Mehrfrontenkrieg, der bestimmt länger dauern würde, mußte Deutschland unter allen Umständen vermeiden.“ Churchill Archives, Cambridge, The Papers of Group Captain Malcom Christie, CHRS, 1/29, Nr. 135. Vgl. SHD, 7 N 3441, A.F.C. (J.) 44, S. 1; SHD, 7 N 2602, Denkschrift des Militärattachées in Berlin, S. 1; SHD, 7 N 3439, Étude du Problème Stratégique, S. 1 f., 15.4.1939.
Wahn und Wirklichkeit
133
Wir konnten uns nicht vorstellen, dass Frankreich und Großbritannien den Krieg anfangen und uns nicht gleichzeitig helfen würden. Ihr Interesse an der Aufrechterhaltung zweier Fronten gegen Deutschland schien unbestreitbar.⁹⁴
Erst als die zugesagte Waffenhilfe ausblieb, begriff man in Polen, dass im Westen stets nur die Vermeidung und nicht der Gewinn des bevorstehenden Kampfes das eigentliche Ziel gewesen war.⁹⁵ So war es am Ende gerade die Illusion einer gemeinsamen Erinnerung an 1914 – verzweifelt beschworen von westlichen Politikern und eifrig geschürt vom Diktator selbst –, welche den Krieg in nicht geringem Maße beförderte.⁹⁶ Für Hitler war Friedensliebe bloße Schwäche, Verhandlungsbereitschaft nur propagandistische Gelegenheit und defensive Kriegsführung lediglich die lang ersehnte Gelegenheit zur Vermeidung des Zweifrontenkriegs. Der August 1939 zeigte daher beides: die Wirkmächtigkeit wie auch die Begrenztheit von Erinnerungen auf dem Feld der Außenbeziehungen. Ersterer waren sich die Akteure durchaus bewusst, ja, sie überschätzten diese sogar in nicht geringem Maße.⁹⁷ Letztlich gab es jedoch eine kollektive Erinnerung an den Krieg ebenso wenig wie eine erneute Kriegsschuldfrage. So sehr die Erinnerung an den Weltkrieg, zumal in der Verdichtung eines persönlich erlebten Traumas, die eigene Identität prägte, so sehr verhinderte offenkundig die Individualität der Erinnerung eine gemeinsame Grundlage der Politik. In der komplexen, letztlich aber doch einsamen Situation außenpolitischer Entscheidung kommen erkennbar noch andere, jenseits dieser Untersuchung liegende Faktoren zum Tragen. Sichtbar wurde dies etwa am Beispiel Hitlers, dessen unbedingter Wille zum Krieg alle sich aus der Erinnerung speisenden Bedenken – seien sie strategischer oder propagandistischer Natur – schlicht überschrieb.⁹⁸ Für die Untersuchung außenpolitischer Zusammenhänge bedeutet dies, dass zur umfassenden Analyse von Entscheidungssituationen der
Stanisław Zabiełło, Leiter der politischen Abteilung im Außenministerium (eigene Übersetzung), in: A. Skrzypek (Hg.), Wrzesień 1939 r. w relacjach dyplomatów, Warschau 1989, S. 40. Vgl. H. L. Ismay, The Memoirs of General Lord Ismay, London 1960, S. 97 f. Vgl.: „We continued too long to believe that the horrors of the war of 1914– 18 would have convinced all civilised Powers that they must not have another war.“ Strang, Home and Abroad, London 1956, S. 145. Vgl. L. W. Fuchser, Neville Chamberlain and Appeasement. A Study in the Politics of History, New York 1982, S. xi. Vgl.: „Zu der Wahrheit über das Gewesene hatte er gar kein Verhältnis. Es schien, als könne er Tatsachen vergessen und Tatsachen sich einreden, je nach Bedarf.“ Weizsäcker, Erinnerungen, S. 200.Vgl. Karl-Wilhelm Krause, Zehn Jahre Kammerdiener bei Hitler, Hamburg 1949, S. 73; Below, Adjutant, S. 208; Friedrich Hoßbach, Zwischen Wehrmacht und Hitler, Wolfenbüttel 1949, S. 39.
134
Till Knobloch
Faktor Erinnerung nur im Zusammenspiel mit anderen, die persönliche Identität nicht weniger bestimmenden, Einflüssen herangezogen werden kann. Auch hier liegt, wie schon Thomas Nipperdey bemerkte, die Wahrheit stets im Ganzen.⁹⁹
Das Zitat, „Die Wahrheit ist das Ganze“, in: Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866 – 1918, Bd. I, München 1990, S. 838.
Teil III: Erinnerung als außenpolitisches Argument und Legitimationsressource
Christian Wenzel
Geschichte als Argument in den französisch-spanischen Außenbeziehungen während der französischen Sukzessionskrise (1584 – 1593) Im Januar 1593 versammelten sich in Paris, das unter der Kontrolle der katholischen Heiligen Liga stand, die Generalstände Frankreichs, die Charles II. de Lorraine, Herzog von Mayenne, als Anführer der Liga einberufen hatte.¹ Die Sicherheit der katholischen Religion und des französischen Staates, im Denken der Zeitgenossinnen und Zeitgenossen untrennbar miteinander verbunden,² schien durch die ungeklärte Sukzessionsfrage existentiell bedroht zu sein: Der kinderlose Heinrich III. war am 2. August 1589 ermordet worden, woraufhin der hugenottische Anführer Heinrich von Navarra als Heinrich IV. den französischen Thron beanspruchte.³ Dieses Szenario erwies sich aus katholischer Perspektive als fundamentales Sicherheitsproblem – entsprechend fundamental war die Aufgabe, die den Delegierten der Generalstände aufgetragen wurde: „[L]’eslection et creation d’un roy „Die“ Liga ist als Kollektivsingular insofern problematisch, als damit zwei durchaus heterogene Akteursgruppen zusammengefasst werden: Die urbanen ligistischen Bewegungen auf der einen und die adelige Liga unter Führung Henri de Guises auf der anderen Seite: Vgl. Mack P. Holt, The French Wars of Religion, 1562– 1629, Cambridge 22005, S. 24 f.; Nicolas Le Roux, Rivalités nobiliaires, solidarités urbaines et mobilisation catholique. La Ligue dans le centre du royaume (Berry, Orléanais, Touraine), in: Serge Brunet (Hg.), La Sainte Union des catholiques de France et la fin des guerres de Religion (1585 – 1629), Paris 2016, S. 51– 93. Zur Rolle Charles II. de Guise: Vgl. Henri Drouot, Mayenne et la Bourgogne. Étude sur la Ligue (1587– 1596), 2 Bde., Paris 1937; Jean-Marie Constant, La Ligue, Paris 1996. Zur Einberufung der Generalstände: Advertissement pour la tenue & assemblee des Estats generaux de ce royaume, Troyes 1590; Lettres de monseigneur le duc de Mayenne, pair, et lieutenant general de l’estat royal et coronne de France, envoyées à monsieur le seneschal de Lyon, ou son lieutenant. Pour choisir et eslire deputez pour se trouver à l’assemblee generale des Estats de ce royaume, assignez à Melun le 3 jour du mois de fevrier prochain, Lyon 1590. Vgl. Christian Wenzel, Semantiken von Sicherheit in den Französischen Religionskriegen. Die Versammlung von Fontainebleau (1560) und die „Articles de la Saincte Union“ (1588), in: Historisches Jahrbuch 139 (2019), S. 258 – 279. Zum Regizid: Vgl. Nicolas Le Roux, Un régicide au nom de Dieu. L’assassinat d’Henri III, Paris 2006; Ders., Von der Desakralisierung zum Königsmord. Die Ermordung von Henri III. (1589), in: Lena Oetzel u. Kerstin Weiand (Hg.), Defizitäre Souveräne. Herrscherlegitimation im Konflikt, Frankfurt 2018, S. 170 – 189. https://doi.org/10.1515/9783110726442-011
138
Christian Wenzel
en ce royaume qui soit de la religion catholique, apostolique et romaine, qui ne soit heretique ou fauteur d’heresies“.⁴ König Philipp II. von Spanien hatte als Verbündeter der Heiligen Liga durch seinen Botschafter in Paris, Bernardino de Mendoza, maßgeblich auf die Einberufung der Generalstände gedrängt und auch eine Kandidatin für diese Wahl ins Spiel gebracht: seine Tochter Isabella Klara Eugenia, die aus spanischer Perspektive historisch bewiesene Ansprüche auf den französischen Thron geltend machen konnte.⁵ Die Einberufung der Generalstände von 1593, die von der Forschung zu den Französischen Religionskriegen weitgehend vernachlässigt worden sind,⁶ bildete damit den Höhepunkt jener Sukzessionskrise, die Frankreich zwischen 1584 und 1593 maßgeblich prägte. Zwei Merkmale dieser Konfrontation werden hier besonders deutlich: Einerseits waren die Debatten ganz wesentlich durch den Bezug auf Vergangenheit geprägt, die zur Legitimation und Plausibilisierung der jeweiligen Perspektiven auf die Sukzessionsproblematik eingesetzt wurde. Andererseits war die Sukzessionskrise auch Gegenstand französisch-spanischer Außenbeziehungen, wobei die spanische Seite zur Durchsetzung ihrer Ansprüche gezielt an innerfranzösische Diskurslogiken und Debatteninhalte anknüpfte.⁷
Articles à proposer et resoudre en l’assemblée generale des Estats de ce Royaume convoquée par Monseigneur le Duc de Mayenne, lieutenant generale de l’estat royal et couronne de France, dressés par les lieutenant et gens du conseil de la ville de Reims, suivant qu’il a esté advisé par les habitans de ladicte ville, en l’assemblée faicte au palais-royal, le 23e jour du present mois (décembre 1590), in: Auguste Bernard, Procès-verbaux des États généraux de 1593, Paris 1842, S. 778 f. Zum spanischen Einfluss auf die Einberufung der Generalstände: Vgl. De Lamar Jensen, Diplomacy and Dogmatism. Bernardino de Mendoza and the French Catholic League, Cambridge, MA 1964, S. 171– 189. Zur Fundierung und Formulierung der spanischen Ansprüche: Vgl. Albert Mousset, Les droits de l’infante Isabelle-Claire-Eugénie à la couronne de France, in: Bulletin Hispanique 16/1. 1914, S. 46 – 79. Eine monographische Untersuchung zu den Generalständen von 1593 existiert nicht, auch scheinen die „États de la Ligue“ in gewisser Weise quer zu gängigen Narrativen parlamentarischer Entwicklung in Frankreich zu liegen, was sich anschaulich an der (Nicht‐)Behandlung zeigt: Vgl. etwa George Griffiths, Representative Government in Western Europe in the 16th Century. Commentary and Documents for the Study of Comparative Constitutional History, Oxford 1968; Claude Soule, Les États Généraux de France (1302– 1789). Étude historique, comparative et doctrinale, Heule 1968. Die Debatten der Generalstände selbst sind von Bernard zusammengestellt und herausgegeben worden: Bernard, Procès-verbaux. Als „Diskurse“ werden im Folgenden „Aussagesysteme, also regelhaft strukturierte Komplexe von Redeweisen und Sprechakten“ und damit die Strukturen des Denk- und Sagbaren bezeichnet, was an Michel Foucault anknüpft: Sonia Abun-Nasr, Zwischen Himmel und Hölle. Ein pietistischer Diskurs über Biographien, in: Franz X. Eder (Hg.), Historische Diskursanalysen. Genealogie, Theorie, Anwendungen, Wiesbaden 2006, S. 291– 304, hier S. 291. Vgl. Michel Foucault, Die Ordnung des Diskurses, Frankfurt 132014. Zur geschichtswissenschaftlichen Fruchtbarmachung:
Geschichte als Argument in den französisch-spanischen Außenbeziehungen
139
Damit bietet sich die Sukzessionskrise, mit den Generalständen von 1593 als Höhepunkt, als Fallbeispiel für die Untersuchung von „Geschichte als Argument“⁸ im Kontext frühneuzeitlicher Außenbeziehungen an. Zwei miteinander verknüpfte Leitfragen liegen den folgenden Überlegungen dabei zugrunde. Erstens stellt sich die Frage, wie die jeweiligen Vergangenheitsrekurse konstruiert und funktionalisiert wurden: Auf welcher Basis und in welcher Form wurde mit Geschichte (als Deutung von Vergangenheit) argumentiert? Zweitens und darauf aufbauend ergibt sich die Frage nach den Folgen dieser Funktionalisierungen gerade mit Blick auf ihre Rezeption: Welche Faktoren lagen dem Erfolg und dem Scheitern von Vergangenheitsrekursen in frühneuzeitlichen Außenbeziehungen zugrunde? Diese Leitfragen werden im Folgenden in drei Schritten verfolgt. Im ersten Schritt steht die Sukzessionskrise der 1580er Jahre selbst im Mittelpunkt, die in doppelter Hinsicht als Kontext verstanden werden muss: einerseits in ereignisgeschichtlicher, andererseits aber auch mit Blick auf ihre Debatten, da der Konflikt über die Thronfolge ganz wesentlich mit historischen Argumenten geführt wurde. Im zweiten Schritt wird die Sukzessionskrise dann als Gegenstand französisch-spanischer Außenbeziehungen thematisiert, bevor in einem dritten Schritt der Fokus auf die spanische Argumentation und ihr Scheitern während der Generalstände von 1593 gerichtet wird.
Vgl. Achim Landwehr, Historische Diskursanalyse, Frankfurt 2008, S. 18 – 22; Ders., Diskurs und Wandel, in: Ders. (Hg.), Diskursiver Wandel, Wiesbaden 2010, S. 11– 28. Sicherheitsdiskurse – wie beispielsweise der zentrale Diskurs über die „ruine d’estat“ als Bezugsrahmen der spanischen Argumentation – konstituieren sich damit über die in ihrem Zentrum stehenden Referenzobjekte und die jeweils artikulierbaren Bedrohungsnarrative, die die Unsicherheit dieser Referenzobjekte kommunizieren. Zu diesem Themenkomplex bzw. zu diesem Verständnis von „Sicherheitsdiskurs“ ausführlich: Vgl. Christian Wenzel, „Ruine d’estat“. Sicherheit in den Debatten der Französischen Religionskriege, 1557– 1589, Heidelberg 2020, S. 48, Anm. 144. Zu dieser Frageperspektive, die im Folgenden spezifisch auf die Rolle von Geschichte als Sicherheitsargument zugespitzt wird: Vgl. unter anderem Alexander Demandt, Geschichte als Argument. Drei Formen politischen Zukunftsdenkens im Altertum, Konstanz 1977; Stefan Weinfurter u. Frank Martin Siefarth (Hg.), Geschichte als Argument. 41. Deutscher Historikertag in München, 17. bis 20. September 1996, Berichtsband, München 1997; Christoph Kampmann, Geschichte als Argument. Historische Mythen im Wandel des frühneuzeitlichen Staatensystems, in: ZHF 32. 2005, S. 199 – 220; Martin Wallraff (Hg.), Geschichte als Argument? Historiographie und Apologetik. Akten der Tagung der patristischen Arbeitsgemeinschaft, Basel, 2. – 5.1. 2013, Leuven 2015.
140
Christian Wenzel
1 Die Sukzessionskrise als Kollision von Vergangenheitsdeutungen Die Perspektive einer Sukzessionskrise der Frankreich seit 1328 regierenden Dynastie Valois schien Anfang der 1580er Jahre trotz der Kinderlosigkeit Heinrichs III. keineswegs eine akute zu sein: Zwar war die Möglichkeit, dass Heinrich III. selbst noch für einen legitimen Thronfolger sorgen würde, nicht völlig ausgeschlossen, erschien den Zeitgenossinnen und Zeitgenossen aufgrund der Gerüchte über die angebliche Homosexualität des Königs aber als unwahrscheinlich.⁹ Entsprechend deutete alles darauf hin, dass François d’Alençon, der jüngere Bruder Heinrichs III., eines Tages König von Frankreich werden würde. Dieser war allerdings ebenfalls kinderlos und noch unverheiratet, nachdem Eheverhandlungen mit Elisabeth I. von England gescheitert waren.¹⁰ Durch den plötzlichen Tod François d’Alençons am 10. Juni 1584 zeichnete sich also ein Sukzessionsproblem ab: Mit dem Tod Heinrichs III. würde die Dynastie der Valois enden, was die Frage aufwarf, wer nun legitimer Anwärter auf den französischen Thron war.¹¹ Die Antwort auf diese Frage war so komplex wie umstritten und hing von jeweils spezifisch katholischen beziehungsweise hugenottischen Deutungen der französischen Vergangenheit ab:¹² Auf der einen Seite stand die Überzeugung, Thronfolger sei der nächste männliche Verwandte des regierenden Königs unter Ausschluss weiblicher Erbansprüche – eine im 14. Jahrhundert entwickelte und seit Mitte des 15. Jahrhunderts popularisierte Vorstellung, die als loi salique gefasst
Zu diesem Bild Heinrichs III.: Vgl. Katherine B. Crawford, Love, Sodomy, and Scandal. Controlling the Sexual Reputation of Henry III, in: Journal of the History of Sexuality 12/4. 2003, S. 513 – 542; Martin Wrede, Einleitung. Die Inszenierung der mehr oder weniger heroischen Monarchie. Zu Rittern und Feldherren, Kriegsherren und Schauspielern, in: Ders. (Hg.), Die Inszenierung der heroischen Monarchie. Frühneuzeitliches Königtum zwischen ritterlichem Erbe und militärischer Herausforderung, München 2014, S. 8 – 39, hier S. 23 f. Vgl. Mack P. Holt, The Duke of Anjou and the Politique Struggle during the Wars of Religion, Cambridge 1986. Aus zeitgenössischer Perspektive exemplarisch: Coppy of a Letter to Mr. Secretary, by Large, the Post, 21 June 1584, in: William Murdin (Hg.), A Collection of State Papers relating to Affairs in the Reign of Queen Elizabeth, from the Year 1571 to 1596, London 1759, S. 410. Vgl. zum Folgenden: Lucien Bély, La société des princes, XVIe–XVIIIe siècle, Paris 1999, S. 214– 232; Frédéric J. Baumgartner, The Case for Charles X, in: The Sixteenth Century Journal 4/2. 1973, S. 87– 98; Ralph E. Giesey, The Juristic Basis of Dynastic Right to the French Throne, in: Transactions of the American Philosophical Society, New Series, 57/5. 1961, S. 3 – 47.
Geschichte als Argument in den französisch-spanischen Außenbeziehungen
141
und in die Debatte eingespeist wurde.¹³ Dieser Lesart zufolge war Heinrich von Navarra legitimer Anwärter auf den Thron, weshalb vor allem hugenottische Stimmen den Primat des loi salique vertraten.¹⁴ Auf der anderen Seite stand die Überzeugung, das französische Königtum definiere sich seit seinen Anfängen vor allem über den Katholizismus des Monarchen, dem eine besondere sakrale Bedeutung zugemessen wurde und dessen Krönungseid ihn zur Verteidigung des Katholizismus verpflichtete.¹⁵ Dieser Lesart zufolge, die von katholischer Seite multipliziert wurde, war Heinrich von Navarra als Hugenotte von der Sukzession ausgeschlossen und Charles de Bourbon, Kardinal von Vendôme, der legitime Thronfolger.¹⁶ Bislang waren diese beiden aus der französischen Vergangenheit abgeleiteten Prinzipien, die sich sukzessive zu Fundamentalgesetzen Frankreichs entwickelten,¹⁷ komplementär zur Anwendung gekommen. Nach 1584 gerieten sie in Konflikt und wurden zum Gegenstand einer kontroversen öffentlichen Debatte, die rasch an Dynamik gewann. Diese Auseinandersetzung beruhte ganz wesentlich auf der Funktionalisierung von Vergangenheit, die entweder die Gültigkeit des loi salique oder aber den Primat des Katholizismus beweisen sollte und zu diesem Zweck Zeiträume vom Alten Testament bis hin zur jüngsten Zeitgeschichte heranzog.¹⁸
Der französischen Bezeichnung loi salique wird hier bewusst der Vorzug vor Alternativen wie „Lex Salica“ oder „Salisches Recht“ gegeben, um der im 15. und 16. Jahrhundert in Frankreich bestehenden Vorstellung gerecht zu werden, hier handele es sich um eine spezifisch französische, Anfang des 14. Jahrhunderts entwickelte Lesart dieser bereits deutlich länger existierenden und unterschiedlich interpretierten Norm: Vgl. Elie Barnavi, Mythes et réalité historique. Le cas de la loi salique, in: Histoire, économie & société 3/3. 1984, S. 323 – 337. Vgl. Bély, Société, S. 214– 232; Holt, French Wars, S. 123 – 124; Arlette Jouanna, La France du XVIe siècle, 1483 – 1598, Paris 22012, S. 573. Eine detaillierte Auseinandersetzung mit den hugenottischen Argumentationslinien zur Sukzessionsfrage bietet Hugues Daussy, Les huguenots et le roi. Le combat politique de Philippe Duplessis-Mornay (1572– 1600), Genf 2002, S. 259 – 271. Vgl. Jean Barbey, Être roi. Le roi et son gouvernement en France de Clovis à Louis XVI, Paris 1992; Patrick Demouy, Le Sacre du Roi. Histoire, Symbolique, Cérémonial, Paris 2016; Ralph Giesey, Inaugural Aspects of French Royal Ceremonials, in: Ders. (Hg.), Rulership in France, 15th – 17th centuries, Burlington 2004. Zur Begründung dieser Ansprüche: Vgl. Baumgartner, Case, passim. Vgl. Harro Höpfl, Fundamental Law and the Constitution in Sixteenth-Century France, in: Roman Schnur (Hg.), Die Rolle der Juristen bei der Entstehung des modernen Staats, Berlin 1986, S. 327– 356. Für einen Überblick über die Veröffentlichungen und zentralen Argumentationsstränge: Vgl. Frederic J. Baumgartner, Radical Reactionaries. The Political Thought of the French Catholic League, Genf 1975; Denis Pallier, Recherches sur l’imprimierie à Paris pendant la Ligue, 1585 – 1594, Genf 1975.
142
Christian Wenzel
Entscheidend, insbesondere für das Verständnis des spanischen Anknüpfens an diese Debatte, ist dabei die Art und Weise, wie Geschichte als Argument funktionalisiert wurde: Die Gegenwart wurde in Relation zu Deutungen der Vergangenheit gesetzt, um zu zeigen, inwiefern politisches Handeln entweder als Problem oder als Ressource von Sicherheit gewirkt hatte. Dazu konstruierten die Akteure kausallogische Analogieschlüsse, die die eigene Position als Maßnahme für ein Mehr an Sicherheit zu legitimieren schienen, während die gegnerische Position hingegen als existentielles Sicherheitsproblem dargestellt wurde. Das übergeordnete Referenzobjekt dieser Bedrohungskommunikation war der Staat als appellative Zielkategorie politischer Kommunikation. Neben diesem dominierenden Diskurs über die drohende „ruine d’estat“¹⁹ standen zudem das individuelle Seelenheil oder der Fortbestand der eigenen Konfession zur Disposition. Die Sukzessionsdebatte war damit eine entscheidende Eskalationsstufe der Sicherheitsdebatte, die Frankreich und den Verlauf der Französischen Religionskriege seit Ende der 1550er Jahre entscheidend geprägt hatte und in der diese Funktionalisierung von Vergangenheit als Sicherheitsargument eine zentrale Rolle spielte.
2 Die Sukzessionskrise als Gegenstand französisch-spanischer Außenbeziehungen Die Kollision dieser unterschiedlichen Deutungen der französischen Vergangenheit und damit auch der Antworten auf die Sukzessionsfrage führte zur Veränderung der politischen Konstellation der Konfliktparteien innerhalb Frankreichs. Als Reaktion auf die Ansprüche Heinrichs von Navarra formierte sich 1584 die Heilige Liga unter der Führung Henri de Guises, um – so das zentrale Argument – die Bedrohung für Staat, Kirche und Seelenheil abzuwenden.²⁰ 1576 war es Heinrich III. noch gelungen, die nach dem von katholischer Seite als zu tolerant empfundenen Edikt von Beaulieu entstehende „Liga von Péronne“ durch de-
Vgl. Wenzel, „Ruine d’estat“. Zur Entstehung der Liga: Vgl. Stuart Carroll, Noble Power during the French Wars of Religion. The Guise Affinity and the Catholic Cause in Normandy, Cambridge 2005; Constant, La Ligue, S. 112– 116; Holt, French Wars, S. 123 – 126; Mark W. Konnert, Local Politics in the French Wars of Religion. The Towns of Champagne, the Duc de Guise, and the Catholic League, 1560 – 95, S. 161. Ihre Selbstdarstellung zeigt sich anschaulich in der Delcaration [sic] des causes qui ont meu monseigneur le cardinal de Bourbon, & les princes, pairs, prelats, seigneurs, villes, & communautez catholiques de ce royaume de France, de s’opposer à ceux qui veulent subvertir la religion, & l’estat, Reims 1584.
Geschichte als Argument in den französisch-spanischen Außenbeziehungen
143
monstrativ pro-katholisches Handeln einzufangen²¹ – eine Strategie, die 1584 scheiterte. Damit etablierte sich die Heilige Liga als gleichermaßen gegen die Hugenotten wie die Krone arbeitender Akteur unter Führung de Guises. Entscheidend für die ersten Erfolge der Liga war dabei, neben der breiten Akzeptanz ihrer Forderungen in urbanen katholischen Milieus,²² die Unterstützung durch Philipp II. von Spanien, der seit Ende der 1550er Jahre ein zentraler Akteur in den französisch-spanischen Außenbeziehungen war.²³ Anfang April 1559 hatte der Friedensvertrag von Cateau-Cambrésis den seit 1557 geführten Krieg zwischen Philipp II. und Heinrich II. beendet, der mit der für Frankreich katastrophalen Niederlage von Saint-Quentin 1557 zum Auslöser der Sicherheitsdebatte in Frankreich geworden war.²⁴ Mit diesem Friedensvertrag schien sich eine Normalisierung im französisch-spanischen Verhältnis anzudeuten: Zum einen heiratete Philipp II. Elisabeth von Valois, die Tochter Heinrichs II., zum anderen betonten beide Monarchen ihre Absicht zur gemeinsamen Repression reformatorischer Bewegungen.²⁵ Über diese definierte sich nicht nur Heinrich II. als roi très-chrétien und Vertreter des Gallikanismus,²⁶ sondern auch
Vgl. Constant, La Ligue, S. 70 – 76; Mark Greengrass, Governing Passions. Peace and Reform in the French Kingdom, 1576 – 1585, Oxford 2007, S. 70 – 83; Holt, French Wars, S. 106 – 109. Zum Edikt von Beaulieu: Vgl. Mark Greengrass, Pluralism and Equality. The Peace of Monsieur, May 1576, in: Keith Cameron u. a. (Hg.), The Adventure of Religious Pluralism in Early Modern France, Oxford 2000, S. 15 – 30. Zu den dahinterstehenden, endzeitlichen Erwartungen Anfang der 1580er Jahre, die die Sukzessionskrise aus katholischer Perspektive zum Sicherheitsproblem auch in eschatologischer Hinsicht machten: Vgl. Denis Crouzet, Recherches sur les processions blanches, 1583 – 1584, in: Histoire, Économie, Société 1/4. 1982, S. 511– 563; Ders., Les guerriers de dieu. La violence au temps des troubles de réligion (vers 1525–vers 1610), Bd. 2, Paris 1990, S. 287– 310. In verflechtungshistorischer Perspektive, mit Schwerpunkt auf den 1560er und 1570er Jahren: Vgl. Olivia Carpi, Les guerres de Religion (1559 – 1598). Un conflit franco-français, Paris 2012. Zu Cateau-Cambrésis:Vgl. Bertrand Haan, Une paix pour l’éternité. La négociation du traité du Cateau-Cambrésis, Madrid 2010. Zum Beginn der Sicherheitsdebatte: Vgl. Christian Wenzel, Der städtische Raum und die bedrohte Sicherheit. Paris am Vorabend der französischen Religionskriege des 16. Jahrhunderts, in: Horst Carl u. a. (Hg.), Sicherheitsprobleme im 16. und 17. Jahrhundert – Bedrohungen, Konzepte, Ambivalenzen, Baden-Baden 2019, S. 141– 169. Traité de Paix entre Henri II. Roi de France, & Filippe II. Roi d’Espagne. A Câteau-Cambresis, le troisieme Avril 1559. après Pâques, in: Jean Dumont, Corps Universel Diplomatique du Droit des Gens, Bd. 5, Teil 1, Amsterdam 1743, S. 34– 41, Art. 1. Zur zeitgenössischen Kenntnis und Deutung: Vgl. Hugues Daussy, Le parti huguenot. Chronique d’une désillusion (1557– 1572), Genf 2014, S. 88 f. Vgl. Henri Morel, L’idée gallicane au temps des guerres de religion, Aix-en-Provence 2003; Marc Venard, Une réforme gallicane? Le projet de concile national de 1551, in: Revue d’histoire de l’Église de France 179. 1981, S. 201– 205; Ders., Le catholicisme à l’épreuve dans la France du XVIe siècle, Paris 2000.
144
Christian Wenzel
Philipp II. als rey católico, was die spanische, gegenreformatorische Außenpolitik in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts maßgeblich prägte.²⁷ Durch diese konfessionelle Fokussierung wurden die Guise als katholische Führungsdynastie Frankreichs zum Anknüpfungspunkt für spanische Außenbeziehungen, als sich die durch die plötzlichen Tode Heinrichs II. und Franz’ II. sowie die Minderjährigkeit Karls IX. geschwächte Krone Frankreichs zur Toleranzpolitik gegenüber den Hugenotten gezwungen sah.²⁸ Bereits Anfang der 1560er Jahre etablierten sich daher enge Kontakte zwischen Thomas Perrenot de Granvelle, dem Botschafter Philipps II. in Frankreich, und den Guise, die in Opposition zum hugenottischen Adel standen.²⁹ Parallel dazu versuchte Philipp II. – angesichts der calvinistischen Strömungen in den Spanischen Niederlanden –, die französische Krone zu einem gemeinsamen Vorgehen gegen die Reformation zu bewegen, wie etwa während der Konferenz von Bayonne 1565.³⁰ Da die Krone ein solches Bündnis mit Blick auf die innerfranzösische Situation ablehnte, gewannen die Beziehungen zwischen Philipp II. und den Guise in den 1570er Jahren weiter an Bedeutung, insbesondere nachdem die Formierung der kurzlebigen „Liga von Péronne“ 1576/77 die kritische Haltung adeliger und urbaner katholischer Milieus zur toleranten Politik Heinrichs III. gezeigt hatte.³¹ Entsprechend Vgl. Randall Lesaffer, Between Faith and Empire. The Justification of the Spanish Intervention in the French Wars of Religion in the 1590s, in: Martii Koskenniemi u. a. (Hg.), International Law and Empire. Historical Explorations, Oxford 2017, S. 101– 122. Vgl. Le Roux, Les guerres de religion, S. 45 – 59; Jouanna, La France du XVIe siècle, S. 361– 374; Holt, French Wars, S. 45 – 49. Zu den Beziehungen zwischen den Guise und Philipp II.: Vgl. im Überblick nach wie vor Joseph de Croze, Les Guises, les Valois et Philippe II, 2 Bde., Paris 1866. Auf die insgesamt sechs spanischen Botschafter in Frankreich zwischen 1559 und 1598 konzentriert sich Gustave Baguenault de Puchesse, La politique de Philippe II dans les affaires de France, 1559 – 1598, in: Revue des questions historiques 13. 1879, S. 5 – 66. Zur Kontaktaufnahme Anfang der 1560er Jahre: Vgl. Henry Kamen, Philip of Spain, New Haven 1997, S. 92 f.; Jensen, Diplomacy and Dogmatism, S. 51; Éric Durot, François de Lorraine, duc de Guise entre Dieu et le Roi, Paris 2012, S. 561– 564. Zum Aufstieg insbesondere François de Guises zum „protecteur catholique“: Ebd., S. 627– 724. Zur Rolle der Guise im Frankreich der Religionskriege allgemein: Vgl. Jean-Marie Constant, Les Guise, Paris 1984; Stuart Carroll, Martyrs and Murderers. The Guise Family and the Making of Europe, Oxford 2011. Zum Verlauf dieser Gespräche und zu den Hintergründen: Vgl. ausführlich Joseph Kervyn de Lettenhove, La conference de Bayonne, in: Bulletin de l’Académie royale de Belgique 5. 1883, S. 286 – 311; Hector de la Ferrière, L’entrevue de Bayonne, in: Revue des questions historiques 34. 1883, S. 457– 482; Bernerd C. Weber, The Conference of Bayonne, 1565. An Episode in FrancoSpanish Diplomacy, in: Journal of Modern History 11. 1939, S. 1– 22; John M. Potter, The Conference at Bayonne, 1565, in: The American Historical Review 35/4. 1930, S. 798 – 810. Vgl. Constant, La Ligue, S. 70 – 76, Greengrass, Governing Passions, S. 70 – 83; Holt, French Wars, S. 106 – 109. Auch zu weiteren einflussreichen Akteuren aus dem katholischen Spektrum
Geschichte als Argument in den französisch-spanischen Außenbeziehungen
145
passfähig schien 1584 ein Bündnis zwischen Philipp II. und der Heiligen Liga.³² Der spanische König entsandte daher Bernardino de Mendoza als neuen Botschafter nach Frankreich, der im Oktober 1584 im bereits stark durch ligistische Strömungen geprägten Paris eintraf.³³ Am 31. Dezember 1584 schlossen Philipp II. und die Heilige Liga schließlich den Geheimvertrag von Joinville: Philipp II. verpflichtete sich zur finanziellen und militärischen Unterstützung der Liga im Kampf gegen die Ansprüche Heinrichs von Navarra und gegen die Hugenotten.³⁴ Damit wurde die französische Sukzessionskrise zum Gegenstand französisch-spanischer Außenbeziehungen, was die außenpolitische Dimension der Französischen Religionskriege insgesamt weiter verkomplizierte: Schon in den 1560er Jahren hatten die Hugenotten Bündnisse mit der englischen Krone und den protestantischen Reichsfürsten geschlossen.³⁵ Mit der Heiligen Liga entstand nun ein weiterer Akteur, der parallel und im Konflikt mit der französischen Krone Außenbeziehungen unterhielt.³⁶
wie etwa Henri de Montmorency intensivierte Philipp II. die Kontakte: Vgl. Joan Davies, Neither Politique nor Patriot? Henri, Duc de Montmorency and Philip II, 1582– 1589, in: The Historical Journal 34/3. 1991, S. 539 – 566. Vgl. Per Olof de Törne, Philippe II et Henri de Guise. Le début de leurs relations (1578), in: Revue Historique 167 (1931), S. 323 – 335; Kamen, Philipp of Spain, S. 252– 253. Vgl. Jensen, Diplomacy and Dogmatism, S. 57– 72; Baguenault de Puchesse, La politique de Philippe II., S. 30 – 32. Zum ligistischen Paris, mit dem Höhepunkt des Tages der Barrikaden 1588: Vgl. Élie Barnavi, Le parti de Dieu. Étude sociale et politique des chefs de la Ligue parisienne, 1585 – 1594, Paris 1980; Stuart Carroll, The Revolt of Paris, 1588. Aristocratic Insurgency and the Mobilization of Popular Support, in: French Historical Studies 23/2. 2000, S. 301– 337; Denis Richet, Les barricades à Paris le 12 mai 1588, in: Annales. Économies, sociétés, civilisations 45. 1990, S. 383 – 395. Traité fait entre Philippe II. Roi d’Espagne, & la Ligue de France, au préjudice de la Maison Roiale, 31. Dezember 1584, in: Dumont, Corps Universel Diplomatique, S. 441– 443. Zu den Vertragsverhandungen: Vgl. Jensen, Diplomacy and Dogmatism, S. 53 – 55; Constant, La Ligue, S. 114– 115; Holt, French Wars, S. 122; Serge Brunet, Philippe II et la Ligue parisienne (1588), in: Revue Historique 656/4. 2010, S. 795 – 844, hier S. 799 f.; Nicola M. Sutherland, Henri IV of France and the Politics of Religion, 1572– 1596, Bd. 1, Bristol 2002, S. 84. Im Überblick: Vgl. Daussy, Le parti huguenot, S. 387– 467. Dazu pointiert: Baguenault de Puchesse, La politique de Philippe II., S. 36.
146
Christian Wenzel
3 Geschichte als (Sicherheits‐)Argument: Die Debatte in den Generalständen von 1593 und das Scheitern der spanischen Initiative Philipp II. verfolgte mit der gegen Heinrich von Navarra gerichteten Unterstützung der Heiligen Liga nicht nur konfessionelle, sondern auch dynastische Interessen. Während die Liga zunächst für den Thronanspruch Charles de Bourbons argumentierte,³⁷ sah Philipp II. parallel dazu auch seine Tochter Isabella Klara Eugenia als legitime Anwärterin auf den französischen Thron. Diesem Anspruch stand freilich das loi salique französischer Deutung gegenüber, das Frauen von der Thronfolge ausschloss. Entsprechend richteten sich die spanischen Versuche, den Erbanspruch der Infantin durchzusetzen, gegen diese spezifisch französische Geschichtsdeutung.³⁸ Bereits 1566 hatte Philipp II. erste Ansprüche auf die französische Krone angemeldet und die Rechtmäßigkeit der Valois-Herrschaft mit Blick auf eine eigene, spezifisch spanische Deutung der französischen Geschichte insgesamt angezweifelt. Während eines Abendessens am spanischen Hof äußerte Juan Manrique de Lara, ein enger Ratgeber Philipps II.,³⁹ gegenüber der aus Frankreich stammenden Königin Elisabeth von Valois, que le Royaume de France apartient mieulx au Roy Catholique que au roy qui le tient, prenant son dire sur ce que une fille du roy Loys surnommé Hutin fut maryée au duc Othon de Bourgoigne, pour priver laquelle de la succession dud. Roy, son père, les François forgèrent la loy salique.⁴⁰
Schon zu diesem Zeitpunkt formulierte man auf spanischer Seite also das Argument, das loi salique sei eine französische Fälschung gewesen, um Frauen widerrechtlich von der Thronfolge in Frankreich auszuschließen – eine spanische
Vgl. Baumgartner, Case und Brunet, Philippe II et la Ligue parisienne, S. 804. Über den engen Zeitrahmen der Sukzessionskrise hinaus und mit Blick auf bereits in den 1560er Jahren entwickelte Vorstellungen spanischer Ansprüche auf Frankreich und Burgund: Vgl. Mousset, Les droits. Vgl. Oswald Bauer, Zeitungen vor der Zeitung. Die Fuggerzeitungen (1588 – 1605) und das frühmoderne Nachrichtensystem, Berlin 2011, S. 156, Anm. 31. Brief des französischen Botschafters in Spanien, Fourquevault, an Katharina von Medici, Madrid, 11. Februar 1566, in: Célestin Douais (Hg.), Dépêches de M. de Fourquevaux, Ambassadeur du Roi Charles IX en Espagne 1565 – 1572, Bd. 1, Paris 1896, Nr. 20, S. 53 – 54. Vgl. Mousset, Droits, S. 48.
Geschichte als Argument in den französisch-spanischen Außenbeziehungen
147
Deutung der französischen Geschichte, die Letztere als falsch zu entlarven suchte. Daran knüpfte Philipp II. nach 1584 an und beauftragte mehrere Gutachter damit, historische Beweise dafür zu suchen, dass das loi salique in der Form, wie es die Ansprüche der Infantin auszuschließen schien, nicht haltbar sei. Auf der Basis umfangreicher Bezüge zu biblischen, antiken, mittelalterlichen und zeitgenössischen Beispielen schienen diese Gutachten die spanische Position zu stützen und den Erbanspruch Isabella Klara Eugenias zu belegen.⁴¹ Nach der Ermordung Heinrichs III. am 2. August 1589 rief die Heilige Liga zunächst Charles de Bourbon als Karl X. zum französischen König aus, der allerdings bereits am 9. Mai 1590 starb.⁴² Da Heinrich von Navarra sowohl auf seinen Thronanspruch wie auf sein Bekenntnis zum Calvinismus beharrte, drängte der spanische Botschafter in Paris, Bernardino de Mendoza, die ligistische Führung um Charles II. de Guise zur Einberufung der Generalstände.⁴³ Aus spanischer Sicht schien der Weg für die Ansprüche der Infantin frei zu sein, die – bereits historisch „bewiesen“ – nun durch die Wahl durch die Generalstände auch auf eine konstitutionelle Ebene gestellt werden sollten.⁴⁴ Zu diesem Zweck instruierte Philipp II. den Gesandten Inigo de Mendoza,⁴⁵ vor den Generalständen für die Fehlerhaftigkeit der französischen und die Richtigkeit der spanischen Geschichtsdeutung zu argumentieren, um diese so zur Wahl der Infantin zu bewegen.⁴⁶ Am 28. Mai 1593 trat Mendoza vor die Generalstände und zeigte anhand eines genealogisch-zeitgeschichtlichen Beweises zunächst, weshalb die Infantin aus
Eine ausführliche Zusammenfassung der Gutachten findet sich bei Mousset, Droits. Vgl. Holt, French Wars, S. 139 – 141; Jouanna, La France du XVIe siècle, S. 601 f. Vgl. Jensen, Diplomacy and Dogma, S. 171– 189. Hier knüpfte die spanische Seite an bereits ältere und im Kontext hugenottischer monarchomachischer Ideen der 1570er Jahre verstärkt formulierte Vorstellungen an, die in Frankreich eine Wahlmonarchie sahen: Vgl. Drouzet, Mayenne, S. 185 – 187; Paul-Alexis Mellet, Les traités monarchomaques. Confusion des temps, résistance armée et monarchie parfaite (1560 – 1600), Genf 2007, S. 107 f. Zur Person und Instruktion: Vgl. Baguenault de Puchesse, La politique de Philippe II., S. 55 – 56. Inigo de Mendoza ist nicht zu verwechseln mit dem Botschafter Bernardino de Mendoza, der Paris Ende 1592 verlassen hatte. Discours sur les prétensions de l’Infante d’Espagne à la Couronne de France, prononcé devant l’assemblée des États Généraux, le 29 mai 1593, par Don Inigo de Mendoza, in: Bernard, Procèsverbaux, S. 704– 724. Eine kurze Synopse der lateinischen Rede in französischer Sprache bietet Première Proposition des Espagnols, in: Bernard, Procès-verbaux, S. 211– 214. Parallel dazu versuchte mit Lorenzo Suárez de Figueroa ein weiterer Gesandter Philipps II., durch Verweis auf das spanische Engagement für die Liga die Wahl der Königin durchzusetzen. Dazu: Pierre de L’Estoile, Journal du règne de Henri IV, Bd. 2: 1592– 1594, hg.von Xavier Le Person, Genf 2014, S. 109; Drouot, Mayenne, Bd. 2, S. 250.
148
Christian Wenzel
der Perspektive Philipps II. überhaupt einen Anspruch auf den französischen Thron anmelden konnte. Er griff auf den Friedensvertrag von Cateau-Cambrésis und die Ehe zwischen Philipp II. und Elisabeth von Valois zurück und argumentierte, dass die Infantin als Enkelin Heinrichs II. legitime Erbansprüche habe: [I]l pleust à Dieu lui donner de la feue royne Isabeau sa femme, fille aisnée du feu roy Henry second, de heureuse memoire, madame l’infante dona Isaballe sa fille aisnée; il n’a pleu Dieu de conserver en estre aucune legitime heritier masle dudict roy Henry, et par ainsi il est tout clair que, selon droicts de nature, divin et commun, madame l’infante est legitime royne de ce royaume.⁴⁷
Dieser Erbanspruch konnte freilich nur dann auch Validität und Akzeptanz beanspruchen, wenn sich die Generalstände zur Abkehr vom loi salique bewegen ließen.⁴⁸ Diesem Problem widmete sich Mendoza deshalb am nächsten Tag im Rahmen einer umfangreichen und ausführlichen Analyse der französischen Geschichte und griff dabei den argumentativen Modus auf, der die Sukzessionsdebatte in Frankreich wesentlich geprägt hatte: Die Funktionalisierung von Vergangenheit als Sicherheitsargument, das eine existentielle Bedrohung für den Fortbestand des Gemeinwesens kommunizierte. Mendoza konzentrierte sich auf fünf konkrete Fälle, die er auf den Zeitraum „ab anno 1316 usque ad 1518“ datierte und die er in einen argumentativen Mechanismus einbettete, der mit Blick auf die etablierte Funktionalisierung von Vergangenheit als Sicherheitsargument diskursive Anschlussfähigkeit beanspruchen sollte: Er verwies auf Situationen, in denen Frauen in Frankreich von der Erbfolge ausgeschlossen worden seien, nämlich erstens 1316 unter Ludwig X., zweitens 1321 unter Philipp V., drittens 1328 unter Philipp VI., viertens 1494 unter Ludwig XII. und fünftens 1516 unter Franz I.⁴⁹ Die jeweilige Argumentation, die Mendoza auf dieser Grundlage entfaltete, beruhte auf einer einfachen Kausallogik und lässt sich am anschaulichsten anhand des zweiten und dritten Beispiels nachvollziehen, wo Mendoza die französische Erbfolgeregelung als Ursache des Hundertjährigen Kriegs darstellte: Frauen seien durch das loi salique widerrechtlich von der Erbfolge ausgeschlossen worden, was zunächst zu Unklarheiten und Unstimmigkeiten hinsichtlich der Thronfolge und schließlich zum Krieg mit
Première Proposition des Espagnols, in: Bernard, Procès-verbaux, S. 213. Siehe dazu auch die zeitgenössische Beschreibung des öffentlich bekannten spanischen Drängens auf die „abolition de la loy salique“ bei L’Estoile, Journal, S. 116. Discours sur les prétensions de l’Infante d’Espagne à la Couronne de France, prononcé devant l’assemblée des États Généraux, le 29 mai 1593, par Don Inigo de Mendoza, in: Bernard, Procèsverbaux, S. 716 – 719.
Geschichte als Argument in den französisch-spanischen Außenbeziehungen
149
England geführt habe – ein existentielles Sicherheitsproblem für den Fortbestand Frankreichs.⁵⁰ Diese Funktionalisierung von Ereignissen aus dem 14. Jahrhundert zielte also auf die Markierung des loi salique als Sicherheitsproblem für den Fortbestand des französischen Gemeinwesens in der Logik der „ruine d’estat“-Rhetorik ab. Im Umkehrschluss war das für die Einberufung der Stände formulierte Ziel, die Sicherheit Frankreichs zu gewährleisten, nur durch die Wahl der Infantin möglich, um die aus den vorherigen Jahrhunderten scheinbar hinlänglich bekannten und bedrohlichen Folgen des loi salique nicht erneut zu wiederholen.⁵¹ Diesen grundsätzlichen Impetus von Mendozas Bezugnahmen auf Vergangenheit fasste auch das Protokoll der Sitzung zusammen: Die spanische Seite habe „plusieurs passages et authoritez de la Saincte Escripture et de droict civil, en encores plusieurs histoiries et exemples en faveur des femmes“ zitiert und so versucht zu belegen, „qu’il y a eu plusieurs royaumes regis par les femmes […] sagement et heuresement gouvernez“. Die suggerierte Schlussfolgerung war eindeutig: „[Il] n’y a difficulté aucune qu’elle [die Infantin, C. W.] ne doive ester incontinent declare royne absolue de France“.⁵² Während diese Argumentation insbesondere im radikalen katholischen Spektrum also durchaus auf Zustimmung traf, regte sich doch auch massiver Widerstand gegen die Perspektive der Infantin als Königin, der ebenfalls Ereignisse der französischen Vergangenheit als Sicherheitsargument verwendete, um – und das zeigt die Polyvalenz dieser Funktionalisierung – das exakte Gegenteil der spanischen Argumentation zu beweisen. Kritische Stimmen, wie beispielsweise der président des parlement von Paris, Jean Le Maistre, griffen auf einen Zeitraum zurück, der sich vom Frühmittelalter bis zur Zeitgeschichte des 1570er Jahre erstreckte, und unterbreiteten eine ebenfalls auf konkrete Fallbeispiele gestützte Deutung der französischen Vergangenheit, wonach gerade weibliche Herrschaft massive Sicherheitsprobleme für den Staat mit sich gebracht habe: [L]es François […] ne fussent contraints de se soumettre à la domination des femmes; le gouvernement desquelles, losque’elles ont eu le maniement de l’estat […] avoient toujours esté funestes à la France et excité plusieurs seditions et guerres civiles en icelle: comme le gouvernement de la veuve Fredegonde, veuve du roy Chilperic Ier; comme le gouvernement de
Ebd., S. 717. Entsprechend wurde im unmittelbaren Nachgang des spanischen Vorschlags in den Beratungen des dritten Stands noch einmal deutlich die Existentialität der zur Debatte stehenden Frage betont: „[D]e la resolution que l’on prendra deppend la seureté ou ruine de la religion, nonseulement en ce royaume, mais par toute la chrestienté, ou conservation du plus grand et noble royaume du monde, l’heur ou malheur de la posterité“: Bernard, Procès-verbaux, S. 284. Bernard, Procès-verbaux, S. 618 f.
150
Christian Wenzel
la reine Brunechilde, veuve du feu roy Sigebert; le gouvernement de la reine Judith, femme du roy Louis le Piteux; le gouvernement de la reine Blanche, mère du roy sainct Louis, Espagnole de nation, et le dernier gouvernement de la feue reine Catherine de Médicis. Tous lesquels gouvernemens avoient excité de merveilleuses tragedies et causé plusieurs guerres civiles en ce royaume.⁵³
Anschaulich zeigt sich damit die Akteursabhängigkeit der Vergangenheitsrekurse: Aus dem gleichen Reservoir geschöpfte Ereignisse wurden dazu verwendet, sowohl für als auch gegen die Wahl der Infantin zu argumentieren und dabei Fragen von Sicherheit und Unsicherheit in den Mittelpunkt zu stellen. Dabei wurde nicht die Faktizität der angeführten historischen Beispiele in Frage gestellt, sondern die aus ihnen resultierenden Schlussfolgerungen, die zum Gegenstand kollidierender und sich letztlich ausschließender Interpretationen wurden. Schließlich kam es bekanntlich nicht zur Wahl der Infantin durch die Generalstände. Auch die alternative Überlegung, sie durch die Heirat mit einem hochstehenden französischen Adeligen zur Königin zu machen, fand keine Zustimmung.⁵⁴ Vor allem die Konversion Heinrichs von Navarra im Juni 1593 muss dafür in Rechnung gestellt werden, die der ligistischen Position ganz wesentlich die Grundlage entzog.⁵⁵ Zudem spielten auch antihabsburgische Ressentiments eine Rolle,⁵⁶ was auch für das Überwiegen kritischer Stimmen im größeren Kontext der „Querelles des Femmes“ gilt, die weibliche Herrschaft mit Blick auf vermeintlich spezifische charakterliche Merkmale von Königinnen und mögliche Erbfolgeprobleme generell ablehnten.⁵⁷ Das Scheitern des spanischen Versuchs, die Infantin zur französischen Königin wählen zu lassen, kann also nur zum Teil
Recit fait à la cour par Monsieur le Président le Maistre, des Remonstrances par luy faictes, de la part de ladicte cour, au sieur de Mayenne, in: Bernard, Procès-verbal, S. 742– 748, hier S. 743 f. L’Estoile, Journal, S. 137. Zur Konversion Heinrichs IV.: Vgl. Michael Wolfe, The Conversion of Henri IV. Politics, Power, and Religious Belief in Early Modern France, Cambridge, MA 1993. Eine regionalgeschichtliche Mikroperspektive auf die Erosionsprozesse, die die Konversion innerhalb der Liga in Gang setzte, bietet Michel de Waele, Autorité, légitimité, fidélité. Le Languedoc ligueur et la reconnaissance d’Henri IV, in: Revue d’histoire moderne et contemporaine 53/2. 2006, S. 5 – 34. L’Estoile, Journal, S. 137. Zu den Ursprüngen: Vgl. Jonas van Tol, Germany and the French Wars of Religion, 1560 – 1572, Leiden 2019, S. 169 – 178. Vgl. Magdalena Drexl, Weiberfeinde – Weiberfreunde? Die Querelles des Femmes im Kontext konfessioneller Konflikte um 1600, Frankfurt 2006; Sarah Hanley, The Family, the State, and the Law in Seventeenth- and Eighteenth-Century France: The Political Ideology of Male Right versus an Early Theory of Natural Rights, in: The Journal of Modern History 78/2. 2006, S. 289 – 332; Dies., Mapping Rulership in the French Body Politic: Political Identity, Public Law and the King’s One Body, in: Historical Reflections/Réflexions Historiques 23/2. 1997, S. 129 – 149; Dies., The Monarchic State in Early Modern France, in: French Historical Studies 16. 1989, S. 4– 27.
Geschichte als Argument in den französisch-spanischen Außenbeziehungen
151
auf das Scheitern der argumentativen Strategie zurückgeführt werden, diese Wahl und damit die Abkehr vom loi salique als Sicherheitsressource im „ruine d’estat“Diskurs zu lokalisieren. Dennoch erscheint es lohnenswert, nach den Faktoren für das Scheitern dieser spezifischen Funktionalisierung von Vergangenheitsrekursen zu fragen. Es zeigt sich nämlich, dass das spanische Anknüpfen an den „ruine d’estat“-Diskurs offenbar selbst als Sicherheitsproblem und als Einmischung in eine dezidiert innerfranzösische Angelegenheit verstanden wurde. Sehr deutlich wird diese Rezeption in einer Rede des zu den gemäßigten politiques zählenden Guillaume du Vairs, der eine zentrale Rolle für die Bestätigung des loi salique spielte.⁵⁸ Du Vair lehnte die spanische Argumentation nicht nur in inhaltlicher Hinsicht ab, sondern kritisierte sie zudem als eine gezielte Fehlkonstruktion französischer Geschichte durch spanische Akteure und damit als eine von außen kommende Bedrohung für den Fortbestand des Gemeinwesens: „[L]es Estrangers […] avoient par artificieux pretextes & secretes meneées tasché les fondemens de ce Royaume, afin d’en pouvoir recueiller les ruines“.⁵⁹ Damit wird also eine Vorstellung vom Innen und Außen des Königreiches erkennbar, die die spanischen Vergangenheitsrekurse und ihre Funktionalisierung als Eingriff in eine fundamentale Frage des französischen Gemeinwesens identifizierte und ablehnte.
4 Fazit In den französisch-spanischen Außenbeziehungen während der Sukzessionskrise spielte Geschichte als Argument eine zentrale Rolle, wie der Längsschnitt durch die Entwicklung der 1580er und 1590er Jahre mit dem Höhepunkt der Generalstände von 1593 gezeigt hat. Die spanische Initiative, die Infantin zur französischen Königin wählen zu lassen, beruhte auf einer schon in den 1560er Jahren entwickelten Argumentation, die sich gegen das loi salique als spezifisch französische Geschichtsdeutung richtete und die einen spanischen Anspruch auf den
Zu Du Vair: Vgl. die Beiträge in Bruno Petey-Girard u. Alexandre Tarrête (Hg.), Guillaume du Vair. Parlementaire et écrivain (1556 – 1621), Genf 2001. Zu den politiques als gemäßigten katholischen Akteuren zwischen der Liga und den Hugenotten: Vgl. Holt, French Wars, S. 128 f.; Christopher Bettinson, The Politiques and the Politique Party. A Reappraisal, in: Keith Cameron (Hg.), From Valois to Bourbon. Dynasty, State, and Society in Early Modern France, Exeter 1989, S. 35 – 49. Rede du Vairs: Suasion de l’arrest donné au parlement, pour la manutention de la loy Salique, in: Guillaume du Vair, Les Œuvres de Messire Guillaume du Vair, evesque et comte de Lizieux, garde des seaux de France, Paris 1641, S. 601– 618. Ebd., S. 602.
152
Christian Wenzel
französischen Thron zu belegen schien. Diese Deutung der Vergangenheit wurde dann von den spanischen Stimmen vor den Generalständen in funktionaler Hinsicht in Relation zu dem auch die Sukzessionsdebatte dominierenden „ruine d’estat“-Diskurs gesetzt, was wiederum an die innerfranzösische Debattenlogik anknüpfte: Das loi salique schien Unsicherheit, die Wahl der Infantin dagegen Sicherheit für das französische Gemeinwesen zu bieten. Die spanisch-französischen Außenbeziehungen zwischen Philipp II. und der Heiligen Liga besaßen damit neben ihrer fiskalisch-militärischen auch eine diskursive Dimension, da die spanische Seite mit dem „ruine d’estat“-Diskurs gezielt den zentralen französischen Rahmen zur Legitimation auch außerhalb der Norm liegenden politischen Handelns aufgriff.⁶⁰ Am Scheitern dieser argumentativen Strategie zeigt sich die Akteursabhängigkeit dieser Funktionalisierung von Vergangenheit: Wenngleich die Faktizität der angeführten Beispiele nicht in Frage gestellt wurde, gerieten doch die aus ihnen gezogenen Schlussfolgerungen in die Kritik: Einerseits vermochte das inhaltliche Argument der spanischen Offerte nicht zu überzeugen, im loi salique ein Sicherheitsproblem zu sehen. Andererseits identifizierten kritische Stimmen das spanische Deutungsangebot als ein eben solches und verorteten es als eine Einmischung von außen in eine dezidiert als innerfranzösische Angelegenheit verstandene Debatte. Auf einer übergeordneten Ebene erschien das spanische Argumentieren mit französischer Geschichte damit also als Sicherheitsproblem in exakt dem Diskurs, an den Philipp II. anzuknüpfen versucht hatte. Das erscheint auch über diesen Kontext hinaus aufschlussreich: So problematisch Trennungen von „Innen“ und „Außen“ mit Blick auf frühneuzeitliche Außenbeziehungen nach wie vor erscheinen, so sehr zeigen sich hier doch durchaus entsprechende Vorstellungen, die die spanischen Argumente deutlich im „Außen“ einer zeitgenössischen Konstruktion von Frankreich verorteten, was zum Scheitern der spanischen Initiative beitrug.
Zu dieser generellen Funktion von Sicherheitsargumenten im Kontext von Versicherheitlichungsprozessen, außerhalb der Norm liegendes politisches Handeln durch den Verweis auf eine existentielle Sicherheitsproblematik zu legitimieren, die eben diese Normübertretungen nicht nur notwendig, sondern auch erlaubt machten: Vgl. für die Französischen Religionskriege Wenzel, „Ruine d’estat“, S. 469 – 481.
Eric Sangar
Die Fragmentation nationalstaatlicher kollektiver Erinnerung und ihre Auswirkung auf strategische Narrative: Legitimationsschwierigkeiten deutscher Außenpolitik seit dem Ende des Kalten Kriegs „Wir Politiker sollten also nicht der Versuchung der Gleichsetzung erliegen. Die Geschichte gibt uns keine Vorgaben für die Zukunft, sondern illustriert bestenfalls Handlungsoptionen.“¹ Mit diesen Worten beschrieb der damalige deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier seine Wahrnehmung des Verhältnisses zwischen Geschichte und politischer Praxis anlässlich der Eröffnung des 51. Deutschen Historikertages am 20. September 2016. Seine Feststellung mag für professionelle Historikerinnen und Historiker wenig überraschend sein, für Beobachterinnen und Beobachter der deutschen Außenpolitik jedoch umso mehr. Bedeuteten Steinmeiers Ausführungen etwa, dass die Idee einer direkten und eindeutigen Anwendbarkeit zentraler Lehren aus der nationalsozialistischen Vergangenheit, welche seit Adenauer die Einbettung der Bundesrepublik in die westliche Allianz unter Verzicht auf die Nutzung klassischer machtpolitischer Instrumente legitimiert hatten, für die deutsche Außenpolitik des 21. Jahrhunderts nicht mehr prioritär war? Reden von Vertreterinnen und Vertretern deutscher Außenpolitik mögen nicht zwangsläufig die objektive Realität deutscher Außenpolitik widerspiegeln.
Anmerkung: Dieser Aufsatz basiert in Teilen auf dem Konferenzbeitrag „Why Germany Cannot Do Grand Strategy: Memory and the Societal Bases for War“, präsentiert zusammen mit Thierry Balzacq auf der Jahresversammlung der „International Studies Association“ 2017 in Baltimore. Der Verfasser dankt Thierry Balzacq für seine freundliche Erlaubnis, Teile dieses Beitrags zu verwenden. Der Verfasser dankt außerdem Friedrich Kießling, Andreas N. Ludwig sowie Caroline Rothauge für die Einladung zur Tagung „Außenbeziehungen und Erinnerung“, in deren Rahmen dieser Aufsatz vorgestellt und diskutiert wurde. Caroline Rothauge sowie Friedrich Kießling sei außerdem gedankt für ihre detaillierte und konstruktive Kommentierung der ersten Fassung dieses Textes. Frank-Walter Steinmeier, Rede zur Eröffnung des 51. Deutschen Historikertages, 20.9. 2016, https://www.auswaertiges-amt.de/de/newsroom/160920-bm-historikertag/283542. https://doi.org/10.1515/9783110726442-012
154
Eric Sangar
Jedoch stellen diese zumindest Versuche dar, außenpolitische Orientierungen und Entscheidungen öffentlich zu legitimieren – auch wenn Letztere durchaus von kurzfristigen realpolitischen Interessen motiviert sein mögen. Vor dem Hintergrund der Beobachtung, dass in der Bundesrepublik zum Ende des Kalten Kriegs mit einer außenpolitischen „Praxis militärischer Selbstbeschränkung […] eine diskursive Praxis [korrespondierte], die in der Erinnerung an die Vergangenheit das Gebot der militärischen Selbstbeschränkung begründete und die politische Praxis legitimierte“,² erscheint daher die Frage berechtigt, warum Frank-Walter Steinmeier in seiner Rede nicht Lehren aus dem Nationalsozialismus in den Vordergrund stellte. In diesem Beitrag soll es nicht darum gehen zu hinterfragen, inwieweit die Lehren aus der nationalsozialistischen Vergangenheit mehr oder weniger handlungsleitende Wirkung auf die deutsche Außenpolitik entfalte(te)n.Vielmehr geht es darum zu analysieren, aufgrund welcher Faktoren öffentliche Verweise auf „eindeutige“ Lehren aus dem Nationalsozialismus in außenpolitischen Debatten weniger präsent sind. Dazu kombiniert der Beitrag das in der Außenpolitikanalyse etablierte theoretische Konzept der strategischen Narrative mit Erkenntnissen der Erinnerungssoziologie, die insbesondere in Deutschland und Frankreich in den letzten Jahren diskutiert worden sind.³ Obwohl sich besonders in der französischsprachigen Literatur die konzeptuelle Unterscheidung zwischen poids du passé (Vergangenheit und kollektive Erinnerung als Entscheidungszwänge) und choix du passé (Vergangenheit und kollektive Erinnerung als Legitimationsressourcen) etabliert hat,⁴ wurde bisher die Konzeptualisierung und empirische Analyse der Interaktion zwischen Dynamiken innerstaatlicher Erinnerungsdiskurse und außenpolitischer Legitimationsdiskurse vernachlässigt. Dieser Beitrag versucht, diese Lücke zu schließen und damit auch das Potenzial einer interdisziplinären Artikulation von soziologischen, historiographischen, und politikwissenschaftlichen Ansätzen hervorzuheben.
Michael Schwab-Trapp, Kriegsdiskurse: Die Politische Kultur des Krieges im Wandel 1991– 1999, Opladen 2002, S. 142. Alphons Silbermann u. Manfred Stoffers, Auschwitz, nie davon gehö rt? Erinnern und Vergessen in Deutschland, Berlin 2000; Harald Welzer, Sabine Moller u. Karoline Tschuggnall, Opa war kein Nazi: Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedä chtnis, Frankfurt 2015 [2002]; Johann Michel, Gouverner les mémoires. Les politiques mémorielles en France, Paris 2010; Pascal Blanchard u. Isabelle Veyrat-Masson (Hg.), Les guerres de mémoires, Paris 2008. Vgl. dazu insbesondere Valérie Rosoux, Les usages de la me´moire dans les relations internationales. Le recours au passe´ dans la politique étrangère de la France a` l’e´gard de l’Allemagne et de l’Alge´rie, de 1962 a` nos jours, Brüssel 2001; Marie-Claire Lavabre, Usages du passé, usages de la mémoire, in: Revue française de science politique 44/3. 1994, S. 480 – 493.
Die Fragmentation nationalstaatlicher kollektiver Erinnerung
155
Dazu sind zunächst einige Begriffsdefinitionen angebracht. Der Beitrag nutzt den Begriff des „Diskurses“ in seiner basalen Interpretation als sprachliche Sinneinheit, die zur Konstruktion sozialer Wirklichkeit beiträgt, gleichzeitig jedoch in einen konkreten historischen und sozialen Kontext eingebettet ist.⁵ Im Folgenden wird häufig der Begriff des „Erinnerungsdiskurses“ genutzt: Dieser bezieht sich auf einen speziellen Typ von Diskursen, in dem durch Bezug auf sprachliche Interpretationen der Vergangenheit soziale Repräsentationen der Gegenwart konstruiert werden. Solche Interpretationen der Vergangenheit können sehr unterschiedliche Formen annehmen, einschließlich eher implizite (beispielsweise chronologische Verweise, Analogien …).⁶ Dabei ist hervorzuheben, dass soziale oder kollektive Erinnerung im Sinne des Soziologen Maurice Halbwachs „als Metapher für auf Vergangenes bezogene Sinngebungen zu begreifen [ist], die Angehörige einer Gruppe im Zuge eines kollektiven Kommunikationsprozesses konstruieren“.⁷ Ein dritter zentraler Begriff dieses Beitrags ist derjenige des Narrativs: Auch ein Narrativ trägt zur sprachlichen Konstruktion der sozialen Wirklichkeit bei, tut dies jedoch in einer spezifischen Weise, nämlich mithilfe der sprachlichen Konstruktion einer Reihe von zeitlich und logisch zusammenhängenden Ereignissen.⁸ Das zentrale Argument dieses Beitrags lautet: Um „effektiv“ zu sein (im Hinblick auf eine konsensproduzierende Legitimierung deutscher Außenpolitik in der Öffentlichkeit, aber auch innerhalb der Institutionen, die an militärischen und diplomatischen Entscheidungen und deren Ausführung beteiligt sind), müssen strategische Erzählungen Resonanz finden in innerstaatlichen Erinnerungsdiskursen. Solche Erinnerungsdiskurse lassen sich von politischen Entscheidungsträgerinnen und -trägern jedoch nur unvollständig steuern, da parteipolitische Auseinandersetzungen, aber auch gesellschaftliche Prozesse, die keiner parteipolitischen Logik unterliegen, zu einer „Fragmentierung“ innerstaatlicher Erinnerungsdiskurse führen können. Letztere kann als eine zunehmende Heterogenität normativer Interpretationen von zentralen Episoden der Vgl. zur kontextuellen Einbettung von Diskursen Michel Foucault, L’archéologie du savoir, Paris 1969. Für eine empiriegeleitete Typologie unterschiedlicher Erinnerungsdiskurse in Mediendebatten: Vgl. Eric Sangar, La présence de la Grande Guerre dans les discours: persistance d’une „asymétrie“ de mémoire franco-allemande?, in: La Revue Tocqueville 35/2. 2014, S. 119 – 143, hier S. 132. Andreas N. Ludwig u. Caroline Rothauge. Memory Matters! Zur Bedeutung des Erinnerns und kollektiver Identitätskonstruktionen in grenzüberschreitenden Beziehungen, in: Klaus Brummer u. Friedrich Kießling (Hg.), Zivilmacht Bundesrepublik? Bundesdeutsche außenpolitische Rollen vor und nach 1989 aus politik- und geschichtswissenschaftlichen Perspektiven, Baden-Baden 2019, S. 235 – 252, hier S. 237. Vgl. Mieke Bal, Narratology. Introduction to the Theory of Narrative, Toronto 2009.
156
Eric Sangar
Vergangenheit definiert werden.⁹ Eine solche Fragmentierung innerstaatlicher Erinnerungsdiskurse erschwert es außenpolitischen Akteuren, Entscheidungsoptionen mithilfe von strategischen Erzählungen zu legitimieren und zu implementieren. Insbesondere in Staaten, in denen die Außenpolitik einer hohen öffentlichen Legitimationsbedürftigkeit unterliegt, werden außenpolitische Optionen in der Folge eher durch Kosten-Nutzen-Kalküle oder aber durch den Rückgriff auf universelle Argumentationsrahmen (beispielsweise die „Wahrung der Menschenrechte“ oder die „Bündnissolidarität“) legitimiert. Der Beitrag geht in den Ausführungen zu diesen Thesen folgendermaßen vor: Zunächst wird das Konzept des strategischen Narrativs eingeführt und seine Relevanz für die Analyse der Schnittstelle zwischen (vorwiegend innenpolitischen) Erinnerungsdiskursen und der Legitimierung außenpolitischer Handlungsoptionen begründet. Danach wird die Entwicklung der außenpolitischen strategischen Narrative Deutschlands nach dem Ende des Kalten Kriegs skizziert. Nachdem Deutschland während des Kalten Kriegs eine stabile und kohärente strategische Erzählung basierend auf dem Rollenbild der „Zivilmacht“¹⁰ aufgebaut hatte, musste das Land nach 1990 auf das sich wandelnde internationale Umfeld und insbesondere auf die veränderten Rollenerwartungen seiner westlichen Partner reagieren. Obwohl es Versuche gab, ein neues strategisches Narrativ anhand der Umdeutung historischer Lehren aus dem Nationalsozialismus zu begründen, schaffte es dieses neue Narrativ nicht, die veränderte außenpolitische Orientierung Deutschlands zu legitimieren. Im dritten Teil des Beitrags wird gezeigt, dass die (relative) Ineffektivität strategischer Narrative seit dem Ende des Kalten Kriegs zumindest teilweise das Ergebnis von zunehmend fragmentierten innerstaatlichen Erinnerungsdiskursen ist. Obwohl es auch vor 1990 durchaus konkurrierende Erinnerungsdiskurse gab, so waren die außenpolitischen Eliten doch in der Lage, über Parteigrenzen hinweg das strategische Narrativ der „Zivilmacht Deutschland“ unter Rückgriff auf einen in der öffentlichen Debatte dominanten
Das Argument einer zunehmenden Zahl von heterogenen Erinnerungsdiskursen, die die Einheit einer nationalen Erinnerung in Frage stellen, wurde mit durchaus normativem Gehalt zunächst von Pierre Nora in seinem Werk „Les lieux de mémoire“ formuliert: Vgl. Pierre Nora, L’ère de la commémoration, in: Philippe Boutry, Maurice Agulhon u. Pierre Nora (Hg.), Les lieux de mémoire. Les France, Paris 1992, S. 977– 1012, hier S. 983 f. Zur Einführung des Konzeptes der „Fragmentierung“ von Erinnerungsdiskursen in die Forschungsdebatte der Internationalen Beziehungen: Vgl. Eric Sangar, L’impact de la fragmentation des mémoires collectives nationales sur la politique étrangère: le cas de la France, in: Etudes internationales 50/1. 2019, S. 39 – 68. Knut Kirste u. Hanns W. Maull, Zivilmacht und Rollentheorie, in: Zeitschrift für Internationale Beziehungen 3/2. 1996, S. 283 – 312; Hanns W. Maull, Germany and Japan: The New Civilian Powers, in: Foreign Affairs 69/5. 1990, S. 91– 106; T. U. Berger, Cultures of Antimilitarism: National Security in Germany and Japan, Baltimore 1998.
Die Fragmentation nationalstaatlicher kollektiver Erinnerung
157
Gedächtnisdiskurs zu legitimieren, welcher die Erinnerung an die Verbrechen des NS-Regimes mit einer daraus resultierenden Notwendigkeit konkreter Lehren für die zeitgenössische Außenpolitik verknüpfte.¹¹ Bereits in den 1980er Jahren wurde die Hegemonie des erwähnten innenpolitischen Erinnerungsdiskurses jedoch (durchaus unbeabsichtigt) geschwächt. Damit trägt der Beitrag zu dem Ziel neuerer Forschungsarbeiten bei, „mögliche Verbindungslinien zwischen außenpolitischen Diskursen der alten Bonner Republik und denen des wiedervereinigten Deutschlands herauszuarbeiten“.¹² Der Beitrag schließt mit einigen vorläufigen Beobachtungen zu den Auswirkungen der Fragmentierung innerdeutscher Erinnerungsdiskurse auf die gegenwärtige deutsche Außenpolitik.
1 Der Begriff des „strategischen Narrativs“ als Bindeglied zwischen Außenpolitik und innerstaatlichen Erinnerungsdiskursen Traditionelle, das heißt rationalistische (beispielsweise realistische, neorealistische oder liberale) Erklärungsansätze der IB-theoretischen Außenpolitikanalyse werden von Ansätzen dominiert, die sich auf materielle und/oder rationalistische Faktoren wie Machtstreben, exogene nationale Interessen, militärische Bedrohungen, wirtschaftliche Interessen, politische Entscheidungssysteme oder den geographischen Kontext konzentrieren.¹³ Die „konstruktivistische Wende“¹⁴ hat
Zwar weist u. a. Friedrich Kießling in einem kürzlichen erschienenen Beitrag darauf hin, dass bereits vor 1990 andere, zum Teil konkurrierende außenpolitische Rollenbilder vertreten wurden. Doch hält er gleichzeitig fest, dass „die Distanzierung vom Nationalsozialismus als Kern außenpolitischer Identität von 1949 bis heute weitgehend unbestritten“ ist: Friedrich Kießling, Einleitung: Von „Guten Nachbarn“ und „Deutschen Wegen“, in: GG 45/4. 2019, S. 471– 496, hier S. 489. Auch Thomas Risse und Ursula Stark Urrestarazu argumentieren, dass Kontroversen um die „richtige“ außenpolitische Orientierung Deutschlands eher als Begleiterscheinung denn als Widerspruch zur These der in der öffentlichen Wahrnehmung vorherrschenden Zivilmachtkonzeption zu sehen sind: Vgl. Thomas Risse, Deutsche Identität und Außenpolitik, in: Siegmar Schmidt, Gunther Hellmann u. Reinhard Wolf (Hg.), Handbuch zur deutschen Außenpolitik, Wiesbaden 2007, S. 49 – 61; Ursula Stark Urrestarazu, Neue Macht, neue Verantwortung, neue Identität? „Deutschlands Rolle in der Welt“ aus identitätstheoretischer Perspektive, in: Zeitschrift für Außen- und Sicherheitspolitik 8/1. 2015, S. 173 – 195. Jessica Gienow-Hecht, Interested in a Serious Relationship? Die Marke Deutschland im internationalen Kontext, in: GG 45/4. 2019, S. 580 – 596, hier S. 582. Vgl. Robert O. Keohane, International Institutions: Two Approaches, in: International Studies Quarterly 32/4. 1988, S. 379 – 396.
158
Eric Sangar
die Internationalen Beziehungen, wie auch andere sozialwissenschaftliche Disziplinen, mit der Forderung konfrontiert, außenpolitische Strategien auch als Ergebnis von sich wandelnden Normen sowie intersubjektiven Interaktionsprozessen zu begreifen, welche notwendigerweise historisch kontingent sind. Die ersten konstruktivistischen Analysen außenpolitischer Strategien¹⁵ konzentrierten sich daher auf den Einfluss von Normen und Ideen auf der Ebene der außenpolitischen Institutionen und Eliten. Sie vernachlässigten es dabei jedoch, das konstruktivistische Paradigma auch auf die Interaktion zwischen außenpolitischen Eliten und der Öffentlichkeit anzuwenden. Tatsächlich haben sowohl quantitative als auch qualitative empirische Studien die potenziell mäßigende Wirkung öffentlicher Debatten auf den Einsatz militärischer Gewalt bestätigt.¹⁶ Dabei war das Argument einer prinzipiellen „Konfliktscheue“ demokratischer Regime schon seit Langem widerlegt worden. Nun aber wurde gezeigt, dass kostspielige außenpolitische Entscheidungen, einschließlich der Anwendung offensiver militärischer Gewalt, nur dann von der Öffentlichkeit abgelehnt werden, wenn sie nicht kohärent legitimiert erscheinen.¹⁷ Folglich müssen politische Eliten versuchen, außenpolitische Entscheidungen innergesellschaftlich zu legitimieren, insbesondere dann, wenn solche Entscheidungen in öffentlichen Foren (Parlamente, Medien) potenziell in Frage gestellt werden können. Während diese Anforderung von Kant als einer der Gründe für den weniger kriegerischen Charakter von Demokratien angesehen wurde,¹⁸ so haben neuere Untersuchungen gezeigt, dass unter bestimmten Umständen selbst in Demokratien eine starke Mobilisierung der Bevölkerung zur Legitimierung der
Vgl. Jeffrey T. Checkel, The Constructive Turn in International Relations Theory, in: World Politics 50/2. 1998, S. 324– 348. Vgl. u. a. Peter J. Katzenstein (Hg.), The Culture of National Security. Norms and Identity in World Politics, New York 1996; Heiko Biehl, Bastian Giegerich u. Alexandra Jonas (Hg.), Strategic Cultures in Europe. Security and Defence Policies across the Continent, Wiesbaden 2013; Alastair Iain Johnston, Thinking About Strategic Culture, in: International Security 19/4. 1995, S. 32– 64; Christoph O. Meyer, Convergence Towards a European Strategic Culture? A Constructivist Framework for Explaining Changing Norms, in: European Journal of International Relations 11/4. 2005, S. 523 – 549. Vgl. Dan Reiter u. Allan C. Stam, Democracies at War, Princeton 2002. Vgl. Christopher Gelpi, Peter D. Feaver u. Jason Reifler, Paying the Human Costs of War. American Public Opinion and Casualties in Military Conflicts, Princeton 2009; Adam J. Berinsky, In Time of War. Understanding American Public Opinion from World War II to Iraq, Chicago 2009. Vgl. Michael W. Doyle, Kant, Liberal Legacies, and Foreign Affairs, in: Philosophy & Public Affairs 12/3. 1983, S. 205 – 235.
Die Fragmentation nationalstaatlicher kollektiver Erinnerung
159
Anwendung von offensiver militärischer Gewalt genutzt werden kann.¹⁹ Dies kann beispielsweise der Fall sein, wenn die Anwendung von Gewalt von politischen Eliten als eine „rationale“ Entscheidung infolge eines humanitären Kosten-Nutzen-Kalküls dargestellt oder sogar als eine moralisch notwendige Pflicht interpretiert wird, in der sich die soziale Identität einer Gemeinschaft bewähren muss.²⁰ Während die Legitimität außenpolitischer Entscheidungen sich auf eine Vielzahl von Quellen stützen kann, haben mehrere Autorinnen und Autoren die Bedeutung „strategischer Narrative“ als rhetorisches Werkzeug identifiziert, durch die politischen Eliten die öffentliche Wahrnehmung aktiv beeinflussen können.²¹ Das Konzept wurde entwickelt von Miskimmon, O’Loughlin und Roselle, die hervorheben, dass strategische Narrative eine Doppelfunktion haben. Erstens besitzen sie eine regulative Funktion, da sie die Wahrnehmung von Interessen und Handlungsoptionen in einer konkreten Entscheidungssituation beeinflussen.²² Zweitens haben strategische Narrative auch eine identitätsstiftende Funktion „by constituting the experience of international affairs and thus the identity of its actors and the meaning of the system“.²³ Was beeinflusst das legitimierende Potenzial strategischer Narrative? Es lassen sich drei Hauptfaktoren identifizieren. Zunächst scheint die Performanz einer außenpolitischen Handlungsoption insofern eine Rolle zu spielen, als wahrgenommener Erfolg diskursive Potenziale für „neue“ Narrative kreiert.²⁴ Ein zweiter Faktor könnte als die intrinsische Qualität strategischer Narrative bezeichnet werden. Der Politologe Lawrence Freedman hebt beispielsweise bestimmte sprachliche Merkmale hervor. Dazu gehören insbesondere „a story con Vgl. Pascal Vennesson, War without the People, in: Hew Strachan u. Sibylle Scheipers (Hg.), The Changing Character of War, Oxford 2011, S. 241– 258; Thomas Risse-Kappen, Democratic Peace – Warlike Democracies?, in: European Journal of International Relations 1/4. 1995, S. 491– 517. Vgl. Judith Butler, Frames of War. When Is Life Grievable?, London 2010; Eyal Weizman, The Least of All Possible Evils. Humanitarian Violence from Arendt to Gaza, London 2011; Maéva Clément, Thomas Lindemann u. Eric Sangar, The „Hero-Protector Narrative“: Manufacturing Emotional Consent for the Use of Force, in: Political Psychology 38/6. 2017, S. 991– 1008; Mathias Delori, Killing without Hatred: The Politics of (Non‐)Recognition in Contemporary Western Wars, in: Global Discourse 4/4. 2014, S. 516 – 531. Vgl. Lawrence Freedman, Networks, Culture and Narratives, in: The Adelphi Papers 45/379. 2006, S. 11– 26, hier S. 22 f. Vgl. Alister Miskimmon u. a.: Communication Power and the New World Order, New York 2013, S. 17. Ebd. Vgl. Ronald R. Krebs, How Dominant Narratives Rise and Fall: Military Conflict, Politics, and the Cold War Consensus, in: International Organization 69/4. 2015, S. 809 – 845, hier S. 810 f.
160
Eric Sangar
structed to be told […]. […] There has to be a plot linking the sought effects, the qualities of verisimilitude, narrative imperative, and caught attention.“²⁵ Als dritter Faktor kann die Notwendigkeit innergesellschaftlicher Resonanz gelten.²⁶ Der Grund dafür ist, dass strategische Narrative nicht in einem ideellen Vakuum erscheinen und daher nicht nach Belieben an die kurzfristigen Ziele der politischen Eliten angepasst werden können. Folglich gilt, dass „to convince, the narrative must also relate to the audience’s culture, experience, beliefs, and aspirations. It must therefore resonate with the historical and cultural understandings of their intended audience […].“²⁷ Die letztgenannte Bedingung wird in der bestehenden Literatur nur unzureichend spezifiziert. Freedman betont zwar, dass das bestehende, sogenannte historische und kulturelle Verständnis des heimischen Publikums die Effektivität eines strategischen Narrativs beeinflusst,²⁸ jedoch wird ein solches Bewusstsein weder genauer definiert, noch wird darauf eingegangen, welchen Faktoren ein solches Bewusstsein begründen. Die politikwissenschaftliche Literatur scheint implizit davon auszugehen, dass die gesellschaftlichen Wahrnehmungen der Vergangenheit relativ einheitlich und unveränderlich sind, dass politische Entscheidungsträgerinnen und -träger ihre strategischen Narrative daher leicht an diese Wahrnehmungen anpassen können, und dass infolgedessen die innenpolitische Resonanz des selben strategischen Narrativs zu einem Zeitpunkt X sich nicht grundlegend unterscheidet von seiner Resonanz zu einem Zeitpunkt Y. Die theoretischen Arbeiten und empirischen Untersuchungen der Erinnerungssoziologie haben jedoch gezeigt, dass gesellschaftliche Wahrnehmungen der Vergangenheit diskursiv konstruiert sind und infolgedessen einem ständigen Wandel unterliegen. So betonte Halbwachs die Bedeutung der intersubjektiven Transmission von Erinnerungen innerhalb sozialer Kollektive wie Familien, Religionsgemeinschaften, aber auch Nationen. Der „soziale Rahmen“ von Gruppen hilft Individuen dabei, ihre individuellen Erinnerungen im Zusammenhang gemeinschaftlicher Vergangenheitsvorstellungen zu verankern und dabei auch die jeweilige Rollenidentität ihrer Gruppen zu verstehen.²⁹
Lawrence Freedman, The Possibilities and Limits of Strategic Narratives, in: Beatrice de Graaf, George Dimitriu u. Jens Ringsmose (Hg.), Strategic Narratives, Public Opinion and War: Winning Domestic Support for the Afghan War, New York 2015, S. 17– 36, hier S. 24. Vgl. Miskimmon u. a., Communication Power and the New World Order, S. 44. Freedman, The Possibilities and Limits of Strategic Narratives, S. 24. Vgl. ebd. Vgl. Maurice Halbwachs, Les cadres sociaux de la mémoire, Paris 1994 [1925].
Die Fragmentation nationalstaatlicher kollektiver Erinnerung
161
Wie auch schon der Historiker Ernest Renan feststellte,³⁰ so ist die Transmission solcher kollektiven Erinnerungen sehr selektiv, da sie vor allem dem Bedürfnis der sozialen Gruppe unterworfen ist, ihre Identität in der Gegenwart zu festigen, selbst wenn dies das „Vergessen“ beziehungsweise die Marginalisierung individueller Erinnerungen erfordert, die diesem Ziel entgegenstehen. Da nationale Gemeinschaften aus einer Vielzahl mehr oder weniger autonomer Gruppen mit zumindest potenziell inkompatiblen Vergangenheitsvorstellungen bestehen, ist die Existenz und Stabilität einer geteilten, „nationalen“ Erinnerung keineswegs ausgemacht. In Europa bildeten sich nationale Erinnerungsdiskurse erst im 19. Jahrhundert heraus, und zwar als Ergebnis von mehr oder weniger koordinierten Bemühungen zunehmend professioneller Historikerinnen und Historiker, von institutionellen, aber auch zivilgesellschaftlichen Initiativen sowie von zunehmend staatlich gelenkter Schulpolitik.³¹ Aufgrund der politisch konstruierten und damit prekären Natur nationaler Erinnerungsdiskurse erscheint Freedmans Annahme eines stabilen und homogenen historischen „Verständnisses“ innerhalb der Zivilgesellschaft als fragil. Es ist davon auszugehen, dass innergesellschaftliche Geschichtsrepräsentationen erstens nicht unveränderlich sind, sondern infolge ihrer intersubjektiven Natur kontinuierlicher Reinterpretation unterliegen.³² Zweitens können eben diese Veränderungen die Effektivität der Mobilisierung kollektiver Erinnerung im Rahmen strategischer Narrative zur Legitimierung von außenpolitischen Entscheidungen verstärken, aber auch schwächen. Drittens sind die daraus resultierenden Veränderungen im Legitimationspotenzial strategischer Narrative nicht notwendigerweise mit objektiven, materiellen Umwälzungen in der internationalen Umwelt verbunden.
Vgl. Ernest Renan, Qu’est-ce qu’une nation ?, Paris 1997 [1882]. Vgl. Benedict R. Anderson, Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism, London 2006; Bo Stråth (Hg.), Europe and the Other and Europe as the Other, Brüssel 2000; Karen Hagemann, Revisiting Prussia’s Wars against Napoleon. History, Culture and Memory, New York 2015; Nikolaus Buschmann u. Dieter Langewiesche (Hg.), Der Krieg in den Grü ndungsmythen europä ischer Nationen und der USA, Frankfurt 2003; Stefan Berger, Writing National Histories in Europe: Reflections on the Pasts, Presents, and Futures of a Tradition, in: Konrad Jarausch u. Thomas Lindenberger (Hg.), Conflicted Memories. Europeanizing Contemporary Histories, New York 2007, S. 55 – 68; Daniel Tröhler, Curriculum History or the Educational Construction of Europe in the Long Nineteenth Century, in: European Educational Research Journal 15/3. 2016, S. 279 – 297. Vgl. Michael Schudson, Watergate in American Memory. How We Remember, Forget, and Reconstruct the Past, New York 1992.
162
Eric Sangar
2 Strategische Narrative deutscher Außenpolitik nach dem Ende des Kalten Kriegs Die Wiedervereinigung und der Zusammenbruch des Warschauer Pakts stellten das bis dahin dominante strategische Narrativ der „Zivilmacht Deutschland“, welches die Ablehnung der offensiven Nutzung militärischer Gewalt und die unbedingte Präferenz multilateraler Konfliktlösung unmittelbar mit Lehren aus der nationalsozialistischen Vergangenheit begründete,³³ in Frage. Einerseits eröffnete das veränderte internationale Umfeld neue Handlungsmöglichkeiten für die deutsche Außenpolitik, da die Gefahr eines Nuklearkriegs auf dem Territorium der Bundesrepublik gebannt schien. Andererseits sah sich Deutschland mit neuen, teilweise widersprüchlichen Handlungserwartungen seiner Bündnispartner konfrontiert: So galt es, Befürchtungen vor allem seitens der europäischen Mittelmächte Großbritannien und Frankreich zu entkräften, wonach das wiedervereinigte Deutschland nun nach einer europäischen Hegemoniestellung streben könnte. Zudem forderten insbesondere die USA eine volle Beteiligung Deutschlands an den immer zahlreicheren militärischen Interventionen westlicher Staaten, die der Universalisierung und der Stabilisierung einer liberalen Weltordnung dienen sollten.³⁴ Versuche deutscher Regierungen, sich der Beteiligung an offensiven Militärinterventionen zur Durchsetzung dieser Ziele zu entziehen, wurden von den NATO-Partnerstaaten, insbesondere den USA, zurückgewiesen.³⁵ Seit den 1990er Jahren versuchten daher deutsche politische Eliten ein neues strategisches Narrativ zu etablieren, mit dem sich eine langfristige Neuorientierung deutscher Außenpolitik legitimieren ließe. Zwar gab es bereits in den 1980er Jahren Versuche, die sogenannte Nachrüstung durch Rückgriff auf die NS-Vergangenheit zu legitimieren.³⁶ Jedoch war der Versuch der Neudeutung dieser Lehren in den 1990er Jahren viel grundsätzlicherer Natur: Nicht nur beteiligten sich daran prominente Mitglieder aller im Bundestag vertretenen Parteien (mit
Vgl. Jeffrey K. Olick u. Daniel Levy, Collective Memory and Cultural Constraint: Holocaust Myth and Rationality in German Politics, in: American Sociological Review 62/6. 1997, S. 921– 936. Vgl. Anja Dalgaard-Nielsen, Germany, Pacifism and Peace Enforcement, Manchester 2006, S. 45 – 98; Kerry Longhurst, Germany and the Use of Force, Manchester 2004, S. 54– 76. Vgl. Arthur Hoffmann u. Kerry Longhurst, German Strategic Culture in Action, in: Contemporary Security Policy 20/2. 1999, S. 31– 49, hier S. 38. Vgl. Eckart Conze, Geschichte als Argument. Nationalsozialismus, Zweiter Weltkrieg und Holocaust in der Auseinandersetzung über die nukleare Rüstung um 1980, in: Michaela BachemRehm, Claudia Hiepel u. Henning Türk (Hg.), Teilung überwinden. Europäische und internationale Geschichte im 19. und 20. Jahrhundert, München 2014, S. 33 – 48.
Die Fragmentation nationalstaatlicher kollektiver Erinnerung
163
Ausnahme der PDS/Linkspartei), vielmehr hatte ihre normative Zielsetzung im Hinblick auf die Legitimierung der Anwendung militärischer Gewalt eine qualitativ neue Dimension. Nicht der unbedingte Verzicht auf die offensive Anwendung militärischer Gewalt, sondern ihre ethisch-moralische Rechtfertigung sollten nun Kern eines neuen strategischen Narrativs werden, welches als „nie wieder Auschwitz“³⁷ anstelle von „nie wieder Krieg“ zusammengefasst werden könnte. Sowohl Mitglieder der FDP als auch der SPD und von Bündnis90/Die Grünen versuchten – manchmal durchaus gegen Widerstand innerhalb ihrer Parteien – diese Reinterpretation der Lehren aus der NS-Vergangenheit in der Öffentlichkeit zu verankern. So stellte Außenminister Kinkel 1994 in einer Bundestagsdebatte anlässlich des sogenannten out-of-area-Urteils des Bundesverfassungsgerichts fest: Nach Wiedervereinigung und Wiedererlangung unserer vollen Souveränität ist die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik voll handlungs- und bündnisfähig. […] Gerade weil Deutschland in der Vergangenheit den Frieden gebrochen hat, ist es moralisch-ethisch verpflichtet, sich an der Verteidigung des Friedens jetzt mit ganzer Kraft zu beteiligen. […] Wenn sich aus der Zeit des Nationalsozialismus eine Lehre geradezu aufdrängt, dann ist es doch die, dass Gewalt eben leider manchmal nur mit Gegengewalt beseitigt werden kann.³⁸
Fünf Jahre später wiederum argumentierte die neue rot-grüne Regierung – darunter neben Bundeskanzler Gerhard Schröder und Verteidigungsminister Rudolf Scharping, beide aus der SPD, insbesondere Joschka Fischer (Bündnis 90/Die Grünen) –, dass Deutschland gerade wegen seiner NS-Vergangenheit eine moralische Pflicht habe, die drohende Vertreibung ganzer Volksgruppen aus dem Kosovo militärisch zu verhindern. Auf dem Parteitag der Grünen im Mai 1999 rechtfertigte Fischer diese Position mit folgendem Argument: „Auschwitz ist unvergleichbar. Aber ich stehe auf zwei Grundsätzen, nie wieder Krieg, nie wieder Auschwitz, nie wieder Völkermord, nie wieder Faschismus. Beides gehört bei mir zusammen.“³⁹ Für den Beginn der 2000er Jahre ist jedoch paradoxerweise festzustellen, dass die politischen Eliten – ebenfalls parteiübergreifend – aufgehört hatten, an einer solche Umdeutung der Lehren aus dem Nationalsozialismus im öffentlichen Diskurs festzuhalten. So wurde die deutsche Beteiligung am Afghanistan-Einsatz,
Vgl. Rainer Baumann u. Gunther Hellmann, Germany and the Use of Military Force: ‚Total War‘, the ‚Culture of Restraint‘, and the Quest for Normality, in: German Politics 10/1. 2001, S. 61– 82, hier S. 74. Kinkel; zit. n.: Deutscher Bundestag, Plenarprotokoll, 12/240, S. 21166, 22.7.1994. Fischer; zit. n: „Auszüge aus der Fischer-Rede“, in: Spiegel Online, 1999, https://www.spiegel. de/politik/deutschland/wortlaut-auszuege-aus-der-fischer-rede-a-22143.html.
164
Eric Sangar
obwohl die amerikanische Regierung selbst diesen Krieg in eine Linie mit dem Kampf gegen Hitler stellte,⁴⁰ weder von der deutschen Regierung noch von der Opposition anhand von Lehren aus der NS-Zeit diskutiert. Die Redebeiträge zu diesen Debatten beziehen sich zumeist nicht mehr direkt auf den Nationalsozialismus. Sie beziehen sich durchgängig auf die Zeit nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und fordern Solidarität mit Amerika ein, weil die Amerikaner uns von 1945 bis heute Solidarität gewährt haben.⁴¹
Diese Feststellung gilt auch für die inhaltlich durchaus unterschiedlichen Interpretationen der Afghanistan-Intervention in journalistischen Leitmedien wie der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und der taz. ⁴² Ein ähnliches Bild ergibt sich aus der Diskussion um die deutsche Beteiligung an den nachfolgenden Kriegen im Irak und in Libyen. Die Ablehnung der US‐amerikanischen Invasion des Irak wurde von Bundeskanzler Schröder keineswegs mit den Lehren aus den Angriffskriegen des nationalsozialistischen Deutschlands begründet, sondern mit der nebulösen Bezugnahme auf einen geschichtlich unbestimmten „deutschen Weg“.⁴³ In der öffentliche Debatte um die Libyen-Intervention im Jahre 2011 begründete die Bundesregierung ihre Enthaltung in der entscheidenden Abstimmung im UN-Sicherheitsrat „mit den Unwägbarkeiten und Risiken militärischer Zwangsmaßnahmen, sie solidarisierte sich aber rückhaltlos mit den Zielsetzungen, die mit der Resolution verfolgt wurden“.⁴⁴ Das Verschwinden eines geschichtlich begründeten strategischen Narrativs für die deutsche Außenpolitik lässt sich über konkrete Debatten um die Beteiligung an militärischen Interventionen hinaus auch in offiziellen sicherheitspolitischen Grundsatzdokumenten feststellen. Zwar wird die Bedeutung der Lehren
Vgl. Jan Angstrom, Mapping the Competing Historical Analogies of the War on Terrorism: The Bush Presidency, in: International Relations 25/2. 2011, S. 224– 242; David Hoogland Noon, Operation Enduring Analogy: World War II, the War on Terror, and the Uses of Historical Memory, in: Rhetoric & Public Affairs 7/3. 2004, S. 339 – 365. Michael Schwab-Trapp, Der Nationalsozialismus im öffentlichen Diskurs über militärische Gewalt, in: Wolfgang Bergem (Hg.), Die NS-Diktatur im deutschen Erinnerungsdiskurs,Wiesbaden 2003, S. 171– 185, hier S. 181 f. Vgl. Volker Heins, Krieg und politische Sinnschöpfung in der Berliner Republik. Die deutsche Beteiligung am Afghanistan-Feldzug als Medien-Story, in: Ebd., S. 187– 204, hier S. 200 f. Schröder; zit. n.: Bernhard Stahl, National (Hi)Stories of War – German and French Discourses in the Kosovo War and the Iraq Crisis, in: Zeitschrift für vergleichende Politikwissenschaft 4. 2010, S. 1– 30; Daniel Friedrich Sturm, Schröders Deutscher Weg, in: Die Welt, 6. 8. 2002. Hanns W. Maull, Deutsche Außenpolitik: Orientierungslos, in: Zeitschrift für Politikwissenschaft 21/1. 2011, S. 95 – 119, hier S. 109 f.
Die Fragmentation nationalstaatlicher kollektiver Erinnerung
165
aus der Vergangenheit nach wie vor in den Vorworten erwähnt,⁴⁵ jedoch sind „mit Ausnahme des Schutzes Deutschlands und seiner Staatsbürger […] und der ökonomischen Welthandelsinteressen […] alle als nationale Interessen definierten Ziele allgemeine internationale Prinzipien“.⁴⁶ Auch die Nutzung militärischer Gewalt wurde sehr viel klarer den kurzfristigen Bedürfnissen der Politik untergeordnet.⁴⁷
3 Der „Historikerstreit“ und seine unbeabsichtigten Folgen für die Legitimationsfähigkeit strategischer Narrative der deutschen Außenpolitik Warum schafften die außenpolitischen Eliten der 1990er und 2000er, anders als ihre Vorgänger während des Kalten Kriegs, es nicht, die Neuorientierung deutscher Außenpolitik nach dem Ende des Kalten Kriegs mit einem hegemonialen strategischen Narrativ nachhaltig zu legitimieren? Anders ausgedrückt, warum gelang es nicht, einen gesellschaftsübergreifenden Konsens über die handlungsleitende Lehre „nie wieder Auschwitz“ herzustellen? Im Folgenden wird argumentiert, dass die Wurzeln des abnehmenden Legitimationspotenzials geschichtlich begründeter Narrative bereits in den 1980er Jahren liegen, und damit vor dem Ende des Kalten Kriegs. Diese Entwicklung korreliert daher nicht in erster Linie mit den weltpolitischen Umbrüchen der 1990er und 2000er Jahre, sondern mit innergesellschaftlichen Veränderungen, welche zu veränderten gesellschaftlichen Resonanzbedingungen für strategische Narrative geführt haben.
So beginnt beispielsweise das Weißbuch zur deutschen Sicherheitspolitik von 2016 mit dem Satz: „Unser sicherheitspolitisches Selbstverständnis ist geprägt durch die Lehren aus unserer Geschichte.“ Diese Lehren werden jedoch anschließend nicht näher spezifiziert: Vgl. Bundesregierung, Weißbuch zur Sicherheitspolitik und zur Zukunft der Bundeswehr, Berlin 2016, S. 22. Ralf Wortmann, Konzepte deutscher Außenpolitik: Kursbestimmung nach dem Ende des OstWest-Konflikts, in: Universitä t Osnabrü ck (Hg.), Osnabrü cker Jahrbuch Frieden und Wissenschaft, Osnabrü ck 1995, S. 184– 196, hier S. 192. Vgl. Gunther Hellmann, Das neue Selbstbewusstsein deutscher Außenpolitik und die veränderten Standards der Angemessenheit, in: Thomas Jä ger, Alexander Hose u. Kai Oppermann (Hg.), Deutsche Außenpolitik: Sicherheit, Wohlfahrt, Institutionen und Normen, Wiesbaden 2011, S. 735 – 757, hier S. 749.
166
Eric Sangar
Zunächst ist festzuhalten, dass heterogene, mit unterschiedlichen politischen Agenden verbundene Erinnerungsdiskurse, an sich keine Neuigkeit in der deutschen Geschichte darstellen.⁴⁸ Jedoch kann als ein gemeinsames Merkmal der bundesdeutschen Erinnerungsdiskurse zwischen den 1960er und den 1970er Jahren gelten, dass sie sich primär auf die Interpretation der Verbrechen des Nationalsozialismus, insbesondere des Holocaust, bezogen – auch und gerade infolge von öffentlichen Kontroversen. Seit Ende der 1950er Jahre gab es behördliche und gesetzgeberische Bestrebungen, die Anerkennung gegenwärtiger Verantwortung aufgrund der nationalsozialistischen Vergangenheit stärker zu institutionalisieren, unter anderem im Schulunterricht, durch die Einrichtung von KZ-Gedenkstätten, aber auch durch die strafrechtliche Aufarbeitung nationalsozialistischer Verbrechen.⁴⁹ Dabei stießen einzelne Gedächtnisdiskurse – beispielsweise jene, die Bundeskanzler Brandt zur Anerkennung deutscher Verbrechen in Osteuropa initiierte – durchaus auf innenpolitischen Widerstand.⁵⁰ Doch obwohl man wohl schwer von einem allgemeingültigen Konsens über die spezifischen Ursachen der nationalsozialistischen Diktatur ausgehen kann, stellt der Historiker Edgar Wolfrum für den Zeitraum gegen Ende der 1970er Jahre fest: „Die Westdeutschen empfanden die Bundesrepublik immer stärker als ‚ihre‘ Republik […] und das normative Bekenntnis zur Bundesrepublik schloß eine Ablehnung der NS-Vergangenheit mit ein, die von nun an als Skandalon betrachtet wurde.“⁵¹ Die Fragmentierung der innergesellschaftlichen Erinnerungsdiskurse in Deutschland setzte in den 1980er Jahren ein infolge des sogenannten „Historikerstreits“, ausgelöst durch einen Artikel des konservativen Historikers Ernst Nolte, der den Nationalsozialismus als Antwort auf den sowjetischen Bolschewismus und den Holocaust als Nachahmung der Gulags der 1920er Jahre interpretierte,⁵² und dessen Argumente von einer Reihe von Intellektuellen, darunter Jürgen Habermas, in öffentlichen Stellungnahmen zurückgewiesen wurden.⁵³ Darüber hinaus versuchte die Kohl-Regierung bereits in den 1980er Jahren, alternative Erinnerungsdiskurse einzuführen, die ein „normaleres“, „patriotisches“
Vgl. Edgar Wolfrum, Geschichte als Waffe. Vom Kaiserreich bis zur Wiedervereinigung, Gö ttingen 2001. Vgl. ebd., S. 110 f. Vgl. ebd., S. 113. Ebd., S. 112. Vgl. Armin Pfahl-Traughber, Die wissenschaftliche Dimension des „Historikerstreits“ auf dem Prüfstand. Eine Auseinandersetzung mit Ernst Nolte und Jürgen Habermas, in: Steffen Kailitz (Hg.), Die Gegenwart der Vergangenheit. Der „Historikerstreit“ und die deutsche Geschichtspolitik, Wiesbaden 2008, S. 84– 104, hier S. 88 – 91. Vgl. ebd., S. 92– 94.
Die Fragmentation nationalstaatlicher kollektiver Erinnerung
167
historisches Bewusstsein zu fördern versprachen – welches zugleich dem konservativen Wertebekenntnis der Regierungskoalition entsprach.⁵⁴ Als Beispiele dafür mögen die Initiative zur Gründung eines deutschen Nationalmuseums sowie die umstrittene Gedenkzeremonie am Soldatenfriedhof Bitburg gelten.⁵⁵ Michael Stürmer, Historiker und Redenschreiber Kohls, erkannte: „Whoever supplies memory, shapes concepts, and interprets the past will win the future.“⁵⁶ Zwar wurden solche diskursiven Initiativen für ein „normaleres“ Verhältnis zur nationalen Vergangenheit nicht hegemonial. Jedoch trugen sie zu einer zunehmenden Infragestellung des relativ konsensuellen Verständnisses der nationalsozialistischen Vergangenheit als Quelle direkt anwendbarer handlungsleitender Normen bei,⁵⁷ welches sich in den vorangegangenen Jahrzehnten – auch infolge heftiger Kontroversen – herausgebildet hatte. Wenige Jahre später sollte die deutsche Wiedervereinigung weitere Impulse zur innenpolitischen Fragmentierung der Erinnerungsdiskurse in Bezug auf die nationalsozialistische Vergangenheit geben. Erstens reduzierte die Wiedervereinigung selbst einige der ursprünglichen politischen Motive für die Anerkennung der NS-Verbrechen und daraus resultierende eindeutige außenpolitische Lehren. Während des Kalten Kriegs gründete sich die Legitimität des westdeutschen Staates gerade auch auf seine ausdrückliche Westbindung und deren zugrunde liegendes strategisches Narrativ eines deutschen Staates, der endlich die schaukelpolitischen Versuchungen seiner geographischen Mittellage zu überwinden gelernt hatte – insbesondere im Gegensatz zum Regime der DDR.⁵⁸ Der Wegfall der Systemkonkurrenz bedeutete daher auch, dass die politisch-ideologische Notwendigkeit entfiel, ein innen- und außenpolitisch geschichtlich vermeintlich „legitimeres“ Deutschland zu repräsentieren. Infolgedessen gab es in den 1990er Jahren Auseinandersetzungen darüber, ob die Wiedervereinigung als Schritt zur „Normalisierung“ oder aber zur „Vollendung“ des westdeutschen Gründungsnarrativs anzusehen war. Habermas
Vgl. Mary Nolan, The Historikerstreit and Social History, in: New German Critique 44. 1988, S. 51– 80, hier S. 61 f. Ebd. Zu Bitburg siehe auch den Beitrag von Yvonne Blomann in diesem Band. Stürmer; zit. n.: Charles S. Maier, Immoral Equivalence: Revising the Nazi Past for the Kohl Era, in: Peter Baldwin (Hg.), Reworking the Past. Hitler, the Holocaust, and the Historians’ Debate, Boston 1990, S. 38 – 44, hier S. 38. Vgl. Olick u. Levy, Collective Memory and Cultural Constraint, S. 933; Hans Mommsen, Aufarbeitung und Verdrängung. Das Dritte Reich im westdeutschen Geschichtsbewußtsein, in: Dan Diner (Hg.), Ist der Nationalsozialismus Geschichte? Zu Historisierung und Historikerstreit, Frankfurt 1987, S. 74– 88, hier S. 83 f. Vgl. Wolfgang Rudzio, Das politische System der Bundesrepublik Deutschland. Eine Einführung, Wiesbaden 1987, S. 33 – 46.
168
Eric Sangar
und andere linksliberale Intellektuelle vertraten vehement die Idee einer Europäisierung der deutschen Verfassungsidentität,⁵⁹ während konservative Politikerinnen und Politiker und neu-rechte Organisationen die Chance für eine Rückkehr zu einem „normalen“ Patriotismus sahen, einschließlich einer positiven Aufwertung der deutschen Geschichte vor 1933 und einer vorwiegend ethnischen Definition deutscher Staatsbürgerschaft.⁶⁰ Zweitens erlebten die Millionen ehemaliger DDR-Bürgerinnen und Bürger grundlegend andere Erinnerungsdiskurse in Bezug auf die nationalsozialistische Vergangenheit. Vor 1990 hatte der offizielle geschichtspolitische Diskurs der DDR die Hauptverantwortung für die NS-Verbrechen den kapitalistischen Eliten zugeschrieben, während eine Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Ursachen wie dem Antisemitismus und der Autoritätssehnsucht weiter Teile der deutschen Gesellschaft kaum stattfand. Die daraus resultierenden Prägungen behinderten die Akzeptanz westdeutscher Geschichtsvorstellungen. Gerade angesichts des gebrochenen Versprechens einer schnellen wirtschaftlichen Integration begannen manche Ostdeutsche in den 1990er Jahren, die geschichtspolitischen Diskurse der DDR wiederzuentdecken, und empfanden im Gegenzug die im bundesrepublikanischen Kontext etablierten Erinnerungsdiskurse als aufgezwungen und ignorant gegenüber ihren eigenen Lebenserfahrungen.⁶¹ Die zahlreichen Pogrome gegen Menschen nicht-deutscher Herkunft während der 1990er Jahre, aber auch der sogenannte Asyl-Kompromiss von 1994 können als erste Folge einer zunehmenden Heterogenität und damit auch geringerer Verbindlichkeit innergesellschaftlicher Interpretationen der NS-Vergangenheit und ihrer Folgen für die Gegenwart angesehen werden. All dies bedeutet jedoch nicht, dass die NS-Vergangenheit aus der politischen Debatte verschwunden war. Im Gegenteil: In den 1990er und 2000er Jahren löste das Projekt eines nationalen Holocaust-Mahnmals eine intensive Debatte über das angemessene Gedenken an den Mord an den europäischen Juden aus. Jedoch zeigt die Vervielfachung paralleler, teilweise konfliktbehafteter Erinnerungsinitiativen, initiiert von Intellektuellen, zivilgesellschaftlichen Vereinigungen,⁶² aber auch rechten politischen Parteien, dass staatliche Institutionen geringeren Einfluss auf
Vgl. Jürgen Habermas, Die postnationale Konstellation und die Zukunft der Demokratie, Rede am 5. Juni 1998 vor dem Kulturforum der Sozialdemokratie, Berlin 1998; Ders., Citizenship and National Identity: Some Reflections on the Future of Europe, in: Thomas Pogge u. Darrel Moellendorf (Hg.), Global Justice: Seminal Essays (Vol. 1), St. Paul 2008, S. 285 – 310. Vgl. Andreas Huyssen, Twilight Memories, Florence 2012, S. 74– 82. Vgl. ebd., S. 81. Vgl. Jenny Wüstenberg, Civil Society and Memory in Postwar Germany, Cambridge 2017, S. 206 – 293.
Die Fragmentation nationalstaatlicher kollektiver Erinnerung
169
den Verlauf und die normative Verbindlichkeit gesellschaftlicher Erinnerungsdiskurse beanspruchen konnten.⁶³ Zwei Beispiele vermögen diese Beobachtung zu illustrieren. Zum einen begannen Ende der 1990er Jahre einige Intellektuelle sowie Vertreterinnen und Vertreter zivilgesellschaftlicher Initiativen, eine als defizitär wahrgenommene Anerkennung der Leiden der deutschen Zivilbevölkerung während des Zweiten Weltkriegs zu problematisieren. So forderte beispielsweise der Schriftsteller W. G. Sebald im Jahre 1999 eine größere Anerkennung der deutschen Opfer alliierter Luftangriffe und löste damit eine Kontroverse über die Frage aus, „whether the people of perpetrators has the right to be concerned about its own victims, whether memories of the air war would represent Germans as victims and to what extent this is permissible“.⁶⁴ Auch Jörg Friedrichs populärwissenschaftliches Werk „Der Brand“, aus dem Auszüge im Massenblatt Bild bereits im November 2002 als Vorabdruck erschienen, trug zur Aufwertung des Status deutscher ziviler Opfer bei. Eine Besonderheit des Buches, dessen Veröffentlichung innerhalb von zwei Jahren nicht weniger als 28 weitere, teils populärwissenschaftliche, teils autobiographische Abhandlungen zum Luftkrieg über deutschen Städten folgten,⁶⁵ war dabei „the framing of German victimhood through Holocaust terminology“.⁶⁶ Schließlich startete im Jahr 2000 der „Bund der Vertriebenen“ das Projekt eines „Zentrums gegen Vertreibungen“, welches anschließend von mehreren Mitgliedern der rot-grünen Regierungskoalition unterstützt und im Jahre 2008 durch ein Bundesgesetz institutionalisiert wurde. Dabei ist festzuhalten, dass im wissenschaftlichen Konzept des Zentrums der Holocaust eben nicht als singuläres Ereignis beschrieben wird, sondern als Bestandteil einer länger zurückreichenden europäischen Geschichte von Vertreibungen, Massakern und ethnischem Nationalismus.⁶⁷ Bereits Mitte der 1990er Jahre zitierte der Historiker Robert G. Moeller eine Umfrage, wonach mehr als ein
Der Soziologe Johann Michel hat dieses Argument für den französischen Kontext entwickelt in: Johann Michel, Gouverner les mémoires. Les politiques mémorielles en France, Paris 2010. Maja Zehfuss, Wounds of Memory: The Politics of War in Germany, Cambridge 2007, S. 87. Jörg Arnold, Sammelrezension zu: „Bombenkrieg“, https://www.hsozkult.de/publicationre view/id/reb-4509. Karl Wilds, Cultural Memories of German Suffering During the Second World War: An Inability Not to Mourn?, in: Christian Karner u. Bram Mertens (Hg.), The Use and Abuse of Memory. Interpreting World War II in Contemporary European Politics, New Brunswick 2013, S. 81– 99, hier S. 91. Vgl. ebd., S. 95.
170
Eric Sangar
Drittel aller befragten Deutschen die Ostvertreibungen und den Holocaust als gleichwertige Verbrechen gegen die Menschheit betrachteten.⁶⁸ Zusammenfassend kann daher von einer seit den 1980er Jahren zunehmenden Fragmentierung innergesellschaftlicher Erinnerungsdiskurse in Deutschland gesprochen werden. Nach wie vor bleibt die NS-Vergangenheit die am häufigsten genutzte geschichtliche Referenz in gegenwärtigen, auch außenpolitischen Debatten in Deutschland,⁶⁹ jedoch sind die daraus resultierenden Lehren für die Gegenwart zunehmend umstritten. 20 Jahre nach dem „Historikerstreit“ kommt der Politikwissenschaftler Claus Leggewie daher zu folgendem Schluss: Heute kann man aber sagen, dass sowohl das ‚negative Gründungsereignis‘ des Holocaust als auch [Herv. i. Orig.] eine wieder gewonnene Normal-Perspektive auf die deutsche Geschichte Kernelemente der Erinnerungskultur des 1990 vereinten Deutschland sind.⁷⁰
4 Fazit: Wie beeinflusst die Fragmentierung deutscher Erinnerungsdiskurse strategische Narrative deutscher Außenpolitik? Die Fragmentierung der innerdeutschen Erinnerungsdiskurse ist mit einem zunehmenden Dissenz innerhalb der Bevölkerung über die Implikationen der NSVergangenheit für die heutige deutsche Außenpolitik verbunden. Umfragen belegen, dass die deutsche Öffentlichkeit gespalten ist in der Frage, welche außenpolitische Rolle sich aus den Lehren der (nationalsozialistischen) Vergangenheit ergibt. Laut einer FORSA-Umfrage aus dem Jahre 2005 bekannten sich 48 % der Befragten dazu, dass Deutsche auch in der Gegenwart noch eine besondere Verantwortung gegenüber den Juden hätten, während 47 % eine solche Aussage verneinten.⁷¹ Auf die Frage, ob Deutschland Israel politische Unterstützung im Falle eines Angriffs leisten solle, gaben 2008 nur 58 % der Befragten eine
Vgl. Robert G. Moeller, War Stories: The Search for a Usable Past in the Federal Republic of Germany, in: The American Historical Review 101/4. 1996, S. 1008 – 1048, hier S. 1009. Vgl. Eric Sangar, Défendre Duffer’s Drift : L’influence de la mémoire collective et du régime d’historicité sur le choix des enseignements historiques en temps de crise, in: Temporalités 21. 2015, http://temporalites.revues.org/3085?lang=en. Claus Leggewie, Historikerstreit – Transnational, in: Steffen Kailitz (Hg.), Die Gegenwart der Vergangenheit. Der „Historikerstreit“ und die deutsche Geschichtspolitik, Wiesbaden 2008, S. 50 – 71, hier S. 52. FORSA-Umfrage, 20.–21.1. 2005, https://de.statista.com/statistik/daten/studie/537/umfrage/ verantwortung-deutscher-gegenueber-juden/.
Die Fragmentation nationalstaatlicher kollektiver Erinnerung
171
affirmative Antwort, 33 % lehnten dies ab.⁷² Eine dritte Umfrage aus dem Jahre 2012 zeigt, dass lediglich 31 % der Befragten anerkannten, dass Deutschland aufgrund seiner Vergangenheit eine besondere Verantwortung gegenüber anderen Nationen besitze, während 65 % der Befragten eine solche zurückwiesen.⁷³ Dabei scheinen gesellschaftliche Einstellungen zur Bedeutung von Lehren aus der NS-Vergangenheit, auch und gerade im Bereich der Außenpolitik, zunehmend mit parteipolitischen Präferenzen zu korrelieren.⁷⁴ Diese empirischen Indizien lassen darauf schließen, dass die zunehmende erinnerungsdiskursive Fragmentation Folgen für die Legitimation deutscher Außenpolitik hat. Einerseits kann man, wie die Politikwissenschaftlerin Ruth Wittlinger, argumentieren, dass „collective memory of Germany’s Nazi past thus became less prescriptive“⁷⁵ und der deutschen Außenpolitik infolgedessen neue Spielräume eröffnet wurden. Zu dieser Einschätzung würden die Ergebnisse einer Studie des Politikwissenschaftlers Rainer Baumann passen, wonach politische Eliten in außenpolitischen Diskursen die Norm des Multilateralismus immer stärker mit der Verfolgung „nationaler Interessen“ verknüpfen.⁷⁶ Verallgemeinernd kommt die Politikwissenschaftlerin Birgit Schwelling zu dem Schluss, dass „die Konsequenzen, die die Bundesrepublik im Bereich der Außenpolitik aus der Besinnung auf die nationalsozialistische Vergangenheit gezogen hat, seit Beginn der 1990er Jahre zusehends an Eindeutigkeit verlieren. Diese nachlassende Orientierungskraft lässt sich nicht nur an den innerdeutschen Debatten um die Gestaltung der Außenpolitik ersehen, sondern zeichnet auch […] Deutschlands Rolle in der internationalen Politik aus.“⁷⁷ Andererseits können dieselben Eliten weniger darauf vertrauen, strategische Narrative auf einen breiten gesellschaftlichen Konsens über die Lehren der NSVergangenheit aufbauen zu können. Stattdessen wurden in außenpolitischen
Umfrage der Forschungsgruppe Wahlen im April 2008, https://de.statista.com/statistik/da ten/studie/393/umfrage/politische-unterstuetzung-fuer-israel-im-angriffsfall/. FORSA-Umfrage, 19. – 20.1. 2012, https://de.statista.com/statistik/daten/studie/216865/umfra ge/umfrage-zur-besonderen-verantwortung-deutschlands-aufgrund-der-vergangenheit/. Vgl. Eric Langenbacher, Twenty-First Century Memory Regimes in Germany and Poland. An Analysis of Elite Discourses and Public Opinion, in: German Politics & Society 26/4. 2008, S. 50 – 81, hier S. 67 f. Ruth Wittlinger, German National Identity in the Twenty-First Century, Basingstoke 2010, S. 123. Rainer Baumann, The Transformation of German Multilateralism: Changes in the Foreign Policy Discourse since Unification, in: German Politics & Society 20/4. 2002, S. 1– 26. Birgit Schwelling, Die Außenpolitik der Bundesrepublik und die deutsche Vergangenheit, in: Siegmar Schmidt, Gunther Hellmann u. Reinhard Wolf (Hg.), Handbuch zur deutschen Außenpolitik, Wiesbaden 2007, S. 101– 111, hier S. 104.
172
Eric Sangar
Debatten der 2000er und 2010er Jahre relativ ahistorische universelle Prinzipien oder aber kurzfristige Kosten-Nutzen-Kalküle als Legitimationsressourcen mobilisiert. Daher stellte die Politikwissenschaftlerin Anna Geis bereits 2005 fest, dass mit dem Verschwinden der historischen Vergleiche […] deutschen Militäreinsätzen in der nationalen Debatte ein starkes Legitimationsmuster abhanden gekommen [ist], mit dessen Hilfe die […] Nachkriegsdeutschen etwa 50 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg wieder an deutsche Soldaten im Ausland gewöhnt wurden.⁷⁸
Dieser Beitrag hat gezeigt, dass die Schwierigkeiten, ein stabiles strategisches Narrativ für die deutsche Außenpolitik seit Ende des Kalten Kriegs zu entwickeln, vor allem auf die Fragmentierung des innergesellschaftlichen Erinnerungsdiskurses zurückzuführen ist. Auch wenn diese Fragmentation kurzfristig zu größeren außenpolitischen Spielräumen der Bundesrepublik führen mag, so ist der damit verbundene Schwund einer traditionellen Legitimationsressource deutscher Außenpolitik mit Sorge zu betrachten – gerade in Zeiten, in denen Deutschland mehr und mehr vor die Herausforderung gestellt wird, einen verlässlichen und substanziellen Beitrag zu einer zunehmend auf sich selbst gestellten europäischen Außenpolitik zu leisten.
Anna Geis, Die Zivilmacht Deutschland und die Enttabuisierung des Militärischen, Frankfurt 2005, S. 11.
Anuschka Tischer
„Das deutsche Volk und sein Führer sind jetzt im Begriffe, den Dreißigjährigen Krieg zu gewinnen …“: Nationalsozialistische Geschichtsrezeption zwischen Instrumentalisierung, historischer Forschung und traditionellem Geschichtsbild Geschichtsdarstellungen im Dienst zeitgenössischer Sinnstiftung waren vor der Entstehung der Geschichtswissenschaft eine ganz übliche Form, die Erinnerung an die Vergangenheit wachzuhalten. Die Geschichtswissenschaft hat diesen Ansatz keineswegs verdrängt. Wissenschaftliche Untersuchungen konkurrieren bis in die Gegenwart hinein mit unterschiedlichen Formen der Geschichtsvermittlung und einer weit über Textdarstellungen hinausgehenden Erinnerungskultur, die nicht selten eine Identität aus der Verbindung von Vergangenheit und Gegenwart konstruieren, die dann zudem bis in eine imaginierte Zukunft hineinprojiziert wird. Auch Historiker und Historikerinnen, die die Vergangenheit auf der Grundlage der hinterlassenen Quellen darstellen, tun dies nicht zuletzt im Kontext ihrer eigenen Gegenwart.¹ Wo die Erinnerungen an die Vergangenheit in den Außenbeziehungen eine Rolle spielen, bewegen sie sich in einem Spannungsfeld unterschiedlicher Darstellungen und Wahrnehmungen. Durch ihren Bezug auf die Vergangenheit fügen die außenpolitischen Akteure diesem Spannungsfeld eine weitere Ebene hinzu, die bis zur Konstruktion neuer Geschichtsnarrative reichen kann, die in den Dienst des politischen Handelns gestellt werden und die bisherigen Geschichtsbilder ergänzen oder aber mit ihnen konkurrieren. Im Folgenden soll als Fallbeispiel eines solchen Erinnerns in den Außenbeziehungen die Konkurrenz unterschiedlicher nationalsozialistischer Konstruktionen und Interpretationen des Dreißigjährigen Kriegs und des Westfälischen Friedens in den Blick genommen werden. Beide Ereignisse wurden 1940 durch die gegen Frankreich gerichtete Propaganda intensiv instrumentalisiert. Diese Argu Dazu grundsätzlich: Erhard Wiersing, Geschichte des historischen Denkens. Zugleich eine Einführung in die Theorie der Geschichte, Paderborn 2007; Gerrit Walther, Geschichte, in: Friedrich Jäger (Hg.), Enzyklopädie der Neuzeit Bd. 4, Stuttgart 2006, Sp. 580 – 592; Johannes Süßmann, Geschichtswissenschaft, in: Ebd., Sp. 615 – 622. https://doi.org/10.1515/9783110726442-013
174
Anuschka Tischer
mentation dauerte allerdings nur relativ kurze Zeit und verhielt sich nicht einmal konsistent zu anderen Darstellungen nationalsozialistischer Politiker und Autoren. Nachdem der Historiker Frank-Lothar Kroll im Vergleich der Aussagen verschiedener Ideologen bereits 1998 die „Heterogenität der einzelnen nationalsozialistischen Geschichtskonzeptionen“² herausgearbeitet hat, ist dieser Befund nicht grundsätzlich überraschend. Allerdings bleibt es nach wie vor eine Forschungsaufgabe, die unterschiedlichen Geschichtsbilder im Nationalsozialismus für die Bereiche, in denen historisches Erinnern stattfand, systematisch und vergleichend zu untersuchen. Das verspricht nicht nur Einblicke in die konzeptionellen Spielräume und argumentativen Inkonsistenzen der nationalsozialistischen Ideologie. Eine solche Untersuchung erweitert auch das Wissen über die konkreten Ereignisse und Sachverhalte, denen in der ideologisch motivierten Erinnerung eine Rolle zugewiesen wurde. Der Blick für die Optionen der Wahrnehmung und der Funktionalisierbarkeit des jeweiligen historischen Gegenstands, der zur Identitätsstiftung und oftmals zugleich zur Feindbildkonstitution nach außen und zur Durchsetzung internationaler Ordnungsmodelle eingesetzt wurde, wird dadurch geschärft.
1 Forschungsüberblick: Geschichtswissenschaft, Geschichtsbilder und Geschichtsvermittlung im Nationalsozialismus Medial gestützte Erinnerungen an die Vergangenheit sind seit der Entstehung der modernen Staaten ein wichtiges Element der Identitätskonstruktion und der Legitimation von politischem Handeln.³ Die Erinnerungskultur und die Darstellungen der Geschichte wurden – und werden – dabei allerdings nicht selten der jeweiligen Absicht untergeordnet und entsprechend konstruiert. Dies gilt erst
Frank-Lothar Kroll, Utopie als Ideologie. Geschichtsdenken und politisches Handeln im Dritten Reich, Paderborn 1998, S. 309. Zur Rolle einer „mediengestützten historisch-politischen Kultur“ im frühneuzeitlichen Staatsbildungsprozess vgl. insbesondere: Johannes Burkhardt, Die Friedlosigkeit der Frühen Neuzeit. Grundlegung einer Theorie der Bellizität Europas, in: ZHF 24. 1997, S. 509 – 574, hier S. 561– 570. Zur Bedeutung der Geschichte für die nationale Identitätskonstruktion vgl. u. a.: Nikolaus Buschmann u. Dieter Langewiesche (Hg.), Der Krieg in den Gründungsmythen europäischer Nationen und der USA, Frankfurt 2003; Rudolf Speth, Nation und Revolution. Politische Mythen im 19. Jahrhundert, Opladen 2000. Für Frankreich: Colette Beaune, Naissance de la nation France, Paris 1985.
Nationalsozialistische Geschichtsrezeption
175
recht im Rahmen eines ideologisch motivierten Erinnerns, in dem ein Bedeutungszusammenhang zwischen Vergangenheit und Gegenwart hergestellt wird, durch den das längst Vergangene vermeintlich erfüllt oder wiedergutgemacht werden soll.⁴ Der Nationalsozialismus war eine solche Ideologie, in der die Erinnerung an die Vergangenheit instrumentalisiert wurde. Dabei ergeben sich verschiedene Fragen – von der nach der Funktion der Geschichte für die nationalsozialistische Ideologie über die nach den Geschichtsbildern bis hin zu der nach ihren Konstrukteuren –, die unterschiedlich gut untersucht sind. Gut erforscht ist mittlerweile die Rolle der Geschichtswissenschaft im Nationalsozialismus. Nachdem sich die Zunft, von einzelnen Pionierstudien abgesehen, lange nur zögerlich ihrer eigenen Vergangenheit gestellt hatte, rückte das Thema in den 1990er Jahren immer stärker in den Fokus. Ein Historikertag in Frankfurt am Main verlieh ihm 1998 allgemeine Aufmerksamkeit und markierte eine Trendwende bei der Reflexion der Geschichtswissenschaft über ihre eigene nationalsozialistische Vergangenheit.⁵ Seither sind zahlreiche Studien erschienen. Zudem sind die Rezeptionsgeschichte eines historischen Gegenstands und insbesondere seine Rezeption im Nationalsozialismus heute ein konstitutiver Teil der historischen Erinnerungskultur: Ausstellungen und andere Gedenkveranstaltungen anlässlich historischer Jubiläen präsentieren, wie sich die Deutung von Ereignissen über Generationen hinweg verändert hat. Auch für diese Entwicklung war das Jahr 1998 markant, als der Rezeptionsgeschichte im Rahmen des 350-jährigen Jubiläums des Westfälischen Friedens erstmals eine zentrale Rolle in der Frühneuzeitforschung zugewiesen wurde.⁶
Vgl. für einen exemplarischen Vergleich kommunistischer und nationalsozialistischer Geschichtskonstruktionen der Frühen Neuzeit: Anuschka Tischer, Zukunft aus einer besseren Vergangenheit oder Zukunft als verbesserte Vergangenheit? Die politische Argumentation mit Geschichte, in: Wolfgang W. Müller u. Franc Wagner (Hg.), Was ist Gerechtigkeit? Interdisziplinäre Zugänge zu einer kulturellen Universalfrage, Basel 2019, S. 135 – 158. Frühe Publikationen zum Thema: Karl Ferdinand Werner, Das NS-Geschichtsbild und die deutsche Geschichtswissenschaft, Stuttgart 1967; Volker Losemann, Nationalsozialismus und Antike. Studien zur Entwicklung des Faches Alte Geschichte 1933 – 1945, Hamburg 1977; Karen Schönwälder, Historiker und Politik. Geschichtswissenschaft im Nationalsozialismus, Frankfurt 1992; Ursula Wolf, Litteris et Patriae. Das Janusgesicht der Historie, Stuttgart 1996; Peter Schöttler (Hg.), Geschichtsschreibung als Legitimationswissenschaft 1918 – 1945, Frankfurt 1997; Ursula Wiggershaus-Müller, Nationalsozialismus und Geschichtswissenschaft. Die Geschichte der Historischen Zeitschrift und des Historischen Jahrbuchs von 1933 – 1945, Hamburg 1998. Die Beiträge des Historikertags von 1998 wurden veröffentlicht von: Winfried Schulze u. Otto Gerhard Oexle (Hg.), Deutsche Historiker im Nationalsozialismus, Frankfurt 1999. Heinz Duchhardt (Hg.), Der Westfälische Friede. Diplomatie – politische Zäsur – kulturelles Umfeld – Rezeptionsgeschichte, München 1998.
176
Anuschka Tischer
In den vergangenen zwei Jahrzehnten entstanden dann zahlreiche Studien zum Verhältnis von Historikerinnen und Historikern zum Nationalsozialismus sowie zum nationalsozialistischen Umgang mit der Geschichte sowie mit der Geschichtswissenschaft. Allerdings bleiben Desiderate. So hat Karl Ferdinand Werner bereits 1967 angeregt, im Rahmen einer Auseinandersetzung mit der Rolle der Geschichtswissenschaft auch das nationalsozialistische Geschichtsbild zu thematisieren.⁷ Er postulierte dabei, dass innerhalb der nationalsozialistischen Ideologie ein in sich schlüssiges Geschichtsbild existiert habe. 1997 konstatierte die Politikwissenschaftlerin Karen Schönwälder allerdings, dass es „nie ein durchgehend beschriebenes, verbindliches NS-Geschichtsbild“ gegeben und vielmehr Forderungen nach einer „rassistischen und nationalsozialistischen Wissenschaft“ neben denen nach „Integration eines konservativ-nationalistischen Geschichtsbildes“⁸ bestanden hätten. Das bekräftigte dann die 1998 publizierte Studie von Kroll, die zeigte, wie unterschiedliche Ideologen innerhalb des Nationalsozialismus, beginnend bei Adolf Hitler selbst, auch unterschiedliche Geschichtsbilder pflegten oder konstruierten.⁹ Kroll affirmierte damit für den Bereich des Geschichtsverständnisses, dass korrespondierend zu der bereits konstatierten „Polykratie der Herrschaftsausübung“ auch ein „Polyzentrismus der ideologischen Konzeptionen“¹⁰ existierte. Dieser Befund kann für die verschiedenen Ebenen, auf denen in dieser Epoche die Vergangenheit erforscht, dargestellt und vermittelt wurde, bestätigt werden. Die Philosophin Ursula Wolf stellte bereits 1996 bei der systematischen Analyse der akademischen Geschichtswissenschaft fest, dass die Geschichtsbilder heterogen blieben und dass trotz politischer Anpassung eher selten von einer konsequent ideologischen Betrachtung der Geschichte an den deutschen Universitäten in der Zeit des Nationalsozialismus gesprochen werden kann.¹¹ Für die „Lehrwerke für den Geschichtsunterricht an Höheren Schulen“¹² aus der Zeit des Nationalsozialismus zeigte die Historikerin Agnes Blänsdorf 2004 die Differenzen zwischen einem ideologischen Postulat und der Realität auf: Der von Innenminister Wilhelm Frick Werner, NS-Geschichtsbild. Karen Schönwälder, „Lehrmeisterin der Völker und der Jugend“. Historiker als politische Kommentatoren, 1933 – 1945, in: Peter Schöttler (Hg.), Geschichtsschreibung als Legitimationswissenschaft 1918 – 1945, Frankfurt 1997, S. 128 – 165, hier S. 139. Kroll, Utopie. Ebd., S. 19. Vgl. auch S. 309. Wolf, Litteris et Patriae. Agnes Blänsdorf, Lehrwerke für den Geschichtsunterricht an Höheren Schulen 1933 – 1945: Autoren und Verlage unter den Bedingungen des Nationalsozialismus, in: Hartmut Lehmann u. Otto Gerhard Oexle (Hg.), Nationalsozialismus in den Kulturwissenschaften, Bd. 1: Fächer – Milieus – Karrieren, Göttingen 2004, S. 273 – 370.
Nationalsozialistische Geschichtsrezeption
177
früh formulierte Anspruch eines nationalsozialistischen Unterrichts stand im Widerspruch dazu, dass Lehrbücher aus der Zeit der Weimarer Republik lange weiter genutzt wurden. Auch die neuen Schulbücher fanden nicht sofort eine klare Linie zwischen traditionellen Geschichtsbildern und ideologischem Anspruch.¹³ Dabei galt Geschichte im Nationalsozialismus „als ideologisch zentrales Fach“.¹⁴ Adolf Hitler hatte ihr schon in „Mein Kampf“ eine solche Rolle zugewiesen. Rückblickend erklärte er sie zu seinem schulischen Lieblingsfach und lobte seinen ehemaligen Lehrer Leopold Pötsch, weil dieser es verstanden habe, „aus Gegenwart Vergangenes zu erleuchten, aus Vergangenheit aber die Konsequenzen für die Gegenwart zu ziehen“.¹⁵ Nach eigener Aussage hatte der Geschichtsunterricht Hitler zum Nationalisten und Gegner des habsburgischen Vielvölkerstaates gemacht. Die Weltgeschichte sei ihm von nun an „zu einem unerschöpflichen Quell des Verständnisses für das geschichtliche Handeln der Gegenwart, also für die Politik“¹⁶ geworden. Hitler entwarf in „Mein Kampf“ konkrete Grundsätze für den Geschichtsunterricht. Dabei zielte er allerdings nicht auf eine Intensivierung, sondern auf eine Kürzung dieses Unterrichts. Der „Hauptwert“ des Geschichtsunterrichts liege „im Erkennen der großen Entwicklungslinien“.¹⁷ Das Ziel gab er klar vor: Denn man lernt eben nicht Geschichte, um nur zu wissen, was gewesen ist, sondern man lernt Geschichte, um in ihr eine Lehrmeisterin für die Zukunft und für den Fortbestand des eigenen Volkstums zu erhalten. Das ist der Zweck [Herv. i. Orig.], und der geschichtliche Unterricht ist nur ein Mittel [Herv. i. Orig.] zu ihm.¹⁸
Zu diesem Zweck war eine gründliche Beschäftigung mit der Geschichte gar nicht erwünscht: Der normale Durchschnittsmensch ist aber kein Geschichtsprofessor. Für ihn ist die Geschichte in erster Linie dazu da, ihm jenes Maß geschichtlichen Einblicks zu verschaffen, das nötig ist für eine eigene Stellungnahme in den politischen Angelegenheiten seines Volkstums.¹⁹
Vgl. ebd., S. 274 f., S. 367– 370. Ebd., S. 274. Adolf Hitler, Mein Kampf. Eine kritische Edition, hg. von Christian Hartmann u. a., Institut für Zeitgeschichte München, Berlin 2016, 2 Bde., hier Bd. 1, S. 117. Ebd., Bd. 1, S. 121. Zum Geschichtsdenken Hitlers: Vgl. Kroll, Utopie, S. 29 – 98. Hitler, Mein Kampf, Bd. 2, S. 1071. Ebd. Ebd., Bd. 2, S. 1071 und 1073.
178
Anuschka Tischer
Für Hitler hatte die Geschichtsvermittlung ganz im Dienst der nationalsozialistischen Zielsetzung – „Volkstum“ und „Rassenfrage“ – zu stehen.²⁰ Geschichtswissenschaft wurde so konsequenterweise zu einer angewandten Wissenschaft beziehungsweise „Legitimationswissenschaft“.²¹ Dass dies mit einem wissenschaftlichen Verständnis von vornherein unvereinbar ist, ist evident. Es setzte aber auch ein einheitliches nationalsozialistisches Geschichtsbild voraus, das tatsächlich gar nicht existierte. Im Folgenden soll nun ein Vergleich für unterschiedliche Interpretationen des Dreißigjährigen Kriegs (1618 – 1648) und des Westfälischen Friedens (1648) unternommen werden. Diese Ereignisse wurden im Zuge des im Herbst 1939 ausgebrochenen Kriegs gegen Frankreich und des 1948 bevorstehenden dreihundertjährigen Jubiläums des Westfälischen Friedens in die nationalsozialistische Propaganda integriert. Trotz dieser klaren argumentativen Stoßrichtung zeigt sich allerdings bei näherer Betrachtung, dass es im Nationalsozialismus keineswegs ein einheitliches Erinnern an den Dreißigjährigen Krieg und den Westfälischen Frieden gab. Das soll an Beispielen aus der Propaganda, aus wirkmächtigen populärhistorischen Darstellungen sowie aus der akademischen Geschichtswissenschaft verdeutlicht werden, deren Autoren sich durchweg als Nationalsozialisten verstanden beziehungsweise ihre Darstellungen in den Dienst der nationalsozialistischen Ideologie stellten.
2 Der Westfälische Frieden in der antifranzösischen Propaganda seit 1940 Die Geisteswissenschaften wurden spätestens mit dem offenen Kriegsausbruch 1939 verstärkt in die Pflicht genommen, sich für den Krieg und den Nationalsozialismus zu engagieren. 1940 kam es im Auftrag des Reichsministeriums für Erziehung, Wissenschaft und Volksbildung zu einem sogenannten „Gemeinschaftswerk“ (oder auch „Kriegseinsatz“) der Geisteswissenschaften, das als „Aktion Ritterbusch“ – nach dem Organisator, dem Kieler Juristen Paul Ritterbusch – bekannt ist.²² Ebenfalls 1940 wurde die Schriftenreihe „Frankreich gegen
Ebd. Schöttler, Geschichtsschreibung als Legitimationswissenschaft. Frank-Rutger Hausmann, „Deutsche Geisteswissenschaft“ im Zweiten Weltkrieg, Die „Aktion Ritterbusch“ (1940 – 1945), Dresden 1998. Vgl. dort zur Rolle der Geschichtswissenschaft besonders S. 177– 203.
Nationalsozialistische Geschichtsrezeption
179
die Zivilisation“ begründet, die mit den „Schriften des Deutschen Instituts für außenpolitische Forschung und des Hamburger Instituts für auswärtige Politik“ gekoppelt war; zwei Institute, die im Dienst der nationalsozialistischen „Auslandswissenschaften“²³ standen. Die bei dem Berliner Verlag Junker und Dünnhaupt erschienenen 25 Titel der Schriftenreihe waren ein interdisziplinärer Ansatz akademisch durchaus qualifizierter Autoren, Frankreich „wissenschaftlich“ zu diskreditieren. Dabei geriet auch die Frühe Neuzeit in den Blick, die im nationalen Narrativ seit dem 19. Jahrhundert als vermeintlicher Tiefpunkt deutscher Entwicklung eher marginalisiert worden war, genau darum aber nun zum Ausgangspunkt eines gegen Frankreich gerichteten Revanchismus und Revisionismus wurde. Ein zentraler Teil des dabei konstruierten Geschichtsbildes war es, Frankreich seit der Regierung Kardinal Richelieus und somit seit dem Dreißigjährigen Krieg eine Außenpolitik zuzuschreiben, die vermeintlich konsequent und erfolgreich darauf gezielt habe, Deutschland, Europa und schließlich die Welt zu dominieren. Als erster Höhepunkt dieser Zielsetzung galt der Westfälische Frieden. Ein Traditionsbogen wurde von diesem Frieden zum Frieden von Versailles geschlagen. In der historischen Konstruktion ging es zunehmend nicht mehr nur darum, den Frieden von Versailles zu revidieren, stattdessen wurde der Westfälische Frieden zum historischen Gegenpol einer von den Nationalsozialisten beschworenen Neuordnung Europas. Im ersten Heft der Schriftenreihe „Frankreich gegen die Zivilisation“ projizierte der Hamburger Geschichtsprofessor Ernst Anrich, der sich bereits frühzeitig nationalsozialistisch positioniert hatte, mit seiner Publikation „Die Bedrohung Europas durch Frankreich. Dreihundert Jahre Hegemoniestreben aus Anmaßung und Angst“ den Beginn des Kampfes gegen Frankreich zurück in das 17. Jahrhundert und die Vorgeschichte dazu noch bis weit in das Mittelalter hinein.²⁴ Nach drei Jahrhunderten ging es laut Anrich nun um den „Endkampf um echtes
Gideon Botsch, „Politische Wissenschaft“ im Zweiten Weltkrieg. Die „Deutschen Auslandswissenschaften“ im Einsatz 1940 – 1945, Paderborn 2005. Zu der Schriftenreihe „Frankreich gegen die Zivilisation“: Vgl. Hausmann, Geisteswissenschaft, S. 369. Ernst Anrich, Die Bedrohung Europas durch Frankreich. Dreihundert Jahre Hegemoniestreben aus Anmaßung und Angst (= Frankreich gegen die Zivilisation, Heft 1; Schriften des Deutschen Instituts für außenpolitische Forschung und des Hamburger Instituts für auswärtige Politik, Heft 56), Berlin (Junker und Dünnhaupt) 1940. Zu Anrich: Vgl. zahlreiche Nennungen in: Wolf, Litteris et Patriae, u. a. seine Einordnung S. 90; Ernst Klee, Das Personenlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945, Frankfurt 2003, S. 17.
180
Anuschka Tischer
und lebensvolles Europa oder ‚französisches‘ Europa“.²⁵ Noch im selben Jahr, 1940, folgte der promovierte Völkerrechtler Franz Dettmann mit dem bereits elften Heft der Reihe unter dem Titel „Völkerrecht und französische Machtpolitik von Richelieu bis Reynaud“.²⁶ Er argumentierte, Frankreich unterdrücke seit der Regierungszeit Kardinal Richelieus andere Länder mithilfe des Völkerrechts, weshalb es auch müßig sei, dem Land mit Rechtsmitteln entgegentreten zu wollen. Die Zuspitzung der Parallelsetzung von Westfälischem und Versailler Frieden und der Darstellung des Kriegs gegen Frankreich als Abschluss eines jahrhundertelangen Kampfes um die europäische Ordnung stellte schließlich die 1942 im Zentralverlag der NSDAP erschienene Broschüre „Das Testament Richelieus“²⁷ des Völkerrechtsprofessors Friedrich Grimm dar, der als Nationalsozialist juristisch und publizistisch vielfältig aktiv war und es auch nach 1945 blieb. Als dieses „Testament“ bezeichnete Grimm einen vermeintlichen Masterplan, den Richelieu für eine bis in das 20. Jahrhundert wirkende hegemoniale Außenpolitik entworfen habe. Pointiert formulierte Grimm: Das deutsche Volk und sein Führer sind jetzt im Begriffe, den Dreißigjährigen Krieg zu gewinnen und den Westfälischen Frieden zu überwinden. […] Der großdeutsche Freiheitskrieg wird die Idee Richelieus überwinden durch eine neue, gerechte und vernünftige Ordnung Europas, die uns der Führer erkämpft.²⁸
Schon ein historischer Konnex zwischen Richelieu und dem Westfälischen Frieden ist nicht unproblematisch, war der Kardinal doch bereits 1642 gestorben, also zwei Jahre vor dem Beginn der Friedensverhandlungen und sechs Jahre vor dem Friedensschluss. Von einer schlichten Umsetzung seiner Pläne im Westfälischen Frieden kann angesichts der militärischen und diplomatischen Dynamik sowie der Kurskorrekturen seiner politischen Nachfolger gar keine Rede sein.²⁹ Zudem Anrich, Bedrohung, S. 58. Das Fehlen der Artikel entspricht der Vorlage. Zur nationalsozialistischen Europakonzeption: Vgl. Birgit Kletzin, Europa aus Rasse und Raum. Die nationalsozialistische Idee der neuen Ordnung, Münster 22002. Franz Dettmann, Völkerrecht und französische Machtpolitik von Richelieu bis Reynaud (= Frankreich gegen die Zivilisation, Heft 11; Schriften des Deutschen Instituts für außenpolitische Forschung und des Hamburger Instituts für auswärtige Politik, Heft 66), Berlin (Junker und Dünnhaupt) 1940. Friedrich Grimm, Das Testament Richelieus (= Europäische Politik Bd. 3), Berlin (Zentralverlag der NSDAP) 1942. Für Hinweise auf Grimm: Vgl. Andreas Eichmüller, Keine Generalamnestie. Die strafrechtliche Verfolgung von NS-Verbrechen in der frühen Bundesrepublik, München 2012, S. 106 – 109 und S. 260; Klee, Personenlexikon, S. 200 f. Grimm, Testament, S. 133. Vgl. dazu: Anuschka Tischer, Französische Diplomatie und Diplomaten auf dem Westfälischen Friedenskongreß. Außenpolitik unter Richelieu und Mazarin, Münster 1999.
Nationalsozialistische Geschichtsrezeption
181
existiert ein politisches Testament Richelieus, das mit den ihm von Grimm zugeschriebenen Intentionen insgesamt nicht in Einklang zu bringen ist. Dieses und andere politische Konzepte des Kardinals waren der deutschsprachigen Leserschaft gut zugänglich, seit Wilhelm Mommsen sie 1926 in einer Übersetzung von Frieda Schmidt herausgegeben hatte.³⁰ Friedrich Grimm rezipierte nicht nur diese Schrift, sondern sogar die zeitgenössische französische Forschung.³¹ Doch für ihn existierte das „Testament als Idee“ gleichsam jenseits der Quellen; eine Idee, die seither von der französischen Außenpolitik „wie ein unabänderliches Gesetz befolgt worden“³² sei und der deutschen Einheit entgegengestanden habe. Dieses Testament Richelieus habe einen „Krieg der drei Jahrhunderte“ respektive „drei Dreißigjährige Kriege“³³ verursacht: den von 1618 bis 1648, die Auseinandersetzungen mit Frankreich zwischen 1789 und 1815 und schließlich die seit dem Ersten Weltkrieg. Im gegenwärtigen Krieg sollte mithin das vermeintlich seit dem 17. Jahrhundert gültige politische Vermächtnis – das „Testament Richelieus“ – überwunden werden. Die Argumentationen Anrichs, Dettmanns und Grimms stellten den Krieg gegen Frankreich insgesamt in eine Traditionslinie, die darauf hinauslief, dass Deutschland unter Adolf Hitler nicht nur den Versailler Frieden beseitigen müsse, sondern dass es darum gehe, Frankreichs dreihundertjährigen Kampf gegen die deutsche Einheit endgültig zu überwinden, um die ebenso lange französische Unterdrückung Europas zu revidieren, die mit dem Westfälischen Frieden feste Formen angenommen habe. Die Schriften könnten zweifellos um noch weitere ergänzt werden, aber, an prägnanter Stelle erschienen, sind sie exemplarisch für die Stoßrichtung einer gegen Frankreich gerichteten nationalsozialistischen Propaganda, welche sich der Erinnerung an den Westfälischen Frieden bediente und damit bis in die Tagespresse hinein wirkte.³⁴ Das 1948 anstehende dreihundertjährige Jubiläum des Westfälischen Friedens war bereits in die Propaganda integriert. Eduard Schulte,³⁵ Stadtarchivar in Münster und NSDAP-Mitglied, engagierte sich seit 1937 dafür, diesem für die Stadt
Richelieu. Politisches Testament und kleinere Schriften. Übersetzung von Frieda Schmidt. Eingeleitet und ausgewählt von Wilhelm Mommsen, Berlin 1926. Grimm, Testament, S. 9 – 22. Ebd., S. 23. Ebd., S. 132. Hans-Joachim Behr, „Reichsausstellung“ und „Forschungsstelle Westfälischer Frieden“. Zwei nationalsozialistische Kulturvorhaben in Münster, in: Westfalen 61. 1983, S. 9 – 23, hier S. 12. Zu Schulte: Vgl. Karl Ditt, Kulturpolitik aus Opportunismus? Der Stadtarchivar Dr. Eduard Schulte in Münster 1933 – 1945, in: Franz-Josef Jakobi u. Thomas Sternberg (Hg.), Kulturpolitik in Münster während der nationalsozialistischen Zeit, Münster 1990, S. 39 – 61.
182
Anuschka Tischer
einschlägigen historischen Ereignis 1948 eine größere Erinnerungsveranstaltung zu widmen. Dieses Unternehmen gewann 1940 unter der Aufsicht des Propagandaministeriums entscheidend an Fahrt. Joseph Goebbels besuchte Münster persönlich. Kurz darauf hielt Friedrich Grimm in der Stadt vor Funktionären eine programmatische Rede, in der er die These vertrat, dass der gegenwärtige Krieg der Überwindung des Westfälischen Friedens diene, wie er es zwei Jahre später in seiner Propagandabroschüre weiter ausführen sollte. Finanziell und personell üppig ausgestattet, bereitete Eduard Schulte nun eine Reichsausstellung über den Westfälischen Frieden vor, für die das Motto lautete: „Frankreichs grösster Triumph/Deutschlands tiefste Schmach“.³⁶ Die öffentliche Erinnerung sollte propagandistisch völlig auf die Gegnerschaft zu Frankreich hin ausgerichtet werden, die auch hier in eine europäische Dimension gestellt wurde, sodass das nationalsozialistische Deutschland mit einem Sieg über Frankreich ein neues Europa ankündigte. Die Ausstellung wurde innerhalb kürzester Zeit 1940 präsentationsfähig aufgestellt. Da sie erst 1948 öffentlich gezeigt werden sollte, war sie im Prinzip nicht auf die tagespolitische beziehungsweise kriegerische Agitation hin angelegt, sondern darauf, den mit Frankreich zu schließenden Friedensvertrag historisch in einen größeren propagandistischen Rahmen zu setzen. Entsprechend gab es Überlegungen, diesen Friedensvertrag wiederum in Münster zu schließen, was die Analogie der Überwindung des Westfälischen Friedens weiter auf die Spitze getrieben hätte. Zur Ausstellung war ein Ufa-Film über den Westfälischen Frieden geplant, über dessen konkrete Inhalte, Realisierung und eventuellen Verbleib sich aber nichts sagen lässt.³⁷ Von der Realität wurde die Ausstellung bald wieder überholt: Nach dem schnellen militärischen Erfolg gegen Frankreich verlor sie ihre prägnante politische Bedeutung. Ende 1940 wurde sie abgebaut und 1942 zusammen mit Archivgut nach Schloss Wöbbel in Lippe evakuiert. Eduard Schulte arbeitete aber weiter an der Ergänzung der Ausstellung, die ausgewählten Besuchern noch 1944 gezeigt wurde.³⁸ Angesichts des vollkommen anderen Verlaufs der Ereignisse ist die 1940 konzipierte Ausstellung über den Westfälischen Frieden – oder genauer: über die nationalsozialistische Außenpolitik als vermeintliche Revision des Westfälischen Friedens – niemals öffentlichkeitswirksam geworden.Vielmehr unterlag sie
Behr, „Reichsausstellung“, S. 12. Das Motto findet sich auf einer ebd., S. 21, Abb. 13, abgebildeten Schautafel aus der Ausstellung. Zahlreiche Exponate und Materialien zur Ausstellung wurden zerstört. Erhaltene Objekte befinden sich aber noch im Landesarchiv NRW, Abteilung Westfalen, Münster, Findbuch V 601. Behr, „Reichsausstellung“, S. 15 – 18. Ebd., S. 18 und 22. Vgl. zudem die in Anm. 36 zitierte Dokumentation im Landesarchiv NRW.
Nationalsozialistische Geschichtsrezeption
183
weitgehender Geheimhaltung, während in Osnabrück ein Museum „Westfälischer Friede“ eröffnet wurde. Es sollte eigentlich einen ergänzenden Teil zur Reichsausstellung darstellen, doch agierte der verantwortliche Leiter Ludwig Bäte eigenmächtig und in Konkurrenz zu Münster, ohne dass dieses Museum die Durchschlagskraft der geplanten Reichsausstellung entfaltet hätte.³⁹ Eduard Schulte und der bei Fritz Hartung promovierte Historiker Friedrich Kopp publizierten allerdings 1940 die Monographie „Der Westfälische Frieden. Vorgeschichte – Verhandlungen – Folgen“.⁴⁰ Kopp, der bereits mit einer Schrift mit dem bezeichnenden Titel „Deutschland – Europas Bollwerk im Osten. Germanische Leistungen für Europas Sicherheit“⁴¹ hervorgetreten war, stand noch stärker als Schulte für eine klare ideologische Positionierung. Er arbeitete im Amt Alfred Rosenbergs und wollte sich bei dem nationalsozialistischen Pädagogen Alfred Baeumler in Berlin habilitieren, der zu Schultes und Kopps Buch auch ein Geleitwort verfasste. Die Habilitation wurde 1941 von der Kommission abgelehnt, weil Kopps rassisch argumentierende Studie, in der er selbst Heinrich von Treitschke mangelndes völkisches Denken vorwarf, den qualitativen Standards nicht entsprach und als ahistorisch zurückgewiesen wurde.⁴² Kopps und Schultes „Der Westfälische Frieden“ erschien in dem von der NSDAP übernommenen Hoheneichen-Verlag. Vordergründig kam das Buch als faktengestützte und mit zahlreichen Abbildungen versehene Studie weniger plakativ daher als die offensichtlichen Propagandabroschüren. Inhaltlich aber schlug es in genau dieselbe Kerbe und zog klare Parallelen zwischen dem Westfälischen Frieden und dem Frieden von Versailles sowie zwischen der französischen Politik im 17. und im 20. Jahrhundert. Neben der antifranzösischen Stoßrichtung positionierte die Darstellung das historische Geschehen zudem klar in eine antisemitische und eine antikatholische Richtung. Kopps und Schultes Buch rundete die zugespitzten Propagandabroschüren ab und bereitete zweifellos das Terrain für eine Ausstellung, die 1948 die Erinnerung an den Westfälischen Frieden abschließend gegen Frankreich und für eine neue europäische Ordnung hätte instrumentalisieren sollen. Mit drei Auflagen bis 1943 kann dem Werk eine
Behr, „Reichsausstellung“, S. 17. Friedrich Kopp u. Eduard Schulte, Der Westfälische Frieden. Vorgeschichte – Verhandlungen – Folgen. Mit einem Geleitwort von Alfred Baeumler, München 1940. Vgl. auch Behr, „Reichsausstellung“, S. 17. Friedrich Kopp, Deutschland – Europas Bollwerk im Osten. Germanische Leistungen für Europas Sicherheit (= Bolschewismus 8), München (Zentralverlag der NSDAP) 1939. Zu Kopp und insbesondere dessen gescheitertem Habilitationsverfahren: Vgl. Christian Tilitzki, Die deutsche Universitätsphilosophie in der Weimarer Republik und im Dritten Reich, Teil 1, Berlin 2002, S. 859 – 863.
184
Anuschka Tischer
gewisse Wirkung zugesprochen werden, zumal eine anderweitige Darstellung des Westfälischen Friedens nicht existierte und die Presse das Buch und seine ideologische Ausrichtung bewarb: Das von Baeumler verfasste Geleitwort wurde im Oktober 1940 in mehreren Zeitungen abgedruckt, so im Völkischen Beobachter mit dem klaren Titel „Der Friede des Westens“.⁴³ Wirkmächtig ist das Buch bis in die Gegenwart, denn 2008 brachte der rechtsextreme „Verlag für ganzheitliche Forschung“ (Verlagsgruppe Bohlinger) in Viöl ein Reprint heraus, das den Titel trägt: „Der Westfälische Frieden. Ein Vernichtungsfrieden nach 30jährigem, von christlichen Machthabern betriebenem Vernichtungskrieg, der mehr als zwei Dritteln des Deutschen Volkes das Leben nahm und weitgehend auch die Kultur zerstörte.“ Wie verhielt sich aber nun die von der nationalsozialistischen Propaganda um 1940 herum mit großem medialem Aufwand von Ernst Anrich, Franz Dettmann, Friedrich Grimm, Eduard Schulte, Friedrich Kopp und anderen konstruierte antifranzösische Erinnerung an den Westfälischen Frieden zu den populären Geschichtsdarstellungen, die bereits von nationalsozialistisch gesinnten Autoren existierten?
3 Dreißigjähriger Krieg und Westfälischer Frieden in populären Geschichtsdarstellungen nationalsozialistischer Autoren Im Folgenden soll das seit 1940 gegen Frankreich konstruierte Bild von Dreißigjährigem Krieg und Westfälischem Frieden auf seine Konsistenz innerhalb des Nationalsozialismus hin überprüft werden. Konkret werden dazu vier Werke genauer in den Blick genommen: Erich Czech-Jochbergs „Geschichte des deutschen Volkes“ von 1933,⁴⁴ Friedrich Stieves 1934 erstmals erschienene „Geschichte des Deutschen Volkes“,⁴⁵ Hans Henning Freiherr von Grotes „Schicksalsbuch des deutschen Volkes. Von Hermann dem Cherusker bis Adolf Hitler“ von 1940⁴⁶ und
Alfred Baeumler, Der Friede des Westens, in: Völkischer Beobachter (Wiener Ausgabe), 13. Oktober 1940, [S. 12] (Literaturblatt), Digitalisat der Österreichischen Nationalbibliothek, http://anno.onb.ac.at/cgi-content/anno?aid=vob&datum=19401013&seite=12&zoom=20. Nachweise der Publikation in weiteren Zeitungen: Vgl. Behr, „Reichsausstellung“, S. 17. Erich Czech-Jochberg, Geschichte des deutschen Volkes, Leipzig 1933. Friedrich Stieve, Geschichte des Deutschen Volkes, München 131943 [1. Auflage: 1934]. Hans Henning Freiherr von Grote, Das Schicksalsbuch des deutschen Volkes. Von Hermann dem Cherusker bis Adolf Hitler, Berlin [1940].
Nationalsozialistische Geschichtsrezeption
185
Richard Suchenwirths „Deutsche Geschichte. Von der germanischen Vorzeit bis zur Gegenwart“ von 1940.⁴⁷ Das waren durchweg historische Gesamtentwürfe der deutschen Geschichte im Sinne der von Hitler geforderten großen Entwicklungslinien, deren Autoren Mitglieder oder sogar Funktionäre der NSDAP waren und ihre Werke ausdrücklich sowohl als nationalsozialistische Geschichtsdarstellungen als auch zugleich als politische Werke mit Gegenwartsbezug verstanden, eben wie Hitler es in „Mein Kampf“ postuliert hatte. Die vier Autoren waren keine in der Wissenschaft tätigen Historiker, zum Teil waren sie nicht einmal studierte Historiker: Der aus Böhmen gebürtige österreichische Journalist Erich Czech-Jochberg war ein populärer nationalsozialistischer Schriftsteller, der allerdings rasch in Ungnade fiel.⁴⁸ Er bezeichnete sein Werk ausdrücklich als „die Arbeit eines politischen Schriftstellers, nicht eines zünftigen Historikers“. Er schreibe, so Czech-Jochberg, „nicht die Geschichte der Politik, sondern die Politik der Geschichte“ und bezog sich, wenn auch ohne „amtlichen Charakter“,⁴⁹ auf die Richtlinien Fricks. Der Diplomat und studierte Historiker Friedrich Stieve war Leiter der Kulturpolitischen Abteilung des Auswärtigen Amtes und damit auch professionell in die nationalsozialistische Politik einbezogen.⁵⁰ Richard Suchenwirth war ein Historiker, der 1926 die österreichische NSDAP mitbegründet hatte und nach 1933 verschiedene Positionen in der deutschen Kulturpolitik und Lehrerbildung einnahm.⁵¹ Hans Henning Freiherr von Grote war Offizier und Schriftsteller. Ihre vier Werke stellen nicht das ganze Spektrum ideologischer Geschichtsschreibung dar, aber sie stehen exemplarisch für die Breite dieses Spektrums. Alle vier erreichten mit ihren populären Darstellungen eine größere Leserschaft: Stieves „Geschichte des Deutschen Volkes“ erlebte bis 1943 13 Auflagen mit 84.000 Exemplaren, Suchenwirths „Deutsche Geschichte“ wurde bis 1940 bereits in 650.000 Exemplaren verlegt. Diese Bücher hatten also zugleich den Anspruch und die Möglichkeit, die Vergangenheit für den Nationalsozialismus breitenwirksam zu instrumentalisieren. Jeder ging dabei auf seine eigene, von ihm selbst entworfene Weise vor, wobei es aber keinem gelang, einen konkret nationalsozialistischen Akzent auf die Ge-
Richard Suchenwirth, Deutsche Geschichte.Von der germanischen Vorzeit bis zur Gegenwart, Leipzig 1940. Vgl. Ernst Klee, Das Kulturlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945, Frankfurt 2009, S. 91. Czech-Jochberg, unpaginiertes Vorwort. Zu den Vorgaben Fricks: Vgl. Blänsdorf, Lehrwerke. Zu Stieve: Vgl. Ingo Haar, Historiker im Nationalsozialismus. Deutsche Geschichtswissenschaft und der „Volkstumskampf“ im Osten, Göttingen 2000, S. 206. Ludwig Jedlicka, Vom alten zum neuen Österreich. Fallstudien zur österreichischen Zeitgeschichte. 1900 – 1975, St. Pölten 1975, S. 211 f.; Klee, Personenlexikon, S. 614 f.
186
Anuschka Tischer
samtentwicklung zu setzen. Eine Geschichtsdarstellung unter konsequenter Betonung des rassischen Faktors war keines der Werke. In Czech-Jochbergs „Blick auf die Deutsche Geschichte von einem Nationalsozialisten“ machte die Geschichte bis 1914 nicht einmal ein Drittel der Darstellung aus. Suchenwirths und Stieves längere Darstellungen waren in weiten Teilen traditionelle nationale Narrative, die trotz ihres Anspruchs für die meisten Epochen kein originelles Geschichtsbild lieferten. Der rote Faden bei Stieve war insbesondere die Warnung vor fehlender Geschlossenheit als dem Manko deutscher Geschichte. Die achte und die neunte Auflage erweiterte er dann sukzessive um die Zeit nach 1933, die er retrospektiv mit Bezügen auf die Vergangenheit erklärte. Die deutsche Geschichte bündelte sich nun in Hitler als dem „Vollstrecker des allgemeinen Willens“.⁵² Das Vorwort, das klare Bekenntnis zum Nationalsozialismus und das Kapitel zur Geschichte nach 1933 geben Stieves Werk seinen instrumentalisierenden Kontext. Die Gesamtdarstellung selbst ist hingegen ohne diesen Rahmen kaum als nationalsozialistisch erkennbar. Dagegen bemühte sich von Grote in seinem „Schicksalsbuch des deutschen Volkes“ stärker, eine langfristige nationale Idee zu konstruieren. Bei ihm war die deutsche Geschichte ein Gegeneinander von Helden der nationalen Idee und ihren Verrätern. Uneinheitlich waren die Autoren aber nicht nur in ihrer Herangehensweise, sondern auch in den Geschichtsbildern selbst. Grundsätzlich ließ sich jedes historische Ereignis, jeder historische Prozess nationalsozialistisch aufladen. Dabei gab es in den vier Werken gewisse Kernvorstellungen: Ein Grundpfeiler war die Nennung von Arminius als der vermeintlich ersten historischen Gestalt des Germanentums und Befreier Germaniens. Das Mittelalter galt als die Blütezeit der deutschen Nation, der Westfälische Frieden als ihr Tiefpunkt, der Wiederaufstieg war mit Brandenburg-Preußen und schließlich Bismarck verbunden. Der Friedensvertrag von Versailles war der Punkt, an dem bei allen Autoren Geschichte mit Politik identisch war, war doch die Ablehnung dieses Friedens ein zentraler Programmpunkt des Nationalsozialismus. Darüber hinaus gab es allerdings zahlreiche Epochen oder Ereignisse, die nicht klar ideologisch besetzt waren und die im Hinblick auf die zeitgenössische nationalsozialistische Politik unterschiedlich interpretiert wurden. Was sich in keinem der Werke finden lässt, ist die in der Propaganda seit 1940 konsequent bediente These von Richelieu als einem vermeintlichen Initiator des Westfälischen Friedens im Kontext einer langfristigen und konsequenten französischen Politik zur Unterdrückung Deutschlands und Europas. Die vier Autoren schrieben Geschichte als einen vermeintlichen Niedergang und Wiederaufstieg
Stieve, Geschichte, 131943, S. 467.
Nationalsozialistische Geschichtsrezeption
187
des deutschen Volkes. Frankreich war dabei der Profiteur. Den verschiedenen französischen Akteuren wurde zugeschrieben, die jeweiligen Konjunkturen planvoll und skrupellos genutzt, nicht aber, sie verursacht zu haben. Von Grote verglich den Westfälischen Frieden von 1648 mit dem von Versailles, denn beide waren für ihn diktierte Frieden: „in seinen Absichten, seinen Folgen besitzt dieses Dokument nur noch einen Vergleich in der Geschichte: mit jenem Friedensinstrument, das nach dem Verlust des Weltkrieges Deutschland zu Versailles auferlegt worden ist“.⁵³ Als Verräter an der nationalen Sache machte er aber Kaiser Ferdinand II. aus, kulminierend in der Ermordung Albrecht von Wallensteins, den die vier Autoren im Übrigen völlig unterschiedlich bewerteten. Von Grote sah in ihm den eigentlichen Träger des deutschen Nationalgedankens in dieser Epoche.⁵⁴ Den Dreißigjährigen Krieg interpretierten sowohl von Grote als auch Stieve, Czech-Jochberg und Suchenwirth – historisch durchaus angemessen – aus der Entwicklung in Deutschland selbst und der Glaubensspaltung heraus.
4 Fazit Die nationalsozialistische Propaganda entwarf also seit 1940 ein neues, eigenständiges Geschichtsbild vom Dreißigjährigen Krieg und Westfälischen Frieden, das zwar an antifranzösische Ressentiments in der deutschen Geschichtsschreibung anknüpfen konnte, sich aber konkret weder in Übereinstimmung mit der allgemeinen – auch deutschen – Geschichtswissenschaft⁵⁵ noch mit bereits existierenden, dezidiert nationalsozialistischen Darstellungen der deutschen Geschichte befand. Das Erinnern an den Westfälischen Frieden war bis zum Ende des Heiligen Römischen Reiches 1806 positiv besetzt, Frankreich hatte darin nur eine marginale Rolle gespielt.⁵⁶ Unter nationalen Vorzeichen schlug diese Wahrnehmung um, doch wurden mit dem Frieden unterschiedliche Aspekte verbunden. In einer preußisch-protestantischen Rezeption spielte die konfessionelle Absicherung der Protestantinnen und Protestanten im Westfälischen Frieden nach wie vor eine Rolle. In nationaler respektive staatlicher Hinsicht galt der Westfälische Frieden im 19. Jahrhundert zum Beispiel im Werk Leopold von Rankes oder Johann Gustav Droysens als Tiefpunkt der deutschen Geschichte, und es war eine weit verbreitete Ansicht, dass Frankreich – neben anderen aus Von Grote, Schicksalsbuch, S. 157. Ebd., S. 150 ff. Namentlich zur ausgewogenen, zum Teil sogar bewundernden deutschen Richelieu-Historiographie dieser Zeit vgl.: Wolf, Litteris et Patriae, S. 361– 363. Vgl. dazu auch den Beitrag von Christoph Kampmann in diesem Band.
188
Anuschka Tischer
wärtigen Mächten – von diesem Zustand politisch profitiert habe. Allerdings ordnete sich dieses Narrativ zugleich in den Aufstieg beziehungsweise Wiederaufstieg unter preußischer Führung ein. Von einem Fortwirken des Westfälischen Friedens über das Alte Reich hinaus war keine Rede, und eine vermeintliche deutsche Schwäche galt im Verlauf des 19. Jahrhunderts als überwunden.⁵⁷ Die Geschichtsschreiber Stieve, Czech-Jochberg, Suchenwirth und von Grote, die sich selbst als nationalsozialistische Autoren verstanden, orientierten sich weiterhin an diesem traditionellen nationalen Narrativ, auch wenn sie aus den Entwicklungen des 20. Jahrhunderts heraus neue Akzente setzten. Im Zuge des Kriegsbeginns konstruierte die nationalsozialistische Propaganda dann unter Einsatz verschiedener Medien und unterstützt von akademisch qualifizierten Autoren wie Ernst Anrich, Franz Dettmann, Friedrich Grimm, Eduard Schulte oder Friedrich Kopp die Erinnerung an den Westfälischen Frieden neu und auf die Gegnerschaft zu Frankreich hin. Zu anderen Darstellungen, die seit 1933 publiziert worden waren oder auch noch parallel zu der neuen Linie veröffentlicht wurden, verhielt sich die dezidiert antifranzösische Erinnerung an den Westfälischen Frieden nicht völlig konträr, aber eben auch nicht konsistent. Als besonders wendig erwies sich allerdings Friedrich Stieve, der neben seiner weiterhin aufgelegten „Geschichte des Deutschen Volkes“ 1940 ein neues Buch vorlegte, in dem er die deutsche Geschichte nicht mehr als Mahnung zur Geschlossenheit, sondern, beginnend mit dem Dreißigjährigen Krieg, als Warnung vor der äußeren Bedrohung darstellte.⁵⁸ Was letztlich im kollektiven Bewusstsein wirkte – das Geschichtsbild von der selbst verschuldeten deutschen Schwäche, die andere Mächte zeitweilig hatte profitieren lassen, oder die Vorstellung eines jahrhundertelangen kontinuierlichen Kampfes gegen Frankreich, der mit der nationalsozialistischen Bewegung beziehungsweise mit dem Kriegsbeginn 1939 in die entscheidende Phase trat –, lässt sich kaum beantworten. Adolf Hitler selbst bediente in einer Rede in Berlin im Januar 1940 noch das traditionelle Bild von der deutschen Schwäche, wobei er als Profiteur neben Frankreich auch England ausmachte:
Zum Erinnern an den Westfälischen Frieden: Vgl. Bernd Schönemann, Die Rezeption des Westfälischen Friedens durch die deutsche Geschichtswissenschaft, in: Heinz Duchhardt (Hg.), Der Westfälische Friede. Diplomatie – politische Zäsur – kulturelles Umfeld – Rezeptionsgeschichte, München 1998, S. 805 – 825; Konrad Repgen, Der Westfälische Friede: Ereignis und Erinnerung, in: HZ 267. 1998, S. 615 – 647; Heinz Duchhardt, Der Westfälische Friede im Fokus der Nachwelt, Münster 2014; Anuschka Tischer, „Pax optima rerum“? Stimmen aus dem deutschen Liberalismus zum Westfälischen Frieden im Kontext der allgemeinen Rezeptionsgeschichte, in: Jahrbuch zur Liberalismus-Forschung 31. 2019, S. 29 – 42. Friedrich Stieve, Wendepunkte europäischer Geschichte: vom Dreißigjährigen Krieg bis zur Gegenwart, Leipzig 1940.
Nationalsozialistische Geschichtsrezeption
189
England hat seit 300 Jahren das Ziel verfolgt, eine wirkliche Konsolidierung Europas zu verhindern, genau so, wie Frankreich eine Konsolidierung Deutschlands seit vielen Jahrhunderten zu unterbinden sich bemühte. […] Und auch französische Generale, sie sprechen es ganz offen aus, um was es geht. Ich glaube, daß wir uns so auch leichter verständigen können. Warum denn nur mit diesen verlogenen Phrasen kämpfen? Warum nicht offen sagen? Es ist uns das so viel lieber! Wir wissen ganz genau, welches Ziel sie haben, ob Herr Chamberlain mit der Bibel geht oder nicht, ob er fromm tut oder nicht, ob er die Wahrheit sagt oder ob er lügt, wir wissen das Ziel: es ist das Deutschland von 1648, das ihnen vorschwebt, das aufgelöste und zerrissene Deutschland. Sie wissen genau, hier in diesem Mitteleuropa sitzen über 80 Millionen Deutsche. Diese Menschen haben auch einen Lebensanspruch – ihnen gebührt auch ein Lebensanteil – und 300 Jahre lang sind sie darum betrogen worden. Sie konnten nur betrogen werden, weil sie infolge ihrer Zerrissenheit das Gewicht ihrer Zahl nicht zur Geltung zu bringen vermochten.⁵⁹
Einen tatsächlichen Versuch, das Geschichtsbild vom Dreißigjährigen Krieg aus einer nationalsozialistischen und rassischen Perspektive zu revidieren, unternahm allerdings der Jenaer Ordinarius Günther Franz in seiner ebenfalls 1940 publizierten Studie „Der Dreißigjährige Krieg und das deutsche Volk“.⁶⁰ Franz, Mitglied der NSDAP und der SS, stellte den kursierenden – zum Teil in der Tat völlig unrealistischen – Zahlen von den Bevölkerungsverlusten, die der Dreißigjährige Krieg verursacht habe, relativierende Forschungen entgegen. In der Zeit des Nationalsozialismus wurden sie allerdings kaum rezipiert. Es dominierte vielmehr die Vorstellung von einer durch den Dreißigjährigen Krieg bedingten Schwächung des deutschen Volkes und von einem durch Migrationen kompensierten Bevölkerungsrückgang: Hitler sprach von „blutsmäßigen Vergiftungen“, die den „Volkskörper besonders seit dem Dreißigjährigen Kriege“ getroffen hätten,⁶¹ Kopp und Schulte in ihrer Darstellung des Westfälischen Friedens von „einer besonders starken Überfremdung des einheimischen Blutes“.⁶² Was aus der Perspektive der nationalsozialistischen Rassenideologie eigentlich kaum ak-
Rede Adolf Hitlers in Berlin vom 30. Januar 1940, in: Max Domarus, Hitler. Reden und Proklamationen. 1932– 1945. Kommentiert von einem deutschen Zeitgenossen, Bd. 2, s.l. 1963, S. 1454– 1456. Günther Franz, Der Dreißigjährige Krieg und das deutsche Volk. Untersuchungen zur Bevölkerungs- und Agrargeschichte (= Arbeiten zur Landes- und Volksforschung 6), Jena 1940. Vgl. Wolfgang Behringer, Von Krieg zu Krieg. Neue Perspektiven auf das Buch von Günther Franz „Der Dreißigjährige Krieg und das deutsche Volk“ (1940), in: Benigna von Krusenstjern u. Hans Medick (Hg.), Zwischen Alltag und Katastrophe. Der Dreißigjährige Krieg aus der Nähe, Göttingen 1999, S. 543 – 591. Hitler, Mein Kampf, Bd. 2, S. 1013. Kopp u. Schulte, Der Westfälische Frieden, S. 36.
190
Anuschka Tischer
zeptabel sein konnte, diente dennoch als Beweis für die Wehrhaftigkeit des deutschen Volkes, sich aus einer demographischen Schwäche erfolgreich wieder emporarbeiten zu können.⁶³ Das machte tatsächlich einen Kern der Geschichtsbilder aus, die in der Zeit des Nationalsozialismus um den Dreißigjährigen Krieg herum konstruiert wurden, und wie der Nachdruck von Kopps und Schultes „Der Westfälische Frieden“ 2008 zeigt, wird dieser Mythos im nationalistischen Kontext bis heute gepflegt. Insgesamt lässt sich festhalten, dass im Nationalsozialismus nicht nur kein einheitliches Geschichtsbild existierte, sondern dass selbst eine ideologisch konsistente Erinnerung an ein begrenztes Ereignis wie den Dreißigjährigen Krieg mit dem Westfälischen Frieden nicht erreicht wurde. Der intensive Versuch, dieses Ereignis durch Fachwissenschaftler mit Gegenwartsbezug zu füllen, produzierte dabei gerade neue Inkonsistenzen und trug keineswegs dazu bei, ältere Geschichtsbilder zu revidieren oder zu ersetzen. Darüber hinaus ist festzuhalten, dass der Vergangenheit in den Außenbeziehungen eine wichtige Rolle zugewiesen wurde. Der Westfälische Frieden, wie immer auch sein Zustandekommen gedeutet wurde, sollte nach rund 300 Jahren überwunden werden. Das Bild, das dabei vom Westfälischen Frieden entworfen wurde, war keine Imagination, sondern eine ideologisch gefärbte Rezeption historischer Sachverhalte. Im Rahmen einer Rezeptionsgeschichte erweist sich das komplexe historische Ereignis des Westfälischen Friedens als nahezu ideal für immer neue gegenwartsbezogene Interpretationen: Nach 1945 diente es zunächst der Bekräftigung einer internationalen Friedensidee. Ohne dass sich zunächst die Bewertung der Inhalte des Westfälischen Friedens änderte, wurde der Frieden nun als alternativlos bewertet. Später erschien er als vermeintlicher Gründungsmoment einer europäischen Idee oder aber – unter dem Schlagwort des „Westfälischen Systems“ – als Geburtsstunde der Mächtebalance souveräner Staaten.⁶⁴ Das Beispiel des Westfälischen Friedens zeigt mithin, wie wechselhaft die Erinnerung an die Vergangenheit in den Außenbeziehungen sein kann. Sie wird, zumindest im ausgeführten Beispiel, weniger von dem historischen Ereignis selbst als von der Gegenwart, aus der heraus erinnert wird, bestimmt. Die nationalsozialistische Erinnerung an den Westfälischen Frieden macht dabei trotz ihrer Inkonsistenz zugleich deutlich, welches Ausmaß der Bezug auf die Vergangenheit gewinnen kann. Es ging nicht mehr um die bloße Erinnerung, sondern um die Revision und die Überwindung der Vergangenheit in den Außenbeziehungen. Hitler, Mein Kampf, Bd. 2, S. 1013 Auch Kopp u. Schulte, Der Westfälische Frieden, S. 36, sprachen nicht nur von hohen Verlusten, sondern auch von „einer besonders starken Überfremdung des einheimischen Blutes“. Zu den verschiedenen Rezeptionen: Vgl. die unter Anm. 57 zitierte Literatur.
Teil IV: Außenbeziehungen und Erinnerung im bi- und transnationalen Kontext
Yvonne Blomann
Verdun 1984 – Diplomatie und Erinnerung in den deutsch-französischen Beziehungen der frühen 1980er Jahre Angesichts der seit einigen Jahren anhaltend intensiven Beschäftigung der Geschichtswissenschaft mit der Analyse von Memorialkulturen im nationalen, zunehmend aber auch im transnationalen und europäischen Rahmen¹ ist es bemerkenswert, dass Bezugnahmen auf Vergangenheit im Kontext außenpolitischer Interaktionen immer noch allenfalls eine Randstellung zukommt.² Fragen nach möglichen Funktionen eben dieser Bezugnahmen im Vollzug außenpolitischer Prozesse, sei es in bi- oder multilateralen Kontexten, aber auch ihr Einfluss auf die konkreten Handlungsmuster außenpolitischer Akteure bilden nach wie vor ein Forschungsdesiderat. Dies gilt nicht zuletzt für die deutsch-französischen Beziehungen, für die der Zusammenhang mit vielfältigen Bezugnahmen auf Ver-
Für grundlegende Literatur zum Forschungskomplex „Erinnerung“ vgl. u. a. Christoph Cornelißen, Erinnerungskulturen, Version 2.0, http://docupedia.de/zg/cornelissen_erinnerungskultu ren_v2_de_2012; Astrid Erll, Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, Stuttgart 22011; Jeffrey K. Olick, Vered Vinitzky-Seroussi u. Daniel Levy (Hg.), The Collective Memory Reader, Oxford 2011; Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 62007; Ljiljana Radonić u. Heidemarie Uhl (Hg.), Gedächtnis im 21. Jahrhundert. Zur Neuverhandlung eines kulturwissenschaftlichen Leitbegriffs, Bielefeld 2016. Für Beispiele im transnationalen und europäischen Kontext vgl. u. a. Etienne François, Ist eine gesamteuropäische Erinnerungskultur vorstellbar? Eine Einleitung, in: Bernd Henningsen, Henriette Kliemann-Geisinger u. Stefan Troebst (Hg.), Transnationale Erinnerungsorte. Nord- und südeuropäische Perspektiven, Berlin 2010, S. 13 – 31; Monika Fenn u. Christiane Kuller (Hg.), Auf dem Weg zur transnationalen Erinnerungskultur? Konvergenzen, Interferenzen und Differenzen der Erinnerung an den Ersten Weltkrieg im Jubiläumsjahr 2014, Schwalbach 2016. Vgl. Friedrich Kießling, Täter repräsentieren.Willy Brandts Kniefall in Warschau. Überlegungen zum Zusammenhang von bundesdeutscher Außenrepräsentation und der Erinnerung an den Nationalsozialismus, in: Johannes Paulmann (Hg.), Auswärtige Repräsentationen. Deutsche Kulturdiplomatie nach 1945, Köln 2005, S. 202– 225; David B. Morris, Bitburg Revisited. Germany’s Search for Normalcy, in: German Politics & Society 13/4. 1995, S. 92– 109; Andreas N. Ludwig u. Caroline Rothauge, Memory Matters! Zur Bedeutung des Erinnerns und kollektiver Identitätskonstruktionen in grenzüberschreitenden Beziehungen, in: Klaus Brummer u. Friedrich Kießling (Hg.), Zivilmacht Bundesrepublik? Bundesdeutsche außenpolitische Rollen vor und nach 1989 aus politik- und geschichtswissenschaftlichen Perspektiven, Baden-Baden 2019, S. 235 – 255. https://doi.org/10.1515/9783110726442-015
194
Yvonne Blomann
gangenheit ebenfalls überraschend wenig Aufmerksamkeit in der Forschung erfahren hat.³ Der vorliegende Beitrag nimmt das eben angerissene Verhältnis zwischen den bis jetzt nur spärlich verbundenen Forschungsfeldern, Außenbeziehungen einerseits und kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen⁴ andererseits, auf und untersucht diese exemplarisch anhand der deutsch-französischen Beziehungen im Gedenkjahr 1984. Der besondere Analyseschwerpunkt liegt auf der Begegnung der beiden Staatsmänner François Mitterrand und Helmut Kohl im September 1984 auf den ehemaligen Schlachtfeldern von Verdun. In Anlehnung an neuere Konzepte eines „cultural approach to diplomatic history“⁵ sollen hierbei Formen des Umgangs mit Vergangenheit in den internationalen Beziehungen ausgemacht und ihre potenzielle Funktion im Kontext diplomatischer Interaktionen analysiert werden. Dabei bedient sich der Beitrag dreier Analyseebenen: In einem ersten Schritt wird der Zusammenhang zwischen Außenbeziehungen und Erinnerung auf übergeordneter Ebene betrachtet und nach Wirkungsmöglichkeiten des Umgangs mit Vergangenheit in den internationalen Beziehungen der frühen 1980er Jahre gefragt, auch jenseits des deutsch-französischen Kontexts. Die zweite Ebene untersucht diesen Zusammenhang speziell für die deutsch-französischen Beziehungen in dieser Zeit anhand des Treffens von Kohl und Mitterrand auf dem Soldatenfriedhof in Verdun. Abschließend werden anhand von Verdun 1984 Überlegungen zu einer Internationalisierung des Um-
Vgl. Serge Barcellini, Diplomatie et commémoration. Les commémorations du 6 juin 1984: Une bataille de mémoire, in: Guerres mondiales et conflits contemporains 186. 1997, S. 121– 146. Werden erinnerungskulturelle Prozesse im deutsch-französischen Kontext thematisiert, so bilden diese meist den Forschungsgegenstand per se. Vgl. hierzu u. a. Henning Meyer, Der Wandel der französischen „Erinnerungskultur“ des Zweiten Weltkriegs am Beispiel dreier „Erinnerungsorte“: Bordeaux, Caen und Oradour-sur-Glane, Augsburg 2006; Mechthild Gilzmer u. Sonja Kmec (Hg.), Histoire partagée – mémoire divisée? Erinnerungskultur in grenzüberschreitender Perspektive, Saarbrücken 2016; Ulrich Pfeil, Frankreich: Entwicklungslinien der französischen Erinnerungskultur in den letzten Jahren, in: Bernd Faulenbach u. Franz-Joseph Jelich (Hg.), „Transformationen“ der Erinnerungskulturen in Europa nach 1989, Essen 2006, S. 299 – 329. Als ein Schwerpunktbereich kulturhistorischer Forschungen der letzten Jahre wird der Begriff „Erinnerungskultur“ hier nach Cornelißen verstanden als ein „formale[r] Oberbegriff für alle denkbaren Formen der bewussten Erinnerung an historische Ereignisse, Persönlichkeiten und Prozesse […], seien sie ästhetischer, politischer oder kognitiver Natur“: Cornelißen, Erinnerungskulturen. „Kollektives Gedächtnis“ wird hier als ein „Oberbegriff für all jene Vorgänge organischer, medialer und institutioneller Art, denen Bedeutung bei der wechselseitigen Beeinflussung von Vergangenem und Gegenwärtigem in soziokulturellem Kontext zukommt“, verstanden: Erll, Kollektives Gedächtnis, S. 6. Akira Iriye, Culture and International History, in: Micheal J. Hogan u. Thomas G. Paterson (Hg.), Explaining the History of American Foreign Relations, Cambridge 1991, S. 214– 225, hier S. 214.
Verdun 1984 – Diplomatie und Erinnerung
195
gangs mit Vergangenheit innerhalb der deutsch-französischen Beziehungen des ausgehenden 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts angestellt.
1 Außenbeziehungen und Bezugnahmen auf Vergangenheit: Wirkungsmöglichkeiten und potenzielle Funktionen Erinnerung hat sehr wohl ihren Platz in den internationalen Beziehungen, wie vielfältige Bezugnahmen auf Vergangenheit im Kontext außenpolitischer Interaktionen bezeugen. Drei übergeordnete Wirkungsmöglichkeiten lassen sich in diesem Zusammenhang bestimmen: Erinnerung kann Gipfeltreffen initiieren, prägt den konkreten Vollzug von Außenbeziehungen und beeinflusst letztlich maßgeblich deren Rezeption. Anhand ausgewählter Beispiele, auch jenseits des deutsch-französischen Kontexts, wird dies im Folgenden näher illustriert. Der Umgang mit Vergangenheit in den internationalen Beziehungen kann zum einen den eigentlichen Anlass beziehungsweise den Einladungsgrund zu hochrangigen Treffen von Staats- und Regierungschefs bieten. Er verfügt somit über ein gewisses initiatorisches Potenzial, kann aber im Gegenzug auch als Argument gegen die Partizipation bestimmter Teilnehmerinnen und Teilnehmer dienen. Deutlich wird dieser Zusammenhang in der Ausgestaltung des 40-jährigen Jubiläums der Landung der Alliierten in der Normandie im Jahr 1984. Die Feierlichkeiten, deren Organisation wie in jedem Jahr dem „Comité du Débarquement“⁶ oblag, sollten anfangs lediglich durch das französische Staatsoberhaupt beehrt werden. Bald jedoch begannen sowohl Großbritannien als auch die Vereinigten Staaten Interesse an diesem „sommet international commémoratif“⁷ zu bekunden, woraufhin Paris die Organisation an sich zog.⁸ Stets bedacht auf eine wirkmächtige politische Inszenierung, kam historischen Ereignissen und der Erinnerung an sie in der Mitterrand’schen Politik eine besondere Bedeutung zu,
Dem „Comité du Débarquement“, gegründet im Mai 1945 auf Initiative des Politikers Raymond Triboulet, obliegt die Organisation der jährlichen Gedenkfeier der Landung der Alliierten. Die Förderung des regionalen Tourismus wie auch die der franco-alliierten Beziehungen fallen ebenfalls in seinen Aufgabenbereich. 1984 bestand es aus insgesamt 65 Bürgermeisterinnen und Bürgermeistern der Städte, die sich selbst als „lieu de mémoire du débarquement“ verstehen, wie auch aus Vertreterinnen und Vertretern der Botschaften der sechs an der Landung beteiligten Nationen: Barcellini, Diplomatie, S. 121– 123. Ebd., S. 139. O.V., Sand vom Stand, in: Der Spiegel, 4.6.1984, S. 134– 137.
196
Yvonne Blomann
da sie innerhalb des von den französischen Sozialisten seit ihrem Regierungsantritt 1981 vielfach beschworenen Wandels Beständigkeit suggerierten.⁹ Doch diesmal bildete nicht nur die eigene Nation die Adressatin. Vielmehr sollte die internationale Dimension der damaligen Ereignisse im Gedenken am Utah Beach dezidiert unterstrichen werden. Der Umgang mit den ehemaligen Kriegsgegnern, speziell der Bundesrepublik, stellte in diesem Zusammenhang ein Problem dar, bei dem aufgrund der daraus resultierenden diplomatischen Implikationen erhebliches Fingerspitzengefühl gefragt war. Gleiches galt für die Sowjetunion, die durch die Blockkonstellation nun im gegnerischen Lager stand. Staatliche Repräsentanten aus beiden Ländern sollten den Feierlichkeiten am Utah Beach letztlich fernbleiben.¹⁰ Die Vergangenheit war im Falle der Bundesrepublik das schlagkräftigere Argument, denn trotz intensiven Einwirkens der deutschen Diplomatie auf Paris, die Feierlichkeiten „zukunftsorientiert“¹¹ zu gestalten, galt das Gedenken offensichtlich doch vorwiegend der Befreiung Europas von der nationalsozialistischen, deutschen Herrschaft. Im Falle der Sowjetunion siegte die Gegenwart über die Vergangenheit, denn lediglich zivilgesellschaftliche Vertreter sahen sich eingeladen.¹² Die Wirkung des gegenwärtigen Bezugsrahmens auf Gedenken im internationalen Kontext darf also weder unter- noch überschätzt werden.¹³ Deutsche Teilnehmer an den Landungsfeierlichkeiten in der Normandie gab es schließlich doch: Der „Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge“ hatte bereits sehr früh eine Zeremonie auf dem deutschen Soldatenfriedhof in La Cambe angekündigt.¹⁴ Ob nun auf angelsächsisches Betreiben¹⁵ oder aus eigener Überzeugung,¹⁶ die Abwesenheit der westdeutschen Verbündeten bereitete François Marc Abélès, Die Inszenierung der republikanischen Nation durch François Mitterrand, in: Etienne François, Hannes Siegrist u. Jakob Vogel (Hg.), Nation und Emotion. Deutschland und Frankreich im Vergleich, 19. und 20. Jahrhundert, Göttingen 1995, S. 274– 291, hier S. 281– 283. Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland 1984 (AAPD), Bd. I, hg. vom Institut für Zeitgeschichte München-Berlin, München 2015, hier Nr. 164 Anm. 2, wie auch Barcellini, Diplomatie, S. 131– 132. AAPD 1984, I, Nr. 164, Anm. 2. Barcellini, Diplomatie, S. 131. Helmut König, Das Politische des Gedächtnisses, in: Christian Gudehus, Ariane Eichenberg u. Harald Welzer (Hg.), Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart 2010, S. 115 – 125, hier S. 117. Barcellini, Diplomatie, S. 131– 132. AAPD 1984, I, Nr. 146. Erst in jüngerer Zeit häufen sich Annahmen, die davon ausgehen, dass Helmut Kohl selbst nie persönlich um eine Einladung ersuchte, im Gegensatz zu früheren Annahmen, denen zufolge Mitterrand ein entschiedener Gegner einer bundesdeutschen Partizipation gewesen sei: Vgl. Ulrich Pfeil, Der Händedruck von Verdun. Pathos-Formel der deutsch-französischen Versöhnung,
Verdun 1984 – Diplomatie und Erinnerung
197
Mitterrand Bauchschmerzen, und das nicht nur aufgrund der zeitlichen Nähe zum Weltwirtschaftsgipfel in London.¹⁷ Das Fehlen eines bundesdeutschen Vertreters wurde auch von der französischen Bevölkerung und Persönlichkeiten wie Simone Veil mit Bedauern und Unverständnis zur Kenntnis genommen.¹⁸ Der Umgang mit Vergangenheit in den internationalen Beziehungen erfordert demnach erhebliches diplomatisches Fingerspitzengefühl, und zwar in solchem Maße, dass die fehlende Partizipation gewichtiger Bündnispartner an erinnerungskulturellen Praktiken weitere Zeremonien initiieren kann. Im September 1984 bot erneut ein gemeinsames Gedenken Anlass für ein Treffen von Staats- und Regierungschefs, dieses Mal im binationalen Rahmen in Verdun.¹⁹ Das deutsch-amerikanische Verhältnis kann in diesem Kontext als Beispiel fungieren: Nach dem für Kanzler Kohl rundum gelungenen Gedenken in Verdun im September 1984 verspürte er den Wunsch, diesen auch öffentlich als Erfolg gewerteten Umgang mit der einstigen Gegnerschaft in zwei Weltkriegen auf sein Verhältnis zu den Vereinigten Staaten anzuwenden. Kohl bat Präsident Reagan im November desselben Jahres, seinen Besuch in Deutschland nach dem Weltwirtschaftsgipfel in Bonn im Mai 1985 um zwei Tage zu verlängern, unter anderem auch für eine „Demonstration der Freundschaft“²⁰ auf einem Soldatenfriedhof. Jedoch sollte Helmut Kohl einige Monate später schmerzhaft feststellen, dass Demonstrationen der Versöhnung auf Soldatenfriedhöfen keinerlei Erfolgsgarantie per se in sich bergen – im Gegenteil. Sie sollten das deutschamerikanische Verhältnis erheblich belasten.²¹ Neben ihrer initiatorischen Wirkung nimmt Erinnerung maßgeblich Einfluss auf den konkreten Vollzug von Außenpolitik. Sie schlägt sich in den Handlungsmustern der politischen Akteure nieder und erweitert das diplomatische Handlungsrepertoire um erinnerungskulturelle Praktiken. Allerdings bleiben
in: Gerhard Paul (Hg.), Das Jahrhundert der Bilder. 1949 bis heute, Göttingen 2008, S. 498– 506, hier S. 503, sowie Heribert Schwan u. Rolf Steininger, Helmut Kohl.Virtuose der Macht, Mannheim 2010, S. 97. Schwan geht sogar davon aus, dass von Seiten Mitterrands eine Einladung erfolgt sei, Helmut Kohl schließlich aber abgelehnt habe mit der Begründung, die Feierlichkeiten seien eine Angelegenheit der Sieger (ebd.). Vgl. auch Anm. 64 dieses Beitrags. AAPD 1984, I, Nr. 146. AAPD 1984, I, Nr. 164; Barcellini, Diplomatie, S. 131– 132. AAPD 1984, I, Nr. 146 und Nr. 155. Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland 1984 (AAPD), Bd. II, hg. vom Institut für Zeitgeschichte München-Berlin, München 2015, hier Nr. 322. In seinen Memoiren behauptet Kohl jedoch, das Treffen sei auf Reagans Betreiben hin entstanden: Vgl. hierzu Helmut Kohl, Erinnerungen 1982– 1990, München 2005, S. 348 – 349. Vgl. hierzu Morris, Bitburg; David Kertzer, Rituel et symbolisme politiques des sociétés occidentales, in: L’Homme 32/121. 1992, S. 79 – 89.
198
Yvonne Blomann
diese aus- und verhandelbar, sowohl in der diplomatischen Interaktion als auch in Bezug auf die involvierten Öffentlichkeiten, und können im Extremfall sogar zu Protestaktionen führen. So beeinflusste die konkrete Umsetzung des Gedenkens die französische Diplomatie maßgeblich in ihrem Verhalten. Nicht-Einladungen auf politischer Ebene wurden auf die unterschiedlichste Art und Weise zu kompensieren versucht: Dem sowjetischen Veteranenkomitee kamen sehr wohl Einladungen zu den Feierlichkeiten in der Normandie zu, wohl darauf bedacht, den für August desselben Jahres anberaumten Staatsbesuch Mitterrands in der Sowjetunion nicht gänzlich zu gefährden.²² Außerdem unterstrich der französische Staatspräsident in einem persönlichen Gespräch mit Bundeskanzler Kohl einige Wochen vor den Landungsfeierlichkeiten, die französische Regierung wolle zu den Zeremonien deutscher Veteranenverbände einen ranghohen Vertreter entsenden:²³ Jean Laurain, damals Ministre des Anciens Combattants, wohnte diesen schließlich bei.²⁴ Und die Rede Mitterrands anlässlich der Feierlichkeiten in der Normandie reagierte auf die heikle Situation, indem sie die Opfer auf deutscher Seite dezidiert in das Gedenken mit aufnahm.²⁵ Doch nicht nur bei François Mitterrand, auch in der deutschen Diplomatie sollte das Landungsdilemma ein spezifisches Verhalten bewirken. Das Auswärtige Amt beschränkte sich, von einer direkten Anfrage absehend,²⁶ auf die „Linie der Zurückhaltung“²⁷ und zog ein lediglich dezentes Einwirken auf Paris wie auf die weiteren eingeladenen Verbündeten vor.²⁸ So betonte Helmut Kohl bei Gesprächen in Chequers und Saarbrücken sowohl gegenüber Premierministerin Thatcher als auch gegenüber François Mitterrand, die Feierlichkeiten müssten im Interesse der heutigen Verbündeten sowohl gegenwarts- als auch zukunftsorientiert gestaltet werden.²⁹ Mitterrand trug diesem Wunsch in seiner Rede Rechnung, die Feierlichkeiten wurden von der deutschen Diplomatie letztlich als Erfolg der eigenen Linie verbucht.³⁰ Erinnerung wirkt also auf die Handlungsmuster der diplomatischen Akteure ein und hinterlässt deutliche Spuren in ihrem Verhalten, hält aber auch – als ein
Barcellini, Diplomatie, S. 131 f. AAPD 1984, I, Nr. 155. Barcellini, Diplomatie, S. 131 f. François Mitterrand, Réflexions sur la politique extérieure de la France. Introduction à vingtcinq discours (1981– 1985), Paris 1986, S. 159. Schwan, Helmut Kohl, S. 97. AAPD 1984, I, Nr. 164. Ebd. AAPD 1984, I, Nr. 122 sowie Nr. 146. AAPD 1984, I, Nr. 164.
Verdun 1984 – Diplomatie und Erinnerung
199
Element neben anderen – Einzug in das außenpolitische Handlungsrepertoire. Staatsbesuche wie der des westdeutschen Bundeskanzlers in Israel im Januar 1984 werden um erinnerungskulturelle Praktiken erweitert: Helmut Kohl besuchte in diesem Zusammenhang mit Ministerpräsident Shamir die Gedenkstätte Yad Vashem.³¹ Und auch der Staatsbesuch Ronald Reagans im Mai des darauffolgenden Jahres in der Bundesrepublik sah neben einer Kranzniederlegung auf dem Soldatenfriedhof in Bitburg einen gemeinsamen Besuch der KZ-Gedenkstätte Bergen-Belsen vor.³² Die konkrete Ausgestaltung der Praktiken selbst sieht sich, bedingt durch den nationenübergreifenden Kontext des Gedenkens und die damit einhergehenden Multiplikation der Akteure und Interessen, besonders in den internationalen Beziehungen einem komplizierten Aushandlungsprozess unterworfen.³³ Die lange Ungewissheit einer deutschen Partizipation an den Gedenkfeierlichkeiten in der Normandie zeigt die besondere Sensibilität, die bereits im Einladungsstadium zu solchen Gelegenheiten besteht, aber auch konkrete Handlungen selbst unterliegen der Diskussion und Einmischung mehrerer Akteure.³⁴ So stieß die durch den deutschen Botschafter in Paris geplante Kranzniederlegung auf dem deutschen Soldatenfriedhof in La Cambe am 6. Juni 1984 bei den Pariser Behörden aufgrund des Datums auf Kritik. Der Quai d’Orsay legte nahe, dies doch am Vorabend oder nach dem 6. Juni zu tun, die Bundesrepublik solle diesbezüglich „nicht zu viel verlangen“.³⁵ Und als Anfang 1985 bekannt wurde, dass auf dem Soldatenfriedhof in Bitburg, dem Ort des geplanten gemeinsamen deutsch-amerikanischen Gedenkens an die Opfer des Zweiten Weltkriegs, auch Angehörige der Waffen-SS lagen, rief dies neben diplomatischen Akteuren große Teile der deutschen und amerikanischen Öffentlichkeit auf den Plan. Jüdische Organisationen protestierten massiv, 250 Abgeordnete des Kongresses forderten gar eine Absage des Besuchs von Reagan.³⁶ Auf Drängen des Bundeskanzlers in einem entscheidenden Telefonat fand der Staatsbesuch, einschließlich der Kranzniederlegung in Bitburg, schließlich dennoch statt.³⁷ Die Entscheidung konnte jedoch weder den in den Beziehungen entstandenen Schaden rückgängig machen noch vehemente Protestaktionen während des Besuchs verhindern.³⁸ Erinnerungskulturelle Praktiken in den internationalen Be-
AAPD 1984, I, Nr. 18, Anm. 7. Kertzer, Rituel, S. 81. Vgl. ebd. Barcellini, Diplomatie, S. 131 f., sowie AAPD 1984, I, Nr. 164, Anm. 2, und AAPD 1984, I, Nr. 122. AAPD 1984, I, Nr. 164, Anm. 3. Morris, Bitburg, S. 98. Ebd., S. 99, sowie Kohl, Erinnerungen, S. 355. Morris, Bitburg, S. 92; Kohl, Erinnerungen, S. 350 f.
200
Yvonne Blomann
ziehungen beeinflussen somit hochgradig das konkrete außenpolitische Handeln der Akteure und wirken in erheblichem Maß auf deren Entscheidungsprozesse ein. Neben Anlass und Vollzug beeinflusst die Bezugnahme auf Vergangenheit in den internationalen Beziehungen schließlich maßgeblich deren Rezeption. Außenpolitische Interaktionen staatlicher Repräsentantinnen und Repräsentanten werden häufig qualitativ anders bewertet und rezipiert, als dies bei Abwesenheit erinnerungskultureller Praktiken der Fall wäre. Enthalten sie erinnerungskulturelle Elemente, so erzeugen sie bereits im Vorfeld, besonders aber im Nachklang ein gesteigertes Interesse und ein erhöhtes Diskussionspotenzial, sowohl im öffentlichen Raum als auch in der diplomatischen Sphäre. Dies geht jedoch ebenfalls mit einem gesteigerten Druck auf die politischen Akteure bei der Planung und Durchführung erinnerungskultureller Praktiken im internationalen Rahmen einher, denn diese müssen gelingen. 1984 war dies für die deutsche Diplomatie gleich in doppelter Weise der Fall: Die Landungsfeierlichkeiten wurden auch ohne deutsche Teilnahme indirekt als Erfolg verbucht,³⁹ die deutsch-französische Gedenkzeremonie in Verdun im Herbst 1984 trotz einiger kritischer Töne in den Medien als „eindrucksvoll“⁴⁰ und „symbolträchtig“⁴¹ gewertet. Gelingt Gedenken jedoch nicht beziehungsweise sehen sich erinnerungskulturelle Praktiken in den internationalen Beziehungen bereits in der Vorbereitung, wie im Falle Bitburgs, einer massiven Kritik ausgesetzt, so unterliegt auch der Deutungsrahmen jener Treffen einer deutlichen Wandlung, und dies bereits vor ihrem Vollzug. Ursprünglich als Demonstration der deutsch-amerikanischen Partnerschaft geplant und mit dem Wunsch versehen, ebenjene um das Element der Versöhnung sichtbar zu erweitern,⁴² galt es im Mai 1985 nur noch, Schadensbegrenzung zu betreiben und krampfhaft zu demonstrieren, dass das deutsch-amerikanische Verhältnis über den erinnerungspolitischen Streit erhaben war.⁴³ Folglich sind internationale Gipfeltreffen und Staatsbesuche maßgeblich vom Erfolg ihrer erinnerungskulturellen Praktiken, so sie denn integriert sind, abhängig. Wird die vollzogene oder auch nur geplante Art und Weise des Gedenkens kontestiert oder gar als Misserfolg eingestuft – sei es von der Öffentlichkeit oder gar von den Teilnehmerinnen und Teilnehmern selbst –, so sieht sich diese Wertung häufig auf die Gesamtheit des Treffens übertragen. Mehr noch, ein Misserfolg erinnerungskultureller Praktiken kann wie im Falle Bitburgs die Qualität zwischen
AAPD 1984, I, Nr. 164. AAPD 1984, II, Nr. 242. Ebd. AAPD 1984, II, Nr. 322. Morris, Bitburg, S. 99.
Verdun 1984 – Diplomatie und Erinnerung
201
staatlicher Beziehungen an sich beeinträchtigen und diese in der Wahrnehmung der Zeitgenossen maßgeblich beeinflussen.⁴⁴ Erinnerung ist politisch, besonders im internationalen Rahmen. Sie ist vor allen Dingen nicht beliebig modellierbar, erfolgreiches Gedenken nicht beliebig übertragbar. Die Möglichkeiten, sie in den Dienst politischer Interessen zu stellen, sind damit letztlich begrenzt.⁴⁵
2 Verdun 1984 – Deutsch-französische Beziehungen zu Beginn der 1980er Jahre Bevor nun diese grundsätzlichen Überlegungen zum Verhältnis von Außenbeziehungen und Erinnerung auf das emblematische Treffen in Verdun im September 1984 angewendet werden, soll kurz das Verhältnis beider Länder in dieser Zeit skizziert werden. Relativ ernüchtert waren Deutsche und Franzosen „nach dem Boom“⁴⁶ und dies nicht nur aufgrund des nachhaltigen Wandels der sozioökonomischen Gegebenheiten, der zu Beginn der 1970er Jahre einsetzte. Auch gegenüber dem noch in den 1960er Jahren hochgelobten deutsch-französischen Verhältnis war man Ende der 1970er Jahre auf beiden Seiten des Rheins eher skeptisch eingestellt und von teils sehr harsch geführten Konflikten – beispielsweise in der Auseinandersetzung um die Bonner Ostpolitik oder aber den europäischen Agrarmarkt – auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt worden.⁴⁷ Eine kritische Selbstreflexion setzte ein mit dem Ergebnis, dass man sich fremd geworden war und dass im Sinne einer relance des deutsch-französischen Verhältnisses dringend neue Initiativen vonnöten waren.⁴⁸ Auf diplomatischer Ebene versuchte man sich zu Beginn der 1980er Jahre an Vorschlägen zur Intensivierung der Beziehungen⁴⁹ und stellte noch im Januar 1984 fest: „Die Qualität der D/FBeziehungen wird überschätzt. Sie sind gut, aber die Fassade ist schöner als die Substanz.“⁵⁰
Ebd., S. 92. Michael Schudson, From „The Past in the Present versus the Present in the Past“, in: Olick, Vinitzky-Seroussi u. Levy, The Collective Memory Reader, S. 287– 290, hier S. 287. Anselm Doering-Manteuffel u. Lutz Raphael, Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, Göttingen 2008. Dirk Petter, Auf dem Weg zur Normalität. Konflikt und Verständigung in den deutsch-französischen Beziehungen der 1970er Jahre, München 2014, S. 86 ff. u. S. 116 ff. Petter, Auf dem Weg, S. 264. AAPD 1984, I, Nr. 1, 9, 35. AAPD 1984, I, Nr. 9.
202
Yvonne Blomann
Mit dem überraschenden Sieg François Mitterrands bei den Präsidentschaftswahlen 1981 und dem ein Jahr später durch ein konstruktives Misstrauensvotum an die Macht gekommenen Helmut Kohl lag die Intensivierung und Verbesserung des deutsch-französischen Verhältnisses nun in den Händen zweier Männer, die nicht nur politisch unterschiedlicher Couleur und Herkunft waren, sondern die beide herzlich wenig Bezug zum jeweiligen Nachbarland vorzuweisen hatten. Mitterrand beäugte den Nachbarn östlich des Rheins stets mit gewissen Vorbehalten, die Deutschen stellten für ihn wie schon für de Gaulle ein „großes, aber unruhiges Volk“⁵¹ dar. Helmut Kohl beschreibt alle Treffen mit Mitterrand vor dessen Präsidentschaft gar als „unerfreulich“.⁵² Die Rahmenbedingungen, die dieses „couple“⁵³ zu Beginn der 1980er Jahre vorfand, waren zudem keine einfachen. Mitterrand hatte mit einer massiven wirtschaftlichen Talfahrt zu kämpfen,⁵⁴ wohingegen bei Helmut Kohl die Umsetzung des Nato-Doppelbeschlusses politisch sichtbare Spuren hinterlassen hatte.⁵⁵ Alles in allem sahen beide Seiten einer „eher schwierige[n] Partnerschaft“⁵⁶ entgegen. Doch gab es auch in dieser Beziehung Gemeinsamkeiten, auf die gebaut und an die angeknüpft werden konnte,⁵⁷ sodass es zu Beginn des Jahrzehnts zu einer zögerlichen, aber doch nachhaltigen Annäherung beider Staatsmänner kam, die alsbald in eine enge Kooperation und persönliche Wertschätzung mündete.⁵⁸ Für das gemeinsame Gedenken in Verdun kam entscheidend hinzu, dass beide Staatsmänner sich der Bedeutung einschlägiger Momente der deutschfranzösischen Geschichte für ihre Länder sehr wohl bewusst waren.⁵⁹ Wesentliche Stationen des deutsch-französischen Verhältnisses wie auch autobiographische Erlebnisse, die einen wenn auch noch so geringen Bezug zum Nachbarland auf Ulrich Lappenküper, „Le plus germanophil des chefs d’État français?“ François Mitterrand und Deutschland 1916 – 1996, in: HZ 297. 2013, S. 390 – 416, hier S. 415. Kohl, Erinnerungen, S. 102. Cécile Calla u. Claire Demesmay, Que reste-t-il du couple franco-allemand, Paris 2013. Ebd., S. 59. Marion Gaillard, François Mitterrand et l’Allemagne 1981– 1995, in: histoire@politique 4/1. 2008, S. 1– 16, hier S. 2 f. Kohl, Erinnerungen, S. 102. Jürgen Hartmann, Das Frankreichbild Helmut Kohls, in: Historisch-Politische Mitteilungen 20. 2013, S. 233 – 246, hier S. 233, sowie Ulrich Lappenküper, Prekäres Vertrauen. François Mitterrand und Deutschland seit 1971, in: Reinhild Kreis (Hg.), Diplomatie mit Gefühl. Vertrauen, Misstrauen und die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland, München 2015, S. 83 – 96, hier S. 85 – 87. Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland 1982 (AAPD), Bd. II, hg. vom Institut für Zeitgeschichte München-Berlin, München 2013, hier Nr. 254; Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland 1983 (AAPD), Bd. I, hg. vom Institut für Zeitgeschichte München-Berlin, München 2014, hier Nr. 110 u. Nr. 163. Lappenküper, Prekäres Vertrauen, S. 88 – 90.
Verdun 1984 – Diplomatie und Erinnerung
203
weisen konnten, waren von Beginn an Teil ihrer Gespräche.⁶⁰ Repräsentationen von Vergangenheit in Form von persönlichen Erinnerungen fanden also auch jenseits des offiziellen Gedenkens Eingang in die deutsch-französischen Beziehungen und wirkten sich positiv auf die gegenseitige Fühlungnahme aus.⁶¹ Das Treffen auf dem Soldatenfriedhof im Herbst 1984 wird in der Forschung häufig,⁶² vor allem aber von der zeitgenössischen Presseberichterstattung,⁶³ als Kompensationsaktion Mitterrands für den Ausschluss Kohls von den Feierlichkeiten in der Normandie im Juni desselben Jahres gewertet.⁶⁴ Die bisher veröffentlichten Quelleneditionen ermöglichen es hingegen, den Vorschlag zu einem solchen Treffen wie auch die Wahl des Ortes Verdun eindeutig Helmut Kohl zuzuschreiben. Die Initiative erfolgte also nicht auf Betreiben eines in Verlegenheit geratenen Mitterrands.⁶⁵ Ob nun das Landungsdilemma für beide die alleinige AAPD 1982, II, Nr. 254; AAPD 1984, I, Nr. 146; AAPD 1984, I, Nr. 155, wie auch Kohl, Erinnerungen, S. 309. Zur deutsch-französischen Vertrauensbildung zu Beginn der 1980er Jahre: Vgl. ebenfalls Frederike Schotters, Frankreich und das Ende des Kalten Krieges. Gefühlsstrategien der Équipe Mitterrand 1981– 1990, Berlin 2019, S. 166 ff. In der Forschung finden sich diesbezüglich unterschiedliche Nuancen: Vorherrschend ist aktuell immer noch die Kompensationsthese:Vgl. Calla, Couple, S. 74 f.; Kertzer, Rituel, S. 81; Gerd Krumeich u. Antoine Prost, Verdun 1916. Die Schlacht und ihr Mythos aus deutsch-französischer Sicht, Essen 22016, S. 212. Lediglich Ulrich Pfeil argumentiert aufgrund der Annahme, Kohl habe niemals um eine Einladung zu den Landungsfeierlichkeiten ersucht, dass der Wunsch, Verdun eine „neue deutsch-französische Note“ zu geben, im Vordergrund stand: Pfeil, Händedruck, S. 503. O.V., Commémoration conjointe: MM. Kohl et Mitterrand à Verdun, in: Le Monde, 23./24.9. 1984; o.V., Forgetting the Past at Verdun Battlefield, in: The Times, 24.9.1984; Ch. M., Deutschfranzösische Feier in Verdun. Demonstration der Aussöhnung auf Douaumont, in: NZZ, 25.9.1984; Romain Leick, Weiße Kreuze, schwarze Kreuze, in: Der Spiegel, 17.9.1984, S. 139 – 141. Zum Verhalten der bundesdeutschen Regierung während der Vorbereitungen der Landungsfeierlichkeiten gibt es bis dato unterschiedliche Annahmen. Schwan und Pfeil vertreten die These, dass weder die Regierung Kohl noch Kohl persönlich je angefragt hätten: Schwan, Kohl, S. 97; Pfeil, Händedruck, S. 503. Lappenküper unterstreicht, dass selbst im Falle einer von alliierter Seite ausgesprochenen Einladung diese nie angenommen worden wäre: Ulrich Lappenküper, Mitterrand und Deutschland. Die enträtselte Sphinx, München 2011, S. 206 f. Andere behaupten, dass Kohl auf diese vermeintliche Einladung großen Wert gelegt bzw. sogar persönlich wiederholt darum ersucht habe: Kertzer, Rituel, S. 81; Krumeich, Verdun 1916, S. 212. Wiederum andere Positionen in der Forschung gehen davon aus, dass ein US-amerikanisches Veto eine bundesdeutsche Beteiligung verhindert habe: François Cochet, Verdun et la construction de ses mémoires. De la Bataille au Centre Mondial de la Paix, in: Rainer Hudemann u. Manfred Schmeling (Hg.), Die „Nation“ auf dem Prüfstand, Berlin 2009, S. 65 – 79, hier S. 74. In den bislang veröffentlichten Quellen weist Mitterrand tatsächlich darauf hin, dass er, was den Zuschnitt der Feierlichkeiten anging, von den Angelsachsen gedrängt worden sei: AAPD, I, 1984, Nr. 146. AAPD 1984, I, Nr. 146 und Nr. 155.
204
Yvonne Blomann
Ursache dieses Treffens war oder ob es lediglich dazu führte, dass bereits existierende, wenn auch noch unspezifische Ideen schneller in die Tat umgesetzt wurden, muss vorerst dahingestellt bleiben.⁶⁶ In jedem Falle bot es den beiden Staatsmännern eine willkommene Gelegenheit zu einer erneuten Inszenierung deutsch-französischer Aussöhnung, die auch gekonnt genutzt wurde. Die Gedenkzeremonie, bei welcher erstmals ein deutscher Staatsmann offiziell den zentralen Ort französischer Erinnerungen an den „Großen Krieg“ betrat,⁶⁷ sollte vor allem dem Ort selbst gerecht werden. Die unangefochtene Stellung im kollektiven Gedächtnis Frankreichs bezieht die Schlacht um Verdun aus einer bewussten Stilisierung zum Freiheitskampf der französischen Nation gegen den von Osten kommenden Feind, die bereits während der Kampfhandlungen auf französischer Seite einsetzte.⁶⁸ Die Konstruktion des Mythos Verdun wurde demnach schon für die Kampfhandlungen selbst instrumentalisiert.⁶⁹ Umso mehr galt es im Herbst 1984, die deutsche Delegation gekonnt in die gemeinsame Zeremonie zu integrieren – eine Ehre, die de Gaulle Adenauer 1966 trotz des guten persönlichen Verhältnisses auch auf dessen persönliche Anfrage hin verweigert hatte.⁷⁰ Die offizielle Einladung Mitterrands an seinen „cher ami“ Kohl erfolgte am 6. September 1984 zu einer „hommage solennel aux morts des deux guerres“.⁷¹ Das offizielle französische Programmheftchen zu der Zeremonie spricht von einer „Cérémonie franco-allemande d’amitié célébrée conjointement à Verdun“.⁷² Gedenken und Freundschaft gehen hier bereits in der Titelkonzeption eine symbiotische Verbindung ein, denn Mitterrand ging die Vorbereitung dieser Zeremonie, wie alle erinnerungspolitischen Fragen in seiner Präsidentschaft, „de manière globale“⁷³ an: Eine Verbindung von Erinnerung und Versöhnung, von Erstem und Zweitem Weltkrieg galt es zu realisieren.
Lappenküper verweist an dieser Stelle auf eine Anregung Franz-Joseph Strauß’ in einer Unionsfraktionssitzung 1966, in Verdun doch ein Treffen deutscher und französischer Repräsentanten zu initiieren. Anlass war eine Rede de Gaulles in Verdun. Folgt man der Überlieferung, nach welcher die Idee auf Helmut Kohl zurückging, könnte Strauß’ Vorschlag hier als Vorlage gedient haben: Lappenküper, Mitterrand, S. 206. Gerd Krumeich,Verdun, in: Pim den Boer u. a. (Hg.), Europäische Erinnerungsorte 2. Das Haus Europa, München 2012, S. 437– 445, hier S. 441– 443. Krumeich, Verdun, 2012, S. 437– 439. Gerd Krumeich, Art. „Verdun“, in: Gerhard Hirschfeld, Gerd Krumeich u. Irina Renz (Hg.), Enzyklopädie Erster Weltkrieg, Paderborn 22014, S. 942– 945, hier S. 944. Krumeich, Verdun, 2012, S. 441– 443. Präsident Mitterrand an Bundeskanzler Kohl, 6.9.1984, AMAE, Europe, RFA, 1981– 1985 (cote 1930INVA/4915). AMAE, Protocole, Cérémonial, 1981– 1984 (cote 1946INVA/1252). Cochet, Verdun, S. 74.
Verdun 1984 – Diplomatie und Erinnerung
205
Die deutsch-französische Komponente des Gedenkens musste ebenfalls mit Bedacht umgesetzt werden: Veteranenvertreter beider Länder wurden eingeladen, ein im Vorfeld gemeinsam abgehaltenes Truppenmanöver wurde geplant.⁷⁴ Gedenken im deutsch-französischen Rahmen avancierte 1984 dies- und jenseits des Rheins zur Chefsache, denn auch Helmut Kohl bestand auf eine spezifische Zusammensetzung seiner Delegation, in der sich unter anderem der nicht unumstrittene Schriftsteller Ernst Jünger wiederfand.⁷⁵ Das straffe Programm von knapp dreieinhalb Stunden am Nachmittag und frühen Abend des 22. Septembers 1984 war akribisch durchgetaktet, inklusive einer zeitlich leicht versetzten SchlechtWetter-Lösung. Auf den Besuch des deutschen Soldatenfriedhofs in Consenvoye folgte der Friedhof in Douaumont, das gemeinsame Pflanzen eines Ahornbaums und ein anschließender Besuch des Mémorial. ⁷⁶ Der Händedruck vor dem in eine deutsche und eine französische Flagge gehüllten Katafalk findet sich nicht in den offiziellen Programmentwürfen wieder. Den Erinnerungen Helmut Kohls zufolge war es Mitterrand, welcher spontan im strömenden Regen die Hand nach ihm ausstreckte.⁷⁷ Letztlich wird man nie mit Gewissheit sagen können, ob dies einen von Mitterrand wohl bedachten und bewusst inszenierten Programmpunkt darstellte oder ob die Geste, über die so viel geschrieben und spekuliert worden ist, zu denen gehört, die die Akteure des „theatre of power“⁷⁸ innerhalb des ihnen vom Protokoll zur Verfügung stehenden Handlungsspielraums rein intuitiv vollziehen.⁷⁹ Die deutsche Diplomatie notierte hierzu, es sei „müßig darüber zu rätseln, ob die Geste spontan war oder abgesprochen oder von wem sie ausging“.⁸⁰ Die „ineinander verschlungenen Hände des französischen Staatspräsidenten und des deutschen Bundeskanzlers“ wurden als „symbolträchtig“ eingestuft.⁸¹ Der „körpersprachliche Akt“,⁸² vollzogen durch die politischen Repräsentanten Deutschlands und Frankreichs an einem geschichtsträchtigen Ort, bekräftigte vor der internationalen Öffentlichkeit ein-
Ch. M., Deutsch-französische Feier in Verdun. Kohl, Erinnerungen, S. 311. AMAE, Protocole, Cérémonial, 1981– 1984 (cote 1946INVA/1252). Kohl, Erinnerungen, S. 310. Raymond Cohen, Theatre of Power: The Art of Diplomatic Signalling, Boston 1987. Vgl. hierzu beispielsweise Simone Derix, Performative Bildpolitiken. Das Problem der Sichtbarkeit und die Präsenz von Bildern in politischen Inszenierungen des 20. Jahrhunderts, in: Hubert Locher u. Adriana Markantonatos (Hg.), Reinhart Koselleck und die Politische Ikonologie, Berlin 2013, S. 178 – 189. AAPD 1984, II, Nr. 242, Anm. 6. AAPD 1984, II, Nr. 242. Michael Diers, Schlagbilder. Zur politischen Ikonographie der Gegenwart, Frankfurt 1997, S. 189.
206
Yvonne Blomann
mal mehr den Willen beider Nationen zu einer nachhaltigen Aussöhnung⁸³ und fügte der politischen Ikonographie der deutsch-französischen Beziehungen ein weiteres Bild hinzu.⁸⁴ Sicherheitsberater Jacques Attali formulierte es folgendermaßen: „Nul besoin de conseillers en communication quand un vrai message est à transmettre.“⁸⁵ Verdun 1984 stellt einen Wendepunkt in den deutsch-französischen Beziehungen Anfang der 1980er Jahre dar. Nach einer zunächst zögerlichen, dann aber sukzessiven Annäherung war die Zeremonie im Herbst 1984 ein erster Höhepunkt der Zusammenarbeit zweier sehr gegensätzlicher Staatsmänner, der sowohl den Abschluss dieser ersten, als „entente nécessaire“⁸⁶ deklarierten Phase als auch den Startpunkt für eine relance européenne bildete. Dem gemeinsamen Gedenken kommt hierbei eine besondere Rolle zu. Auch im bilateralen Kontext verfügen erinnerungskulturelle Praktiken über die oben beschriebene initiatorische Wirkung. Das Treffen in Verdun fand explizit statt, um gemeinsam den Opfern beider Weltkriege zu gedenken. Ausschließlich hierfür begaben sich die Delegationen beider Länder nach Verdun. Weder ein Staatsbesuch noch die inzwischen etablierten deutsch-französischen Konsultationen mit einer Vielzahl an Programmpunkten fungierten in diesem Fall als übergeordneter Rahmen. Der konkrete Ort wie auch der grundsätzliche Vorschlag zu einem solchen Treffen wurden bereits im Frühsommer in den Gesprächen beider Staatsmänner diskutiert, Ausgestaltung und Ablauf wurden mit Bedacht und detailliert geplant. Erinnerung beeinflusste demnach auch in diesem Fall den konkreten Vollzug von Außenbeziehungen. In seiner Rezeption wurde das in den Augen aller Beteiligten gelungene Gedenken direkt mit den Beziehungen beider Länder verknüpft und als verheißungsvoller Auftakt einer intensiven Zusammenarbeit und eines nachhaltigen, guten Verhältnisses gewertet. Eine positive Bewertung erinnerungskultureller Praktiken hatte folglich auch im deutsch-französischen Kontext Auswirkungen auf die Qualität der Beziehungen an sich. Man hatte sich „versöhnt“,⁸⁷ so die gemeinsame Erklärung. Zudem hatte man sich vor allem auf persönlicher Ebene kennengelernt und festgestellt, dass die dringend notwendige enge Zusammenarbeit der von Mitterrand deklarierten „Schicksalsgemeinschaft“⁸⁸ durch gegenseitige Empathie beflügelt werden konnte.
Ebd. Pfeil, Händedruck. Zur politischen Ikonographie: Vgl. Diers, Schlagbilder. Jacques Attali, Verbatim. Tome I Chronique des années 1981– 1986, Paris 1993, S. 699. Gaillard, François Mitterrand, S. 2 f. Kohl, Erinnerungen, S. 312 f. AAPD 1984, I, Nr. 164, Anm. 6.
Verdun 1984 – Diplomatie und Erinnerung
207
3 Verdun 1984 – Überlegungen zu einer Internationalisierung des Umgangs mit Vergangenheit innerhalb der deutsch-französischen Beziehungen des ausgehenden 20. Jahrhunderts Welchen Platz nimmt nun Verdun 1984 im Hinblick auf erinnerungskulturelle Entwicklungen innerhalb der deutsch-französischen Beziehungen des ausgehenden 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts ein? Hierfür werden zunächst einige grundsätzliche erinnerungskulturelle Tendenzen, die charakteristisch für das ausgehende 20. Jahrhundert sind, skizziert: Trotz der vorwiegend national geprägten Erinnerungskulturen nach 1945 können gegen Ende des letzten Jahrhunderts durchaus einige nationenübergreifende Tendenzen ausgemacht werden:⁸⁹ Länderübergreifend ist in dieser Zeit ein gesteigertes Interesse und eine intensivere Beschäftigung mit der eigenen Vergangenheit zu verzeichnen.Vielfach betitelt, über „memory boom“⁹⁰ bis hin zur „Geschichtsversessenheit“,⁹¹ bedingte die zunehmende Hinterfragung modernisierungstheoretischer Narrative im ausgehenden 20. Jahrhundert eine verstärkte Suche nach Fixpunkten in und nach Selbstlegitimationen durch Vergangenheit.⁹² Jedoch unterscheidet sich dieser Umgang fundamental von vorangegangenen Phasen: Deutlich kritischer verlief die Auseinandersetzung mit schuldhaften Momenten der eigenen Geschichte,⁹³
Arnd Bauerkämper, Gedächtnisgeschichten. Der Erste und Zweite Weltkrieg in den Erinnerungskulturen, in: Fenn u. Kuller, Auf dem Weg zur transnationalen Erinnerungskultur?, S. 37– 66, hier S. 41. Jeffrey K. Olick, Vered Vinitzky-Seroussi u. Daniel Levy, Introduction, in: Dies., The Collective Memory Reader, S. 3 – 62, hier S. 3. Frevert; zit. n.: Bernd Faulenbach, Einführende Überlegungen zu den Erinnerungskulturen in Frankreich, Deutschland und Polen, in: Volksbund Forum (Hg.), Zur Konkurrenz der Erinnerungskulturen in Deutschland, Frankreich und Polen. Beiträge aus dem gleichnamigen, gemeinsam mit der Friedrich-Ebert-Stiftung veranstalteten Seminar vom 11. bis 15. März 2012 in Berlin, Kassel 2012, S. 17– 43, hier S. 26 – 28. Olick, Vinitzky-Seroussi u. Levy, Introduction, S. 3. Ljiljana Radonić u. Heidemarie Uhl, Zwischen Pathosformel und neuen Erinnerungskonkurrenzen. Das Gedächtnis-Paradigma zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Zur Einleitung, in: Dies. (Hg.), Gedächtnis im 21. Jahrhundert. Zur Neuverhandlung eines kulturwissenschaftlichen Leitbegriffs, Bielefeld 2016, S. 7– 29, hier S. 7– 9.
208
Yvonne Blomann
der Sinn des Kriegs sah sich zunehmend durch das „postheroische, negative Gedächtnis“⁹⁴ in Frage gestellt. Innerhalb der deutsch-französischen Beziehungen erfuhr der Umgang mit Vergangenheit in den letzten Jahrzehnten durch nationenübergreifende Gedenkhandlungen staatlicher Repräsentantinnen und Repräsentanten eine zunehmende Internationalisierung. Der gegenwärtige Bezugsrahmen spielte hierfür eine nicht zu unterschätzende Rolle, denn Anfang der 1980er Jahre wurde durch die oben skizzierten erinnerungskulturellen Entwicklungen möglich, was Konrad Adenauer in den 1960er Jahren noch versagt blieb. Zwar stellte das Hochamt in Reims an einem für beide Länder geschichtsträchtigen Ort auch einen internationalen Vergangenheitsbezug dar, doch fiel dieser weitaus unspezifischer aus als die Zeremonie in Verdun im Herbst 1984: Weder die Erinnerung an kriegerische Auseinandersetzungen in der Vergangenheit noch ein Gedenken an deren Opfer standen hierbei im Vordergrund. Vielmehr zielten die Staatsbesuche 1962 durch geschickt eingesetzte Bildpolitiken auf eine gesamtheitliche, positive Überschreibung bis dato negativ konnotierter Ereignisse und Orte in der Geschichte beider Länder ab.⁹⁵ Den Gedenkfeiern in Verdun 1966 hingegen blieb Adenauer fern,⁹⁶ erst 1984 sollte für eine symbolträchtige Begegnung deutscher und französischer Staatsmänner an diesem Ort die Zeit reif sein. Seit dieser Zeremonie jedoch lassen sich vielfache internationale Bezüge auf Vergangenheit in den deutsch-französischen Beziehungen beobachten. Nur wenige Wochen nach dem Treffen auf dem Soldatenfriedhof in Verdun wurde im Beisein Mitterrands und Kohls auf der Festung Ehrenbreitstein in Koblenz der nicht weniger symbolträchtige „Vogel Greif“ – eine Kanone des Erzbischofs von Trier aus dem 16. Jahrhundert, die seit den Revolutionskriegen als begehrte Kriegsbeute zwischen Deutschland und Frankreich hin- und herwechselte – als Dauerleihgabe des Pariser Armeemuseums übergeben.⁹⁷ Im Juni 2004 wohnte mit Gerhard Schröder erstmals ein deutscher Staatsmann den internationalen Gedenkfeiern zur Landung der Alliierten in der Normandie bei.⁹⁸ Und durch die Einladung von Nicolas Sarkozy sollte Angela Merkel 2009 die Ehre zukommen, als erste deutsche Bundeskanzlerin bei den Feierlichkeiten zum 11. November in Paris
Bauerkämper, Gedächtnisgeschichten, S. 41. Simone Derix, Bebilderte Politik. Staatsbesuche in der Bundesrepublik 1949 – 1990, Göttingen 2009, S. 138 ff. Krumeich, Verdun, 2012, S. 441– 443. Lappenküper, Prekäres Vertrauen, S. 89. Calla, Couple, S. 71. Noch 1998 hatte Schröder die Teilnahme mit der Begründung eines zu vollen Terminplans abgelehnt: Ebd., S. 76.
Verdun 1984 – Diplomatie und Erinnerung
209
anwesend zu sein.⁹⁹ Oradour-sur-Glane hingegen nimmt in diesen Entwicklungen eine Sonderstellung ein: Zwar besuchte bereits 2007 Gerda Hasselfeldt, die damalige Vizepräsidentin des deutschen Bundestags, die Gedenkstätte des Dorfes, das 1944 durch die SS dem Erdboden gleichgemacht wurde. Als erster Staatsmann jedoch sollte Joachim Gauck erst 2013 gemeinsam mit dem französischen Präsidenten François Hollande diesen symbolträchtigen Ort betreten.¹⁰⁰ Internationale Bezüge auf Vergangenheit in den deutsch-französischen Beziehungen werden somit auch von der „nature du crime“¹⁰¹ bedingt; sie bestimmt deren Art, vor allem jedoch deren Geschwindigkeit. Im November 2018 besuchte schließlich an der Seite Emmanuel Macrons mit Angela Merkel eine deutsche Regierungschefin erstmals offiziell die Stätte des Waffenstillstands von 1918 in Compiègne.¹⁰² Zu dem internationalen Gipfel am Fuße des Arc de Triomphe in Paris am Folgetag waren neben der deutschen Bundeskanzlerin Staats- und Regierungschefs aus 70 weiteren Nationen geladen.¹⁰³ Erinnerung hat demnach in den letzten Jahrzehnten schrittweise ihren festen Platz innerhalb der diplomatischen Beziehungen Deutschlands und Frankreichs gefunden. Verdun 1984 nimmt in diesem Prozess der Internationalisierung des Umgangs mit Vergangenheit eine besondere Stellung ein und wurde zu einem ungeahnt wirkmächtigen Fixpunkt innerhalb der Beziehungen beider Länder, aber auch über diese hinaus: Die zumeist performativ vollzogenen erinnerungskulturellen Praktiken wurden seit den frühen 1980er Jahren sukzessive zu einem konstitutiven Teil des internationalen diplomatischen Repertoires und trugen hierbei der spezifischen Verschränkung zwischen Form und Inhalt in den nach wie vor mäßig reglementierten internationalen Beziehungen Rechnung.¹⁰⁴ Die Calla, Couple, ebd. Der französische Präsident war seinerseits zwei Tage vorher anlässlich der Feierlichkeiten zum Fall der Berliner Mauer in der deutschen Hauptstadt zugegen, um sich Stimmen zu widersetzen, die behaupteten, Frankreich habe die deutsche Einheit nicht gewollt: Ebd. Andrea Erkenbrecher, A Right to Irreconcilability? Oradour-sur-Glane, German-French-Relations and the Limits of Reconciliation after World War II, in: Birgit Schwelling (Hg.), Reconciliation, Civil Society, and the Politics of Memory. Transnational Initiatives in the 20th and 21st Century, Bielefeld 2012, S. 167– 199, hier S. 167– 169. Ulrich Pfeil, Pour une historicisation des processus de reconciliation. Quelques réflexions de conclusion, in: Les cahiers Sirice 15/1. 2016, S. 99 – 105, hier S. 102. O.V., Dieser Tag ist nicht nur Mahnung, er ist auch Ansporn, in: FAZ, 10.11. 2018, https:// www.faz.net/aktuell/politik/ausland/historische-geste-merkel-und-macron-erinnern-an-welt kriegsende-15884678.html. Michaela Wiegel, Erinnerungsort der Freundschaft, in: FAZ, 12.11. 2018, https://www.faz.net/ aktuell/politik/ausland/angelal-merkel-und-emmanuel-macron-das-bild-von-compiegne15885733.html. Kießling, Täter, S. 206.
210
Yvonne Blomann
Geste des Händedrucks selbst regte ebenfalls vielfach zur Nachahmung an und rückte „als politischer Konsens-Akt neu ins öffentliche Bewusstsein“,¹⁰⁵ auch jenseits der westlichen Welt.¹⁰⁶ Mithilfe von kultursoziologischen Ansätzen wie der „figurative[n] Politik“¹⁰⁷ lassen sich die Wirkungsmechanismen verdeutlichen, die die nachhaltige Verankerung erinnerungskultureller Praktiken staatlicher Repräsentantinnen und Repräsentanten im kollektiven Gedächtnis erklären: Deren Körper wurden seit den frühen 1980er Jahren mehr und mehr zu entscheidenden Akteuren im Bühnenbild des internationalen Gedenkens und verlieh diesem eine physische Dimension. Erinnerung auf internationaler Ebene gewann hierdurch an Plastizität und wurde für die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Zeremonien wie auch die internationalen Öffentlichkeiten zunehmend erleb- und erfahrbar.¹⁰⁸ Innerhalb der deutsch-französischen Beziehungen wurde in den letzten Jahrzehnten vielfach auf das Treffen in Verdun rekurriert. Gesten wie die Umarmung Gerhard Schröders durch Jacques Chirac in Caen anlässlich der Landungsfeierlichkeiten im Juni 2004 wurden sogar explizit mit dem Ziel konzipiert, den Händedruck von Verdun zu übertreffen.¹⁰⁹ Verdun 1984 avancierte so schrittweise zu einem Gradmesser und Vorbild für gelungenes Gedenken, an dem sich künftige Zeremonien orientieren sollten. Als „Ort der Versöhnung der ehemaligen Erbfeinde“ wurde das Treffen auf dem Soldatenfriedhof 1984 schließlich selbst zum Erinnerungsort der deutsch-französischen Beziehungen.¹¹⁰
4 Fazit Ziel des Beitrags war es, Formen des Umgangs mit Vergangenheit in den internationalen Beziehungen der frühen 1980er Jahre auszumachen sowie potenzielle Wirkungsweisen zu beleuchten. Hierbei konnte ein deutliches Ineinandergreifen
Diers, Schlagbilder, S. 189. Pfeil, Händedruck, S. 503 – 504. Diers führt hier das Beispiel des Handschlags zwischen Rabin und Arafat an: Vgl. Diers, Schlagbilder, S. 189. Hans-Georg Soeffner u. Dirk Tänzler, Figurative Politik. Prolegomena zu einer Kultursoziologie politischen Handelns, in: Dies. (Hg.), Figurative Politik. Zur Performanz der Macht in der modernen Gesellschaft, Opladen 2002, S. 17– 35. Vgl. König, Das Politische, S. 116. Pfeil, Händedruck. S. 503 f. Vgl. Bärbel Kuhn, Geschichtskulturelle Bedeutung und Erinnerungspolitik des Ersten Weltkrieges in transnationaler Perspektive. Chancen für das historische Lernen an ausgewählten Beispielen, in: Thomas Schleper (Hg.), Aggression und Avantgarde. Zum Vorabend des Ersten Weltkrieges, Köln 2014, S. 432– 442, hier S. 433, wie auch Calla, Couple, S. 71.
Verdun 1984 – Diplomatie und Erinnerung
211
der bisher kaum verknüpften Forschungen zu Außenbeziehungen und Erinnerung festgestellt und für Letztere in den internationalen Beziehungen ganz unterschiedliche Funktionen identifiziert werden. Durch die aufgezeigten Wechselwirkungen zwischen zeithistorischen Rahmenbedingungen sowie dem Verhalten der Akteure selbst sah sich auch die Diplomatie zu Beginn der 1980er Jahre erheblich beeinflusst: Grenzen wurden ausgetestet, neue Handlungsmöglichkeiten eruiert und folglich neue Verhaltensweisen etabliert. Die bis dato zumeist in der Zivilgesellschaft, selten jedoch im internationalen Rahmen verorteten erinnerungskulturellen Praktiken fanden schrittweise Eingang in das gängige diplomatische Handlungsrepertoire und differenzierten sich hierbei zu ganz eigenen Formen diplomatiekulturellen Handelns aus.¹¹¹ Die Erforschung des Umgangs mit Vergangenheit, seine Einbettung in und seine Wechselwirkungen mit dem internationalen Staatensystem erweisen sich als mehr als fruchtbar und bieten vielfache Anknüpfungspunkte für weitere Fragestellungen, beispielsweise eine genauere Analyse der Erfolgsbedingungen erinnerungskultureller Praktiken in diesem spezifischen Kontext. Laut dem Historiker Alon Confino leistet die Erforschung erinnerungskultureller Prozesse per se einen entscheidenden Beitrag zum Verständnis des „mental horizon of an age“.¹¹² Erinnerung in den internationalen Beziehungen verstehen bedeutet somit, sich ihrem mental horizon zu nähern und das Funktionieren internationaler Politik in den Augen der Zeitgenossinnen und Zeitgenossen ein Stück weit greifbarer werden zu lassen. Die bewusste, gemeinsame Auseinandersetzung mit einer häufig konfliktreichen Vergangenheit wird im ausgehenden 20. Jahrhundert letztlich fester Bestandteil des außenpolitischen Selbstverständnisses der westlichen Welt. Das Gedenkjahr 1984 wiederum bildet für die sukzessive Internationalisierung des Umgangs mit Vergangenheit einen wesentlichen Bezugspunkt.
Folgt man Robert Frank in seiner Definition von „Kultur“, so sind ihre fundamentalen Bestandteile soziale Praktiken und symbolische Erzeugnisse einer Gesellschaft, deren Austausch über Grenzen hinweg wiederum als „relations culturelles internationales“ bezeichnet werden kann: Robert Frank, Culture et relations internationales: Les diplomaties culturelles, in: Ders. (Hg.), Pour l’histoire des relations internationales, Paris 2012, S. 371– 387, hier S. 373. Auch politische Repräsentantinnen und Repräsentanten können durch spezifische Handlungsformen zu eben diesem Austausch beitragen. In diesem Sinne legt der Begriff „diplomatiekulturelles Handeln“ den Fokus auf den performativen Aspekt personaler außenpolitischer Interaktionen. Er beschreibt spezifische Handlungsmuster in der Diplomatie, die für die Akteure selbst wie auch für die hierfür bewusst involvierten Öffentlichkeiten einen Akt der Sinnstiftung darstellen und dem diplomatischen Kontext eigen sind. Die zu Beginn der 1980er Jahre sukzessive etablierten erinnerungskulturellen Praktiken im internationalen Rahmen können hierfür als Beispiel fungieren. Alon Confino, From „Collective Memory and Cultural History: Problems of Method“, in: Olick, Vinitzky-Seroussi u. Levy, Collective Memory Reader, S. 198 – 200, hier S. 200.
Kristiane Janeke
Die deutsch-belarussischen Beziehungen im Spiegel des Erinnerungsortes Trostenec Die Entstehung einer Gedenklandschaft am historischen Ort der nationalsozialistischen Vernichtungsstätte Malyj Trostenec bei Minsk offenbart eine Wechselwirkung von politischen Interessen auf der einen und Konjunkturen des offiziellen Gedenkens sowie gesellschaftlichen Erinnerns auf der anderen Seite. Je differenzierter der Umgang mit diesem Ort in Belarus ausfällt, umso größer ist die Bereitschaft einer politischen Partnerschaft auf deutscher Seite. Zugleich ist die Toleranz in der historischen Aufklärung in Belarus umso größer, je partnerschaftlicher die politischen Beziehungen von deutscher Seite gestaltet werden. Damit ist der Umgang mit Politik und Erinnerung auf offizieller Ebene in beiden Ländern diametral entgegengesetzt motiviert. Während die Öffnung in Belarus für die vormals marginalisierte Erinnerung an den Holocaust für die deutsche Seite einen Beleg zivilgesellschaftlicher Entwicklung darstellt und eine Vertiefung der Beziehungen motiviert, sieht die belarussische Seite ihr Entgegenkommen gegenüber dem Partner als Chance, das eigene Image außenpolitisch zu verbessern. Diesen Prozessen der Memorialisierung von Trostenec geht der Beitrag am Beispiel zweier Meilensteine nach. Dabei handelt es sich um die deutsch-belarussische Wanderausstellung „Der Vernichtungsort Trostenez [sic]. Geschichte und Erinnerung“¹ sowie die Errichtung unterschiedlicher Denkmäler auf dem historischen Gelände. Als Mitglied des wissenschaftlichen Beirats der Ausstellung sowie als Beraterin der Geschichtswerkstatt Minsk war die Autorin an beiden Projekten beteiligt. Konkret werden im Folgenden Repräsentationen historischer Referenzen in außenpolitischen Praktiken betrachtet, indem der Beitrag auf die politischen Aspekte der Ausstellung und die staatliche Ebene bei der schrittweisen Einweihung der Erinnerungslandschaft rekurriert. Mit dem Beispiel Belarus öffnet er den Blick auf ein noch immer wenig beachtetes Land Osteuropas. Im Fokus steht die Frage, ob und wie der Umgang mit Geschichte und nationalen Mustern des Erinnerns die Verständigung zwischen Staaten fördern und diese in eine transnationale, „das heißt, [sic] eine nicht ausschließlich durch nationale Referenzrah-
So lautet der Titel des zweisprachigen Katalogs, hg. vom Internationalen Bildungs- und Begegnungswerk, der Internationalen Bildungs- und Begegnungsstätte „Johannes Rau“ Minsk sowie der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas, Berlin 2016. https://doi.org/10.1515/9783110726442-016
214
Kristiane Janeke
men und Grenzen determinierte“² Erinnerungskultur überführen kann. Dabei wird „Erinnerungskultur“ in einem breiten Sinne verstanden als Sammelbegriff für unterschiedliche „Formen der bewussten Erinnerung an historische Ereignisse, Persönlichkeiten und Prozesse […], seien sie ästhetischer, politischer oder kognitiver Natur“,³ durch Einzelpersonen, Gruppen oder Nationen. Diesem Verständnis entsprechend umfasst Erinnerungskultur auch Geschichtspolitik, also den Umgang politischer Instanzen und Akteure mit primär nationalen Jahres- und Gedenktagen, ‚historischen‘ Orten und Persönlichkeiten, Höhen bzw. Tiefen der eigenen Nationalgeschichte, Geschichtsmuseen und -ausstellungen, Denkmalen, Gedenkstätten, Memorialkomplexen u. a.⁴
1 Der historische Ort in der deutschen und belarussischen Erinnerungskultur Trostenec war die größte Vernichtungsstätte der deutschen Besatzungsmacht auf sowjetischem Gebiet zwischen 1941 und 1944.⁵ Sie umfasste das Zwangsarbeiterlager neben dem Dorf Malyj Trostenec, das Waldstück Blagovščina als Ort von Massenerschießungen und eine Grube zur Verbrennung von Leichen im Wald von Šaškovka, unweit des Lagers. Seit 1942 wurden in Trostenec nach unterschiedlichen Schätzungen zwischen 50.000 und über 206.500 Menschen durch Erschießung, Vergasung und Verbrennung ermordet oder kamen durch die unmenschli-
Jens Kroh, Erinnern global, https://www.bpb.de/geschichte/zeitgeschichte/geschichte-und-er innerung/39863/erinnern-global. Christoph Cornelißen, Erinnerungskulturen, Version 2.0, http://docupedia.de/zg/cornelissen_ erinnerungskulturen_v2_de_2012. Stefan Troebst, Geschichtspolitik, https://docupedia.de/zg/Geschichtspolitik. Zur Geschichte des Lagers: Vgl. Anna Bogdanova, Lager’ smerti v okrestnostjach derevni Malyj Trostenec (nojabr’ 1941–oktjabr’ 1943 gg.), in: Internationales Bildungs- und Begegnungswerk Dortmund u. Internationale Bildungs- und Begegnungsstätte „Johannes Rau“ Minsk (Hg.), Evrejskoe soprotivlenie nacizmu na territorii Belarusi v gody Velikoj Otečestvennoj vojny 1941– 1944 gg., Minsk 2011, S. 113 – 123; Aliaksandr Dalhouski, Zur Geschichte der Wahrnehmung des Vernichtungsortes Malyj Trostenec, in: Alexandra Klei u. Katrin Stoll (Hg.), Leerstelle(n)? Der deutsche Vernichtungskrieg 1941– 1944 und die Vergegenwärtigungen des Geschehens nach 1989, Berlin 2019, S. 135– 149; Ders., Zur Transformation des sowjetischen Gedenkortes bei Malyj Trostenez in einen gesamteuropäischen Erinnerungsort, in: Pia Schönberger (Bundeskanzleramt Österreich) (Hg.), Massiv der Namen [The Accompanying Publication on the Installation of the Austrian Monument to the Victims of Events in Malyj Trostnec], Wien 2019, S. 114– 129.
Deutsch-belarussische Beziehungen im Spiegel des Erinnerungsortes Trostenec
215
chen Lebensbedingungen ums Leben.⁶ Die Opfer waren mehrheitlich Juden aus Belarus, Deutschland, Österreich und Tschechien sowie Zivilistinnen und Zivilisten, Partisaninnen und Partisanen, Widerstandskämpferinnen und -kämpfer und sowjetische Kriegsgefangene. Über Jahrzehnte war Trostenec in Belarus und in Deutschland weitgehend unbekannt. Erst mit dem Ende der Sowjetunion wuchsen seit Beginn der 1990er Jahre Aufmerksamkeit und Interesse. Dieser Befund wird verständlich vor dem Hintergrund der unterschiedlichen Erinnerungskulturen beider Länder.⁷ In Belarus ist bis heute sowohl in der staatlichen als auch der gesellschaftlichen Kriegserinnerung das sowjetische Narrativ stark ausgeprägt.⁸ Dieses wird dominiert vom „Großen Vaterländischen Krieg“ (1941– 1945), das heißt der Verteidigung des eigenen Landes durch die gesamte Bevölkerung. Im Zentrum des Gedenkens stehen die anerkannten Opfergruppen der Kriegsheldinnen und -helden, Partisaninnen und Partisanen sowie Untergrundkämpferinnen und -kämpfer. Das Leiden Einzelner erhält wenig Raum. Auch Juden gelten nicht als besondere Gruppe, sondern werden der „sowjetischen Zivilbevölkerung“ zugerechnet.⁹ Die Shoah ist in dieser Lesart Bestandteil aller Verbrechen durch die deutschen Besatzer und wird nicht als Teil der eigenen Geschichte angesehen.Vor diesem Hintergrund wurde der Opfer von Trostenec während der sowjetischen Periode an einem 1963 errichteten zentralen Gedenkort nördlich des historischen Geländes gedacht.¹⁰ Dieses geriet in der Öffentlichkeit zunehmend in Vergessenheit. Das Lagergelände wurde bereits 1944 wieder von einer Kolchose genutzt;
Die „Außerordentliche Kommission“ der Roten Armee nannte die Zahl 206.500. Nach Gerlach lassen sich gesichert 40.000, geschätzt 60.000, nach Rentrop 30.000 Tote nachweisen: Vgl. Christian Gerlach, Kalkulierte Morde. Die deutsche Wirtschafts- und Vernichtungspolitik in Weißrussland 1941– 1944, Hamburg 1999, S. 770; Petra Rentrop, Tatorte der „Endlösung“, Berlin 2011, S. 211 f. Zur Einordnung der Zahlen: Vgl. Sergej Novikov: Uročyšča Blagaŭščyna – mesca masavaga zniščėnnja ljudzej na tėrytoryi akupavannaj Belarusi, in: Voennaja Gistoryja 10. 2013, S. 21– 27, hier S. 25; Dalhouski, Zur Geschichte, S. 138; Dalhouski, Zur Transformation, S. 116 – 118. Ein knapper Überblick zu beiden Ländern findet sich im Ausstellungskatalog „Der Vernichtungsort Trostenez. Geschichte und Erinnerung“, S. 182– 225. Zu Belarus: Vgl. Kristiane Janeke, Erinnerungskultur und Geschichtspolitik in Belarus, in: Belarus-Analysen 37. 31.5. 2018, S. 9 – 13 und Jörg Ganzenmüller, Erinnerung und Gedenken in Osteuropa, https://www.bpb.de/veranstaltungen/dokumentation/260033/erinnerung-und-geden ken-in-osteuropa#fr-footnode1. Harvey Asher, The Soviet Union, the Holocaust and Auschwitz, in: Michael David-Fox, Peter Holquist u. Alexander M. Martin (Hg.), The Holocaust in the East. Local Perpetrators and Soviet Responses, Pittsburgh 2014, S. 29 – 50, hier S. 30. Hier befanden sich die Massengräber der bei der Befreiung von Minsk gefallenen Soldaten: Vgl. Dalhouski, Zur Transformation, S. 6.
216
Kristiane Janeke
die Blagovščina war zu einem Teil Militärübungsplatz, zu einem weiteren Teil seit 1958 eine Mülldeponie, die bis heute existiert. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion erlebte Belarus einen politischen und sozialen Aufbruch, in dem auch die sowjetische Geschichtspolitik kritisch hinterfragt wurde. Erstmals interessierten sich zivilgesellschaftliche Gruppen auch für Trostenec. 1995 entstand ein Dokumentarfilm zu dem Ort.¹¹ Aufmerksamkeit provozierte zudem der in Belarus bekannte Architekt Leonid Levin mit einer Bürgerinitiative.¹² In seiner Funktion als Vorsitzender des Verbandes Jüdischer Gemeinden erreichte er, dass 2002 ein Gedenkstein in der Blagovščina aufgestellt werden konnte, auf dem Juden erstmals ausdrücklich als Opfer benannt wurden. Bis heute vollzieht sich der Wandel der Erinnerungskultur in Belarus nur langsam. Eine starre, noch immer sowjetisch geprägte Haltung in offiziellen Institutionen mit Außenwirkung – wie der Akademie der Wissenschaften oder der 2018 auf Initiative des deutschen Bundespräsidenten ins Leben gerufenen Deutsch-Belarussischen Historikerkommission – stehen offene Diskussionen in universitären Kreisen sowie die Publikation von Archivbeständen gegenüber.¹³ Die Erinnerung in Deutschland war zunächst geteilt.¹⁴ In der DDR stand der „antifaschistische Widerstand“ in sowjetischer Tradition im Fokus, anderer Opfergruppen gedachte man – wie in der Sowjetunion – kaum. Auch die westdeutsche Gesellschaft schenkte vor dem Hintergrund des Kalten Kriegs den nationalsozialistischen Verbrechen in der damaligen Sowjetunion und damit auch Trostenec nur wenig Aufmerksamkeit. Die am Wittenbergplatz in Berlin 1967 aufgestellte Tafel zum Gedenken an die Konzentrationslager wurde erst 1995 um Trostenec ergänzt.¹⁵
Uladzimir Kolas, Trascjanec, Minsk 1995, https://www.youtube.com/watch?v=xyLpzM-h2aA. Dalhouski, Zur Geschichte, S. 145 f. So z. B. auf den jährlichen Konferenzen unter dem Thema „Belarus und Deutschland“ des Historiker Sergej Novikov an der Linguistischen Universität. Zur Publikation von Archivbeständen: Vgl. V. I. Adamuško u. a. (Hg.), Lager smerti Trostenec. Dokumenty i materialy, Minsk 2003; Aleksandra Narkevič u. a., Teni Trostenca 1941– 1945 gg: Živye svidetel’stva Belarusi, Minsk 2015 (deutsch-russisch); V. I. Adamuško u. a. (Hg.), Trostenec: Tragedija narodov Evropy, pamjat’v Belarusi. Dokumety i materialy, Minsk 2016. Vgl. Edgar Wolfrum: Geschichte der Erinnerungskultur in der DDR und BRD, https://www. bpb.de/geschichte/zeitgeschichte/geschichte-und-erinnerung/39814/geschichte-der-erinne rungskultur. Gedenktafeln in Berlin, Konzentration- und Vernichtungslager, https://www.gedenktafeln-inberlin.de/nc/gedenktafeln/gedenktafel-anzeige/tid/konzentrations-und/.
Deutsch-belarussische Beziehungen im Spiegel des Erinnerungsortes Trostenec
217
Im wiedervereinigten Deutschland gehörte der Journalist Paul Kohl zu den Ersten, die sich mit dem Thema beschäftigten.¹⁶ Es folgten wissenschaftliche Arbeiten, die erstmals auch sowjetische Quellen einbezogen.¹⁷ Dies geschah zunächst vor dem Hintergrund einer weiterhin stark deutschlandzentrierten Perspektive auf den Holocaust als Staatsräson der Bundesrepublik, wie die jahrelange Debatte um das Holocaust-Denkmal in Berlin zeigt. Die Folge war eine Vernachlässigung des Bezugs zu den Schauplätzen der Vernichtung in den besetzten Gebieten, sowohl was die historischen Ereignisse als auch den Umgang mit diesen Orten in den betroffenen Ländern selbst betrifft. Bis heute dominiert diese Perzeption den Umgang mit den Erinnerungsorten und Partnern in diesen Staaten.¹⁸ Einen neuen Impuls brachte die Stockholmer Holocaust-Konferenz im Jahr 2000 mit dem Aspekt eines europäischen Gedächtnisses in die Diskussion ein. Damit stellte sich auch die Frage der internationalen Zusammenarbeit auf dem Feld der Holocaust-Erinnerung neu.¹⁹ Diese Entwicklung hatte auch Konsequenzen für Trostenec. Mit der Gründung der Geschichtswerkstatt in Minsk 2003 geriet der Ort in beiden Ländern in den Blick einer breiteren Öffentlichkeit. Dabei profitierte die Einrichtung von einem zunehmenden Interesse auch der belarussischen Forschung für den Holocaust und Trostenec.²⁰ Mit ihrer eigenen Forschungs- und Bildungstätigkeit sowie der Betreuung der letzten Zeitzeuginnen und Zeitzeugen setzt sich die von deutschen wie belarussischen Trägern gemeinsam betriebene nicht-staatliche Einrichtung für Aufklärung vor Ort in Trostenec ein. Sie geht zurück auf das Engagement des deutschen Internationalen Bildungs- und Begegnungswerks in Dortmund sowie der deutsch-belarussischen Internationalen Bildungs- und Begegnungsstätte „Johannes Rau“, an der die Stadt Minsk beteiligt ist. Mit ihren Angeboten und Programmen, darunter der Geschichtswerkstatt, setzten sich das „IBB Dort-
Paul Kohl, „Ich wundere mich, dass ich noch lebe.“ Sowjetische Augenzeugen berichten, Gütersloh 1990. Vgl. Bernhard Chiari, Alltag hinter der Front. Besatzung, Kollaboration und Widerstand in Weißrussland, 1941– 1944, Düsseldorf 1998; Gerlach, Kalkulierte Morde; Rentrop, Tatorte der „Endlösung“. 2009 – 2012 stellten Studierende an der HU Berlin in einem Gedenkbuch Opferbiographien zusammen. Anja Reuss u. Kristin Schneider, Berlin–Minsk: Unvergessene Lebensgeschichten, ein Gedenkbuch für die nach Minsk deportierten Berliner Jüdinnen und Juden, Berlin 2013, http://www.berlin-minsk.de/. Vgl. Ganzenmüller, Erinnerung und Gedenken. Vgl. Wolfrum, Geschichte der Erinnerungskultur. Astrid Sahm, Holocaust Memorials in the Belarusian Culture of Remembrance, in: Thomas Lutz u. a. (Hg.), Killing Sites: Research and Remembrance, Berlin 2015, S. 191– 203. Einen Überblick über die belarussische Forschung zu Trostenec bieten Novikov, Uročyšča Blagaŭščyna; Bogdanova, Lager’ smerti; und Dahlouski, Zur Geschichte.
218
Kristiane Janeke
mund“ und die „IBB Minsk“ von Beginn an für eine deutsch-belarussische Verständigung und Versöhnung durch Vernetzung zivilgesellschaftlichen Engagements, wissenschaftlicher Forschung und politischen Handelns in einem bilateralen und internationalen Kontext ein.²¹ Eines der erklärten Ziele waren Forschung und Information zu Trostenec sowie dessen Verankerung in einem gemeinsamen europäischen Gedächtnis. Dahinter steht die Überzeugung, dass Trostenec zu den Erinnerungsorten – verstanden als „diskursive Chiffre […], [die] in einem bestimmten soziohistorischen Zusammenhang eine traditions- und identitätsstiftende Rolle spiel[t]“²² – des Holocaust gehört, die aufgrund der hier ermordeten Menschen aus verschiedenen europäischen Ländern dessen gesamteuropäische Dimension verdeutlichen und zugleich das Potenzial haben, infolge von historischer Bildung zu einem gemeinsamen Erinnern beizutragen. Je weiter diese Anstrengungen voranschritten, desto größer war die Aufmerksamkeit politischer Kreise vor dem Hintergrund der sich zunehmend normalisierenden diplomatischen Beziehungen.²³ Beide Staaten „entdeckten“ Trostenec als Referenz für ihre außenpolitischen Interessen, wobei die unterschiedlichen geschichtspolitischen Agenden früh erkennbar wurden. Deutschland entschied sich für eine finanzielle Förderung und politische Unterstützung der zivilgesellschaftlichen Aktivitäten des IBB, einschließlich der Geschichtswerkstatt. Leitend dabei ist das Holocaust-Narrativ: die Überzeugung von der Einzigartigkeit des Mordes an den europäischen Juden und der deutschen Schuld, daraus abgeleitet die Konzentration auf die Opfer der Shoah, historische Aufklärung und eine möglichst breite Diskussion unter Beteiligung der Zivilgesellschaft mit dem Ziel der Versöhnung mit den von der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft betroffenen Ländern. Die deutsche Außenpolitik steht damit in der Tradition der westdeutschen Erinnerungskultur,²⁴ die sie zugleich zum Maßstab des Handelns macht.²⁵ Aus der eigenen Schuld und Verantwortung heraus wird die „richtige“ Auseinandersetzung mit der Geschichte zur Voraussetzung für
Zur IBB Minsk: https://ibb-d.de/homepage/die-ibb-in-minsk/; zur IBB Dortmund: https://ibbd.de; zur Geschichtswerkstatt: www.gwminsk.com. Cornelia Siebeck, Erinnerungsorte. Lieux de Mémoire, https://docupedia.de/zg/Siebeck_erin nerungsorte_v1_de_2017#cite_ref-2. Gabriel in Belarus, Annäherung und Öffnung unterstützen, in: Auswärtiges Amt, 17.11. 2017, https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/belarus-node/-/609576. Sebastian Harnisch, Erinnerungskultur und Außenpolitik: Wie deutsche Geschichte(n) die internationale Politik prägen, https://www.uni-heidelberg.de/md/politik/harnisch/person/publi kationen/harnisch_renmin_2019_erinnerungskultur.pdf, S. 15 u. 19. Vgl. Ganzenmüller, Erinnerung und Gedenken; Wolfrum, Geschichte der Erinnerungskultur.
Deutsch-belarussische Beziehungen im Spiegel des Erinnerungsortes Trostenec
219
Kooperation. Aus dieser Perspektive eröffnet der Erinnerungsort Trostenec über die Zusammenarbeit bei der historischen Aufarbeitung die Möglichkeit zur Festigung der zivilgesellschaftlichen und politischen Beziehungen zu Belarus sowie der Stabilität in Europa. Die Motivation und Aktivität der belarussischen Regierung waren anders gelagert. Hintergrund ist die sogenannte Ideologie der belarussischen Staatlichkeit, ein politisches Konzept, das zur nationalen Profilierung und Abgrenzung von Russland auf die eigenen Erfolge der Republik Belarus seit 1991 setzt.²⁶ In dieses Konzept passt Trostenec als historische Referenz, die eine Erinnerung an den „Großen Vaterländischen Krieg“ erlaubt, die sich nicht mehr allein aus der sowjetischen, sondern auch aus einer nationalen Geschichtspolitik erklärt. Anders als die meisten sowjetischen Orte der Kriegserinnerung bietet Trostenec die Chance, eine spezifisch belarussische Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg zu etablieren. Zugleich aber soll aus dem Misstrauen gegenüber der Zivilgesellschaft heraus eine breite gesellschaftliche Diskussion vermieden werden. Dies gelingt, indem der Staat das Thema und den Ort „besetzt“ und ihn in vertraute Gedenkformate und Rituale einbettet, die einer kritischen Reflexion zumindest entgegenwirken sollen. Nach einem 2003 ausgelobten Gestaltungswettbewerb wurde daher das städtische Architekturbüro Minsk-Projekt beauftragt.²⁷ So konnten der Umgang mit dem Ort sowie der künstlerische Entwurf kontrolliert werden. Die Kooperation mit europäischen Partnern, allen voran Deutschland, wurde genutzt, um eine Bühne zu schaffen, auf der sich Belarus als unabhängiger politischer Akteur in Europa – etwa im Rahmen der Minsker Gespräche während der UkraineKrise – international präsentieren konnte. Anders also als im Falle der deutschen Politik, wo die historische Auseinandersetzung und gemeinsame Erinnerung im Vordergrund stehen und den Anlass für politische Zusammenarbeit darstellen, folgt für Belarus die gemeinsame Erinnerung und Beschäftigung mit der Geschichte der Festigung politischer Beziehungen und wird diesen untergeordnet. Diese jeweils unterschiedlichen Herangehensweisen zeigen der Prozess der Erarbeitung einer deutsch-belarussischen Wanderausstellung zu Trostenec sowie die Ausgestaltung des historischen Geländes.
Vgl. Janeke, Erinnerungskultur und Geschichtspolitik, S. 10. Vgl. O sozdanii memorial’nogo kompleksa „Trostenec“ v g. Minske, 26.6. 2003, https://minsk. gov.by/ru/normdoc/278.
220
Kristiane Janeke
2 Eine deutsch-belarussische Wanderausstellung Auf Initiative des IBB Dortmund und der IBB Minsk begannen Historiker aus Belarus, Deutschland und Tschechien sowie anfänglich auch aus Österreich 2014 mit der Konzeption einer Ausstellung über Malyj Trostenec. Das Projekt wurde überwiegend aus Mitteln des Auswärtigen Amtes sowie mit Unterstützung der „Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas“ finanziert und erreichte eine breite Ausstrahlung in politische wie gesellschaftliche Kreise. Die Ausstellung wurde mehrfach in Anwesenheit hochrangiger Politiker eröffnet, darunter im März 2017 in Minsk in Verbindung mit der Würdigung des 25. Jahrestages seit der Aufnahme diplomatischer Beziehungen. Die Ausstellung thematisiert die historischen Zusammenhänge, dokumentiert Biographien unterschiedlicher Opfergruppen und bringt die Frage nach den Tätern und ihrer juristischen Strafverfolgung zur Sprache. Ein Schwerpunkt liegt auf der Erinnerungskultur in den Ländern, aus denen die Opfer stammen. Die Fotos, Texte und medialen Anwendungen stehen in einer deutsch-russischen und einer deutsch-belarussischen Fassung zur Verfügung und richten sich an Schülerinnen und Schüler. Innerhalb des wissenschaftlichen Beirats und des Ausstellungs-Teams wurde lebhaft über die Inhalte der Ausstellung, die Auswahl der Exponate, die Formulierung der Texte und die Gestaltung debattiert. Immer wieder galt es, Kompromisse auszuhandeln. Bereits die Verständigung über die Bezeichnung der Topographie wurde kontrovers diskutiert. Dem in der sowjetischen und belarussischen Forschung verwendeten Begriff des „Todeslagers“ (als gebräuchlichere, aber synonym zu dem rein wissenschaftlichen Terminus „Vernichtungslager“ verwendete Form) setzten die deutschen Kollegen die Bezeichnung „Vernichtungsort“ für das gesamte Gelände entgegen, um zu verdeutlichen, dass es sich bei Trostenec nicht um ein Vernichtungslager zur gezielten und massenhaften Tötung der Opfer, sondern um eine eher untypische Kombination aus einem Arbeitslager und mehreren Vernichtungsstätten gehandelt hat.²⁸ Schließlich einigte man sich auf die in den Ländern verbreitete Terminologie, sodass im Russischen von „Todeslager“, im Deutschen von „Vernichtungsort“ die Rede ist.Weiterhin rief die Frage der Opferzahlen eine Diskussion hervor. Die belarussische Seite berief sich auf die Angaben der „Außerordentlichen Staatlichen Kommission für die Feststellung und Untersuchung der Gräueltaten der deutsch-faschistischen Ag-
Zur Terminologie im deutschen Forschungskontext: Vgl. Gudrun Schwarz, Die nationalsozialistischen Lager, Frankfurt 1997, S. 75. Im russischsprachigen Kontext: Vgl. Lagerja uničtoženija, https://www.yadvashem.org/ru/holocaust/about/final-solution/death-camps.html; I. A. Al’tman, Cholokost, https://dic.academic.ru/dic.nsf/es/92153/ХОЛОКОСТ.
Deutsch-belarussische Beziehungen im Spiegel des Erinnerungsortes Trostenec
221
gressoren und ihrer Komplizen“.²⁹ Für Trostenec nannte die Kommission die Zahl von 206.500 Toten. Sie beruht auf Aussagen der wenigen Lagerinsassen und Lagerinsassinnen, die fliehen konnten, der einheimischen Bevölkerung in den umliegenden Dörfern sowie der vor Gericht gestellten Täter. Jüngere deutsche Forschungen haben diese Zahlen in Frage gestellt und deutlich nach unten korrigiert.³⁰ Letztlich akzeptierte die deutsche Seite, in allen Texten die Zahl der Kommission anzugeben und andere Forschungsergebnisse im Rahmen von Führungen zu erläutern. Einen dritten Streitpunkt stellte die Auswahl der Biographien von Opfern dar. Dem deutschen Vorschlag, mehrheitlich jüdische Opfer vorzustellen, da sie die größte Opfergruppe in Trostenec darstellen, begegnete die belarussische Seite mit dem Argument, die Ausstellung müsse Anschluss an das kollektive Gedächtnis im eigenen Land finden, was nur gelänge, wenn man Schicksale aller anerkannten Opfergruppen gleichermaßen dokumentiere. Ein vierter strittiger Punkt war der Umgang mit den Tätern. Traditionell wird dieser Gruppe in sowjetischen und bis heute in vielen belarussischen Ausstellungen kein Platz eingeräumt mit dem Argument, sie nicht aufwerten zu wollen. Darüber hinaus würde die Frage nach den Motiven der Täter unweigerlich das Thema der Kollaboration aufwerfen, das bis heute weitgehend ausgeklammert wird.³¹ Für die Ausstellung wurde entschieden, Informationen zu den Tätern im Kontext der Strafverfolgung einzubetten. Die mehrjährige Zusammenarbeit hat die Wirkungsmacht und Unterschiede der Erinnerungskulturen sowie des Einflusses politischer und zivilgesellschaftlicher Strukturen gezeigt. Vor diesem Hintergrund ist das Zustandekommen der Ausstellung als Erfolg zu werten. Dieser kommt nicht zuletzt darin zum Ausdruck, dass sich alle Seiten auf eine identische Fassung in allen Sprachen einigen konnten – eine von Beginn an proklamierte Absicht, die angesichts der unterschiedlichen Positionen immer wieder in Frage gestellt worden war. Letztlich gewann der gemeinsame Wille zur Verständigung die Oberhand.
Zur propagandistischen Funktion der Kommission: Vgl. А. В. Гайдашев, Črezvyčajnaja gosudarstvennaja komissija po rassledonaviju zlodejanij nemecko-fašistskich zachvatčikov i ich soobščikov […], in: Vestnik Čeljabinskogo gosudarstvnnogo universiteta 297/6. 2013, S. 53 – 56. Vgl. Fußnote 6. Zum Standpunkt der offiziellen belarussischen Historiographie vgl. das Vorwort zu Adamuško u. a. (Hg.), Lager smerti, http://old.archives.gov.by/index.php?id=973276. Zur Korrektur der Opferzahlen auch anderer Lager: Vgl. Dieter Pohl, Die einheimischen Forschungen und der Mord an Juden in den besetzten Gebieten, in: Wolf Kaiser: Täter im Vernichtungskrieg, Berlin 2002, S. 204– 216. Vgl. Bogdanova, Lager’ smerti.
222
Kristiane Janeke
3 Die Gedenklandschaft Die Kooperation im Rahmen der Ausstellung erfolgte vor dem Hintergrund einer weiteren Initiative. Seit 2012 engagiert sich das IBB Dortmund zusammen mit der IBB Minsk, der Stadt Minsk sowie weiteren Partnern für den Bau einer Erinnerungsund Gedenklandschaft auf dem historischen Gelände.³² Unterstützung erhielten die zivilgesellschaftlichen Akteure vom Auswärtigen Amt und den Städten, aus denen Juden 1941 und 1942 nach Trostenec deportiert worden waren. Von der Stadt Minsk erhielt abermals das städtische Architekturbüro Minsk-Projekt unter der Leitung der Architektin Anna Aksjonova den Auftrag für die Gestaltung des historischen Ortes. Dessen Vorschläge konzentrierten sich, wie bei dem Wettbewerb 2003, auf das Lagergelände und klammerten die Blagovščina aus.³³ Daraufhin legte der Architekt Leonid Levin einen Entwurf nur für die Blagovščina vor. Darin wurde er ausdrücklich von der deutschen Seite unterstützt, die ein besonderes Interesse an der Einbeziehung dieses Ortes, an dem aus Europa deportierte Juden massenhaft erschossen wurden, in die Gesamtplanung hatte. Es standen sich zunächst zwei Konzepte gegenüber, die in Einklang zu bringen oder zumindest zu kombinieren Gegenstand langwieriger Verhandlungen war. Eine gesamtgesellschaftliche Diskussion fand nicht statt. Allein auf einer Konferenz der IBB Minsk 2013 wurden beide Konzepte präsentiert.³⁴ Während bei Aksjonova der politische Auftrag und das rituelle Gedenken im Vordergrund standen, war Levin daran gelegen, eine gesellschaftliche Auseinandersetzung mit der Geschichte anzuregen. Dem Gestaltungsplan der Stadt ging es darum, den lange vergessenen historischen Ort in das sowjetische Heldennarrativ einzuschreiben, ohne dessen Besonderheiten hervorzuheben. Dazu griff Aksjonova auf bekannte Muster einer unspezifischen Parklandschaft zurück: Die Besucherinnen und Besucher werden zu einer passiven Betrachtung eingeladen. Wenige, gezielte Informationen wie die Nennung kollektiver Opferzahlen einzelner Städte und Regionen beabsichtigen eine emotionale Betroffenheit, ohne eine kritische Reflexion zu fördern. Auch die in die Anlage integrierte Skulptur „Pforte der Erinnerung“ des Bildhauers Konstantin Kostjučenko lenkt den Fokus auf das Ge Zum Begriff der „Erinnerungslandschaft“ und aktuellen Fallstudien: Vgl. Jörg Echternkamp u. Stephan Jaeger (Hg.), Views of Violence. Representing the Second World War in German and European Museums and Memorials, Teil II, New York 2019. Interview mit der Architektin: „Trostenec“: Zdes’ ubivali ljudej…, 3. 2. 2012, https://www.sb. by/articles/trostenets-zdes-ubivali-lyudey-.html. Vgl. Leonid Lewin, Trostenez (Blagowschchina), in: IBB Minsk (Hg.), Der Vernichtungsort Trostenez in der europäischen Erinnerung, Minsk 2013, S. 50 – 53, und Anna Aksjonowa, Gedenkstätte Trostenez, in: Ebd., S. 45 – 49.
Deutsch-belarussische Beziehungen im Spiegel des Erinnerungsortes Trostenec
223
denken in der Gegenwart, nicht auf das konkrete historische Geschehen. Gerade Letzteres aber ist die Absicht Levins, der mit seinem Denkmalkomplex „Weg des Todes“ den Versuch unternimmt, die letzten Stunden der Opfer von ihrer Ankunft in Minsk über die Zwischenstationen ihres Transports nach Blagovščina bis zu ihrer Ermordung und dem Verscharren in Massengräbern zum Gegenstand des Nachdenkens zu machen. Seine Gestaltung betont an verschiedenen Stellen bewusst die Diskrepanz zwischen der friedlichen Natur und dem, was hier passiert ist. Er setzt damit auf eine individuelle Beschäftigung mit dem Ort. Dieser Ansatz wäre noch durch seinen ursprünglichen Plan verstärkt worden, in dem schmalen Durchgang zwischen Betonwänden, die an einen Wagon erinnern sollen, auch die Namen der Opfer anzubringen. Aufgrund der Tatsache aber, dass eine große Zahl deutscher und österreichischer Namen, kaum aber belarussische bekannt sind, wurde entschieden, ganz auf die Nennung von Namen an dieser Stelle zu verzichten und sie stattdessen in einem Gedenkbuch zu veröffentlichen. Es ist diese Individualisierung, aber auch die Gestaltung von engen, dunklen Räumen, mit denen Levins Entwurf den Anschluss an das westliche Holocaust-Narrativ sucht.³⁵ Infolge der Entscheidung gegen die Namensnennung zog sich Österreich, das anfänglich noch an dem Projekt beteiligt war, zurück. Auch dort war Trostenec lange vergessen und verdankt seine erneute Erinnerung einer Bürgerbewegung.³⁶ Auf sie geht eine eigene Form der Erinnerung zurück. Seit 2012 hängten Teilnehmerinnen und Teilnehmer von Gedenkkreisen selbst gemachte gelbe Schilder an den Bäumen im Wald von Blagovščina auf, um an das Schicksal einzelner Opfer, meist ihrer Verwandten, zu erinnern. Diese Personalisierung des Erinnerns wurde von den Behörden argwöhnisch betrachtet, wenngleich geduldet. Aufgrund der hohen Opferzahl von knapp 10.000 österreichischen Juden legte die österreichische Seite großen Wert auf die Nennung der Namen. Nachdem dieser Teil aus dem Entwurf Levins gestrichen wurde, forderte sie ein eigenes Denkmal.³⁷
Vgl. Ljiljana Radonić, Geschichtspolitischer Wandel und die „Anrufung Europas“, in: Ljiljana Radonić u. Heidemarie Uhl (Hg.), Das umkämpfte Museum. Zeitgeschichte ausstellen zwischen Dekonstruktion und Sinnstiftung, Bielefeld 2020, S. 216 u. S. 224. Vgl. Initiative Malvine – Maly Trostinec erinnern, in: Waltraud Barton (Hg.), Ermordet in Maly Trostinec. Die österreichischen Opfer der Shoa in Weißrussland,Wien 2012, http://www.waltraudbarton.at/immer/de/home.html. Dieses wurde im Frühjahr 2019 unter dem Titel „Massiv der Namen“ von Bundeskanzler Sebastian Kurz eingeweiht: Vgl. o.V., Todesstätte für 200.000 Menschen. Kanzler Kurz weiht Mahnmal im weißrussischen Maly Trostinez ein, in: Wiener Zeitung, 27. 3. 2019, https://www.wie nerzeitung.at/nachrichten/panorama/europa/2002485-Todesstaette-fuer-200.000-Menschen. html?fbclid=IwAR0QsNkX7dh-hRY5weOXYHCZPv9KMdpCn0VnnsR3uYe2cQHbbb4b0Fj2nZY. Seitdem engagiert sich Österreich auf wissenschaftlichem, politischem und diplomatischem Weg verstärkt für die Forschung zu Trostenec. Vgl. Schönberger, Massiv der Namen.
224
Kristiane Janeke
In den weiteren, jetzt ausschließlich deutsch-belarussischen Gesprächen konnten sich die zivilgesellschaftlichen, städtischen und staatlichen Akteure auf ein gemeinsames Vorgehen einigen, das die Realisierung beider Entwürfe vorsah. Eine wesentliche Voraussetzung dafür war die Zusage der deutschen Seite, eine Million Euro für den Bau des Denkmals in der Blagovščina zur Verfügung zu stellen. Diese Summe konnte aufgebracht werden durch eine Förderung des Auswärtigen Amtes, die Spenden der Städte, aus denen Juden nach Trostenec deportiert worden waren, sowie privater Spender, der Kirchen, des „Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge e.V.“ und der „Bethe-Stiftung“. Gemeinsam war den Förderinnen und Fördern das Anliegen, ein Zeichen für die Verantwortung Deutschlands für die Verbrechen des Nationalsozialismus in Belarus zu setzen. Vor diesem Hintergrund entwickelte sich das Vorhaben in Phasen. Neben der Absicht zur Kooperation waren dabei auch Versuche zu beobachten, die eigenen Interessen, Praktiken des Erinnerns und Gestaltungsgewohnheiten durchzusetzen. Während die Stadt Minsk bestrebt war, den Entwurfs Levins zugunsten einer Parkanlage zu neutralisieren, drängte die deutsche Seite auf detailliertere Texte und zusätzliche Informationstafeln auf dem gesamten Gelände. Zunächst legte der belarussische Präsident Aleksandr Lukašenka am 8. Juni 2014 den Grundstein für den ersten Bauabschnitt auf dem ehemaligen Lagergelände. Am 22. Juni 2015, dem Jahrestag des Überfalls der Wehrmacht auf die Sowjetunion, übergab er hier die „Pforte der Erinnerung“ der Öffentlichkeit. Ursprünglich geplant war die Eröffnung für den 9. Mai, den Tag, an dem im postsowjetischen Raum bis heute dem Sieg im „Großen Vaterländischen Krieg“ gedacht wird. Die Ansprachen, Zeremonien sowie Auswahl der Daten zeigen die politische Absicht, diesen neuen Erinnerungsort einerseits zu würdigen und ihn zugleich ohne eine kritische Auseinandersetzung anschlussfähig für das kollektive, noch immer stark sowjetisch geprägte Gedächtnis zu machen sowie ihn andererseits für außenpolitische Zwecke zu nutzen.³⁸ Dass die Verbindung dieser Ziele mitunter schwierig ist, wurde augenfällig bei der Ausgestaltung der Feierlichkeiten. Bei der Veranstaltung 2014 wurde, wie bei sowjetischen und offiziellen belarussischen Gedenkritualen üblich, eine Gewehrsalve abgefeuert. Dies wirkte angesichts der Erinnerung an die Erschießung der Opfer auf
Vgl. die Reden des belarussischen Präsidenten 2014: https://yandex.ru/video/preview/?filmId =12771341109702273270&text=Лукашенко Тростенец открытие ворота памяти 2014&path=wizard&parent-reqid=1589954639684192-459572193695515021500126-production-app-host-sas-webyp-136&redircnt=1589954652.1; 2015: https://yandex.ru/video/preview/?filmId=4407606624864749 628&text=Лукашенко Тростенец открытие ворота памяти 2015&path=wizard&parent-reqid= 1589955150527792-844538262898367621300292-production-app-host-vla-web-yp-301&redircnt=158 9955224.1.
Deutsch-belarussische Beziehungen im Spiegel des Erinnerungsortes Trostenec
225
einige westliche Teilnehmerinnen und Teilnehmer makaber. 2015 wurde dieser Teil der Zeremonie durch das Aufsteigen weißer Tauben ersetzt.³⁹ 2018 konnte der zweite Bauabschnitt in der Blagovščina, zunächst mit einigen Reduzierungen, fertig gestellt werden. Mit einem Staatsakt sollte der politische Wille aller Beteiligten unterstrichen werden, Trostenec zu einem Symbol der Verständigung und Versöhnung zu machen. Vorgesehen für dieses Ereignis war der symbolträchtige 22. Juni, aufgrund von Terminabstimmungen musste es jedoch auf den 29. Juni verschoben werden. Anwesend waren der belarussische Präsident Alexandr Lukašenka sowie die Staatsoberhäupter Deutschlands und Österreichs, Frank-Walter Steinmeier und Alexander van der Bellen, der ehemalige österreichische Präsident Heinz Fischer sowie hochrangige Vertreterinnen und Vertreter der Regierungen in Polen und Tschechien. Es war die erste Reise eines deutschen Bundespräsidenten nach Belarus und die in seiner Rede formulierte Bitte um Entschuldigung – für die im Namen Deutschlands auf dem Gebiet des heutigen Belarus verübten Verbrechen – die erste auf dieser politischen Ebene.⁴⁰ Die Reden des deutschen und des belarussischen Präsidenten zeigen die Unterschiede im Umgang mit der Erinnerung. Mit je eigenen politischen Absichten und Erwartungen nähern sich beide dem Ziel einer Zusammenarbeit im europäischen Rahmen.⁴¹ Hinsichtlich des historischen Hintergrunds bleibt Lukašenka in einem sowjetischen Duktus: Zwar würdigt er erstmals öffentlich die jüdischen Opfer und in dem Video der offiziellen Agentur Belta wurden zudem die gelben Zettel zur Erinnerung einzelner Opfer mehrfach eingeblendet – beides Aspekte, die im sowjetischen Gedenken keinen Platz hatten. Aber das Staatsoberhaupt nennt nur die Juden aus den westeuropäischen Städten, die ermordeten belarussischen Juden erwähnt er nicht. Diese schließt er gemäß dem sowjetischen Narrativ in die „friedlichen Bürger“ ein und hält damit fest an den anerkannten Opfergruppen. Weiterhin nutzt er die Gelegenheit, sich politisch zu positionieren. Von der Be-
Vgl. Adamuško u. a. (Hg.), Trostenec: Tragedija narodov, Dokument Nr. 254 (8.6. 2014) und Nr. 255 (22.6. 2015); Magdalena Waligórska, Remembering the Holocaust on the Fault Lines of East and West-European Memorial Cultures: The New Memorial Complex in Trastsianets, Belarus, in: Holocaust Studies. A Journal of Culture and History. 11.12. 2017, S. 9 f. (online Publikation) 2015 hatte sich Gernot Erler, damals Koordinator für die zivilgesellschaftlichen Beziehungen zu Russland und den Ländern der östlichen Partnerschaft, in Minsk persönlich und im Namen der Bundesregierung für die durch die deutschen Besatzer im Zweiten Weltkrieg begangenen Verbrechen in Belarus entschuldigt: Vgl. Gernot Erler, Rede anlässlich einer Gedenkreise nach Trostenec vom 1. – 5. 5. 2015, in: IBB Dortmund (Hg.), Europäische Perspektiven 1. 2015, S. 39 – 42, hier S. 42. Vgl. die Rede von Frank-Walter Steinmeier: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Re den/DE/Frank-Walter-Steinmeier/Reden/2018/06/180629-Belarus-Trostenez.html; die Rede von Aleksandr Lukašenka: https://www.youtube.com/watch?v=a4bHbcttCgY.
226
Kristiane Janeke
deutung der Erinnerung an „das Böse“ im Allgemeinen schlägt er eine Brücke zu heutigen Gefahren und der Bedrohung des Friedens. Dies gibt ihm die Möglichkeit, auf die anstehenden Gespräche mit den Präsidenten Deutschlands und Österreichs zu verweisen und die Rolle der Republik Belarus hervorzuheben, zu Stabilität und Frieden in Europa beizutragen. Anders die Rede von Frank-Walter Steinmeier: Er bleibt eng bei den konkreten Ereignissen an diesem Ort. Er zählt die Opfergruppen auf, nennt Namen deutscher Täter, beschreibt den Verlauf der Mordaktionen und bekennt sich zur deutschen Schuld und Verantwortung. Vor diesem Hintergrund kommt auch der deutsche Präsident auf das politische Potenzial dieses Erinnerungsortes zu sprechen, ohne aber dabei auf aktuelle politische Herausforderungen einzugehen. Vielmehr eröffnet er die Perspektive auf das „historische Gedächtnis der Europäer“, in das er Belarus einschließt. Damit zielten beide Politiker auf Europa und eine Zusammenarbeit ab, jedoch verstehen sie darunter jeweils etwas anderes: Das Ziel außenpolitischer Anerkennung und Einbeziehung in internationale Prozesse steht dem Anliegen einer transnationalen Erinnerung und Kooperation gegenüber, die wiederum das normative Fundament für eine tiefer gehende politische Kooperation eröffnet.
4 Fazit und Perspektiven Die Ausführungen haben gezeigt, wie der Umgang mit Trostenec durch die unterschiedlichen Erinnerungskulturen und politischen Interessen Deutschlands und der Republik Belarus geprägt ist. Nachdem der Ort lange vergessen und sogar verdrängt worden war, haben beide Länder nun sein Potenzial für eine Kooperation erkannt. Belarus bewegt sich zwischen einer sowjetischen und zunehmend national geprägten Haltung in einem europäischen Kontext. Man könnte hier geschichtspolitische Weitsicht vermuten, der zufolge die Bevölkerung schrittweise über den Weg vertrauter Rituale an neue Perspektiven herangeführt werden soll. Man kann aber auch politische Taktik unterstellen, die der Positionierung zwischen Russland und Europa geschuldet ist. In jedem Fall können so zugleich die Forderungen belarussischer Juden (nach öffentlicher Aufmerksamkeit und Anerkennung ihrer Opfer) und Belarussen (nach Gleichbehandlung aller Opfergruppen, die eine „Bevorzugung“ jüdischer Opfer verhindert) erfüllt werden.⁴² Während für Belarus
Ein solches Denken wird verständlich vor dem Hintergrund zum einen der sowjetischen Opferkategorien, der zufolge Juden der „friedlichen Zivilbevölkerung“ zugeordnet wurden (vgl. Fußnote 9), sowie zum anderen der Tatsache, dass jüdische Identität in der Sowjetunion über den Eintrag zur Nationalität im Pass definiert war, Jüdisch zu sein war demnach keine religiöse,
Deutsch-belarussische Beziehungen im Spiegel des Erinnerungsortes Trostenec
227
politische Aspekte im Vordergrund stehen, denen sich zivilgesellschaftliches Engagement unterordnen muss, werden Deutschlands Interessen von der dem Holocaust-Narrativ immanenten Absicht der Versöhnung als Grundlage für ein gemeinsames Europa dominiert.⁴³ Das politische und das zivilgesellschaftliche Anliegen fallen hier zusammen. Dabei wird allerdings vorausgesetzt, dass eine transnationale Erinnerung nur dem westlichen Holocaust-Narrativ folgen kann, und die Frage, ob dieses ohne Weiteres übertragbar ist, nur unzureichend gestellt. Nimmt man die Gedenkzeremonien in den Blick, so kann man zu dem Schluss kommen, dass „die von Deutschland exportierten Gedenkformate ebenso von nationalen Agenden und Vorlagen belastet sind wie die belarussischen“.⁴⁴ Welche Perspektiven gibt es vor diesem Hintergrund? Zunächst sollte eine möglichst von ideologischen Vorgaben befreite Forschung vorangetrieben werden, allem voran zu den belarussischen Opfern von Trostenec. Daran schließt ein zweiter Aspekt an, nämlich eine im Westen noch immer weit verbreitete Unkenntnis der Geschichte und Erinnerungskultur in Belarus, die es zu überwinden gilt. Bundespräsident Steinmeier formulierte es in seiner bereits angeführten Rede vom 29. Juni 2018 so: In dieses historische Gedächtnis der Europäer, vor allem aber in das deutsche, gehört zwingend auch die Geschichte von Belarus. Nach fast drei Jahrzehnten Unabhängigkeit ist es an der Zeit, dass das Land in unserem Bewusstsein und Verständnis aus dem Schatten der Sowjetunion tritt, vor allem aber, dass Belarus wahrgenommen wird als ein Staat mit einer eigenen Geschichte, Gegenwart und Zukunft.⁴⁵
Drittens schließlich gilt es, die Bildungsarbeit am historischen Ort und darüber hinaus zu intensivieren. Belarus hat diese Aufgabe dem „Zentrum der geistigen
sondern eine nationale Zugehörigkeit:Vgl. Pjataja grafa [Fünfter Paragraph], https://ru.wikipedia. org/wiki/Пятая_графа. Vgl. Max Czollek, „Warum muss die Pointe des Erinnerns immer Versöhnung sein?“, in: Deutschlandfunk Kultur, 29.1. 2020, https://www.deutschlandfunkkultur.de/lyriker-czollek-ue ber-holocaust-gedenken-warum-muss-die.976.de.html?dram:article_id=469099. Waligórska, Remembring, S. 18. Ihre Argumente für eine solche Position leitet sie aus der Reduktion des Jüdischen auf Folklore, einer unpassenden und nicht reflektierten Musikauswahl bei Zeremonien sowie einer Wiederholung der Exklusion der jüdischen Opfer aus der Gesellschaft ab. Ganzenmüller spricht davon, dass Deutschland sich „schwer [tut], andere Perspektiven zu berücksichtigen“: Ganzenmüller, Erinnerung und Gedenken. Kritisch zum „Export“ der deutschen Form der Vergangenheitsbewältigung äußert sich auch Wolfrum, Geschichte der Erinnerungskultur. Frank-Walter Steinmeier, Eröffnung der Gedenkstätte Malyj Trostenez, http://www.bundesp raesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Frank-Walter-Steinmeier/Reden/2018/06/180629-BelarusTrostenez.html.
228
Kristiane Janeke
Wiedergeburt“ der Orthodoxen Kirche übertragen. Die deutschen Akteure schlagen ein von allen gemeinsam zu erarbeitendes Dokumentationszentrum vor. Eine weitere Chance wäre die topographische Erschließung der Erinnerungslandschaft in ihren historischen Schichten.⁴⁶ Dies ginge über die bloße Dokumentation der Ereignisse am Ort hinaus. Vielmehr stünde hier die Formung der Natur durch menschliches Eingreifen sowohl auf der Ebene des Geschehens als auch der Erinnerung beziehungsweise des Vergessens und Verdrängens im Fokus. Über ein Leitsystem, das alle Teile des Geländes verbindet, sowie spezifische Informationen an ausgewählten Stellen könnten die Besucherinnen und Besucher den Ort als das wahrnehmen, was er heute ist: das Ergebnis jahrzehntelanger gewollt und bewusst herbeigeführter Veränderungen durch die Nutzung vor, während und nach dem Krieg, einschließlich der Versuche, Spuren zu verwischen und Erinnerung zu löschen. Dieser Ansatz fordert gegenseitige Toleranz und Verständnis für die unterschiedlichen Herangehensweisen an die Auseinandersetzung mit der Geschichte, sowohl auf politischer als auch auf zivilgesellschaftlicher Ebene.⁴⁷ Die belarussischen Beteiligten müssten sich auf eine kritische Analyse des sowjetischen Gedenkens einlassen,⁴⁸ die Deutschen wiederum anerkennen, dass ihr Umgang mit der Geschichte nicht der alleinige Maßstab sein kann. Beide Seiten müssten sich öffnen für einen transnationalen und zugleich multiperspektivischen Ansatz. Wie bisher wäre der Weg das Ziel und das Ergebnis offen in dem Versuch, gemeinsam zu erinnern.⁴⁹
Vgl. dazu Jörg Echternkamp, Local Battlefields as „Cultural Landscapes“ of Global Value? Views of War in Normandy and the Classification as World Heritage, in: Echternkamp u. Jaeger, Views of Violence, S. 233 – 251, der die Erinnerungslandschaft in der Normandie und ihre Auswirkungen auf das Gedenken an den Zweiten Weltkrieg in Europa analysiert. Das wiederum setzt einen gewissen Pragmatismus voraus, der sich eher aus den Erfahrungen einer durch die Zusammenarbeit vor Ort mitbestimmten Innensicht ergibt, als aus einer rein akademischen Außenperspektive. Beispiele für Letztere sind der Text von Waligórska, Remembering, und ein Vortrag von Yuliya von Saal, „Remembering the Holocaust without Jews: A Case of the Memorial Complex Maly Traszjanez in Belarus“, bisher nicht veröffentlicht: Vgl. Special Lessons & Legacies, Conference Munich, 4. – 7. November, 2019, https://www.ifz-muenchen.de/fi leadmin/user_upload/Leuchttuerme/L_L2019_Program.pdf. Das Gedenken und Verdrängen der Erinnerung an Trostenec in der Sowjetunion beschreibt Dalhouski, Zur Geschichte, S. 138 – 144. Seit Verfassen des Textes haben sich die Rahmenbedingungen für die politische und zivilgesellschaftliche Kooperation infolge der Präsidentschaftswahlen im August 2020 grundlegend verändert. Die Perspektiven für eine konstruktive Zusammenarbeit in Trostenec sind dadurch erheblich schlechter geworden. Vgl. dazu Sjarhej Novikaǔ, Yuliya von Saal: Gebremstes Gedenken in Belarus Maly Trascjanec, der Holocaust und die Erinnerungskultur, in: Osteuropa 10/11 (2020), S. 399 – 418.
Teil V: Podiumsdiskussion
Diskutantinnen und Diskutanten: Charlotte Bühl-Gramer (CBG), Michael Epkenhans (ME), Dominik Geppert (DG), Jörn Leonhard (JL) Moderation: Friedrich Kießling (FK)
1914/19 – 2014/19: Erkenntnisse aus fünf Jahren Gedenken an den Ersten Weltkrieg
FK: Herr Leonhard, eine Frage zum Einstieg. Ich habe vorhin versucht, mir mithilfe des Internets einen Überblick über Ihre Aktivitäten im Zusammenhang mit dem Gedenken an den Ersten Weltkrieg in den zurückliegenden Jahren zu verschaffen. Da sind zum Beispiel gleich auf den ersten Seiten dreißig unterschiedliche Videos mit Ihnen zu sehen, unter anderem auch – das Video ist mir besonders aufgefallen – eine Kindersendung, bei der Sie, wenn ich das richtig gesehen habe, über ein ehemaliges Schlachtfeld gelaufen sind und den Ersten Weltkrieg erklärt haben. Wie war das? Und darüber hinaus, wenn Sie eine Bilanz ziehen: Wie waren diese letzten sechs Jahre? JL: Das mit dieser Kindernachrichtensendung war sehr spannend, und ich würde sagen, von diesen vielen Veranstaltungen – ich hatte 2014 etwa 160 – war das eine der spannendsten, weil ich einen Tag lang in der Nähe von Verdun war und mit drei Redakteuren überlegt habe, wie man Acht- bis Zwölfjährigen erklären kann, was da passiert ist. Der Clip war für eine Nachrichtensendung für Kinder gedacht, Neuneinhalb, die auf KiKa läuft. Der Clip war zwar nur sieben Minuten lang, aber wir haben fast zwölf Stunden zum Drehen gebraucht. Also immer wieder eingespielt und dann immer wieder die Rückmeldung von den Redakteuren: Das ist nicht der Welthorizont von Acht- oder Neunjährigen. Das war für mich eine wirklich spannende Diskussion. FK: Und wie sieht die eigene Bilanz aus? JL: Also, ich würde mit etwas anfangen, über das wir ja vielleicht auch noch sprechen werden. Keiner von den Experten, weder die Verlagsexperten noch die Journalisten, auch nicht die anderen Medienprofis, die häufig doch ein Gefühl dafür haben, welche Themen gehen und welche nicht, – und schon gar nicht wir Universitätshistoriker – haben sich vorstellen können, was da letztlich passiert ist. Ich habe den Verleger von Christopher Clark auf einer Veranstaltung getroffen und der sagte, zu Anfang hätten sie sich überlegt: Für Deutschland machen wir 3.000 Stück. Mal gucken, ob das die Leute interessiert. Und die Verlage, zum Beispiel C. H. Beck – bei dem ich publiziere –, die haben gesagt: Ja, 100 Jahre Erster Weltkrieg ist schon ganz gut, aber das ist auch weit weg. Das wird im Sommer so vier, fünf Wochen ein bisschen Interesse daran geben, und dann wird das auch wieder https://doi.org/10.1515/9783110726442-018
232
Podiumsdiskussion
abflauen. Und dass das fundamental anders war, das ist, glaube ich, für uns Historiker und Historikerinnen wichtig, wenn wir Gedenken historisieren, und darum wird es in dieser Runde ja auch sicher gehen. Da sind 2014 viele Aspekte zusammengekommen: die Ukrainekrise, die beginnende Krise im Mittleren und Nahen Osten, die Frage, was mit Europa wird und, ganz wesentlich, die Frage, welche Rolle Deutschland darin spielt. 2014 war auch das Jahr, in dem es sehr bald um die Frage ging: Braucht Deutschland so etwas wie eine neue, globale Ausrichtung, muss es eine andere Verantwortung übernehmen? Das heißt, es brauchte einen Markt von Meinungen, von Interessen, aber auch eine Nachfrage, um zu erklären, warum plötzlich über das Thema Schuld oder Alleinschuld und die Revision dieses Themas in einer Intensität gesprochen wurde, die ich selbst – und doch die meisten Kollegen auch – so nicht erwartet haben. Ich will nur ein Beispiel herausgreifen: Ich habe einen Vortrag in der „Urania“ in Berlin gehalten, in einem großen Saal, 350 Leute. Am Schluss schrien sich Leute aus dem Publikum an. Die einen sagten: Endlich kommt ein sympathischer Australier mit Fliege,¹ der uns erklärt, wir als Deutsche sind offensichtlich nicht an allem schuld, was im 20. Jahrhundert passiert ist. Und dann stand ein anderer Herr auf, ein pensionierter Studienrat aus Charlottenburg. Seine Stimme überschlug sich und er rief: Ich lasse mir doch die deutsche Alleinschuld nicht nehmen [Lachen aus dem Publikum]! Und das war nicht ironisch gemeint. Ich habe 2014 sehr viele solcher Situationen erlebt und vieles von dem hat zudem über dieses Jahr hinausgewirkt. Also, die kurze Antwort auf Ihre Frage, ist: Das ist eine Intensität des Gedenkens gewesen, die an vielen Stellen vielleicht gar nicht so viel mit den Themen um den Weltkrieg zu tun hatte, die uns Weltkriegshistoriker interessiert haben, aber die offensichtlich einen bestimmten Nerv in der politischen, aber auch der weiteren Öffentlichkeit getroffen hat. Dann sind wir alle auch ein bisschen von diesem Gedenken überrollt worden. FK: Herr Epkenhans, auch an Sie die Bitte um eine Bilanz aus Ihrer Perspektive: Was lässt sich herausgreifen aus diesen letzten Jahren? ME: Also das Erste, was mich gewundert hat, ist tatsächlich – wie Jörn Leonhard auch –, wie zögerlich man zunächst generell in der Politik, aber auch in der Öffentlichkeit an dieses hundertjährige Jubiläum herangegangen ist. Als wir 2010 von Amts wegen, also von der Bundeswehr aus, eingeladen haben – das Auswärtige Amt, das Kanzleramt, aber auch einige Medienvertreter –, um darüber nachzudenken, wie man mit diesem Gedenkjahr 2014, was ja bekanntlich vor der Tür stand, umgehen würde, waren wir erstaunt, wie man uns angesehen hat und
Gemeint ist Christopher Clark.
Erkenntnisse aus fünf Jahren Gedenken an den Ersten Weltkrieg
233
gesagt hat: Leute, am besten vergessen wir das, weil das für die Deutschen – und das war insbesondere die Meinung des Auswärtigen Amtes – eine unangenehme Situation ist.Was will man da feiern, war die Meinung auf der einen Seite. Und auf der anderen Seite: Die Alliierten kommen doch sowieso nur mit der Kriegsschuldfrage, da haben wir keine Antwort darauf, das wollen wir nicht debattieren. Damit war die Sache erst einmal erledigt. Das zog sich über eine ganze Weile hin und nahm schon peinliche Züge an, nachdem die französischen Vertreter, aber auch die britischen, immer einmal wieder angeklopft hatten. Die haben einem ganz ostentativ gesagt, gerade auch von militärischer Seite: Wir wollen da nichts feiern, wir wollen gemeinsam gedenken, lasst uns irgendwie eine Idee entwickeln. Und sowohl der damalige Außenminister – damals noch der FDP-Vorsitzende – Westerwelle hat die ausländischen Kollegen abblitzen lassen, aber auch der Bundesverteidigungsminister de Maizière, die hatten überhaupt kein historisches Verständnis. Auch die deutschen Botschafter standen absolut im Regen. Der deutsche Botschafter in Belgien hat händeringend Leute gesucht, die bereit waren, in Belgien in den Diskurs einzusteigen. Bei seinen eigenen Leuten in Berlin hat er sich da die Finger wund gewählt, weil niemand bereit war, ihn zu unterstützen. Das fand ich außerordentlich beschämend. Was ich wiederum bestürzend fand, war, als das Clark-Buch – das auf Englisch bereits vorgelegen hatte, ohne dass man es wahrgenommen hätte – kam, wie man dann auf den Zug aufsprang und versucht hat zu sagen: Da ist ja eine Interpretation, vor allem das Bild mit dieser smoking gun, damit können wir arbeiten. Das Zweite, was ich als Bilanz interessant finde, ist, dass, wenn man als Historiker die Sache nüchtern betrachtet hat, man vieles schon vorhersehen konnte. Das Buch von Schmidt zur französischen Rolle in der Julikrise – das aus meiner Sicht viel zu wenig beachtet wurde, man muss ja nicht all seine Thesen teilen –, von Canis über den Weg in den Abgrund und diverse andere Studien, die ja im Vorfeld der 2010er Jahre schon vorlagen, haben im Prinzip das gebracht, was dann diskutiert wurde. Also, viel Neues gab es nicht. Das einzig Neue waren bei den Synthesen – auch bei Ihrem Buch, Herr Leonhard – bestimmte Kategorien, die eingeführt worden sind. Das fand ich gut.Was mich aber zunehmend geärgert hat, war, dass manche Historiker und auch manche Journalisten es sich dann nicht verkneifen konnten, sich gegenseitig anzugreifen. Wo man doch eigentlich gesagt hat: Es gibt jetzt ein großes Interesse und wir diskutieren vernünftig miteinander. Diese Chance haben nicht alle wahrgenommen, sondern da wurde plötzlich wieder mit Steinen geschmissen. Das fand ich nach 50 Jahren Fischer-Kontroverse außerordentlich beschämend. Alles in allem muss ich aber sagen, dass ich die Synthesen, selbst wenn sie von den manchmal von uns belächelten Politikwissenschaftlern kamen, anregend fand. Ich glaube auch, dass es von Interesse ist,
234
Podiumsdiskussion
wenn man das alles jetzt nüchtern Revue passieren lässt. Deshalb stimme ich Ihnen zu, Herr Leonhard, in dem, was Sie gesagt haben über Gedenken und Historisieren. Daraus können wir alle was lernen und dann sehen wir auch, wie kurzatmig Feuilleton, manchmal auch Politik und historisches Gedenken ohnehin ist. FK: Herr Geppert, auch an Sie noch einmal die Frage nach der Bilanz, allerdings mit einem zugespitzten Aspekt. Herr Epkenhans hat die Haltung der Politik angesprochen, die ja vor allem am Anfang bemerkenswert war. Wie ging das weiter mit der Rolle der Politik? Vielleicht auch noch – unabhängig jetzt vom Kriegsausbruch 1914 – die Frage nach weiteren politischen Ereignissen, beispielsweise die Revolution von 1918: Ist da die Rolle der Politik auch so zu beschreiben, wie das Herr Epkenhans gemacht hat? DG: Ich habe mich von einer anderen Perspektive aus mit dem Gedenkjahr befasst. In meiner Habilitationsschrift habe ich mich zwar mit den deutsch-britischen Beziehungen beschäftigt, aber unmittelbar vor dem Gedenkjahr mit der Entwicklung der Europäischen Union. Also kam ich im Grunde von der Aktualität aus zu dem Thema. Ich hatte im Herbst 2012 auf einer Konferenz in Dublin, wo wir über die Kriege vor dem Großen Krieg diskutiert haben, eine Wette abgeschlossen. Ich habe gesagt: Der Beginn des Ersten Weltkriegs wird ein großes Thema, weil die aktuellen Entwicklungen nach historischem Orientierungswissen verlangen. Aber ich hätte nicht gedacht, dass es dann ein so großes Thema wird. Ich habe mich an der Diskussion dann auch ein bisschen beteiligt, nicht mit eigenen Büchern, aber mit ein, zwei Artikeln in der Presse. Und ich war sehr überrascht, weil ich eigentlich viel mehr Kritik erwartet hatte, in dem, was ich aktuell über die europäische Krise geschrieben habe, und diese Bemerkungen zur Weltkriegsthematik für mich eher nachrangig waren. Doch meine Erfahrung war, wie viel heftiger die Emotionen zu dem historischen Thema waren als zu dem aktuellen. Das fand ich bemerkenswert und das ist, glaube ich, auch erklärungsbedürftig. Ich würde sagen, da, wo die Auseinandersetzung persönlich wird, ist es unangenehm und abzulehnen. Aber ich finde, dass wir uns als Historiker gestritten haben und dass es in Ansätzen so etwas wie eine wissenschaftliche und auch eine publizistische Kontroverse gegeben hat, ist nicht verkehrt. FK: Frau Bühl-Gramer, Herr Geppert hat das schon angedeutet: Wie ist diese Aufmerksamkeit aus erinnerungskultureller Sicht zu erklären? CBG: Empirische Untersuchungen gibt es dazu nicht. Aber man kann natürlich Überlegungen dazu anstellen. Das geschichtspolitische Agenda Setting hat, wie wir jetzt gerade schon übereinstimmend festgestellt haben, offenbar nicht funktioniert. Erst einmal wurde so ein Gedenkjahr beziehungsweise wurden ganze vier Gedenkjahre mit großer Zurückhaltung aufgenommen. Aber wenn Sie
Erkenntnisse aus fünf Jahren Gedenken an den Ersten Weltkrieg
235
einmal überlegen: Wieso könnte dieses Thema so überraschend für Sie, die Sie so viele Veranstaltungen besucht haben, so gut funktioniert haben? Ich denke, das hat multifaktorielle Ursachen: Zum einen haben wir eine 50 Jahre währende geschichtliche Sozialisation mit der Fischer-Debatte im Unterricht zu beobachten. Die Überraschung, dass da jetzt ein „Schlafwandler“Buch publiziert wird und „uns“ von der Alleinschuldthese „erlöst“, ist deswegen vielleicht in fachwissenschaftlichen Kreisen etwas größer als in Bildungs- und didaktischen Kreisen gewesen. Die Fischer-Debatte war nämlich – und das kann man jetzt belächeln, aber es ist Fakt – nach wie vor ein ganz zentraler Unterrichtsbaustein, wenn es darum ging, dass sich Lernende mit pluralen Deutungen der Forschung auseinandersetzen sollten. In diesem Zusammenhang ist die Fischer-Debatte ein Klassiker des Geschichtsunterrichts. Und wir wissen auch, dass historische Inhalte, gemessen an neueren wissenschaftlichen Erkenntnissen, vergleichsweise lange benötigen, bevor sie sich in den Schulen durchsetzen. Bis neue Forschungserkenntnisse im Unterricht landen, können wir von zehn Jahren ausgehen, da erst eine neue Lehrplangeneration und neue Schulbücher auf den Markt kommen müssen – abgesehen natürlich von Kolleginnen und Kollegen, die aufgrund von Fortbildungen oder Ähnlichem näher an der Forschung sind und neue Akzente setzen wollen. Zum anderen – und für mich durchaus überraschend – ist es in lokalen und regionalen Kontexten oftmals sehr gut gelungen, über Ausstellungsinitiativen zu arbeiten. Das hat meines Erachtens zu tun mit der unglaublichen Öffnung der Archive hin zu offiziellen Gedächtnisorten. Wenn Sie in den 1970er Jahren bei einem Archiv geklingelt haben, dann haben Sie einen ärgerlichen Klingelknopfdrücker im Glashäuschen erlebt, der eigentlich nicht gestört werden wollte. Heute haben die Archive ein anderes Selbstverständnis. Das hat aber auch zu tun mit Konzepten forschenden, projektorientierten, entdeckenden Lernens in den Schulen und mit Geschichtswettbewerben, zum Beispiel der Körber-Stiftung. Der diesjährige Wettbewerb zum Thema Krise, Umbruch, Aufbruch umfasst eine lange, lange thematische Palette rund um den Ersten Weltkrieg und die Revolution von 1918. Und, das darf ich inhaltlich vielleicht gleich einbringen: keine Dominanz der Auseinandersetzung mit NS-Geschichte. Und schließlich denke ich – und das ist für mich ebenfalls überraschend –, dass im Hinblick auf das vielbeschworene Ende des kommunikativen Gedächtnisses, was mit Blick auf die Kriegsgeneration des Ersten Weltkriegs ja nun schon seit 20 Jahren endgültig nicht mehr präsent ist, der Gegenbeweis angetreten wurde: Das Gedenken an den Ersten Weltkrieg hat gezeigt, dass das in anderen Kontexten so vielbeschworene Ende der Zeitzeugenschaft nicht das Ende von „Erinnern“ bedeuten muss. Das funktioniert anders, weil es eben auch ein Fa-
236
Podiumsdiskussion
miliengedächtnis gibt, das über die Mitlebenden und Miterlebenden hinaus existent ist. Mein letzter Vorschlag aus dieser erinnerungskulturellen Perspektive betrifft den material turn, also ein neues Interesse für Objekte, für Dachbodenfunde und für Orte. Die Begehbarkeit oder vielleicht auch das Missverständnis, sich über den historischen Ort einer Zeit nähern zu können. FK: Herr Leonhard, erklärt das tatsächlich diese Aufmerksamkeit, zunächst einmal für den Kriegsausbruch? Denn, was Frau Bühl-Gramer gesagt hat, könnte man ja auch für andere historische Ereignisse vermuten. Allerdings hatten wir vorhin auf dem Panel die Diskussion, ob sich historische Erkenntnisse und öffentliches Erinnern nicht völlig voneinander abtrennen. Herr Leonhard, von Ihnen also bitte weitere Erklärungen dafür, dass gerade dieser Kriegsausbruch – in Deutschland, muss man ja wohl sagen, in anderen Ländern war es vielleicht ein bisschen anders – auf so eine emotionale Resonanz getroffen ist? JL: Zunächst einmal führen wir diese Debatte, und das ist völlig in Ordnung, im Augenblick sehr deutsch. Ich bin in den letzten Jahren auch in vielen anderen Ländern gewesen, und da hat es ähnliche Überraschungen gegeben. Die Gründe dafür sind allerdings völlig andere. Wir dürfen nicht aus unserer Fixierung auf die Fischer-Kontroverse – die, glaube ich, nur ein Faktor ist – extrapolieren, dass das die Gründe sind, warum in Belgien oder in Serbien oder in Großbritannien oder in Frankreich ein spezifisches und enormes Interesse am Ersten Weltkrieg zu verzeichnen war, aber ebenso zum Beispiel in Indien. Von den ehemaligen Dominions Kanada, Australien, Neuseeland gar nicht zu sprechen. Ich habe in meinem Büro in Freiburg inzwischen zehn Ordner mit Zuschriften. Die meisten dieser Zuschriften sind Familiengeschichten. Ganz auffällig ist dabei das, was Sie, Frau Bühl-Gramer, eben auch zu Recht angesprochen haben: Personen, die über das familiär tradierte Gedächtnis noch eine Erinnerung an Vater, Mutter haben, und das häufig verbunden mit konkreter Materialität, zum Beispiel ein Foto, ein Feldpostbrief, ein Militärpass, irgendein Fund. Das Deutsche Tagebucharchiv in Emmendingen, mit dem ich viel zusammengearbeitet habe, hat in den letzten vier Jahren pro Jahr etwa 400 Tagebücher und Briefkonvolute zugeschickt bekommen, nur aus dem Kontext des Ersten Weltkriegs. Und das Zweite ist sicher, dass zur akademischen Sozialisation von Deutschen in den 1950er, 1960er, 1970er Jahren in irgendeiner Form die Fischer-Kontroverse gehört hat. An der Uni erklären wir heute damit natürlich nicht den Ausbruch des Ersten Weltkriegs, sondern die politische Kulturgeschichte der frühen Bundesrepublik. An meinem Lehrstuhl gibt es eine Abschlussarbeit zur Frage, wie groß die Verantwortung von Rudolf Augstein ist, der nach der SpiegelAffäre auf der Suche nach einem neuen Thema ist und die Fischer-Kontroverse
Erkenntnisse aus fünf Jahren Gedenken an den Ersten Weltkrieg
237
findet. Man kann wunderbar rekonstruieren, wie Fischer irgendwann gar nicht mehr versteht, wie er instrumentalisiert und vor welche Karren er gespannt wird. Wir historisieren das – ganz im Gegensatz zu dem, was in der Öffentlichkeit passiert ist. Denken Sie an der Stelle noch einmal an diesen vorhin beschriebenen Urania-Moment in Berlin zurück: Da habe ich selbst den Eindruck gehabt, wir kommen an eine Grenze, wo wir das, was wir vielleicht wissenschaftlich vermitteln wollen, in eine Öffentlichkeit vermitteln müssen, die aber nach ganz anderen Logiken und Interessen funktioniert. Ich habe viele Veranstaltungen damit begonnen, zu sagen: Es wäre gut, wenn die Deutschen nicht beim Ausbruch des Kriegs stehenbleiben, denn der Krieg dauert fast fünf Jahre und hat für die deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert fundamentale Bedeutung gehabt. Aber wir müssen über diesen spezifischen deutschen Tellerrand hinausgucken. Das für mich Eindrücklichste war zu erleben, was etwa in Finnland und in Belgien passiert ist. Die haben ihre Erinnerungen an den Ersten Weltkrieg von vornherein ganz, ganz stark – viel stärker als in Deutschland – internationalisiert. Die erste große Konferenz in Belgien bestand darin, dass man Vertreter aus all den Gesellschaften eingeladen hat, die Besatzungserfahrungen im Ersten Weltkrieg gemacht hatten. Und für Belgien ist das ein tiefgreifendes und bis heute traumatisch wirkendes Ereignis für das 20. Jahrhundert. Da ging es nicht um den Kriegsausbruch, sondern um die Besatzungserfahrung, um die Frage der belgischen Frauen, die im November 1918 kahlgeschoren und durch die Dörfer getrieben worden sind – Dinge, die wir mit dem Zweiten Weltkrieg identifizieren. Daher denke ich, man muss sehr genau hinsehen und wird vielleicht auch vorsichtig, was die Gemeinsamkeit eines europäischen Gedenkens angeht. Mein Eindruck war aus diesen Jahren, dass die Unterschiede doch sehr stark sind. In Frankreich gab es diesen massiven Fokus auf die Opferperspektive, auf die Frage, wie man den kolonialen Opfern, etwa den 250.000 tirailleurs sénégalais, gerecht wird. Was ist mit all denen, die nicht in diesen Landschaften von weißen Kreuzen repräsentiert sind? In Großbritannien – natürlich, wenn man so will, schon im Vorfeld der Brexit-Debatte – gab es die dauernd neu gestellte Frage: War das für Großbritannien in seiner imperialen Logik nicht der falsche Krieg? DG: Ja, ich würde auch sagen, dass man die jeweiligen nationalen Unterschiede genau in den Blick nehmen muss. Und eine Sache, die man dann erkennt, ist in der Tat, glaube ich, dass alte Debatten aufgegriffen und im Lichte der neuen, aktuellen Umstände und der neuen historischen Erkenntnisse weitergeführt werden. Das gilt für die britische Debatte und das gilt auch dafür, dass beispielsweise in Frankreich die Frage nach der Kriegsursache überhaupt keine Rolle gespielt hat, während wir uns daran sehr stark abgearbeitet haben. Angesichts dessen glaube ich schon, dass möglicherweise doch eine Gemeinsamkeit darin
238
Podiumsdiskussion
besteht, dass historisches Orientierungswissen gesucht wird in einer Situation eines neuerlichen, großen Umbruchs in der Weltpolitik. Genau der ließ sich ja auf verschiedenen Ebenen im Jahr 2014 durchbuchstabieren. Die Ukrainekrise fängt ein bisschen später an, aber die ist dann in der ersten Jahreshälfte 2014. Wir haben die europäische Staatsschuldenkrise, die Euro-Krise, die Rede von einer neuen deutschen Frage revisited, wir haben den syrischen Bürgerkrieg, wir haben Revolution in Ägypten, wir haben den irakischen Bürgerkrieg. Die Orte und die Schlachtfelder des Ersten Weltkriegs sind uns 2014 auf einmal sehr nahe gerückt und das erklärt aus meiner Sicht auch, warum aus deutscher Perspektive – meines Wissens – zum ersten Mal, der Erste Weltkrieg den Zweiten in den Schatten gestellt hat. Die Uneindeutigkeit, die hochkomplexe Multipolarität der Krisensituation des Ersten Weltkriegs, auch das moralische Grau in diesen Fragen ist uns sehr viel näher gewesen in dieser Situation des Jahres 2014 – und ich würde sagen bis in unsere Gegenwart des Jahres 2019 hinein –, als die Eindeutigkeit, das Schwarz-Weiß des Jahres 1939. ME: Ich möchte hier zwei Dinge anfügen: zum einen, dass ich Ihnen, Frau Bühl-Gramer, zustimme in dem, was Sie gesagt haben zu dem Gedenken auf der kleinen, auf der lokalen Ebene. Und auch in dem, was Schüler und andere gemacht haben. Das hat mich schwer beeindruckt. Also da gibt es heute einfach Möglichkeiten, durch das Internet beispielsweise, aber auch die Archive haben viel getan, angefangen beim Münchner Stadtarchiv: Das hat eine Stadtchronik, die wahnsinnig viel hergibt und außerdem den Alltag des Kriegs aufzuzeigen vermag, und hierzu Ausstellungen gemacht. Das finde ich wunderbar. Das Zweite, was mich beeindruckt hat bei vielen offiziellen Gedenkveranstaltungen, ist vor allem etwas auf der militärischen Ebene, nämlich, wie kameradschaftlich das abgelaufen ist, egal, ob wir mit französischen Vertretern in Verdun waren, mit Engländern an der Somme oder auch mit Engländern 2016 quasi auf See, als es um 100 Jahre Skagerrak ging. Und dennoch macht sich immer wieder ein interessanter Zwischenton bemerkbar, der mich auch erschreckt hat: Kaum einer in Deutschland hatte die globale Dimension des Kriegs bedacht. Ich bin im letzten Jahr eingeladen worden zu einer Gedenkveranstaltung an das tatsächliche, echte Ende des Ersten Weltkriegs, was eben nicht an der Westfront war, sondern was in Afrika, im heutigen Sambia, stattgefunden hat. Die sambische Regierung hat – aus politischen Gründen, die völlig durchsichtig sind – die Kapitulation von Lettow-Vorbeck zum Anlass genommen, eine große Gedenkveranstaltung auszurichten an dem Stein, wo Lettow sich den Engländern übergeben hat. Das ist in der Nähe vom Tanganyikasee. Der deutsche Botschafter hat sich die Finger wund geschrieben, einen Politiker zu finden, der dort an dieser Gedenkveranstaltung teilnimmt. Erst hieß es,
Erkenntnisse aus fünf Jahren Gedenken an den Ersten Weltkrieg
239
Lammert solle dahin als Vertreter des Bundestagspräsidenten. Dann hieß es Köhler, der sich für Afrika interessiere. Am Ende war niemand da. Stattdessen hieß es: Wir schicken da einen hin, der mit Militär was zu tun hat, der soll da was zu sagen. Den Lettow-Enkel hat man nicht eingeladen, das hat man den Engländern überlassen, weil man mit diesem nichts zu tun haben wollte. Was war die Begründung? Das ist das Interessante: Es wurden Schadensersatzforderungen befürchtet für das, was Lettow-Vorbeck da gemacht hat. Denn der hat gerade auch an dem Ort, an dem die Gedenkveranstaltung abgehalten wurde, in Mbala, eine Blutspur hinter sich hergezogen. Über die Zahl der Opfer kann man streiten, aber sie geht in die Hunderttausende. Das fand ich armselig und auch in der deutschen Presse – abgesehen von einem Artikel in der Welt, der geschrieben worden ist, weil ich Herrn Kellerhoff ² einen Wink gegeben hatte – hat es nichts gegeben, was diese globale Dimension und auch die damit einhergehenden Opfer in irgendeiner Form in den Vordergrund gestellt hätte. Und diese ganzen Fragen, die damit zusammenhängen, sind erst recht außen vor gelassen worden. Das zeigt die Ambivalenz, aber natürlich auch die Instrumentalisierung von Geschichte in der einen wie in der anderen Form. Als es zum Gedenken an die Skagerrak-Schlacht mit den Fregatten auf See ging, alles wunderbar. Als es aber um Sambia ging, das hatte eine politische Dimension in einem negativen Sinne, da wollte man nichts mit zu tun haben. FK: Sie sprechen hier eine wichtige Frage an, Herr Epkenhans, nämlich die, welche Wirkung über unsere historischen Debatten hinaus von solchen Gedenktagen ausgeht. Und ich muss gestehen, ich habe mich schon ein bisschen geärgert manchmal während dieser Jahre. Ich habe mich geärgert, dass wir zum Beispiel in Deutschland – ich gebe Ihnen völlig Recht, Herr Leonhard, vor allem in Deutschland – über diesen Kriegsausbruch gesprochen haben, der uns heute eigentlich, aus meiner Perspektive und auch aus der vieler Kollegen, ziemlich wenig zu sagen hat in der Variante der Fischer-Kontroverse. Da gibt es andere Dinge, die viel wichtiger wären aus meiner historischen Sicht, wie zum Beispiel die globale Diskussion, die in Deutschland nicht wahrgenommen worden ist.Was ich mich dann frage, ist, was ist die gesellschaftliche Rolle von Historikern. Denn, wenn die Diskrepanz zu den Debatten in der Öffentlichkeit so groß ist, dann ist die gesellschaftliche Rolle von Historikern nicht vorhanden. Oder, Frau Bühl-Gramer, können Sie mir diesbezüglich Hoffnung machen? CBG: Wenig [Lachen aus dem Publikum]. Bevor ich auf Ihre Frage antworte, wollte ich ganz kurz noch an das, was Sie, Herr Geppert, gerade gesagt haben, anknüpfen. Neben diesen konzeptuellen, infrastrukturellen Aspekten, die ich
Gemeint ist der Historiker und Journalist Sven Felix Kellerhoff.
240
Podiumsdiskussion
vorhin angesprochen habe, macht es wahrscheinlich die Mischung: aus einem gemeinsamen Opfernarrativ – so komplex es auch sein mag – und der krisenhaften Gegenwartsrelevanz 2014, also der nicht planbaren Aktualität von Krisenherden, die den Ersten Weltkrieg plötzlich wieder näher rücken ließ. Und noch eine weitere Bemerkung, wenn man wieder auf die Bildungsebene guckt: Wenn Sie die globale Dimension beklagen, dann gehe ich noch einen Schritt weiter zurück. Es ist schon das Fehlen der osteuropäischen Dimension in den Schulbereichen, wo wir, wenn wir mit Karten arbeiten, zwar die Westfront rauf und runtergehen, aber die Geschehnisse im Osten sehr hintanstellen. Das liegt daran, dass wir dann wieder so ein Bildungsnarrativ der deutsch-französischen Aussöhnung über den Zweiten Weltkrieg hinweg spinnen beziehungsweise entwickeln. So, jetzt aber zu Ihrer Frage nach der gesellschaftlichen Rolle von Historikern und Historikerinnen: Das ist ganz schwierig. Wenn es denn so einfach wäre: hier wissenschaftliche Forschung, dort die Öffentlichkeit. Aber wir haben ganz unterschiedliche Formen des Geschichtsgebrauchs, und ich denke, das hat sich in den letzten 20 Jahren noch einmal extrem ausdifferenziert. Wir haben es mittlerweile mit einer sehr lebendigen, schwierigen, kommerziellen Schiene des Geschichtsgebrauchs zu tun, die natürlich nicht die hochkomplexen, globalen Dimensionen eines Kriegsnarrativs bedienen, sondern doch eher die einfacher zu kommunizierenden Opfernarrative. Ferner gibt es kommerzielle Interessen. Im Unterschied zu naturwissenschaftlichen populärwissenschaftlichen Magazinen, die in einem besten Sinne versuchen, Forschungsergebnisse verständlich zu formulieren, läuft es in der Geschichte anders. Populäre Geschichtsmagazine popularisieren populäre Geschichtsbilder. Ihnen gelingt nicht die Ausdeutung oder der Transport. Sie fungieren nicht als – oder in der Regel seltener – als Transmissionsriemen wissenschaftlicher Erkenntnisse. Und die traurige Botschaft, die ich jetzt noch obendrauf setze, ist, dass die Presse beziehungsweise die Feuilletons – zumindest nach meinem Verständnis – ja auch die Aufgabe haben, über Rezensionen wissenschaftliche Erkenntnisse ein bisschen in die Breite zu tragen. Das ist aber jetzt ein Medium, das zunehmend an Zuspruch verliert. Deswegen lautet die Frage: Wie kann die Geschichtswissenschaft ihre Ergebnisse in die Breite tragen in einer, denke ich, immer schwieriger werdenden Konkurrenz zu anderen Umgangsweisen mit Geschichte. Und vom Internet habe ich noch gar nicht gesprochen. FK: Herr Leonhard hat schon aufgemerkt, er möchte widersprechen. CBG: Das ist doch schön. JL: Das Bild, das Sie zeichnen, ist mir viel zu negativ. Das fängt damit an, dass ein Verlag wie C. H. Beck ziemlich gut davon lebt, dass Menschen bereit sind, in Deutschland in einem Hochpreissegment 40 Euro für ein Buch auszugeben, das
Erkenntnisse aus fünf Jahren Gedenken an den Ersten Weltkrieg
241
ziemlich viele Fußnoten enthält. Und die Vorstellung, dass Beck das nur tut, weil der juristische Teil des Verlages das quersubventioniert, ist falsch [Lachen aus dem Publikum]. Der geisteswissenschaftliche Teil des Verlages schreibt keine roten Zahlen. Und die Umsätze werden – auch wenn sich die Verleger immer beschweren – faktisch jedes Jahr besser, allerdings verteilt er sich auf immer mehr Bände, das ist nicht mehr allein Wehler, Nipperdey und Winkler. Aber, wenn sie alles zusammennehmen, steigt der Umsatz wie auch die Anzahl an verkauften Büchern. Ich gebe Ihnen Recht: Die Wege, in denen wir unsere Wissenschaft kommunizieren, verändern sich, aber im europäischen und vielleicht auch im globalen Vergleich haben wir es in Deutschland immer noch mit sehr qualitätsbewussten Printmedien zu tun. Gehen Sie einmal in die Vereinigten Staaten, gucken Sie sich einmal die Medien im UK an. Aber ich möchte es nicht dabei belassen. Ich habe in den letzten fünf Jahren vor allen Dingen die öffentlich-rechtlichen Sender erlebt, und ich muss sagen, da waren Redakteure, die in aller Regel sehr gut vorbereitet waren, die sich übergelegt haben: Wir haben eine halbe Stunde, auch nicht irgendwie eine Minute zwanzig, was sind die Punkte, die Sie – das war immer die Frage – als neu empfinden, die Sie gern vermitteln würden. Die Resonanz darauf war groß. Es gibt, glaube ich – und dafür sprechen die Sendeplätze von Guido Knopp, aber auch die Historikertage, die die größten geisteswissenschaftlichen Konferenzen in Europa sind – doch eine Menge Indizien dafür, dass es in der Gesellschaft ein sehr großes Bedürfnis nach Antworten gibt, die nicht zugleich ganz schnelle Antworten sein müssen. Meine Erfahrung von ganz vielen Veranstaltungen – und weiß Gott nicht nur in Unistädten – war, dass die Leute sich mit sehr viel Geduld auch Dinge erklären lassen, die zunächst sehr komplex erscheinen. Sie haben vielleicht sogar an manchen Stellen einen Überdruss an dieser Art von SchwarzWeiß-Malerei. Ich will also das Bild, das Sie, Frau Bühl-Gramer, skizziert haben, doch positiver zeichnen. Ohne Zweifel verändern sich Dinge, vor allem auch in der politischen Szene in Berlin. Joachim Gauck hat irgendwann im Sommer 2014 gesagt: Nein, wir machen jetzt eine richtig große Veranstaltung in Bellevue und laden Historiker und Historikerinnen aus allen beteiligten Ländern ein. Herr Steinmeier hat im Vorfeld des Novembers 2018 eine Gruppe von Historikern nach Bellevue eingeladen und hat mit ihnen einen Tag lang diskutiert: Was ist mit Blick auf den 11. November wichtig? Und wenn man seine Rede anlässlich dieses Gedenktages liest, hat er das sehr bewusst aufgenommen. Ich kann also ein paar Beispiele nennen, wo ich nicht das Gefühl habe, wir werden überhaupt nicht gehört. Mir hat ein Soziologe vor einigen Jahren gesagt, und ein Germanist hat das bestätigt: Wenn ihr den Historikertag macht, bekommt ihr den Bundestagspräsidenten als Festredner und ihr habt mindestens drei Spalten in der FAZ und in der Süddeutschen. Wenn ein
242
Podiumsdiskussion
Soziologentag stattfindet, gibt es eine ironische Glosse in der Zeit [Lachen aus dem Publikum]. Daran gemessen, finde ich, leben wir sicherlich in Zeiten, in denen vieles medial schwieriger wird, wo wir uns vielleicht auch fragen müssen, wie wir das flexibler handhaben, aber einen vorzeitigen Abgesang – auch wenn Sie den gar nicht formuliert haben –, damit wäre ich sehr vorsichtig. Meine Erfahrungen der letzten Jahre waren viel, viel positiver. ME: Ich würde Ihnen weitgehend zustimmen und gern noch etwas dazu sagen, Herr Leonhard. Wo wir gerade über Joachim Gauck reden: Ich war bei dieser interministeriellen Besprechung, einschließlich Bundespräsidialamt, dabei. Als wir dem Bundespräsidialamt gesagt haben, da ist ein wichtiger Termin 2014, da hieß es: Der Bundespräsident hat nur ein Thema 2014, das ist 25 Jahre Mauerfall. JL: Er hat aber dazugelernt. ME: Er hat dazugelernt [Lachen aus dem Publikum]. Das ist das Wichtige. Aber es hat ganz lange gedauert, bis sie die Kurve gekriegt haben. Und zweitens: Als Sie sagten Schulbuch, Frau Bühl-Gramer: Ich schreibe seit knapp 25 Jahren die entsprechenden Kapitel für einen großen Schulbuchverlag. Ich kann einmal erzählen, was ich so erlebt habe im Laufe der Jahre. Als ich das erste geschrieben habe, Mitte der 1990er Jahre, Thema Erster Weltkrieg, da hatte ich vergleichsweise viel Platz. Da gehörte Fritz Fischer zusammen mit Egmont Zechlin als dessen Widerpart rein. Für die folgenden Auflagen habe ich gesagt: Leute, das macht keinen Sinn. Das war aber, und das ist das Interessante, von den Lehrplankommissionen so gewollt. Man hatte da wenig Spielräume. Die schrieben vor: Fischer-Kontroverse muss behandelt werden. Das war das, womit die groß geworden waren. Später bekam man immer weniger Platz. Es hieß: Es muss dieses und jenes noch in die Schulbücher. Wir müssen die DDR behandeln, wir müssen den Kalten Krieg behandeln, ist ja auch alles vernünftig. Aber irgendwo muss dann gekürzt werden in der Stundentafel und das war am Ende der Erste Weltkrieg und das Zeitalter des Imperialismus. Nach 2014 gibt es wiederum ein interessantes Ergebnis. Ich habe jetzt gerade das Manuskript fertig gestellt für die Bayern-Ausgabe für diesen Verlag. Bayern hat die Lehrpläne überarbeitet und gesagt: Die gesamte Kontroverse, die 2014 geführt worden ist, und vor allem – Fischer spielt keine Rolle mehr – Christopher Clark steht bewusst drin in den Vorgaben des bayerischen Kultusministeriums. Das muss behandelt werden. In Teilen kommt über dieses Wendejahr 1917 auch Osteuropa wieder mit rein, aber das wird immer noch stiefmütterlich behandelt. Was ebenfalls Vorgabe ist, ist sowohl die Lage an der Front, aber vor allem auch in der Heimat. FK: Frau Bühl-Gramer. CBG: Ja, als Replik auf Herrn Leonhard: Natürlich habe ich es als meine Aufgabe gesehen, hier auch einmal ein bisschen zuzuspitzen, ad eins. Ad zwei, ist
Erkenntnisse aus fünf Jahren Gedenken an den Ersten Weltkrieg
243
das Gedenkjahr an den Ersten Weltkrieg, denke ich, wirklich ein hocherfreulicher Erfolg in der Hinsicht, dass Geschichtswissenschaft und ihre Auseinandersetzungen, ihre Deutungen so breit wahrgenommen und auch in den Medien verbreitet werden. Ich kann es mir aber trotzdem nicht verkneifen anzumerken, dass das ZDF vor drei Jahren gesagt hat: Sie freuen sich, dass sie den Altersdurchschnitt auf 60 Jahre drücken konnten. Wir sprechen hier also von einem medialen Feld, das bildungs- und wissenschaftsaffin ist. Das ist ein wichtiges Referenzmedium der Geschichtswissenschaft, das steht völlig außer Frage. Ich wollte nur darauf aufmerksam machen, dass – und das ist ebenfalls ein Gemeinplatz – diese vielen neuen Formate sich zum Teil auch mit Geschichte unter völlig fragwürdigen oder nicht existenten Standards beschäftigen, die sich die Geschichtswissenschaft in den letzten 150 Jahren mühsam erarbeitet hat. Wir haben hier natürlich Geschichtsgebräuche zu beobachten, die es vor 20 Jahren noch nicht gegeben hat. Darüber hinaus gibt es aber – und das ist, denke ich, eine Ergänzung – ein breites Feld subjektiv-künstlerischer Auseinandersetzungen, sehr erfolgreiche, ich würde sagen qualitativ höchst gelungene Auseinandersetzungen, etwa im Bereich Graphic Novel, zum Beispiel „Tag D“. Ich finde, das ist wirklich eine sehr beachtenswerte Form, wie man die Geschichte des Ersten Weltkriegs erzählen kann. Dies geschieht sicherlich dann in der Perspektive – und darüber können wir uns vielleicht auch noch unterhalten – einer Individualisierung persönlicher Schicksale. DG: Ich glaube, was man in jedem Fall unterstreichen muss, ist, dass es für uns als Historiker eine Herausforderung darstellt, sich auf die neuen Formate und Gegebenheiten einzulassen und mit ihnen umzugehen. Aber dabei stehen wir doch vergleichsweise gut da. Jörn Leonhard hat uns von seinen Erfahrungen berichtet, und ich meine mich zu erinnern, Chris Clark ist mit einem roten Käfer durch die Gegend gefahren. Es gibt Anpassungsleistungen, die wir Historiker erbringen. Die Frage ist: Wie weit macht man mit? Das ist eine Geschmacksfrage. Ich glaube, es geht um einen Mittelweg. Es geht darum, dass man sich im Klaren darüber ist, dass die mediale Orchestrierung historischer Forschung wichtiger geworden ist, dass es eine Herausforderung ist, der wir uns zu stellen haben. Gleichzeitig ist das aber auch eine Chance, die wir haben und die wir, glaube ich, als Fach, vielleicht auch mit den Gegenständen, die wir bearbeiten, zum Teil besser gemeistert haben als andere Disziplinen. Wir müssen aber aufpassen, dass wir nicht ausführende Organe dieser Industrie werden. Von daher ist das wirklich so eine Art Mittelweg, den man finden muss. FK: Ich glaube, das ist ein ganz wichtiger Punkt. Dass man sozusagen dieses Interesse aufgreift, aber immer noch aufgreift in einer Weise, die auch historisch haltbar ist. JL: …, die wissenschaftsfundiert ist.
244
Podiumsdiskussion
FK: …, die wissenschaftsfundiert ist. Man muss ja auch sehen, dass wir uns jetzt in einer allgemeinen Diskussion befinden, wo Wissenschaft in Frage gestellt wird. Und da ist es vielleicht umso wichtiger – wenn man schon die Chance hat, an einer solchen Debatte teilzunehmen –, einen wissenschaftlichen Standpunkt zu setzen, der auch als solcher wahrgenommen wird. Das würde mich noch einmal interessieren, wie man das macht aus Ihrer Erfahrung, Herr Leonhard? JL: Indem man zu Dingen, bei denen man klar erkennt, dieses Format gibt mir diese Möglichkeit nicht, auch Nein sagt, ganz klar. Also, wenn mich Reuters anruft und fragt: Können Sie in einer Minute etwas zu Ihrem Buch sagen, aber möglichst auch noch sagen, wie man die Krim-Krise löst – das war 2014 –, und irgendwie noch vielleicht zwei andere Punkte unterbringen, dann mache ich es nicht. DG: Hättest du mal [Lachen aus dem Publikum]! JL: Hätte ich mal. Ich wäre auch nicht mit dem roten Käfer durch das Brandenburger Tor gefahren, aber darauf wäre auch keiner gekommen [Lachen aus dem Publikum]. Da hat Chris Clark, glaube ich, den ich gut kenne und den ich sehr schätze, sich auf bestimmte Marktmechanismen eingelassen. Die andere Seite aber ist beispielsweise der Kollege, der in Freiburg zu mir kam und sagte: Ich habe Sie jetzt schon zweimal im Deutschlandfunk gehört, Sie werden ja ein richtiger Feuilletonist. Das würde ich eben nicht sagen.Wenn der Deutschlandfunk mir eine halbe Stunde gibt, dann kann ich ein Argument gut entwickeln und ich kann differenzieren. Und ich kann auch argumentieren, an welchen Stellen ich mir wünsche, dass man über den deutschen Tellerrand guckt, dass man nicht von Europa spricht und dabei nur Westeuropa im Blick hat, dass man auch versteht, warum ist das für die chinesische oder die indische Gesellschaft so wichtig. Und so war meine Erfahrung: Es gibt diese Formate, aber es gibt eben auch die Marktlogiken. Es gibt Logiken, die miteinander konkurrieren. Das eine ist die Logik der Wissenschaft, also die Frage, wie wir produzieren, in welchen Formen wir das tun, in großen Verbünden – Sonderforschungsbereiche, Graduiertenkollegs – oder schreiben wir ein Buch. Und manchmal ist das eine und das andere schwer zu realisieren. Die Mechanismen, mit denen man an der Uni heute belohnt wird, sind nicht die Mechanismen wie vor 30 oder 40 Jahren. Die Mechanismen sind heute eher: Viel Drittmittel bringt vielleicht viel Ehre, auch wenn man fragen kann, was von manchen SFBs – selbstverständlich nicht von anwesenden Kolleginnen und Kollegen – in 30 Jahren übrig ist oder in 20. Aber ich will nur sagen: Das ist die eine Logik, in der wir auch stehen. Nicht umsonst macht sich Detlef Felken³ von Beck Gedanken darum, wer wird in 10 oder 15 oder 20 Jahren noch die Zeit haben, Bücher zu schreiben.
Historiker, Cheflektor und Programmleiter des C. H. Beck Verlags.
Erkenntnisse aus fünf Jahren Gedenken an den Ersten Weltkrieg
245
Die zweite Logik ist eine Logik der Politik, die aber häufig in ganz anderen Zeitrhythmen arbeitet. Die nächste Krise, auf die man eine Antwort finden muss, der nächste Lehrgang von angehenden Botschaftern, wo man sich fragt, über was müssen die etwas wissen. Das Dritte ist die Logik von Medien. Und auch da haben wir es ja zu tun mit Medien, die sagen, wir brauchen morgen früh fünf Minuten, und andere, die sagen, Sie können uns 20.000 Zeichen schicken und Sie kriegen eine Seite in der Zeit oder der FAZ. Die Schwierigkeit ist, und da bin ich völlig einer Meinung mit Dominik Geppert, dass man entscheiden muss, wo kann ich als Wissenschaftler ein Format finden, das der Wissenschaftsbasiertheit und dem Vermittlungsgebot gerecht wird. Und das stellt sich, glaube ich, für viele Kollegen in Deutschland noch immer viel stärker schwarz-weiß dar als etwa in Großbritannien, wo die Vermittlung flexibler ist. Wir befinden uns vielleicht auch in einer Phase, in der wir merken, dass doch viele von uns längere Zeit im Ausland waren. Die Antworten auf die Frage, was ist reine Wissenschaft und was ist Feuilletonismus, verändern sich. FK: Herr Epkenhans, vor 15 Jahren hätten wir alle über Guido Knopp geschimpft, jetzt schimpft man über den roten VW? ME: Ach, da habe ich jetzt kein Problem mit. Ich hätte gern so ein Auto. Ich glaube aber schon, dass es irgendwo eine gewisse Grenze gibt, die man nicht überschreiten sollte, wenn es anfängt ein bisschen albern zu werden. Aber es ist ja eigentlich völlig egal, ob es der rote VW oder etwas anderes ist. Ich bin ursprünglich Lehrer gewesen und musste Wissenschaftler werden, weil man in Nordrhein-Westfalen 1985 keinen eingestellt hat [Lachen aus dem Publikum und verschiedene Einwürfe]. Ich hatte das Glück, dass mir mein Doktorvater gesagt hat: Ich halte dir eine Stelle frei – aber, wie dem auch sei … Ich habe also einen Bildungsimpetus. Manchmal tue ich mich aber schwer damit, wenn das so clipartig zugeschnitten wird, weil man Geschichte dann nur noch aus Videoclips lernen kann. Da habe ich meine Probleme damit, das erlebe ich immer wieder selber, weil ich oft zur Marine und sonstigen Weltkriegsfragen interviewt werde. Und wenn ich das Ergebnis dann sehe, sage ich: Da waren doch noch zwei Hauptsätze, die waren eigentlich ganz wichtig. Die passten aber nicht in das Format, sind herausgeschnitten worden, was mich immer ein bisschen ärgert. Nein, aber ich glaube, wir müssen die Menschen da abholen, wo sie nun einmal sind, alles andere ist ja Käse. Und deshalb finde ich es gut, wenn man seriöse Filmemacher findet, zum Beispiel bei Arte, mit denen ich vor einer Weile einen Film gemacht habe über Kaiser Karl. Und ich bin immer wieder erstaunt: Ich bin erst vorgestern angesprochen worden, dass ich im Fernsehen gewesen sei. Ich wusste gar nicht, worum es ging, aber der Film ist jetzt zum x-ten Mal auf ZDFinfo oder Arte oder 3sat gelaufen. Und, wenn die Leute das wahrnehmen, dann denke ich: Ah, da ist ja irgendwie etwas angekommen, da ist etwas hängen geblieben.
246
Podiumsdiskussion
Und das Gleiche betrifft die Bücher und da habe ich eine Bitte an die Kollegen: Schreibt weiter Synthesen. Spezialstudien sind wichtig für den Wissenschaftsbetrieb und meinetwegen auch sonst wo noch. Aber was wollen die Leute sehen, lesen? Das sind die Synthesen. Und ich selber lese sie auch gerne. Drittens finde ich diese Diskussionen wichtig. Ich habe sie immer genossen – auch wenn ich einmal als Bolschewist beschimpft worden bin, weil ich das etwas kritischer sehe als Christopher Clark, was 1914 passiert ist mit Blick auf die deutsche Verantwortung. Wenn die Historiker solche Diskussionen wahrnehmen, eben aus dem Elfenbeinturm hinausgehen und sich den Debatten stellen, dann haben wir viel gewonnen und dann können wir mithelfen, das Geschichtsbewusstsein zu schaffen, dessen Fehlen wir manchmal sehr beklagen. CBG: Herr Epkenhans, zunächst einmal gefällt mir sehr gut, dass Sie Wissenschaftler werden mussten, weil Studierende in der Regel die andere Argumentationsfigur kennen, nämlich: Was, Sie wollen Lehrer werden? Und dann in ein breites, enttäuschtes Gesicht des Professors oder der Professorin schauen. Insofern denke ich, dass sich der Kreis ein bisschen schließt, wenn hier von diesen zahlreichen Veranstaltungen berichtet wurde, an denen Sie alle teilnahmen. Daran zeigt sich, wie wichtig das ist, dass jenseits und außerhalb der Universitäten, aber eben auch mit den Universitäten solche Veranstaltungen stattfinden. Dieser breite Forschungsimpetus wiederum, ich möchte das betonen, der lag – wenn man jetzt die Überlegung anstellen will, hat das Modellcharakter oder kann es Modellcharakter haben – auch an einer unglaublichen Breite bestimmter vorhandener Quellen. Es gibt keinen Ort, der nicht über Quellen, und wenn es Egodokumente sind, zum Ersten Weltkrieg verfügt, die relativ niedrigschwellig – jetzt einmal vom Handschriftenproblem der Feldpostbriefe abgesehen – gehoben und beforscht werden konnten. Und aus diesen vielfältigen Initiativen erwuchs ein Bedürfnis nach Einordnung, dass der Wunsch nach einem Historiker bestand, der beispielsweise am Abend einer lokalen Ausstellungseröffnung die Synthese versucht. Wir haben uns mit der Ortsgeschichte beschäftigt. Dann bekommt das Ganze ein ganz fruchtbares Spannungsverhältnis, auf das ich hinweisen wollte. Also, Sie merken schon, mein Plädoyer geht in die Richtung, die Geschichtswissenschaft vielleicht wieder affiner zu machen für Bildungsprozesse, für Lehrpläne, für all die, die in 20 Jahren womöglich nicht mehr öffentlichrechtliche Sender gucken werden. Im Moment sieht es nämlich danach aus, dass das ein auslaufendes Bildungsangebot für die ältere Generation ist. Danach muss etwas anderes folgen und deswegen mein Appell, verstärkt den Schwung mitzunehmen und die Lust an der Debatte außerhalb der Gelehrtenkreise im Gang oder beim Oberseminar; wieder stärker den Diskurs in der Öffentlichkeit zu suchen – denn, ich denke, er wird auch wahrgenommen werden.
Erkenntnisse aus fünf Jahren Gedenken an den Ersten Weltkrieg
247
FK: Darf ich einmal in die Runde fragen: Ist jemand von Ihnen gezielt im Internet aktiv? CBG: Nein. JL: Meine Lebensqualität hängt stark davon ab, dass ich das nicht tue, muss ich sagen. DG: Zu twittern empfinde ich als problematisch, mit dem eigenen wissenschaftlichen Anspruch auf Differenzierung und Abgewogenheit zu verbinden. Ich sehe das tatsächlich als eine gewisse Gefahr an, weil sich so Diskussionen entkoppeln und Gesprächssituationen doppelbödig werden können. Ich war vor einigen Monaten in einer Diskussionsrunde in einem Raum wie hier und hatte den Eindruck, das Gespräch verlief kontrovers, aber interessant und fair und es wurde ein Level gefunden, auf dem man miteinander argumentierte. Bis mir dann Jüngere, also Studierende, Doktorandinnen und Doktoranden von mir sagten: Was zeitgleich getwittert wurde, hat in keinerlei Beziehung zu dem gestanden, was Sie glauben, was Sie da besprochen haben. Diese Dimension ist aus meiner Sicht gefährlich, weil das eine emotionale Wucht gewinnt und die Leute möglicherweise über Klippen, in die Zuspitzung treibt, die sie in einem Feuilletonartikel oder in einem Zeitungsartikel, wenn sie noch einmal eine Nacht darüber schlafen und der Redakteur noch einmal darauf schaut, eher nicht finden würden. Da sehe ich tatsächlich Grenzziehungsaufgaben auf uns zukommen. Natürlich haben die Printmedien ebenfalls eine eigene Logik, zum Beispiel eine Kampagnenlogik. Das würde ich aber alles für vereinbar mit wissenschaftlichen Ansprüchen halten. Auch die Idee der Zuspitzung eines Arguments: Ich glaube, da haben wir eher – weil Jörn Leonhard vorhin von Erfahrungen aus dem Ausland gesprochen hat – von den angelsächsischen Kollegen noch manches zu lernen. Aber eine gewisse Distanz – eine zeitliche zur eigenen Produktion und dann ein redaktioneller oder lektorierender Blick darauf –, das finde ich schon einen Standard, den ich selbst wertschätzen würde und an dem man festhalten sollte. FK: Ich möchte abschließend auf einen Punkt zurückkommen, den viele von Ihnen jetzt schon angesprochen haben. Und das ist die internationale oder europäische Ebene, wo geklagt worden ist, dass das Gedenken offensichtlich sehr stark national geprägt war und dass es nicht gelungen ist, ein wirklich gesamteuropäisches – was auch immer das sein mag – Gedenken zustande zu bringen. Wenn die Diagnose denn richtig ist: Warum ist das so? Warum sind diese Trennungen da noch so stark? JL: Es hat sicherlich die Versuche gegeben, auch ganz bewusst, so etwas wie eine europäische Geschichtspolitik zu entwickeln. Das merkte man sehr früh: Die französische Kommission für das centenaire ist im Grunde genommen auf verschiedenen Ebenen unterwegs gewesen, was man bei Macron am 11. November
248
Podiumsdiskussion
2018 dann quasi idealtypisch sehen konnte: die globale Ebene, auf der sich die ehemaligen Kolonien repräsentiert sahen, dann die europäische Ebene mit der besonderen deutsch-französischen Beziehung, aber auch die sehr französische mit seiner pèlerinage durch die départements, die von dem Krieg besonders betroffen waren. Das war der Versuch, diese Ebenen zusammenzubringen. Es hat an verschiedenen Stellen ganz bewusst auch von der Politik vorgegebene Inszenierungen eines europäischen Gedächtnisses in unterschiedlichen Ausprägungen gegeben. Der Startschuss dafür, dass die Deutschen sich 2014 irgendwann Gedanken machen mussten, wie sie damit jetzt umgehen, waren die Anfragen aus Frankreich für ein Treffen am Hartmannswillerkopf. Ich weiß noch, wie ein Referent aus Berlin in Freiburg anrief und sagte: Reicht das nicht, wenn wir da einen Staatssekretär schicken? Das ist hundert Jahre her, das können wir doch jetzt tiefer hängen. Man fürchtete gleichsam „Büchsen der Pandora“, die man nicht öffnen wollte. Aber irgendwann war klar – und da hatte dann auch ein gewisser Lernprozess eingesetzt –, die französische Seite erwartet fast eine Art emotionale Reaktion. Aus der deutsch-französischen Erbfeindschaft resultierten nach 1945 die vielen ikonischen Versöhnungsmomente: de Gaulle und Adenauer in Reims, Kohl und Mitterand in Verdun. Und auf dieser Ebene war die Erwartung. Das war natürlich eine sehr bilaterale, deutsch-französische Geschichte. Die anderen Versuche, die ich dann erlebt habe, etwa in Belgien, gehen eher in die Richtung, die vorhin schon erwähnt wurde: Gab es nicht auf allen Seiten Opfer? Gab es nicht auf allen Seiten verschiedene Varianten der Heimatfront? Man hat im Grunde genommen das Europäische betont, indem man sich von den politisch kontroversen Fragen – Schuld, Verantwortung, zum Beispiel Versailles in der Verantwortung für das, was 1933 passiert – abgewandt hat und sich auf Spezialfragen, wie die Frage nach den Opfern, nach Kriegsgefangenschaft, nach Besatzung, konzentriert hat. Aber aus meiner eigenen Erfahrung war offenkundig, dass das immer nur sehr sektoral war. Schon bei diesem ganzen Versuch, eine Art europäisches Gedächtnis zu stiften – europäische Integration als Ergebnis von zwei Weltkriegen –, blieben die Osteuropäer häufig weit außen vor. Wenn Sie eine Veranstaltung in Brüssel gemacht haben, waren die ungarischen Abgeordneten häufig nach zwei Sätzen bei Trianon und sagten: Wir haben immer schon für Europa gelitten und im Grunde genommen hat sich das fortgesetzt bis in die Gegenwart. Und was ihr Europa nennt, ist euer Westeuropa. Die Vertreter der Balten haben gesagt: Müsst ihr in Westeuropa nicht verstehen, was wir 1918/19 zurückbekommen haben und was wir ab 1939/40 und seit 1944 wieder verloren haben? Nämlich so etwas wie einen souveränen Nationalstaat. Und könnt ihr nicht verstehen, warum es uns vielleicht schwerer fällt, mit dem Begriff des „Souveränitätsverzichts“ umzugehen, weil wir diese Souveränität erst nach 1989/ 90 wiederbekommen haben? Man bekam sehr schnell mit, wie viel Spannung in
Erkenntnisse aus fünf Jahren Gedenken an den Ersten Weltkrieg
249
diesem Europa, an das da erinnert werden sollte, steckte. Und diese Spannungen haben, glaube ich, diese anderen Narrative und geschichtspolitischen Inszenierungen sehr schnell überholt. ME: Ich würde das so unterstreichen und dabei vor allem einen Akzent setzen: Die Krimkrise, mit allem was danach kam, hat 2014 diese gesamten Gedenkpläne, die man gesamteuropäisch durchaus auch eingedenk des Ostens hatte, völlig überlagert. Die ursprünglichen Planungen des Bundestages, eine gemeinsame Veranstaltung einschließlich der Osteuropäer zu machen, sind ja dann aufgrund der Tatsache, dass Putin in der Krim einmarschiert ist und sich die Situation dann weiter verschärfte, vergleichsweise verwässert worden. Das ist das Erste und das Zweite ist: Das Clark-Buch hat mit seinen Vorwürfen an die Serben den Nationalismus in Serbien in einer Weise geschürt – wir haben es auf einigen Konferenzen erlebt –, dass es alle Ansätze in irgendeiner Form – die Franzosen hatten überlegt, in Sarajevo, was ja für die Serben ohnehin politisch aufgeladen war, eine große Veranstaltung zu machen –, torpediert hat, auf dieser Seite des Balkans einen Anknüpfungspunkt zu finden, um tatsächlich auf gesamteuropäischer Ebene zu gedenken. Dass Interpretationen wie die von Clark alle irgendwo ihren Sinn hatten, darüber brauchen wir nicht zu streiten, aber sie beendeten die öffentliche Debatte in einer nationalistisch aufgeladenen Gesellschaft wie Serbien, die sowieso das Gefühl hatte, verraten worden zu sein und jetzt noch einmal verraten zu werden. FK: Frau Bühl-Gramer, haben wir im Kern nationale Erinnerungskulturen? CBG: Ja, ich wollte gerade auch noch einmal nachfragen: Wie und warum soll eigentlich ein europäisches Narrativ überhaupt Ziel der Debatte sein? Wenn wir von Erinnerungsnarrativen sprechen, dann haben wir schon einen Fehlbegriff, denn da geht es nicht um Erinnerung, sondern um einen Austausch von Argumenten und letztlich um die Entscheidung, welche Argumente vielleicht konzise sind, als triftig empfunden werden von einer Community. Aber die Erinnerung formiert sich nicht gemeinsam durch Europäer, von unten nach oben oder wie auch immer. Ich halte auch das Bemühen um ein europäisches Narrativ in dem europäischen Museum in Brüssel für ein zum Scheitern verurteiltes Bemühen, auch wenn der Versuch geschichtspolitisch für mich nachvollziehbar ist. Ich glaube, die viel interessanteren und wirklich weiterführenden Fragen sind doch die danach, welche gemeinsamen Erlebnisse es gibt. Das wissen wir alle hier im Raum, dass ein und dasselbe Ereignis je nach Land und geographischer Lage einfach ganz unterschiedliche Konsequenzen nach sich gezogen hat. Ich glaube nicht, dass es das Ziel sein sollte, diese unterschiedlichen Erinnerungen – denn diese Ereignisse haben ganz unterschiedliche Bedeutungen nach sich gezogen, bei den einen wird es eine Staatsgründung, bei den anderen sind es ganz andere Erinnerungsbestände – zuzuschütten. Der konstruktive, aber auch der komplexe,
250
Podiumsdiskussion
schwierige Weg wird der sein, diese unterschiedlichen Erinnerungsbestände zu bilanzieren und sich zu überlegen, warum dieselben Ereignisse unterschiedliche Folgen für einzelne Länder hatten. Und, ja, in dieser Hinsicht sind die sogenannten Erinnerungskulturen – ich würde eher von „Geschichtskulturen“ sprechen, denn das macht das Beteiligtsein von Akteuren deutlicher – sicherlich sehr stark national konnotiert. Genauso ist das Schul- und Bildungswesen immer noch sehr stark national konnotiert, bei allem Impetus und den unterschiedlichen Bemühungen, stärker auch im Bildungssystem etwa den Blick zu weiten auf europäische und globale Perspektiven. DG: Ich glaube auch, dass wir mit der Vielfalt der Erinnerungskulturen, der Geschichtskulturen, leben müssen, uns damit arrangieren müssen, dabei auch keine falschen Rücksichten nehmen müssen. Man sollte natürlich nicht unangemessen zuspitzen. Aber beispielsweise ein wissenschaftliches Argument nicht zu bringen, wenn es redlich und seriös ist, aus Rücksicht auf die Folgen in Serbien oder anderswo, würde ich verkehrt finden. Ich war in Oxford auf einer Tagung, da ging es um Narrative der europäischen Einigung. Eine Kollegin sagte, sie habe im Auftrag der EU-Kommission an einem Gremium teilgenommen, das ein gemeinsames europäisches Narrativ erarbeiten sollte. Das Beste, was sie hinbekommen hätten, sei „konstruktive Kakophonie“ gewesen. Das habe der Kommission aber nicht gefallen. Dabei finde ich konstruktive Kakophonie als Beschreibung wissenschaftlicher Tätigkeit gar nicht so schlecht. Wie gesagt, ich glaube, dass man mit der Vielfalt der Erinnerungskulturen rechnen muss, dass man da nur im Gespräch miteinander, und möglicherweise auch im Widerspruch und der Kontroverse, weiterkommt. Und das ist dann doch einer der Aspekte, die mir als problematisch aufgefallen sind bei einigen der Diskussionen, die wir geführt haben. Da haben wir zu schnell gesagt: Das Argument ist vielleicht wissenschaftlich haltbar oder valide, aber wo führt denn das hin. Also, sozusagen: Das ist gefährlich, da denken wir lieber nicht hin. Das ist eine deutsche Tendenz, die ich bei der Diskussion verschiedentlich erlebt habe und die ich für problematisch halte. FK: Liebe Frau Bühl-Gramer, liebe Kollegen, ganz herzlichen Dank für Ihr Kommen nach Eichstätt und für die lebhafte Diskussion!
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren sowie der Diskutantinnen und Diskutanten Blomann, Yvonne, M.Ed., ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte der Universität Bonn. Ihre Forschungsschwerpunkte sind: Internationale Geschichte, speziell Internationale Beziehungen; Geschichte der deutschen Wiedervereinigung; Kulturgeschichte der Diplomatie. Zuletzt erschienen: Erneut auf Konfrontation? Die Deutsche Frage und das Ende des Ost-West-Konflikts, Erlangen 2017 [Abschlussarbeit]; Rezension zu: Maurice Vaïsse (Hg.), Diplomatie française. Outils et acteurs depuis 1980, Paris 2018, in: Francia-Recensio 3. 2019, https://doi.org/10.11588/frrec.2019.3.66605. Bühl-Gramer, Prof. Dr. Charlotte, ist Inhaberin des Lehrstuhls für Didaktik der Geschichte an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Bilder in der Geschichtsdidaktik, Geschichtsunterricht und Geschichtskultur; Besucherforschung zum ehemaligen Reichsparteitagsgelände; Transformationsprozesse von Stadt-Image und lokaler Geschichtskultur. Zuletzt erschienen: „Nürnberg als Erinnerungsort. Eine ‚romantische Stadt‘“, in: Gisela Mettele u. Sandra Kerschbaumer (Hg.), Romantische Urbanität. Transdisziplinäre Perspektiven vom 19. bis zum 21. Jahrhundert, Köln 2020, S. 33 – 57, sowie „Geschichtsunterricht im 21. Jahrhundert – eine Standortbestimmung“, in: Thomas Sandkühler u. a. (Hg.), Geschichtsunterricht im 21. Jahrhundert. Eine geschichtsdidaktische Standortbestimmung, Göttingen 2018, S. 31 – 42. Epkenhans, Prof. Dr. Michael, ist Leitender Wissenschaftler und stellvertretender Kommandeur des Zentrums für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr. Seine Forschungsschwerpunkte sind Militärgeschichte und deutsche Geschichte des 19./20. Jahrhunderts. Zuletzt erschienen: Die Reichsgründung, München 2020, sowie Der Erste Weltkrieg, Paderborn 2015. Geppert, Prof. Dr. Dominik, ist Professor für Geschichte des 19./20. Jahrhunderts an der Universität Potsdam. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen die Internationale Geschichte, insbesondere die Geschichte der europäischen Einigung, die Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, die Universitäts- und Intellektuellengeschichte. Zuletzt erschienen: Geschichte der Universität Bonn 1818 – 2018, Göttingen 2018 [4 Bde., hg. zusammen mit Thomas P. Becker und Philip Rosin], sowie Konrad Adenauer, Ludwig Erhard und die Soziale Marktwirtschaft, Paderborn 2019 [hg. zusammen mit Hans-Peter Schwarz]. Hirschmüller, Tobias, M. A., ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Projekt „Edition der Akten der Provisorischen Zentralgewalt von 1848/49“ an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Provisorische Zentralgewalt von 1848/1849 in nationaler und internationaler Perspektive, die Regionalgeschichte des Ersten Weltkriegs sowie jüdische deutschsprachige Presse. Zuletzt erschienen: Populismus – Kontroversen und Perspektiven. Ein wissenschaftliches Gesprächsangebot, München 2020 [hg. zusammen mit Marina Fleck u. Thomas Hoffmann], sowie „Von ‚Großdeutschland‘ zu ‚Gesamtdeutschland‘? Die Erinnerung an die Revolution von 1848/49 und die politische Geographie der deutschen
252
Autorinnen und Autoren sowie Diskutantinnen und Diskutanten
Demokratie in Europa“, in: Frank Becker, Michael Wala u. Darius Harwardt (Hg.), Die Verortung der Bundesrepublik. Ideen und Symbole politischer Geographie nach 1945, Bielefeld 2020, S. 195 – 245. Janeke, Dr. Kristiane, ist Wissenschaftliche Leiterin des Militärhistorischen Museums der Bundeswehr in Dresden. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Erinnerungskultur, Museumswissenschaften sowie die deutsch-russischen bzw. -belarussischen Beziehungen. Zuletzt erschienen: „Erinnerungskultur und Geschichtspolitik in Belarus“, in: Belarus-Analysen 37. 2018, S. 9 – 13, sowie „‚Großer Vaterländischer Krieg‘. Sowjetische Erinnerungsmuster im Kriegsgedenken in Russland und Ostmitteleuropa“, in: Bernd Heidenreich, Evelyn Brockhoff u. Andreas Rödder (Hg.), Der 8. Mai im Geschichtsbild der Deutschen und ihrer Nachbarn, Wiesbaden 2016, S. 85 – 105. Kampmann, Prof. Dr. Christoph, ist Inhaber des Lehrstuhls für Geschichte der Frühen Neuzeit an der Philipps-Universität Marburg. Seine Forschungsschwerpunkte sind: Geschichte der internationalen Politik in der Frühen Neuzeit; Geschichte der Sicherheit in der Frühen Neuzeit; Vergleichende Verfassungsgeschichte. Zuletzt erschienen: „Kaiser, Reichstag und Türkengefahr im späten 17. Jahrhundert: Kommunikation – Konkurrenz – Konfrontation“, in: Historisches Jahrbuch 140. 2020, S. 361 – 382, sowie Sicherheitsprobleme im 16. und 17. Jahrhundert – Bedrohungen, Konzepte, Ambivalenzen, Baden-Baden 2020 [hg. zusammen mit Horst Carl u. Rainer Babel]. Kießling, Prof. Dr. Friedrich, ist Inhaber des Lehrstuhls für Neuere und Neueste Geschichte der Universität Bonn. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Geschichte der Internationalen Beziehungen im 19. und 20. Jahrhundert, moderne Ideen- und Intellektuellengeschichte sowie die Nachgeschichte des Nationalsozialismus. Zuletzt erschienen: Zivilmacht Bundesrepublik? Bundesdeutsche außenpolitische Rollen vor und nach 1989 aus politik- und geschichtswissenschaftlichen Perspektiven, Baden-Baden 2019 [hg. zusammen mit Klaus Brummer], sowie Agrarpolitik im 20. Jahrhundert. Das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft und seine Vorgänger, München 2020 [zusammen mit Horst Möller u. a.]. Klein, Jonas, M. A., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter und Lehrbeauftragter am Institut für Geschichtswissenschaft der Universität Bonn. Seine Forschungsschwerpunkte sind u. a. Politische Ideen- und Intellektuellengeschichte, Wissenschafts- und Universitätsgeschichte sowie Historische Geschichtskulturen. Zuletzt erschienen: „Zwischen Wissenschaft und Politik. Hans Delbrücks Korrespondenz als Herausgeber der ‚Preußischen Jahrbücher‘“, in: Matthias Berg u. Helmut Neuhaus (Hg.), Briefkultur(en) in der deutschen Geschichtswissenschaft zwischen dem 19. und 21. Jahrhundert, Göttingen 2020, S. 138 – 161. Knobloch, Till, ist PhD-Student an der University of North Carolina at Chapel Hill. Seine Forschungsschwerpunkte sind Internationale Geschichte, Deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts sowie die Geschichte des Nationalsozialismus. Zuletzt erschienen: Rezension zu: Brendan Simms, Hitler. Only the World Was Enough, London 2019, in: Francia-Recensio 2. 2020, DOI: 10.11588/frrec.2020.2.73361. Kunkel, Prof. Dr. Sönke, ist Juniorprofessor für Nordamerikanische Geschichte an der Freien Universität Berlin. Seine Forschungsschwerpunkte sind u. a. die Geschichte der transatlanti-
Autorinnen und Autoren sowie Diskutantinnen und Diskutanten
253
schen Beziehungen, die Geschichte von Humanitarismus und Entwicklungszusammenarbeit im 19. und 20. Jahrhundert sowie die globale Mediengeschichte. Zuletzt erschienen: „History of Global Media“, in: Patricia Moy (Hg.), Oxford Bibliographies in Communication, New York 2020, sowie Empire of Pictures. Global Media and the 1960s Remaking of American Foreign Policy, New York 2018. Leonhard, Prof. Dr. Jörn, ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Sein Forschungsschwerpunkt ist die vergleichende Geschichte Europas in globaler Perspektive seit dem Ende des 18. Jahrhunderts mit den Themen Liberalismus, Krieg und Frieden, Empires und Nationalstaaten. Zuletzt erschienen: Die Büchse der Pandora. Geschichte des Ersten Weltkriegs, München 62014 (TB 2018), sowie Der überforderte Frieden. Versailles und die Welt, München 22019. Ludwig, Dr. Andreas N., ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Internationale Beziehungen der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt. Seine Forschungsschwerpunkte sind, neben neuen Ansätzen in den Theorien der Internationalen Beziehungen (Komplexitätsforschung, Erinnerungsforschung), insbesondere die Außen-, Europa- und Sicherheitspolitik Deutschlands und des Vereinigten Königreichs sowie die Prozesse der europäischen Integration. Zuletzt erschienen: „Memory Matters! Zur Bedeutung des Erinnerns und kollektiver Identitätskonstruktionen in grenzüberschreitenden Beziehungen“ [zusammen mit Caroline Rothauge], in: Klaus Brummer u. Friedrich Kießling (Hg.), Bundesdeutsche außenpolitische Rollen aus geschichts- und politikwissenschaftlichen Perspektiven, Baden-Baden 2019, S. 235 – 252. Rothauge, Dr. Caroline, ist Akademische Rätin auf Zeit am Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt. Ihre Forschungsschwerpunkte sind: „Zeit“ im 19. und 20. Jahrhundert; populärkulturelle Vergangenheitsdarstellungen; Außenbeziehungen und Erinnerung. Zuletzt erschienen: „Zur Einführung der ‚Mitteleuropäischen Zeit‘ im deutschen Kaiserreich 1893. Temporale Transformationsprozesse in verflechtungsgeschichtlicher Perspektive“, in: Themenportal Europäische Geschichte 2020, https://www.euro pa.clio-online.de/essay/id/fdae-29052, sowie „Populärkultur, Erinnerungsdynamiken und DDRVergangenheit am Beispiel der Fernsehserien ‚Weissensee‘ und ‚Deutschland 83‘“, in: Christoph Bareither u. Ingrid Tomkowiak (Hg.), Mediated Pasts – Popular Pleasures. Medien und Praktiken populärkulturellen Erinnerns, Würzburg 2020, S. 221 – 233. Ruppert, Prof. Dr. Karsten, ist emeritierter Lehrstuhlinhaber für Neuere und Neueste Geschichte an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Geschichte politischer Bewegungen und Parteien, insbesondere des Politischen Katholizismus, Staat und Verfassung sowie internationale Beziehungen im 19. und 20. Jahrhundert. Zuletzt erschienen: Die Pfalz im Königreich Bayern: Geschichte, Kultur und Identität, Stuttgart 2017, sowie „Griechischer Freiheitskampf und deutscher Philhellenismus“, in: Jahrbuch der Hambach-Gesellschaft 25. 2018, S. 13 – 44. Sangar, Dr. Eric, ist Assistenzprofessor (maître de conférences) an der Hochschule Sciences Po Lille. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Einflüsse von Erinnerungsdiskursen auf außenpolitische Debatten und Entscheidungsprozesse, die Diffusion von Normen und Ideen in den deutsch-französischen Beziehungen sowie die Rolle von Emotionen in der Rechtfertigung politischer Gewalt. Zuletzt erschienen: Diffusion in Franco-German Relations: A Different Perspecti-
254
Autorinnen und Autoren sowie Diskutantinnen und Diskutanten
ve on a History of Cooperation and Conflict, Cham 2020, sowie „L’impact de la fragmentation des mémoires collectives nationales sur la politique étrangère: le cas de la France“, in: Études internationales 50/1. 2019, S. 39 – 68. Tischer, Prof. Dr. Anuschka, ist Inhaberin des Lehrstuhls für Neuere Geschichte an der JuliusMaximilians-Universität Würzburg. Ihre Forschungsschwerpunkte sind: Diplomatie und internationale Beziehungen zwischen Mittelalter und Moderne; Kriegsbegründungen vom 16. bis zum 18. Jahrhundert; politische Geschichtsrezeption seit dem 15. Jahrhundert. Zuletzt erschienen: Reformation und katholische Reform zwischen Kontinuität und Innovation, Würzburg 2019 [hg. zusammen mit Frank Kleinehagenbrock, Dorothea Klein u. Joachim Hamm], sowie Dynamik durch Gewalt? Der Dreißigjährige Krieg (1618 – 1648) als Faktor der Wandlungsprozesse des 17. Jahrhunderts, Münster 2018 [hg. zusammen mit Michael Rohrschneider]. Wenzel, Dr. Christian, ist Akademischer Rat auf Zeit am Seminar für Neuere Geschichte der Philipps-Universität Marburg. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Geschichte der Französischen Religionskriege, die Historische Sicherheitsforschung und Garantien in der Frühen Neuzeit. Zuletzt erschienen: „Ruine d’estat“. Sicherheit in den Debatten der französischen Religionskriege, 1557 – 1589, Heidelberg 2020.