Erfahrung aus Narration: Erinnerungskulturelle Funktionen der Enkelliteratur 9783110673968, 9783110673869

The question of how to preserve a “living” (and not merely academic) memory of the Nazi era beyond the lifetime of livin

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German Pages 312 [314] Year 2020

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Erfahrung aus Narration: Erinnerungskulturelle Funktionen der Enkelliteratur
 9783110673968, 9783110673869

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Robert Forkel Erfahrung aus Narration

Narratologia

Contributions to Narrative Theory Edited by Fotis Jannidis, Matías Martínez, John Pier, Wolf Schmid (executive editor) Editorial Board Catherine Emmott, Monika Fludernik, José Ángel García Landa, Inke Gunia, Peter Hühn, Manfred Jahn, Markus Kuhn, Uri Margolin, Jan Christoph Meister, Ansgar Nünning, Marie-Laure Ryan, Jean-Marie Schaeffer, Michael Scheffel, Sabine Schlickers

Band 72

Robert Forkel

Erfahrung aus Narration Erinnerungskulturelle Funktionen der Enkelliteratur

Zugl. Dissertation, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, 2019

ISBN 978-3-11-067386-9 e-ISBN (PDF) 978-3-11-067396-8 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-067402-6 ISSN 1612-8427 Library of Congress Control Number: 2020936398 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2020 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: Jörn Hartlapp Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde 2018 von der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg als Dissertation angenommen. Sie ist das Resultat meiner sechsjährigen Promotionszeit und entstand unter denkbar günstigen Bedingungen, die ich umso mehr zu schätzen weiß, als ich sie keineswegs für selbstverständlich erachte. Mein besonderer Dank gilt Daniel Fulda, der mir von der ersten Idee bis zur Fertigstellung zur Seite stand und mich als Doktorvater optimal betreut und gefördert hat. Sein aufrichtiges Interesse an meinem (anfangs noch recht ergebnisoffenen) Forschungsprojekt hat mir wohldosierten Mut gemacht. Dass dieser Mut frei walten konnte, verdanke ich meiner dreijährigen Anstellung beim Landesforschungsschwerpunkt „Aufklärung – Religion – Wissen“ in Halle, wo die idealen Voraussetzungen für konzentriertes und effektives Arbeiten gegeben waren, vom eigenen Büro bis hin zum Druckkostenzuschuss für die vorliegende Publikation. Weiterhin danke ich Werner Nell für seine fortwährende Unterstützung und seine Tätigkeit als Zweitgutachter sowie Sophia Wege für das sorgfältige Lektorat und kluge fachliche Hinweise. An dieser Stelle halte ich eine Vorbemerkung zur gendergerechten Schreibweise für angebracht. Seit einigen Jahren werden sowohl in wissenschaftlichen Diskursen als auch in der breiten Öffentlichkeit verschiedene Möglichkeiten diskutiert, nicht nur das weibliche, sondern auch nicht-binäre Geschlechter gleichberechtigt sprachlich sichtbar zu machen. Bisher gibt es hierzu keine amtliche Regelung und somit keine orthografische Sicherheit. Der Rat für deutsche Rechtschreibung spricht von einer Erprobungsphase und hält sich mit konkreten Empfehlungen bewusst zurück, um den gesellschaftlichen Aushandlungsprozess nicht unnötig zu beeinflussen. Ich halte das vorliegende Buch nicht für den richtigen Ort, einen eigenen Beitrag zur laufenden Genderdebatte zu leisten, und beschränke mich daher auf bereits etablierte Schreibweisen – immer im vollen Bewusstsein, die geschlechtliche Vielfalt der dabei bezeichneten Personen nicht hinreichend repräsentieren zu können. Vor allem aber bitte ich zu beachten, dass in der Narratologie nur selten von realen Personen oder Personengruppen die Rede ist. Denn die Begriffe Autor, Leser, Rezipient, Erzähler und Adressat werden in der Regel als Analysekategorien verwendet und bezeichnen folglich keine Personen, sondern ‚Instanzen‘ – als solche werden sie meines Erachtens am passendsten im generischen Maskulinum wiedergegeben. Halle, im April 2020

https://doi.org/10.1515/9783110673968-202

Inhaltsverzeichnis Vorwort | V

1.5.1 1.5.2 1.5.3

Einleitung | 1 Erinnerungskultur nach der Zeitzeugenschaft | 1 ‚Dritte Generation‘ | 3 Von der Väterliteratur zur Enkelliteratur? | 7 Textkorpus | 10 Theorien und Methoden der Kognitiven Literaturwissenschaft | 12 Kognitive Narratologie | 14 Empirische Literaturwissenschaft | 16 Pragmatische Literaturwissenschaft | 20

2 2.1 2.1.1 2.1.2 2.1.3 2.1.4 2.1.5 2.2 2.2.1 2.2.2 2.2.3 2.2.4 2.2.5 2.3 2.3.1 2.3.2 2.3.3 2.3.4 2.3.5

Experientialität | 23 Repräsentationalistischer Ansatz | 24 ‚Natürliche‘ Narratologie | 24 Naturalisierung | 27 Narrativisierung | 29 Bewusstseinszuschreibung | 37 Experientielle Geschichtsschreibung | 39 Enaktivistischer Ansatz | 45 Situierte Kognition | 46 Anti-Repräsentationalismus | 54 Mentale Simulationen | 64 Erzählungsbasierte Lesererfahrungen | 66 Bewusstseinshervorbringung | 74 Experientielle Erinnerungskultur | 78 Erinnern statt Gedenken | 79 Episodisches und semantisches Gedächtnis | 83 Subjektivierung und Pluralisierung | 86 Funktionsäquivalenzen von Fiktion und Nichtfiktion | 89 Enaktives Erinnern | 92

3 3.1 3.1.1 3.1.2

Mentale Modelle | 95 Situationsmodelle | 99 Inferenzen | 100 Experientielle Aspekte des Situationsmodells | 102

1 1.1 1.2 1.3 1.4 1.5

VIII | Inhaltsverzeichnis

3.1.3 3.2 3.2.1 3.2.1.1 3.2.1.2 3.2.1.3 3.2.1.4 3.2.2

Situationsmodelle in der Literaturrezeption | 107 Kontextmodelle | 112 Literarische Kommunikation | 116 Autorrepräsentationen | 118 Autorintentionen | 120 Autor-Erzähler-Kongruenz | 122 Leser-Adressaten-Kongruenz | 124 Experientielle Aspekte des Kontextmodells: Joint Attention | 126

4

Zur kognitionsnarratologischen Experientialitätsanalyse der Enkelliteratur | 131 4.1 Erinnerungskultureller Kontext | 131 4.2 Dreigenerationenschema | 135 4.3 Metarepräsentationsanalyse | 138 4.3.1 Metarepräsentationstheorie | 139 4.3.2 Literarische Metarepräsentationen | 141 4.3.3 Metarepräsentationen in der Enkelliteratur | 145 4.3.4 Geltungsbereiche und ‚metarepräsentationale Rahmung‘ | 148 4.3.5 Metarepräsentationales Erinnern | 152 4.4 Situationsmodellanalyse | 154 4.4.1 Referenzsituationsmodelle und Kommunikationssituationsmodelle | 157 4.4.2 Erzählergegenwartssituationsmodelle | 164 4.4.3 Mentale Perspektiven in Referenzsituationsmodellen | 166 4.4.3.1 Figurenzentrierte Perspektivierung | 168 4.4.3.2 Periphere Perspektivierung | 169 4.4.4 Transhistorische und transgenerationale Erfahrungsvernetzung | 173 5 5.1 5.1.1 5.1.2 5.1.3 5.2 5.2.1 5.2.2 5.2.3

Beispielanalysen | 181 Sabrina Janesch: Katzenberge (2010) | 182 Partielle Situationsmodellübertragung | 185 Das ‚namenlose Monster‘ als experientielle Metapher der Angst | 194 Erinnern jenseits der Nationalgeschichtsschreibung | 198 Sabine Rennefanz: Die Mutter meiner Mutter (2015) | 202 Experientialität durch Intermedialität | 204 Experientialität der Leerstelle | 211 Revisionen des Familiengedächtnisses | 215

Inhaltsverzeichnis | IX

5.3 5.3.1 5.3.2 5.3.3 5.4 5.4.1 5.4.2 5.4.3 6 6.1 6.2 6.3 6.3.1 6.3.2 6.4

Sacha Batthyany: Und was hat das mit mir zu tun? (2016) | 220 Experientialität durch Zitatmontage | 221 Narratoriale mentale Simulationen | 224 Transgenerationale Traumatisierung | 231 Per Leo: Flut und Boden (2014) | 237 Experientielles Erzählen über experientielles Erzählen | 241 Graphologie: Schrift als Körper | 250 Kritik am Diskurs der transgenerationalen Traumatisierung | 255 Schluss | 258 Pädagogische und didaktische Implikationen | 259 Kognitive Gattungsforschung | 262 Transmediale Perspektiven | 267 Enkelfilme | 267 Theaterstücke der Enkel | 273 Zusammenfassung | 276

Siglenverzeichnis | 279 Literaturverzeichnis | 281 Register | 301

1 Einleitung 1.1 Erinnerungskultur nach der Zeitzeugenschaft Die Zeitzeugen des Nationalsozialismus und Holocaustüberlebende bildeten bisher die kommunikative Schnittstelle zwischen persönlicher historischer Erfahrung und nachträglich angeeignetem Geschichtswissen. Mit ihrem Verschwinden droht die Geschichte des Dritten Reiches auf Jahreszahlen, Statistiken und Archivbestände zusammenzuschrumpfen. Dem hat man bisher mit einer steigenden öffentlichen Aufmerksamkeit für Gegenstände und Orte des Gedenkens sowie der Förderung erinnerungskultureller Institutionen vorzubeugen versucht – mit dem Ergebnis, dass die Bundesrepublik Deutschland heute eine hochkomplexe, in alle Winkel der Gesellschaft hineinwirkende Erinnerungskultur unterhält. Jedoch handelt es sich bei den aktuellen erinnerungskulturellen Angeboten oftmals noch um Relikte einer überkommenen erinnerungspolitischen Agenda. So gerinnt etwa die Mahnung gegen das Vergessen schnell zur Floskel, wenn sie an einen prinzipiell erinnerungswilligen Personenkreis adressiert ist. Anstatt sich zu vergewissern, dass erinnert wird, muss heute viel dringlicher danach gefragt werden, wie erinnerungskulturelle Angebote von Menschen unterschiedlichen Alters und mit abweichenden Lebenserfahrungen sinnvoll und nachhaltig verarbeitet werden können. Diesbezüglich wird moniert, dass gängige didaktische Konzepte der Geschichtsvermittlung zu wenig auf die Erinnerungsbedürfnisse nachwachsender Generationen abgestimmt sind und die Heterogenität in multikulturellen Lerngemeinschaften häufig unterschätzt wird – eine über den bloßen Wissenserwerb hinausreichende emotionale Aneignung des Historischen finde unter diesen Bedingungen kaum noch statt. Ein Mangel an geeigneten erinnerungskulturellen Angeboten führt aber bei jüngeren Menschen nicht zwangsläufig zu einer Abschwächung des Interesses am historischen Gegenstand, sondern kann sie auch zur selbstständigen Erkundung alternativer Aneignungsformen und zu einem kreativen Umgang mit der Geschichte ermutigen. In familiären Erinnerungskontexten sind es häufig Angehörige der sogenannten ‚dritten Generation‘, die nach dem Tod der Zeitzeugen neue Erinnerungspraktiken und Darstellungstechniken ausprobieren und dabei Deutungsansprüche geltend machen – dies ist das Thema der Enkelliteratur: Da die primäre Instanz der Vermittlung von Geschichte und Geschichtserfahrung unverfügbar geworden ist, bleiben den Enkeln nur ihre Erinnerungen an die Erzählungen der Großeltern und die Auskünfte, die sie von ihren Eltern erhalten. Doch diese beiden Überlieferungsquellen sind meistens wenig ergiebig oder un-

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2 | Einleitung

zuverlässig. Die jungen ‚Familienforscher‘ reagieren darauf mit neuen Schreibweisen der Sinnstiftung und des Umgangs mit widersprechenden Geschichtsversionen oder loten die Grenzen solcher Unternehmungen aus. Dabei dringen sie auch in außerfamiliäre Gedächtnisse vor und verknüpfen auf diese Weise die Familiengeschichte mit makrohistorischen Kontexten. In der vorliegenden Arbeit wird am Beispiel der Enkelliteratur gezeigt, wie auch nach dem Tod der Zeitzeugen ein erfahrungsbasierter Zugang zu deren Lebensgeschichten hergestellt werden kann. Dabei geht es nicht etwa darum, die historischen Erfahrungen der Zeitzeugen des Nationalsozialismus und von Holocaustüberlebenden zu ‚konservieren‘ – diese gehen mit dem Tod der Erfahrungsträger unwiederbringlich verloren. Darin jedoch besteht auch gar nicht der eigentliche Verlust, denn den Nachgeborenen ging es noch nie im engeren Sinne darum, sich selbst in den Besitz der historischen Erfahrungen ihrer Vorfahren zu bringen. Der Tod der Zeitzeugen bedeutet vielmehr den Verlust an Kommunikationsmöglichkeiten: Für die Nachgeborenen bildete von Beginn an das Reden und Schweigen aus erster Hand – in gesellschaftlichen wie in Familienkontexten – die Grundlage für ihre emotionale und praxisbezogene Auseinandersetzung mit der Geschichte. Den Nachgeborenen konnte Geschichte ‚erfahrbar‘ gemacht werden, indem sie ihnen in einem lebensnahen Kontext vermittelt wurde. Dieser stellt sich bei Zeitzeugengesprächen – sowohl in der Familie als auch zu öffentlichen Anlässen – in der Regel von ganz allein ein, da das Zeugnisablegen immer ein intersubjektiver Vorgang ist: Zeitzeugenschaft beruht nicht auf den historischen Erfahrungen als solchen, sondern auf ihrer Mitteilung1 – und hierbei muss sowohl inhaltlich als auch in der Darstellungsweise das Orientierungsbedürfnis der Adressaten berücksichtig werden.2 Wenn gegenwärtig eine Versachlichung des Historischen und dessen Unanschließbarkeit an eigene Lebenskontexte diagnostiziert wird, dann liegt das offenbar nicht zwangsläufig an einem nachlassenden Interesse an geschichtlichen Themen, sondern an den zunehmend begrenzten Möglichkeiten einer erfahrungsnahen Vermittlung. Es ist somit der performative Akt der Zeugenschaft, der mit dem Tod der Zeitzeugen verloren geht und die Rahmenbedingungen der Erinnerungskultur maß-

|| 1 Vgl. Dori Laub: Zeugnis ablegen oder Die Schwierigkeiten des Zuhörens. In: „Niemand zeugt für den Zeugen“. Erinnerungskultur und historische Verantwortung nach der Shoah. Hg. v. Ulrich Baer. Frankfurt a. M. 2000. S. 68–83, hier S. 68. 2 Zum ‚Orientierungsbedürfnis‘ als rezipientenseitiges Kriterium der Geschichtserzählung vgl. Hans-Jürgen Pandel: Die wechselseitigen Erfahrungen von Erzähler und Zuhörer im Prozess des historischen Erzählens. In: Erfahrung und Geschichte. Historische Sinnbildung im Pränarrativen. Hg. v. Thiemo Breyer und Daniel Creutz. Berlin/New York 2010. S. 93–108, hier S. 100.

‚Dritte Generation‘ | 3

geblich verändert. Doch auch dieser Verlust ist nicht vollständig, denn das Zeugnis des Zeitzeugen kann wiederum von Nachgeborenen bezeugt und somit in die Gegenwart hinein verlängert werden. In der Literatur hat sich dieses Format einer ‚sekundären Zeugenschaft‘3 als ein die Zeitzeugenschaft ablösendes Paradigma bereits etablieren können.4 Bei der Analyse der Enkelliteratur wird daher darauf zu achten sein, inwieweit die kommunikative Funktion des Zeitzeugengesprächs und der Zeitzeugenliteratur auch in alternativen Vermittlungsformen noch erhalten bleibt.

1.2 ‚Dritte Generation‘ Die Autorinnen und Autoren der Enkelliteratur gehören der sogenannten ‚dritten Generation‘ an. Dieser Begriff bezeichnet zum einen das verwandtschaftliche Verhältnis zu den Zeitzeuginnen und Zeitzeugen des Nationalsozialismus.5 Zum anderen ermöglicht er eine Abgrenzung von der vorhergehenden ‚zweiten Generation‘, etwa um die Überwindung früherer Generationenkonflikte oder eine eigene generationenspezifische Haltung gegenüber dem Nationalsozialismus und seinen Folgen zu signalisieren.6 Dabei spielt nicht nur die zunehmende zeitliche

|| 3 Zu diesem Begriff vgl. Ulrich Baer: Einleitung. In: „Niemand zeugt für den Zeugen“. Erinnerungskultur und historische Verantwortung nach der Shoah. Hg. v. dems. Frankfurt a. M. 2000. S. 7–31, hier S. 11. 4 Vgl. Cornelia Blasberg: Zeugenschaft. Metamorphosen eines Diskurses und literarischen Dispositivs. In: Wende des Erinnerns? Geschichtskonstruktionen in der deutschen Literatur nach 1989. Hg. v. Barbara Beßlich, Katharina Grätz und Olaf Hildebrand. Berlin 2006. S. 21–33. 5 Vgl. etwa Sigrid Weigel: Die ‚Generation‘ als symbolische Form. Zum genealogischen Diskurs im Gedächtnis nach 1945. In: Figurationen (1999) H. 0, S. 158–173, hier S. 159. Indes handelt es sich hierbei bereits um eine nicht ganz unproblematische Aneignung des Begriffs, denn die Bezeichnung ‚erste Generation‘ bezieht sich ursprünglich ausschließlich auf die Überlebenden der Shoah, die nach der versuchten Auslöschung des jüdischen Volkes eine erneute Vermehrung desselben einleiten, vgl. Ole Frahm: Statt eines Vorworts – Reflexionen des Unbehagens in der „dritten Generation“. In: Das Unbehagen in der ‚dritten Generation‘. Reflexionen des Holocaust, Antisemitismus und Nationalsozialismus. Hg. v. Villigster Forschungsforum zu Nationalsozialismus, Rassismus und Antisemitismus. Münster 2004. S. IX–XIX, hier S. X. 6 Jörn Rüsen konzipiert diese generationelle Abgrenzung „in Form einer idealtypischen Unterscheidung von drei zeitlich einander folgenden Einstellungen“ (Jörn Rüsen: Holocaust, Erinnerung, Identität. Drei Formen generationeller Praktiken des Erinnerns. In: Das soziale Gedächtnis. Geschichte, Erinnerung, Tradierung. Hg. v. Harald Welzer. Hamburg 2001. S. 243–259, hier S. 243), die man „durch die Wendezeiten 1968 und 1989 (mit der üblichen Mischung von Willkür und Symbolkraft solcher Zahlen) chronologisch voneinander trennen und drei Generationen zuordnen [könnte]: der Kriegs- und Wiederaufbaugeneration, der Nachkriegsgeneration und der

4 | Einleitung

Distanz zum historischen Geschehen eine Rolle, sondern auch die Veränderung der intergenerationellen Konstellation von Zeitzeugen und Nachgeborenen innerhalb der Familie: Die erste Nachkriegsgeneration hat mit den Zeitzeugen im selben Haushalt gelebt und stand daher ungleich stärker unter dem Einfluss der Erfahrungen aus der Zeit des Nationalsozialismus. Die Enkelkinder hingegen sind bei den Großeltern in der Regel nur zu Besuch und erfahren daher eine wesentlich geringere pädagogische oder auch ideologische Prägung vonseiten der Zeitzeugen – demnach wird in dieser Konstellation tendenziell ein geringeres Konfliktpotenzial generiert.7 Dass die Enkel ihrer Familiengeschichte gegenüber „mehr Gelassenheit“8 an den Tag legen, geht allerdings nicht mit einer Abschwächung des Interesses einher: „Wir [...] gehören zur ersten Generation, die sich durch die geringere emotionale Beteiligung mit größerer Objektivität, mit größerer geistiger Freiheit der Analyse der NS-Zeit und ihren Folgen widmen kann.“9 Mit Stellungnahmen und Bekenntnissen dieser Art ist Tanja Dückers in zahlreichen feuilletonistischen und gesellschaftspolitischen Beiträgen immer wieder als Sprachrohr der ‚dritten Generation‘ aufgetreten und hat maßgeblich die öffentliche Wahrnehmung der Enkelgeneration geprägt.10 Diese öffentlich ausgestellte generationelle Selbstverortung ist vonseiten der Literaturkritik nicht nur dankbar aufgegriffen, sondern seither auch immer wieder als Erwartung an diese Generation herangetragen

|| ihrer Kinder“ (ebd., S. 244). Während sich die ‚erste Generation‘ noch in Schweigen übte und die ‚zweite Generation‘ ihre Tätereltern moralisch verurteilte, begreife die ‚dritte Generation‘ den Nationalsozialismus und dessen Verbrechen wieder als Teil ihrer eigenen Geschichte: „Die überzeitliche moralische Distanz der zweiten Epoche wird in eine spezifisch historische Distanz verändert.“ (Ebd., S. 258.) Rüsens „idealtypische Konstruktion“ (ebd., S. 244) ist allerdings von begrenzter Reichweite, denn erstens berücksichtigt sie nur die westdeutschen Verhältnisse und zweitens nur die Seite der Täter. 7 Vgl. Margit Frölich/Ulrike Jureit/Christian Schneider: Einleitung. In: Das Unbehagen an der Erinnerung – Wandlungsprozesse im Gedenken an den Holocaust. Hg. v. dens. Frankfurt a. M. 2012. S. 9–17, hier S. 12. 8 Tanja Dückers: Der 8. Mai 1945 und die jüngere Generation. In: Frankfurter Rundschau, 07.05.2005. 9 Tanja Dückers: Der Schrecken nimmt nicht ab, er wächst. In: Süddeutsche Zeitung, 27./28.04.2002. 10 Ähnlich spricht Christoph Amend in seinem Interviewband Morgen tanzt die ganze Welt. Die Jungen, die Alten, der Krieg durchweg von „meiner Generation“. Dezidiert generationenspezifische Positionen vertreten auch die Beiträgerinnen und Beiträger des Sammelbandes von Jens Fabian Pyper (Hg.): „Uns hat keiner gefragt“. Positionen der dritten Generation zur Bedeutung des Holocaust. Berlin/Wien 2002.

‚Dritte Generation‘ | 5

worden. Einerseits mögen sich die Enkel der Zeitzeugen dadurch in ihrer gesellschaftlichen Verantwortung gestärkt und bestätigt fühlen: „Wer […] wie wir von außen als ‚dritte Generation‘ wahrgenommen wird, ist geneigt, sich auch von innen zu positionieren, die Anlässe für das eigene Nachdenken in historischen Kontinuitäten und Brüchen zu reflektieren.“11 Andererseits kann das Generationenkonstrukt auch eine allzu schematische Wahrnehmung und fragwürdige Vereinfachungen nach sich ziehen und droht damit den spezifisch subjektiven Blick auf die Geschichte zu verstellen und die Vielfalt an Formen der Auseinandersetzung mit ihr zu verschleiern.12 Parallel zu dem triadischen Generationenmodell sind mindestens zwei weitere auf den Zweiten Weltkrieg bezogene Generationenkonzepte im Umlauf: Die Angehörigen einer Generation, die den Krieg im Kindesalter erlebt haben, bezeichnet man als ‚Kriegskinder‘ – sie umfassen die Geburtsjahrgänge 1930 bis 1945.13 Die Kategorie des ‚Kriegskindes‘ füllt nicht etwa eine Lücke zwischen der ‚ersten‘ und der ‚zweiten‘ Generation, sondern kann – je nach Fall – sowohl zu der einen als auch zu der anderen gezählt werden: Die ‚Kriegskinder‘ aus ‚Täterfamilien‘ werden meistens zur ‚zweiten‘ Generation gezählt, da sie ihres Alters

|| 11 Meike Herrmann: Vorwort. In: „Uns hat keiner gefragt“. Positionen der dritten Generation zur Bedeutung des Holocaust. Hg. v. Jens Fabian Pyper. Berlin/Wien 2002. S. 7–11, hier S. 7. 12 Diese Homogenisierungstendenz hat auch Dückers frühzeitig erkannt und angeprangert: „[I]ch möchte über all diese Dinge […] nur als Tanja Dückers sprechen, nicht als Redner irgendeiner Generation.“ (Tanja Dückers: Sehen, suchen, schreiben. In: Mitteldeutsche Zeitung, 12.06.2003, S. 17.) Auch im Vorwort zu dem gemeinsam mit Verena Carl herausgegebenen Erzählband Stadt Land Krieg weist sie derartige Zuschreibungen zurück: „Diese Anthologie versteht sich nicht als Sprachrohr einer vermeintlich homogenen ‚Enkelgeneration‘. Kaum erschienen einige Romane jüngerer Autoren, die sich mit der NS-Zeit auseinandersetzten, schufen die Medien in ihrer gegenwärtigen Sucht nach Generationsformeln diesen Begriff.“ (Tanja Dückers/Verena Carl: Vorwort. In: Stadt Land Krieg. Autoren der Gegenwart erzählen von der deutschen Vergangenheit. Hg. v. dens. Berlin 2004. S. 7–13, hier S. 8.) Die Mechanismen und Auswirkungen solcher fragwürdigen Fremd- und Selbstzuschreibungen untersucht Sabrina Wagner: Distanziert, nüchtern, unbefangen? Zur Konstruktion und Zuschreibung ‚generationentypischer‘ Emotionen im Diskurs um eine Erinnerungsliteratur der ‚Enkel‘. In: Familiengefühle. Generationengeschichte und NS-Erinnerung in den Medien. Hg. v. Jan Süselbeck. Berlin 2014. S. 45–64. Deutliche Kritik an der diskursiven Konstruktion einer ‚dritten Generation‘ üben auch die (dieser Generation zugehörigen) Mitglieder einer Arbeitsgruppe des Evangelischen Studienwerks e. V. Villigst, vgl. Villigster Forschungsforum zu Nationalsozialismus, Rassismus und Antisemitismus (Hg.): Das Unbehagen in der ‚dritten Generation‘. Reflexionen des Holocaust, Antisemitismus und Nationalsozialismus. Münster 2004. 13 Vgl. Hilke Lorenz: Kriegskinder. Das Schicksal einer Generation. München 2003, S. 22, sowie Sabine Bode: Die vergessene Generation. Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen. München 2004, S. 13.

6 | Einleitung

wegen unbescholten geblieben sind – daher trifft sie auch als Erwachsene weder eine juristische noch eine unmittelbare moralische Schuld. ‚Kriegskinder‘ aus Opfergruppen hingegen zählen zur ‚ersten‘ Generation, denn für die Zugehörigkeit zu einer Opfergruppe gibt es keine Altersgrenze.14 Für die Erinnerungsliteratur gilt dasselbe Prinzip: Während es sich etwa bei Jona Oberskis Erzählung Kinderjahre, worin der 1938 geborene Autor seine KZ-Erfahrungen schildert, um Zeitzeugenliteratur handelt, schreibt die gleichaltrige Wibke Bruhns über ihren Vater Hans Georg Klamroth aus Sicht der ‚zweiten Generation‘.15 So wie die ‚Kriegskindergeneration‘ die Schnittstelle zwischen ‚erster‘ und ‚zweiter Generation‘ überlagert, sind die in den Sechziger- und Siebzigerjahren geborenen ‚Kriegsenkel‘16 – die Kinder der ‚Kriegskinder‘ – entlang der Grenze zwischen ‚zweiter‘ und ‚dritter Generation‘ zu verorten.17 Die ‚Kriegsenkel‘ definieren sich jedoch weniger über ihre Geburtsjahrgänge als vielmehr über das Verhältnis zu ihren kriegsbelasteten Eltern. Deren Kriegstraumata18 können sich nachhaltig auf die Entwicklung ihrer Nachkommen auswirken, die dann durch bestimmte – in der Regel als störend empfundene – Persönlichkeitsmerkmale und Verhaltensmuster auffällig werden.19 Ob ein ‚Kriegsenkel‘ zur ‚zweiten‘ oder zur ‚dritten‘ Generation gerechnet wird, ist wieder nur fallspezifisch zu entscheiden: Betrachtet man das traumatisch belastete ‚Kriegskind‘ als der ‚ersten Generation‘ zugehörig, so zählen dessen Kinder zur ‚zweiten Generation‘. Bei einer Zuordnung des ‚Kriegskindes‘ zur ‚zweiten Generation‘ gehören dessen Kinder hingegen der ‚dritten Generation‘ an.

|| 14 Zur unterschiedlichen Generationenzählung in Täter- und Opferkontexten vgl. etwa Angela Moré: Die unbewusste Weitergabe von Traumata und Schuldverstrickungen in nachfolgende Generationen. In: Journal für Psychologie 21 (2013) H. 2, S. 1–34, hier S. 7. 15 Bruhns zählt sich selbst ausdrücklich zur „Generation der Nachgeborenen“ (Wibke Bruhns: Meines Vaters Land. Geschichte einer deutschen Familie. München 2004, S. 21). 16 Vgl. Sabine Bode: Kriegsenkel. Die Erben der vergessenen Generation. Stuttgart 2009, S. 20. 17 Der von Sabine Bode verwendete Terminus ‚Kriegsenkel‘ ist irreführend, denn während die Kriegskinder so genannt werden, weil sie ihre Kindheit oder einen Teil davon in Kriegszeiten zubringen mussten, trifft dieselbe Begriffslogik auf ‚Kriegsenkel‘ nicht zu. Besser ist es daher, von den ‚Kindern der Kriegskinder‘ zu sprechen, so etwa Anne-Ev Ustorf: Wir Kinder der Kriegskinder. Die Generation im Schatten des Zweiten Weltkriegs. Freiburg i. Br. 2008. 18 Einer Einschätzung Sabine Bodes zufolge sind „8 bis 10 Prozent der Menschen, die als Kinder Krieg und Vertreibung erlebten, [...] heute – im Alter – psychisch krank“ (Bode: Die vergessene Generation, S. 12). 19 Vgl. etwa Hartmut Radebold/Werner Bohleber/Jürgen Zinnecker (Hg.): Transgenerationale Weitergabe kriegsbelasteter Kindheiten. Interdisziplinäre Studien zur Nachhaltigkeit historischer Erfahrung über vier Generationen. Weinheim 2008, sowie Marianne Rauwald (Hg.): Vererbte Wunden. Transgenerationale Weitergabe traumatischer Erfahrungen. Weinheim 2013.

Von der Väterliteratur zur Enkelliteratur? | 7

Wie diese begrifflichen Nuancen zeigen, sind generationelle Zuordnungen nicht allein auf Grundlage von Geburtsjahrgängen vorzunehmen. Dies ist auch bei der Analyse von Generationenkonstellationen in der Enkelliteratur zu beachten. Hier bedarf es über die Rekonstruktion der Familienverhältnisse hinaus einer Interpretation figurenspezifischer Erfahrungsdispositionen und gegenseitiger Einflussnahmen.

1.3 Von der Väterliteratur zur Enkelliteratur? Der erste Versuch einer gattungstheoretischen Einordnung der ‚Enkelliteratur‘ stammt von Mila Ganeva.20 Anhand von Marcel Beyers Spionen und Tanja Dückers’ Himmelskörpern formuliert sie gattungseigene Merkmale, die sie vor allem von denen der Väterliteratur abhebt. Schon der Titel ihres Aufsatzes suggeriert eine historische Kontinuität zwischen beiden Gattungen und markiert zugleich einen generationellen und zeitgeschichtlichen Bruch: Zwar führe die ‚dritte Generation‘ die Auseinandersetzung mit den kriegsbelasteten Biografien der Zeitzeugen fort und verwende dabei ähnliche Erzählstrategien.21 Auch habe die emotionale Betroffenheit der nachgeborenen Erzählerinnen und Erzähler mit dem zunehmenden zeitlichen Abstand zum historischen Geschehen nicht nachgelassen. Während sie sich jedoch bei den Vertretern der ‚zweiten Generation‘

|| 20 Vgl. Mila Ganeva: From West-German Väterliteratur to Post-Wall Enkelliteratur: The End of the Generation Conflict in Marcel Beyer’s Spione and Tanja Dückers’s Himmelskörper. In: Seminar. A Journal of Germanic Studies 43 (2007) H. 2, S. 149–162. Ein Jahr zuvor taucht der Terminus ‚Enkelliteratur‘ bereits in einem Aufsatz von Hans-Heino Ewers und Caroline Gremmel auf, die ihn jedoch als Gattungsbegriff ablehnen, da er der Heterogenität der Texte, die darunter zu fassen wären, nicht gerecht zu werden vermöge, vgl. Hans-Heino Ewers/Caroline Gremmel: Auf Spurensuche in der Großelterngeneration. Deutsche Geschichte in der Literatur der dritten Generation. In: Erinnerungen an Kriegskindheiten. Erfahrungsräume, Erinnerungskultur und Geschichtspolitik unter sozial- und kulturwissenschaftlicher Perspektive. Hg. v. Hans-Heino Ewers, Jana Mikota, Jürgen Reulecke und Jürgen Zinnecker. Weinheim/München 2006. S. 125– 138, hier S. 126–127. In einem anderen Bedeutungskontext spricht davor bereits Andrea Köhler von einer „neue[n] deutsche[n] Enkelliteratur“ (Andrea Köhler: Generation Berlin. In: Neue Zürcher Zeitung, 16.10.1999, S. 65), und zwar polemisierend gegen Volker Hages Verkündung einer neuen deutschen Schriftstellergeneration, vgl. Volker Hage: Die Enkel kommen. In: Der Spiegel (1999) H. 41, S. 244–254. Bei beiden Literaturkritikern markiert die Verwandtschaftsbezeichnung ‚Enkel‘ nicht etwa den Abstand zur Zeit des Nationalsozialismus, sondern bezeichnet die dritte Schriftstellergeneration innerhalb der Geschichte der Bundesrepublik – eine erinnerungskulturelle Anbindung oder auch nur eine Verpflichtung der Enkelliteratur auf die Geschichtsthematik wird hier nicht vorgenommen. 21 Vgl. Ganeva: From West-German Väterliteratur to Post-Wall Enkelliteratur, S. 157.

8 | Einleitung

noch als Anklage artikuliert und eine konsequente Abwehrhaltung herbeigeführt habe, sei die Enkelliteratur frei von politischen Programmen und ideologischen Diskursen und strebe eine Versöhnung der Generationen an.22 Ganevas Verständnis der Enkelliteratur als literaturgeschichtliche Fortsetzung und genealogische Nachfolge der Väterliteratur erweist sich allerdings in mehrfacher Hinsicht als problematisch, und zwar vor allem aufgrund ihrer Definition der Väterliteratur. Im Gegensatz zu Ganevas relativ starrem Gattungsverständnis wird in der jüngeren Forschung auf die kaum zu systematisierende Vielfalt an Erzählformen, Handlungsmustern und moralischen Implikationen innerhalb der Gattung der Väterliteratur hingewiesen. Julian Reidy geht sogar so weit zu sagen, dass aufgrund der Heterogenität der ‚Väterbücher‘ streng genommen nicht einmal von einer Gattung gesprochen werden könne.23 Insbesondere das angeblich gemeinsame Thema der Väterliteratur – der Bruch zwischen zwei Generationen und die Abrechnung mit den Kriegsteilnehmern – erweise sich bei gründlicher Lektüre der kanonischen Texte als Trugschluss und literaturhistorisches Vorurteil.24 Aufgrund ihrer Bezugnahme auf eine vermeintlich homogene Väterliteratur kann Ganevas gattungshistorische Bestimmung der Enkelliteratur nicht überzeugen.25 Ihre Orientierung an der Väterliteratur ist aber auch aus zwei weiteren

|| 22 Vgl. Ganeva: From West-German Väterliteratur to Post-Wall Enkelliteratur, S. 158. 23 Vgl. Julian Reidy: Vergessen, was Eltern sind. Relektüre und literaturgeschichtliche Neusituierung der angeblichen Väterliteratur. Göttingen 2012, S. 341–342. 24 Zusätzlich erschwert wird eine Bestimmung der Enkelliteratur als Nachfolgeerscheinung der Väterliteratur durch zwei jüngere Forschungsbeiträge, die nicht mehr bloß Texte der Siebzigerund Achtzigerjahre zur Väterliteratur zählen, sondern eine Verlängerung der Gattungstradition bis in die Nullerjahre hinein vornehmen: Die Korpora von Dominika Borowicz: Vater-SpurenSuche. Auseinandersetzung mit der Vätergeneration in deutschsprachigen autobiographischen Texten von 1975 bis 2006. Göttingen 2013, und von Mathias Brandstädter: Folgeschäden. Kontext, narrative Strukturen und Verlaufsformen der Väterliteratur 1960 bis 2008. Bestimmung eines Genres. Würzburg 2010, umfassen Texte aus den jeweils im Untertitel genannten Zeiträumen. Von einer generationenspezifischen Auseinandersetzung mit der Geschichte des Nationalsozialismus innerhalb der Gattung kann hier keine Rede mehr sein – die von Brandstädter aufgelisteten Autorinnen und Autoren von insgesamt 85 Titeln (darunter auch Kurzgeschichten) sind zwischen 1900 und 1974 geboren. Auch den von Ganeva als Paradebeispiel der Enkelliteratur angeführte Roman Himmelskörper von Tanja Dückers zählt Brandstädter zur Väterliteratur. Eine Konzeption der Enkelliteratur als eigene Gattung wäre damit nicht mehr durchführbar. 25 Damit steht Ganeva keineswegs allein da: Die typischen ‚Folgefehler‘, die sich durch ‚blinde‘ literaturgeschichtliche Rückverweise auf die Väterliteratur in die Forschung einschleichen, hat Reidy im Zusammenhang seiner Analysen zeitgenössischer Generationenromane zusammengetragen, vgl. Julian Reidy: Rekonstruktion und Entheroisierung. Paradigmen des ‚Generationenromans‘ in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Bielefeld 2013, Kap. 2.2, passim.

Von der Väterliteratur zur Enkelliteratur? | 9

Gründen problematisch: Erstens handelt es sich bei der Väterliteratur (in ihrer klassischen literaturgeschichtlichen Verortung in den Sechziger- und Siebzigerjahren) um eine rein westdeutsche Gattung – mit Ganevas Kontinuitätsbehauptung wird daher auch die Enkelliteratur auf westdeutsche Autorinnen und Autoren bzw. auf westdeutsche Familiengeschichten begrenzt.26 Und zweitens impliziert die geschlechtliche Einengung im Begriff ‚Väterliteratur‘ eine Einschränkung auf Tätergeschichten – freilich unter der Annahme, dass nationalsozialistische Verbrechen und Grausamkeiten im Krieg hauptsächlich von Männern begangen wurden. Die Autorinnen und Autoren der Enkelliteratur sind aber mitnichten allesamt „Täter-Enkel“27. Insofern ist der Gattungsbegriff ‚Enkelliteratur‘ glücklich gewählt, da er – etwa im Gegensatz zur möglichen Alternativbezeichnung ‚Großväterliteratur‘ – offenlässt, ob der männliche oder weibliche Teil der Großeltern in den Blick gerät. Und diese Offenheit ist nicht nur vor dem Hintergrund weiblicher Täterschaften geboten, sondern vor allem deshalb, weil innerhalb der Gattung auch die Geschichten der Opfer und ihrer Familien erzählt und somit auch die historischen Erfahrungen von Frauen und Kindern verarbeitet werden.28 Davon abgesehen signalisiert der Gattungsbegriff eine tendenzielle Verlagerung des Fokus von der älteren auf die jüngere Generation: „Impliziert der Begriff ‚Väterliteratur‘ stärker den Blick in die Vergangenheit, so wird mit der Zuschreibung ‚Enkelliteratur‘ vielmehr der Erzähler, also der ‚Enkel‘ selbst, zum Objekt der Betrachtung.“29

|| 26 Vgl. Ganeva: From West-German Väterliteratur to Post-Wall Enkelliteratur, S. 153, wobei sie allerdings Olaf Müller fälschlicherweise eine westdeutsche Biografie zuschreibt. 27 Ewers/Gremmel: Auf Spurensuche in der Großelterngeneration, S. 126. 28 Die Subsumtion von Enkelerzählungen über Täter und Opfer unter denselben Gattungsbegriff setzt voraus, dass die geschichtlichen Themen sekundär bleiben und stattdessen narratologische Merkmale als gattungsbestimmend ausgewiesen werden. Hierbei ist entscheidend, dass die Enkel der Täter und der Opfer durchaus vergleichbare Probleme zu bewältigen haben: Beide erleiden den Verlust ihrer Großeltern und bleiben mit Fragen zurück, auf die auch die ‚zweite Generation‘ keine oder nur unzureichende Antworten hat. Bei der wachsenden Spannung zwischen Nichtwissen und Recherchearbeit ist es dann sowohl in erzähllogischer wie auch in emotionaler Hinsicht nur noch zweitrangig, ob die Großeltern Täter, Mitläufer oder Opfer waren. 29 Wagner: Distanziert, nüchtern, unbefangen? S. 58–59. Wagner macht allerdings auch darauf aufmerksam, dass diese Gegenüberstellung für die Väterliteratur etwas zu pauschal ausfällt – und verweist damit auf die Heterogenität dieser früheren Gattung.

10 | Einleitung

1.4 Textkorpus Literaturwissenschaftliche Arbeiten über Erinnerungsliteratur neigen dazu, sich in den Analysen und Interpretationen auf eine Auswahl kanonischer Texte zu beschränken. Dies hat nicht nur den Vorteil, dass häufig an bereits vorliegende Forschungsarbeiten angeknüpft werden kann, sondern vor allem kann die Kenntnis der Primärliteratur beim Fachpublikum und anderen interessierten Leserinnen und Lesern vorausgesetzt werden. Solche pragmatischen Auswahlkriterien erweisen sich jedoch als verhängnisvoll, wenn – in kulturwissenschaftlicher Manier – eine Brücke von der Text- zur Gesellschaftsanalyse geschlagen werden soll. Denn zwar mögen die meisten als kanonisch wahrgenommenen Texte höhere Auflagen erzielen und folglich eine größere Breitenwirkung entfalten, jedoch ist von diesem Befund keineswegs unmittelbar auf ein besonders großes erinnerungskulturelles Funktionspotenzial zu schließen. Vielmehr nehmen oftmals gerade die wirtschaftlich erfolgreichen Erinnerungstexte eine affirmative Haltung zu bereits bestehenden Erinnerungskonzepten ein und erweisen sich daher in Hinblick auf erinnerungskulturelle Dynamisierungsprozesse als vergleichsweise harmlos. Das Innovationspotenzial von Erinnerungsliteratur lässt sich hingegen oftmals besser an jenen Texten studieren, die sich den üblichen Erwartungen an ihre Gattung entziehen und sich – nicht zuletzt aus diesem Grund – nur als literarische Randerscheinungen bemerkbar machen. Daher wurden für die vorliegende Arbeit so viele Primärtexte wie möglich gesichtet, auf ihre Zugehörigkeit zur Enkelliteratur geprüft und unabhängig von Bekanntheitsgrad und künstlerischer Qualität in das Textkorpus aufgenommen. Zwar können die insgesamt 17 zusammengetragenen Titel nicht allesamt im Analyseteil wiederaufgegriffen werden, jedoch sind sie im Ganzen in die narratologische und gattungstypologische Theoriebildung eingegangen. Zugleich versteht sich deren nachfolgende Aufzählung als vorläufiger Gattungsüberblick, wobei als Beginn des Untersuchungszeitraums bewusst 2003 – das Erscheinungsjahr von Dückers’ Himmelskörpern – gewählt wurde. Indem diesem vermeintlichen Prototyp eine Reihe mehr oder weniger bekannter Nachfolger an die Seite gestellt werden, soll die Enkelliteratur als literaturwissenschaftlicher Gegenstand bewusstgemacht und gattungsgeschichtlich etabliert werden.30

|| 30 Zu einer möglichen Erweiterung des Gattungskorpus über den deutschsprachigen Bereich hinaus vgl. Kapitel 6.2. Dort werden auch noch einmal abschließend die Kriterien der Gattungszugehörigkeit reflektiert und anhand exemplarischer Kurzanalysen ‚aussortierter‘ Texte verdeutlicht.

Textkorpus | 11

Autorin/Autor

Titel/Untertitel/Gattungsbezeichnung

2003

Tanja Dückers

Himmelskörper. Roman

1968

2005

Eleonora Hummel

Die Fische von Berlin. Roman

1970

2007

Bastienne Voss

Drei Irre unterm Flachdach. Eine Familiengeschichte

1968

Johanna Adorján

Eine exklusive Liebe

1971

Maxim Leo

Haltet euer Herz bereit. Eine ostdeutsche Familiengeschichte

1970

Sabrina Janesch

Katzenberge. Roman

1985

Kolja Mensing

Die Legenden der Väter. Eine Suche

1971

Maja Haderlap

Engel des Vergessens. Roman

1961

Annette Pehnt

Chronik der Nähe. Roman

1967

Jennifer Teege

Amon. Mein Großvater hätte mich erschossen

1970

Channah Trzebiner

Die Enkelin oder Wie ich zu Pessach die vier Fragen nicht wusste

1981

Beate Schaefer

Weiße Nelken für Elise. Die Liebe meiner Großeltern zwischen Wehrmachtsbordell und KZ

1961

Per Leo

Flut und Boden. Roman einer Familie

1972

Sabine Rennefanz

Die Mutter meiner Mutter

1974

Matthias Nawrat

Die vielen Tode unseres Opas Jurek. Roman

1979

Sacha Batthyany

Und was hat das mit mir zu tun? Ein Verbrechen im März 1945. Die Geschichte meiner Familie

1973

Naomi Schenck

Mein Großvater stand vorm Fenster und trank Tee Nr. 12

1970

2009

2010

Geburtsjahr

2011

2012

2013

2014

2015

2016

In dieser Liste stehen einerseits Romane gleichberechtigt neben autobiografischen bzw. familienbiografischen Büchern und andererseits Geschichten von Tätern neben denen von Opfern. Zudem weisen die Autorinnen und Autoren einen

12 | Einleitung

teilweise deutlichen Altersunterschied auf.31 Dieser augenscheinlichen Heterogenität zum Trotz können die Texte – in funktionaler Hinsicht – einer gemeinsamen Gattung zugeordnet werden. Denn sowohl bei fiktionalen als auch bei nichtfiktionalen Texten und ungeachtet der Differenzen zwischen Täterdiskursen und Opfernarrativen werden die in der Enkelliteratur vermittelten historischen Inhalte auf ähnliche Weise kognitiv verarbeitet und im Gedächtnis der Leserinnen und Leser verankert und können folglich unter ähnlichen Voraussetzungen erinnert und für die Deutung und Gestaltung gegenwärtiger Lebenswirklichkeiten herangezogen werden. Der Anspruch der vorliegenden Arbeit besteht darin, das gemeinsame erinnerungskulturelle Wirkungspotenzial der Gattung herauszuarbeiten und aus einer kognitionswissenschaftlichen Perspektive zu begründen. Demnach kann ein Text nicht bereits dann zur Enkelliteratur gezählt werden, wenn er aus der Enkelperspektive über Nationalsozialismus, Holocaust, Krieg oder Vertreibung spricht. Über diese formale und inhaltliche Bestimmung hinaus muss die narrative Vermittlung eine Anknüpfung an den Erfahrungshintergrund gegenwärtiger Leserinnen und Leser ermöglichen und dabei emotionale Aneignungsprozesse fördern. In welchem theoretischen und methodischen Rahmen eine solche literaturwissenschaftliche Gattungsforschung erfolgen kann, wird im folgenden Kapitel skizziert.

1.5 Theorien und Methoden der Kognitiven Literaturwissenschaft Die Kognitive Literaturwissenschaft geht literaturwissenschaftlichen Fragestellungen unter Verwendung kognitionswissenschaftlicher Theorien und Methoden nach.32 Diese stammen aus unterschiedlichen Disziplinen, etwa der Psychologie, den Neurowissenschaften, der Evolutionsbiologie, der Anthropologie, der Kognitiven Linguistik und der empirischen Sprachverstehensforschung. Die innerhalb dieses interdisziplinären Feldes operierende Kognitive Literaturwissenschaft verpflichtet sich somit weder einer übergreifenden Theorie noch einer bevorzugten

|| 31 Die Angabe des Geburtsjahrs dient in dieser Übersicht lediglich der Orientierung, möge aber darüber hinaus auch einen Eindruck davon vermitteln, welches Altersspektrum die ‚dritte Generation‘ umfasst. 32 Zum gängigen Theorierepertoire und Methodenverständnis der Kognitiven Literaturwissenschaft vgl. Sophia Wege: Wahrnehmung – Wiederholung – Vertikalität. Zur Theorie und Praxis der Kognitiven Literaturwissenschaft. Bielefeld 2013.

Theorien und Methoden der Kognitiven Literaturwissenschaft | 13

Methode.33 Die Herausforderung besteht vielmehr darin, sich mit den verschiedenen Theorien und Methoden der kognitionswissenschaftlichen Disziplinen vertraut zu machen und deren Applikationsmöglichkeiten auszuloten. Diese – geisteswissenschaftliches Terrain überschreitende – Erweiterung des Fachs lässt manch einen befürchten, die Literaturwissenschaft verliere ihren originären Gegenstand aus dem Blick und mache sich selbst obsolet. Dem ist entgegenzuhalten, dass auch die Kognitive Literaturwissenschaft nach wie vor fachspezifische Erkenntnisinteressen verfolgt, die sich von denen anderer kognitionswissenschaftlicher Disziplinen grundlegend unterscheiden. Dabei wird allerdings auch erwartet, nicht lediglich von naturwissenschaftlichen Geltungsansprüchen profitieren zu wollen, sondern gleichzeitig literaturwissenschaftlich innovativ zu sein34 – und zwar in einem Maß, das mit herkömmlichen literaturwissenschaftlichen Mitteln nicht zu erreichen wäre.35 Für die vorliegende Arbeit ist diese Bedingung erfüllt, da die erinnerungskulturellen Wirkungspotenziale der Enkelliteratur in der angestrebten Differenziertheit und Verlässlichkeit nur unter Rückgriff auf kognitionswissenschaftliche Theorien und Methoden adäquat ermittelt werden können. Indes ist der vermeintlich damit einhergehende erhöhte Geltungsanspruch durchaus prekär, denn da sich die Kognitionswissenschaften ständig weiterentwickeln, müssen immer wieder Grundannahmen revidiert und Forschungsergebnisse korrigiert werden.36 Die Kognitive Literaturwissenschaft befindet sich daher in einem fortwährenden Prozess und erfordert eine || 33 Vgl. Rüdiger Zymner: Körper, Geist und Literatur. Perspektiven der ‚Kognitiven Literaturwissenschaft‘ – eine kritische Bestandsaufnahme. In: Literatur und Kognition. Bestandsaufnahmen und Perspektiven eines Arbeitsfeldes. Hg. v. Martin Huber und Simone Winko. Paderborn 2009. S. 135–154, hier S. 135. 34 So die Forderung von Yvonne Wübben: Lesen als Mentalisieren? Neue kognitionswissenschaftliche Ansätze in der Leseforschung. In: Literatur und Kognition. Bestandsaufnahmen und Perspektiven eines Arbeitsfeldes. Hg. v. Martin Huber und Simone Winko. Paderborn 2009. S. 29–44, hier S. 41. Ähnlich warnt Marcus Hartner: „Das Hereinholen von naturwissenschaftlichen Theorien und Erkenntnissen in die Literaturanalyse muss komplementär erfolgen. Die cognitive literary studies dürfen weder ihre genuin literaturwissenschaftliche Verwurzelung und Methodik vergessen noch den Versuch unternehmen, mittels Pseudo-Empirie nach naturwissenschaftlicher Dignität zu streben.“ (Marcus Hartner: Perspektivische Interaktion im Roman. Kognition, Rezeption, Interpretation. Berlin/Boston 2012, S. 44–45.) 35 Vgl. Julia Mansour: Chancen und Grenzen des Transfers kognitionspsychologischer Annahmen und Konzepte in die Literaturwissenschaft – das Beispiel der Theory of Mind. In: Literatur und Kognition. Bestandsaufnahmen und Perspektiven eines Arbeitsfeldes. Hg. v. Martin Huber und Simone Winko. Paderborn 2009. S. 155–163, hier S. 156. 36 Die meisten Vertreterinnen und Vertreter der Kognitiven Literaturwissenschaft sind sich dessen vollends bewusst, lassen sich aber nicht entmutigen: „Every single one of my speculations resulting from applying research in cognitive psychology to our appetite for fiction could be

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stets aktuelle Auseinandersetzung mit den Entwicklungen im interdisziplinären Feld. Dort hat in den vergangenen zwanzig Jahren eine so tiefgreifende Umwälzung stattgefunden, dass emphatisch vom Beginn einer ‚zweiten Generation‘ innerhalb der Kognitionswissenschaften gesprochen wird.37 Dieser Generationswechsel wird inzwischen zunehmend in der Literaturwissenschaft zur Kenntnis genommen und auf seine Relevanz für facheigene Fragestellungen geprüft.38 Vor allem in Bezug auf den literaturwissenschaftlichen Experientialitätsbegriff sieht sich auch die vorliegende Arbeit ausdrücklich dieser ‚zweiten kognitionswissenschaftlichen Generation‘ verpflichtet – worin genau hierbei die Innovation besteht, wird durch die forschungsgeschichtlich ausgerichtete Gegenüberstellung von Kapitel 2.1 und 2.2 aufgezeigt. Zur methodischen und begrifflichen Orientierung enthalten die nachfolgenden Unterkapitel allgemeine Anmerkungen zur narratologischen, empirischen und pragmatischen Ausrichtung der Kognitiven Literaturwissenschaft. Damit werden zugleich die wichtigsten Prämissen für die darauffolgende Theoriebildung sowie für die Textanalysen angezeigt.

1.5.1 Kognitive Narratologie Die textbasierte strukturalistische Narratologie wurde inzwischen weitgehend von postklassischen narratologischen Ansätzen abgelöst, die sich zunehmend für rezipientenseitige Wirkungs- und außerliterarische Funktionspotenziale interessieren – dazu gehört auch die Kognitive Narratologie. Während strukturalistische Erzähltheorien tendenziell davon ausgehen, dass textuellen Formen eindeutig bestimmte Funktionen zugeordnet werden können, liegt der Kognitiven

|| wrong, but the questions that prompted those speculations are empathically worth asking.“ (Lisa Zunshine: Why We Read Fiction. Theory of Mind and the Novel. Columbus 2006, S. 6.) Ähnlich äußert sich Peter Stockwell, indem er die Cognitive Poetics charakterisiert als „always being open to falsifiability and a better explanation“ (Peter Stockwell: Cognitive Poetics. An Introduction. London [u. a.] 2002, S. 59). Auch der Schriftsteller Raoul Schrott und der Psychologe Arthur Jacobs rechnen mit der baldigen Korrekturbedürftigkeit ihrer interdisziplinären Arbeit – oder positiv formuliert: „Unsere Darlegungen bieten […] ein Grundgerüst an, das so solide ist, wie es die Zeit erlaubt.“ (Raoul Schrott/Arthur Jacobs: Gehirn und Gedicht. Wie wir unsere Wirklichkeit konstruieren. München 2011, S. 11.) 37 Vgl. George Lakoff/Mark Johnson: Philosophy in the Flesh. The Embodied Mind and its Challenge to Western Thought. New York 1999, S. 75–78. 38 Vgl. Karin Kukkonen/Marco Caracciolo: Introduction: What is the „Second Generation“? In: Style 48 (2014) H. 3, S. 261–274, hier S. 262.

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Narratologie die Annahme zugrunde, dass gleiche Formen verschiedene Funktionen und verschiedene Formen gleiche Funktionen erfüllen können.39 Daher stelle die Textebene keine ausreichende Grundlage für die Analyse und Interpretation dar, sondern es seien stets möglichst weitreichende Kenntnisse über den Rezeptionskontext und die während der Lektüre ablaufenden kognitiven Prozesse beizusteuern.40 Da sich die formalen Eigenschaften einer Erzählung nach wie vor mittels traditioneller Termini erfassen und analysieren lassen, geht der cognitive turn in der Narratologie nicht zwangsläufig mit einer Verabschiedung der klassischen Kategorien und Konzepte einher, denn „reconsidered from a cognitive-narratological perspective, earlier narratological scholarship can be read anew, providing further insight into the cognitive processes underlying the (re)constructions of narrative worlds“41. Eine besondere methodische Herausforderung bildet hierbei die aus kognitionswissenschaftlicher Sicht unhintergehbare „on-line assumption“42, nämlich die Annahme, dass die Verarbeitung und Interpretation des Gelesenen nicht ex post erfolgt, sondern bereits während des Lektüreprozesses.43 Da sich somit die Textbedeutung während der Lektüre permanent verschiebt, sind die Analysen hier wesentlich aufwendiger als bei textimmanenten Ansätzen.

|| 39 Vgl. bereits Meir Sternbergs ‚Proteus-Prinzip‘: „in different contexts [...] the same form may fulfill different functions and different forms the same function“ (Meir Sternberg: Proteus in Quotation-Land. Mimesis and the Forms of Reported Discourse. In: Poetics Today 3 [1982] H. 2, S. 107–156, hier S. 148). 40 Vgl. David Herman: Cognitive Narratology. In: Handbook of Narratology. Hg. v. Peter Hühn, John Pier, Wolf Schmid und Jörg Schönert. Berlin/New York 2009. S. 30–43, hier S. 31. 41 Herman: Cognitive Narratology, S. 37. Ähnlich äußert sich Peter Stockwell: „[T]aking ‚the cognitive turn‘ seriously means […] a thorough re-evaluation of all of the categories with which we understand literary reading and analysis. In doing this, however, we do not have to throw away all of the insights from literary criticism and linguistic analysis that have been drawn out in the past. Many of those patterns of understanding form very useful starting points for cognitive poetic investigation.“ (Stockwell: Cognitive Poetics, S. 6.) So konzipiert etwa Monika Fludernik ihren kognitionsnarratologischen Ansatz als eine Weiterentwicklung der Erzähltheorie Franz K. Stanzels und betont darüber hinaus die anhaltende Nützlichkeit der von Gérard Genette und anderen entwickelten strukturalistischen Ansätze, vgl. Monika Fludernik: Towards a ‚Natural‘ Narratology. London/New York 1996, S. 330. 42 Teun A. van Dijk/Walter Kintsch: Strategies of Discourse Comprehension. New York 1983, S. 5. 43 In diesem Sinne betreibt die Kognitive Narratologie eine Phänomenologie des Lesens und steht somit in der Nachfolge der Rezeptionsästhetik der Siebzigerjahre, vgl. Fotis Jannidis: Figur und Person. Beitrag zu einer historischen Narratologie. Berlin/New York 2004, S. 178.

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Die theoretische Ergiebigkeit der Kognitiven Narratologie zwingt daher – insbesondere bei Langtexten – jeweils zu einer konkreten Bestimmung von Erkenntnisinteressen und zu einer bewussten Beschränkung des Analyseumfangs. In der vorliegenden Arbeit richtet sich dieser Fokus durchweg auf die narrativen Möglichkeiten der Evokation von Experientialität. Dieser Begriff findet Anwendung in Bezug auf erfahrungsbasierte Medienrezeption und impliziert die Annahme, dass bei der kognitiven und emotionalen Verarbeitung medial vermittelter Wirklichkeitsvorstellungen ähnliche Prozesse ablaufen wie bei der unmittelbaren Wahrnehmung erlebter Wirklichkeit. In Kapitel 2 werden die theoretischen Implikationen und literaturwissenschaftlichen Anwendungsmöglichkeiten dieses Konzepts aufgezeigt und daran anknüpfende erinnerungskulturelle Wirkungspotenziale abgewogen. Die der Experientialitätstheorie zugrundeliegende Annahme einer im Wesentlichen gleichartigen kognitiven Verarbeitung realer Umwelten und fiktionaler (sowie nichtfiktionaler) Texte basiert auf der – in Kapitel 3 ausgeführten – Theorie mentaler Modellbildung. Diese besagt, dass beim Lesen meistens nicht bloß der propositionale Gehalt des Textes verarbeitet, sondern auch der vom Text bezeichnete situative Kontext mental simuliert wird – und zwar unter Verwendung der beim Erleben real wahrnehmbarer Umwelten eingeübten kognitiven Mechanismen. Dieser bis in die Achtzigerjahre zurückreichende Zweig der Sprachverstehensforschung fußt größtenteils auf Methoden der experimentellen Psychologie. Somit erfährt eine auf die dort erzielten Forschungsergebnisse rekurrierende Literaturwissenschaft zwangsläufig eine empirische Ausrichtung.

1.5.2 Empirische Literaturwissenschaft Gerard Steen unterscheidet drei Generationen innerhalb der Empirischen Literaturwissenschaft.44 Die Anfänge sind in Deutschland zu verorten, und zwar in zwei deutlich voneinander abzugrenzenden Strömungen: Als Siegener Schule bezeichnet man den Ansatz der Gruppe um Siegfried J. Schmidt, die sich innerhalb des philosophischen Rahmens des sogenannten Radikalen Konstruktivismus bewegte. Die als Heidelberger Schule bezeichnete Gruppe um Norbert Groeben hingegen war vorwiegend psychologisch und kognitionswissenschaftlich ausgerichtet. Durch Impulse aus Kanada und den USA verlor die empirische Forschung im

|| 44 Vgl. im Folgenden Gerard Steen: A Historical View of Empirical Poetics: Trends and Possibilities. In: Empirical Studies of the Arts 21 (2003) H. 1, S. 51–67.

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deutschsprachigen Raum jedoch rasch an Bedeutung – Steen datiert diesen ersten Generationswechsel auf 1998, als sich auf der sechsten IGEL-Konferenz45 in Utrecht eine grundlegende Erneuerung der Erkenntnisinteressen und Forschungsmethoden abzeichnete: „The priority of epistemological and theoretical questions that had characterized the beginning of empirical poetics was openly questioned by the day-to-day practitioners of psychology and sociology from especially North America.“46 Hierbei schien sich ein Graben nicht nur zwischen den Kontinenten, sondern auch zwischen den originären Fachdisziplinen der beteiligten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aufzutun – auf der einen Seite standen Literaturwissenschaftler mit psychologischen und sozialwissenschaftlichen Interessen, auf der anderen Psychologen und Sozialwissenschaftler mit literaturwissenschaftlichen Interessen.47 In Steens theoriegeschichtlicher Skizze wird diese Entzweiung durch eine dritte Generation abgefedert, deren Vertreter zu einem großen Teil aus den Niederlanden stammen und gleichermaßen mit literaturwissenschaftlichen wie mit sozial- und naturwissenschaftlichen Fragestellungen und Methoden vertraut sind.48 Dieses interdisziplinäre Forschungsfeld bietet zunehmend Anknüpfungspunkte für originär literaturwissenschaftliche Fragestellungen und erzeugt dadurch einen gewissen „Empirisierungsdruck“49. Indes fordert die Empirische

|| 45 Das Akronym bezeichnet die 1987 gegründete Internationale Gesellschaft für Empirische Literaturwissenschaft. Deren Konferenzen finden im Zweijahresrhythmus statt. 46 Steen: A Historical View of Empirical Poetics, S. 54. 47 Vgl. Steen: A Historical View of Empirical Poetics, S. 55. 48 Hervorzuheben ist hier vor allem die Zusammenarbeit der Literaturwissenschaftlerin Marisa Bortolussi mit dem Kognitionspsychologen Peter Dixon, die gängige Begriffe, Konzepte und Kategorien der klassischen Narratologie mit Forschungsergebnissen der Psycholinguistik und der experimentellen Psychologie verknüpft und systematisch zugänglich gemacht haben, vgl. Marisa Bortolussi/Peter Dixon: Psychonarratology. Foundations for the Empirical Study of Literary Response. Cambridge/New York 2003. 49 Norbert Groeben: Empirisierung (in) der Literaturwissenschaft: wissenschaftsinterne und -externe Dynamiken. In: SPIEL 30 (2011) H. 1, S. 151–158, hier S. 151, passim. David Miall sieht bereits eine ‚empirische Wende‘ in den Literaturwissenschaften eingeleitet: „[E]mpirical study will come to dominate the literary field by providing a matrix for evaluating theoretical proposals and for rethinking the nature of literary reading and its cultural place. It is destined to play this role in literary studies, just as over the last two centuries the sciences have emancipated themselves from theological control or superstition by subjecting themselves to validation by empirical methods. As astrology was replaced by astronomy, or alchemy by chemistry, or as evolutionary theory has replaced creationism […], our understanding of literary reading will be recast in the light of evidence gathered from real readers.“ (David Miall: Literary Reading. Empirical and Theoretical Studies. New York 2006, S. 12.) Zwar sind Mialls Erwartungen gewiss zu hoch gegriffen, jedoch werden empirische Ansätze in der Tat wieder ausgiebig diskutiert, vgl. hierzu

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Literaturwissenschaft nicht zwangsläufig die Durchführung eigener empirischer Forschung, denn ‚indirekt empirisch‘50 arbeiten Literaturwissenschaftlerinnen und Literaturwissenschaftler auch dann, wenn sie lediglich Schlüsse aus den bereits vorliegenden Ergebnissen der kognitionswissenschaftlichen Partnerdisziplinen ziehen. Insbesondere in Kapitel 2 und 3 kommt dieses Verfahren häufiger zur Anwendung. Daher sollen vorweg einige grundlegende methodische und epistemologische Schwierigkeiten benannt werden: Zunächst ist festzuhalten, dass die empirische Sprachverstehensforschung in der Regel nicht mit literarischen Texten arbeitet. Gleichwohl kann die Literaturwissenschaft von deren Erkenntnissen profitieren, denn nachweislich basiert die Lektüre literarischer und nichtliterarischer (sowie fiktionaler und nichtfiktionaler) Texte im Wesentlichen auf denselben kognitiven Prozessen.51 Als problematisch erweist sich allerdings, dass bei den Experimenten fast ausschließlich mit sehr kurzen Texten (wenn nicht sogar nur auf der Wort- und Satzebene) gearbeitet wird. Die dabei ermittelten Daten lassen sich aber nicht ohne Weiteres auf Langtexte übertragen – was

|| im deutschsprachigen Raum Philip Ajouri/Katja Mellmann/Christoph Rauen (Hg.): Empirie in der Literaturwissenschaft. Münster 2013. Auch in forschungspragmatischer Hinsicht steht einer ‚empirischen Wende‘ nichts im Weg – ein ambitioniertes Lehrbuch über theoretische Grundlagen, Methoden, Durchführung und Präsentation empirischer Forschung in den Geisteswissenschaften wurde vorgelegt von Willie van Peer/Frank Hakemulder/Sonia Zyngier: Scientific Methods for the Humanities. Amsterdam/Philadelphia 2012. Vgl. auch den mehrfach aktualisierten Band von Nicola Döring/Jürgen Bortz (Hg.): Forschungsmethoden und Evaluation in den Sozialund Humanwissenschaften. 5. Aufl. Berlin/Heidelberg 2016, sowie den darauf Bezug nehmenden Aufsatz von Norbert Groeben: Was kann/soll ‚Empirisierung (in) der Literaturwissenschaft‘ heißen? In: Empirie in der Literaturwissenschaft. Hg. v. Philip Ajouri, Katja Mellmann und Christoph Rauen. Münster 2013. S. 47–74. 50 Zur Charakterisierung der cognitive poetics als „indirectly empirical“ vgl. Jeroen Vandaele/Geert Brône: Cognitive Poetics. A Critical Introduction. In: Cognitive Poetics. Goals, Gains and Gaps. Hg. v. dens. Berlin [u. a.] 2009. S. 1–29, hier S. 7. 51 Vgl. etwa Ursula Christmann/Margit Schreier: Kognitionspsychologie der Textverarbeitung und Konsequenzen für die Bedeutungskonstitution literarischer Texte. In: Regeln der Bedeutung. Zur Theorie der Bedeutung literarischer Texte. Hg. v. Fotis Jannidis, Gerhard Lauer, Matías Martínez und Simone Winko. Berlin/New York 2003. S. 246–285, hier S. 246. In Bezug auf die analoge Verarbeitung von Fiktion und Nichtfiktion vgl. etwa Richard J. Gerrig: Experiencing Narrative Worlds. On the Psychological Activities of Reading. New Haven/London 1993, S. 197, und Uri Margolin: Cognitive Science, the Thinking Mind, and Literary Narrative. In: Narrative Theory and the Cognitive Sciences. Hg. v. David Herman. Stanford (CA) 2003. S. 271–294, S. 281, sowie speziell in Bezug auf emotionale Reaktionen Katja Mellmann: Emotionalisierung – Von der Nebenstundenpoesie zum Buch als Freund. Eine emotionspsychologische Analyse der Literatur der Aufklärungsepoche. Paderborn 2006, S. 62.

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in Hinblick auf die literaturwissenschaftliche Verwertung eine signifikante Einschränkung darstellt. Ein anderes Problem betrifft die Aussagekraft von Messergebnissen. Zwar können die Experimentatoren messen, wie Rezipienten einen bestimmten Text kognitiv und emotional verarbeiten, jedoch kann daraus nicht uneingeschränkt geschlussfolgert werden, dass dieselben Sprachverarbeitungsprozesse auch außerhalb der Laborsituation ablaufen. Denn das Bewusstsein des Probanden, sich in einem Experiment zu befinden, beeinflusst die kognitiven Prozesse beim Lesen und führt zu Messergebnissen, die sich nur noch bedingt auf die Lektüre in Alltagskontexten übertragen lassen.52 Drittens schließlich können die Ergebnisse quantitativer Erhebungen nur begrenzt verallgemeinert werden. Von den an einer Probandengruppe ermittelten Durchschnittswerten wird zwar auf das Leseverhalten sämtlicher potenzieller Leser (ggf. einer bestimmten Altersgruppe, eines Geschlechts etc.) geschlossen. Genaugenommen ermitteln die experimentelle Psychologie und die empirische Psycholinguistik hierbei jedoch lediglich Wahrscheinlichkeiten. Die empirische

|| 52 Diese methodischen Schwierigkeiten der experimentalpsychologischen Forschung sind seit Langem bekannt. Ihnen widmet sich ein Sammelband zum ‚natürlichen Textverstehen‘ (natural text comprehension), dessen Herausgeber sich gegen die Verwendung kurzer (und eigens konstruierter) Texte aussprechen und auf die Einflussnahme der Laborsituation aufmerksam machen – das Natürlichkeitsattribut hat hier eine doppelte Bedeutung: „The notion of naturalistic text comprehension is systematically ambiguous – it refers to both the comprehension of naturalistic texts and the naturalistic comprehension of texts.“ (Herre van Oostendorp/Rolf A. Zwaan: Introduction: Naturalistic Texts and Naturalistic Tasks. In: Naturalistic Text Comprehension. Hg. v. dens. Norwood [NJ] 1994. S. 1–8, hier S. 1–2.) Eine zeitlich verlängerte Beobachtung in ‚lebensnahen‘ Kontexten ist allerdings kostspielig (und gegebenenfalls auch rechtlich problematisch) – dieses Dilemma gehört zur Methodenreflexion empirischer Sozialwissenschaft: „Die angemessene empirische Forschung der bedeutungsrelevanten Kontexte der Sprachverwendung steht […] vor der bias, entweder ungeheuer aufwendige Designs zu entwickeln oder Validitätseinschränkungen ihrer Ergebnisse in Kauf nehmen zu müssen.“ (Reinhold Viehoff: Literarisches Verstehen. Neuere Ansätze und Ergebnisse empirischer Forschung. http://www.iasl.unimuenchen.de/register/viehoffa.htm [18.09.2014].) Wie aufwendig sich die Beobachtung außerhalb von Laboren gestaltet, zeigt eine Langzeitstudie von Martin Sexl: Über Jahre hinweg hat sich Sexl regelmäßig mit sechs Krankenpflegerinnen getroffen, mit denen er literarische Langtexte im Zusammenhang mit deren Berufserfahrung diskutierte, vgl. Martin Sexl: Lesend die Welt erfahren. In: Erfahrung – Erfahrungen. Hg. v. Johannes Bilstein und Helga Peskoller. Wiesbaden 2013. S. 159–180.

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Literaturwissenschaft hat es daher stets mit einem ‚probabilistischen‘53 oder ‚statistischen Leser‘54 zu tun – in der vorliegenden Arbeit rekurrieren alle verallgemeinernden Aussagen über Leserreaktionen und kognitive Rezeptionsprozesse auf dieses Leserkonzept. Der damit einhergehende epistemologische Anspruch beruht auf der Feststellung, dass Lektüre zwar prinzipiell individuell, aber niemals willkürlich ist.

1.5.3 Pragmatische Literaturwissenschaft Die pragmatische55 Literaturwissenschaft untersucht die Produktion und Rezeption von Literatur in Hinblick auf ihre kommunikativen Funktionen innerhalb konkreter sozialer und kultureller Kontexte. Literatur steht somit gleichberechtigt und funktionsäquivalent neben einer Reihe anderer gesellschaftlicher Praktiken: Im Gegensatz zu nahezu allen dominanten literaturtheoretischen Strömungen des 20. Jahrhunderts – vom New Criticism bis zum Poststrukturalismus –, deren Gemeinsamkeit darin besteht, dass sie die Prämisse von der Inkommensurabilität von Literatur und Leben teilen, betont der Pragmatismus [...] die Kontinuität von Literatur und Leben. [...] In der Auseinandersetzung mit Literatur entstehen neue Erfahrungen, die jedoch nicht von anderen, alltäglichen Lebensbereichen getrennt sind, sondern gerade mit diesen kontinuierlich verlaufen [...].56

|| 53 Marcus Willand: Lesermodelle und Lesertheorien. Historische und systematische Perspektiven. Berlin/Boston 2014, S. 68. 54 Vgl. Peter Dixon/Marisa Bortolussi/Leslie C. Twilley/Alice Leung: Literary Processing and Interpretation: Towards Empirical Foundations. In: Poetics 22 (1993) H. 1, S. 5–33, hier S. 10. 55 In Abgrenzung zur Syntax und Semantik bezeichnet man mit ‚Pragmatik‘ eine dritte Ebene der Sprachverarbeitung, auf der vor allem Wissen über die Kommunikationsteilnehmer verhandelt wird: „The term pragmatics is usually taken to refer to information about the communicative situation, the temporal position of the utterance in the communication, and various types of information about the speaker, e.g., his intentions, beliefs, and knowledge of and attitude toward the listener.“ (Janice M. Keenan/Brian MacWhinney/Deborah Mayhew: Pragmatics in Memory. A Study of Natural Conversation. In: Journal of Verbal Learning and Verbal Behavior 16 [1977] H. 5, S. 549–560, hier S. 550.) 56 Michael Basseler: Literatur – Erfahrung – Lebenswissen: Perspektiven einer pragmatischen Literaturwissenschaft. In: Literaturwissenschaft als Lebenswissenschaft. Programm – Projekte – Perspektiven. Hg. v. Wolfgang Asholt und Ottmar Ette. Tübingen 2010. S. 205–222, hier S. 209. Diese pragmatische Wende des Literaturbegriffs thematisiert ein jüngerer Tagungsband, der die ‚Grenzen der Literatur‘ nicht aufgehoben, aber angemessen ausgeweitet sehen möchte: „Der Literaturbegriff wird meist nicht mehr unter Rekurs auf spezifische Texteigenschaften oder rein

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Indes erfährt die Literaturwissenschaft hierbei nicht zwangsläufig eine sozialwissenschaftliche Ausrichtung, denn eine kontextbezogene Auseinandersetzung mit Literatur setzt mitnichten eine größtmögliche Kenntnis von Produktions- und Rezeptionskontexten voraus. Vielmehr spielen Kontexte zunächst nur in dem Maße eine Rolle, in dem sie auch tatsächlich in die Kommunikation eingebracht werden – und dabei hat man es in der Regel mit einer durchaus überschaubaren Größe zu tun: Erstens gelingt Kommunikation meistens auch bei lediglich geringer Kenntnis des Kontextes des Kommunikationspartners und zweitens wird der eigene Kontext nur in dem Maße in die Kommunikation eingebracht, wie er aufseiten des Kommunikationspartners als bekannt vorausgesetzt werden kann. Für die wissenschaftliche Rekonstruktion von kommunikationsrelevanten Kontexten müssen daher nicht etwa die komplexen spezifischen Voraussetzungen der Kommunikationsteilnehmer bekannt sein, sondern lediglich ihre gegenseitigen Annahmen über den gemeinsamen Kontext. Diese Vereinfachungstendenz ist die Folge von kognitiven und kommunikativen Optimierungsstrategien, die in der Forschung als die Prinzipien der kognitiven und der kommunikativen Relevanz firmieren: In Relevance, we make two fundamental claims, one about cognition, the other about communication: (1) Human cognition tends to be geared to the maximization of relevance. (2) Every act of ostensive communication communicates a presumption of its own optimal relevance.57

|| semiotische Operationen erläutert, sondern mit Bezug auf Funktionen, situative Kontexte oder Praktiken, in denen die Texte verwendet werden. […] Wir […] sehen die fruchtbarsten Ansatzpunkte in der Berücksichtigung der jeweiligen Gebrauchsweisen von Texten und den ihnen zugrunde liegenden Annahmen über Autor, Text und Leser.“ (Fotis Jannidis/Gerhard Lauer/Simone Winko: Radikal historisiert: Für einen pragmatischen Literaturbegriff. In: Grenzen der Literatur. Hg. v. dens. Berlin/New York 2009. S. 3–37, hier S. 11.) Literatur wird hierbei dezidiert als Kommunikationsmedium betrachtet: „[L]iterary writing and reading, even though they do not function face-to-face, one-to-one or even contemporaneously with each other, are inextricably linked with the particular sociocultural contexts within which they take place. Literary pragmatics takes for granted that no account of communication in general will be complete without an account of literature and its contextualization, and that no account of literature will be complete without an account of its use of the communicative resources generally available.“ (Roger D. Sell: Literary Pragmatics. An Introduction. In: Literary Pragmatics. Hg. v. dems. London/New York 1991. S. xi–xiii, hier S. xiv.) 57 Dan Sperber/Deirdre Wilson: Relevance. Communication and Cognition. 2. Aufl. Oxford [u. a.] 1995. S. 260.

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Die Relevanzmaximierung auf kognitiver Ebene besteht darin, mit möglichst geringem Aufwand möglichst große oder viele kognitive Effekte zu erzielen – eine Erhöhung des kognitiven Aufwands ist demnach nur dann mit dem Relevanzprinzip zu vereinbaren, wenn dadurch auch ein größerer Nutzen zu erwarten ist. Indes sind Informationen nicht per se für jemanden relevant oder irrelevant, denn die Relevanz einer Information kann sich schlagartig vergrößern oder verringern, sobald sich der Kontext der Informationsvergabe ändert.58 Wenn nun dem zweiten Relevanzprinzip zufolge eine gelingende Kommunikation darin besteht, die kommunizierte Information als relevant auszuweisen, müssen sich beide Kommunikationspartner über einen Kontext verständigen, in dem diese Information relevant ist. Dies gilt auch für die Literatur: Aus relevanztheoretischer Sicht müssen literarisch vermittelte Informationen als relevant erscheinen, damit der Leser motiviert ist, sie kognitiv zu verarbeiten. Um sicherzustellen, dass der Leser einen passenden Kontext abruft, wird dieser in der Regel frühzeitig – das heißt im Paratext oder auf den ersten Seiten – angezeigt. Die literaturwissenschaftliche Kontextanalyse beschäftigt sich daher weder mit biografischen Details von Autorinnen und Autoren noch mit den tatsächlichen soziokulturellen Hintergründen von Leserinnen und Lesern oder Lesergruppen, sondern mit klar erkennbaren Kontextsignalen und deren Bedeutung für die literarische Kommunikation. In Verbindung der kognitiven mit der pragmatischen Ausrichtung der Literaturwissenschaft soll der Einfluss von Kontextfaktoren auf die kognitive Verarbeitung von Texten untersucht werden. Hierfür wird in Kapitel 3.2 ein aus der Sprachverstehensforschung stammendes Konzept dem literaturwissenschaftlichen Gegenstandsbereich angepasst und in den Kapiteln 4.1 und 4.2 für die kognitionswissenschaftlich gestützte Kontextanalyse der Enkelliteratur eingesetzt.

|| 58 Vgl. Jean-Baptiste Van der Henst/Dan Sperber: Testing the Cognitive and Communicative Principles of Relevance. In: Meaning and Relevance. Hg. v. Deirdre Wilson und Dan Sperber. Cambridge [u. a.] 2012. S. 279–306, hier S. 279.

2 Experientialität Der Begriff experientiality ist in den Neunzigerjahren von der Anglistin Monika Fludernik in die Narratologie eingeführt und von Beginn an – auch von Fludernik selbst1 – mit ‚Erfahrungshaftigkeit‘ übersetzt worden.2 Da jedoch der deutsche Terminus inzwischen auch ohne engeren Bezug auf Fludernik zur Bezeichnung verschiedener Text- und Rezeptionsphänomene herangezogen wird,3 hat der Begriff in der deutschen Fassung ein wenig an Schärfe verloren. Daher wird im Folgenden der Latinismus ‚Experientialität‘ verwendet.4 Indes hat die Experientialitätstheorie selbst bereits eine Forschungsgeschichte. Während bei Fludernik der Fokus noch auf den textuellen Repräsentationen von Erzähler- und Figurenerfahrungen liegt, werden inzwischen zunehmend die während der Lektüre ausgelösten Erfahrungen des Lesepublikums in den Blick genommen. So konzipiert Marco Caracciolo den Experientialitätsbegriff als Wirkungskategorie, wobei er seine Argumentation auf die Prämissen des kognitionswissenschaftlichen Enaktivismus stützt. Fluderniks Arbeit hingegen sei dem inzwischen veralteten ‚repräsentationalistischen‘ Paradigma verpflichtet und daher von begrenzter Reichweite. Die vorliegende Arbeit folgt Caracciolos enaktivistischer Konzeption, die in Kapitel 2.2 vorgestellt wird. Da deren Verständnis die Kenntnis von Fluderniks Pionierarbeit voraussetzt, wird im Folgenden zunächst der ‚repräsentationalistische‘ Ansatz skizziert.

|| 1 Vgl. Monika Fludernik: Erzähltheorie. Eine Einführung. 2. Aufl. Darmstadt 2008, S. 122. 2 So verwendet etwa von Jonas Grethlein (siehe Kapitel 2.1.5) und Felix Frey: Erfahrungshaftigkeit als Attraktivitätspotential narrativer Formen. Evolutionäre Argumente für ein Primat der erfahrungshaften Medienrezeption. In: Telling Stories/Geschichten erzählen. Literature and Evolution/Literatur und Evolution. Hg. v. Carsten Gansel und Dirk Vanderbeke. Berlin [u. a.] 2012. S. 172–194. 3 So etwa von Astrid Erll, siehe Kapitel 2.3.1. 4 So auch bei Christina Mohr: Die storyworld erleben – Experientialität, Metaphorik und multimodales Erzählen in Jonathan Safran Foers Extremely Loud & Incredibly Close. In: Medialisierung des Erzählens im englischsprachigen Roman der Gegenwart. Theoretischer Bezugsrahmen, Genres und Modellinterpretationen. Hg. v. Ansgar Nünning und Jan Rupp. Trier 2011. S. 323–342, sowie bei Hans-Joachim Backe: Strukturen und Funktionen des Erzählens im Computerspiel. Eine typologische Einführung. Würzburg 2008, S. 203–206. https://doi.org/10.1515/9783110673968-002

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2.1 Repräsentationalistischer Ansatz Seit jeher dient das Geschichtenerzählen vor allem dem Darstellen und Mitteilen von Erfahrungen. In Stammesgesellschaften hing das Überleben der Gruppe oftmals von der sozialen Distribution individueller Erfahrungswerte ab – von der gegenseitigen Verständigung beispielsweise über Wasserquellen oder drohende Gefahren konnte jeder in der Gemeinschaft profitieren. Von diesen archaischen Funktionen des Erzählens sind wir heute weit entfernt, aber nach wie vor tauscht man sich über Lebenserinnerungen gleichermaßen aus wie über die Ereignisse des vergangenen Wochenendes – sogar gemeinsame Erlebnisse werden immer wieder einander erzählt. Darin zeigt sich ein enger funktionaler Zusammenhang zwischen Erzählung und Erfahrung. In ihrem Buch Towards a ‚Natural‘ Narratology weitet Monika Fludernik diesen Befund auf das literarische Erzählen aus, indem sie in historischer Perspektive aufzeigt, dass die erzählende Literatur vom Mittelalter bis zur Postmoderne zwar immer wieder auf verschiedene Weisen von den originären Funktionen des Erzählens abweicht, aber im Großen und Ganzen der Darstellung und Vermittlung von Erfahrungen verpflichtet bleibt. In der Tat genügt ein kurzer Blick in die Romanliteratur der letzten Jahrhunderte – dort geht es vorwiegend um Menschen und ihre Gefühle, Handlungen, Intentionen und Wertvorstellungen, die allesamt auf Erfahrungen beruhen und neue Erfahrungen nach sich ziehen. Laut Fludernik werden solche Romane ähnlich rezipiert wie mündliche Alltagserzählungen – in beiden Fällen werden aus der sprachlichen Oberfläche Erfahrungsaspekte herausgefiltert und vor dem Hintergrund eigener Erfahrungen gedeutet. Insoweit dabei erfahrungsbasierte kognitive Schemata aktiviert werden, werde – in der Literatur wie im Alltag – Experientialität (experientiality) evoziert.

2.1.1 ‚Natürliche‘ Narratologie Texte mit experientieller Wirkung bezeichnet Fludernik als ‚natürliche‘5 Erzählungen. Das ‚Natürliche‘ eines Textes lässt sich nicht anhand sprachlicher oder

|| 5 Das Attribut ‚natürlich‘ bzw. ‚natural‘ wird bei Fludernik schon im Titel ihres Buches und seitdem auch in der Forschung üblicherweise in Anführungszeichen gesetzt, womit die Kommentierungsbedürftigkeit des Begriffs gekennzeichnet wird und – wie Fludernik angibt – naive und moralisch wertende Lesarten vermieden werden sollen, vgl. Fludernik: Towards a ‚Natural‘ Narratology, S. 12.

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medialer Merkmale, sondern nur anhand der Textwirkung ermessen. Mit Natürlichkeit ist ein Rezeptionsmodus gemeint: „The term ‚natural‘ is not applied to texts or textual techniques but exclusively to the cognitive frames by means of which texts are interpreted.“6 Die theoretische Begründung dieser kognitiven Kategorie basiert auf einer historischen und generischen Analyse, die bei archaischen Formen des mündlichen Erzählens ansetzt. In The Fictions of Language and the Languages of Fiction definiert Fludernik „natural narrative“7 zunächst als „oral discourse“8 und „everyday conversation“9. In Towards a ‚Natural‘ Narratology äußert sie sich etwas präziser und weist darauf hin, dass nicht jede mündliche Erzählung ‚natürlich‘ ist: „Natural narrative, in contradistinction to the wider area of oral narrative, comprises only spontaneous forms of (therefore conversational) storytelling but excludes oral poetry and folktale traditions of oral storytelling“10. Der Prototyp des ‚natürlichen‘ Erzählens sei das Erzählen über eigene oder fremde Erfahrungen im Gespräch (experiential conversational storytelling).11 Das ‚natürliche‘ Erzählen bezeichnet somit zunächst einmal eine ursprüngliche Form des Kommunizierens in lebenspraktischen Kontexten. Allerdings interessiert sich Fludernik weniger für die Ursprünge des Erzählens als vielmehr für die Rolle des ‚natürlichen‘ Erzählens während der allmählichen Herausbildung und Entwicklung neuer narrativer Formen. Mit der Verschriftlichung und der zunehmenden Ausdifferenzierung von Kommunikationsmedien sowie der Entwicklung literarischer Kunstformen wird von diesen ‚natürlichen‘ Ursprüngen zunehmend abgewichen. Gleichzeitig jedoch wird im Alltag an eher einfachen Formen narrativer Kommunikation festgehalten, sodass heute verschiedene Komplexitätsstufen des Erzählens nebeneinander bestehen. Die Terminologie der ‚Natürlichen‘ Narratologie vorwegnehmend hat Teun A. van Dijk dies wie folgt formuliert:

|| 6 Fludernik: Towards a ‚Natural‘ Narratology, S. 12. 7 Monika Fludernik: The Fictions of Language and the Languages of Fiction. The Linguistic Representation of Speech and Consciousness. London/New York 1993, S. 2. 8 Fludernik: The Fictions of Language and the Languages of Fiction, S. 2. 9 Fludernik: The Fictions of Language and the Languages of Fiction, S. 2. 10 Fludernik: Towards a ‚Natural‘ Narratology, S. 13–14. 11 Vgl. Fludernik: Towards a ‚Natural‘ Narratology, S. 57–58. Im Bereich der Erzählungen über fremde Erfahrungen unterscheidet Fludernik noch einmal zwischen Erzählungen über selbst beobachtete fremde Erfahrungen (observational narrative) und Erzählungen über fremde Erfahrungen, von denen man selbst bloß gehört hat (truly vicarious narrative), vgl. Fludernik: Towards a ‚Natural‘ Narratology, S. 73–74.

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Mit Erzähltexten sind in erster Instanz Erzählungen gemeint, die in der Alltagskommunikation vorkommen: Wir erzählen, was uns oder jemandem, den wir kennen, heute oder damals passiert ist. […] Nach solchen ‚natürlichen Erzählungen‘ erscheinen an zweiter Stelle Erzähltexte, die auf andere Typen von Kontext zielen, wie Witze, Mythen, Volkserzählungen, Sagen, Legenden u. ä., und erst an dritter Stelle die oft viel komplexeren Erzählungen, die wir in der Regel mit dem Begriff ‚Literatur‘ umschreiben: short stories, Novellen, Romane u. ä. […] Die Struktur literarischer Erzählungen ist von solchen natürlichen Texten über ziemlich komplizierte Transformationen abgeleitet.12

Diese genealogische Betrachtung legt nahe, dass es sich bei Alltags- und literarischen Erzählungen nicht um etwas kategorial Verschiedenes handelt und die Analyse ursprünglicher Erzählformen auch über komplexere Erzählungen Aufschluss zu geben vermag. Zu den strukturellen und funktionalen Ähnlichkeiten und den daraus resultierenden Erkenntnisansprüchen haben sich bereits in den Sechzigerjahren William Labov und Joshua Waletzky geäußert: „In our opinion, it will not be possible to make very much progress in the analysis and understanding of these complex narratives until the simplest and most fundamental narrative structures are analyzed in direct connection with their originating functions.“13 Während Labov und Waletzky hierbei eher an das gegenwärtige mündliche Alltagserzählen denken, verweist Fludernik stärker auf die historischen Kontinuitäten: „One must […] conceptualize the move from orality to literacy as a continuum that affords the narratologists interesting insights into different functions of narrative elements within their narrative patterns.“14 Dieses Argument der historischen Kontinuität narrativer Grundstrukturen übersetzt Fludernik in ein kognitionsnarratologisches Argument: Während die literarischen Gattungen und Darstellungskonventionen immer stärker von den ursprünglichen und alltagspragmatischen Erzählformaten abweichen, bleibt der kognitive Apparat im Wesentlichen unverändert. Der Leser greift daher auch bei der Lektüre von hochkomplexen und deutlich von ‚natürlichen‘ Kontexten abweichenden Erzählungen auf seine herkömmlichen und eingeübten Rezeptionsschemata zurück: „One of the key tenets of Natural Narratology is the assumption that the cognitive framework of natural narrative can be applied to all narrative, even though later,

|| 12 Teun A. van Dijk: Textwissenschaft. Eine interdisziplinäre Einführung. Tübingen 1980, S. 140. 13 William Labov/Joshua Waletzky: Narrative Analysis. Oral Versions of Personal Experience. In: Essays on the Verbal and Visual Arts. Proceedings of the 1966 Annual Spring Meeting of the American Ethnological Society. Hg. v. June Helm. Seattle [u. a.] 1967. S. 12–44, hier S. 12. 14 Fludernik: Towards a ‚Natural‘ Narratology, S. 53. Vgl. auch Monika Fludernik: Natural Narratology and Cognitive Parameters. In: Narrative Theory and the Cognitive Sciences. Hg. v. David Herman. Stanford (CA) 2003. S. 243–267, hier S. 249.

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especially fictional, texts extend the original oral design in significant ways.“15 Auf diesen historischen und anthropologischen Grundannahmen basiert Fluderniks kognitionsnarratologisches Programm: Um zu erfahren, welche kognitiven Prozesse bei der Lektüre literarischer Texte ablaufen, müssen die ‚natürlichen‘ kognitiven Schemata ermittelt werden. Hierzu bedarf es einer grundlegenden Produktions- und Text-, aber vor allem Rezeptionsanalyse der narrativen Prototypen des ursprünglich spontanen mündlichen und alltagsbezogenen Erzählens. „The theory […] utilizes insights from the analysis of conversational narrative (providing basic types of natural narrative) and extrapolates from these to construct cognitive macro-frames to which, it is argued, readers resort when cognizing and analyzing latter-day written narratives.“16 Indes erweisen sich die schematischen Strukturen des kognitiven Rezeptionsapparats durchaus als veränderlich – so zeigt Fludernik in ihrer Studie, wie sich ursprüngliche Denkschemata des Erzählens über die Jahrhunderte hinweg verändert haben und aufgrund welcher Erzählinnovationen neue entstanden sind.17

2.1.2 Naturalisierung Da das ‚Natürliche‘ keine textstrukturelle, sondern eine kognitive Kategorie ist, kann sie prinzipiell auf alle textuellen Phänomene angewendet werden, indem diese als ‚natürlich‘ aufgefasst oder interpretiert werden. So werden etwa nichtmündliche und nicht primär für kommunikative Zwecke produzierte (beispielsweise literarische) Texte schlichtweg ‚naturalisiert‘ – Fludernik knüpft mit diesem Terminus explizit an Jonathan Cullers Konzept der ‚naturalization‘ an.18 In Cullers Modell ist das ‚Natürliche‘ ein Produkt der jeweiligen Kultur – als ‚natürlich‘ wird wahrgenommen, was innerhalb dieser Kultur als sinnvolle Ordnung oder konventionelle Kommunikationsform erscheint. Was von diesen kulturellen Vorgaben abweicht, muss mittels Interpretation angepasst werden: „To assimilate or interpret something is to bring it within the modes of order which culture makes available, and this is usually done by talking about it in a mode of

|| 15 Fludernik: Natural Narratology and Cognitive Parameters, S. 244. 16 Fludernik: Natural Narratology and Cognitive Parameters, S. 247. 17 „Rather than privileging naturally occurring storytelling situations, Natural Narratology, by contrast, attempts to show how in the historical development of narrational forms natural base frames are again and again being extended.“ (Fludernik: Natural Narratology and Cognitive Parameters, S. 255.) 18 Vgl. Fludernik: Towards a ‚Natural‘ Narratology, S. 31–35.

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discourse which a culture takes as natural.“19 Literatur ist Culler zufolge zunächst nicht als ‚natürlich‘ anzusehen, da sie von erwartbaren Standards und Konventionen abweicht. Er führt dies allgemein auf grundlegende kommunikative Fehlfunktionen zurück: [T]he distinction between speech and writing becomes the source of the fundamental paradox of literature: we are attracted to literature because it is obviously something other than ordinary communication; its formal and fictional qualities bespeak a strangeness, a power, an organization, a permanence which is foreign to ordinary speech.20

Dass Leserinnen und Leser dennoch von literarischen Texten ‚angezogen‘ werden, wird mit ihrer Fähigkeit erklärt, sie trotz allem kulturkonform zu interpretieren und ihnen somit einen ‚natürlichen‘ Sinn abzugewinnen: Yet the urge to assimilate that power and permanence or to let that formal organization work upon us requires us to make literature into a communication, to reduce its strangeness, and to draw upon supplementary conventions which enable it, as we say, to speak to us. […] The strange, the formal, the fictional, must be recuperated or naturalized […].21

Demzufolge können wir literarische und andere Schrifttexte nur deshalb so gut verstehen, weil wir sie intuitiv so lesen, als ob es sich bei ihnen um gewöhnliche Alltagskommunikation handelt. Ausgehend von deviationsästhetischen Prämissen gelangt Culler somit zu der rezeptionsästhetischen Kategorie der ‚Naturalisierung‘: „to naturalize a text is to bring it into relation with a type of discourse or model which is already, in some sense, natural and legible“22. Fludernik greift diesen Gedanken auf und bringt eine auffallend ähnliche Definition: „Naturalization processes are reading strategies which familiarize the unfamiliar, and they therefore reduce the unexpected to more manageable proportions, aligning it with the familiar.“23 Fludernik geht jedoch über Cullers Konzept entschieden hinaus, indem sie es in eine Narrativitätstheorie übersetzt: „Culler’s strategy of naturalization will be redeployed and redefined as narrativization, i.e. as the reading of texts as narrative,

|| 19 Jonathan Culler: Structuralist Poetics. Structuralism, Linguistics and the Study of Literature. London 1975, S. 137. 20 Culler: Structuralist Poetics, S. 134. 21 Culler: Structuralist Poetics, S. 134. 22 Culler: Structuralist Poetics, S. 138. 23 Fludernik: Towards a ‚Natural‘ Narratology, S. 46.

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as constituting narrativity in the reading process“24. Während Culler die Kategorie des ‚Natürlichen‘ an den jeweils kulturspezifischen Denkformen, Erwartungshorizonten und kommunikativen Konventionen misst, orientiert sich Fludernik an den narrativen Merkmalen des ‚natürlichen‘ Erzählens. Denn da ‚natürliche‘ Erzählungen – per definitionem – narrativ sind, sei das ‚Natürliche‘ am ehesten durch das Merkmal der Narrativität zu charakterisieren. Demnach erscheine eine Erzählung als ‚natürlich‘, weil sie als etwas Narratives wahrgenommen werde. Und eine Erzählung werde ‚naturalisiert‘, indem die Rezipienten sie als etwas Narratives interpretieren und folglich ‚narrativisieren‘.

2.1.3 Narrativisierung Der Narrativitätsbegriff ist zwar allgemein gebräuchlich und findet in zahlreichen Disziplinen Verwendung,25 erweist sich aber – nicht zuletzt aus eben diesem Grund – als unscharf und streitbar. Er kommt überall dort zur Anwendung, wo die Struktur und Funktion von Erzählungen erforscht wird. Hierbei lassen sich grundsätzlich zwei Ebenen unterscheiden: Zum einen ist Narrativität ein Merkmal erzählender Texte und anderer narrativer Medien (z. B. Filme, politische Reden oder Opernaufführungen) sowie der meisten alltäglichen Kommunikationsformen. Zum anderen werden aber auch kognitive Mechanismen des Erinnerns und der subjektiven Sinnbildung als narrative Phänomene beschrieben.26 Wäh-

|| 24 Fludernik: Towards a ‚Natural‘ Narratology, S. 20. 25 Vgl. etwa die Beiträge in Matthias Aumüller (Hg.): Narrativität als Begriff. Analysen und Anwendungsbeispiele zwischen philologischer und anthropologischer Orientierung. Berlin [u. a.] 2012. Vgl. außerdem den begriffsgeschichtlichen Überblick von Fludernik: Towards a ‚Natural‘ Narratology, S. 323–329. Als Reaktion auf die vielfach angemerkte Universalität des Erzählens werden erzähltheoretische Fragestellungen inzwischen auch in disziplinenübergreifender Perspektive abgehandelt, wie zuletzt umfassend von Albrecht Koschorke: Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer Allgemeinen Erzähltheorie. Frankfurt a. M. 2012. 26 Zu dieser doppelten Perspektive auf das Phänomen des Erzählens vgl. auch Jürgen Straub, der einen umfangreichen Aufsatz zur Funktion des Geschichtenerzählens mit folgenden Worten einleitet: „Das Erzählen werde ich […] zum einen – in sprach-, wissens- und kommunikationspsychologischer Perspektive – als eine spezifische Sprachform und kommunikative Praxis begreifen, die sich von anderen wie beispielsweise dem Beschreiben, Berichten, Schildern oder Argumentieren unterscheiden läßt. Zum anderen und vor allem soll das Erzählen – in kognitionsoder denkpsychologischer Perspektive – als ein Modus des Denkens betrachtet werden.“ (Jürgen Straub: Geschichten erzählen, Geschichte bilden. Grundzüge einer narrativen Psychologie his-

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rend sich die traditionelle – insbesondere strukturalistisch geprägte – Literaturwissenschaft in der Regel ausschließlich für die Narrativität als Eigenschaft von Texten interessiert, kündigt Fludernik schon auf der ersten Seite ihres Buchs ausdrücklich einen cognitive turn an: „Towards a ‚Natural‘ Narratology proposes to redefine narrativity in terms of cognitive (‚natural‘) parameters, moving beyond formal narratology into the realm of pragmatics, reception theory and constructivism.“27 Um aus einem Text eine Erzählung zu machen, müsse er im kognitiven Apparat des Rezipienten narrativisiert werden – und zwar nicht nur bei komplexen literarischen Texten, sondern auch in der alltäglichen Kommunikation. Folglich handle es sich bei Narrativität – analog zur Kategorie des ‚Natürlichen‘ – nicht um eine Eigenschaft des Textes, sondern um ein Zuschreibungsphänomen: „Narrativity, according to my model, is not a quality adhering to a text, but rather an attribute imposed on the text by the reader who interprets the text as narrative, thus narrativizing the text.“28 Die besondere Herausforderung von Fluderniks ‚Natürlicher‘ Narratologie besteht folglich darin, den Begriff der Narrativität in kognitionswissenschaftlichen Termini zu definieren. Dabei stützt sie sich im Wesentlichen auf schematheoretische Grundannahmen und macht Narrativität von der Aktivierung des Narrativitätsschemas abhängig: „In my reading, which is based on Culler’s process of naturalization, narrativization applies one specific macroframe, namely that of narrativity, to a text.“29 Ein Makro-frame (oder Makroschema30) enthält eine mehr oder weniger große Anzahl an Subschemata. Die Aktivierung des übergeordneten Narrativitätsschemas hängt somit von der Aktivierung wenigstens einiger Subschemata ab. Um die Bedingungen für Narrativität (und somit für ‚Natürlichkeit‘) deutlich zu machen, erstellt Fludernik ein über vier (hierarchisch geordnete) Ebenen angelegtes Modell schematischer Substrukturen.

|| torischer Sinnbildung. In: Erzählung, Identität und historisches Bewußtsein. Die psychologische Konstruktion von Zeit und Geschichte. Hg. v. dems. Frankfurt a. M. 1998. S. 81–169, hier S. 82–83.) 27 Fludernik: Towards a ‚Natural‘ Narratology, S. xi. 28 Monika Fludernik: Natural Narratology and Cognitive Parameters, S. 244. 29 Fludernik: Towards a ‚Natural‘ Narratology, S. 34. 30 Fludernik verwendet frame und Schema als Synonyme, vgl. Fludernik: Natural Narratology and Cognitive Parameters, S. 244, Anm. 2, sowie ausführlich in Monika Fludernik: Towards a ‚Natural‘ Narratology: Frames and Pedagogy. A Reply to Nilli Diengott. In: Journal of Literary Semantics 39 (2010) H. 2, S. 203–211, hier S. 204–205. Auch frame und parameter verwendet sie weitgehend synonym, wenngleich sie damit offenbar unterschiedliche schemastrukturelle Ebenen bezeichnet: „frames accommodate a number of related parameters“ (Fludernik: Towards a ‚Natural‘ Narratology, S. 371).

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Die unterste Ebene umfasst allgemeines Wissen unter anderem über Handlungen, Ziele, Emotionen, Motivation, Intention und Kausalverhältnisse.31 Ein solches Wissen sammelt jeder Mensch durch unzählige individuelle Einzelerfahrungen, die kategorisiert und zu schematischen Strukturen verdichtet werden. Um den Erfahrungsgehalt von Erzählungen verstehen zu können, müssen Rezipienten auf diese „basic-level schemata“32 zurückgreifen. Während sich diese erste Ebene auf das Was der Erzählung beschränkt, kommt mit der zweiten Ebene die Dimension des Wie hinzu33 – diese konstituiert sich durch ‚natürliche‘ Schemata der narrativen Vermittlung: „I distinguish between the real-world ‚script‘ of TELLING; the real-world schema of perception (VIEWING); and the access to one’s own narrativizable experience (EXPERIENCING).“34 Das TELLING-Schema werde vor allem bei der Lektüre solcher Erzählungen beansprucht, in denen ein hoher Grad an Erzählillusion erreicht wird,35 während das EXPERIENCING-Schema eher bei der kognitiven Verarbeitung von Geschehensillusionen zum Einsatz komme, die vorwiegend im Reflektormodus der personalen Erzählsituation erzielt werden.36 Das VIEWING-Schema hingegen finde bei Erzählungen mit neutraler Erzählsituation

|| 31 Vgl. Fludernik: Towards a ‚Natural‘ Narratology, S. 43. Diese Ebene entspreche dem Konzept der Mimesis I von Paul Ricœur. Auch im Weiteren zieht Fludernik Vergleiche zu Ricœurs Modell der dreifachen Mimesis, wobei sie allerdings eher auf Differenzen als auf Gemeinsamkeiten hinweist, vgl. etwa Fludernik: Towards a ‚Natural‘ Narratology, S. 45. Ingesamt bezeichnet Fludernik ihr Vier-Ebenen-Modell als „a reconception of Paul Ricoeur’s three levels of mimesis, remodelled with a view towards the process of narrative production and reception, and in which the introduction of narrativization constituted the major new emphasis“ (Fludernik: Towards a ‚Natural‘ Narratology: Frames and Pedagogy, S. 206). 32 Fludernik: Natural Narratology and Cognitive Parameters, S. 244. 33 Zur Was-Wie-Unterscheidung vgl. Fludernik: Towards a ‚Natural‘ Narratology, S. 44, sowie Fludernik: Natural Narratology and Cognitive Parameters, S. 246. 34 Fludernik: Towards a ‚Natural‘ Narratology, S. 43–44. 35 Stets um eine Anknüpfung an bereits etablierte narratologische Konzepte bemüht, verweist Fludernik diesbezüglich auf Ansgar Nünning: Mimesis des Erzählens: Prolegomena zu einer Wirkungsästhetik, Typologie und Funktionsgeschichte des Akts des Erzählens und der Metanarration. In: Erzählen und Erzähltheorie im 20. Jahrhundert. Festschrift für Wilhelm Füger. Hg. v. Jörg Helbig. Heidelberg 2001. S. 13–47. 36 Die Kategorien des TELLING und des EXPERIENCING bildet Fludernik ausdrücklich in Analogie zu Franz K. Stanzels Dichotomie von Erzählermodus und Reflektormodus, vgl. Fludernik: Natural Narratology and Cognitive Parameters, S. 246. Letzteren definiert Stanzel wie folgt: „In einer personalen ES [= Erzählsituation, RF] […] tritt an die Stelle des vermittelnden Erzählers ein Reflektor: Eine Romanfigur, die denkt, fühlt, wahrnimmt, aber nicht wie ein Erzähler zum Leser spricht. Hier blickt der Leser mit den Augen dieser Reflektorfigur auf die anderen Charaktere der Erzählung. Weil nicht ‚erzählt‘ wird, entsteht in diesem Fall der Eindruck der Unmittelbarkeit der Darstellung.“ (Franz K. Stanzel: Theorie des Erzählens. 3. Aufl. Göttingen 1985, S. 16.)

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Verwendung, wo das Geschehen weder durch einen anthropomorphen Erzähler mitgeteilt noch aus Sicht einer Figur dargestellt, sondern mittels der sogenannten camera-eye-Technik37 perspektivisch erfasst wird. Neben diesen drei Grundformen verortet Fludernik auf der zweiten Ebene außerdem ein ACTING-frame. Dieses stellt einen Sonderfall dar, da es sich hierbei streng genommen um kein reines Vermittlungsschema handelt, sondern vielmehr auf das Was der Erzählung zu beziehen ist – somit wäre es eigentlich auf der ersten Ebene zu verorten.38 Fludernik räumt dem ACTING offenbar deshalb einen Platz auf der zweiten Ebene ein, weil in manchen (rein sachlich informierenden oder besonders geschehensorientierten) Erzählungen jegliche auf eine Erzählinstanz verweisende Perspektivität fehlt, die dargestellten Handlungen aber gleichwohl als erzählerisch hervorgebracht interpretiert werden und somit auch auf der Wie-Ebene irgendwie kognitiv repräsentiert sein müssen.39 Um auch Aspekte selbstbezüglicher Erzählweisen – wie zum Beispiel Metanarration – mit ihrem Interpretationsmodell abdecken zu können, fügt Fludernik der zweiten Ebene auch noch ein REFLECTING-frame hinzu, welches sich durch eine übersteigerte Beanspruchung von Erzählillusionen historisch herausgebildet habe: „[T]he frame of TELLING can be extended to incorporate what I call REFLECTING, i.e. the mental activities outside utterance which turn

|| 37 „Im Unterschied zur personalen Erzählsituation kann kein anthropomorphes Perspektivzentrum (focalizer character) aus dem Text erschlossen werden: Die vermittelten Sachverhalte erscheinen wie von einer Maschine, einer Kamera bzw. einem Tonbandgerät, aufgezeichnet. Charakteristisch für die c[amera]-e[ye]-T[echnik] ist das Fehlen der psychischen ‚Innensicht‘ auf einen focalizer, wie dies für die personale Erzählsituation kennzeichnend ist, sowie ein emotional neutrales und von offensichtlichen Wertungen freies Registrieren.“ (Werner Wolf: Cameraeye-Technik. In: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe. 5. Aufl. Hg. v. Ansgar Nünning. Stuttgart/Weimar 2013. S. 97.) 38 Vgl. Fludernik: Towards a ‚Natural‘ Narratology, S. 44. Da die Merkmale der ersten Ebene allesamt Eigenschaften von Handlungen sind, fungiere das ACTING-frame gewissermaßen als ein Überbegriff oder übergeordnetes Schema, das erfahrungsbezogene Aspekte wie ZIEL, INTENTION, EMOTION, MOTIVATION, URSACHE und WIRKUNG subschematisch enthält – diese Erklärung gibt Fludernik erstmals in Fludernik: Towards a ‚Natural‘ Narratology: Frames and Pedagogy, S. 208. 39 Zunächst gibt Fludernik an, dass solche rein berichtenden Erzählungen keine Narrativität aufweisen bzw. nicht zu narrativisieren seien. Weshalb das ACTING-frame dann überhaupt dem Narrativitäts-Makroschema unterstellt sein sollte, blieb fraglich und hat Verwirrung gestiftet, vgl. etwa Nilli Diengott: Fludernik’s Natural Narratological Model: A Reconsideration and Pedagogical Implications. In: Journal of Literary Semantics 39 (2010) H. 1, S. 93–101, hier S. 97. In einer Revision ihres Modells behebt Fludernik dieses Problem, indem sie dem ACTING nun doch Merkmale narrativer Vermittlung zuschreibt und es von einem rein inhaltsbezogenen ACTIONframe unterscheidet, vgl. Fludernik: Towards a ‚Natural‘ Narratology: Frames and Pedagogy, S. 206–209.

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the act of telling into a process of recollection and self-reflective introspection.“40 Das REFLECTING-frame komme nicht nur bei der Lektüre postmoderner Texte zum Einsatz, sondern sei auch schon von Montaignes Essais sowie von der moralisierenden Literatur des achtzehnten Jahrhunderts ‚eingefordert‘ worden.41 Die verschiedenen frames der zweiten Ebene beinhalten Elemente der ersten Ebene zu jeweils verschiedenen Teilen. So impliziere etwa das TELLING-frame allgemeines Wissen über Sprechakte, während VIEWING und EXPERIENCING vor allem auf räumlichen und zeitlichen Strukturen beruhen und perspektivische Grunderfahrungen voraussetzen. Das REFLECTING-frame hingegen basiere unter anderem auf Kenntnissen über Erinnerung, Argumentation und Selbstkritik.42 Die dritte Ebene enthält das Wissen über ‚natürliche‘ Erzählsituationen und typische narrative Formen sowie über literarische Genres und narratologische Konzepte.43 Im Gegensatz zu den unteren beiden Ebenen sei diese dritte Ebene kulturspezifisch.44 Gleichwohl erscheinen diese kulturgeschichtlich gewachsenen Formen als ‚natürlich‘, sobald man sich daran gewöhnt hat – Fludernik spricht daher von „a second-level ‚naturalness‘ from habituality“45. So können auch zunächst ungewöhnliche oder logisch unmögliche Erzählkonstellationen (z. B. Du-Erzählungen oder das Erzählen des eigenen Todes) ohne jegliches Befremden rezipiert werden, sobald sie sich kulturell etabliert haben.46 Da die Unterschiede zwischen literarischen Gattungen und Erzählweisen im Wesentlichen auf einer unterschiedlich gewichteten Beanspruchung der Vermittlungsschemata beruhen, können die literarischen frames der dritten Ebene aus den Elementen der zweiten Ebene extrapoliert werden.47

|| 40 Fludernik: Towards a ‚Natural‘ Narratology, S. 44. Es handelt sich hierbei um eine historische Erscheinung, d. h. nicht alle heute als ‚natürlich‘ eingestuften Schemata waren von Beginn des Erzählens an vorhanden, sondern können sich auch als Reaktion auf neue Erzähltechniken – hier etwa Metanarration – allmählich herausbilden. So handle es sich in der Literatur bei ACTION und TELLING um die ältesten und bis ins achtzehnte Jahrhundert hinein am meisten gebräuchlichen Schemata, während EXPERIENCE und REFLECTING erst im zwanzigsten Jahrhundert ausgereift seien und VIEWING nur um 1900 größere Bedeutung gehabt habe, vgl. Fludernik: Natural Narratology and Cognitive Parameters, S. 247. 41 Vgl. Fludernik: Natural Narratology and Cognitive Parameters, S. 246. 42 Vgl. Fludernik: Towards a ‚Natural‘ Narratology, S. 372. 43 Vgl. Fludernik: Towards a ‚Natural‘ Narratology, S. 44–45. 44 Vgl. Fludernik: Towards a ‚Natural‘ Narratology, S. 45. 45 Fludernik: Natural Narratology and Cognitive Parameters, S. 255. 46 Vgl. Fludernik: Natural Narratology and Cognitive Parameters, S. 255–256, sowie Fludernik: Towards a ‚Natural‘ Narratology, S. 329. 47 Vgl. Fludernik: Towards a ‚Natural‘ Narratology, S. 372.

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Diesen drei Ebenen übergeordnet sei das Makroschema ‚Narrativität‘, welches somit die vierte Ebene in Fluderniks Modell darstellt und zu charakterisieren sei als „the level which concerns the interpretative abilities by which people link unknown and unfamiliar material with what they are already familiar with, thereby rendering the unfamiliar interpretable and ‚readable‘“48. Die unteren drei Ebenen bilden eine Art Gerüst für die Narrativität, denn „the level of narrativization […] utilizes elements from the first three levels in order to constitute narrativity“49. Die Aktivierung des Narrativitätsschemas sei somit identisch mit der Entscheidung, einen Text als Erzählung wahrzunehmen50 – umgekehrt werde ein Text, der sich nicht mittels des Narrativitätsschemas interpretieren lasse, auch gar nicht erst als Erzählung wahrgenommen. Die Subschemata des Narrativitätsschemas sind freilich auch unabhängig von Narrativisierungsoperationen in Gebrauch. Insbesondere die Wahrnehmungsparameter der ersten Ebene werden in alltäglichen Erfahrungskontexten ständig abgerufen, denn ihre primäre Funktion liegt in der kognitiven Bewältigung des unmittelbaren Erlebens. Ebenso werden die Vermittlungsschemata der zweiten Ebene ständig im Alltag verwendet, etwa beim Verstehen kommunikativer Akte und beim Nachdenken über eigene und fremde Erfahrungen. Dass diese Schemata auch bei der kognitiven Verarbeitung fiktionaler Werke und somit außerhalb solcher ‚natürlichen‘ Kontexte Verwendung finden, erweist sich als Strategie zur Vereinfachung und Beschleunigung von Verstehensprozessen, denn hierbei kann Ungewöhnliches ohne großen kognitiven Aufwand in bestehende Deutungsmuster integriert werden: Wenn Leser mit narrativen Texten konfrontiert werden, die nur schwer in Einklang mit ihren lebensweltlichen Erfahrungen zu bringen sind, wird im Leseprozeß der entsprechende Text narrativisiert, indem narrativ geprägte Erzähl-, Wahrnehmungs- oder Erfahrungsparameter, kurzum der alle diese „micro-frames“ beinhaltende „macro-frame“ „Narrativität“, an den Text angelegt wird.51

In Fluderniks Modell erfolgt die lebensweltliche Deutung durch die Aktivierung des Narrativitätsschemas – dieses organisiert den strategischen Gebrauch ‚natür-

|| 48 Vgl. Fludernik: Towards a ‚Natural‘ Narratology, S. 45. 49 Fludernik: Natural Narratology and Cognitive Parameters, S. 244. 50 Vgl. Fludernik: Towards a ‚Natural‘ Narratology: Frames and Pedagogy, S. 209. 51 Bruno Zerweck: Der cognitive turn in der Erzähltheorie: Kognitive und ‚Natürliche‘ Narratologie. In: Neue Ansätze in der Erzähltheorie. Hg. v. Ansgar Nünning und Vera Nünning. Trier 2002. S. 219–242, hier S. 226–227.

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licher‘ Schemata, die gewissermaßen für Narrativisierungszwecke instrumentalisiert werden: „Natural parameters do not effect narrativization, but narrativization utilizes natural parameters as part of the larger process of naturalization applied by readers to the unfamiliar.“52 Hierbei wird freilich nicht wahllos vorgegangen – vielmehr werden Texte nach Anzeichen für Perzeptionen, Sprechsituationen, Erfahrungsqualitäten etc. abgesucht, die als Grundlage für eine ‚natürlichkeitskonforme‘ Interpretation dienen können: When readers are confronted with potentially unreadable narratives, texts that are radically inconsistent, they cast about for ways and means of recuperating these texts as narratives […]. They therefore attempt to re-cognize what they find in the text in terms of the natural telling or experiencing or viewing parameters, or they try to recuperate the inconsistencies in terms of actions and event structures at the most minimal level.53

Wird hierbei kein Anknüpfungspunkt für eine erfahrungsbezogene Interpretation ausfindig gemacht, scheitert die Narrativisierung (und somit auch die Naturalisierung). Indes behauptet Fludernik nicht, dass es grundsätzlich nicht-natürliche (und somit per se nicht-narrative) Texte oder gar Gattungen gebe – vielmehr hänge es ganz wesentlich von den individuellen Voraussetzungen der Leserinnen und Leser ab, inwieweit die Narrativisierung eines Textes gelingt.54 Grundsätzlich bestehe eine Bereitschaft, ungewöhnliche oder gegebenenfalls auch extrem widerständige Textstrukturen zu narrativisieren: „Eine natürlichkeitstheoretische Erzählforschung geht davon aus, dass Leser im Leseprozess Texte

|| 52 Vgl. Fludernik: Towards a ‚Natural‘ Narratology, S. 46. 53 Fludernik: Towards a ‚Natural‘ Narratology, S. 34. Welches frame am ehesten aktiviert werden muss, wird vom Text mehr oder weniger deutlich angezeigt, denn „[t]hese frames have their structural counterparts on the linguistic level of narration“ (Fludernik: Towards a ‚Natural‘ Narratology, S. 165). Wie gesehen trifft Fludernik ungefähre Zuordnungen zu bekannten textanalytischen Kategorien wie Erzählermodus und Reflektormodus sowie camera-eye-Technik oder Metanarration. Andererseits jedoch warnt sie, dass linguistische Signale auf der Textoberfläche nur eine Hinweisfunktion haben und narrativisierende Interpretationsprozesse sich vielmehr auf tiefenstrukturell verankerte Erfahrungsqualitäten stützen, vgl. Fludernik: Towards a ‚Natural‘ Narratology, S. 260. 54 „[I]ndividual readers’ personal background, familiarity with literature, and aesthetic likes and dislikes will also have a bearing on how texts are narrativized. At the least, readers with little or no exposure to modern texts will perhaps already find it hard to narrativize Virginia Woolf, just as twentieth-century readers find some fifteenth- or seventeenth-century texts unreadable because they lack argumentative consistency and teleological structuring.“ (Fludernik: Natural Narratology and Cognitive Parameters, S. 262.)

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narrativisieren, also auch Texte, die postmoderne Anti-Romane sind, quasi ‚gegen den Strich‘ so lesen, dass sie sich als Erzählungen deuten lassen.“55 Es handelt sich hierbei nicht um ein Rezept zur Fehlinterpretation, denn Autorinnen und Autoren können in der Regel gut abschätzen, welche Narrativisierungsleistungen sie ihrem Zielpublikum zumuten können – wie Fludernik selbst anmerkt: „By the time of Joyce’s and Woolf’s depiction of minds in their plenitude, these authors could build on cognitive parameters which were well in place and available for use: readers had considerable training in tuning in on such non-natural mind reading within a natural frame.“56 Allerdings können Autorinnen und Autoren ebenso gut einschätzen, ab welchem Grad der Abweichung von ‚Natürlichkeits‘-Erwartungen eine rezipientenseitige Narrativisierung ausgeschlossen werden kann – die Möglichkeiten des nicht-natürlichen Erzählens werden etwa in postmoderner oder allgemein experimentierfreudiger Prosa, im Nouveau Roman ebenso wie in den Spielarten der dokumentarischen Literatur bewusst ausschöpft.57 Eine nicht-narrativisierende Lektüre hat wiederum ihre spezifischen ästhetischen Reize, denn in solchen Fällen geraten die sprachlichen und semiotischen Merkmale des Textes in den Vordergrund.58

|| 55 Fludernik: Erzähltheorie, S. 122. 56 Fludernik: Towards a ‚Natural‘ Narratology, S. 172. 57 Vgl. Fludernik: Towards a ‚Natural‘ Narratology, S. 49. Fludernik besteht ausdrücklich auf den Terminus ‚nicht-natürlich‘ statt ‚unnatürlich‘, vgl. Fludernik: Towards a ‚Natural‘ Narratology, S. 11–12. Es sei jedoch an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass sich in der Forschung inzwischen auch ‚unnatural narrative‘ als narratologische Kategorie und Gattungsbegriff etabliert hat, womit ebenfalls literarische Texte bezeichnet werden, die bewusst die durch realweltliche Erfahrung geschulten Erwartungen der Leser durchkreuzen. Indes wird ‚unnatural narrative‘ für sehr verschiedene Phänomene gleichermaßen beansprucht und fungiert somit als „umbrella term that all can comfortably utilize“ (Jan Alber/Stefan Iversen/Henrik Skov Nielsen/Brian Richardson: Introduction. In: A Poetics of Unnatural Narratives. Hg. v. Jan Alber, Henrik Skov Nielsen und Brian Richardson Columbus 2013. S. 1–15, hier S. 3). 58 Vgl. Fludernik: Towards a ‚Natural‘ Narratology, S. 36, sowie hier: „Where language has become pure language, disembodied from speaker, context and reference, human experience and narrativization by means of human experience recede into the background. Such texts, instead, foreground thematic issues, images, sounds and rhythms beyond any possible mimetic context.“ (Fludernik: Towards a ‚Natural‘ Narratology, S. 310.)

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2.1.4 Bewusstseinszuschreibung Eine Textinterpretation unter Rückgriff auf das Narrativitätsschema impliziert, dass beim Leser bestimmte Erfahrungsqualitäten abgerufen werden – folglich basiere Narrativität auf einer experientiellen Lektüre: „Unlike the traditional models of narratology, narrativity […] is here constituted by what I call experientiality, namely by the quasi-mimetic evocation of ‚real-life experience‘.“59 Um Experientialität hervorzurufen, genügt es jedoch nicht, dass Erfahrungsaspekte qua Wissensstrukturen aktiviert werden – bloß weil Erfahrungen und Erfahrungsaustausch thematisiert werden, findet beim Leser noch keine „quasi-mimetische Evokation lebensweltlicher Erfahrung“ statt. Vielmehr sind Erfahrungen immer Erfahrungen von jemandem und korrelieren mit Bewusstseinszuständen – dies gelte auch für literarische Figuren: „Since they are prototypically human, existents can perform acts of physical movement, speech acts, and thought acts, and their acting necessarily revolves around their consciousness, their mental centre of self-awareness, intellection, perception and emotionality.“60 Erfahrungsqualitäten können daher nur adäquat dargestellt und vermittelt werden, wenn sie auf ein Bewusstsein bezogen werden. Deshalb hält Fludernik die Konstruktion eines Bewusstseins und die Zuschreibung von Bewusstseinszuständen im Rezeptionsprozess für eine unabdingbare Voraussetzung für Experientialität und somit auch für Narrativität. Diese rezipientenseitige Konstruktionsleistung stellt freilich keine allzu große Herausforderung dar – vielmehr beruht jedes Textverstehen ganz wesentlich darauf, Figuren oder Erzählern mentale Zustände zuzuschreiben: Once again, since we cannot but conceive of narrative agents as human or human-like, it is a basic cognitive requirement of ours that we attribute to them information-processing activities and internal knowledge representations. In other words, even if the story is behavioristic in its manner of portrayal and provides no information about the cognitive functioning of storyworld participants, readers need to formulate hypotheses about the minds of agents and ascribe to them mental functioning in order to make sense of their doings in terms of human actions and interactions.61

Als Grundlage für die Konstruktion eines Figuren- bzw. Erzählerbewusstseins dient den Leserinnen und Lesern erstens ihr allgemeines Wissen über mentale

|| 59 Fludernik: Towards a ‚Natural‘ Narratology, S. 12. 60 Fludernik: Towards a ‚Natural‘ Narratology, S. 26. 61 Margolin: Cognitive Science, the Thinking Mind, and Literary Narrative, S. 284.

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Zustände und zweitens ihre im Alltag eingeübte Fähigkeit, anderen Menschen bestimmte mentale Zustände zuzuschreiben.62 Folglich hat das ‚Bewusstsein‘ auch bei Fludernik seinen systematischen Platz – dieser befindet sich auf der zweiten Ebene des Narrativitätsmodells, denn laut Fludernik ist den Vermittlungsschemata eine je spezifische Bewusstseinsfunktion bereits implizit:63 In Erzählungen, die Erfahrungen über das EXPERIENCING-frame vermitteln, liegt der Fokus auf den Erfahrungen einer Figur – diese Erfahrungen werden interpretiert als Inhalte eines Figurenbewusstseins. In den Modi des TELLING und REFLECTING werden die dargestellten Erfahrungsaspekte durch das Erzählerbewusstsein gefiltert. Selbst wenn der Erzähler seine eigenen Erfahrungen mitteilt, erscheinen diese hier nicht als unmittelbare Eindrücke, sondern liegen bereits geordnet vor oder werden aus der Erinnerung rekonstruiert und gegebenenfalls Bewertungen unterzogen. Im selteneren Fall des VIEWING wird der Erfahrungsgehalt über einen neutralen und nicht personalisierbaren Beobachter weitergegeben, der somit weder als Figur noch als Erzähler in Erscheinung tritt.64 Fludernik geht daher davon aus, dass der Leser in solchen Fällen

|| 62 „The reader uses existing or prestored knowledge of other minds in the actual world in order to process the emergent knowledge that is supplied by fictional-mind presentations. The work that we put into constructing other real minds prepares us as readers for the work of constructing fiction minds.“ (Alan Palmer: Fictional Minds. Lincoln 2004, S. 175–176.) Ganz ähnlich äußert sich bereits Herbert Grabes, nach dem die Konstruktion eines Figurenbewusstseins zurückzuführen ist auf die „Gesamtheit aller im Bewußtsein des Rezipienten vorgegebenen Informationen und Vorstellungen über ‚Personen‘, also personenspezifisches Detailwissen und eine ‚implizite Persönlichkeitstheorie‘, d. h. jenes System von Überzeugungen, das den einzelnen bei der Wahrnehmung und Beurteilung anderer Menschen leitet“ (Herbert Grabes: Wie aus Sätzen Personen werden… Über die Erforschung literarischer Figuren. In: Poetica 10 [1978], S. 405–428, hier S. 412). 63 Vgl. im Folgenden Fludernik: Natural Narratology and Cognitive Parameters, S. 247, sowie Fludernik: Towards a ‚Natural‘ Narratology. Frames and Pedagogy, S. 206. 64 Neben den vier genannten Schemata nimmt das ACTION-frame erneut eine Sonderstellung ein, da es Fludernik zunächst aus der Reihe Bewusstsein konstituierender Schemata ausschließt (vgl. Fludernik: Towards a ‚Natural‘ Narratology, S. 50) und damit seine Funktion auf nicht-narrative Texte beschränkt (was wiederum seinen Platz innerhalb des Narrativitätsschemas fraglich erscheinen lässt). Erst in ihrer Revision von 2010 behebt sie dieses systematische Defizit, indem sie nun auch ACTION gewisse Bewusstseinsimplikationen zugesteht, vgl. Fludernik: Towards a ‚Natural‘ Narratology: Frames and Pedagogy, S. 209. Genauer gesagt schlägt sie eine Unterscheidung zwischen ACTING und ACTION vor: „Since introspection allows us to experience ourselves as acting, the relevant frame also has a minimal experiential quality, and one could, therefore, perhaps split this frame into ACTION (clearly part of level I) and ACTING (to be placed on level II as a second frame aligned with the protagonist).“ (Fludernik: Towards a ‚Natural‘ Narratology: Frames and Pedagogy, S. 208.)

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seine eigene Person als Schablone für die Konstruktion eines fiktionsinternen Beobachterbewusstseins verwendet: „The reader […] feels immersed within the fictional world as if he or she were that missing consciousness situated on the scene.“65 Neben dem Figurenbewusstsein und dem Erzählerbewusstsein könne somit auch das Leserbewusstsein die dargestellten Erfahrungen ‚verlebendigen‘.66 Doch auch wenn die Bedingungen für die Konstruktion eines Figurenoder Erzählerbewusstseins gegeben sind, sei das Bewusstsein des Lesers stets indirekt am Narrativisierungsprozess beteiligt: „By transferring her deictic centre to the coordinates of another’s mentality, the reader indirectly participates in the fictional process and recuperates or re-organizes characters’ experientiality in a vicarious manner.“67

2.1.5 Experientielle Geschichtsschreibung Da Narrativität in Fluderniks Modell zwar mit der Evokation von Experientialität einhergeht, experientielle Qualitäten jedoch nur vor dem Hintergrund eines erlebenden Bewusstseins entfaltet werden können, seien nur solche Texte narrativ, bei denen ein Bewusstsein als Vermittlungsinstanz fungiert. Da jedoch die mentale Repräsentation eines fremden Bewusstseins oder generell die Zuschreibung von Bewusstseinszuständen nur in der Fiktion zulässig sei,68 seien narrative

|| 65 Fludernik: Natural Narratology and Cognitive Parameters, S. 254. Für Fludernik handelt es sich hierbei um einen Fall von figuralization: „I will now introduce the term figuralization to describe the evocation of a deictic centre of subjectivity in a reflector-mode narrative that has no ruling figural consciousness attached to it. I use the word figuralization because the linguistic signals evoke a perceiver and experiencer, a consciousness (or SELF) on the story level. […] As I will argue, the empty centre, if it remains empty, a mere centre of perception, can induce reader identification, allowing a reading of the story through an empathetic projection of the reader into the figure of an observer ‚on the scene‘.“ (Fludernik: Towards a ‚Natural‘ Narratology, S. 198.) 66 Zum Verhältnis dieser drei Ebenen der bewusstseinsmäßigen Vermittlung vgl. Fludernik: Towards a ‚Natural‘ Narratology, S. 49–50 u. 372. 67 Fludernik: Towards a ‚Natural‘ Narratology, S. 274. 68 Mit ihrem Fiktionalitätsargument beruft sich Fludernik auf Käte Hamburger (vgl. Fludernik: Towards a ‚Natural‘ Narratology, S. 27 u. 169, sowie Monika Fludernik: Fiction vs. Non-Fiction. Narratological Differentiations. In: Erzählen und Erzähltheorie im 20. Jahrhundert. Festschrift für Wilhelm Füger. Hg. v. Jörg Helbig. Heidelberg 2001. S. 85–103, hier S. 93), die Bewusstseinsdarstellungen als Fiktionsmerkmal ausweist und im Umkehrschluss behauptet, historiografische Wirklichkeitserzählungen dürften keine Einblicke in das Innenleben der Figuren erlauben. Fludernik wird hierbei u. a. folgende Stelle im Blick gehabt haben: „Es könnte hier eingewendet

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Texte per definitionem fiktional: „Narrativity can […] dispense with plot, but it cannot dispense with fictionality. There does need to be a fictional situation that consists in the presence of at least one persona and her consciousness.“69 Allerdings macht Fludernik in diesem Zusammenhang auf den grundlegenden Unterschied zwischen Fiktionalität und Fiktivität aufmerksam: One needs to distinguish carefully between the fictional, on the one hand, and the fictive or hypothetical, on the other. Fictionality and narrativity appear to collocate in roughly the same generic contexts. […] The imagined and the hypothetical, on the other hand, are fictive or invented, but not necessarily fictional.70

Demnach können Tatsachen im narrativen Modus vermittelt werden, wodurch sie zwar fiktional, nicht aber fiktiv werden. So sind Autobiografien zwar narrativ (sensu Fludernik) und in diesem Sinne fiktional, gleichzeitig jedoch handelt es

|| werden, daß Verben wie glauben, meinen, denken u. a. doch auch in nicht-epischen, in historischen Darstellungen zur Anwendung kommen können, ich z. B. sagen kann: Napoleon hoffte oder glaubte, daß er Rußland unterwerfen würde. Der Gebrauch von ‚glauben‘ ist aber hier nur abgeleitet und kann denn auch in einem solchen Zusammenhang nur als Richtverb einer indirekten Angabe dienen. Es wird aus den überlieferten Dokumenten abgeleitet, geschlossen, daß Napoleon des Glaubens war, er würde Rußland unterwerfen. Im historischen, im Wirklichkeitsbericht aber kann Napoleon nicht als ein dies ‚jetzt und hier‘ Glaubender dargestellt werden […]. Geschieht das, befinden wir uns in einem Napoleonroman, in einer Fiktion.“ (Käte Hamburger: Die Logik der Dichtung. 3. Aufl. Frankfurt a. M. [u. a.] 1980, S. 79.) 69 Fludernik: Towards a ‚Natural‘ Narratology, S. 311. 70 Fludernik: Towards a ‚Natural‘ Narratology, S. 39–40. Zur Unterscheidung von Fiktivität und Fiktionalität innerhalb der Fiktionstheorie vgl. etwa Frank Zipfel: Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität. Analysen zur Fiktion in der Literatur und zum Fiktionsbegriff in der Literaturwissenschaft. Berlin 2001, S. 165, passim. In der klassischen Erzähltheorie sind diese beiden Fiktionskategorien auf unterschiedlichen Ebenen zu verorten – auf der Ebene des Erzählten (oder der histoire) unterscheidet man zwischen ‚realen‘ und ‚fiktiven‘ Elementen und Sachverhalten, auf der Ebene des Erzählens (oder des discours) hingegen zwischen ‚faktualen‘ und ‚fiktionalen‘ Darstellungsweisen: „Während ‚fiktiv‘ im Gegensatz zu ‚real‘ steht und die Frage nach der Fiktivität auf den ontologischen Status der dargestellten Sachverhalte zielt, steht ‚fiktional‘ im Gegensatz zu ‚faktual‘ und bezeichnet einen bestimmten Modus von erzählender Rede.“ (Christian Klein/Matías Martínez: Wirklichkeitserzählungen. Felder, Formen und Funktionen nicht-literarischen Erzählens. In: Wirklichkeitserzählungen. Felder, Formen und Funktionen nicht-literarischen Erzählens. Hg. v. dens. Stuttgart/Weimar 2009. S. 1–13, hier S. 2.) Diese terminologische Trennschärfe fordert Lucian Hölscher auch für die Geschichtswissenschaften ein: „Fiktional sind, epistemologisch gesehen, alle historischen Ereignisse: Der Begriff der Fiktionalität bezieht sich auf die sprachliche bzw. bildliche Konstruktion aller Ereignisse und ihre mnemotechnische Vermittlung. Fiktiv heißen dagegen alle nicht-realen Ereignisse: Sie haben sich historisch niemals ereignet.“ (Lucian Hölscher: Neue Annalistik. Umrisse einer Theorie der Geschichte. Göttingen 2003, S. 31–32.)

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sich um Wirklichkeitserzählungen.71 Dasselbe gelte für Alltagserzählungen, in denen üblicherweise etwas ‚Reales‘ mitgeteilt und gleichzeitig Experientialität erzeugt wird.72 Dass die Kategorie der Fiktionalität somit obsolet wird, hat Fludernik selbst festgestellt: „Towards a ‚Natural‘ Narratology in fact erases the concept of fictionality since it argues that true narrative, i.e. narrative with a high quality of narrativity, is always fictional narrative.“73 Daher ersetzt sie die klassische Dichotomie von Fiktion und Nichtfiktion durch die neue narratologische Leitdifferenz ‚narrativ‘ versus ‚nicht-narrativ‘.74 Hiermit lassen sich neue Abgrenzungen vornehmen – etwa von der Geschichtsschreibung. So kategorisiert Fludernik historiografische Texte in Towards a ‚Natural‘ Narratology als nicht-narrativ, denn der Zweck der Historiografie bestehe darin „to write ‚history‘ and not ‚specific human experience‘“75, das heißt, sie habe „die Fakten bzw. Argumente und nicht Erfahrungshaftigkeit [zu] vermitteln“76 und sei daher „auf die Form des Berichts über Ereignisse fokussiert, der allein noch keine Narrativität […] vermittelt“77 – ‚natürliches‘ Erzählen und Geschichtsschreibung unterscheiden sich somit laut Fludernik grundlegend sowohl in ihrer Thematik als auch hinsichtlich der Erzählperspektive: The type of experiential quality that is typical of fiction invariably links up with the emphasis on a protagonist such that the tellability of the story consists in, or derives from, the extraordinary achievements, adventures of sufferings of that character, foregrounding this person’s shrewdness, courage, heroic stature or tragic downfall, especially in combination with an upward or downward trajectory of Fortune’s wheel. This should not be surprising in view of narrative’s task of providing reading patterns for typically human predicaments. The writing of history, on the other hand, observes quite different tasks. Most historical writing appears to emerge from two needs: the necessity of fixing in writing what is fast

|| 71 Vgl. Fludernik: Towards a ‚Natural‘ Narratology, S. 38. 72 Vgl. Fludernik: Fiction vs. Non-Fiction, S. 93, sowie hier: „[C]onversational storytelling is preponderantly autodiegetic, i.e. such stories are narratives of personal experience, and hence they relate to actual events, even though their representation is fictionalized.“ (Monika Fludernik: Factual Narrative: A Missing Narratological Paradigm. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift 63 [2013] H. 1, S. 117–134, hier S. 133.) 73 Fludernik: Fiction vs. Non-Fiction, S. 93. 74 Vgl. Fludernik: Fiction vs. Non-Fiction, S. 94, sowie Fludernik: Towards a ‚Natural‘ Narratology, S. 42. 75 Fludernik: Towards a ‚Natural‘ Narratology, S. 41. 76 Fludernik: Einführung in die Erzähltheorie, S. 122. 77 Fludernik: Einführung in die Erzähltheorie, S. 122.

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receding from common memory; and the conscious interpretation of past events in the light of present-day concerns.78

Wäre Historiografie narrativ (sensu Fludernik), würde dies außerdem bedeuten, dass das Erzählte durch das Bewusstsein etwa einer historischen Figur gefiltert würde – historiografische Inhalte seien aber üblicherweise nicht von individuellen Bewusstseinszuständen abhängig zu machen und daher grundsätzlich nicht experientiell.79 Daher beharrt Fludernik – letztlich aus systematischen Gründen – auf einer strikten Trennung von Geschichte und ‚natürlichem‘ Erzählen: „History, by definition, is that area of study which interprets, orders, analyses and attempts to explain human experience, but it does not set out to represent such experience.“80 Umgekehrt werden somit auch narrativen Texten historiografische Funktionen per definitionem abgesprochen, denn „the experience portrayed in narrative is typically non-historical (non-documentary, non-argumentational)“81. Die Literatur könne daher keine historiografischen Funktionen erfüllen. Eine solche strikte Trennung von Literatur und Geschichte steht im Widerspruch zu den Bemühungen der jüngsten literaturwissenschaftlichen Gattungsforschung, den Interferenzen zwischen literarischem und historiografischem Diskurs gerecht zu werden. Vor allem aber ignoriert sie den inzwischen eher offenen Umgang mit Gattungskonventionen und Erkenntniszielen in der Geschichtsschreibung, worauf etwa Jonas Grethlein aufmerksam macht: Die von Fludernik genannten Aufgaben der Historiografie – interpretieren, ordnen, analysieren, erklären – seien zwar an die Gegenwartsperspektive des Historikers und somit an die bereits eingelöste Zukunft der historischen Akteure gebunden. Und durch diesen retrospektiven ‚Draufblick‘ würden in der Tat jene Elemente aus der Erzählung ausgeschlossen, die Experientialität evozieren könnten: „In dem Maße wie die Historiographie […] sich ihre überlegene Perspektive zunutze macht, entfernt sie sich von der Perspektive der historischen Akteure und gibt die Erfahrungshaftigkeit von Geschichte auf.“82 Eine konsequente Beschränkung auf diese traditionelle Perspektive sei jedoch längst nicht mehr zeitgemäß:

|| 78 Fludernik: Towards a ‚Natural‘ Narratology, S. 24–25. 79 Vgl. Fludernik: Fiction vs. Non-Fiction, S. 93. 80 Fludernik: Towards a ‚Natural‘ Narratology, S. 41. 81 Fludernik: Towards a ‚Natural‘ Narratology, S. 39. 82 Jonas Grethlein: „Narrative Referenz“. Erfahrungshaftigkeit und Erzählung. In: Erfahrung und Geschichte. Historische Sinnbildung im Pränarrativen. Hg. v. Thiemo Breyer und Daniel Creutz. Berlin/New York 2010. S. 21–39, hier S. 28.

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Erfahrungshaftigkeit, die Weise wie historische Akteure Erfahrungen machen, und die Offenheit der Vergangenheit, als sie noch eine Gegenwart war, mag in den meisten Darstellungen zeitgenössischer Historiker keine Rolle spielen, aber darin ist weniger eine Notwendigkeit als vielmehr ein Defizit zu sehen. Die Erfahrungen vergangener Menschen sind, wenn auch nicht der einzige, so doch ein wichtiger Gegenstand historischer Rekonstruktion.83

Dass Fludernik die tatsächliche Reichweite des historiografischen Diskurses verkennt, kritisieren auch Stephan Jaeger, der Fludernik eine „Vereinfachung der Darstellungsmodi von Geschichtsschreibung“84 vorwirft, und Daniel Fulda: „From the perspective of history-theory, the dichotomization of historical knowledge and experience is surely untenable.“85 Nicht zuletzt als Antwort auf die zahlreichen kritischen Stimmen, aber auch als Reaktion auf die Konjunktur literarisch-historiografischer borderline-Phänomene, lässt sich Fludernik zunehmend auf ein graduelles Stufenmodell der Narrativität in historiografischen Texten ein: „A solution […] can be found if one takes experiential narrative to be an option that is foregrounded in fiction and backgrounded in factual narrative.“86 Mit einem Anstieg der Experientialität werde allerdings wissenschaftliche Strenge eingebüßt: „However, instead of seeing historical writing generally as having zero narrativity (owing to a lack of experientiality), I would now argue that experientiality (and hence narrativity) occurs on a scale, and that the more academic a historical text is, the less experientiality there will be.“87 Bei Experientialität und Narrativität handle es sich somit

|| 83 Jonas Grethlein: „Narrative Referenz“, S. 29. Indem Grethlein nachweist, dass es eine solche Geschichtsschreibung bereits in der Antike gegeben hat, bekräftigt er sein Plädoyer für eine Öffnung der Gattungskonventionen. 84 Stephan Jaeger: Erzählen im historiographischen Diskurs. In: Wirklichkeitserzählungen. Felder, Formen und Funktionen nicht-literarischen Erzählens. Hg. v. Christian Klein und Matías Martínez. Stuttgart/Weimar 2009. S. 110–135, hier S. 120. 85 Daniel Fulda: ‚Selective History‘. Why and How ‚History‘ Depends on Readerly Narrativization, with the Wehrmacht Exhibition as an Example. In: Narratology Beyond Literary Criticism. Mediality, Disciplinarity. Hg. v. Jan Christoph Meister. Berlin 2005. S. 173–194, hier S. 181. 86 Fludernik: Factual Narrative, S. 133. Ähnliche Hinweise finden sich sporadisch auch schon in Towards a ‚Natural‘ Narratology: „However, since all narrative includes non-experiential sequences, I will allow a place in the model for such forms of narrative, categorizing historical writing as narrative with restricted narrativity, narrative that has not quite come into its own.“ (Fludernik: Towards a ‚Natural‘ Narratology, S. 26.) Zu fiktionalisierenden Tendenzen in historiografischen Texten vgl. Fludernik: Towards a ‚Natural‘ Narratology, S. 40. 87 Monika Fludernik: Experience, Experientiality, and Historical Narrative. In: Erfahrung und Geschichte. Historische Sinnbildung im Pränarrativen. Hg. v. Thiemo Breyer und Daniel Creutz. Berlin/New York 2010. S. 40–72, hier S. 50.

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um graduelle Phänomene, die realiter nie völlig ausgereizt werden, aber offenbar auch kaum je völlig ausbleiben. Je umfangreicher die experientiellen Inhalte und je erfahrungsintensiver deren bewusstseinsmäßige Vermittlung, desto reibungsloser die Narrativisierung und desto konzentrierter die Evokation von Experientialität beim Rezipienten. Wie insbesondere im Zusammenhang mit Gattungsfragen ersichtlich wird, ruft Fluderniks unkonventioneller Narrativitätsbegriff immer wieder Missverständnisse hervor, die meistens auf eine Vermengung von Fluderniks Terminologie mit klassischen narratologischen Begriffen und dem allgemeinen Sprachgebrauch zurückzuführen sind.88 So gelangt man zu scheinbar widersprüchlichen Begriffskonstruktionen wie etwa ‚nicht-narrative Erzählung‘ – in Fluderniks Theorie handelt es sich hierbei schlichtweg um einen Erzähltext, der in der Rezeption keine Experientialität evoziert. Solange man hier die textuelle und die kognitive Ebene konsequent auseinanderhält, kann Fludernik in ihrer begrifflichen Stringenz überzeugen. Gleichwohl muss sie sich den Vorwurf gefallen lassen, einen für allgemeine literaturwissenschaftliche Zwecke eher unbrauchbaren Narrativitätsbegriff zu verwenden, denn durch das Primat der Experientialität wären beispielsweise auch die meisten Gedichte als narrativ zu bezeichnen.89 Der hiermit abgeschlossene Überblick zu den Grundbegriffen und Hauptargumenten von Fluderniks ‚Natural‘ Narratology bildet den theoriegeschichtlichen Hintergrund der jüngeren Entwicklungen in der literaturwissenschaftlichen Experientialitätsforschung und dient dem Verständnis nachfolgender Ausführungen. Wie sich zeigen wird, ist Fluderniks Ansatz in weiten Teilen durchaus kompatibel mit Caracciolos Neuansatz. Daher wird auch im weiteren Verlauf dieser Arbeit beispielsweise von ‚Naturalisierung‘ und ‚Bewusstseinszuschreibung‘ die Rede sein – dann allerdings vor dem Hintergrund jener kognitionswissenschaftlichen Grundannahmen, die im nachfolgenden Kapitel benannt und erläutert werden.

|| 88 So spricht etwa Zerweck oben im Zitat (siehe Kapitel 2.1.3) unvorsichtigerweise von einer Narrativisierung eines narrativen Textes – was nur Sinn macht, wenn man für „narrativen Text“ die klassische Begriffsverwendung voraussetzt. 89 Vgl. die Kritik von Jan Alber: The „Moreness“ or „Lessness“ of „Natural“ Narratology: Samuel Beckett’s „Lessness“ Reconsidered. In: Style 36 (2002) H. 1, S. 54–75, hier S. 69.

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2.2 Enaktivistischer Ansatz Die narratologische Kategorie der Experientialität wurde von dem Literaturwissenschaftler Marco Caracciolo in einigen Aufsätzen sowie in seiner 2014 erschienenen Dissertation einer „radical redefinition“90 unterzogen. Ihm geht es weniger darum, die evidenten Schwachstellen in Fluderniks Modell zu beseitigen, als vielmehr um ein gänzlich neues Konzept von Experientialität: „I will use this word in a slightly different sense: my focus will be not just on how stories can ‚evoke‘ real-life experience, but on how they can provide new imaginative experiences.“91 Je stärker Erzählungen auf den Erfahrungshintergrund der Leser Bezug nehmen und dabei ‚erfahrungshafte‘ Simulationen auslösen, desto höher sei ihr Grad an Experientialität. An Fludernik hingegen sei zu bemängeln, dass sie das Verhältnis von Erzählung und Erfahrung auf die bloße Repräsentation von Erfahrungen und somit auf die Erfahrungen von Figuren und Erzählern reduziere. Statt Erfahrungen lediglich als solche zu erkennen und die Situation des Erzählers mittels Kriterien erfahrungsgemäßer Äußerungskontexte zu interpretieren, kommt dem Leser laut Caracciolo vielmehr die Aufgabe zu, seinen eigenen Erfahrungshaushalt zu den dargestellten Erfahrungsinhalten in Bezug zu setzen und ihn auf diese Weise zu erweitern.92 Diesen Neuansatz stützt Caracciolo auf die kognitionswissenschaftliche Strömung des Enaktivismus.93 Dessen Positionen sind verhältnismäßig radikal und daher teilweise umstritten, können sich aber auf anerkannte philosophische Vordenker in der Phänomenologie und im amerikanischen Pragmatismus berufen.94 Generell ist der Enaktivismus inner-

|| 90 Marco Caracciolo: Notes for a(nother) Theory of Experientiality. In: Journal of Literary Theory 6 (2012) H. 1, S. 177–194, hier S. 177. 91 Marco Caracciolo: On the Experientiality of Stories. A Follow-up on David Herman’s „Narrative Theory and the Intentional Stance“. In: Partial Answers 10 (2012) H. 2, S. 197–221, hier S. 199. 92 „Unlike Fludernik, I have insisted not on the representation of human experience in narrative, but on narrative’s entanglement in the web of human experience – and on its capacity to alter the shape of this web.“ (Caracciolo: Notes for a(nother) Theory of Experientiality, S. 191.) 93 „Overall, what enactivism does for my argument is provide an integrative theoretical model: its focus on experience, embodiment, and interaction underlies all of my claims about readers’ engagement with narrative.“ (Marco Caracciolo: The Experientiality of Narrative. An Enactivist Approach. Berlin/Boston 2014, S. 8.) 94 Vgl. Joerg Fingerhut/Rebekka Hufendiek/Markus Wild: Einleitung. In: Philosophie der Verkörperung. Grundlagentexte zu einer aktuellen Debatte. Hg. v. dens. Berlin 2013. S. 9–102, hier S. 25–43, oder Shaun Gallagher: Philosophical Antecedents of Situated Cognition. In: The Cambridge Handbook of Situated Cognition. Hg. v. Philip Robbins und Murat Aydede. Cambridge/New York 2009. S. 35–51, sowie speziell zu phänomenologischen Implikationen

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halb der sogenannten ‚zweiten Generation‘ der Kognitionswissenschaften zu verorten, die sich demnach relativ geschlossen von einer ‚ersten Generation‘ abgrenzt.95 In einem analogen Abgrenzungsverhältnis bildet Caracciolos enaktivistisches Fundament die Voraussetzung für seine Grundsatzkritik an Fluderniks theoretischer Ausrichtung, die er als repräsentationalistisch charakterisiert. Der Enaktivismus versteht sich als eine radikale Gegenposition zum klassischen Repräsentationsparadigma.96 Letzteres steht in der Tradition des cartesianischen Dualismus und beruht auf einer strikten Trennung von Materie und Geist. Demnach handle es sich bei Kognitionen um rein geistige Vorgänge, wobei die Merkmale und Veränderungen der Umwelt wie auch des eigenen Körpers in eine Symbolsprache übersetzt und von ursprünglichen Modi der Wahrnehmung entkoppelt werden – die Sprachverarbeitung verläuft dann über amodale mentale Repräsentationen. Im Gegensatz dazu behauptet der Enaktivismus eine – dezidiert anti-cartesianische – Kontinuität zwischen Körper und Geist.97 Wenn jedoch die Grenze zwischen Körper und Geist als durchlässig erachtet wird, dann kann auch der Bereich der Kognition auf Körper und Umwelt ausgeweitet werden. Bedeutungen werden daher nicht rein symbolisch, sondern unter Berücksichtigung eines mehr oder weniger konkreten Handlungs-, Wahrnehmungs- oder Erlebniskontextes gebildet. Diese explizite Situationsbezogenheit teilt sich der Enaktivismus mit einigen benachbarte Theorieansätzen, die im Folgenden erläutert und unter dem Sammelbegriff der ‚situierten Kognition‘ zusammengefasst werden.

2.2.1 Situierte Kognition In den ‚kognitivistischen‘ Anfängen der Kognitionswissenschaften reduzierte man Kognition auf die mentale Symbolverarbeitung im Sinne der Repräsentation propositionaler Strukturen – eine objektiv gegebene äußere Welt werde in ein Datenformat übersetzt, mit dem sich die eingehenden Informationen berechnen

|| Evan Thompson: Mind in Life. Biology, Phenomenology, and the Sciences of Mind. Cambridge (MA)/London 2007, S. 16–36, und Véronique Havelange: The Ontological Constitution of Cognition and the Epistemological Constitution of Cognitive Science: Phenomenology, Enaction, and Technology. In: Enaction. Toward a New Paradigm for Cognitive Science. Hg. v. John Stewart, Olivier Gapenne und Ezequiel A. Di Paolo. Cambridge (MA)/London 2010. S. 335–359. 95 Zur Unterscheidung zweier ‚Generationen‘ in den Kognitionswissenschaften vgl. meine Ausführungen zu Beginn von Kapitel 1.5. 96 Vgl. etwa Miriam Kyselo: Enaktivismus. In: Handbuch Kognitionswissenschaft. Hg. v. Achim Stephan und Sven Walter. Stuttgart/Weimar 2013. S. 197–201, hier S. 197. 97 Zur ‚Kontinuitätsthese‘ siehe etwa Thompson: Mind in Life, S. 128–129.

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lassen. Da solche Berechnungen unter anderem mithilfe von Computern erforscht wurden, firmiert der ‚kognitivistische‘ Ansatz auch unter dem Schlagwort ‚Computermodell des Geistes‘. In der Tat ist man lange Zeit davon ausgegangen, dass das menschliche Gehirn durch einen Computer ersetzt und somit künstliche Intelligenz erzeugt werden könnte.98 Dahinter stand die Annahme, dass das Gehirn wie eine Maschine funktioniert, die für kognitive Prozesse lediglich die ‚Hardware‘ bereitstellt. Da die menschliche Kognition somit nicht von den spezifischen Eigenschaften der Neuronen abhänge, könne sie grundsätzlich auch mittels eines anderen – nämlich künstlichen – Trägers stattfinden. In Abgrenzung von solchen dualistisch ausgerichteten Strömungen gehen jüngere kognitionswissenschaftliche Theorien davon aus, dass kognitive Prozesse und mentale Zustände nicht in einem abgeschlossenen System zu verorten sind, sondern stets in ihrer Beziehung zum lebendigen Körper und zu externen materiellen Gegenständen beschrieben werden müssen. Innerhalb der noch jungen Forschungslandschaft lassen sich fünf – aufeinander aufbauende und ineinander verschränkte – Grundannahmen unterscheiden:99 Kognitionen sind ‚verkörpert‘ (embodied) und in eine Umwelt ‚eingebettet‘ (embedded); sie können auf diese Umwelt ‚ausgedehnt‘ (extended) und im physischen und sozialen Raum ‚verteilt‘ (distributed) werden; dabei bringen sie diese Umwelt selbst hervor und sind daher ‚enaktiv‘ (enactive). Häufig beklagte terminologische Probleme ergeben sich dadurch, dass embodiment oder embodied cognition nicht nur die Verknüpfung des Denkens mit dem Körper bezeichnet, sondern üblicherweise auch stellvertretend für alle fünf genannten Grundannahmen verwendet wird und somit als Oberbegriff und Name des gesamten Forschungsparadigmas fungiert. Diese Doppelbezeichnungsfunktion birgt eine Verwechslungsgefahr und führt zu begrifflicher Unschärfe.100 Vor

|| 98 Der klassische Kognitivismus basiert auf denselben Grundannahmen wie die sich gleichzeitig etablierende Künstliche-Intelligenz-Forschung – für beide gilt 1956 als Gründungsjahr, vgl. Tarek R. Besold/Kai-Uwe Kühnberger: Kognition als Symbolverarbeitung: Das Computermodell des Geistes. In: Handbuch Kognitionswissenschaft. Hg. v. Achim Stephan und Sven Walter. Stuttgart/Weimar 2013. S. 156–163, hier S. 156. 99 Eine gewisse Evidenz erlangen diese inzwischen auch durch Forschungen in den Neurowissenschaften, vgl. hierzu Friedemann Pulvermüller: Grounding Language in the Brain. In: Symbols and Embodiment. Debates on Meaning and Cognition. Hg. v. Manuel de Vega, Arthur M. Glenberg und Arthur C. Graesser. Oxford/New York 2008. S. 85–116. 100 Ganze zwölf Verwendungsweisen von embodiment innerhalb der Kognitionswissenschaften unterscheidet Tim Rohrer: Embodiment and Experientialism. In: The Oxford Handbook of Cognitive Linguistics. Hg. v. Dirk Geeraerts und Hubert Cuyckens. Oxford/New York 2007. S. 25– 47, hier S. 28–31.

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allem aber schließt der Ausdruck embodiment nicht die umweltbezogenen Aspekte von Kognition ein101 – diese jedoch sind für embeddedness, extension, distribution und enactivism ganz zentral. Um das Verhältnis des Körpers zu seiner Umwelt zu bezeichnen, ist daher vorzugsweise vom Begriff der Situiertheit (situatedness) Gebrauch zu machen.102 Um diesem Aspekt gerecht zu werden, vor allem aber zur Vermeidung von Verwechslungen, verwende ich ‚situierte Kognition‘ als Oberbegriff für alle fünf Grundannahmen (einschließlich des ‚verkörperten‘ Denkens),103 die im Folgenden nacheinander kurz erläutert werden. Embodiment Im Gegensatz zu klassischen kognitionswissenschaftlichen Ansätzen, die einen Einfluss des Körpers auf das Denken entweder ganz zurückgewiesen oder seine Rolle für nichtkonstitutiv erachtet haben, bezeichnet embodiment die enge Verbundenheit kognitiver Prozesse mit dem Körper des denkenden Subjekts. So wurde etwa in einer empirischen Studie gezeigt, dass die subjektive Bewertung von Ideogrammen tendenziell positiver ausfällt, wenn die Probanden ihre Arme gebeugt in Körpernähe halten, und tendenziell negativer, wenn sie die Arme vom Körper weg strecken104 – die angenehme Körperhaltung begünstigt positive und die aversive Körperhaltung negative Werturteile. Die Bedeutung des Symbols

|| 101 Dieses Begriffsdefizit setzt sich im deutschen Sprachraum fort, wenn allgemein von einer „Philosophie der Verkörperung“ gesprochen wird, vgl. Joerg Fingerhut/Rebekka Hufendieck/Markus Wild (Hg.): Philosophie der Verkörperung. Grundlagentexte zu einer aktuellen Debatte. Berlin 2013. 102 Vgl. Randall D. Beer: The Dynamics of Active Categorical Perception in an Evolved Model Agent. In: Adaptive Behavior 11 (2003) H. 4, S. 209–243, hier S. 211. 103 Ich folge hierbei der Systematisierung von Philip Robbins/Murat Aydede: A Short Primer on Situated Cognition. In: The Cambridge Handbook of Situated Cognition. Hg. v. dens. Cambridge/New York 2009. S. 3–10, hier S. 3, sowie deren erweiterter Fassung in Holger Lyre/Sven Walter: Situierte Kognition (situated cognition). In: Handbuch Kognitionswissenschaft. Hg. v. Achim Stephan und Sven Walter. Stuttgart/Weimar 2013. S. 184–185. – Des Weiteren sei darauf hingewiesen, dass mit dem Terminus grounded cognition ein weiterer Oberbegriff im Umlauf ist. Das Attribut grounded meint, dass mentale Entitäten auf eine physische Grundlage bezogen werden: „Humans [...] ground many words in physical experience in the world. [...] [T]he meaning of round is grounded in visual features of exemplars, push in motor control structures, heavy in haptic features, and so on.“ (Deb Roy: Grounding Words in Perception and Action: Computational Insights. In: Trends in Cognitive Sciences 9 [2005] H. 8, S. 389–396, hier S. 389.) 104 Vgl. John T. Cacioppo/Joseph R. Priester/Gary G. Bernston: Rudimentary Determinants of Attitudes. II: Arm Flexion and Extension Have Differential Effects on Attitudes. In: Journal of Personality and Social Psychology 65 (1993) H. 1, S. 5–17.

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wird somit nicht allein durch den Abgleich mit bereits vorfindlichen Wissensstrukturen ermittelt, sondern entsteht unter dem Einfluss des eigenen Körpers und dessen aktuellen Zustands. Es scheint also, dass der kognitive Apparat nicht dazu in der Lage ist, von seinem Trägerorganismus zu abstrahieren. Eine schwache Interpretation dieses Befunds begnügt sich mit der Erklärung, der Körper nehme bloß willkürlich auf das Denken Einfluss oder „verzerre“ es gar. Die embodiment-These hingegen artikuliert sich wesentlich radikaler: Der Körper nimmt nicht bloß unvermeidlich Einfluss auf das Denken, sondern konstituiert es vielmehr – dies besagt die sogenannte Konstitutions-Hypothese: „[A]ccording to the Constitution claim, the body or world is a constituent of, and not merely a causal influence on, cognition.“105 Diese Annahme bezieht sich nicht nur auf bestimmte Körperzustände, sondern auch auf permanente Körpereigenschaften: Die Armhaltung kann nur dann konstitutiv für das Denken sein, wenn der Körper über Arme verfügt. Hätte er hingegen andere körperliche Eigenschaften (etwa Flügel oder Tentakeln), wären auch andere Auswirkungen auf das Denken zu erwarten. Das Denken ist demnach nicht nur von einem, sondern von seinem Körper abhängig – menschliches Denken wäre ohne menschlichen Körper unmöglich.106 Nicht zuletzt sei daraus zu schließen, dass sich Gehirn und Körper die Arbeit effektiv untereinander aufteilen – die embodiment-These impliziert die „Auffassung […], der Körper sei selbst eine wertvolle kognitive Ressource und könne durch die spezifischen Details seiner materiellen Beschaffenheit zur energie- und berechnungseffizienten Lösung von Problemen beitragen“107. Ein einfaches Beispiel hierfür ist das Rechnen unter Zuhilfenahme der eigenen Finger – hierbei wird ein Teil des Rechenprozesses ‚verkörpert‘, indem die Hände als Kurzzeitspeicher für Zahlen dienen und somit das Gehirn entlasten. Embeddedness Die embedding-These weitet die Merkmale der ‚verkörperten‘ Kognition auf die den Körper umgebende Umwelt aus. Grundsätzlich kann die Umwelt einen ähnlichen Einfluss auf das Denken ausüben wie der eigene Körper und dessen Zu-

|| 105 Lawrence Shapiro: Embodied Cognition. New York 2011, S. 5. 106 Vgl. Shapiro: Embodied Cognition, S. 70–113. – Wenn menschliches Denken wesentlich vom menschlichen Körper abhängt, dann können weder Roboter und Computerprogramme noch mathematische Gleichungen Aufschluss geben über das menschliche Denken – das ‚Computermodell des Geistes‘ und die Künstliche-Intelligenz-Forschung verlieren somit ihren originären Erklärungsanspruch. 107 Sven Walter: Kognition. Stuttgart 2014, S. 55.

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stände, und zwar nicht zuletzt deshalb, weil der Körper permanent auf seine Umwelt reagiert. Doch auch ‚eingebettetes‘ Denken meint nicht lediglich, dass die Umwelt das Denken (mehr oder weniger kontingent) beeinflusst. Vielmehr könne man durch eine strategische Gestaltung der Umwelt das eigene Gehirn entlasten und kognitive Prozesse optimieren. So kann etwa ein Barkeeper die für einen bestimmten Cocktail nötigen Spirituosen und Säfte im Regal nebeneinander anordnen und erleichtert sich somit das Erinnern der Rezeptur.108 In Ergänzung zu solchen individuellen Formen der Organisation des Arbeits- oder Lebensumfelds werden Umwelten auch in kollektiver Dimension umgestaltet, wie etwa beim Aufstellen von Wegweisern und Warnschildern im Straßenverkehr.109 Extension Wenn Teile der Kognition gar nicht mehr neuronal vollzogen, sondern vielmehr einer gestalteten Umwelt überantwortet werden, muss das Wesen von Kognition überdacht und der Kognitionsbegriff neu definiert werden: Wenn der Umwelt für unsere kognitiven Leistungen tatsächlich eine so zentrale Rolle zukommt, mit welchem Recht betrachten wir das Gehirn bzw. Gehirn und Körper dann noch als das alleinige materielle Substrat kognitiver Prozesse? Was qualifiziert Teile des Gehirns oder Körpers als Substrat „echter“ kognitiver Prozesse, während die Umwelt nur eine zwar wichtige und womöglich unverzichtbare Ressource ist, die Kognition unterstützt und ermöglicht, selbst aber nicht als kognitiv gilt?110

Diese augenscheinliche Inkonsequenz kann beseitigt werden, indem der Kognitionsbegriff neu gefasst wird: Kognition überschreite nicht nur den neuronalen Bereich (wofür schon die embodiment-These plädiert), sondern auch die Grenzen des eigenen Körpers – daher müsse die Sphäre kognitiver Prozesse auf Orte und Gegenstände der Umwelt ‚erweitert‘ werden: „Kognitive Prozesse sind in dem Sinne ‚erweitert‘ (extended), dass sie zum Teil durch Prozesse in der Umwelt jenseits der körperlichen Grenzen eines Organismus realisiert sind.“111 Die Erweiterungsthese basiert auf einem Funktionalismus: Ein Vorgang in der Umwelt gilt als kognitiver Prozess oder Teilprozess, wenn er ebenso gut in einem Gehirn ab-

|| 108 Dieses Beispiel sowohl in Fingerhut et al.: Einleitung, S. 73, als auch in Walter: Kognition, S. 69. 109 Vgl. Fingerhut et al.: Einleitung, S. 73–74. 110 Walter: Kognition, S. 80. 111 Walter: Kognition, S. 80.

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laufen könnte und auf externer Ebene dieselben Funktionen erfüllt wie auf interner.112 Derart ‚erweiterte‘ Kognitionen lassen sich am ehesten dann nachweisen, wenn beim Denken spontan in die Umwelt eingegriffen wird – dies passiert vor allem beim Problemlösen, wie eine Studie von David Kirsh und Paul Maglio zeigt:113 Bei dem Computerspiel Tetris müssen zweidimensionale Formen übereinandergestapelt werden. Um hierbei möglichst wenige Zwischenräume entstehen zu lassen, können die Formen gedreht werden. Hierbei zeigt sich, dass die Spieler die Formen oftmals in verschiedene Drehpositionen versetzen, bevor sie wissen, welche die passende ist. Um das Problem zu lösen, benutzen sie nicht allein ihr Vorstellungsvermögen, sondern verändern die Umwelt probeweise. Laut der Messdaten sind sie dabei deutlich schneller, als wenn die Lösung ausschließlich durch interne mentale Prozesse herbeigeführt und dann nur noch motorisch umgesetzt würde. Folglich verändert der Mensch seine Umwelt, um sein Gehirn zu entlasten und kognitive Prozesse zu beschleunigen. Da die Umweltveränderung einer kognitiven Leistung gleichkommt, gilt sie selbst als kognitiver Teilprozess. Distribution Während die Erweiterungsthese generell darauf aufmerksam macht, dass auch externe Bereiche zum Träger von kognitiven Prozessen werden können, werden unter dem Schlagwort der ‚verteilten‘ Kognition verschiedene Szenarien solcher Externalisierungen diskutiert. Die häufigste Form der ‚Verteilung‘ kognitiver Teilprozesse vollzieht sich mittels ‚kognitiver Artefakte‘: „Zu kognitiven Artefakten in diesem Sinne gehören so einfache Dinge wie der berühmte Knoten im Taschentuch, Papier und Bleistift, eine Einkaufsliste oder ein Kalender, aber auch so hochentwickelte technische Artefakte wie Taschenrechner oder Mobiltelefone.“114 Eine Verteilungsstruktur kann sich aber auch über mehrere soziale

|| 112 Vgl. den (erstmals 1998 publizierten) richtungsweisenden Aufsatz von Andy Clark/David J. Chalmers: The Extended Mind. In: The Extended Mind. Hg. v. Richard Menary. Cambridge (MA) 2010. S. 27–42, hier S. 29, oder in der deutschen Übersetzung in Andy Clark/David J. Chalmers: Der erweiterte Geist. In: Grundkurs Philosophie des Geistes. Bd. 3: Intentionalität und mentale Repräsentation. Hg. v. Thomas Metzinger. Paderborn 2010. S. 501–517, hier S. 503. 113 Vgl. David Kirsh/Paul Maglio: On Distinguishing Epistemic from Pragmatic Action. In: Cognitive Science 18 (1994) H. 4, S. 513–549. 114 Oliver R. Scholz: Soziale und verteilte Kognition (social/distributed cognition). In: Handbuch Kognitionswissenschaft. Hg. v. Achim Stephan und Sven Walter. Stuttgart/Weimar 2013. S. 202–206, hier S. 204. Vgl. auch Edwin Hutchins: Cognitive Artifacts. In: The MIT Encyclopedia of the Cognitive Sciences. Hg. v. Robert A. Wilson und Frank C. Keil. Cambridge (MA) [u. a.] 1999. S. 126–128.

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Akteure erstrecken – etwa in Form von ‚transaktiven Gedächtnissen‘: „Dass Menschen in Gruppen leben und arbeiten, kann ihre Gedächtnisleistungen nachhaltig beeinflussen. Jede einzelne Person braucht sich nicht an alles zu erinnern, was die Gruppe wissen muss; es genügt, dass jede Person im Gedächtnis behält, welches Mitglied der Gruppe wahrscheinlich in der Zukunft eine bestimmte Information abrufen kann.“115 Auch in dieser Spielart situierter Kognition geht es nicht bloß um eine Entlastung des individuellen Gehirns, sondern vor allem um die Optimierung des Gesamtprozesses. So sind etwa wissenschaftliche Projektgruppen planmäßig so strukturiert, dass an unterschiedlichen Stellen verschiedenes Wissen generiert wird, wobei am Ende nur die Einzelergebnisse ausgetauscht und zusammengeführt werden. Auf diese Weise können kognitive Leistungen erbracht werden, die das Vermögen eines einzelnen Wissenschaftlers übersteigen.116 Enaction Der Enaktivismus speist sich zu einem großen Teil aus den vier anderen Grundannahmen der situierten Kognition,117 geht aber radikal darüber hinaus. Dem enaktiven Ansatz zufolge ist eine Umwelt nicht einfach gegeben und mental repräsentierbar, sondern wird erst durch die Interaktion eines Organismus mit seiner Umgebung ‚hervorgebracht‘ (enacted).118 Diese These basiert zunächst auf einem

|| 115 Scholz: Soziale und verteilte Kognition, S. 204. 116 Manche Kognitionen sind ohne Verteilung auf ein Netz von Akteuren und Apparaten gar nicht möglich – etwa bei der Schiffsnavigation, vgl. die umfangreiche Studie von Edwin Hutchins: Cognition in the Wild. Cambridge (MA)/London 1995. 117 Diese Behauptung eines implikativen Verhältnisses wird allerdings von manchen Seiten auch kritisch gesehen – so etwa von Richard A. Menary: Introduction to the Special Issue on 4E Cognition. In: Phenomenology and the Cognitive Sciences 9 (2010) H. 4, S. 459–463, sowie Walter: Kognition, S. 105–107. 118 Vgl. Walter: Kognition, S. 99. Francisco J. Varela, Evan Thompson und Eleanor Rosch, die mit The Embodied Mind das Gründungsdokument des Enaktivismus vorgelegt haben, fassen ihren kognitionswissenschaftlichen Neuansatz wie folgt zusammen: „Im Rahmen dieser neuen Methode benutzen wir den Begriff des Inszenierens. Mit diesem Programm soll eine – in der Kognitionswissenschaft vorherrschende – Annahme in Frage gestellt werden, nach der Kognition bedeutet, daß ein unabhängig von der Welt existierendes System eine Welt repräsentiert, die unabhängig von seinen Wahrnehmungs- und Kognitionsfähigkeiten besteht. Demgegenüber sehen wir die Kognition als verkörpertes Handeln [...]. Außerdem stellen wir diese Sicht der Kognition in den Kontext der Evolutionstheorie und argumentieren, daß Evolution nicht auf optimaler Anpassung basiert, sondern auf natürlichem Driften.“ (Francisco J. Varela/Evan Thompson/Eleanor Rosch: Der Mittlere Weg der Erkenntnis. Die Beziehung von Ich und Welt in der

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evolutionsbiologischen Argument: Jede Spezies verfügt über spezifische und jeweils begrenzte körperliche Eigenschaften, Wahrnehmungsfähigkeiten und neuronale Verarbeitungskapazitäten sowie daran angepasste Selbsterhaltungsbedürfnisse. Da somit jede Spezies ihren eigenen Blick auf die Welt hat, sind ihre Umwelten jeweils artspezifisch, wobei artspezifische Umwelten freilich nicht objektiv vorhanden sind, sondern erst durch die Tätigkeiten des Lebewesens gebildet werden – durch seine Interaktion mit der Welt macht jedes Lebewesen Erfahrungen und bildet Sinnstrukturen aus, die es auf die erfahrene Umwelt projiziert. Nun könnte angenommen werden, die Konstruktion der Umwelt sei irgendwann abgeschlossen, sodass sich die kognitive Leistung des Lebewesens auf interne Repräsentation und Mustererkennung beschränken kann – der Enaktivismus jedoch hält den Akt des ‚Hervorbringens‘ für unabschließbar und sieht darin das Grundprinzip jeglicher Kognition: Musterbildung [kann] zu keinem Zeitpunkt als abgeschlossen gelten; vielmehr beeinflusst jede weitere Interaktion durch die Art des Feedbacks die Strukturen, die unseren Wahrnehmungen zugrunde liegen. […] Das System interagiert dem Enaktivismus zufolge vermittels bestimmter sensomotorischer Fähigkeiten permanent mit der Welt, und diese Interaktion selbst bringt gewisse Wahrnehmungserfahrungen hervor.119

Die permanente Veränderung der Umwelt stellt somit keinen bloßen Erkenntnisvorgang im klassischen Sinne dar, sondern basiert auf einer endlosen Verkettung von latenten Erfahrungsmomenten. Dabei ist dem Enaktivismus zufolge Erfahrung nicht nur im emphatischen Sinne eines bewussten Erlebens zu verstehen, sondern meint bereits die einfachsten Formen der Wechselwirkung zwischen Umwelt und Erfahrungshorizont. Folglich beruht auch Caracciolos Experientialitätskonzept auf einem denkbar weit gefassten Erfahrungsbegriff, der auch unbewusste Leserreaktionen und einfachste körperbasierte Resonanzen einschließt. In den nachfolgenden beiden Kapiteln muss jedoch erst noch geklärt werden, unter welchen Umständen enaktive Kognitionen auch im Sprachverstehen und bei der Verarbeitung fiktiver bzw. bloß vorgestellter Umwelten stattfinden.

|| Kognitionswissenschaft – der Brückenschlag zwischen wissenschaftlicher Theorie und menschlicher Erfahrung. Bern [u. a.] 1992, S. 15–16.) 119 Fingerhut et al.: Einleitung, S. 87.

54 | Experientialität 2.2.2 Anti-Repräsentationalismus Alle unter dem Sammelbegriff der situierten Kognition firmierenden Positionen haben eine dezidiert anti-repräsentationalistische Stoßrichtung. Damit versuchen sie sich nachdrücklich von der ‚ersten‘ kognitionswissenschaftlichen Generation abzugrenzen, in der die Funktionsweise kognitiver Prozesse stets im Rahmen einer Repräsentationslogik erklärt wurde. Vertreter der situierten Kognition hingegen sind darum bemüht, die etablierten Repräsentationsmodelle zu widerlegen oder zumindest ihre Reichweite stark zu begrenzen. Trotz aller Vehemenz zeigt sich allerdings, dass eine pauschale Zurückweisung des Repräsentationsparadigmas in letzter Konsequenz nicht durchführbar ist – stattdessen lohnt ein differenzierterer Umgang mit dem Repräsentationsbegriff. So wäre etwa mit Gottfried Vosgerau et al. zunächst einmal generell zwischen einem ‚liberalen‘ und einem ‚starken‘ Repräsentationsbegriff zu unterscheiden.120 Die ‚starke‘ Repräsentationsthese läuft darauf hinaus, dass das Wahrgenommene in eine Symbolsprache übersetzt wird und mentale Repräsentationen daher grundsätzlich eine propositionale Struktur aufweisen. So werde etwa bei der Betrachtung eines Baumes der Wahrnehmungseindruck als eine Vernetzung der symbolischen Einheiten BAUM, GRÜN und GROẞ repräsentiert. Bedeutungen werden hierbei allein durch Symbolverkettungen innerhalb des im semantischen Gedächtnis gespeicherten propositionalen Netzwerks erzeugt – die Bedeutung des betrachteten Baums speise sich demnach nicht etwa aus vorangegangenen ähnlichen Wahrnehmungserlebnissen, sondern aus vorangegangenen Erfahrungen mit ähnlichen Symbolverkettungen. Da hierbei originäre Wahrnehmungsaspekte eliminiert werden, handelt es sich um amodale Repräsentationen. Das ‚liberale‘ repräsentationalistische Lager weist dieses computationale Modell nicht unbedingt in Gänze zurück, legt jedoch das Hauptaugenmerk auf einfachere repräsentationale Funktionen des menschlichen Denkens. Ein derart erweiterter Repräsentationsbegriff berücksichtigt auch sogenannte modale Repräsentationen – diese seien mit spezifischen Wahrnehmungsmodi verknüpft, sodass bei Semantisierungsprozessen auch konkrete oder prototypische Wahrnehmungskontexte verarbeitet werden. So kann etwa von einem betrachteten Baum eine bildliche

|| 120 Vgl. Gottfried Vosgerau/Alois Knoll/Tobias Meilinger/Kai Vogeley: Repräsentation. In: Handbuch Kognitionswissenschaft. Hg. v. Achim Stephan und Sven Walter. Stuttgart/Weimar 2013. S. 386–402, hier S. 387–388.

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Kopie erstellt und gespeichert werden.121 Die visuellen Aspekte hervorhebend ist daher alternativ auch von „anschauliche[n] Repräsentation[en]“122, „depictive representations“123 oder „iconic representations“124 die Rede,125 während andere stärker auf die Merkmale der ‚Verkörperung‘ und des Erfahrungsbezugs verweisen und daher von embodied representations126 oder „experiential representations“127 sprechen. Hier wird bereits am Sprachgebrauch ersichtlich, dass der ‚liberale‘ Repräsentationalismus mit den Grundannahmen der situierten Kognition durchaus verträglich ist. Der Anti-Repräsentationalismus bezieht seinen Namen demzufolge aus seiner Gegnerschaft zur ‚starken‘ Repräsentationsthese und richtet sich zunächst einmal nur gegen die Definition von Kognition als Symbolverarbeitung

|| 121 Aufgrund der Ähnlichkeit von Original und Kopie werden modale Repräsentationen manchmal auch als analoge Repräsentationen bezeichnet. Bei amodalen Repräsentationen handelt es sich hingegen um eine Übersetzung der ursprünglichen Wahrnehmung in eine Symbolstruktur, sodass hierbei alternativ von digitalen Repräsentationen die Rede ist, vgl. etwa Wolfgang Schnotz: Textverstehen als Aufbau mentaler Modelle. In: Wissenspsychologie. Hg. v. Heinz Mandl und Hans Spada. München 1988. S. 299–330. Auf Schnotz bezugnehmend fasst Ralf Schneider wie folgt zusammen: „Grundsätzlich scheint das psychische System über zwei Möglichkeiten zu verfügen, Informationen zu repräsentieren. Zum einen kann es Informationen digitalisieren, d.h. in ein mentales Zeichensystem übersetzen, in dem die Informationen auch gespeichert, abgerufen und weiterverarbeitet werden. Zum anderen kann es analoge Abbildungen von Informationszusammenhängen erzeugen, die eine Isomorphie, d.h. eine strukturelle Gleichförmigkeit, zur ursprünglichen Wirklichkeitserfahrung aufweisen und immer wieder aufgerufen werden können.“ (Ralf Schneider: Grundriß zur kognitiven Theorie der Figurenrezeption am Beispiel des viktorianischen Romans. Tübingen 2000, S. 59–60.) 122 Vosgerau et al.: Repräsentation, S. 400. 123 Stephen M. Kosslyn/William L. Thompson/Giorgio Ganis: The Case for Mental Imagery. New York [u. a.] 2006, S. 10. 124 Mark Rowlands: Situated Representation. In: The Cambridge Handbook of Situated Cognition. Hg. v. Philip Robbins und Murat Aydede. Cambridge/New York 2009. S. 117–133, hier S. 118. 125 Dieser Repräsentationsmodus ist vor allem dann unverzichtbar, wenn einem schlichtweg die Begriffe fehlen, um den Wahrnehmungseindruck propositional zu repräsentieren. Dies kommt insbesondere bei Kindern, aber auch im Alltag von Erwachsenen (etwa bei der Betrachtung eines abstrakten Gemäldes) vor. Angelehnt an die Dichotomie amodal vs. modal wird daher auch zwischen begrifflichen und nichtbegrifflichen Repräsentationen unterschieden, vgl. Vosgerau et al.: Repräsentation, S. 399. 126 Vgl. Max Louwerse/Patrick Jeuniaux: Language Comprehension is Both Embodied and Symbolic. In: Symbols and Embodiment. Debates on Meaning and Cognition. Hg. v. Manuel de Vega, Arthur M. Glenberg und Arthur C. Graesser. Oxford/New York 2008. S. 309–326. 127 Rolf A. Zwaan: The Immersed Experiencer. Towards an Embodied Theory of Language Comprehension. In: The Psychology of Learning and Motivation 44 (2003), S. 35–62, hier S. 46.

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über amodale Repräsentationen.128 Hierbei wird von einigen radikalen Kritikern behauptet, die amodale Repräsentation sei eine reine Fiktion der Kognitionswissenschaften, die keinerlei Beitrag zur Erklärung kognitiver Prozesse leiste129 – während es sich bei der situierten Kognition um ein umfassendes Erklärungsmodell handle, das die klassischen Ansätze vollständig ersetze.130 Die meisten Ansätze aus dem Bereich der situierten Kognition jedoch machen durchaus Zugeständnisse an eine ‚liberale‘ Repräsentationslogik, denn in ihrer ‚liberalen‘ Lesart „besagt die These des Repräsentationalismus lediglich, dass flexibles Verhalten u. a. auf dem Vorliegen interner Zustände beruht, die eine Stellvertreterfunktion für andere Dinge übernehmen“131. Unabhängig davon, ob diese „Stellvertreterfunktion“ nun als ‚Repräsentation‘ bezeichnet wird oder nicht, ist sie für die meisten Vertreter der ‚zweiten Generation‘ der Kognitionswissenschaften unverzichtbar.132 Und sogar das amodale Repräsentationsmodell wird von Vertretern der situierten Kognition nicht immer vollends abgelehnt – ein eher gemäßigtes Lager hält es für fraglich, ob Sprachverstehen und abstraktes Denken ohne amodale symbolverarbeitende Repräsentationen auskommen: Eine naheliegende Kritik an der radikalen Position besteht darin, dass Formen von Verkörperlichung und situativer Einbettung allenfalls zur Erklärung niedriger, vorzugsweise mit Motorik verbundener Formen von Kognition beitragen können, sich aber nicht sämtliche höherstufige kognitive Leistungen, z. B. die Fähigkeit, Mathematik zu treiben, Schach zu spielen oder eine natürliche Sprache zu sprechen, auf körper- oder handlungsbezogene, nicht-propositionale Repräsentationen reduzieren lassen […].133

|| 128 Vosgerau et al. machen in diesem Zusammenhang darauf aufmerksam, dass der ‚starke‘ Repräsentationalismus in den Kognitionswissenschaften eigentlich kaum noch ernsthaft vertreten, sondern vielmehr immer wieder von den Anti-Repräsentationalisten als ‚leichter Gegner‘ zurechtgelegt wird, vgl. Vosgerau et al.: Repräsentation, S. 388. 129 Zu einer solchen Auffassung neigt etwa Lawrence W. Barsalou: Grounded Cognition. In: Annual Review of Psychology 59 (2008) H. 1, S. 617–645, hier S. 618. 130 Zur sogenannten replacement-Hypothese vgl. ausführlich Shapiro: Embodied Cognition, S. 114–157. 131 Vosgerau et al.: Repräsentation, S. 388. 132 Eine radikale Zurückweisung nicht nur amodaler, sondern auch modaler Repräsentationen findet sich etwa bei Michiel van Elk/Marc Slors/Harold Bekkering: Embodied Language Comprehension Requires an Enactivist Paradigm of Cognition. In: Frontiers in Psychology 1 (2010), Artikel 234. 133 Holger Lyre: Verkörperlichung und situative Einbettung (embodied/embedded cognition). In: Handbuch Kognitionswissenschaft. Hg. v. Achim Stephan und Sven Walter. Stuttgart/Weimar 2013. S. 186–192, hier S. 189.

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Die gemäßigten Vertreter der situierten Kognition vollziehen demnach keine radikale Kehrtwende in der Kognitionswissenschaft, sondern versuchen vielmehr, den Erklärungsanspruch klassischer Konzepte einzudämmen: Das computationale Modell des amodalen Repräsentierens könne bei Weitem nicht alle kognitiven Phänomene hinreichend erklären, könne sich aber unter anderem bei der kognitiven Sprachverarbeitung als funktional erweisen. Diese Eingeständnisse gehen aber nicht so weit, dass man das Sprachverstehen grundsätzlich auf die Übersetzung in amodale Repräsentationen und das Berechnen propositionaler Strukturen reduziert. Dies wäre ein unverhältnismäßiger Rückschritt, denn schließlich liegen bereits unzählige empirische Nachweise für ‚situiertes‘ und ‚verkörpertes‘ Sprachverstehen vor134 – die Verarbeitung über modale Repräsentationen erweist sich hierbei insofern als adaptiv, als dass sprachliche Informationen in der Regel schneller verarbeitet werden, wenn sie in einem Handlungsoder Wahrnehmungskontext interpretiert werden. Zwar könnten selbst hochkomplexe Handlungsfolgen rein propositional repräsentiert werden, jedoch würden dabei schlichtweg zu viele kognitive Ressourcen verbraucht werden: [M]entally representing essential characteristics of situations, such as perspective, motion, and emotions, would involve an overwhelming number of amodal propositions. The question is not so much, then, whether symbolic systems can represent these structures and processes because by definition they can. The question is much more whether they can do so given what we know about the limitations of working memory and attention plus what we know about language processing.135

Es muss daher eher gefragt werden, unter welchen Bedingungen einer amodalen Verarbeitung der Vorzug eingeräumt wird. Dies sei immer dann der Fall, wenn sich eine modale Verarbeitung als unangemessen erweist. Und in der Tat scheint eine situative Einbettung sämtlicher Teile eines umfassenderen Sprachverstehensprozesses weder nötig noch angemessen zu sein – wenn jedes Wort und jeder Satz mit einem visuellen Eindruck, einer Handlung oder einem Körperzustand verknüpft würde, wäre das Arbeitsgedächtnis ebenfalls schnell überlastet. Es gelte daher vielmehr das Prinzip einer effizienten Verteilung kognitiver Ressourcen, demgemäß gelegentlich auf eine rein symbolische Verarbeitung des

|| 134 Vgl. etwa den Forschungsüberblick in Arthur M. Glenberg/David Havas/Raymond Becker/Mike Rinck: Grounding Language in Bodily States. The Case for Emotion. In: Grounding Cognition. The Role of Perception and Action in Memory, Language, and Thinking. Hg. v. Diane Pecher und Rolf A. Zwaan. Cambridge/New York 2005. S. 115–128. 135 Rolf A. Zwaan: Embodied Cognition, Perceptual Symbols, and Situation Models. In: Discourse Processes 28 (1999) H. 1, S. 81–88, hier S. 83.

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Sprachmaterials ausgewichen wird136 – freilich zu dem Preis, dass diese amodal repräsentierten Passagen rein konzeptuell verarbeitet werden und kontextbezogene Inferenzen daher ausbleiben. Die besondere Leistung des menschlichen Intellekts besteht offenbar darin, an den geeigneten Stellen in den modalen Modus zu wechseln, um Verstehensleistungen zu optimieren. Worin die Vorteile des modalen Repräsentierens liegen, zeigt ein Beispiel von Rolf A. Zwaan:137 (1a) Der Förster sah den Adler im Himmel. (1b) Der Förster sah den Adler im Nest. Die propositionale Struktur dieser beiden Sätze lässt sich in Form folgender Elemente und Relationen darstellen: (2a) [[SEHEN[FÖRSTER, ADLER]], [IN[ADLER, HIMMEL]]] (2b) [[SEHEN[FÖRSTER, ADLER]], [IN[ADLER, NEST]]] Eine amodale Repräsentation der Sätze (1a) und (1b) würde deren Bedeutung allein auf Grundlage der unter (2) aufgeführten und miteinander verknüpften Schemata herstellen. Was hierbei jedoch nicht repräsentiert wird, ist die jeweils spezifische Gestalt des Adlers: Im Himmel hat er die Flügel ausgestreckt, im Nest hingegen angezogen. Bei der Repräsentation der propositionalen Struktur geht diese Zusatzinformation verloren. Wird hingegen ein typischer Wahrnehmungskontext abgerufen, lässt sich auch die situationsspezifische Gestalt des Adlers in die Semantisierung einbeziehen.138 Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass das Schlagwort des Anti-Repräsentationalismus nicht etwa einen Paradigmenwechsel innerhalb der Kognitionswissenschaften bezeichnet, sondern den Versuch, unter Rückgriff auf jüngere

|| 136 Vgl. Louwerse/Jeuniaux: Language Comprehension is Both Embodied and Symbolic, S. 314. Vgl. auch Christmann/Schreier: Kognitionspsychologie der Textverarbeitung, S. 261. 137 Vgl. im Folgenden Zwaan: The Immersed Experiencer, S. 36. 138 Mit dem Wechsel in den modalen Modus ist allerdings nicht zwingend eine Unterbrechung der amodalen Verarbeitung verbunden – jedenfalls ist es nicht auszuschließen, dass bei der Sprachverarbeitung über modale Repräsentationen gleichzeitig amodale Repräsentationen derselben Sprachsequenz erstellt werden, vgl. den Hinweis in Louwerse/Jeuniaux: Language Comprehension is Both Embodied and Symbolic, S. 315. Auf Grundlage dieser Annahme einer multimodalen Sprachverarbeitung unterscheidet Zwaan fünf Stufen der situierten Einbettung – demnach treten in der Sprachverarbeitung verschiedene Mischungsverhältnisse von situierten und symbolischen Aspekten auf, vgl. Rolf A. Zwaan: Embodiment and Language Comprehension. Reframing the Discussion. In: Trends in Cognitive Sciences 18 (2014) H. 5, S. 229–234.

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empirische Forschungen einen multiplen Ansatz zu etablieren, der für verschiedene kognitive Operationen unterschiedliche Modelle bereithält: Erstens wird mit den Prämissen der situierten Kognition ein theoretischer Zugang zu Denkprozessen hergestellt, die sich nicht mittels Repräsentationslogik erklären lassen. Zweitens sind die meisten kognitiven Phänomene der ‚Verkörperung‘ und ‚Situiertheit‘ auf modale Repräsentationen zurückzuführen. Und drittens sind auch amodale Repräsentationen nicht völlig verzichtbar, sondern erfüllen eine zentrale Funktion bei der Sprachverarbeitung und anderen ‚höheren‘ kognitiven Leistungen. Vor diesem Hintergrund lässt sich Caracciolos anti-repräsentationalistische Position, die sowohl ‚gemäßigte‘ als auch ‚radikale‘ Elemente enthält, etwas genauer bestimmen. Zunächst stimmt er mit dem Anti-Repräsentationalismus insofern überein, als dass er den Repräsentationalismus auf die ‚starke‘ Repräsentationsthese reduziert – demnach handle es sich bei mentalen Repräsentationen grundsätzlich um amodale Symbolverarbeitung: Mental representations are symbolic structures. [...] All in all, the representational theory of mind is so deeply rooted in the computational approach to cognition that the two labels have been used almost interchangeably: the term „mental representation“ is generally associated with the information processing view of the mind/brain, according to which representations are abstract, symbolic, and sub-personal (i.e., not available to our consciousness).139

Da Umwelten dem Enaktivismus zufolge nicht einfach bloß wahrgenommen und in eine Symbolsprache übersetzt, sondern permanent von Neuem hervorgebracht werden, lehnt auch Caracciolo das repräsentationslogische Erklärungsmodell ab – allerdings nur insoweit es um reale Lebensumwelten und wirklichkeitsbezogene Wahrnehmungsmomente geht. In der Sprachverarbeitung hingegen dränge sich der Repräsentationsbegriff geradezu auf, denn schließlich habe man es bei sprachlichen Gegenständen von vornherein mit repräsentationalen Strukturen zu tun. Diese semiotischen Repräsentationen werden Caracciolo zufolge nicht unmittelbar enaktiv verarbeitet, sondern erst einmal in (amodale) mentale Repräsentationen übersetzt.140 Da er somit der amodalen mentalen Repräsentation einen konkreten kognitiven Funktionsbereich einräumt, ist Caracciolo einerseits dem ‚gemäßigten‘ Lager zuzurechnen – bei der Sprachverarbeitung sei ein Denken in propositionalen

|| 139 Caracciolo: The Experientiality of Narrative, S. 17. 140 Vgl. Caracciolo: The Experientiality of Narrative, S. 30–31.

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Strukturen zwar unzureichend, aber gleichwohl unverzichtbar.141 Andererseits jedoch lehnt Caracciolo das Modell der modalen Repräsentation ab und vertritt diesbezüglich vergleichsweise radikale Ansichten: [N]ewer approaches within cognitive science (especially in the fields of neuroscience and cognitive psychology) have turned their back on computational models but keep talking about „mental representations“ in a theoretically impoverished sense. These „mental representations“ refer to phenomena that, while playing a functional role, are not at all representational [...].142

Den Schulterschluss mit einem ‚liberalen‘ Repräsentationalismus lehnt er ab – die Rede von modalen (respektive ‚verkörperten‘ oder ‚experientiellen‘) Repräsentationen macht aus seiner Sicht keinen Sinn. Stattdessen spricht er von mental imagery143 – solche ‚mentalen Bilder‘ werden Caracciolo zufolge zwar von amodalen Repräsentationen ausgelöst, seien aber selbst ausdrücklich nicht repräsentational: My imagining that there is a tiger in my room is a representational mental state because it has propositional content – the sentence [...] „there is a tiger in my room“. [...] However, people’s imaginings can also take on a sensory aspect, resulting in what is commonly known as „mental imagery“ or „sensory imagination“. For example, in imagining that there is a tiger in my room, I may have a quasi-perceptual experience of the tiger. Despite being triggered by a representational mental state, my experience of the tiger does not have propositional content. [...] [M]y imaginative experience of the tiger is based on the simulation of a perceptual experience, and perception – on the enactivist approach – does not involve mental representations. Sensory imagination or mental imagery is, therefore, a non-representational (experiential) „side effect“ of a representational mental state.144

Caracciolos radikale Ablehnung des Repräsentationsbegriffs für Vorstellungen und mentale Simulationen jeglicher Art wird in der vorliegenden Arbeit nicht geteilt. Vielmehr wird in Kapitel 3.1 aufgezeigt, dass mental simulierte Erfahrungen die mentale Repräsentation eines Erfahrungsraumes voraussetzen. Die Konstruktion eines solchen ‚Situationsmodells‘ geht selbst noch nicht in einer mental simulierten Erfahrung auf, kann aber auch nicht auf rein propositionaler Ebene || 141 „[A] psychologically realistic theory of narrative cannot do without mental representations.“ (Caracciolo: The Experientiality of Narrative, S. 35.) 142 Caracciolo: The Experientiality of Narrative, S. 30. 143 Gemeint sind hiermit nicht nur visuelle Vorstellungen, sondern beispielsweise auch auditive und motorische – so jedenfalls gebrauchen den Begriff Stephen M. Kosslyn/Giorgio Ganis/William L. Thompson: Neural Foundations of Imagery. In: Nature Reviews Neuroscience 2 (2001) H. 9, S. 635–642. 144 Caracciolo: The Experientiality of Narrative, S. 93.

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erfolgen. Es steht somit zwischen den von Caracciolo unterschiedenen Bereichen der amodal-repräsentationalen Sprachverarbeitung und der imaginierten Erfahrung. Der entscheidende Vorteil der Berücksichtigung dieser ‚Schnittstelle‘ ist ihr hohes Anknüpfungspotenzial für kognitionsnarratologische Analysen – wie sich in Kapitel 4 zeigen wird. Hinsichtlich experientieller Effekte ist Caracciolo indes uneingeschränkt zuzustimmen: Erfahrungen im engeren Sinne können nur durch erlebnishaften Vollzug simuliert, nicht jedoch statisch repräsentiert werden. In diesem Punkt weicht Caracciolo entscheidend von Fludernik ab, die in ihren Definitionen ausgiebig von einem (nicht weiter definierten) Repräsentationsbegriff Gebrauch macht. Ihren Ansatz charakterisiert sie als „grounding narrativity in the representation of experientiality“145, wobei Narrativität mit der Repräsentation von Erfahrung gleichzusetzen sei: „The representation of human experience is the central aim of narrative […].“146 Caracciolo sieht hierin eine Fehlanwendung oder zumindest unzulässige Verknappung des literaturwissenschaftlichen Experientialitätsbegriffs,147 denn die beim Lesen wirklich relevanten Erfahrungsaspekte seien von Fludernik gar nicht berücksichtigt worden. Weshalb das Repräsentationsparadigma zu kurz greift, erläutert Caracciolo an einem Beispiel:148 Wenn ein literarischer Erzähler seinen Schmerz beschreibt und der Leser diese Schmerzerfahrung mental repräsentiert, so werde dieses Schmerzempfinden lediglich propositional verarbeitet – die Repräsentation beinhalte dann lediglich den schmerzhaften Zustand des Erzählers, nicht jedoch das Schmerzphänomen als solches. Durch die bloße Repräsentation der Erzählererfahrung gelange der Leser noch nicht zu der Einsicht, wie sich der beschriebene Schmerz anfühlt, denn „experience cannot be represented in the same sense as existents and events are represented, because it is neither object-like nor propositional“149. Im Gegensatz dazu vermag die situierte Kognition zu erklären, auf welche Weise eine solche Information ‚verkörpert‘ verarbeitet wird – Caracciolo geht von der prinzipiellen Neigung der Rezipienten aus, das Gelesene unter Rückgriff auf eigene Erfahrungen in ähnlichen Situationen zu interpretieren, wobei nicht nur semantisches, sondern auch spezifisches Körperwissen aktiviert werde. Caracciolos Ansatz ist || 145 Fludernik: Towards a ‚Natural‘ Narratology, S. 20. 146 Fludernik: Towards a ‚Natural‘ Narratology, S. 51. Caracciolo verweist auf weitere Stellen, an denen Fludernik repräsentationslogisch argumentiert, vgl. Caracciolo: The Experientiality of Narrative, S. 48–49. 147 „[E]xperientiality cannot be reduced to the idea that narrative represents experience.“ (Caracciolo: Notes for a(nother) Theory of Experientiality, S. 179.) 148 Vgl. im Folgenden Caracciolo: The Experientiality of Narrative, S. 40–41. 149 Caracciolo: The Experientiality of Narrative, S. 40.

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somit vor allem deshalb anti-repräsentationalistisch, weil er sich auf das im Text Nicht-Repräsentierte konzentriert. Neben Erfahrung gehöre hierzu die Perspektive und das Bewusstsein von Figuren: „the character’s perspective, experience, and consciousness are not given anywhere in the text; they are not objects“150 – folglich können sie auch nicht repräsentiert werden, denn „[r]epresentation works by referring to object-like entities (such as events, people, and things)“151. Mittels situierter Kognition hingegen könne der Leser ein Verständnis davon erlangen, wie sich beispielsweise Schmerz anfühlt oder wie eine Situation aus der spezifischen Sicht einer Figur wahrgenommen und erlebt wird. Caracciolo unterscheidet daher zwei Ebenen der Verarbeitung eines experientiellen Textes: Language has both representational and expressive properties: it provides instructions to imagine some object-like entities (events and existents) and at the same time it invites readers to respond to these entities in certain ways, thereby creating the story-driven experience. Thus, the imaginings evoked by narrative have an intentional, representational dimension, since they are directed at the represented events and existents, but they can also take on an experiential quality, depending on the tension between readers’ experiential background and the expressive strategies implemented by the author.152

Indes scheint Caracciolo mit seiner Kritik an Fludernik auch auf einer tieferen Ebene anzusetzen, indem er die in den Kognitionswissenschaften weit verbreitete schematheoretische Terminologie auf ihre ‚kognitivistischen‘ Implikationen reduziert und folglich entschieden zurückweist: [F]rames, scripts, and schemata were envisaged as amodal representations, which are not encoded in any specific sensory modality; they are as abstract as a sequence of 1s and 0s in the memory of a computer. By contrast, readers’ engagement with narrative texts is shot through with sensory images, emotions, evaluations – the stuff our experiences are made of, and that cannot be adequately accounted for within a computational model of the mind.153

Da Fludernik durchweg mit schematheoretischen Begriffen arbeitet, scheint sie – aus Caracciolos Sicht – die kognitive Verarbeitung literarischer Texte auf das Übersetzen in eine propositionale Struktur zu reduzieren. Damit jedoch bleibe sie hinter den konzeptionellen Anforderungen an einen rezeptionsästhetisch fundierten Experientialitätsbegriffs zurück.

|| 150 Caracciolo: The Experientiality of Narrative, S. 105. 151 Caracciolo: The Experientiality of Narrative, S. 30. 152 Caracciolo: The Experientiality of Narrative, S. 31. 153 Caracciolo: The Experientiality of Narrative, S. 46.

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Vor diesem Hintergrund überrascht es zunächst, dass Fludernik ausgiebig von einem zentralen Begriff der situierten Kognition Gebrauch macht, nämlich dem des embodiment. Statt jedoch damit Merkmale der ‚verkörperten‘ Kognition oder Implikationen von ‚Situiertheit‘ zu bezeichnen, verweist sie lediglich auf den originären Erfahrungsbezug bereits gefestigter kognitiver Schemata: „Experientiality, as everything else in narrative, reflects a cognitive schema of embodiedness that relates to human existence and human concerns.“154 Der Aspekt der ‚Verkörperung‘ fungiert hier offenbar bloß als semantisches Merkmal – insoweit die Leser mit diesem Merkmal vertraut sind, können sie die im Text verankerte ‚human embodiedness‘ entschlüsseln und verstehen. In dieser Funktion lässt sich embodiment leicht in den schematheoretischen Ansatz integrieren: The central insight that I have adopted from the linguistics of naturalness is that of the embodiment of cognitive categories and of the reliance of higher-level symbolic categories on such embodied schemata. It will be proposed that the reading process and the reading experience can be defined in relation to readers’ cognitive reliance on such embodied schemata and parameters, and that this applies on a number of interacting and interdependent levels.155

Mit den weitreichenden Implikationen der situierten Kognition lässt sich Fluderniks embodiment-Begriff folglich nicht in Verbindung bringen – eine solche Verknüpfung von Repräsentation und ‚verkörperter‘ Kognition wäre schlichtweg widersprüchlich: „Fludernik doesn’t fully come to grips with the problem of embodiment. There is no straightforward way in which embodied experience can be ‚represented‘ by narrative texts […].“156 Derartige argumentative Defizite sind Fludernik jedoch nur bedingt anzulasten, denn die embodiment-Forschung lag, wie Caracciolo selbst anmerkt,157 zum Zeitpunkt der Publikation von Towards a ‚Natural‘ Narratology noch weit hinter heutigen Erkenntnissen und Begriffsimplikationen zurück.

|| 154 Fludernik: Towards a ‚Natural‘ Narratology, S. 13. 155 Fludernik: Towards a ‚Natural‘ Narratology, S. 19. 156 Caracciolo: Notes for a(nother) Theory of Experientiality, S. 181. 157 Vgl. Caracciolo: Notes for a(nother) Theory of Experientiality, S. 179.

64 | Experientialität 2.2.3 Mentale Simulationen Theorien des ‚verkörperten‘ und ‚situierten‘ Denkens beschreiben die kognitiven Grundlagen des Menschen im Verhältnis zu seinem Körper und seiner räumlichen und sozialen Umwelt. Um kognitionswissenschaftliche Hypothesen und empirische Studien für eine literaturwissenschaftliche Rezeptionstheorie nutzbar zu machen, sind einige zusätzliche Argumentationsschritte nötig, denn schließlich geht es hier nicht um die räumliche und soziale Umwelt des Menschen beim Lesen – ob ein Buch in der Bibliothek, im Zug oder am Strand gelesen wird, dürfte weder auf den Sprachverarbeitungs- und Verstehensprozess noch auf die Interpretation merklich Einfluss nehmen. Statt sich von ihrer unmittelbaren Umgebung ablenken zu lassen, konzentrieren sich die Leser auf den Sprachverarbeitungsprozess und richten somit ihre Aufmerksamkeit auf eine von der unmittelbaren Lektüreumwelt abweichende Informationsquelle, nämlich auf die literarische Welt und die darin dargestellten Handlungen und Ereignisse: Language [...] situates us in worlds separate from our immediate environment. Through descriptions of real or imagined events, it serves to draw our attention to people, objects, events and possibilities for action that are not present in the here and now. This situating of oneself in events outside of the here and now takes place through a process of mental simulation.158

Für mentale Simulationen bedarf es keiner besonderen Sprachfertigkeit – vielmehr handelt es sich hierbei um eine grundlegende kognitive Fähigkeit des Menschen, von der auch im Alltag häufig Gebrauch gemacht wird, etwa bei der Erinnerung an ein Erlebnis, beim Tagträumen oder bei der Planung einer Wegstrecke. Die mentale Simulation stellt daher kein originär rezeptionsästhetisches Phänomen dar, sondern ist zurückzuführen auf eine adaptive kognitive Strategie, bei der die Beanspruchung des Arbeitsgedächtnisses durch reale Umweltreize auf ein Mindestmaß reduziert und die Aufmerksamkeit auf eine imaginäre Umwelt gelenkt wird. Wie die jüngere kognitionswissenschaftliche Forschung belegt, werden imaginäre Umwelten in vielerlei Hinsicht genauso verarbeitet wie real erlebte Umwelten. Insbesondere die Vermögen des ‚verkörperten‘ und ‚situierten‘ Denkens werden nicht etwa ausgesetzt, sondern – zumeist produktiv – in den Verarbeitungsprozess einbezogen. Folglich verdienen die Aspekte der situierten

|| 158 Rolf A. Zwaan/Micheal R. Kaschak: Language in the Brain, Body, and World. In: The Cambridge Handbook of Situated Cognition. Hg. v. Philip Robbins und Murat Aydede. Cambridge/New York 2009. S. 368–381, hier S. 368.

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Kognition auch bei der mentalen Simulation literarisch erzeugter Umwelten eine besondere Beachtung. Voraussetzung hierfür ist das sprichwörtliche ‚Eintauchen‘ oder ‚Hineinversetzen‘ in die literarische Welt.159 Während die Grenze zwischen der Welt des Lesers und der Welt der Figuren in traditionellen rezeptionsästhetischen Modellen als unüberschreitbar angesehen und die Ausdrücke ‚Eintauchen‘ oder ‚Hineinversetzen‘ lediglich metaphorisch verstanden werden, machen die Kognitionswissenschaften auf die zahlreichen Gemeinsamkeiten von Weltwahrnehmung und Sprachverarbeitung aufmerksam.160 So konnte etwa vielfach gezeigt werden, dass Wörter dieselben Gehirnregionen aktivieren, die auch aktiviert werden, wenn die von den Wörtern bezeichneten Referenten wahrgenommen oder in Gebrauch genommen werden.161 Offenbar wird hierbei das einzelne Wort nicht bloß als Symbol interpretiert, sondern das Bezeichnete innerhalb eines Wahrnehmungskontextes vorgestellt, wobei die diesem Wahrnehmungskontext entsprechenden visuellen, auditiven, sensomotorischen oder emotionalen Wahrnehmungsmuster aktiviert werden: „Just thinking about an object produces embodied states as if the object were actually there.“162 Ähnliche Beobachtungen auf Satzebene und bei der Verarbeitung von Kurztexten führen zu der Annahme, dass Umwelteinflüsse auch dann konstitutiv für das Denken sind, wenn sich das denkende Subjekt gar nicht in der einflussnehmenden Umwelt aufhält: „Even || 159 Für dieses und angrenzende Phänomene haben sich verschiedene sowohl wissenschaftliche als auch nichtwissenschaftliche Begriffe etabliert, unter anderem Absorption, Empathie, flow, Identifikation, Immersion, involvement, parasoziale Interaktion, presence und transportation, vgl. die Aufzählung von Markus Appel: Realität durch Fiktionen. Rezeptionserleben, Medienkompetenz und Überzeugungsänderungen. Berlin 2005, S. 101. Es handelt sich hierbei mitnichten um ein literaturspezifisches Phänomen, denn Immersionen finden nicht nur bei der Sprachrezeption statt, sondern beispielsweise auch im Sport oder beim Spielen, vgl. hierzu die Beiträge in Mihaly Csikszentmihalyi/Isabella S. Csikszentmihalyi (Hg.): Die außergewöhnliche Erfahrung im Alltag. Die Psychologie des flow-Erlebnisses. Stuttgart 1991. 160 Der zunehmenden Verwissenschaftlichung zum Trotz wird dieses Phänomen noch immer vorwiegend mit metaphorischen Ausdrücken beschrieben. Dass hierbei der Blick auf den Forschungsgegenstand auch verstellt werden kann, zeigen Marisa Bortolussi/Peter Dixon: Transport. Challenges to the Metaphor. In: The Oxford Handbook of Cognitive Literary Studies. Hg. v. Lisa Zunshine. Oxford/New York 2015. S. 525–540. 161 Vgl. einführend Schrott/Jacobs: Gehirn und Gedicht, S. 36–38, sowie die Verweise in Zwaan: The Immersed Experiencer, S. 52, passim. 162 Paula M. Niedenthal/Lawrence W. Barsalou/Piotr Winkielman/Silvia Krauth-Gruber/François Ric: Embodiment in Attitudes, Social Perception, and Emotion. In: Personality and Social Psychology Review 9 (2005) H. 3, S. 184–211, hier S. 187. Neben psychologischen Studien liegen hierzu inzwischen auch neurowissenschaftliche Untersuchungen vor, die auf bildgebenden Verfahren beruhen, vgl. Kosslyn et al.: Neural Foundations of Imagery.

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when decoupled from the environment, the activity of the mind is grounded in mechanisms that evolved for interaction with the environment – that is, mechanisms of sensory processing and motor control.“163 Wenn beispielsweise ein Raucher eine Erzählung liest, die von einem abstinenten Raucher handelt, der aufgrund bestimmter Umweltreize plötzlich das Bedürfnis verspürt zu rauchen, dann löst die mentale Simulation dieser Situation auch beim Leser das Bedürfnis nach einer Zigarette aus.164 Um die kognitive Verarbeitung realer Umweltreize von der mentalen Simulation einer nicht real vorhandenen Umwelt zu unterscheiden, wird im letzteren Fall von einem offline-Modus der situierten Kognition gesprochen: Mental structures that originally evolved for perception or action appear to be co-opted and run ‚off-line‘, decoupled from the physical inputs and outputs that were their original purpose, to assist in thinking and knowing. […] In general, the function of these sensorimotor resources is to run a simulation of some aspects of the physical world [...].165

Kognitionen sind demnach auch auf der Ebene der mentalen Simulation in weiten Teilen ‚situiert‘ und ‚verkörpert‘ – diesem Befund schließt sich Caracciolo an: „Even in imagination, embodiment seems inescapable.“166 Aus der Kognitionswissenschaft übernimmt er auch den Ausdruck ‚offline-Modus‘: „[O]ur experiential responses to non-actual events and existents depend on a simulative mechanism whereby we use our cognitive resources in an ‚off-line‘ mode [...], reacting to them as if they were actual.“167 Hieran schließt sich Caracciolos zentrale Behauptung an, dass aus Narrationen neue Erfahrungen gewonnen werden können.

2.2.4 Erzählungsbasierte Lesererfahrungen Um im Rahmen mentaler Simulationen neue Erfahrungen herbeizuführen, muss zunächst ein Anschluss an bereits gemachte Erfahrungen hergestellt werden.

|| 163 Margaret Wilson: Six Views of Embodied Cognition. In: Psychonomic Bulletin & Review 9 (2002) H. 4, S. 625–636, hier S. 626. 164 Vgl. Rolf A. Zwaan/Timothy P. Truitt: Smoking Urges Affect Language Processing. In: Experimental and Clinical Psychopharmacology 6 (1998) H. 3, S. 325–330. 165 Wilson: Six Views of Embodied Cognition, S. 633. – Zu empirischen Nachweisen für off-line embodiment vgl. auch den Forschungsüberblick in Niedenthal et al.: Embodiment in Attitudes, Social Perception, and Emotion. 166 Caracciolo: Notes for a(nother) Theory of Experientiality, S. 190. 167 Caracciolo: The Experientiality of Narrative, S. 32.

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Während der Lektüre aktiviert der Leser Erinnerungen an vergangene Erfahrungsmomente – in Anlehnung an Rolf A. Zwaan spricht Caracciolo von ‚Erfahrungsspuren‘ (experiential traces).168 Hierbei handelt es sich um „multimodal records of experience“169. Der Terminus ‚Erfahrungsspuren‘ soll deutlich machen, dass es sich nicht um konkrete Erinnerungen handelt.170 Wenn etwa eine literarische Figur kopfüber vom Steg in den See springt, so kann der Leser dieses Ereignis ‚erfahrungshaft‘ verarbeiten, ohne sich die Erinnerung an einen eigenen Kopfsprung wachzurufen. Vielmehr genügt es zu wissen, wie sich kaltes Wasser anfühlt, dass ein solcher Sprung Mut voraussetzt und er bei Unkenntnis des Terrains gefährlich sein kann. Die hierbei abgerufenen ‚Erfahrungsspuren‘ lassen sich verschiedenen Kategorien zuordnen: Körpererfahrung (Wasser), Emotionen (Mut) und Vernunft (Gefahr). Der Erfahrungshintergrund (experiential background) des Lesers kann somit auf verschiedenen Ebenen beansprucht werden – in seinem heuristischen Modell unterscheidet Caracciolo insgesamt vier:171 Auf der untersten Stufe stehen basale Körpererfahrungen wie Schmerz, Propriozeption und Kinästhesie sowie die Wahrnehmung der Umwelt. Davon zu unterscheiden seien Emotionen, die Caracciolo hierarchisch darüber anordnet. Als drittes nennt er kognitive Fertigkeiten höherer Ordnung, wozu unter anderem Sprachverstehen und narrative Kompetenzen sowie das Erinnerungsvermögen zu zählen seien. Auf der vierten und höchsten Stufe seien soziokulturelle Praktiken einschließlich gesellschaftlicher Konventionen, philosophischer Theorien, Glaubenssysteme und wissenschaftlicher Ideen zu verorten. Dass Aspekte dieser vier Ebenen des Erfahrungshintergrundes während der Lektüre abgerufen und in den Verstehensprozess eingebunden werden können, ist größtenteils durch die empirische Sprachverstehensforschung belegt – Caracciolo beruft sich explizit auf deren Ergebnisse: „My model is consistent with empirical research in psycholinguistics and cognitive psychology [...].“172 Da er selbst nicht empirisch arbeitet, stellt sich freilich die Frage, inwieweit eine solche Anleihe bei den Nachbarwissenschaften legitim ist. Caracciolo äußert sich diesbezüglich optimistisch: „Of course, cognitive psychology and psycholinguistics have their own theoretical models, but it seems misguided to believe that these || 168 Vgl. Zwaan: The Immersed Experiencer, sowie Rolf A. Zwaan: Experiential Traces and Mental Simulations in Language Comprehension. In: Symbols and Embodiment. Debates on Meaning and Cognition. Hg. v. Manuel de Vega, Arthur M. Glenberg und Arthur C. Graesser. Oxford/New York 2008. S. 165–180. 169 Zwaan: Experiential Traces and Mental Simulations in Language Comprehension, S. 165. 170 Vgl. Caracciolo: The Experientiality of Narrative, S. 46. 171 Vgl. Caracciolo: The Experientiality of Narrative, S. 57–71. 172 Caracciolo: The Experientiality of Narrative, S. 13.

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constructs would work ‚out of the box‘ in radically different fields such as narrative theory or literary studies.“173 Folglich kann in Hinblick auf die somatischen und sensomotorischen Aspekte der ersten Ebene des Erfahrungshintergrundes behauptet werden, dass beim Lesen literarischer Texte häufig körperliche Zustände eingenommen und biochemische Prozesse angestoßen werden – Grund zu dieser Annahme liefern zahlreiche empirische Studien, wie etwa die von Mark Chen und John A. Bargh:174 Hier werden den Probanden auf einem Bildschirm nacheinander positiv und negativ konnotierte Wörter angezeigt. Beim Erscheinen eines Wortes, soll so schnell wie möglich ein Hebel bedient werden. Während die erste Probandengruppe angewiesen wird, den Hebel zu sich heranzuziehen, sollen die Probanden der zweiten Gruppe den Hebel von sich wegdrücken. Die Messdaten zeigen an, dass beim Heranziehen auf positive Wörter schneller reagiert wird als bei negativen, während die Bewegung des Wegdrückens bei negativen Wörtern schneller ausgeführt wird als bei positiven. Daraus kann geschlossen werden, dass der bezeichnete Gegenstand mental simuliert und der Körper dabei in eine der Bewertung entsprechende Handlungsbereitschaft versetzt wird. Für die literaturwissenschaftliche Rezeptionstheorie ließe sich daraus folgern, dass die kognitive Verarbeitung des literarischen Textes von körperlichen Zustandsänderungen begleitet wird. Auch die emotionalen Begleiterscheinungen des Sprachverstehens werden gezielt erforscht, wie etwa in folgendem Experiment von Arthur M. Glenberg und Kollegen:175 Die Probanden der ersten Gruppe klemmen beim Lesen einen Bleistift zwischen die Zähne und formen dadurch ein Lächeln, während die der zweiten Gruppe den Stift mit den Lippen halten und dadurch auf einen eher strengen Gesichtsausdruck festgelegt werden. Mittels Zeitmessung wird in beiden Gruppen der Verstehensprozess bei der Lektüre von Sätzen mit emotional konnotierten Inhalten untersucht, wobei die erste Gruppe die erfreulichen Ereignisse durchschnittlich schneller verarbeitet als die unerfreulichen, während es sich bei der

|| 173 Caracciolo: The Experientiality of Narrative, S. 12. Gleichwohl gesteht sich Caracciolo ein, dass viele seiner literaturspezifischen Schlussfolgerungen auf Grundlage der bestehenden empirischen Forschung nicht beweiskräftig sind und eigentlich einer empirischen Prüfung unterzogen werden müssten, womit er auch auf den spekulativen Inhalt seiner eigenen Thesen hinweist: „[T]he many speculative claims contained in this book should be seen as paving the road for empirical work.“ (Ebd.) Zum methodischen Selbstverständnis einer empirisch ausgerichteten Literaturwissenschaft siehe Kapitel 1.5.2. 174 Vgl. Mark Chen/John A. Bargh: Consequences of Automatic Evaluation: Immediate Behavioral Predispositions to Approach or Avoid the Stimulus. In: Personality and Social Psychology Bulletin 25 (1999) H. 2, S. 215–224. 175 Vgl. Glenberg et al.: Grounding Language in Bodily States.

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zweiten Gruppe umgekehrt verhält. Aus diesen Messdaten lässt sich der Schluss ziehen, dass die kognitive Verarbeitung sprachlich vermittelter Emotionen körperliche Reaktionen auslösen, die der jeweils dargestellten Emotion entsprechen. Die literaturwissenschaftliche Emotionsforschung hat daraus entsprechende Konsequenzen gezogen: „[T]here is no special emotion system for literature. Thus, to understand literary emotion, we need to understand emotion generally.“176 Auch Katja Mellmann macht mit Nachdruck darauf aufmerksam, „daß wir auf natürliche und künstliche Gegenstände tatsächlich mit ein und denselben emotionalen Dispositionen reagieren und nicht etwa über ein separates Repertoire spezifisch ‚ästhetischer‘ Emotionen verfügen, wie es die Rede von der ‚ästhetischen Erfahrung‘ bisweilen nahelegt“177. Für Caracciolos dritte background-Ebene lässt der empirische Rückhalt deutlich nach, was nicht zuletzt auf die beschränkten Möglichkeiten der Datenerhebung zurückzuführen ist. So erscheint es nicht ganz zufällig, dass Caracciolos Argumentation an dieser Stelle Schwächen aufweist, denn das experientielle Potenzial des Sprachverstehens konzipiert er lediglich als Mittel zum Zweck – um Reaktionen auf den beiden unteren Stufen des Erfahrungshintergrundes auslösen zu können, müsse die Erzählung erst einmal auf sprachlicher Ebene verarbeitet werden: „[T]hrough readers’ linguistic comprehension, narrative provokes reactions that are cognitively more basic than language itself – for example, mental imagery or emotional responses.“178 Offenbar zieht es Caracciolo gar nicht in Betracht, dass sprachliche und narrative Merkmale selbst einen originären Erfahrungstypus darstellen – jedenfalls spricht er an dieser Stelle nicht mehr von Erfahrungen, sondern nur noch von „higher-order cognitive skills“179. Gewiss stellen diese ‚kognitiven Fertigkeiten‘ eine unabdingbare Voraussetzung für die Bildung mentaler Simulationen und die Evokation von Experientialität dar, aber in dieser Funktion sind sie selbst nicht als ‚Erfahrungsspuren‘ abrufbar und somit auch nicht im Erfahrungshintergrund zu verorten. Stattdessen müsste diese dritte Ebene durch konkrete oder verallgemeinerte Spracherfahrungen gekennzeichnet sein, die innerhalb mentaler Simulationen experientiell wirksam werden können – dies ist dann der Fall, wenn Sprachliches und Narratives selbst zum Gegenstand des Erzählens wird: Die direkte Figurenrede weist in der Regel

|| 176 Patrick Colm Hogan: On Being Moved. Cognition and Emotion in Literature and Film. In: Introduction to Cognitive Cultural Studies. Hg. v. Lisa Zunshine. Baltimore 2010. S. 237–256, hier S. 245. 177 Mellmann: Emotionalisierung, S. 44. 178 Caracciolo: The Experientiality of Narrative, S. 66. 179 Caracciolo: The Experientiality of Narrative, S. 66, passim.

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ein hohes Maß an Situationsbezogenheit auf und ermöglicht dem Leser daher – unter Rückgriff auf seinen Erfahrungshintergrund – die Äußerung beispielsweise mit passenden prosodischen Merkmalen auszustatten und in einer der Situation angemessen Redegeschwindigkeit zu imaginieren. Auch bei der kognitiven Verarbeitung bekannter Sprichwörter oder Dialekte sowie stilistischer und rhetorischer Merkmale eines Textes oder bei der Interpretation von Symbolen und metanarrativen Kommentaren sowie beim verstehenden wie nichtverstehenden Erkennen fremdsprachlicher Elemente werden häufig Erfahrungsbezüge hergestellt. Wenn bei den Lesern Erinnerungen an Sprachliches – sei es etwas Gehörtes, Gesprochenes oder Gelesenes – wachgerufen werden, wird das Sprachverstehen dadurch experientiell aufgeladen. Dass es sich hierbei um ‚Erfahrungsspuren‘ handelt, hat auch Zwaan schon festgestellt: „linguistic constructions such as words and standard phrases are also multimodal experiential traces“180. Dass Sprachliches nicht rein symbolisch gespeichert werde, erkläre sich nicht zuletzt dadurch, dass es in der Anwendung selbst ‚verkörpert‘ und ‚situiert‘ sei: [L]inguistic traces [...] are laid down as linguistic information is being received or produced. For example, there are perceptual traces of hearing, reading, seeing, and feeling (as in Braille) linguistic constructions. As well, there are motor representations of saying, signing, typing, and handwriting linguistic constructions.181

Sprache dient somit nicht nur der Bezeichnung und Vermittlung von Erfahrungen, sondern stellt – in ihrem Gebrauch – selbst ein Ereignis innerhalb einer erfahrbaren Umwelt dar. Und für den Leser literarischer Texte ist der Rückgriff auf solche Spracherfahrungen hilfreich, um das Verhalten einer Figur innerhalb einer von sprachlichen Zeichen durchsetzten literarischen Welt zu verstehen.182 || 180 Zwaan: Experiential Traces and Mental Simulations in Language Comprehension, S. 165. ‚Erfahrungsspuren‘ seien somit entweder im klassischen Sinne gegenstandsbezogen oder aber linguistisch – in Hinblick auf ihr experientielles Potenzial konzipiert Zwaan beide Unterkategorien als gleichwertig: „a distinction will be made between linguistic traces and referential traces, but the key is that the two types of traces are not intrinsically different from one another“ (Zwaan: Experiential Traces and Mental Simulations in Language Comprehension, S. 165). 181 Rolf A. Zwaan/Carol J. Madden: Embodied Sentence Comprehension. In: Grounding Cognition. The Role of Perception and Action in Memory, Language, and Thinking. Hg. v. Diane Pecher und Rolf A. Zwaan. Cambridge/New York 2005. S. 224–245, hier S. 227. 182 Das gleiche gilt für die Erinnerung, die Caracciolo auf derselben background-Ebene ansiedelt: Auch hier geht es nicht etwa darum, dass der Leser während der Lektüre von seinem eigenen Erinnerungsvermögen Gebrauch macht, sondern vielmehr darum, dass der Leser auf Erfahrungen mit eigenen Erinnerungen zurückgreift, um den literarisch inszenierten Erinnerungsprozess einer Figur verstehen (und gegebenenfalls kritisch bewerten) zu können. Caracciolo scheint dies auch im Blick zu haben, denn in seinem diesbezüglichen Beispiel müssen die

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Durch die Elemente auf der vierten Ebene – im Großen und Ganzen handelt es sich um langfristige Überzeugungen aus verschiedenen Lebensbereichen – konstituieren sich Rezeptionseffekte auf höherem Reflexionsniveau: Nur vor dem Hintergrund moralischer Prinzipien kann eine literarische Handlung als gerecht oder ungerecht erscheinen; nur vor dem Hintergrund wissenschaftlicher Ideen entsteht der Reiz von Science-Fiction; und nur vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Konventionen können Figuren als Mitläufer oder Außenseiter interpretiert werden. In Ergänzung zu Caracciolos knapp gehaltenen Bemerkungen sei jedoch darauf hingewiesen, dass die hier verhandelten Überzeugungen auch tatsächlich im Erfahrungshintergrund verankert sein müssen – statt lediglich aus dem semantischen Wissensspeicher abgerufen zu werden, müssen sie aus der Rückkopplung mit eigenen Erfahrungen gewonnen und als ‚Erfahrungsspuren‘ ins Arbeitsgedächtnis gerufen werden. So können etwa durch die eigene Erfahrung mit der Kindererziehung ethische Prinzipien transportiert werden, die zur Bewertung literarisch dargestellter Erziehungsmaßnahmen herangezogen werden. Hierzu ist es nicht einmal nötig, dass der Leser eine abstrakte Formel für diese Prinzipien zu bilden imstande ist – sie können auch vollständig auf persönlichen Schlüsselerlebnissen oder allgemeiner Lebenserfahrung basieren. Wenn der Leser hingegen auf philosophische Lehrsätze zurückgreift, die er selbst im Leben nicht befolgt, oder seine Kenntnis von religiösen Glaubenssystemen abruft, ohne selbst gläubig zu sein, kann dies zwar das Textverständnis verbessern, aber eine Steigerung der Experientialität ist damit nicht zu erwarten. Indes scheint mit zunehmender Abstraktheit der verhandelten Ideen und Werte auch die Anschließbarkeit an individuelle Erfahrungshorizonte erweitert zu werden – so kann etwa ein literarisch inszenierter Konflikt zwischen Liebe und Vernunft oder zwischen Freiheit und Sicherheit von den meisten Leserinnen und Lesern nicht nur als solcher erkannt, sondern auch mit eigenen Konflikterfahrungen in Verbindung gebracht werden. Nun beruht Caracciolos Theorie nicht allein auf der Annahme, dass beim Lesen ‚Erfahrungsspuren‘ abgerufen werden und mentale Simulationen stattfinden, die den Verstehensprozess beschleunigen und die kognitive Leistungsfähigkeit vergrößern, sondern daran anknüpfend vertritt er die These, dass die literarisch evozierten Erfahrungen der Leser auch über den Lektüreprozess hinaus eine Wirkung haben. Während die meisten erzählungsbasierten Erfahrungen sofort vergessen werden, sobald sie aus dem Arbeitsgedächtnis ausscheiden,

|| Rezipienten auf eigene Erfahrungen mit ihrem gesunden Erinnerungsvermögen zurückgreifen, um das gestörte Erinnerungsvermögen des Protagonisten begreifen und somit der Erzählung Sinn abgewinnen zu können, vgl. Caracciolo: The Experientiality of Narrative, S. 67.

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werden andere langfristig gespeichert und schreiben sich somit in den Erfahrungshintergrund des Lesers ein: „[S]ome stories leave a mark on our background, evoking vivid imagery, eliciting emotions, or – at a higher, culturally mediated level – reshaping our convictions and expectations.“183 In Caracciolos experientialitätstheoretischem Modell werden somit nicht nur vier verschiedene Ebenen des backgrounds unterschieden, sondern auch drei Wirkungsstufen berücksichtigt: Erstens muss der Text so beschaffen sein, dass das Dargestellte vom Leser als – körperliche, visuelle, emotionale, sprachliche oder soziokulturelle – Erfahrungen identifiziert werden kann. Ist dies der Fall, interpretiert der Leser den Text unter Rückgriff auf eigene Erfahrungen. Statt hierbei lediglich einen erfahrungsbezogenen Wissensspeicher anzuzapfen, sollte er zweitens dazu ermuntert werden, mentale Simulationen der dargestellten Erfahrungssituationen zu bilden und diese – im offline-Modus – ‚verkörpert‘ und ‚situiert‘ zu durchdenken. Wenn diese Simulationen nur Wiederholungen bereits gemachter Erfahrungen darstellen, wird der bestehende Erfahrungshintergrund nicht erweitert, sondern lediglich gefestigt. Die Erzählung kann jedoch drittens den Leser auch dazu veranlassen, solche Erfahrungen hervorzubringen, die sich vom eigenen Erfahrungshintergrund abheben und daher verändernd auf diesen einwirken. Derartige ‚Prägungen‘ durch Literatur finden in der Regel gänzlich unbewusst und unabhängig von einzelnen Werken statt. Um literarische Figuren zu verstehen, machen die Leser von ihren psychosozialen Fähigkeiten Gebrauch und können diese dabei allmählich erweitern184 – so mag etwa eine regelmäßige Emotionalisierung durch Literatur allmählich ein gesteigertes Empathievermögen des Lesers nach sich ziehen. Unbewusste ‚Prägungen‘ vollziehen sich jedoch auch auf

|| 183 Caracciolo: Notes for a(nother) Theory of Experientiality, S. 186. Solche Langzeitwirkungen von mentalen Simulationen und Immersionen in imaginierte Situationen und Umwelten lassen sich nicht nur in Bezug auf die Literaturrezeption, sondern auch medienübergreifend feststellen: „Across disciplinary boundaries, a variety of terms have been used to identify personal involvement in narrative presentations. Readers may become captured by a literary text, moviegoers may become entranced by a cinematic narrative, members of an audience may be moved by a dramatic performance, and so on. Despite terminological diversity, something common seems at stake: Often during narrative encounters, feeling becomes fluid, comprehension seems multifaceted, and the narrated world is brought vividly to presence. After such encounters, the presence of the narrative world often does not immediately dissipate. Lingering mood, changed beliefs, and shifts in self-perception indicate that something has not only been ingested, but also lastingly absorbed [...].“ (Max Louwerse/Don Kuiken: The Effects of Personal Involvement in Narrative Discourse. In: Discourse Processes 38 [2004] H. 2, S. 169–172, hier S. 169–170.) 184 Empirische Belege hierfür liefert die experimentalpsychologische Studie von David Comer Kidd/Emanuele Castano: Reading Literary Fiction Improves Theory of Mind. In: Science 342 (18.10.2013), S. 377–380, hier S. 378.

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den ‚höheren‘ Ebenen des Erfahrungshintergrundes: Teile des Erzähltextes können als sprachliches Ereignis mental repräsentiert werden – so kann etwa der Sprachduktus einer Figur in situationsspezifischen Erfahrungsbereichen mental simuliert und auf diese Weise vom Leser partiell angeeignet werden. Auf ähnliche Weise kann die häufige Lektüre von ‚Arztromanen‘ unbewusst das Frauenbild des Lesers prägen. Kognitionswissenschaftlich ist dies damit zu erklären, dass Vorstellungen und Überzeugungen über denselben Code gebildet und verarbeitet werden185 – Vorstellungen müssen nicht erst durch einen reflektierten Akt in Überzeugungen übersetzt, sondern lediglich im Langzeitgedächtnis gespeichert werden.186 Im Gegensatz zu solchen unbewussten Langzeitwirkungen kann eine ‚prägende‘ experientielle Lektüre freilich auch bewusst als solche wahrgenommen werden, etwa wenn im Text etwas Unbekanntes verhandelt und unter Bezug auf Bekanntes erläutert wird – wie in diesem Beispiel: For example, if we have never seen a zebra before and it is described to us as a „horse with black-and-white stripes,“ then we can form a new referent representation by combining the perceptual traces for horses, for stripes, and for black-and-white, based on their associations with the corresponding words [...]. This virtual experiential trace, constructed from a combination of other visual traces can now be stored in long-term memory.187

Indem die Erzählung nicht nur das Konzept ZEBRA verwendet, sondern einen leserfreundlichen Erfahrungsbezug herstellt, wird der Leser zu einem ‚erfahrungshaften‘ Lernprozess angeregt. Während das Lernergebnis hier ausschließlich über visuelle Aspekte hergestellt wird, können derartige – auf Einzellektüren zurückführbare – Lerneffekte auch auf den anderen Ebenen des Erfahrungshintergrundes auftreten. Beispielsweise kann die Lektüre einer bestimmten Biografie den Leser zu lebensphilosophischen Einsichten bewegen, die er für immer mit diesem einen Buch in Verbindung bringen wird. Diesem dreistufigen Wirkungsmodell entsprechend wird der Grad der Experientialität einer Erzählung durch verschiedenartige Faktoren bestimmt. Innerhalb der literaturwissenschaftlichen Experientialitätsanalyse muss zuerst einmal

|| 185 Vgl. Shaun Nichols: Imagining and Believing: The Promise of a Single Code. In: Journal of Aesthetics and Art Criticism 62 (2004) H. 2, S. 129–139. 186 Damit soll nicht behauptet werden, der Leser werde unwillkürlich indoktriniert, sobald er sich auf mentale Simulationen einlässt. Wie falsche Informationen und fremde Überzeugungen als solche mental repräsentiert und gespeichert werden können, wird in Kapitel 4.3.4 gezeigt. Zu kognitionsnarratologischen Aspekten des Überzeugungspotenzials narrativer Texte vgl. auch Johannes J. Eisenhut: Überzeugen. Literaturwissenschaftliche Untersuchungen zu einem kognitiven Prozess. Berlin 2009. 187 Zwaan/Madden: Embodied Sentence Comprehension, S. 229.

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festgestellt werden, in welchem Umfang und auf welche Weise der Text ein Angebot zur experientiellen Lektüre macht – für diesen Analyseschritt kann gewinnbringend auf Fluderniks Modell und die darin aufgezeigten Möglichkeiten der textuellen Repräsentation von Erfahrung zurückgegriffen werden. In einem zweiten Schritt können die leserseitigen Wirkungen dieses textuellen Angebots abgeschätzt werden – für Caracciolo bestehen diese im Wesentlichen darin, dass der Leser eigene ‚Erfahrungsspuren‘ abruft und diese mit den erzählten Erfahrungen abgleicht.188 Dieser Vorgang kann jedoch von unterschiedlicher Intensität sein, sodass – wie schon bei Fludernik – auch hier die Experientialität als graduelles Phänomen auftritt: Sometimes engaging with a story can draw on our background, but have very modest effects on us. […] [E]xperientiality comes in different degrees, depending both on the story’s capacity to recruit experiential traces, meanings, and values that are part of interpreters’ background and on the strength of interpreters’ responses to the story and to its characters. To put this point otherwise: if a story draws on recipients’ background in a way that prompts them to react very strongly (through sensory imaginings, emotions, and socio-cultural evaluations), then the story will score high on a scale of experientiality.189

In einem dritten Schritt können Annahmen über die Langzeitwirkungen von experientiellen Lektüren getroffen werden: Starke experientielle Wirkungen während des Lesens können verändernd auf den experientiellen Haushalt des Lesers einwirken.

2.2.5 Bewusstseinshervorbringung In der Kognitiven Narratologie besteht Einigkeit darüber, dass das Verstehen von literarischen Figuren weitgehend identisch abläuft wie das Verstehen realer Personen im Alltag. Gemeint ist hierbei nicht bloß eine Außensicht auf Verhaltensweisen, sondern auch das Abwägen von Bewusstseinszuständen des anderen. Unter der prinzipiellen Annahme, dass Menschen in ähnlichen Situationen auch ähnliche Bewusstseinszustände einnehmen, kann von Erfahrungen mit eigenen

|| 188 Solche Annahmen über Rezeptionsprozesse sind spekulativ und gründen oftmals auf der lektürebegleitenden Introspektion dessen, der sie trifft. In Kapitel 3.2 wird ein Ansatz vorgestellt, bei dem soziokulturelle Faktoren in die Hypothesenbildung einbezogen werden und somit ein gewisser Verallgemeinerungsanspruch erhoben wird. Letztlich aber sind verallgemeinernde Aussagen über Leserreaktionen stets ‚probabilistisch‘ zu verstehen – als epistemologischer Maßstab gilt das in Kapitel 1.5.2 hergeleitete Leserkonzept. 189 Caracciolo: The Experientiality of Narrative, S. 50–51.

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Bewusstseinszuständen in bestimmten Situationen sowie von Vorstellungen darüber, wie wir uns in bestimmten Situationen verhalten würden, auf die Bewusstseinszustände unserer Mitmenschen in vergleichbaren Situationen geschlossen werden.190 Bei der Lektüre fiktionaler Texte machen wir von dieser Verstehenstechnik ebenfalls Gebrauch191 – befindet sich der Protagonist in einer uns vertrauten Situation, können wir dessen Bewusstseinszustand abschätzen und auf dieser Grundlage seine Handlungen interpretieren. So wie wir versuchen, die Gedanken, Emotionen und Handlungsziele unserer Mitmenschen zu erahnen, können wir auch literarischen Figuren innere Zustände zuschreiben, indem wir ihnen probeweise ein menschliches Bewusstsein unterstellen. Fludernik hat diesem Zuschreibungsphänomen eine zentrale Stelle in ihrem Modell zugewiesen (siehe Kapitel 2.1.4): Erfahrungen seien grundsätzlich an ein Bewusstsein gebunden, das sie abbildet und perspektiviert. So wie wir unseren Mitmenschen ein

|| 190 Diese psychosoziale Fähigkeit erlangen Kinder im Alter von 4 bis 6 Jahren, sobald sie zwischen ihrem eigenen Wissen und dem Wissen anderer zu unterscheiden vermögen, vgl. etwa Heinz Wimmer/Josef Perner: Beliefs about Beliefs: Representation and Constraining Function of Wrong Beliefs in Young Children’s Understanding of Deception. In: Cognition 13 (1983) H. 1, S. 103–128. Darauf zurückführbare Phänomene des mindreading werden unter dem Sammelbegriff theory of mind verhandelt – einen Überblick hierzu gibt Alison Gopnik: Theory of Mind. In: The MIT Encyclopedia of the Cognitive Sciences. Hg. v. Robert A. Wilson und Frank C. Keil. Cambridge (MA) [u. a.] 1999. S. 838–841. Eine aktuelle Einführung bietet Hans Förstl (Hg.): Theory of Mind. Neurobiologie und Psychologie sozialen Verhaltens. 2. Aufl. Berlin 2012. Mittels welcher psychokognitiven Prozesse und auf welcher neuronalen Grundlage solche Zuschreibungen von Bewusstseinszuständen stattfinden, konnte bisher nicht festgestellt werden. In der Forschung unterscheidet man zwei Lager innerhalb der theory of mind: Der Ansatz der sogenannten theory theory behauptet, dass langfristig Daten über das Verhalten anderer gesammelt und daraus Standardannahmen über mentale Zustände in bestimmten Situationen gebildet werden; der Ansatz der simulation theory hingegen geht davon aus, dass man sich in sein Gegenüber hineinversetzt, dessen Situation mental simuliert und dadurch auf den mentalen Zustand des anderen schließt. Vgl. dazu Robert M. Gordon: Simulation vs. Theory-Theory. In: The MIT Encyclopedia of the Cognitive Sciences. Hg. v. Robert A. Wilson und Frank C. Keil. Cambridge (MA) [u. a.] 1999. S. 765–766. Die aufsehenerregende Entdeckung der sogenannten Spiegelneurone stützt den Ansatz der simulation theory, vgl. etwa Svend Østergaard: Imitation, Mirror Neurons, and Meta-cognition. In: Metarepresentation, Self-Organization and Art. Hg. v. Wolfgang Wildgen und Barend van Heusden. Bern [u. a.] 2009. S. 201–211. Allerdings ist auch die Spiegelneuronetheorie inzwischen stark in die Kritik geraten, vgl. etwa Gregory Hickok: The Myth of Mirror Neurons. The Real Neuroscience of Communication and Cognition. New York [u. a.] 2014. 191 „Literature pervasively capitalizes on and stimulates Theory of Mind mechanisms that had evolved to deal with real people, even as on some level readers do remain aware that fictive characters are not real people at all.“ (Zunshine: Why We Read Fiction, S. 10.) Vgl. ähnlich auch Palmer: Fictional Minds, S. 175–176.

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Bewusstsein ihrer eigenen Handlungen, Wahrnehmungen und Erlebnisse unterstellen, verfahren wir gleichermaßen auch in Bezug auf literarische Instanzen – Erfahrungen von Figuren und Erzählern seien stets bewusste Erfahrungen. Caracciolo greift diesen Gedanken auf und verwendet dafür die kognitionsnarratologische Kategorie der ‚Bewusstseinszuschreibung‘ (consciousness-attribution). Allerdings hält er diesen verbreiteten Ansatz für unzureichend, da nicht alle kognitionsnarratologischen Aspekte des Bewusstseins damit erfasst werden: Bei der ‚Bewusstseinszuschreibung‘ handle es sich um die leserseitige Interpretation einer dargestellten oder erzählten Erfahrung vor dem Hintergrund eines diese Erfahrung verarbeitenden Figuren- oder Erzählerbewusstseins. Wie gesehen kann der Leser hierbei selbst zu neuen Erfahrungen gelangen – diese leserseitigen Erfahrungen konstituieren sich im Leserbewusstsein. Bei der experientiellen Lektüre werden somit grundsätzlich erst einmal zwei Erfahrungen und zwei Bewusstseinszustände unterschieden. Die Erfahrungen von Figuren bzw. Erzählern und die dabei evozierten erzählungsbasierten Lesererfahrungen können stark voneinander abweichen. Wenn etwa eine kindliche literarische Figur einem großen Hund begegnet und sich fürchtet, so werden beim Leser wahrscheinlich keine Furchterfahrungen wachgerufen, sondern Beschützerinstinkte geweckt. Der Leser versetzt sich somit zwar selbst in einen Bewusstseinszustand, aber dieser unterscheidet sich offenbar deutlich von dem, den er der Figur zuschreibt. In diesem Fall liegen sowohl zwei voneinander zu unterscheidende Erfahrungen als auch zwei verschiedene Bewusstseinszustände vor – die vom Leser vollzogene Bewusstseinszuschreibung basiert daher offensichtlich nicht auf dem im Zuge der Lektüre erlangten eigenen Bewusstseinszustand. Anders verhält es sich Caracciolo zufolge, wenn eine gewisse Übereinstimmung zwischen der literarischen Erfahrung und der Lesererfahrung besteht, denn in diesem Fall könne der Leser bei der Bewusstseinszuschreibung auf seinen eigenen aktuellen Bewusstseinszustand zurückgreifen. Zugespitzt behauptet Caracciolo sogar, der Bewusstseinszustand der Figur werde im Bewusstsein des Lesers ‚hervorgebracht‘ (enacted): „fictional consciousness can be enacted by readers if the text invites them to attribute to a character at least one aspect or component of their story-driven experience“192 – für dieses Phänomen verwendet er die Kategorie der ‚Bewusstseinshervorbringung‘ (consciousness-enactment). Die Bedingungen für diesen Akt der Bewusstseinshervorbringung hält Caracciolo relativ niedrig: Die literarische Erfahrung und die erzählungsbasierte Lesererfahrung müssen eine Schnittmenge aufweisen – es würde demnach genügen, wenn die Erfahrung der Figur oder des Erzählers auf einer Ebene des Leser-backgrounds || 192 Vgl. Caracciolo: The Experientiality of Narrative, S. 118.

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übereinstimmt.193 Beispielsweise kann der Leser während seiner Lektüre eine virtuelle sensomotorische Erfahrung machen, die mit der sensomotorischen Erfahrung der Figur übereinstimmt, während Figur und Leser auf unterschiedliche Weise emotional darauf reagieren. Da der Leser somit nur einen Teil der Figurenerfahrung selbst ‚hervorbringt‘ ist auch die damit einhergehende ‚Bewusstseinshervorbringung‘ nur partiell.194 Caracciolo konzipiert diese Kategorie – analog zur Experientialität – daher als graduelles Phänomen.195 Jene Bewusstseinsaspekte, die nicht enaktiv in die Lektüre eingebracht werden konnten, werden indes mittels Bewusstseinszuschreibung ergänzt. Basierend auf den hier zusammengetragenen experientialitätstheoretischen Begriffen und Vorannahmen kann die Enkelliteratur analysiert und hinsichtlich ihrer didaktischen und erinnerungskulturellen Funktionen beurteilt werden. Da sich jedoch in der Enkelliteratur mehrere Zeitebenen überlagern und somit neben den historischen auch gegenwartsbezogene Erfahrungskontexte aufgeboten werden, stellt sich zusätzlich die Frage, durch welche Handlungsebene die ‚Erfahrungsspuren‘ jeweils ausgelöst werden und ob es sich bei dem Figurenbewusstsein um ein historisches oder gegenwärtiges handelt – zu diesem Zweck wird in Kapitel 4 ein entsprechendes Analysemodell entwickelt. Erst durch solche gattungsspezifischen Differenzierungsmöglichkeiten lassen sich die experientiellen Langzeitwirkungen der Enkelliteratur ermessen und mit außerliterarischen Wirkungshypothesen verknüpfen. Der vorliegenden Arbeit liegt die Annahme zugrunde, dass die Texte der Enkelliteratur solche Langzeitwirkungen tatsächlich aufweisen und daher die (in Kapitel 1.1 skizzierte) Forderung nach einer experientiellen ‚Erinnerungskultur nach der Zeitzeugenschaft‘ – im Rahmen ihrer medialen Möglichkeiten – erfüllt. Worin genau hierbei die Herausforderung besteht, wird im nächsten Kapitel vor dem Hintergrund der Experientialitätstheorie und den damit einhergehenden kognitionswissenschaftlichen Grundbegriffen weiter ausgeführt und mit literaturwissenschaftlichen Problembereichen verknüpft.

|| 193 Vgl. Caracciolo: The Experientiality of Narrative, S. 123–124. 194 Genau genommen sei die ‚Bewusstseinshervorbringung‘ immer partiell, denn es bestehe eine prinzipielle Differenz zwischen der Erfahrung einer Figur oder eines Erzählers und der Lesererfahrung, vgl. Caracciolo: The Experientiality of Narrative, S. 123. 195 Vgl. Caracciolo: The Experientiality of Narrative, S. 124.

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2.3 Experientielle Erinnerungskultur Im vorangegangenen Kapitel wurde aufgezeigt, dass Leserinnen und Leser bei der Lektüre literarischer Erzählungen nicht nur auf bereits gemachte Erfahrungen zurückgreifen, sondern auch neue Erfahrungen machen können. An diesen Befund anknüpfend ist nun zu fragen, inwiefern der literarisch evozierte Erfahrungsbereich auch ein historischer sein kann und somit einen experientiellen Bezug zu einer Zeit herzustellen vermag, die der Leser nicht aus eigener Erfahrung kennt. Dass historische Erfahrungen mittels Erzählungen weitergegeben werden können, ist für die historischen Wissenschaften keine Neuigkeit: Erzählungen haben die Kraft, uns Erfahrungen Anderer zu vermitteln und uns diese Erfahrungen vergegenwärtigend ‚nacherleben‘ zu lassen, und zwar so, dass wir uns mithilfe von Phantasie und Empathie aus der Perspektive des Erzählers oder der Charaktere in einem Bereich des Als-ob selbst in einer Weise auf ihre Erfahrung beziehen, als ob sie jetzt von uns gemacht würde. Obwohl diese Als-ob-Erfahrung von der originären Erfahrung der historischen Akteure zu unterscheiden ist, kann sie für die Rezipienten doch selbst zu einer originären werden, insbesondere auch dann, wenn das Nachempfundene in originärer Weise gerade noch nicht selbst erlebt wurde und somit nicht in den eigenen Erfahrungsschatz fällt.196

Was hier als allgemeines Wirkungspotenzial von Erzählungen ausgewiesen wird, stellt sich aus narratologischer Sicht wesentlich differenzierter dar, denn erstens vermag nicht jede Geschichtserzählung per se experientielle Wirkungen zu entfalten – hier kommt es vielmehr auf bestimmte narrative Darstellungsverfahren an. Und zweitens verdankt sich die Experientialität einer Geschichtserzählung in der Regel nicht allein der darin dargestellten historischen Erfahrung, sondern speist sich auch aus den experientiellen Qualitäten der Vermittlung dieser Erfahrung – wenn jedoch der Erfahrungsbereich der Vermittlungsinstanz kein historischer ist, so ist auch die leserseitig evozierte Erfahrung nicht in Gänze historisch. So wird etwa in der Enkelliteratur nicht nur die historische Erfahrung der Zeitzeugen zur Darstellung gebracht, sondern auch die gegenwärtige Erfahrung der Enkelfiguren. Hier entsprechende Differenzen kenntlich zu machen, kann mithilfe der Kognitiven Narratologie geleistet werden, indem narrative Techniken der Transformation primärer historischer Erfahrungen der Zeitzeugen in sekundäre historische Erfahrungen der Nachgeborenen aufzeigt werden.

|| 196 Thiemo Breyer/Daniel Creutz: Historische Erfahrung. Ein phänomenologisches Schichtenmodell. In: Erfahrung und Geschichte. Historische Sinnbildung im Pränarrativen. Hg. v. dens. Berlin/New York 2010. S. 332–363, hier S. 345–346.

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Wenngleich die Möglichkeiten, historische Erfahrungen in der Gegenwart verfügbar zu machen, begrenzt sein mögen, wird ihnen prinzipiell ein hoher erinnerungskultureller Wert beigemessen, denn „[d]ie Tatsache, das [sic!] Erfahrungen konserviert und weitergegeben werden können, bildet die Bedingung unseres kulturellen Gedächtnisses und die Grundlage kulturellen Lernens“197. Daher kann es als ein besonderes Verdienst der Enkelliteratur angesehen werden, dem Sterben der Zeitzeugen des Nationalsozialismus mit literarischen Verfahren zu begegnen, in denen die Möglichkeiten einer transgenerationalen Weitergabe historischer Erfahrung erprobt werden. Zum einen geben die Erzählerfiguren Beispiele dafür ab, mit welchen Mitteln die eigene Familiengeschichte rekonstruiert werden kann und inwieweit deren ‚erfahrungshafte‘ Aneignung Identitätsbildungsprozesse in Gang setzen kann. Zum anderen jedoch wird auch den Leserinnen und Lesern Gelegenheit geboten, sich auf ‚erfahrungshafte‘ Weise mit der dargestellten Geschichte auseinanderzusetzen und sie mit ihrer gegenwärtigen Lebenswirklichkeit zu verknüpfen. Freilich kann ein experientieller Umgang mit Geschichte den Wegfall der primären Erfahrungsträger aus der Gesellschaft nicht ersetzen, aber zumindest mag auf diese Weise der Gefahr vorgebeugt werden, dass der Nationalsozialismus und seine Verbrechen schlagartig an gegenwartsbezogener Relevanz verlieren und auf ihren bloßen Informationswert reduziert werden. Dieses Spannungsfeld zwischen ‚erfahrungshaftem‘ und ‚erfahrungsleerem‘ Geschichtsbezug kann mittels begrifflicher Abgrenzung von ‚Erinnern‘ und ‚Gedenken‘ verdeutlicht werden.

2.3.1 Erinnern statt Gedenken Dem erinnerungskulturellen Funktionspotenzial des Gedenkens sind klare Schranken gesetzt: „Gedenken […] bezieht sich auf die Ereignisse, deren gedacht werden soll, und soll explizit nicht über sie hinausweisen, sondern nur eine Art historischer Verlängerung in die Zukunft darstellen“198. Das heißt jedoch nicht, dass das Gedenken prinzipiell defizitär sei – vielmehr werden erinnerungskulturelle Ansprüche häufig bewusst auf Praktiken des Gedenkens ausgerichtet. Diese basieren auf symbolischen Repräsentationen des Historischen und dienen in der Regel dem politischen oder kulturellen Selbstverständnis derer, die sich im Rah-

|| 197 Thiemo Breyer/Daniel Creutz: Einleitung. In: Erfahrung und Geschichte. Historische Sinnbildung im Pränarrativen. Hg. v. dens. Berlin/New York 2010. S. 1–18, hier S. 12. 198 Jan Philipp Reemtsma: Wozu Gedenkstätten? In: APuZ (2010) H. 25/26, S. 3–9, hier S. 5.

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men zeremonieller Veranstaltungen der Bedeutung bestimmter historischer Ereignisse, Personen und Orte gegenseitig versichern. Dem Vergessen auf diese Weise entgegenzuwirken ist hochgradig funktional – häufig spiegeln Gedenkveranstaltungen die moralischen Werte einer Gesellschaft wider oder dienen der Pflege transnationaler Freundschaften. Aus kognitionspsychologischer Sicht erweist sich dieses erinnerungskulturelle Format jedoch als relativ fragil, denn beim reinen Gedenken wird das Repräsentierte mittels propositionaler Strukturen verarbeitet und ausschließlich im semantischen Gedächtnis gespeichert. Während bei Zeitzeugen durch einen solchen Gedenkakt gegebenenfalls Erinnerungen an eigene Erfahrungen ausgelöst werden, sind bei Nachgeborenen solche persönlichen Auseinandersetzungsprozesse prinzipiell nicht beabsichtigt. Somit bleibt das Gedenken innerhalb einer Postaugenzeugengesellschaft abstrakt – statt ‚Erfahrungsspuren‘ aus dem eigenen Erfahrungshintergrund abzurufen, wird die Distanz zum Historischen bewusst gewahrt. Diese Problematik reflektiert Tanja Dückers in ihrem Roman Himmelskörper, worin die Erzählerin Freia bei einem Besuch des Warschauer Ghetto-Ehrenmals über ihre emotionale Distanziertheit in Erstaunen gerät: Ich versuchte […], mir die vielen Menschen vorzustellen, die hier täglich aus dem Warschauer Ghetto antreten mußten, das Nötigste dabei. Doch ich konnte diese Gedanken nicht mit diesem munteren Ort in Verbindung bringen. Das Wissen, hier haben sie gestanden, hier wurden sie abgeholt, blieb für mich gänzlich abstrakt.199

Zwar mag der Besuch eines solchen Gedenkortes oder einer Gedenkveranstaltung als solcher einen erlebnishaften Charakter annehmen, jedoch scheint sich dies nicht unmittelbar auf die Wahrnehmung und das Verstehen der historischen Inhalte auszuwirken. Erinnern hingegen wird als selbstreflexiver und produktiver Vorgang aufgefasst: „‚Erinnern‘ meint nicht das Archivieren und Speichern abgeschlossener und damit statisch gewordener Vergangenheiten, sondern wird verstanden als performativer Prozeß, der seinen Gegenstand konstituiert, inszeniert, re-inszeniert und dabei ständig modifiziert“200. Im Erinnern werden bei der Auseinandersetzung mit Geschichte neue Erfahrungen gemacht und persönliche Bezüge hergestellt, indem das Historische in einen modalen Wahrnehmungskontext eingebunden wird – sei es durch die mentale Simulation einer historischen Er-

|| 199 Tanja Dückers: Himmelskörper. Roman. Berlin 2003, S. 169–170. 200 Erika Fischer-Lichte/Gertrud Lehnert: Einleitung. In: Paragrana 9 (2000) H. 2, S. 9–17, hier S. 14.

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fahrungssituation oder durch die Integration historischen Wissens in erfahrungsnahe Gegenwartskontexte. Welche der von Caracciolo unterschiedenen Ebenen des Erfahrungshintergrundes hierbei ‚angezapft‘ werden, mag von Fall zu Fall variieren – üblicherweise jedoch werden vor allem die emotionalen Aspekte des Erinnerns hervorgehoben. Dabei muss allerdings angemerkt werden, dass ein rein emotionaler Vergangenheitsbezug kaum mit den üblichen erinnerungskulturellen Ansprüchen vereinbar wäre – vielmehr ist davon auszugehen, dass effektives Erinnern stets mit Gedenkaspekten einhergeht und die besten erinnerungskulturellen Wirkungen durch eine Kombination von kognitiven Wissensinhalten und emotionaler Verarbeitung zu erreichen sind.201 So fordert etwa Volkhard Knigge ein „erfahrungsorientierte[s], forschende[s] Lernen“202 in den KZ-Gedenkstätten, „[d]enn die Verknüpfung von kognitiven und affektiven Zugängen zur Vergangenheit intensiviert Auseinandersetzungsprozesse“203. Insbesondere in einer Erinnerungsgesellschaft ohne Zeitzeugen, in denen die Geschichtsdidaktik zunehmend auf unpersönliche Vermittlungsformate angewiesen ist, sei eine stärkere Ausrichtung des erinnerungskulturellen Angebots auf selbstverantwortliche und kreative Aneignungsformate geboten. In der Praxis jedoch werden Erinnern und Gedenken noch immer häufig als synonym und funktional identisch erachtet – der Psychoanalytikerin Vera Kattermann zufolge führt

|| 201 Dass eine rein emotionale Auseinandersetzung mit Geschichte zu Umdeutungen bereits vorhandenen Geschichtswissens oder zu Fehleinschätzungen historischer Tatsachen führen können, haben Harald Welzer, Sabine Moller und Karoline Tschuggnall in ihrer empirischen Studie „Opa war kein Nazi“ anhand der Bildung und Aufrechterhaltung von Familiengedächtnissen aufgezeigt. Auf der Grundlage des „Unterschied[s] zwischen kognitivem Geschichtswissen und emotionalen Vorstellungen über die Vergangenheit“ in Bezug auf Familiengeschichten stellen sie teilweise enorme inhaltliche Abweichungen zwischen beiden Zugängen fest. Obwohl die Nachgeborenen oftmals ein fundiertes Wissen über die NS-Zeit aufweisen, tendieren sie dazu, ihre eigenen Familienmitglieder von jeglicher Schuld und Beteiligung freizusprechen: „Metaphorisch gesprochen, existiert neben einem wissensbasierten ‚Lexikon‘ der nationalsozialistischen Vergangenheit ein weiteres, emotional bedeutenderes Referenzsystem für die Interpretation dieser Vergangenheit: eines, zu dem konkrete Personen – Eltern, Großeltern, Verwandte – ebenso gehören wie Briefe, Fotos und persönliche Dokumente aus der Familiengeschichte. Dieses ‚Album‘ vom ‚Dritten Reich‘ ist mit Krieg und Heldentum, Leiden, Verzicht und Opferschaft, Faszination und Größenphantasien bebildert, und nicht, wie das ‚Lexikon‘, mit Verbrechen, Ausgrenzung und Vernichtung.“ (Harald Welzer/Sabine Moller/Karoline Tschuggnall: „Opa war kein Nazi“. Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis. Frankfurt a. M. 2002, S. 9–10.) 202 Volkhard Knigge: Zur Zukunft der Erinnerung. In: APuZ (2010) H. 25/26, S. 10–16, hier S. 11. 203 Knigge: Zur Zukunft der Erinnerung, S. 11.

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dies zu einer unzulässigen „Vermengung von Verarbeitungs- und Gedenkanspruch“204, sodass erwartete Wirkungen verfehlt werden: „Eines der zentralen öffentlichen Missverständnisse in Bezug auf die Bedeutung des kollektiven Erinnerns liegt in der unreflektierten Reduzierung der Erinnerung auf ihre kognitive Dimension. […] Wenn öffentliches Erinnern nachhaltige Wirkungen entfalten soll, geht es nicht ohne emotionale Öffnung und Beteiligung.“205 Zwar bedarf es zu einer solchen „emotionalen Öffnung“ einerseits einer gewissen Bereitschaft des Erinnernden, jedoch muss das Historische andererseits auch auf eine geeignete Weise präsentiert und verfügbar gemacht werden. Kattermanns Vorwurf richtet sich daher gegen erinnerungskulturelle Institutionen, die sich auf das Speichern, Ausstellen und Repräsentieren beschränken und dabei unnachgiebig an eingeübten Gedenkformeln und bewährten Deutungshorizonten festhalten, statt ihr Angebot medial und narrativ den Erfahrungshorizonten gegenwärtiger und insbesondere jüngerer Besucher und Rezipienten anzunähern. Diese Forderung richtet sich auch an die Literatur: Statt lediglich Geschichtswissen zu vermitteln und das Gedenken an die Kriegstoten und Gewaltopfer aufrechtzuerhalten, muss sie auf Präsentationsformen zurückgreifen, die den Lesern einen persönlichen und emotionalen Zugang verschaffen. Die Enkelliteratur ist um eine solche erinnernde Auseinandersetzung mit der Vergangenheit sichtlich bemüht, denn die Familiengeschichte wird nicht lediglich zusammengetragen und sachlich präsentiert, sondern stets als Aneignungsprozess inszeniert und in gegenwärtige Deutungshorizonte eingebettet. In rezeptionsästhetischer Perspektive wird der erinnernde Zugang vor allem durch einen hohen Grad an Experientialität hergestellt, denn indem der Leser während der Auseinandersetzung mit dem Historischen neue Erfahrungen macht, integriert er Aspekte der Vergangenheit in seinen eigenen Erfahrungshintergrund. Das Erinnerungspotenzial eines literarischen Textes hängt folglich maßgeblich von seiner Experientialität ab. Die Verknüpfung eines literaturwissenschaftlichen Experientialitätskonzepts mit erinnerungskulturellen Fragestellungen ist nicht ganz neu. Die ‚Erfahrungshaftigkeit‘ erinnerungsliterarischer Texte basiert Astrid Erll zufolge auf der „Inszenierung typischer Inhalte von kommunikativen Alltags- und Gruppengedächtnissen“206. Stephanie Wodianka zieht daraus Konsequenzen für die spezifische leserseitige Wahrnehmung literarischer Zeitstrukturen:

|| 204 Vera Kattermann: Endlich fertig erinnert? Ein psychoanalytischer Beitrag zur Diskussion kollektiver Vergangenheitsarbeit. In: Merkur 66 (2012) H. 5, S. 459–465, hier S. 463. 205 Kattermann: Endlich fertig erinnert? S. 461. 206 Astrid Erll: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung. 3., aktualisierte u. erw. Aufl. Stuttgart 2017, S. 193. Erll übernimmt den Begriff von Fludernik, verwendet

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Erfahrungshaftigkeit meint hier die Verortung literarischer Texte und ihrer Bedeutung im zeitlichen Nahhorizont, d.h. in einer ‚Erinnerungsnähe‘, die eigenen Erfahrungen gleichkommt. Voraussetzung dafür ist nicht etwa eine tatsächliche Bezugnahme der Literatur auf aktuelles Geschehen oder auf tatsächlich gelebte Erfahrung, sondern eine wie auch immer begründete, potentielle Anschließbarkeit an die Erfahrungsreichweite, die fiktive Zeit und außerliterarische Zeit verschmelzen lassen […].207

Der Modus der ‚Erfahrungshaftigkeit‘ wird dem der ‚Monumentalität‘ gegenübergestellt. Eine ‚monumentale‘ Darstellung von Geschichte überdauert den erinnerungskulturellen Wandel und beansprucht Gültigkeit für verschiedene Rezeptionskontexte. Da die Inhalte und deren Deutung als verbindlich und nicht mehr verhandelbar ausgewiesen werden, sei das Erzählen im ‚monumentalen‘ Modus im Wesentlichen autoritär.208 Auf ‚Erfahrungshaftigkeit‘ angelegte Geschichtsdarstellungen hingegen seien auf den Erfahrungshorizont und die Sinnbildungsbedürfnisse einer bestimmten erinnerungskulturellen Gemeinschaft abgestimmt und daher prinzipiell offen für Kritik und Korrekturen. ‚Erfahrungshaftigkeit‘ und ‚Monumentalität‘ können somit als Komplementärbegriffe der Dichotomie von ‚Erinnern‘ und ‚Gedenken‘ verwendet werden. Und so wie Erinnerungs- und Gedenkaspekte zumeist gemeinsam auftreten, sind auch zwischen ‚Erfahrungshaftigkeit‘ und ‚Monumentalität‘ zahlreiche Abstufungen möglich, da beide Aspekte im selben Text und in Bezug auf denselben Gegenstand in verschiedenen Mischverhältnissen vorkommen können.209

2.3.2 Episodisches und semantisches Gedächtnis Während sich die konzeptionelle Unterscheidung von Erinnern und Gedenken einerseits auf verschiedene erinnerungskulturelle Praktiken und Darstellungsformate zurückführen lässt, verweist sie andererseits auf zwei unterschiedliche

|| ihn aber wesentlich allgemeiner und ohne deren kognitionswissenschaftliche Fundierung, vgl. Astrid Erll: Gedächtnisromane. Literatur über den Ersten Weltkrieg als Medium englischer und deutscher Erinnerungskulturen in den 1920er Jahren. Trier 2003, S. 83. 207 Stephanie Wodianka: Zeit – Literatur – Gedächtnis. In: Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft. Theoretische Grundlegung und Anwendungsperspektiven. Hg. v. Astrid Erll und Ansgar Nünning. Berlin/New York 2005. S. 179–202, hier S. 183. 208 Vgl. Astrid Erll: Literatur als Medium des kollektiven Gedächtnisses. In: Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft. Theoretische Grundlegung und Anwendungsperspektiven. Hg. v. ders. und Ansgar Nünning. Berlin/New York 2005. S. 249–276, hier S. 268–269. 209 Vgl. Erll: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, S. 197.

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Arten der kognitiven Verarbeitung und Speicherung literarisch vermittelter Geschichte: Während die historischen Gegenstände im monumentalistischen Modus des Gedenkens vorwiegend auf semantischer Ebene verarbeitet und gespeichert werden, können beim erfahrungshaften Erinnern persönliche Bezüge hergestellt und die vermittelten Inhalte mit einem spezifischen Erwerbskontext verknüpft werden. Diese beiden Arten der Informationsverarbeitung werden sowohl in den Kognitions- als auch in den Kulturwissenschaften auf die Differenz zwischen semantischem und episodischem Gedächtnis zurückgeführt.210 Es handelt sich hierbei um eine heuristische211 Unterscheidung von zwei ‚Wissensformaten‘212. Im semantischen Gedächtnis werden Bedeutungen von Wörtern und anderen Zeichen sowie allgemeines Faktenwissen gespeichert. Das episodische Gedächtnis hingegen speichert Informationen, die mit eigenen Erfahrungen verknüpft sind oder Bezüge zu möglichen Erfahrungskontexten aufweisen. Wohlgemerkt ist es nicht allein der Speicherort für autobiografische Erfahrungen,213 sondern generell für jede Information mit konkretem Erfahrungsbezug: „Note, however, that it is not suggested that the content of EMs [d. i. episodic memories, RF] correspond directly to experience. Rather we argue that EM content is experience-near. EM content typically contains sensory-perceptual-conceptual-affec-

|| 210 Vgl. erstmals in Endel Tulving: Episodic and Semantic Memory. In: Organization of Memory. Hg. v. dems. und Wayne Donaldson. New York 1972. S. 381–402. 211 Während Tulving ursprünglich von einer Heuristik spricht (vgl. Tulving: Episodic and Semantic Memory, S. 391 u. 401), lassen sich mittels moderner Forschungsmethoden inzwischen auch die neuronalen Grundlagen derselben aufzeigen – worauf Tulving selbst hinweist: „By the time I wrote Elements of Episodic Memory (Tulving 1983), it had become possible to entertain the thought that the heuristic distinction was useful for the simple reason that it corresponded to biological reality.“ (Endel Tulving: Episodic Memory: From Mind to Brain. In: Annual Review of Psychology 53 [2002] H. 1, S. 1–25, hier S. 3.) 212 „An important point to note is that this distinction is not a matter of different memory stores but of different knowledge types.“ (Jonathan Culpeper: Language and Characterisation. People in Plays and Other Texts. Harlow [u. a.] 2001, S. 59–60.) 213 Als Speicherort für autobiografische Daten gilt das sogenannte ‚autobiografische Gedächtnis‘. Dieses ist der Unterscheidung von episodischem und semantischem Gedächtnis gewissermaßen übergeordnet, da es neben episodischen auch semantische Inhalte enthält – dies verdeutlichen Cosmides und Tooby anhand der „distinction between remembering and knowing: ‚I recall seeing the Grand Canyon‘ (episodic) versus ‚I know that I saw the Grand Canyon‘ (semantic)“ (Leda Cosmides/John Tooby: Consider the Source. The Evolution of Adaptations for Decoupling and Metarepresentations. In: Metarepresentations. A Multidisciplinary Perspective. Hg. v. Dan Sperber. Oxford/New York 2000. S. 53–115, hier S. 94). Vgl. auch Suparna Rajaram: Remembering and Knowing: Two Means of Access to the Personal Past. In: Memory & Cognition 21 (1993) H. 1, S. 89–102.

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tive summary features rather than literal records of experience that could be relived.“214 Folglich werden auch solche Informationen episodisch verarbeitet und gespeichert, die nicht auf eigenem Erleben beruhen, sondern bloß mittels mentaler Simulation experientiell angeeignet werden. Diese funktionalen Differenzen von semantischer und episodischer Informationsverarbeitung sollten indes nicht darüber hinwegtäuschen, dass beide Gedächtnistypen in der Regel miteinander interagieren und sich wechselseitig ergänzen – es handelt sich um „two parallel and partially overlapping information processing systems“215. Während rein semantische Informationsverarbeitungen relativ häufig vorkommen, erscheinen rein episodische Gedächtnisleistungen eher unwahrscheinlich: „Ohne das Verstehen und die Interpretation von Abrufhinweisen sind viele episodische Erinnerungen gar nicht realisierbar. Überhaupt müssen wir oft unser Faktenwissen, etwa in der Form von Schemata oder Skripts, heranziehen, um vergangene persönliche Erlebnisse rekonstruieren zu können.“216 Dieser Vorstellung von Mischverhältnissen zwischen semantischen und episodischen Elementen entspricht auch die im vorangegangenem Kapitel getroffene Feststellung, dass eine Befürwortung des erinnerungskulturellen Paradigmas des Erinnerns mitnichten einen Verzicht auf jegliche Form der semantischen Informationsverarbeitung impliziert – vielmehr sollten Erinnerungsprozesse mit den semantischen Gedächtnisleistungen des Gedenkens verknüpft werden können.

|| 214 Martin A. Conway: Exploring Episodic Memory. In: Handbook of Episodic Memory. Hg. v. Ekrem Dere, Alexander Easton, Lynn Nadel und Joseph P. Huston. Amsterdam/London 2008. S. 19–29, hier S. 21. 215 Tulving: Episodic and Semantic Memory, S. 401. 216 Gerald Echterhoff: Das Außen des Erinnerns: Was vermittelt individuelles und kollektives Gedächtnis? In: Medien des kollektiven Gedächtnisses. Konstruktivität – Historizität – Kulturspezifität. Hg. v. Astrid Erll und Ansgar Nünning. Berlin/New York 2004. S. 61–82, hier S. 72. Im Gegensatz dazu nennt Tulving in seinem ersten Theorieentwurf noch einige Beispiele für die rein episodische Verarbeitung: „Sensory impressions, such as seeing a flash of light, a person’s face, or hearing a fragment of a melody, can probably be remembered quite well without the intervention of the semantic system.“ (Tulving: Episodic and Semantic Memory, S. 392.) Allerdings konzipiert er später ein hierarchisches Verhältnis, in dem das episodische Gedächtnis grundsätzlich vom semantischen abhängig ist: „The relation between episodic and semantic memory is hierarchical: Episodic memory has evolved out of, but many of its operations have remained dependent on, semantic memory. A corollary is that semantic memory can operate (store and retrieve information) independently of episodic memory, but not vice versa.“ (Endel Tulving: What is Episodic Memory? In: Current Directions in Psychological Science 2 [1993] H. 3, S. 67–70, hier S. 67–68.)

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Das Erinnerungspotenzial von Literatur hängt somit maßgeblich davon ab, inwieweit im Zuge der Vermittlung von historischen Fakten und Erfahrungen auf die Funktionen des episodischen Gedächtnisses zurückgegriffen wird. Demnach ist aus kognitionsnarratologischer Sicht zu fragen, welche Darstellungsverfahren und Erzählweisen eine dauerhafte Speicherung im episodischen Gedächtnis der Leserinnen und Leser begünstigen. Über die textbasierten Wirkungspotenziale hinaus wird im Folgenden auch der kommunikative Kontext von Autoren und Lesern in den Blick genommen, da auch auf pragmatischer Ebene experientielle Wirkungen hervorgerufen werden können. Zwar ist von einem hohen Experientialitätsgrad noch nicht zwingend auf eine starke Erinnerungsleistung zu schließen, aber umgekehrt können literarische Erinnerungspotenziale nur in einer experientiellen Lektüre realisiert werden. Anhand von Beispielen aus der Enkelliteratur wird daher aufzuzeigen sein, wie deren Experientialität auf die jeweilige Geschichtsthematik bezogen und somit für Erinnerungsfunktionen nutzbar gemacht werden kann.

2.3.3 Subjektivierung und Pluralisierung Die Verknüpfung von sachlichen und emotionalen Elementen bei der Auseinandersetzung mit der Zeit des Nationalsozialismus setzt voraus, dass weniger die makrohistorischen Geschehensabläufe dargestellt und übergeordnete Deutungsmuster artikuliert, als vielmehr einzelne Lebensläufe und die individuelle Wahrnehmung der historischen Akteure in den Blick genommen werden. Statt den Schrecken in seinem ganzen Ausmaß zu präsentieren, sollen Ausschnitte gezeigt werden, die von den Rezipienten bewältigt werden können. In Bezug auf das Erinnern des Holocaust äußerte sich hierzu der israelische Botschafter in Deutschland wie folgt: „Das Geschehene kann greifbarer werden, wenn das abstrakte Gedenken individualisiert wird; wenn aus der unvorstellbaren Zahl der sechs Millionen ermordeten Juden einzelne Schicksale hervorgehoben werden und wenn klar wird, dass jeder Ermordete und jeder Überlebende seine eigene Geschichte hat.“217 Zu einer solchen Pluralisierung von Geschichte trägt die Literatur bei, indem sie Einblicke ins Private gibt und subjektive Erfahrungen schildert. Allerdings spiegeln sich in den – oft exemplarischen – Familiengeschichten immer auch makrohistorisch kontextualisierbare Kollektiverfahrungen. Dieser Anspruch schwingt in Uwe Timms Am Beispiel meines Bruders schon im Titel mit,

|| 217 Yakov Hadas-Handelsman: Wer die Vergangenheit nicht kennt… In: Süddeutsche Zeitung (12.02.2015), S. 2.

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während Gila Lustiger in So sind wir von ihrer intrafamiliären Geschichtsanalyse häufig gleich auf das gesamte jüdische Volk schließt.218 In der Tat bringt die Erinnerungsliteratur neben der subjektiven Perspektive meistens auch objektive Deutungszusammenhänge zur Sprache, denn die „Interferenzen zwischen Privatem und Politischem, ‚kleiner‘ erlebter und ‚großer‘ gewusster Geschichte kann Literatur generell besonders gut bedienen“219. Darüber hinaus verfügt die Literatur über die Freiheit, historische Prozesse in ihrer ursprünglichen Offenheit abzubilden. Die Geschichte der Zeitzeugen wird hierbei nicht vom Ende her erzählt, sondern in einer von voreiligen Deutungsansprüchen befreiten Form dargeboten. Der Leser wird dadurch in die Lage versetzt, von seinem Standpunkt des besseren Wissens zu abstrahieren und in seinen Geschichtsverstehensprozess auch historische Zukunftsvorstellungen einzubeziehen. Mit der Subjektivierung des Historischen und der Darstellung zukunftsoffener historischer Erfahrungen bietet die Literatur einen anderen Zugang zur Geschichte als die wissenschaftliche Historiografie, die traditionell größere Ereigniszusammenhänge analysiert und dabei üblicherweise eine nachträgliche Perspektive einnimmt, bei der die Darstellung des Historischen dem gegenwärtigen Kenntnis- und Forschungsstand unterworfen wird. Dem ist allerdings entgegenzuhalten, dass sich im wissenschaftlichen Geschichtsdiskurs gegenwärtig ein Bruch mit teleologischen und Kontinuität stiftenden Geschichtskonstruktionen und eine Forderung nach Pluralisierung und Subjektivierung von Geschichtsbildern abzeichnet:220 Es kann „als allgemeine Tendenz des deutschen Geschichtsdiskurses seit den 1990er Jahren gelten, dass die Perspektiven auf Geschichte vervielfältigt und enthierarchisiert werden“221. Der Historiker Lucian Hölscher begründet diese Entwicklung mit dem brüchigen Geschichtsverlauf des zwanzigsten Jahrhunderts, in dessen Spannungsfeld von globaler Katastrophe und gesellschaftlicher Traumatisierung „die Einheit der Perspektive auf die Ereignisse verloren gegangenen [ist], welche der Vorstellung eines objektiven Verlaufs der

|| 218 Vgl. Ariane Eichenberg: Familie – Ich – Nation. Narrative Analysen zeitgenössischer Generationenromane. Göttingen 2009, S. 167–168. 219 Daniel Fulda: Literarische Thematisierungen von Geschichte. In: Geschichte und Öffentlichkeit. Orte – Medien – Institutionen. Hg. v. Sabine Horn und Michael Sauer. Göttingen 2009. S. 209–218, hier S. 216–217. 220 Vgl. hierzu auch meine Ausführungen in Kapitel 2.1.5. 221 Daniel Fulda: Irreduzible Perspektivität. „Der Brand“ von Jörg Friedrich und das Dispositiv des nicht nur literarischen Geschichtsdiskurses seit den 1990er Jahren. In: Wende des Erinnerns? Geschichtskonstruktionen in der deutschen Literatur nach 1989. Hg. v. Barbara Beßlich, Katharina Grätz und Olaf Hildebrand. Berlin 2006. S. 133–155, hier S. 136.

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Geschichte [...] zugrunde liegt“222. Martin Sabrow zufolge zeichnet sich in der Tat bereits ein „Trend zur wissenschaftlichen Subjektivierung“223 und somit ein grundlegender Wandel der historiografischen Darstellungskonventionen ab: „Die heutige Zeitgeschichtsschreibung ersetzt enzyklopädische Autorität durch empathische Subjektivität.“224 Mit derartigen Bekenntnissen der Geschichtsschreibung zu originär literarischen Darstellungsverfahren wird die Literatur in Hinblick auf historiografische Funktionen aufgewertet – jedenfalls muss sie sich nicht (mehr) den Vorwurf gefallen lassen, allein schon aufgrund ihrer Subjektivierungstendenzen einen defizitären Umgang mit dem historischen Gegenstand zu pflegen. Die Literatur weist allerdings noch weitere Besonderheiten auf, die sie von der wissenschaftlichen Geschichtsschreibung unterscheidet. Zunächst einmal verfügt sie über andere sprachliche Mittel als die Wissenschaft und verfolgt damit häufig auch andere Wirkungsabsichten: Im Gegensatz zur Historiographie, die sich trotz aller methodologischer Selbstreflexion nicht völlig von sinnkonstituierenden Darstellungsformen lösen kann, solange es ihr Ziel ist, historische Vorgänge transparenter und damit verständlicher zu machen, liegt es in den Möglichkeiten von Literatur und Kunst, Alternativen zur referenziellen, erklärenden, logozentrischen Sprache zu finden.225

Solche narratologischen und darstellungsbezogenen Fiktionssignale gehen nicht unbedingt mit einer Verfälschung oder Verfremdung des historischen Gegenstandes einher, denn trotz beispielsweise artifizieller Zeitgestaltung und unrealistischer Perspektiven kann der Text reale historische Ereignisse abbilden und somit durchaus adäquate Erinnerungspotenziale bereitstellen. Demgegenüber wird im folgenden Kapitel zu diskutieren sein, ob auch Texte mit semantischen

|| 222 Hölscher: Neue Annalistik, S. 9–10. 223 Martin Sabrow: Zeitgeschichte schreiben in der Gegenwart. In: Merkur 68 (2014) H. 2, S. 122– 131, hier S. 126. 224 Sabrow: Zeitgeschichte schreiben in der Gegenwart, S. 126. 225 Friederike Eigler: Gedächtnis und Geschichte in Generationenromanen seit der Wende. Berlin 2005, S. 57. Das geht so weit, dass in der Literatur traditionelle Kohärenzansprüche unterlaufen werden können. Daniel Fulda verweist diesbezüglich auf „eine Grenze zwischen sinnstiftendem und sinnproblematisierendem Erzählen, die dort verläuft, wo Erzählen nicht mehr als psychologisch unverzichtbare Kompetenz, sondern als textuelles Ereignis auftritt. […] Ausgespielt wird dies besonders in der Literatur […].“ (Daniel Fulda: Sinn und Erzählung – Narrative Kohärenzansprüche der Kulturen. In: Handbuch der Kulturwissenschaften. Bd. 1. Grundlagen und Schlüsselbegriffe. Hg. v. Friedrich Jaeger und Burkhard Liebsch. Stuttgart/Weimar 2004. S. 251–265, hier S. 263.)

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Fiktionssignalen – etwa fiktiven Ereignissen und Figuren – die Erwartungen an eine erinnerungskulturell wirksame Literatur zu erfüllen vermögen.226

2.3.4 Funktionsäquivalenzen von Fiktion und Nichtfiktion Auf dem ersten Blick scheint es keineswegs selbstverständlich, dass das Erinnern historischer Ereignisse und das Nachempfinden fremder historischer Erfahrungen – über den literarischen Diskurs hinaus – erinnerungskulturell wirksam sein kann, wenn diese Ereignisse und Erfahrungen nicht tatsächlich stattgefunden haben. Jedoch werden selbst solche Romane, die keinerlei autobiografische Spuren aufweisen und augenscheinlich erfundene Handlungen darstellen, ganz selbstverständlich zur Erinnerungsliteratur gezählt. In den meisten Fällen mag das daran liegen, dass die fiktiven Elemente auf den privaten Aktionsradius – etwa auf den der Familie – beschränkt bleiben und auf den Status des makrohistorischen Kontextes keinen Einfluss haben.227 Und es scheint innerhalb der Kompetenz der meisten Leserinnen und Leser zu liegen, auf beiden Ebenen mit unterschiedlichen Geltungsansprüchen zu operieren. Indem die fiktive Geschichte mit einem realen Geschehenskontext verknüpft wird, kann der makrohistorische Hintergrund auf die außerliterarische geschichtliche Realität bezogen und das Werk im Ganzen erinnerungskulturellen Funktionen zugeführt werden. Hierfür bedarf es seitens der Leser keiner besonderen Anstrengung, denn dem ‚Realitätsprinzip‘ zufolge gelten innerhalb der literarischen Welt die Annahmen über die außerliterarische Welt, solange im Text nichts Gegenteiliges behauptet wird.228

|| 226 Zur Unterscheidung zwischen narratologischen und darstellungsbezogenen auf der einen und semantischen Fiktionssignalen auf der anderen Seite vgl. etwa Irmgard Nickel-Bacon/Norbert Groeben/Margit Schreier: Fiktionssignale pragmatisch. Ein medienübergreifendes Modell zur Unterscheidung von Fiktion(en) und Realität(en). In: Poetica 32 (2000) H. 3/4, S. 267– 299. 227 Die Kopräsenz fiktiver und nichtfiktiver Elemente innerhalb desselben literarischen Werks verhandelt Peter Blume unter dem Begriff des fiktionstheoretischen Kompositionalismus, vgl. Peter Blume: Fiktion und Weltwissen. Der Beitrag nichtfiktionaler Konzepte zur Sinnkonstitution fiktionaler Erzählliteratur. Berlin 2004, hier Kap. 2.3. 228 Vgl. Kendall L. Walton: Mimesis as Make-Believe. On the Foundations of the Representational Arts. Cambridge (MA) [u. a.] 1990, S. 144–145. Vgl. auch das principle of minimal departure bei Marie-Laure Ryan: Possible Worlds, Artificial Intelligence, and Narrative Theory. Bloomington (IN)/Indianapolis 1991, S. 51, sowie Zipfel: „Neben dem, was in den expliziten Aussagen des Textes gesagt wird, können zur fiktiven Welt alle Sachverhalte der realen Welt gerechnet werden, sofern sie nicht durch den Erzähl-Text ausdrücklich aufgehoben oder negiert werden. Zu diesen aus der realen Welt in die fiktive übernommenen Sachverhalten gehören sowohl einzelne

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Indes konstituieren sich die erinnerungskulturellen Funktionen der Literatur nicht nur durch makrohistorische Realitätsbezüge, sondern auch auf der Ebene des subjektiven – und mitunter fiktiven – Geschichtserlebens. Denn offenbar ist es für die Leserinnen und Leser von Erinnerungsliteratur gar nicht so wichtig, ob sich die literarischen Familiengeschichten tatsächlich wie geschildert zugetragen haben. Zumeist interessieren sie sich weniger für die Wahrheit als vielmehr für die Wahrscheinlichkeit oder Plausibilität der dargestellten Handlungen. Nicht zuletzt ist es schon aus juristischen oder ethischen Gründen keine Seltenheit, dass manche Figuren zwar erfunden sind, nicht jedoch deren Handlungen, Verhaltensweisen, Ansichten und Wissen229 – und auf diese Inhalte scheint es den Rezipienten viel mehr anzukommen als auf die Gewissheit, es mit tatsächlich existierenden bzw. historischen Personen zu tun zu haben. Mit der Gattungsbezeichnung ‚Roman‘ markieren die Autorinnen und Autoren der Erinnerungsliteratur häufig lediglich eine juristische Differenz zwischen eigener und erzählter Familiengeschichte – und Leserinnen und Leser wissen oder ahnen dies in der Regel auch. Dem pragmatischen Fiktionssignal der Gattungsbezeichnung zum Trotz können sich beide Seiten darin einig sein, dass sich das dargestellte Geschehen im Wesentlichen an einer außerliterarischen Realität orientiert, selbst wenn es mithilfe fiktiver Figuren und möglicherweise in einer an poetologischen Maßstäben ausgerichteten zeitlichen Ordnung präsentiert wird. Diese bloße Orientierungsfunktion scheint den erinnerungskulturellen Ansprüchen der Literatur zumindest in den Fällen zu genügen, wo von vornherein eine Pluralisierung von Deutungsansprüchen unumgänglich ist oder eingefordert wird. Indem Erwartungen an eine vermeintlich universal gültige Wahrheit aufgegeben werden, vollzieht die Literatur eine ‚Demokratisierung der Geschichte‘: „Geschichte wird als etwas betrachtet, das jeden betrifft, das jeder mit sich herumträgt und an dem

|| (historische) Ereignisse wie auch allgemeine Annahmen über natürliche Gegebenheiten, wie über die Gesetze der Physik, über das Verhalten von Lebewesen oder über die menschliche Psychologie.“ (Zipfel: Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität, S. 86.) 229 Margrethe Bruun Vaage geht diesem Phänomen im Medium des Films nach und greift dabei auf die – nicht nur in der Linguistik, sondern auch in der Analytischen Philosophie gebräuchlichen – Begriffe token und type zurück: Die Fiktivität des einzelnen Vorkommnisses (token) sei grundsätzlich mit der Faktizität bzw. Wahrheit des dazugehörigen Typs vereinbar, vgl. Margrethe Bruun Vaage: From The Corner to The Wire: On Nonfiction, Fiction, and Truth. In: Journal of Literary Theory 11 (2017) H. 2, S. 255–271.

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jeder mitgestalten kann, handelnd wie erzählend. ‚Die Geschichte‘ wird demokratisiert; sie gehört nicht mehr allein den Experten.“230 Die Literatur stellt hierfür einen geeigneten diskursiven, medialen und kommunikativen Rahmen bereit.231 Ungeachtet dessen verfügt die Erinnerungsliteratur über eine spezifische Wahrheitsdimension jenseits semantischer, syntaktischer oder pragmatischer Faktoren,232 denn generell scheinen sich die Geltungsansprüche in der Erinnerungsliteratur gar nicht so sehr auf konkrete Ereignisschilderungen oder Figuren zu beziehen, sondern vor allem auch auf die Art und Weise des Erzählens und Erinnerns: Da Erinnerungserzählungen Vergangenes nie abbilden, sondern im Lichte gegenwärtiger Sinnbedürfnisse rekonstruieren, ist eine klare Trennlinie zwischen der Findung und Erfindung von Vergangenem kaum zu ziehen. […] Offenbar liegt die ‚spezifische Wahrheit‘ von Erinnerungen darin, dass diese eine subjektiv plausible Erzählung erzeugen, die auf aktuelle Sinnbedürfnisse zu antworten vermag.233

|| 230 Daniel Fulda/Dagmar Herzog/Stefan-Ludwig Hoffmann/Till van Rahden: Zur Einführung. In: Demokratie im Schatten der Gewalt. Geschichten des Privaten im deutschen Nachkrieg. Hg. v. dens. Göttingen 2010. S. 7–21, hier S. 7–8. 231 Damit sei allerdings nicht gesagt, dass sich eine Relativierung von historischer Wahrheit nur in der literarisierten Geschichtsschreibung vollzieht – auch die Subjektivierungs- und Pluralisierungstendenzen in der Geschichtswissenschaft lassen sich nur realisieren, indem klassische Wahrheitsansprüche eingedämmt werden: „Was wirklich geschah, erscheint als perspektivische Aussage, deren Wahrheit an der Akzeptanz ihrer epistemologischen Prämissen hängt. Von denselben historischen Vorgängen scheinen nun mehrere Darstellungsvarianten möglich, ohne dass diese sich wechselseitig das Recht auf Wahrheit bestreiten könnten.“ (Hölscher: Neue Annalistik, S. 30.) Laut Bernd Weisbrod kann mittels der Unterscheidung verschiedener Wirklichkeitsebenen der Maßstab für historische Wahrheiten vervielfältigt werden, sodass in der Forschung etwa auch emotionale oder moralische Wahrheiten ermittelt und in die wissenschaftliche Geschichtsschreibung integriert werden können, vgl. Bernd Weisbrod: Multiple Wahrheiten. In: Den Holocaust erzählen. Historiographie zwischen wissenschaftlicher Empirie und narrativer Kreativität. Hg. v. Norbert Frei und Wulf Kansteiner. Göttingen 2013. S. 96–100. 232 Zu dieser an die Terminologie der Semiotik angelehnten Ebenenunterscheidung vgl. erneut Nickel-Bacon et al.: Fiktionssignale pragmatisch, S. 290, sowie Jean-Marie Schaeffer: Fictional vs. Factual Narration. In: Handbook of Narratology. Hg. v. Peter Hühn, John Pier, Wolf Schmid und Jörg Schönert. Berlin 2009. S. 98–114. 233 Birgit Neumann: Der metamnemonische Roman: Formen und Funktionen der Metaerinnerung am Beispiel von Michael Ondaatjes Running in the Family (1982). In: Metaisierung in Literatur und anderen Medien. Theoretische Grundlagen – Historische Perspektiven – Metagattungen – Funktionen. Hg. v. Janine Hauthal, Julijana Nadj, Ansgar Nünning und Henning Peters. Berlin/New York 2007. S. 303–320, hier S. 311–312. Ganz allgemein weist auch Keith Oatley die Literatur als Ort der ‚persönlichen Wahrheiten‘ aus – diese verdanken sich nicht etwa der Korrespondenz von Text und Welt, sondern vielmehr der Erfüllung von Kohärenzansprüchen, vgl.

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Folglich verdankt sich das spezifische Wirkungspotenzial der Erinnerungsliteratur nicht allein den dargestellten Inhalten, denn die Aufmerksamkeit der Leser richtet sich auch auf den Erzählvorgang als solchen – das Erzählen selbst fungiert als erinnerungskultureller Gegenstand der Enkelliteratur, der wiederum besonders stark experientiell aufgeladen sein kann. Das erinnerungskulturelle Wirkungspotenzial literarischer Texte hängt offenbar nicht von ihrem fiktionstheoretischen Status ab – was sich nicht zuletzt daran zeigt, dass es innerhalb der Erinnerungsliteratur keine klare Tendenz hin zu fiktionalen oder nichtfiktionalen Werken gibt. Vor allem aber ist eine streng dichotomische Auffassung von Fiktion und Nichtfiktion mit den Prämissen und Erklärungsansprüchen der Kognitiven Literaturwissenschaft unvereinbar: Der außerliterarische Geltungsanspruch eines literarischen Textes oder seiner Inhalte wird niemals vollständig textuell codiert, sondern vielmehr auf der Ebene der Kommunikation zwischen Autor und Leser ausgehandelt – unter welchen kognitiven Voraussetzungen dieser pragmatische Verständigungsprozess abläuft, wird in Kapitel 3.2 dargelegt. Da innerhalb der Gattung der Enkelliteratur hinsichtlich erinnerungskultureller Funktionspotenziale keine prinzipiellen Unterschiede zwischen Romanen und nichtfiktionalen Familienbiografien bzw. journalistischen Sachbüchern festzustellen sind, lassen sich alle Texte des Korpus mit denselben kognitionsnarratologischen Analyseinstrumenten (siehe Kapitel 4) bearbeiten.

2.3.5 Enaktives Erinnern Eine Verknüpfung philosophischer und kognitionswissenschaftlicher Positionen des Enaktivismus mit literaturwissenschaftlichen Fragestellungen mag auf dem ersten Blick einiges Unbehagen hervorrufen. In seinem Versuch, die Grundzüge einer ‚enaktiven Philologie‘ zu umreißen, gesteht Jan Söffner, „dass ihr keine wissenschaftliche Methodologie im vollen Sinne des Wortes entspringen kann und dass ihre Praxis immer einen unwissenschaftlichen Rest lassen wird“234. Auch Caracciolo ist sich über den spekulativen Charakter seiner Studie im Klaren.235 Die Angemessenheit derartiger Bescheidenheitsgesten hängt davon ab, in welcher

|| Keith Oatley: Why Fiction May Be Twice as True as Fact: Fiction as Cognitive and Emotional Simulation. In: Review of General Psychology 3 (1999) H. 2, S. 101–117. 234 Jan Söffner: Partizipation. Metapher, Mimesis, Musik – und die Kunst, Texte bewohnbar zu machen. Paderborn 2014, S. 98. 235 Siehe Kapitel 2.2.4.

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Konsequenz man diese offenbar nicht in jeder Hinsicht tragfähige Theorieanleihe umzusetzen beabsichtigt. Wenn man sich aus den bisher noch offenen kognitionswissenschaftlichen Fachdebatten heraushält und von den darin verhandelten radikalen Positionen Abstand nimmt und sich stattdessen schlichtweg mit der Akzeptanz der enaktivistischen Grundgedanken begnügt, so können die meisten Vorbehalte gegenüber einer literaturwissenschaftlichen Anwendung des Enaktivismus ausgeräumt werden. Dann nämlich hat man es letztlich lediglich mit einer auf die neuesten Entwicklungen in den Kognitionswissenschaften abgestimmten Phänomenologie des Lesens zu tun und knüpft damit an klassische rezeptionsästhetische Positionen an. In der Tat sind die wahrnehmungspsychologischen und erkenntnistheoretischen Implikationen des Enaktivismus aus literaturwissenschaftlicher Sicht eher harmlos. Dass die lebensweltliche Umwelt von Individuen nicht objektiv gegeben sei, sondern in einem unabschließbaren Schaffensprozess hervorgebracht werde, mag aus nachvollziehbaren Gründen bezweifelt werden können. Im Umgang mit Literatur hingegen stellt dieser kognitive Prozess vielmehr den Standardfall dar: Literarische Welten sind zum größten Teil ein Produkt kreativer und erfahrungsbasierter Konstruktionsprozesse der Leser und werden im Verlauf der Lektüre permanent erweitert oder korrigiert. Das Dargestellte wird nicht lediglich aufgefasst, sondern im Lektüreprozess erst hergestellt – schon Wolfgang Iser unterscheidet kategorisch zwischen der Wahrnehmung einer objektiv verfügbaren Wirklichkeit und der Vorstellung einer subjektiv hervorgebrachten literarischen Welt. In der Wahrnehmung habe man es mit Gegenständen zu tun, in der Vorstellung mit Bildern: Das Bildersehen der Einbildungskraft ist […] der Versuch, sich das vorzustellen, was man als solches niemals sehen kann. Der eigentümliche Charakter solcher Bilder besteht darin, daß in ihnen Ansichten zur Erscheinung kommen, die sich im unmittelbaren Wahrnehmen des Gegenstandes nicht hätten einstellen können. So setzt das Bildersehen die faktische Abwesenheit dessen voraus, was in den Bildern zur Anschauung gelangt. Daraus folgt, daß wir zwischen Wahrnehmen und Vorstellen als zwei verschiedenen Weltzugängen unterscheiden müssen, da für die Wahrnehmung immer ein Objekt vorgegeben sein muß, während die konstitutive Bedingung für die Vorstellung gerade darin besteht, daß sie sich auf Nicht-Gegebenes oder Abwesendes bezieht, das durch sie zur Erscheinung gelangt.236

Während Iser sein Konzept der Vorstellungsbildung allein auf die Kunstrezeption bezieht, ist aus enaktivistischer Sicht darauf hinzuweisen, dass es auch in der außerliterarischen Lebenswirklichkeit Bereiche gibt, die nicht mehr vollständig

|| 236 Wolfgang Iser: Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung. 4. Aufl. München 1994, S. 222.

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im Modus der Objektwahrnehmung erschlossen werden können – zum Beispiel die Erinnerungskultur: Diese begnügt sich nicht mit objektiv gegebenen ‚monumentalen‘ Relikten der Vergangenheit und vorgegebenen Praktiken des ‚Gedenkens‘, sondern fordert eine permanente erinnernde Aktualisierung und subjektive Aneignung von Geschichte – in diesem Sinne stellt die Erinnerungskultur eine sich ständig verändernde Summe der jeweils individuellen ‚Hervorbringungsakte‘ dar.237 Diese kognitiven Vorgänge können als ‚enaktiv‘ charakterisiert werden, da auf diese Weise erinnerungskulturelle Umwelten geschaffen werden, die es andernfalls nicht gäbe. Und zwar gäbe es sie deshalb nicht, weil sie Merkmale aufweisen, die prinzipiell undarstellbar sind und daher über einen lediglich ‚wahrnehmenden‘ Umweltbezug gar nicht vermittelt werden könnten – laut Caracciolo handelt es sich hierbei insbesondere um Erfahrungsaspekte und Bewusstseinszustände.238 Um die in Kapitel 2.3.1 diskutierten Forderungen nach emotionalen und ‚erfahrungshaften‘ Formen des Erinnerns einzulösen, müssen Anreize für ‚enaktives Erinnern‘ geschaffen werden – die Erinnerungsliteratur scheint hierfür besonders geeignet, da sie von den Lesern prinzipiell den Modus der Vorstellungsbildung einfordert. Sie üben sich hierbei nicht nur im Hervorbringen literarischer erinnerungskultureller Umwelten, sondern erprobt zugleich mögliche außerliterarische erinnerungskulturelle Umwelten. Da die Hervorbringungsakte in beiden Sphären auf denselben kognitiven Prozessen beruhen, nimmt die Literatur unmittelbar Einfluss auf die Gestaltung der je individuellen erinnerungskulturellen Lebenswirklichkeiten ihrer Leserinnen und Leser.239

|| 237 Zwar erfolgt hierbei das Erinnern unabhängig von Rahmenbedingungen etablierter erinnerungskultureller Kollektivgedächtnisse, jedoch kann es sich gleichwohl in einer kollektiven Dimension verorten, indem die einzelnen Akteure ihren individuellen Akten eine kollektive Bedeutung beimessen. Denn Kollektivgedächtnisse konstituieren sich vornehmlich dadurch, dass man die eigenen Erinnerungserfahrungen für übertragbar und verallgemeinerungswürdig hält – darauf hat u. a. Susan Sontag aufmerksam gemacht: „Strenggenommen gibt es kein kollektives Gedächtnis […]. Das Gedächtnis ist immer individuell [...]. Was man als kollektives Gedächtnis bezeichnet, ist kein Erinnern, sondern ein Sicheinigen – darauf, daß dieses wichtig sei, daß sich eine Geschichte so und nicht anders zugetragen habe, samt den Bildern, mit deren Hilfe die Geschichte in unseren Köpfen befestigt wird.“ (Susan Sontag: Das Leiden anderer betrachten. München/Wien 2003, S. 99–100.) 238 Siehe Kapitel 2.2.2. 239 Iser hingegen argumentiert wesentlich defensiver: Im Zuge der Lektüre können die ‚habituellen Dispositionen‘ der Leser verändert werden, die dann – in einem zweiten Schritt – bestimmte praktische Verhaltensweisen und Weltansichten in der Lebenswirklichkeit der Leser nach sich ziehen können. Aus enaktivistischer Sicht kehrt sich die Reihenfolge um: ‚Habituelle Dispositionen‘ werden verändert, indem der Leser (schon während der Lektüre) neue Verhaltensweisen erprobt und Weltansichten durchspielt.

3 Mentale Modelle In Übereinstimmung mit computationalen Ansätzen der Informationsverarbeitung und den Prämissen des Kognitivismus teilte die kognitionspsychologische Sprachverstehensforschung lange Zeit die Annahme, dass die kognitive Verarbeitung von Texten hinreichend durch die Übersetzung textueller Strukturen in amodale mentale Repräsentationen zu erklären sei. Erst allmählich hat man begonnen, über die propositionale Ebene des Textverstehens hinauszugehen und Dimensionen der mentalen Simulation in den Blick zu nehmen. Vor allem mittels empirischer Studien konnte gezeigt werden, dass die Rezipienten nicht nur den Text mental repräsentieren, sondern auch die vom Text beschriebenen Situationen und Sachverhalte. Daher unterscheidet man inzwischen mindestens drei Ebenen des Textverstehensprozesses: Oberflächenstruktur, Textbasis und mentale Modelle (mental models).1 Wolfgang Schnotz fasst diesen erweiterten Ansatz des Textverstehens wie folgt zusammen: „Textverstehen umfaßt demnach die Bildung einer mentalen Repräsentation der Textoberfläche, auf deren Grundlage die Bildung einer propositionalen Repräsentation stattfindet und schließlich die Konstruktion eines mentalen Modells auf der Basis dieser propositionalen Repräsentation.“2 Auf der Ebene der Textoberfläche wird der Text zunächst in seiner

|| 1 Erstmals in van Dijk/Kintsch: Strategies of Discourse Comprehension, und in Philip Nicholas Johnson-Laird: Mental Models. Towards a Cognitive Science of Language, Inference, and Consciousness. Cambridge (MA) 1983. 2 Schnotz: Textverstehen als Aufbau mentaler Modelle, S. 321. Die drei Ebenen werden nicht etwa nacheinander durchlaufen, sondern parallel verarbeitet und stehen ständig miteinander im Austausch, vgl. Schnotz: Textverstehen als Aufbau mentaler Modelle, S. 317. Gelegentlich wurde behauptet, dass bei einer erfolgreichen Modellkonstruktion die Prozesse auf den beiden unteren Ebenen unterbrochen werden. Empirische Versuche legen jedoch nahe, dass üblicherweise eine parallele Verarbeitung auf allen Ebenen stattfindet (und zwar obwohl dabei erhöhte kognitive Prozesskosten entstehen), vgl. Stephan Dutke: Der Crossover-Effekt von propositionaler Textrepräsentation und mentalem Modell. Zur Rolle interindividueller Fähigkeitsunterschiede. In: Zeitschrift für experimentelle Psychologie 46 (1999) H. 3, S. 164–176. Für eine konsequente parallele Verarbeitung auf mehreren Ebenen spricht auch die Tatsache, dass gar nicht alle Merkmale der Oberflächenstruktur in ein propositionales Format übertragbar sind – während die Textoberfläche beispielsweise Informationen über das Tempus und die Diathese des Verbs sowie die Definiertheit des Substantivs enthält, sind propositionale Strukturen von derartigen grammatikalischen Merkmalen entkleidet und definieren stattdessen die funktionalen Relationen zwischen Subjekt, Objekt und Prädikat mittels Konnektoren, vgl. Arthur C. Graesser/Keith K. Millis/Rolf A. Zwaan: Discourse Comprehension. In: Annual Review of Psychology 48 (1997) H. 1, S. 163–189, hier S. 168–169. Auch Gedächtnistests zeugen von einer parallelen https://doi.org/10.1515/9783110673968-003

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gegebenen Materialität wahrgenommen, wobei Semantisierungen einzelner Elemente und die syntaktische Verarbeitung in kleinen Einheiten vorgenommen werden. Auf der zweiten Ebene wird mittels propositionaler Repräsentationen eine Textbasis hergestellt, wobei die einzelnen Sätze miteinander verknüpft und zur semantischen Tiefenstruktur des Textes verarbeitet werden. Die propositionalen Repräsentationen dienen wiederum als eine Art „Anleitung für die mentale Modellkonstruktion“3 auf der dritten Ebene – hier werden die Textinformationen in mehr oder weniger komplexe Vorstellungen von Situationen und Sachverhalten übersetzt.4 Wie in Kapitel 2.2.2 gezeigt wurde, ist ein hinreichendes Textverstehen in der Regel bereits auf propositionaler Ebene möglich – Repräsentationen in Form von mentalen Modellen sind daher optional. Ob Prozesse der mentalen Modellkonstruktion in Gang gesetzt werden, hängt einerseits vom Darstellungsgegenstand und der Darstellungsweise, andererseits aber auch vom Vermögen und der Bereitschaft des individuellen Rezipienten ab.5 Prinzipiell jedoch verspricht die Bildung mentaler Modelle einen Gewinn innerhalb des kognitiven Spektrums und erfüllt erweiterte Erkenntnisfunktionen:

|| Verarbeitung von Textmerkmalen und modellartigen Vorstellungen: Häufig können sich Leserinnen und Leser nicht nur an die im Text geschilderten Geschehensabläufe erinnern, sondern auch an den – gegebenenfalls sogar den Vorstellungen widersprechenden – Wortlaut einzelner Textsegmente, vgl. van Dijk/Kintsch: Strategies of Discourse Comprehension, S. 343–344. 3 Christmann/Schreier: Kognitionspsychologie der Textverarbeitung, S. 261. 4 Interessanterweise konzipiert schon Roman Ingarden in seinen phänomenologischen Arbeiten das literarische Werk als ein „mehrschichtiges Gebilde“ und beschreibt die „Schicht der schematisierten Ansichten“ (Roman Ingarden: Konkretisation und Rekonstruktion. In: Rezeptionsästhetik. Theorie und Praxis. Hg. v. Rainer Warning. 4. Aufl. München 1994. S. 42–70, hier S. 42) im Sinne einer Situationsmodelltheorie avant la lettre: „Sollen diese Gegenstände nicht bloß rein gedanklich, signitiv gemeint sein, sondern irgendwie zur Erscheinung gebracht werden, so kann dies nur durch ein lebendiges Vorstellen beim Lesen zustande gebracht werden. Und das bedeutet hier nichts anderes, als daß der Leser im lebendigen Vorstellungsmaterial anschauliche Ansichten produktiv erlebt und dadurch die dargestellten Gegenstände zur Anschauung, zur vorstellungsmäßigen Erscheinung bringt. […] Indem er diese im phantasiemäßigen, anschaulichen Material aktualisierten Ansichten erlebt, kleidet er den entsprechenden dargestellten Gegenstand ‚in das Gewand‘ anschaulicher, qualitativer Eigenschaften; er sieht ihn gewissermaßen ‚in der Phantasie‘, so daß er sich ihm fast in der eigenen leibhaften Gestalt zeigt.“ (Ingarden: Konkretisation und Rekonstruktion, S. 51.) 5 Robert P. Abelson berichtet schon in den Siebzigerjahren von einer Testreihe im Kollegenkreis: Die Frage, ob ein Salzstreuer als Hocker verwendet werden könne, werde von den meisten ohne mentale Simulation und auf rein propositionaler Basis – das heißt allein unter Rückgriff auf die Begriffe und die darin enthaltenen Größenmerkmale – beantwortet. Auf die Frage, ob man einen Schuh als Hammer benutzen könne, sei bei den Befragten schon eher eine mentale

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Während eine propositionale Repräsentation durch eine relative Nähe zur linguistischen Struktur des Texts gekennzeichnet ist, besitzt ein mentales Modell […] eine größere Nähe zur Struktur des repräsentierten Sachverhalts. […] Die Repräsentation durch ein mentales Modell stellt […] immer eine Konkretisierung seiner Beschreibung dar und hat insofern auch einen gewissen Imaginationsgehalt, während eine propositionale Repräsentation im Vergleich dazu eher abstrakt ist.6

Die augenscheinlichen Vorteile einer Verarbeitung mittels mentaler Modelle sind im Rahmen der hier verhandelten Problemstellung auf die mentale Repräsentation von Geschichte zu übertragen: Während im propositionalen Modus lediglich ein ‚abstrakter‘ Zugang zum Historischen hergestellt werden kann, geht die Konstruktion mentaler Modelle mit weitreichenden Vorstellungstätigkeiten einher und schafft somit eine „größere Nähe“ zum dargestellten historischen Geschehen. Diese „größere Nähe“ erklärt sich vor allem dadurch, dass mentale Modelle nicht nur im Rahmen von Sprachverstehensprozessen zum Einsatz kommen, sondern ursprünglich vielmehr bei der Wahrnehmung und Organisation der Lebensumwelt und alltäglicher Situationen erstellt und gespeichert werden. Werden diese durch individuelle Erfahrungen gebildeten mentalen Modelle bei der Lektüre abgerufen, so verläuft die Deutung des Gelesenen vor dem Horizont der Erfahrungen des Lesers. Daher kann der Einsatz mentaler Modelle beim Textverstehen als Voraussetzung für experientielle Rezeptionen angesehen werden und bildet – im Falle von Geschichtserzählungen – die Grundlage für die Erinnerungsprozesse der Leserinnen und Leser.7 Innerhalb der Theorie mentaler Modelle wird noch einmal eine Grundunterscheidung zwischen zwei Typen getroffen. Bei der modellartigen mentalen Repräsentation von Wahrnehmungserlebnissen und Erfahrungssituationen oder sonstigen raumzeitlich definierten Sachverhalten spricht man präziser von Situationsmodellen (situation models). Diese Situationsmodelle regulieren nicht nur die sinnliche Wahrnehmung realer Umwelten, sondern kommen auch beim Sprachverstehen zum Einsatz, sofern von vorstellbaren Situationen die Rede ist.

|| Simulation zu erwarten. Die Frage nach der Anzahl von Ampeln auf dem eigenen Heimweg könne hingegen üblicherweise nur mithilfe einer mentalen Simulation beantwortet werden. Vgl. Robert P. Abelson: Does a Story Understander Need a Point of View? In: Theoretical Issues in Natural Language Processing. An Interdisciplinary Workshop in Computational Linguistics, Psychology, Linguistics, Artificial Intelligence. Hg. v. Roger Schank und Bonnie L. Nash-Webber. Cambridge (MA) 1975. S. 140–143, hier S. 140. 6 Schnotz: Textverstehen als Aufbau mentaler Modelle, S. 311. 7 Die Rolle der Theorie mentaler Modelle für die literaturwissenschaftliche Rezeptionstheorie wird hervorgehoben von Sven Strasen: Rezeptionstheorien. Literatur-, sprach- und kulturwissenschaftliche Ansätze und kulturelle Modelle. Trier 2008.

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Da aber Sprachverstehensprozesse selbst wieder in bestimmten Situationen ablaufen und durch diese beeinflusst werden, kommt es gewissermaßen zu einer Verdopplung der mentalen Modellbildung: Nicht nur die Situationen über die gesprochen wird, können mental repräsentiert werden, sondern auch die Situationen, in denen gesprochen wird. Da im letzteren Fall der jeweils vorherrschende kommunikative Kontext verarbeitet wird, spricht man diesbezüglich von Kontextmodellen (context models).8 Beide Typen – Situationsmodelle und Kontextmodelle – kommen bei der Literaturrezeption zum Einsatz und können daher jeweils auf experientialitätstheoretische Implikationen hin untersucht werden.9 Im vorliegenden Kapitel wird die Forschung zu Situationsmodellen und Kontextmodellen zusammengetragen und der Versuch unternommen, diesen Theoriekomplex mit den Prämissen der situierten Kognition und dem literaturwissenschaftlichen Experientialitätskonzept zu verknüpfen. Wie in Kapitel 2.2.2 angekündigt, wird die Theorie mentaler Modelle hier in Ergänzung zu Caracciolos Arbeiten hinzugezogen. Erst durch die Verknüpfung beider Theoriebereiche kann in Kapitel 4 ein narratologisches Analysemodell erarbeitet werden, mit dessen Hilfe das Experientialitätspotenzial von Texten und Textpassagen der Enkelliteratur greifbar wird.

|| 8 Da den Situationsmodellen in der Forschung eine ungleich größere Aufmerksamkeit zuteilgeworden ist, werden die Begriffe ‚mentales Modell‘ und ‚Situationsmodell‘ bis heute weitgehend synonym verwendet, vgl. Stephanie Kelter: Mentale Modelle. In: Psycholinguistik. Ein internationales Handbuch. Hg. v. Gert Rickheit, Theo Herrmann und Werner Deutsch. Berlin/New York 2003. S. 505–517, hier S. 513. In der vorliegenden Arbeit gilt ‚mentales Modell‘ als Oberbegriff für Situationsmodelle und Kontextmodelle. 9 In der Kognitiven Literaturwissenschaft wird die Theorie mentaler Modelle darüber hinaus auf die mentale Repräsentation von Figuren angewandt, wofür die Bezeichnung ‚Figurenmodell‘ Verwendung findet. Das Modell einer Figur enthält alle für diese Figur relevanten Informationen und kann im Laufe der Lektüre modifiziert werden, ist aber vergleichsweise stabil – und eben deshalb unbedingt von Situationsmodellen zu unterscheiden. Von Situationsmodellwechseln etwa (siehe Kapitel 3.1.3) werden Figurenmodelle in der Regel nicht tangiert – der Leser geht vielmehr davon aus, dass die Figur in einer neuen Situation noch dieselben psychischen und physischen Eigenschaften aufweist wie in der vorangegangenen, vgl. hierzu auch die Ausführungen zum continuing-consciousness frame von Palmer: Fictional Minds, S. 175–183. Andererseits hängt das Verständnis einer Situation stark von den beteiligten Figuren ab, sodass Figurenmodelle auf die Konstruktion von Situationsmodellen maßgeblich Einfluss nehmen – Ralf Schneider schlägt daher vor, das Figurenmodell „als Teilmodell des Situationsmodells aufzufassen“ (Ralf Schneider: Grundriß zur kognitiven Theorie der Figurenrezeption am Beispiel des viktorianischen Romans. Tübingen 2000. S. 68).

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3.1 Situationsmodelle Bei einem Situationsmodell handelt es sich um die mentale Repräsentation einer Situation oder eines räumlich und zeitlich definierten Sachverhalts. Wenn Menschen mit ihrer Umwelt interagieren, müssen sie diese nicht vollständig mental repräsentieren, sondern beschränken sich auf einige situationsrelevante Merkmale – die aktuelle Situation wird lediglich modellartig repräsentiert. Situationsmodelle dienen somit der Komplexitätsreduktion und Konzentration auf wesentliche Aspekte der wahrnehmbaren Umwelt. Aufgrund ihres mehr oder weniger hohen Abstraktionsgrades können sie nicht nur leicht gespeichert, sondern auch für spätere ähnliche Umwelterfahrungen wiederverwendet werden. Wenn beim Erleben einer neuen Situation kein passendes Situationsmodell aus der Erinnerung abrufen werden kann, so wird es spontan konstruiert – hierbei können auch Elemente aus verschiedenen anderen Situationsmodellen zu einem neuen Modell zusammengesetzt werden.10 Dieses höchst effiziente kognitive System zur Verarbeitung realer Umwelteindrücke findet auch bei der mentalen Simulation von Erlebnissituationen in imaginierten Umwelten Verwendung: Situationsmodelle ermöglichen beim Sprachverstehen die multimodale Ausgestaltung textuell evozierter Vorstellungen und erlauben somit die Rückübersetzung sprachlich codierter Informationen in einen Wahrnehmungskontext. Wie in den meisten kognitionswissenschaftlichen Theorien gilt auch hier das Prinzip einer Analogie oder Überlagerung von wahrnehmungsbasierten und sprachbasierten kognitiven Prozessen: Die bei Alltagserfahrungen und der sinnlichen Wahrnehmung realer Umwelten beanspruchten kognitiven Ressourcen kommen im Wesentlichen auch während der sprachbasierten Kommunikation und beim Lesen literarischer Texte zum Einsatz.11 Um im Text beschriebene Situationen zu verstehen, können die Leser auf Situationsmodelle zurückgreifen, von denen sie auch im Lebensalltag Gebrauch machen. Aber umgekehrt können Situationsmodelle, die auf Grundlage einer Textlektüre gebildet wurden, auch im Lebensalltag der Leser wieder abgerufen werden. In dieser Hinsicht ist Literaturrezeption lehrreich und ermöglicht das virtuelle Durchspielen von Erfahrungssituationen, die den Erfahrungshintergrund der Leser anreichern und später wieder konkret erinnert oder als ‚Erfahrungsspuren‘ (siehe Kapitel 2.2.4) abgerufen werden können.

|| 10 Vgl. van Dijk/Kintsch: Strategies of Discourse Comprehension, S. 337–338. 11 Vgl. Kelter: Mentale Modelle, S. 514.

100 | Mentale Modelle 3.1.1 Inferenzen Das Verstehen von Texten beruht stets zu einem mehr oder weniger großen Anteil auf der Verarbeitung von Inferenzen, die vonseiten der Leser in den Verstehensprozess eingebracht werden. Es handelt sich hierbei um Informationen, die im Text keine explizite Erwähnung finden, sich aber aus dem Kontext erschließen lassen. Inferenzen finden nicht nur bei der Konstruktion mentaler Modelle, sondern auch auf den beiden anderen Ebenen des Textverstehens statt,12 weisen dort allerdings eine wesentlich geringere Komplexität auf. Inferenzen auf den Ebenen der Textoberfläche und der daraus gebildeten Propositionen laufen in der Regel unbewusst ab und sind notwendig, um einem Text überhaupt eine Bedeutung abzugewinnen. Sie speisen sich zum einen aus dem Allgemein- und Weltwissen der Leser, zum anderen aber auch aus bereits verarbeiteten Textelementen. Sie erfordern nur einen geringen kognitiven Aufwand und werden quasi ‚automatisch‘ ausgelöst: „Automatic inferences are those that are encoded in the absence of special goals or strategies on the part of the reader, and they are constructed in the first few milliseconds of processing.“13 Diese ‚automatischen‘ textbasierten Verstehensprozesse bilden die Grundlage für wesentlich komplexere Inferenzen, wie sie für die Konstruktion von Modellen der im Text beschriebenen Situationen benötigt werden. Denn erst wenn die Leerstellen auf der Textebene mithilfe der Vorwissensstrukturen der Leser ausgefüllt worden sind, ist die semantische Basis gegeben, um konkrete Vorstellungen von Situationen zu bilden. Der Einfluss von Inferenzen bei der Konstruktion von Situationsmodellen ist Untersuchungsgegenstand zahlreicher kognitionspsychologischer Studien – grob kategorisierend unterscheidet man hier zwischen temporalen, räumlichen, kausalen, finalen und emotionalen Inferenzen.14 Folglich wird das Situationsmodell auch wesentlich durch solche inferenziellen Aspekte definiert:

|| 12 Vgl. hierzu Gert Rickheit/Hans Strohner: Inferenzen. In: Psycholinguistik. Ein internationales Handbuch. Hg. von Gert Rickheit, Theo Herrmann und Werner Deutsch. Berlin/New York 2003. S. 566–577, hier S. 569–572. 13 Gail McKoon/Roger Ratcliff: Inference During Reading. In: Psychological Review 99 (1992) H. 3, S. 440–466, hier S. 441. 14 Eine wesentlich ausführlichere Kategorisierung findet sich in Arthur C. Graesser/Murray Singer/Tom Trabasso: Constructing Inferences During Narrative Text Comprehension. In: Psychological Review 101 (1994) H. 3, S. 371–395, hier S. 375 – darauf Bezug nehmend fassen Ursula Christmann und Margit Schreier wie folgt zusammen: „Die Inferenzforschung hat eine Fülle von Inferenztypen unterschieden (z.B. Referenz, Kasusrolle, kausale Ursache, Handlungsziel, Thema, Emotionen von Akteuren, kausale Folgen, Konzeptkategorien, Instrument, Teilhandlung, nicht-kausale Merkmale von Teilhandlungen und Personen, kommunikative Intentionen

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Situation models are mental representations of the situations described in language […]. Intuitively, when we read a novel, we feel that we construct a rich mental representation of the story world. We feel „immersed“ in the story world. We have some idea of what the protagonist’s environment looks like and – if we are familiar with the environment – we may even be able to move along with the protagonist through it. We keep track of the protagonist’s goals and his or her successful and failed attempts to realize them. We often also infer physical causation. For example, we mobilize our knowledge of water and fire to infer that the fire went out because someone poured water on it. In addition, we recruit our rich knowledge of human emotions to infer that the protagonist is frustrated when his or her goal is not achieved. We are caught up in the temporal sequence of events such that those events that are close to us in the story world are more accessible in our memory than events that happened some time ago. Situation-model researchers have amassed solid evidence for each of these claims.15

Bei der Konstruktion eines Situationsmodells greift der Leser somit nicht nur auf die im Text angegebenen Situationsmerkmale zurück, sondern bezieht auch solche Elemente in die Modellbildung ein, die – unter realitätsnahen Bedingungen – mit hoher Wahrscheinlichkeit in der dargestellten Situation zu erwarten wären.16 Der Leser vollzieht eine mentale Simulation der beschriebenen Situation und gelangt dabei zu Einsichten, die auf der textuellen Ebene nicht verankert sind. So kann er etwa unter Rückgriff auf eigene Erfahrungen die Dauer einer Handlung abschätzen, auch wenn der Text hierzu keine Anhaltspunkte bietet.17 Darüber hinaus kann er zeitlich bedingte Zustandsänderungen innerhalb einer Situation feststellen, ohne dass diese im Text benannt würden – dies wurde in einer experimentalpsychologischen Studie an folgendem Beispiel demonstriert: Zunächst war in einem Text von einer Tasse mit heißem Kakao die Rede – nachdem innerhalb der dargestellten Situation zwei Stunden verstrichen waren, wurde der Kakao im Situationsmodell der Leser als kalt vorgestellt, und zwar ohne dass diese Zustandsänderung im Text eigens erwähnt wurde.18 Indem der Leser auf sein Welt- und Erfahrungswissen zurückgreift, kann er Veränderungen in der dargestellten Situation feststellen, ohne dass diese Veränderungen textuell mitgeteilt

|| des/der Autors/in, Emotionen der Rezipienten/innen eines Textes), die zum größten Teil auch empirisch gesichert werden konnten.“ (Christmann/Schreier: Kognitionspsychologie der Textverarbeitung, S. 255.) 15 Zwaan: Embodied Cognition, Perceptual Symbols, and Situation Models, S. 82. 16 Vgl. die Hinweise in Kelter: Mentale Modelle, S. 511. 17 Vgl. David J. Therriault/Gary E. Raney: Processing and Representing Temporal Information in Narrative Text. In: Discourse Processes 43 (2007) H. 2, S. 173–200. 18 Vgl. Berry Claus/Martin Christof Kindsmüller/Barbara Kaup/Stephanie Kelter: Inferenz zeitabhängiger Veränderungen von Entitäten beim Lesen. In: Experimental Psychology 46 (1999) H. 3, S. 237–242.

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würden. Auf diese Weise gelangt er zu einem Textverständnis, das über die immanente Textsemantik hinausreicht. Auch Rauminformationen werden immer dann mittels Situationsmodellen verarbeitet, wenn Verständnisdefizite auf der propositionalen Ebene bestehen bzw. ein signifikanter Verständnisgewinn mittels mentaler Modellbildung naheliegt. So zeigen Daniel G. Morrow und Herbert H. Clark an folgendem Beispiel, wie die mentale Repräsentation des situativen Kontextes zu einer Interpretation von Entfernungen beiträgt:19 (1) Der Traktor nähert sich dem Zaun. (2) Die Maus nähert sich dem Zaun. In propositionaler Hinsicht weisen die beiden Sätze dieselbe Struktur auf und lassen keine Rückschlüsse auf die jeweilige Entfernung zum Zaun zu. In der statistischen Erhebung von Morrow und Clark zeigt sich jedoch, dass die Entfernung zwischen Traktor und Zaun von den Probanden durchschnittlich wesentlich größer eingeschätzt wird als die zwischen Maus und Zaun. Dies sei nur dadurch zu erklären, dass bei der kognitiven Verarbeitung der beiden Beispielsätze unterschiedliche Situationsmodelle gebildet werden.

3.1.2 Experientielle Aspekte des Situationsmodells Caracciolo weist explizit darauf hin, dass seine Wirkungshypothesen an die Ergebnisse der empirischen Sprachverstehensforschung anknüpfen – es verstehe sich von selbst, dass die Leser Situationsmodelle konstruieren, um die im Text beschriebenen Sachverhalte überblicken zu können.20 Auf eine eigene Auseinandersetzung mit der Situationsmodelltheorie verzichtet er und verweist auf theoretische Anleihen und Anknüpfungspunkte lediglich vereinzelt in Fußnoten. Dies lässt sich wohl am ehesten damit erklären, dass Caracciolo mit seinem enaktivistischen Ansatz deutlich über die etablierte Sprachverstehensforschung hinauszugelangen versucht: Ihm geht es nicht nur um die Erfassung und Beschreibung erfahrungsbasierter Inferenzen, sondern um die mit dieser Inferenztätigkeit einhergehenden experientiellen Begleiterscheinungen. Während die

|| 19 Vgl. im Folgenden Daniel G. Morrow/Herbert H. Clark: Interpreting Words in Spatial Descriptions. In: Language and Cognitive Processes 3 (1988) H. 4, S. 275–291. 20 Vgl. Caracciolo: The Experientiality of Narrative, S. 100.

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Situationsmodelltheorie in der eben erwähnten Studie eine Erklärung dafür abgibt, weshalb wir uns eine Tasse Kakao als kaltes Getränk vorstellen, wenn die Handlung um zwei Stunden voranschreitet, fragt Caracciolo danach, inwieweit bei dieser Vorstellungstätigkeit situierte Kognition stattfindet – es geht ihm somit nicht nur um das Wissen, ob der Kakao heiß oder kalt ist, sondern um die konkrete Empfindung, die mit diesem Wissen leserseitig einhergeht. Gleichermaßen ließe sich die Verarbeitung von Rauminformationen in Situationsmodellen um Aspekte der situierten Kognition erweitern: Während ein Situationsmodell im zweiten oben genannten Beispiel für die Nähe zwischen einem Traktor und einem Zaun lediglich einen anderen perspektivischen Maßstab bereitstellt als für die Nähe zwischen einer Maus und einem Zaun, würde Caracciolo eher danach fragen, welche erfahrungsbasierten Reaktionen die Vorstellung eines fahrenden Traktors oder einer flüchtigen Maus beim Leser hervorrufen. Caracciolo gibt ein vergleichbares Beispiel mit relativ hohem Experientialitätspotenzial: For example, I may ask you to imagine a spider crawling up a wall. Or I may ask you to imagine a spider crawling up your arm. Finally, I may ask you to imagine the hairy legs of a large spider softly padding up your arm. In itself, the difference in the represented objects (a wall or your arm, just „a spider“ or a large spider with hairy legs) does not explain the difference in your responses: in all cases you are directing your consciousness at an object that has certain representational features. Why should the last scenario bring about a stronger response than the first? Simply put, it is because our responses to these scenarios are experiential. The point is that in imagining a spider crawling up a wall we may keep a safe distance from the object of our imaginings; our experiential background – in this case, our fear of spiders – is activated only to a limited extent. But as the spider draws closer to us, and as our imaginings take on more detail, our imaginative experience – that is to say, our response to the representations – become stronger.21

In Caracciolos Ansatz geht es nicht nur um die Feststellung unterschiedlicher Entfernungen, sondern um den Einfluss dieser Entfernungen auf die virtuelle Erfahrung des Lesers während der Vorstellungstätigkeit im Rahmen von Situationsmodellen. Die Situationsmodellanalyse und die Experientialitätsanalyse haben somit zwar unterschiedliche Erkenntnisziele, stehen aber häufig in einem engen Bedingungsverhältnis zueinander. So kann zwar die Experientialitätstheorie mit Recht behaupten, dass unterschiedliche Entfernungen eines Objekts – wie die Spinne in Caracciolos Beispiel – ein verschieden starkes experientielles Feedback hervorrufen, aber wenn Entfernungen – wie in dem Beispiel mit dem Zaun und

|| 21 Caracciolo: The Experientiality of Narrative, S. 37–38.

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dem Traktor bzw. der Maus – implizit bleiben, so bedarf es zunächst einer Situationsmodellanalyse, um begründete Annahmen über die leserseitige Vorstellung von Entfernungsdifferenzen treffen zu können. Dass Caracciolo eine Verknüpfung dieser beiden Theoriebereiche nicht explizit vorgenommen hat, mag nicht zuletzt daran liegen, dass die Theorie mentaler Modelle in ihren Anfängen noch stark von der Schematheorie beeinflusst war und somit theoriegeschichtlich innerhalb der ‚ersten Generation‘22 der Kognitionswissenschaften zu verorten ist. Wenngleich Teun A. van Dijk und Walter Kintsch weitgehend auf schematheoretisches Vokabular verzichten, stellen sie diesen Theoriebezug explizit her: „[W]e must assume that a situation model also has a schematic nature. Just like scripts or frames, it should allow for variable terminal categories.“23 Erst nach und nach wurden explizit Abweichungen von der traditionellen Schematheorie hervorgehoben, wie etwa von Zwaan und Radvansky anhand des (von Kognitionspsychologen besonders häufig verwendeten) Beispiels eines Restaurantbesuchs24: A script for a restaurant visit represents the actors, props, entry and exit conditions, and action sequence typically encountered during restaurant visits. In contrast, a situation model of a restaurant visit would be a mental representation of a specific restaurant visit (e.g., „Thursday, October 14, 1997, at Chez Pierre, lunch with K.“). In this view, the distinction between schemata and situation models can be conceptualized as one between types (schemata) and tokens (situation models).25

Während Schemata abstrakt und relativ stabil sind, beinhalten Situationsmodelle zahlreiche raumzeitlich definierte Elemente, die auf konkreter Erfahrung beruhen. Die von Zwaan und Radvansky verwendete Type-Token-Relation verweist jedoch auch darauf, dass eine schematische Struktur als eine Art Gerüst zur Kategorisierung einer Anzahl von Einzelerfahrungen fungiert. So ähnlich dürften das auch van Dijk und Kintsch bereits gesehen haben, bei denen die schematischen Strukturen als „backbone of a situation model“26 bezeichnet werden. Dem-

|| 22 Zu diesem forschungsgeschichtlichen Generationenbegriff siehe jeweils die einleitenden Passagen in Kapitel 1.5 und 2.2. 23 Van Dijk/Kintsch: Strategies of Discourse Comprehension, S. 344. 24 Das Beispiel stammt ursprünglich aus dem schematheoretischen Grundlagentext von Roger C. Schank/Robert P. Abelson: Scripts, Plans, Goals and Understanding. An Inquiry into Human Knowledge Structures. Hillsdale (NJ) 1977. 25 Rolf A. Zwaan/Gabriel A. Radvansky: Situation Models in Language Comprehension and Memory. In: Psychological Bulletin 123 (1998) H. 2, S. 162–185, hier S. 162. 26 Van Dijk/Kintsch: Strategies of Discourse Comprehension, S. 344.

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nach greifen wir bei der Konstruktion von Situationsmodellen nicht nur auf konkrete Erfahrungssituationen zurück, sondern auch auf abstrakte Konzepte von Situationstypen. Diese schematischen Situationstypen sind im semantischen Gedächtnis gespeichert und enthalten keine Bezüge zu konkreten autobiografischen Erlebnismomenten. Gleichwohl basieren sie in der Regel auf wiederholten Erfahrungen ähnlicher Situationen. Darin sehen van Dijk und Kintsch den zweiten grundlegenden Zusammenhang zwischen der Theorie mentaler Modelle und der Schematheorie – die wiederholte Konstruktion ähnlicher Situationsmodelle bringt eine allmähliche Schemabildung mit sich: [I]f we have once taken a plane, we will not yet have a script, but a unique situation model of that episode […]. Later experiences of the same kind will complete, correct, and further fill in such an experience-based schema. In other words, the situation model is different from a frame or script in that it is much more personal, based on one’s own experiences, and therefore it will feature all kinds of details which, in learning, will be abstracted from.27

Das heißt allerdings nicht, dass die konkreten Erfahrungen dabei zwangsläufig in Vergessenheit geraten, sondern vielmehr können semantische und episodische Speicherformate parallel beansprucht werden (so wie man sich ausführlich an zahlreiche Restaurantbesuche erinnern kann und gleichzeitig über ein script verfügt, dass allen diesen Erinnerungen zugrunde liegt).28 Es stellt somit auch im Hinblick auf die experientialitätstheoretische Erzähltextanalyse keineswegs ein Problem dar, wenn der Leser das Schema eines Situationstyps aus dem semantischen Gedächtnis abruft, um ein grundlegendes Verständnis des Textes sicherzustellen. Die Frage ist dann vielmehr, unter welchen Bedingungen er darüber hinaus einen konkreten Situationstoken konstruiert oder erinnert. Stellt etwa ein Restaurantbesuch innerhalb eines Romans lediglich

|| 27 Van Dijk/Kintsch: Strategies of Discourse Comprehension, S. 344. 28 Dass das schematheoretische Vokabular in der Situationsmodellforschung dennoch kaum mehr Verwendung findet, mag an der Gewichtung von Erkenntnisinteressen liegen. Grundsätzlich kann sich die Situationsmodellforschung auf (mindestens) zwei Schwerpunkte verlegen: Zum einen versucht sie herauszufinden, welche Merkmale Situationsmodelle aufweisen und wie sie den Textverstehensprozess beeinflussen – hierbei können schematheoretische Implikationen in der Regel vernachlässigt werden. Zum anderen wird gefragt, welche Faktoren bei der Konstruktion eines Situationsmodells relevant sind und welche kognitiven Ressourcen dabei beansprucht werden – in diesem Untersuchungsfeld ist eine Bezugnahme auf Erkenntnisse der Schematheorie geboten. Da dieser zweite Schwerpunkt jedoch bisher deutlich weniger Beachtung gefunden hat, wurde auch die Schematheorie nur unzureichend in die Theorie mentaler Modelle integriert.

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den – prinzipiell austauschbaren – handlungslogischen Rahmen für das Gespräch zweier Figuren dar (um das es eigentlich geht), mag der rein semantische Informationsgehalt des Restaurant-scripts (im Wesentlichen bestehend aus dem chronologischen Ereignisablauf von Platznehmen, Bestellen, Essen, Bezahlen und Gehen) für ein Verständnis der Textpassage völlig genügen. Werden hingegen räumliche Besonderheiten (etwa eine dritte Figur an einem anderen Tisch) oder Irregularitäten im typischen Ablauf geschildert, kann sich der Leser dazu veranlasst sehen, eine modellartige mentale Repräsentation der Lokalität herzustellen, in die er Merkmale eines ihm bekannten Restaurants oder persönliche Erinnerungen an einen Restaurantbesuch einfließen lässt. Erst infolge dieser Dynamisierung29 kann mit experientiellen Effekten gerechnet werden. Dass hierbei tatsächlich Aspekte der situierten Kognition bedient werden, wird inzwischen auch in der Sprachverstehensforschung angenommen. Während diese die längste Zeit lediglich darum bemüht war, verschiedene Typen von Inferenzen zu unterscheiden und ihre Auswirkungen auf das Textverständnis zu überprüfen, fragt sie nun zunehmend auch danach, auf welchen kognitiven Grundlagen diese Inferenzen beruhen und inwieweit sie rezipientenseitig Effekte hervorrufen, die über das bloße Textverstehen hinausgehen. Die Kategorie der ‚Erfahrung‘ nimmt hierbei einen zentralen Platz ein: „When reading a story, we may ‚experience‘ cold wind blowing in our face, the smell of stale beer, a kiss on our lips, and a hot piece of pizza sticking to the roof of our mouth.“30 Die hier verwendeten Wahrnehmungsverben sind keinesfalls bloß metaphorisch zu verstehen, sondern knüpfen ausdrücklich an die Prämissen des embodiment und der situierten Kognition an.31 In dieser Ausrichtung erweist sich die Situationsmodelltheorie als anschlussfähig für die gemäßigte Spielart des Anti-Repräsentationalismus (siehe Kapitel 2.2.2).

|| 29 Mit diesem Begriff charakterisiert Ralf Schneider das Verhältnis von Schema und mentalem Modell: „Während Schemata gespeicherte, aktivierbare Datenstrukturen im Gedächtnis sind, stellen mentale Modelle die dynamische Nutzung solcher Strukturen im Moment der Verarbeitung neu eintreffender Informationen dar“ (Schneider: Grundriß zur kognitiven Theorie der Figurenrezeption, S. 62). 30 Zwaan: Embodied Cognition, Perceptual Symbols, and Situation Models, S. 83. 31 Auch die noch junge neurowissenschaftliche Forschung zum Situationsmodell drängt zu einer theoretischen Neuausrichtung, vgl. etwa Nicole K. Speer/Jeremy R. Reynolds/Khena M. Swallow/Jeffrey M. Zacks: Reading Stories Activates Neural Representations of Visual and Motor Experiences. In: Psychological Science 20 (2009) H. 8, S. 989–999.

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3.1.3 Situationsmodelle in der Literaturrezeption Fortschritte innerhalb der Situationsmodelltheorie verdanken sich bis heute vornehmlich der experimentalpsychologischen Sprachverstehensforschung. Als nachteilig erweist sich hierbei jedoch, dass deren Forschungsergebnisse – aus methodischen und praktischen Gründen – in der Regel nur für Kurztexte gelten und Forschungsfragen auch gar nicht erst auf längere Textgattungen hin ausgerichtet werden.32 In Hinblick auf die Lektüre literarischer Langtexte sind jedoch einige weitere Leseverhaltensmerkmale zu berücksichtigen: Erstens können sich Situationen mit dem Fortgang der darin stattfindenden Handlungen maßgeblich ändern, sodass das zu Beginn aktivierte Situationsmodell allmählich nicht mehr adäquat erscheint und daher neu angepasst werden muss. Zweitens werden in längeren Erzähltexten zahlreiche verschiedene Situationen geschildert, die etwa durch Zeitsprünge oder Ortswechsel voneinander getrennt sind. Folglich müssen die Leser während der Lektüre immer wieder neue Situationsmodelle abrufen oder konstruieren. Und drittens erfordert der Gang einer Erzählung häufig die Rückkehr zu einem Situationsmodell, das zuvor bereits Verwendung gefunden hatte. Daher müssen lektürebegleitende Situationsmodelle gespeichert und spontan erinnert werden können. Diese drei Grundoperationen auf der Situationsmodellebene – Modifikation, Konstruktion und Reaktivierung – werden stets durch Informationen ausgelöst, die sich nicht mehr ohne Weiteres mit der aktuellen Situationsbeschreibung vereinbaren lassen. Um einen solchen Einschnitt erkennen und darauf angemessen reagieren zu können, muss der Leser über allgemeines Situationswissen verfügen und eine gewisse Inferenzbereitschaft aufbringen. Unter diesen Bedingungen können etwa Raum- und Zeitangaben verlässlich eine Anpassung oder einen Wechsel des Situationsmodells hervorrufen – wie die beiden nachfolgenden Beispiele zeigen:33 (1) Michael versuchte in der Bibliothek zu arbeiten. (2a) Drei Meter entfernt drohte jemand zu ersticken. (2b) Drei Kilometer entfernt drohte jemand zu ersticken.

|| 32 Vgl. hierzu die Methodenreflexion in Kapitel 1.5.2. 33 Beide in Anlehnung an Anne Anderson/Simon C. Garrod/Anthony J. Sanford: The Accessibility of Pronominal Antecedents as a Function of Episode Shifts in Narrative Text. In: Quarterly Journal of Experimental Psychology 35/A (1983), S. 427–440, hier S. 429.

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Der Satz (2a) ist mit der in Satz (1) angezeigten Situation vereinbar, denn in diesem Fall befindet sich die Person offenbar in Michaels Sichtweite – es findet daher kein Situationswechsel, sondern lediglich eine Situationsänderung statt. Folglich bedarf es keines Situationsmodellwechsels, sondern lediglich einer Modifikation des bisherigen Modells – etwa durch die mentale Simulation der Erstickung und die Inferenz des neuen emotionalen Zustandes Michaels. Der Satz (2b) hingegen widerspricht dem leserseitigen Wissen über die Größe von Bibliotheken – folglich bildet er den Ausgangspunkt zur Konstruktion eines neuen (oder zur Reaktivierung eines bereits bekannten) Situationsmodells. Auch wenn der Leser nicht sofort weiß, welchem Situationskontext die neue Information zuzuordnen ist und daher nicht sogleich Ersatz für sein mentales Modell der Bibliothek findet, gibt er dieses sofort auf und verwendet seine kognitiven Ressourcen für die Suche nach einem neuen Situationsmodell. Auf dieselbe Weise orientiert sich der Leser bei der Situationsmodellbildung an temporalen Signalen: (3)

Maria ging zum Friseur, um sich den neuesten Haarschnitt verpassen zu lassen. (4a) Eine halbe Stunde später hatte sie eine Rechnung zu begleichen. (4b) Zwölf Stunden später hatte sie eine Rechnung zu begleichen. Der Satz (4a) passt zu der in Satz (3) genannten Situation, während sich der Satz (4b) offensichtlich nicht mehr auf die Situation im Friseursalon bezieht. In beiden Varianten liegt eine narrative Ellipse vor, doch nur im zweiten Fall entscheidet sich der Leser für einen Situationsmodellwechsel, da ihre Reichweite den erwartbaren zeitlichen Rahmen der aktuellen Situation überschreitet.34

|| 34 Zu den temporal ausgelösten Situationsmodellwechseln vgl. auch Nicole K. Speer/Jeffrey M. Zacks: Temporal Changes as Event Boundaries: Processing and Memory Consequences of Narrative Time Shifts. In: Journal of Memory and Language 53 (2005) H. 1, S. 125–140. – Experimentalpsychologische Studien über die kognitive Verarbeitung von Zeitwissen beim Textverstehen verwenden üblicherweise Texte, in denen explizite Zeitangaben gemacht werden. Daher lag zunächst die Vermutung nahe, dass temporale Konsistenz bzw. Inkonsistenz durch Bezugnahme auf die propositionale Ebene festgestellt wird. Therriault und Raney haben jedoch nachgewiesen, dass Leser die Dauer einer Situation auch dann berücksichtigen, wenn der Text keinerlei temporale Informationen enthält: Die Leser haben nicht nur ein Erfahrungswissen über die Dauer typischer Situationen, sondern auch über die Dauer typischer Handlungen – wenn eine oder mehrere Handlungen die Dauer der Situation, in der sie stattfinden, deutlich unteroder überschreiten, kommt es zu Verständnisschwierigkeiten, vgl. Therriault/Raney: Processing and Representing Temporal Information in Narrative Text.

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Angaben über räumliche und zeitliche Veränderungen lassen sich relativ leicht als adäquat oder inadäquat ausweisen. Andere Informationstypen hingegen lassen weniger deutlich auf einen Situationsmodellwechsel schließen. Würde etwa der Satz (2) lauten „Es roch nach Truthahn“, so müsste dies als olfaktorisch angezeigter Situationswechsel interpretiert werden. Wenn der Leser jedoch nicht sogleich ein passendes Situationsmodell – etwa durch Rekurs auf die Vorgeschichte – abzurufen vermag, kann dieser neue Geruch auch innerhalb der Bibliothekssituation verarbeitet werden. Bei einer derart starken Abweichung von dem allgemeinen Situationswissen erhöht der Leser augenblicklich seine Aufmerksamkeit und sucht nach Hinweisen, die seine Interpretation bestätigen oder widerlegen. Da man sich aber prinzipiell relativ leicht eine Bibliothek vorstellen kann, in der es nach Truthahn riecht, kann der laufende Verstehensprozess vorerst ungehindert fortgesetzt werden. Eine nachträgliche Korrektur erfordert zwar eine – gedankliche oder tatsächliche – Wiederholung des vorangegangenen Lektüreabschnitts und somit einen zusätzlichen kognitiven Aufwand, ist aber prinzipiell möglich. Eine gleichzeitige kognitive Verarbeitung zweier unterschiedlicher Situationsmodelle ist hingegen ausgeschlossen, denn dazu müsste man die Fähigkeit besitzen, sich gleichzeitig zwei Räume (oder denselben Raum zu unterschiedlichen Zeitpunkten) vorzustellen.35 Für seine mentalen Simulationen wählt der Leser daher immer die Situation, die er gemäß dem Prinzip der kognitiven Relevanz (siehe Kapitel 1.5.3) – das heißt mit möglichst geringem Aufwand und zugleich hohem Informationswert – verarbeiten kann. Wie in diesen beiden Beispielen zur räumlichen und temporalen Überschreitung eines Situationskontextes können sich die Leser zu einem Modellwechsel allein auf Grundlage ihres allgemeinen – das heißt in ihrem lebensweltlichen Alltag geschulten – Wissens über die dargestellten Situationen entschließen. Häufig aber erfolgt ein Situationsmodellwechsel auch einzig vor dem Hintergrund der bisherigen Lektüre und somit unter Rückgriff auf das Wissen über die literarische Welt. Ist beispielsweise plötzlich von einer Figur die Rede, die in der aktuellen

|| 35 Diese Begrenzung des Vorstellungsvermögens ist offenbar evolutionsbiologisch bedingt: Die menschliche Kognition ist in vielerlei Hinsicht mit der jeweils gegebenen Umwelt verknüpft und insofern situiert (siehe Kapitel 2.2.1). Darüber hinaus ist der Mensch dazu in der Lage, sich eine Umwelt vorzustellen und darin Wahrnehmungen und Handlungen mental zu simulieren (siehe Kapitel 2.2.3). Da aber seine reale Umwelt singulär ist und eine gleichzeitige Verarbeitung mehrerer Umwelten im realen Erleben nicht trainiert werden kann, beschränkt sich seine Simulationsfähigkeit – die schließlich auf denselben neuronalen Strukturen basiert – ebenfalls auf singuläre Umwelten.

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Situation – aus handlungslogischen oder ontologischen Gründen – nicht vorstellbar ist, veranlasst dies den Wechsel zu einem figurenadäquaten Situationsmodell.36 Diese Grundlagen des Textverstehens auf der Situationsmodellebene lassen sich für die Analyse von Langtexten und somit auch von erzählender Literatur anwenden. Zwar vermag die kognitionsnarratologische Situationsmodellanalyse nur begrenzt Einblicke in die konkrete Inferenztätigkeit individueller Rezeptionen zu geben und gelangt daher nur zu geringer Kenntnis der tatsächlichen Vorstellungen und mentalen Simulationen realer Leserinnen und Leser. Aber durch welche Textsignale ein vorhandenes Situationsmodell abgerufen bzw. eine neue Situationsmodellbildung ausgelöst wird oder eine Modifikation der aktuellen mentalen Simulation erfolgt, kann mit relativ hoher Wahrscheinlichkeit bestimmt werden.37 Indes wird mit der hier beworbenen Verknüpfung von Situationsmodelltheorie und literaturwissenschaftlicher Erzähltheorie kein narratologisches Neuland betreten, denn häufig erfährt erstere – wenigstens in ihren Grundzügen – vonseiten der Literaturwissenschaft stillschweigende oder auch ausdrückliche Zustimmung. So verortet etwa David Herman sein narratologisches Konzept der storyworld in starker Nähe zum Situationsmodell und scheint den Implikationen der Theorie mentaler Modelle somit weitgehend zuzustimmen.38 Ebenfalls unter prinzipieller Zustimmung39 zur Theorie mentaler Modelle verwendet Catherine Emmott den Begriff contextual frame, den sie jedoch speziell

|| 36 Insbesondere Nebenfiguren sind häufig situationsgebunden, da sie üblicherweise – wie sich etwa mit der raumsemantischen Erzähltheorie von Jurij M. Lotman begründen ließe (vgl. hierzu in aller Kürze die Anm. 7 in Kapitel 5.1) – nicht aus ihrem figurentypischen Aktionsradius und Bedeutungsraum ausbrechen können. Vgl. auch die Studie zur Unterscheidung zwischen „scenario-dependent entities“ und „main characters“ von Anderson et al.: The Accessibility of Pronominal Antecedents. 37 Zum epistemologischen Anspruch der empirischen Sprachverstehensforschung siehe Kapitel 1.5.2. Dort wird auch das dieser Arbeit allgemein zugrundeliegende Leserkonzept (des ‚statistischen‘ bzw. ‚probabilistischen Lesers‘) angezeigt und erläutert. 38 „[T]he notion storyworld is consonant with a range of other concepts proposed by cognitive psychologists, discourse analysts, psycholinguists, philosophers of language, and others concerned with how people go about making sense of texts or discourses. Like storyworld, these other notions – including deictic center, mental model, situation model, discourse model, contextual frame, and possible world – are designed to explain how interpreters rely on inferences triggered by textual cues to build up representations of the overall situation or world evoked but not fully explicitly described in the discourse.“ (David Herman: Basic Elements of Narrative. Malden [MA] [u. a.] 2009, S. 208–209.) 39 Vgl. Catherine Emmott: Narrative Comprehension. A Discourse Perspective. Oxford/New York 1997, S. 44.

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für literaturwissenschaftliche Zwecke ausformt. So weiß sie etwa die drei (eben genannten) literaturspezifischen Leseverhaltensmerkmale mittels der kognitionsnarratologischen Konzepte „frame modification“, „frame switch“ und „frame recall“ zu systematisieren40 – allerdings ohne empirische Forschungen zu betreiben oder auch nur eine Anschlussfähigkeit an empirische Studien zu suggerieren. Und ähnlich verfährt schließlich auch Caracciolo, indem er – wie im vorangegangenen Kapitel ausgeführt – der Situationsmodelltheorie prinzipiell zustimmt, ohne sich jedoch ihr im Detail verpflichtet zu fühlen.41 Auch die Frage danach, unter welchen Umständen die Leser überhaupt den kognitiven Aufwand der Situationsmodellbildung zu betreiben bereit sind, lässt sich nicht allein mit Verweis auf die kognitionspsychologische Sprachverstehensforschung beantworten, sondern muss spezifisch literaturwissenschaftlichen Überlegungen untergeordnet werden. Als allgemeine Bedingungen für die Bildung von Situationsmodellen beim Lesen werden vonseiten der Sprachverstehensforschung folgende Faktoren genannt: Briefly, readers should create situation models when they have enough information about the situation (from the speaking context, the text, and prior knowledge), when they have enough cognitive resources (for example, working memory capacity) to create the model, and when a situation model helps them accomplish their goals, which are influenced by the type of text and task.42

Aus literaturwissenschaftlicher Sicht wäre demnach beispielsweise zu fragen, wie viele oder welche Informationen dem Leser angeboten werden müssen, damit sich für ihn der kognitive Aufwand der Situationsmodellbildung lohnt. Insbesondere in Bezug auf Erzählanfänge wäre zu untersuchen, mit welchen Mitteln ein geeignetes „Initial-Modell“43 vorbereitet werden kann, das sich als anschlussfähig nicht nur für die unmittelbar nachfolgenden Textinformationen, sondern auch für weitere Situationsmodelle erweist. Außerdem wäre zu fragen, welche Ziele ein Leser literarischer – und insbesondere fiktionaler – Texte mit seiner situationsmodellbasierten Lektüre verfolgt. Denn freilich kann – vor allem bei besonders künstlerischen und daher ästhetisch anspruchsvollen Texten – die Situationsmodellbildung auch ausbleiben und das Hauptaugenmerk stattdessen || 40 Vgl. Emmott: Narrative Comprehension, S. 133. 41 Eine gezielte Anwendung der Theorie mentaler Modelle auf die Analyse literarischer Texte (mit einem Schwerpunkt auf Raumkonstruktionen) demonstriert Wege: Wahrnehmung – Wiederholung – Vertikalität. 42 Daniel Morrow: Spatial Models Created from Text. In: Naturalistic Text Comprehension. Hg. v. Herre van Oostendorp und Rolf A. Zwaan. Norwood (NJ) 1994. S. 57–78, hier S. 58. 43 Schnotz: Textverstehen als Aufbau mentaler Modelle, S. 307.

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auf den propositionalen Gehalt oder auf die formalen Strukturen gerichtet werden.44 Diese Faktoren sind von größter Bedeutung für die Bestimmung erinnerungskultureller Funktionspotenziale der Erinnerungsliteratur und müssen daher auch bei der Analyse der Enkelliteratur berücksichtigt werden: Durch entsprechend fokusierte Textanalysen können Rückschlüsse auf die Inferenztätigkeiten der Leser und deren kognitive Prozesse innerhalb der Situationsmodellebene gezogen werden. Davon lassen sich wiederum experientielle Textwirkungen ableiten, die den erinnerungskulturellen Erfahrungshaushalt der Leserinnen und Leser erweitern oder modifizieren. Ob eine Situationsmodellbildung vorgenommen wird oder nicht, hängt indes nicht allein vom textuell verankerten Informationsangebot ab, sondern auch von den Erwartungen, mit denen sich der Leser auf eine Lektüre einlässt. Denn schließlich besteht seine Tätigkeit nicht nur im Dekodieren von Schriftzeichen und Übersetzen von Textstrukturen in Vorstellungen, sondern er begreift literarische Texte auch als Äußerungen von Autorinnen und Autoren in pragmatischen Kontexten.45 Indem er Texte als Kommunikationsangebot wahrnimmt, schreibt er dem Textproduzenten bestimmte Absichten zu und versucht diesen im Rahmen seiner kognitiven Möglichkeiten gerecht zu werden. Auf dieser Metaebene des Rezeptionsprozesses kommen selbst wieder mentale Modelle zum Einsatz, deren Konstruktionsprinzipien und Wirkungsweisen im folgenden Kapitel erläutert werden.

3.2 Kontextmodelle Prinzipiell kann beim Lesen und Verstehen von Texten von deren Produktionsinstanz sowie von historischen oder soziokulturellen Entstehungskontexten abstrahiert werden. Situationsmodelle werden dann allein auf Grundlage des propositionalen Gehalts gebildet und erfüllen die genannten Funktionen in der Regel zur Genüge. Zumeist jedoch ist die sprachliche Vermittlung von Ereignissen und Situationen ihrerseits in eine Kommunikationssituation eingebettet, sodass der Rezipient gleichzeitig zwei Situationen zu verarbeiten hat: die Situation, in der gesprochen wird, und die Situation, über die gesprochen wird. Folglich werden

|| 44 Vgl. Graesser et al.: Discourse Comprehension, S. 170. 45 Vgl. etwa Rüdiger Zymner: Wie ‚Flaschenpost‘ an ‚Herzland‘ stößt. Biopoetische Aspekte literarischer Kommunikation. In: Im Rücken der Kulturen. Hg. v. Karl Eibl, Katja Mellmann und Rüdiger Zymner. Paderborn 2007. S. 425–466, hier S. 436.

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nicht nur die vermittelten Inhalte mental repräsentiert, sondern auch die Umstände der Vermittlung, wobei gleichermaßen mentale Modelle gebildet werden können. Einen ersten Hinweis auf diese Ebene der Modellbildung geben van Dijk und Kintsch bereits zu Beginn ihrer Beschäftigung mit mentalen Modellen: „besides the properly ‚semantic‘ situation model, we also need a communicative context model, representing speech acts and their underlying intentions, as well as other information about speaker, hearer, and the context“46. Eine theoretische Ausarbeitung dieses Konzepts sowie dessen Anwendung erfolgt allerdings erst zwei Dekaden später durch van Dijk, der sich in zahlreichen Studien zur Funktion von Kontexten geäußert hat: „[C]ontexts are subjective definitions of events or situations, but in this case not of the situation we talk about but the situation in which we now participate when we engage in talk or text. That is, contexts are the participants’ mental models of communicative situations.“47 Verkürzt wird bei einer solchen mentalen Repräsentation der (außertextuellen) Kommunikationssituation von einem ‚Kontextmodell‘ (context model) gesprochen.48 Welche kontextuellen Faktoren unter bestimmten Umständen in dieses Modell einfließen und somit während der kognitiven Textverarbeitung mental repräsentiert werden, ist bisher kaum erforscht worden.49 Einigkeit besteht jedoch darin, dass in Kontextmodellen keine komplexen soziokulturellen Wirklichkeiten abgebildet werden – dies würde das Arbeitsgedächtnis überlasten und Verstehensprozesse verlangsamen. Kontextmodelle dienen vielmehr – wie alle mentalen Modelle – der Komplexitätsreduktion und konstituieren sich auf Grundlage des Relevanzprinzips: „[G]iven a communicative event in some social situation, its participants actively and ongoingly construct a mental representation of only those properties of this

|| 46 Van Dijk/Kintsch: Strategies of Discourse Comprehension, S. 338. 47 Teun A. van Dijk: Discourse, Context and Cognition. In: Discourse Studies 8 (2006) H. 1, S. 159–177, hier S. 170. 48 An dieser Stelle sei auf einige terminologische Schwierigkeiten hingewiesen: Das ‚Kontextmodell‘ repräsentiert die Situation der Kommunikationsteilnehmer – daher besteht eine gewisse Verwechslungsgefahr mit dem Konzept des ‚Situationsmodells‘. Um dieser vorzubeugen und die mentalen Repräsentationen textueller und außertextueller Elemente begrifflich besser auseinanderhalten zu können, hat van Dijk den Terminus situation model später durch event model ersetzt, vgl. Teun A. van Dijk: Context Models in Discourse Processing. In: The Construction of Mental Representations During Reading. Hg. v. Herre van Oostendorp und Susan R. Goldman. Mahwah (NJ) 1999. S. 123–148, hier S. 125. Auch im Umgang mit der Bezeichnung context model ist Vorsicht geboten, denn von Kontexten ist gelegentlich auch in Bezug auf die im Text dargestellten Situationen die Rede – so spricht etwa Catherine Emmott von ‚contextual frames‘ statt von Situationsmodellen (siehe Kapitel 3.1.3). 49 Erste Ansätze und eine Reihe an Forschungsfragen finden sich bei Teun A. van Dijk: Discourse, Ideology and Context. In: Folia Linguistica 35 (2001) H. 1/2, S. 11–40, hier S. 21–24.

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situation that are currently relevant to them.“50 Wenn etwa eine geschlechtlich durchmischte Gruppe adressiert wird, stellt die Kategorie des Geschlechts in der Regel kein Element im Kontextmodell der Kommunikationsteilnehmer dar – die Besucher einer Universitätsvorlesung interpretieren die Rede des Professors nicht vor dem Hintergrund ihres eigenen Geschlechts, solange die Studierenden beider Geschlechter angesprochen werden. Sehr wohl aber enthalten ihre Kontextmodelle Informationen über das der Kommunikationssituation zugrundeliegende hierarchische Verhältnis zwischen Sprecher und Adressaten – nur wenn die Autorität des Sprechers von den Hörern mental repräsentiert wird, kann die Vorlesung ihren Lehrcharakter entfalten. Folglich ist die Konstruktion von Kontextmodellen kein Selbstzweck, sondern vor allem regulieren sie den Sprachverstehensprozess und nehmen damit maßgeblich Einfluss auf die Situationsmodellbildung.51 Dies ist insofern funktional, als dass das bereits bestehende Wissen über eine Situation auf der Empfängerseite in der Regel viel umfassender ist, als zum Verstehen einer aktuellen Situationsbeschreibung nötig wäre – vor dem Hintergrund des Kontextmodells kann die Inferenztätigkeit auf der Situationsmodellebene jedoch eingedämmt und den kontextuellen Gegebenheiten der Kommunikationssituation angepasst werden. Im besten Fall beschränkt sich die Komplexität der mentalen Repräsentationen einer Situation auf jene Elemente, die ein Gelingen der Kommunikation sicherstellen – die Bedingungen für gelingende Kommunikation werden im Rahmen von Kommunikationstheorien verhandelt. So wird etwa – unter Bezugnahme auf H. P. Grice oder Neo-Grice’sche Ansätze – davon ausgegangen, dass sich die Kommunikationspartner gegenseitig eine Kooperationsbereitschaft unterstellen und daher prinzipiell nur relevante und interessante Inhalte austauschen, die überdies der Wahrheit entsprechen und verständlich formuliert sind.52 Um diese Prinzipien einzuhalten, müssen sich die Kommunikationspartner entweder gut kennen oder zumindest von der Annahme eines beiderseitig verbindlichen Deutungsrahmens ausgehen können – solche gegenseitigen Annahmen über einen gemeinsamen Wissens- und Erfahrungshorizont werden in der Kommunikationstheorie als common ground bezeichnet.53 Wohlgemerkt handelt es

|| 50 Van Dijk: Context Models in Discourse Processing, S. 124. 51 Vgl. van Dijk: Context Models in Discourse Processing, S. 126. 52 Vgl. H. Paul Grice: Logik und Konversation. In: Handlung, Kommunikation, Bedeutung. Hg. v. Georg Meggle. Frankfurt a. M. 1979. S. 243–265. 53 Erstmals von H. Paul Grice in den William James Lectures (1966–67), vgl. H. Paul Grice: Studies in the Way of Words. Cambridge (MA)/London 1989, S. 65.

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sich hierbei nicht zwangsläufig um tatsächlich beiderseitig verfügbares Wissen, sondern erst einmal nur um die Präsuppositionen des Senders: Presuppositions are what is taken by the speaker to be the COMMON GROUND of the participants in the conversation, what is treated as their COMMON KNOWLEDGE or MUTUAL KNOWLEDGE. The propositions presupposed in the intended sense need not really be common or mutual knowledge; the speaker need not even believe them. He may presuppose any proposition that he finds it convenient to assume for the purpose of the conversation, provided he is prepared to assume that his audience will assume it along with him.54

Folglich kann der Sender nur solche Informationen und Überzeugungen präsupponieren, die er beim Empfänger auch tatsächlich voraussetzt – und sofern er sich hierbei nicht völlig verschätzt, können seine Präsuppositionen durch die Empfänger als solche erkannt und ihrerseits als common ground ausgelegt werden. Maßgeblich für eine gelingende Kommunikation ist demnach ein gegenseitiges Vertrauen darauf, über einen common ground zu verfügen.55 Wenn der common ground dazu dient, eine Nachricht angemessen zu formulieren bzw. adäquat zu dekodieren, dann muss er während des Sprachakts bzw. des Sprachverstehensprozesses mental repräsentiert werden. Dies geschieht in Form von Kontextmodellen, in denen all jene pragmatischen Informationen verarbeitet werden, die für die semantische Informationsverarbeitung richtungsweisend sind. Indes erschöpfen sich Kontextmodelle nicht in der mentalen Repräsentation eines common ground, sondern enthalten auch Informationen und Anhaltspunkte für dessen Konstruktion. Daher werden in Kontextmodellen in der Regel auch Kenntnisse über die Persönlichkeit und Biografie des Kommunikationspartners sowie frühere Erfahrungen mit diesem verarbeitet. Während somit die Kommunikationsteilnehmer idealerweise gegenseitig denselben common ground voraussetzen, sind ihre Kontextmodelle hochgradig subjektiv und in weiten Teilen verschieden.

|| 54 Robert Stalnaker: Assertion. In: Ders.: Context and Content. Essays on Intentionality in Speech and Thought. Oxford/New York 1999. S. 79–95, hier S. 84. 55 Stalnaker bringt dies in folgende Formel: „It is common ground that φ in a group if all members accept (for the purpose of the conversation) that φ, and all believe that all accept that φ, and all believe that all believe that all accept that φ, etc.“ (Robert Stalnaker: Common Ground. In: Linguistics and Philosophy 25 [2002] H. 5/6, S. 701–721, hier. S. 716.)

116 | Mentale Modelle 3.2.1 Literarische Kommunikation Die Annahme vorausgesetzt, dass es sich bei der Produktion und Rezeption literarischer Texte um eine Form des Kommunizierens handelt,56 können auch hier kommunikationstheoretische Grundlagen geltend gemacht werden. Ungeachtet der Tatsache, dass sich die literarische Kommunikation von den meisten Formen alltagspraktischer Kommunikation in mancher Hinsicht unterscheidet,57 wurde der pragmatische Ansatz von Grice von Beginn auch in Hinblick auf literaturwissenschaftliche Fragestellungen für nützlich befunden58 – dessen Prinzip der Ko-

|| 56 Kommunikationstheoretische Zugänge zur Literatur basieren zumeist auf historischen, anthropologischen und evolutionären Argumenten: „Es gibt kaum ernsthafte Zweifel, dass schriftliche und auch fiktionale schriftliche Kommunikation im Kontext eines ausdifferenzierten Literatursystems am Ende einer langen biologischen und kulturellen Evolution menschlicher Kommunikationsfähigkeit stehen.“ (Fotis Jannidis: Verstehen erklären? In: Literatur und Kognition. Bestandsaufnahmen und Perspektiven eines Arbeitsfeldes. Hg. v. Martin Huber und Simone Winko. Paderborn 2009. S. 45–62, hier S. 54.) Indes werden auch Zweifel daran geäußert, ob man bei einer Ungleichzeitigkeit von Produktion und Rezeption und einer Anonymität der Empfänger noch von Kommunikation sprechen könne: „[L]iterary text is demonstrably not communication in the usual sense: The reader and author do not share common perceptual ground, they cannot engage in communicative processes of confirmation and error correction, and the same text can be processed quite differently depending on the context, the knowledge and goals of the reader, and so on.“ (Bortolussi/Dixon: Psychonarratology, S. 74.) Ähnliche Vorbehalte äußert auch Fludernik, vgl. etwa Monika Fludernik: New Wine in Old Bottles? Voice, Focalization and New Writing. In: New Literary History 32 (2001) H. 3, S. 619–638, hier S. 622–623. Allerdings sind derlei Einwände aus kognitionsnarratologischer und pragmatischer Sicht zu vernachlässigen, denn hier geht es letztlich um die Frage, ob die kognitiven Prozesse bei der Rezeption literarischer Texte mit den kognitiven Prozessen bei der Verarbeitung außerliterarischer Kommunikationssituationen vergleichbar sind und ob die Leser dabei auf Erfahrungen mit Alltagskommunikationen zurückgreifen. Auf diesen Kompromiss lassen sich schließlich auch Bortolussi und Dixon ein: „Once again, text is not communication, but it is often treated as if it were by readers. Further, we suspect that this may be a very natural process, and it is possible that people have an almost inevitable tendency to deal with language in this way.“ (Bortolussi/Dixon: Psychonarratology, S. 74.) 57 Literarische Kommunikation ist einseitig, d. h. Leser können keine Rückfragen stellen, wie etwas gemeint ist, und sie ist ‚zerdehnt‘, weshalb Autoren ihre Äußerungen nicht an die Reaktionen der Leser anpassen können – Konrad Ehlich spricht in diesem Zusammenhang von einer „zerdehnten Sprechsituation“ (Konrad Ehlich: Text und sprachliches Handeln. Die Entstehung von Texten aus dem Bedürfnis nach Überlieferung. In: Schrift und Gedächtnis. Beiträge zur Archäologie der literarischen Kommunikation. Hg. v. Aleida Assmann, Jan Assmann und Christof Hardmeier. München 1983. S. 24–43, hier S. 32). 58 Vgl. Siobhan Chapman/Billy Clark: Introduction: Pragmatic Literary Stylistics. In: Pragmatic Literary Stylistics. Hg. v. dens. Basingstoke [u. a.] 2014. S. 1–15, hier S. 4–5.

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operation zwischen Sender und Empfänger gelte auch für die literarische Kommunikation zwischen Autor und Leser.59 Demnach sind von Autorinnen und Autoren an Leserinnen und Leser adressierte literarische Texte in der Regel nicht nur verständlich formuliert und bedeutungsbehaftet, sondern auch informativ und im besten Fall überzeugend. Wenngleich pragmatische Prinzipien in der Literatur häufig genug auch unterlaufen werden, sind die Leser aus ihrem Alltag so gut mit ihnen vertraut, dass sie deren Geltung auch bei der Literaturrezeption voraussetzen: These pragmatic principles are automatized and unconscious in the minds of most readers [...]. Indeed, the principles are so entrenched that some readers never regard it as an option that a writer would express ideas that are false, contradictory, or irrelevant; they faithfully accept pretty much whatever the writer expresses.60

Damit aber die pragmatischen Prinzipien überhaupt Geltung erlangen, muss der Leser den Text vor dem Hintergrund eines Autors wahrnehmen, den er während der Lektüre – im Rahmen eines Kontextmodells – mental repräsentiert. In der literarischen Kommunikation enthält das leserseitige Kontextmodell beispielsweise biografische Informationen über den Autor bzw. die Autorin sowie Annahmen über den Schreibanlass und kommunikative Intentionen. Nur wenn der Leser sich einen Kommunikationspartner vorstellt und zu dem Bewusstsein gelangt, sich in einer Kommunikationssituation zu befinden, treten die pragmatischen Regeln des Kommunizierens in Kraft.61

|| 59 Geoffrey N. Leech und Michael H. Short behaupten sogar, das Kooperationsprinzip werde in der literarischen Kommunikation noch konsequenter eingehalten als im Alltag, da der Autor über ausreichend Zeit verfüge, um genauestens auf seine Wortwahl zu achten, vgl. Geoffrey N. Leech/Michael H. Short: Style in Fiction. A Linguistic Introduction to English Fictional Prose. London/New York 1981, S. 302. 60 Graesser et al.: Discourse Comprehension, S. 173. 61 Die Übertragung der Kontextmodelltheorie auf die literarische Kommunikation ist in dieser Form nur für die Gegenwartsliteratur durchführbar, da sie eine Nähe der soziokulturellen Kontexte von Autor und Leser voraussetzt. Zwar stellt Literatur generell eine Abweichung von mündlicher Kommunikation dar und bedarf daher prinzipiell der ‚Naturalisierung‘ im Sinne Cullers und Fluderniks (siehe Kapitel 2.1.2), aber weder darf hierbei der zeitliche Abstand zwischen Sender und Empfänger überspannt werden noch dürfen die kulturellen bzw. historischen Differenzen der Kommunikationsteilnehmer unüberwindbar erscheinen. Dieser Fokus auf die Gegenwartsliteratur ist auch aus evolutionsbiologischer Sicht naheliegend: „We propose humans […] evolved to make models of aspects of the social world, and that literary art is an extension of this ability. Social models have been taken up and molded by culture to provide the contexts for oral storytelling and more recently written literature.“ (Keith Oatley/Raymond A. Mar: Evolutionary

118 | Mentale Modelle 3.2.1.1 Autorrepräsentationen Van Dijk hat explizit darauf hingewiesen, dass von Kontextmodellen auch in der literarischen Kommunikation Gebrauch gemacht wird,62 sich jedoch selbst vorzugsweise mit politischen und anderen öffentlichen Diskursen beschäftigt. Eine Anwendung auf die Literatur hat erstmals Eefje Claassen vorgenommen, die in einer großangelegten empirischen Studie den Nachweis dafür erbringt, dass das Lesen literarischer Texte stets von Vorstellungen über deren Autor und dessen Intentionen begleitet wird.63 Diese Vorstellungen werden Claassen zufolge im Format des Kontextmodells in den Sprachverarbeitungsprozess eingebunden. Bezugnehmend auf die Unterscheidung dreier Ebenen bei der kognitiven Textverarbeitung – Textoberfläche, Textbasis und Situationsmodell – verortet sie das Kontextmodell auf einer übergeordneten vierten Ebene: Discourse theorists agree that this mental representation [of the text] has different levels: the surface code preserves the exact wording and syntax of the text, the text base contains the explicit propositions, and the situation model can be compared to a mental micro-world that contains the characters, spatial layout, and actions and so on. A fourth level, the communicative context model, represents the readers’ subjective interpretation of the communicative context, and is expected to include information and assumptions about mutual knowledge between the participants (authors and readers), and readers’ attributions of communicative intentions towards, in this case, an implied or empirical author.64

Mit der Unterscheidung zwischen implizitem und empirischem Autor berücksichtigt Claassen die Tatsache, dass die leserseitige Vorstellung vom Autor sowohl auf textinternen als auch auf außertextuellen Quellen beruhen kann. Beim empirischen oder realen Autor handelt es sich um die Person des Schriftstellers bzw. der Schriftstellerin, über die eine Leserin oder ein Leser aufgrund von biografischen und werkbezogenen Anmerkungen im Peritext sowie gegebenenfalls durch epitextuelle Quellen und persönliche Begegnungen informiert sein kann.

|| Pre-Adaptation and the Idea of Character in Fiction. In: Journal of Cultural and Evolutionary Psychology 3 [2005] H. 2, S. 181–196, hier S. 182.) 62 „Contextualization is a fundamental part of our understanding of human conduct, in general, and of literature and other texts and talk, in particular.“ (Teun A. van Dijk: Discourse and Context. A Sociocognitive Approach. Cambridge [u. a.] 2008, S. 5.) 63 Vgl. Eefje Claassen: Author Representations in Literary Reading. Amsterdam/Philadelphia 2012. 64 Claassen: Author Representations in Literary Reading, S. 212. Gelegentlich wird in der Sprachverstehensforschung auch noch eine fünfte Ebene der mentalen Repräsentation genannt, nämlich die des Textgenres, vgl. Graesser et al.: Discourse Comprehension. Für Claassen jedoch ist das Textgenre ein Element des Kontextmodells, vgl. Claassen: Author Representations in Literary Reading, S. 57.

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Davon abzugrenzen seien jene Vorstellungen von einem Autor oder einer Autorin, die allein auf der Lektüre des literarischen Textes beruhen – da von textinternen Signalen keine verlässliche Auskunft über die Schriftstellerperson zu erwarten ist, spricht man in diesem Zusammenhang vom ‚impliziten Autor‘.65 Während die Unterscheidung zwischen implizitem und empirischem Autor zwar ein gewisses heuristisches Potenzial mit sich bringt und in der literaturwissenschaftlichen Analyse durchaus von Nutzen sein kann, ist sie doch letztlich aus einem „unglücklichen Systemzwang“66 heraus entstanden und vermag verhältnismäßig wenig über die tatsächlichen kognitiven Prozesse der Rezipienten auszusagen. Vor allem wird bei der begrifflichen Ausdifferenzierung von Autorinstanzen die Tatsache vernachlässigt, dass die Autorrepräsentationen der Leser in der Regel sowohl auf textinternen als auch auf außertextuellen Informationen basieren. Aus rezeptionsästhetischer Perspektive ergibt sich somit eine dritte Möglichkeit für die Bildung von Autorrepräsentationen: [R]eaders can theoretically construct: (1) a representation of an implied author, (2) a representation of an empirical author, or (3) an interaction occurs between these two representations. In the first situation, this representation would be the result of exclusively bottom-up processing, that is, based on the text alone. The second situation would imply that this construction is exclusively based on top-down processing, and the text ideally will not affect readers’ constructions of an empirical author. The third option includes interactions between readers’ constructions of an empirical and implied author.67

Wenngleich die meisten Leserinnen und Leser durchaus dazu in der Lage sind, zwischen textbasierten und außerliterarischen Autorbezügen zu unterscheiden, dürfte es eher selten vorkommen, dass sie beide Autorinstanzen getrennt voneinander mental repräsentieren. Stattdessen ist davon auszugehen, dass in der Vorstellung vom Autor keine bewusste Unterscheidung zwischen textuellen und außertextuellen Quellenanteilen vorgenommen wird, sondern diese vielmehr

|| 65 Die Arbeiten zu dem von Wayne C. Booth in die Narratologie eingeführten ‚impliziten Autor‘ sind Legion und zeugen nicht nur von einem nachhaltigen Interesse an diesem Konzept, sondern auch von zahlreichen kontroversen Auffassungen davon. Für die vorliegende Untersuchung kann auf eine Positionierung innerhalb vergangener oder laufender Forschungsdebatten verzichtet werden. 66 Peter Wenzel: Zu den übergreifenden Modellen des Erzähltextes. In: Einführung in die Erzähltextanalyse. Kategorien, Modelle, Probleme. Hg. v. dems. Trier 2004. S. 5–22, hier S. 14. 67 Claassen: Author Representations in Literary Reading, S. 213.

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miteinander abgeglichen und zu einem einheitlichen ‚Autorbild‘68 zusammengeführt werden. Aus kognitionsnarratologischer Sicht ist somit standardmäßig davon auszugehen, dass sowohl Merkmale des empirischen als auch des impliziten Autors in die Bildung mentaler Repräsentationen von Autoren eingehen.69 3.2.1.2 Autorintentionen Mit der mentalen Repräsentation des Autors ist dem Leser eine Instanz auf der pragmatischen Ebene gegeben, deren Merkmale er mittels pragmatischer Inferenzen konkretisieren kann. Wie in nichtliterarischen Kontexten wird auch in der literarischen Kommunikation dem Sender eine Intention unterstellt70 – beispielsweise zu überzeugen, zu kritisieren oder zu unterhalten. Wohlgemerkt handelt es

|| 68 So verwendet auch Fotis Jannidis diesen Terminus: „Unter einem Autorbild verstehe ich die Summe alles Wissens eines Lesers über einen realen Autor. Der Begriff Wissen ist hier sehr weit zu nehmen; er umfaßt alle Annahmen und Spekulation. Zu diesem Wissen gehören auch die Erinnerung an die Lektüreerfahrung und die Rückschlüsse auf den Autor aufgrund seines Textes.“ (Fotis Jannidis: Autor, Autorbild und Autorintention. In: Editio 16 [2002], S. 26–35, hier S. 27.) Auch Bortolussi und Dixon weisen die Unterscheidung zwischen implizitem und empirischem Autor aus rezeptionsästhetischer Perspektive zurück und sprechen schlichtweg vom „represented author“ (Bortolussi/Dixon: Psychonarratology, S. 76). 69 Verfügt der Leser nur über sehr wenige außertextuelle Kenntnisse über den Autor und richtet er daher sein Hauptaugenmerk auf textinterne Quellen, kann sein Autorbild gegebenenfalls deutlich von den Merkmalen des realen Autors abweichen. Viel häufiger jedoch scheint es der Fall zu sein, dass die Merkmale des impliziten und des empirischen Autors in weiten Teilen oder sogar nahezu vollständig übereinstimmen – und eine solche Übereinstimmung dürfte seitens der Autorinnen und Autoren in der Regel auch intendiert sein. Der Nutzen der narratologischen Kategorie des impliziten Autors ist somit auch aus produktionsästhetischer Perspektive zu hinterfragen – darauf hat unter anderem Marie-Laure Ryan hingewiesen: „[T]he distance between IA [d. i. implied author, RF] and RA [d. i. real author, RF] is variable. Extending this idea, we can imagine that the distance between the two is near zero for Voltaire, moderate for Rimbaud, wide for Flaubert, endless for Mallarmé. [...] [A]uthors reveal themselves in their texts to variable degrees.“ (Marie-Laure Ryan: Meaning, Intent, and the Implied Author. In: Style 45 [2011] H. 1, S. 29–47, hier S. 42.) 70 Graesser, Singer und Trabasso nennen diesen Inferenztyp „Author’s intent“ und fügen folgende Beschreibung hinzu: „The inference is the author’s attitude or motive in writing.“ (Graesser et al.: Constructing Inferences During Narrative Text Comprehension, S. 375.) Seine Anwendung in der Literaturrezeption ist nicht zuletzt auch in phylogenetischer Hinsicht plausibel: „Die[] umfassende Abhängigkeit vom Konzept der Intentionalität gilt für Alltagskommunikation, aber auch für Literatur. Sicherlich lässt sich die Entwicklung der Literatur in den letzten 2000 Jahren auch als eine Spezialisierung auf bestimmte Aspekte der Kommunikation verstehen, die sonst nicht systematisch im Vordergrund stehen, z. B. die systematische Produktion von Mehrdeutigkeit oder das zunehmend komplexe Spiel, das mit der Verschachtelung von Kommu-

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sich bei den Intentionszuschreibungen der Leser nicht zwingend um die tatsächlichen Intentionen des Autors – in der rezeptionsorientierten Kontextanalyse geht es weniger um reale Intentionen von Autorinnen und Autoren als vielmehr um leserseitige Annahmen von Intentionen.71 Grundlage dieser Annahmen ist das Autorbild, welches sich, wie gesehen, nicht nur aus Kenntnissen über den realen Autor speist, sondern auch durch Textsignale konturiert wird. Hierbei kann es vorkommen, dass der Autor über seine Intentionen öffentlich Auskunft erteilt, diese sich aber nicht mit den Intentionen vertragen, die der Leser dem impliziten Autor zuschreibt. Bezeichnenderweise wird den offiziellen Intentionen des Autors hierbei nicht immer der Vorrang eingeräumt – Claassen zufolge kann einerseits dessen Aufrichtigkeit infrage gestellt werden, während sich andererseits viele Autorinnen und Autoren selbst nicht über ihre ursprünglichen Intentionen im Klaren zu sein scheinen oder sie mit der Zeit – das heißt nachträglich – modifizieren.72 Vera Tobin macht außerdem darauf aufmerksam, dass der langwierige Produktionsprozess nacheinander von verschiedenen Intentionen geprägt sein kann, während sich die Intentionszuschreibungen des Lesers stets nur auf den fertiggestellten Gesamttext beziehen.73

|| nikationssituationen und -instanzen möglich wird, also etwa der systematischen Unterscheidung zwischen Erzähler und Autor. Dennoch sind alle diese Effekte und ihr Verständnis durch Leser, Zuhörer, Zuschauer nur möglich auf der Basis der selbstverständlich vorausgesetzten intentionalen Zuschreibungen.“ (Fotis Jannidis: Zur kommunikativen Intention. Anfänge. In: Im Rücken der Kulturen. Hg. v. Karl Eibl, Katja Mellmann und Rüdiger Zymner. Paderborn 2007. S. 185–204, hier S. 190.) 71 Begrifflich kann hierbei zwischen einem faktischen und einem hypothetischen Intentionalismus unterschieden werden. Letzterer „sucht nicht nach den von einer autoritativen Produktionsinstanz realisierten Intentionen, sondern versucht, die Bedeutungen zu ermitteln, die sich einem Text auf Basis von Text- und Kontextevidenzen zuschreiben lassen; der tatsächliche Wille des Autors spielt hier keine Rolle“ (Ralf Klausnitzer: Literaturwissenschaft. Begriffe, Verfahren, Arbeitstechniken. 2. Aufl. Berlin/Boston 2012, S. 276). Die Auffassung von Intention als Zuschreibungsphänomen stellt im Übrigen keine literaturwissenschaftliche Besonderheit dar, sondern gilt auch für die Alltagskommunikation, vgl. etwa Jannidis: Zur kommunikativen Intention, S. 190–191. 72 Vgl. Claassen: Author Representations in Literary Reading, S. 39. 73 „In order to read the narrative as a narrative, readers must act as if the communicative intentions behind the text are coherent. Yet a single work is often not – perhaps even usually not – a unified performance of just one person’s communicative intentions. For one thing, any extended narrative may be the work of several years. It is hard to imagine that an author’s intentions don’t shift over the course of that writing, and the order in which various parts were written is not at all visible to most readers.“ (Vera Tobin: Literary Joint Attention: Social Cognition and the Puzzles of Modernism. Univ.-Diss., University of Maryland, College Park 2008, S. 69–70, http://hdl.handle.net/1903/8059.)

122 | Mentale Modelle 3.2.1.3 Autor-Erzähler-Kongruenz Textinterne Anhaltspunkte für autorseitige Intentionen aufzuspüren stellt sich für die Leser als ein weitgehend intuitiver Vorgang dar, bei dem traditionelle literaturwissenschaftliche Analyseprinzipien und Interpretationstheorien nicht nur in den Hintergrund rücken, sondern oftmals harsch durchkreuzt werden: In einschlägiger literaturwissenschaftlicher Studienliteratur sowie in literaturwissenschaftlichen Proseminaren wird üblicherweise darauf hingewiesen, die Identifizierung von Autor und Erzähler „zeug[e] von einer unreflektierten Vorgehensweise und einem falschen Verständnis von Texten“74. Die Ansprüche, die mit einem wissenschaftlichen Umgang mit Texten einhergehen, gelten aber nicht gleichermaßen für das durchschnittliche Lesepublikum. Vielmehr gehört es zu den gewöhnlichsten Lektüreerfahrungen, dass das Autorbild und die Erzählerfigur eine mehr oder weniger große Schnittmenge an Personenmerkmalen aufweisen: „[R]eaders may commonly feel that many of the characteristics or traits of the narrator may also be shared by the author. Thus, it is appropriate to think of the reader’s representations of the author and narrator as overlapping.“75 Sofern ein hoher Grad an ‚Überlappung‘ vorliegt, können sich die mentalen Repräsentationen von Autor und Erzähler auch gegenseitig verstärken und anreichern.76 Auf der mentalen Ebene seiner Rezeption tritt der Leser dann in eine Kommunikation mit dem textinternen Erzähler: Readers treat the narrator as a conversational partner. […] Although readers can easily be aware of a distinction between the narrator and the implied author, and extratextual information about the historical author may sometimes be salient, we suggest that readers are typically and primarily concerned with identifying the message of the narrator, processed as if it were communicated to them. We suspect that most of the time, readers do not clearly distinguish the characteristics and intention of the narrator from that of the implied or historical author.77

Zwar wird hier der Erzähler mit dem Autor identifiziert, allerdings handelt es sich dabei nicht um eine pragmatische Identität im Sinne Genettes, der dieses Identitätsverhältnis als das entscheidende Kriterium für faktuales Erzählen ausweist.78 Vielmehr erfolgt lediglich eine Assimilation auf kognitiver Ebene, die ontologische Differenzen zwar unbeachtet lässt, nicht jedoch beseitigt. Einem Vorschlag

|| 74 Hans Krah: Einführung in die Literaturwissenschaft – Textanalyse. Kiel 2006, S. 191. 75 Bortolussi/Dixon: Psychonarratology, S. 74. 76 Vgl. Bortolussi/Dixon: Psychonarratology, S. 75. 77 Bortolussi/Dixon: Psychonarratology, S. 239. 78 Vgl. Gérard Genette: Fiktionale Erzählung, faktuale Erzählung. In: Ders.: Fiktion und Diktion. München 1992. S. 65–94, hier S. 88.

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Patrick Colm Hogans folgend ist daher statt von ‚Identität versus Nichtidentität‘ treffender von ‚Kongruenz versus Nichtkongruenz‘ zwischen Autor und Erzähler zu sprechen.79 Eine solche Autor-Erzähler-Kongruenz ist in der Regel autorseitig intendiert und kann daher auch leserseitig als Autorintention erkannt bzw. dem Autor als Intention unterstellt werden. Das Kongruenzverhältnis basiert somit nicht allein auf der Schnittmenge von textuell und paratextuell verfügbaren Autor- und Erzählermerkmalen, sondern kann sich auch maßgeblich durch autorbezogene Inferenzen des Lesers konstituieren, wobei dann ausgehend von Erzählermerkmalen ein dem Erzähler kongruentes Autorenbild geschaffen wird. Stellt sich der Leser den Erzähler als Konversationspartner vor, dann knüpft er daran auch die gegenseitige Verbindlichkeit der Einhaltung grundlegender pragmatischer Regeln des Kommunizierens: Da der Leser den Erzähler als Kommunikationsteilnehmer behandelt, muss er ihm bestimmte Eigenschaften zuschreiben – zum Beispiel, dass der Erzähler grundlegendes Wissen des Lesers teilt und Ähnlichkeiten mit ihm aufweist [...]. Leser versuchen, mit dem Erzähler zu kooperieren, und setzen ihr ganzes Wissen ein, um die Leerstellen, die der Erzähler hinterlassen hat, zu füllen. Der Leser unterstellt, dass der Erzähler mit ihm kooperiert (wie in einer realen Konversation); er nimmt zunächst an, dass die vermittelte Information relevant, widerspruchsfrei und richtig und es also möglich ist, plausible Schlussfolgerungen zu ziehen, und dass eine kohärente Geschichte erzählt wird […].80

Dies schließt freilich nicht aus, dass der Leser eines Besseren belehrt wird, weil der Erzähler sich in Widersprüche verstrickt oder relevante Informationen zurückhält und das Kooperationsprinzip somit – aus Sicht des Lesers – verletzt wird. Während solche Rezeptionseffekte in der Alltagskommunikation zu ernsthaften sozialen Problemen führen können, sind sie in der Literatur zumeist beabsichtigt, denn schließlich erlangen viele Texte gerade durch die Abweichung von gelingender Kommunikation ihren ästhetischen Reiz. In diesem Zuge wird der Leser jedoch zugleich auf eine vom Erzähler abweichende Produktionsinstanz verwiesen, die diesen ästhetischen Effekt verantwortet, nämlich auf den Autor. Aus diesen und anderen Gründen kann sich der Leser dazu veranlasst sehen, die mentalen Repräsentationen von Autor und Erzähler getrennt voneinander zu verarbeiten. Es ist demnach zwar einerseits psychologisch naheliegend, dass sich beide Instanzen auf kognitiver Ebene überlagern, jedoch geschieht dies nicht um jeden

|| 79 Vgl. Patrick Colm Hogan: Narrative Discourse. Authors and Narrators in Literature, Film, and Art. Columbus 2013, S. 31. 80 Wege: Wahrnehmung – Wiederholung – Vertikalität, S. 66.

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Preis – die Standardannahme der Kongruenz von Autor und Erzähler wird aufgegeben, sobald sich die Indizien dafür häufen, dass es der Intention des Autors entspricht, die Differenz zum Erzähler aufrechtzuerhalten. Indeed, there seems to be a general principle here. Readers seem to distinguish narrator/implied author/real author only to the degree that they diverge. Moreover, such readers judge them to diverge only when given reason to believe that they diverge. In other words, a basic principle of discursive interpretation is that the default assumption is congruence of narrator, implied author, and real author.81

Aus kognitionsnarratologischer Sicht handelt es sich folglich beim Erzähler in einem fiktionalen Werk nicht grundsätzlich um eine vom Autor zu unterscheidende Instanz.82 Vielmehr gilt das Prinzip der kognitiven Relevanz: nur wenn eine Unterscheidung zwischen Autor und Erzähler als relevant erscheint, wird der kognitive Mehraufwand betrieben, beide Instanzen getrennt voneinander zu verarbeiten und mental zu repräsentieren. Die kategoriale Trennung von Autor und Erzähler ist somit primär eine literaturwissenschaftliche Erfindung mit begrenzter Reichweite, denn „‚[n]ormales‘ Leseverhalten […] kommt nach wie vor ohne diese Unterscheidung aus oder trifft sie, wenn nötig, von Fall zu Fall intuitiv, ohne eine kunstontologische Begründung zu brauchen“83. 3.2.1.4 Leser-Adressaten-Kongruenz Laut Hogan gilt für die Seite der Rezeption dasselbe Prinzip wie für die Produktionsinstanzen: „In keeping with the general principles governing narrators and authors, one assumes a congruence of readers and narratees within stories unless one is given reason to distinguish them.“84 Damit wird auch auf der Rezeptionsseite die von klassischen literaturwissenschaftlichen Kommunikationsmodellen behauptete logische und ontologische Abgrenzung unterschiedlicher Kommunikationsebenen in einen kognitionswissenschaftlichen Kontext gestellt und kurzerhand unterlaufen. Obwohl ein fiktiver Erzähler seine Rede unmöglich an einen realen Leser adressieren kann, steht es letzterem offen, sich dennoch in die

|| 81 Hogan: Narrative Discourse, S. 31. 82 Vgl. auch Tilmann Köppe/Jan Stühring: Against Pan-Narrator Theories. In: Journal of Literary Semantics 40 (2011) H. 1, S. 59–80. 83 Vgl. Karl Eibl: „Wer hat das gesagt?“ Zur Anthropologie der Autorposition. In: Scientia Poetica 17 (2013) H. 1, S. 207–229, hier S. 224. 84 Hogan: Narrative Discourse, S. 43.

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Rolle des Adressaten zu begeben. Es können demnach prinzipiell zwei „Rezeptionshaltungen“85 voneinander unterschieden werden: Der reale Leser kann sich entweder selbst als Adressaten setzen und somit an der textinternen Kommunikation mit dem Erzähler imaginär partizipieren; oder aber er geht kritisch auf Distanz zu dieser Kommunikationsebene und bewahrt die Differenz zwischen sich und dem fiktiven Adressaten.86 Liegt eine Autor-Erzähler-Kongruenz vor, dann werden pragmatische Informationen wie common ground und Intention hauptsächlich über die Erzählinstanz mitgeteilt. Da sich der Leser in diesem Fall bereits auf eine Überschreitung der Kommunikationsebenen eingelassen hat, scheint sich parallel dazu die Leser-Adressaten-Kongruenz zu manifestieren – freilich nur unter der Bedingung, dass sie nicht durch gegensätzliche Signale unterlaufen wird. Die Regeln literarischer Kommunikation werden somit nicht etwa durch literaturwissenschaftliche Systeme vorgegeben, sondern spontan und anhand der jeweils vorherrschenden pragmatischen Kontextmerkmale aufgestellt.87 Indes stellen weder Autor-Erzähler-Kongruenz noch Leser-Adressaten-Kongruenz eine Bedingung für die Konstruktion und Verwendung von Kontextmodellen während der Literaturrezeption dar. Es kann jedoch angenommen werden, dass diese Kongruenzphänomene die Inanspruchnahme von Kontextmodellen und deren konstitutive Funktion im Rahmen der literarischen Kommunikation intensiviert. Damit wiederum kann auf der Ebene des Kontextmodells der Grad der Experientialität erhöht werden.

|| 85 Zipfel: Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität, S. 258. 86 Ganz ähnlich unterscheidet David Herman – in Anlehnung an ein Modell von Erving Goffman – zwischen dem Leser als Adressaten (addressee) und dem Leser als beteiligten Zuschauer (bystander) sowie als unbeteiligten Lauscher (eavesdropper), vgl. Herman: Basic Elements of Narrative, S. 41–42. 87 Alternativen zum klassischen Kommunikationsebenenmodell werden auch jenseits des kognitionswissenschaftlichen Bezugsrahmens ausprobiert: Statt vermeintliche ontologische Differenzen einzuebnen, konzipiert Teresa Hiergeist ein ‚Interaktionsmodell der Partizipation‘ und behauptet, es finde eine diagonale Kommunikation über die ontologischen Grenzen hinweg statt. Die prinzipielle Unterscheidung zwischen Autor und Erzähler bleibe somit erhalten, jedoch werde der Leser unmittelbar von der Erzählerrede affiziert und partizipiere daher an dessen Kommunikationssituation: „Die existierenden narrativen Kommunikationsmodelle ermöglichen die Beteiligung des Lesers nur in geringem Maße, da sie diesem lediglich die Funktion des Empfängers zuweisen. [...] Der Partizipationsgedanke erfordert eine offenere und dynamischere Auffassung von der Text-Leser-Interaktion: Er verortet den Rezipienten nicht auf einer Ebene mit dem Autor, sondern gegenüber von Figuren, der Handlung, dem Chronotopos und dem Erzähler.“ (Teresa Hiergeist: Erlesene Erlebnisse. Formen der Partizipation an narrativen Texten. Bielefeld 2014, S. 370.)

126 | Mentale Modelle 3.2.2 Experientielle Aspekte des Kontextmodells: Joint Attention Zwar konzentriert sich Caracciolo in seinen Arbeiten auf die Rezipientenseite, jedoch hält er Experientialität keineswegs für ein rein rezeptionsästhetisches Phänomen. Vielmehr greifen auch die Autorinnen und Autoren bei der Kreation ihrer literarischen Welten und im Akt des Erzählens auf ihren Erfahrungshintergrund zurück und vollziehen mentale Simulationen der von ihnen beschriebenen Ereignisse und Situationen – folglich geht auch der Schreibakt mit experientiellen Wirkungen einher. Für die Rezeptionsästhetik ist dieser Befund insofern von Bedeutung, als dass diese autorseitige Experientialität offenbar eine Bedingung für das experientielle Lektüreerlebnis des Lesers darstellt – vor dem Hintergrund eines common ground kann der Autor davon ausgehen, dass seine Erzählung für die Leser ähnliche experientielle Wirkungen entfaltet wie für ihn selbst: „[A]uthors direct readers to certain features of a storyworld, helping steer them to experiences similar to the authors’s own [...].“88 Zwar mag die Experientialität des Autors auf andere Art und Weise evoziert werden als die des Lesers und mit unterschiedlichen mentalen Simulationen einhergehen, aber beide setzten sich ‚erfahrungshaft‘ mit demselben Gegenstand auseinander – und diese Gemeinsamkeit wird Caracciolo zufolge durchaus von den Kommunikationspartnern wahrgenommen: „I do not deny that there are substantial differences between the experience of the author and the reader, since one is fundamentally creative and the other fundamentally recreative. And yet, both of them are imaginative experiences, and this suffices for a meeting of their minds to occur, for them to be jointly attending to the same scenes.“89 Mit dem Ausdruck „jointly attending“ verweist Caracciolo implizit auf die aus der Entwicklungspsychologie stammende Joint Attention-Theorie,90 der zufolge Kleinkinder zwischen dem neunten und zwölften Lebensmonat die Fähigkeit entwickeln, dem Fokus der Aufmerksamkeit einer anderen Person zu folgen und somit deren Erfahrungen zu teilen.91

|| 88 Caracciolo: On the Experientiality of Stories, S. 199. 89 Caracciolo: On the Experientiality of Stories, S. 214. 90 Eine explizite Bezugnahme auf diese Theorie findet sich unter anderem in Caracciolo: The Experientiality of Narrative, S. 42. 91 Vgl. etwa Michael Tomasello: Joint Attention as Social Cognition. In: Joint Attention. Its Origins and Role in Development. Hg. v. Chris Moore und Philip J. Dunham. Hillsdale (NJ)/Hove 1995. S. 103–130, sowie Colwyn Trevarthen: The Generation of Human Meaning: How Shared Experience Grows in Infancy. In: Joint attention. New Developments in Psychology, Philosophy of Mind, and Social Neuroscience. Hg. v. Axel Seemann. Cambridge (MA)/London 2011. S. 73– 113.

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Während dieses ausgiebig erforschte Verhaltensmerkmal zahlreiche alltagspsychologische und sozialkognitive Phänomene zu erklären vermag, bemüht sich die Kognitionsnarratologie inzwischen um eine Übertragung auf die literarische Kommunikation und erhofft sich dabei vor allem weitere Erkenntnisse über die Steuerung von Rezeptionsprozessen.92 So wie man im Alltag gemeinsam mit einer anderen Person seine Aufmerksamkeit auf einen beiderseits wahrnehmbaren Gegenstand richtet und auf diese Weise Erfahrungen teilt, könne auch das im literarischen Text Dargestellte als Gegenstand gemeinsamer – in diesem Fall mental simulierter – Erfahrung von Autor und Leser aufgefasst werden.93 Für die literaturwissenschaftliche Experientialitätstheorie spielt Joint Attention in mindestens94 zweifacher Hinsicht eine Rolle: Erstens stellt Joint Attention

|| 92 Zur Joint Attention in der literarischen Kommunikation vgl. einführend Stefanie Luther: Wahrnehmungskontexte und ihre ‚mentale‘ Verknüpfung. Welche Rolle spielt Joint Attention für das Verstehen literarischer Erzähltexte. In: Schlüsselkonzepte und Anwendungen der Kognitiven Literaturwissenschaft. Hg. v. Roman Mikuláš und Sophia Wege. Münster 2016. S. 165–184, sowie Gregory Currie: Narratives and Narrators. A Philosophy of Stories. Oxford/New York 2012, S. 86–108, und Vera Tobin: Literary Joint Attention, S. 69–70. 93 Während diese Gemeinsamkeitserfahrung bei einer synchronen und im besten Fall auch räumlich und perspektivisch geteilten Wahrnehmung – etwa beim gemeinsamen Schauen eines Fußballspiels – von den Beteiligten nicht nur bewusst als solche empfunden wird, sondern gegebenenfalls auch noch zelebriert und somit zusätzlich verstärkt werden kann, scheint diese soziale Dimension von Wahrnehmungsmomenten in einer zeitversetzten Gemeinsamkeit zweier oder mehrerer Individuen in den Hintergrund zu treten. Gleichwohl stellt ein Nacheinander der Gegenstandswahrnehmung – wie in Formen der ‚zerdehnten‘ Kommunikation – nicht grundsätzlich ein Hindernis für Joint Attention dar. So richtet sich etwa in einem Briefwechsel die Aufmerksamkeit beider Korrespondenten auf denselben Text und damit auf dieselben Gegenstände, Ereignisse oder Personen. Im Gegensatz zum Fußballspiel gibt hier das Genre sogar von vornherein die Intersubjektivität der Bezugnahme auf das beiderseitig Wahrnehmbare vor, denn die geteilte Aufmerksamkeit auf den Inhalt eines Briefs ist nicht zuletzt der Zweck dieses Mediums. Ähnlich verhält es sich mit der Literatur: Literarische Texte werden geschrieben, um gelesen zu werden, und die meisten Leser sind sich von vornherein darüber im Klaren, dass der Autor einen Fundus – fiktiver oder realer – Erfahrungen bereitstellt, um sie mit anderen zu teilen. Indes kann dieses pragmatische Potenzial auch bewusst vom Autor unterlaufen und die Wirkabsicht stattdessen deviationsästhetisch ausgerichtet sein – wofür es Beispiele vor allem in der klassischen modernen Literatur gibt, vgl. Vera Tobin: Joint Attention, To the Lighthouse, and Modernist Representations of Intersubjectivity. In: Textual Choices and Discourse Genres. Creating Meaning Through Form. Hg. v. Barbara Dancygier und José Sanders. Amsterdam 2010. S. 185–202. 94 Ein hier nicht weiter zu beachtender literaturwissenschaftlicher Anwendungsbereich der Joint-Attention-Theorie findet sich im Verhältnis der Rezipienten untereinander, etwa beim gemeinsamen Rezeptionserlebnis bei einer öffentlichen Lesung oder bei einer Filmvorführung – die gleichzeitige Nutzung desselben Mediums kann sich maßgeblich auf das Verständnis und Erleben der vermittelten Inhalte auswirken, vgl. Currie: Narratives and Narrators, S. 98. Vgl.

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grundsätzlich ein intersubjektives Erlebnis dar und weist insofern – noch ganz unabhängig vom Gegenstand der gemeinsamen Aufmerksamkeit – eine Erfahrungsqualität auf. In der literarischen Kommunikation besteht diese basale ‚Gemeinsamkeitserfahrung‘ in dem Bewusstsein, zusammen mit einer anderen real existierenden Person in ein Sprachhandlungsgeschehen involviert zu sein. Dieses Bewusstsein kann stärker oder schwächer ausfallen – dies hängt nicht zuletzt davon ab, wie gut es dem Leser gelingt, eine mentale Repräsentation des Autors zu generieren und sich mit diesem ‚Autorbild‘ auf einen common ground zu einigen. Während dies bei fremdkulturellen oder sich selbst in ihrem Werk verbergenden sowie bereits gestorbenen oder gänzlich anonymen Autorinnen und Autoren schwerfallen kann, können Gegenwartsautoren mit einem ähnlichen soziokulturellen Hintergrund in der Regel problemlos im Kontextmodell der Leser repräsentiert und somit als Joint Attention-Partner wahrgenommen werden – vollends sichergestellt werden kann dieser Vorgang durch eine Autor-ErzählerKongruenz sowie bei nichtfiktionalem Erzählen. Eine Leser-Adressaten-Kongruenz stellt wiederum optimale Bedingungen für die Vorstellung eines gemeinsamen Wahrnehmungsraums und die Aufmerksamkeitslenkung des Lesers dar. In solchen Umständen entfaltet bereits das Erlebnis der literarischen Kommunikation als solche besonders starke experientielle Wirkungen.95 Indes handelt es sich bei Joint Attention nicht um eine Erfahrung zweiten Grades, die unabhängig von der Erfahrung des gemeinsam wahrgenommenen Gegenstandes stattfindet, sondern vielmehr wird die Gegenstandswahrnehmung maßgeblich durch den kontextuellen Faktor des Joint Attention verändert. John Campbell zufolge wird unter den Umständen einer geteilten Aufmerksamkeit die experientielle Qualität der Gegenstandswahrnehmung gesteigert: Just as the object you see can be a constituent of your experience, so too it can be a constituent of your experience that the other person is, with you, jointly attending to the object. This is not to say that in a case of joint attention, the other person will be an object of your attention. On the contrary, it is only the object that you are attending to. It is rather that,

|| auch die Beispiele zur Joint Attention unter Lesern im Klassenraum und in Lesezirkeln in Tobin: Literary Joint Attention, S. 71–81. 95 Wohlgemerkt sind hiermit ausdrücklich nicht die medienspezifischen Merkmale von Literatur, wie etwa die haptischen, visuellen oder gegebenenfalls akustischen Erlebnisqualitäten gemeint, die schließlich ebenfalls einen lektürebegleitenden Erfahrungsbereich bilden. Da jedoch die medialen Merkmale und die jeweils aktuelle Lektüresituation des Lesers oder der Leserin in der Regel keinen Einfluss auf die Kontextmodellbildung ausüben, spielen diese Faktoren auch keine theoretisch nachvollziehbare Rolle für die Evokation von Experientialität im Sprachverarbeitungsprozess.

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when there is another person with whom you are jointly attending to the thing, the existence of that other person enters into the individuation of your experience. The other person is there, as co-attender, in the periphery of your experience.96

Eine getrennte kognitive Verarbeitung von geteilter Aufmerksamkeit und Gegenstandswahrnehmung wäre wohl auch zu aufwendig – statt eine gegenstandsbezogene Erfahrung und zusätzlich eine Intersubjektivitätserfahrung zu verarbeiten, wird die Gegenstandserfahrung als eine intersubjektiv geteilte Erfahrung interpretiert. Für die literaturwissenschaftliche Experientialitätstheorie spielt Joint Attention somit zweitens insofern eine Rolle, als dass vom experientiellen Gehalt auf der Kontextebene Rückschlüsse auf die experientiellen Aspekte im Sprachverstehensprozess gezogen werden können: Wenn der Leser über eine deutliche Vorstellung vom Autor verfügt, so kann er das Dargestellte zu ihm in Beziehung setzen, etwa indem er damit verbundene Intentionen erwägt. Vor allem aber kann er dann besser abschätzen, inwieweit der Autor selbst ein experientielles Verhältnis zu seinem eigenen Textprodukt unterhält. Die Annahme einer autorseitigen Experientialität kann unter den Vorzeichen von Joint Attention wiederum nur als Aufforderung an den Leser verstanden werden, seinerseits das Experientialitätspotenzial des Textes auszuschöpfen. Und nur wenn der Leser dieser Aufforderung folgt und mittels Situationsmodellbildung und mentalen Simulationen experientielle Wirkungen erzielt, kommt das Joint Attention-Erlebnis – die Erfahrung einer gemeinsamen Erfahrung – zustande. Caracciolo hat diese Verschränkung von Autor-Leser-Kommunikation und kognitiver Textverarbeitung ebenfalls gesehen und hervorgehoben: The idea behind my approach is that a meeting of minds between author and reader would not be possible without the reader’s recognition that there is a basic similarity between the author’s experience of the work and her own. […] [T]he way authors and readers experience a story is essentially similar, and […] there could be no dialogue between them if readers did not recognize this.97

Inwieweit sich der Leser auf das Joint-Attention-Angebot eines Textes einzulassen vermag, hängt sicherlich auch vom Spektrum seines individuellen Erfahrungshintergrundes ab. Aber das Kontextmodell hält zumindest schon einmal alle nötigen Anweisungen für ein experientiell gesteigertes Lektüreerlebnis bereit. Bei einer Experientialitätsanalyse auf der Situationsmodellebene sollte daher stets

|| 96 John Campbell: Joint Attention and Common Knowledge. In: Joint Attention: Communication and Other Minds. Issues in Philosophy and Psychology. Hg. v. Naomi Eilan, Christoph Hoerl, Teresa McCormack und Johannes Roessler. Oxford/New York 2005. S. 287–297, hier S. 288. 97 Caracciolo: On the Experientiality of Stories, S. 198.

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geprüft werden, inwieweit Sprachverstehensprozesse von pragmatischen Faktoren des kommunikativen Kontextes beeinflusst sein könnten und ob die experientiellen Wirkungen beim Leser durch Annahmen über die autorseitige Experientialität mitgeprägt werden.98

|| 98 Die Literaturwissenschaft verfügt bisher über keine Methoden oder auch nur Kriterien für eine Analyse auf dieser Ebene, nimmt aber zunehmend den Problembereich und damit in Verbindung stehende Phänomene zur Kenntnis. So macht etwa Gregory Currie darauf aufmerksam, dass der Leser die Stimmung des Erzählers nicht nur wahrnimmt, sondern in der Regel auch auf sich selbst überträgt: „We have a sense of the narrator’s mood, as expressed through his act of representation, and we quickly catch that mood ourselves; we need no specific, emotion-generating event in the story to create the mood.“ (Currie: Narratives and Narrators, S. 99.) Es handelt sich hierbei um ein intuitiv gesteuertes Intersubjektivitätsphänomen, das zwar sozialpsychologisch erklärt, aber kaum mit narratologischen Mitteln analysiert werden kann. Currie versucht, dies zu ändern, indem er den sozialpsychologischen Begriff der Imitation kognitionsnarratologisch aufbereitet, vgl. Currie: Narratives and Narrators, S. 100–106.

4 Zur kognitionsnarratologischen Experientialitätsanalyse der Enkelliteratur Die bisherigen Ausführungen zum literaturwissenschaftlichen Experientialitätsbegriff und zur Theorie mentaler Modelle werden im Folgenden für die Gattung der Enkelliteratur konkretisiert und zu einem gattungsspezifischen Analysemodell verdichtet. Dabei wird gezeigt, inwiefern die außerliterarischen Bedingungen des Erinnerns nach dem Tod der Zeitzeugen die Erzählweisen der Enkel prägen und umgekehrt ihre Erzählweisen als kreative Reaktion auf die aktuellen erinnerungskulturellen Umstände verstanden werden können. Da dieser Gesellschaftsbezug von Autor und Leser gemeinsam hergestellt wird, kann von der kognitionsnarratologischen Textanalyse auf übergreifende erinnerungskulturelle Funktionen der Enkelliteratur geschlossen werden. Bezugnehmend auf Caracciolos Heuristik werden dabei Faktoren in den Blick genommen, die das experientielle Wirkungspotenzial auf der Rezipientenseite beeinflussen.

4.1 Erinnerungskultureller Kontext Kognitionswissenschaftlich gesehen handelt es sich bei Kontexten nicht um objektiv beschreibbare soziokulturelle Realitäten in all ihrer Komplexität, sondern um die subjektiven Interpretationen dessen, was Individuen innerhalb ihrer Lebensumwelt jeweils als relevant erachten.1 Welche Kontextmerkmale der Einzelne in Hinblick auf die kognitive Verarbeitung seiner Umweltwahrnehmung als relevant erachtet und somit wahrnehmungsbegleitend mental repräsentiert, hängt von zahlreichen individuellen Faktoren ab, die sich von außen nur begrenzt nachvollziehen lassen.2 Ein etwas anders gearteter Fall liegt vor, wenn es

|| 1 Vgl. van Dijk: Discourse, Context and Cognition, S. 163. 2 Das methodische Problem der empirischen Forschung besteht darin, dass sich der Kontext eines wahrnehmenden Subjekts ändert, sobald es unter Beobachtung steht. Jedenfalls ist es in der Praxis kaum möglich, dass Probanden vom Kontext des Beobachtetwerdens abstrahieren: „The […] context of situation for many discourse analyses is that of quasivoluntary participation in experiments on production, perception, interpretation, recall, and so on of discourse variables. Caution is required if experimenters move to generalize findings to other discourse situations.“ (Allen D. Grimshaw: Genres, Registers, and Contexts of Discourse. In: Handbook of Discourse Processes. Hg. v. Arthur C. Graesser, Morton Ann Gernsbacher und Susan R. Goldman. Mahwah [NJ] 2003. S. 25–82, hier S. 36.) Siehe hierzu auch Kapitel 1.5.2. https://doi.org/10.1515/9783110673968-004

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sich beim Kontext nicht um den eines individuellen Wahrnehmungsaktes handelt, sondern um eine Kommunikationssituation und somit um den Kontext einer gemeinsamen Wahrnehmung desselben Gegenstandes. Die Kontextmodelle der Kommunikationsteilnehmer bestehen hierbei größtenteils aus intersubjektiv verfügbaren und zugleich beiderseits als wechselseitig verfügbar angenommen Kontextmerkmalen – auf diese intersubjektive Ausrichtung der Kontextmodellbildung macht auch van Dijk aufmerksam: Although contexts are unique, subjective definitions of communicative situations, their structures and construction obviously have a social basis, for instance in terms of the shared social cognitions (knowledge, attitudes, ideologies, grammar, rules, norms and values) of a discourse community, as is also the case for the schematic categories that define the possible structures of contexts. This means that contexts also have an important intersubjective dimension that allows social interaction and communication in the first place.3

Diese Annahmen über die intersubjektiven Gemeinsamkeiten innerhalb einer Kommunikationssituation können in manchen Fällen ebenfalls sehr umfangreich und schwer durchschaubar sein – etwa in der Kommunikation zweier Lebenspartner, deren common ground in der Regel ausgesprochen voraussetzungsreich ist. In der literarischen Kommunikation jedoch weist der common ground einen hohen Allgemeinheitsgrad auf und lässt sich daher auch aus der Forschungsperspektive relativ genau rekonstruieren. Eine solche Rekonstruktion ließe sich für jeden Text der Enkelliteratur einzeln vornehmen. Das Erkenntnisinteresse der vorliegenden Arbeit richtet sich jedoch vornehmlich auf jene Kontextmerkmale, die in allen Produktionen und Rezeptionen von Enkeltexten auftauchen. Während die Einzellektüren jeweils spezifische Konstruktionen von ‚Autorbildern‘ erfordern und die Zuschreibung von Autorintentionen sowie die Annahmen über gemeinsames Wissen in der Regel nicht unverändert auf andere Texte übertragbar sind, werden andere Kontextmerkmale bei der Lektüre aller Texte der Enkelliteratur mental repräsentiert und bilden daher ein gattungsspezifisches Kontextmodell. Dieses literaturwissenschaftliche Konstrukt weist zwar eine wesentlich geringere Komplexität auf als der in den einzelnen Lektüren tatsächlich mental repräsentierte Kontext, jedoch ist es deshalb nicht auf einen bloß heuristischen Wert zu reduzieren. Denn wenngleich im Folgenden nur Kontextmerkmale von relativ hoher – nämlich die Gattung umfassender – Allgemeinheit berücksichtigt werden, so handelt es sich hierbei doch noch immer um tatsächliche lektürebegleitende mentale Repräsentationen der Leserinnen und Leser, denen – ganz unabhängig von den übrigen

|| 3 Van Dijk: Discourse and Context, S. 17.

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kontextuellen Einflüssen – konkrete Funktionen im Verstehensprozess zugeschrieben werden können. Dies wird deutlicher, wenn man spezifische und allgemeine Merkmale von Kontextmodellen als ein Verhältnis von Mikro- und Makrostrukturen konzipiert – van Dijk führt hierzu folgendes Beispiel an: [L]anguage users may represent at the same time the current, local situation and its components (such as teaching a specific class today, responding to a question), and at the same time various higher levels of which the current action and situation is a constituent (teaching this class this semester, teaching at this university).4

Ähnlich kann auch die literaturwissenschaftliche Kontextanalyse auf unterschiedlichen Ebenen vorgenommen werden: Die allgemeinste Ebene enthält grundlegendes Wissen über das Literatursystem als solches, welches den Kontextmodellen sämtlicher Teilnehmerinnen und Teilnehmer an literarischen Kommunikationen makroschematisch zugrunde liegt5 – aus Sicht der Rezipienten gründet darin das die Lektüre begleitende Bewusstsein, dass der Text von einem Autor oder einer Autorin geschrieben worden und nach einigen Zwischenstationen (Vervielfältigung, Distribution, Verkauf etc.) über literaturvermittelnde Institutionen (Verlag, Literaturkritik, Buchhandel etc.) zu ihnen und anderen gelangt ist. Ebenfalls Bestandteil eines jeden literaturspezifischen Kontextmodells sind Gattungskonventionen, denn literarische Kommunikation gelingt in der Regel nur unter der Voraussetzung, beispielsweise einen Roman von einer Autobiografie unterscheiden zu können und an die Lektüre eines Liebesromans andere Erwartungen zu richten als an die eines Krimis. Eine Kontextanalyse zur Enkelliteratur geht weiter ins Detail und forscht speziell nach jenen Kontextmerkmalen, die wechselseitig vorausgesetzt und mental repräsentiert werden müssen, damit die über die Enkeltexte hergestellte literarische Kommunikation gelingt. Um hierbei einen Bezug zur gesamten Gattung im Blick zu behalten, muss von den individuellen Biografien der einzelnen Autorinnen und Autoren ebenso abstrahiert werden wie von den konkreten historischen Ereignissen und familiengeschichtlichen Themen, die sie in ihren Texten verhandeln. Was dabei übrig bleibt, sind – neben dem allgemeinen Wissen über das Literatursystem und Gattungskonventionen – unter anderem Generationenschemata und Kenntnisse über öffentliche Generationendiskurse, Erfahrungen mit

|| 4 Van Dijk: Discourse and Context, S. 74. 5 Auch Claassen zufolge fungiert das Literatursystem innerhalb eines Kontextmodells als „overall category that controls all other category information“ (Claassen: Author Representations in Literary Reading, S. 57).

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dem Sterben von Zeitzeugen und damit einhergehenden Problemen bei der Weitergabe von Familiengeschichte sowie basale Kenntnisse über erinnerungskulturelle Debatten und über die NS-Zeit. Diese gemeinsame erinnerungskulturelle Prägung von Autoren und Lesern der Enkelliteratur basiert einerseits auf einem gemeinsamen soziokulturellen Erfahrungsraum des Erinnerns und Gedenkens. Dieser zeigt zugleich einen verbindlichen Wertekanon an, der vielleicht nicht von jedem auf die gleiche Weise mitgetragen wird, aber zumindest als allgemein bekannt vorausgesetzt und somit als kollektiver Maßstab für den Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit herangezogen werden kann. Andererseits ist der erinnerungskulturelle Kontext von Autoren und Lesern meistens auch durch ähnliche private Erfahrungen geprägt: Infolge des Sterbens von Zeitzeugen innerhalb ihrer Familien sind sie sowohl in handlungspraktischer als auch in emotionaler Hinsicht mit den Problemen im Umgang mit dem geschichtsträchtigen Erbe ihrer Vorfahren vertraut. So individuell und unvergleichbar die einzelnen Familiengeschichten auch sein mögen, stellt doch zumindest die Entscheidungsfindung zwischen dem Sichten und Bewahren auf der einen und dem Wegwerfen auf der anderen Seite eine gemeinsame Erfahrung fast aller Nachfahren – sowohl von Opfern als auch von Tätern und Mitläufern – dar. Generell werden die Nachkommen – bewusst oder unbewusst – mit der Frage konfrontiert, ob man sich Einblicke in das Leben des verstorbenen Familienmitglieds verschaffen darf und inwieweit dabei Gefahr besteht, eingeprägte Vorstellungen von dieser Person postum korrigieren zu müssen. Solche Wissensbestände und Deutungsmuster gelten gesamtgesellschaftlich als common ground und können daher von den Autorinnen und Autoren der deutschsprachigen Erinnerungsliteratur präsupponiert und von ihren Leserinnen und Lesern inferenziell ergänzt werden.6 Neben diesen thematischen Elementen der Erinnerungsliteratur sind auch die textinternen Vermittlungstechniken bis zu einem gewissen Grad verallgemeinerbar: Statt Geschichte bloß auf semantischer Ebene und somit ‚monumentalisierend‘ zur Darstellung zu bringen, wird sie in Transformationsprozesse eingebettet. Dabei wird sie in einen ‚erfahrungshaften‘ Kontext gestellt, denn da die nachgeborenen Erzähler nur in vermittelter Form auf die Geschichte des Nationalsozialismus zugreifen können, sind sie denselben Erfahrungsbedingungen unterworfen wie die (ebenfalls nachgeborenen)

|| 6 Für eine gelingende literarische Kommunikation muss freilich auch wechselseitig angenommen werden, dass die Auseinandersetzung mit Familiengeschichte und das Bewahren historischer Erfahrungen prinzipiell zweckmäßig und erinnerungskulturell wertvoll ist – nur unter dieser Bedingung kann die Rechercheleistung der Autorinnen und Autoren leserseitig als sinnvolles Unternehmen anerkannt und dessen öffentliche Mitteilung als relevant eingeschätzt werden.

Dreigenerationenschema | 135

Leser. Auf diese Weise wird der kommunikative Austausch gefördert und der historische Gegenstand den gegenwärtigen Erinnerungsbedürfnissen angepasst. Aufgrund dieser Merkmale erfüllt die Enkelliteratur die Anforderungen einer experientiellen Erinnerungskultur (siehe Kapitel 2.3).

4.2 Dreigenerationenschema Aus den Merkmalen einer ‚natürlichen‘ Generationenfolge innerhalb von Familien lassen sich Varianten der ‚natürlichen‘ transgenerationalen Weitergabe von historischen Erfahrungen der Großeltern an die Enkel ableiten. Die folgende schematische Darstellung zeigt vier typische Generationenkonstellationen, wie sie üblicherweise – hier von rechts nach links gelesen – nacheinander auftreten:

Abb. 1: Grundschema 1

Die erste Spalte umfasst den Zeitraum nach dem Tod des Zeitzeugen – daher befindet sich auf der Ebene der ‚ersten Generation‘ (I) eine Negativmarkierung. In den meisten Familien geht dem Ableben der Großeltern eine Zeit voraus, in der alle drei Generationen gleichzeitig leben und die Enkel somit einen gemeinsamen Erfahrungsraum mit ihren Großeltern teilen – dies wird durch die dreifache Positivmarkierung in der Spalte B1 angezeigt. Die Konstellation B2 hingegen fällt in eine Zeit, in der die Enkel entweder noch nicht geboren oder zumindest noch nicht in die Verwaltung des Familiengedächtnisses involviert waren, weshalb hier das Feld für die ‚dritte Generation‘ (III) negativ markiert ist. Der Zeitabschnitt C bezeichnet den der Zeitzeugengeneration vorbehaltenen Erfahrungsbereich, der noch vor der Geburt oder in der frühen Kindheit der Vertreter der ‚zweiten Generation‘ liegt. Die in dieser Spalte positiv markierte Zelle zeigt an, dass

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nur die Zeitzeugen selbst Auskunft geben können über ihre historischen Erfahrungen während der NS-Zeit.7 Um von diesen historischen Erfahrungen Kenntnis zu erlangen, können die (auf der Zeitebene A zu verortenden) Erzählerinnen und Erzähler ihre Großeltern nicht mehr selbst befragen. Sie können sich aber daran erinnern, was ihnen ihre Großeltern noch zu Lebzeiten erzählt haben – diese Variante der Geschichtsvermittlung wird in dem Dreigenerationenschema als gestrichelter Pfeil dargestellt. Dessen horizontale Abschnitte verweisen auf Prozesse des Erinnerns (hier sowohl in der ‚ersten‘ als auch in der ‚dritten Generation‘); die Vertikale hingegen steht für den Akt des Erzählens (hier zwischen ‚erster‘ und ‚dritter Generation‘). Auf diesen beiden Achsen – der des Erinnerns (horizontal) und der des Erzählens (vertikal) – verlaufen die innerfamiliären Transmissionen. Sie bilden auch die Grundoperationen der zweiten, als gepunkteter Pfeil ins Dreigenerationenschema eingezeichneten Vermittlungsvariante: In der Gegenwart (A) berichtet ein Vertreter der ‚zweiten Generation‘ von einem vergangenen (im Zeitraum B2 geführten) Gespräch mit dem Zeitzeugen über dessen historische Erfahrungen. Diese beiden Vermittlungsvarianten sind nicht die einzigen, aber die am häufigsten auftretenden. Sie lassen sich in linearer Schreibweise wie folgt wiedergeben: – gestrichelter Pfeil: AIII−B1III=B1I−CI – gepunkteter Pfeil: AIII=AII−B2II=B2I−CI Die am Vermittlungsgeschehen beteiligten Stationen werden hier jeweils durch eine Zeitangabe (A, B1, B2, C) und die Generationszugehörigkeit (I, II, III) gekennzeichnet und sind identisch mit den von den Pfeilen berührten Feldern. Auch deren Verknüpfungen über die Achsen des Erinnerns und Erzählens werden in der linearen Schreibweise berücksichtigt: Das Minuszeichen zeigt einen Erinnerungsakt, das Gleichheitszeichen einen Erzählakt an.8

|| 7 Als eine Art kognitives Werkzeug kommt dieses Schema der innerfamiliären Generationenfolge nicht nur in Bezug auf die NS-Zeit zum Einsatz, sondern wird auch in völlig anderen Funktionszusammenhängen konstruiert bzw. abgerufen. So zeigen etwa Astrid von Friesen und Gerhard Wilke in einer Studie über Generationenwechsel, „wie das Drei-Generations-Prinzip offen oder versteckt in fast allen gesellschaftlichen Lebenszusammenhängen wirkt und den Lauf der Dinge beeinflusst“ (Astrid von Friesen/Gerhard Wilke: Generationen-Wechsel: Normalität, Chance oder Konflikt? Für Familien, Therapeuten, Manager und Politiker. Berlin 2016, S. 1). 8 Während in der mittels Pfeilen visualisierten Darstellungsform die Informationsweitergabe chronologisch abgebildet wird, beginnt die lineare Schreibweise bei der Gegenwart der ‚dritten

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Für die Bildung solcher Formeln gibt es zwei Regeln: Erstens können nur Felder miteinander verknüpft werden, die positiv markiert sind; und zweitens sind Verknüpfungen nur entlang der horizontalen und vertikalen Achsen (des Erinnerns und Erzählens) möglich. Folglich lassen sich über die beiden oben genannten Vermittlungswege hinaus prinzipiell noch weitere Varianten herleiten9 – vorerst jedoch genügt eine Beschränkung auf die beiden hier vorgestellten Standardfälle. Diese werden (der besseren Lesbarkeit wegen) im Folgenden auch als ‚direkte‘ und ‚indirekte‘ Überlieferung bezeichnet: direkt ist die Überlieferung beim kommunikativen Kontakt zwischen ‚erster‘ und ‚dritter Generation‘ (AIII−B1III=B1I−CI); die indirekte Überlieferung hingegen ist über die ‚zweite Generation‘ vermittelt (AIII=AII−B2II=B2I−CI). Zum Kontextmodell der Enkelliteratur gehören sowohl die in Kapitel 4.1 skizzierten allgemeinen – von Autoren und Lesern geteilten – erinnerungskulturellen Erfahrungen und Wertvorstellungen als auch die hier anhand des Dreigenerationenschemas ermittelten Möglichkeiten der transgenerationalen Weitergabe historischer Erfahrungen. Diese beiden Kontextbereiche entsprechen in etwa der traditionellen narratologischen Dichotomie von Erzähltem (histoire) und Erzählen (discours): Das aus privaten und gesellschaftlichen Erfahrungskontexten gewonnene Wissen über erinnerungskulturelle Medien und Praktiken sowie daran geknüpfte Wertvorstellungen und Diskurse werden thematisch gegenseitig (als mutual knowledge) vorausgesetzt und können daher von den Lesern inferenziell in den Verstehensprozess eingebracht werden. Die vom Dreigenerationenschema vorgegebenen Vermittlungsmöglichkeiten hingegen können auf der Ebene der Erzählweise präsupponiert werden und müssen von den Lesern lediglich als kontextrelevant erkannt werden, um den Erzähltext insgesamt ‚naturalisieren‘ zu können. Das heißt, die ‚Naturalisierung‘ eines Textes der Enkelliteratur erfolgt stets durch die Aktivierung des Dreigenerationenschemas und der darin codier-

|| Generation‘ und somit beim Ausgangspunkt der Recherche. Auch die zeitlich umgekehrte Anordnung der Spalten im Modell des Dreigenerationenschemas versucht den Fokus auf die Gegenwartsebene zu richten. 9 Neben diesen beiden Standardfällen können vor dem Hintergrund des Dreigenerationenschemas auch die Kombinationen AIII−B1III=B1II−B2II=B2I−CI und AIII=AII−B1II=B1I−CI verarbeitet werden. Diese eher umständlichen Vermittlungswege treten unter anderem dann auf, wenn keine uneingeschränkte Offenheit gegenüber allen verfügbaren Familienmitgliedern herrscht oder sonstige Faktoren die innerfamiliäre Kommunikation stören. Ähnlich verhält es sich mit der Alternative AIII−B1III=B1II=B1I−CI, in der ein Zeitzeuge der anwesenden ‚dritten Generation‘ etwas vorenthält, was diese jedoch über den Umweg der ‚zweiten Generation‘ erfährt (ein solcher Fall wird in Kapitel 5.2 besprochen).

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ten innerfamiliären Möglichkeiten einer transgenerationalen Weitergabe historischer Erfahrungen. Folglich müssen die Enkelerzähler nicht durchgängig ihre Recherchewege explizit ausweisen, denn schließlich kann der Leser diese mithilfe des Dreigenerationenschemas inferenziell ergänzen. Zu dessen Aktivierung muss er freilich erst einmal motiviert und zu seiner Aufrechterhaltung und Verwendung als übergreifende Interpretationsgrundlage angeleitet werden. Folglich ‚verbietet‘ es sich in der Enkelliteratur, auf die Darstellungsprivilegien des historischen Romans zurückzugreifen bzw. sich den autoritativen Gestus des Geschichtsschreibers anzueignen und das Historische tendenziell unvermittelt und geschehensnah zu präsentieren. Stattdessen zeichnet sich die Gattung dadurch aus, dass sich die Enkelerzähler auch dem Überlieferungsgeschehen in der ‚Zwischenzeit‘ (B) und der eigenen Gegenwart (A) widmen und dabei die Möglichkeiten und Probleme der transgenerationalen Vermittlung reflektieren. Diese erzähllogischen Rahmenbedingungen der Enkelliteratur werden im folgenden Kapitel mithilfe der Metarepräsentationstheorie verdeutlicht.

4.3 Metarepräsentationsanalyse In Anlehnung an Cullers Naturalisierungskonzept (siehe Kapitel 2.1.2) kann gesagt werden, dass der außerliterarische Kontext den Maßstab für das ‚Natürliche‘ bildet, während die literarische Erzählung unter Verwendung eines geeigneten Kontextmodells diesem Kontext angepasst und auf diese Weise ‚naturalisiert‘ wird. Erst infolge der ‚Naturalisierung‘ kann Literatur überhaupt als Kommunikation wahrgenommen werden und – im Falle von Erinnerungsliteratur – erinnerungskulturelle Wirkungen entfalten. Dieser rezeptionsästhetische Akt der ‚Naturalisierung‘ kann mehr oder weniger aufwendig sein oder auch gänzlich misslingen – dies hängt einerseits von den Naturalisierungskompetenzen des Lesers, aber andererseits auch maßgeblich von der narrativen Gestalt des Textes ab.10 Ein hohes Kommunikationspotenzial erreichen Texte, die nicht nur explizit ihren eigenen Kommunikationskontext ausweisen, sondern diesen auch fortdauernd durch die Wahl ihrer narrativen und sprachlichen Mittel bestätigen. In der Enkelliteratur wird eine solche dauerhafte Konformität mit dem Kontext vor

|| 10 Bei Texten mit geringem Naturalisierungsangebot wird die Aufmerksamkeit der Leser entweder auf die künstlerischen Qualitäten der Darstellung oder aber auf den bloßen Informationsgehalt gelenkt – da mentale Autorrepräsentationen hierbei zumeist verzichtbar sind, wird in diesen Fällen in der Regel kein Kontextmodell gebildet.

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allem dadurch sichergestellt, dass die Vermittlungsebenen des Dreigenerationenschemas in Form von metarepräsentationalen Erzählstrukturen in den Text eingehen, die wiederum leserseitig vor dem Hintergrund des Dreigenerationenschemas interpretiert werden können.

4.3.1 Metarepräsentationstheorie Während der Repräsentationsbegriff bei der Beschreibung kognitiver Rezeptionsprozesse stets ein Phänomen auf der mentalen Ebene bezeichnet, spielen im Rahmen der Metarepräsentationstheorie auch die Repräsentationsfunktionen sprachlicher Äußerungen eine Rolle: Sachverhalte und Situationen können in sprachliche Zeichen übersetzt und anderen mitgeteilt werden. Während mentale Repräsentationen dem einzelnen denkenden Individuum vorbehalten bleiben, sind gegenüber anderen Personen geäußerte mündliche oder schriftliche Sätze öffentlich zugänglich – daher unterscheidet man zwischen mental und public representations.11 Beide Repräsentationstypen können Sachverhalte und Objekte jeglicher Art zum Inhalt haben – ein besonderer Fall liegt jedoch dann vor, wenn es sich bei dem Inhalt selbst um eine Repräsentation handelt: Eine solche Repräsentation einer Repräsentation bezeichnet man als ‚Metarepräsentation‘12. Aufgrund der Unterscheidung zwischen mentalen und ‚publiken‘13 Repräsentationen ergeben sich vier Basiskategorien der Metarepräsentation: Mental representations of mental representations (e.g., the thought „John believes that it will rain“), mental representations of public representations (e.g., the thought „John said that it will rain“), public representations of mental representations (e.g., the utterance

|| 11 Vgl. Dan Sperber: Anthropology and Psychology: Towards an Epidemiology of Representations. In: Man 20 (1985) H. 1, S. 73–89, hier S. 77. Eine alternative Terminologie unterscheidet zwischen internen und externen Repräsentationen, vgl. Vosgerau et al.: Repräsentation, S. 386. Prinzipiell geht es um eine begriffliche Unterscheidung zwischen dem rein kognitiven Phänomen des Repräsentierens und der sprachlich oder anderweitig mediengestützten Materialisierung einer Repräsentation. Zum Beispiel wird im ersten Fall der Sachverhalt, dass es regnet, als Vorstellung oder Erinnerung eines Subjekts abgebildet, während derselbe Sachverhalt im zweiten Fall mittels einer (mündlichen oder schriftlichen) Äußerung, einer Filmaufnahme oder eines Radarbildes wiedergegeben wird. 12 Dieser Begriff wird erstmals verwendet von Zenon W. Pylyshyn: When is Attribution of Beliefs Justified? In: The Behavioral and Brain Sciences 1 (1978) H. 4, S. 592–593. 13 In Ermangelung einer geeigneteren Übersetzung steht die deutsche Entsprechung dieses Begriffs nachfolgend in Anführungszeichen.

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„John believes that it will rain“), and public representations of public representations (e.g., the utterance „John said that it will rain“) are four main categories of metarepresentation.14

Derartige Metaisierungen sind nicht auf zwei Ebenen beschränkt, sondern lassen sich prinzipiell unbegrenzt fortsetzen, wobei beide Repräsentationstypen beliebig miteinander verkettet werden können. In Erweiterung von Sperbers Beispiel wäre auch folgende Metarepräsentationsstruktur möglich: (1) Peter erinnert sich, (2) dass Maria sagte, (3) dass John sagte, (4) es werde regnen. Die Proposition (4) bezeichnet einen Sachverhalt, der von drei Repräsentationsebenen überlagert wird, wobei es sich bei der Proposition (3) um eine ‚publike‘ Repräsentation und bei der Proposition (2) um eine ‚publike‘ Metarepräsentation handelt. Diese Metarepräsentation wird schließlich ihrerseits durch den in der Proposition (1) bezeichneten Erinnerungsakt mental repräsentiert bzw. metarepräsentiert.15 Die in der Forschung übliche, durch Einrückungen graphisch veranschaulichende Schreibweise erfüllt vor allem dann ihren Zweck, wenn dieselbe Repräsentationsinstanz verschiedene Repräsentationen vornimmt: (1) Peter erinnert sich, (2) dass Maria sagte, (3) dass John sagte, (4) es werde regnen, (5) und dass sie vermute, (6) John werde nicht kommen. Dieses Beispiel weist dieselbe metarepräsentationale Komplexität auf wie das vorherige, nur dass auf der syntagmatischen Achse des Textes zwei weitere Ebenenwechsel vorgenommen werden, indem in der Proposition (6) ein weiterer

|| 14 Dan Sperber: Introduction. In: Metarepresentations. A Multidisciplinary Perspective. Hg. v. dems. Oxford/New York 2000. S. 3–13, hier S. 3. 15 Diese Repräsentation auf dritter Stufe wäre in terminologischer Konsequenz als Meta-Metarepräsentation zu bezeichnen. Da diese Begriffsbildungslogik jedoch kaum zu einer besseren Übersichtlichkeit beiträgt, wird auch oberhalb der zweiten Repräsentationsebene schlichtweg von Metarepräsentationen gesprochen.

Metarepräsentationsanalyse | 141

Sachverhalt angeführt wird, der ebenfalls von Maria ‚publik‘ metarepräsentiert wird (2). Auffällig ist hier allerdings, dass auf der untersten Repräsentationsebene sowohl der Repräsentationstyp als auch die Repräsentationsinstanz wechselt: Während der Satz (3) eine ‚publike‘ Repräsentation von John bezeichnet, handelt es sich bei Satz (5) um eine mentale Repräsentation Marias. Eine Aufschlüsselung der metarepräsentationalen Struktur fällt in diesen Beispielen leicht, da die Repräsentationsebenen klar durch verba dicendi und verba cogitandi voneinander zu unterscheiden sind. In alltäglichen Kommunikationssituationen hingegen werden manche Repräsentationsebenen gar nicht erst angesprochen, sondern von vornherein wechselseitig vorausgesetzt und müssen daher inferiert werden. Ob und in welcher Weise eine Information in eine Metarepräsentationsstruktur eingebettet werden muss, zeigt somit einerseits der kommunikative Kontext bzw. das mentale Kontextmodell an. Andererseits können Signale für metarepräsentationale Einbettungen zu einem früheren Zeitpunkt explizit gegeben worden sein und für einen mehr oder weniger langen Textabschnitt Gültigkeit beanspruchen, ohne dass wiederholt darauf aufmerksam gemacht wird. Denn Metarepräsentationsstrukturen kennzeichnen nicht lediglich die Semantik einzelner Sätze, sondern bilden vielmehr eine relativ stabile Struktur im Arbeitsgedächtnis der Sprachnutzer, an der solange festgehalten wird, wie es sich für die Informationsverarbeitung als günstig erweist und solange keine Widersprüche auftreten, die eine Modifikation erforderlich machen.

4.3.2 Literarische Metarepräsentationen Die verschiedenen – psychologischen, evolutionsbiologischen und semiotischen – Aspekte von Metarepräsentationen werden in zahlreichen Disziplinen erforscht: „Images representing images, language about language and languageuse, thoughts about thoughts – metarepresentation is a fascinating theme within such diverse areas of research as philosophy, literature, theology, anthropology, neuroscience, psychology and linguistics.“16 Obwohl auch die Kognitive Literaturwissenschaft inzwischen auf die Metarepräsentationstheorie aufmerksam geworden ist,17 ist deren Potenzial für die kognitionsnarratologische Textanalyse

|| 16 Barend van Heusden/Wolfgang Wildgen: Introduction. In: Metarepresentation, Self-Organization and Art. Hg. v. dens. Bern 2009. S. 7–12, hier S. 8. 17 Vgl. zuletzt Hartner: Perspektivische Interaktion im Roman, S. 115–121, und Wege: Wahrnehmung – Wiederholung – Vertikalität, S. 88–92.

142 | Zur kognitionsnarratologischen Experientialitätsanalyse der Enkelliteratur

bisher kaum genutzt worden – eine Ausnahme bildet eine viel beachtete Monografie von Lisa Zunshine, die unter anderem das narratologische Konzept des ‚unzuverlässigen Erzählers‘ mithilfe der Metarepräsentationstheorie erklärt.18 Der literaturwissenschaftliche Nutzen der Metarepräsentationstheorie hängt auch von der Beschaffenheit der Texte ab, deren Rezeption man auf kognitiver Ebene zu erklären versucht, denn literarische Texte können in unterschiedlicher Komplexität die metarepräsentationalen Fähigkeiten der Leser in Anspruch nehmen: „[S]ome authors clearly invest more of their energy into exploiting this ability than others. Indeed, we can speak of several overlapping and yet distinct literary traditions built around such exaggerated engagements with our metarepresentational capacity.“19 Indes sollte auch nicht der Eindruck entstehen, bei metarepräsentationalen Textstrukturen handle es sich um ein literarisches Phänomen jüngeren Datums oder bestimmter Gattungen – schon bei Homer finden sich komplexe metarepräsentationale Strukturen, wie Brian Boyd anmerkt.20 Um metarepräsentationale Strukturen in Texten aufzuzeigen, kann an die in der Forschung übliche Darstellung in Form von Einrückungen angeknüpft werden. Der zu repräsentierende Gegenstand steht hierbei ganz unten, während darüber prinzipiell unbegrenzt viele Repräsentationsebenen geschichtet werden können – das folgende Schema zeigt eine textinterne mentale Repräsentation eines Sachverhalts oder einer Situation: Ebene 1

A glaubt, dass

Text Situation x

Eine textinterne Metarepräsentation liegt erst dann vor, wenn die Ebene der Repräsentation ihrerseits repräsentiert wird – im folgenden Beispiel durch eine Äußerung:

|| 18 Vgl. Zunshine: Why We Read Fiction. Eine weitere nennenswerte literaturwissenschaftliche Anwendung unternimmt Stefan Iversen, der sich vor dem Hintergrund der Metarepräsentationstheorie mit der klassischen narratologischen Frage ‚Who speaks?‘ beschäftigt, vgl. Stefan Iversen: States of Exception: Decoupling, Metarepresentation, and Strange Voices in Narrative Fiction. In: Strange Voices in Narrative Fiction. Hg. v. Per Krogh Hansen, Stefan Iversen, Henrik Skov Nielsen und Rolf Reitan. Berlin/Boston 2011. S. 127–146, hier S. 134. 19 Zunshine: Why We Read Fiction, S. 75. 20 Vgl. Brian Boyd: On the Origin of Stories. Evolution, Cognition, and Fiction. Cambridge (MA) 2009, S. 273–274.

Metarepräsentationsanalyse | 143

Ebene 2 Text

Ebene 1

B sagt, dass A glaubt, dass Situation x

Hier wird die Situation x durch die Aussage von B metarepräsentiert. Auf einer weiteren Repräsentationsebene kann eine weitere Figur oder – wie im folgenden Beispiel – ein extradiegetischer Erzähler hinzukommen, der wiederum die Metarepräsentation von B metarepräsentiert: Erzähler

Ebene 3 Ebene 2

Erzähler erzählt: B sagt, dass

Text Figuren

Ebene 1

A glaubt, dass Situation x

Dieses Schema beschränkt sich noch immer auf die textuelle Ebene.21 Bei Metarepräsentationen handelt es sich jedoch nicht nur um eine Eigenschaft von Textstrukturen, sondern vor allem um ein kognitives Phänomen – eine textuelle Repräsentation oder Metarepräsentation wird als solche vom Rezipienten mental metarepräsentiert:22

|| 21 Dass es sich beim Erzähler auch um einen covert narrator handeln kann, der nirgendwo im Text als Äußerungsinstanz in Erscheinung tritt (Seymour Chatman wählt hierfür die Bezeichnung non-narrator), spielt für die strukturelle Analyse erst einmal keine Rolle. Dass jedoch einzelne Repräsentationsebenen auf kognitiver Ebene durchaus unterschiedliche Signifikanz aufweisen können, wird im Nachfolgenden ausführlich dargelegt. 22 So auch bei der Rezeption bildender Kunst: „For instance a drawing on a piece of paper is a type of non-mental representation, which is represented in the mind of the person viewing it. The mental representation is of the drawing, but since the drawing is itself a representation, the viewer has a (mental) metarepresentation of whatever it is that the drawing represents.“ (Sam Scott: Metarepresentation in Philosophy and Psychology. In: Proceedings of the Twenty Third Annual Conference of the Cognitive Science Society. Hg. v. Johanna D. Moore und Keith Stenning. Mahwah [NJ] [u. a.] 2001. S. 910–915, hier S. 910.)

144 | Zur kognitionsnarratologischen Experientialitätsanalyse der Enkelliteratur

Leser

Ebene 4 Erzähler

Ebene 3 Ebene 2

[Erzähler erzählt [B sagt [A glaubt [x]]]] Erzähler erzählt: B sagt, dass

Text Figuren

Ebene 1

A glaubt, dass Situation x

Im besten Fall enthält die mentale Repräsentation des Lesers sämtliche im Text codierten Repräsentationsebenen. Dargestellt wird dies hier schematisch durch die eckigen Klammern.23 Dabei markiert jede öffnende Klammer eine Grenze zwischen Repräsentieren und Repräsentiertem. Da der Leser als äußerste Repräsentationsinstanz selbst nicht repräsentiert wird, ist er selbst nicht eingeklammert. Eine solche Übersetzung von textuellen Metarepräsentationsstrukturen auf die kognitive Ebene muss nicht Satz für Satz gänzlich erneuert werden. Vielmehr hält der Rezipient an seiner mentalen Repräsentation der textuellen Metarepräsentationsstruktur fest, solange der Text keine davon abweichenden Signale sendet. So kann etwa ein längerer Textabschnitt als Figurenrede wahrgenommen werden, ohne dass dabei wiederholt von Inquit-Formeln Gebrauch gemacht wird.24 Indes kann eine bestehende Metarepräsentationsstruktur auch mittels narrativer Verfahren und grammatischer Merkmale – beispielsweise erlebter Rede oder Konjunktiv – nachhaltig gestützt und bestätigt werden.25 Andererseits können einzelne textuell deutlich markierte Repräsentationsebenen auf der mentalen Ebene des Rezipienten unberücksichtigt bleiben, sofern ihnen eine relativ geringe Relevanz zugesprochen wird. Beispielsweise kann bei einer längeren Binnenerzählung die Instanz des Rahmenerzählers vorübergehend aus dem Arbeitsgedächtnis ausscheiden und wird solange auch nicht als

|| 23 Diese Darstellungsweise verwendet Hartner: Perspektivische Interaktion im Roman, S. 119. 24 Wo dies dennoch geschieht, handelt es sich um ein ästhetisches Verfahren – so etwa bei Thomas Bernhard: „Kein Mensch will sein Leben haben, sagt Oehler, jeder hat sich mit seinem Leben abgefunden, aber haben will er es nicht, hat er einmal sein Leben, sagt Oehler, muß er sich vormachen, daß ihm sein Leben etwas sei, aber in Wirklichkeit und in Wahrheit sei es ihm nichts als entsetzlich. Nicht einen einzigen Tag ist das Leben wert, sagt Oehler […].“ (Thomas Bernhard: Gehen. Frankfurt a. M. 1971, S. 19–20.) Auch die Überlagerung der Repräsentationsebenen kann im Text so stark in den Vordergrund rücken, dass sie selbst zum Gegenstand der Darstellung avanciert – so etwa bei W. G. Sebald: „Maximilian erzählte gelegentlich, so erinnerte sich Věra, sagte Austerlitz“ (W. G. Sebald: Austerlitz. München/Wien 2001, S. 241). 25 Siehe hierzu Kapitel 4.4.

Metarepräsentationsanalyse | 145

metarepräsentationale Ebene zur Kenntnis genommen. Ähnlich verhält es sich bei einer Autor-Erzähler-Kongruenz: Deckt sich das ‚Autorbild‘ des Lesers mit seinen Vorstellungen vom Erzähler, so werden beide Instanzen miteinander identifiziert und als Einheit verarbeitet. In diesem Fall bildet der Sprachakt des Autors keine zusätzliche Metarepräsentationsebene. Sieht sich der Leser hingegen zu einer getrennten Verarbeitung von Autor und Erzählinstanz veranlasst, führt dies zu einer entsprechenden Erweiterung der Metarepräsentationsstruktur: Leser

Ebene 5

Autor

Ebene 4 Erzähler

Ebene 3 Ebene 2

[Autor äußert [Erzähler erzählt [B sagt [A glaubt [x]]]]] Autor äußert: Erzähler erzählt: B sagt, dass

Text Figuren

Ebene 1

A glaubt, dass Situation x

4.3.3 Metarepräsentationen in der Enkelliteratur In der Enkelliteratur werden die historischen Situationen nicht unvermittelt präsentiert, sondern in eine metarepräsentationale Struktur eingebettet, die der Vermittlungslogik des in Kapitel 4.2 skizzierten Dreigenerationenschemas entspricht. Die dort eruierten Vermittlungsmöglichkeiten lassen sich daher auch als Schichtung von Repräsentationsebenen darstellen – in der linearisierten Schreibweise lassen sich die beiden Standardfälle (einer ‚direkten‘ und einer ‚indirekten Überlieferung‘) wie folgt notieren: [AIII−[B1III=[B1I−[CI]]]] [AIII=[AII−[B2II=[B2I−[CI]]]]] Der Code CI steht hier für die historische Erfahrung und markiert daher im Metarepräsentationsmodell den zu repräsentierenden Sachverhalt (Situation x). Minuszeichen stehen für (die im Dreigenerationenschema auf der horizontalen Achse verzeichneten) Erinnerungsakte und zeigen somit mentale Repräsentationen an, während es sich bei den durch Gleichheitszeichen symbolisierten (auf der vertikalen Achse verzeichneten) Erzählakten um Äußerungen und somit um ‚publike‘ Repräsentationen handelt.

146 | Zur kognitionsnarratologischen Experientialitätsanalyse der Enkelliteratur

Folglich liegt im ersten Standardfall textintern eine dreifache repräsentationale Schichtung vor, die sich bei einer Unterscheidung von Erzählinstanz und Autor sowie unter Berücksichtigung der Rezeptionsebene um drei weitere Ebenen erweitern lässt. Zur vollständigen Übertragung des Dreigenerationenschemas auf das Metarepräsentationsschema wird zudem rechts eine Spalte hinzugefügt, in der die vier Phasen einer ‚natürlichen‘ Generationenfolge angezeigt werden können: Leser

Ebene 6

Autor

Ebene 5

Autor äußert

A

Ebene 4

III erzählt

A

Erzähler

Ebene 3 Text

Ebene 2

[Autor äußert [III erzählt [AIII−[B1III=[B1I−[CI]]]]]]

III erinnert sich I erzählt III

A

A B1

Figuren Ebene 1

I erinnert sich an historische Erfahrung von I

B1 C

Gleichwohl ist es unwahrscheinlich, dass der Leser jede dieser hier logisch hergeleiteten Repräsentationsebenen auch tatsächlich mental repräsentiert. So wird etwa hier zunächst analytisch zwischen dem Enkel in der Rolle des Erzählers (Ebene 4) und seiner Rolle als erinnernde Figur (Ebene 3) unterschieden. Ob der Leser diese Ebenenunterscheidung in seiner mentalen Repräsentation berücksichtigt, hängt davon ab, ob sie als relevant eingeschätzt wird. Entsteht der Eindruck, der Erzähler gebe unmittelbar seine Erinnerung wieder, so fallen Erinnerungs- und Erzählakt zusammen und werden in der Regel nicht mehr als verschiedene Repräsentationsebenen wahrgenommen. Wird hingegen der Prozess des Erinnerns reflektiert und somit auch über das Erinnern erzählt, so bildet der Erzählakt eine Repräsentation des Erinnerns und sollte daher auch gesondert als eine dem Erinnern übergeordnete Metarepräsentationsebene verarbeitet werden. Zwingend ist eine solche Ebenenunterscheidung bei der kognitiven Verarbeitung von ‚unzuverlässigem Erzählen‘, sofern die Unzuverlässigkeit des Erzählers darin besteht, dass er seine eigenen Erinnerungen augenscheinlich falsch deutet oder schlichtweg lügt. Aus denselben Gründen kann der Erzählakt auf der Ebene 2 mit dem Erinnerungsakt auf der Ebene 1 zusammenfallen und daher im Rezeptionsprozess zu einer gemeinsamen Repräsentationsebene zusammengefasst werden. Eine weitere Redundanz ergibt sich bei einer Kongruenz von Autor und Erzähler (siehe Kapitel

Metarepräsentationsanalyse | 147

3.2.1.3) bzw. bei deren Identität in nichtfiktionalen Werken. Die metarepräsentationale Struktur einer ‚direkten Überlieferung‘ (AIII−B1III=B1I−CI) reduziert sich in diesem Fall auf die als relevant erachteten Ebenen: Leser

Ebene 3

Autor

Erzähler

Text

Figuren

Ebene 2 Ebene 1

[III erzählt [B1III=B1I−[CI]]] III erzählt

A A

I erzählt III von

B1

historischer Erfahrung von I

C

Eine solche Vereinfachung metarepräsentationaler Strukturen verringert den kognitiven Aufwand und trägt somit zu einer Optimierung von Verstehensprozessen bei. Umgekehrt können diese Strukturen spontan wieder erweitert werden, wenn Verständnisprobleme auftreten oder der Text eine andere interne Kommunikationsstruktur signalisiert. Nach denselben Prinzipien der kognitiven Relevanz26 kann auch das Strukturmuster der ‚indirekten Überlieferung‘ (AIII=AII−B2II=B2I−CI) im Zuge der kognitionsnarratologischen Analyse eine deutliche Komplexitätsreduktion erfahren. Werden alle im Dreigenerationenschema codierten Vermittlungsglieder berücksichtigt und wird an der kommunikationstheoretischen Unterscheidung von Autor und Erzähler festgehalten, so ist die historische Erfahrung in sieben Repräsentationen eingebettet: Leser

Ebene 7

Autor

Ebene 6

Autor äußert

A

Ebene 5

III erzählt

A

Erzähler

Ebene 4 Ebene 3

[Autor äußert [III erzählt [AIII=[AII−[B2II=[B2I−[CI]]]]]]]

II erzählt III

A

A

II erinnert sich

A

Text Figuren

Ebene 2 Ebene 1

I erzählt II I erinnert sich an historische Erfahrung von I

B2 B2 C

|| 26 Siehe hierzu (sowie nachfolgend zum Prinzip der kommunikativen Relevanz) Kapitel 1.5.3.

148 | Zur kognitionsnarratologischen Experientialitätsanalyse der Enkelliteratur

Auch hier können bei der kognitiven Verarbeitung bis zu drei Repräsentationsebenen ausgespart bleiben, sodass sich der Leser auf der mentalen Ebene mit einer überschaubaren metarepräsentationalen Struktur begnügen kann: Leser Autor

Ebene 4 Erzähler

Ebene 3 Ebene 2

Text

Figuren

Ebene 1

[III erzählt [AIII=AII−[B2II=B2I−[CI]]]] III erzählt

A A

II erzählt III I erzählt II von historischer Erfahrung von I

A B2 C

Wohlgemerkt werden die Ebenen des Erinnerns nicht etwa deswegen ausgespart, weil ihr Inhalt bereits im Erzählen vollständig aufgehoben sei. Ganz im Gegenteil geht dem Erzählen logisch ein Selektionsprozess voraus, sodass dem Leser ein Großteil des Erinnerten oder Gedachten natürlicherweise vorenthalten bleibt.27 Doch die Gewissheit, dass die Erzählinstanz mehr weiß, als sie sagt, muss den Leser nicht weiter beschäftigen, sofern er nicht den Eindruck gewinnt, dass ihm relevante Informationen vorenthalten werden. Die Wirksamkeit des Prinzips der kognitiven Relevanz setzt somit – jeweils auf der Ebene seiner Anwendung – die Geltung des Prinzips der kommunikativen Relevanz voraus: Eine Ebene des Erinnerns kann bei der kognitiven Verarbeitung der Metarepräsentationsstruktur ausgespart werden, wenn der Leser davon ausgeht, dass allen Instanzen innerhalb des transgenerationalen Vermittlungsprozesses an einer gelingenden Kommunikation gelegen ist und nichtkommunizierte Inhalte somit wesentlich geringere oder keinerlei kognitive Relevanz für ihn aufweisen.

4.3.4 Geltungsbereiche und ‚metarepräsentationale Rahmung‘ Mittels Metarepräsentationen können Informationen auf ihre Quelle bezogen und mit ihrem Erwerbskontext verknüpft werden. Die Informationen werden hierbei mit „Meta-Informationen“28 über ihre Quelle versehen und zusammen mit

|| 27 Hiervon weitgehend ausgenommen sind lediglich die Erzähltechniken des inneren Monologs und des Bewusstseinsstroms. 28 Karl Eibl: Über den Zusammenhang der tierischen Natur des Menschen mit seiner geistigen. Instinkte – Sprachen – Kulturen. In: Natur – Kultur. Zur Anthropologie von Sprache und Literatur. Hg. v. Thomas Anz. Paderborn 2009. S. 15–30, hier S. 19.

Metarepräsentationsanalyse | 149

diesen ‚source-tags‘29 gespeichert. Das metarepräsentationale source-tagging ist eine Funktion der sogenannten ‚Scope Syntax‘30 – von Karl Eibl übersetzt als „Geltungsbereichssyntax“31. Mit ihrer Hilfe kann die Wahrheit und damit die Relevanz einer Information von spezifischen Kontextbedingungen abhängig gemacht werden, etwa von temporalen und ortsbezogenen Faktoren, von ideologischen Umständen, von metaphysischen Prämissen (z. B. der Existenz Gottes) oder von Annahmen über die Vertrauenswürdigkeit des Sprechers. Von dieser kognitiven Technik wird auch im Alltag ausgiebig Gebrauch gemacht: [H]umans live with and within large new libraries of representations that are not simply stored as true information. These are the new worlds of the might-be-true, the true-overthere, the once-was-true, the what-others-believe-is-true, the true-only-if-I-did-that, the not-true-here, the what-they-want-me-to-believe-is-true, the will-someday-be-true, the certainly-is-not-true, the what-he-told-me, the seems-true-on-the-basis-of-these claims, and on and on.32

Die Fähigkeit, Informationen vorübergehend oder dauerhaft von ihrem Wirklichkeitsbezug und Wahrheitsanspruch zu ‚entkoppeln‘33, erweist sich nicht nur als bedeutender evolutionärer Vorteil des Menschen,34 sondern bildet auch „die entscheidende Voraussetzung für poetische Fiktionen, also für Propositionen, die in

|| 29 Vgl. Cosmides/Tooby: Consider the Source, S. 69–72. 30 Vgl. Cosmides/Tooby: Consider the Source, S. 60, passim. 31 Eibl: Über den Zusammenhang, S. 20. 32 Vgl. John Tooby/Leda Cosmides: Does Beauty Build Adapted Minds? Toward an Evolutionary Theory of Aesthetics, Fiction and the Arts. In: SubStance 30 (2001) H. 1/2, S. 6–27, hier S. 20. 33 Der Begriff decoupling wird erstmals verwendet von Alan M. Leslie: Pretense and Representation: The Origins of „Theory of Mind“. In: Psychological Review 94 (1987) H. 4, S. 412–426, hier S. 417. 34 Die Fähigkeit zur Bildung von Metarepräsentationen und damit einhergehend die Fähigkeit zur Verarbeitung von Gültigkeitsmerkmalen gilt als exklusives Wesensmerkmal des Menschen: „Die Möglichkeit, Propositionen so zu markieren, dass sie intakt bleiben, aber gleichwohl nicht blindlings als handlungsrelevante Informationen verwendet werden, sie also von Handlungszwecken (zeitweise) zu entkoppeln, ist wesentlich dafür verantwortlich, dass homo sapiens bei der Handhabung wechselnder (auch selbstgeschaffener) Milieus allen Konkurrenten überlegen ist und damit zu dem Erfolgsmodell der Evolution wurde.“ (Eibl: Über den Zusammenhang, hier S. 20.) Die Bedeutung der metarepräsentationalen Fähigkeit für das Denken und Handeln des Menschen unterstreicht auch Dan Sperber: „Just as bats are unique in their ability to use echolocation, so humans are unique in their ability to use metarepresentations. […] The fact that humans are experts users of metarepresentations, is, I would argue, as important in understanding human behavior as the fact that bats are expert users of echo-location is in understanding bat behavior.“ (Dan Sperber: Metarepresentations in an Evolutionary Perspective. In: Metarepresentations. A Multidisciplinary Perspective. Hg. v. dems. Oxford/New York 2000. S. 117–137, hier

150 | Zur kognitionsnarratologischen Experientialitätsanalyse der Enkelliteratur

einem spezifischen Quarantäne-Raum angesiedelt sind“35. So gesehen handelt es sich bei der kognitiven Fiktionskompetenz weniger um eine erlernte Kulturtechnik als vielmehr um eine epistemische Grundfunktion des menschlichen Denkens – folglich werden die Grenzen zwischen literarischer Fiktion und Lebenswirklichkeit aus Sicht der Metarepräsentationstheorie zunehmend aufgeweicht: „Fiktionalität als bereichsspezifische Einschränkung der Gültigkeit einer Information ist vor diesem Hintergrund nichts Außergewöhnliches, vielmehr steht die Beschäftigung mit dichterischen Fiktionen nun in einer Reihe mit hypothetischem Denken, Hier-und-dort-Unterscheidungen, Zukunftsplanung, Früherheute-Vergleichen u. ä.“36 Da metarepräsentationale Textstrukturen somit nicht als Fiktionsmerkmal aufzufassen sind, lassen sich literaturwissenschaftliche Metarepräsentationstheorien auch auf nichtfiktionale Texte anwenden. Wie im vorangegangenen Kapitel gezeigt wurde, müssen kontextuell vorgegebene und textuell markierte Repräsentationsebenen nicht zwangsläufig auch auf der mentalen Ebene der Rezeption berücksichtigt werden. Die Einschätzung der Relevanz einer Repräsentationsebene erfolgt im Abgleich mit dem Kriterium der ‚Gültigkeitsindizierung‘37: Ist eine Information in ihrer Gültigkeit beschränkt und muss diese daher eigens angezeigt werden, so kann sie nur in Verknüpfung mit einem Quellenbezug adäquat verarbeitet und gespeichert werden – und hierzu bedarf es ihrer metarepräsentationalen Einbettung. Die Bedingungen der Wahrheit oder Geltung einer Information können indes stärker oder schwächer ausfallen – daher beschreibt Zunshine Metarepräsentationen als ein graduelles Phänomen: Sie spricht von „metarepresentationally framed information“38 und unterscheidet dabei zwischen schwachen und starken ‚metarepräsentationalen Rahmungen‘.39 Diese Gradunterscheidung lasse sich erstens auf der Textebene vornehmen: Besonders vertrauenswürdigen Erzählern und Figuren werden eher schwache metarepräsentationale Funktionen zugesprochen, denn deren Überzeugungen und Aussagen werden tendenziell als zutreffend eingeschätzt. Weniger vertrauenswürdige Quellen werden hingegen stärker metarepräsentational umrahmt und die daraus gewonnenen Informationen an strengere Gültigkeitskriterien geknüpft. Als Beispiel für eine eher starke metarepräsentationale Rahmung nennt Zunshine die Zeugenaussagen in Kriminalerzählungen – hier stelle || S. 117.) Zu den evolutionären Aspekten von Metarepräsentation und ‚Scope Syntax‘ äußern sich ausführlich auch Cosmides/Tooby: Consider the Source. 35 Eibl: Über den Zusammenhang, S. 20. 36 Mellmann: Emotionalisierung, S. 75. 37 Diesen Terminus verwendet Mellmann: Emotionalisierung, S. 75. 38 Zunshine: Why We Read Fiction, S. 128. 39 Zunshine: Why We Read Fiction, S. 129.

Metarepräsentationsanalyse | 151

das Misstrauen des Rezipienten gegenüber Figurenaussagen eine Bedingung für die gattungstypische Wirkung dar.40 Zweitens könne dieses graduelle Konzept auch auf der pragmatischen Ebene Anwendung finden: Hat der Leser den Eindruck, dass der Autor im Großen und Ganzen ‚die Wahrheit‘ sagt, spart er kognitive Ressourcen, indem er diese Ebene mit einer eher schwachen metarepräsentationalen Rahmung versieht.41 Muss der Geltungsbereich des Wahrheitsanspruchs hingegen auf einen historischen Produktionskontext rückgebunden oder ins Verhältnis zu einer ideologischen Voreingenommenheit des Autors gesetzt werden, so wird ein angemessenes Textverständnis nur mithilfe einer starken metarepräsentationalen Rahmung auf der pragmatischen Ebene erreicht. Da die Bedingungen für die Wahrheit oder Geltung einer Information nicht immer explizit im Text angezeigt werden, geht die literaturwissenschaftliche Metarepräsentationsanalyse über die narrativen Strukturen hinaus und steht im Austausch mit der Interpretationsebene. So sind in Bezug auf die Enkelliteratur zahlreiche erinnerungskulturelle Kontextfaktoren zu berücksichtigen, die auf die Bildung metarepräsentationaler Strukturen in der Rezeption maßgeblich Einfluss nehmen können. Hierzu gehören unter anderem Generationenkonzepte, erinnerungskulturelle Topoi und soziokulturell geprägte Vorurteile (siehe Kapitel 4.1). So mag etwa ein leserseitig evozierter Verdacht auf die Traumatisierung einer Figur dazu führen, deren Aussagen und Gedanken mit einer starken metarepräsentationalen Rahmung zu versehen. Die mentalen Metarepräsentationsstrukturen des Lesers gehen somit zwar größtenteils auf die narrativen Eigenschaften des Textes zurück, erhalten ihre Prägung jedoch auch – und zwar insbesondere in Hinblick auf ihre Rahmungsintensitäten – unter Einbeziehung seines Kontextwissens.

|| 40 Zunshine: Why We Read Fiction, S. 129, passim. 41 Vgl. Zunshine: Why We Read Fiction, S. 67. Diese Sparsamkeit auf kognitiver Ebene kann freilich autorseitig intendiert sein und leserseitig ‚bestraft‘ werden, wie Zunshine an einem Beispiel aus der Literaturgeschichte zeigt: „For example, it may be that once readers have decided on the relative truth-value of a complex cultural artifact, such as Robinson Crusoe, or, to put it differently, once they have integrated it with a relatively weak metarepresentational tagging (as a ‚true story‘), they may experience a broad gamut of negative emotions, ranging from disappointment to anger, when they realize some time later that they have to expend more cognitive energy on drastically reassessing their initial valuation and on reintegrating Robinson Crusoe with a very strong metarepresentational tagging (as a ‚feign’d‘ story) instead. Some readers may be more amenable to this kind of reassessment, which involves revising numerous knowledge databases affected by the initial processing of the story, whereas others may find this call for the extra expenditure of mental energy irksome.“ (Zunshine: Why We Read Fiction, S. 70.)

152 | Zur kognitionsnarratologischen Experientialitätsanalyse der Enkelliteratur 4.3.5 Metarepräsentationales Erinnern In der wissenschaftlichen Geschichtsschreibung sind metarepräsentationale Rahmungen auf der pragmatischen Ebene meistens sehr schwach oder fallen vollständig weg, da die Leser dem Historiker üblicherweise einen großen Sachverstand zutrauen und standardmäßig von einer redlichen Verfahrensweise ausgehen. Da es nicht zuletzt im Interesse des Historikers liegen dürfte, diesen Eindruck zu erwecken, lässt er so wenig wie möglich von seiner eigenen Person im Text durchblicken: [A] historian strives to diminish the amount of metarepresentational framing that her readers would deploy in assimilating her book, which, taken to its logical extreme, means removing herself from readers’ consciousness altogether. The ultimate goal of the historian is to have her readers store the information that she provides simply as „X“, and not as „Thucydides says that ‚X‘“, or as „Linda Colley says that ‚X‘“.42

Der Rezeptionsprozess beschränkt sich hierbei auf die mentale Repräsentation der dargestellten historischen Situationen und Ereignisse. Auf metarepräsentationale Rahmungen wird nicht nur deshalb verzichtet, weil der Leser höchstes Vertrauen in die Arbeit des Historikers setzt, sondern auch aufgrund der Darstellungsweise, in der von sekundären Erzählern in der Regel ebenso abgesehen wird wie von Einblicken in die Gedanken historischer Akteure. In diesem Fall bildet der Leser keine Metarepräsentationen: Leser Text

Ebene 1

[x]

A Situation x

C

Hier werden keine Metainformationen über den Erwerbskontext oder sonstige Geltungsbeschränkungen verarbeitet.43 Auf diese Weise verarbeitete Informatio-

|| 42 Zunshine: Why We Read Fiction, S. 71. Hierzu sei angemerkt, dass sich Zunshines Beispiel zu Thukydides auf zeitgenössische Rezipienten bezieht – aus der Perspektive eines heutigen Lesers antiker Geschichtswerke wäre deren Wahrheitswert freilich auf den Produktionskontext zu beziehen und dementsprechend stark metarepräsentational zu rahmen. 43 Wohlgemerkt weisen wissenschaftliche Geschichtserzählungen durchaus auch metarepräsentationale Erzählstrukturen auf – etwa in Form von Zitaten. Deren Inhalte werden jedoch ohne Quelleninformation gespeichert, sofern kein Zweifel daran besteht, dass es sich um ein Faktum bzw. eine uneingeschränkt ‚wahre‘ Information handelt.

Metarepräsentationsanalyse | 153

nen können nur als ‚wahr‘ gespeichert werden und der Ort dieses Speicherformats ist das semantische Gedächtnis.44 Falsche oder in ihrem Geltungsbereich beschränkte Informationen werden hingegen im episodischen Gedächtnis abgelegt45 – wie im vorangegangenen Kapitel beschrieben, erfolgt dieser Speichervorgang auf der Grundlage von source-tagging.46 Da Informationen erworben werden und somit notwendigerweise einen Quellenbezug aufweisen, kann prinzipiell jede Information im episodischen Gedächtnis gespeichert werden. Wird jedoch der originäre Quellenbezug im Zuge des Speicherprozesses eliminiert, landet die Information umgehend im semantischen Gedächtnis. Die meisten neu erworbenen Informationen werden jedoch zunächst ins episodische Gedächtnis eingespeist und somit vorerst mit gewissen Vorbehalten versehen – im Zuge der Gewöhnung an die Information und der Generalisierung47 ihres Gebrauchs kann sich der Erwerbskontext zunehmend als irrelevant erweisen und wird daher vergessen: „For example, most people cannot remember who told them that apples are edible or that plants photosynthesize.“48 In solchen Fällen werden Informationen vom episodischen ins semantische Gedächtnis ‚verschoben‘. Durch das Vergessen irrelevanter Quelleninformationen werden Gedächtnisressourcen zurückgewonnen und somit die Gesamtgedächtnisleistungen des Individuums optimiert. Demgegenüber müssen manche Informationen dauerhaft an Wahrheitsbedingungen geknüpft oder auf spezifische Geltungsbereiche beschränkt werden. Die Aufrechterhaltung ihres Quellenbezugs und die langfristige Verankerung im episodischen Gedächtnis kann durch

|| 44 Vgl. Cosmides/Tooby: Consider the Source, S. 61. Evolutionsbiologisch gesehen handelt es sich hierbei um ein primitives System – da es nur einen geringen kognitiven Aufwand erfordert, bildet es die Grundlage des Denkens. Cosmides und Tooby bezeichnen diese Art des Wirklichkeitsbezugs als ‚Naiven Realismus‘: „Because the true-is-unmarked system is the natural way for an evolved computational system to originate, and because there are many reasons to maintain this system for most uses, we might expect that this is also the reason why humans – and undoubtedly other organisms – are naïve realists. Naïve realism seems to be the most likely starting point phylogenetically and ontogenetically, as well as the default mode for most systems, even in adulthood.“ (Cosmides/Tooby: Consider the Source, S. 61.) 45 Ich knüpfe hiermit an meine Ausführungen in Kapitel 2.3.2 an. 46 „In der Psychologie wird die Quelle unter der Rubrik des episodischen Gedächtnisses geführt. ‚Quelle‘ ist dann alles, was als Bedingung für den Erwerb einer Information als Kontext existiert und im Gedächtnis haftet.“ (Eibl: „Wer hat das gesagt?“ S. 215.) Zum Zusammenhang von Metarepräsentationen und episodischem Gedächtnis vgl. auch Cosmides/Tooby: Consider the Source, S. 93–104. 47 Echterhoff spricht von „generalisierte[n] Erfahrungen“ (Echterhoff: Das Außen des Erinnerns, S. 72). Vgl. hierzu auch Tulving: Episodic and Semantic Memory, S. 390. 48 Cosmides/Tooby: Consider the Source, S. 70.

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starke metarepräsentationale Rahmungen sichergestellt werden. Umgekehrt werden dann auch beim Erinnern dieser Informationen stets die Metainformationen über ihre Quellen mitgeliefert. Im Zuge des Erinnerns können die Erwerbskontexte mental simuliert werden, wobei ursprüngliche emotionale und sensomotorische Reaktionen sowie erlebnishafte Aspekte narrativer Vermittlung virtuell wiederholt werden. Auf diese Weise wird das Erinnerte nicht nur abgerufen, sondern erneut ‚durchgearbeitet‘ und kann gegebenenfalls modifiziert werden. Dies entspricht der in Kapitel 2.3.1 geforderten erinnerungskulturellen Ausrichtung auf dynamische Praktiken des Erinnerns anstelle statischer Formen des Gedenkens. Im Rahmen ihrer Mittel trägt die Enkelliteratur zu einer Verstärkung von Quellenbezügen bei und beugt somit einer Verselbstständigung von Geschichtswissen und Versachlichung historischer Erfahrungen vor: Indem die übergeordneten Repräsentationsebenen mehr oder weniger gründlich ausgestaltet werden, treten sie als zeitlich jeweils nachgeordnete Handlungsebenen in Erscheinung und geben selbst Anlass zu mentalen Simulationen. Folglich werden die Quellenbezüge nicht nur propositional als solche gekennzeichnet, sondern selbst in ihrem Erfahrungskontext verfügbar gemacht – durch die dabei verarbeiteten Situationsmodelle werden die repräsentierten Inhalte mit einer Erwerbserfahrung verknüpft und im episodischen Gedächtnis gespeichert. Im nachfolgenden letzten Theoriekapitel werden weitere begriffliche und kognitionsnarratologische Differenzierungen vorgenommen, um das Verhältnis von textbasierter Metarepräsentationsstruktur und rezipientenseitiger mentaler Modellbildung konkreter bestimmen und analysieren sowie hinsichtlich erinnerungskultureller Experientialitätspotenziale beurteilen zu können.

4.4 Situationsmodellanalyse In ihrem Kern gibt die Analyse metarepräsentationaler Strukturen Auskunft über die kognitive Informationsverarbeitung auf propositionaler Ebene – das heißt, Metarepräsentationen können prinzipiell ohne mentale Modellbildungen verarbeitet werden. Wenn jedoch zusätzlich Prozesse auf der Situationsmodellebene stattfinden, dann muss zunächst einmal geklärt werden, welche Situation mental simuliert wird. Dabei ist grundsätzlich zu unterscheiden zwischen Situationen, über die gesprochen wird, und Situationen, in denen gesprochen wird.49 Meistens ist ersteres der Fall: Der von den Repräsentationsebenen überlagerte Gegenstand

|| 49 Vgl. hierzu Kapitel 3.2.

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oder situierte Sachverhalt wird innerhalb eines raumzeitlichen Wahrnehmungskontextes vorgestellt. Dabei muss lediglich vorausgesetzt werden, dass die Gegenstandsebene (im Gegensatz zu den Repräsentationsebenen) besonders informationshaltig oder leserseitig hinreichend bekannt ist sowie als bedeutsam eingeschätzt wird. In dem Beispiel aus Kapitel 4.3.1 etwa kann Peter den Regen durch Abruf eines Situationsmodells mental simulieren: (1) Peter erinnert sich, (2) dass Maria sagte, (3) dass John sagte, (4) es werde regnen. Für Peter lohnt sich der Aufwand einer mentalen Simulation des Regens allerdings nur dann, wenn er ihn erstens situativ – das heißt zeitlich und räumlich – konkret verorten kann und zweitens der zusätzliche kognitive Aufwand durch eine angemessene Relevanz der Information gerechtfertigt scheint.50 Ist Peter beispielsweise gerade mit der Vorbereitung einer Gartenparty beschäftigt, so kann er durch die mentale Simulation eines Regenschauers (in seinem Garten zum Zeitpunkt der Party) nicht nur den zu erwartenden Schaden abschätzen, sondern auch – im Modus der Imagination – geeignete Vorkehrungen für eine regensichere Variante ausprobieren. Bei einem metarepräsentational vermittelten Geschehen kann aber auch die Vermittlung selbst informationshaltig und subjektiv relevant sein. So kann Peter die metarepräsentational vermittelte Wetterinformation in einem anderen Handlungskontext auch als Nebensache auffassen und auf rein propositionaler Ebene verarbeiten – die Kapazitäten der Situationsmodellbildung können dann wahlweise für eine der Repräsentationsebenen genutzt werden. Wenn Peter beispielsweise mit John befreundet ist und ihn als Pessimisten kennt, dann kann er sich die Situation vorstellen, in der sich John – in seinem Idiolekt und mit typischer Gebärde – gegenüber Maria geäußert hat. In diesem Fall bildet Peter ein mentales Modell nicht etwa von einer Situation über die gesprochen wird, sondern von einer Situation in der gesprochen wird. Genauso verhält es sich, wenn Peter sich vordergründig daran erinnert, wie er selbst mit Maria in seiner Stammkneipe gesessen und Wein getrunken hat, während sie ihm von ihrem Gespräch mit John und dessen Wetterprognose berichtete. Gegenstand seiner mentalen Simulation sind dann unter anderem die Gerüche und Geräusche des Lokals sowie Marias

|| 50 Zum Prinzip der kognitiven Relevanz siehe Kapitel 1.5.3.

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körperliche Präsenz und ihre spezifische Art sich auszudrücken sowie gegebenenfalls der genaue Wortlaut ihrer Mitteilung. Anhand dieser Beispiele wird deutlich, dass bei der kommunikativen Interaktion im Alltag kein kategorialer Unterschied zwischen Situationsmodellen und Kontextmodellen besteht: Alltägliche Kommunikationssituationen werden von zahlreichen – räumlich und zeitlich eingebetteten – Wahrnehmungseindrücken begleitet, die selbst eine über die bloße Kommunikationsfunktion hinausreichende Erlebnisqualität aufweisen. Folglich können die situativen Abläufe von Alltagskommunikationen mittels derselben kognitiven Operationen verarbeitet werden wie die multisensorische Wahrnehmung von Situationen, in denen nicht kommuniziert wird.51 So kann sich Peter an sein Gespräch mit Maria unter Abruf eines Situationsmodells seiner Stammkneipe erinnern, obwohl er während dieses Gesprächs noch Situationsmodelle einer verregneten Gartenparty oder seines pessimistischen Freundes verarbeitet hatte und der mit Maria geteilte Kommunikationskontext dabei – sozusagen „bloß“ im Hintergrund – durch ein Kontextmodell präsent gehalten wurde. Das Kontextmodell ist daher nicht hinreichend dadurch definiert, dass es Informationen kommunikativer Kontexte verarbeitet – dies können auch Situationsmodelle! Es sollte vielmehr funktional bestimmt werden als eine pragmatische Metaebene innerhalb des allgemeinen Prozesses der mentalen Modellbildung, von wo aus die Aktivierung und Modifikation von bzw. der Wechsel zwischen Situationsmodellen beeinflusst werden kann, etwa um den Kooperationsprinzipien (siehe Kapitel 3.2) zu genügen und somit das Gelingen der Kommunikation sicherzustellen. Folglich wird die Kontextmodellebene in der Alltagskommunikation nur dann beansprucht, wenn die Kommunizierenden Situationsmodelle von den in ihrem Gespräch thematisierten Situationen bilden (statt von ihrer aktuellen Kommunikationssituation). || 51 Auch van Dijk hält das Kontextmodell eher für einen Spezialfall des Situationsmodells: „[D]uring the comprehension or production of discourse, participants ongoingly learn things about the world (as represented by the discourse) and at the same time about the current interaction situation. Indeed, our point is that whatever language users attend to in discourse is largely dependent on their model of the communicative situation. It is this model that keeps track of what the language users finds interesting or important, or otherwise relevant for their or his current aims. This is also the reason why our theory of context models should be seen as a specific case of a more general theory of everyday experience. That is, from the moment we wake up in the morning, until we fall asleep (or lose consciousness during the day), we ongoingly construct and update mental models of the situations and events we are participating in. […] In these models we represent ourselves, other participants and our relations to them, current time frames, location and direction, ongoing social actions, and so on. Contexts as defined here are merely a special case of these ‚experience models‘ […].“ (Van Dijk: Discourse, Ideology and Context, S. 19.)

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4.4.1 Referenzsituationsmodelle und Kommunikationssituationsmodelle In der literarischen Kommunikation hingegen ist es höchst unwahrscheinlich, dass der Leser den mit dem Autor geteilten Kommunikationskontext als Situationsmodell verarbeitet, denn dazu müsste er mental einen konkreten Raum simulieren, in dem diese Kommunikation stattfindet. Man kann daher für den Bereich der Literatur durchaus von einer kategorialen Trennung zwischen der Situationsmodellebene und der Kontextmodellebene ausgehen.52 Indes führt die oben getroffene Unterscheidung zwischen Situationen, in denen gesprochen wird, und Situationen, über die gesprochen wird, zu einer Differenzierung innerhalb der Situationsmodellebene, die auch für die Literatur – insbesondere mit Blick auf die Erzählverfahren der Enkelliteratur – von großer Bedeutung ist. Denn in einer literarisch dargestellten Kommunikationssituation kann innerhalb der Figurenrede eine Situation repräsentiert werden, die selbst nicht Teil dieser Kommunikationssituation ist (und die auch selbst wieder eine Kommunikationssituation sein kann, in der gegebenenfalls eine weitere Situation repräsentiert wird usw.). Die erzählstrukturelle Funktion solcher figuralen Kommunikationssituationen lässt sich am Beispiel der Enkelliteratur wie folgt aufzeigen:

Abb. 2: Grundschema 2

In dem in Kapitel 4.2 skizzierten Dreigenerationenschema wird nun in der untersten Zeile zwischen drei Kommunikationssituationen (KS) und einer historischen || 52 So bei Claassen, siehe Kapitel 3.2.1.1. – Selbst wenn eine Situationsmodellbildung völlig ausbleibt (und die literarisch vermittelten Inhalte rein propositional verarbeitet werden), hat dies nicht zwangsläufig einen Einfluss auf die Kontextmodellebene.

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Referenzsituation (RS) unterschieden53 (wobei die tiefgestellten Angaben bei den Kommunikationssituationen die jeweilige Zeitebene anzeigen). Welche Kommunikationssituationen jeweils in einen konkreten Vermittlungsvorgang einbezogen sind, lässt sich anhand der vertikalen Verknüpfungen innerhalb der beiden hier eingezeichneten Standardformen der ‚direkten‘ (gestrichelte Linie) und der ‚indirekten Überlieferung‘ (gepunktete Linie) erkennen. So wird etwa im Falle einer ‚indirekten Überlieferung‘ (AIII=AII−B2II=B2I−CI) auf zwei Zeitebenen kommuniziert und auf eine Zeitebene referiert.54 In der Graphik ist dies anhand der beiden vertikalen Abschnitte der gepunkteten Linie zu erkennen: kommuniziert (bzw. erzählt) wird in der KSA und in der KSB2.55 Die Situation, über die gesprochen wird, steht – als schwarzer Punkt – am Anfang des Vermittlungsprozesses und ist im historischen Geschehen verankert. Freilich müssen diese Situationen nicht allesamt explizit benannt, geschweige denn detailliert geschildert werden – das einmal aktivierte Dreigenerationenschema enthält lediglich einige zentrale Grundannahmen über die der Erzählung zugrundeliegende Geschichte und liefert dem Leser Hinweise dafür, wie das Wissen und die Deutungskompetenz des Enkelerzählers ‚naturalisiert‘ (siehe Kapitel 2.1.2) werden kann. Ist der Vermittlungsweg einmal bekannt gemacht worden, kann er über die metarepräsentationale Struktur im Hintergrund aktiv gehalten werden, auch wenn einzelne Repräsentationsebenen längere Zeit nicht mehr textuell expliziert wurden. Der Leser verarbeitet somit gleichzeitig Informationen sowohl aus dem Referenzbereich als auch mehrerer Repräsentationskontexte und sieht sich daher permanent vor die Wahl gestellt, sich eine dieser Situationen mittels Situationsmodellbildung verfügbar zu machen – denn eine

|| 53 In der Begriffsbildung orientiere ich mich hierbei an der in der anglophonen Sprachverstehensforschung gebräuchlichen Unterscheidung zwischen communicative situation und referential situation, so etwa in Anita Eerland/Jan A. A. Engelen/Rolf A. Zwaan: The Influence of Direct and Indirect Speech on Mental Representations. In: PLoS ONE 8 (2013) H. 6, e65480. (doi:10.1371/journal.pone.0065480) 54 Die Unterscheidung zwischen Kommunikationssituationen und Referenzsituationen hat hier ausdrücklich eine heuristische Funktion innerhalb des Analysemodells. Denn freilich kann es sich bei dem im Referenzsituationsmodell repräsentierten Geschehen selbst wieder um eine Kommunikation zwischen Akteuren auf der Zeitebene (C) handeln, während umgekehrt auf den Zeitebenen (A) und (B) auch ein Geschehen abgebildet werden kann, das selbst keine Repräsentationen mehr enthält. Die Aufteilung beider Situationsmodelltypen innerhalb des Analysemodells ist somit rein funktional begründet, und zwar in Hinblick auf die Vermittlung historischer Erfahrung zwischen CI und AIII. 55 Auch in der linearisierten Schreibweise (siehe hierzu die Erläuterungen in Kapitel 4.2) sind diese beiden Kommunikationssituationen leicht anhand der Gleichheitszeichen zu erkennen: AIII=AII und B2II=B2I.

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parallele Verarbeitung zweier oder mehrerer Situationsmodelle ist nicht möglich (siehe Kapitel 3.1.3). Ob der Leser die Referenzsituation oder eine Kommunikationssituation mental simuliert, hängt maßgeblich davon ab, auf welcher Handlungsebene hinreichend viele Informationen textuell gegeben sind bzw. inferenziell beigesteuert werden können, um den Abruf oder die Konstruktion von Situationsmodellen anzuregen. Wie in Kapitel 3.1.3 exemplarisch gezeigt wurde, fallen hierbei die verschiedenen Arten von Informationen unterschiedlich stark ins Gewicht. Den entscheidenden Einfluss auf die mentale Modellbildung haben augenscheinlich Informationen über die räumliche Beschaffenheit von Situationen. Das erklärt sich schon dadurch, dass jede Art von multimodaler Simulation einer Wahrnehmungsumwelt die Konstruktion einer imaginären räumlichen Perspektive voraussetzt – darin folgt die Situationsmodellverarbeitung gänzlich den Bedingungen in lebensweltlichen Erfahrungskontexten. Vor allem aber erfolgen mentale Simulationen – den in Kapitel 2.2 getroffenen Annahmen zufolge – im Rahmen situierter Kognition. Und deren Merkmale – embodiment, embeddedness, extension, distribution und enaction – setzen allesamt die Verortung eines mental simulierten körperlichen Zustandes innerhalb eines räumlichen Kontextes voraus. Folglich ist es nicht möglich, beispielsweise den emotionalen Zustand einer Figur mental zu simulieren, ohne dabei selbst eine räumliche Umwelt zu enaktivieren, in der man den aktuellen Zustand der Figur (unter Rückgriff auf eigene ‚Erfahrungsspuren‘) nachvollzieht.56 Das gleiche gilt beispielsweise für die experientielle Rezeption von Sprechakten – auch hier muss mindestens ein rudimentärer räumlicher Erfahrungskontext imaginiert werden, damit mentale Simulationen in Gang gesetzt werden können. Für ein Primat des Raumes bei der Situationsmodellbildung spricht umgekehrt, dass die mentale Raummodellkonstruktion unabhängig von weiteren Erfahrungsqualitäten gelingen kann, denn schließlich kann man sich problemlos einen Raum ohne Figuren oder sonstige mögliche Träger von Erfahrungen vorstellen.57 Selbst die Zeitdimension stellt offenbar keine notwendige Bedingung

|| 56 Das Hineinversetzen in die Situation des anderen, um dessen emotionalen Zustand einschätzen zu können, ist vielfach empirisch untersucht worden, vgl. hierzu etwa Leaf van Boven/George Loewenstein: Empathy Gaps in Emotional Perspective Taking. In: Other Minds. How Humans Bridge the Divide between Self and Others. Hg. v. Bertram F. Malle und Sara D. Hodges. New York/London 2005. S. 284–297. 57 Da die mental simulierte Raumwahrnehmung ein anthropomorphes Perspektivenzentrum voraussetzt (siehe Kapitel 4.4.3), wird in solchen Fällen allerdings trotzdem ein quasi-figuraler Standpunkt inferiert. In Anlehnung an Fludernik (vgl. Anm. 65 in Kapitel 2.1.4) bezeichnet Caracciolo diese kognitive Operation als figuralization, vgl. Marco Caracciolo: The Reader’s Virtual Body. Narrative Space and Its Reconstruction. In: Storyworlds 3 (2011), S. 117–138, hier S. 129.

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für Situationsmodellbildungen dar. Denn beispielsweise kann man das räumliche Modell eines Büros abrufen und sich die darin befindlichen Gegenstände vorstellen, ohne dabei irgendwelche temporalen Prozesse zu verarbeiten. Eine zeitliche Dimension erlangt diese Vorstellung erst, wenn man ‚sich‘ innerhalb dieses Raummodells bewegt oder andere Arten von Zustandsveränderungen – etwa akustische Signale (Telefonklingeln, Straßengeräusche etc.) oder bewegliche Objekte (Kollegen, Ventilator etc.) – in seine Vorstellung integriert. Dass die Verarbeitung von Rauminformationen eine Minimalbedingung der Situationsmodellbildung darstellt, unterstreicht auch Caracciolo mit seiner hierarchischen Strukturierung des Erfahrungshintergrundes (siehe Kapitel 2.2.4): Ihm zufolge gehen mentale Simulationen grundsätzlich mit der Aktivierung von ‚Erfahrungsspuren‘ der untersten Ebene des Erfahrungshintergrundes und folglich mit der Verarbeitung von Raumwahrnehmung und Körpererfahrungen einher.58 Und damit ist gleichzeitig gesagt, dass die ‚Erfahrungsspuren‘ der übrigen drei Ebenen – etwa Emotionen, Sprechakte und Theoriewissen – nur optional zum Einsatz kommen. Caracciolo weist aber auch darauf hin, dass die Leser sich bei ihren mentalen Simulationen kaum je mit der basalen Verarbeitung von räumlichen und körperbezogenen Situationsmerkmalen begnügen. Vielmehr löse die auf Wahrnehmungs- und Körpererfahrungen basierende experientielle Textwirkung eine Art ebenenübergreifende Kettenreaktion aus, etwa weil sie spontan in einen kulturellen Deutungskontext gestellt oder vor dem Hintergrund eines Diskurses interpretiert werden.59 Demnach würde auch das bloße Raummodell eines Büros intuitiv mittels geeigneter experientieller Inferenzen ‚belebt‘ werden. Bei der Analyse der Enkelliteratur gilt es jeweils für einzelne Textsegmente festzustellen, welche Rauminformationen explizit vorliegen oder leserseitig inferiert werden können und auf welche Zeitebene diese verweisen. Davon ausgehend können Annahmen darüber getroffen werden, ob der Leser auf der Situationsmodellebene seines Sprachverstehens eine historische Erfahrung der Zeitebene C oder einen situierten Vermittlungskontext der Gegenwartsebene A oder der Zwischenzeit B verarbeitet. Innerhalb des Dreigenerationenschemas wird der jeweils von der Situationsmodellebene beanspruchte Handlungsbereich im Folgenden mit einer Graufläche markiert. Bei der Verarbeitung von Referenzsituationsmodellen beschränkt sich die mentale Simulation definitionsgemäß auf den zeitlichen Rahmen von C und hat eine historische Erfahrungssituation der ‚ersten Generation‘ zum Inhalt:

|| 58 Vgl. Caracciolo: The Experientiality of Narrative, S. 160–161. 59 Vgl. Caracciolo: The Experientiality of Narrative, S. 155–159.

Situationsmodellanalyse | 161

Abb. 3: RS-Modellbildung

Bei der ‚indirekten Überlieferung‘ (AIII=AII−B2II=B2I−CI) kann sich die Situationsmodellbildung auf den Bereich der Kommunikation zwischen ‚erster‘ und ‚zweiter Generation‘ während des Zeitabschnitts B2 (und somit auf die Schnittstelle B2II=B2I) richten:

Abb. 4: KSB2-Modellbildung

Eine entsprechende Verfügbarkeit von situationskonstitutiven Informationen vorausgesetzt, kann der Leser jedoch alternativ auch ein Situationsmodell für die KSA und somit für die kommunikative Konstellation AIII=AII abrufen:

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Abb. 5: KSA-Modellbildung

Für den Fall einer ‚direkten Überlieferung‘ (AIII−B1III=B1I−CI) hingegen lässt sich ein Kommunikationssituationsmodell nur für die Zeitebene B1 herstellen:

Abb. 6: KSB1-Modellbildung

Die ‚zweite Generation‘ kann an Gesprächen innerhalb einer KSB1 freilich beteiligt sein, hat dort aber keine unverzichtbare Vermittlungsfunktion – daher bleibt das Feld B1II hier unmarkiert. Die Entscheidung des Lesers für einen dieser vier Situationsmodelltypen erfolgt zumeist unbewusst. Denn innerhalb dieser begrenzten Auswahl fällt die Informationsdichte in der Regel deutlich zugunsten einer Zeitebene aus, wodurch die Aufmerksamkeit des Rezipienten auf eben diese ‚gelenkt‘ wird. Strenggenom-

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men aber bleibt dem Leser auch in einer ‚gelenkten‘ Rezeption noch die Möglichkeit, seine Situationsmodellbildung auf einer ‚unwahrscheinlichen‘ Zeitebene stattfinden zu lassen. Denn selbst wenn der Text hierfür keine Rauminformationen bereitstellt, können diese noch immer inferiert werden – somit wäre auch hier die Minimalbedingung für die Konstruktion eines Situationsmodells erfüllt. Von solchen Freiheiten macht der Mensch nicht nur in der Literaturrezeption Gebrauch, sondern auch im Alltag. In dem oben besprochenen Beispiel etwa hat Peter möglicherweise keinerlei Anhaltspunkte, wann und wo Maria und John miteinander gesprochen haben, aber dennoch kann er sich John in einer für ihn typischen – nämlich seine pessimistische Art ausdrückenden – Situation vorstellen. So ist auch der Leser literarischer Texte prinzipiell dazu in der Lage, sich Modelle von Situationen zu schaffen, die auf der Textebene gar nicht konkret in ihrer Räumlichkeit dargestellt werden. Andererseits ist dieser stark auf Inferenzleistungen angewiesene Konstruktionsvorgang vergleichsweise aufwendig und wird – gemäß dem Prinzip der kognitiven Relevanz (siehe Kapitel 1.5.3) – vermieden, sofern sich eine effektivere Verarbeitung anbietet. In der kognitionsnarratologischen Analyse muss daher zunächst abgeschätzt werden, welche situationsrelevanten Informationen auf den unterschiedlichen Ebenen – entweder textbasiert oder aber durch allgemeines Weltwissen – jeweils verfügbar sind. Daraus kann dann in der Regel weitgehend verlässlich geschlossen werden, welcher Handlungsebene sich die Situationsmodellbildung widmet. Diese weitreichenden Kenntnisse über die unterschiedlichen Möglichkeiten der kognitiven Verarbeitung von Geschichtserzählungen geben Aufschluss über die Art der mentalen Repräsentation historischer Erfahrungen und die Verankerung von Geschichtswissen aufseiten der Leser. Prinzipiell kann davon ausgegangen werden, dass die Verarbeitung von Informationen über KS-Modelle signifikant andere experientielle Wirkungspotenziale freisetzt und andere Aneignungsprozesse erlaubt als die Verarbeitung derselben Informationen über RSModelle. Denn während der Leser bei der Bildung eines KS-Modells eine ihm durch eigene Erinnerung bekannte oder zumindest durch die Kombination verschiedener Erinnerungen vertraute Erfahrungssituation simuliert, kann er bei der Bildung eines RS-Modells auf keine persönlichen Erfahrungen mit den darin simulierten historischen Ereignissen zurückgreifen. Die experientiellen Wirkungen von RS-Modellen basieren folglich auf einem anachronistischen Erfahrungshintergrund und entstehen mittels Aktivierung inadäquater ‚Erfahrungsspuren‘. Gewiss ist die Grenze zwischen eigenen und fremden Erfahrungsbereichen zumeist fließend und häufig genug können fremde Erfahrungsbereiche durch den Rückgriff auf eigene erschlossen und verständlich gemacht werden. Die in der

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Enkelliteratur thematisierten Unterschiede zwischen den historischen Erfahrungen der Zeitzeugen des Nationalsozialismus und denen der Nachgeborenen könnten jedoch größer kaum sein – nicht umsonst markiert die Zäsur von 1945 einen Generationenwechsel (siehe Kapitel 1.2). Um das erinnerungskulturelle Wirkungspotenzial der Enkelliteratur vor dem Hintergrund aktueller Forderungen nach gegenwartsbezogenen und erfahrungsbasierten Aneignungsformen (siehe Kapitel 2.3) abschätzen zu können, ist jeweils zu prüfen, zu welchen Anteilen die Geschichtsvermittlung über RS-Modelle erfolgt und inwieweit – stattdessen oder ergänzend – die Bildung von KS-Modellen möglich gemacht wird. Generell ist festzustellen, dass sich in der Enkelliteratur eine Erzählstrategie durchsetzt, bei der – im Unterschied etwa zum historischen Roman – nicht mehr so sehr das ‚Hineinversetzen‘ des Lesers in historische Erfahrungskontexte angestrebt wird, sondern vornehmlich die späteren Vermittlungskontexte situativ geschildert und experientiell verfügbar gemacht werden.

4.4.2 Erzählergegenwartssituationsmodelle Auch in dem graphischen Modell für die Metarepräsentationsanalyse können die unterschiedlichen Situationstypen zugeordnet werden – wie hier in dem Beispiel aus Kapitel 4.3.3 für die ‚indirekte Überlieferung‘ (AIII=AII−B2II=B2I−CI): Leser

Eb. 7 [Autor äußert [III erzählt [AIII=[AII−[B2II=[B2I−[CI]]]]]]]

A

Autor

Eb. 6

Autor äußert

A

Eb. 5

III erzählt

A

Erzähler

Eb. 4

II erzählt III

ES

A KSA

Eb. 3

II erinnert sich

A

Text Figuren

Eb. 2

I erzählt II

B2 KSB2

Eb. 1

I erinnert sich an historische Erfahrung von I

B2 C

RS

Situationsmodellanalyse | 165

Neben der Referenzsituation und den beiden Kommunikationssituationen wird hier (in der rechten Spalte) mit der Abkürzung ES ein weiterer Situationstyp angezeigt, der sich speziell auf die ‚Erzählergegenwart‘60 bezieht. Auch auf dieser – normalerweise rein narratorialen – Ebene können Situationsmodelle gebildet werden. Die Bildung eines solchen Erzählergegenwartssituationsmodells setzt voraus, dass der Erzähler situationsbezogene Informationen über sein eigenes Erzählen mitteilt, mit deren Hilfe sich der Leser eine mehr oder weniger konkrete Sprech- oder Schreibsituation vorstellen kann.61 Liegt eine Autor-Erzähler-Kongruenz (siehe Kapitel 3.2.1.3) vor, wirken sich diese Informationen unmittelbar auf die kognitive Verarbeitung des kommunikativen Kontextes aus. Die Überschneidung mit der pragmatischen Ebene der Autor-Leser-Kommunikation zeigt sich umso mehr in der um kognitive Redundanzen verkürzten Form (siehe hierzu Kapitel 4.3.3): Leser Autor

Erzähler

Eb. 4 [III erzählt [AIII=[AII−[B2II=[B2I−[CI]]]]]]

A

Eb. 3

A

ES

A

KSA

B2

KSB2

C

RS

Eb. 2 Text

Figuren

Eb. 1

III erzählt II erzählt III I erzählt II von historischer Erfahrung von I

Wenngleich jede Erzählung – mindestens implizit – auf einen Erzähler verweist und dieser Erzähler sich logischerweise beim Erzählen in einer wie auch immer gearteten Situation befindet, wird diese in den wenigsten Erzähltexten beschrieben oder auch nur erwähnt. Im Gegensatz zu alltäglichen Kommunikationsformen wie dem Telefonieren oder Briefeschreiben, wo der Sender häufig seinen aktuellen Standort und den situativen Kontext seines Sprechens bzw. Schreibens || 60 Diese narratologische Kategorie definiert Eberhard Lämmert wie folgt: „Bei ausdrücklichem Eingreifen des Erzählers in den Handlungsverlauf und insbesondere in Ich-Erzählungen tritt eine weitere Zeitschicht auf: Die Gegenwart der Handlung wird überbaut durch eine noch unmittelbarere Erzählergegenwart, aus der heraus der Dichter erläuternd, bekräftigend oder kritisierend das erzählte Geschehen kommentiert. Auch in dieser Zeitschicht kann eine Handlung sich abspielen, die dann den Vollzug des Erzählens bzw. Niederschreibens selbst zum Gegenstand hat […].“ (Eberhard Lämmert: Bauformen des Erzählens. 4. Aufl. Stuttgart 1970, S. 45.) 61 Wie etwa in folgendem Beispiel aus Die Enkelin: „Während ich das schreibe, sitze ich in der Deutschen Bibliothek in Frankfurt am Main.“ (Channah Trzebiner: Die Enkelin oder Wie ich zu Pessach die vier Fragen nicht wusste. Frankfurt a. M. 2013, S. 212. Im Folgenden zitiert als E mit Seitenzahl.)

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mitteilt, geben literarische Erzähler nur selten explizit Auskunft über ihre räumlichen und zeitlichen Äußerungskontexte – in der Literatur sind vielmehr „Erzählungen mit ‚handlungsloser‘ Erzählergegenwart“62 die Regel. Jedoch steht es dem Leser letztlich auch hier – wie schon bei den anderen beiden Situationsmodelltypen – frei, das räumliche Umfeld des Erzählers respektive Autors zu inferieren und im Rahmen eines Situationsmodells mental zu simulieren.63 Unabhängig davon, in welchem Umfang die Enkelerzähler Informationen über den situativen Kontext ihrer Erzählergegenwart bereitstellen und ob die Leser sich davon zur Verarbeitung eines ES-Modells veranlasst sehen, bildet die Erzählergegenwart einen Bezugspunkt für Erzählerkommentare und produktionsästhetische Selbstreferenzialität. Somit hat die Erzählergegenwartssituation innerhalb des gesamten literarischen Vermittlungsprozesses ihren systematischen Ort, und zwar völlig unabhängig davon, ob sie überhaupt irgendwann während des Lektüreverlaufs mittels Situationsmodellbildung mental simuliert wird. Daher wird auch das Dreigenerationenschema um eine Repräsentationsebene wie folgt erweitert:

Abb. 7: Grundschema 3

4.4.3 Mentale Perspektiven in Referenzsituationsmodellen Wenngleich die Enkelliteratur ihr Hauptaugenmerk auf die transgenerationalen Vermittlungskontexte legt, verzichtet sie nicht gänzlich auf die Inszenierung des

|| 62 Lämmert: Bauformen des Erzählens, S. 67. 63 Siehe hierzu die Analyse in Kapitel 5.4.1.

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historischen Geschehens und regt durchaus bewusst die Bildung und Verarbeitung von RS-Modellen an. Die geringe Vertrautheit des Lesers mit den dargestellten historischen Situationen wirkt sich hierbei nicht nur quantitativ und qualitativ auf die aktivierbaren ‚Erfahrungsspuren‘ aus, sondern beeinflusst auch seine mentale Perspektivenkonstruktion. Die kognitive Verarbeitung eines Situationsmodells erfordert nämlich nicht nur die mentale Konstruktion eines räumlichen Rahmens, sondern – notwendig damit einhergehend – auch die Wahl einer Wahrnehmungsperspektive, die dem situativen Geschehen eine konkrete visuelle Gestalt verleiht.64 Das räumliche Vorstellungsvermögen des Rezipienten ist hierbei auf die in lebensweltlicher Raumwahrnehmung eingeübte Wahrnehmungsbegrenzung angepasst – das heißt, er kann niemals mehrere Perspektiven auf denselben Gegenstand gleichzeitig einnehmen. Im Gegensatz zu den meisten realen Wahrnehmungskontexten ist man beim mentalen Simulieren zwar wesentlich flexibler und kann spontan zwischen verschiedenen Perspektiven innerhalb des aktuellen Situationsmodells wechseln. Aber die Wahl einer räumlichen Perspektive ist keineswegs beliebig – vielmehr zeichnen sich hierbei jeweils mehr oder weniger deutliche Präferenzen ab, die einerseits auf die vorherrschende Erzählweise und andererseits auf den Grad der Vertrautheit des Lesers mit der dargestellten und von ihm mental simulierten Situation zurückzuführen sind.65 Eine grundlegende Unterscheidung von zwei Typen der mentalen Perspektivierung lässt sich anhand eines Beispiels von Rolf A. Zwaan verdeutlichen:66 Eine schriftliche Anleitung, wie man mit einem Mountainbike über einen liegenden Baumstamm fährt, wird von erfahrenen Mountainbikern anders gelesen als von Personen, die noch nie mit einem Fahrrad durch unwegsames Gelände gefahren sind. Davon abgesehen, dass der Experte mehr Details in das Situationsmodell

|| 64 Zum imaginären Beobachterstandpunkt als notwendiger Bedingung für jegliche Art von Raumvorstellung vgl. etwa Daniel Morrow: Situation Models and Point of View in Narrative Understanding. In: New Perspectives on Narrative Perspective. Hg. v. Willie van Peer und Seymour Chatman. Albany 2001. S. 225–239, hier S. 227–228. 65 Dass die Vertrautheit mit der dargestellten Handlungssituation entscheidend Einfluss nimmt auf die mentale Perspektivenkonstruktion zeigen Jan Söffner und Esther Schomacher anhand einer kriegerischen Kampfszene aus Homers Ilias. Zu deren adäquater mentaler Simulation müsse spezifisches Körperwissen enaktiviert werden – über solches verfüge aber nur ein militärisch geschulter Hellene, während heutige Leser diese Wirkungsdimension notwendigerweise verfehlen. (Vgl. Jan Söffner/Esther Schomacher: Die Kehrseite des Wissens. Körperarbeit am Text – und was sie für die Narratologie bedeutet. In: DIEGESIS 6 [2017] H. 1, S. 58–75, hier S. 66– 67.) 66 Vgl. Zwaan: Embodied Cognition, Perceptual Symbols, and Situation Models, S. 81–82.

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zu inferieren vermag als der Laie, nimmt er darin auch eine andere wahrnehmungsperspektivische Position ein. Denn während sich der Laie lediglich in eine Situation hineinversetzt, in der ein Mountainbiker über einen Baumstamm fährt, wird sich der Experte in den Mountainbiker selbst hineinversetzen. Der Experte simuliert somit die Erfahrung eines über einen Baumstamm fahrenden Mountainbikers, der Laie hingegen die eines Beobachters eines über einen Baumstamm fahrenden Mountainbikers. 4.4.3.1 Figurenzentrierte Perspektivierung Die vom erfahrenen Mountainbiker präferierte figurenzentrierte Perspektivierung der Situationsbeschreibung kann in verschiedener Intensität experientiell wirksam werden. Caracciolo unterscheidet graduell verschiedene Experientialitätsstufen figurenzentrierter Perspektivierung:67 Prinzipiell seien umso größere experientielle Wirkungen zu erwarten, je stärker die leserseitig imaginierte Wahrnehmungsperspektive mit der des Protagonisten übereinstimmt. Eine maximale Überlagerung von leserseitig imaginierter und figuraler Wahrnehmungsperspektive liege nur dann vor, wenn der Leser mit seinem ‚virtuellen Körper‘68 exakt die Position der Figur einnimmt und somit in seiner Vorstellung dessen Perspektivenzentrum vollständig übernimmt. Dieser Extremfall setze voraus, dass zwar aus einer figuralen Perspektive erzählt wird, nicht jedoch aus der einer charakterlich bestimmten oder auch nur namentlich eingeführten Figur, sondern vielmehr aus der eines ‚anonymen Besuchers‘69. Ein solcher merkmalsfreier deputy focalizor fungiere als Unbestimmtheitsstelle, die der Leser mit seinen eigenen Eigenschaften ausfülle.70 Die dabei evozierte Experientialität sei nicht nur darauf zurückzuführen, dass der Leser die sensuellen und motorischen Erfahrungen der

|| 67 Vgl. im Folgenden Caracciolo: The Experientiality of Narrative, Kap. 7, sowie Caracciolo: The Reader’s Virtual Body. 68 Caracciolo entlehnt diesen Begriff der Phänomenologie Maurice Merleau-Pontys, der grundsätzlich von einer Art Spiegelung des ‚realen‘ menschlichen Körpers in einem ‚virtuellen‘ Gegenstück ausgeht – diese Vorstellungstechnik diene dazu, sensomotorische Handlungen planbar zu machen und den Körper auf bevorstehende räumliche Veränderungen vorzubereiten. Caracciolo überträgt dieses Konzept in die literaturwissenschaftliche Rezeptionstheorie: Der ‚virtuelle‘ Körper diene nicht nur zur Orientierung in realen und dem denkenden Subjekt tatsächlich zugänglichen Umwelten, sondern auch dem Verständnis der räumlichen Gegebenheiten literarischer Welten. 69 Vgl. Caracciolo: The Experientiality of Narrative, S. 163. 70 In einer Anleitung fürs Mountainbikefahren dürfte dieser Fokalisierungstyp Verwendung finden, denn schließlich fungiert die Figur hier ganz bewusst als Stellvertreter (deputy) des Lesers, der nach der Lektüre auch in der Praxis die Bewegungsabläufe der Figur übernimmt.

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Figur vollständig am Vorbild seines eigenen Körpers erkundet, sondern verdanke sich auch dem hierbei erforderlichen Modus der Konstituierung eines Figurenbewusstseins: Da der deputy focalizor keine charakterliche oder sonstige persönliche Bestimmung aufweist, könne der Leser ihm keine Bewusstseinszustände zuschreiben (consciousness-attribution), sondern müsse sie selbst hervorbringen (consciousness-enactment) – diese maximale Beanspruchung der Enaktivierung von Bewusstseinselementen geht Caracciolo zufolge mit höchsten Experientialitätseffekten einher (siehe Kapitel 2.2.5). Meistens jedoch sind Figuren – und insbesondere Protagonisten – charakterlich und physisch mehr oder weniger konkret bestimmt und müssen daher von den Lesern als eine von ihnen unterschiedene Instanz verarbeitet werden. Bei einer solchen strict focalization71 könne die leserseitige enaktive Konstruktion der literarischen Welt daher nicht ganz unabhängig von den konkreten Figurenmerkmalen erfolgen – der Leser könne die Merkmale seines ‚virtuellen Körpers‘ nur partiell in die mentale Simulation einbeziehen. Eine Reduzierung des Experientialitätspotenzials erfolge aber vor allem aufgrund des zunehmenden Erfordernisses von consciousness-attribution und der begrenzten Möglichkeiten von consciousness-enactment.72 4.4.3.2 Periphere Perspektivierung Dem Laien ist die Körpererfahrung des Mountainbikers nicht so leicht verständlich, da er sie kaum auf Grundlage eigenen Erlebens nachzuvollziehen vermag. Bei der Lektüre einer Anleitung fürs Mountainbikefahren wird er daher auf eine figurenzentrierte Perspektivierung eher verzichten. Gleichwohl kann er innerhalb des Rezeptionsprozesses eine eigene körperliche Präsenz simulieren, nämlich indem er seinen ‚virtuellen Körper‘ an einer beliebigen anderen Stelle innerhalb des Situationsmodells positioniert oder sich aus der Vogelperspektive einen räumlichen Überblick verschafft. Eine solche periphere Perspektivierung kann folglich sehr unterschiedlich realisiert werden: Vom Blick über die Schulter des Protagonisten bis hin zur mentalen Kartografie kann der Beobachterstandpunkt mehr oder weniger weit vom figuralen Wahrnehmungszentrum entfernt sein.73

|| 71 Caracciolo übernimmt diesen Terminus von Manfred Jahn. 72 Zwei weitere – eher selten auftretende und mit nochmals schwächeren Experientialitätseffekten ausgestattete – Typen mentaler Perspektivierung verhandelt Caracciolo unter den Bezeichnungen figuralization (vgl. Anm. 57 in Kapitel 4.4.1) und ambient focalization. Mangels Relevanz für die vorliegenden Analyseziele wird hier nicht weiter darauf eingegangen. 73 Die Funktionen der Perspektive bei der mentalen Raumkonstruktion sind seit Beginn der Situationsmodellforschung in unzähligen Studien empirisch ausgelotet worden, jedoch hat man

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Zwar werden unabhängig von der Distanz zum Protagonisten alle im Text genannten Gegenstände und Handlungsabläufe in das Situationsmodell integriert, jedoch wirkt sich die mental simulierte Perspektive mitunter deutlich auf die Inferenzen und das experientielle Feedback der Leser aus. Diese Beobachtung hat Robert P. Abelson schon in den Siebzigerjahren durch folgendes Experiment machen können:74 Zwei Testgruppen hören dieselbe Erzählung über eine Figur, die ein Strandhotel verlässt und die Promenade hinabspaziert. Die erste Gruppe wird angewiesen, sich in diese Figur hineinzuversetzen, während die zweite einen imaginären Beobachterstandpunkt auf einem Balkon im vierten Stock einnehmen soll. Wie aus den gruppenspezifischen Erinnerungsleistungen geschlossen werden konnte, werden Körperwahrnehmungen aus der figurenzentrierten Perspektive aufmerksamer rezipiert und aufwendiger verarbeitet, während sich bei der Beobachterperspektive vor allem die größeren und entfernteren Merkmale der Umwelt – etwa eine Fußspur am Sandstrand – eingeprägt haben. Dass man sich vom Beobachterposten aus weniger für die kinästhetischen und taktilen Wahrnehmungen des entfernten Protagonisten interessiert, deckt sich mit den kognitiven Prozessen in vergleichbaren Alltagserfahrungen – in beiden Sphären gilt das Prinzip der kognitiven Relevanz (siehe Kapitel 1.5.3).

|| sich hierbei auffallend einseitig mit nur zwei Paradigmen – route und survey – auseinandergesetzt. Im ersten Fall bildet der Leser ein mentales Modell des Raumes, indem er der Figur auf ihrem Pfad folgt. Hierbei widmet er den Objekten in der Sicht- bzw. Reichweite der Figur mehr Aufmerksamkeit als den für sie unsichtbaren oder unerreichbaren Gegenständen und Orten. Im zweiten Fall erstellt der Leser anhand der Rauminformationen eine Art Landkarte bzw. einen Grundriss und verschafft sich somit einen bestmöglichen Überblick (survey). Hierbei verlässt er den Erfahrungsradius der Figur und verfolgt ihr Handeln aus der Vogelperspektive. Welche Perspektivierungsstrategie der Leser jeweils verfolgt, hängt nicht nur vom Inhalt und von pragmatischen Lektürezielen ab, sondern auch von der Erzählweise. So verweisen etwa deiktische Raumangaben auf eine Ich-jetzt-hier-Origo und begünstigen eine route-Perspektive, während objektive Raumangaben – wie Himmelsrichtungen und Längenmaße – eine survey-Perspektive nahelegen, vgl. hierzu die Beispiele für Wegbeschreibungen in Reiseführen in Holly A. Taylor/Barbara Tversky: Spatial Mental Models Derived from Survey and Route Descriptions. In: Journal of Memory and Language 31 (1992) H. 2, S. 261–292, hier S. 261. Abgesehen von pragmatischen und grammatikalischen Faktoren liegt in der Literaturrezeption offenbar eine klare Präferenz für das route-Paradigma vor, vgl. etwa Jaime Rall/Paul L. Harris: In Cinderella’s Slippers? Story Comprehension From the Protagonist’s Point of View. In: Developmental Psychology 36 (2000) H. 2, S. 202–208. Für die zahlreichen Abstufungen zwischen der figurenzentrierten routePerspektive und dem kartografisch modellierten survey ist diese weit verbreitete Dichotomie samt der darauf aufgebauten Forschung jedoch offenbar nur begrenzt anwendbar. 74 Vgl. Abelson: Does a Story Understander Need a Point of View? S. 141.

Situationsmodellanalyse | 171

Für experientialitätstheoretische Analysen ist allerdings nicht nur die Körperwahrnehmung des Protagonisten, sondern auch der ‚virtuelle Körper‘ des Beobachters von Interesse – dieser bildet selbst ein Erfahrungszentrum, das sich nicht gänzlich auf die Beobachtungsfunktion reduzieren lässt. Wie in dem Beispiel von Abelson deutlich wurde, hat der periphere Beobachter nicht etwa per se einen verminderten, sondern einen alternativen Zugang zu dem erzählten Geschehen. Neben einer abweichenden visuellen Wahrnehmung der räumlichen Gegebenheiten kann die mental simulierte Position im vierten Stock des Gebäudes eine Inferenz von Schwindelgefühlen oder Höhenangst auslösen und somit ‚Erfahrungsspuren‘ aktivieren, die bei einer figurenzentrierten Perspektivierung derselben Erzählung nicht möglich wären. Auch für das Beispiel der mentalen Simulation des Mountainbikefahrens können Besonderheiten der peripheren Perspektivierung herausgestellt werden: Bei der Simulation einer Beobachtung eines über einen Baumstamm fahrenden Mountainbikers wird zwar auf die Verarbeitung bestimmter kinästhetischer Erfahrungen (die beim Hineinversetzen in die Figur unerlässlich sind) verzichtet, jedoch kann stattdessen beispielsweise ein höheres Sturzrisiko inferiert werden (als bei der figurenzentrierten Perspektivierung des Experten) und somit eine andere emotionale Reaktion ausgelöst werden. Charakteristisch für die Beobachterperspektive ist die soziale Dimension, die sich im Verhältnis des ‚virtuellen Körpers‘ des Lesers zum Protagonisten konstituiert und eine erweiterte Erfahrungsgrundlage schafft. Hierbei wird eine ‚natürliche‘ Außensicht auf den Protagonisten eingenommen und somit die mentale Simulation sozialpsychologischer Verhaltensmuster verstärkt. Der Protagonist veranlasst den Leser – bzw. seinen ‚virtuellen‘ Stellvertreter in der literarischen Welt – permanent zu Annahmen über dessen jeweils aktuellen Bewusstseinszustand. Solche als mindreading oder theory of mind75 bezeichneten Zuschreibungsakte werden von Kindheit an in lebensweltlichen Kontexten eingeübt und als hochkomplexer Erfahrungsschatz gespeichert. Es handelt sich dabei also keineswegs um ein Spezifikum der Literaturrezeption, sondern um eine Anwendung alltagstypischer – und daher ‚natürlicher‘ – Verfahren zur Deutung der sozialen Umwelt. Folglich geht deren Inanspruchnahme in der Literaturrezeption mit relativ hohen experientiellen Wirkungen einher.76 || 75 Zur Terminologie siehe Anm. 190 in Kapitel 2.2.5. 76 Solchen Fällen von Bewusstseinszuschreibung (consciousness-attribution) werden von Caracciolo geringere Experientialitätspotenziale zugesprochen als dem (in der figurenzentrierten Perspektivierung vorherrschenden) Typus der Bewusstseinshervorbringung (consciousnessenactment). Vor dem Hintergrund der hier besprochenen Beispiele einer peripheren Perspektivierung erscheint eine solch strenge Skalierung fragwürdig. Jedenfalls sollte stärker berücksichtigt werden, dass der ‚virtuelle Körper‘ des Lesers selbst ein Erfahrungszentrum innerhalb der

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Analog zur Lektüre des Laien in dem Mountainbike-Beispiel wirkt sich auch die geringe Vertrautheit mit historischen Erfahrungssituationen maßgeblich auf die Konstruktion von Wahrnehmungsperspektiven innerhalb von RS-Modellen aus: Die wenigsten heutigen Leser können sich in eine Figur hineinversetzen, die sich beispielsweise in einer Panzerschlacht befindet oder in einem Luftschutzkeller versteckt. Wenn sie solche historischen Extremsituationen modellartig in ihre Vorstellung bringen und mental simulieren, nehmen sie innerhalb des Situationsmodells höchstwahrscheinlich eine Außensicht auf die Figur ein, wobei sie das Erfahrungsspektrum der Figur einerseits nicht vollständig erfassen, andererseits aber auch partiell überschreiten. Denn die lebensbedrohende Situation einer in Kriegshandlungen verstrickten Figur kann aus der Beobachterperspektive verarbeitet werden, ohne dass sich der Leser dabei eigene Todesangsterfahrungen in Erinnerung rufen muss. Statt die Emotionen der Figur in Gänze nachzuempfinden, kann er stattdessen die potenziellen Emotionen eines hinzugedachten Beobachters verarbeiten. Katja Mellmann hat dieses Rezeptionsverhalten im Rahmen ihrer emotionspsychologischen Leserforschung kategorisiert: Bei emotionalen Reaktionen müsse unterschieden werden, ob der Leser auf die Situation reagiert, in der sich die Figur befindet, oder ob er vielmehr auf die Figur selbst reagiert. Beispielsweise könne die Furcht des Lesers entweder auf eine furchterregende Situation oder aber auf die Gefährdung des Protagonisten zurückgeführt werden. Bei situationsbezogener Furcht fürchtet sich der Leser – gemeinsam mit der Figur – vor einem bedrohlichen Ereignis. Bei figurenbezogener Furcht hingegen fürchtet er um die Figur, die sich in einer bedrohlichen Situation befindet.77 Die Perspektivierung des situativen Geschehens von einem Beobachterstandpunkt aus ist folglich nicht zwangsläufig erfahrungsärmer als die Simulation der Figurenperspektive.78 Vielmehr nimmt der Leser häufig sogar wegen seines Erfahrungsvorsprungs eine Außensicht ein – so zum Beispiel bei kindlichen

|| mental simulierten Situation darstellt und somit auch unabhängig von den Figurenerfahrungen experientielle Effekte hervorrufen kann. 77 Vgl. Katja Mellmann: Vorschlag zu einer emotionspsychologischen Bestimmung von ‚Spannung‘. In: Im Rücken der Kulturen. Hg. v. Karl Eibl, Katja Mellmann und Rüdiger Zymner. Paderborn 2007. S. 241–268. 78 Davon abgesehen ist der ‚Beobachter‘ auch viel weniger an seinen Standort gebunden als die Figur. Zum einen kann er seinen Beobachterstandpunkt spontan wechseln, zum anderen kann er bei Bedarf näher an die Figur ‚heranzoomen‘. Um Gemeinsamkeiten mit der Figurenerfahrung zu prüfen oder herzustellen, kann der Leser sogar stichprobenartig seine Beobachterposition aufgeben und in eine figurenzentrierte Perspektive wechseln. Auf diese Weise werden Informa-

Situationsmodellanalyse | 173

Figuren, die ihre Umwelt naiv interpretieren und Gefahrenquellen übersehen, die dem ‚beobachtenden‘ Leser sofort auffallen. Aber auch bei erwachsenen Figuren scheint der Leser wesentlich ertragreicher auf seinen Erfahrungshintergrund zurückgreifen zu können, wenn er sich nicht der figuralen Wissens- und Wahrnehmungsperspektive unterwirft. Freilich besteht hierbei stets das Risiko, die originäre Erfahrungsqualität der dargestellten Situation zu verfehlen. Insbesondere bei der kognitiven Verarbeitung von historischen RS-Modellen können die leserseitig aktivierten ‚Erfahrungsspuren‘ stark anachronistisch wirken – etwa wenn bei der mentalen Simulation einer Panzerschlacht oder eines Fliegeralarms Gerechtigkeitsvorstellungen und Schulddiskurse von der vierten Ebene des Erfahrungshintergrundes (siehe Kapitel 2.2.4) abgerufen und in die historische Erlebnisdimension eingeschleust werden, die sich eigentlich erst in der Nachkriegszeit oder sogar erst in der Gegenwart herausgebildet haben. In der kognitionsnarratologischen Analyse von Geschichtserzählungen ist daher stets zu prüfen, inwieweit eine figurale offene Zukunft leserseitig überhaupt als solche verarbeitet wird. Freilich kann der Leser sein Wissen und Bewusstsein auch bei figurenzentrierter Perspektivierung nicht vollständig ausblenden,79 aber das Ausmaß der Vermengung experientieller Elemente verschiedener Zeitebenen scheint doch bei der peripheren Perspektivierung noch einmal deutlich größer zu sein.

4.4.4 Transhistorische und transgenerationale Erfahrungsvernetzung Da nachgeborene Leserinnen und Leser die extremen Erfahrungen der Zeitzeugen des Nationalsozialismus in der Regel nur begrenzt nachvollziehen und deren Bewusstseinszustände höchstens partiell enaktiv konstruieren können, aktivieren sie bei der experientiellen Verarbeitung historischer Referenzmodelle üblicherweise auch situationsinadäquate ‚Erfahrungsspuren‘. Aus kognitionspsychologischer Sicht ist ein solches Rezeptionsverhalten dadurch zu erklären, dass sich der Leser, indem er sich mit seinem ‚virtuellen Körper‘ auf einen selbstgewählten Beobachterposten begibt, unabhängig vom Erfahrungszentrum des Protagonisten innerhalb der historischen Situation verorten kann und somit bei der Aktivierung von ‚Erfahrungsspuren‘ nicht mehr streng an die situationsspezifi-

|| tionen über die Figur eingeholt, die aus der Beobachterperspektive unzugänglich sind. Von dieser Optimierungsstrategie im Verstehensprozess berichten auch einige Probanden in der Studie von Abelson: Does a Story Understander Need a Point of View? S. 141. 79 Siehe hierzu auch Kapitel 2.1.4.

174 | Zur kognitionsnarratologischen Experientialitätsanalyse der Enkelliteratur

sche Erfahrung der Figur gebunden ist. Gleichwohl sind einige seiner ‚Erfahrungsspuren‘ mit der historischen Erfahrung der Figur vereinbar – mindestens die visuell erlebbare Umwelt wird vom Leser und der historischen Figur geteilt (wenngleich sie die darin befindlichen Objekte aus unterschiedlichen Perspektiven und gegebenenfalls aus unterschiedlicher Entfernung wahrnehmen). Im Rahmen dieses gemeinsamen Erfahrungsspektrums kann der leserseitig simulierte Bewusstseinszustand zur Enaktivierung des Figurenbewusstseins verwendet werden. Inwieweit auch andersartige – etwa kinästhetische, emotionale oder sprachliche – ‚Erfahrungsspuren‘ des Lesers mit der Figurenerfahrung übereinstimmen und somit gleichermaßen enaktive Funktionen erfüllen können, hängt von der Vertrautheit des Lesers mit der Situation und den Dispositionen der Figur (sowie freilich auch von seiner prinzipiellen Immersionsbereitschaft) ab. So können etwa auf der emotionalen Ebene folgende drei Intensitätsstufen der Anteilnahme unterschieden werden: Eine figurenzentrierte mentale Simulation des emotionalen Zustands einer Figur erfolgt durch leserseitige Empathie – nur in diesem Fall einer besonders starken Anteilnahme tragen die emotionalen Reaktionen des Lesers zur ‚Bewusstseinshervorbringung‘ (consciousness-enactment) bei. Doch auch wenn es dem Leser nicht gelingt, die Figurenemotion bei sich selbst freizusetzen, kann er noch immer emotional auf den Zustand der Figur reagieren – Caracciolo spricht in diesem Fall von Sympathie. Auch diese etwas schwächere Form der Anteilnahme wirkt mit an der Konstruktion des Figurenbewusstseins – allerdings nicht mehr enaktiv, sondern durch ‚Bewusstseinszuschreibung‘ (consciousness-attribution).80 Erst wenn sich die Leseremotionen gar nicht mehr unmittelbar auf die Figur beziehen lassen, stehen sie nicht mehr im Dienst der Konstruktion eines Figurenbewusstseins. Dann richten sie sich stattdessen auf das Situationsgeschehen als solches, wobei sie den originären historischen Erfahrungskontext der Figur gegebenenfalls eklatant überschreiten. Beispielsweise kann der Leser – im Gegensatz etwa zur Todesangst der historischen Figur – Wut, Scham oder Schuld empfinden angesichts der dargestellten Gewalthandlungen und Leiderfahrungen. Dabei greift er augenscheinlich auf sein späteres Wissen oder auf nachträgliche Wertungsmaßstäbe zurück und projiziert diese – mithilfe seines ‚virtuellen Körpers‘ – in die historische Situation. Umgekehrt besteht auch die Möglichkeit, dass der Leser von einer – augenscheinlich inadäquaten – experientiellen Anreicherung der historischen Situation absieht und in einen überwiegend sachlichen Rezeptionsmodus wechselt oder schlichtweg das Interesse verliert.

|| 80 Vgl. Caracciolo: The Experientiality of Narrative, S. 66.

Situationsmodellanalyse | 175

Die metarepräsentationale Grundstruktur der Enkelliteratur bietet hierbei eine Kompromisslösung. Statt den Leser eigenverantwortlich mit seinem Erfahrungshintergrund haushalten zu lassen oder angesichts natürlicher Verständnisschwierigkeiten seine Resignation zu riskieren, macht sie Angebote für eine Zeitebenen und Erfahrungskontexte überschreitende Vernetzung von ‚Erfahrungsspuren‘: Während bei der Verarbeitung der historischen Referenzsituation prinzipiell auf ‚Erfahrungsspuren‘ der untersten Ebene des Erfahrungshintergrundes zurückgegriffen wird, können gleichzeitig ‚Erfahrungsspuren‘ verarbeitet werden, die aus Erfahrungskontexten der Nachkriegszeit oder der Gegenwart von Figuren, Erzählern oder den Lesern selbst stammen.

Abb. 8: Grundschema 4

Diese erweiterte Fassung des Dreigenerationenschemas – hier für eine ‚direkte Überlieferung‘ (AIII−B1III=B1I−CI) mit RS-Modellbildung – zeigt eine mögliche Quellenverteilung für die ‚Erfahrungsspuren‘ der vier Ebenen des Erfahrungshintergrundes nach Caracciolo (siehe Kapitel 2.2.4).81 Der Übersichtlichkeit halber

|| 81 Freilich bleibt dieses Analysemodell hinter der Komplexität tatsächlicher Inferenzleistungen und Konstruktionstätigkeiten sowie experientieller Wirkungsstrukturen der Leser weit zurück. Schon Caracciolos Aufteilung des Erfahrungshintergrundes in vier Ebenen erfüllt bloß einen heuristischen Zweck. Eine weitere Ausdifferenzierung dieses Modells wäre prinzipiell möglich (und müsste auch nicht mehr streng hierarchisch gegliedert sein).

176 | Zur kognitionsnarratologischen Experientialitätsanalyse der Enkelliteratur

seien diese hier noch einmal mit ihrem je spezifischen Merkmalsbereich aufgelistet: E1 =

basale Körpererfahrungen und sinnliche Wahrnehmung

E2 =

Emotionen

E3 =

Sprachfertigkeiten und Erinnerungstechniken

E4 =

soziokulturelle Praktiken, gesellschaftliche Konventionen, Überzeugungen, religiöse Erfahrungen etc.

Die erste Ebene des Erfahrungshintergrundes (E1) bedient notwendigerweise die über das Situationsmodell verarbeitete Handlungsebene (siehe hierzu Kapitel 4.4.1) und erhält daher grundsätzlich ihre X-Markierung in der Spalte, wo sich das grau gefärbte Feld befindet. Alle weiteren ‚Erfahrungsspuren‘ könnte der Leser grundsätzlich völlig frei – das heißt, ohne sich den Dispositionen irgendeiner Figur oder des Erzählers verpflichtet zu fühlen – aus seinem Erfahrungshintergrund auswählen (ohne dabei die RS-Modellebene aufgeben zu müssen). Da diese Möglichkeit einer beliebigen und allein von den individuellen Lesererfahrungen abhängigen Reaktion auch bei der Analyse der Enkelliteratur grundsätzlich in Betracht gezogen werden muss,82 wird das Analysemodell links um eine Spalte erweitert – diese entspricht der obersten Repräsentationsebene innerhalb der Metarepräsentationsstruktur (siehe Kapitel 4.3.3). Meistens jedoch wird die Experientialität des Lesers durch handlungsbestimmende Elemente des Textes ausgelöst und kann daher den jeweiligen Handlungsebenen zugeordnet werden. So werden etwa im vorliegenden Anschauungsbeispiel die ‚Erfahrungsspuren‘ der zweiten und dritten Ebene (E2 und E3) durch textuelle Signale aktiviert, die auf das Geschehen einer übergeordneten Repräsentationsebene – hier des Erzählens in der Zeit B1 – zurückzuführen sind. Das heißt, der Emotionshaushalt des Lesers sowie seine sprachlich-mnemonischen ‚Erfahrungsspuren‘ werden in diesem Fall durch das Erzählen des Erlebten (und nicht durch das Erlebte selbst) in Anspruch genommen – dementsprechend befinden sich hier im Analysemodell die X-Markierungen für E2 und E3 nicht in der Spalte des Situationsmodells (Graufläche), sondern in der Spalte der KSB1. Diese (in Relation zur historischen Situation) ‚fremden‘ ‚Erfahrungsspuren‘ sind während der Verarbeitung des Situationsmodells freilich nur dann verfügbar, wenn sie während der vorangegangenen Lektüre schon einmal in ihrem originären Quellenkontext aktiviert gewesen und experientiell wirksam geworden

|| 82 Vgl. hierzu die Analysebeispiele in Kapitel 5.1.1 und 5.2.2.

Situationsmodellanalyse | 177

sind. Sie können dann erneut abgerufen und transhistorisch auf das aktuelle RSModell angewendet werden, wenn während dessen kognitiver Verarbeitung experientielle Leerstellen bleiben.83 So kann sich hier etwa die Empathie oder Sympathie des Lesers – und somit ein Erfahrungstyp der Ebene E2 – während der mentalen Simulation der Referenzsituation auf den gealterten Zeitzeugen im Zeitabschnitt B1 beziehen (statt auf dessen Zustand während des Erlebens). Außerdem kann sich der Leser während der mentalen Simulation des historischen Geschehens darüber im Klaren sein, dass es sich bei seinen Vorstellungsinhalten um eine erzählte Erinnerung in der Begegnung von ‚erster‘ und ‚dritter Generation‘ (KSB1) handelt. Dann blickt er zwar mit den Augen seines ‚virtuellen Körpers‘ auf die historische Situation, verarbeitet dabei aber ‚Erfahrungsspuren‘ der Ebene E3 (beispielsweise eigene Erfahrungen über die Funktionsweise und Unzuverlässigkeit des Erinnerns), die nicht durch das Referenzsituationsmodell, sondern durch eine übergeordnete Repräsentation ausgelöst wurden. Bestimmte ‚Erfahrungsspuren‘ der obersten Ebene des Erfahrungshintergrundes (E4) – zum Beispiel eigene Erfahrungen mit erinnerungskulturellen Praktiken oder Erinnerungen an aktuelle politische Ereignisse – können wiederum durch die auf der Zeitebene A verorteten Dispositionen des Enkelerzählers ausgelöst werden und ebenfalls mühelos in den simulierten historischen Erfahrungskontext des ‚virtuellen Körpers‘ des Lesers eingeschleust werden. Solche ‚experientiellen Kurzschlüsse‘84 werden durch die im Hintergrund stets aktiv gehaltene Metarepräsentationsstruktur ermöglicht. Denn die Tatsache, dass das historische Geschehen erinnert und erzählt wird, tritt in der Regel

|| 83 Auch Caracciolo macht darauf aufmerksam, dass die experientielle Rezeption eines Textes mittels Aktivierung von situationsbezogenen Körper- und Wahrnehmungserfahrungen eine experientielle Verarbeitung auf den darüberliegenden Ebenen anstoßen kann und somit den dargestellten Gegenstand überschreitende Erfahrungsaspekte in den Lektüreprozess Eingang finden können. Vor allem aber ist auch er der Ansicht, dass diese Verkettung mit anderen Erfahrungsbereichen weniger auf den kreativen Inferenztätigkeiten des Lesers als vielmehr auf dem textuellen Umfeld basiere: „Bodily-perceptual imaginings cannot, by themselves, produce specific meanings, but they can strengthen those that are already implicated in readers’ engagement with a text at another level of the background. The process I am trying to describe here is, therefore, one of mutual interference and interchange between two strands of the reading experience, rather than a case of unidirectional causation – where readers’ bodily involvement automatically leads to higher-order responses.“ (Caracciolo: The Experientiality of Narrative, S. 168.) 84 Hiermit spiele ich auf die in der Erzähltheorie verbreitete Bezeichnung ‚narrativer Kurzschluss‘ für metaleptische Phänomene an. Da bei der ebenenüberschreitenden Vernetzung von Erfahrungselementen die Grenzen ‚natürlicher‘ Erfahrung mit erzählerischen Mitteln durchbrochen werden, handelt es sich hierbei um einen mit der Metalepse durchaus vergleichbaren Kunstkniff.

178 | Zur kognitionsnarratologischen Experientialitätsanalyse der Enkelliteratur

nicht vollständig hinter das Erinnerte bzw. Erzählte zurück. Im Gegenteil, der Vermittlungscharakter wird häufig sogar bewusst in den Vordergrund gerückt – eine Störung von Geschehensillusionen erfolgt gezielt durch den Einsatz narrativer Techniken der Erzählillusion85 bzw. der ‚Erinnerungshaftigkeit‘86. Um ‚publike‘ oder mentale Metarepräsentationen ‚sichtbar‘ zu machen, genügt aber auch schon die Verwendung indirekter Rede – die in Wolf Schmids Textinterferenzmodell in bis zu vier Textmerkmalen auf den Standort des Erzählers verweist:87

Thema

Wertung

ET FT

x

x

Person

Zeitform

x

x

Zeigsystem

Sprachfunktion

Lexik

x x

x

Syntax x

x

Aus kognitionsnarratologischer Sicht ist dieses strukturale Modell aufschlussreich hinsichtlich der Verteilung kognitiver Ressourcen auf unterschiedliche Repräsentationsebenen. Jedenfalls kann bei einer solch aufdringlichen Präsenz des Erzählers auch auf kognitiver Ebene nicht davon abstrahiert werden, dass die Figurenrede88 selbst Gegenstand einer Rede ist und somit von einer Metarepräsentationsebene überlagert wird.89 Umgekehrt wird durch indirekte Rede der leserseitige Inferenzspielraum auf der Figurenebene beschnitten: Direkte Rede

|| 85 Vgl. Nünning: Mimesis des Erzählens. 86 Vgl. Michael Basseler/Dorothee Birke: Mimesis des Erinnerns. In: Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft. Theoretische Grundlegung und Anwendungsperspektiven. Hg. v. Astrid Erll und Ansgar Nünning. Berlin/New York 2005. S. 123–147. 87 Diese Matrix übernehme ich aus Wolf Schmid: Elemente der Narratologie. 2., verb. Aufl. Berlin/New York 2008, S. 194. In Anschluss an Michail Bachtin und Valentin Vološinov geht Schmid von der „Doppelstruktur“ (Schmid: Elemente der Narratologie, S. 183) des Erzähltextes aus, wobei sich Erzählertext (ET) und Figurentext (FT) permanent überlagern und eine konkrete Textgestalt häufig erst durch ‚Textinterferenz‘ gewonnen werde. 88 Gemeint sind hiermit nicht nur Äußerungen, sondern auch Gedanken (‚innere Rede‘). Außerdem können mittels indirekter Rede – anders als der Ausdruck suggeriert – auch Wahrnehmungen und Empfindungen von Figuren (und somit nichtsprachliche Handlungen und Zustände) wiedergegeben werden, vgl. ausführlich Cathrine Fabricius-Hansen: Nicht-direktes Referat im Deutschen – Typologie und Abgrenzungsprobleme. In: Modus, Modalverben, Modalpartikeln. Hg. v. ders., Oddleif Leirbukt und Ole Letnes. Trier 2002. S. 6–29. 89 Vgl. Eerland et al.: The Influence of Direct and Indirect Speech on Mental Representations, sowie Bo Yao/Christoph Scheepers: Contextual Modulation of Reading Rate for Direct versus Indirect Speech Quotations. In: Cognition 121 (2011) H. 3, S. 447–453.

Situationsmodellanalyse | 179

lässt erkennen, wie etwas gesagt wird, während indirekte Rede stärker die Aufmerksamkeit darauf lenkt, was gesagt wird.90 Indem die indirekte Rede von der Syntax der Figur abweicht, stört sie die mentale Simulation des originären Sprechakts.91 Daher kann sich der Leser bei indirekter Rede zwar problemlos auf die Wahrnehmungsumwelt der Figur einlassen und diese als Situationsmodell verarbeiten, aber das konkrete Sprechen in seiner natürlichen Syntax und Prosodie sowie der verbalsprachliche Ausdruck gedanklicher Reflexionen lässt sich dann nicht mehr (oder nur mit hohem kognitiven Aufwand) rekonstruieren und mental simulieren.92 Infolgedessen entsteht bei der Situationsmodellbildung eine experientielle Leerstelle, die den Leser dazu veranlassen kann, sich bei der Aktivierung von ‚Erfahrungsspuren‘ der dritten Ebene des Erfahrungshintergrundes (E3) ersatzweise auf die übergeordnete Erzählinstanz zu konzentrieren, auf die er sowieso – nämlich aufgrund der metarepräsentationalen Gesamtstruktur – bereits kognitive Energien verwendet. Auch emotionale Reaktionen können von einer übergeordneten Repräsentationsebene in das RS-Modell ‚importiert‘ werden. Diese können bei der mentalen Simulation einer Kommunikationssituation erstmalig ausgelöst und später situationsübergreifend weiterverwendet werden: Wenn oben in dem Analysemodell (Abb. 8) die ‚Erfahrungsspuren‘ der zweiten Ebene des Erfahrungshintergrundes (E2) der KSB1 zugeordnet werden, so wird damit lediglich angezeigt, dass der Leser beispielsweise einem gealterten Zeitzeugen in einer KSB1 gegenüber Mitleid empfindet und nun dasselbe emotionale Verhältnis zu dieser Figur in ihrem historischen Erfahrungskontext einnimmt. Dieses Mitleid ist dann nicht mehr das Mitleid gegenüber der Figur zum Zeitpunkt ihrer historischen Erfahrung, sondern gegenüber der bereits gealterten Figur, die den Krieg überlebt und ihre Werte und Dispositionen aus der NS-Zeit längst hinter sich gelassen hat – der Leser aber wendet sein späteres Mitleid auf die frühere Figurensituation an.

|| 90 Vgl. Bo Yao/Pascal Belin/Christoph Scheepers: Silent Reading of Direct versus Indirect Speech Activates Voice-selective Areas in the Auditory Cortex. In: Journal of Cognitive Neuroscience 23 (2011) H. 10, S. 3146–3152, hier S. 3151. 91 In der (autonomen) direkten Rede hingegen verweisen alle acht Merkmale einseitig auf den Figurentext, vgl. die Matrix in Schmid: Elemente der Narratologie, S. 194. 92 Vgl. Yao/Scheepers: Contextual Modulation of Reading Rate, S. 452. Deren Forschungsergebnisse beruhen vornehmlich auf der Messung von Lese- bzw. Vorlesetempos in beiden Formen der Redewiedergabe: Während die Leser ihr Lesetempo bei direkter Rede tendenziell dem situationsspezifischen Redetempo anpassen, konnte dieser Effekt bei indirekter Rede nicht beobachtet werden. Die Ergebnisse dieser quantitativen Untersuchung können durch die Auswertung von Aufnahmen aus der funktionellen Magnetresonanztomografie bekräftigt werden, vgl. Yao et al.: Silent Reading.

180 | Zur kognitionsnarratologischen Experientialitätsanalyse der Enkelliteratur

Eine solche transhistorische Erfahrungsvernetzung muss indes keineswegs auf den Bereich ein und desselben Figurenbewusstseins beschränkt bleiben. Vielmehr können die dabei beanspruchten ‚Erfahrungsspuren‘ sogar auf Bewusstseinsinstanzen unterschiedlicher Generationen zurückverweisen: Die in dem obigen Anschauungsbeispiel (Abb. 8) der Ebene des Erzählers zugeschriebenen Erfahrungsmerkmale aus dem Bereich E4 können leserseitig – auch ohne ES-Modellbildung – vor dem Hintergrund eigener Erfahrungen interpretiert werden. So können beispielsweise moralische und politische Positionen des Erzählers, die dieser etwa in Form von verallgemeinernden Reflexionen und zeitkritischen Kommentaren preisgibt, beim Rezipienten Erinnerungen an eigene Erfahrungen mit diesen oder ähnlichen Diskursen wachrufen und somit experientiell wirksam werden. Diese soziokulturell fundierten ‚Erfahrungsspuren‘ aus dem Gegenwartskontext von Erzähler bzw. Autor und Leser können problemlos in die Verarbeitung von RS-Modellen eingeschleust werden und somit den Experientialitätsgrad auf der Vergangenheitsebene erhöhen. In diesem Fall hat die Erfahrungsvernetzung nicht nur eine transhistorische, sondern auch eine transgenerationale Dimension. Der innerhalb des RS-Modells mental simulierte ‚virtuelle Körper‘ bildet somit eine Art experientielle Chimäre – ein Mischwesen, in dem Erfahrungen aus unterschiedlichen Zeiten und Generationen synthetisiert werden. Im Vollzug solcher Konstruktionsleistungen verschafft sich der Rezipient einen relativ großen Spielraum für individuelle Lesarten und eine lebensnahe Aneignung von Geschichtswissen. Rezeptionsmechanismen dieser Art bilden daher – auch über die Literatur hinaus – das Fundament einer experientiellen Erinnerungskultur.

5 Beispielanalysen Die im vorangegangenen Kapitel erarbeiteten und auf die Enkelliteratur zugeschnittenen Methoden einer narratologischen Experientialitätsanalyse werden im Folgenden an Einzelbeispielen erprobt. Dabei sind jeweils zunächst Merkmale ausfindig zu machen, die auf eine Aktivierung des erinnerungskulturellen Kontextmodells hindeuten – durch Analyse des Paratextes und des Erzählanfangs werden die rezipientenseitigen Einstiegsinformationen in den Blick genommen, die für dessen Aktivierung ausschlaggebend sind. Dabei ist auch auf Signale einer Autor-Erzähler-Kongruenz zu achten, denn diese nimmt maßgeblich Einfluss auf das Kommunikationspotenzial des Textes. Die weitere Einzeltextanalyse folgt keinem festgelegten Ablauf – vielmehr kann unterschiedlichen Erkenntnisinteressen mittels verschiedener Analyseinstrumente nachgegangen werden bzw. werden durch die Untersuchung narrativer Einzelphänomene generell Analyseschwerpunkte gesetzt, die jeweils nur eine Auswahl an Analyseinstrumentarien erforderlich machen. Das Kapitel 4 fungiert somit als eine Art Werkzeugkasten, unter dessen Verwendung anhand verschiedener Merkmale eines Textes dessen experientielle Gesamtwirkungsstruktur kenntlich gemacht werden kann. Indes beschränkt sich das erinnerungskulturelle Funktionspotenzial der Enkelliteratur nicht auf ihre spezifische Erzählweise. Ihre Leistung besteht nicht nur darin, die Erfahrungen von Zeitzeugen und bestehendes Wissen über die Zeit des Nationalsozialismus in ein zeitgemäßes Vermittlungsformat zu übertragen, sondern sie thematisiert dabei häufig auch historische Ereignisse und erinnerungskulturelle Diskurse, die bisher kaum oder gar nicht in kollektiven Gedächtnissen präsent sind und teilweise auch in der Geschichtswissenschaft wenig Beachtung gefunden haben. Es handelt sich hierbei zum Beispiel um tabuisierte Themen oder von historischen Großereignissen in den Hintergrund gedrängte Minderheitenerfahrungen. Die literarische Darstellung individueller Familienschicksale dient daher nicht nur der Subjektivierung und Veranschaulichung abstrakten Geschichtswissens, sondern macht oftmals gezielt auf Defizite in der öffentlichen Geschichtsschreibung sowie auf erinnerungskulturelle Ungleichgewichte aufmerksam. Auf solche inhaltsbezogenen Schwerpunkte wird in den nachfolgenden Analysen jeweils im dritten Unterkapitel eingegangen. Für die Einzelanalysen wurden vier Texte aus dem Korpus (siehe Kapitel 1.4) ausgewählt, die sich in ihren Erzählweisen stark unterscheiden und daher ein breites Spektrum kognitionsnarratologischer Experientialitätsanalysen aufzeigen lassen. Darüber hinaus wird zwischendurch immer wieder auf weitere Texte des Korpus Bezug genommen. Dabei wird vergleichend auf Gemeinsamkeiten oder weitere Differenzierungsmöglichkeiten aufmerksam gemacht. https://doi.org/10.1515/9783110673968-005

182 | Beispielanalysen

5.1 Sabrina Janesch: Katzenberge (2010) Das vielbeachtete und preisgekrönte1 Romandebüt der 1985 geborenen Autorin Sabrina Janesch enthält zwei Handlungsstränge: Zum einen die Gegenwartsebene der Ich-Erzählerin Nele Leibert, die nach der Beerdigung ihres Großvaters eine Reise zu dessen Geburtsort unternimmt, und zum anderen die Erlebnisse des Großvaters Stanisław Janeczko in den Kriegs- und Nachkriegsjahren, der als Pole aus Galizien vertrieben und mit seiner Familie in Schlesien angesiedelt wurde. Während diese beiden Handlungsstränge im Präteritum erzählt werden, bilden das erste und das letzte Kapitel des Romans eine vorwiegend im Präsens erzählte kurze Rahmenhandlung, die in der zeitlichen Ordnung auf Neles Rückkehr folgt. Der Kennzeichnung als Roman und der Namensdifferenz zwischen Autorin und Ich-Erzählerin zum Trotz bleibt den Lesern der autobiografische Hintergrund von Katzenberge nicht verborgen. Janesch selbst verstärkt diesen Eindruck auf paratextueller Ebene, indem sie den Roman in einer polnischsprachigen Widmung ihrer Familie zueignet und sich in einem Nachwort bei ihrem „Großvater, dem eigentlichen Erzähler, für die Geschichten“2 sowie bei einigen polnischen Familien, „ohne die meine Reise nicht möglich gewesen wäre“ (K 273), bedankt.3 Solche Faktualitätssignale können von den Lesern als autorseitig intendiert aufgefasst werden und damit bei der mentalen Repräsentation des kommunikativen Kontextes eine Autor-Erzähler-Kongruenz nahelegen.4 || 1 Janesch war mit einem Auszug aus Katzenberge für den Ingeborg-Bachmann-Preis nominiert und wurde mit dem Mara-Cassens-Preis, dem Nicolas-Born-Förderpreis sowie dem Anna-Seghers-Preis ausgezeichnet. 2 Sabrina Janesch: Katzenberge. 2. Aufl. Berlin 2010, S. 273. Im Folgenden zitiert als K mit Seitenzahl. 3 Zudem besteht offensichtlich eine etymologische Verwandtschaft zwischen dem Familiennamen der Großvaterfigur – Janeczko – und dem der Autorin. 4 Wohlgemerkt handelt es sich bei Katzenberge mitnichten um eine uneingestandene Autobiografie. Die Autorin signalisiert lediglich, dass eine autobiografische Lesart prinzipiell möglich ist, jedoch ohne sich damit sogleich den konventionellen Realitätsansprüchen der autobiografischen Gattung zu verpflichten. Über Ähnlichkeiten und Unterschiede im Verhältnis zu ihrer Erzählerfigur äußert sich Janesch auch auf ihrer Homepage: „Neles und meine Biographie decken sich, was ihre Familiengeschichte angeht, aber sonst haben wir nicht viel gemeinsam. Im Gegensatz zu mir hat Nele das zwiespältige Verhältnis ihrer Großeltern zu dem Ort Schlesien und dem Hof übernommen. Noch als Erwachsene, als ihre Großeltern tot sind, spürt sie die Schatten, die über dem Hof liegen, und fühlt sich selber plötzlich in der Verantwortung, sich ihnen entgegenzustellen. Das ist bei mir anders, ich fühle mich zu Hause auf diesem Bauernhof, habe ihn als Kind abgöttisch geliebt.“ (Sabrina Janesch: Interview mit Sabrina Janesch. http://www.sabrinajanesch.de/autorin/interview-mit-sabrina-janesch/ [12.06.2011]) Auch die in der Romanhandlung auf wenige Tage verkürzte Reise der Ich-Erzählerin sei in der Realität wesentlich länger und

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Nachdem in der Präsenserzählung des ersten Kapitels ein späterer Friedhofsbesuch bereits vorweggenommen wird, setzt die Gegenwartshandlung im zweiten Kapitel mit dem Tod des Zeitzeugen ein: „Der Frühling war plötzlich gekommen. An einem verregneten Montagabend im April hatte Tante Aldonas Stimme aus der Telefonmuschel gedröhnt: Djadjo ist tot, immer wieder, weil die Verbindung so schlecht war: Dja-djo ist to-ot!“ (K 16) Spätestens an dieser Stelle wird dem Leser das erinnerungskulturelle Kontextmodell der Enkelliteratur angezeigt, dessen beide Standardtypen transgenerationaler Vermittlung – die ‚direkte‘ (AIII−B1III=B1I−CI) und die ‚indirekte Überlieferung‘ (AIII=AII−B2II=B2I−CI) – von nun an die Handlungs- und Verstehensgrundlage des Romans bilden. Dass sich Nele nach der Beerdigung des Großvaters zu einer Reise zu dessen Geburtsort entschließt, ist durch ein Ereignis der Gegenwartsebene motiviert: Die zweite Generation – vertreten durch die Mutter und deren drei Brüder – weiß etwas, was der dritten Generation bisher vorenthalten geblieben ist. Doch im Trauerzug hört Nele ein Gespräch ihrer Onkel Józek und Darek mit: Jetzt sind sie beide tot. Vater wird Leszek einiges zu berichten haben, meinst du nicht, Józek? [...] Wenigstens an Vaters Beerdigung könntest du dein Maul halten, flüsterte Onkel Józek. [...] Ich habe ja gar nichts gesagt. [...] Außer, dass Vater jetzt erfährt, wie schwer so eine Sünde wiegt. Wirst du wohl ruhig sein! Onkel Józek zog mich schnell fort von Darek [...]. (K 36–37)

Mit dem Tod des Großvaters, der „der letzte seiner Generation“ (K 60) war, scheint ein Schweigegebot aufgehoben worden zu sein: „Gerüchte waren entfesselt, jetzt, da ihnen nichts mehr Einhalt gebot.“ (K 61) In den Gerüchten geht es um Stanisławs Bruder Leszek, der nie in Schlesien angekommen ist. Da es vor seinem Verschwinden nachweislich Streit zwischen ihnen gegeben hat, wurde Stanisław des Mordes an seinem Bruder verdächtigt. Dieser Verdacht wird nun in der zweiten Generation erneut thematisiert, deren Angehörige auch gegenüber der Enkelin entsprechende Anspielungen machen – folglich liegt eine ‚indirekte Überlieferung‘ (AIII=AII−B2II=B2I−CI) vor. Indes erweist sich die Schnittstelle AII als höchst unzuverlässig, denn die Mordhypothese wird keineswegs von allen

|| umständlicher gewesen, vgl. Nadine Wojcik: Polnischer Perspektivwechsel. In: DWWORLD.DE/Deutsche Welle (12.11.2010), http://www.dw.com/de/polnischer-perspektivwechsel/a-6220797 (02.06.2018). Aus pragmatischer Sicht ist daher die Annahme von unterschiedlichen „Graden der Fiktivität“ sinnvoll – demnach „können wir nach Unterschieden im jeweiligen Mischungsverhältnis fragen und etwa einen historischen Roman als relativ realitätsnah, eine phantastische Erzählung als relativ realitätsfern einstufen“ (Nickel-Bacon et al.: Fiktionssignale pragmatisch, S. 289).

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Angehörigen der ‚zweiten Generation‘ geteilt, sodass Nele mit zwei konkurrierenden Geschichtsversionen konfrontiert wird. Vor allem ihre Mutter – ihres Zeichens Historikerin – drängt Nele andeutungsreich dazu, die „Spurensuche“ (K 42) nach ihrem Großonkel aufzunehmen. Die Ungewissheit der Erzählerin kann leserseitig durch ein starkes sourcetagging verarbeitet werden, wobei den konträren Sachverhalten jeweils ein eigener Quellenkontext zugeschrieben wird. Die hierbei vorliegende und fast über den gesamten Lektüreprozess immer wieder abzurufende Metarepräsentationsstruktur kann – in Anlehnung an das in Kapitel 4.3.2 erstellte Schema – wie folgt dargestellt werden:5

Leser

Eb. 4

Autorin

Eb. 3 Erzählerin Eb. 2

Text

Eb. 1

[Autorin äußert [Erzählerin erzählt [AII1 sagt/glaubt [x]] und [AII2 sagt/glaubt [y]]]] Autorin äußert:

A

Erzählerin erzählt: AII1 sagt/glaubt, dass

A

A AII2 sagt/glaubt, dass

B2

Figuren Sachverhalt x

Sachverhalt y

C

Da der Konflikt zwischen den konträren Behauptungen innerhalb der ‚zweiten Generation‘ nicht gelöst werden kann, reist Nele in das ostpolnische Wydrza und damit an den Ort des vermeintlichen Verbrechens. Dort angekommen stellt sich heraus: „Das ganze verdammte Dorf wusste Bescheid über Djadjo und seinen Bruder.“ (K 233) Während sich der Mordverdacht erhärtet, setzt Nele ihre Reise Richtung Osten fort: Über den Bug. Mit seiner Überquerung würde ich alles hinter mir lassen, was ich noch aus Schlesien wusste oder in Wydrza erfahren hatte, die Ukraine war der eigentliche Kern meiner Reise. Um diesen Ort, Żdżary Wielkie, oder: Zastavne, ging es wirklich. (K 230)

Zastavne – das Dorf, das einst Żdżary Wielkie hieß – erfüllt für die Erzählerin die Funktion eines ‚Ortsgedächtnisses‘6. Zunächst erinnert sie vieles an den Hof des

|| 5 Mittels hochgestellter Ziffern hinter dem Kürzel AII werden die widerstreitenden Meinungen innerhalb der ‚zweiten Generation‘ bzw. darauf zurückführbare Figurengruppen unterschieden. Im Falle einer Autor-Erzähler-Kongruenz, für die es, wie gesagt, mehrere mögliche Auslöser gibt, würden die Ebenen 2 und 3 zusammenfallen. 6 Zu diesem Begriff vgl. Eichenberg: Familie – Ich – Nation, S. 78.

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Großvaters in Schlesien: die Farbe der Zäune, Flechtkränze an den Türen, traditionelle Malereien an den Bienenstöcken. Doch der Ort verfügt auch über eine Erzählerin seiner Geschichte: Nele spricht mit Malina Rafailiwna, die seit jeher in dem Dorf lebt und den Zweiten Weltkrieg noch erlebt hat: Ehrlich gesagt kann ich mich kaum noch an die alten Dorfbewohner erinnern. [...] Aber meine Eltern haben mir, so lange sie lebten, viel von den Polen im Dorf erzählt. Auch von den Janeczkis am Waldrand. Natürlich habe ich manche von ihnen auch noch persönlich gekannt, aber das ist schon so lange her ... (K 259)

Vor allem jedoch erfährt Nele, dass Leszek noch während des Krieges zum Dorf zurückgekehrt war und dort noch viele Jahre gelebt hat. Damit ist der Mordverdacht ausgeräumt und die Leerstelle in der Geschichte ihres Großvaters, die nach seinem Tod die Familie wieder verstärkt beschäftigte, gefüllt. Nach ihrer Rückkehr übergibt die Grenzgängerin Nele die in der Fremde beschaffte Information ihrer Familie als ‚Beute‘ und erreicht damit eine Stabilisierung des Familiengedächtnisses.7

5.1.1 Partielle Situationsmodellübertragung Die „Spurensuche“ der Enkelin wird immer wieder von der Vergangenheitshandlung – der Vertreibung des Großvaters und der Ansiedlung seiner Familie in

|| 7 In Anlehnung an die Erzähltheorie von Jurij M. Lotman bildet die Opposition zwischen ‚Westen‘ und ‚Osten‘ ein raumsemantisches Feld, durch das eine – für die meisten Figuren unüberschreitbare – Grenze verläuft. Diese markiert die Unverfügbarkeit jenes Teils der Geschichte des Großvaters, der für Nachkommen fragmentarisch geblieben ist bzw. in Tradierungsprozessen widersprüchliche Sinnergänzungen erfahren hat. In einem sujethaften Text kommt es Lotman zufolge jedoch zum Ereignis der Grenzüberschreitung: „Ein Ereignis in einem Text ist die Versetzung einer Figur über die Grenze des semantischen Feldes hinaus.“ (Jurij M. Lotman: Die Struktur des künstlerischen Textes. Hg. v. Rainer Grübel. Frankfurt a. M. 1973, S. 350.) Diese Grenzüberschreitung kann nur von einer privilegierten Figur vollzogen werden – in Katzenberge ist dies Nele als Vertreterin der dritten Generation. Sie vermag die Grenze zu überschreiten, weil sie gegenüber den Vorurteilen der in Schlesien aufgewachsenen Familienmitglieder unvoreingenommen ist. Von denen hat in der Tat niemand je eine Reise nach Galizien gewagt – schließlich sei man dort der Willkür böser Geister ausgesetzt (vgl. K 85). Davon abgesehen seien die Gebiete der ehemaligen Sowjetunion nicht nur gefährlich, sondern auch völlig rückständig: „In der Ukraine gibt es keine Autobahnen! Keine Straßen! Nichts!“ (K 85) Als ‚Beute‘ bezeichnet Lotman den – ideellen oder materiellen – Gegenstand, den die privilegierte Figur bei ihrer Rückkehr mitbringt und der das semantische Feld verändert, vgl. Lotman: Die Struktur des künstlerischen Textes, S. 358.

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Schlesien – unterbrochen. Die Parallelität beider Handlungsstränge folgt einem durchgängigen Kompositionsprinzip: Die von der Enkelin bereiste räumliche Achse überlagert – in umgekehrter Richtung – die Stationen der Flucht des aus Galizien vertriebenen Großvaters. Indem sie die Geschichte des Großvaters in ihre eigene – chronologisch erzählte – West-Ost-Bewegung einbettet, wird die historische Ost-West-Bewegung in analeptischen Schüben ‚rückwärts‘ erzählt. Zwischen der Gegenwarts- und der Vergangenheitsebene wird sehr häufig – meistens nach weniger als fünf Seiten – gewechselt. Die motivische Verknüpfung beider Ebenen erfolgt teilweise über die Orte und Ortschaften, die sowohl die Enkelin als auch der Großvater während ihrer Reise respektive Deportation durchquerten, teilweise aber auch über ortsunabhängige Erfahrungskontexte. So beschreibt die Erzählerin die körperliche Anstrengung einer Zugfahrt wie folgt: Ich fuhr in einem Großabteil, das voll besetzt war, und irgendwann hinter Poznań bemerkte ich, dass die Klimaanlage nicht funktionierte: Je näher der Zug Wrocław kam, desto dicker und unerträglicher wurde die Luft. Mich hielt es nicht mehr auf meinem Sitz, ich stand auf und ging hinaus auf den Korridor. Den Rest der Reise verbrachte ich stehend. (K 21)

Auf diese Gegenwartsbeschreibung folgt – nach einem Seitenumbruch – die Schilderung einer historischen Situation: Großvater sagte, als man ihn zum ersten Mal nach Schlesien gebracht habe, sei er beinahe erstickt. Die Viehwaggons, in denen man ihn und die anderen Bauern vom östlichsten Ende Polens gen Westen verfrachtet hatte, seien über und über mit Brettern zugenagelt gewesen. Fenster habe es keine in den Wänden gegeben, auch keine Löcher, aus denen man hätte gucken oder gegen die man seinen Mund hätte pressen können, um zu atmen. (K 22)

Das unmittelbare Aufeinanderfolgen dieser beiden Situationsbeschreibungen lässt sich literaturwissenschaftlich unterschiedlich erklären. Erstens handelt es sich um eine den Zeitebenenwechsel plausibilisierende Motivstruktur, die über den ganzen Roman hinweg immer wieder Verwendung findet und daher als ästhetisches Konzept wahrgenommen werden kann. Zweitens wird auf diese Weise ein Vergleichsmaßstab für Ereignisse oder Erfahrungen der Gegenwart und der Vergangenheit hergestellt – im vorliegenden Beispiel kann hiermit implizit auf die Unverhältnismäßigkeit beider Leiderfahrungen hingewiesen werden. Drittens lässt diese Art der Zeitebenenverknüpfung die Deutung zu, dass es sich bei der mit „Großvater sagte“ eingeleiteten Vergangenheitsepisode um eine Erinnerung der Enkelin während ihrer eigenen unbequemen Zugfahrt handelt. Ein solches situationsspezifisches Erinnern wäre kausal motiviert im Sinne des Phänomens der Ekphorie, wonach eine Erinnerung vorzugsweise dann spontan aus-

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gelöst wird, wenn die aktuelle Erfahrung dem Erinnerten ähnelt – oder kognitionswissenschaftlich formuliert: Bei Reizungen des Zentralnervensystems durch Wahrnehmungserfahrungen werden Bereiche des episodischen Gedächtnisses aktiviert, die sich in neuronaler Nähe zu den Schemata befinden, die bei der kognitiven Verarbeitung des Wahrgenommenen aktiviert werden.8 Viertens schließlich kann die von Janesch verwendete Form der Zeitebenenverknüpfung auch wirkungsästhetisch erklärt werden. Die dargestellten historischen Extremsituationen liegen außerhalb des Erfahrungshorizonts des Lesers und erschweren ihm daher die Konstruktion eines geeigneten Situationsmodells. Im Gegensatz dazu können bekannte – oder zumindest im Bereich eigener Erfahrungsmöglichkeiten liegende – Situationen leichter verstanden und in Form von Situationsmodellen mental repräsentiert werden. Bei der Lektüre der oben zitierten Beschreibung der alltagstypischen Erfahrung einer unbequemen Zugreise werden beim Leser Erinnerungen an ähnliche Situationen ausgelöst, auf deren Grundlage er ein Situationsmodell abrufen oder konstruieren kann. Innerhalb dieses Situationsmodells kann er die körperliche Empfindung bei hochsommerlicher Hitze und geringer Sauerstoffzufuhr sowie die räumliche Enge und Nähe zu anderen Menschen bzw. die kinästhetischen Merkmale des Stehens im bewegten Waggon mental simulieren. Es stellt sich nun die Frage, inwiefern sich dieser hohe Experientialitätsgrad auf die Rezeption der darauffolgenden historischen Situation auswirkt. Normalerweise haben eine starke Änderung von räumlichen und zeitlichen Situationsmerkmalen sowie der Wechsel der beteiligten Figuren einen Abbruch des aktuellen Situationsmodells zur Folge (siehe Kapitel 3.1.3). Hier jedoch sind im Augenblick des Wechsels auf die Vergangenheitsebene zahlreiche situationskonforme ‚Erfahrungsspuren‘ aktiv, sodass eine vollständige Aufgabe des bestehenden Situationsmodells ineffizient wäre. Naheliegender scheint in diesem Fall ein ‚Umbau‘ des bestehenden Modells mittels Anpassung oder auch Deaktivierung der veränderten Variablen. Dabei muss vor allem der Personenwaggon durch einen Viehwaggon ersetzt werden. Auch verändert sich die Nähe bzw. Distanz des Lesers zu dem figuralen Erfahrungszentrum: Da er sich nicht ohne Weiteres in die historische Figur hineinversetzen kann, nimmt er wahrscheinlich eine periphere || 8 Für diese dritte Erklärung gibt es allerdings in Katzenberge kaum Anhaltspunkte. Zum einen wird die Vergangenheitsebene nirgends explizit als eine in die Gegenwartshandlung eingebettete Erinnerung ausgewiesen. Zum anderen wird dieser Interpretation mittels Seitenumbrüchen oder Leerzeichen vorgebeugt – dass Absätze von Lesern tendenziell als Signal für einen Situationswechsel gedeutet werden, zeigt die empirische Studie von Shaojun Ji: What Do Paragraph Divisions Indicate in Narrative Texts? In: Journal of Pragmatics 40 (2008) H. 10, S. 1719–1730. Die Erzählungen des Großvaters werden demnach nicht vom erlebenden Ich erinnert, sondern retrospektiv vom erzählenden Ich mit den eigenen Erfahrungen verknüpft.

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Perspektive auf das historische Geschehen ein. Mangels Vergleichserfahrungen werden die meisten Leserinnen und Leser ihren imaginären Beobachterposten sogar außerhalb des Viehwaggons einnehmen (während die Reisesituation der Enkelin aus dem Waggoninneren – gegebenenfalls sogar figurenzentriert – perspektiviert werden dürfte). Indem nun die Vergangenheitshandlung im Modus des ‚verkörperten Denkens‘ rezipiert wird, erhält der Leser einen experientiellen Zugang zu der historischen Situation und setzt eine mentale Simulation derselben in Gang. Indes ist die Aktivierbarkeit von ‚Erfahrungsspuren‘ im Rahmen der Verarbeitung dieses RS-Modells beschränkt – da der Leser selbst über keine autobiografischen Erfahrungen mit Deportationen verfügt, kann er diese historische Erfahrung bei Weitem nicht in ihrer ganzen Komplexität experientiell nachvollziehen. Daher greift er ersatzweise auf anachronistische Erfahrungsparameter zurück, die für das vorliegende Beispiel etwa folgende Verteilung aufweisen könnten:

Abb. 9: ‚Direkte Überlieferung‘ mit RS-Modellbildung

Da die eingeschobenen historischen Episoden jeweils mit „Großvater sagte“ eingeleitet werden, weist sich die Enkelin selbst als Erzählerin der Erfahrungen des Großvaters aus und markiert explizit den Vermittlungstyp einer ‚direkten Überlieferung‘ (AIII−B1III=B1I−CI). Für den Leser kann diese im Zeitraum B1 angesiedelte Repräsentationsebene experientiell wirksam werden, sobald er diese Inquit-Formel nicht bloß propositional verarbeitet, sondern mit sprachpragmatischen Aspekten anreichert, die er unter Rückgriff auf eigene Erfahrungen mit

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transgenerationalen „Erzählungen von früher“ in seinen Sprachverstehensprozess einbindet. Dank seiner virtuellen Präsenz als Beobachter innerhalb des RSModells kann er diese sprachpragmatischen ‚Erfahrungsspuren‘ inferenziell in die mentale Simulation der historischen Situation einspeisen. Die KSB1 ist jedoch als Quellenkontext für E3 jeweils nur zu Beginn der Vergangenheitsepisoden aktiv, denn die narratoriale Perspektive wird jeweils spätestens ab dem zweiten Absatz deutlich geschwächt: Während die auf die Inquit-Formel folgenden Sätze in der Regel im Konjunktiv stehen und somit das Erzählerinnenbewusstsein zunächst linguistisch präsent gehalten wird, wechselt Janesch jeweils kurz darauf in den Indikativ und fördert somit die Geschehensillusionen auf der Ebene CI. Auch wird dann nicht mehr vom „Großvater“ gesprochen, sondern der Eigenname Janeczko verwendet. Durch diesen Wechsel in der Erzählweise konzentriert sich die Aufmerksamkeit des Lesers stärker auf die Ebene des historischen Geschehens, sodass ‚Erfahrungsspuren‘ der Ebene E3 allmählich nicht mehr durch Merkmale der Kommunikations-, sondern der Referenzsituation – etwa direkte Figurenrede – ausgelöst werden. Welche emotionalen Zustände die Figuren der Zeitebene B1 aufweisen, bleibt dem Leser über den gesamten Roman hinweg verborgen, denn an keiner Stelle wird der Vermittlungsprozess zwischen Großvater und Enkelin (B1III=B1I) auch nur andeutungsweise in einen situativen Kontext gestellt – eine kognitive Verarbeitung von KSB1-Modellen kann für den gesamten Roman ausgeschlossen werden. Aber auch die historische Referenzsituation gibt in dem oben zitierten Textauszug zunächst noch keinen Hinweis auf den emotionalen Zustand des Großvaters und der anderen Bauern. In diesem Situationsauftakt gibt es somit noch kein textuelles Emotionssignal – es bleibt daher dem Leser überlassen, mit welcher Einstiegsemotion er auf diese Situationsschilderung reagiert oder ob er auf die Verarbeitung von E2-‚Erfahrungsspuren‘ vorübergehend verzichtet. Im Verlauf dieser Episode ist allerdings bald schon die Rede von Nervosität und Todesangst der Figuren, sodass der Leser ein konkretes Angebot für Empathie- oder Sympathiereaktionen erhält und seine Möglichkeiten für die Enaktivierung oder Zuschreibung von Bewusstseinszuständen erweitert werden. Die Struktur der experientiellen Vernetzung kann sich somit – wie hier vor allem durch Verschiebungen auf den Ebenen E2 und E3 – relativ kurzfristig verändern. Daher haben die Ergebnisse von Experientialitätsanalysen mit dem hier verwendeten Analysemodell exemplarischen Charakter und gelten nur für die jeweilige Stichprobe. Im Vergleich zu Modellen der narratologischen Textstrukturanalyse erweist es sich jedoch als relativ beständig. Denn während sich der Erzähltext in seiner Perspektivenstruktur und narrativen Mittelbarkeit oftmals

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sogar satzweise ändert, weist die Erzähltextwirkung dieser textstrukturellen Dynamik gegenüber eine gewisse Latenz auf. Denn zwar wird die vom Leser mental verarbeitete Metarepräsentationsstruktur auf Grundlage des Textes gebildet, jedoch hat sie auch dann noch Bestand, wenn sie die Erzählung nicht mehr explizit bedient – solange eine Repräsentationsebene als dauerhaft relevant eingeschätzt wird und keine deutlich widersprechenden Textsignale eintreffen, kann sie auch ohne textuelle Realisierung über einen längeren Lektüreabschnitt hinweg aktiv bleiben. Während die emotionale Reaktion auf die Deportationsbeschreibung nur vorübergehend vollständig dem Leser überlassen wird, dürfte er für die Ebene E4 seines Erfahrungshintergrundes nahezu über den gesamten Roman hinweg auf sich selbst gestellt bleiben. Das liegt vor allem daran, dass beispielsweise die geschichtspolitische Bedeutung der Westverschiebung Polens und die Identitätsprobleme bei der Umsiedlung galizischer Bevölkerungsteile nach Schlesien fast nirgends – weder auf figuraler noch auf narratorialer Ebene – reflektiert und kommentiert werden. Ganz anders geht Maja Haderlap mit ihrem regionalgeschichtlichen Schwerpunkt in Engel des Vergessens (2011) um: Hier wird die besondere Rolle der slowenischen Minderheit in Österreich während des Kriegs und in der Nachkriegszeit sowie bis in die Gegenwart hinein ausführlich von der Erzählerin herausgearbeitet und in fast schon essayistischen Exkursen kontextualisiert und beurteilt. Der Leser blickt somit besonders aufmerksam auf die Erzählergegenwart (ES) und kann die slowenische Minderheitenerfahrung im erinnerungskulturellen Kontext Österreichs mit eigenen E4-‚Erfahrungsspuren‘ abgleichen und dabei experientiell verarbeiten.9 Während in Katzenberge nur die Rezipienten von der partiellen Situationsmodellübertragung Gebrauch machen, wird dieselbe kognitive Technik häufig auch durch die Figuren vorgeführt. In Engel des Vergessens etwa wird die Großmutter in alltäglichen Situationen der Zeitebene B1 von ekphorisch ausgelösten Erinnerungen heimgesucht und gibt diese dann jeweils direkt an ihr Enkelkind weiter. So erzählt sie etwa beim Kochen von ihrer Arbeit in der Küche des Konzentrationslagers,10 beim Brotbacken von den kleinen Brotrationen dort (vgl. EV 10) und beim Einkaufen davon, wie sie nach Kriegsende betteln musste (vgl. EV 39). Die partielle Situationsmodellübertragung erfolgt hier bereits im Figurenbewusstsein und macht sich als eine Erinnerungstechnik bemerkbar – basierend auf dem oben beschriebenen Phänomen der Ekphorie. Die syntagmatische Verknüpfung

|| 9 Siehe hierzu detaillierter Kapitel 5.1.3. 10 Vgl. Maja Haderlap: Engel des Vergessens. Roman. Göttingen 2011, S. 6–7. Im Folgenden zitiert als EV mit Seitenzahl.

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von auffallend ähnlichen Situationen unterschiedlicher Zeitebenen erklärt sich somit nicht erst – wie bei Janesch – durch poetologische oder semantische Analysen, sondern ist schlichtweg als ein narratives Verfahren der ‚Mimesis des Erinnerns‘11 aufzufassen. Diese figurale partielle Situationsmodellübertragung wird in der Rezeption des Lesers wiederholt und durch eigene Vorstellungsbildungen nachvollzogen. In einer nochmals anderen – nämlich von der Erzählerin reflektierten – Form tritt die Technik der partiellen Situationsmodellübertragung in einem Beispiel aus Eine exklusive Liebe (2009) von Johanna Adorján auf, die sich fünfzehn Jahre nach dem Freitod ihres Großvaters mit dessen jüdischer Lebens- und Leidensgeschichte auseinandersetzt. Hier wird die gegenwartsbezogene Vergleichserfahrung gezielt dem Leser gegenüber kommuniziert: „Es gab Zeiten, da habe ich mich, wenn ich beim Joggen nicht mehr konnte, mit dem Gedanken daran motiviert, dass ich die Enkeltochter eines Mannes bin, der im Gehen schlafen konnte. Weil er musste. Weil sein Leben davon abhing. Hat immer funktioniert.“12 Auf diese allgemeinverständliche und dem Leser bekannte Körpererfahrung der Gegenwartsebene folgt eine Beschreibung der sogenannten Todesmärsche nach der Räumung von Konzentrationslagern, die Adorjáns Großvater zu erleiden und zu überstehen hatte: Im Internet finde ich Berichte über sogenannte Todesmärsche, auf denen Gefangene in den letzten Wochen des Krieges wegen Überfüllung von Mauthausen nach Gunskirchen überführt wurden. Ich lese, dass SS-Männer jeden, der stehen blieb, der vor Erschöpfung zusammenbrach oder sich nur bückte, um die Schnürsenkel zusammenzubinden, auf der Stelle erschossen. Kinder, Frauen, Männer, sie machten keinen Unterschied. Wer das Tempo nicht hielt, wurde erschossen. Ausnahmslos. Es starben Tausende auf diesen Märschen. Ich bin natürlich erschüttert, als ich davon lese, aber ich bin auch erleichtert. Es stimmt also, ich bin diese Enkelin.13

Da die Todesmärsche hier nicht nur sachlich durch Ortsangaben, Zeitpunkt und Opferzahlen beschrieben, sondern auch durch die Erwähnung von Figuren und konkreten körperlichen Handlungen vorstellbar gemacht werden, regt diese knappe Beschreibung zur Bildung eines RS-Modells an. Die kurz zuvor erwähnte Körpererfahrung der Enkelin kann für die mentale Simulation eines Todesmarsches weiterverwendet werden und erfüllt somit in Bezug auf die historische Erfahrung des Großvaters eine enaktive Funktion. Allerdings kann sich der Leser

|| 11 Vgl. Basseler/Birke: Mimesis des Erinnerns. 12 Johanna Adorján: Eine exklusive Liebe. München 2009, S. 22. 13 Adorján: Eine exklusive Liebe, S. 23.

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die historische Situation nicht vollständig experientiell verfügbar machen – bei der Aktivierung von ‚Erfahrungsspuren‘ ‚oberhalb‘ der räumlichen und körperlichen Situationswahrnehmung greift er daher auf übergeordnete Handlungskontexte zurück. So kann er etwa anstelle von Mitleid gegenüber den KZ-Gefangenen ein empathisches Verhältnis zur Erzählerin aufbauen, die ihre Erschütterung14 respektive Erleichterung selbst kundtut – die lektürebasierte emotionale Erfahrung des Lesers wird hierbei nicht durch die historische Erfahrung evoziert, sondern durch die Reaktion der Erzählerin auf diese historische Erfahrung ihres Großvaters. Auch die experientiellen Wirkungen der dritten und vierten Ebene des Erfahrungshintergrundes verdanken sich augenscheinlich der Gegenwartserfahrung der Erzählerin: Zum einen thematisiert die Erzählerin explizit ihre internetbasierte Recherche und inszeniert somit die eigene Informationsbeschaffung und Lektüre als Erfahrung. Dies vermag der Leser experientiell nachzuvollziehen, indem er ‚Erfahrungsspuren‘ der dritten Ebene seines Erfahrungshintergrundes aktiviert. Zum anderen geht es in dieser Passage um die Frage einer transgenerationalen Identität. Die Todesmarscherfahrung des Großvaters motiviert die Enkelin beim Joggen, aber vor allem begreift sie dessen unwahrscheinliches Überleben als Existenzbedingung ihrer selbst. Solche identitätstheoretischen und lebensphilosophischen Fragen können leserseitig unter Abruf von ‚Erfahrungsspuren‘ der vierten Ebene des Erfahrungshintergrundes experientiell nachvollzogen werden. Die experientielle Gesamtwirkung dieser Todesmarschepisode weist somit die in Abb. 10 skizzierte Vernetzungsstruktur auf: Da die erzählten Inhalte auf einer Quellenrecherche jenseits transgenerationaler Vermittlungskontexte beruhen, kann die ‚Zwischenzeit‘ (B) innerhalb des Dreigenerationenschemas ‚ausgeblendet‘ werden (nicht nur in der hier verwendeten Grafik, sondern auch kognitiv in der Rezeption). Folglich sind auch die Erfahrungen der Enkelerzählerin in der Gegenwartsebene nicht mehr in einen transgenerationalen Kommunikationskontext eingebettet und finden somit nicht innerhalb einer KSA im Sinne der in Kapitel 4.4 definierten funktionalen Bestimmung statt. Gleichwohl kann sich der Leser die erfahrungsbasierte Recherchetätigkeit (E3) und die darauf folgende Erschütterung (E2) – unter Verwendung geeigneter Inferenzen – innerhalb eines situativen Kontextes vorstellen und mental simulieren. Daher steht in Abb. 10 an der Stelle der KSA die neutralere Bezeichnung SA für ein beliebiges Situationsmodell eines Situationsgeschehens der

|| 14 Dieser emotionale Zustand wird nicht nur benannt, sondern auch erzählerisch zum Ausdruck gebracht: Die wörtliche Wiederholung von „erschossen“ und die inhaltliche Dopplung bei „jeden“ und „ausnahmslos“ sowie der parataktische Stil werden augenscheinlich als Emotionalisierungsstrategie eingesetzt.

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Gegenwartshandlung. Die Identitäts- und Existenzfragen der Ebene E4 sind wiederum nicht mehr an die Recherchesituation SA gebunden, sondern können als Elemente des Erzählerinnenbewusstseins aufgefasst und somit als ein der Erzählergegenwart zuzuschreibender Erzählerkommentar interpretiert werden.

Abb. 10: Quellenrecherche mit RS-Modellbildung

Wohlgemerkt soll die – für das Verfahren der partiellen Situationsmodellübertragung erforderliche – syntagmatische Verknüpfung von Erfahrungen der ‚ersten‘ und ‚dritten Generation‘ nicht deren Vergleichbarkeit nahelegen. Weder möchte Janesch auf Ähnlichkeiten zwischen einem überhitzten Personenzug und den Deportationen im Zweiten Weltkrieg hinweisen noch meint Adorján die Strapazen bei Todesmärschen mit ihrer Erschöpfung beim Joggen vergleichen zu können. Bei der kognitionsnarratologischen Experientialitätsanalyse geht es nicht um semantische Zusammenhänge, sondern um die Art und Weise, wie sprachlich aufbereitetes Geschichtswissen zugänglich gemacht und kognitiv verarbeitet sowie im Gedächtnis der Leser gespeichert werden kann. Dabei sieht sich die Enkelliteratur einem Dilemma ausgesetzt: Einerseits kann das Unvorstellbare nicht vorstellbar gemacht werden. Aber andererseits sind rein statistische und abstrakte Geschichtsdarstellungen nur in Form von amodalen Repräsentationen zu verarbeiten – womit die Dimensionen historischer Erfahrung ebenfalls verfehlt werden. Die Lösung besteht darin, die geschichtliche Sachinformation zu erhalten, deren kognitive Verarbeitung aber mit experientiellen Reaktionen zu begleiten, die mindestens eine modale Gemeinsamkeit mit der dargestellten historischen

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Erfahrung haben. Um die Leserinnen und Leser auf diese eine Gemeinsamkeit aufmerksam zu machen, kann auf die hier vorgestellten narrativen Techniken für partielle Situationsmodellübertragungen zurückgegriffen werden. Indes handelt es sich hierbei keineswegs um eine rein literarische Memorialtechnik, denn ähnliche Vermittlungsverfahren werden auch in Zeitzeugengesprächen angewendet: Wenn der Großvater seinem Enkelkind vom Krieg erzählt und eine Oberschenkelverletzung schildert, kann er ihm währenddessen mit einem Bleistift auf den Oberschenkel tippen. Die Verarbeitung der Sachinformation wird hierbei durch eine modal identische, wenn auch ungleich schwächere Erfahrung begleitet. Auf die gleiche Weise kann die kognitive Verarbeitung des Wissens über den Todesmarsch von der simulierten Erfahrung eines ungleich schwächeren Erschöpfungszustandes begleitet werden. In beiden Fällen wird von den Möglichkeiten der ‚verkörperten‘ Kognition Gebrauch gemacht, wodurch der Verstehensprozess intensiviert und das Geschichtswissen fester im Gedächtnis verankert wird.

5.1.2 Das ‚namenlose Monster‘ als experientielle Metapher der Angst In den Erzählungen von Neles Großvater taucht häufig eine monströse Kreatur auf. Erstmals habe sie sich gezeigt, als er das Haus in Schlesien in Besitz nahm, dessen deutscher Vorbesitzer sich auf dem Dachboden erhängt hatte. Da Janeczko und seine Frau nur zwei von drei Bannungsritualen zu vollziehen vermögen, können sie sich nicht von dem „Fluch [...], der über den Katzenbergen lag“ (K 69), befreien und werden fortan immer wieder von dem ‚Monster‘15 bedroht. Die Enkelerzählerin übernimmt diese irrationalen Ereignisbeschreibungen ohne Ironie und ohne psychologischen Deutungsversuch in ihre Nacherzählung.16 Über die

|| 15 In der Ethnologie ist die Bezeichnung ‚Monster‘ frei von kulturspezifischen Konnotationen und fungiert als Sammelbegriff für „supernatural, mythical, or magical products of the imagination“ (David D. Gilmore: Monsters. Evil Beings, Mythical Beasts, and All Manner of Imaginary Terrors. Philadelphia 2003, S. 6), wobei sie freilich stets das ‚Böse‘ und ‚Schreckliche‘ verkörpern (vgl. Gilmore: Monsters, S. 1, passim). 16 Der Roman wird daher gelegentlich dem magischen Realismus zugeordnet, vgl. aus literaturwissenschaftlicher Sicht Sabine Egger: Magical Realism and Polish-German Postmemory: Reimagining Flight and Expulsion in Sabrina Janesch’s Katzenberge (2010). In: Interférences littéraires/Literaire interferenties (2014) Nr. 14, S. 65–78, sowie die Rezension von Sabine Rohlf: Einmal Galizien und zurück. Sabrina Janesch erkundet die Vertreibung von Ost- nach Westpolen. In: Berliner Zeitung (09.12.2010).

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Funktion dieses phantastischen Elements herrscht Uneinigkeit.17 Im Folgenden sollen darstellungsästhetische von rezeptionsästhetischen Funktionen unterschieden werden. Mit Blick auf die Inhaltsebene ist festzuhalten, dass der Glaube an Dämonen und übernatürliche Kräfte auch im zwanzigsten Jahrhundert noch überdurchschnittlich stark in Galizien verbreitet ist.18 Janeczko wurde einstmals selbst von seinen Vorfahren (vgl. K 144) mit der Existenz der „galizischen Teufel“ (K 114) und ihren typischen Verhaltensweisen vertraut gemacht – daher ist es nur konsequent, dass er sich seine Erlebnisse in der Fremde unter Rückgriff auf die galizischen Mythen begreiflich macht. Dass sich nun auch die aufgeklärte Enkelin als Augenzeugin des ‚Monsters‘ wähnt und mit ihrer Galizienreise die dritte und letzte Bannung in Angriff nimmt, indem sie ‚heimische Erde‘ mitbringt, um sie auf das Grab des Großvaters zu streuen, mag als identitätsstiftendes Bekenntnis zur galizischen Herkunft oder auch schlichtweg als sentimentaler symbolischer Akt gedeutet werden. In jedem Fall nimmt das ‚Monströse‘ einen semantisch aufgeladenen Platz innerhalb eines insgesamt sinnstiftenden Narrativs ein und stabilisiert die kulturelle Identität, indem es die Grenze zu einem ‚Anderen‘ markiert. Die Integration eines ‚Monsters‘ beginnt Marie Beville zufolge mit seiner Benennung und Klassifizierung: „[T]he monster, once it has been categorised, is no longer a monster. Instead it is a ‚werewolf‘, a ‚vampire‘, a ‚zombie‘, or a ‚cyborg‘. Its excess, which is its monstrous nature, is sidestepped when it is classified, and when we are allowed to evaluate our levels of fear in relation to it from a position of safety and distance.“19 Da sein unheilvolles Treiben von den Galiziern gedeutet und strategisch bekämpft werden kann, scheint auch das ‚Monster‘ in Katzen-

|| 17 Die vor allem von Rezensentinnen und Rezensenten vorgeschlagenen Deutungen fasst Agnieszka Palej zusammen: „Die Kreatur symbolisiert einerseits den Aberglauben und die Traditionen, die die Migranten aus dem galizischen Volksglauben mitgebracht haben, andererseits vielleicht Relikte der deutschen Vergangenheit, etwa den Vorbesitzer des Hofes, der sich für den Selbstmord auf dem Dachboden entschied. Die Figur des Biests kann als Gedächtnisspuren von Krieg, Vertreibung und Massenmord, aber auch als die Verkörperung des kulturell Fremden interpretiert werden.“ (Agnieszka Palej: Fließende Identitäten. Die deutsch-polnischen Autoren mit Migrationshintergrund nach 1989. Kraków 2015, S. 197.) 18 Gesellschaftliche und ökonomische Modernisierungsprozesse setzten in Galizien vergleichsweise spät ein, vgl. hierzu etwa den Sammelband von Elisabeth Haid/Stephanie Weismann/Burkhard Wöller (Hg.): Galizien. Peripherie der Moderne – Moderne der Peripherie? Marburg 2013. 19 Maria Beville: The Unnameable Monster in Literature and Film. New York/London 2014, S. 5.

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berge auf den ersten Blick bloß als Ausdruck des kulturellen Selbstverständnisses der literarischen Figuren zu fungieren. Auffallend ist hierbei allerdings, dass es keinen Namen hat – abwechselnd wird es als „Wesen“ (K 63), „Gestalt“ (K 69) oder „Biest“ (K 71) bezeichnet – und demnach offenbar weit weniger klassifizierbar ist, als es zunächst den Anschein hat. Zudem sind ihm Janeczko und seine Frau tatsächlich unterlegen – die Angst treibt Janeczko fast in den Wahnsinn und die permanente Ungewissheit angesichts der ausbleibenden dritten Bannung lässt die historischen Akteure ohnmächtig erscheinen. Da das ‚Monster‘ in Katzenberge zum einen namenlos bleibt und somit keinen konkreten Bezug zum kulturellen Gedächtnis Galiziens aufweist und zum anderen seine vermeintlich bekannte Bedeutung weder von der Erzählerin noch von den Figuren explizit preisgegeben wird, kann es als bloße Metapher aufgefasst werden. Hierbei interessiert allerdings weniger deren ästhetische Dimension als vielmehr die mit ihrer kognitiven Verarbeitung einhergehenden Verstehensprozesse in der Rezeption. Die Kognitive Literaturwissenschaft kann hierbei auf George Lakoff und Mark Johnson zurückgreifen, die anhand zahlreicher Beispiele gezeigt haben, „daß die Metapher unser Alltagsleben durchdringt, und zwar nicht nur unsere Sprache, sondern auch unser Denken und Handeln“20. In ihrer Studie treffen sie die Feststellung, „daß metaphorische Konzepte Möglichkeiten darstellen, eine Erfahrung partiell in Begriffen einer anderen Erfahrung zu strukturieren“21 und „wir mit Hilfe von Metaphern einen Erfahrungsbereich von einem anderen Erfahrungsbereich her verstehen können“22. Für Katzenberge kann somit erwogen werden, dass die Begegnungen der Figuren mit dem ‚Monster‘ lediglich ihren Bewusstseinszustand im Angesicht einer historischen Wirklichkeit verdeutlichen sollen, die nicht tatsächlich von ‚Monstern‘ bevölkert ist, aber auf ähnliche Weise als unbegreiflich und beängstigend erfahren wird. Da sich das Unbegreifliche und Beängstigende jeglicher Darstellbarkeit entzieht, fungiert das ‚namenlose Monster‘ hier – völlig unabhängig vom literarischen Topos Galizien – als Signifikant für das Nicht-Repräsentierbare.23 Zwar können Angstgefühle prinzipiell auch wörtlich benannt und nichtfigurativ kommuniziert

|| 20 George Lakoff/Mark Johnson: Leben in Metaphern. Konstruktion und Gebrauch von Sprachbildern. Heidelberg 1998, S. 11. 21 Lakoff/Johnson: Leben in Metaphern, S. 93. 22 Lakoff/Johnson: Leben in Metaphern, S. 137. 23 Vgl. hierzu im Ganzen den Ansatz von Beville: The Unnameable Monster in Literature and Film, S. 5.

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werden, aber dann lediglich in schematischer Form, denn Erfahrungen und Bewusstseinszustände können per se nicht als solche repräsentiert werden.24 Auch Caracciolo hält die Metapher für ein geeignetes Mittel, um dem Leser einen Erfahrungsbereich anzubieten, der ihm zugänglicher ist als der eigentlich gemeinte: Through metaphors and similes, the reader is invited to imagine experiences [...] and to associate them with the target experience, thus being provided not with the experience itself, but with a good approximation of it. [...] [L]iterary texts can convey a sense of what it is like to have a given experience by metaphorically associating another experience with it.25

Da der nachgeborene Leser die von Aberglauben und Existenznöten geprägten Verlust- und Fremdheitserfahrungen Janeczkos nicht mit eigenen ‚Erfahrungsspuren‘ abgleichen kann, bietet ihm Janesch mit den Auftritten des ‚Monsters‘ Ersatzerfahrungen an, die er im Rahmen eines konstruierten Situationsmodells mental zu simulieren vermag. An die Stelle der gegenstandslosen Angst der Figuren setzt der Leser in seiner Vorstellung eine gegenstandsbezogene Furcht vor einem zwar weitgehend unbestimmten, aber immerhin visuell (vgl. K 27), akustisch (vgl. K 69), olfaktorisch und haptisch (vgl. K 104) wahrnehmbaren Objekt. Die leserseitig simulierte Erfahrung der Begegnung mit dem ‚Monster‘ weicht somit zwar von der ursprünglichen Angsterfahrung im historischen Kontext ab, jedoch ermöglicht die kognitive Verarbeitung des uneigentlichen Erlebnisbereichs ein besseres – nämlich experientielles – Verständnis der dargestellten historischen Erfahrung. Vor allem scheint sich diese Abweichung von einer historisch kontextualisierbaren Angst auch auf die Perspektivenkonstruktion bei der RSModellbildung auszuwirken: Die unerklärliche Gestalt und übernatürliche körperliche Präsenz des ‚Monsters‘ sowie seine Unberechenbarkeit ist für die historischen Figuren und den Leser gleichermaßen erfahrbar. Die Bedrohung ist nicht mehr auf historische Kausalität zurückzuführen und insofern als rein existenzielle Erfahrung besonders gut nachvollziehbar. Daher dürfte sich für die meisten Leserinnen und Leser in den Situationen, in denen das ‚Monster‘ auftaucht, eine figurenzentrierte Perspektivierung anbieten, die entsprechend weitreichendere Enaktivierungsmöglichkeiten mit sich bringt.

|| 24 Das hat Caracciolo im Rahmen seiner anti-repräsentationalistischen Experientialitätstheorie deutlich gemacht, siehe Kapitel 2.2.2. 25 Caracciolo: The Experientiality of Narrative, S. 106.

198 | Beispielanalysen 5.1.3 Erinnern jenseits der Nationalgeschichtsschreibung Da die Massenmorde und Vertreibungen in Galizien nicht eine homogene nationale oder ethnische Gruppe betrafen, konnte sich im Nachhinein kein einheitliches kollektives Gedächtnis herausbilden, welches diese Ereignisse erklärt und deren politische Aufarbeitung vorangetrieben hätte. Da es „für die vielen Einzelnen aus Galizien auch keine institutionellen Stützen, inklusive staatliche Fördergelder, gab, die auf eine Stützung, Sammlung oder Weiterführung der Erinnerungen in einem kollektiven Gedächtnis hätten hinwirken können“26, fällt es den Nachgeborenen besonders schwer, die „blinden Flecken“ (K 46) ihrer Eltern bzw. Großeltern auszufüllen. „Galizien [blieb] weitestgehend auf das Feld privater Erinnerung und Verstörung [...] beschränkt“27, sodass die Tradierung der Erinnerung auf die Funktionen des Familiengedächtnisses angewiesen ist. Wenn jedoch das Familiengedächtnis einen kommunikativen ‚Bruch‘ erleidet, wie er sich mit dem Tod der Zeitzeugen ereignet, dann stehen den Nachgeborenen kaum Museen oder Archive zur Verfügung, um ihre Identitätsbedürfnisse zu befriedigen. Sie sind daher umso mehr auf Nachforschungen im Radius der eigenen Familie sowie auf nichtwissenschaftliche Recherchemethoden angewiesen. Der Roman Katzenberge wird von dieser Problematik beherrscht: An keiner Stelle fragt sich der Leser, warum die Erzählerin nicht einfach Archive durchforstet und Museen oder Gedenkstätten besucht. Vielmehr stellt der Text überzeugend dar, dass es keine öffentlichen Gedenkpraktiken für die Opfergruppe gibt, der ihr Großvater angehört, und die Erinnerungsarbeit der Enkelin somit auf das kommunikative Gedächtnis der Familie und des Dorfes sowie auf einzelne autobiografische Gedächtnisse angewiesen ist. Da jedoch die hierbei verwendeten Verfahren und erzielten Ergebnisse einer Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden, wird Galizien, indem es für erinnerungskulturelle Interessen und Identitätsbedürfnisse nachgeborener Generationen funktionalisiert und somit in kollektiven Gedächtnissen aktualisiert wird, als imaginärer Landschafts- und Erinnerungsraum wieder ‚lebendig‘. Wie in Kapitel 5.1.1 bereits angemerkt, verdankt sich diese ‚Lebendigkeit‘ vor allem der Aktivierung von ‚Erfahrungsspuren‘ der vierten Ebene des Erfahrungs-

|| 26 Werner Nell: Bücher, Menschen, Massenmord. Die Wiederentdeckung Galiziens in der deutschen, polnischen und nordamerikanischen Literatur nach 1990 – Eine Skizze. In: Das ‚Prinzip Erinnerung‘ in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur nach 1989. Hg. v. Carsten Gansel und Pawel Zimniak. Göttingen 2010. S. 445–460, hier S. 452. 27 Nell: Bücher, Menschen, Massenmord, S. 453.

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hintergrundes: Indem die kulturellen und politischen sowie erinnerungskulturellen und identitätstheoretischen Aspekte der Galizienthematik ähnliche Erfahrungen bei den Lesern wachrufen, können sie diese Informationen experientiell verarbeiten. In Katzenberge wird der Leser hierbei kaum textuell angeleitet, weil sich der Roman nicht selbst als Beitrag zu einem kulturgeschichtlichen Diskurs oder als Anwalt für ein wenig beachtetes erinnerungskulturelles Spezialgebiet inszeniert – zwar schreibt Janesch über ein marginalisiertes Thema, aber nicht über dessen Marginalität.28 Manche andere Autorinnen und Autoren der Enkelliteratur, die ebenfalls Familiengeschichten mit einem regionalen Schwerpunkt erzählen, werben hingegen offen für kulturpolitische Positionen und gehen mit erinnerungskulturellen Institutionen ins Gericht. Haderlap etwa gehört der slowenischen Minderheit in Kärnten an und widmet sich in ihrem teilweise autobiografischen29 Roman Engel des Vergessens dem Schicksal der slowenischen Bevölkerung in Kärnten während des Zweiten Weltkriegs und dem Widerstand der slowenischen Partisanen. Damit greift sie ein in der wissenschaftlichen Geschichtsschreibung bisher wenig beachtetes und in der österreichischen Erinnerungskultur kaum präsentes Thema auf. Daher wurde ihr Buch von Beginn an nicht nur als literarisches Werk, sondern auch als geschichtspolitisches und erinnerungskulturelles Dokument wahrgenommen.30 Ähnlich wie in Katzenberge

|| 28 Dies schließt freilich nicht aus, dass Janesch wenigstens implizit auf die sträfliche Vernachlässigung Galiziens in der erinnerungskulturellen Aufarbeitung des Zweiten Weltkriegs aufmerksam macht. Dies wurde im Übrigen auch von einigen Rezensentinnen und Rezensenten lobend angemerkt, so etwa von Nina Apin: Reisen mit den Dämonen. In: Die Tageszeitung (06.10.2010), und Wojcik: Polnischer Perspektivwechsel. Ihren Aufklärungsanspruch unterstreicht die Autorin auch dadurch, dass sie auf ihrer Homepage die historischen Hintergründe ihres Romans in Form eines historiografischen Sachtextes nachreicht und somit die literarischen Inhalte auf einen makrohistorischen Kontext bezieht, vgl. http://www.sabrinajanesch.de/werke/katzenberge/galizien-und-schlesien/ (23.05.2017). 29 Dies war nicht nur zahlreichen epitextuellen Selbstzeugnissen der Autorin zu entnehmen, sondern wird auch durch die Übereinstimmungen der im Klappentext mitgelieferten Kurzbiografie der Autorin mit den Lebensdaten der Protagonistin nahegelegt: Alter, Geburtsort, Studium, Beruf und literarisches Schaffen stimmen miteinander überein. 30 Einige Rezensentinnen und Rezensenten halten Haderlaps Text weniger für einen Roman als vielmehr für ein „politisches Statement“ und „ein den Kärntner Slowenen […] gesetztes Denkmal“ (Isabella Pohl: Im Wald der Wörter. Maja Haderlaps Roman „Engel des Vergessens“. In: Literatur und Kritik 46 [2011] H. 457/458, S. 86–87, hier S. 86). Zu einer ähnlichen Einschätzung gelangt der Historiker Wilhelm Baum: „Maja Haderlap hat keinen Roman geschrieben; das Buch enthält (leider) keine Fiktionen, es ist ein sprachlich hervorragend gestaltetes Panorama der Geschichte der Kärntner Slowenen seit dem Ende des ersten Weltkrieges, das in erster Linie am Schicksal der Großmutter und des Vaters aufgerollt wird, jedoch viele noch wenig bekannte ‚Na-

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ist auch Haderlaps Enkelerzählerin eine ‚Grenzgängerin‘31 – und zwar nicht nur zwischen geografischen Regionen, sondern auch zwischen unterschiedlichen Geschichtsbildern. Mit dem Beginn ihres Studiums in Wien wird sie zu einer Pendlerin zwischen der Provinz und der Großstadt und wird dabei auf grundlegende geschichtspolitische Differenzen aufmerksam: „Die Reisen zwischen Wien und meinem Heimatort entwickeln sich zu Zeitexpeditionen, zu Fahrten durch unterschiedliche Zeitläufe und Geschichtsvarianten, die nebeneinander existieren.“ (EV 185) Diese Erfahrung der Gegensätzlichkeit zweier erinnerungskultureller Lebenswelten deutet die Erzählerin als gesellschaftliche Fehlentwicklung. Daher versucht sie, diese Problematik politisch zu kontextualisieren: Zwischen der behaupteten und der tatsächlichen Geschichte Österreichs erstreckt sich ein Niemandsland, in dem man verloren gehen kann. Ich sehe mich zwischen einem dunklen, vergessenen Kellerabteil des Hauses Österreich und seinen hellen, reich ausgestatteten Räumlichkeiten hin- und herpendeln. Niemand in den hellen Räumen scheint zu ahnen oder vermag es sich vorzustellen, dass es in diesem Gebäude Menschen gibt, die von der Politik in den Vergangenheitskeller gesperrt worden sind, wo sie von ihren eigenen Erinnerungen attackiert und vergiftet werden. (EV 185–186)

Hiermit prangert die Erzählerin (respektive Autorin) nicht nur den Ausschluss der slowenischen Minderheit aus der offiziellen österreichischen Erinnerungskultur an, sondern auch die staatlich organisierte Verdrängung und Vertuschung von Verbrechen während der NS-Zeit sowie die nachdrückliche Ablehnung von Verantwortung seitens des Staates und der Bevölkerung – wie hier in aller Deutlichkeit: „Niemand in diesem verstellungsseligen Land habe die Nazis willkommen geheißen, niemand das Großdeutsche Reich ersehnt, niemand Schuld auf sich geladen, niemand die Endlösung betrieben, nur ein wenig mitgetan, mitgeschossen, mitgemordet, mitvergast, aber das zählt nicht, nichts zählt.“ (EV 248) Aufgrund dieser Fundamentalkritik wurde der Roman in den Feuilletons nicht nur als Ausdruck kultureller und geschichtlicher Selbstvergewisserung der

|| men‘ der Vergessenheit entreißt.“ (Wilhelm Baum: Maja Haderlaps „Engel des Vergessens“. Anmerkungen eines Historikers. In: Zwischenwelt. Zeitschrift für Kultur des Exils und des Widerstands 28 [2011] H. 3, S. 58–59, hier S. 59.) So auch die Autorin im Interview: „Ich wollte den Roman zum Dokumentarischen hinführen. Ich wollte die Form des Romans öffnen, für die Poesie, für die Reflexion, das Dokumentarische.“ (Sabine Strobl: Die Geschichten hinter den Namen. In: Tiroler Tageszeitung [07.10.2011].) 31 Vgl. Anm. 7.

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Kärntner Slowenen aufgefasst,32 sondern mitunter als Tabubruch gefeiert.33 Nicht zuletzt aber gilt Haderlaps Buch gemeinhin als ein einzigartiger Beitrag zur Aufarbeitung der Geschichte des Widerstands der slowenischen Partisanen.34 Anhand von Katzenberge und Engel des Vergessens werden konkrete erinnerungskulturelle Funktionen der Enkelliteratur fassbar: Indem sie aus der subjektiven Perspektive ihrer Familie auf kollektive Geschichtserfahrungen aufmerksam machen, die bisher in keiner geschichtspolitisch gelenkten oder institutionalisierten Form repräsentiert werden, rücken die beiden Autorinnen diese ‚Erinnerungsresiduen‘35 in den Fokus einer – nicht nur literarischen – Öffentlichkeit. Auch in den meisten anderen Texten der Enkelliteratur werden neben der Auseinandersetzung mit der eigenen Familie allgemeine Themen und Diskurse verhandelt, die sich am Rande oder jenseits von Geschichtsschreibung und offizieller Erinnerungskultur befinden. Dabei geht es nicht nur um regional be-

|| 32 Vgl. Ingolf Kern/Janne Schumacher: Nach Lektüre verreist. In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung (13.05.2012). 33 Vgl. Paul Jandl: Katharsis in Kärnten. In: Die Welt (23.12.2011). Die enorme Resonanz von Haderlaps Prosadebüt verdankt sich auch den zahlreichen Auszeichnungen und einer entsprechenden öffentlichen Wahrnehmung der im Roman artikulierten Anliegen: Für einen Textauszug erhielt Haderlap 2011 den Ingeborg-Bachmann-Preis. Zudem wurde der Roman mit dem Bruno-Kreisky-Preis für das politische Buch, dem Rauriser Literaturpreis und dem Buchpreis der Stiftung Ravensburger Verlag geehrt. Außerdem erhielt Haderlap 2013 den Vinzenz-Rizzi-Preis für ihr literarisches Engagement gegen Vorurteile und für interkulturelle Verständigung. 34 „Es ist [...] auch ein Dokument eines Abschnitts der Kärntner Geschichte geworden, mit dem sich bisher niemand ernsthaft auseinandersetzen wollte. Die Kärntner Slowenen haben unter der Nazizeit mehr gelitten als der Grossteil der übrigen Bevölkerung. Sie haben gegen die Diktatur gekämpft; gedankt wurde es ihnen jedoch kaum, und in der Kärntner Geschichtsschreibung kommt ihr Beitrag nicht vor. Hier kommt er vor, jetzt haben jene, die in die Wälder gingen, um für die Freiheit zu kämpfen, Namen und Gräber.“ (Michael Walcher: Gegen das Vergessen und Verdrängen. In: Neue Luzerner Zeitung [13.07.2011].) Vgl. auch Jožica Čeh Steger: Die zerstörte Dorfidylle an der österreichisch-slowenischen Grenze: Maja Haderlaps Engel des Vergessens. In: Imaginäre Dörfer. Zur Wiederkehr des Dörflichen in Literatur, Film und Lebenswelt. Hg. v. Werner Nell und Marc Weiland. Bielefeld 2014. S. 339–355, hier S. 354. Eine erinnerungskulturelle und geschichtspolitische Wirkung scheint von der Autorin von vornherein intendiert gewesen zu sein – jedenfalls hat sie den Roman bewusst auf Deutsch geschrieben, um möglichst großflächig Gehör zu finden: „Ich wollte diese Geschichte nicht nur den lesenden Slowenen […] erzählen. Ich wollte in den österreichischen und in den deutschsprachigen Raum hineinsprechen.“ (Birgit Sacherer: „Slowenische Beziehungsarbeit“. In: Kärntner Monat [2012] H. 6.) 35 Vgl. Claudia Althaus: Geschichte, Erinnerung und Person. Zum Wechselverhältnis von Erinnerungsresiduen und Offizialkultur. In: Erinnerung, Gedächtnis, Wissen. Studien zur kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung. Hg. v. Günter Oesterle. Göttingen 2005. S. 589–609, hier S. 593.

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grenzte Anliegen ethnischer Minderheiten, sondern auch allgemein um nicht anerkannte Opfergruppen und unterschätzte Täterschaften sowie weniger bekannte historische Ereignisse und kleinere Schicksalsgemeinschaften.

5.2 Sabine Rennefanz: Die Mutter meiner Mutter (2015) Bei Sabine Rennefanz’ zweiter36 Buchpublikation handelt es sich um eine nichtfiktionale37 familienbiografische Erzählung, die mit einer unheilvollen Nachricht am Telefon beginnt: „Ich habe etwas über deinen Großvater herausgefunden, flüstert meine Mutter.“ (MM 9) Dieser habe die – im Buchtitel bezeichnete – Großmutter Anna nach seiner Rückkehr aus der sowjetischen Kriegsgefangenschaft 1949 vergewaltigt und erst nach der Geburt der dabei gezeugten Tochter Monika – der Mutter der Autorin – auf äußeren Druck hin geheiratet. Diese Information zerstört das positive Bild der Enkelin von ihrem 1989 verstorbenen Großvater Friedrich:38 „Mein Westernheld verschwindet, er löst sich auf. Er kommt mir ganz fremd vor. Soll ich von diesem verbrecherischen Menschen abstammen?“ (MM 29) Andererseits hat sie nun endlich eine Erklärung für die ungewöhnlichen Verhaltensweisen ihrer Großmutter, ihre Weltfremdheit und systematische Selbstverwahrlosung, ihre Verschlossenheit und körperliche Unnahbarkeit. Doch für ein klärendes Gespräch ist es – wie in der Enkelliteratur üblich – auch hier schon zu spät:

|| 36 In ihrem Debüt Eisenkinder von 2013 schildert sie die – wie es im Untertitel heißt – „stille Wut der Wendegeneration“. Dies ist erwähnenswert, da die dort verhandelte Generationsproblematik sowie die Sicht auf eine spezifisch ostdeutsche Zeitgeschichte in Die Mutter meiner Mutter wieder aufgegriffen werden. 37 Trotz romanhafter Erzählweise gilt die dem Text vorangestellte Faktualitätsklausel: „Folgende Erzählung beruht auf einer wahren Geschichte. Namen, Orte und Personenbeschreibungen wurden auf Wunsch der Lebenden geändert. Aus Rücksicht auf die Toten wird die Handlung so wahrheitsgetreu wie möglich wiedergegeben.“ (Sabine Rennefanz: Die Mutter meiner Mutter. München 2015, S. 4. Im Folgenden zitiert als MM mit Seitenzahl.) Eine Gattungsreflexion findet sich auch im Erzähltext selbst: „In einem Roman würde das nicht funktionieren, weil es wie ausgedacht klingt [...].“ (MM 241) 38 Was die Datierungen betrifft, weist das Buch einige Unstimmigkeiten auf: Die Erzählerin sei beim Tod des Großvaters zwölf Jahre alt gewesen (vgl. MM 21) – diese Rechnung deckt sich allerdings nicht mit der paratextuellen Angabe, die Autorin sei 1974 geboren. Auch unterscheiden sich die Angaben zum Geburtsjahr des Großvaters, vgl. MM 21 u. 124. Und auch für das Jahr der Eheschließung von Anna und Friedrich gibt es abweichende Datierungen, vgl. MM 130–131 u. 208.

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Nachdem meine Mutter das Geheimnis ihrer Mutter herausgefunden hat, bekommt die Mutter meiner Mutter einen schweren Schlaganfall. Als wolle ihr Gehirn mitteilen: Ich will nicht mehr, keine Fragen, Schluss, aus, ich schalte mich selbst ab. Genauer gesagt funktioniert ihre linke Gehirnhälfte, dort wo Logik, Erinnerung und analytisches Denken sitzen, nicht mehr. [...] Ich würde meine Großmutter gerne befragen, doch ich komme zu spät. (MM 241)

Somit ist die Enkelin bei ihrem Versuch, die plötzlich zerrüttete Familiengeschichte wieder in eine erzählbare Form zu bringen und dem jahrzehntelangen Schweigen etwas entgegenzusetzen, auf die Vermittlungswege innerhalb des Dreigenerationenschemas angewiesen.39 Hierbei greift sie zunächst auf ihre eigenen Erinnerungen an die gemeinsam erlebte jüngere Vergangenheit (B1) zurück: In ihrer Kindheit habe der Großvater immer wieder abenteuerliche Geschichten vom Krieg und seiner Gefangenschaft erzählt (vgl. MM 14–15, 134). Der zwanzig Jahre jüngeren Großmutter konnte sie auch als Erwachsene noch gezielt Fragen stellen – etwa zu ihrer Flucht aus Schlesien oder ob sie in der Kriegszeit etwas von der Judenvernichtung gewusst habe (vgl. MM 50, 54–55, 62–63, 80). Neben diesem familienbiografischen Wissen aus ‚direkter Überlieferung‘ (AIII−B1III=B1I−CI) erlangt Rennefanz weitere Informationen dank ‚indirekter Überlieferung‘ (AIII=AII−B2II=B2I−CI) durch die ‚zweite Generation‘: „Fast alles, was ich über das frühe Leben von Anna weiß, habe ich von ihrer Tochter erfahren, meiner Mutter.“ (MM 46) Indem die Erzählerin ihr Wissen über die Familiengeschichte somit wiederholt explizit mit Quellenangaben versieht, zeigt sie dem Leser den für die literarische Kommunikation verbindlichen Kontext an – den dieser wiederum als mentales Modell in den Lektüreprozess einbringt und als Interpretationsgrundlage verwendet. Auch wie es zu der Vergewaltigung gekommen und wie Anna mit diesem traumatischen Erlebnis umgegangen ist, erfährt die Erzählerin von ihrer Mutter – allerdings nicht erst im Zuge der Recherchen für ihr Buch, sondern noch im Zeitabschnitt B1 und somit zu Lebzeiten der Großmutter. Dass diese sich nicht gleich selbst der ‚dritten Generation‘ gegenüber offenbart, deutet auf eine kommunikative Störung innerhalb der Familie hin, die sich im Analysemodell wie folgt darstellen lässt: || 39 Das erinnerungskulturelle Kontextmodell der Enkelliteratur wird folglich nicht erst beim Tod des Zeitzeugen aktiviert, sondern auch schon beim unwiederbringlichen Verlust der Mitteilbarkeit. Der Sprachverlust infolge eines Schlaganfalls bildet auch in Haltet euer Herz bereit von Maxim Leo die Ausgangssituation: „Der Arzt erklärte mir, der Schlaganfall habe das Sprachzentrum in Gerhards Gehirn geschädigt. Er könne jetzt nur noch Gefühle äußern. Das Rationale aber sei blockiert.“ (Maxim Leo: Haltet euer Herz bereit. Eine ostdeutsche Familiengeschichte. München 2009, S. 7.) In beiden Fällen fungiert die Sprachlosigkeit innerhalb der ‚ersten Generation‘ als Signal für die Negativmarkierung im Feld AI des Dreigenerationenschemas.

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Abb. 11: ‚Direkte Überlieferung‘ mit kommunikativer Störung

Diese Abweichung von den beiden Standardfällen des Überlieferns erklärt sich durch das besondere Verhältnis zwischen Anna und der ältesten ihrer drei Töchter, die in jener unheilvollen Nacht gezeugt wurde und somit ein ungleich größeres Anrecht auf die Wahrheit hat – nur ihr gegenüber bricht sie ihr jahrzehntelanges Schweigen. Diese eingeschränkte Gesprächsbereitschaft ist der Grund für die Verkomplizierung des Überlieferungsvorgangs, die in linearer Schreibweise folgende Vermittlungsstruktur aufweist: AIII−B1III=B1II=B1I−CI.40

5.2.1 Experientialität durch Intermedialität Die telefonische Mitteilung der Mutter, etwas über den Großvater herausgefunden zu haben, wird über die gesamte Erzählung hinweg etliche Male wiederholt (vgl. MM 9, 15, 27, 117–118, 217, 245), jedoch wird dem Leser der konkrete Inhalt dieser Mitteilung – die Vergewaltigung der Großmutter durch den Großvater – konsequent vorenthalten. Der Erzählerin gelingt es nicht, das Unvorstellbare in Sprache zu übersetzen, und auch die Worte der Mutter scheinen bedeutungsleer in Anbetracht des damit bezeichneten Ereignisses: „Besonders ein Wort ist hängengeblieben, ich höre es in meinem Kopf, als würde es eine innere Stimme immerzu wiederholen, aber es macht keinen Sinn, es scheint nicht zu passen. Es ist ein brutales Wort, das, einmal ausgesprochen, peinliche Stille hervorruft.“

|| 40 Zu dieser und zwei weiteren Abweichungsformen vgl. Anm. 9 in Kapitel 4.2.

Sabine Rennefanz: Die Mutter meiner Mutter (2015) | 205

(MM 29) Statt den verbrecherischen Akt der Vergewaltigung als solchen zu benennen,41 wird das Thema von der Erzählerin motivisch umkreist und anhand eines unpersönlichen Vergleichsfalls begreiflich gemacht: Eingehend beschäftigt sie sich mit einer Abbildung von Tizians Gemälde Tarquinius und Lucretia (vgl. MM 30–32) – über diese ästhetisierte Darstellung einer Vergewaltigung verschafft sie sich einen emotional distanzierten Zugang zu der unerklärlichen Tat ihres Großvaters.42 Vor allem gewinnt sie durch die Kunstrezeption ein mentales Modell für die Erfahrungssituation einer Vergewaltigung. Die Körperhaltung des bewaffneten Tarquinius und der wehrlosen Lucretia repräsentieren dabei die vorliegenden Machtverhältnisse, während Mimik und Gestik auf ihre emotionalen Zustände schließen lassen. Die Betrachtung des Gemäldes ist somit – für die Erzählerin – auf verschiedenen Ebenen des Erfahrungshintergrundes experientiell. Mithilfe dieses durch Tizian gewonnenen Situationsmodells gelangt die Erzählerin nun auch zu einer Vorstellung der Vergewaltigungsszene in ihrer eigenen Familie: Eine Zeitlang habe ich diese Szene in meinen Träumen immer wieder durchgespielt. Mal liegt meine Großmutter auf dem schlichten Holzboden, mal hat er einen Kartoffelsack ausgebreitet, bevor er sie zu Boden drückt, mal liegt sie auf einem Bett. Meine Träume und das Bild von Tizian mischen sich. Ich stelle mir vor, dass sie die Arme schützend vors Gesicht hält wie die Lucretia auf Tizians Gemälde, vielleicht fleht sie ihn an, von ihr zu lassen, doch wie Tarquinius Lucretia überlegen ist, ist mein Großvater körperlich viel kräftiger als sie. (MM 185)

Die Realität wird hierbei stark verzerrt und verfälscht – wie die Erzählerin allerdings selbst auch immer wieder reflektiert: „Ich sah meinen Großvater vor mir, wie er das Messer schwang. [...] Ich weiß nicht, warum ich denke, dass er ein Messer in der Hand gehalten hat. Vielleicht verfolgt mich Tizians Bild, vielleicht hält mein Großvater nur ein Messer in der Hand, weil Tarquinius ein Messer in der Hand gehalten hat?“ (MM 118) Dieser Versuch, sich das Unvorstellbare verfügbar zu machen, gilt somit letztlich als gescheitert und wird von der Erzählerin – wiederum im höchsten Maße selbstreflexiv – als Abwehrreaktion erkannt:

|| 41 In der Tat taucht das Wort Vergewaltigung im ganzen Buch nur zweimal auf – einmal als Straftatbestand im Rahmen des juristischen Diskurses der frühen DDR (vgl. MM 186) und einmal beiläufig in der Rede einer Nebenfigur (vgl. MM 210). 42 Auch als Gründungsmythos der römischen Republik hat die Sage von der Vergewaltigung Lucretias eine intertextuelle Bedeutung für Rennefanz’ Familiengeschichte, denn die Vergewaltigung ihrer Großmutter habe sich am 7. Oktober, dem Tag der Staatsgründung der DDR ereignet, vgl. MM 172.

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Es ist natürlich vor allem ein Ausweichmanöver, das ich mir selbst vorspiele, mit dem ich mich belüge. Ich tue so, als ob mir eine römische Prinzessin etwas über die Vergangenheit sagen könnte, weil es geistreicher, klüger, gehobener wirkt, sich mit einem alten Ölgemälde zu befassen als mit der Mutter meiner Mutter. Ich weiche der echten Brutalität aus. (MM 123)

Da das Gemälde von Tizian selbst nur als Ekphrase auftaucht und von den wenigsten Leserinnen und Lesern erwartet werden dürfte, sich das zitierte Gemälde als lektürebegleitendes Bildmaterial selbst zu beschaffen oder gar aus dem Gedächtnis abrufen zu können, handelt es sich bei dieser Technik der Vorstellungsbildung auf der Grundlage eines am künstlerischen Gegenstand gewonnenen Situationsmodells eher um eine Imaginationstechnik auf der Figurenebene und weniger um ein gleichermaßen wirksames Rezeptionsangebot.43 Der literarisch durchkomponierte Verweis auf Tizians Gemälde verspricht daher aufseiten der Leser – wenn überhaupt – nur eine geringe Verstärkung experientieller Wirkungen. Das intermediale Experientialitätspotenzial dieses Tiziangemäldes wird somit gewissermaßen verschenkt. Rennefanz rekurriert aber auch an anderen Stellen auf die bildende Kunst, wobei sie aufgrund einer geringeren Beschreibungsdichte größere experientielle Wirkungspotenziale bereitzustellen vermag. So verweist sie einmal – höchstwahrscheinlich – auf Winterlandschaft mit Eisläufern und Vogelfalle von Pieter Bruegel dem Älteren: „Wenn sich die Dorfkinder im Winter ihre Schlittschuhe aufschnallen und ihre Runden drehen, sieht es aus wie auf einem Bild eines holländischen Renaissancemalers.“ (MM 198) Die verbale Situationsbeschreibung wird durch den intermedialen Verweis extrem verkürzt, aber zugleich wird ein starker visueller Eindruck des Geschehens vermittelt. Dieser muss gar nicht einmal mit der Bruegelschen Vorlage übereinstimmen. Die meisten Leserinnen und Leser dürften sowieso eher an das etwas bekanntere – aber denselben Motivbereich bedienende – Gemälde Die Jäger im Schnee denken. Wichtig ist lediglich, dass sie überhaupt irgendeine bildliche Vorstellung dieses zitierten Gemäldes gewinnen – ist dies der Fall, können sie das Betrachten des vorgestellten Bildes mental simulieren. Die dabei evozierte Experientialität findet zunächst auf der untersten Ebene des Erfahrungshintergrundes statt: Um die Bewegung der eislaufenden Figuren sowie die winterliche Kälte aus dem Bild ‚herauslesen‘ zu können, werden entsprechende kinästhetische und thermorezeptive ‚Erfahrungsspuren‘ aktiviert. Der Leser macht somit – im offline-Modus der mentalen Simulation – von Techniken der ‚situierten Kognition‘ Gebrauch und kann

|| 43 So gesehen ist es ein Versäumnis des Verlags, das Gemälde nicht auf dem Buchschlag abgebildet zu haben, denn damit wäre die Lektüre um ein intermediales Rezeptionsangebot bereichert worden.

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auf diese Weise die somatischen und motorischen Merkmale dieser Erlebnissituation ‚verkörpert‘ (embodied) repräsentieren. Darüber hinaus können auch ‚Erfahrungsspuren‘ der anderen Ebenen des Erfahrungshintergrundes ins Spiel gebracht werden. So können etwa Freude und Sorglosigkeit, aber auch die bescheidenen Lebensbedingungen der Figuren inferiert werden. All diese durch die bloße Erwähnung des Gemäldes aktivierten experientiellen Aspekte dienen letzten Endes der Veranschaulichung des Dorflebens in der Nachkriegszeit und somit der ‚lebendigen‘ Darstellung von Rennefanz’ Familiengeschichte. An einer anderen Stelle wird schlichtweg der Bilderkanon der Romantik zitiert, um für die Beschreibung des Selbstmordversuchs der Großmutter eine nächtliche Stimmung der Einsamkeit in der Naturumgebung zu erzeugen: „Sie geht einen Schritt auf das Wasser zu, das glatt wie ein Spiegel vor ihr liegt. Vielleicht zögert sie einen Moment, um sich umzuschauen: das Wasser, die Weiden, der Mond darüber. Wenn sie ein romantisch veranlagter Maler sehen könnte, würde er draus ein Bild machen.“ (MM 203) Hier ist es dem Leser völlig freigestellt, auf welche Weise er die relativ unspezifische Situationsbeschreibung mit einem Vorbild aus der romantischen Malerei verknüpft. Dabei dürfte diese vergleichsweise große Freiheit bei der individuellen Vorstellungsbildung kaum auf Kosten des Experientialitätspotenzials gehen. Im Gegenteil scheint die Bereitschaft dafür, die bildlich dargestellte Situation mittels Situationsmodell im analogen Modus zu repräsentieren, desto größer zu sein, je unspezifischer die Bildreferenz ausfällt: Wer das Tiziangemälde nicht kennt, kann sich keinerlei Vorstellung bilden, während der eher unspezifische Vergleich mit dem Winterbild des „holländischen Renaissancemalers“ auf eine ganze Bilderserie verweist, von der die meisten Leser – auch ohne besondere kunstgeschichtliche Kenntnisse – eine mehr oder weniger konkrete bildliche Erinnerung abzurufen vermögen. Noch leichter dürfte dem Leser eine Vorstellungsbildung gelingen bei der völlig allgemein gehaltenen Bezugnahme auf die romantische Malerei, denn hierfür bedarf es lediglich einiger Grundkenntnisse über die Stilepoche – folglich kann hier am ehesten mit experientiellen Wirkungen gerechnet werden. Diese Form der Aneignung des Historischen mittels anachronistischer Bezüge auf Motive der Malerei ist zwar relativ willkürlich und den historischen Tatsachen enthoben, birgt aber gleichwohl erinnerungskulturelle Funktionspotenziale – und zwar in doppelter Hinsicht: Zum einen handelt es sich um ein rein privates Erinnern im engen Rahmen der Familiengeschichte, wobei eine wissenschaftliche oder anderweitig objektivierende Aufarbeitung sowieso eher selten angestrebt wird. Angesichts der Unverfügbarkeit verlässlicher Quellen erscheint es somit mehr als gerechtfertigt, dass Rennefanz mit derart kreativen Mitteln eine Auseinandersetzung mit den Erfahrungen ihrer Großmutter in Gang setzt. Auf

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diese Weise erbringt sie eine aktive und selbstverantwortliche Erinnerungsleistung, wo andernfalls nur sachliches Wissen und statisches Gedenken möglich wäre. Zum anderen besteht hierbei keineswegs die Gefahr einer Verwechslung historischer und fiktiver Realitäten, denn die visuelle Vorstellung bildet lediglich eine Art ‚Türöffner‘ für weitere und in der Regel auch komplexere kognitive Prozesse mit erinnerungskulturellen Funktionen: Indem die Erzählerin ihr intermedial gestütztes Aneignungsverfahren selbst zum Gegenstand von Erinnerungsreflexionen macht und dabei explizit ihre eigenen Emotionen kanalisiert, lenkt sie auch die Aufmerksamkeit des Lesers weg von der historischen Referenz und hin zu ihrer eigenen generationenspezifischen Situation – der Fokus richtet sich weniger auf das Bild als vielmehr auf die Bildbetrachterin. Dementsprechend verdanken sich auch die experientiellen Wirkungen weniger den zitierten Kunstwerken als solchen als vielmehr der Auseinandersetzung mit ihnen. Weder die Erzählerin noch der Leser reagieren emotional auf Lucretia und Tarquinius oder auf Bruegels Dorfbewohner – emotionale ‚Erfahrungsspuren‘ werden stattdessen durch Handlungskontexte und Figurendispositionen übergeordneter Repräsentationsebenen ausgelöst. Solche transhistorischen Erfahrungsvernetzungen (siehe Kapitel 4.4.4) beziehen ihre erinnerungskulturelle Relevanz nicht aus der Darstellungsdimension der Referenzebene, sondern erlangen sie durch die Inszenierung von Vermittlungs- und Aneignungstechniken. Vor dem Hintergrund der im erinnerungskulturellen Kontextmodell der Enkelliteratur repräsentierten Möglichkeiten und Grenzen der transgenerationalen Weitergabe historischer Erfahrungen nach dem Tod der Zeitzeugen kann der Leser das von Rennefanz gewählte Erzählverfahren nicht nur bezüglich seiner textimmanenten Erinnerungsfunktionen verstehen, sondern auch als innovative erinnerungskulturelle Praxis erkennen, die er sich gegebenenfalls selbst aneignet. Während Rennefanz auf eine Abbildung der Bildreferenzen verzichtet, wird Intermedialität in der Erinnerungsliteratur häufig auch durch eine visuelle Kopräsenz von Text und Bild umgesetzt. Dabei handelt es sich allerdings in der Regel nicht um Objekte der bildenden Kunst, sondern eher um Fotografien und abfotografierte Dokumente (Ausweispapiere, Urkunden, Handschriften etc.). So sind etwa in Haltet euer Herz bereit (2009) von Maxim Leo – über den Text verteilt – insgesamt 22 Fotografien abgedruckt. Dabei handelt es sich – mit einer Ausnahme – um Portraits und Schnappschüsse von Personen und Personengruppen, die durchweg Familienmitglieder bzw. den Autor selbst zeigen.44 Über die

|| 44 Auch bei den Enkelbüchern von Beate Schaefer und Jennifer Teege handelt es sich um ‚Fototexte‘ dieser Art.

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Erinnerungsfunktionen von Fotografien sowie deren intermediale Verwendung in der Literatur sind in jüngerer Zeit zahlreiche narratologisch, gedächtnistheoretisch und medienwissenschaftlich ausgerichtete Studien erschienen.45 Über die referenzielle Funktion von Fotografien hinaus werden hierbei insbesondere die Interdependenzen zwischen Text und Bild sowie zwischen Bild und Bild untersucht und jeweils auf ihr wirkungsästhetisches Potenzial hin befragt. Visuelle Darstellungen im Buchmedium haben aber auch eine besondere kommunikative Funktion, die sich vor dem Hintergrund der Kontextmodelltheorie wie folgt konzipieren lässt: Generell bildet die Lektüre literarischer Texte immer dann ein Joint Attention-Erlebnis, wenn sich der Leser – parallel zur kognitiven Textverarbeitung – die Anwesenheit des Autors vorstellt und er infolgedessen seine mentalen Simulationen der dargestellten Situationen und sonstigen Auseinandersetzungen mit den vermittelten Inhalten als sozialen Verständigungsprozess begreift (siehe Kapitel 3.2.2). Normalerweise richtet sich die ‚gemeinsame Aufmerksamkeit‘ auf einen außertextuellen Gegenstand, der somit in der Regel für beide Seiten auf mehr oder weniger unterschiedliche Weise verfügbar ist.46 Wenn der Leser die schriftliche Mitteilung des Autors dekodiert, bildet er sich eine Vorstellung, die von der Vorstellung abweicht, die der Autor beim Verfassen dieser Mitteilung hatte. Beide Seiten sind sich dieser medial bedingten Abweichung ihrer jeweiligen Referenzbildungen bewusst und müssen sich keineswegs daran stören. Bemerkenswert ist jedoch, dass bei bildlichen Darstellungen grundlegend andere Verständigungsbedingungen vorliegen: Wenn der Autor ein Foto oder anderes Bildmaterial in seinen Text einmontiert, dann kann er den darauf gerichteten visuellen Wahrnehmungsakt des Lesers exakt vorherbestimmen. Umgekehrt hat der Leser die doppelte Gewissheit, dass erstens der Autor dasselbe Bild sieht wie er selbst und zweitens auch der Autor weiß, dass beide dasselbe Bild sehen. Diese || 45 Unter anderem Silke Horstkotte: Nachbilder. Fotografie und Gedächtnis in der deutschen Gegenwartsliteratur. Köln [u. a.] 2009; Jan Gerstner: Das andere Gedächtnis. Fotografie in der Literatur des 20. Jahrhunderts. Bielefeld 2013; Anne-Kathrin Hillenbach: Literatur und Fotografie. Analysen eines intermedialen Verhältnisses. Bielefeld 2012. 46 Während Begriffe wie ‚London‘ und ‚Mittelalter‘ oder Situationen wie ‚Flugzeugabsturz‘ eher individuelle und somit notwendigerweise unterschiedliche Vorstellungen hervorrufen, basieren Themen und Begriffe wie ‚Mondlandung‘ und ‚Brontosaurus‘ auf kollektiven Bilder- und Deutungskanons und sind daher mit beschränkten – und somit auch vorhersehbaren – Wahrnehmungsassoziationen verknüpft. Eine maximale Nähe zwischen Gegenstand und literarischer Darstellung liegt im Falle schriftsprachlicher Gegenstände vor, denn hier ist keine Übersetzung in ein anderes Medium mehr nötig. Wenn etwa ein Prätext direkt zitiert wird oder das literarische Werk sich selbst thematisiert, dann haben Autor und Leser dasselbe Wahrnehmungsmaterial vor Augen und richten daher ihre ‚gemeinsame Aufmerksamkeit‘ tatsächlich auf ein und denselben Gegenstand.

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gegenseitige Vergewisserung der Zugänglichkeit von Informationen ist zwar auf den Bereich der visuellen Wahrnehmung beschränkt,47 vermag aber immerhin über diese intermediale Rezeptionsdimension ein maximales Gemeinsamkeitserlebnis zu evozieren – und entsprechend hohe Experientialitätseffekte auf der Kontextebene hervorzurufen. Inwieweit das pragmatische Experientialitätspotenzial einmontierter Fotos ausgeschöpft wird, hängt allerdings auch von der Art der Text-Bild-Verknüpfung ab. Erscheinen die Fotos als lose und möglicherweise erst nachträglich beigefügtes Dokumentationsmaterial und könnten sie somit genauso gut von einem anonymen Verlagsmitarbeiter eingearbeitet worden sein, werden sie tendenziell nicht mehr auf der Ebene der Kommunikation verarbeitet. Diesem Eindruck kann vorgebeugt werden, indem der Erzähler nicht bloß über die fotografisch abgebildeten Personen und Gegenstände, sondern über die Fotografien als solche spricht – wie hier Maxim Leo über seinen Großvater, den deutschen Résistancekämpfer Gerhard Leo: „Es gibt ein Foto, das ihn im September 1944 in der Uniform eines französischen Leutnants zeigt. Er trägt eine Baskenmütze und schaut so verträumt und unmilitärisch drein, dass man ihn für einen Dichter oder einen Sänger, aber nie für einen Soldaten halten würde. Die Uniform wirkt an ihm wie eine Verkleidung.“48 Indem der Erzähler seine Aufmerksamkeit nicht auf seinen Großvater, sondern auf eine – auf derselben Seite abgedruckte – Fotografie von ihm richtet, spricht er über einen Gegentand, der dem Leser in nahezu identischer medialer und materieller Form vorliegt. Erst unter dieser Bedingung unterliegt das Zeigen von Fotografien dem für Joint Attention-Erlebnisse typischen appellativen Grundgestus: Damit zwei Subjekte ihre Aufmerksamkeit gemeinsam auf dasselbe Objekt richten, muss ein Subjekt die Aufmerksamkeit des anderen auf jenes Objekt lenken, das Zielpunkt der eigenen Aufmerksamkeit ist. Auch wenn Leo nur einen Teil der abgedruckten Fotos in solche narratorialen Reflexionen einbettet, wird dem Leser unmissverständlich signalisiert, dass auch der Abdruck der Fotos generell in die Verantwortung des Erzählers fällt und somit explizit als Bestandteil seiner Äußerung wahrgenommen werden soll.

|| 47 Der Leser weiß lediglich mit Sicherheit, was der Autor sieht, nicht jedoch, was er beispielsweise fühlt oder erinnert. Diese zusätzlichen Erfahrungsparameter können verbalsprachlich kommuniziert werden und auf diesem Weg einen common sense bilden – sie müssen aber keineswegs mit den Reaktionen des Lesers übereinstimmen, um den Joint Attention-Charakter aufrechtzuerhalten. 48 Leo: Haltet euer Herz bereit, S. 109–110.

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5.2.2 Experientialität der Leerstelle Obwohl Rennefanz die Vergewaltigung selbst gar nicht schildert, ruft dieses Ereignis starke experientielle Wirkungen hervor. Dies gelingt der Autorin durch zwei spezifische Darstellungstechniken: Zum einen umrahmt sie die Leerstelle mit einer besonders erfahrungsreichen Situationsschilderung und vergrößert damit die Bereitschaft des Lesers, seine mentale Simulation auf das Nichterzählte auszuweiten. Zum anderen ersetzt sie den unbeschreiblichen Vergewaltigungsakt durch einen vergleichbaren Gewaltakt, der sich am selben Tag ereignet hat. In der unmittelbar vorangehenden Handlung wird dem Leser auf mehreren Seiten und in aller experientieller Detailliertheit der Weg zum Ort des Verbrechens beschrieben. Während Anna heimlich im Dunkeln auf den Dachboden von Friedrichs Haus steigt, werden zahlreiche Sinneseindrücke und Körperbewegungen geschildert: „Sie atmet tief ein: Wie die Würste duften! Nach frischem Majoran und Thymian und gebratenen Zwiebeln. [...] Anna steigt die Stufen hinauf, das Holz unter ihren Füßen knarrt. [...] Sie hält sich mit beiden Händen am Geländer fest. [...] [S]ie erkennt Umrisse. [...] Anna friert [...]. [...] Der Wind weht leise über die Laken.“ (MM 180–182) Auf Grundlage dieser ausführlichen Beschreibung erlebter Umwelt kann sich der Leser in eine multimodale Wahrnehmungssituation hineinversetzen und den körperlichen Zustand der Protagonistin – innerhalb des RS-Modells – mental simulieren:

Abb. 12: ‚Direkte Überlieferung‘ mit kommunikativer Störung und RS-Modellbildung

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Der lektürebegleitende emotionale Zustand des Lesers weicht hingegen deutlich von dem der Figur ab, denn während Anna furchtlos und nichts ahnend ihrer Neugier nachgibt, sieht sie der Leser ihrem eigenen Verderben entgegengehen. Die auf der zweiten Ebene des Erfahrungshintergrundes (E2) aktivierten ‚Erfahrungsspuren‘ sind somit nicht konform mit der Referenzsituation, sondern haben ihren Quellenkontext in einer übergeordneten Repräsentationsebene, die aufgrund ihres Wissensvorsprungs die Figurenperspektive überschreitet. Dieser übergeordnete Standpunkt ist hier die Erzählergegenwart, aus der heraus die Autorin ihren Gegenstand literarisch formt und für den Leser präpariert. Aufgrund ihrer Erzählstrategie, das zentrale Ereignis – die Vergewaltigung – vielfach vorwegzunehmen, kann der Leser bei dieser Situationsbeschreibung die Figur nicht mehr empathisch begleiten, sondern sie nur noch bemitleiden.49 Die dritte Ebene des Erfahrungshintergrundes (E3) wird ebenfalls aus der Erzählergegenwart heraus ‚angezapft‘, denn obgleich sich die Erzählerin sogar Gedanken der Figur wiederzugeben erlaubt, verweist sie mehrfach auf ihren prekären epistemischen Status und kennzeichnet ihre Erzählung ausdrücklich als Imaginationsprodukt.50 Dies zieht keineswegs zwangsläufig eine Schwächung des Experientialitätspotenzials der Erzählung nach sich – im Gegenteil, denn die Konstruktionsleistung der Erzählerin ist selbst eine erfahrungsbasierte Tätigkeit und kann folglich auch vonseiten der Leser in dieser ursprünglichen Erfahrungsdimension erkannt und vor dem Hintergrund eigener Erfahrungen mit solchen ‚höheren kognitiven Fertigkeiten‘51 verarbeitet werden. Für Reaktionen auf der vierten Ebene des Erfahrungshintergrundes (E4) finden sich innerhalb dieser Textpassage keine eindeutigen Signale, und zwar weder im Kontext der Referenzsituation noch durch entsprechende Einmischungen – zum Beispiel Werturteile – der Erzählerin. In Hinblick auf eine soziokulturelle Deutung des Geschehens wird der Leser gewissermaßen alleingelassen. Dass beispielsweise Annas Hilfeschreie vom Nachbarn überhört werden, stellt die Erzählerin zunächst lediglich fest, ohne darüber selbst Mutmaßungen anzustellen. Der Leser kann sich mit dieser Feststellung zufriedengeben. Er kann sie aber auch von sich aus als unterlassene Hilfeleistung auslegen und diese Deutung mit entsprechenden Eigenerfahrungen in seinen Verstehensprozess einbinden – womit

|| 49 Vgl. hierzu die Unterscheidung zwischen situationsbezogenen und figurenbezogenen Leseremotionen in Kapitel 4.4.3.2. 50 Vor allem mittels der Formel „Ich stelle mir vor“ (MM 180, 183) sowie durch das epistemische Kommentaradverbium „Vielleicht“ (MM 180, 181) und das modale Futurperfekt (MM 180). 51 So Caracciolos Kennzeichnung der dritten Ebene des Erfahrungshintergrundes, siehe Kapitel 2.2.4.

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er einen zusätzlichen Experientialitätsgewinn einstreicht. Für diesen Fall erhält die Zeile E4 eine Markierung in der Spalte des Lesers.52 Das experientielle Gesamtpaket wird somit durch eine gleichzeitige Beanspruchung des Erfahrungshintergrundes durch das Situationsmodell (RS), die narratoriale Repräsentationsebene (ES) und unangeleitete Inferenzen des Lesers geschnürt. Die Vergewaltigung ereignet sich in einer – durch eine Leerzeile markierten – narrativen Ellipse. Die Erzählung setzt mit Annas ‚Erwachen‘ wieder ein – das Erlebte steht ihr als die Fetzen eines Albtraums vor Augen und erst allmählich kehrt sie in die Realität zurück: „Sie stellt fest, dass sie auf dem Holzboden liegt, ihre Beine sind nackt, sie liegen in etwas Feuchtem. Sie reißt das Laken von der Leine und wischt ihre Beine ab.“ (MM 184) Durch die Wiederaufnahme des Situationsmodells tritt die ausgesparte Handlungssequenz als Leerstelle hervor. Sachlich kann sie problemlos gefüllt werden, jedoch stellt sich die Frage, inwieweit die nichterzählte Vergewaltigung selbst zur Evokation von Experientialität beiträgt. Prinzipiell kann der Leser die Ellipse mit Vorstellungsinhalten füllen, indem er seine mentale Simulation auch ohne Textgrundlage fortsetzt.53 Rennefanz bietet aber auch noch eine zweite Lesart an, indem sie vorweg (noch im

|| 52 Die Ebene soziokultureller Erfahrungen (E4) scheint grundsätzlich viele Gelegenheiten für eigeninitiative Inferenzen des Lesers zu bieten, denn auf dieser hochgradig reflexiven Stufe des Textverstehens finden auch die meisten und komplexesten Interpretationsleistungen statt. Gleichwohl nehmen sich viele Erzähler – insbesondere auch die der Enkelliteratur – die Freiheit, ihre eigenen Interpretationen und Erklärungen fest und unübersehbar im Text zu verankern, sodass der Leser sich üblicherweise zunächst mit diesem vorgegebenen Erfahrungsmaterial beschäftigt. Auch Rennefanz liefert Interpretationsansätze für Friedrichs Tat sowie für die heute kaum noch verständlichen Reaktionen des Opfers und der Dorfbewohner – allerdings erst nach der Situationsbeschreibung. So präsentiert sie zum Beispiel gleich im darauffolgenden Kapitel ihre Rechercheergebnisse zu den Vergewaltigungen in der SBZ und frühen DDR: Zum einen sei die Polizei noch nicht ausreichend ausgestattet gewesen, um die vielen Gewaltverbrechen an Frauen aufklären zu können; zum anderen sei sie aber auch von den Besatzern in ihrer Arbeit behindert worden, sobald ein Angehöriger der Roten Armee in Verdacht stand. Vor allem aber „ist die Meinung weit verbreitet, dass Frauen, die einem Gewaltverbrechen zum Opfer fallen, irgendwie auch selbst schuld an ihrem Schicksal sind“ (MM 196–197). An einer späteren Stelle kommt außerdem die soziale Rolle und Selbstwahrnehmung der Flüchtlinge aus den deutschen Ostgebieten als Erklärungsansatz hinzu: „Anna war ein Flüchtlingsmädchen, sie ging umher mit scheuem, gesenktem Blick, sie schämte sich für ihre Armut, ihre Herkunft. Friedrich brauchte gar kein Messer, um sie zu überwältigen.“ (MM 223) 53 So macht etwa Roswitha Rust Cesaratto darauf aufmerksam, dass Situationsbeschreibungen auch dann einen hohen ‚Verkörperungsgrad‘ (degree of embodiment) erreichen können, wenn der Leser eine körperliche Handlung lediglich erwartet, diese aber nicht explizit beschrieben wird – als Beispiel nennt sie die Vergewaltigung in Kleists Marquise von O..., vgl. Roswitha Rust Cesaratto: Reader, Embodiment, and Narrative: Shared Literary Reading Experiences. In:

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selben Kapitel) eine ähnlich brutale Erfahrung schildert, die nicht nur leserseitig problemlos mental simuliert und experientiell verarbeitet, sondern mit der auch ersatzweise die Leerstelle gefüllt werden kann: An dem Tag der Vergewaltigung wird ein Schwein geschlachtet – ein Ereignis, an dem der spätere Vergewaltiger und sein Opfer beide teilnehmen. Die Tötung, das Ausbluten und das Zerlegen des Tieres wird ausführlich beschrieben, wobei bereits alle Erfahrungsbereiche des späteren Vergewaltigungsaktes durchgespielt werden: Ausgerechnet „Friedrich hält das Schwein fest“ (MM 175), damit es getötet werden kann – auch Anna wird einige Stunden später von Friedrich bewegungsunfähig gemacht: „sie kann sich nicht rühren, so sehr sie sich auch anstrengte“ (MM 184). Auch die Beschreibungen des Schweinebluts weisen auf die Brutalität der Vergewaltigung voraus: „[D]er Schlachter [ist] [...] dabei, die Haut des Schweins aufzuritzen, Blut sprudelt heraus“, als ausgerechnet Friedrich „sie [d. i. Anna, RF] ein wenig [schubst], so dass ihr das Blut ins Gesicht spritzt“ (MM 176–177) – als sie nach der Vergewaltigung zur Besinnung kommt, liegt sie in ihrem eigenen Blut (vgl. MM 184). Des Weiteren wird in der Schlachtungsszene eine sprachliche ‚Erfahrungsspur‘ abgerufen: „‚Nun mal nicht so schüchtern‘, sagt Friedrich und schubst sie ein wenig“ (MM 177). Die Leserinnen und Leser kennen diese Art der Äußerung über die weibliche Schüchternheit aus sexuellen Kontexten – sie verfügen also über entsprechende ‚Erfahrungsspuren‘ und können daher deren Doppeldeutigkeit verstehen und daraus einen Hinweis auf das Rollenverhältnis von Friedrich und Anna ableiten. Auch auf der vierten Ebene des Erfahrungshintergrundes, nämlich hinsichtlich der bei Anna vorliegenden Gerechtigkeitsvorstellungen, kann eine Parallele hergestellt werden, denn in beiden Situationen ist sie blind für die Brutalität dessen, was sie erlebt: Ihr Mitleid mit dem Schwein überwindet sie, indem sie dessen jähen Tod mit einem „gute[n] Leben“ (MM 176) aufwiegt: „Das Schwein [...] hat nie gehungert, es war nicht gequält worden.“ (MM 176) Ähnlich leugnet sie ihr eigenes Leid, indem sie es in den Bereich ihrer eigenen Phantasie auslagert (MM 184) – dass ihr Unrecht widerfahren ist, gesteht sie sich zunächst gar nicht ein. Dass ein Deutungszusammenhang zwischen der Schlachtungsszene und dem Vergewaltigungsakt auch autorseitig intendiert ist, zeigt sich am Ende des Kapitels, wo Anna ihr eigenes Erlebnis mit dem Schicksal des getöteten Schweins assoziiert: „Sie sieht sich daliegen, regungslos, betäubt, tot wie die Augen eines Schweins, in dessen Gehirn ein Metallbolzen steckt.“ (MM 184) In der Annahme,

|| Schlüsselkonzepte und Anwendungen der Kognitiven Literaturwissenschaft. Hg. v. Roman Mikuláš und Sophia Wege. Münster 2016. S. 101–120, hier S. 109.

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aus einem bösen Traum erwacht zu sein, sieht sie „prall aufgeblasene, hohläugige Schweinsköpfe“ (MM 184) um sich herum. Und als Anna sich die feuchten Beine abwischt, gibt die Erzählerin vielsagend zu bedenken: „Es ist nicht das Blut des Schweines.“ (MM 184) Der Leser kann somit darauf verzichten, sich den sexuellen Gewaltakt bildlich vor Augen zu führen, und trotzdem ein experientielles Verständnis dieses einschneidenden Erlebnisses erlangen, indem er die Schweineschlachtung mental simuliert und die dabei ausgeübte Brutalität experientiell verarbeitet. Dabei kommt erneut der kognitive Mechanismus der partiellen Situationsmodellübertragung zur Anwendung, wie er in Kapitel 5.1.1 beschrieben wurde. Im Unterschied zu den Analysebeispielen oben wird hier zwar keine Zeitebene überwunden. Als literarische Strategie erfüllt sie aber den gleichen Zweck: Den Lesern wird ein experientieller Zugang zu einer Erfahrung verschafft, die ihm fremd und daher nur schwer vorstellbar ist.

5.2.3 Revisionen des Familiengedächtnisses Zu Beginn von Die Mutter meiner Mutter erhält die Enkelerzählerin eine Information, die sich nicht widerspruchsfrei in die bisher bekannte Familiengeschichte einfügen lässt. Die Beseitigung dieses Widerspruchs ist allerdings keine rein individuelle Angelegenheit der Enkelin, sondern kann nur im sozialen Kontext erfolgen, denn schließlich handelt es sich bei einer Familiengeschichte weniger um die Erinnerungen und Überzeugungen einzelner, sondern um ein kollektiv gebildetes und maßgeblich durch Kommunikation verwaltetes identitätsbildendes Konstrukt zum Erhalt der familiären Gemeinschaft – so klingt es auch bei Rennefanz an: „In unserer Familie gibt es wie in den meisten Familien eine feste Erzählung, ein Skript, in dem allen Rollen zugeschrieben werden, an die sie sich zu halten haben. [...] [S]ie wurde wieder und wieder erzählt, bis sie sich ins Gedächtnis eingebrannt hatte.“ (MM 127–128) Diese Praxis der innerfamiliären Sinnbildung und Rollenzuschreibung sowie der ständigen Wiederholung des Bekannten und der gegenseitigen Versicherung eines konsensuellen Selbstverständnisses firmiert in der kulturwissenschaftlichen Gedächtnistheorie unter dem Begriff des Familiengedächtnisses: „Das Familiengedächtnis ist eine synthetisierende Funktionseinheit, die gerade mittels der Fiktion eines gemeinsamen

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Erinnerungsinventars die Kohärenz und Identität der intimen Erinnerungsgemeinschaft ‚Familie‘ sicherstellt.“54 Anstelle einer problemorientierten Auseinandersetzung mit den historischen Fakten wird ein möglichst stimmiges Bild von der Familie geschaffen. Beim Zusammentreffen der Familienmitglieder gilt es, den darin verankerten Rollenbildern und gegenseitigen Erwartungen zu entsprechen, wobei gegebenenfalls erhebliche Abweichungen von tatsächlichen Dispositionen und Alltagsgewohnheiten sowie biografischen Ereignissen in Kauf genommen werden. Dieses familienverträgliche Erscheinungsbild hat auch über den Tod des Einzelnen hinaus Bestand – wie Rennefanz am Beispiel der Grabrede anlässlich der Beisetzung ihres Großvaters deutlich macht: „Der Pastor hält sich an das Skript unserer Familie, niemand fällt in seiner Erzählung aus der zugeschriebenen Rolle. Er erzählt vom gutherzigen Vater und vorbildlichen Ehemann, der eine schwere Kindheit gehabt und darunter gelitten habe, ohne einen Vater aufzuwachsen, deshalb sei es ihm umso wichtiger gewesen, sich um seine Töchter zu kümmern.“ (MM 163) Die individuelle Erinnerung der Enkelin deckt sich mit dieser offiziellen Version – bis sie sich nicht mehr aufrechterhalten lässt: „In Wahrheit hat diese Rollenverteilung noch nie gestimmt und die Erzählung unserer Familie war eine Lüge.“ (MM 128) Diese Erkenntnis mündet nicht etwa in Anklage oder Resignation, sondern veranlasst die Enkelin zu einer recherchebasierten Auseinandersetzung mit der Familiengeschichte. Tatsächlich geht es in der Enkelliteratur weniger darum, den familienbiografischen Zusammenhalt als narratives Konstrukt zu entlarven als vielmehr um die Wiederherstellung einer verlorengegangenen Kohärenz oder unterbrochenen Kontinuität. Während hierfür in Katzenberge lediglich ein Verdacht ausgeräumt und eine Leerstelle in der Familienbiografie geschlossen werden muss, kommt es in Die Mutter meiner Mutter zum Umbau des gesamten Familiengedächtnisses. Denn die Integration des Gewaltverbrechens in die Familiengeschichte – als Grund für die Eheschließung und als Akt der Zeugung der ältesten Tochter – zieht eine Neubewertung aller nachfolgenden Ereignisse und Verhaltensweisen der Großeltern nach sich, etwa für die getrennten Schlafzimmer und notorischen Dissonanzen sowie für Annas fehlende Trauer bei Friedrichs Tod. Damit diese neue Sichtweise nicht nur als individueller Deutungsversuch der Enkelin wahrgenommen, sondern auch zur Grundlage eines erneuerten Familiengedächtnisses erhoben wird, muss der gesamte Revisionsprozess in Übereinkunft mit den

|| 54 Harald Welzer: Das gemeinsame Verfertigen von Vergangenheit im Gespräch. In: Das soziale Gedächtnis. Geschichte, Erinnerung, Tradierung. Hg. v. dems. Hamburg 2001. S. 160–178, hier S. 163–164.

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Familienangehörigen erfolgen. Hierzu sind gegebenenfalls aufwendige Überzeugungsleistungen erforderlich – kommt eine Einigung dennoch nicht zustande, führt dies zum Vertrauensverlust oder gar zum Zerfall der Gemeinschaft.55 Rennefanz’ Bemühungen scheinen den gewünschten Erfolg zu verfehlen, denn die ‚zweite Generation‘ verweigert dem Gewaltverbrechen einen Platz im Familiengedächtnis durch konsequentes Schweigen: „Alle wissen, was damals am Schlachttag passiert ist, alle drei haben etwas über ihren Vater herausgefunden, und keine redet drüber, zumindest nicht miteinander. Sie wollen sich ihren Vater nicht wegnehmen lassen. Sie wollen ihn schützen.“ (MM 249) Die jüngste Tochter Astrid sei sogar der Ansicht, das Opfer – ihre eigene Mutter – habe sich die Geschichte von der Vergewaltigung bloß ausgedacht und aus Bosheit in die Welt gesetzt (vgl. MM 250). In Rennefanz’ Familiengeschichte wird durch die unerwartete Aufdeckung eines Geheimnisses das Vertrauen zwischen den Generationen und die gemeinsame Identität der familiären Gemeinschaft erschüttert. Indem der Bezugsrahmen des kollektiven Erinnerns schlagartig verlorengeht, steht auch der familiäre Zusammenhalt auf dem Prüfstand. Zu Erschütterungen und Revisionen von Familiengedächtnissen kommt es jedoch nicht nur infolge von Familiengeheimnissen. Ein Beispiel für einen anderen Typus dieses Phänomens gibt Kolja Mensing mit seiner Familienbiografie Die Legenden der Väter (2011). Bei ihm sorgt nicht etwa eine einzelne Information für Irritationen, sondern das narrative Konstrukt im Ganzen – wie der Autor eigens hervorhebt: In Romanen, in denen es um Familien und ihre Geschichte geht, wird gerne ein bestimmter Moment beschrieben, an dem der Erzähler unvermittelt Einsicht in eine dunkle Vergangenheit erhält. Es kann die unabsichtliche Bemerkung eines Verwandten sein, ein altes, längst vergessen geglaubtes Foto, das ein neues Licht auf den Vater oder den Großvater, die Mutter oder die Großmutter wirft. Ich habe diesen Moment nie erlebt. Alles hatte offen zutage gelegen. Ich hatte das Geflecht von widersprüchlichen Geschichten und einzelnen, unverbundenen Erinnerungen einfach nur lange Zeit nicht hinterfragt.56

|| 55 Brüche in der Familie ereignen sich häufig im Konflikt zwischen den Generationen – so etwa im Kampf der ‚zweiten Generation‘ gegen die Deutungsmacht der Zeitzeugen. Allerdings können unterschiedliche Deutungen der Familiengeschichte auch innerhalb derselben Generation auftreten – so konfrontiert etwa Malte Ludin in seinem Dokumentarfilm 2 oder 3 Dinge, die ich von ihm weiß (2004) seine Geschwister mit historischen Fakten über ihren Vater und kämpft dabei vergeblich gegen ein über Jahrzehnte hinweg gepflegtes Familiengedächtnis an. 56 Kolja Mensing: Die Legenden der Väter. Eine Suche. Berlin 2011, S. 36. Im Folgenden zitiert als LV mit Seitenzahl.

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Konkret geht es hierbei um Mensings polnischen Großvater Józef Koźlik, der nach dem Krieg im Emsland stationiert war.57 Als er einige Jahre später in seine Heimat zurückkehrt, lässt er seine Verlobte und einen Sohn – Mensings Vater – in Deutschland zurück. Letzterem schreibt er in den Siebzigerjahren Briefe, in denen er unter anderem von seiner Soldatenzeit erzählt und die Gründe seiner Rückkehr nach Polen darlegt. Diese Erzählungen sind es schließlich auch, die – vermittelt über die ‚zweite Generation‘ – das Großvaterbild des Enkels prägen: Mein Vater erzählte mir, dass mein Großvater als junger Mann nach dem Überfall der Deutschen auf Polen sein Heimatland verlassen habe. Er sei mit falschen Papieren über die Karpaten nach Ungarn, Rumänien und Jugoslawien bis nach Griechenland geflohen und habe sich schließlich in Palästina den britischen Truppen angeschlossen, um gegen die Deutschen zu kämpfen. (LV 23)

Angeblich sei er aus der Wehrmacht desertiert und habe 1944 als Fallschirmjäger auf alliierter Seite an den verlustreichen Kämpfen um die Rheinbrücke bei Arnheim teilgenommen. Auch sprach er sich von jeglicher Schuld frei, Frau und Kind verlassen zu haben – als Pole sei man unter den Deutschen nicht nur verhasst, sondern auch wirtschaftlich nicht überlebensfähig gewesen (vgl. LV 136). Diese nach und nach mit immer mehr Details ausgeschmückten Geschichten haben sich weit über seinen 1984 erfolgten Tod hinaus nicht nur im polnischen Teil der Familie, sondern auch in den Erinnerungen seines Sohnes und seines Enkels erhalten. Letzterem sind die „Lücken und Widersprüche“ (LV 226) nicht verborgen geblieben, doch erst im Alter von 33 Jahren liest er Józefs Briefe und beginnt, „Ordnung in das Flechtwerk von Geschichten zu bringen, das mich seit meiner Kindheit begleitet hatte“ (LV 40). Dazu befragt er Familienangehörige, sucht Archive auf und rekonstruiert den Kriegsverlauf – mit dem Ergebnis: „Józef Koźlik war ein Lügner. [...] Er war nie desertiert, und er war auch nicht in Arnheim ge-

|| 57 Dass Polen nach dem Krieg kurzzeitig Besatzungsmacht war, ist nicht nur in Vergessenheit geraten, sondern auch kaum erforscht – so die Einschätzung des Autors der einzigen wissenschaftlichen Monografie zu diesem Thema: „‚Die polnische Besatzung‘ in Deutschland, also der Dienst, den die 1. Panzerdivision und die 1. Selbständige Fallschirmjägerbrigade in den Jahren 1945 bis 1947 in einigen an der deutsch-holländischen Grenze gelegenen Kreisen versah, gehört zu den am wenigsten bekannten Kapiteln der deutsch-polnischen Beziehungen im 20. Jahrhundert.“ (Jan Rydel: Die polnische Besatzung im Emsland 1945–1948. Osnabrück 2003, S. 9) Mensing hat, wie seine Danksagung (vgl. LV 234) verrät, maßgeblich von Rydels Buch profitiert. In Die Legenden der Väter zeigt er die Verdrängung dieser Geschichte in der Region und in seiner eigenen Familie auf, vgl. LV 104, 142 sowie Mensings Nachwort in der überarbeiteten Neuausgabe von 2015.

Sabine Rennefanz: Die Mutter meiner Mutter (2015) | 219

wesen.“ (LV 168) Vielmehr ist er aufgegriffen und in ein britisches Kriegsgefangenenlager für polnische Wehrmachtssoldaten gebracht worden. Da er im Verhör schon den Briten eine „Heldenlegende“ (LV 175) aufgetischt hatte, ist er schließlich tatsächlich noch in die polnische Exilarmee aufgenommen worden – an Kampfeinsätzen war er jedoch nicht mehr beteiligt: „Der Krieg geht ohne Józef Koźlik zu Ende.“ (LV 181) Und auch aus seinem Privatleben tauchen allmählich „[h]ässliche Details“ (LV 167) auf. Wie sich herausstellt, war Józef ein „Trinker, Hochstapler und Bankrotteur, der hinter den Geschichten, die er über sich erzählte, selbst kaum noch zu erkennen war“ (LV 168). Während er sich selbst noch als Opfer der historischen Umbrüche dargestellt hatte, entsteht zunehmend der Eindruck, als habe er das Vertrauen seiner Frau und deren Eltern leichtfertig verspielt und sich seiner Verantwortung entzogen. Solange die titelgebenden Legenden der Väter unhinterfragt an die nächste Generation weitergegeben werden, begründen sie eine Kontinuität innerhalb der Familiengeschichte und verschaffen den Familienmitgliedern ein Zugehörigkeitsgefühl. Verweigert jedoch ein Familienmitglied das kollektive Erinnern und stellt den gemeinsamen Bezugsrahmen von Herkunft und Identität infrage, kann dies für einzelne Familienmitglieder verheerende Folgen haben. Mensings Vater ‚verliert‘ seinen Vater, der ihm plötzlich völlig fremd erscheint, aber er sieht auch das Verhältnis zu seinem Sohn gefährdet, dem er von dessen Kindheit an von Józef erzählte und auf diesem gemeinsamen Wissen mit ihm eine verschworene Gemeinschaft bildete. Verständlicherweise zeigt er daher auch kein Interesse an den Nachforschungen seines Sohnes. Aber er versucht ihn auch nicht davon abzuhalten – im Gegensatz zur ‚zweiten Generation‘ bei Rennefanz, wo die drei Töchter in demonstratives Schweigen verfallen und die Enkelerzählerin zurechtweisen: „Meine Tante Marion räuspert sich und sagt dann, ich solle bitte aufhören, der Vergangenheit nachzulaufen. Die Vergangenheit sei die Vergangenheit, sie würde nichts erklären. Seitdem sie aufgehört habe, der Vergangenheit nachzulaufen, gehe es ihr so gut wie nie.“ (MM 252) Das Familiengedächtnis bildet in vielen Enkelbüchern den Bezugshorizont für die intergenerationelle Verständigung und zugleich die Interpretationsgrundlage für kommunikative Störungen. Statt eine bereits fertig aufgearbeitete Familiengeschichte zu präsentieren, machen die meisten Enkelerzähler den Aufarbeitungsprozess selbst zum Thema. Damit werden sie der Tatsache gerecht, dass die Familiengeschichte nur als Produkt eines Aushandlungsprozesses und im Einvernehmen der Familienmitglieder ihre sozialen und identitätsbildenden Funktionen erfüllen kann. Gewissermaßen handelt es sich dabei um eine Gattung des Alltagserzählens, deren spezifische Regelhaftigkeit bei ihrer Übertragung in ein literarisches Format erhalten bleibt. Folglich ist es auch für die Leser keinesfalls

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irritierend, wenn sich die Erzähler nicht nur am historischen Gegenstand, sondern auch am Widerstand ihrer Familienmitglieder abarbeiten. Die gemeinsame Pflege oder Wiederherstellung von Familiengedächtnissen gilt als ‚natürliches‘ Sozialverhalten – daher wird es auch in der Erinnerungsliteratur zur Darstellung gebracht, um damit experientielle Wirkungen hervorzurufen. Das Dreigenerationenschema stellt hierbei die gemeinsame Grundlage für sowohl gesellschaftliche als auch literarische Vergewisserungen und Aushandlungen von Familiengeschichten dar. Folglich wird bei dessen Aktivierung und Verwendung im Lektüreprozess ein erfahrungsnaher kommunikativer Kontext hergestellt, der nicht nur das Verständnis des Gelesenen fördert, sondern hintergründig und allmählich auch zu einem differenzierteren und kompetenten Umgang mit eigenen Familiengedächtnissen beitragen kann.

5.3 Sacha Batthyany: Und was hat das mit mir zu tun? (2016) Der Untertitel von Batthyanys Buch lautet „Ein Verbrechen im März 1945. Die Geschichte meiner Familie“. Gemeint ist das Massaker von Rechnitz, bei dem kurz vor Kriegsende 180 Juden während einer Feierlichkeit auf dem Schloss Rechnitz im Burgenland hingerichtet wurden.58 Die an diesem Abend anwesende Schlossherrin ist Margit von Batthyány, Tochter des Unternehmers Heinrich Thyssen und Großtante des 1973 geborenen Schweizer Journalisten Sacha Batthyany. Da sie bis zu ihrem Tod 1989 nicht zur Rechenschaft gezogen und in der Familie über die Nacht des Verbrechens geschwiegen wurde, erfährt der Großneffe davon erst 2007 zufällig aus der Zeitung. Nachdem er Rechnitz zweimal besucht und mit der letzten Zeugin und anderen Leuten aus dem Ort, die Margit noch gekannt haben, gesprochen hat, liegen ihm stark voneinander abweichende Deutungen der Ereignisse vor: „Jeder erzählt die Geschichte anders: Die Familie will nichts gewusst haben und hat Margits Rolle nie hinterfragt, die Medien wollen die Schlagzeile von der blutrünstigen Gräfin, und die Einwohner von Rechnitz wollen das Ganze unter den Teppich kehren. Für sie ist Tante Margit eine Heilige.“59

|| 58 Durch den Dokumentarfilm Totschweigen von Margareta Heinrich und Eduard Erne von 1994 sowie das 2008 uraufgeführte Theaterstück Rechnitz (Der Würgeengel) von Elfriede Jelinek ist dieses Ereignis im erinnerungskulturellen Bewusstsein Österreichs durchaus präsent. Da aber das Massengrab bis heute nicht gefunden wurde und mangels aussagewilliger Zeugen kaum Details über die Abläufe und persönliche Beteiligungen bekannt geworden sind, konnte die geschichtswissenschaftliche Aufarbeitung bisher nicht abgeschlossen werden. 59 Sacha Batthyany: Und was hat das mit mir zu tun? Ein Verbrechen im März 1945. Die Geschichte meiner Familie. Köln 2016, S. 26. Im Folgenden zitiert als UW mit Seitenzahl.

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Die Recherchen über das Massaker von Rechnitz bilden allerdings nur den Anfang einer sieben Jahre andauernden Beschäftigung mit der Familiengeschichte, die Batthyany zu Beginn seines Buchs umreißt: [N]achdem mir meine Familiengeschichte begegnet war an jenem Morgen, an dem ich meine Großtante Margit in dem Zeitungsartikel erkannt hatte, fing ich an zu recherchieren, schrieb Familienangehörigen in Wien, Budapest und München. [...] Ich besorgte mir Akten über Tante Margit und ihren Mann Ivan, den Bruder meines Großvaters, las Bücher über die Thyssens, über die Geschichte Ungarns, verbrachte ganze Tage in Archiven in Berlin und Bern, Budapest und Graz und sprach immer wieder mit meinem Vater. Tante Margit war der Auslöser meiner Reise in die Geschichte, ihretwegen habe ich mich zum ersten Mal in meinem Leben mit meiner Herkunft auseinandergesetzt. (UW 17–18)

Batthyanys Großvater Ferenc (alias Feri) bildet eine Kontrastfigur zu dessen Bruder Ivan und der angeheirateten Großtante Margit, da er nach Kriegsende in sowjetische Gefangenschaft geriet und zehn Jahre im Gulag zubringen musste. Diese Zeit kann der Autor mithilfe der Übersetzung einer hundert Seiten umfassenden Akte aus einem Militärarchiv rekonstruieren (vgl. UW 94). Zusammen mit seinem Vater reist er in den Ural zu den historischen Erfahrungsorten ihres gemeinsamen Vorfahren.

5.3.1 Experientialität durch Zitatmontage Des Weiteren bringt Batthyany hunderte Seiten fragmentarischer Lebenserinnerungen seiner 2009 verstorbenen Großmutter Maritta – der Frau von Feri – in eine Ordnung und stößt dabei auf einen Doppelmord: Maritta war während ihrer Kindheit und Jugend mit einem jüdischen Mädchen namens Agnes befreundet. Als Agnes und ihr Bruder deportiert werden, richten sich deren Eltern verzweifelt an Marittas Vater und flehen ihn an, seinen Einfluss geltend zu machen. Dieser jedoch wehrt ab und lässt es zu, dass die beiden vor seinen Augen von einem deutschen Soldaten erschossen werden. Maritta ist Augenzeugin dieser willkürlichen Hinrichtung und macht sich ein Leben lang Vorwürfe, sie nicht verhindert zu haben. Agnes überlebt Auschwitz und wandert nach dem Krieg nach Argentinien aus, ohne in Erfahrung gebracht zu haben, wie ihre Eltern gestorben sind. Batthyany besucht sie im Oktober 2013 in Buenos Aires und liest ihr aus den Memoiren seiner Großmutter vor. Im Gegenzug erhält er eine Kopie von Agnes’ Memoiren und somit ein für die Literarisierung geeignetes Vergleichsdokument: Die anfangs noch ähnlichen Erfahrungsbereiche der beiden Freundinnen münden während des Nationalsozialismus in geradezu gegensätzliche Lebensläufe. Auf insgesamt mehr als 40 Seiten und in sechs über das Buch verteilten Kapiteln stellt

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Batthyany Auszüge aus den beiden Dokumenten unkommentiert gegenüber,60 wobei dem Leser eine figurale Doppelperspektive auf denselben historischen Zeitabschnitt und oftmals auch auf dasselbe Ereignis oder Thema geboten wird. So heißt es etwa bei Agnes: Sie pferchten uns in Waggons wie Vieh. Wir waren alle ungewaschen, steckten seit Budapest in denselben Kleidern. Die Türen wurden verriegelt, Fenster gab es keine. Wir fuhren los, Kinder, Alte, Frauen, alle dicht nebeneinander. Manche weinten, andere schrien, zwei Menschen starben. Als der Zug nach Tagen hielt, waren wir erleichtert. Endlich angekommen, in Auschwitz. (UW 80)

Eine Seite später wird diese Erinnerung mit Marittas Perspektive auf den gleichen historischen Vorgang kontrastiert: Es war ein Sonntag, und anstatt in die Kirche zu gehen, versammelten wir uns mit dem Pfarrer einmal im Jahr auf den Feldern. Er ging voran, wir liefen ihm nach, und er segnete die Erde, auf dass sie uns eine gute Ernte beschere. [...] Wir standen auf einer Kuppe und blickten über die Landschaft. Ich sah das Moor, die Wälder, die ich von der Jagd gut kannte, und plötzlich zeigte eine der Dorffrauen auf einen Zug, der mehr Waggons gekoppelt hatte als üblich und von uns aus gut zu sehen war. [...] Auch unser Pfarrer sah hin, und als jemand sagte: „Da sind die Juden drin“, konnten wir den Blick nicht abwenden. (UW 81)

Bei der Verarbeitung dieser beiden Situationsschilderungen können problemlos passende Referenzsituationsmodelle gebildet werden. Dem Autor geht es hier jedoch offenbar nicht nur um die Darstellung der historischen Erfahrungen beider Frauen. Denn durch den ständigen Wechsel zwischen beiden Erinnerungsdokumenten richtet er die Aufmerksamkeit des Lesers auch auf das Verhältnis beider Biografien zueinander. Mit der Doppelperspektive wird das Historische auf eine Art erfahrbar gemacht, die von den Erfahrungsmöglichkeiten der historischen Figuren grundlegend abweicht. Ob der Leser bei der Verarbeitung solcher Zitatmontagen tatsächlich auf eigene Erfahrungen – in diesem Fall der vierten Ebene des Erfahrungshintergrundes – zurückgreift, hängt von zahlreichen Faktoren ab. Auf jeden Fall aber setzt der Autor mit seiner spezifischen Erzählweise eine erinnerungskulturelle Deutungsfunktion frei, die den Leser auf seinen soziokulturellen background verweist, wo er unter anderem eigene Erfahrungen mit literarischen Darstellungsmöglichkeiten und Sinnbildungstechniken gespeichert hat.

|| 60 Allerdings hat der Autor die Aufzeichnungen von Maritta und Agnes im Vorfeld übersetzt und bearbeitet, wie es im Paratext heißt: „Die Tagebücher von Maritta Batthyány und Agnes Kupferminc wurden vom Autor aus dem Ungarischen beziehungsweise dem Spanischen ins Deutsche übertragen und für die Veröffentlichung bearbeitet.“ (UW 4)

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Werden diese während der Rezeption aktiviert, steigt auch der experientielle Wirkungsgrad. Aus experientialitätstheoretischer Sicht ist prinzipiell zu fragen, ob durch Techniken der literarischen Verarbeitung von Prätexten experientielle Wirkungspotenziale freigesetzt werden, die bei der Rezeption des Originals nicht (bzw. nicht mehr) erzielt werden können. Dabei ist zunächst festzuhalten, dass ein Zitat nie dieselbe Bedeutung hat wie sein Original. Denn erstens erscheint es in einem neuen textuellen Umfeld61 und somit auch in einem neuen Verständnishorizont und zweitens wird bei der Zitatfassung häufig ein anderer Adressatenkreis mit anderen kontextuellen Rezeptions- und Kommunikationsbedingungen angesprochen. Dies zeigt sich etwa an folgendem Beispiel für eine besonders großflächige Prätextverarbeitung: In Haltet euer Herz bereit porträtiert Maxim Leo unter anderem seinen Großvater Gerhard Leo, der jüdischer Herkunft ist, seine Jugend im französischen Exil verbracht, in der Résistance gekämpft und in der Gründungsphase der DDR für deren Nachrichtendienst als Spion agiert hat. Bei der Rekonstruktion seiner Lebensgeschichte verwendet der Enkel – als „wichtigste Quelle“62 – dessen Ende der 1970er Jahre aufgezeichneten und 1988 unter dem Titel Frühzug nach Toulouse63 veröffentlichten Erinnerungen. Ergänzend zitiert der Erzähler aus verschiedenen Dokumenten, die er in Archiven ausfindig gemacht hat. Sein intertextuelles Gesamtprodukt liest sich letzten Endes als umfangreiche Paraphrase von Prätexten. Gleichwohl ist die Wiederverwertung älteren Textmaterials keineswegs gering zu schätzen. Die besondere Leistung des Enkels besteht darin, die Aufzeichnungen des Großvaters dem aktuellen erinnerungskulturellen Kontext angepasst und dadurch experientielle Wirkungspotenziale zurückgewonnen zu haben. Eine solche Aktualisierung ist nötig geworden, da sich die kommunikative Funktion der ursprünglichen – für das Lesepublikum der DDR angefertigten – Publikation aus den Achtzigerjahren erschöpft haben dürfte. Zudem hat sich der common sense in der gesellschaftlichen Verständigung über die Zeit des Nationalsozialismus generell stark verändert – die ‚natürliche‘ Auseinandersetzung mit subjektiv erlebter Geschichte erfolgt inzwischen vornehmlich im Modus einer ‚sekundären Zeugenschaft‘ (siehe Kapitel 1.1). Diese

|| 61 „[E]ven if the original could be copied down to the last detail, its transplanting and framing in a new environment would impose on it a new mode of existence.“ (Sternberg: Proteus in Quotation-Land, S. 108) 62 Leo: Haltet euer Herz bereit, S. 82. 63 Gerhard Leo: Frühzug nach Toulouse. Berlin 1988. Da es sich hierbei um eine zensierte DDRAusgabe handelt, lag dem Enkel vermutlich auch die Neuausgabe vor, vgl. Gerhard Leo: Frühzug nach Toulouse. Ein Deutscher in der französischen Résistance 1942–1944. Rostock 2006.

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realisiert sich auch bei Maxim Leo nach den Regeln des Dreigenerationenschemas. Die Gegenwartsperspektive des Enkels wird nicht nur durch die explizite Angabe der Quelle und Beschreibung der Quellenarbeit angezeigt, sondern auch durch die Verwendung der dritten Person markiert.64 Damit wird linguistisch eine Differenz zwischen der erlebenden Figur und dem Erzähler hergestellt und aufrechterhalten. Gerhards Geschichte ist nun nicht mehr nur die eines Zeitzeugen, sondern auch die eines Großvaters – und als solche hat sie für heutige Rezipienten ein höheres Experientialitätspotenzial als das Original.

5.3.2 Narratoriale mentale Simulationen Bei der Wiedergabe einzelner Episoden der Familiengeschichte und der historischen Erfahrungen der Zeitzeugen gibt Batthyany – wie in der Enkelliteratur üblich – nicht nur die Art und Ergiebigkeit der ihm zur Verfügung stehenden Quellen an, sondern reflektiert auch die Grenzen seines Wissens und benennt Überlieferungslücken. Diese einmal abgesteckten Bereiche des Nichtwissens füllt er jedoch häufig mit hypothetischen Inhalten, indem er eigene Mutmaßungen kundtut und historische Tatsachen mit erdachten Situationsschilderungen anreichert – somit macht er seine eigenen mentalen Simulationen zum Gegenstand seines Erzählens. Diese literarische Freiheit macht sich Batthyany zum Beispiel zunutze, um die Fortsetzung der ansonsten gut rekonstruierbaren Biografie seines Großvaters Feri sicherzustellen. Dieser flieht während des Ungarischen Volksaufstandes im November 1956 mit seiner Familie in die Schweiz zu seinem Bruder Ivan und dessen Frau Margit. Während Feris Kriegserlebnisse anhand von Briefen und anderen Dokumenten (vgl. UW 99) und seine zehnjährige Gefangenschaft dank der Militärakte relativ gut nachvollziehbar sind, gibt es über das Zu-

|| 64 Um ein Beispiel zu geben: „Plötzlich erscheint der Hauptfeldwebel im Türrahmen. Er richtet seine Pistole auf Gerhards Kopf. Gerhard sieht alles wie in Zeitlupe. Das blasse, verzerrte Gesicht des Hauptfeldwebels, den Finger am Abzug. Gerhard dreht den Kopf zur Seite, um das Mündungsfeuer nicht sehen zu müssen. Er hört den Schuss und spürt einen Schlag. Warmes Blut läuft über sein Gesicht. Er fragt sich, ob er jetzt tot ist, aber schnell wird ihm klar, dass Tote keine Fragen stellen.“ (Leo: Haltet euer Herz bereit, S. 126) Und dieselbe Stelle im Original: „Mit blassem, verzerrtem Gesicht richtet er den Lauf seiner Pistole auf meinen Kopf. Unmittelbar vor der Befreiung, denke ich verzweifelt und versuche mich so weit als möglich zur anderen Seite zu wenden. Da höre ich den Schuß, ganz nahe, spüre gleichzeitig einen Schlag. Ich bin tot, denke ich, und fühle, wie es warm über mein Gesicht rieselt. Und gleich darauf: Wenn ich denke, daß ich tot bin, lebe ich doch!“ (Leo: Frühzug nach Toulouse, S. 256)

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sammenleben der beiden Brüder und ihrer Ehefrauen am Luganersee nur „wenige Dokumente“ (UW 57). Diese Figurenkonstellation von Familienangehörigen mit derart unterschiedlichen historischen Erfahrungen ist für Batthyany jedoch von großem Interesse, denn offenbar kam es in dieser Zeit zum Bruch. Daher versucht er, sich den gemeinsamen Alltag ‚auszumalen‘ und Situationen, in denen die beiden Paare mit ihren gegensätzlichen moralischen Dispositionen in Konflikt geraten, mental konstruieren. Kennzeichnend für die Enkelliteratur ist hierbei, dass die Vorstellungstätigkeit explizit als solche ausgewiesen wird – Batthyany verwendet die einleitenden oder eingeschobenen Formeln „In meiner Vorstellung“ (UW 57, 59), „so stelle ich es mir jedenfalls vor“ (UW 57) und „so male ich mir das aus“ (UW 60). Damit werden die Situationsschilderungen besonders stark repräsentational gerahmt und die Phantasie des Erzählers als Quelle angezeigt. Diese source-tags65 werden durch epistemische Kommentaradverbien – wie „vielleicht“ (UW 57) und „bestimmt“ (UW 60) – sowie durch die mutmaßende Funktion des modalen Futurperfekts ergänzt. Die mentale Simulation des Erzählers beginnt mit einer Beschreibung der räumlichen und zeitlichen Gegebenheiten: Die Villa Mita liegt direkt am Ufer des Luganersees. Vom Wohnzimmer aus sieht man auf die andere Seite nach Italien und erkennt an schönen Tagen die Kirchtürme kleiner Dörfer, aber nicht an Winterabenden Mitte Februar 1957, so stelle ich es mir jedenfalls vor: Die Wolken hängen tief, der Wind raut das Wasser auf, auf dem Boden im Wohnzimmer liegen helle Teppiche, die Sofas sind aus weichem Leder, an den Wänden hängen Hirschgeweihe und etwas Exotisches. (UW 57)

Dass Batthyany hierbei die Regeln faktografischen Erzählens außer Kraft setzt, beeinflusst die mentale Modellbildung nicht im Geringsten. Denn ob sich der Erzähler eines nichtfiktionalen Werkes für die historische Realität einer von ihm beschriebenen Handlungssituation verbürgt oder er sie explizit als etwas Ausgedachtes ausweist, ist für deren Grundverständnis irrelevant – in beiden Fällen konstruiert der Leser dasselbe Situationsmodell. Der vorgestellte Raum wird nun allmählich mit Figuren gefüllt: Wie werden diese Abende verlaufen sein? „Zeit für einen Sherry“, könnte Ivan gesagt habe. Er ist gut gelaunt, er hatte schon immer das Gefühl, alle aufheitern zu müssen. Ivan ist groß gewachsen, trägt eine beigefarbene Hose und ein Hemd in gleicher Farbe, einen blauen Siegelring am Finger, ein goldenes Feuerzeug von Dupont in seiner Tasche. „Ein Bier wäre mir lieber“, sagt mein Großvater Feri vielleicht, Ivans jüngerer Bruder. In meiner Vorstellung sitzt er in der Nähe des Kamins und blickt auf seine Schuhe, sieht zwischen den Socken

|| 65 Siehe hierzu Kapitel 4.3.4.

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und der Hose einen Streifen blasser, unbehaarter Waden. Er wird sich wohlgefühlt haben am Feuer, er genießt die Wärme, in den Lagern Westsibiriens, wo er die vergangenen zehn Jahre verbracht hat, ist ihm der kleine Zeh abgefroren. (UW 57–58)

Diese Beschreibung einer vom Autor ausgedachten Situation bietet dem Leser zahlreiche Informationen für deren mentale Simulation: Für ein experientielles Verständnis der Wärme am Kamin und von Feris propriozeptivem Körpergefühl aktiviert er basale wahrnehmungsbezogene ‚Erfahrungsspuren‘ der untersten Ebene des Erfahrungshintergrundes (E1). Auch die emotionalen Zustände der beiden Figuren – Ivans gute Laune und Feris genießende Haltung – können unter Rückgriff auf eigene Emotionen dieser Art verarbeitet werden (E2). Außerdem kann sich der Leser durch die direkte Rede zur Verarbeitung von linguistic traces66 veranlasst sehen und somit die Äußerungen der Figuren lebhaft mental simulieren, indem er etwa prosodische Aspekte des Sprechens inferenziell ergänzt67 – in diesem Fall werden auch ‚Erfahrungsspuren‘ der dritten Ebene des Erfahrungshintergrundes (E3) durch das Situationsgeschehen ausgelöst:68

|| 66 Zu dieser von Rolf A. Zwaan verwendeten Bezeichnung für sprachliche ‚Erfahrungsspuren‘ siehe Kapitel 2.2.4. 67 Zu den unterschiedlichen Experientialitätspotenzialen von direkter und indirekter Rede siehe Kapitel 4.4.4. 68 Die gemeinsame Zeit im Haus von Margit und Ivan bildet innerhalb der Überlieferungslogik des Dreigenerationenschemas eine Kommunikationssituation auf der Zeitebene B2 und wird folglich rezipientenseitig als KSB2-Modell verarbeitet. Historische Referenzsituationen (RS) kommen darin nicht zur Sprache, denn zwar versucht sich der Erzähler vorzustellen, wie diese vier Zeitzeugen zwölf Jahre nach Kriegsende miteinander über ihre Taten und Erlebnisse sowie ihre Schuld und historische Verantwortung sprechen, jedoch ohne Erfolg, denn eine aufrichtige gegenseitige Offenbarung traut er dieser Generation nicht zu – daher wird über Rechnitz und den Mord an Agnes’ Eltern oder über Feris zehnjährige Gefangenschaft in Sibirien nicht einmal in der Phantasie des Erzählers gesprochen. Folglich ist in das Analysemodell (Abb. 13) kein Überlieferungsweg (Pfeil) zwischen RS und KSB2 eingezeichnet. Da der Erzähler die KSB2 erklärtermaßen ‚erfindet‘, fehlen auch in Richtung der Gegenwart (A) die Markierungen für erinnernde und erzählende Weitergabe. Dennoch bleibt das Dreigenerationenschema kognitiv relevant, denn nur vor dessen Hintergrund kann die fiktional ‚nachgeholte‘ transgenerationale Überlieferung leserseitig adäquat interpretiert werden – im Gegensatz zu dem in Kapitel 5.1.1 angeführten Beispiel aus dem Enkelbuch von Johanna Adorján, die auf historische Quellen zurückgreift, die prinzipiell unabhängig von Erinnerungs- und Erzählakten überliefert und somit auch außerhalb transgenerationaler Vermittlungskontexte interpretiert werden können. Deshalb wurde dort (siehe Abb. 10) die ‚Zwischenzeit‘ (B) im Analysemodell ausgespart.

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Abb. 13: Narratoriale mentale Simulation mit KSB2-Modellbildung

Indes schleust der Erzähler auch situationsfremde Erfahrungsaspekte in seine mentale Simulation – bzw. in deren textuelle Wiedergabe – ein, sodass die Experientialität auch aus anderen Quellen bezogen und über andere Kanäle abgeschöpft werden kann: Indem der Vorstellungsakt des Erzählers wiederholt explizit angezeigt und konsequent rhetorisch eingelöst wird, kann der Leser auch die Imaginationstätigkeit – und somit eine übergeordnete mentale Repräsentation – zum Bezugspunkt seiner experientiellen Reaktionen machen. Da Erfahrungen mit Erinnerungen und ähnlichen mentalen Vergegenwärtigungstechniken in Caracciolos Modell der dritten Ebene des Erfahrungshintergrundes zugeordnet werden, erhält die Zeile E3 im Analysemodell (Abb. 13) einen doppelten Quellenbezug.69 Auch Aktivitäten auf der vierten Ebene des Erfahrungshintergrundes (E4) werden durch die Gegenwärtigkeit des Erzählers ausgelöst, der den Leser mittels

|| 69 Eine solche Beanspruchung derselben Ebene des Erfahrungshintergrundes durch zwei unterschiedliche Quellenkontexte stellt keinen Widerspruch dar. Denn schließlich handelt es sich bei Caracciolos Modell lediglich um eine Heuristik ohne direkte neuronale Entsprechung. Wo dies hilfreich und angemessen erscheint, kann der Erfahrungshintergrund prinzipiell auch stärker ausdifferenziert und das Analysemodell entsprechend erweitert werden – im vorliegenden Modell wird dies durch eine weitere Zeile graphisch umgesetzt.

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strategisch gesetzter Textsignale zur Verarbeitung eigener soziokultureller Erfahrungen veranlasst: Ivans Markenfeuerzeug und sein Siegelring gehören offensichtlich nicht zum aktuellen Handlungs- und Wahrnehmungskontext der Figuren, sondern werden von Batthyany erwähnt, um auf Ivans Reichtum und Herkunftsbewusstsein aufmerksam zu machen und die Figur mittels dieser Attribute zu charakterisieren. Auch mit den kontrastierenden Getränkevorlieben – Sherry und Bier – wird augenscheinlich eine Typisierung der Figuren betrieben und deren soziale Herkunft und Lage angezeigt. Der Leser vermag die Bedeutungen solcher Requisiten unter Rückgriff auf eigenes Erfahrungswissen zu entschlüsseln und reagiert dabei adäquat auf die Kommunikationsintention des Autors.70 Die Präsenz des Erzählers als konstruierende Instanz wird im weiteren Verlauf dieser Szene noch einmal deutlich gesteigert, indem Batthyany plötzlich in einen – die Konventionen des Dramas bedienenden – Dialog zwischen Margit, Ivan, Maritta und Feri sowie dem Diener Jóska wechselt, dem – wiederum wie im literarischen Drama – Angaben zu Ort und Zeit sowie biografisch gestützte Charakterisierungen der vier Hauptfiguren vorangestellt werden. Dieses foregrounding71 auf formaler Ebene kann der Leser nur unter Rückgriff auf eigene Erfahrungen mit literarischen Gattungen sinnvoll deuten. Er richtet daher seine Aufmerksamkeit verstärkt auf die Repräsentationsebene des Erzählers als der den Gattungswechsel verantwortenden Instanz. Indes könnte der Gattungswechsel schon nach kurzer Zeit ‚akzeptiert‘ werden, sodass der Konstruktionscharakter aus dem Blick gerät – in diesem Fall träte sogar ein gegenteiliger Effekt ein, denn da es im Drama keinen Erzähler gibt, könnte sich der Leser umso mehr dem Situationsgeschehen widmen. Einer damit einhergehenden Bildung von Geschehensillusionen weiß Batthyany jedoch geschickt vorzubeugen, indem er seine ei-

|| 70 Dabei wird keineswegs vorausgesetzt, dass diese Erzählstrategie von den Lesern durchschaut wird. Denn die Spielarten transhistorischer oder transgenerationaler Erfahrungsvernetzungen wirken auf die Rezipienten in der Regel nicht befremdlich, sondern sind ihnen durch den alltäglichen kommunikativen Austausch von Erfahrungssituationen geläufig – wenn jemand über die Erfahrung eines anderen spricht, thematisiert er oftmals zugleich (bewusst oder unbewusst) seine eigene Erfahrung im Umgang mit dieser fremden Erfahrung. 71 Der Begriff foregrounding meint – theoriegeschichtlich auf deviationsästhetische Überlegungen im Russischen Formalismus sowie auf gestaltpsychologische Ansätze zurückgehende – Techniken der Hervorhebung bestimmter Textelemente beispielsweise mittels Verfremdung, Wiederholung oder Amplifikation, vgl. einführend Nadine van Holt/Norbert Groeben: Das Konzept des Foregrounding in der modernen Textverarbeitungspsychologie. In: Journal für Psychologie 13 (2005) H. 4, S. 311–332.

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gene dramatische Inszenierung immer wieder durch erzählende Passagen unterbricht und gezielt den prekären epistemologischen Status seiner Situationsbeschreibungen anzeigt – etwa indem er Wahrscheinlichkeiten abwägt: „Und wenn sie ihr Schweigen brechen und sich einander offenbaren? Aber warum sollten sie das tun?“ (UW 70) Außerdem sind einige Stellen der dramatischen Figurenrede mit umfangreichen Fußnoten versehen, die den beschränkten Wissenshorizont der Figuren um historische Fakten ergänzen und ihre Gesprächsthemen mittels Autorenwissen nachträglich kontextualisieren. Durch solche interrogativ kommentierenden und metaisierenden Elemente wird nicht nur der Konstruktionscharakter des Erzählens hervorgehoben, sondern der Leser auch verstärkt zur mentalen Repräsentation des Autors (vgl. Kapitel 3.2.1.1) und damit zu einer höheren Investition kognitiver Ressourcen in die Verarbeitung des Kontextmodells ‚gezwungen‘. Von narratorialen mentalen Simulationen macht Batthyany in seinem Buch mehrfach Gebrauch. Während das hier angeführte Beispiel immerhin auf einer tatsächlichen Begegnung der Figuren beruht, verwendet der Autor dieses Erzählverfahren auch für die Darstellung kontrafaktischer Ereignisse. So imaginiert er beispielsweise eine – definitiv nicht erfolgte – Begegnung von Maritta und Agnes im ungarischen Zwischenlager in Kistarcsa vor der Deportation nach Auschwitz, wobei er den epistemologischen Status seiner Ausführungen wieder klar kennzeichnet: „Angenommen, meine Großmutter hätte mit Agnes sprechen können, wie hätte sie das Gespräch begonnen, was hätte sie ihr erzählt?“ (UW 250) In einem anderen Kapitel erfindet er Namen und Biografie des Mörders von Agnes’ Eltern und beschreibt detailliert dessen Familienurlaub am Balaton 1982, wo er in einer Strandbar zufällig Andrei Simanowski kennenlernt, den Wärter seines Großvaters Ferenc in Asbest. Abgesehen von der Formel „Nehmen wir einmal an“ (UW 192, 196) wird in diesem Kapitel zunächst stark geschehensorientiert im epischen Präteritum erzählt, bevor erneut in den Darstellungsmodus des Dramas gewechselt und ihre Begegnung – unterbrochen von narrativen Einschüben – in Dialogform fortgesetzt wird (vgl. UW 198–202). Hier sind – abgesehen vom Namen des Gulag-Wärters, den Batthyany aus der Häftlingsakte seines Großvaters kennt – sämtliche Details frei erfunden. Allerdings sei es in den Achtzigerjahren an diesem bei Ost- und Westeuropäern gleichermaßen beliebten Urlaubsort nicht unwahrscheinlich gewesen, dass sich zwei „Durchschnittsmenschen mit Durchschnittsbiografien, die im letzten Drittel ihres Durchschnittslebens steckten und an manchen Tagen Besuch erhielten von ihrer Durchschnittsvergangenheit“ (UW 199), in der von Batthyany exemplarisch vor Augen geführten Weise begegneten. Die narratoriale mentale Modellbildung kann somit auch zum Zwecke der Ver-

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sinnbildlichung einer rein statistischen historischen Wirklichkeit eingesetzt werden und verfolgt dabei eine historiografische Funktion im Rahmen des literarischen Diskurses.72 Narratoriale mentale Simulationen sind auch in vielen anderen – wenn nicht sogar den meisten – Texten der Enkelliteratur zu finden. Indem der Erzähler seine mentalen Simulationen ausführlich beschreibt, nimmt der Leser nicht nur Anteil daran, sondern vollzieht sie auf seine Weise selbst. Manchmal aber berichtet der Erzähler lediglich von seinen mentalen Simulationen und lässt den Leser nicht daran teilhaben. Dies ist häufig dann der Fall, wenn die Erzählerinnen und Erzähler an historische Orte reisen, um Anhaltspunkte für ihre Vorstellungstätigkeit zu finden. So berichtet etwa Naomi Schenck in Mein Großvater stand vorm Fenster und trank Tee Nr. 12 (2016) von einem Besuch in Halle, wo ihr Großvater, der Photochemiker Günther Otto Schenck, während des Zweiten Weltkriegs lebte und forschte. Ihre Erwartung einer „Zeitreise“73 wird enttäuscht, denn was sie findet, sind „kahle Mietswohnungen aus den sechziger Jahren, kaum etwas ist erhalten, selbst der Asphalt ist neu, und die wenigen Bäume sind nicht alt genug, um Zeugen zu sein“74. Es bleibt ihr folglich nur die Imagination – beim Besuch einer naheliegenden Traditionsgaststätte versucht sie, ihre Umgebung mit den Sinnen ihres Großvaters zu erfassen, der in den Vierzigerjahren möglicherweise an demselben Tisch gesessen habe wie sie heute: Hing das Landschaftsgemälde damals schon so? Hat Günther an diesem runden Holztisch gesessen, mit Kollegen, hat sein Blick beim Zuhören, beim Sprechen, auf diesen Butzenscheiben, diesem Kachelofen geruht, oder war er auf das ihm servierte Süppchen konzentriert? Das ist mein Dauertraining, dieses Hineinversetzen. Plötzlich für einen Moment die andere Zeit so stark zu empfinden, dass man sich ihr näher fühlt als der Gegenwart.75

Da die mentale Simulation hier nicht auf der Ebene des erzählenden, sondern des erlebenden Ich ausgelöst wird, ist sie nicht narratorial, sondern figural. Die narratoriale mentale Simulation wird üblicherweise aus einer nichtaktionalen Erzählergegenwart heraus gebildet und liefert dem Leser daher in der Regel keine gegenwartsbezogenen Anhaltspunkte, sodass er das vergangenheitsbezogene Situationsmodell quasi ‚aus dem Nichts‘ konstruieren muss. Bei einer figuralen

|| 72 Zur Aufweichung der Grenze zwischen Wahrheit und Wahrscheinlichkeit aus pragmatischer Sicht siehe Kapitel 2.3.4. 73 Naomi Schenck: Mein Großvater stand vorm Fenster und trank Tee Nr. 12. Berlin 2016, S. 73. 74 Schenck: Mein Großvater, S. 74. 75 Schenck: Mein Großvater, S. 74.

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mentalen Simulation hingegen bildet der Leser zunächst ein gegenwartsbezogenes Situationsmodell und leitet daraus – sofern möglich – ein für die historische Handlung geeignetes Situationsmodell ab. Indem der Leser zunächst mit einer – ihm leichter verständlichen – Gegenwartssituation vertraut gemacht wird, erlangt er eine Art Basisvorstellung des historischen Geschehens. Und bei der Bildung eines Situationsmodells für die Vergangenheitshandlung verfügt er dann bereits über einige Elemente, die sich problemlos in die andere Zeitebene transferieren lassen. In dem zitierten Beispiel aus Schencks Buch wird dem Leser eine solche ‚partielle Situationsmodellübertragung‘76 allerdings erschwert, da die räumlichen Deiktika fortdauernd auf die Wahrnehmung der Enkelin verweisen und deshalb mit hoher Wahrscheinlichkeit an dem gegenwartsbezogenen Situationsmodell festgehalten wird.

5.3.3 Transgenerationale Traumatisierung Batthyany setzt sich im Laufe seiner Recherchearbeiten zunehmend mit sich selbst auseinander: „[M]it der Zeit veränderte sich mein Fokus. Es ging immer weniger darum, herauszufinden, was wirklich geschehen ist, ich war nicht mehr Journalist, der von außen kam, sich Notizen machte, Fakten zusammentrug und andere befragte. Es ging jetzt nur noch um mich.“ (UW 28) Dieser Perspektivenwechsel beruht auf Batthyanys Einsicht, dass die Erlebnisse der Vorfahren und deren verdrängte Vergangenheit auch seine eigene Entwicklung maßgeblich geprägt haben und somit Aufschluss geben können über eigene Verhaltensweisen und Gefühle. In diesem Bewusstsein bekennt er sich auch zu seiner Generationszugehörigkeit (vgl. Kapitel 1.2): Ich bin ein Kriegsenkel. Mein Vater hat den Krieg im Keller verbracht, mein Großvater wurde von den Russen nach Sibirien verschleppt, meine Großmutter verlor ihren zweiten Sohn und meine Großtante hatte ein Massaker an 180 Juden zu verantworten. Sie waren Täter wie Opfer, Verfolgte wie Jäger, wurden erst gefeiert, dann geächtet: Bastarde der Zeitgeschichte. Am Ende liefen sie immer gebückter durchs Leben, verloren erst ihre Selbstachtung, dann ihre Stimme. (UW 29–30)

Indem er sich mit den typischen Merkmalen der Kriegsenkelgeneration beschäftigt, kann er eigene Charaktereigenschaften und seelische Dispositionen auf seine Familiengeschichte zurückführen und sie infolgedessen besser verstehen.

|| 76 Siehe Kapitel 5.1.1.

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Dabei setzt er sich auch gezielt mit dem Phänomen der transgenerationalen Traumatisierung auseinander: Dass Traumata weitervererbt würden, speziell von den Großeltern an die Enkel, hatte ich schon gelesen, doch richtig glauben wollte ich das nicht. Als wäre der Bombenhagel, den mein Vater als Kind erlebte, eine Ausrede für meine gelegentliche Melancholie. Als wären die zehn Jahre, die mein Großvater in Sibirien im Gulag verbrachte, Grund für meine Kauzigkeit. Und doch war da eine Verbindung, oder bildete ich mir das alles nur ein? (UW 29)

Sein Schuldempfinden aufgrund eines vergleichsweise unbeschwerten Lebens in der Schweiz – die er aus geschichtspolitischer Sicht als einen Ort der Verdrängung wahrnimmt (vgl. UW 15–17, 135) – erkennt er als Grund für die Themenschwerpunkte in seiner journalistischen Arbeit: „Warum dieses Interesse für Menschen auf der Flucht? Woher kam meine Anziehung für ihr Leid?“ (UW 29) Auch charakterliche Defizite und gelegentliche Aussetzer im Umgang mit anderen Menschen deutet er zunehmend im familiengeschichtlichen Kontext: „Wir litten an ähnlichen Dingen, meine Großmutter und ich, war das denn möglich? Nur dass sich meine Kämpfe nicht in Kriegszeiten abspielen, sondern in Büros und am Küchentisch.“ (UW 163) Um wieder mehr Kontrolle über sich selbst zu gewinnen und seinen Kindern ein besserer Vater sein zu können, unterzieht er sich einer Psychoanalyse bei Daniel Strassberg77 – zahlreiche dieser Praxisbesuche werden ausführlich beschrieben und bilden einen Situationskontext für weitreichende Selbstreflexionen des Erzählers.78 Das Phänomen der transgenerationalen Traumatisierung wird in der Enkelliteratur ausgesprochen häufig aufgegriffen und oftmals sogar noch wesentlich expliziter thematisiert als bei Batthyany. Dies erklärt sich unter anderem dadurch, dass in den vergangenen zwanzig Jahren auf diesem Gebiet nicht nur in wissenschaftlichen Kontexten viel geforscht wurde,79 sondern inzwischen

|| 77 Dass es sich bei Strassberg um den Sohn jüdischer Holocaustüberlebender handelt, findet bei Batthyany Erwähnung (vgl. UW 49), wird aber thematisch nicht weiter ausgeführt. 78 Vgl. UW 49–53, 152–156, 158–160, 162–163, 186–190, 228–229, 233–236. 79 Vgl. u. a. Gabriele Rosenthal (Hg.): Der Holocaust im Leben von drei Generationen. Familien von Überlebenden der Shoah und von Nazi-Tätern. Gießen 1997; Ulla Roberts: Spuren der NSZeit im Leben der Kinder und Enkel. Drei Generationen im Gespräch. München 1998; Heike Knoch/Winfried Kurth/Heinrich J. Reiß/Götz Egloff (Hg.): Die Kinder der Kriegskinder und die späten Folgen des NS-Terrors. Heidelberg 2012; Radebold et al. (Hg.): Transgenerationale Weitergabe kriegsbelasteter Kindheiten; Jan Lohl/Angela Moré (Hg.): Unbewusste Erbschaften des Nationalsozialismus. Psychoanalytische, sozialpsychologische und historische Studien. Gießen 2014.

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auch zahlreiche journalistische Publikationen für den Sachbuchmarkt80 entstanden sind und zunehmend Fallstudien aus der therapeutischen Praxis einer breiteren Leserschaft zugänglich gemacht werden81. So benennt etwa Beate Schaefer, die sich in ihrem Buch Weiße Nelken für Elise (2013) mit der verheimlichten Geschichte ihrer Großeltern beschäftigt,82 explizit ihre Lektüre: „[E]rst seit ich Bücher wie die von Sabine Bode, Anne-Ev Ustorf und Bettina Alberti kenne, fühle ich mich ernst genommen in der Ambivalenz meines Daseins, meinem Zerrissensein zwischen Lebenslust, Mut, Freude und [...] Abgrund.“83 Passend dazu befindet sich am Ende des Buchs ein zwei Seiten umfassendes Literaturverzeichnis. Auch Amon (2013) von Jennifer Teege verweist im Anhang auf „[w]eiterführende Informationen in Literatur, Film und im Internet“84. Dass es sich bei Teeges Erstling um ein Sachbuch handelt, ist auch daran zu erkennen, dass sie sich in ihrem autobiografischen Erzählen immer wieder von der Co-Autorin Nikola Sellmair unterbrechen lässt, die ergänzende Informationen und Erklärungen beisteuert. Teege erfährt erst als erwachsene Frau, dass sie die Enkelin von Amon Göth ist, der durch Steven Spielbergs Film Schindlers Liste als besonders brutaler Lagerkommandant des KZ Płaszow weltweit bekannt geworden ist. In ihrem Buch schildert sie ihren psychischen Zusammenbruch infolge dieser Erkenntnis und den langwierigen Aufarbeitungsprozess. Nicht nur begibt sie sich selbst in Therapie, sondern sie setzt sich auch mit dem Trauma ihrer Mutter auseinander, zu der sie schon als Kind kaum Kontakt hatte. Dabei geht es ihr nicht nur um ihre eigene psychische Stabilisierung und eine Normalisierung des Lebensalltags,

|| 80 Vgl. etwa Ustorf: Wir Kinder der Kriegskinder; Bode: Kriegsenkel; Bettina Alberti: Seelische Trümmer. Geboren in den 50er- und 60er Jahren. Die Nachkriegsgeneration im Schatten des Kriegstraumas. Mit einem Nachwort von Anna Gamma. München 2010. 81 Vgl. etwa Udo Baer/Gabriele Frick-Baer: Wie Traumata in die nächste Generation wirken. Untersuchungen, Erfahrungen, therapeutische Hilfen. Neukirchen-Vluyn 2010; Michaela Huber/Reinhard Plassmann (Hg.): Transgenerationale Traumatisierung. Tagungsband zur DGTDTagung im September 2011 in Bad Mergentheim. Paderborn 2012; Rauwald (Hg.): Vererbte Wunden. 82 Die im Titel genannte Großmutter Elise ist von der SS zur Prostitution in einem Wehrmachtsbordell gezwungen worden und starb 1987, während der Großvater als sogenannter ‚Berufsverbrecher‘ im KZ Dachau ums Leben gekommen war. Aus Scham wird über dieses Kapitel der Familiengeschichte innerhalb der ‚zweiten Generation‘ konsequent geschwiegen. Die Enkelin spürt jedoch schon als Kind, „dass es ein Familiengeheimnis gibt“ (Beate Schaefer: Weiße Nelken für Elise. Die Liebe meiner Großeltern zwischen Wehrmachtsbordell und KZ. Freiburg i. Br. 2018, S. 11), und leidet später unter Albträumen und unerklärlichen Ängsten. 83 Schaefer: Weiße Nelken für Elise, S. 18. 84 Jennifer Teege/Nikola Sellmair: Amon. Mein Großvater hätte mich erschossen. Reinbek bei Hamburg 2013, S. 268.

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sondern sie will damit auch ihre eigenen Kinder schützen. Denn nachdem sie sich mit dem Phänomen der transgenerationalen Traumatisierung vertraut gemacht hat, sieht sie bereits eine Gefahr für die ‚vierte Generation‘: „Dieses Leiden an sich selbst und seiner Familiengeschichte gibt man weiter an seine Kinder.“85 Im Gegensatz zu vielen anderen Enkelerzählern, die sich an der ‚schweigenden‘ ‚zweiten Generation‘ abarbeiten, richtet Teege ihren Blick stärker in die Zukunft, indem sie in der Familie, aber auch in der Öffentlichkeit – unter anderem vor deutschen und israelischen Schülern – über ihre Familiengeschichte spricht. Während bei Batthyany, Schaefer und Teege explizit von transgenerationaler Traumatisierung die Rede ist und teilweise sogar Forschung referiert wird, begnügen sich andere Autorinnen und Autoren mit der bloßen Anspielung oder bringen dieses Übertragungsphänomen poetisch – etwa durch Metaphern – zur Sprache. So hat etwa der in Drei Irre unterm Flachdach (2007) porträtierte Großvater von Bastienne Voss „ein Ding zu laufen“, das er sich „im KZ eingefangen hatte“86, während die bei ihm aufgewachsene Enkelin bekennt, dass sie „Großvaters Koller intus [hatte]“87. Auch Sabrina Janesch erweitert ihre auf traumatische Erscheinungen verweisende Gespenstermetaphorik (siehe Kapitel 5.1.2) auf die Frage nach einer transgenerationalen Übertragung: „Was, wenn Dämonen, wie Sprache oder Land, vererbbar sind?“ (K 181) Eine besonders kunstvolle und umfangreiche Literarisierung des Traumadiskurses gelingt Maja Haderlap in ihrem Roman Engel des Vergessens. Darin widmet sich die Erzählerin nicht nur den Schicksalen ihrer Vorfahren, sondern sie registriert auch deren verheerende Auswirkungen auf ihre eigene Entwicklung. Ihre engste Bezugsperson in der Kindheit ist ihre Großmutter, eine Überlebende des Konzentrationslagers Ravensbrück. Jahrelang teilt sie mit ihr ein Bett und lässt sich von ihr die Welt erklären. Vor allem aber lauscht sie geduldig ihren sich ständig wiederholenden Erzählungen über den Krieg und die Zeit im KZ. Die Enkelin erhält Einblicke in Briefe und Fotoalben sowie in das „Lagerheft“ der Großmutter, der sie im Gegenzug gelegentlich vor dem Einschlafen aus wissenschaftlichen Publikationen über den Holocaust vorliest (vgl. EV 118–119). Ihr Verhältnis zueinander wird gleich zu Beginn mit einer Metapher veranschaulicht: „Sie ist meine Bienenkönigin und ich bin ihre Drohne.“ (EV 7) An späterer Stelle wird daran anknüpfend der Vorgang der transgenerationalen Übertragung von Traumata erklärt:

|| 85 Teege/Sellmair: Amon, S. 179. 86 Bastienne Voss: Drei Irre unterm Flachdach. Eine Familiengeschichte. Hamburg 2007, S. 9. 87 Voss: Drei Irre unterm Flachdach, S. 182.

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Großmutters Schlafzimmer ist ein Gedächtnisort, eine Königinzelle, in der alles in eine milchige Flüssigkeit eingetaucht scheint, eine Brutzelle, in der ich mit Großmutters Nährflüssigkeit gefüttert werde. In dieser Keimzelle werde ich, wie ich erst Jahre später begreifen werde, geformt. Großmutter richtet meinen Orientierungssinn ein. Von da an gibt es kein Vorbeikommen an ihren Markierungen. Meine Sinne werden Großmutters Vibrationen auf die Welt übertragen und die Möglichkeit der Zerstörung in allem sehen. (EV 117–118)

Dieser alles bestimmenden Vergangenheit gegenüber ist das Kind nicht gewachsen, wie sich die Erzählerin – hier ausnahmsweise von sich selbst in der dritten Person sprechend – erinnert: „[D]as Kind […] denkt, zwischen den Zeiträumen stehend, dass es eigentlich sterben möchte, dass es genug habe vom Leben, und denkt, dass es so etwas nicht denken dürfe, und denkt, dass es aber doch sterben möchte, weil ihm das Sterben so nahe gerückt ist.“ (EV 133) Indes ist die Großmutter nicht die einzige traumatisierte Person in dem Umfeld, in dem die Erzählerin aufwächst. Der Vater wurde als Kind gefoltert und hat sich den slowenischen Partisanen angeschlossen. Von den Erinnerungen an diese Erlebnisse wird er Zeit seines Lebens heimgesucht – auch dies wird metaphorisch umschrieben: Der Krieg ist ein hinterhältiger Menschenfischer. Er hat sein Netz nach den Erwachsenen geworfen und hält sie mit seinen Todesscherben, mit seinem Gedächtnisplunder gefangen. Eine kleine Unvorsichtigkeit nur, ein kurzes Nachlassen der Aufmerksamkeit, schon zieht er seine Netze zusammen, schon hat er Vater an seinem Erinnerungshaken hängen, schon rennt Vater um sein Leben, schon versucht er seiner Allmacht zu entkommen. (EV 92)

Ausgestattet mit einem schwachen Selbstbewusstsein88 und dem Alkohol verfallen ist der Vater unberechenbar89 und hochgradig suizidgefährdet (vgl. EV 53, 97, 114–115). Die Kindheit der Erzählerin und ihrer Geschwister wird dadurch maßgeblich geprägt: „Vaters jahrelange Nervenkrisen wirken als stilles Gift, das uns Kindern Tröpfchen für Tröpfchen eingeflößt wird.“ (EV 166) Gleichwohl erachtet es die Erzählerin als ihren „Auftrag […], Vater zu retten“ (EV 112) und steht ihm bei bis zu seinem Tod. Erst danach findet sie zu einer Sprache, die sie braucht,

|| 88 Er hält sich für eine „jämmerliche Erscheinung“ (EV 198) und ist der Meinung, „er sei nichts wert, er sei noch nie etwas wert gewesen, ein Hündchen sei er, das sich unter den Tisch geflüchtet habe“ (EV 96). 89 Zum Beispiel erinnert sich die Erzählerin an die Tage, „wenn Vater wieder einmal laut schreiend mit einem Jagdgewehr in der Hand droht, uns alle zu erschießen“ (EV 95).

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um die Vergangenheit zu bändigen (vgl. EV 167–168, 175) – ihr kunstvolles Erzählen zeugt von dieser Bändigung und liest sich letztendlich als groß angelegte „Selbstrettungsaktion“90. Beispiele für transgenerationale Traumatisierungen in Familien von Shoahüberlebenden finden sich in der autobiografischen91 Erzählung Die Enkelin oder Wie ich zu Pessach die vier Fragen nicht wusste (2013) von Channah Trzebiner, worin sie ihre Erfahrungen als Jüdin – aber auch als Frau – in der deutschen Gegenwartsgesellschaft verarbeitet und mit essayistischen Exkursen zur Erinnerungskultur und Geschichte verknüpft. Gleich zu Beginn schildert sie rückblickend die Vereinnahmung ihrer Person durch die im Holocaust ermordeten Familienmitglieder: Ich habe die Verbindung zu meinem innersten Ich jahrelang gekappt und dafür gesorgt, dass eigene Gefühle keinen Raum haben. Ich habe sie im Keim erstickt. Ich tat dies für meine Liebsten, dafür, ein Loch der Geschichte zu füllen, ein Ersatz für ermordetes Leben zu sein. [...] Wenn meine Großeltern mich ansahen, müssen sie andere gesehen haben. Meine Person war nicht von Bedeutung. (E 11–12)

Einen Ersatz habe sie vor allem dargestellt für die – mit ihr namensgleiche92 – Schwester der Großmutter sowie für den in Auschwitz vergasten Sohn des Großvaters. Umgekehrt sei ihr auf diese Weise das Recht auf eine fröhliche Kindheit aberkannt worden: Der Großvater verbietet ihr das Lachen (vgl. E 15, 18) und lehrt sie das Stehlen von Lebensmitteln (vgl. E 25). Und auch die eigenen Eltern – ihrerseits transgenerational traumatisiert93 – verhängen über die Familie ein generelles Genusstabu: Den Kindern ist es nicht erlaubt auszuschlafen (vgl. E 71) und

|| 90 Christine Richard: Kärntens slowenische Partisanen. Mit „Engel des Vergessens“ gewann Maja Haderlap den Ingeborg-Bachmann-Preis 2011. In: Basler Zeitung (26.07.2011), S. 29. 91 Die Gattungszugehörigkeit wird nicht explizit angegeben, aber im Klappentext deutlich markiert: „Nichts ist erfunden: radikal subjektiv beschreibt sie ihr Leben zwischen den Identitäten, zerrissen und aufregend zugleich.“ 92 Dass die Namen von Holocaustopfern an die Enkel vergeben werden, ist auch Thema in dem Roman Sag es mir (2010) der (in Deutschland geborenen) israelisch-amerikanischen Autorin Vanessa F. Fogel sowie in dem Buch The Lost. A Search for Six of Six Million (2006) des US-amerikanischen Journalisten Daniel Mendelsohn. 93 Vor allem ihre Mutter habe ein – bei Holocaustüberlebenden häufig auftretendes – Schuldgefühl ihrer Eltern auf sich selbst übertragen: „Mamas unterbewusstes Ich konnte nicht frei sein, da sich in ihr das schlechte Gewissen meiner Großeltern, am Leben geblieben zu sein, manifestierte [...].“ (E 73) Die Enkelerzählerin ist elf Jahre alt, als der sie beschützende Vater an Krebs stirbt – daraufhin will die Mutter nicht mehr leben (vgl. E 69–70) und die Familie „[versinkt] im Chaos“ (E 73).

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jahrelang werden tagsüber keine Mahlzeiten eingenommen (vgl. E 72). Gleichwohl halten die von Verlustängsten geplagten Älteren eine kaum zu ertragende Bindung aufrecht (vgl. E 52, 54) und hemmen ihre beiden Mädchen in der persönlichen Entwicklung. Immer wieder hatte sich Trzebiner mit den Erwartungen der Familie und ihrer jüdischen Freunde sowie mit ihrer vermeintlichen Verpflichtung dem jüdischen Volk gegenüber auseinanderzusetzen und kommt zu der Einsicht, dass sie zu einem „misstrauischen, vorsichtigen, komplizierten Menschen“ (E 224) herangewachsen sei. Noch als Erwachsene kann sie nicht verreisen, ohne dabei an Deportationen zu denken (vgl. E 124–125, 138), und leidet unter einer gleichsam ‚angeborenen‘ Abneigung gegen das Christentum: „Wenn ich eine Kirche betrete, höre ich die Schreie derer, die nach dem Todesmarsch in Kirchen verbrannt wurden. […] Die Erfahrungen meiner Großeltern sind meine eigenen geworden.“ (E 130) Trzebiners Bestimmung als „Ersatz für ermordetes Leben“ endet mit dem Tod der Großeltern und löst bei der Enkelin eine „Identitätskrise“ (E 166) aus: „Mit Opa stirbt der Grund, warum ich bin, wie ich bin. Ein Teil meiner Identität hatte sich einfach aufgelöst.“ (E 122) Damit beginnt ein mühsamer Weg hin zu einem selbstbestimmten Leben, den Trzebiner in ihrem Buch sorgfältig nachzeichnet. Dass sie daran eine literarische Öffentlichkeit teilhaben lässt, ist auch als Warnung zu verstehen, den Holocaust nicht nur mit den Überlebenden zu assoziieren, sondern auch als zentrale Lebenserfahrung von Angehörigen nachgeborener Generationen anzuerkennen (vgl. E 242).

5.4 Per Leo: Flut und Boden (2014) Bei Per Leos 2014 erschienenem Buch Flut und Boden94 handelt es sich um ein nichtfiktionales Werk – zwar erlaubt der Untertitel „Roman einer Familie“ zunächst diverse leserseitige Gattungsinferenzen,95 jedoch lässt sich im Verlauf der

|| 94 Per Leo: Flut und Boden. Roman einer Familie. Stuttgart 2014. Im Folgenden zitiert als FB mit Seitenzahl. 95 Die Probleme bei der Gattungszuschreibung fasst Stefanie Schüler-Springorum wie folgt zusammen: „Die Rezensent/innen sind sich (fast durchweg) einig: Dieses Buch ist alles Mögliche, nur kein Roman. Eine Familienerzählung vielleicht, ein literarischer, ein mentalitätsgeschichtlicher, ein dokumentarischer, ein autobiographischer Essay – so lauten die Definitionsangebote.“ (Stefanie Schüler-Springorum: Rezension zu: Per Leo: Flut und Boden. Roman einer Familie. Stuttgart 2014. In: H-Soz-Kult [05.01.2015], www.hsozkult.de/publicationreview/id/ rezbuecher-23065). Indes erinnert die unkonventionelle Gattungsbezeichnung an das elf Jahre zuvor erschienene mit „Familienroman“ untertitelte Buch Ein unsichtbares Land von Stephan

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Lektüre schon bald eine Namensidentität von Autor und Ich-Erzähler sowie die Übereinstimmung biografischer Details feststellen.96 In den Weihnachtsferien zwischen 1994 und 1995 besucht der Erzähler seine Großmutter in Bremen-Vegesack und entrümpelt die Bibliothek seines zwei Jahre zuvor verstorbenen Großvaters Friedrich Leo. Dass er dabei auf eine ihm bis dahin unbekannte Sammlung nationalsozialistischer Weltanschauungsliteratur stößt, überrascht ihn kaum, denn um die SS-Mitgliedschaft des Großvaters wurde

|| Wackwitz und kann – wie schon bei Wackwitz (vgl. Eigler: Gedächtnis und Geschichte in Generationenromanen seit der Wende, S. 188–189, sowie Eichenberg: Familie – Ich – Nation, S. 74– 75) – als Anspielung auf Freuds Schrift Der Familienroman der Neurotiker verstanden und somit auf einen entwicklungspsychologisch-psychoanalytischen Kontext bezogen werden. Auch Wackwitz selbst stellt in einer Rezension fest, „dass man in Leos Familienroman unschwer den Einfluss desjenigen Siegmund [sic!] Freuds erkennt“ und erläutert den Zusammenhang mit der Literatur wie folgt: „Schon Sigmund Freud war es aufgefallen, dass nicht nur der Dichter fantasiert, sondern auch unsere alltägliche Fantasietätigkeit literarisch funktioniert [...]. Die zentrale Rolle des Romans in unserer Kultur hat viel damit zu tun, dass diese Gattung ein allgemein bekanntes und von vielen Lesern unwillkürlich geteiltes Modell für die Konstruktion von Lebenssinn und Identität bereitstellt.“ (Stephan Wackwitz: Das zerrissene Bild. In: Die Tageszeitung [19.02.2014].) Indes weist Leo selbst jegliche Intentionszuschreibungen zurück und gibt an, der Untertitel sei „im zähen Ringen zwischen Autor, Verlegern, Marketingabteilung und Verlagsvertretern entstanden“ (Christina-Viktoria Huckriede/Hannah Pfleghart/Janine Schneider/Victoria Weich: „Der Naziopa allein genügte mir als Stoff nicht“. Interview mit dem Schriftsteller und Wissenschaftler Per Leo. In: Kritische Ausgabe 19 [2015] H. 28/29, S. 89–92, hier S. 90). 96 Leo selbst erklärt in Interviews, dass sein Buch, „von einigen unerheblichen Details abgesehen, autobiographisch“ (Huckriede et al.: „Der Naziopa allein genügte mir als Stoff nicht“, S. 89) sei. Über jene „unerheblichen Details“ äußert er sich an anderer Stelle (im Gespräch mit Katja Petrowskaja und Jan Küveler) wie folgt: „[I]ch habe nur da gedichtet, wo es der Wahrheit nicht abträglich war. [...] Zum Beispiel dieser Dialog zwischen der Großvater-Figur und dem Standartenführer über das Abitur [vgl. FB 82–84, RF]. Der Dialog ist erfunden, aber auf Grundlage einer echten Quelle, nämlich der Personalakte meines Großvaters, wo offensichtlich wird, dass dieser mit ihm dann auch befreundete Standartenführer ihm das Abitur in den Lebenslauf reinschmuggelt, weil das für seine Karriere wichtig ist. Also das ist eine Tatsache. Das schreibe ich als Historiker, der Quellen analysiert. Aber die Freiheit, die man als literarischer Schriftsteller im Gegensatz zum Wissenschaftler hat, ist, dass man dieses kleine Detail zum Sprechen bringen kann, indem man einen Dialog erfindet, der so oder ähnlich hätte stattfinden können. [...] [W]ir haben es auf andere Weise mit Wahrheit zu tun als ein Naturwissenschaftler. Es sind ja eher Überlieferungen, mit denen wir zu tun haben. Und man kann unwahrhaftig werden, indem man einfach gegen die Quellenbestände, gegen die historischen Fakten erzählt. Aber das geht nicht. Wir sind in einer Wahrhaftigkeit einer Quellenkritik verpflichtet, also nicht nur als Wissenschaftler, sondern auch als Schriftsteller.“ (Jan Küveler: „Dieser Krieg ist unsere Antike“. In: Welt am Sonntag [09.03.2014].) Dass Leo hier einen faktografischen Wahrheitsanspruch für fiktive Inhalte erhebt, ist vor dem Hintergrund meiner Ausführungen in Kapitel 2.3.4 vollkommen schlüssig.

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innerhalb der Familie ebenso wenig ein Geheimnis gemacht wie um seine lebenslang ungebrochene ideologische Überzeugung. Gleichwohl löst diese Entdeckung bei dem Enkel und angehenden Historiker einige grundlegende Fragen aus: Natürlich wusste ich, dass Großvater ein Nazi gewesen war. Und ich wusste es nicht. Warum hatte mich das nie interessiert? Ich studierte Geschichte, ich hielt mich für links. Warum hatte ich meinem Vater, mit dem ich über fast alles stritt, nicht die Daumenschrauben angelegt? Warum hatte ich ihm nicht zugesetzt damit, dass er mit seinem Vater nie ins Gericht gegangen war? Warum hatte ich nie den Vorhang angehoben, der die beiden untersten Fächer des Bücherregals verdeckte? (FB 23)

Diesem Schlüsselerlebnis folgt eine langjährige Beschäftigung nicht nur mit der eigenen Familiengeschichte, sondern auch mit den weit ins neunzehnte Jahrhundert zurückreichenden geistesgeschichtlichen Möglichkeitsbedingungen des Nationalsozialismus. Letztere erkundet Leo ausführlich in seiner 2013 unter dem Titel Der Wille zum Wesen publizierten Dissertation, worin er vor allem die weltanschaulichen Grundlagen der Graphologie herausarbeitet und ihren – maßgeblich durch Ludwig Klages geebneten – Weg hin zu einer akademischen Disziplin nachzeichnet. Klages’ Bestseller Handschrift und Charakter befindet sich auch in der Nachlassbibliothek des Großvaters Friedrich und bildet für Leo das initiierende Moment für beide Bücher – das literarische und das wissenschaftliche. Dass es sich hierbei um ‚Zwillinge‘97 handelt, zeigt nicht nur die Nähe der Publikationszeitpunkte, sondern auch eine die Dissertation einleitende Erklärung, worin Leo sein persönliches Interesse an seinem Forschungsgegenstand mit eben jener privaten Anekdote begründet. Die Verschränkung von familienbiografischer Involviertheit und geschichtswissenschaftlicher Forschung kommt nicht nur letzterer zugute, sondern macht sich auch in Flut und Boden bemerkbar.98 Darin stellt sich die Frage, wie das Mitglied einer wohlhabenden bildungs-

|| 97 Über die Entstehung und das Verhältnis beider Texte zueinander äußert sich Leo wie folgt: „Die Bücher habe ich unmittelbar hintereinander geschrieben. Aber sie gehören auch sachlich so eng zusammen, dass ich lieber von einem Text sprechen würde, der über fast zwei Jahrzehnte vor sich hin gärte, bis er dann diese mehr oder weniger zufällige Doppelgestalt angenommen hat.“ (Huckriede et al.: „Der Naziopa allein genügte mir als Stoff nicht“, S. 89.) 98 Auf die produktive wechselseitige Einflussnahme beider Textsorten verweist die kundige Rezension von Thomas Meyer: Antisemitismus als körperliches Geschehen. Per Leos Roman „Flut und Boden“, seine Dissertation „Der Wille zum Wesen“ und Nitzan Lebovics Studie über Ludwig Klages analysieren die Vorgeschichte des „Dritten Reiches“. In: literaturkritik.de (2014) Nr. 11, http://literaturkritik.de/id/19908 (25.04.2017).

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bürgerlichen Familie, die über Generationen hinweg Pfarrer, Gelehrte und Industrielle hervorgebracht hat, überzeugter Nationalsozialist werden kann.99 Den ersten Teil einer Antwort hierauf findet Leo in seiner Dissertation, wo er eine Kontinuität zwischen der Physiognomie in der Goethezeit und der Charakterologie im ‚Dritten Reich‘ herstellt. Der zweite Teil der Antwort könne jedoch nur am Beispiel des einzelnen Individuums entwickelt werden: „Wenn man das Dritte Reich kapieren will [...], dann muss man sich die Praxis angucken. Die kleinen Geschichten. Das konnte ich in der Doktorarbeit so nicht machen.“100 Indem Leo den allmählichen ‚Aufstieg‘ seines Großvaters bis in die Spitze des Rasse- und Siedlungshauptamts (RuSHA) nachvollzieht, demonstriert er seine geschichtswissenschaftlichen Ergebnisse anhand des Einzelfalls und „übersetzt Geistesgeschichte in familiäre Intimität“101. Dass über diesen Umweg besonders scharfsichtige erinnerungskulturelle Reflexionen und geschichtspolitische Analysen in den literarischen Diskurs Eingang finden, wurde vonseiten der Literaturkritik vielfach lobend hervorgehoben. Leos besondere Leistung besteht aber auch darin, über einen Typus nationalsozialistischer Täterschaft aufzuklären, der in der geschichtswissenschaftlichen Forschung bisher sträflich vernachlässigt worden ist.102 Die Tendenz zur Verharmlosung der Rolle von insgesamt etwa fünfhundert103 – allesamt der SS angehörenden – sogenannten Rasseexperten des RuSHA innerhalb der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik erklärt sich nicht zuletzt durch dessen scheinbar unverfängliche Funktion: Infolge der dort vorgenommenen Selektionen wurden hunderttausende zumeist Polen, Balten und Russen umgesiedelt oder als Sklavenarbeiter eingesetzt, aber nur selten unmittelbar der Vernichtungsmaschinerie zugeführt – nur wenn jemand ‚straffällig‘ wurde, entschied das Urteil des Rasseamtes direkt über Leben und Tod. Für diese allgemein unterschätzte Entscheidungsgewalt liefert Leo mit seinen akribischen Analysen den Nachweis und zieht daraus die entsprechende Konsequenz für die

|| 99 Friedrich Leo ist 1934 in die SS eingetreten, wo er bis in den Rang eines Obersturmbannführers aufstieg, gehörte ab 1935 dem Rasse- und Siedlungshauptamt (RuSHA) an, war dort ab 1942 für die Ausbildung der Eignungsprüfer zuständig und wurde 1943 zur Waffen-SS eingezogen. Neben den verstreuten biografischen Angaben in Flut und Boden vgl. auch Isabel Heinemann: „Rasse, Siedlung, deutsches Blut“. Das Rasse- und Siedlungshauptamt der SS und die rassepolitische Neuordnung Europas. Göttingen 2003, S. 625–626. – Heinemanns Buch ist übrigens auch Gegenstand eines Gesprächs des Enkelerzählers mit seinem Onkel, vgl. FB 321–323. 100 Autorenzitat in Jan Küveler: „Die Gegenwart ist in der Pflicht“. In: Literarische Welt (15.02.2014). 101 Gustav Seibt: Gute Gefühle werden böse. In: Süddeutsche Zeitung (15./16.02.2014). 102 So die Einschätzung von Heinemann: „Rasse, Siedlung, deutsches Blut“, S. 11 u. 42. 103 Vgl. Heinemann: „Rasse, Siedlung, deutsches Blut“, S. 16.

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Verantwortung und Schuldfähigkeit seines Großvaters: „Es waren diese unmittelbar tödlichen Nichteindeutschungsfähigkeitsbescheide, die Friedrich näher als je an die Taten brachten, die man getrost als Mord bezeichnen darf.“ (FB 86)

5.4.1 Experientielles Erzählen über experientielles Erzählen Leos Großvater Friedrich hat seine – freilich geschönten – Kriegserlebnisse allen seinen Enkelkindern stets portionsweise und jeweils über einen Zeitraum von drei Jahren erzählt und diesen rituellen Weitergabeprozess jedes Mal mit seiner vermeintlich heldenhaften Flucht aus dem amerikanischen Kriegsgefangenenlager abgeschlossen. Seine Großmutter hingegen sprach generell nicht über das Leben während der NS-Zeit.104 Für den erwachsenen Enkel erweisen sich daher die wenigen Informationen aus erster Hand als unzureichend und falsch oder erscheinen ihm zumindest verdächtig. Allerdings geht es ihm auch gar nicht so sehr um das, was Friedrich getan und zu verantworten hat; hierüber geben wissenschaftliche Quellen hinreichend Auskunft. Vielmehr interessiert er sich dafür, wie konsequent Friedrich tatsächlich für die nationalsozialistische Rassenideologie einstand und inwieweit er seine Überzeugungen auch im Privaten auslebte. Dies können seine sechs – alle noch vor Kriegsende geborenen – Kinder beurteilen. Bei den Vertretern der ‚zweiten Generation‘ sei zwar prinzipiell eine Redebereitschaft vorhanden, allerdings mache sich eine Tendenz zur Verharmlosung und Verklärung der Nazivergangenheit des Vaters bemerkbar.105 Um sein Bild vom Großvater zu schärfen und eine Vorstellung vom Familienleben nicht nur im Krieg, sondern auch in der frühen Nachkriegszeit zu bekommen, befragt Leo einzeln seinen Vater und dessen Brüder und hält die Interviews auf Tonbändern fest.

|| 104 Mit Ausnahme einer „nicht als historische Mitteilung gemeint[en]“ (FB 80) Erinnerung daran, dass sie ihrer geringen Körpergröße wegen vom Rasseamt der SS und auf Grundlage des 1932 von Heinrich Himmler erlassenen „Verlobungs- und Heiratsbefehls“ für eine Ehe mit Friedrich für untauglich befunden wurde. Diese Regelung zur ‚Reinhaltung‘ der SS sah vor, dass sich heiratswillige SS-Männer und ihre Braut einer rassischen und gesundheitlichen Untersuchung zu unterziehen sowie einen Abstammungsnachweis zu erbringen hatten, vgl. Heinemann: „Rasse, Siedlung, deutsches Blut“, S. 50–62. 105 Von Friedrichs sechs Kindern habe sich nur das jüngste kritisch mit dessen Vergangenheit auseinandergesetzt: „Er hatte sich mustergültig von seinem Vater distanziert, ihn als einziger unter den Geschwistern einen ‚Nazi‘ genannt und das sogar definieren können: Friedrich Leo, so sagte er, sei ein menschenverachtender Despot gewesen, ein Individuum mit vollständig deformierter Psyche, dem die nationalsozialistische Ideologie eine Legitimation geliefert habe, um die eigene Deformation zur Norm zu erklären.“ (FB 293)

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Dass er es hierbei mit verschiedenen Geschichtsversionen zu tun bekommt, zeigt sich vor allem in der Gegenüberstellung der Erzählungen des Vaters und des jüngeren Onkels:106 Wenn man hört, was Vierli und Zweili über Friedrich erzählen, fragt man sich, ob wirklich von derselben Person die Rede ist. Vierli, der Lehrer und Politiker mit Neigung zur Philosophie, erzählt eigentlich gar nicht. Er entwirft, unter Zuhilfenahme allerlei soziologischen und psychologischen Vokabulars, den Typus eines Unmenschen. Zweili, der Ingenieur, erinnert sich dagegen präzise an kleinste Einzelheiten, auch des eigenen Gefühls, und vermittelt dabei eine ganz andere Botschaft. Der Vater, so lautet sie, war streng, zuweilen hart – aber er hat uns auch beschützt. Für sich genommen klingen beide Texte schlüssig. Doch sie passen nicht zusammen. Legt man sie nebeneinander, kommt einem der eine zu unbarmherzig vor, der andere zu zahm. (FB 316)

Beide Versionen sind nur gültig in Relation zu ihrer jeweiligen Quelle und können unter Aufrechterhaltung dieser Relationsbeziehung – das heißt durch ein entsprechendes ‚source-tagging‘ – auch widerspruchsfrei kognitiv verarbeitet und gespeichert werden. Von diesen beiden widerstreitenden subjektiven Wahrheiten der beiden jüngeren Söhne Friedrichs weicht die Version des älteren Onkels nochmals ab – allerdings nicht als weiterer subjektiver Deutungsversuch, sondern durch seine prinzipielle Offenheit im Sinnbildungsprozess und sein Bewusstsein für die Unabschließbarkeit der Auseinandersetzung mit dem Vater: Einsis Text schlägt eine Brücke zwischen beiden. Seine Geschichte ist unbestimmter, absichtsloser. Die rohe Erinnerung spricht aus ihr, eine Bildermasse, die sich noch keiner Idee und keiner Botschaft gebeugt hat. [...] Und trotz aller Monstrositäten: Einsis Vater ist kein Monster. Er bleibt ein Mensch, unverständlich, oft schwer erträglich, aber auch rätselhaft. Immer wieder fragt er sich, warum der Alte so geworden ist, was ihn zu dem gemacht hat, der er war. Auch wenn er keine Antwort findet, allein die fragende Haltung stellt das eigene Urteil unter einen letzten Vorbehalt. (FB 316–317)

Die spezifische Wahrheit von ‚Einsis‘ Geschichte verdankt sich weniger der Bezugnahme auf den historischen Gegenstand, sondern generiert sich vielmehr im

|| 106 Die drei Brüder werden innerhalb der Familie „Einsi“, „Zweili“ und „Vierli“ genannt, womit jeweils auf das Geburtsjahr – 1941, 1942 und 1944 – angespielt wird. Generell werden die insgesamt sechs Geschwister aus der ‚zweiten Generation‘ in Leos Buch nie mit ihrem Namen, sondern stattdessen häufig mit Kürzeln bezeichnet, die auf das Geschlecht und das Geburtsjahr verweisen: W36, W37, W38, M41, M42, M44. Ob dies zum Schutz der Personen geschieht oder bewusst als literarische Technik eingesetzt wird – etwa um den erbbiologischen Informationswert der Vorfahren plakativ in den Vordergrund zu rücken (so die Vermutung von Seibt: Gute Gefühle werden böse) –, spielt für die vorliegende Untersuchung keine Rolle.

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vermittelnden Akt des Erinnerns und Erzählens und der Reflexion damit einhergehender Unsicherheiten. Eben weil der Onkel sich nicht festlegt, kann sein Bild vom Vater nicht falsifiziert werden: „Einsis Welt hat keine Terminologie und keine Ordnung, darum ist sie auch nie vom Zusammenbruch bedroht. Sie kommt direkt aus dem Rückenmark, roh und schön wie ein Traum.“ (FB 318) Der Neffe zeigt sich fasziniert von dieser performativen Unmittelbarkeit des Erinnerns, denn auf diese Weise bleibt Geschichtswissen prinzipiell verhandelbar und kann in veränderten erinnerungskulturellen Kontexten und unter generationsspezifischen Bedingungen neu angeeignet werden. Doch Leo wirbt nicht nur dafür, diese Form der Auseinandersetzung mit der Familiengeschichte als legitime Erinnerungspraxis anzuerkennen, sondern bekennt sich auch innerhalb des literarischen Diskurses zu diesem Verfahren – gleich auf der ersten Seite des Buchs thematisiert er die Eigengesetzlichkeit des Erinnerns: „So will es die Erinnerung: Immer beginnt die Geschichte mit dem Bild einer Autofahrt. Doch es ist undeutlich, wichtige Teile fehlen, das Wetter zum Beispiel. Regnete es? Nicht unwahrscheinlich.“ (FB 7) Leo macht somit von vornherein den Konstruktionscharakter seiner Erzählung deutlich und steigert den Eindruck von der Prozesshaftigkeit der narrativen Sinnbildung zudem durch Revisionen und nachträgliche Korrekturen.107 Indes weicht ‚Einsis‘ transgenerationale Vermittlungspraxis in einer weiteren Hinsicht entscheidend von der seiner beiden Brüder ab: Leo fällt nicht nur auf, dass sich die drei Interviewpartner unterschiedlich erinnern, sondern erkennt in ihnen auch drei unterschiedliche Erzählertypen. Dass innerhalb der ‚zweiten Generation‘ abweichende Vaterbilder kursieren, gerät bald schon zur Nebensache, denn viel bemerkenswerter und diskussionswürdiger scheinen Leo die jeweiligen Eigenarten bei der narrativen Präsentation des Historischen. Dies zeigt sich erneut zunächst bereits bei der Gegenüberstellung der Erzählungen des Vaters und des jüngeren Onkels ‚Vierli‘ bzw. M44: Die Gespräche mit [...] M44 und meinem Vater [...] sind beim erneuten Hören vor allem informativ. Sie verraten etwas über ihren Vater, über ihre Kindheit in der Heide, über sie selbst; mal sagen sie es direkt, mal indirekt, mal absichtlich, mal unabsichtlich, aber immer erzählen sie ihre Geschichte, einen Text, den sie offensichtlich nicht zum ersten Mal loswerden und auf eine fast irritierende Weise unter Kontrolle haben. (FB 304)

|| 107 Etwa hier: „Es ist bezeichnend, dass ich am Anfang meiner Erzählung behauptet habe, ich sei bei meinen letzten Besuchen in der Weserstraße mit Großmutter allein gewesen. Das stimmt nämlich nicht.“ (FB 297)

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Diese situationsunabhängige Wiederholbarkeit eingeübter Familiennarrative zeugen von einer Versachlichungstendenz im Sinne eines bloß statischen Gedenkens108 – erneute Reflexionen hergebrachter Deutungsmuster und eine adressatengemäße Aktualisierung der Erzählweise sind nicht vorgesehen. Gleichwohl unterscheiden sich schon diese beiden ersten Interviewpartner hinsichtlich ihrer Methoden des Erinnerns und Erzählens: Vierli [d. i. ‚M44‘, RF] beschreibt sie [die Lüneburger Heide, RF] wie eine subjektive Landkarte, der Soziologe würde sagen: eine mental map. Auf dieser Karte gibt es klar voneinander geschiedene Abschnitte, nahe Wege, ferne Straßen, Orte, Kreise und Sphären. Man kann sich mit ihrer Hilfe einen geographischen Raum vorstellen, aber man sieht nichts darin. Umgekehrt wieder bei Zweili [d. i. Leos Vater, RF]: In seiner Welt setzt sich jeder Ort aus der Summe seiner Details zusammen, jede Pflanze und jedes Ding hat eine genaue Bezeichnung, die „Miele“ des Vaters zum Beispiel ist nur bei ihm eine „Miele 98“, jedes Lied hat seinen Text, jeder Dorfbewohner hat Titel und Namen. (FB 317)

Von diesen jeweils dem sachlichen Informationsgehalt verpflichteten Erzählungen weicht die Version des älteren Onkels ab, da sie die Erlebnisse der gemeinsamen Kindheit stets mit Wahrnehmungserfahrungen und emotionalen Zuständen verknüpft und dem Neffen somit eine experientielle Rezeption ermöglicht: Bei Einsi stellt man sich keine Karten vor. Man hört auch keine Lieder. Aber man riecht den Moder der Pilzstelle, von der niemand außer ihm weiß; man hört die Angel ins Wasser plantschen und die Schwarzspechte klopfen; man spürt die einsetzende Dämmerung, als er und Vierli beschließen, den kleinen Waldbach doch nicht ganz bis zur Quelle zurückzuverfolgen; man friert, wenn er im Winter in kurzen Hosen rodelt; ist erfrischt, wenn er im Sommer in den Everser See oder unter der schattigen Brücke in die Aue springt; man nähert sich mit ihm bis auf wenige Schritte den gefährlichen Orten, dem Moor, das einen auf ewig zu verschlucken droht, oder der verhexten Kreuzung, an der sich vor Jahren ein Mord ereignet haben soll; man schmeckt das Kaffeebrot und den Butterkuchen, wenn er mit den Bauernfamilien Pause beim Kartoffelsammeln macht, und man spürt seine Freude, wenn es spätabends auf dem Hänger vom Feld zurück ins Dorf geht und dann mit einem Pferdefuhrwerk voller Kartoffeln durch den kühlen Wald nach Hause – so wie man die Prügel der Dorfjungen am eigenen Leib spürt [...].“ (FB 318–319)

In diesem exemplarischen raffenden Abriss gibt Leo Beispiele für olfaktorische, auditive, visuelle, taktile und gustatorische Wahrnehmungen sowie positive und negative Emotionen aus der Kindheit seines Onkels. Den Leser dürften diese knappen Erwähnungen von Erlebnissituationen kaum zu mentalen Simulatio-

|| 108 Zum Begriff des Gedenkens siehe Kapitel 2.3.1.

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nen veranlassen, da der kognitive Aufwand schlichtweg zu groß erscheint – allein für die hier zitierte Passage müsste er mindestens zehn Situationsmodelle abrufen respektive konstruieren und jeweils eine große Anzahl an Inferenzen tätigen. Indes geht es hier offensichtlich gar nicht um die leserseitige Experientialität, sondern um die des Erzähler-Ichs innerhalb der Kommunikationssituation KSA: Mit „man riecht“, „man hört“, „man spürt“ usw. thematisiert er seine mentalen Simulationen und die Aktivierung eigener Erfahrungsspuren; der Ausdruck „man nähert sich mit ihm“ verweist auf sein Hineinversetzen in die Figur; und mit „man spürt seine Freude“ wird eine empathische Reaktion angezeigt. Indem Leo diesen experientiellen Rezeptionsmodus dem sachlich-informativen vorzieht, wirbt er für eine an die Erfahrungen der Adressaten anknüpfende und gegenwärtigen Erinnerungsbedürfnissen entsprechende Geschichtsvermittlung. Leo nimmt sich seinen älteren Onkel folglich nicht nur bezüglich der Erinnerungstechniken, sondern auch wegen seiner Erzählweise zum Vorbild und bringt dieses Verfahren einer möglichst experientiellen Vermittlung auch in seinem eigenen Erzähltext zur Anwendung, indem er die zeitlichen und räumlichen Umstände von Kommunikationssituationen detailliert beschreibt. So wird etwa Leos Besuch bei ‚Einsi‘ und das dabei stattfindende Interview von vornherein in einen experientiellen Kontext gestellt, der leserseitig mittels Situationsmodellen verarbeitet wird: Als er mich vom Bahnhof abholte, in einem sandfarbenen Benz, der ihm von der Baustellenleitung zur Verfügung gestellt worden war, schwitzte er. Wir fuhren zu ihm nach Hause. Seine Wohnung hätte liebloser nicht sein können. Zwei Zimmer Erdgeschoss in der Provinz, notdürftig möbliert, ungelüftet, unaufgeräumt, inmitten einer gleichgeschalteten Zone aus gepflegten Rasenflächen, Waschbetonwegen und Riesentrampolinen. Dieser Umgebung wegen war es ihm vermutlich auch egal, dass sich die Jalousie der Terrassentür auf halber Höhe verklemmt hatte. (FB 303)

In thematischer Hinsicht sind die meisten dieser und weiterer Informationen über den Ort des Treffens von Onkel und Neffe belanglos und scheinen lediglich die Funktion von Realitätseffekten (sensu Roland Barthes) zu erfüllen. In kognitiver Hinsicht hingegen steigern sie die leserseitige Bereitschaft zur Situationsmodellbildung in der Gegenwartshandlungsebene und schaffen auf diese Weise eine Grundlage für die experientielle Verarbeitung von Informationen über die Zeit vor Leos Geburt – im Dreigenerationenschema lässt sich dieser Verstehensprozess wie folgt abbilden:

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Abb. 14: ‚Indirekte Überlieferung‘ verkürzt mit KSA-Modellbildung

Da Friedrich nicht nur seinen Enkeln, sondern auch seinen Kindern gegenüber nur unzuverlässig oder gar manipulativ über seine historischen Erfahrungen aus der Zeit C gesprochen hat, gelangt Leo in dem Gespräch mit seinem älteren Onkel nicht über dessen eigene Erinnerungen hinaus – die Vermittlungsspur reicht somit auch innerhalb des Dreigenerationenschemas nur bis zur Zeitebene B2. Gleichwohl gelangt der Neffe auf diese Weise zu einem schlüssigen und konturierten Charakterbild seines Großvaters und somit auch zu einer Erklärung dafür, dass er – auch ohne Abitur und ohne besondere gesellschaftliche Stellung – innerhalb des nationalsozialistischen Verwaltungsapparats Karriere machen konnte.109 An anderer Stelle macht Leo das Gespräch mit dem Onkel zusätzlich auf einer nochmals übergeordneten Repräsentationsebene experientiell verfügbar, indem er auf seine eigene Erzählergegenwart zu sprechen kommt. Da das Gespräch mit dem Onkel auf Tonband aufgenommen wurde, kann es in einem von der ursprünglichen Kommunikationssituation abweichenden Kontext erneut präsentiert werden. Sobald der Erzähler (respektive Autor) von seiner eigenen Erfahrung beim Anhören der Tonbänder berichtet, kann der Leser ein Situationsmodell der Erzählergegenwart konstruieren und das darin stattfindende Rezeptionserlebnis mental simulieren (siehe Kapitel 4.4.2). Da der Leser seinen ‚virtuellen Körper‘ dabei auf eine völlig neue Erfahrungsgrundlage stellt, ruft er andere ‚Erfahrungsspuren‘ ab und bildet andere Erfahrungsvernetzungen als bei der

|| 109 Beispielsweise habe Friedrich seine Kinder regelmäßig grundlos bestraft, um von seinen eigenen Schwächen abzulenken. Zugleich habe er an seinen ältesten Sohn unerfüllbare Erwartungen gestellt: „Bis ins Erwachsenenalter geht das so. Erniedrigung und Kameraderie: der älteste Sohn des Sturmbannführers Friedrich Leo zu sein bedeutet für M41 beides.“ (FB 313)

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mentalen Simulation der KSA. Der Erzähler schildert sein Rezeptionserleben etwa wie folgt: Obwohl sie mehrere Stunden dauert, lässt sich die Aufnahme ohne Ermüdung anhören. Sie sprudelt vor Leben. Denn nicht nur in den gesprochenen Worten, auch zwischen ihnen herrscht ein unverwechselbarer Sound. Ein Gattungsrauschen. Menschenkörpersound. Offenbar haben wir Kuchen gegessen. Einer von uns kaut hörbar. Der andere kaut laut. Und noch während des Kauens spült er den Bissen mit einem langen Kaffeeschlürfgeräusch runter. Schlucken. Wups. Ahhh. Alle paar Minuten raucht er eine Zigarette an. Rascheln. Klick. Einsaugen. Plastik trifft auf Glas. Langes Auspusten. Stille. (FB 305)

Zwar gibt er keine Auskunft über den Ort und die räumliche Beschaffenheit seines Arbeitsplatzes, aber mittels Inferenzen vermag sich der Leser eine Situation des Erzählers vorzustellen, in der er vor einem Tonbandgerät akustische Signale interpretiert und dabei versucht, sich in eine – offenbar bereits ein wenig in Vergessenheit geratene – Kommunikationssituation (KSA) hineinzuversetzen.110 Indem der Text selbst eine klar markierte Hörperspektive anbietet, kann der Leser relativ leicht geeignete ‚Erfahrungsspuren‘ aktivieren und somit die Vorstellungsbildung bei der kognitiven Verarbeitung rein akustischer Informationsquellen experientiell nachvollziehen.111 Da diese akustischen ‚Erfahrungsspuren‘ – und somit die Dimension sinnlicher Wahrnehmung (E1) – eindeutig der Erzählergegenwartssituation (ES) zugeordnet werden können, richtet der Leser seine Situationsmodellbildungskapazitäten auf die Ebene der Erzählergegenwart. Die Erinnerung des Onkels an die Nachkriegszeit (B2) steht weiterhin im Fokus des Interesses nicht nur des Erzählers, sondern auch des Lesers. Letzterem aber wird ein gänzlich veränderter experientieller Zugang zu diesen Informationen angeboten – dieser lässt sich wie folgt graphisch skizzieren:

|| 110 Insbesondere bei einer Autor-Erzähler-Kongruenz können auch zahlreiche außertextuelle Faktoren der Autorrepräsentation inferenziell in eine solche Modellkonstruktion einfließen. In Flut und Boden gibt zumindest gelegentlich auch der Text Auskunft über die Produktionssituation, etwa wenn der Erzähler seinen Schreibprozess selbstreferenziell wie folgt kommentiert: „Wenn ich jetzt, am 7. Juni 2012 um zehn Minuten nach zwei, schreibe [...].“ (FB 58) Oder hier: „ich schreibe dies am 4. Juli 2012“ (FB 119). 111 Insbesondere jenes als „Gattungsrauschen“ bezeichnete Rezeptionserlebnis ist augenscheinlich kaum in Worte zu fassen und daher nicht ohne eigene Erfahrungen des Lesers vermittelbar, bei dem folglich eine Erinnerung an den eigenen Umgang mit der ‚Gattung‘ des Magnettonbands vorausgesetzt wird.

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Abb. 15: ‚Indirekte Überlieferung‘ verkürzt mit ES-Modellbildung

Neben den – für die Situationsmodellbildung maßgeblichen – akustischen ‚Erfahrungsspuren‘ der Ebene E1 werden auch die auf den Umgang mit Sprache und die Funktionsweise des Erinnerns basierenden ‚Erfahrungsspuren‘ der Ebene E3 aus dem Kontext der Erzählergegenwart heraus aktiviert: Viele seiner Sätze sind elliptisch, sie gehen halbfertig in Nachdenken über, in Unsicherheit über die letzte Behauptung oder in Begeisterung über die letzte Pointe, in Regungen, die sich nicht bis zum Satzende gedulden können, oder in eine neue Erinnerung, die mitten in der Rede aufgetaucht ist wie eine vom nächtlichen Blitz erhellte Blüte. Dann wieder hörbares Grübeln. Kauen. Schlürfen. Wups. Stille. Rascheln. Klick. Einsaugen. Plastik auf Glas. Auspusten. Lautes Husten mit Auswurf. (FB 306)

Linguistische und sprachpragmatische Merkmale sowie mnemonisch bedingte Einflussfaktoren werden hier in Form eines Erzählerkommentars mitgeteilt und verweisen somit auf den experientiellen Kontext der Erzählergegenwartssituation (die am Ende des Zitats durch die erneute Aufzählung von Nebengeräuschen nochmals ausdrücklich als ‚Hörsituation‘ gekennzeichnet wird). Ein Emotionalisierungspotenzial lässt sich in der Erzählergegenwart hingegen kaum ausmachen. Emotionale ‚Erfahrungsspuren‘ kommen im textuellen Umfeld am ehesten durch die Aufregung des Onkels ins Spiel, der immer wieder mit Nachdruck auf die – eher anzuzweifelnde – Tatsache aufmerksam macht, von Geburt an ein Mitglied der SS gewesen zu sein. Da sich ‚Einsi‘ auf der Grundlage

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dieser vermeintlichen strukturellen biografischen Verankerung im Nationalsozialismus offenbar selbst eine Opferidentität geschaffen hat, kann der Leser darauf mit Mitleid (oder auch mit Antipathie) reagieren – in diesem Fall beziehen sich seine E2-Reaktionen auf die KSA (wie in Abb. 15 eingezeichnet).112 In diesem Zusammenhang äußert sich Leo über die Praktiken des Lebensborn e. V. und reflektiert deren bis in die Gegenwart hineinreichende Folgen. Der Leser reagiert darauf – sofern er über persönliche Erfahrungen aus diesem Wissenskontext verfügt – mit ‚Erfahrungsspuren‘ der Ebene E4. Da diese relativ umfangreiche historische Einordnung in Form eines Erzählerkommentars erfolgt, verdanken sich diese experientiellen Wirkungen der ‚höchsten‘ Stufe des Erfahrungshintergrundes wiederum der Gestaltung der Erzählergegenwart. Indes kann gerade bei solchen essayistischen Exkursen der mental simulierte Situationskontext an Relevanz verlieren und leserseitig ‚aufgegeben‘ werden. In solchen Fällen beendet der Leser die Verarbeitung von Situationsmodellen und begnügt sich – wenigstens vorübergehend – mit einer rein propositionalen Verarbeitung der Textinformationen. Generell kommt die experientielle Vermittlung über ein ES-Modell immer nur phasenweise zustande, denn sobald sich der Fokus auf die Gesprächsinhalte richtet, dürfte der Leser eher dazu neigen, sich entweder die Kommunikationssituation oder aber das dabei verhandelte Geschehen vorzustellen. Wenngleich der Erzähler zwischendurch mehrmals erneut auf das Tonband als Quelle und deren medienspezifische Eigenschaften aufmerksam macht, erscheint dem Leser die Verarbeitung eines ES-Modells nur vorübergehend effektiv und interessant. Aber der begrenzten Reichweite dieses Darstellungs- und Rezeptionsverfahrens zum Trotz ist Leos Versuch einer metaisierenden Inszenierung von Experientialität nicht nur ästhetisch bemerkenswert, sondern auch funktional in Hinblick auf die Einmischung der Literatur in erinnerungskulturelle Diskurse. Denn indem Leo im experientiellen Modus über experientielle Vermittlung spricht, reflektiert und bewertet er nicht nur die Anforderungen an eine erinnerungskulturelle Modernisierung, sondern demonstriert zugleich, wie sie zu erfüllen sind.

|| 112 Alternativ wäre es aber auch denkbar, dass der Leser stattdessen die emotionale Zwickmühle des Neffen während des Interviews empathisch nachvollzieht, der – als Historiker – einerseits von einer falschen Interpretation der Geburtsdokumente ausgeht, andererseits aber die Überzeugungen seines Onkels nicht erschüttern möchte und ihn daher in seinem Glauben belässt. In diesem Fall würden auch die emotionalen Leserreaktionen (E2) durch die ES ausgelöst.

250 | Beispielanalysen 5.4.2 Graphologie: Schrift als Körper Als Leo Mitte der Neunzigerjahre die Bibliothek seines Großvaters entrümpelt, trennt der junge Geschichtsstudent die für ihn brauchbaren Bücher von den unbrauchbaren. Bei den meisten Bänden genügt ein Blick und die Entscheidung ist gefallen: „Tschüs, Walter Darré. Tschüs, Arno Breker. Tschüs, Hans F.K. Günther.“ (FB 185) Aber bei dem Band Handschrift und Charakter von Ludwig Klages ist er unsicher, denn trotz ihrer ideologischen Implikationen übe diese kleine Schrift eine gewisse Faszination auf ihn aus. Diese sei keinesfalls auf Klages’ Schreibweise oder argumentative Überzeugungskraft zurückzuführen: „Wer darin herumblättert, findet nichts Funkelndes, kaum sprachliche Prägnanz, keine Große-Denker-Gesten. Nur eine Aneinanderreihung staubiger Wissenspartikel, zahllose Schriftproben und Merkmalstabellen, Begriffe wie Formniveau, Fadenbindung und Deutungsverfahren“ (FB 190). Leos Interesse wird vielmehr durch den darin verhandelten Gegenstand geweckt: Es war die menschliche Handschrift, die mich anzog. Und ich vermute, nicht nur mich. Jeder Schreibende geht ja ein eigenartiges Verhältnis zu sich selbst ein. [...] Einmal mit dem Auge verwachsen, lässt sich die Empfänglichkeit für Schriftgestalten nie wieder ablegen. Nicht nur der junge Schreiber selbst, auch jeder andere hat für ihn ab jetzt eine Schrift, ja er ist Schrift, denn sie gehört so untrennbar zu ihm wie seine Stimme und sein Gesicht. Und auch wenn sie längst nicht alles verrät, so kann man sich ihrer Macht doch kaum entziehen. Für den Schüler, der mühsam lernt, die Buchstaben nach Vorschrift zu verbinden, ist die kaum leserliche, doch in ihrem schnellen Flug so sichere Handschrift der Eltern ein Hoheitszeichen. Die seiner Klassenkameraden ist für den Heranwachsenden ein körperliches Faktum, das ihn ebenso anzuziehen oder zu irritieren vermag wie lockiges Haar, ein verwachsener Fingernagel oder das erste Paar Röhrenjeans. (FB 190–191)

In diesem selbstreflexiven Erklärungsversuch gelingt Leo ganz nebenbei eine Übersetzung der graphologischen Grundannahmen von Klages. Dabei verwendet er nicht bloß eine von abstrakten Begriffen befreite gegenwärtige Alltagssprache, sondern hebt die Handschrift zugleich auf die Stufe eines unlösbar mit dem eigenen Körper verwachsenen individuellen Erkennungsmerkmals. Durch diese Art der Veranschaulichung fordert er den Leser dazu auf, eigene – etwa sensuelle, motorische und emotionale – ‚Erfahrungsspuren‘ abzurufen und sich den wissenschaftlichen Gegenstand des graphologischen Diskurses förmlich ‚einzuverleiben‘. Infolgedessen kann er nicht nur die Faszination des Autors besser nachvollziehen, sondern auch die historische Wirkung der Graphologie. Leo verfolgt hierbei insgesamt eine auf Beispielen und Vergleichen basierende Überzeugungsstrategie. So habe etwa das Briefschreiben seit jeher nicht

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nur dem Informationsaustausch gedient, sondern die körperliche Anwesenheit des Schreibers ersetzt: Menschen, ohne die man sich ein Leben nicht vorstellen konnte, waren allein durch ihre Schrift anwesend, also achtete man peinlich genau auf sie. Nicht nur war ja der Körper eines anderen in ihr enthalten, nicht nur erlebte man ihn beim Lesen typische Bewegungen vollführen und idiomatische Sätze sprechen. Sie wies auch, teils in Verstärkung, teils in Kontrast zum Inhalt, auf Gleichmut oder Erregung hin, auf Gedrücktheit oder Freude [...]. (FB 193)

Der in der Schrift aufgehobenen körperlichen Präsenz des Schreibers fügt Leo in dieser Passage die Behauptung hinzu, man könne dabei auch Rückschlüsse auf dessen mentalen Zustand beim Schreiben ziehen. Damit lenkt Leo die Aufmerksamkeit seiner Leserinnen und Leser allmählich auf die problematischen charakterologischen Implikationen der Graphologie, nämlich zu deren Annahme, dass unsichtbare Persönlichkeitsmerkmale in der Schrift materialisiert und dadurch für jedermann sichtbar werden: Wer eine Schriftgestalt wahrnimmt, der kann gar nicht anders, als eine verkörperte Seele zu bemerken. Er nimmt Stimmen und Stimmungen, persönliche Eigenschaften und Bewegungsarten wahr und damit immer auch Unterschiede: sei es zwischen Zuständen innerhalb einer Person, sei es zwischen den Charakteren verschiedener Personen. Und diese Unterschiede wertet er, ob er will oder nicht. (FB 194)

Die Graphologie hatte es sich zur Aufgabe gemacht, diese ‚Wahrnehmungen‘ anhand typologischer Unterscheidungen von Schriftbildern zu systematisieren. So prüft Klages beispielsweise die Form der Verbindung von ansteigender und abfallender Linienführung und unterscheidet hierbei systematisch zwischen den beiden Typen ‚Arkadenschrift‘ und ‚Girlandenschrift‘. Damit werden zwei gegensätzliche Ausdruckserscheinungen definiert, die sich angeblich jeweils auf eine begrenzte Anzahl möglicher Charaktereigenschaften des Schreibers zurückführen lassen. Auch hier macht sich Leo wieder als Übersetzer abstrakter Beschreibungen in einen Kontext multimodaler Wahrnehmung verdient: Wer […] empfindlich ist für die Bewegungsbilder einer Handschrift, so Klages, der wird gar nicht anders können, als in ihnen den Charakter des Schreibers zu erleben. Die Buchstaben des einen perlen frei und ungezwungen wie Champagner, die des anderen kratzen uns in ihrer zackigen Schärfe wie ungeschnittene Fingernägel, der eine Schreiber scheint sich an seinem Füller festzukrallen, der andere mit ihm zu tanzen, dieses „m“ ist verschlossen wie ein Kellergewölbe, jenes offen wie eine Girlande, die eine Schrift erinnert an ein Traumbild, die andere an eine Operettenkulisse. (FB 199–200)

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Leo spielt mit erfahrungsbasierten Konnotationen und verknüpft die hier verwendeten gustatorischen, taktilen und motorischen Wahrnehmungsbilder mit vermeintlich sich dahinter verbergenden Abstrakta wie Freiheit versus Verschlossenheit oder Authentizität versus Verstellung. Indem er hiermit die Leichtfertigkeit des charakterologischen Denkens und Urteilens demonstriert, entlarvt er das sich dahinter verbergende menschenverachtende Potenzial der Graphologie. Wohlgemerkt handelt es sich hierbei nicht um esoterische Hypothesen – vielmehr verstand sich die Charakterologie als empirische Wissenschaft,113 die ihren Geltungsanspruch nicht zuletzt durch statistische Evidenzen zu untermauern versuchte. So sah man es beispielsweise in den Zwanziger- und Dreißigerjahren für erwiesen an, dass die Arkadenschrift vornehmlich in der sozialen Unterschicht anzutreffen sei,114 was Klages zufolge nur durch eine übermäßige Verbreitung schlechter Charaktereigenschaften im sozialschwachen Teil der Bevölkerung zu erklären sei. In Fritz Gieses Psychologischem Wörterbuch aus den Zwanzigerjahren findet sich der dazu passende Hinweis, dass jeder dritte Vorbestrafte die Merkmale der Arkadenschrift aufweise.115 Während Leo somit einerseits den Weg der Graphologie hin zu ihrer rassistisch-charakterologischen Ausprägung anhand anschaulicher und experientiell nachvollziehbarer Beispiele aufzeigt, ist es ihm andererseits darum zu tun, die Graphologie von dieser – ihr bis heute anhaftenden116 – nationalsozialistischen Prägung zu befreien. Ihm zufolge handelt es sich bei der Graphologie nicht um eine ‚nationalsozialistische Wissenschaft‘, sondern um eine ‚Wissenschaft im Nationalsozialismus‘. Dass es sich bei dieser Akzentuierung nicht bloß um ein Wortspiel handelt, macht Leo wiederum anhand seiner eigenen Familiengeschichte deutlich. Darin gibt es nämlich nicht nur den Nazi-Großvater Friedrich, sondern

|| 113 Vgl. Per Leo: Der Wille zum Wesen. Weltanschauungskultur, charakterologisches Denken und Judenfeindschaft in Deutschland 1890–1940. Berlin 2013, S. 103. 114 „Greift man aus zahlreichen Handschriften hochgebildeter und in den besten Verhältnissen lebender Personen wahllos 50 Stück heraus und abermals 50 aus einer ebenso großen Anzahl dienender Personen mit Mindestbildung (Tagelöhner, Dienstmädchen, Straßenarbeiter usw.), so findet man unter den zweiten 50 wesentlich mehr Arkadenschriften als unter den ersten 50 [...].“ (Ludwig Klages: Graphologie. In: Ders.: Sämtliche Werke. Bd. 8. 2. Aufl. Bonn 1986. S. 407–475, hier S. 449.) 115 Vgl. Fritz Giese: Psychologisches Wörterbuch. 2. Aufl. Wiesbaden 1928, S. 12. – Klages zufolge werde diese Annahme belegt durch die Studie von Roda Wieser: Der Rhythmus in der Verbrecherhandschrift. Systematisch dargestellt an 694 Schriften Krimineller und 200 Schriften Nichtkrimineller. Leipzig 1938. 116 So erklärt etwa die Klages-Gesellschaft Marbach e.V. auf ihrer Homepage gleich an erster Stelle, sich Klages’ Werk „unabhängig von weltanschaulichen Fragen“ zu widmen, vgl. http://www.ludwig-klages.de/_private/information.htm (13.11.2017).

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auch dessen Bruder Martin, der einer erblich bedingten rheumatischen Krankheit wegen von den Nazis zwangssterilisiert wurde. Der Großvater und der Großonkel, die zwar gemeinsam aufgewachsen sind, aber spätestens nach Hitlers Machtübernahme völlig gegensätzliche Wege einschlagen, sind beide von der Graphologie begeistert – auch Martin besitzt Ludwig Klages’ Buch Handschrift und Charakter. Diesen vermeintlichen Widerspruch zu lösen, war Leos Anliegen von Beginn an und hat ihm die Fragestellung seiner Dissertation geliefert, deren Ergebnisse gerafft auch in Flut und Boden vorgestellt werden: „Klages betrieb goetheanische Wissenschaft“ (FB 196), heißt es da – und nach einem Exkurs zu Goethes Farbenlehre weiter: „Eine Erscheinung erinnert an eine andere, ohne dass man das sachlich oder gar kausal erklären könnte. Es war also eine im besten Sinne goetheanische Einsicht, die Klages erkennen ließ, dass die Graphologie es mit einer Ausdrucksbeziehung zu tun hat. In der Handschrift zeigt sich ein Charakter.“ (FB 199) Das heißt, um zu verstehen, an welcher Stelle das graphologische Interesse Friedrichs von dem Martins abweicht, muss festgestellt werden, an welcher Stelle Klages von Goethe abweicht: Den Regungen von Zu- oder Abneigung, von Mitgefühl oder Gleichgültigkeit, von Herablassung oder Bewunderung, die man spontan beim Anblick einer Handschrift empfindet, kann man sich nicht entziehen. Wie angemessen diese Gefühle sind und ob sich einer Handschrift über sie hinaus noch weitere Informationen entlocken lassen, etwa über die Intelligenz, Sensibilität oder Willenskraft des Schreibers, ist eine ganz andere Frage. [...] Wer die subtilen Unterschiede zwischen Schriftbildern erkennen will, muss zart fühlen können. Wer in ihnen aber nach Zeichen von Wert und Unwert sucht, der muss auch über ein robustes Gerüst von Vorurteilen verfügen. Es ist genau diese Mischung aus Ressentiment und Feinsinn, die man im Blick haben muss, wenn man das Verhältnis der deutschen Bildungsschicht zum Dritten Reich begreifen will. (FB 194)117

|| 117 Wohlgemerkt geht der „Feinsinn“ bereits in Klages Schriften verloren (und nicht erst in denen seiner Interpreten). So ist etwa Klages zufolge aus einer „Verkümmerung der Unterlängen“ zwar nicht ohne Weiteres auf „verkrüppelte Beine“ zu schließen, „aber man dürfte dem Gutachten allenfalls die mutmaßende Frage anfügen, ob nicht vielleicht ein Dauergebrechen, und zwar am Unterteil des Körpers vorliege“ (Ludwig Klages: Graphologisches Lesebuch. In: Ders.: Sämtliche Werke. Bd. 8. 2. Aufl. Bonn 1986. S. 337–406, hier S. 365). Zudem lässt Klages häufig genug eine rassistische und antisemitische Haltung erkennen, um ihm einen Anteil an der Verbreitung nationalsozialistischen Gedankenguts vorwerfen zu können. Dass er gleichzeitig von jüdischen Intellektuellen wie Walter Benjamin und Karl Mannheim bewundert wurde, demonstriert wiederum seine eher unverfängliche geisteswissenschaftliche Herkunft. Zur Rezeption und Wirkung von Klages’ Schriften in antisemitischen und nationalsozialistischen Kontexten vgl. Nitzan Lebovic: The Philosophy of Life and Death. Ludwig Klages and the Rise of a Nazi Biopolitics. New York [u. a.] 2013.

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Martin und Friedrich betreiben die Graphologie beide mit Leidenschaft und auf weltanschaulicher Grundlage, aber Martin mit „Feinsinn“ und Friedrich mit „Ressentiment“.118 In Hinblick auf das Thema der Graphologie ist Leos Verdienst somit ein doppeltes. Zum einen greift er – wie die meisten Enkelautoren – einen Spezialdiskurs auf und übersetzt ihn in den literarischen Interdiskurs. Zum anderen aber übt er auch Kritik an den vorherrschenden Pauschalisierungstendenzen nicht nur in der erinnerungskulturellen, sondern auch in der geschichtswissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der NS-Zeit: Die Graphologie fungiert in Flut und Boden als Beispiel für Leos – an anderer Stelle geäußerten – allgemeineren Befund, dass weder der radikale Antisemitismus noch der biologische Rassismus, noch die Ablehnung des liberalen Gesellschaftsmodells, noch die völkische Aufladung des Nationalismus, noch die Idee der Volksgemeinschaft, noch die expansionistische Raumpolitik, noch der Führergedanke, noch der Reichsmythos, noch die Blut-und-Boden-Romantik, noch die Hoffnung auf eine ‚nationale Revolution‘ Exklusivbesitz oder gar Erfindungen der Nazis gewesen sind. Vielmehr waren all diese Ideologeme weit verbreitet zum einen in unterschiedlicher Ausprägung und Gewichtung im gesamten Spektrum der Neuen Rechten, in Teilen auch im traditionell konservativ-nationalen Bürgertum. Zum anderen waren sie so heterogen und in vieler Hinsicht vage, dass wir ihre unterstellte weltanschauliche Einheit mittlerweile als rückblickende Projektion erkennen und zugleich verstehen können, dass die zeitgenössische Wirkung dieser Ideen nicht zuletzt auf ihrer schlagworthaften Unschärfe beruhte: einer Eigenschaft, die sie ebenso tauglich für Demagogik und Propaganda wie selektiv adaptierbar und situationsbedingt auslegbar machte.119

Das literarische Doppelporträt von Martin und Friedrich in Flut und Boden kann somit als der Versuch verstanden werden, solche Minimaldifferenzen bei der Aneignung und Instrumentalisierung von Ideen und Weltanschauungen maximal zu subjektivieren und dabei radikal unterschiedliche Ausprägungen bei zwei Figuren mit nahezu identischen Vorbedingungen aufzuzeigen: Deren Anpassung an die nationalsozialistische Ideologie und ihre pragmatische Instrumentalisierung für individuelle und politische Ziele werden am Beispiel von Friedrich vor Augen geführt. Anhand der Kontrastfigur Martin hingegen wird gezeigt, dass es sich hierbei nicht um einen historischen Determinismus handelt, sondern die

|| 118 Vgl. hierzu auch FB 209. 119 Per Leo: Über Nationalsozialismus sprechen. Ein Verkomplizierungsversuch. In: Merkur 70 (2016) H. 5, S. 29–41, hier S. 33.

Per Leo: Flut und Boden (2014) | 255

menschenverachtenden Ausprägungen von Weltanschauungen und wissenschaftlichen Diskursen der ersten Jahrhunderthälfte jeweils von einzelnen Akteuren zu verantworten sind.120

5.4.3 Kritik am Diskurs der transgenerationalen Traumatisierung Das in der Enkelliteratur weitverbreitete Thema der transgenerationalen Traumatisierung (siehe Kapitel 5.3.3) wird auch von Leo aufgegriffen, mündet hier allerdings in eine Kritik einerseits an den Institutionen dieses Diskurses und andererseits an einer überzogenen Viktimisierung der davon Betroffenen innerhalb der Gesellschaft. Gleich nach seiner Rückkehr von seinem letzten Besuch in Vegesack beginnt der Erzähler eine gründliche Recherche über die Rolle seines Großvaters in der SS. Gleichzeitig macht er in dieser Phase seines Studiums eine von Lethargie und Angst geprägte Sinnkrise durch – die allerdings gerade nicht auf die Entdeckung neuer historischer Details der Familiengeschichte zurückzuführen sei. Vielmehr erweise sich die Archivarbeit als willkommene „Ablenkung von etwas, das auf Dauer nicht auszuhalten gewesen wäre“ (FB 32) – und so erlebt er deren Abschluss als Rückfall in einen sinnentleerten Alltag: „Der Nazi war erlegt – und nun?“ (FB 32) Nach einem emotionalen Zusammenbruch sucht er sich „sogenannte professionelle Hilfe“ (FB 33) beim psychosozialen Notdienst der

|| 120 Welche Bedeutung diese – durch die Gegenüberstellung von Friedrich und Martin hergestellte – kritische Metaebene für Leo hat, gibt er in einem Interview zu erkennen: „Dieser Großvater-Stoff liegt über zwanzig Jahre bei mir in der Schublade. [...] [D]ie erste Idee war tatsächlich, diesen Stoff zu erzählen. Und das ist mir erst möglich geworden, als ich eben die Bruderfigur, den Martin, und dessen nachgelassene Dokumente fand. Da hatte ich die Geschichte, die ich erzählen wollte. Und ich merkte plötzlich, dass die Herausforderung darin besteht, den Nazi auf sein rechtes Maß zu stutzen. Also nicht zum Verschwinden zu bringen, aber ihn so klein zu machen, dass er der anderen Figur, dem Martin, nicht alles Licht nimmt. Die Omnipräsenz der Nazis, dieser blöden Deppen, ist auch ein Problem, weil sie allen unscheinbareren, aber viel schöneren Figuren unglaublich viel Licht wegnehmen.“ (Küveler: „Dieser Krieg ist unsere Antike“.) Auch in Flut und Boden äußert er sich explizit zu dieser nicht nur ästhetischen, sondern auch moralischen Produktionsbedingung: „Martin, dem ältesten Bruder, bin ich nur ein einziges Mal begegnet. Trotzdem ist er die andere Hauptfigur des Buches. Es gibt meine Familiengeschichte nicht ohne ihn. Das war aber nicht immer so. Ich musste erst sein Leben neben das meines Großvaters legen, um festzustellen, dass die beiden für mich zusammengehören wie zwei Hälften eines zerrissenen Bildes. Von diesem Moment an waren Großvater und sein ältester Bruder in meinem Kopf ein unzertrennliches Paar. Ich konnte mir den einen, in dessen Nähe ich aufgewachsen bin, nicht mehr vorstellen ohne den anderen, den ich kaum kannte. Und als ich das auch gar nicht mehr wollte, gab es plötzlich auch etwas zu erzählen.“ (FB 47)

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Universität, wo er – um überhaupt ernst genommen zu werden – zunächst den „psychotherapeutischen Common Sense“ (FB 35) bedient. Als man ihm jedoch eine kostenpflichtige Therapie an anderer Stelle empfiehlt und ihm somit droht, trotz akuter psychischer Notlage abgewiesen zu werden, kommt er spontan auf seinen Großvater zu sprechen: „Da ist noch etwas. Seit einiger Zeit erforsche ich die Vergangenheit meines Großvaters. Wie sich herausstellt, war er ein dicker Nazi. Berufsoffizier in der SS. Vielleicht belastet mich das auch.“ Eine groteske Verkehrung der Wirklichkeit war das. Eine glatte Lüge. Aber, so zeigte sich nun, eine Notlüge, die ihre Wirkung nicht verfehlte. Die Therapeutin ließ ihre Karteikarten in den Schoß fallen und sah mich zum ersten Mal verständnisvoll an. „Lebt er noch?“ „Nein, er ist vor zwei Jahren gestorben.“ „Und natürlich hat er sein Leben lang geschwiegen.“ „Natürlich. Das Übliche halt.“ „Und natürlich will man das jetzt in Ihrer Familie nicht wahrhaben.“ „Keine Ahnung. Aber wenn ich darüber nachdenke: Nein, bestimmt wollen die davon nichts wissen.“ Mir dämmerte, dass das bisher einzige Mittel, das mein Leiden lindern konnte, aus psychotherapeutischer Sicht offenbar zu den wenigen akzeptablen Leidensformen zählte. (FB 36)

In der Psychotherapeutin findet der Erzähler eine aufmerksame Zuhörerin und gewinnt auf diese Weise ein Stück seines Selbstvertrauens zurück. Aber er fühlt sich nicht etwa deshalb besser, weil er sich im therapeutischen Gespräch einer Last entledigt, sondern weil sich plötzlich jemand für ihn interessiert. Mittel und Zweck werden vertauscht – was der routinierten Therapeutin verborgen bleibt. Indessen macht sich der Erzähler das allgemeine Interesse an den Enkeln von Nazis fortan zunutze und überwindet damit seine Sinnkrise: Mein Großvater war ein lupenreiner Nazi gewesen. Gutes Haus, schiefe Bahn, SS-Karriere – diese Geschichte erzählte ich bald mit einer Virtuosität, die ihre Wirkung fast nie verfehlte. Ich konnte kaum fassen, wie scharf alle darauf waren. Das löste zwar meine Probleme nicht, aber zumindest war ich wieder partytauglich. [...] Ganze Batterien höherer Töchter hätte man mit der Edelnazimasche ins Bett kriegen können. Das wurde mir schlagartig klar, als ich zum ersten Mal seit einem halben Jahr wieder tanzen ging. (FB 38)

Leo greift den Diskurs der transgenerationalen Traumatisierung auf, um ihn zu kritisieren: Während die Traumaforschung einen schablonenhaft verfügbaren Opfertypus geschaffen habe, reagiere die Gesellschaft auf selbigen mit einer frag-

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würdigen Faszination. Das Kapitel „THE MAKING OF A NAZIENKEL“ fungiert somit einerseits als übergreifender ‚kulturkritischer Metadiskurs‘121, kann aber andererseits auch im engeren Sinn als Kritik am gegenwärtigen literarischen Erinnerungsdiskurs verstanden werden, der in nicht unerheblicher Weise zu einer Popularisierung von Traumadiskursen beiträgt. Dank der großen Aufmerksamkeit, die Leos Buch bisher zuteilgeworden ist, kann es zukünftige Autorinnen und Autoren der Enkelliteratur zu einem reflektierteren Umgang mit der Traumathematik veranlassen. Auch auf Stefanie Schüler-Springorum wirkt Leos Buch wie eine Zäsur innerhalb der Geschichte der Gattung: Vor allem [...] werden nach dem Kapitel ‚The Making of a Nazi-Enkel‘ keine Kisten mehr auf deutschen Dachböden entdeckt und keine Familiengeschichtsbücher mehr als Tabubrüche inszeniert werden können. Zu amüsant ist die Steigerung des aufmerksamkeitsökonomischen Mehrwerts, die der Autor nach seinem Selbst-Outing als ‚Nazi-Enkel‘ bei Therapeutinnen wie Kommilitoninnen gleichermaßen registriert.122

Indes scheint es keineswegs Leos Intention zu sein, das Leid derer, die von transgenerationaler Traumatisierung betroffen sind, zu banalisieren oder es ihnen gar abzusprechen. Vielmehr hat seine ironisierende Darstellung einen doppelten Boden, wie Ulrich Gutmair anmerkt: „[D]as ‚Mittel zur Linderung des Leidens‘ – die Erforschung der Nazivergangenheit der Familie – erscheint dem Leser unzweideutig als mehr oder weniger bewusste Auseinandersetzung mit möglichen Ursachen für die Symptome, die im ‚Leiden‘ selbst, der Depressivität des Protagonisten, zum Ausdruck kommen.“123 In der Tat lässt sich die demonstrative Ablehnung des psychoanalytischen Diskurses durch den postadoleszenten Protagonisten auch als subtile Inszenierung von Symptomen transgenerationaler Traumatisierung interpretieren. Hier wie auch in Bezug auf andere Themen nutzt der Autor die Freiheiten der Literatur, um mit erinnerungskulturellen Mustern zu spielen und dabei zu einer Ausdifferenzierung von Deutungsperspektiven beizutragen.

|| 121 Hubert Zapf zufolge vermag die Literatur in dieser Funktion der Erstarrung von Bedeutungen und Vereinheitlichungstendenzen innerhalb einer Kultur entgegenzuwirken, vgl. Hubert Zapf: Literatur als kulturelle Ökologie. Zur kulturellen Funktion imaginativer Texte an Beispielen des amerikanischen Romans. Tübingen 2002. 122 Schüler-Springorum: Rezension zu: Per Leo: Flut und Boden. 123 Ulrich Gutmair: „Würdigt die Katastrophe in angemessener Weise“. Die Erzähldebüts von Katja Petrowskaja und Per Leo. In: Merkur 68 (2014) H. 11, S. 1026–1032, hier S. 1030.

6 Schluss Die Beispielanalysen haben gezeigt, dass die Enkelliteratur den Anforderungen einer experientiellen Erinnerungskultur auf abwechslungsreiche Weise gerecht zu werden vermag. Dieses Ergebnis ist aber auch für nichtliterarische Diskurse und Institutionen relevant, die sich anlässlich des Verschwindens der Zeitzeugengeneration mit Fragen erinnerungskultureller Erneuerungen beschäftigen – schon die in Kapitel 2.3 angesprochenen Forderungen nach gegenwartsbezogenen Formen des Erinnerns und erfahrungsbasierten Zugängen zur Geschichte waren ausdrücklich an alle erinnerungskulturellen und geschichtsdidaktischen Bereiche der Gesellschaft gerichtet. Daher ist zu wünschen, dass von kognitionswissenschaftlich orientierten Arbeiten – wie der vorliegenden – Impulse für die Museums- und Bildungsarbeit sowie für Gedenkstättenkonzeptionen ausgehen. Um die gemeinsamen Grundlagen des experientiellen Erinnerns in verschiedenen institutionellen Kontexten und mittels verschiedener Medien abschließend noch einmal hervorzuheben, werden im nachfolgenden Unterkapitel einige allgemeine Konsequenzen für eine experientialitätstheoretisch ausgerichtete Geschichtsdidaktik und eine entsprechende Pädagogisierung des Erinnerns gezogen. Hierbei lassen sich grob drei Vorteile experientieller Vermittlung unterscheiden: niederschwelliger Zugang zu Wissen, langfristiges Speichern der Informationen und ‚erfahrungshaftes‘ Erinnern des Gelernten. Das zweite Unterkapitel verweist noch einmal auf das in Kapitel 1.4 zusammengestellte Textkorpus und begründet – nun vor dem Hintergrund umfassender kognitionsnarratologischer Analysen – die Beschränkung der dort getroffenen Auswahl. In Abgrenzung von der bisher eher intuitiven und meist unreflektierten Verwendungsweise des Begriffs ‚Enkelliteratur‘ sowohl in der Literaturkritik als auch in der Literaturwissenschaft wird entschieden für ein kognitionsnarratologisch und pragmatisch fundiertes Gattungsverständnis geworben. Dementsprechend basieren die gattungsbestimmenden Merkmale der Enkelliteratur weniger auf textstrukturellen Gemeinsamkeiten, sondern vielmehr auf gleichartigen kognitiven Funktionspotenzialen. Da diese auf unterschiedliche Weise hergestellt werden können, lässt sich hierfür kein objektiver Maßstab definieren. Es sollte aber zumindest Einvernehmen darin bestehen, dass es sich bei der Enkelliteratur nicht einfach bloß um Texte handelt, in denen sowohl Zeitzeugen des Nationalsozialismus als auch deren Enkel figurieren – damit würde der Gattungsbegriff unnötig aufgeweicht und fiele zurück in seine bisherige feuilletonistische Beliebigkeit. Um entsprechende Differenzen etwas besser in den Blick zu bekommen, wird überblicksartig der vorsichtige Versuch unternommen, die vermeintliche Gattungszugehörigkeit einiger Texte zurückzuweisen, die zwar https://doi.org/10.1515/9783110673968-006

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eine Familienähnlichkeit zum Korpus der Enkelliteratur aufweisen, jedoch von deren kognitiven Funktionen in entscheidendem Maße abweichen. Umgekehrt wird im dritten Unterkapitel auf Ähnlichkeiten verwiesen, die zwischen der Enkelliteratur und anderen medialen Vermittlungsformen bestehen. Auch hier gilt die kognitive und wirkungsästhetische Dimension als Vergleichsmaßstab. Aus dieser kognitionsnarratologischen Forschungsperspektive kann – der transmedialen Grenzüberschreitung zum Trotz – oftmals eine deutlich größere Nähe zu Filmen und Bühnenstücken festgestellt werden als zu den (in Kapitel 6.2) ‚aussortierten‘ Erzähltexten. Die knappen Angaben zu Inhalt und Erzählweise jüngerer dokumentarischer ‚Enkelfilme‘ und der Hinweis auf zwei Beispiele aus dem Theater verstehen sich zum einen als Bestandsaufnahme und zum anderen als Vorschlag für eine transmediale Erweiterung des – hier nur an Erzähltexten erprobten – Analyseinstrumentariums.

6.1 Pädagogische und didaktische Implikationen Die Grundannahmen der situierten Kognition (Kapitel 2.2.1) und einer darauf aufbauenden Experientialitätstheorie gelten grundsätzlich medienübergreifend und können daher generell bei der Präsentation von Geschichtsthemen und materiellen Erinnerungsobjekten berücksichtigt werden. Eine kognitionswissenschaftliche Rückbindung und methodische Anleitung scheint aber nur selten in die Konzeption von Museen und Gedenkstätten sowie in die Gestaltung dort vorfindlicher Bildungsangebote einzufließen.1 Auch müsste die Geschichtsdidaktik an Schulen viel stärker dem Stand kognitionswissenschaftlicher Forschung angepasst werden. Dass Lernprozesse durch die Konstruktion von Situationsmodellen stark gefördert werden, ist schließlich schon seit Langem bekannt.2 Erklärt wird dies damit, dass kognitive Prozesse, die zu einer Konstruktion, Transformation oder Ausdifferenzierung mentaler Modelle beitragen, generell im ‚episodischen Gedächtnis‘ (siehe Kapitel 2.3.2) stattfinden.3 Dabei gelerntes Wissen wird zusam-

|| 1 Vgl. Cornelia Siebeck: Denkmale und Gedenkstätten. In: Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Handbuch. Hg. v. Christian Gudehus, Ariane Eichenberg und Harald Welzer. Stuttgart/Weimar 2010. S. 177–183, hier S. 182. 2 Vgl. etwa Gert Rickheit/Hans Strohner: Textverarbeitung: Von der Proposition zur Situation. In: Sprachrezeption. Hg. v. Angela D. Friederici. Göttingen/Seattle 1999. S. 271–306, hier S. 298– 299, sowie Schnotz: Textverstehen als Aufbau mentaler Modelle, S. 317. 3 Vgl. van Dijk: Discourse, Context and Cognition, S. 170, sowie van Dijk: Discourse and Context, S. 61–62. Das gilt auch für Kontextmodelle, vgl. van Dijk: Discourse and Context, S. 16.

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men mit der mental simulierten Erfahrung gespeichert und mit früherem erfahrungsbasierten Wissen verknüpft.4 Werden diese Inhalte später wieder abgerufen, so kommt es zu einer virtuellen Wiederholung damit verknüpfter Erfahrung.5 Die Funktionalität und Leistungsfähigkeit mentaler Modelle in Lernprozessen wird aus Sicht der situierten Kognition noch einmal erweitert und eigens unterstrichen.6 Aber auch Metarepräsentationen weisen spezifische Lernfunktionen auf, denn sie ermöglichen das Speichern von Informationen, die man nicht vollständig versteht.7 Insbesondere in langwierigen Aneignungsprozessen und bei komplexen Sachverhalten können Informationen und Wissenselemente eine Zeitlang unter ‚Quarantäne‘8 gehalten werden, bis sie sich endgültig bestätigt haben und abschließend verstanden wurden. Auf dieselbe Weise können auch Informationen verarbeitet werden, über deren Wahrheitsstatus prinzipiell kein abschließendes Urteil zu erwarten ist.9 So kann auch hypothetisches Geschichtswissen, das auf widersprüchlichen oder unsicheren Quellen bzw. Gerüchten beruht, verarbeitet und – gewissermaßen unter Vorbehalt – gespeichert werden. In didaktischer Absicht kann auf diese Weise das historische Urteilsvermögen auf die Probe gestellt und das Geschichtsbewusstsein erweitert werden. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, inwieweit die Enkelliteratur in die Geschichtsdidaktik von Schulen und anderen Bildungseinrichtungen einbezogen werden kann. Selbstverständlich soll die Literatur die konventionelle Geschichtsschreibung und den klassischen Geschichtsunterricht nicht ersetzen. Aber angesichts ihrer experientiellen Wirkungspotenziale könnte sie deutlich mehr Beachtung finden. Für eine Kooperation unterschiedlicher kognitiver Funktionsbereiche wirbt auch Tanja Dückers:

|| 4 „A perceptual event can be stored in the episodic system solely in terms of its perceptible properties or attributes, and it is always stored in terms of its autobiographical reference to the already existing contents of the episodic memory store.“ (Tulving: Episodic and Semantic Memory, S. 385–386.) 5 „Episodic memory records events as having been experienced by the self at a particular (and unique) point in space and time; when retrieved, these events are re-experienced in a quasi-perceptual way“ (Stanley B. Klein/Leda Cosmides/Kristi A. Costabile/Lisa Mei: Is There Something Special About the Self? A Neuropsychological Case Study. In: Journal of Research in Personality 36 [2002] H. 5, S. 490–506, hier S. 491). 6 Vgl. Keith R. Sawyer/James Greeno: Situativity and Learning. In: The Cambridge Handbook of Situated Cognition. Hg. v. Philip Robbins und Murat Aydede. Cambridge/New York 2009. S. 347– 367. 7 Sperber: Anthropology and Psychology, S. 84. 8 Diese Metapher verwenden Tooby/Cosmides: Does Beauty Build Adapted Minds? S. 20. 9 Diesen Hinweis gibt Iversen: States of Exception, S. 131.

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Die Literatur […] liefert das Unterfutter, das Subkutane, die emotionalen Hintergründe, den profunderen Blick, die Möglichkeit zur Identifikation, die Stimmung, die Atmosphäre zu dem Zahlenskelett und den Fakten der Nachrichten. Sie ist tatsächlich die Brücke, die Schnittstelle, die Vermittlerin zwischen Privatraum und Gesellschaft. Indem sie das Politische mit dem Intimen verbindet, setzt sie auch den Leser als Privatperson mit seiner sozialen und politischen Umwelt in Kontakt.10

Dabei muss die Literatur nicht zwangsläufig beide Seiten – die Fakten und deren experientielle Einbettung – gleichzeitig bedienen. Vielmehr kann im Rahmen einer didaktischen Aufbereitung eine wechselseitige Ergänzung erfolgen, bei der unterschiedliche Medien und Vermittlungsformate sowie Schulfächer beteiligt sein können.11 Indes geht es bei der literarischen Präsentation von Geschichtswissen und historischer Erfahrung nicht nur um das effektive Speichern von Fakten. Wie vor dem Hintergrund der enaktivistischen Experientialitätstheorie (Kapitel 2.2) gezeigt wurde, vermögen literarische Texte tiefgreifend Einfluss auf den Erfahrungshintergrund der Leserinnen und Leser zu nehmen – und zwar nicht nur für den Moment der Lektüre, sondern auch langfristig. Auch vollzieht sich diese Einflussnahme nicht nur in den Bereichen der Wahrnehmung, Emotionen und Sprache, sondern sie macht sich auch in Hinblick auf allgemeine Überzeugungen, Identitäten und moralische Prinzipien der Rezipienten bemerkbar (die von Caracciolo auf der vierten Ebene des Erfahrungshintergrundes eingeordnet werden). Auf dieser Stufe der kognitiven Rückkopplung des Lesers kann beispielsweise auch Toleranzverhalten eingeübt werden. So geben etwa literarische Generationenerzählungen Einsicht in unterschiedliche Umgangsweisen mit der Geschichte, für die der Rezipient allmählich Verständnis aufbringen kann – infolge der kognitiven Verarbeitung generationenspezifischer Dispositionen kann ein

|| 10 Tanja Dückers: Die Literarisierung des Politischen. In: Dies.: Morgen nach Utopia. Kritische Beiträge. Berlin 2007. S. 152–157, hier S. 156–157. 11 Eine solche Verschränkung zweier oder mehrerer Fächer entspräche auch dem Selbstverständnis des Verhältnisses von Literatur und Geschichte in wissenschaftlichen Kontexten: „Nützlich scheint die Zusammenführung literatur- und geschichtswissenschaftlicher Studien schon deshalb, weil Literatur, (Auto-)Biografien und Historiographie sämtlich teilhaben an der Geschichtskultur der Gegenwart. Historiker, die heute die NS-Zeit und die Nachkriegsgeschichte erforschen, tun dies vor einem geschichtskulturellen Horizont, der ebenso von literarischen und publizistischen Erinnerungstexten geprägt ist. Literarische und (auto)biografische Erkundungen von Familiengeschichten wiederum lehnen sich eng an die geschichtswissenschaftliche Forschung an, stofflich und teilweise auch in ihren Perspektiven und Verfahren. Es handelt sich mithin um ein Verhältnis wechselseitiger Rahmung und Bedingung.“ (Daniel Fulda et al.: Zur Einführung, S. 19–20.)

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‚intergenerationales Geschichtsbewusstsein‘12 ausgebildet werden. Solche Wirkungspotenziale steigen generell mit dem Grad des ‚Transportiertwerdens‘.13 Rein dokumentarische Texte, die keine Immersionseffekte hervorrufen, sondern vielmehr auf eine sachlich-neutrale Faktenwiedergabe abzielen, üben hingegen einen wesentlich geringeren Einfluss auf die persönlichen und psychosozialen Dispositionen der Rezipienten aus.14 Das experientielle Wirkungspotenzial von Literatur reicht aber auch noch über die Affizierung und Modifizierung einzelner Ebenen des Erfahrungshintergrundes der Leser hinaus. Denn die kognitive Verarbeitung subjektiven – an individuellen Fallbeispielen dargestellten – Erlebens fördert auch ganz allgemein das Verständnis von menschlicher Erfahrung.15 Außerdem erfolgt die Wissensvermittlung im literarischen Medium nicht nur über die mitgeteilten semantischen Inhalte, sondern bereits durch den Vollzug eines kommunikativen Aktes. Durch kognitive Aktivitäten auf der Ebene des Kontextmodells (siehe Kapitel 3.2) wird soziales Wissen vermittelt und werden kommunikative Fertigkeiten eingeübt.16

6.2 Kognitive Gattungsforschung Wenn sich die Enkelliteratur über ihre erinnerungskulturellen Funktionen definiert und dabei auf die Experientialität als ihr spezifisches Wirkungspotenzial verweist, dann handelt es sich bei dieser funktionsgeschichtlichen und wirkungsästhetischen Dimension um ein zentrales und unverzichtbares Merkmal

|| 12 Vgl. Carlos Kölbl/Anna Schrack: Geschichtsbewusstsein intergenerational. In: Journal für Psychologie 21 (2013) H. 2. 13 Vgl. Tobias Richter/Markus Appel/Frank Calio: Stories Can Influence the Self-Concept. In: Social Influence 9 (2013) H. 3, S. 172–188. 14 Vgl. Maja Djikic/Keith Oatley/Sara Zoeterman/Jordan B. Peterson: On Being Moved by Art: How Reading Fiction Transforms the Self. In: Creativity Research Journal 21 (2009) H. 1, S. 24–29. Wohlgemerkt geht es hierbei nicht um fiktionstheoretische Fragen – im Rahmen einer pragmatisch und kognitiv ausgerichteten Literaturwissenschaft können Fiktion und Nichtfiktion in der Regel als funktionsäquivalent angesehen werden (siehe Kapitel 2.3.4). Ungeachtet dessen liegt das Hauptaugenmerk der Forschung häufig auf dem Nachweis dafür, dass fiktionale Texte die Überzeugungen ihrer Leser langfristig ändern können, vgl. hierzu vor allem Appel: Realität durch Fiktionen. 15 Vgl. Margolin: Cognitive Science, the Thinking Mind, and Literary Narrative, S. 285. 16 Vgl. Raymond A. Mar/Keith Oatley: The Function of Fiction is the Abstraction and Simulation of Social Experience. In: Perspectives on Psychological Science 3 (2008) H. 3, S. 173–192, hier S. 182, passim.

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dieser Gattung. Zwar ist die Enkelliteratur auch auf bestimmte Themen, Figurenkonstellationen und Darstellungskonventionen festgelegt und in einem begrenzten historischen Produktionskontext zu verorten, jedoch lässt sich von diesen textuellen und kontextuellen Faktoren nur bedingt auf das spezifische Leistungspotenzial der Enkelliteratur schließen. Da dieses nur mit den Mitteln der Kognitiven Literaturwissenschaft zu bestimmen ist, kann auch die Gattungsdefinition der Enkelliteratur nur nach den Maßgaben einer kognitiven Gattungsforschung erfolgen. Da solche Maßgaben bisher noch nicht in einem allgemeinen konzeptionellen Zusammenhang erarbeitet und übergreifend systematisiert worden sind, fehlt hierfür die methodische Grundlage – ganz zu schweigen von Pionierstudien, die als Vergleichsmaßstab und als Beleg für den Nutzen einer solchen Vorgehensweise herangezogen werden könnten. Die vorliegende Arbeit versteht sich daher als impulsgebend auf diesem Gebiet.17 Wie vor dem Hintergrund gattungsbestimmender Wirkungshypothesen eine Zugehörigkeit zur Enkelliteratur infrage gestellt werden kann, wird im Folgenden anhand einiger ‚aussortierter‘ Texte demonstriert: In Constantin Göttferts Roman Steiners Geschichte (2014) geht es um das Schicksal von aus der Slowakei vertriebenen Karpatendeutschen. Als der Großvater von Ina Steiner stirbt, begibt sie sich auf die Suche nach dessen Herkunft und damit auch nach einer Erklärung für die seit jeher zerrütteten Verhältnisse innerhalb ihrer Familie. Erzählt wird die Geschichte dieser Suche allerdings nicht aus der Perspektive der Enkelin, sondern aus der ihres Freundes Martin. Dieser fungiert als homodiegetischer IchErzähler, der erst nach und nach in Erfahrung bringt, was in Ina vorgeht und welche Pläne sie verfolgt. Denn obwohl Ina von Martin ein Kind erwartet, entzieht sie sich ihm vollständig und lässt ihn nicht im Geringsten an ihren Gedanken und Recherchen teilhaben. Das Dreigenerationenschema kommt somit zwar bei der Lektüre zum Einsatz, jedoch nicht in der Funktion eines Kontextmodells. Denn es erleichtert zwar die Interpretation von Generationenverhältnissen und Kommunikationsdefiziten innerhalb der Familie Steiner, regelt aber nicht die Kommunikation zwischen Autor und Leser. Deren Übereinkunft (common ground) dürfte nur zu einem schwindend geringen Anteil von Elementen des erinnerungskulturellen Kontextes der Enkelliteratur bestimmt werden. Stattdessen dürften sich die Intentionen des Autors und die Erwartungen des Lesers in einem Bereich

|| 17 Wohlgemerkt gibt es bereits relativ umfassende kognitionswissenschaftlich basierte Forschung zu literarischen Gattungen, vgl. hierzu Rüdiger Zymner: Biopoetische/Kognitionswissenschaftliche Gattungstheorie. In: Handbuch Gattungstheorie. Hg. v. dems. Stuttgart 2010, S. 162–166. Woran es jedoch mangelt, ist die Verknüpfung der gattungsbezogenen mentalen Repräsentationen des Lesers mit der pragmatischen Ebene seines Sprachverstehens.

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begegnen, wo sich unter anderem Gattungskonventionen des Psychothrillers und der Kriminalgeschichte kreuzen und Geltung beanspruchen. Auch in Olaf Müllers Roman Schlesisches Wetter (2003) scheinen die Auswirkungen des Heimatverlustes infolge des Krieges und die damit einhergehende Identitätsstörung des nachgeborenen Ich-Erzählers eine Zuordnung zur Enkelliteratur nahezulegen – auch Mila Ganeva nennt Müllers Roman als Beispiel für die Gattung.18 Indem hier der Enkelerzähler einerseits die Traumata der Mutter und der Großmutter sowie deren transgenerationale Auswüchse in den Blick nimmt und andererseits dem Schweigen in der Familie entgegentritt, kommt das Dreigenerationenschema als zentrales Verstehensmodell zum Einsatz. Problematisch ist hierbei jedoch, dass Müllers Roman ein auffallend geringes Kommunikationspotenzial aufweist: Bei dem Romantext handelt es sich um das schriftliche Erinnerungsprotokoll des Erzählers, das er am Ende der erzählten Handlung – nachdem er sich in der ‚schlesischen Heimat‘ niedergelassen hat – zu Papier bringt. Damit erklären sich auch der vorwiegend parataktische Erzählstil und die eher assoziative und meist unkommentierte Verknüpfung einzelner Handlungssequenzen. Statt den kommunikativen Anschluss an das Wissen und die erinnerungskulturellen Erfahrungen der Leserinnen und Leser herzustellen, zeigt Müller seinen Protagonisten im erinnernden Selbstgespräch und bei der biografischen Krisenbewältigung.19 Damit unterschreitet der Roman deutlich die für die Enkelliteratur typischen pragmatischen Funktionspotenziale. Des Weiteren sollten Texte nicht zur Enkelliteratur gezählt werden, die vorwiegend essayistisch sind oder gar Ansprüche auf Wissenschaftlichkeit erheben. Auch bei diesem Kriterium ist eine eindeutige Grenzziehung nicht möglich, denn ein journalistischer Antrieb und Schreibstil ist auch vielen Enkelbüchern eigen. Dies nimmt allerdings überhand in Philip Meinholds Erben der Erinnerung (2015), denn hier vollzieht sich die Deutung eines Familienausflugs nach Auschwitz durchweg unter Rückgriff auf Referenzautoren wissenschaftlicher, pseudowissenschaftlicher, journalistischer und literarischer Diskurse, die auch am Ende des Buches noch einmal in einem Quellenverzeichnis aufgelistet werden. Ähnlich verhält es sich mit Todleben (2012) von Uwe von Seltmann, wo das ange-

|| 18 Vgl. Ganeva: From West-German Väterliteratur to Post-Wall Enkelliteratur, S. 150. 19 Zu dieser Deutung des Romans vgl. Robert Forkel: Ausgestopft mit Bildern. Heimatverlust als transgenerationales Trauma in Olaf Müllers Roman Schlesisches Wetter. In: Heimat als Chance und Herausforderung. Repräsentationen der verlorenen Heimat. Hg. v. Ilse Nagelschmidt und Carme Bescansa. Berlin 2014. S. 307–325.

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hängte Literaturverzeichnis mehr als einhundert Titel umfasst. Auch die 2012 unter dem Titel Mein Großvater im Krieg erschienene Magisterarbeit20 von Moritz Pfeiffer verdient an dieser Stelle zwar Erwähnung, kann aber aufgrund der wissenschaftlichen Rückbindung nicht unter den gleichen kognitiven Bedingungen rezipiert werden wie ein literarischer Text und gehört daher auch nicht zum Korpus der Enkelliteratur.21 Nach denselben Prinzipien, nach denen einzelne Texte in die Peripherie der Gattung verwiesen oder gänzlich von ihr abgesondert werden, kann umgekehrt das Korpus der Enkelliteratur komparatistisch erweitert werden: Ungeachtet abweichender erinnerungskultureller Diskurse in anderen Ländern sind die Probleme der ‚dritten Generation‘ überall die gleichen und werden Generationenverhältnisse ähnlichen schematischen Strukturen verarbeitet. So beginnt etwa der Roman Diário da queda (2011) des 1973 in Brasilien geborenen jüdischen Journalisten und Schriftstellers Michel Laub ganz prototypisch: „Mein Großvater sprach nicht gern von früher.“22 Als Überlebender von Auschwitz sei er nach Brasilien gekommen, um ein neues Leben zu beginnen und das Erlebte möglichst zu vergessen. Stattdessen jedoch wirkt sein Trauma über die ‚zweite‘ bis hin in die ‚dritte Generation‘.23 Während der Großvater aus Auschwitz ein großes Geheimnis macht, ist der Vater geradezu besessen davon, das Erinnern an die Shoah wachzuhalten – das Leben der Nachfahren von Holocaustopfern sei einer strikten Regel unterworfen: „Von klein auf weißt du, dass du alles vergessen darfst, nur das nicht.“24 Dieser Erinnerungsimperativ verfolgt den Erzähler bis in den Schlaf: „Als Kind träumte ich davon: von Hakenkreuzen und Kosaken mit Fackeln vor meinem Fenster, als sei jedermann auf der Straße nur darauf aus, mir einen Pyjama mit einem Stern daran überzustreifen und mich in einen Zug zu verfrachten

|| 20 Moritz Pfeiffer: Mein Großvater im Krieg 1939–1945. Erinnerung und Fakten im Vergleich. Mit einem Geleitwort von Wolfram Wette und einem Nachwort von Helmut Donat. Bremen 2012. Pfeiffer erfasst darin die Erlebnisse und Taten seiner Großeltern im Zweiten Weltkrieg sowie ihre aktuelle Wahrnehmung der NS-Zeit, wobei er deren Aussagen mit dokumentarischem Material und der aktuellen Forschung vergleicht. 21 In erinnerungskultureller Hinsicht spielt Pfeiffers Arbeit indes durchaus eine Rolle. Nicht nur wurde sein Buch in bedeutenden Feuilletons besprochen, auch wurde er in eine Gesprächsrunde mit Günther Jauch eingeladen, die im Zusammenhang mit dem Fernseh-Dreiteiler Unsere Mütter, unsere Väter ausgestrahlt wurde. 22 Michel Laub: Tagebuch eines Sturzes. Roman. Stuttgart 2013, S. 7. 23 Der Diskurs der transgenerationalen Traumatisierung wird bereits auf der Umschlagrückseite der deutschen Ausgabe angekündigt: „Mit beeindruckender sprachlicher Kraft schildert der brasilianische Schriftsteller Michel Laub, wie die Folgen eines KZ-Traumas drei Generationen einer Familie prägen. Auch die Enkel des Holocausts leiden darunter.“ 24 Laub: Tagebuch eines Sturzes, S. 55.

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in Richtung der Schornsteine“25. Diese dauerhafte psychische Belastung führt schließlich dazu, dass er sich bewusst von seiner jüdischen Identität distanziert und sein Desinteresse an der Geschichte des Großvaters und der Shoah offen zur Schau stellt – als Dreizehnjähriger beschimpft er seinen Vater, er solle „sich Auschwitz und die Nazis und meinen Großvater in den Arsch schieben“26. Kurz darauf beginnt er mit dem Trinken und verfällt allmählich dem Alkoholismus. Da hier der literarischen Kommunikation das erinnerungskulturelle Kontextmodell der Enkelliteratur zugrunde liegt, ist Laubs Buch dieser Gattung zuzurechnen. Der kognitive Gattungsbegriff öffnet somit den Blick auf die Literaturen zahlreicher anderer Länder, in denen der Krieg und der Holocaust ihre Spuren hinterlassen haben.27 Ungeachtet dessen erfährt die Gattung eine internationale Prägung aber bereits durch den hohen Anteil auf Deutsch schreibender Autorinnen und Autoren, die in anderen Ländern geboren bzw. mit einer anderen Muttersprache aufgewachsen sind – dazu gehören Matthias Nawrat, Maja Haderlap und Eleonora Hummel. Wenn die kognitiven Verarbeitungsprozesse und die damit einhergehenden Erinnerungspotenziale literarischer Texte maßgeblich über die Zugehörigkeit zur Enkelliteratur entscheiden, ist damit also nicht nur ein zentrales Ausschlusskriterium gegeben, sondern auch eine Vergleichsgrundlage geschaffen für scheinbar disparate erinnerungsliterarische Texte und andere erinnerungskulturelle Phänomene. Während etwa eine Vergleichbarkeit mit anderen Medien in klassischen gattungstypologischen Klassifikationen meistens von vornherein ausgeschlossen ist, sind aus kognitiver Sicht auch transgenerische und transmediale Bezüge leicht erkennbar. So liegt es etwa nahe, dass die Enkelliteratur eine en-

|| 25 Laub: Tagebuch eines Sturzes, S. 40. 26 Laub: Tagebuch eines Sturzes, S. 55. 27 In Bezug auf die Literatur der Holocaustüberlebenden hat Jan Philipp Reemtsma klargestellt, „daß es in dieser Literatur um Deutschland geht, es aber nicht angeht, die deutschsprachige von der italienischen, polnischen, französischen oder hebräischen trennen zu wollen – es ist ein Ergebnis deutscher Geschichte, daß diese Literatur in allen Sprachen geschrieben worden ist, die auch in den Lagern gesprochen worden sind“ (Jan Philipp Reemtsma: Die Memoiren Überlebender. Eine Literaturgattung des 20. Jahrhunderts. In: Mittelweg 36 6 [1997] H. 4, S. 20–39, hier S. 21). Aus denselben Gründen handelt es sich auch bei der Enkelliteratur um eine internationale Gattung: Da einerseits die Verbrechen der Nationalsozialisten in ganz Europa und darüber hinaus ihre Spuren hinterlassen haben und andererseits die Opfer und Täter nach dem Krieg in die ganze Welt ausströmten, gibt es auch in anderen Ländern und Erdteilen Menschen, deren Großeltern in den Krieg involviert waren oder von den Nazis verfolgt worden sind. Daher wird Enkelliteratur überall dort geschrieben und gelesen, wo die Verwerfungen der deutschen Gewaltgeschichte bis in die ‚dritte Generation‘ nachwirken.

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gere Gattungsverwandtschaft zu manchen Filmdokumentationen und Theaterstücken aufweist als beispielsweise zum historischen Roman.28 Diese Vergleichsperspektive wird im folgenden Kapitel kurz skizziert und als Desiderat festgehalten.

6.3 Transmediale Perspektiven Generell ist zu fragen, inwieweit die narrativen Techniken zur Experientialitätssteigerung in der Enkelliteratur auch in anderen Medien und Vermittlungskontexten zur Anwendung kommen und auf welcher Grundlage von medienspezifischen Experientialitätsfaktoren ausgegangen werden kann. Diesbezügliche Anknüpfungen sind etwa für Film, Theater, Graphic Novel, Computerspiele und digitales Lernen denkbar. Im Folgenden wird lediglich auf die beiden erstgenannten Genres – Film und Theater – eingegangen. Damit soll auf angrenzende Forschungsgebiete aufmerksam und die Rolle der ‚dritten Generation‘ in transmedialer Perspektive greifbar gemacht werden. Zugleich soll damit für eine fächerübergreifende und interdisziplinäre Experientialitätsforschung geworben werden.

6.3.1 Enkelfilme Mit leichter Verzögerung gegenüber der Enkelliteratur etabliert sich seit einigen Jahren das Genre des Enkelfilms. Wie in der literarischen Gattung beginnt die Auseinandersetzung mit der vom Nationalsozialismus geprägten Familiengeschichte auch im Film nicht erst mit der ‚dritten Generation‘. In Analogie zur Väterliteratur bezeichnet Tanja Seider die Filme der Kinder von Zeitzeugen als ‚Väterfilme‘29 und nennt als frühe Beispiele Hermann mein Vater (1987) von

|| 28 Zur gattungstypologischen Unterscheidung zwischen historischem Roman und Enkelliteratur sowie anderen Generationenerzählungen vgl. Robert Forkel: Literarisches Geschichtserzählen über die Zeit des Nationalsozialismus seit der Jahrhundertwende. Bestandsaufnahme und Typologie. In: Romanhaftes Erzählen von Geschichte. Vergegenwärtigte Vergangenheiten im beginnenden 21. Jahrhundert. Hg. v. Daniel Fulda und Stephan Jaeger. Berlin/Boston 2019. S. 205– 228. 29 Tanja Seider: Politisierung des Privaten oder Privatisierung des Politischen? NS-Täterschaften in autobiografischen Dokumentarfilmen. In: Nationalsozialistische Täterschaften. Nachwirkungen in Gesellschaft und Familie. Hg. v. Oliver von Wrochem. Berlin 2016. S. 193–212, hier S. 200. Wie schon bei der ‚Väterliteratur‘ impliziert auch der Begriff ‚Väterfilm‘ eine thematische

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Helma Sanders-Brahms und Die Spur des Vaters (1989) von Christoph Boekel.30 In jüngeren Väterfilmen können bereits die erwachsenen Enkel zu Wort kommen und ihre generationenspezifische Sicht zum Ausdruck bringen – so in Malte Ludins Dokumentarfilm 2 oder 3 Dinge, die ich von ihm weiß (2004). Während hier jedoch die Enkel lediglich am Rande in Erscheinung treten, stellen sie später in ihren eigenen Filmen selbst die Fragen und zeichnen verantwortlich für Drehbuch und Regie. Der erste Enkelfilm ist Seider zufolge Winterkinder – Die schweigende Generation (2005) von Jens Schanze.31 Im Fokus steht die im Untertitel als „schweigend“ charakterisierte ‚zweite Generation‘ und dabei vor allem Schanzes 1933 geborene Mutter. Deren Vater Wilhelm Schülke war SA-Mitglied und Ortschulungsleiter der NSDAP in Neurode (Niederschlesien), wo er die Bevölkerung mit antisemitischen Propagandareden auf den Willen des Führers einschwor. Nach dem Krieg als Mitläufer eingestuft, trat er bald wieder in ein geregeltes Berufsleben ein, kam jedoch 1954 bei einem Autounfall ums Leben. Eine Auseinandersetzung mit seiner Rolle im Nationalsozialismus hat nie stattgefunden – seinen Kindern ist er als liebevoller Vater in Erinnerung geblieben. Der Enkel kontrastiert dieses positive Großvaterbild mit den Ergebnissen seiner Recherche in öffentlichen Archiven und privaten Dokumenten und reist mit den Eltern nach Polen, wo sie nicht nur die frühere Familienwohnung in Augenschein nehmen, sondern auch die nahegelegene KZ-Gedenkstätte Groß-Rosen besuchen. Der Film handelt jedoch nicht nur vom Schweigen und der Verdrängung in der Elterngeneration, sondern zeigt auch die transgenerationalen Folgen dieses Thematisierungstabus auf. Diese werden deutlich in den Interviews, die Schanze mit seinen vier Schwestern führt: Darin berichten sie, wie die historische Realität in ihrer Jugend allmählich in ihr Bewusstsein gedrungen war und von ihnen – etwa in Form von Alpträumen – Besitz ergriffen hatte. Da ihnen die Eltern jedoch eine sachliche Auseinandersetzung mit der Familiengeschichte verweigert hatten, seien sie mit ihren unerklärlichen Ängsten allein geblieben. Zum Ende dokumentiert der Film auch seine eigene Entstehung und primäre Funktion, indem er zeigt, wie die Eltern und ihre fünf Kinder am Ende zusammenkommen und sich einen Großteil des Filmmaterials gemeinsam ansehen. Das Filmmedium öffnet

|| Einengung auf Täterschaft (siehe Kapitel 1.3). Der Gattungsbegriff ist insofern unglücklich gewählt, als dass sich auch die Kinder von Opfern im filmischen Medium mit der Geschichte ihrer Eltern auseinandersetzen – so etwa Adriana Altaras in dem Dokumentarfilm Titos Brille (2014). 30 Vgl. Seider: Politisierung des Privaten, S. 201–204. 31 Vgl. Seider: Politisierung des Privaten, S. 206.

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hierbei den Blick auf die unterschiedlichen Perspektiven der Familienmitglieder und schafft somit die Voraussetzungen für einen echten Dialog.32 The End of the Neubacher Project (2006) ist ein Dokumentarfilm des Österreichers Marcus J. Carney über seine Familie und deren Verstrickungen in die Verbrechen des Nationalsozialismus sowie über die Mechanismen der Selbstviktimisierung und die Folgen von Verdrängung. Über einen Zeitraum von acht Jahren sammelt er Material über die Nazivergangenheit seiner Familie und führt Interviews mit Familienangehörigen.33 Während seine Großmutter die Nazizeit als die schönste Zeit ihres Lebens bezeichnet, zweifelt sein Onkel vor laufender Kamera das Ausmaß des Holocaust an. Vor allem aber interessiert sich Carney dafür, wie seine 1942 geborene Mutter unter dem Einfluss ihres – der nationalsozialistischen Ideologie treu gebliebenen – Vaters ein eigenes Leben hatte aufbauen können. Wie schon die Enkelliteratur widmet sich auch ihr cineastisches Pendant nicht nur den Generationenkonflikten in Familien von Tätern und Mitläufern, sondern auch den Opfern des Nationalsozialismus und ihren Nachfahren. Hier haben die Enkel häufig keinen unmittelbaren Bezug mehr zu Deutschland (oder gar Europa) und müssen diesen erst herstellen – wie in Die Wohnung (2011) des israelischen Filmemachers Arnon Goldfinger. Als dessen Großmutter Gerda Tuchler 2006 im Alter von 98 Jahren stirbt, beschließt er, deren Wohnung in Tel Aviv vor und während der Entrümpelung zu filmen. Die Familienmitglieder treffen sich vor Ort, um zu helfen und Brauchbares untereinander aufzuteilen. Abgesehen von Goldfinger selbst interessiert sich niemand für die zahlreichen Briefe und Dokumente, die stapel- und kistenweise in den Schränken lagern. In einem Artikel im ZEIT-Magazin äußert sich Goldfinger wie folgt: „Ich bin in einer Familie aufgewachsen, die nicht besonders sentimental mit der Vergangenheit umgeht. Wir waren eingepflanzt in die israelische Erfahrungswelt und wollten nicht wahrhaben, dass die deutsche Herkunft unserer Familie irgendeinen Einfluss auf uns haben könnte.“34 Folglich hat kaum etwas aus den Biografien von Kurt und

|| 32 Zu den therapeutischen Funktionen des dokumentarischen Familienfilms vgl. Seider: Politisierung des Privaten, S. 196–197. 33 Carney zielt hierbei auf maximale Authentizität. Jahrelang ist die Kamera sein ständiger Begleiter. Er filmt sich sogar beim Telefonieren, um tatsächlich jede relevante Aussage einfangen zu können. So liegen dem 74-minütigen Film ganze 260 Stunden Filmmaterial zugrunde (vgl. http://www.neubacherproject.com/d_interview.htm). Die lange Produktionsdauer brachte es zudem mit sich, dass während des Projekts seine Großmutter und seine Mutter gestorben sind – was im Film ausführlich thematisiert und gezeigt wird. 34 Arnon Goldfinger: Ihr Freund, der Feind. In: ZEIT-Magazin (2012) H. 21, S. 28–33, hier S. 29.

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Gerda Tuchler Eingang in das Familiengedächtnis gefunden – eine im Film festgehaltene Befragung der Verwandten ergibt, dass keines der verbliebenen Familienmitglieder Genaueres über die Familiengeschichte weiß. Bevor alles weggeworfen wird, nimmt Goldfinger die Gelegenheit wahr, sich mit den überlieferten Schriftstücken näher auseinanderzusetzen, wobei er zunehmend deren Wert erkennt: „Etwas Seltsames passiert mit mir: Je mehr meine Mutter die Sachen loswerden möchte, umso mehr will ich sie behalten. Ich lasse die tief in mir steckenden jeckischen Anstandsregeln hinter mir und durchwühle alle Papiere, die ich finden kann, öffne jeden Umschlag, lasse keinen Brieffetzen, Notizzettel oder Bildschnipsel aus.“35 Hierbei stößt er auf eine erstaunliche Geschichte: Im Herbst 1933 begaben sich sein Großvater Kurt Tuchler und dessen Frau Gerda zusammen mit Leopold von Mildenstein und dessen Frau auf eine gemeinsame Reise nach Palästina. Von Mildenstein war SS-Mitglied, Tuchler dagegen ein engagierter deutscher Zionist – während ihrer Palästina-Reise verfasste von Mildenstein eine umfangreiche Reportage für den Angriff, während Tuchler ihn über den Zionismus aufklärte. Was sich in unser gegenwärtiges Geschichtsbild kaum einpassen lässt, bringt Goldfinger in seinem Film als eine fast vergessene historische Tatsache zur Sprache: „Man kann sagen, dass damals ein ungewöhnliches Interessenbündnis entstand, eine Ironie der Geschichte – die Nazis wollten die Juden loswerden, und die Zionisten wollten sie nach Palästina bringen.“36 Was jedoch die historische Vorstellungskraft des Enkels gänzlich übersteigt, ist eine weitere Entdeckung: In Wuppertal macht er die Tochter der von Mildensteins, Edda Milz von Mildenstein, ausfindig und erfährt von ihr, dass die Tuchlers und die von Mildensteins nicht nur in den Dreißigerjahren befreundet waren, sondern auch nach dem Krieg noch engen freundschaftlichen Kontakt pflegten – sie haben sich regelmäßig Briefe geschrieben, sich mehrmals in Deutschland getroffen und waren zusammen im Urlaub. Gleichzeitig verdichten sich die Hinweise, dass von Mildenstein – entgegen seiner offiziellen Biografie – keineswegs nur journalistische Tätigkeiten ausübte, sondern vielmehr bedeutende Posten im SD und in Goebbelsʼ Propagandaministerium innehatte. Die Tuchlers scheinen daher allen Grund gehabt zu haben, diese Freundschaft zu verschweigen – Goldfingers Familienbild gerät allmählich ins Wanken. Parallel thematisiert der Film das Verhalten der Angehörigen der zweiten Generation, und zwar sowohl aufseiten der Täter als auch aufseiten der Opfer: Goldfinger gelingt es, mit seiner Mutter, die ihr Desinteresse an der Familiengeschichte stets

|| 35 Goldfinger: Ihr Freund, der Feind, S. 30. 36 Goldfinger: Ihr Freund, der Feind, S. 31. – Mit dem sogenannten Ha’avara-Abkommen wurde 1933 eine Einigung für eine erleichterte Emigration nach Palästina getroffen.

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offen zur Schau getragen hatte, nach Deutschland zu fliegen und sie mit Edda Milz von Mildenstein zusammenzubringen. Beide Frauen haben von ihren Eltern nichts erzählt bekommen und sich selbst nicht getraut zu fragen. Während sich jedoch Hannah Goldfinger der Spurensuche ihres Sohnes zunehmend anschließt, hält Edda Milz von Mildenstein krampfhaft an der geschönten Biografie ihres Vaters fest – und zwar auch dann noch, als Arnon Goldfinger zahlreiche eigens recherchierte Beweise über dessen SS-Vergangenheit vorlegt. Auch in Schnee von gestern (2013) begibt sich eine Nachfahrin ausgewanderter Juden auf die Suche nach der eigenen Familiengeschichte nach Deutschland. Die Großmutter der 1980 geborenen israelischen Regisseurin Yael Reuveny überlebte den Holocaust und ging nach dem Krieg nach Palästina in der Gewissheit, die letzte Überlebende ihrer Familie zu sein. Erst 1995 stellt sich heraus, dass ihr Bruder Feiv’ke ebenfalls überlebt hatte – dessen Sohn Uwe berichtet in Briefen, dass sich sein Vater in unmittelbarer Nähe zu dem Konzentrationslager, aus dem er befreit worden war, im brandenburgischen Schlieben niedergelassen hatte, wo er bis zu seinem Tod 1987 lebte. In Israel nimmt man die Nachricht von dem wiederentdeckten Bruder und Onkel mit gemischten Gefühlen auf – im verhassten Deutschland geblieben zu sein und eine nichtjüdische Frau geheiratet zu haben, kann ihm seine Schwester nicht verzeihen. So gestaltet sich auch das neue verwandtschaftliche Verhältnis innerhalb der ‚zweiten Generation‘ – zwischen Cousinen und Cousins – als schwierig. Erst der Enkelin und Großnichte der 1945 getrennten Geschwister gelingt im Zuge ihrer filmischen Dokumentation eine Annäherung zwischen dem deutschen und dem israelischen Teil der Familie. Reuveny führt Gespräche mit Freunden und Bekannten sowohl ihrer Großmutter in Israel als auch ihres Großonkels in Deutschland. Mit ihrem Großcousin Uwe reist sie nach Vilnius zum früheren Wohnort ihrer Vorfahren. Schließlich lässt sie sich selbst in Berlin nieder und bewegt damit ihre Mutter zu einer Auseinandersetzung mit ihren Vorurteilen und Gefühlen gegenüber Deutschland. Gegliedert ist der Film in drei Abschnitte, die nacheinander – wie entsprechende Kapitelüberschriften ankündigen – die ‚erste‘, ‚zweite‘ und ‚dritte Generation‘ in den Blick nehmen. In zwei weiteren Enkelfilmen kommen die Zeitzeugen noch selbst zu Wort. Der 1985 geborene Regisseur Levin Peter führt in Hinter dem Schneesturm (2016) vor laufender Kamera Gespräche mit seinem Großvater, der als Wehrmachtsoldat in der Ukraine stationiert gewesen ist. Zwischendurch reist der Enkel selbst nach Mariupol, befragt dort Zeitzeugen zu einem Massaker an der jüdischen Bevölkerung und zeigt ihnen private Fotos seines Großvaters aus der Kriegszeit. Von seiner Reise bringt er Tonaufnahmen, Fotos und Geschichten mit und erlangt auf

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diese Weise Zugang zu den Erinnerungen des Großvaters. Indes geht es dabei weder um die Rekonstruktion historischer Tatsachen noch um Schuld, sondern – wie der Regisseur in einem der DVD beigefügten Kommentar angibt – darum, eine Nähe zu seinem Großvater herzustellen. Dass dieser schließlich auch von seiner Mitwirkung an Deportationen erzählt, gerät dabei fast zur Nebensache. Während in den meisten anderen Enkelfilmen weitere Familienmitglieder befragt oder porträtiert werden und der ‚zweiten Generation‘ – mehr oder weniger explizit – ihre mangelnde Auseinandersetzung mit der Geschichte ihrer Großeltern vorgeworfen wird, konzentriert sich Peter in seinem Film auf den Großvater und auf seine eigene Rolle als Vermittler sowohl zwischen den Generationen als auch zwischen den Nationen. In Oma und Bella (2012) porträtiert die in Berlin geborene Filmemacherin Alexa Karolinski ihre Großmutter Regina Karolinski und deren Freundin Bella Katz. Die beiden jüdischen Holocaustüberlebenden stammen aus Galizien bzw. Vilnius und sind nach ihrer Befreiung aus dem Konzentrationslager nach Berlin gekommen, wo sie Familien gegründet und ihr Leben verbracht haben. Im hohen Alter teilen sie sich eine Wohnung und unterstützen sich gegenseitig im Alltag – diesen hält Reginas Enkelin in ihrem Film fest. Gezeigt werden die beiden vor allem beim Kochen und in anderen alltäglichen Situationen. Dabei kommen sie auch immer wieder auf ihre Lebensgeschichten zu sprechen und erinnern sich schmerzlich an ihre Leiden und Verluste im Krieg. Anders als in Hinter dem Schneesturm steht die Enkelin hier durchweg hinter der Kamera, stellt aber gleichwohl gelegentlich Fragen und wird auch von Regina und Bella angesprochen und in deren Handeln einbezogen.37

|| 37 Auch wenn in den Filmen von Peter und Karolinski die Zeitzeugen noch leben und ausgiebig befragt werden, können sie gleichwohl zur Gattung des Enkelfilms gezählt werden – mit folgender Begründung: Im Gegensatz zur Literatur kann der Film sein audiovisuelles Material nicht aus der Erinnerung heraus erzeugen – in den Filmen von Schanze, Goldfinger und Reuveny gibt es keine Bildsequenzen aus der KSB1. Man kann also argumentieren, dass Peter und Karolinski diesem Verlust an dokumentarisch wertvollem Bildmaterial vorbeugen, indem sie ihre Großelterngespräche aufzeichnen, solange es noch geht. Da sie jedoch mit der Fertigstellung ihrer Filme nicht warten, bis die Zeitzeugen gestorben sind (wie Carney in seinem Neubacher Project), bildet die KSB1 die oberste Repräsentationsebene innerhalb der Filmhandlung. Gleichwohl kann der Rezipient seine ‚Begegnung‘ mit den hochbetagten Zeitzeugen durchaus vor dem Hintergrund der – gewiss nicht ganz unberechtigten – Annahme interpretieren, diese seien inzwischen verstorben. Jedenfalls erlangt diese Interpretationshypothese mit wachsendem Abstand zum Produktionszeitpunkt zunehmend Berechtigung – Peters Großvater etwa starb bereits kurz nach der Premiere des Films, wie der Regisseur in einem Gespräch mit Markus Kavka bekanntgibt (vgl. https://www.mdr.de/unicato/video-166612.html [20.05.2018]). Aus diesem Grund bildet letztlich auch hier das Dreigenerationenschema die zentrale Deutungsgrundlage.

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Diese Konjunktur dokumentarischer Familienfilme steht ganz im Zeichen einer anhaltenden Beliebtheit der Themen Holocaust und Nationalsozialismus als Filmstoff. Doch auch hier wäre gezielt zu untersuchen, inwieweit sich die unterschiedlichen Darstellungs- und Erzählweisen auf die jeweiligen erinnerungskulturellen Funktionspotenziale auswirken. Dies ist auch in didaktischer Hinsicht von zentraler Bedeutung: Hier stellt sich die Frage, ob das Zeigen von Filmklassikern wie Schindlers Liste zu didaktischen Zwecken in der Schule überhaupt (noch) geeignet ist, um eine Verknüpfung mit der Gegenwart der jungen Rezipienten herzustellen und eine persönliche Auseinandersetzung anzuregen. Experientialitätsanalysen würden wahrscheinlich ergeben, dass die Enkelfilme wesentlich anschlussfähiger sind als solche ‚szenischen Erinnerungsfilme‘38 und daher wenigstens ergänzend hinzugezogen werden sollten.

6.3.2 Theaterstücke der Enkel Bei der Theaterproduktion Hans Schleif – Eine Spurensuche handelt es sich um ein Einpersonenstück des 1963 geborenen Schauspielers Matthias Neukirch über seinen Großvater. Die Uraufführung am 13. Oktober 2011 am Deutschen Theater Berlin bildet den vorläufigen Abschluss einer langjährigen Suche nach der Wahrheit über den Großvater, der sich – sowie seiner Frau und seinen Kindern – kurz vor Kriegsende das Leben nahm.39 Bei dieser Arbeit an der Familiengeschichte war von Beginn an der Regisseur Julian Klein beteiligt, der einen Großteil der Recherchen zu Hans Schleif bewerkstelligte und dabei auch engen Kontakt zur Wissenschaft hielt. Denn als Architekt und Archäologe war Hans Schleif in der Forschung bisher vor allem für seine archäologischen Verdienste bekannt – seine Zugehörigkeit zur SS wurde indessen eher als berufsbedingt angesehen. Entgegen Schleifs offizieller Biografie gelangt der Archäologe Stephan Lehmann bei seinen Archivrecherchen zu dem Befund, dass „Hans Schleif […] ein fanatischer und furchtbarer Nationalsozialist“40 gewesen ist, der „große[s] Vertrauen […] im höchsten Machtzirkel der SS genießt“41. Vor allem aufgrund seiner Spitzenposi-

|| 38 So die Bezeichnung in Thomas Fischer/Thomas Schuhbauer: Geschichte in Film und Fernsehen. Theorie – Praxis – Berufsfelder. Tübingen 2016. 39 Neukirch ist ein Nachfahre aus Schleifs erster Ehe. 40 Stephan Lehmann: Hans Schleif (1902–1945). In: Lebensbilder. Klassische Archäologen und der Nationalsozialismus. Bd. 1. Hg. v. Gunnar Brands und Martin Maischberger. Leidorf 2012. S. 207–222, hier S. 210. 41 Lehmann: Hans Schleif, S. 214.

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tion im Wirtschafts-Verwaltungshauptamt der SS, wo er der Amtsgruppe C (Bauwesen) zugeteilt war und unter anderem mit der Planung von Konzentrationslagern und unterirdischen Rüstungsanlagen zu tun hatte, „besteht […] kein Zweifel, dass er […] von den Verbrechen der SS nicht nur wusste, sondern an ihnen aktiv beteiligt war“42. Die Recherchearbeit von Neukirch und Klein setzte sich auch nach der Uraufführung weiter fort, denn immer wieder tauchte neues Material auf, wobei gelegentlich auch Hinweisen aus dem Publikum nachgegangen wurde. Daher mussten die Aufführungen immer wieder dem aktuellen Wissensstand angepasst werden.43 Indes spricht Neukirch in dem Stück nicht nur über Hans Schleif, sondern unter anderem auch über seine Mutter und vor allem über sich selbst. Die Mutter sieht in ihrem Vater nur den Wissenschaftler und Universitätsprofessor und streitet nicht nur seine Verbrechen, sondern auch jegliche Mitwisserschaft konsequent ab – diese Verharmlosung durch die ‚zweite Generation‘ wird dem Publikum unter anderem durch eine originale Tonaufnahme demonstriert. Auch seine eigene Lebensgeschichte bringt Neukirch zur Sprache – unter anderem sucht er nach Erklärungen für den Selbstmord seiner ersten Frau. Passend zu der persönlichen Thematik und Darstellungsweise wird das Publikum prinzipiell auf etwa 30 Personen begrenzt.44 Die Zuschauer sitzen auf der Bühne an Tischen – unter ihnen auch der Regisseur Julian Klein. Diese Arbeitsatmosphäre wird bewusst geschaffen, um mit den Zuschauern in Interaktion treten zu können. Beispielsweise hat Neukirch zwei Ordner mit Kopien von Originaldokumenten dabei, von denen er manche herumreichen lässt. Gelegentlich kommt das Publikum selbst zu Wort – vor allem der Regisseur übernimmt häufig spontan die Rolle eines Dialogpartners. Im Gegensatz zur prosaischen Enkelliteratur ist der kommunikative Kontext hier durchweg erlebbar und kann beiderseitig spontan neu akzentuiert werden. Dabei wird der Zuschauer zu einer besonders ausdifferenzierten Aktivität auf der Kontextmodellebene angeregt. Und daraus ist wiederum auf eine relativ hohe Ergiebigkeit hinsichtlich erinnerungskultureller Funktionen zu schließen. Diese werden zusätzlich sichergestellt durch ein an jede Vorstellung anknüpfendes – in der Regel mindestens einstündiges – Zuschauergespräch, in dem nicht nur über das Stück gesprochen wird, sondern auch eigene Erfahrungen ausgetauscht werden sollen.45 || 42 Lehmann: Hans Schleif, S. 215. 43 Vgl. Julian Klein: „Hans Schleif“ – Skizzen zu einer Theaterinszenierung. In: Artistic Research in Applied Arts. Hg. v. Gabriele Schmid und Peter Sinapius. Berlin/Hamburg 2015. S. 131– 147, hier S. 144–145. 44 Durch relativ häufige Aufführungen konnte dennoch ein insgesamt großes Publikum erreicht werden – in den ersten fünf Jahren wurde das Stück mehr als 60-mal gespielt. 45 Klein: „Hans Schleif“, S. 146.

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In Anlehnung an das oben verwendete Analysemodell der Enkelliteratur lässt sich der Bühnenraum als ‚Erzählergegenwartssituation‘ auffassen. Diese Ebene der Situationsmodellbildung ist prinzipiell durchgängig verfügbar, da sie mit der real erlebbaren Umwelt des Zuschauers zusammenfällt. Allerdings kann er diese Umwelt auch vorübergehend ‚vergessen‘ und sich in andere Situationen hineinversetzen. Der Schauspieler ermuntert sein Publikum dazu nicht nur durch seine Erzählungen, sondern auch durch Rollenspiel: Indem er spontan in die Rolle anderer Figuren schlüpft, kann er eine von dem Bühnenraum abweichende räumliche Vorstellung evozieren und die Zuschauer zu weitreichenden mentalen Simulationen anregen. Der Regisseur ist sich dieser Wirkungsdimension nicht nur völlig bewusst, sondern leitet auch konkrete und zeitgemäße erinnerungskulturelle Funktionspotenziale daraus ab: Die Geschichte um Hans Schleif zeigt exemplarisch und sehr direkt, dass die größte Fiktion darin bestehen würde, daran zu glauben, dass Fakten für sich alleine sprechen können. Vielmehr fordern sie immer wieder unsere Imaginationskraft heraus, ohne die wir nicht in der Lage sind, uns buchstäblich ein Bild aus ihnen zu konstruieren. Erst aus diesem Wechselspiel zwischen den Spuren der Vergangenheit und unserer aktuellen Imagination entsteht ein Verstehen, auf das eine verantwortungsvolle Erinnerung und Zukunft aufbauen können.46

Darüber hinaus habe das Rollenspiel die Funktion, die historischen Fakten und deren Deutungen jeweils in ihrem Quellenkontext sichtbar zu machen47 – was rezipientenseitig wiederum die Verarbeitung von source-tags sicherstellt und somit eine persönlichere und längerfristige Speicherung des vermittelten Wissens fördert. Das Bühnenstück über Hans Schleif dürfte in dieser Form in der deutschsprachigen Theaterlandschaft beispiellos sein.48 Erwähnung verdient aber auch die Performance Lebenslang von Daniel Langbein über seinen Großvater, den kommunistischen Widerstandskämpfer und KZ-Überlebenden Hermann Langbein. Die Aufführungsdauer beträgt 15 Minuten und hat folgenden Ablauf: Der Schauspieler sitzt an einem Tisch und trägt ein Namensschild mit der Aufschrift „D. Langbein“. Aus einer Zeitzeugenperspektive spricht er über Auschwitz. Nach

|| 46 Klein: „Hans Schleif“, S. 146. 47 Klein: „Hans Schleif“, S. 146. 48 Auch der NS-Propagandaschriftsteller Edwin Erich Dwinger wurde von seinem Enkel auf die Bühne gebracht. Zusammen mit dem Regisseur Tobias Ginsburg konzipierte der Schauspieler Raphael Dwinger das dokumentarische Theaterstück Nestbeschmutzung, das 2011 in München uraufgeführt wurde. Da es sich jedoch um ein Mehrpersonenstück handelt und Dwinger selbst gar nicht mitspielt, liegt hier ein anderer Kommunikationskontext vor als bei Neukirch.

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einigen Minuten wird neben ihm auf einer Leinwand ein tonloses Video zugeschaltet, auf dem ein älterer Herr zu sehen ist, der an einem Tisch sitzt und spricht. Das Sprechen und die Gestik des Schauspielers stimmen exakt mit den Lippen- und Körperbewegungen des Zeitzeugen überein – damit gibt sich das Schauspiel als Reenactment zu erkennen. In einer dritten Phase wird der Ton des Videos angeschaltet, sodass Zeitzeuge und Schauspieler unisono denselben Text sprechen. Schließlich verstummt der Schauspieler, sodass der Zeitzeuge die letzten Sätze allein spricht. Am Ende wird dessen Name sowie Geburts- und Sterbejahr eingeblendet: Hermann Langbein, 1912–1995. Das Namensschild des Schauspielers verweist somit auf ein verwandtschaftliches Verhältnis. Die Performance wurde von Langbein selbst konzipiert und unter eigener Regie am 29. April 2017 am Theater Junge Generation in Dresden uraufgeführt. Im Anschluss findet planmäßig ein einstündiges Gespräch mit dem Publikum statt49 – nicht zuletzt aus diesem Grund wird auch hier die Zuschauerzahl bewusst geringgehalten. Im Dialog gibt Langbein Auskunft über die Biografie seines Großvaters und erläutert die Entstehungsgeschichte des Stücks. Nach sechs Aufführungen in Dresden ist eine Erweiterung auf andere Spielstätten und eine Vernetzung mit Programmen von Bildungseinrichtungen in Planung.50

6.4 Zusammenfassung Die vorliegende Arbeit versteht sich in mehrfacher Hinsicht als Beitrag zur – nicht nur literaturwissenschaftlichen – Experientialitätsforschung: Erstens wurde der Experientialitätsbegriff auf den aktuellen Stand der Kognitionswissenschaften gebracht (v. a. Kapitel 2.2), zweitens seine Forschungsgeschichte innerhalb der Literaturwissenschaften nachgezeichnet (Kapitel 2.1 und 2.2), drittens eine Verknüpfung mit anderen kognitionswissenschaftlichen Theorien hergestellt (v. a. Kapitel 3 und 4.3), viertens die Anwendbarkeit in der literaturwissenschaftlichen Textanalyse erprobt (Kapitel 4 und 5) und fünftens eine Übertragbarkeit der Forschungsergebnisse auf andere Medien und allgemeine erinnerungskulturelle Vermittlungspraktiken in Aussicht gestellt (Kapitel 2.3 und 6).

|| 49 Bei der Uraufführung wurde darauf verzichtet, da diese im Rahmen der „Tage der Freiheit“ stattfand, bei denen mehrere Eigenproduktionen von Ensemblemitgliedern nacheinander gespielt wurden. 50 Laut telefonischer Auskunft Langbeins am 07.02.2018.

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Wenngleich der Schwerpunkt der Arbeit in der Theoriebildung liegt, wurde durchgängig ein spezifischer Gegenstandsbereich im Blick behalten: Indem thematisch und narratologisch die Perspektive der ‚dritten Generation‘ untersucht wurde, konnte eine Gattungsbestimmung der Enkelliteratur vorgenommen werden – einschließlich einer vorläufigen Bestandsaufnahme (Kapitel 1.4). Die Beschränkung auf eine gattungstypische Figurenkonstellation und Erzählsituation hatte zur Folge, dass das Anwendungsspektrum der literaturwissenschaftlichen Experientialitätstheorie weniger in der Breite und mehr in der Tiefe demonstriert wurde. Hierzu wurde ein gattungsspezifisches Analysemodell ausgearbeitet (Kapitel 4). Dieses mag zum einen die Analyse weiterer – vielleicht noch ungeschriebener – Enkeltexte anregen und gegebenenfalls sogar deren gezielte Produktion fördern. Hierbei kann es in naher Zukunft nötig erscheinen, das Analysemodell – mit dem historischen Wandel der Gattung einhergehend – zu modifizieren und den jeweils vorherrschenden Kontexten und Generationenkonstellationen anzupassen. Indes können mittels gezielter Variationen des Analyseinstrumentariums auch gänzlich andere Sparten der Erinnerungsliteratur – beispielsweise die sogenannte ‚Wendeliteratur‘ – aus experientialitätstheoretischer Perspektive bearbeitet werden. Davon abgesehen sind Experientialitätsanalysen nicht nur im Bereich der Erinnerungsliteratur aufschlussreich und ergiebig, denn auch andere (sowohl literarische als auch nichtliterarische) Gattungen können mit je eigenen Mitteln ähnliche Rezeptionseffekte hervorrufen und damit eigene Wirkungsziele verfolgen. Folglich dürften sich wenigstens einige der hier verwendeten ‚Theoriebausteine‘ gattungsübergreifend als anschlussfähig erweisen. Über den theoretischen Schwerpunkt (Experientialität) und den Analysegegenstand (Enkelliteratur) hinaus versteht sich die vorliegende Arbeit aber auch ganz allgemein als exemplarische Demonstration einer Verbindung kognitionswissenschaftlicher Grundannahmen mit literaturwissenschaftlichen Fragestellungen. Am Beispiel eines gegenwärtigen literarischen Phänomens und unter Bezugnahme auf aktuelle erinnerungskulturelle Debatten wurde die interdisziplinäre Reichweite kognitionswissenschaftlicher Methoden und Theorien aufgezeigt und somit demonstrativ eingelöst, womit sich die Kognitive Literaturwissenschaft noch immer schwertut: sich als anwendungsorientierte Wissenschaft zu begreifen.

Siglenverzeichnis Für häufiger zitierte Werke aus dem Korpus der Enkelliteratur werden folgende Abkürzungen verwendet:

E EV FB K MM UW

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https://doi.org/10.1515/9783110673968-007

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Register Abelson, Robert P. 96f., 140, 170f., 173 Adorján, Johanna 11, 191, 193, 226 Autor-Erzähler-Kongruenz 122–125, 128, 145f., 165, 181f., 184, 247

embodiment 45, 47–50, 55, 63, 65f., 106, 159, 207, 213 Emmott, Catherine 110f., 113 Enaktivismus/enaction 23, 45–48, 52f.,

Autorbild 120–122, 128, 132, 145

59f., 76f., 92–94, 102, 159, 167, 169,

Autorintention 117f., 120–125, 128f., 132,

173f., 189, 191, 197, 261

263 Batthyany, Sacha 11, 220–237 Bernhard, Thomas 144

episodisches Gedächtnis 83–86, 105, 153f., 187, 259f. Erfahrungshintergrund/experiential back-

Beville, Marie 195f.

ground 12, 45, 62, 67–74, 76, 80–

Bewusstseinshervorbringung/conscious-

82, 99, 103, 126, 129, 160, 163, 173,

ness-enactment 74–77, 169, 171, 174 Bewusstseinszuschreibung/consciousness-attribution 37–39, 44, 76f., 169, 171, 174 Beyer, Marcel 7 Boyd, Brian 142 Bruhns, Wibke 6 Campbell, John 128f. Caracciolo, Marco 14, 23, 44–77, 81, 92, 94, 98, 102–104, 111, 126, 129, 131,

175–177, 179, 190, 192, 205–207, 212–214, 222, 226f., 249, 261f. Erfahrungsspuren/experiential traces 67, 69–71, 74, 77, 80, 99, 159f., 163, 167, 171–177, 179f., 187–190, 192, 197f., 206–208, 212, 214, 226, 245–250 Erfahrungsvernetzung 173, 180, 208, 228, 246 Erzählergegenwartssituationsmodell/ESModell 164–166, 180, 248f.

159f., 168f., 171, 174f., 177, 197, 212,

Erzählillusion 31f., 178

227, 261

Experientialität/experientiality 14, 16,

Claassen, Efje 118f., 121, 133, 157

23–94, 97f., 102–106, 112, 125–131,

common ground 114f., 125f., 128, 132,

135, 154, 159f., 163f., 168–181, 187–

134, 263 Computermodell des Geistes/computational 47, 49, 54, 57, 59f., 62, 95

190, 192–197, 199, 204–215, 220f., 223f., 226f., 241–249, 258–262, 267, 273, 276f.

Culler, Jonathan 27–30, 117, 138

experientieller Kurzschluss 177

distributed cognition 47f., 51f., 159

extended cognition 47, 50

Dreigenerationenschema 135–139, 145–

Familiengedächtnis 81, 135, 185, 198,

147, 157f., 160, 166, 175, 192, 203, 220, 224, 226, 245f., 263f., 272 Dückers, Tanja 4f., 7f., 10f., 80, 260f.

215–220, 270 Fludernik, Monika 15, 23–46, 61–63, 74f., 82, 116f., 159

Eibl, Karl 124, 148–150, 153

Fogel, Vanessa F. 236

embedded cognition 47–49, 159

Fulda, Daniel 43, 87f., 91, 261

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302 | Register

Ganeva, Mila 7–9, 264

Kriegsenkel 6, 231

Gedenken 1, 79–86, 94, 134, 154, 208,

Kriegskinder 5f.

244

Labov, William 26

Genette, Gérard 15, 122

Lakoff, George 14, 196

Göttfert, Constantin 263

Langbein, Daniel 275f.

Grethlein, Jonas 23, 42f.

Langbein, Hermann 275f.

Grice, H. Paul 114, 116

Laub, Michel 265f.

Groeben, Norbert 16–18, 89, 228

Lehmann, Stephan 273f.

Haderlap, Maja 11, 190, 199–201, 234,

Leo, Gerhard 210, 223f.

236, 266

Leo, Maxim 11, 203, 208, 210, 223f.

Herman, David 15, 110, 125

Leo, Per 11, 237–257

Hineinversetzen/Immersion 65, 72, 75,

Leser-Adressaten-Kongruenz 124f., 128

159, 164, 168, 171f., 174, 187, 211,

Lustiger, Gila 87

230, 245, 262, 275

Maglio, Paul 51

Hölscher, Lucian 40, 87f., 91

Meinhold, Philip 264

Hogan, Patrick Colm 69, 123f.

Mendelsohn, Daniel 236

Hummel, Eleonora 11, 266

Mensing, Kolja 11, 217–219

Immersion siehe Hineinversetzen

Metadiskurs 257

Inferenzen 58, 100–102, 106–108, 110,

Metarepräsentation/metarepräsentatio-

112, 114, 120, 123, 134, 137f., 159f., 163, 170f., 175, 177f., 189, 192, 213, 226, 237, 245, 247 Intention siehe Autorintention

nal 138–155, 158, 164, 175–179, 184, 190, 260 Monumentalität/monumentaler Modus 83f., 94, 134

Interdiskurs 254

Müller, Olaf 9, 264

Jaeger, Stephan 43

Narrativisierung/narrativization 28–36,

Janesch, Sabrina 11, 182–202, 234 Johnson, Mark 14, 196 joint attention 126–129, 209f.

39, 44 Naturalisierung/naturalization 27–30, 35, 44, 117, 137f., 158

Kirsh, David 51

Nawrat, Matthias 11, 266

Klein, Julian 273–275

Neukirch, Matthias 273–275

Kognitivismus/kognitivistisch 46f., 62,

Oberski, Jona 6

95 Kommunikationssituationsmodell/KSModell 157, 161–164 Kontextmodell/context model 98, 112–

partielle Situationsmodellübertragung 185–194, 215, 231 Pehnt, Annette 11 Perspektive

130, 132f., 137f., 141, 156f., 181, 183,

– figurenzentrierte 168–174, 188, 197

203, 208f., 229, 259, 262f., 266, 274

– periphere 169–173, 187f.

Kooperationsprinzip 114, 117, 123, 156

Pfeiffer, Moritz 265

Register | 303

Proposition/propositional 16, 46, 54–62,

Situationsmodell/situation model 60,

95–97, 100, 102, 108, 112, 115, 118,

96–114, 118, 129, 154–167, 169f.,

140, 149, 154f., 157, 188, 249

172, 176f., 179, 185, 187, 190–194,

Radvansky, Gabriel A. 104 Referenzsituationsmodell/RS-Modell 157–164, 167, 172f., 175–177, 179f., 188, 191, 193, 211, 222

197, 205–207, 213, 215, 222, 225, 230f., 245–249, 259, 275 situierte Kognition 46–66, 70, 72, 98, 103, 106, 109, 155, 159, 206, 259f.

Reidy, Julian 8

source-tag 149, 153, 225, 242, 275

Relevanzprinzip 21f., 109, 113f., 117,

Steen, Gerard 16f.

123f., 147f., 155, 163, 170

Teege, Jennifer 11, 208, 233f.

Rennefanz, Sabine 11, 202–220

theory of mind 59, 75, 171

Repräsentation, amodale 46, 54–62, 95,

Timm, Uwe 86

193 Schaefer, Beate 11, 208, 233f. Schenck, Naomi 11, 230f.

Tobin, Vera 121, 127f. transgenerationale Traumatisierung 6, 231–237, 255–257, 264f.

Schmid, Wolf 178f.

Trzebiner, Channah 11, 165, 236f.

Schmidt, Siegfried J. 16

Väterliteratur 7–9, 267

scope syntax 149f.

van Dijk, Teun A. 15, 25f., 95f., 99, 104f.,

Sebald, W. G. 144 Seider, Tanja 267–269 Seltmann, Uwe von 264 Simulation, mentale 16, 45, 60f., 64–66,

113f., 118, 131–133, 156, 259 virtueller Körper/virtual body 168f., 171, 173f., 177, 180, 189, 246, 260 Vosgerau, Gottfried 54–56, 139

68f., 71–73, 75, 80, 85, 95–97, 99,

Voss, Bastienne 11, 234

101, 108–110, 126f., 129, 154f., 157,

Wackwitz, Stephan 238

159f., 163, 166–174, 177, 179f., 187–

Waletzky, Joshua 26

189, 191f., 194, 197, 206, 209, 211,

Welzer, Harald 3, 81, 216, 259

213–215

Zunshine, Lisa 14, 75, 142, 150–152

– figurale mentale Simulation 230 – narratoriale mentale Simulation 224– 231

Zwaan, Rolf A. 19, 55, 57f., 64–67, 70, 73, 95, 101, 104, 106, 111, 158, 167, 226