Elemente der philosophischen Freiheitslehre [Reprint 2019 ed.]
 9783111462691, 9783111095653

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Elemente einer

philosophischen Freiheitslehre.

Elemente einer

philosophischen Freiheitslehre von

C. Hebler, Professor der Philosophie in Bern.

Berlin. Druck und Verlag von Georg Reimer. 1887.

Es thäte wohl fast Noth, schon das Wenige, was jeder Leser

bis jetzt von meiner Schrift, nämlich durch ihren Titel, weist, zu

vertheidigen.

Ich selbst habe noch während ihrer Ausarbeitung oft

genug Anlaß gefunden, zu überlegen, ob namentlich die „streitigste Frage der Metaphysik, der streitigsten Wissenschaft", wie David Hume

das Problem der Willensfreiheit nennt, sich zu einer elementaren Be­

handlung eigne.

Aber vor allen Dingen habe ich zu meiner Auf­

gabe nicht gerechnet, die in der Sache liegenden Schwierigkeiten zu ver­

heimlichen, oder einem Leser entgegenzukommen, welcher eine seltsame

Anmaßung philosophischer Schriftsteller darin sieht, daß sie bei ihm

die Bereitschaft voraussehen, jedoch entgegenhalten, daß sich

mitzuphilosophiren.

Man wird mir

die Frage nur im Zusammenhang

eines ganzen philosophischen Systems erledigen lasse.

Ach, ich be­

fürchte: erledigen einstweilen nicht einmal so! Es scheint mir aber schon dann Etwas erreichbar, wenn man sie im Hinblick auf ein solches Ganze behandelt, ohne daß dieses fertig Vorlage. ich hier habe mich

Wenigstens

nicht sowohl bemüht, Schlüsse in Betreff der

Willensfreiheit aus irgend einem System zu ziehen, als vielmehr

darzuthun, was für Forderungen an ein solches aus dem Gesichts­ punkte dieser besondern Frage zu stellen sind.

Aufgaben, mit denen unablässig zu

ringen

Es gibt nun einmal Hähern Geistesgewinn

bringt, als so manche lärmendere zu stellen und dann vielleicht, ge­

löst oder ungelöst, abzuthun.

VI

Zu bloßer Selbstvertheidigung hätte ich mich indessen mit der

Erinnerung begnügen können, daß wenigstens insoweit, als vorhandene

Irrthümer elementare sind, auch eine ihnen entsprechende Widerle­

gung am Ort sein werde.

Wer mein Unterfangen von vom herein

abweisen wollte, der müßte die Vorurtheile, gegen welche ich ankämpfe,

für feiner oder für unbedenklicher ansehen, als sie mir vorkommen. In manchem heutigen Kopfe dürfte die gesammte Freiheitslehre auf

folgende Freiheitsleere hinauslausen:

1) daß es mit der Freiheit

des Willens Nichts sei, 2) daß im öffentlichen Leben die Freiheit Alles sei; und der Besitzer eines solchen Kopfes wird überzeugt sein, mit der ersten Annahme auf der Höhe der wissenschaftlichen, mit der

zweiten auf dem Gipfel der politischen Zeitbildung zu stehen.

Man

könnte mir entgegnen, die zwei Sätze ständen in keinem Widerspruche mit einander, da sie sich auf verschiedene Gebiete bezögen.

Ich selbst

habe zunächst nur von Leere gesprochen; aber auch der Widerspruch

liegt zu Tage, wenn man, wie nicht selten geschieht, die Freiheit

des Willens mit Gründen, welche sich in Wahrheit gegen die Thatsächlichkeit eigentlicher Willensacte überhaupt auflehnen, bestreitet und trotzdem für irgend einen politischen Willen Beachtung fordert.

Auch

innerhalb eines jeden der beiden Gebiete wird das große Wort so

verschieden angewandt, daß man sich desselben sammt den ihm nahe stehenden kaum mehr bedienen darf, ohne ihm einen Commentar bei­ zugeben, und es läßt sich hier schon durch Auseinanderhaltung des Verschiedenen ein Verdienst erwerben.

Nach dieser Seite besonders

habe ich auch für manchen Leser Ueberflüssiges nicht unwiederholt

lassen können.

Indessen ist vielleicht überhaupt in diesen Dingen,

nicht Neues zu ersinnen, sondern Wahres von Falschem zu scheiden, die dermalen dringendere Ausgabe.

Hiemit habe ich zugleich gesagt,

wie sehr ich mich meinen Vorgängern zum Dank verpflichtet fühle, soweit sie mir nämlich bei der außerordentlichen und fortwährend

wachsenden Reichhaltigkeit der bezüglichen Litteratur und bei meiner für gelehrten Betrieb etwas abgeschnittenen Lage zu Gebot gestanden.

Ich statte meinen Dank um so lieber gleich hier ab, als ich die An­ führung von Namen und Büchertiteln auf die Fälle besonderer Be­ rücksichtigung beschränken zu dürfen geglaubt habe.

VII

Elementar genug endlich wird man die zwei Hauptgesichtspunkte finden, deren Bedeutung in's Licht zu setzen ich beflissen gewesen bin.

Es sind diese: die Willensfreiheit im rechten Sinne behaupten heißt darauf bestehen, daß das Wollen keine Illusion ist; und äußere Frei­ heit ist auf jedwedem Gebiete so viel werth, als Werthvolles bei ihr

herauskommt.

In Bezug auf den sich mit dem zweiten dieser Sätze

befassenden Theil meiner Schrift will ich doch meine Leser im Voraus von der Furcht befreien,

daß ich

darauf ausgegangen sei, ihnen

Rathschläge für ihr politisches Verhalten aufzudringen.

Da indessen

selbst wirklich zu solchem Behuf Gedrucktes und Gesprochenes nicht eben alles von staatsmännischer Seite herrührt, so wird vielleicht auch einem einfachen Wähler und Referendarius der Wunsch verziehen

werden, sich mit seinesgleichen über das alltäglichste politische Schlag­

wort zu verständigen.

Bern, im Herbst 1886.

Der Verfasser.

Inhalt. Seite

Einleitung........................................................................... Das Wort Freiheit I.

Von unserer Willensfreiheit......................

1.

2.

II

Von den Ursachen des Wollens............................................... A. Wider den Indeterminismus .................................................. Wollen 18 — Motiv 28 — Wahl 32 — Selbstbewußtsein und Menschenkenntniß 37 — Zurechnung 39 B. Wider einseitigen Determinismus.............................................. bei den Fatalisten 42 — bei Theologen und Metaphysikern 43 — bei den Materialisten 44 — bei Moralstatistikern 46 C. Deterministische Willensfreiheit .............................................. Kant 51 — Schelling und Schopenhauer 57 — Ergebniß 60 Vom Wollen als Bewegungsursache. . .............................. Neueste Hypothesen (Boussinesq, Delboeuf) 71 — Dubitemus (du Bois-Reymond)? 81

Von unserer äußern Freiheit

.

............................................

1 11

13 18

42

51 69

97

der gesellschaftlichen 101 — der staatlichen 106 — und mit dieser Zusammenhängendem 123

Beilagen..................................................................................................... Sprachliches 141 — Werth und Wille 142 — Ein Brief Galiani's 158 — Noch einmal Kant 164 — Rümelin 171 — Lotze 175.

139

(Einleitung. Jin Grimm'schen Wörterbuch, Artikel „Freiheit", lesen wir:

„Philosophische Erklärungen der Freiheit sprechen wenig an", und es werden zum Beleg einige Kant'sche Stellen angeführt.

So wollen

wir uns denn für's Erste bei unserm deutschen Sprachgebrauche

Raths erholen, über welchen uns das genannte Werk die beste Aus­

kunft geben wird.

Wir finden da erwünschte Belehrung sowohl über

die Verwandtschaft des Wortes als

auch über seine verschiedenen

Bedeutungen. In

gendes.

der

ersten Beziehung entnehme ich meiner

menhang habende Wort

piivti.s;

Quelle Fol­

Das in hohes Alter hinaufreichende und großen Zusam­ man sagt von

„frei" entspricht zunächst dem lateinischen dem Freien:

er ist sein selbes eigen; sein

Gut heißt freies Eigenthum; ebenso ist das Freien um ein Weib

ein Sich-Aneignen desselben; „freien, frei machen" wird negativ zu privare u. dgl.; der privus, privatus ist auch zahm, und „frei"

nähert sich dem Begriffe des Milden, Schönen;

das Wort berührt

sich auch mit froh und freuen. Die Bedeutungen werden von

unserm Wörterbuch in freier

Reihenfolge so aufgezählt: 1) Dem Stande nach ist frei, wer bleiben kann wo, gehen wo­ hin er will; und freie Menschen bilden freie Völker, freie

Staaten.

2) Ungefangen. 3) Ledig, in Bezug auf Liebe und Ehe. Heb! er, (Elemente e. rhilos. Freihcir>5lehre.

1

9

4) Das ungeschorene, frei wachsende, das ungcflochtene,

frei

fliegende Haar der Männer oder Frauen. f>) Offen, z. B. Hals und Brust, Brunnen und Wasser, Himmel,

Luft, Feld und Straße; seinen Worten, Empfindungen, Thränen freien Lauf lassen; freies Ange; freie Küsse; freier

Athem.

6) Ungehindert, in freier Wahl und Willkür stehend; freie Hand

haben; aus freier Hand verkaufen; mit freier Hand schreiben;

aus freien Stücken. 7) Ungebunden, losgebunden, unsittlich, frech. 8) Mit Neigung in die Vorstellung des Anmuthigen, Schönen,

Heitern, Frohen, Frischen, z. B. freier Wuchs, freier Sang. 9) Der Mensch hat freien Willen, ist freies Muthes, seine Ge­

danken, Entschlüsse, Handlungen sind frei; seine Sitten und Zustände, seine Rede und sein Betragen bilden sich frei aus.

10) Auf Sachen, Zustände, Vorgänge bezogen, z. B. ein Körper

in freier Bewegung, freie Wärme, freier Handel, freie Zeit. 11) und 12) Nähere Bestimmungen erhält der Ausdruck durch

hinzugefügte Substantiva im Genitiv oder mit Präpositionen, sowie durch Verba: der Sorgen frei, frei von Schmerz, frei

ausgehen (unbestraft bleiben und nicht haften) u. s. w. Dies aus dem Artikel „frei"; ans dem Artikel „Freiheit" hebe ich nur noch die Bedeutungen Schutzort und zustehendes oder ertheiltes Recht hervor.

Im Uebrigen schließt sich der zweite Artikel natürlich

auf's Engste dem ersten an; „Freiheit" ist ja nur das dem Adjec­ tivum „frei" entsprechende Substantivum abstractum; auch bei ddm Schutzort und dem Recht kann cs sich letztlich nur darum handeln, das „frei" von gewissen Menschen in gewissen Beziehungen auszu­ sagen.

Freiheit ist eben — ich muß von dem Selbstverständlichsten

ausgehen — nicht Etwas, das für sich bestehen, sondern nur Etwas, das einem Dinge oder einer Thätigkeit oder einem Zustande eines

Dinges zukommen kann ; es hat keinen Sinn, von Freiheit zu reden, wenn man nicht zu sagen weiß, an wessen und was für eine Frei­

heit mau zu denken hat. So mannigfaltig nun auch die aufgezählten Bedeutungen sind,

3

so haben sie doch alle Etwas mit einander gemein. Ein Mensch heißt frei, wenn er nicht gehindert ist, zu bleiben oder zu gehen, wo oder wohin er will; Freiheit des Ledigen ist Ungehemmtheit in Bezug aus Liebes- und Ehebande; Freiheit des Haarwuchses ist Ungeschorenheit — und überhaupt ist Freiheit vor allen Dingen Ungcschorenhcit; auch int eigentlichen Sinne genommen war diese bei den alten Deutschen Zeichen des freien Mannes. Wir reden aber auch von Freiheit des Haars selbst, auch von freiem Wuchs einer Tanne, sogar von freiem Fall eines Steins. Bei solchen An­ wendungen des Wortes über das menschliche und selbst thierische Gebiet hinaus liegt oft eine bewußte oder unbewußte Personification zu Grunde; und wir mögen daraufhin wieder einen Naturgegenstand um die Freiheit, die wir ihm geliehen, beneiden, wie z. B. Maria Stuart bei Schiller die Wolken. Aber auch in prosaischerem Sinne ist die Beziehung auf den Menschen eine häufige: wir nennen den freien Himmel nicht bloß darum so, weil er unbedeckt, sondern auch weil demzufolge unser Blick nicht beschränkt, in die Ferne zu dringen nicht gehindert ist. Bei Gegenständen ohnehin, welche nur nach ihrem Nutzen von uns beachtet werden oder seinetwegen von uns gemacht sind, wie bei einem freien Wege, einem freien Stuhle, ist cs einleuchtend, daß wir vielmehr unsere eigene Freiheit meinen, nämlich den Weg zu begehen, uns auf den Stuhl zu setzen. Sogar Vogelfreiheit bedeutet bekanntlich nur noch die Freiheit, welche die Menschen sich nehmen, sich nicht um die der Vögel zu bekümmern; und ebenso scheinen nicht wenige Menschen die Freiheit von ihres­ gleichen zu verstehen. Diese Vieldeutigkeit des Wortes mag uns sofort darauf Hinweisen, daß Freiheit überhaupt etwas zunächst rein Formales ist und nicht schon als Freiheit schlechtweg, sondern nur nach Maßgabe des besondern Inhaltes, der sie erfüllt oder erfüllen soll, den hohen Werth haben kann, den man ihr zncrkennt. Freiheit im Allgemeinen, nach der zwar keineswegs den Sinn des Ausdruckes in jeder Anwendung erschöpfenden, aber allen Anwendungen gemein­ samen Bedeutung, ist weiter Nichts als Abwesenheit von Hindernissen irgend eines Verhaltens, sei's daß sie dasselbe gänzlich oder nur theilweise vereiteln würden, wovon das Erstere unzweideutiger Ver1*

4 Hinderung,

das Letztere Hemmung genannt wird —

mit Einem

Worte: Ungehindertheit. Ich hätte dafür auch sagen können: gezwungenheit.

Zwanglosigkeit oder Un­

Die Hinderung eines Gefangenen am Fortgehett ist

ja zugleich ein Zwang, dazubleiben, und Befreiung macht diesem wie jener ein Ende.

Man will zwar vielleicht so unterscheiden: Hinderung

sei nur ein negativer Zwang, einer, vermöge deffen Etwas unterbleibt,

nicht ein positiver, vermöge dessen Etwas stattfindet. ist gleichfalls Hinderung,

Aber der letztere

da dem zu einem bestimmten Verhalten

Gezwungenen jedes damit unvereinbare unmöglich gemacht ist, wie hinwieder Hinderung immer zugleich eine positive Zufügung ist.

Im Gegensatz zu dem mit Hinderniß und Zwang gegebenen Nicht-anders-Können ist Freiheit ein Auch-anders-Können.

Hier sind

aber zwei Bedeutungen von Können aus einander zu halten.

Daß

man Etwas könne, besagt entweder, daß man das natürliche oder

erworbene Vermögen dazu habe, oder daß man nicht an dessen Aus­ übung gehindert sei.

Nur das Können im zweiten Sinne wird int

allgemeinen Sprachgebrauche Freiheit genannt.

Z. B. daß Jemand

schwimmen kann, bedeutet entweder, er habe es gelernt, oder es stehe

zur Zeit Nichts der Anwendung dieses Gelernten entgegen; nur im

letztern Falle wird von Freiheit gesprochen.

Aber indem Vermögen

und Freiheit unterschieden werden, wird doch zugleich jenes für diese

vorausgesetzt.

Die Abwesenheit solcher Umstände, welche einen des

Schwimmens Kundigen hindern würden, kann nur bei diesem, nicht bei einem Unkundigen, Freiheit genannt werden; vom Letztern läßt sich nur etwa sagen: wenn er zu schwimmen verstünde, an der Frei­

heit dazu würde cs ihm

nicht fehlen.

Auch von Unfreiheit und

Hinderung in Betreff des Schwimmens kann nur gesprochen werden,

wenn einer sich auf dasselbe versteht, und sich sogar in Bereitschaft dazu befindet, so daß es wirklich erfolgen würde, wenn kein Hinder­ niß wäre.

Ist es einem des Schwimmens Kundigen gerade nicht

um die Ausübung seiner Fertigkeit zu thun, so ist ihm durch eine zeitweilige Unzugänglichkeit des Schwimmplatzes seine Freiheit ebenso wenig, wie einem Nichtschwimmer, verkümmert.

Oder wenn Jemand

in seiner Wohnung eingeschlossen worden zu einer Zeit, wo er weder

5 ausgehen noch in der Arbeit gestört werden will: so ist er vielleicht nnzufricde», daß man ihm die Wohlthat ohne Anfrage erwiesen, aber an Freiheit hat er für diesmal eher gewonnen, als verloren. Man wird auch Bedenken tragen, einen Züchtling wahrhaft gefangen und unfrei zu nennen, welchem es, wie dies zu Zeiten kommen mag, so wohl in seiner Behausung ist, daß er sie selbst dann nicht verläßt, wenn die Entweichung ihm von seinen Hütern absichtlich erleichtert wird, denen er durch sein Dablcibcn wohl gar einen Possen spielt: und wenn er nach Ablauf seiner Strafzeit an die Luft gesetzt wird, so wird ihm dies kein Freiheitsgefühl erregen. Gesetzt, daß ihn doch zu­ weilen in der Gefangenschaft die Lust, das Weite zu suche», anwandle, welche aber durch die Annehmlichkeit des Aufenthaltes überwogen wird: in diesem Falle ist es das Freiheitsbedürfniß selbst, dessen Befriedigung gehindert wird, und zwar durch ein inneres Hinderniß. Die Unterscheidung zwischen äußcrm und innerm Hinderniß könnte mit der vorigen zwischen Unfreiheit und Unvermögen sich zu decken, und mithin doch nicht die Abwesenheit einer jeden Art von Hindernissen Freiheit zu sein scheinen. Hobbes hat wirklich die Freiheit nur als „die Abwesenheit äußerer Hindernisse" besinnt, oder ausführlicher: „Die Abwesenheit aller der Hindernisse eines Thuns, welche nicht in der Natur und innern Beschaffenheit des Subjects gelegen sind"; wie z. B. das Wasser in seinem Bette frei abfließe, aber nicht zur Seite, weil hieran durch die Ufer oder durch Dämme gehindert, zum Fließen in die Höhe hingegen nicht der Freiheit, sondern der Fähigkeit oder des Vermögens ermangle; und wie man einem Gefesselten, nicht aber einem Lahmen, einem Kranken die Freiheit zum Gehen abspreche; oder wie man von einem gerupften Falken sage, er könne nicht fliegen, aber nicht wie von einem gebun­ denen, es fehle ihm die Freiheit dazu. Aber so gut diese Beispiele den Unterschied von Freiheit und Fähigkeit zu erläutern sich eignen, so bedürfen sie doch etwelcher Zurechtlegung. Das Nicht-steigenKönnen des Wassers ist allerdings Unfähigkeit oder Unvermögen, nicht Unfreiheit in der Bedeutung: äußere Hinderung; ähnlich, zu­ gleich mit dem Nebensinne des Fehlerhaften, bei einem Menschen oder einem Falken das durch die erwähnten Gebrechen verschuldete

6 Nicht-gehen-,

beziehungsweise

Nicht-fliegen-Können.

Wer

aber

in diesen Fällen von innerer Hinderung reden wollte, würde da­

für

auch Unfreiheit

sagen

dürfen.

Dies wird sogar gewöhnlich

geschehen, wenn nicht ein für bleibend erkanntes Verschwundensein einer frühern Fähigkeit, sondern eine zwar positiv ihrer Ausübung

entgegenwirkcnde,

aber

voraussichtlich

einmal wieder in Wegfall

kommende Ursache des Mangels vorliegt — z. B. bei einer durch

eine Geschwulst vorübergehend beeinträchtigten

Fußbewegung — wie wir auch

oder aufgehobenen

demgemäß nach Beseitigung

Uebels von wiedererlangtcr Freiheit der Bewegung reden.

des

Wo man

hingegen eine Fähigkeit für unwiderruflich verloren ansieht,

wird

man allerdings nicht von Unfreiheit, aber auch nicht von Hinderung,

so wenig von innerer wie von äußerer, reden.

Auch unter geistiger

Unfreiheit versteht man innere, hier geistige, Hinderung; z. B. wenn

Jemand einer Wahrheit beizupflichten durch Vorurtheile verhindert

ist, wie nach Hobbes' Ueberzeugung sein Hauptgegner in der Freiheits­ Die Unterscheidung zwischen Unfähigkeit und innerer Hin­

frage.

derung ist zwar in der Anwendung oft zweifelhaft; aber hinwieder

hat die zwischen äußerer und innerer Hinderung etwas Relatives: jene Geschwulst ist ein inneres Hinderniß der Bewegung in Ver­

gleichung mit einem von fremder Hand angethanen Zwange und ein äußeres gegenüber einem von der Bewegung zurückhaltenden Bedenken, das übrigens von der Rücksicht auf die Geschwulst selbst herrühren

Es läßt sich auch sagen, daß alle Hindernisse etwas Aeußeres

kann.

gegenüber dem Gehinderten als solchem seien; auch aus diesem Ge­ sichtspunkte hätten wir die Beschränkung auf äußere Hindernisse

aus der allgemeinen Definition der Freiheit und Unfreiheit weg­ zulassen. Es könnte nun bloß ein anderer Ausdruck für bereits Gesagtes

scheinen, wenn wir für Freiheit Abwesenheit von Nothwendigkeit

setzten.

Aber wir dürften dies nur dann, wenn wir Nothwendigkeit

gleichbedeutend mit Zwang nähmen.

Dieser wird jedoch nur aus­

gesagt, wo und inwiefern man Etwas an einem Dinge von fremder Wirksamkeit herleitet, während von Nothwendigkeit auch gesprochen

wird, wenn man den Grund in der Natur des Dinges selbst findet.

7 Diese Unterscheidung behält ihre Bedeutung auch dann, wenn über­ haupt kein Ding in der Welt anders als im Wechselvcrkehr mit andern Dingen Etwas thun oder leiden kann. Nothwendigkeit im Unterschied von Zwang ist nun nicht ebenso, wie dieser, mit Freiheit unvereinbar. Wir nennen das Wasser eines Baches frei abfließend, wenn eS nur nicht gehindert ist abzufließen, wozu es aber unter den Umständen, wo es dies wirklich thut, durch seine Natur genöthigt ist! unfrei und gezwungen ist es nur iu der Beziehung, daß diese Umstände nicht von ihm abhangen. Ebenso wenig, wie bloßer Zwang, flndet hier Nothwendigkeit in einer dritten Bedeutung, Undenkbarkeit des Gegentheils, also des Nicht-Abfließens, statt, da ja nur die Umstände sich zu ändern brauchen, damit der Abfluß unterbleibe. Ein Verhalten, dessen Gegentheil undenkbar ist, oder ein Ding bei solchem Verhalten, ist weder frei noch unfrei zu nennen, da zum Eiucn wie zum Andern gehört, daß ein Hinderniß wenigstens denk­ bar sei. Man setzt ferner Freiheit oft ebenso, wie aller Nothwendigkeit, auch aller Abhängigkeit entgegen, und es liegt auf der Hand, daß mit jeder solchen etwelche Unfreiheit verbunden ist. Aber andererseits hängt die erste beste Thätigkeit eines Dinges oder seine ganze Existenz von Bedingungen und Ursachen ab, und diese als solche machen cs nicht zu einem unfreien: sonst wäre, um es in Freiheit zu setzen, erforderlich, daß man ihm die Möglichkeit seiner Thätigkeit oder Existenz abschnitte. Mit Recht hat Lichtenberg für eine der seltsamsten Wortverbindungen, deren die menschliche Sprache fähig sei, den Satz erklärt: „Wenn man nicht geboren wird, so ist man aller Leiden frei." Es kann auch uur der an eine Fortdauer nach dem Tode Glaubende mit alten Philosophen das Sterben als eine Befreiung aus dem Kerker, nämlich dem Leibe, betrachten. Einen Menschen in einem seinen Fähigkeiten und Neigungen angemessenen Dienstverhältnisse darf man nicht unfrei nennen; wenigstens in seinem Gesammtzustande ist er frei, obschon es im Einzelnen nicht ohne Unfreiheit für ihn abgehen kann; und er ist frei in diesem Zustande nicht trotz, sondern mittels seiner Abhängigkeit; er gewinnt auch Nichts an Freiheit, wenn er sich ihm entzieht oder durch Andere

8 ihm entzogen wird. Deßgleichen wird da, wo gesunde Abhängigkeit eines Staatstheiles von seinem Ganzen besteht, jener durch SichLosreißen von diesem so wenig seine innere wie seine äußere Freiheit mehren. Ich weiß gut, daß ich mit dem Bisherigen die Hauptschwierig­ keiten der Freiheitsfrage noch kaum berührt habe; sie betreffe» eben nicht die Freiheit nach ihrer allgemeinsten Bedeutung, sondern kom­ men erst auf besondern Gebieten zum Vorschein. Dessenungeachtet noch ein wenig bei dieser Bedeutung verweilend, sage ich:- die Frei­ heit als bloße Ungehindertheit ist zugleich etwas bloß Relatives. Sie kommt einem Wesen nicht an und für sich zu, sondern nur in Bezug auf Etwas, wodurch es gehindert werden könnte. Wer ein Ding frei nennt, weiß nicht, was er sagt, wenn er nicht weiß, wo­ von er es frei nennt. Freiheit als Ungehindertheit scheint ferner ein nur negativer Begriff zu sein. Was man jedoch mit einem solchen als einem Bestandtheile wirklichen Denkens meint, läßt sich immer aus die Verneinung, daß einem gewissen Subject ein gewisses Prädicat zu­ komme, d. h. auf ein negatives Urtheil zurückführen; und dasjenige Prädicat, welches einem für frei erklärten Subject abgesprochen wird, ist: gehindert. Nun läßt sich aber Hinderung selbst als Negation bezeichnen, nämlich als eine reale; und man kann auch diese leicht durch einen negativen Sah aussagen, sowie durch dessen Negation die Abwesenheit des Hindernisses. Weil es sich hier aber doch um Reales oder dessen Möglichkeit handelt, so hat die doppelte Negation nicht den gewöhnlichen Sinn, daß ich nur die Verneinung eines von mir aufgestellten Satzes durch eine zweite Verneinung zurückwiese; sondern mit einem Sahe, wie „Diese Bewegung ist frei", behaupte ich, daß die Bewegung selbst sich behaupte, ungehindert von Statten gehe, trotz einer an sich möglichen Hinderung. Aber doppelte Ne­ gation, auch in dieser realen Bedeutung genommen, ist Position, Freiheit also, wie es scheint, doch etwas Positives. Und gewiß wird in jener Selbstbehauptung ein Positives, welches sich behauptet, mit­ gedacht; doch ist nicht die Freiheit selbst das sich Behauptende, sondern sie ist das Sich-Behaupten, und dies nicht als Abwehr einer

9 wirklichen oder drohenden Hindernng, was vielmehr Freiheitskampf als Freiheit wäre, sondern nur als Abwesenheit einer möglichen und vielleicht dagewesenen, aber beseitigten. Zugleich ist Freiheit wieder mehr als reine Position; es verhält sich damit ähnlich wie mit der doppelten Negation auf dem logische» Gebiete, wo die­ selbe gleichfalls zwar dem Positiven inhaltlich Nichts hinzufügt, aber eS durch die ausdrückliche Abweisung der Längnung zn stärkerer Geltung bringt. Sage ich z. B., daß ich meinen Arm frei bewege, so heißt dies, daß eine erwartete Hinderung ausgeblieben. Auch die Redensart: „Ich bin so frei, Sie zu bitten", sagt mehr und ist zu­ gleich höflicher, als das bloße „Ich bitte Sie", und diese größere Höflichkeit hängt an der doppelten Negation. Es liegt nämlich in den Worten das Geständniß, daß der Bittende sich Etwas gegen den Angcredeten herausnehme, sich über gewisse Schranken, die er dem­ selben gegenüber zu beachten sonst wohl schicklich fände, hinwcgsetze, was denn eher unhöflich als höflich wäre, wenn es nicht durch das Geständniß selbst, das wie eine Abbitte der Bitte ist, gutgemacht würde. Schon darin liegt eine Artigkeit, daß die Bitte mit einigen Worten eingeleitet wird und man nicht mit der Thüre iu's Haus fällt; „„Ich bitte"" ist ein Mordgeschrei", lautet ein deutsches Sprich­ wort. Noch höflicher, als das Vorige, ist: „Darf ich bitten?", in­ dem ich mir damit noch nicht einmal die Freiheit nehme, zu bitten, sondern erst anfrage, ob sie mir vergönnt werde. Ich will aber hiemit nicht sowohl den Sinn der Personen, welche sich dieser Redensarten bedienen, als vielmehr den Sinn der letzter» selbst angegeben haben. Ungehindertheit ist nun aber nur das Gemeinsame, was überall, wo von Freiheit die Rede ist, vorgestellt oder mitvorgestellt wird, und es hat mif für den Zweck der Einleitung passend geschienen, von dieser Bedeutung, der zugleich am wenigsten vorgreifenden, aus­ zugehen. Für die ursprüngliche jedoch werden wir die bestimmtere, auf wollende oder doch als wollend vorgestellte Wesen und zwar deren äußeres Leben beschränkte, und noch heute volksthümlichste an­ zusehen haben: thun zn können was beliebt, oder allgemeiner: sich im Thun und Lassen verhalten zu können, wie es beliebt. Und was

10 unter derselben Bezeichnung den menschlichen Geist am mächtigsten wie zugleich nachhaltigsten zu erregen fähig sich bewiesen hat, ist: 1) Willensfreiheit, als eine nicht jenes Können gemäß einem Belieben, sondern dieses Belieben oder Wollen selbst angehende; 2) äußere Freiheit in dem besondern Sinne, wie sie im Zusammenleben der Menschen, namentlich als Glieder einer staatlich geeinigten Gesellschaft, genossen, beziehungsweise eingeschränkt oder gefordert wird. Ausschließlich mit der Freiheit in diesen zwei Bedeutungen werden wir uns im Folgenden beschäftigen; was denn zugleich so­ viel heißt wie zum Kampfe mit den Hauptschwierigkeiten ausziehen, welche die Freiheit zu einem so ausbnndigen Gegenstände theoreti­ scher und praktischer Streitigkeiten gemacht haben.

I. Hoii unserer Willensfreiheit.

1.

Von den Ursachen des Wollens. Wenn man in der Frage von der Willensfreiheit unter Freiheit weiter Nichts als Ungehindertheit oder Zwanglosigkeit verstände, so ließe sich schwer begreifen, wie man sie jemals einem zu wollen ver­ mögenden Wesen grundsätzlich, und also gleichviel innerhalb welcher Schranken, hat absprechen oder umgekehrt mit besonderm Nachdrucke beilegen können. Aber worüber man unter jenem Titel so uner­ müdlich streitet, ist vielmehr dies, ob das Wollen mit einer Abhängig­ keit von Ursachen, wie wir dieselbe sonst bei jeder Veränderung an­ nehmen, zusammenbestehen könne. Nicht also die Freiheit in jenem allgemeinsten und gewöhnlichsten Sinne, sondern die Freiheit vom Gesetze der Kausalität steht hier in Frage. Auch Solche, die nicht alle und jede causale Abhängigkeit des Wollens in Abrede stellen, beschränken sie doch oft auf eine Weise, die einer Ausnahme von dem Gesetze gleichkäme: unter ganz denselben äußern und innern Umständen, unter denen wir so und so wollen, soll es uns möglich sein, anstatt dessen auch anders zu wollen oder gar nicht zu wollen, und also auch, wenn es je eine völlige Wiederholung aller Umstände gäbe, sich das erste Mal so, das zweite Mal anders zu verhalten. Die Lehre, daß das Wollen keine Ausnahme von dem Causalgesetze bilde, heißt Determinismus, und die entgegengesetzte Indeter­ minismus. Es wird sich zunächst fragen, was wir von der Willensfreiheit dann zu halten haben, wenn die Gesichtspunkte gültig sind, aus welchen das Kausalgesetz uns sonst, im Leben und in den Wissen-

14 schäften, feststeht.

Wenn sie unter dieser Voraussetzung verworfen

und aus andern Gründen dennoch festgehalten werden müßte, so wären wir vor die weitere Frage gestellt, ob es rathsamer sei, einen unauflösbaren Widerspruch in unsern Ueberzeugungen zu oder unsere gewohnten Causalbegriffe aufzugeben.

dulden,

Doch ist auch an

die Möglichkeit zu denken, daß wir, den Boden verlassend, auf welchem

der Streit um die Freiheit erwachsen ist und zunächst allein geführt wird,

auch sie selbst aus den Augen verlören.

Jedenfalls werden

jene Begriffe, obgleich oder weil sie uns allen geläufig sind, zuvör­

derst einer genauern Bestimmung bedürfen; wir haben uns zum

Bewußtsein

zu bringen, was es

denn eigentlich heißt, wenn wir

Etwas Ursache und etwas Anderes Wirkung, Effect, desselben nennen.

Wohl am

gewöhnlichsten versteht

gegebene Veränderung eines Dinges,

man

unter Wirkung

eine

B, und unter Ursache ein

zweites Ding, A, und näher eine Veränderung dieses A, von welcher

man die des B herleitet.

Wenn man bei Dingen, an denen man

keine Veränderung beobachtet hat, gleichfalls nach Ursachen fragt, so geschieht es in der Meinung, daß sich dennoch einmal Veränderungen

mit ihnen zugetragen haben.

Auch nach den Ursachen der Entstehung

beliebiger Dinge zu fragen, würde minder gebräuchlich sein, wenn

man nicht dem Begriffe der Entstehung den der Veränderung unter­ schöbe und sich jene manchmal gar als liebertritt aus einem wirk­ lichen Zustande (der Unwirklichkeit) in einen andern (die Wirklichkeit) vorstellte.

Bald wird jedoch eingesehen,

daß nicht nur A, sondern

ebenso B, als daseiend und so und so geartet, für die Wirkung vor­ ausgesetzt ist und sie mitverursacht, wozu noch sogenannte Umstände

als Nebenursachen kommen.

Weiterhin wird

beiden Dingen Ursache genannt,

was

auch

dasjenige an

sie gerade zu solchem und

keinem andern Wirken unter den vorhandenen Umständen befähigt

und nöthigt; mit andern Worten: es werden zu den Ursachen auch

die Kräfte und deren Gesetze gerechnet, welche beide oft mißverständ­ lich als etwas neben oder über den Dingen Stehendes, anstatt als

deren eigene Wirkungsweisen, vorgcstellt werden.

Da man ferner

ebenso gut, wie bei der zuerst vorliegenden Veränderung, auch wieder

bei der sie verursachenden, vielleicht bereits sehr zusammengesetzten, nach

15

der Ursache fragt, so bekommt man eine unendliche Kette von Wir­ kungen und Ursachen, ja, da in jedem Augenblicke gleichzeitig unzählige Veränderungen stattfinden, eine unbestimmbare Vielheit solcher unendlichen Ketten, welche zugleich aufs Mannigfaltigste in einander greifen mögen. Ich bleibe jedoch hier bei den zwei Ver­ änderungen von A und B stehen. Das zwischen beiden angenommene Verhältniß ist ohne Zweifel eine Zeitfolge; aber nicht bloß dies, sondern man meint, daß die Eine die andere nach sich ziehe, d. h. zunächst zwar einfach vorher­ gehe, dann aber in einem gewissen Zeitpunkte diese mit jener und durch jene gesetzt werde. Z. B. die Billardkugel A bewegt sich gegen die ruhende B hin, und sobald beide zusammentreffen, geht die bis­ her intransitive Thätigkeit des A in eine transitive über, welcher eine Passion oder richtiger ebenfalls Aetiou des B entspricht; ich denke hiebei noch nicht an die dem Stoße nachfolgende Fortbewegung des B, sondern an die mit der Einwirkung des A auf B durchaus gleichzeitige Gegenwirkung der vom Ersteru berührten Thcilchen des Letzter«. Man kaun hier so wenig A zuerst rein activ, wie B rein passiv, nennen; es ließe sich ja ebenso gut sagen: B habe durch seinen Widerstand gegen das friedlich seines Weges ziehende A die Thatkraft desselben hervorgerufen, wie: A habe durch seinen Angriff jenen erweckt. Es ist ferner von Wichtigkeit, die verursachende Ver­ änderung vor dem Eintritte der bewirkten und dieselbe in diesem Eintritte gehörig von einander zu unterscheiden wie zugleich zusammenzufasseu. Die erste ist noch nicht eigentliche, was doch hieße: bereits wirksame, Ursache; die zweite ist es nur als die Eine der beiden untrennbaren Seiten Eines und desselben Ereignisses, an welchem B soviel Antheil wie A hat. Nicht selten auch unterscheiden wir, wie bereits angedeutet, an B mehrere Theile, welche die von A begonnene Wirkung nur nach und nach weiterleiten; wie z. B. das Uhrgewicht die Räder und letztlich die Zeiger bewegt, und schon in der ange­ stoßenen Billardkugel die Bewegung mir allmälig von Theilchen zu Theilchen sich fortpflanzt. Auch von dem gegenseitigen Verhältnisse je zweier nüchstbenachbartcn Theilchen gilt hier, was vorhin über das zwischen der Kugel A und den von ihr berührten Theilchen der

16 andern bemerkt worden, nämlich völlige Gleichzeitigkeit des Verur­ sachens und des Bewirkens.

Dennoch behält es insofern einen guten

Sinn, an der gewohnten Zeitunterscheidung sestzuhalten, als der dem

A angehörende Theil des gesammten Vorganges einen seinem eigent­ lichen Ursache-Sein vorhergehenden Verlauf hat, oder als man, wie

so oft geschieht, unter Wirkung die sich nach und nach anhäufenden Einzelwirkungen oder auch

das bloße fortdauernde Ergebniß vor­

maligen Wirkens versteht.

Das Causalgesetz besagt nun aber wesentlich auch — was im Obigen noch nicht enthalten ist — daß jeder beliebigen Veränderung

irgend eine andere nothwendig voraufgehe.

Die Undenkbarkeit einer

ursachlosen Veränderung läßt sich auf eine nicht eben neue, dafür

aber wohl auch von dem Natur- und Geschichtsforscher zu billigende

Weise so darthun.

Es mögen ... i, k, 1... verschiedene Eigenschaften

eines von uns beobachteten Dinges,

unseres vorigen B, bedeuten.

Bei einer zweiten Beobachtung mögen nicht mehr i, k, 1, sondern i, k, m sich zeigen — unter m eine mit I unvereinbare Eigenschaft

oder auch die bloße Abwesenheit von I verstanden.

Also i und k

verbunden mit 1 und nicht verbunden mit 1; nicht verbunden mit m und verbunden mit m. aus

dem

Ein anscheinend unauflösbarer Widerspruch ;

man sich gleichwohl Nichts zu machen pflegt, weil die

Gefahr vorüber ist, ehe man dazu gekommen, vor ihr zu erschrecken, indem man nämlich sofort 1 und in an verschiedene Zeiten vertheilt

hat, gleichviel für jetzt, wie man auf diesen Ausweg und überhaupt auf die Zeitvorstellung verfallen sein mag.

Zeit gewichen,

daß aber doch

Daß 1 dem in mit der

nicht ein völlig Neues aufgetreten,

sondern i und k dagcblieben sind, dies Beides zusammen meint man

mit dem Ausdrucke, es sei mit B eine Veränderung vorgegangen. Aber wie ein Ding nicht gleichzeitig ein völlig oder auch nur theilweise anderes Ding sein kann, ebenso wenig kann cs geradehin auch

nur nachderhand ein anderes werden; auch dies läßt sich schon das

gewöhnliche Bewußtsein nicht bieten; wer annimmt, sich verändert habe, meint damit nicht,

Herabgleiten auf der Zeitlinie widerfahren.

daß ein Ding

demselben sei ein bloßes

Veränderung kann aber

auch nicht in bloßer Verdrängung von 1 durch in, z. B. lebendig

17 durch tobt, bestehen — nicht der Tod kann einen Menschen umbringen, man muß an etwas Anderm, als dem Tode, sterben, dieser muß durch Etwas „herbeigeführt" werden.

Wiewohl nämlich Veränderung kein

Widerspruch ist, so wäre es doch eine solche, die aus blauem Himmel,

ohne eine bereits vorgegangene Veränderung, herniederführe; völlig ebendasselbe B, welches 1 ein- und m ausschließt, würde dann auch

ein solches sein, welches I aus- und m einschließt.

Also muß der

zunächst allein beobachteten Verändernng eine andere vorausgegangen

sein; ich will sie x nennen und darunter genauer nur die nächste

und kleinste der Ersetzung von I durch m unerläßlich vorausgegan­ gene Veränderung oder Summe gleichzeitiger Veränderungen ver­

stehen, die wir uns denken mögen.

Da wäre uns denn offenbar

Nichts geholfen, wenn x schon vor dem Eintritte von m wieder auf­ gehört hätte.

Wir müssen

also x als einen ein Zeittheilchen bis

zum Eintritte von in stetig ausfüllenden Vorgang fassen.

Aber x

ist selbst schon eine mit B, zum Wenigsten mit dessen Beziehungen zu andern Dingen oder mit denen eines seiner Theile zu andern Theilen, vorgegangene Veränderung.

Folglich haben wir, wie dem

Eintritte von m das x, so diesem — ich nenne es jetzt x, — ein x2, dem x2 ein x, u. f. f. vorauszudenken.

änderungen, schaffenheit

hinzugedacht

Und jede

dieser Ver­

die besondere Natur und jeweilige Be­

der in sie verflochtenen Dinge, muß eine solche sein,

welche, in und mit ihrem eigenen Fortgänge, auf einem gewissen Punkte desselben zu der nächstfolgenden Veränderung wird.

ist diejenige Veränderung,

Nebrigens

nach deren Ursache wir fragen, häufig

bloß ein Theil des gesammten durch diese gebrachten Neuen; z. B.

mit

dem Anprall einer rollenden Billardkugel gegen eine andere,

ruhende, ist nicht nur Bewegung der letztern, sondern auch Bewegungs­

änderung der erstem gegeben, auch vorübergehende Aenderung der Gestalten, auch Schallerregung. — So entschieden uns jedoch das

Causalgesetz im angegebenen Sinne von vornherein für jede Verän­ derung feststehen mag, so sind wir doch nur durch Erfahrung, und

zwar oft nur eine methodisch ausgebildete,

im Stande, für eine

bestimmte Veränderung ihre bestimmten Vorangänge auszumitteln. Wir dürfen daher nicht jedem besondern uns einleuchtenden CausalHebt er, Elemente e. vhiles. Frei bei tölehre. 2

18 Zusammenhänge die grundsätzliche Zuverlässigkeit

des

allgemeinen

Causalgesetzes beimessen, die jenem nur unter der Voraussetzung zu Statten kommt, daß wir auch wirklich die rechten Vorangänge ge­

troffen haben, und mit dem Wahrscheinlichkeitsgrade, womit wir uns

deffen versichert halten dürfen. Obgleich nun ein philosophisches System dem Causalgesetze eine

noch ganz andere und tiefer cindringende Behandlung, als die obige, zu widmen hat, so können wir uns doch sofort auf den Streit um

die Willensfreiheit einlaffen, da er sich zunächst nur auf die gewohn­

ten Causalbegriffe, wie ich sie hier zu verdeutlichen versucht habe, bezieht, und wir es unsern eigenen weitern Ergebnissen überlassen

dürfen, ob sie uns über jene hinausführen werden.

A.

Wider den Indeterminismus.

Wenn alle Veränderungen dem Causalgesetz unterworfen sind,

so scheint der Schluß unvermeidlich, daß dies auch vom Wollen, welches doch sicherlich eine Veränderung ist,

verwahren sich selbst Jndeterministen häufig Wollen vom Causalgesetz ausnähmen.

gelte.

In der That

dawider,

daß sie das

Ihre Lehre, sagen sie,

sei

nicht, daß das Wollen ursachlos, sondern nur, daß der Wille selbst die Ursache, oder doch die rechte, die letztlich entscheidende Ursache

sei.

Sie mögen sich jedoch vor Allem darüber erklären, ob sie auch

dies, daß überhaupt die Menschen wollen, als abhängig von deren Willen betrachten.

Sie

werden

gestehen

müssen,

daß wir mit

gleicher Unvermeidlichkeit, wie vorstellende und fühlende Wesen, auch wollende sind, und also wenigstens in diesem Sinne gilt: wir müssen

wollen,

mögen wir es wollen oder nicht.

Oder wenn sie es nicht

gestehen, so werden wir an ihrer Stelle uns verwundern, daß sich noch nie ein Wesen von sonstwie geistigem Gebahren hat auftreiben lasten, das gar nie wollte, sei es daß es sich alles Wollens enthielt,

ohne auch nur dieses Sichenthalten zu wollen, oder daß es von seiner Willensfähigkeit nur den Gebrauch machte, aller Verlockung zu einem weitern Wollen zu widerstehen.

Jedenfalls behaupten nun aber alle

19 Jndeterministen von jedem bestimmten, jedem So-und-so-Wollen, daß es letztlich nur vom Willen abhange. Dies aber scheint nur bedeu­ ten zu können, daß das Wollen selbst ein Gewolltes, also Gegenstand eines Wollens, sei. Das Gleiche wird dann aber auch von dem letztern Wollen gelten, und also zu jedem einzelnen Wollen eine unendliche Reihe von Wollnngen gehören. Davon weiß doch nicht nur unser Bewußtsein Nichts, sondern es würde so auch die Freiheit von jedem Wollen hinweg immer wieder auf ein anderes und früheres geschoben — kaum unbedenklicher, als der Jndeterminist die in's Unendliche zurüülaufendc Causalreihe bei seinem Gegner findet. Ebenso wenig, wie jedes Wollen von einem andern Wollen, wird man es von irgend einem sonstigen Thun des Willens herleiten können, welcher sich dann also mit verwunderlicher Vielseitigkeit noch auf andere Dinge verstehen müßte, als auf das Wollen. Der Wille ist überhaupt, als etwas vom Wollen Verschiedenes gefaßt, eine bloße Abstraction, die als solche unmöglich ein Wollen und ein bestimmtes Wollen haben oder bewirken kann. Alles Reale, was durch das Wort Wille bezeichnet wird, kommt auf das wollende Subject und dessen Wollungen hinaus. Auch der Sprachgebrauch sagt nur vom Menschen selbst, nicht aber von dessen Willen, er wolle; ganz ebenso, wie er zwar vom Vogel, aber nicht von dessen Fluge sagt, daß er fliege, und jenem auch ein Fliegenwollen, aber nicht einen Flugwillen, der fliegen wolle oder dieses Wollen verursache, zuschreibt. Zwar wird unter Wille oft ein bloßes Vermögen, zu wollen, verstanden. Aber wenn gleich man diesen Ausdruck gebrauchen kann, ohne damit die Vorstellung eines seltsamen Mitteldinges zwi­ schen Möglichem und Wirklichem zu verbinden, so entstände doch bei jedem Willensact die Frage, warum es nicht bei dem bloßen Ver­ mögen geblieben sei, und man müßte also dem Willensvermögen selbst wieder ein Vermögen beilegen, nämlich das: sich nach Belieben loszulassen oder zurückzuhalten, oder dem das Willensvermögen besitzenden Subjecte das Vermögen, derart über jenes zu verfügen. Mit der Aussage, der Wille selbst sei die Ursache des Wollens, ist also die Behauptung, daß es eine Ausnahme vom Causalgesetze bilde, nur verhüllt, nicht aufgegeben.

20 Wir müssen aber dem Begriffe des Wollens näher treten, nach­

dem wir von ihm bis seht nur das Allgemeinste, wonach er unter den Begriff der Veränderung fällt, berücksichtigt haben.

Wenn die

Stärke des Determinismus auf diesem Allgemeinsten beruht, betont der Indeterminismus

Veränderung.

so

das Unterscheidende dieser besondern

Wir dürfen uns nicht weigern, ihn darüber anzuhören,

so wenig wir auch im Voraus begreifen mögen, wie die Eigenthüm­

lichkeit eines Falles diesen von einem für alle Fälle derselben Art verbindlichen Gesetze sollte lossprechen können.

Da wäre es nun

keine geringe Erleichterung der Arbeit, wenn es eine unangefochtene

Begriffsbestimmung des Wollens

Dies würde aber voraus­

gäbe.

setzen, daß die Arbeit bereits gethan,

betheiligen, schon geschlichtet wäre. der Willensfreiheit behaupten eben,

der Streit,

Die entschiedensten Vertheidiger

daß gar keinen Begriff vom

Wollen habe, wer diesem die Freiheit abspricht,

geben ihnen den Vorwurf zurück. die,

zu ihrem Verständnisse,

woran wir uns

und die Gegner

Eine Definition des Wollens,

der Berufung auf die eigene innere

Erfahrung des Hörenden entbehren könnte, wird auch nie möglich

sein; jedenfalls macht das Nachfolgende keinen Anspruch darauf, eine solche zu liefern.

gewonnen,

Es ist jedoch in derartigen Fällen

schon

viel

wenn die sich mit einander Unterredenden wissen, von

welcher innern Erfahrung es sich handelt.

Und in unserm Falle ist

ein allzuweites Auseinandergehen schon darum nicht zu befürchten, weil unser Absehen auf das Wollen in derjenigen Bedeutung gerichtet

ist, worin dieses Wort in der Freiheitsfrage genommen zu werden pflegt.

Im Bereich dieser Frage nun wird so gut wie allgemein,

übrigens im Einklang mit dem auch sonst entschieden vorwiegenden Sprachgebrauch, von einem Wollen erst da geredet, wo wir im Be­

wußtsein eines uns dafür geltenden Werthes eine Thätigkeit aus­ üben,

die unserm geistigen Innern angehört,

und von der wir

glauben, daß sie zur Verwirklichung oder Sicherung dieses Werthes

diene, oder doch

der,

soviel von unserm geistigen Thun abhängt,

entscheidende Schritt zu diesem Ziele sei.

Daß das Wollen häufig

auf eine bloße Vertreibung von Uebeln, also Unwerthen geht, fällt unter denselben Gesichtspunkt, da die Beseitigung eines Unwerthes

21 gleichfalls ein Werth ist.

Gewöhnlich sodann handelt es sich

hei

dem Wollen um eine Bewegung unseres Leibes oder eine durch sie

vermittelte Veränderung der Außenwelt; aber der gewollte Werth kann auch ein geistiges Gut sein, z. B. wenn wir über die Freiheits­

frage in's Reine kommen wollen; und auch im erstern Falle ist es uns nicht bloß um das äußere Thun oder Werk, sondern zugleich

nm eine daherige innere Befriedigung und also ein Gefühl zu thun, wie wir ein solches Wcrthbewußtsein auch bereits als Ausgangspunkt Das Verhältniß zwischen Wollen und Fühlen

des Wollens kennen.

näher zu besprechen, indem wir jenes zugleich gegen

ist alsbald

einige andere ihm noch verwandtere und daher häufig mit ihm ver­ wechselte Seeleuvorgänge abgrenzen,

was am faßlichsten unter Be­

rücksichtigung des beiderseitigen Verhaltens zu gewissen Leibesbewe­

gungen geschehen wird.

Bekanntlich gibt es unter unsern Bewegungen neben solchen,

die wir überhaupt nie in unsere Willensgewalt bekommen, andere, welche zwar zuerst gleichfalls ungewollt vor sich gehen, aber nachmals

dem Willen

dienstbar und in diesem Dienst ausgebildet werden;

ursprünglich werden sie entweder durch Uebertragung von Reizungen sensibler Nerven auf motorische mittels der Centralorgane des Ner­ vensystems, oder durch innere Vorgänge dieser Organe selbst erregt — im erstem Falle werden sie reflectorisch, im letztern automatisch

oder spontan

im engern Sinne

genannt.

Auch Bewegungen, die

bereits von einem psychischen Geschehen abhangen,

können noch un­

willkürliche sein, vor Allem die dem bloßen Ausdrucke von Gemüths­

regungen

dienenden,

Willen hervorzurufen

vermögen.

Wir

wenn

gleich wir nachträglich auch ihn mit

oder doch

bringen

es

mehr oder minder zu beeinflussen

hiezu

überhaupt

nicht

mit

allen

den in Rede stehenden Bewegungen in gleichem Maße; während nicht wenige, z. B. diese oder jene Handbewegungen, späterhin voll­

ständig von unserm Wollen beherrscht erscheinen, lassen manche auf immer nur gewisse Abänderungen ihres unwillkürlichen Ganges zu, z. B. das Athmen.

Die Erfahrung bietet aber auch den umgekehr­

ten Fall, daß Bewegungen, die man für rein willkürliche zu halten pflegt, diesen Charakter allmälig verlieren, daß z. B. Kunstfertigkeiten,

22 die man doch nicht ohne vielfältige Willensanstrengungen erworben zu haben sich bewußt bleibt, durch lange Uebung mechanifirt werden

und damit theilweise wieder reflectorische oder automatische Gestalt annehmen.

Eine vollständige Theorie des Willens würde auch die

Frage zu behandeln haben, welcher Einfluß auf diesem Gebiete den

Abstammungs- und Vererbungsverhältnissen beizumessen sei.

Ich

werde es aber hier bei dieser Erwähnung um so eher bewenden lassen dürfen, als es für unsere Aufgabe nicht sowohl darauf an­

kommt, wie die im Beginne des Einzellebens unwillkürlichen Bewe­ gungen, die später zu willkürlichen werden, ihrerseits entstanden sein

mögen,

als vielmehr darauf, was sie als Voraussetzungen solcher

bedeuten, und Niemand meinen wird, daß die besagten Verhältnisse

unmittelbar ein eigentliches Wollen Hervorrufen. Es gibt überhaupt keine rein willkürlichen Bewegungen unseres Leibes in dem Sinne, daß wir solche zu unserm Besten frischweg

ersönnen und ursprünglich hervorbrächten.

Um eine bestimmte Be­

wegung wollen zu können, müssen wir sie vor Allem für eine unserm Leibe mögliche halten.

Aber darauf allein hin werden wir sie noch

nicht in unsern Dienst berufen; außerdem daß es fraglich wäre, ob

sie dem Rufe folgen würde, müssen wir auch Etwas von ihrer Diensttauglichkeit wissen, und

demgemäß von der gewollten und

geschehenden einen der Mühe werthen Erfolg erwarten.

So wenig,

wie wir ohne diese Voraussetzung ein uns bereits geläufiges Wollen zu wiederholen pflegen, wird ohne sie ein Wollen erstmals aufgetreten sein.

Aber es läßt sich nicht absehen, woher sie uns gekommen sein

sollte, wenn wir keine ihr entsprechende, wenigstens auf sie hinlei­

tende, Erfahrung gemacht hätten.

Die in Rede stehende Bewegung

muß schon als ungewollte, wäre es -auch in noch so rudimentärer Gestalt und einer weitern Ausbildung eben erst durch das Wollen entgegcngehend,

ein uns zusagendes Ergebniß geliefert, d. h. uns

eine Lust bereitet oder uns von einer Unlust erlöst haben.

Dies

kann wenigstens für diejenigen nicht zweifelhaft sein, welche mit mir von keinem Wollen wissen, das nicht, und zwar bewußterweise, auf einen Werth gerichtet wäre, und von keinem Werthe, dessen An­

erkennung nicht letztlich auf Gefühl beruhte.

23 Ein solches Glück nun aber mit Willen herbeizuführcn, wenn es sich nicht so von selbst einstellen will, von dieser Kunst ist jetzt zu reden.

Sie wird nicht erlernt ohne ein neues Entgegenkommen

des Ungewollten.

von Seiten

vorstellen,

Gewiß nämlich darf man sich nicht

daß das nachher wollende Subject,

oder gar der Wille

selbst in Person, nachdem er einmal in dem ihm zugesellten Leibe so nützliche Bewegungen entdeckt, sich dies klüglich für spätere Nöthen gesagt sein lasse, wo es dann zur Abhülfe hinreichte, daß der Wille

eben der Wille ist.

nichts Wirkliches, vorhanden.

Wille im Unterschied von Wollen ist überhaupt und ein Wollen ist bis auf Weiteres noch nicht

Nun ist freilich einerseits noch keiner Psychochemie ge­

lungen, dasselbe aus bloßem Nichtwollen herzustellen; und anderer­

seits möchte es sich auch nicht lohnen, sondern nur eine Theilung und zum Theil Ortsverlegung der Schwierigkeit bedeuten, den Be­

griff des Wollens dermaßen zu leeren, daß das Wesentliche schon den ersten Anfängen des psychischen Geschehens zugehörte.

Genug

einstweilen, wenn in unserm leiblichen und seelischen Leben Hergänge stattfinden,

welche sich als Vorbereitungen auf das Wollen dann

bezeichnen lassen, wenn wir nun einmal überhaupt die Fähigkeit zu

ihm

haben — auf vergleichbare Weise, wie auch kein Talent sich

ohne förderliche Bedingungen entfaltet.

Ein Vorspiel auf das Wollen

darf es bereits genannt werden, wenn das Gefühl einer Lust oder Schmcrzenslinderung zufällig mit einer Bewegung des Leibes zu­

sammentrifft,

durch welche es unterhalten oder erhöht wird und

welche nun auch ihrerseits einen belebenden Einfluß von ihm erfährt (A. Sain).

Ein Lustgefühl mag auch begünstigend auf eine Bewe­

gung zurückwirken, durch die es von vorn herein hervorgerufen wor­

den ; als Abhülfe gegen einen Schmerz kann sich auch eine durch ihn selbst verursachte, dann aber durch den guten Erfolg noch bestärkte Veränderung erweisen; und es mögen Zusammenhänge solcher Art so gut, wie die einzelnen Hergänge selbst, in dem Wesen oder der Entwicklung des Organismus begründet sein.

nicht selbstverständlich,

Es wird jedoch damit

daß sich ein bisher ungewolltes Geschehen

weiterhin auch in ein gewolltes verwandle. Für's Erste haben wir nur Umkehrung der Folge: Bewegung

24 — Gefühl in die Folge: Gefühl — Bewegung; zu einem Wollen aber gehört mehr, als nur eine solche, wenn auch bereits Psychisch

begründete, doch ungesuchte Hervorrufung eines Wohlbefindens oder

nur Begünstigung eines ohnehin begonnenen.

Hingegen wird man

meinen, es müsse sich, wenn auch noch nicht ein eigentliches Wollen,

doch wenigstens etwelches Streben natürlicherweise da einstellen, wo ein Schmerz- oder Entbehrungsgefühl keine so mühelose Abhülfe

findet.

Freilich ist dies natürlich, in dem Sinne: der uns bekannten

Menschennatnr frühzeitigst angemessen; nicht aber ebenso in dem,

daß das Gefühl gar nicht denkbar ohne die Zugabe wäre.

Nament­

lich läßt sich ein Streben mit der Richtung auf ein bestimmtes Lust

bringendes oder Unlust beseitigendes

Geschehen

oder einen

dazu

dienlichen Gegenstand — also was man Begehren oder gar schon

Wollen nennt — bei einem Menschen nicht nachweisen, wenn noch keinerlei ähnliche Erfahrung den Weg gezeigt.

Hat dies aber einmal

oder öfter durch die, ohnehin auf diesem Gebiete nie zu entbehrende, Gunst der Organisation und ber Umgebung stattgefunden: so kann,

wenn nachmals eine Erinnerung an die genossene Lust oder näher die Lust selber als eine erinnerte und innerlich erneuerte eintritt, oder eine Unlust gleich der vordem getilgten oder gelinderten wieder­ kehrt — dann kann schon die Eine oder die andere, mit Hülfe ihr

seitdem vergesellschafteter Vorstellungen, dazu hinreichen, die damalige

Bewegungsempfindung und durch deren Vermittlung die Bewegung

selbst wiederhervorzutreiben.

Aber noch immer kein Wollen, sondern

nur erst ein Trieb ist es, wovon ich rede, oder bloße Aeußerung

eines solchen, wenn man nämlich unter Trieb nicht das bezeichnete

Verhalten selbst, sondern die Eigenschaft oder Anlage des Subjects versteht, welcher gemäß jenes stattfindet, und welche natürlich dessen

sonstigem Wesen nicht erst durch besondere Erfahrungen anwächst, was ich im Voraus auch in Betreff der Willensfähigkeit als zuge­ standen betrachte.

Versteht man unter Trieb das erwähnte Verhalten

selbst, so ist mit Lotze zu sagen, daß Triebe aus Gefühlen und zwar nur durch hinzukommende Erfahrungen entstehen, Hunger und

Durst z. B. zunächst bloße Schmerzgefühle seien.

Solches Treiben hat nun doch mit dem Wollen schon das gemein,

25 daß das Subject von seinem geistigen Innern aus auf einen ihm

werthen Erfolg gerichtet ist und ihn unter günstigen Bedingungen,

ohne die ja auch das Wollen fruchtlos bleibt, herbeizuführen vermag. Auch von einer Thätigkeit läßt sich füglich bereits reden; aber sie fließt, auch wenn wir sie von einem noch so Hellen Bewußtsein über

ihr Ziel und ihre einzelnen ihm zuführenden Schritte begleitet denken, noch völlig mit der innern Bestimmtheit zusammen; das Subject ist

in diese so versunken, daß es mit seinem dermaligen Dichten und

Namentlich fehlt noch ein auf Ueber-

Trachten ganz darin aufgcht.

legung beruhendes Wählen zwischen verschiedenen möglichen Werthen, wie es nicht selten für die Hauptsache am Wollen gehalten wird.

Nach dieser Ansicht wäre also zu jedem Wollen erforderlich, daß das

Subject den betreffenden irgendwoher entstammten Anspruch an sein praktisches Vermögen zuvor gegen andere Ansprüche daran abschätzte und ihnen überlegen fände.

Wo hingegen Jemand dem Anreiz zu

einem Handeln unverzüglich nachgibt, wäre von einem Wollen selbst

dann nicht zu reden, wenn sich für ihn unmittelbar au die Kenntniß­ nahme von einer bestimmten Lage der Dinge die Einsicht geknüpft

hat,

daß es eine bloße Anwendung feststehender Grundsätze gelte,

oder wenn

er den gegenwärtigen Fall sofort als gleichartig mit

andern Fällen erkennt, in welchen er so und so verfahren ist und

daran wohlgethan zu haben sich erinnert.

Es mag in diesen frühern

Fällen oder bei der Feststellung der Grundsätze Wahl statkgefunden

haben; jetzt ist vom Gegenwärtigen, dem jeweiligen Willensact, die Rede.

Hier mag zwar noch eine Besinnung darüber stattfinden, ob

wirklich die erwähnte Folgerichtigkeit vorhanden sei; aber diese Be­ sinnung ist kein Schwanken zwischen verschiedenen Zielen oder Wegen, wie es einer Wahl vorangeht.

Jemand kann sogar zu einem ihm

sehr ungewohnten Thun, z. B. einem Act der Nothwehr, augenblicklich

und doch mit voller Besonnenheit sich entschließen, ohne daß dabei sein Verhalten zu möglichen Gegengründen ein anderes wäre, als daß er keinen solchen, und auch keinen, sich nach einem umzusehen, gewahrt.

Der Sprachgebrauch Pflegt in allen diesen Fällen den

Ausdruck Wollen unbedenklich zu finden; und es wird damit auch dem für uns hier schwerer in's Gewicht fallenden Bedürfnisse sachlich

26 richtigen Unterscheidens und Zusammenfafsens gedient sein.

Aehnlich

pflegen wir, um zu beurtheilen, ob ein Prädicat P einem Subject 8 zukomme, nicht jedesmal die Möglichkeit, daß 8 nicht P sei, zu er­ wägen; es genügt, daß wir geradezu die Uebereinstimmung zwischen

beiden Begriffen einsehen; erst wenn wir einen Gegengrund bemerken

oder für möglich halten, werden wir uns mit dem verneinenden Urtheil befassen.

Und so wenig, wie hier die größere Umständlichkeit

zugleich höhere Vollkommenheit besagt, ist ein wahlloses geradehin

Wollen

einem mit Wahl nachzusetzen; ohne alle Wahl immer

sogleich das Rechte zu erkennen und zu ergreifen, wäre ja offenbar

das Beste. Aber so viel ist allerdings zum Wollen im Unterschied von

bloßem Trieb unerläßlich,

daß das Subject nicht bloß, wie schon

bei'm Trieb, eine zielstrebige Thätigkeit, eine bis zu einem gewiffen

Grad auch bewußte, ausübe, sondern daß es darin zugleich als ein

über seine jeweilige besondere Bestimmtheit noch hinausragendes

einheitliches Ganze thätig sei und thätig sich wiffe.

Und zwar ist

das so verstandene Wollen weder eine von den Trieben des Subjects rein unabhängige Zuthat zu ihnen, noch eine aus dem bloßen Be­ griffe des Triebes mit logischer Nothwendigkeit ableitbare Consequenz

des letztern, sondern eine zwar durch das Triebleben bedingte und vorbereitete, aber doch neue und originelle Selbstbethätigung.

Ueber­

sicht man die Bedingtheit, so könnte das Wollen eine bloße Forma­ lität zu sein scheinen, also Etwas, dessen große Bedeutung für unser Geistesleben sich schwer begreifen ließe.

Aber seine Form ist nicht

eine leere, sondern eine von bestimmtem das wollende Subject interesfirendem Inhalt erfüllte; und das Interesse ist ein solches, welches der

Wollende als ein mit seinem Interesse überhaupt, wie er dieses gerade jetzt versteht, einiges betrachtet.

Hiermit könnte man nun umgekehrt

sogar zu viel gefordert meinen, wenn man etwa an ein so unwich­ tiges Wollen, wie das aus einen Spaziergang gerichtete, denkt.

Aber

wenn es nur wirklich ein Wollen ist, so wird der Wollende den

Gang „seinem" gegenwärtigen Interesse entsprechend finden.

Zwar

für je unbedeutender Jemand ein Vorhaben ansieht, desto rascher und summarischer

wird er

dessen Verhältniß

zu seinen übrigen

27 Interessen beurtheilen — „unbedeutend" besagt hier eben: keiner besondern Erwägung nach dieser Seite hin bedürftig. Die Rücksicht­ nahme ans andere Interessen mag also einem bloßen Nichtbewußtsein von Unverträglichkeit mit denselben beliebig nahe kommen; wenn aber doch ein Wollen stattfinden soll, darf sie nicht gänzlich fehlen. Hat sich ein oftmals gewolltes Thun so mechanisirt, daß es schon auf die gedankenlose Wahrnehmung des gewohnten Anlasses erfolgt, so ist es nur noch ausnahmsweise ein gewolltes zu nennen. Z. B. das übliche zur Begrüßung dienende Hutabziehen Pflegt sich von einer bloßen Reflexbewegung nur noch dann sicher zu unterscheiden, wenn es mit einer überschüssigen Höflichkeit oder umgekehrt mit einem Selbstzwang gegen eine entgegengesetzte Regung geschieht; und das Handaufheben, zuweilen sogar das Sprechen, bei Beschlußfassungen wird nicht selten eine bloße Nachahmungsbewegung sein. Wenn Jemand gar eine That begangen hat, welche einem ihm sonst anliegenden Interesse dermaßen zuwiderlief, daß wir sie, wie wir uns dann auszudrücken pflegen, ganz „unbegreiflich" finden, und überzeugt sind, er würde sie unterlassen haben, wenn er „bei sich" gewesen wäre: so heißt dies soviel wie ihr Gewolltsein bezweifeln. Damit es zu einem Wollen komme, muß das Subject sich, selbst gegenüber dem jeweilen vor­ lautesten Interesse, in der Verfassung befinden, auch andern ihm sonst eigenen Interessen wenigstens Audienz zu geben, wenn er die letztern durch das erstere gefährdet zu finden ohne besondere Ein­ genommenheit für dieses nicht umhin kann. Die Ausdrücke „vorlaut" und „Eingenommenheit" verrathen zwar, daß ich hier vornehmlich an den Fall gedacht habe, wo das nächste Interesse eine zweifelhafte Berechtigung hat; aber auch dem berechtigtsten gibt ein Wollender sich nicht blindlings hin. (Vgl. zum Vorstehenden besonders C. Sigwart, Der Begriff des Wollens und sein Verhältniß zum Begriff der Ursache, Kleine Schriften, 2. Reihe). Zwischen Wollen und bloßem Trieb zu unterscheiden, mag nach alle dem in den einzelnen Fällen oft schwierig oder unmöglich sein; und deßhalb ist es in der Ordnung, daß man da, wo es um eine ganz zuverlässige Ueberzeugung vom Vorhandengewesensein eines Wollens zu thun ist, die ausführlichere und hiedurch nachweislichere

28

Form desselben im Auge hat, wie sie bei Ueberlegung und Wahl­ entscheidung stattfindet. Aus dem allgemein psychologischen Gesichts­ punkte hingegen wird die Grenze auf die angegebene Weise zu be­ stimmen sein. Schon im einfachsten Falle gehört hienach zum Wollen ein gewisses Darüberstehen über dem jeweilen nächsten Inter­ esse, eine gewisse — Freiheit des Subjects von demselben. Da wären wir ja, indem wir vorerst nur vom Wollen im Allge­ meinen, noch nicht von seiner Freiheit zu reden gedachten, unversehens bereits auf sie gestoßen, und hätten sie sogar wider Verhoffen in jenem selbst enthalten gefunden; wir hätten, könnte es also scheinen, unsere Fahrt vollendet, während wir mit unserm Nachen erst aus­ gelaufen zu sein meinten. Der Leser greift es mit seinen Händen, daß wir noch fern vom Ziele sind. Nur so viel behaupte ich für jetzt, daß wir allerdings eine gewisse Freiheit dem Wollen schon seinem Begriffe nach zuschreiben dürfen. Nicht nur nämlich ist das Wollen oder der Wollende, schon wenn und inwiefern jenes nur überhaupt, abgesehen von der besondern Art dieses Thuns, unge­ hindert von Statten geht, frei zu nennen — was sogar, und in einem gewissen Gegensatze hiezu, von jedem sich jeweilen durchsetzenden Interesse gilt — sondern der Wollende ist auch gegenüber seinen Interessen frei, sofern er durch keines derselben so herrisch in Beschlag genommen ist, daß er nicht dessen Andrang so weit zurückzudämmen und von sich abzuhalten vermöchte, um nun erst, und jetzt von sich aus, den erhaltenen Antrieb gutzuheißen oder abzuweisen. So hoch auch aber diese Freiheit des Wollens anzuschlagen sein mag, so wenig ist damit unsere Streitfrage beantwortet, die nicht dahin lautet, ob es Freiheit des Wollens in irgend einem Sinne, sondern dahin, ob es Freiheit deffelben vom Causalgesetze gebe, ob nicht die so eben frei genannte Bevorzugung eines bestimmten Interesses ihrerseits doch mit strenger Causalnothwendigkeit erfolge.

Die Entscheidung wird nicht selten in der Eigenartigkeit der unter dem Ausdruck Motiv zusammengefaßten Willensursachen ge­ sucht, welcher sich auch noch von dem nahe verwandten „Interesse" unterscheidet, da nicht ein Motiv, wohl aber ein Interesse das Gemüth

29

auch dann erfüllen kann, wenn es in der gegebenen Lage der Dinge nicht zu einem Wollen anzuregen angethan ist. aber auch

Wie Mannigfaltiges

noch unter Motiv verstanden wird, sieht man an den

Antworten, die man erhält, wenn man eine Anzahl von Personen

über das Motiv einer Handlung befragt, und die auch daun ver­ schieden zu lauten pflegen, wenn die Befragten im Grunde einig sind.

Die sämmtlichen Bedeutungen werden sich indessen auf folgende

drei zurückführen lassen:

1) ein Gefühl oder überhaupt Gemüths­

zustand, welcher das sich darin befindende Subject zu einem Wollen anreizt;

2) ein diese oder jene Classe solcher Gemüthszustände be­

günstigender Zug in dem mehr oder weniger eigenthümlichen Wesen

des Subjects; 3) der von dem Subject vorgestellte Werth, welchen es verwirklichen oder sicherstellen will.

Zur sprachlichen Bezeichnung

dieser verschiedenen Motive liegen die Ausdrücke Reiz, Triebfeder und

Zweck bereit.

Fügt z. B. Jemand einem Andern einen Schaden zu,

um sich wegen einer Beleidigung zu rächen, so wird man die letztere Reiz, die Rachsucht Triebfeder, die Rache Zweck, und bald das Eine,

bald das Andere, bald auch alle drei, Motiv nennen.

was den Reiz betrifft,

Doch wird,

dieser Ausdruck, abgesehen jetzt von seiner

biologischen und psychophysischen Verwendung, auch für den Gegen­ stand

oder Vorgang

gebraucht,

welcher ein Wollen

oder zunächst

jenen Gemüthsreiz hervorruft, und welcher, selbst noch als vorge­ stellter oder erkannter, ein bloß äußerer Reiz ist im Verhältniß zu

dem, was ein Reiz in der uns hier allein angehenden Gemüths­ sphäre bedeutet.

Sinne scheint,

Vorzugsweise nur einen innern Reiz im letztem neben Triebfeder und Zweck, der auch hier etwas

unsichere Sprachgebrauch Motiv zu nennen.

Gesetzt, jene Beleidigung

habe in einem Schimpfworte bestanden, so sagt man zwar entschieden,

daß dieses den Rächer gereizt habe, wird es aber nicht ebenso allge­ mein Motiv betiteln, und wenn man dies thut, vielmehr das zuge-

sügte Leid und die quälende Erinnerung an das Erlittene, als das böse Wort selbst, meinen.

Die Beschränkung der Triebfeder auf das

unter Nr. 2 Gestellte wird kaum einer Rechtfertigung bedürfen; und an der Triebfeder in diesem Sinne scheint das Wort Motiv

sichersten zn haften.

am

Doch pflegt gerade sie nicht in das Bewußtsein

30 des Handelnden zu fallen; der Rächer im obigen Beispiel weiß zwar, daß und wetzhalb er sich rächen will, wird aber Nichts davon wissen

wollen, daß er ein rachsüchtiger Mensch sei, welche Einsicht ja auch weniger dazu geeignet wäre, ihn zu der That anzutreiben, als ihn

davon abzuhalten.

Bei dem Zwecke, unter dem ich hier Endzweck

verstehe, ist jeweilen noch zu unterscheiden, was außerhalb und was innerhalb der Gemüthssphäre des Wollenden das Letzte ist, worauf

dieser ausgeht, bei jener Rachethat die Zurückerstattung des erfahrenen

äußern und innern Leids, und die davon erwartete eigene innere Befriedigung.

Ferner kann ein Zweck zwar nicht Motiv desjenigen

Wollens heißen, dessen Gewolltes er unmittelbar selbst ist, aber des­

jenigen, womit man etwas zur Ausführung dieses Wollens Nöthiges, ein Mittel des Zweckes, will; unter dem Wollen das des Zweckes

verstanden, ist dieser nicht Motiv, sondern Correlat des Wollens,

während jenes seinerseits durch innern Reiz und Triebfeder motivirt ist (Vgl. Sigwart a. a. O.).

Man wird aber noch wünschen, diese verschiedenen Bedeutungen von Motiv in Eine zusammengezogen zu sehen, und der Wunsch scheint ohne Gewalt gegen den Sprachgebrauch erfüllbar.

nügt nicht, da es nur Uebersetzung ist.

„Beweggrund" ge­

„Willensursache" ist zu weit;

denn es gibt auch Ursachen des Wollens, die es nicht motiviren, vor

allen das wollende Subject selbst, als ein nicht in seinen Motiven auf­

gehendes.

Nur eine auf das Subject wirkende Ursache, eine, die sich

als solche, auch wenn sie, wie die Triebfeder, ihm innerlichst zugehört,

wenigstens betrachten läßt, heißt Motiv, und auch von solchen Ursachen nicht jede.

Umstände und Vorgänge, welche zu einem Wollen voraus­

gesetzt sind, um nur überhaupt Gelegenheit oder Stoff zu ihm zu geben oder an dessen Ausführbarkeit glauben zu lassen, sind zu seinen Ur­ sachen oder Bedingungen, aber nicht zu seinen Motiven zu zählen.

Stünde z. B. nicht eben jetzt die Abfahrt eines Eisenbahnzuges nach

einem nahen Ort bevor, so würde ich zu Fuß dahin gehen; aber daß

ich lieber den Zug benutze, ist nicht durch den Fahrtenplan motivirt.

Abgesehen ferner davon, daß es rein unbewußte, uns vielleicht nie be­ wußt

gewesene

und

nie

bewußt

werdende

Vorangänge

unseres

Wollens geben mag, erwähne ich beiläufig, daß Leibnitz auch die

31 unmerklichen Vorstellungen und Neigungen, von welchen er einen

Theil der Motive „kommen" läßt, eben mit diesem Ausdrucke noch

von den Motiven unterscheidet.

Es gibt auch Neigungen, welche,

obgleich in unser Bewußtsein fallend und zu einem Wollen mit­ wirkend, doch diese Mitwirkung selber nur unbewußterweise ausüben und für sich allein das Wollen auch nicht zu erwecken, aber doch das

sonstwie entstehende zu begünstigen vermögen — man denke etwa an den uns selbst verborgen bleibenden Einfluß, welchen die entfernte

Aehnlichkeit eines Hülfesuchenden mit einer uns werthen Person auf unsere Bereitwilligkeit haben kann; man wird nicht anstehen, diesen

Einfluß als Motiv, wenigstens als Nebenmotiv, zu bezeichnen.

Auch

mit Einrechnung solcher Fälle jedoch wird schließlich nur eine solche

innere Bestimmtheit Motiv zu nennen sein, welche durch sich selbst

vermag, einem zu wollen fähigen Subject in einer gegebenen äußern und innern Lage diesen oder jenen möglichen Willensinhalt werth oder werther zu machen.

Der Bereich des Wortes bleibt auch so

noch weit genug, da sich darunter nicht nur innerer Reiz, Triebfeder

und Zweck,

sondern das Motiv selbst in der hier übrigens seitab

liegenden ästhetischen Bedeutung, als Reiz zu einem künstlerischen

Wollen und Schaffen, befassen läßt; neben welcher Bedeutung ohnehin

auch unsere allgemeinere auf die dichterische Motivirung von Hand­

lungen anwendbar bleibt. Der Ertrag der letzten Erörterungen für unsere Aufgabe ist nun

aber doch nur dieser, daß wir zwar in den Motiven eigenthümliche Willensursachen kennen gelernt, aber in dieser Eigenthümlichkeit bis

jetzt so wenig, wie in der des Wollens überhaupt, einen Grund ent­ deckt haben, das Causalgesetz zu Gunsten dieses besondern Vorganges einzuschränken.

haben,

Bis auf Weiteres werden wir also daran festzuhalten

nicht zwar, daß die gleichen Motive immer unausbleiblich

das gleiche Wollen nach sich ziehen — denn dafür müßten auch alle

übrigen innern und äußern Bedingungen die gleichen sein, es kann ja z. B. noch im letzten Augenblick eine bloße Ablenkung der Auf­

merksamkeit das Zu-Stande-Kommen des Entschlusses auf immer verhindern — wohl aber, daß jenes unter der so eben angegebenen Voraussetzung

der Fall sein würde.

Gleichviel welcher Art die

32 Willensursachen sein mögen — es scheint dabei bleiben zu müssen, daß es keinen Verlaß auf das Kausalgesetz auf irgend einem Gebiete

gäbe, wenn auch nur Einmal bei der Wiederkehr vollkommen gleicher

Voraussetzungen unsere Erwartung gleichen Erfolges trügen, oder in Einem und demselben Falle Etwas ebenso gut eintreten, wie nicht

eintreten, könnte. Unbeschadet dieses Befundes, sowie der obigen Unterscheidung

zwischen Wollen und Wählen, ist jetzt noch ausdrücklich die Ansicht zu prüfen, daß das erstere sich doch eben in der Gestalt des letztern

und der ihm vorangehenden Ueberlegung am zweifellosesten als unab­

hängig von eigentlicher Determination erweise.

Der Ausdruck Wahl­

freiheit oder Willkür wird meistens sogar gleichbedeutend

Willensfreiheit gebraucht.

mit

Aber vorerst die Ueberlegung wird sich

meistens ohne besondern Entschluß einstelle», und wenn einer statt­

findet, so wird dazu ihr eigener durch die alltägliche Erfahrung er­ probter Werth determiniren.

Da ferner alles Wollen auch inhaltlich

auf einen zu verwirklichenden Werth gerichtet ist, so scheint, wo mehrere mit einander unvereinbare Werthe — seien es verschiedene mögliche

Zwecke oder nur Mittel zu einem Zwecke — sich um unsere Gunst bewerben, nur derjenige durchdringen zu können, der uns am besten zusagt, im Verhältniß zu welchem also jeder ihm widerstreitende ein Unwerth ist.

Man läßt dies auch vielleicht gelten, macht aber das

Wollen schon für diese Werthschätzungen verantwortlich; dasselbe soll im Stande fein, sich über die ihm zuvorgekommenen Schätzungen

hinwegzusetzen und das gegenseitige Verhältniß mehrerer Werthe, wenn nicht von vorn herein zu bestimmen, doch abzuwandeln.

Dann

wäre es also eine allgemein menschliche Kunst, was sonst für eine Eigenthümlichkeit der Sophistik gilt: die schwächere Sache zur stärkern zu machen; und jeder Mensch würde sogar in Einer Person zugleich

der Sophist und dessen gelehriger Schüler sein.

Nun ist es wirklich

nichts Seltenes, daß Jemand eine solche Figur macht und sich gegen

die Anerkennung eines Werthes nur darum sträubt, weil sie seinem persönlichen Interesse widerstreitet.

Das kann aber nur heißen: weil

dieses Interesse, wie er es gerade jetzt versteht, für ihn das größere

33 und also die stärkere Sache ist; wie es Andern, oder ihm selber ein

andermal, erscheinen mag, kommt hier nicht in Betracht; auch unter den eigentlichen Sophisten wird selbst der gewandteste jenes Kunst­ stück jeweilen nur darum auszusühren vermocht haben, weil ihm zur

Zeit ganz ernstlich sein Sophistenruf oder damit verbundene Vortheile

über Alles gingen.

Man kann sich ferner über die Stärke und ins­

besondere Beständigkeit seiner verschiedenen Motive täuschen, fest glauben,

kann

daß man im gegebenen Falle das Eine von zweien

bevorzugen werde, und folgt dann doch dem andern.

Wer dies aber

für ein Stärkermachen der schwächer» Sache hielte, möchte nur ge­ trost auch Jemandem, der in einen Laden getreten ist, um blaues

Tuch zu kaufen, dann aber rothes vorgezogen hat, nachsagen, derselbe sei unter die Färber gegangen. Denn so wenig, wie die Verschieden­

heit der Sachen oder Erscheinungen selbst, wird deren verhältnißmäßigc Werthschätzung mit Wahl gemacht oder geändert; sie macht oder ändert sich durch ein der Wahl entzogenes Urtheil.

Natürlich

aber meint, wer dann die Wahl von dem Urtheil abhangen läßt,

mit diesem nur das im Zeitpunkt der Wahl selbst geltende; und die Frage ist nur die, ob Jemand ein nach seiner eigenen gleichzeitigen

Schätzung — gesetzt auch, es gelte nach seiner Meinung einen bloßen

Ausnahmsfaü — Schwächeres bevorzugen und ihm den Sieg über ein nach seiner jetzigen Meinung Stärkeres zuwenden, also das von

ihm selbst für minder vorzüglich Angesehene als das Vorzüglichere behandeln könne, zu dessen Gunsten mit einem indeterminirten Wollen cinschreitend, während sonst das Andere siegen würde.

Ein solches

Wollen ließe sich auf zweierlei Art denken: es ist entweder, ohne Umkehrung der eigenen Werthansicht, unmittelbar der Wahlact selbst, oder es besteht in dieser Umkehrung, die dann den Wahlact nach

sich zieht; also entweder ein bloßes Wollen im Gegensatz zur gleich­

zeitigen Werthansicht, oder eine Werthansicht durch bloßes Wollen — Beides gleich ungereimt. Die Bestreitung

der indeterministischen Wahlfreiheit wird oft

wie eine Anfechtung der Thatsache des Wählens selbst ausgenommen, während

es sich

doch nur um

die Deutung dieser unbezweifelten

Nicht einmal in einer Lage, wo gesagt wird: gebier, Elemente e. v hi les. Freiheitölehre. Z

Thatsache handelt.

34 „Da habe ich keine Wahl", ist diese völlig ausgeschloffen; wo fie es

wirklich ist, wird man kaum so viel sagen; man meint in der Regel nur, daß es kein langes Besinnen brauche.

Oder wenn Jemand die

Wahl nur zwischen zwei Uebeln hat, z. B.

zwei Candidaten

bei

mancher Stichwahl für ein Parlament, so befindet er fich freilich in einer Zwangslage; aber innerhalb ihrer Schranken ist er ebenso

ungehindert zu wählen, wie zwischen Wahl und Enthaltung, und er zieht in beiden Fällen wieder das Stärkere, nämlich das geringere Uebel, vor.

Daß wir bei dem Wählen uns eines solchen Verhaltens

bewußt sind, ist doch gleichfalls Thatsache.

Es wird daher von

indeterministischer Seite auch wohl für eine zwar richtige, aber nichts­ sagende Behauptung erklärt, daß die sieghafte Sache und die stärkere stets zusammensallen; man verstehe da eben immer nur den erstem

Vorzug unter dem letztem, oder schließe höchstens nur aus jenem auf

diesen.

Daß jedoch Etwas im Werthbewußtsein stärker sei, und daß

es in der Wahlentscheidung siege, sind verschiedene Aussagen; und da Verschiedenheit zwischen dem Vorausgesetzten und dem Gefolgerten

die Bedingung eines jeden Schluffes ist, so ist damit gegen den angegriffenen Nichts auszurichten.

Ueberdies wird mit berechtigter

Zuversicht ost auch umgekehrt aus der Stärke auf den Sieg geschlossen,

und auf Grund der bekannten Gesinnung eines Menschen sein Ver­ halten vorausgesagt.

Nur ist zu berücksichtigen, daß hier das von

der Gesinnung abhängige Urtheil über das gegenseitige Werthver­ hältniß zweier Motive nicht das allein in Betracht Kommende ist.

Beide können ja auch durch ein drittes aus dem Felde geschlagen oder durch eine Veränderung in der sonstigen innern oder äußern

Lage der Dinge zur Ruhe gebracht werden.

Aber wenn überhaupt

nach einem der beiden gewählt wird, so geschieht es im Sinne des

stärkern.

Jenes Urtheil ist zudem häufig ein schwankendes, und

natürlich kommt es auch hier nur auf diejenige Pendel-Lage, welche im Zeitpunkte der Entscheidung stattfindet, an; wo denn so wunder­ volle Dinge zum Vorschein kommen können wie das Bekenntniß jener schofeln Mitbürger des Coriolan:

„Obschon wir willig (willingly)

für seine Verbannung stimmten, so war's doch gegen unsern Willen (against our will)."

35 Manche

Vertheidigung

einer

indeterministischen

Wahlfreiheit

ferner ist kaum anders erklärbar, als aus der unfeinen Verwechslung

zwischen „wählen" und „die Wahl haben", aus der Uebertragung einer Möglichkeit, welche der noch nicht Gewählthabende besitzt, auf

den Augenblick des Wählens selbst.

Solange er jenes bleibt, kann

er sich freilich noch für Eines oder ein Anderes entscheiden, d. h. es sind die Bedingungen

für jedes von Beiden theilweise,

aber für

keines vollständig gegeben, und darum ist es ebenso richtig, daß er

sich jetzt noch in der Unmöglichkeit befindet, eine Wahl zu treffen. Kommt es aber zu dieser, so ist es mit dem Diel-Wahl-Haben

vorbei, und die vorhergegangene Unschlüssigkeit kann nicht für gegen­ wärtiges Jndeterminirtsein zeugen; um so weniger, als auch schon

der Unschlüssige determinirt genug war, nämlich zum Noch-nicht-Wählen. In der letzter» Hinsicht machen wir uns durch das Wählen selber

frei, von einem lästigen Zustande, und finden uns dann sogar freier

nach der vielleicht unwiderruflich vollzogenen, als vor der noch aus­

stehenden Wahl; wiewohl dann möglicherweise eine neue Knechtschaft angeht.

Es kann auf den bloßen Umstand hin, daß Jemand noch

nicht gewählt hat, nicht einmal gesagt werden, daß er noch „ebenso

gut" für die Eine wie für die andere von zwei Möglichkeiten sich

entscheiden könne.

So kommt es freilich dem über ihn urtheilen

Wollenden vor, der sich wegen seiner unvollständigen Kenntniß der

Person und ihrer Verhältnisse auf Beides gleich gefaßt halten muß; sogar der vor eine Wahl Gestellte selbst kann darüber, wessen er sich letztlich von sich zu versehen hat, lang im Unklaren sein, ohne daß dies etwas Anderes als einen Mangel an Selbstkenntniß bewiese. Und nicht nur der Zustand vor der Wahl pflegt ein trügerisches Licht

auf sie in Betreff der Freiheit zu werfen, sondern ein solches fällt auch von vorn her auf sie, wenn eine spätere Sinnesänderung das

jetzt möglich Gewordene als schon damals ausführbar vorspiegelt. Indessen kann hier auch zu Gunsten des Determinismus ein Irrthum

stattfinden, wenn nämlich ein erst in einem bestimmten Zeitpunkte vorhandenes Nicht-mehr-anders-Können zurückverlegt und als Zeug­

niß wider ein jemaliges Anders-Gekonnthaben, selbst unter ganz andern Bedingungen, betrachtet wird.

Geschweige daß man hier 3*

36 dem Schluffe eines antiken Dialektikers Gewicht beilxgen dürste: aus

etwas Möglichem könne nichts Unmögliches folgen, etwas Vergangenes

aber könne unmöglich anders sein, als es ist, und also auch nie möglich gewesen sein.

Eine besondere Berücksichtigung endlich pflegt in der Freiheits­ lehre dem Falle zu Theil zu werden, wo die Wahl zwischen zwei an

sich völlig gleichwerthigen Dingen zu treffen ist, und die bedauerlichen

Folgen dieses Falles werden uns durch den Esel des Buridan

(wenn wir ihn wirklich diesem Scholastiker verdanken) zu Gemüth geführt.

Ein Esel, in gleicher Entfernung von zwei gleichen Heu­

bündeln, müßte verhungern, wird aus der deterministischen Lehre

gefolgert, und ihre Gegner meinen sie damit ad absurdum zu führen; sie ihrerseits halten dafür, daß der Langohr, oder doch der Mensch in ähnlicher Lage, kein solcher Esel sein würde, oder wo sie jenem

gleichfalls das Leben absprechen, machen sie dazu die unfreundliche Anmerkung: „weil's eben ein Esel ist."

Vielleicht beklagt ein exacter

Mann, daß sich hierüber nicht experimentell entscheiden läßt, da eine vollkommene und lange genug andauernde Gleichheit aller Umstände zu beiden Seiten einer durch den Esel hindurch gelegten verticalen

Ebene nicht herstellbar ist; und jedenfalls wird mit der bloßen Be­

rufung darauf, wie ein Experiment ausfallen würde, wenn man es anstellen könnte, Nichts bewiesen.

Uebrigens müßte, jene unmög­

liche Gleichheit einmal angenommen, der Esel unzweifelhaft verhungern.

Dies ist jedoch und sollte auch wohl ursprünglich nichts Anderes sein als eine Erläuterung, nicht eine Widerlegung, des Determinismus, der ja die Consequenz unbedenklich zugestehen, und vielmehr die ent­

gegengesetzte Meinung ungereimt finden wird, daß ein Gleichgewicht

aufhören könne ohne gestört zu sein.

Auch verhungert der Esel nicht

darum, weil er ein Esel ist; nicht seine Dummheit, sondern seine

dumme Lage bringt ihn um.

Selbst der klügste Mensch würde in

vergleichbarer Lage unschlüsfig bleiben, und bleibt es bekanntermaßen oft lange genug, wenn die unmögliche Voraussetzung annähernd statt­

findet, wie denn Aristoteles und Dante den Hunger nicht eines Esels,

sondern eines Menschen, als Beispiel gebrauchen.

Es können aber

die unbedeutendsten Ursachen den Ausschlag geben; und man darf

37 nicht etwa, wie oft geschieht, dem Jndeterministen antworten, bei so

geringfügigen Unterschieden möge die reine Willkür walten, dies sei

Dann hätte derselbe das

aber nicht für die Grundlehre beweisend.

Spiel gewonnen; denn ob es überhaupt solche Willkür gebe, ist die Frage.

Wer aber auch nur blindlings in ein ihm bei Tische dar­

gereichtes Brodkörbchen langt,

nimmt ohne Zweifel das ihm zum

Griffe bequemste Stück; und ich habe einen berühmten Juristen ge­

sehen, welcher zweierlei Cigarren bei sich führte, von den bessern ließ

er das flache, von den geringern das spitzige Ende aus der Tasche,

woraus er die Freunde wählen ließ, hervorragen, und er wird sich dabei gut gestanden haben.

Wozu doch — so liebt es der Jndeterminist seinem Gegner in

die Rede zu fallen — wozu dieser Streit, welcher im Voraus durch

das unmittelbare Selbstbewußtsein

eines Jeden

Aber dieses mag bezeugen, was es will: die Erfahrung oder

Denken

das

geschlichtet

ist!

wenn sein Zeugniß wider

so muß

aussagt,

es

verworfen

Die Thatsache des Streites selbst, zu dessen Niederschlagung

werden.

es angerufen wird, beweist, daß es im gegenwärtigen Falle ent­ weder gar nicht existirt oder die ihm zugeschriebene Kraft nicht be­

sitzt.

uns

Es wäre auch schwer zu sagen, wie dasselbe es anfangen sollte, über

irgend ein Causalverhältniß oder

Causalgesetze zu

unterrichten.

Uns

Andern

eine Ausnahme vom jedenfalls

bezeugt es

hier nur so viel, daß wir zu wollen und zu wählen unter gewissen Bedingungen und Schranken fähig sind, ohne daß es uns zugleich

mit einer Freiheitslehre beschenkte.

Mit einem Urtheil der Menge

in unserer Frage soll man nur gar nicht kommen;

die weiß nicht

einmal, nm was es sich handelt, und vermengt regelmäßig Willens­ freiheit

mit Freiheit des äußern Thuns.

Wie lautet es denn, im

Munde des ersten besten es Vorbringenden selbst, jenes unabweis­ bare Zeugniß? „Ich kann doch wahrhaftig, wenn ich von meinem

Sitz

aufstehen und gehen will,

dem

rechten

völlig nach meinem Belieben

mit

linken Fuß antreten."

Da haben wir ja

gleich wieder die so eben gerügte Verwechslung.

Ganz gewiß kannst

oder

dem

du es mit deinen Füßen

nach deinem Belieben halten,

wenn du

38 nicht lahm oder gefesselt bist; aber die Frage ist jetzt nicht, ob du,

wenn es dir beliebt den Einen Fuß vorzusetzen,

dies auch thun

könnest, sondern ob es dir einfach darum belieben könne, weil es

dir eben beliebt, also ohne einen eigentlichen, von dem Belieben selber verschiedenen, Grund. Der Vortritt des Einen Fußes vor dem andern geschieht in der Regel überhaupt ohne ein Belieben oder Wollen; man ist nur im Allgemeinen zum Gehen dahin oder dorthin gewillt, und überläßt die Ausführung dem leiblichen Mechanismus, sowie der

Lage, worin man sich eben befindet.

Kommt man aber wirklich ein­

mal in den Fall, eine Wahl in dieser Hinsicht zu treffen, wie z. B. wenn man einen recht schlagenden Beweis, einen, der Hand oder doch

Fuß hat, für die indeterministische Freiheit zu führen wünscht, so hat man gerade dann einen einleuchtenden Grund zur Bevorzugung eines

bestimmten Fußes, und stolpert selber über das Bein, das man dem Gegner stellen möchte.

Hätte nämlich unser Jndeterminist einen nütz­

lichern Gang zu thun, so würde er ohne Wahl demjenigen Fuß den Vortritt lassen, welcher auf den überhaupt zum Gehen gefaßten Ent­

schluß zuerst sich meldet und regt, weil er in der augenblicklichen

Körperhaltung der dazu fertigere ist.

Eine solche Regung nun oder

wenigstens einen Anfang der nöthigen Innervation würde der Mann wohl auch dann empfinden, wenn er sich im Vorgefühl seines Trium­

phes wirklich dazu anschickte, mit seinen Füßen zu demonstriren; nur unter jener Voraussetzung kann er das zum Erweis seiner freien

Willensmacht bestimmte Experiment mit einem auch nur ihn selbst befriedigenden Erfolg anstellen, nämlich indem er, jetzt also aus einem

für uns ganz deutlichen Motiv, den Entschluß faßt, dem empfundenen unwillkürlichen Beginnen buchstäblich entgegenzutreten, mithin

andern Fuß vorzusetzen.

den

Wollte er dann etwa mit demselben Apparat

auch diesen Einwand experimentell widerlegen, so würde er umgekehrt

dem ersten Fuß so zu sagen den Willen lassen, diesmal selber durch ein Wollen, aber wieder ein deutlich, nämlich durch die neue Absicht, motivirtes. Ebenso wenig, wie das Selbstbewußtsein, ist die Erfahrung, die

man an Andern macht, dem Indeterminismus günstig.

Nur mit

wenigen Worten sei hier der gewichtigen, aber auch sehr bekannten

39 Thatsache gedacht, daß doch ein allgemeines Zutrauen zum Causal-

gesetze, namentlich betreffend die regelmäßige Wirksamkeit von Moti­

ven, auf sämmtlichen Gebieten des praktischen Lebens herrscht und auch alltägliche Bestätigung findet.

Alle Staatskunst, alle Erziehung,

aller menschliche Verkehr ruht auf dieser Grundlage; wie auch der

Dramatiker getadelt wird, wenn eine That seines Helden dem Zu­ schauer den Eindruck macht, daß sie recht wohl hätte unterbleiben können.

Nöthiger, als hiebei zu verweilen, finde ich es, einzuräumen,

daß gleichwohl auf rein empirischem Wege der Indeterminismus sich so wenig strenge widerlegen wie beweisen läßt, da ihm sogar bei noch so gewöhnlicher Wirksamkeit eines Motivs die Ausrede bleibt, es lasse sich nicht einsehen, warum nicht auch

ein indeterminirter

Wille im Stande sein sollte, mit eigensinniger Beharrlichkeit ein be­

sonderes Motiv zu bevorzugen.

Wir können aber auf der andern

Seite auch keinen triftigen Einwurf gegen den Determinismus in der Schwierigkeit erblicken, welche der einzelne Fall so häufig für die

Erklärung darbietet, da diese Schwierigkeit ihrerseits leicht erklärbar

ist.

Der Indeterminismus läßt sich also freilich nicht gründlich be­

seitigen, wenn man das specifische Mittel gegen ihn, die Allgemein­

gültigkeit des Causalgesehes, verschmäht.

Aber auch in den Natur­

wissenschaften erlaubt man sich nicht, dieses Gesetz deßhalb zu bemängeln, weil die Ursachcnforschung so oft erfolglos bleibt.

Man hat da

eben die Erscheinung für einstweilen unerklärt anzusehen und sich

weiter um sie zu bemühen, nicht aber eine bloß scheinbare Erklärung aufzustellen, indem man ein unnachweisbares Ding, wie der indeter-

minirte Wille eines ist, zur Ursache erwählt.

Diese Erklärung ins­

besondere ist um so schlechter, als die vermeintliche Ursache vermöge

der eigenthümlichen Natur, die man ihr zuschreibt, ebensowohl das

Ausbleiben wie den Eintritt ihrer Wirkung unter völlig

gleichen

Umständen begreiflich zu machen im Stande sein soll.

Eine Thatsache giebt es nun aber doch, die unsern Streit zu erledigen scheint, und zwar, trotz allem bisher Vorgebrachten, zu Gunsten

des Indeterminismus — die Thatsache, daß wir alle, Gegner wie Anhänger dieser Lehre, Gethanes uns selbst und andern Menschen

40 zurechnen; und zwar in dem strengen Sinne, wonach wir nicht nur

die That als eine gewollte und von dem und dem Subject gewollte, son­ dern dieses auch als verantwortlich für sie, in rechtlicher und sittlicher

Bedeutung des Wortes, betrachten. Es ist auch zweifellos, daß wir uns

desfen nicht entschlagen könnten, ohne auf rechtliches und sittliches Ur­ theil überhaupt und damit auf unsern Menschencharakter zu verzichten. Aber es fragt sich, ob wir deßhalb den Thäter für frei im Sinne des In­

determinismus ansehen müssen.

Gerade dieser, indem er lehrt, daß die

gewollte That hätte ebenso gut ungewollt bleiben können, durchschneidet

damit das Band, welches sie an den Thäter heftet. Daher ließe sich ohne Unart sagen, die Jndeterministen selbst seien unzurechnungs­

fähig

im activen Sinne, d. h. außer Stande, die That ihrem Ur­

heber ohne Widerspruch mit ihren Grundsätzen zuzurechnen.

Nicht

daß ich meinte, jeder gehörig Zurechnende müsse Determinist sein,

oder überhaupt Partei in der Freiheitsfrage nehmen; wer dies aber thut, wird sich übel gefördert durch eine Lehre finden, welcher zu­ folge nach zureichenden Gründen einer freien That zu fragen, ein-

fürallemal

vergebliche Mühe wäre.

Die Zurechnung ist um so

sicherer, je tiefere Wurzeln der That man namentlich in dauernden Grnndzügen der Person erkennt, je befugter man eben damit auch

ist, das Urtheil nicht bloß auf die That, sondern auch auf den Thäter zu erstrecken und sie ganz eigentlich zu ihm selbst zu rechnen.

Der

Strafrichter insbesondere sucht, obgleich er letztlich nur über That

und Absicht zu richten hat, doch auch über die Motive in's Reine zu kommen, nicht nur der Strafausmessung wegen, wo dafür ein Spielraum gelassen ist, sondern weil er überharrpt in der Schuld­

frage um so klarer sieht, je weniger Lücken er in dem Causalzu-

sammenhange findet, die er nur mit indeterministischer Freiheit zu verstopfen wüßte.

Es ist auch allein die Annahme einer berechen­

baren durchschnittlichen

Wirksamkeit gewisser Motive, worauf jede

rationelle, dies heißt: vom Gemeinwohl vorgeschriebene, Gestaltung

des Strafwesens beruht. einem Uebel.

Das Grundmotiv ist hier die Scheu vor

Ein solches ist ja doch die Strafe und sie soll es sein —

eine zu Zeiten gar nicht überflüssige Bemerkung — aber ein Uebel,

welches zugleich ein Gut ist, jenes, wenigstens ursprünglich, für den

41 sie Erleidenden, dieses für die Gesellschaft, deren Rechtsordnung er verletzt hat.

Da aber die Verletzung nicht immer oder strenggenommen

niemals ungeschehen gemacht werden kann, so kommt es darauf an, ihr so viel wie möglich vorzubeugen; und da die Rechtsordnung nur

durch ihr Gewolltwerden besteht, so gilt

es, schon im Voraus das

Wollen derjenigen Personen zu bändigen, welche sie zu mißachten ge­ neigt sein möchten.

Dies ist es, wofür die Strafgesetzgebung zu sor­

gen hat, und sie thut es durch die in der Strafandrohung enthal­ tenen Motive, beziehungsweise Gegenmotive.

Um Vergeltung handelt

cs sich dabei in letzter Hinsicht nicht, wenn auch gewissermaßen in

der ersten, nämlich der zuerst im allgemeinen Bewußtsein sich gelten

machenden, da die in Rede stehende besondere Art des der Rechtsord­ nung zu gewährenden Schutzes unläugbar dem natürlichen Vergeltungs­

trieb

welcher

aufgepfropft ist,

durch

diese Zweckverwendung

ethische Befriedigung wie zugleich Einschränkung erfährt.

seine

Die Strafe

muß demgemäß ein solches Uebel sein, welches, nach der Schädlichkeit der That für die betreffende Gesellschaft bemessen,

nicht nur dazu

geeignet ist, dem Thäter die Wiederholung auf einige Zeit oder auf

immer unmöglich zu machen, wenigstens zu verleiden, sondern dessen bloße Androhung schon

Gebiete zu bewahren.

genügt, die Ordnung auf dem bezüglichen

Dieser Zweck kann freilich nicht erreicht werden,

wenn man mit einem Strafgesetze oder dessen Vollziehung weniger

das in dem Verbrechen, als das in der Strafe liegende Uebel zu

mindern sich vornimmt, oder dem Strafzwecke andere Zwecke unter­

schiebt, welche, auch wenn es an sich berechtigte sind, sich nur in ge­ höriger Unterordnung

unter jenen

in's Auge

fassen

lassen; z. B.

gebessert wird, wenn man damit das Strafen ersetzen will, bei Alten

wie bei Jungen erst recht nicht.

Nicht hoch genug ist ja zu schätzen,

was von Seiten des Staates für zunehmend bessere allgemeine Er­ ziehung geschehen kann; aber dazu, das in dieser Hinsicht Versäumte

nachzuholen oder das gleichviel durch wessen Schuld Mißrathene wo möglich auszubessern, ist nicht das Strafwesen der

geeignetste Ort.

Dieses als solches wird auf immer zuhöchst aus dem Gesichtspunkt

anzuordnen sein, daß sich mit der in solchen Dingen möglichen Sicher­ heit darauf zählen lassen muß, es werde selbst der am übelsten Er-

42 zogene in der Regel lieber auf die ihm aus der bösen That erwachsende

Lust verzichten, als fich die mit der Strafe verbundene Unlust zuziehen. Zwar hat diese Regel gerade in dem Falle, wo gestraft werden muß,

eine Ausnahme erlitten, und es ist eine Binsenwahrheit, daß auch die abschreckendste Drohung, also die des Todes, nicht immer abschreckt

(welchen unbeliebt gewordenen Ausdruck ich jetzt werde gebrauchen dürfen, ohne der sogenannten ältern Abschreckungstheorie bezichtigt

zu werden).

Es läßt sich eben keine Strafe ersinnen, bei der fich

nicht auch für gelegentliche Wirkungslosigkeit ihrer Ankündigung hin­ reichende Erklärungsgründe fänden, besonders

wenn

die Hoffnung

besteht, unentdeckt oder unverurtheilt zu bleiben, wo sich denn der

Fall eher zum Bedenken gegen eine Polizei oder Rechtspflege, als

gegen das Strafgesetz oder den Determinismus, eignet.

Ebenso wenig

will es gegen die Kräftigkeit des in einer Strafandrohung liegenden Motivs sagen, daß selbstverständlich jedes Verbrechen auch aus irgend

welchen vom Strafgesetz unabhängigen Gründen

zeitweise zu- oder

abnehmen kann.

13.

Wider einseitigen Determinismus.

So unumwunden ich mich hiemit zum Determinismus bekannt

habe, so sehe ich mich doch genöthigt, meine Ueberzeugung ausdrück­ lich gegen diese oder jene gleichnamige Ansicht abzugrenzen. Nicht selten wird eine Lehre so genannt, welche mehr Verwandt­

schaft mit dem Indeterminismus hat, und nicht Causalismus, son­ dern eher Casualismus zu nennen ist — der Fatalismus.

Nach

diesem System ist jedes Ereigniß einfürallemal vorausbestimmt, so daß es eintreten

muß, was für Gründe dafür oder dawider auch

immer in und außer den wollenden Wesen

liegen mögen.

Wird

überhaupt solchen Gründen ein Einfluß zugestanden, so geschieht es

nur in dem Sinne, daß sie selbst und ihr Einfluß mit zu dem Vor­ herbestimmten gehören, ohne daß sie durch ihre eigene Natur zu dem

Erfolge beitrügen.

Eben die vom Fatalisten nur in so eingeschränkter

Weise zugelasseneu Gründe gelten dem eigentlichen Deterministen für die rechten und einzigen; nur dieser kennt in Wahrheit causalgesetzliche

43 Begründung.

Was innerhalb des Weltlaufs geschieht, sieht er nicht

für Etwas an, das erfolgen müsse, welcherlei Förderungen oder Hemm­ nisse es auch finden möchte, sondern für Etwas, das eintritt, weil

jene statthaben und diese fehlen oder durch jene überwogen werden. Nur auf Verwechslung des Determinismus mit dem Fatalismus kann

es daher beruhen, wenn man meint, daß der Anhänger des erstem folgerichtig alles Wollen und Handeln für unnütz ansehen, und es also verständigerweise unterlassen müßte.

Indem der Fatalist die Causal-

bestimmtheit des Wollens läugnet, ist er hierin vielmehr mit dem In­

deterministen einverstanden.

lassen können, für das

Ebenso darin, daß Beide es doch nicht

Wollen eine Art von zureichendem Grunde

ausfindig zu machen, wäre es auch nur einer, der im Grunde keiner ist.

Der Unterschied ist bloß, daß derselbe, wenigstens der letztlich

entscheiden sollende, dem Einen ein nicht näher angebbares, ebenso unergründliches, wie

in Wahrheit unbegründendes, Schicksal,

dem

Andern eine diesem ebenbürtige Zauber- und Wundermacht unseres

eigenen Willens ist.

Beides sind Zufallslehren, nur daß der Zufall

nach der Einen außer, nach der andern in uns selbst sein Wesen

treibt. In den verschiedenen Formen, welche der Determinismus wie

der Indeterminismus seit den ersten christlichen Jahrhunderten ans theologischem Boden angenommen, haben nicht nur religiöse Bedürf­ nisse die ihnen gebührende Vertretung gefunden: schon hiedurch hat

unser Problem auch für die Philosophie eine hervorragendere Bedeu­ tung in der neuen, als in der alten, Zeit gewonnen.

Andererseits ist

daffelbe doch ein rechtes Muster einer aussichtslosen Streitfrage erst

geworden, als ein von Theologen und Philosophen um

die Wette

überspannter, und ebenso wenig das einfach religiöse wie das wissen­ schaftliche Bedürfniß befriedigender, Schulbegriff des Absoluten zur

Herrschaft kam, welcher keine andere Wahl ließ, als die menschliche

Selbstständigkeit entweder sogar in der berechtigtsten Fassung preiszu­

geben oder in der unbegreiflichsten zu behaupten.

Auch

wer von

noch so großer Zuversicht in Bezug auf die Erreichbarkeit einer wissen­

schaftlichen Theorie von göttlichen Dingen erfüllt ist, wird gestehen

44 müssen, daß eine solche auf unsere Welt- und Selbsterkenntniß, nicht

diese auf jene zu gründen wäre, und wird also auf eine gute Strecke gleichfalls den hier eingeschlagenen Weg zu wandeln haben.

Alsdann

wird er aber auch eher geneigt sein, an der menschlichen Willensfähig­

keit im vollen Sinne des Wortes, und dies heißt hier, wenn gleich nur innerhalb unzweifelhafter Schranken: Selbstständigkeit, festhal­

tend, demgemäß seine Vorstellungen von absoluter Abhängigkeit zu berichtigen, als sich umgekehrt dieser zulieb jene auszureden.

Eine

Streitigkeit im Besondern, wie die zwischen Augustinus und Pelagius,

fällt um so weniger in den Bereich der vorliegenden Abhandlung, als es sich dabei minder um die Willensfreiheit, denn um die Be­ deutung der göttlichen Gnade und der sie spendenden Kirche, handelte.

Die Willensfreiheit wurde ja, als gleiche Möglichkeit des Guten und

des Bösen, auch von Augustinus bis zum Sündenfalle, den aber

nach seiner Lehre die Nachkommen Adam's in dem Stammvater mit­ begingen, gelten gelassen, grundsätzlich also von dem Kirchenvater so

gut, wie von dem Ketzer, angenommen; während unsere Streitfrage dahin geht, ob und in welchem Sinne es überhaupt eine Freiheit

gebe, nicht dahin, wie lang es eine gegeben habe.

Mit dem materialistischen Determinismus theilt der hier vertretene die unbeschränkte Anerkennung des Kausalgesetzes für alle

Veränderungen.

Ich streite auch nicht wider die Ansicht, daß eine

exacteErkenntniß — darunter eine anschauliche und zugleichmathematisch

bestimmte verstanden — sich nur in der Form der Räumlichkeit ge­ winnen lasse.

Aber nicht diese Exactheit ist das Charakteristische des

Materialismus, sondern der Köhlerglaube an die alleinige Wirklich­

keit eines

diese Form füllenden Inhaltes ohne innere Thätigkeit

desselben, unter letztlicher Zurückführung, oder vielmehr nur Behaup­

tung letztlicher Zurückführbarkeit, alles Geschehens auf bloße Bewegung. Zu deren Bewirkung und Unterhaltung wird dem Raumfüllsel, der

Materie, ohne Weiteres die Kraft angehängt, ohne zu bedenken, daß die materiellen Dinge, um auf einander, und also nach außen, thätig

sein zu können, auch von sich aus, und also zunächst in sich, thätig sein und die hiezu erforderlichen Eigenschaften besitzen müßten.

Man

45 ist im Gegentheil bemüht, auch die Qualität, wenigstens die quali­

tative Verschiedenheit, aus den wissenschaftlichen Ansätzen zu eliminiren

und auf eine bloß quantitative zurückzuführen, eine Verschiedenheit in Bezug auf Anzahl und Anordnung der letzten Theilchen,

auch

etwa noch die Gestalt derselben, wofern man nicht schon allen Unter­ schied

der Gestalten von

bloßer Anordnung herleitet.

Nun soll

gar nicht in Abrede gestellt werden, daß sich die Körper und ihre Veränderungen aus einem gewissen Gesichtspunkte wirklich so betrachten

lassen, als ob Nichts weiter, als das Erwähnte, an ihnen wäre; die Frage ist nur, ob dieser Gesichtspunkt ein anderer sei, als die Branch-

barkeit für die theoretischen und praktischen Zwecke der sich mit gutem Fug auf ihre eigenthümlichen Aufgaben beschränkenden Naturwissen­

schaft.

Der Materialismus aber ist die mit Verkennung dieser

Schranken erfolgte Erhebung der Naturwissenschaft zur

absoluten

Wissenschaft, Etwas, das man specialwissenschastlichen Chauvinismus

nennen dürfte, das Gegen- und beziehungsweise Seitenstück zu der ab­ soluten Philosophie Nach- Kantischer Systeme, die so viel zum neuern Wiederaufleben des Materialismus beigetragen hat. Uebrigens hat die

Philosophie dieses Intermezzo nicht zu beklagen ; es ist ihr in ähn­ lichem Sinne zu Statten gekommen, wie Fürst Bismarck mehr als Einmal den Wunsch geäußert hat, eine Zeit lang seine Gegner am

Ruder zu sehen.

Was insbesondere die geistigen Vorgänge betrifft, so haben wir es hier nicht mit der bloßen unanfechtbaren Ansicht zu thun, daß die naturwissenschaftliche Forschung als solche, selbst unter der Vor­

aussetzung einer idealen Vollendung ihrer Methoden, mit diesen nie­

mals etwas Anderes an jenen, als bestimmte sie begleitende Bewegungen, entdecken wird: sondern was der Materialist lehrt und aus seinem

Standpunkte folgerichtig lehren muß, ist, daß die geistigen Vorgänge nach ihrem letzten Grund und Wesen in nichts Andern» bestehen,

Nichts Anderes seien, als bloße Bewegungen, bloße Ortsveränderungen. Aber zu einer solchen Verwerfung des in der Erfahrung, hier der

innern, Gegebenen glaubt man sich sonst in aller Forschung nur dann berechtigt, wenn man zu demselben entweder positiv etwas von ihm

Verschiedenes als ihm zu Grunde liegend nachgewiesen, oder wenigstens

46 die Unverträglichkeit des An-ihm-Festhaltens mit sonstigen gesicherten Erkenntnisien gezeigt hat.

Hievon ist nun doch in Betreff des Wollens,

auf das ich mich jetzt wieder beschränke, keine Rede, während zugleich

kein wahrhaft wissenschaftlicher Mann ein exactes Wissen um das, was unsern Wahrnehmungen körperlicher Dinge und Hergänge letztlich zu

Grunde liegen mag, sich beimißt und diese für etwas Anderes als Phänomene (wenn auch bene fundata, um mit Leibnitz zu reden) anfieht.

Das Wollen für eine bloße Bewegung erklären, hieße also,

es für die Erscheinung einer andern Erscheinung erklären.

Das

Vorstellen sodann, wodurch uns jene Bewegung nicht als Bewegung,

sondern eben als Wollen erscheint, muß vom Materialisten abermals für eine bloße Bewegung erklärt werden.

Auch diese jedoch, in

welcher also das Vorstellen und Erscheinen der erstern bestehen soll,

erscheint uns ja und wird von uns vorgestellt als etwas Anderes denn als eine Bewegung u. s. w.

Es ist aber offenbar mit der

Zurückführung eines psychischen Ereignisses auf ein physisches so gut

wie Nichts gewonnen, wenn sie nur aus die Art geschehen kann, daß man dem physischen immerfort wieder ein psychisches unterbreitet.

Auch abgesehen hievon läßt sich unser Wollen, wie deßgleichen unser Vorstellen und Fühlen, unmöglich ebenso wie der erste beste äußere

Erfahrungsgegenstand bloße Erscheinung für uns bewußte Wesen nennen, da diese Hergänge, wiewohl sie gleichfalls auf gewisse Weise

gegenständlich für uns werden können, doch gerade so, wie wir ihrer unmittelbar inne werden, unser Eigenstes selber sind.

Zu den besprochenen Formen des Determinismus ist neuerdings

noch

ein statistischer gekommen, der wenigstens eine neue Art,

ihn zu begründen oder zu bestätigen, ist. Die Statistik, im Unterschied

von bloßer statistischer Methode „eine Hülfswissenschaft der gesammten Erfahrungswissenschasten vom Menschen", hat zu ihrer Aufgabe „die

Ermittlung von Merkmalen menschlicher

Gemeinschaften

auf

der

Grundlage methodischer Beobachtung und Zählung ihrer gleichartigen Erscheinungen" (G. Rümelin, neben dem für das Nächstfolgende

auch Drobisch, Lotze und v. Dettingen zu vergleichen sind).

Die

bisherigen Ergebniffe solcher Ermittlungen in Bezug auf die foge-

47 nannten willkürlichen Handlungen werden nicht selten als entschei­ dende Beweise für den Determinismus betrachtet.

Daß in einem

Lande die jährliche Anzahl der Heirathen, der Verbrechen, der Selbst­ morde, eine Regelmäßigkeit sogar in Unterabtheilungen dieser Elasten

zeigt,

wie sie selbst aus manchen Naturgebieten nicht gleich groß

angetroffen wird, scheint so unvereinbar mit der Voraussetzung eines von strenger Causalität befreiten Willens, daß Viele geneigt sind, von jenen Zählungen geradezu die endliche Entscheidung der uns

beschäftigenden Frage zu datiren.

Nichts liegt ja näher, als die

erwähnte Regelmäßigkeit von einer entsprechenden Beständigkeit der

Ursachen der gezählten Ereignisse herzuleiten, und diese Ursachen in

den der Willkür des Individuums entzogenen natürlichen und ge­ sellschaftlichen Zuständen der Bevölkerung zu erblicken, sowie die Ab­

weichungen der Zahlen von ihrem Durchschnitte, und die Verände­ rungen des letzter» selber, aus entsprechenden Umwandlungen dieser

Zustände zu erklären. Es läßt sich hier auch gewiß Nichts gegen die Annahme eines Causalzusammenhanges einwenden, wohl aber Etwas gegen die Mei­

nung, daß mit den in Rede stehenden verdienstlichen Arbeiten eine neue Epoche in der Lehre von der Willensfreiheit angebrochen sei. In Bezug auf die Hauptfrage führen uns die statistischen Angaben,

z. B. über die Verbrechen gegen das Eigenthum, nicht weiter, als

der erste beste einzelne Diebstahl, den ein Hungriger in einem Bäcker­ laden begeht.

Aus dem wiederholten annähernden Sich-gleich-Bleiben

(daß ich vorerst nur von diesem rede) einer jährlichen Anzahl solcher

Thaten läßt sich nicht auf deren bloße, mit freiem Handeln unver­

trägliche, Abhängigkeit von den Zuständen des Gemeinwesens, son­ dern nur, bei schon feststehender Causalgesctzlichkeit der menschlichen

Handlungen, auf die Beschaffenheit und Dauer der Zustände einiger­

maßen schließen.

Den bloßen statistischen Zahlen würde auch ein

indeterminirter und zu Allem fähiger Wille, wenn nur sonst Nichts wider ihn einzuwenden

wäre,

genügen.

Ihre Uebereinstimmung

mit den Zuständen kann nicht gegen ihn entscheiden, da diese ja mit

der gepriesenen Genauigkeit selbst erst ans den Zahlen, und aus Grund der bereits angenommenen Causalgesetzlichkeit für unser Ge-

48 biet, erschlossen find.

Der Jndeterminist kann sogar einen gewissen Zu­

sammenhang zwischen Hungersnoth und Vergreifung an Lebensmit­

teln ebenso gut einräumen, wie die Thatsache, daß überhaupt die Menschen ihren Hunger zu stillen lieben; nur darauf beharrt er,

daß sie dennoch nicht bloß verhungern können, wenn sie wollen, son­

dern es auch wollen können, selbst wenn noch so gute Gründe es ihnen abrathen.

Insbesondere bringen es seine Grundsätze nicht

mit sich, daß er sich über ein doch stets nur annäherndes Sich-gleichBleiben der statistischen Zahlen stärker, als über große oder kleine

Veränderungen derselben, wundern müßte. Zwar hält man gewöhn­ lich die Beständigkeit dem Determinismus, die Unbeständigkeit dem

Indeterminismus für günstiger.

Wir sind jedoch bei dem letztern

nicht einmal der Unbeständigkeit sicher, und hinwieder findet bei dieser, da auch die Zustände sich immerfort verändern, der Deter­ minist grundsätzlich ebenso gut seine Rechnung, wie bei

ständigkeit.

Diese kann ihm sogar unbequem werden,

der Be­

da es doch

räthselhast ist, wie in gleichen Zeiträumen selbst die Anzahl be­ stimmter Arten und Unterarten von Verbrechen, und zwar gerade

der entdeckten und abgeurtheilten Fälle, auch nur nahezu hat gleich

bleiben können.

Es muß freilich auch hiebei mit rechten Dingen,

d. h. causalgesetzlich, zugegangen sein, wenn die deterministische Lehre gelten soll; sie kann

aber nicht erst auf diesem Wege festgestellt

Es find auch wohl seltener eigentliche Statistiker, als viel­

werden.

mehr übereifrige Deterministen, gewesen, welche die neue Wissenschaft zur Zeugin für eine alte Meinung gepreßt haben, während namhafte Vertreter

der erstem kein

Bedenken trugen,

den indeterminirten

Willen in gewissen Schranken nach wie vor seine Rolle spielen zu

lassen. Der schlimmste Fehler jedoch, welcher von moralstatistischer Seite

begangen wurde — da auch Zahlen nicht vor Thorheit schützen — war der, daß man die statistische Zahl nicht bloß als die gesetz­ mäßige Wirkung gewisser, wenn auch jeweilen erst auszumittelnder,

Ursachen, sondern selbst wie ein Gesetz behandelte, welches der Nach­ achtung auch abgesehen von den Ursachen, oder auch

selber,

sicher wäre.

Anstatt

der letztern

die gefundenen Zahlen zunächst als

49 bloße Thatsachen zu nehmen, welche auf Gesetze Hinweisen mögen,

dieselben aber doch erst zu suchen einladen, verkündigte man die Thatsachen selber als Gesetze, und huldigte damit dem Determinismus

in der schlechtesten Form, nämlich der fatalistischen — nichts Anderes ist ja das Fatum als ein bloßes Factum, das für ein Gesetz ge­

achtet wird.

In Folge dessen stellte man die Sache so dar,

wie

wenn von einem mit Statistik beglückten Volke auf jedes junge Jahr die Verpflichtung

übernommen würde, vom

1. Januar bis zum

31. December unter allen Umständen so und so viele Verbrechen einer gewissen Art an seine Gerichte einzuliefern, gleichviel wie das

Volk übrigens, mit Einschluß seiner Polizei und Justiz, beschaffen

sein möchte.

Aber gerade eine bestimmte Beschaffenheit desselben ist

hier die unentbehrliche Grundlage jeder vernünftigen Voraussage. Deren Eintreffen ist nicht etwa durch die Voraussetzung verbürgt,

daß das Volk sich der harten Forderung nicht erwehren könne trotz Allem, was es ihr entgegenstellen möchte, sondern allein durch die

daß es ihr bei seiner

mehr oder weniger hohe Wahrscheinlichkeit,

bis jetzt gezeigten Beschaffenheit nichts Genügendes werde entgegen­

zustellen haben.

So lassen

sich denn allerdings Vorhersagen auf

statistische Tabellen gründen; sie sind ebenso berechtigt, als eine

Prophezeiung, wie Jemand über's Jahr aussehen wird, die sich auf ein so

eben gemachtes Bildniß desselben gründet.

Wer aber eine

solche Tabellensammlung mit einer Scheu betrachtet, als wenn er

vor einem der ungeheuren Bücher des Schicksals stände, der gleicht einem Menschen, welcher sich nicht darüber trösten kann, daß er sich

hat photographiren lassen und also fortan dem Fatum unterliegt,

seinem eigenen Bilde ähnlich zu sehen. Wie aber ein Volk als Ganzes nicht durch die Tabellen seiner

Statistiker gebannt ist, ebenso wenig hat man über dessen einzelne

Genossen die Loose blindlings ausgeschüttet zu denken. anzunehmen

und

entweder braucht

das Zweite abzuweisen,

Das Erste

ginge nicht an.

Denn

es hier überhaupt keine zwingende Macht, wenn

nämlich ohnehin so und so viele bestimmte Personen zu dem Ver­

langten bereit sind;

oder wenn die Leute

wollen, so muß das fatuin statisticum, Heble r. Elemente e. philci. Freibeitoleyre.

nicht von selbst daran

um

sein Ansehen zu be4

50 Häupten, auch gleich die Personen bezeichnen, so viele ihrer nöthig sind um seine Rubriken voll zu machen, wie es zu anderer Zeit einem regelwidrigen Zudrang zu wehren haben wird —

fanes Seitenstück zur alten Prädestination.

ein pro­

Vorherbestimmt wären

alsdann so viele Personen, wie die Tabellen vorschreiben, z. B. zum Stehlen, wenn sie auch etwa darin frei sind, ob sie zu Pferde oder zu Fuß stehlen wollen (Lotze); hätten sich jedoch die Notizen eines

Statistikers auch auf diesen Unterschied erstreckt, so wäre es mit der

Freiheit in diesem Punkte gleichfalls vorbei.

In Wahrheit ist der

Hergang nicht einer Gnaden- und Ungnadenwahl, auch nicht einer

Bestimmung durch's Loos, und nicht einer Decimirung zu vergleichen, sondern Jeder handelt so, wie es, auch ohne statistisches Jahres­

budget,

seine persönliche Beschaffenheit unter den gegebenen Um­

ständen mit sich bringt.

Darum weil dem Statistiker Nichts dar­

auf ankommt, welche Personen hinter seinen Zahlen stehen, ist dies

nicht auch an sich gleichgültig.

Es ist nicht einfürallemal dem Uu-

thier, der statistischen Regel, für Verbrechen z. B., eine bestimmte

Anzahl von Menschen in einem Lande zum Fraß

geweiht; wenn

alle wacker wären, müßte es sich anderswo nach Nahrung umsehen oder verhungern, gleichwie auch eine Seuche nicht auf's Gerathewohl

in eine Volksmenge einbricht und ihre Opfer herauslangt.

Man

darf auch nicht eine bloß durchschnittliche Beschaffenheit mit einer gleichmäßig vertheilten verwechseln, und das Durchschnittsverhältniß

zwischen der Anzahl der verurtheilten Verbrecher und der Einwohner­ zahl für die Wahrscheinlichkeit halten, womit in einem

künftigen

Zeitraum von der entsprechenden Länge eine bestimmte Person dem Strafrichter verfallen werde.

Ebenso gut könnte ein Kaufmann,

welcher in einer Stadt von 100,000 Einwohnern Schulden im Betrag

von zusammen 1000 Mark ausstehend hat, sich eines Morgens auf­ machen, um von jedem Einwohner einen Pfennig einzuziehen.

Ich will noch eine Bemerkung Rümelin's über den Einfluß der

Kornpreise auf die Anzahl der Trauungen hersetzen: „Die Thiere begatten sich, ob ihre Nahrungsmittel spärlicher oder reichlicher vor­ handen sind, und lassen dann die Jungen verkommen.

Der Mensch,

frei von der zwingenden Herrschaft des Naturtriebes, überlegt, ob es

51 möglich ist, zur Gründung einer Familie zu schreiten.

Daß nun

aber nicht Einige, sondern Viele unter den gleichen oder ähnlichen

Bedingungen eine so vernünftige Erwägung anstellen, und daß sich

die Wirkung dieses Factors bei der Volkszählung bemdrklich macht, das ist der handgreiflichste Beweis für, aber nicht gegen die mensch­ liche Willensfreiheit, wofern man diese nicht zu einem logischen Un­ In der That, gerade die Sicherheit, womit wir in so

ding macht."

vielen Fällen auf ein besonnen menschliches, oder schlechtweg mensch­ liches, Verhalten — zählen können, dient dazu, uns von dem Alp der statistischen Zahl zu erlösen.

C.

Deterministische Willensfreiheit.

Also doch immer noch Willensfreiheit? Aber ich habe sie bisher immer nur in der indeterministischen Fassung, als Freiheit vom Causal-

gesetze, bestritten, und in diesem Sinne allerdings die Nothwendigkeit,

d. h. eben Causalgesetzlichkcit, des Wollens behauptet.

Nur wer, ohne

dazu auch nur durch den Sprachgebrauch berechtigt zu sein, keine Willens­ freiheit außer der indeterministischeu gelten läßt, kann im Obigen eine

Läugnung aller Willensfreiheit finden.

Was denn aber von dieser

nach Abweisung des Indeterminismus übrig bleibe, wird man fragen, während mir vielleicht von anderer Seite auf die letzten Ausführungen hin das Recht, mich den Deterministen beizuzählen, abgesprochen wird.

Ich gebe die nach beiden Seiten noch nöthig erscheinende Auskunft

in kritischer Anknüpfung an den hervorragendsten und noch heute

wirksamsten Versuch, zwar nicht Determinismus und Indeterminismus,

d. h. Ja und Nein, wohl aber Nothwendigkeit und Freiheit mit ein­ ander zu vereinigen.

„Alles", so lehrt Kant, unser causales Erkennen auf die Zeit­ ordnung der Erscheinungen beschränkend, „Alles, was geschieht (an­ hebt zu sein), setzt Etwas voraus, worauf es nach einer Regel folgt." Hievon nimmt er auch unser eigenes praktisches Verhalten nicht aus:

wenn alle Triebfedern und Veranlassungen desselben bei einem Men­ schen bekannt wären, so ließe es sich mit gleicher Gewißheit voraus­

berechnen, wie eine Sonnen- oder Mondfinsterniß.

Da jedoch nach 4*

52 unserm Philosophen wir selbst, wie alle Dinge, nur vermöge der

besondern Bedingungen und Schranken unserer Erkenntnißfähigkeit

uns als Zeitwesen erscheinen: so kann dieselbe Handlung, die wir als eine zeitliche für die naturnothwendige Folge früherer Vorgänge,

wie hinwieder diese für die Folge noch früherer u. s. w., erkennen,

gleichwohl auf einer Causalität des handelnden Wesens beruhen, welche

ihrerseits nicht durch eine vorangegangene Causalität bewirkt, sondern, der Zeitlichkeit und Naturnothwendigkeit enthoben,

durch Freiheit ist.

eine Causalität

Daß Kant für Eine und dieselbe Wirkung eine

doppelte Causalität annehme, läßt sich dessenungeachtet nicht sagen, da Nichts, was oder inwiefern es bloße Erscheinung und also bloß Vorgestelltes ist — wohin wir nicht nur die Glieder des erscheinenden

Causalzusammenhanges, sondern auch diesen selbst zu rechnen haben

— eine Selbstständigkeit gegen das ihm zu Grunde Liegende besitzt. Unser Wille kann demgemäß ohne Widerspruch aus dem Einen jener Gesichtspunkte frei und aus dem andern unfrei genannt werden.

kann

eine Handlung durch feine Causalität anfangen,

Er

ohne daß

darum die letztere selber jemals, also im zeitlichen Sinne, anfinge.

Das Vermögen, eine Begebenheit oder Reihe von Begebenheiten von selbst, unabhängig von vorangegangenen bestimmenden Gründen, an­

zufangen, dies eben ist es, was wir unter Freiheit zu verstehen haben. Und nicht bloß denkbar findet Kant eine solche „transseendentale"

Freiheit, sondern wir müssen sie ebenso gewiß annehmen, wie wir das Sittengesetz als unbedingt gültig

für unsern Willen anzuerkennen

durch die Vernunft genöthigt sind, wiewohl wir dem von uns selbst anerkannten

Gesetze

auch zuwider zu wollen im Stande sind —

auch hiefür ist transscendentale Freiheit vorausgesetzt.

In zeitloser

freier That, mithin ohne vorhergehende — was nicht heißt: ohne alle und jede — Bestimmungsgründe, nimmt der Mensch die Maxime

an, worauf einfürallemal seine Stellung zum Vernunftgesetz und da­ mit

sein gesammtes

moralisches Verhalten beruht.

sage

ich, nicht: „hat

irgendwann angenommen"; und ebenso wenig

„Nimmt an"

darf man von einem vorzeitlichen Aet träumen; selbst das Präsens

hat hier nicht Zeitbedeutung, geht nicht auf eine zwischen einer Ver­ gangenheit und einer Zukunft befindliche Gegenwart, sondern auf

eine, wenn man den letztem Ansdrnck doch beibehalten will, überzeit­ liche Gegenwart. Jene Marime des Menschen macht seine Denkungs­ art, seinen „intelligibeln Charakter" ans, den er sich selbst verschafft, und von welchem der „empirische" nur die Erscheinung, nur das sinnliche Schema oder Zeichen ist. Auch die Geschiedeuheit seiner einzelnen Aeußerungen von einander wird, wie deren Zeitlichkeit, der bloßen Erscheinung zugewiesen; es sind nur, daß ich mich so aus­ drücke, die phänomenalen Ausstrahlungen Eines und desselben Acts. Kant's Lehre von der Zeit nach ihrer ganzen philosophischen Be­ deutung zu prüfen, ist hier nicht der Ort; wir werden uns auf die Frage zu beschränken haben, was sie, ihre erkenntnißtheoretische Be­ gründung zugestanden, für die Lösung des Freiheitsproblems leisten würde; das Urtheil über sie hängt nach Kant's eigener Meinung in nicht geringem Maß von ihrer Fähigkeit zu dieser Leistung ab. Als bloße Zeitwesen wären wir, meint Kant, völlig durch Vergan­ genes, also durch etwas nicht mehr in unserer Gewalt Stehendes, bestimmt. Da können wir doch, an einer realen Zeitlichkeit fest­ haltend — ohne damit dem Unding eines Flußbettes, worin die Ereignisse abflößen, einer realen Zeit abgesehen von dem zeitlich Verlaufenden, das Wort zu reden — zunächst Folgendes antworten. Allerdings wäre ein rein von der Vergangenheit abhängiges, ohne gegenwärtige Selbstthätigkeit erfolgendes Handeln oder vorerst Wollen so gut wie keines, das diesen Namen verdiente. Aber wenn gleich das wollende Subject keine Gewalt über die Vergangenheit hat, so ist darum nicht es selbst ein Vergangenes, sondern es erweist eben durch den Willensact seine Gegenwart und durch dessen Wirkungen seine Gewalt. Und wenn Jemand einer „seiner" vollbrachten Thaten sich erinnert, so schreibt er sie hiemit wieder unmittelbar sich, diesem gegenwärtig ihrer Bewußten, zu. Sie ist eben nicht bloß insofern die (einige, als er sie einst ausgeübt hat, sondern auch insofern, als sie ihm noch immer angehört. Aber doch nur als einer wirklich auch vergangenen vermag er einer That zugleich auf gewisse Weise, näm­ lich bereuend und sich bessernd, wieder los zu werden; in welchem Sinne man also dem gewöhnlichen Satze: „Geschehenes kaun nicht ungeschehen gemacht werden" den andern beigeben darf: Nur Ge-

54 schehenes (nicht Jntelligibles) kann ungeschehen gemacht werden.

Ais

rein intelligible würde die zu bereuende That ihrem Urheber ebenso

in Einer Hinsicht zu nah, wie in anderer zu fern bleiben: jenes, sofern er mit ihr auf gleichem Fuße stände, wie mit jeder gegen­ wärtigen;

dieses,

sofern sie über alle Zeit hinausläge.

Hingegen

zeitlich gefaßt, ist sie einerseits freilich, nachdem sie geschehen, nicht

mehr in der Gewalt des Thäters, und sie bestimmt sogar sein wei­

teres Wollen mit; andererseits aber hat er sich damit die Voraus­

setzungen des letztern

durch sein eigenes bisheriges bereiten helfen.

Er ist insofern allerdings determinirt und prädeterminirt, aber theilweise durch sich selbst, und die Hauptsache ist, daß er seinem jewei­

ligen Wollen nicht bloß präexistirt hat, sondern coexistirt. Gesetzt nun auch, dies sei noch so ungenügend, um die Willens­

freiheit zu retten, so würde sich immer noch fragen, ob ihr mit der Abladung unserer zeitlichen Thaten auf eine unzeitliche und gar nicht

in unser Bewußtsein fallende mehr geholfen sei.

Sie falle doch hinein,

läßt sich entgegnen; zwar nicht so, daß wir uns ihrer als einer be­

sondern That neben den zeitlichen bewußt würden,

sie auch

was

nicht sei, aber so daß die letztern, indem wir nicht umhin können dieselben uns zuzurechnen, auf jene als die allein wahrhaftige That

hinwiesen.

Aber um diese Bedeutung haben zu können, scheint die

intelligible That selbst zurechenbar sein, und die unzeitliche Annahme der Maxime unseres Verhaltens selbst schon auf einer freiwillig an­ genommenen Maxime beruhen zu müssen.

Statt dessen hören wir

aus dem Munde Kant's selbst, daß unsere Zurechnungen nur auf

den empirischen Charakter bezogen werden können, und daß der erste Grund jenes Annehmens unerforschlich sei.

Jenes bedeutet indessen

nur, wir seien außer Stande, zu beurtheilen, wie viel von einer

gegebenen Handlung auf die Rechnung der Freiheit, und wie viel auf die der Natur und des Temperaments zu fetzen sei.

Aber die

Unerforschlichkeit des ersten Grundes der allein freien Urthat, wie

schon überhaupt

die Rede von einem

Grunde

derselben,

zu fragen unvermeidlich sei, weckt den Verdacht,

daß

wonach

diese That

von einer Ururthat, das angenommene Intelligible von einem Jnteüigibeln höherer Stufe u. s. w. abhange, so daß die alten Kämpen

55 der

auch

Freiheitsfrage

stoßen

einander

würden;

noch und

in

so

der

intelligibeln Walhalla auf

möchte (wie schon zu

Kant's

Lebzeiten Bardili dem Forberg zu erwägen gegeben hat) mit der Zeitlosigkeit

langt sein.

nicht Freiheit, sondern

nur eine neue Unfreiheit er­

Nur dann wäre dies nicht zu besorgen, wenn keine andere

Unfreiheit, als eine von der Zeit verschuldete, denkbar wäre, man sich mit bloßer Freiheit vom Zeitleben begnügte.

oder

Für diese

Bescheidung ließe sich sagen, es handle sich hier nicht darum, von irgend einer beliebigen Unfreiheit, sondern nur darum, von der uns allein drückenden, der zeitlichen, loszukommen, und da werde jeder weitere Zweifel durch

die praktische Unentbehrlichkeit der zeitlosen

That niedergeschlagen.

Wenn nur nicht ebenso unentbehrlich für jede

unserer Thaten der Fortgang von einem Anfänge zu einem Ende, von einem bestimmten Ausgangspunkte zu einem bestimmten, wenn

auch vielleicht nur vorläufigen, dem jeweiligen beschränkten Kraft­

aufwand

entsprechenden Ziele, die Zeitlichkeit und zwar begrenzte

Zeitlichkeit wäre!

Ich will nicht betonen, daß Kant selber sich die

von ihm ausdrücklich als möglich anerkannte Besserung eines bösen

Menschen, „die Umkehr des obersten Grundes seiner Maximen", sicher­

lich nicht anders als in der Form der Zeitlichkeit vorstellen konnte. Denn er hätte sagen können, dies sei nicht räthselhafter, als daß über­ haupt die intelligible That sich für unser Bewußtsein in eine Viel­

heit und Zeitreihe ausbreite, und es lasse sich vermuthen, daß, wer

hierüber Bescheid wüßte und die Urthat durch eine exacte Formel

auszudrücken vermöchte, auch das Phänomen der Vertauschung einer bisher eingeschlagenen moralischen Richtung gegen die entgegengesetzte begreiflich fände —

ungefähr wie die Formel einer Curve kein t

(tcmpus) zu enthalten braucht, um einem sich in dieser Curve be­

wegenden Körper für bestimmte Werthe der Variabeln bestimmte Um­

lenkungen, auch wohl nur eine einmalige wie bei der Parabel, vor­ zuschreiben.

Aber um an der intelligibeln That nur noch wirklich

eine That, nicht ein bloßes unfaßbares „An sich" unserer Thaten zu

haben, müßten wir jene so gut wie diese zeitlich vorstellen.

Auch

damit ist Nichts gewonnen, daß dieses Unbekannte uns selbst, d. h. unserm ebenso unbekannten intelligibeln Wesen, zugeschrieben ist; denn

56 nicht daß wir unsern zeitlichen Thaten überhaupt irgendwie zu Grunde liegen — fast hätte ich das letzte Wort unterstrichen — sondern daß

wir uns als das in diesen zeitlichen und ohne Zeitlichkeit gar nicht

denkbaren Thaten Thätige, also selber zeitlich Thätige, kennen und festhalten, dies ist es, worauf hier Alles ankommt.

Hienach ist wohl

eher der Glaube an die Zeitlichkeit, als der an eine zeitlose Freiheit,

ein „praktisches Postulat".

Um nun noch auf jene immer wieder vernommene Meinung zurückzukommen, daß Kant nicht etwa bloß zwischen Nothwendigkeit

und Freiheit, sondern auch zwischen Determinismus und Indeter­

minismus vermitteln wollen: allerdings gibt er aus die alte Streit­ frage in der von ihm selbst gutgeheißenen Fassung, ob unsere Hand­

lungen, mitsammt den übrigen Begebenheiten in der Welt, in der Reihe der vorhergehenden wirkenden Ursachen bestimmt seien, nicht

eine ganz einfache Antwort.

Seine Unterscheidung zwischen Erschei­

nung und Ding an sich erlaubt ihm eben in diesen verschiedenen

Beziehungen Entgegengesetztes auszusagen.

Dies heißt jedoch nicht:

zugleich Determinist und Jndeterminist sein.

Daß unser Wollen

durch hinreichende Gründe bestimmt sei, wird von Kant weder für das inteüigible noch für das phänomenale Gebiet zugleich behauptet

und geläugnet.

In Betreff des erster» lehrt er, folgerecht aus sei­

nem kritischen Standpunkte, dogmatisch überhaupt Nichts; hingegen für das Wollen als in

die Erscheinung fallendes steht ihm das

zeitliche Vorangehen hinreichender Gründe völlig fest.

Setzt er aber

nicht diesem phänomenalen Determinismus einen Indeterminismus

allerwenigstens zur Seite? Daß ich nicht wüßte.

Er läßt es zwar

bei jenem nicht bewenden, und verwirft ihn beziehungsweise sogar, nämlich für das inteüigible Gebiet; aber er will ihn auch lieber gar nicht Determinismus, sondern nur Prädeterminismus genannt

wissen, und nur diesen erklärt er für unverträglich mit der Freiheit. Deßhalb ist es auch durchaus irreführend, die Kant'sche Freiheits­

lehre selbst Prädeterminismus zu nennen, wie ost geschehen ist. Das Prae soll dann freilich nicht Vor-, sondern Ueberzeitlichkeit bedeuten; aber außerdem, daß Beides doch nicht immer gehörig aus einander ge­

halten wird, haben wir den überzeitlichen Act zwar für frei, aber keines-

57 Wegs für indeterminirt anzusehen.

Die Freiheit besteht eben unserm

Philosophen nicht, wie dem Jndeterministen, in gleicher Möglichkeit

von

Entgegengesetztem, sondern in

der

Spontaneität, dem

Ver­

mögen von selbst anzufangcn, dem Vermögen aus eigner Gewalt

zu handeln; und Freiheit in diesem Sinne findet er nicht unverein­

bar, nicht einmal schwer vereinbar, mit Bestimmung durch zurei­ chende Gründe, mit Nothwendigkeit und Determinismus, wenn man

dem letztern Worte kein Prae vorsetzt.

Die Lehre, die nach der Absicht Kant's nicht über die Grenzen der praktischen Philosophie hinausgetragen werden sollte, von spe-

culativ-theoretischer Seite zu ergänzen und zu unterbauen, haben

Schelling und Schopenhauer unternommen.

Dem Indetermi­

nismus wie dem Determinismus in den gewöhnlichen Fassungen

beider Systeme als bloßer Zufalls- und Zwangslehren gleich abhold, findet auch Schelling die Freiheit nur im Jntelligibeln möglich. Zugleich erkennt er aber, daß die Bestimmtheit des jntelligibeln Acts

eine entsprechende Bestimmtheit des Wesens voraussetze, und nach

Verwerfung jener Lehren keine andere Freiheit, als eine mit innerer Nothwendigkeit identische, übrig bleibe.

Doch will er nicht, daß das

Handeln des Menschen aus dessen Wesen als einem ohne unser Zu­

thun gegebenen abfließe, sondern das Wesen selbst schon soll eine

That des Menschen und diese ein reales Selbstsehen sein, welches, dem Wesen begrifflich vorangehend,

Ebenso erklärt Schopenhauer:

es erst mache und ausmache.

„Ich gestehe willig ein,

daß

die

moralische Verantwortlichkeit des menschlichen Willens ohne Aseität desselben zu denken, auch meine Fassungskraft übersteigt. . . Wir

haben das Werk unserer Freiheit nicht in unsern einzelnen Hand­ lungen, sondern im ganzen Sein und Wesen (existentia et essentia)

des Menschen selbst zu suchen, welches gedacht werden muß als seine freie That" rc. haupten,

Aber es läßt sich in dieser Hinsicht nur so viel be­

daß wahrhaftiges Sein sofort auch Selbstsein bedeutet,

womit nicht eine Selbstverursachung gesetzt, aber jede solche Abhängig­

keit ausgeschlossen ist, bei der es gar nicht zu einem eigenen Sein käme, sondern das Sein nur das Sein eines Andern wäre und

58 Zwar von Kant herkommend könnte man finden, daß sogar

bliebe.

mit absoluter Unabhängigkeit des Seins die Freiheit noch nicht ver­

bürgt wäre:

„Ja, wenn ich gleich mein ganzes Dasein als unab­

hängig von irgend einer fremden Ursache (etwa von Gott) annähme,

so daß die Bestimmungsgründe meiner Causalität,

sogar meiner

ganzen Existenz, gar nicht außer mir wären; so würde dieses jene

Naturnothwendigkeit [aller meiner Handlungen als zeitlicher Vorgänge^ doch nicht im Mindesten in Freiheit verwandeln."

Auch dann nicht,

wenigstens Beides sich mit einander vereinigen lassen, wenn die Aus­

drücke „meine Existenz", „meine Causalität" ganz streng genommen

wären und sich so nehmen ließen trotz und innerhalb der Zeitlich­ keit?

Und wenn diese Bedingung erfüllt ist, bedarf es dann einer

absoluten Unabhängigkeit?

Aber freilich, wir haben uns Abhän­

gigkeit nicht bloß gegenüber andern Zeitwesen, wenn gleich nicht

ohne Gegenseitigkeit, gefallen zu lassen, sondern sie scheint für uns alle insgesammt eine absolute, jede Selbststäudigkeit ausschließende, zu sein,

doch

wenn

innern wie der

zweifellos

äußern,

all

das

in

der Erfahrung,

ohne ein ewiges Sein und Thun zu denken ist.

ewigen Sein

und

Thun

der

vorliegende Dasein und Geschehen nicht muß

das unsrige,

so

Aber in diesem

gewiß wie wir

überhaupt von uns wissen, irgendwie mitgesetzt sein,

und

diese

Mitsetzung ist mit unserer Selbstständigkeit so wenig unvereinbar,

daß sich nicht einmal sagen läßt, worin diese sich von jener unter­ scheiden sollte.

Die Art und Weise dieser Mitsetzung kann freilich

so wenig, wie die Ursetzung selbst, Sache wissenschaftlicher Ergrün­ dung sein.

Lohnender, als jenen aus dem Kant'schen Unersorschlichen

ge­

radezu in's Undenkbare führenden Weg weiter zu verfolgen, wird es sein,

zu prüfen, ob wir nicht die gleichfalls namentlich

durch

Schopenhauer in Umlauf gesetzte deterministische Formel, die, noch diesseit der intelligiblen Grenze bleibend, nur vom empirischen Cha­ rakter redet, uns aneignen können: jede Handlung eines Menschen

sei das nothwendige Product zweier Factoren, seines Charakters und

des Motivs.

Unter Charakter versteht Schopenhauer die

empirisch

erkannte beharrliche und unveränderliche Beschaffenheit eines indivi-

59 duellen Willens; unter Motiv eine durch das Medium der Erkenntniß wirkende Ursache, dadurch wirkend, daß sie, wie jede andere Ursache,

die Aeußerung einer gewissen Kraft, hier des Willens, hervorruft. Hier wird die Annahme der Unveränderlichkeit des Charakters den

nächsten Angriff herausfordern; indessen ließe sich auch nach ihrer Be­

seitigung die Abhängigkeit des Handelns vom Charakter festhalten: sie wäre dann auf ihn nur so, wie er sich bis zu dem Zeitpunkte

des jeweiligen Handelns gestaltet hat, zu beziehen, wie auch die Gleichung ax = y für jeden Werth, Unter Charakter

würden

den x annehmen mag, gilt.

wir aber verstehen die ein

bestimmtes

willensfähiges Subject von andern solchen unterscheidende, auf Grund

seiner Gesammtanlagen und zum Theil durch sein eigenes Wollen,

allmälig sich ausbildende, aber bereits bis zu einem gewiffen Grad

befestigte Art und Weise des letztern, oder ganz kurz mit Rümelin: „die zur Gewohnheit gewordene Weise des Wollens."

Läßt sich

Etwas in Betreff der Festigkeit vermissen, so kommt auch dies auf die Rechnung des Charakters,

Unvollendung desselben.

nämlich einer Zwiespältigkeit oder

Zweifellos nun haben wir ihn, so gefaßt,

oder besser das so und so charakterisirte Subject, als einen Factor

des Handelns, ja das Subject als den allein eigentlichen Factor,

nämlich als den Handelnden selbst, zu betrachten.

Wenn man dann

doch dem Charakter das Motiv als zweiten Factor,

unter diesem

Worte nur überhaupt eine mitwirkende Ursache verstehend, zugeseüt,

so läßt sich darunter nicht etwa eine Sucht, ein Hang, eine Geneigt­ heit zu einer bestimmten Art des Wollens, nicht Etwas von dem, was wir Triebfeder nennen, begreifen; dies ist zum Charakter zu zählen; auch Schopenhauer hat gewiß nicht z. B. eine Dieberei für das Product aus dem Charakter des Diebs und dessen Diebshang

erklären wollen.

Motiv kann hier aber auch nicht Zweck bedeuten,

da dieser näher oder entfernter gleichfalls vom Charakter abhängt. Dasselbe gilt sogar von dem bloßen Reize, wenn damit eine Gemüths­ regung, nicht nur ein sie hervorrufender Vorgang oder Gegenstand

gemeint ist.

So bleibt als Motiv mit sicherer Unterscheidung vom

Charakter nur übrig, was man unzweideutiger äußern Reiz nennen würde.

Allerdings nun wirkt dieser,

und zwar innerhalb gewisser

60 Grenzen auch einigermaßen seiner Stärke entsprechend, zum Wollen mit; aber kaum je in dem einfachen durch die Formel ausgedrückten

Verhältnisse, so daß

z. B.

die hundertfache Verminderung einer

charakteristischen Neigung zum Stehlen durch eine hundertfache Ver­

mehrung der stehlbaren Geldsumme ausgewogen, oder mit bloß Einer

dieser Veränderungen die Entschiedenheit oder auch etwa die Wahr­ scheinlichkeit des diebischen Wollens kleiner oder größer würde.

So

meinte es natürlich der Frankfurter Philosoph selbst nicht, schon weil

er sich überhaupt das Mathematische gern vom Leib hielt.

Aber der

Grundfehler seiner Formel ist, daß sie überhaupt das Wollen zu einem bloßen Product herabsetzt, zwar unter dem Vorbehalt des Rück­

griffs auf das Schopenhauer'sche allgemeine Weltprincip, den Willen, welcher aber schon darum, weil er Allerweltswille sein soll, nicht der

Wille der Freiheitsfrage sein kann. Keine Ursache kann einem Ding eine Thätigkeit entlocken, wozu es nicht durch seine Natur und seinen jeweiligen Zustand bereit wäre.

So kann auch keinerlei Motiv ein Wollen in einem Menschen Hervor­ rufen, wenn dieser nicht von sich aus dahin neigt, den Ruf eben mit

einem Wollen und diesem bestimmten Wollen zu beantworten.

Dies

verkennen hieße das Wollen nicht dem Menschen, dem man es doch zuschreibt, sondern vielmehr den Motiven beilegen.

Diese sind es

schon nach dem Sprachgebrauche nicht, die in oder durch uns wollen, sondern wir selbst sind es, die aus den Motiven wollen.

Wie Leib-

nitz erklärt hat: Nihil est in intellectu, quod non fucrit in sensu,

nisi ipse intellcctus, so dürfen wir mit einer ähnlichen Wendung sagen: Nihil est in volitione, quod non fuerit in motivis, nisi ipsa volitio. In dem Augenblicke zwar, wo das Wollen vor sich geht, ist

es begreiflich nicht mehr so in der Gewalt des Subjects, daß dieses es noch unterlassen könnte; darob darf aber nicht diejenige Gewalt

übersehen werden, welche mit dem Willensacte selbst ausgeübt wird. Es ist unter ihr nur nicht mit seltsamer Ueberbietung eine Gewalt

des Subjects über diesen seinen Act selbst zu verstehen, da wir eine uns zukommende noch höhere Gewalt, als es die durch unser

Wollen selbst sich erweisende ist,

nicht

einmal

ersinnen

können.

61

Daß unser Wollen, wie jedes andere geistige Thun, an bestimmte, theilweise auch äußere Bedingungen gebunden ist, müssen wir freilich sesthalten; aber es geschieht keiner Thätigkeit ein Abbruch durch ihre Abhängigkeit von Solchem, ohne das sie gar nicht stattfände. Selbst die vor oder nach der That oft so vernehmlich sich gelten machende Ueberzeugung, daß cs keineswegs unvermeidlich sei oder gewesen sei, so und nicht anders zu handeln, behält auch bei unserer Ansicht ihr gutes Recht, da das Wolle» wie jedes Ereigniß erst in dem Augen­ blicke, wo alle Bedingungen dazu beisammen sind, eintritt, bis da­ hin aber noch das Ausbleiben einer erwarteten oder das Hinzukommen einer entgegenwirkenden möglich ist. Ohnehin meint man mit dem Auch-anders-Können oft nur, daß derselbe Mensch in anderer äußern oder innern Lage oder ein anderer Mensch in gleicher Lage anders wollen könnte, was außer Frage steht. Genug, daß keinem Wesen ein Wollen ohne sein Wollen abgelistet oder aufgedrungen werden, Niemand in diesem Sinn ein nulcns volens sein kann. Von den Motiven insbesondere ist in dieser Hinsicht um so weniger zu fürchten, als sie alle entweder von vorn herein uns selbst augehören, oder, je äußerlicher sie gefaßt werden, um so gewisser erst durch uns selbst zu Motiven gemacht werden müssen. Hätte Adam keinen Apfel ge­ sehen, so würde er freilich in keinen haben beißen wolle»; wir werden darum nicht den erblickten Apfel für den Sünder halten. Die Motive werden nicht von außen in das Subject gelegt, wie nach der üblichen Vergleichung die Gewichte in die Wagschalen, so daß sie dasselbe, unbe­ kümmert um dessen Eigenthümlichkeit, nach Maßgabe ihrer eigenen Kräfte herniederzögen; etwas bloß Aeußeres, wie es die Motive nach dieser Auffassung sein würden, „zieht" in Sachen des Wollens gar nicht. Die wahren Willensgewichte und Motive, die zu einem Wollen nicht bloß Anlaß oder Stoff gebenden, sondern es selbst als solches bestimmenden, gehören demselben Subject an, dessen auch das Wollen ist, und bekommen ihre Stärke erst von ihm zugemessen — zwar nicht selbst schon von einem Wollen, geschweige von dem Abstractum Wille, aber von dem sonstigen geistigen Wesen und Zustand des Subjects. Während also die Wage dazu dient, die verhältuißmäßige Eigenstärke der Gewichte zu erweisen, und dies um so vollkommener leistet, je

62 weniger sie selbst mit darein spricht: so ist hingegen bei'm Wollen

die Stärke des Gewichtes von dem wollenden Subject abhängig, und wenn die Bedingungen des Ergebnisses keine gewollten find, so ist dafür dieses selbst ein Wollen.

Eine sehr unbegründete Besorgniß ist es hienach, die determi­

nistische Ueberzeugung führe folgerichtig dazu,

daß man die Hände

in den Schooß lege und sich willenlos von den Motiven dahintreiben

Selbst der Fatalismus ist nicht ganz wehrlos gegen den Vor­

lasse.

wurf, der ihm Ergebene müsse

sich vernünftiger Weise

jeder Ent­

schließung enthalten , da er glaube, daß über alles Künftige bereits

entschieden sei.

Außerdem,

daß dieser Glaube

nicht ausschließlich

dem Fatalisten eignet, hört dieser ebenso wenig, wie der Jndeterminist,

jemals in seinem Leben auf, Anreizungen zum Handeln in sich zu

verspüren, mag er gleich auch sie zu den unabwendbaren Fatalitäten zählen.

Sind aber diese Anreizungen bei ihm stärker, als die zum

Unterlasten,

so hat er

keine Einrede

von Seiten

dawider

seines

Systems zu befahren; vielmehr eben weil er überzeugt ist, daß für den Erfolg oder Nichterfolg doch Nichts auf sein Thun oder Lasten ankomme, kann er es insoweit damit nach Belieben halten, und eine Thätigkeit mag ihm auch abgesehen davon, was bei ihr herausjchaut,

bester als eine andere, oder Thätigkeit überhaupt besser als Unthätigkeit zusagen.

Vollends

aber unser Determinismus,

welcher

dem

Wollen einen durchans unersetzbaren Antheil am Weltgetriebe zuer­ kennt,

kann

unmöglich

den

närrischen

Einfall

verschulden:

alles

Wollen sammt seiner Motiviruug für gleichgültig ansehend, ans diesem — Motiv sich des Wollens enthalten zu — wollen.

Mair findet aber vielleicht, Subject

keine

andere Freiheit

es werde von mir dem wollenden beigelegt,

als

jene

Selbstthätigkeit

(Spontaneität), wie wir sie jedem Dinge, das wir als ein irgendwie

thätiges betrachten,

zugestehn.

Hiemit wäre nun

immerhin nicht

einseitig das Wollen auf die Linie der Thätigkeit des ersten besten

Naturdinges herabgesetzt, sondern auch diese jenem näher gerückt, als

gewöhnlich geschieht; in Wahrheit läßt sich schon die einfachste Bewegungsmittheilnng von einem Körper an einen andern nicht

als

ein bloßes passives Ausnehmen von Seiten des letztern fassen.

Ich

63 habe aber trotz der Unterordnung des Wollens unter den allgemeinern Begriff der Selbstthätigkeit das Eigenthümliche dieser besondern Art derselben nicht vernachlässigt, und will jenem Einwurfe jetzt noch weiter

Rede stehen.

Das wollende Subject und das erste beste Naturding,

oder sagen wir sogleich: das Atom, das ja Vielen für das einzige

eigentlich Wirksame in den Naturvorgängen gilt, unterscheiden sich

von einander wesentlich auch durch Folgendes.

Das Atom verräth,

nachdem es in unzählige Verbindungen ein- und wieder aus ihnen ausgetreten ist, keine Spur von seinen Erlebnissen, oder wenigstens

der Atomistiker braucht, um sich der Dienste zu erfreuen, die er von ihm verlangt, sich nicht um jene Schicksale zu bekümmern, sondern

läßt dasselbe sich in jedem Augenblicke wieder ebenso frisch und uner­ fahren an dem Naturlauf betheiligen, wie am ersten Tag; wogegen

wir es in unserm Falle mit einem nicht ohne Entwicklungsfähigkeit,

und bei jedem Wiüensact bereits vorangegangene Entwicklung, denk­

baren Wesen zu thun haben.

Dies würde nun vielmehr zu Ungunsteu

des letztern und seiner Freiheit sprechen, wenn das Wollen gemäß jener Kant'schen Ansicht schon als zeitlicher Vorgang, und daher von einer nicht ungeschehen zu machenden Vergangenheit abhängig,

unfreies sein müßte.

ein

Indessen ist das Atom, obgleich nicht au sein

Vorleben gebunden, doch nie deßhalb (auch bei Epikur nicht deßhalb)

in den Verdacht freiheitlichen Wesens gekommen, und es würde ihm selbst dann nicht mit Grund ausgesetzt sein, wenn es die ihm zuge­

schriebenen Wirkungen mit Willen ausübte.

Wir können ja die Probe

anstellen und ihm die Willensfähigkeit auf eine Weile leihen,

wäh­

rend wir es im Uebrigen wie vorher unbelastet von seiner Vergangen­

heit lassen.

Es würde ihm dann noch immer Etwas von dem fehlen,

worauf wir bei uns in Sachen der Willensfreiheit Gewicht legen, und dieser Mangel würde durch jene Geschichtslosigkeit des Atoms nicht vergütet, sondern vielmehr verschuldet sein.

in

Daß der Mensch

seinem jeweiligen Wollen von seiner Vergangenheit abhängt,

besagt

eben

nicht bloß:

er

kann sie

nicht widerrufen und sich

ihren Nachwirkungen nie ganz entziehen, sondern auch: er ist nicht

erst von heute, er hat sich vielmehr wesentliche Voraussetzungen seines jetzigen Wollens und Handelns durch sei» bisheriges bereitet.

Ohne

64 der Meinung beipflichten zu können, daß er nach Dasein oder Wesen

selbst sich geschaffen habe oder zeitlos in intelligibler Werkstätte sich schaffe, dürfen wir also doch behaupten, daß er nicht nur der Schmied

seines Glückes, sondern

auch

der Schmied seines Charakters, und

hauptsächlich durch das Letztere auch das Erstere sei; er hat durch sein eigenes bisher in bestimmter Richtung fortgesetztes Wollen diese

bei sich so befestigt, wie wir sie nun eben „charakteristisch" für ihn finden.

Von ihr, der so befestigten, d. h. von sich selbst, wie er bis zu einem

gegebenen Zeitpunkte „sich gemacht" hat — geworden ist, aber mit eigenem Wollen und Handeln — ist er nun allerdings nicht zugleich Er wird es vielleicht wieder, wenn auch nie bis zur völligen

frei.

Verwischung des Dagewesenen; er kann sich gründlich ändern, aber

ein Rückzug aus aller innern Determination in reine Jndetermination, und dann wieder ein Heraussprung aus dieser in eine neue, nächstens

abermals abzuschüttelnde, Bestimmtheit kann nie stattfinden, sondern stets nur eine neue Determination auf Grund der gesammten bis­

herigen, ohne welche das Wesen selbst, welches jene sich geben soll,

nicht wäre. Ich habe die Besprechung der Willensfreiheit mit der Erinnerung

eröffnet, daß es sich in dem berühmten Streite nicht um Freiheit in

der gewöhnlichen

Bedeutung

dieses Wortes, Ungehindertheit oder

Zwanglosigkeit, sondern um Freiheit vom Causalgesetze handle.

Nach

der so eben wiederholten entschiedenen Ablehnung der letztem scheint jetzt aber, trotz der ebenso entschiedenen Absage gegen eine einseitige Nothwendigkeitslehre, doch nur die erstere Freiheit übrig zu bleiben,

also das von keinem meiner Leser je Bezweifelte, daß wir die Fähig­ keit zum Wollen besitzen und es uns in einem gewissen Bereich und

unter

gewissen Bedingungen auch

auszuüben.

unverwehrt

ist,

diese Fähigkeit

Gewiß nun hat diese Ungehindertheit gar keinen Werth,

wenn nicht etwas Weiteres hinzukommt.

Aber dieses Weitere kann

nicht in einer indeterminirten Freiheit bestehen, sondern nur in der

Unterwerfung unter eine neue und andersartige Nothwendigkeit, in der willigen Folgsamkeit gegen die Forderungen unseres Werthbewußt­ seins.

Im Verhältniß zu entgegenwirkenden Anreizungen ist diese

65 Folgsamkeit allerdings selbst wieder Freiheit, nämlich von ihnen — sittliche Freiheit; und man darf füglich sagen, diese allein sei rechte Freiheit, oder das Rechte bestehe nicht in bloßer, sondern in recht angewandter, mit rechter Gebundenheit vereinigter Freiheit. Aber aus dem, rein formalen, Gesichtspunkte des Freiheitsproblems läßt sich, da hier anch um etwelche Ungehindertheit und deren Maß nicht gestritten wird, wirklich fragen, was man denn eigentlich, abge­ sehen von dieser, über das Wollen selbst hinaus mit desseu Freiheit uoch weiter wolle. Hier muß ich freilich voraussetzen, daß mein Leser mit mir unter demjenigen Wollen, welches er mit unmittelbarer Gewißheit kennt, keine Thätigkeit verstehe, womit er sich nicht völlig ebenso unmittelbar und zweifellos auch feiner selbst als des Thätigen und Wollenden bewußt wäre. (Ich stimme Lotze bei, wenn er sogar von der Empfindung sagt, was wir in uns beobachten, sei nie diese allein, sondern stets nur dies: ich empfinde; wo die Meinung natürlich nicht die ist, daß dieses bloße Bewußtsein, welches sich in dem „Ich empfinde" oder „Ich will" ausdrückt, zugleich eine wissen­ schaftliche Belehrung über die Natur und Möglichkeit eines solchen Bewußtseins und Bewußtseieuden enthalte). Wie ferner bekannt ist, betonen auch die Indeterministen und vornehmlich sie, daß da, wo Wollen ist, ohne Weiteres auch Freiheit sei. Ich kann dies nur gerade von ihrer, der Jndeterministen, Freiheit nicht zugeben, behaupte aber in gewissem Sinne noch entschiedener, als sie, daß wir zur Willensfreiheit Nichts außer dem Wollen selbst brauchen — nämlich in dem Sinne: zur Anerkennung alles dessen, was unter dem Titel Willensfreiheit mit Recht verfochten wird, genüge es, das Wollen nach seiner ganzen Thatjächlichkeit und Eigenthümlichkeit nament­ lich in der Hinsicht gelten zu lassen, daß es nichts uns Ange­ thanes, sondern, trotz seiner unzweifelhaften strengen Verursachung, doch das wahrhaft eigene innere Thun des wollenden, und ebendamit auch nicht in das nächstandringende Interesse des jeweiligen Augenblickes verlorenen, Subjects ist. Nicht darin fehlen die ein­ seitigen Deterministen, daß sie die indeterministische Freiheit ver­ werfen, sondern darin, daß sic mit ihr noch etwas Anderes ausschüttcn, das so eben wieder Hcrvorgchobenc, was zum Wollen gar nicht erst Hobler. (Elemente e. vyiles.

rviheir-Mehre.

•*)

66

hinzugefügt zu werden bedarf, sondern in dem treu thatsächlich auf­ gefaßten von vorn herein enthalten ist und sich um kein Haar leichter bei Seite schaffen läßt, als die Thatsache des Wollens selbst. Dieser Hauptpunkt gelangt auch bei den Jndeterministcn nicht zu seinem Rechte, da deren eigenthümliche Lehre gerade darin besteht, den Zu­ sammenhang zwischen dem Subject und seinem Wollen, auf welchen sie doch selbst so großes Gewicht legt, in Wahrheit aufzuheben, indem sie das Wollen ebenso wenig durch das Subject wie durch andere Ursachen, und durch jenes auch nicht im Zusammenwirken mit solchen, eigentlich determinirt werden läßt. Der Indeterminismus hat in weiten Kreisen offenbar nur darum so leichtes Spiel, weil der Hörer das Wort Freiheit zunächst gar nicht im eigenthümlich indeterministischen, sondern vielmehr natürlich iu dem ihm selbst, vom gewöhnlichen Sprachgebrauche her, geläufigen Sinne nimmt. Man will sich sein Wollen nicht nehmen lassen — dies ist der verständlichste wie zugleich verständigste Sinn alles Sichsträubens wider den Determinismus, das ja auch vollberechtigt wäre, wenn von diesem wirklich jenem Besitze oder seiner Gewißheit Gefahr drohte. Man will sich nicht abstreitcn lassen, daß man wahrhaftig will und selbst will, und in diesem einzigen Falle ist schon das Rechthabenwollen ein unumstößlicher Beweis für das wirkliche Recht­ haben. Man meint nicht, daß das Wollen an keine Bedingungen und Ursachen, theilweise auch außer dem wollenden Subject gelegene, ge­ knüpft sei; aber man weiß, daß man durch Nichts in der Wett zu einem Wollen gebracht werden kann, ohne daß man eben will und selbst will. An einer Freiheit in der Bedeutung: Freiheit vom Causalgesetze liegt Niemandem außer dem Jndeterministen Etwas; vielmehr wird die Abhäugigkeit des Wollens von gewissen Ursachen, insbesondere den Motiven, allgemein vorausgesetzt. Und diese Voraussetzung hat, so paradox es lauten mag, einen wesentlichen Antheil an dem Beifalle, welchen der Jndeterminist, wenn er zum Fenster hinaus spricht, sich erwirbt. Der Hörer nämlich hat bisher unter seiner Willensfreiheit schwerlich etwas Anderes verstanden, als sich in seinem Thun nnd Lassen un­ gehindert so verhalten zu können, wie er gemäß seinen Motiven ge­ willt ist. Er wird also auch, wenn man ihm erzählt, daß cs Käuze

67

gebe, welche die Willensfreiheit läugnen, zunächst an keine andere, als diese ihm allein bekannte, denken, und wenn man ihn auf den Unterschied zwischen Freiheit des Wollens und Freiheit des dem Wollen entsprechenden Verhaltens aufmerksam macht, dann zwar auch jene zugeben, aber kaum in einem andern Sinne, als diesem: gemäß dem ihm jcwcilen am gewichtigsten erscheinenden Motiv zu wollen. An dieser zwiefachen Freiheit wird er genug haben. Wenn er noch darüber hinaus mit dem Jndeterministen in dessen eigenthümlicher Lehre übcreinznstimmen scheint und vielleicht selber glaubt, so wird es darum geschehe», weil derselbe sich nun einmal überhaupt zum besondern Vertreter der Freiheit aufwirft, nicht aber, weil dem Hörer auch klar wäre, daß der Mann unter dem schönen Worte wirklich ein Vermögen versteht, sich im Wollen sogar an die eigenen Motive nicht zu kehren. I. Priestley hat in dieser Hinsicht mit Recht gesagt: „Die Menschen im Allgemeinen haben keine Vorstellung von einem Wollen, das nicht durch ihm vorangehende Motive geleitet wäre; und wenn man ihnen von einer nicht durch Motive, gute oder schlechte, bewirkten geistigen Determination spräche, so würden sie nie auf den Gedanken gebracht werden, daß irgend etwas Moralisches, irgend etwas Tugendhaftes oder Lasterhaftes daran sein könnte, irgend Etwas, das der geeignete Gegenstand von Lob oder Tadel, Lohn oder Strafe sein könnte. Die ganze Vorstellung, welche die Masse der Menschen von Freiheit (liberty) hat, ist vollkommen ver­ einbar mit und fließt in Wahrheit aus den Grundsätzen moralischer Nothwendigkeit; denn sie meinen damit Nichts weiter als eine Frei­ heit (freedoni) von fremder Macht, und daß ihr Wollen nur durch ihre eigenen Ansichten von den Dingen und durch in ihnen selbst wirksame Motive beeinflußt oder geleitet sei. Ueber diese ihre Vor­ stellungen gehen sie nicht hinaus, und zur menschlichen Lebensführung ist dies auch nicht nöthig."') In der Hauptsache hiemit überein*) Wenn Priestley einen Anspruch auf Selbstbestimmung ebenso thöricht >vie

einen auf Selbstexistenz findet, so möge man hiezu das oben S. 57 s. Bemerkte vergleichen. — Bei diesem Anlasj gedenke ich auch der Angabe Kant s, das; Priest­

ley als ein echter, consegnent verfahrender Fatalist die Rene für ungereimt er kläre. Aber außerdem das; Priestley ausdrücklich und mit Recht seinen Tetermi-

r>*

68 stimmend bemerkt Herbart:

„Die Motivität (Bestimmbarkeit

des

Willens dnrch Motive) ist selbst das [ober wie ich lieber sagen würde: gehört selbst mit zu bem], was man im gemeinen Leben unter Frei­

heit versteht;

daher muß auch

im gemeinen Gespräche der Satz,

der menschliche Wille ist frei, niemals angefochten werden; man wird sonst mißverstanden."

Trotz alle dem verweigere ich dem Indeterminismus nicht das

ausdrückliche Zugeständniß, daß er nicht etwa nur, durch die Eigen­ artigkeit des Wollens und seiner Ursachen, erklärlich, sondern so lauge

auch sehr berechtigt ist, als ihm die Einseitigkeiten, zwar nicht des

Determinismus, aber vieler Deterministen das Leben fristen.

Ja,

wie wir uns vom rechten Determinismus überzeugt haben, daß er

den Kern dessen, was unter dem Namen der Willensfreiheit vertreten wird, unversehrt läßt, so wäre auch manche von indeterministischer

Seite kommende Vertheidigung derselben zu loben, wenn sie sich damit begnügte, nur jene Einseitigkeiten zurückzuweisen,

und nicht der

große Streit sich nun einmal wesentlich um die alte Frage drehte:

Utrum sit possibile, quod voluntas ceteris omnibus eodem modo se habentibus determinetur aliquando ad unum oppositorum, aliquando ad aliud.

Diese Frage kann nach allem Obigen nur verneint werden,

und darum kann ich mich trotz der relativen Berechtigung, welche ich

dem Indeterminismus zugestanden, doch nur auf die entgegengesetzte Seite stellen und mich nur zu einer deterministischen Freiheit bekennen, nisnuis vom Fatalismus unterscheidet, spricht er sich wenigstens

in bem mir

allein zu Gebot stehenden hieher gehörenden Hauptwerke, The docfrine of Philosophical N’ecessity, Lond. 1777. p. 86 sq., anders nber die Rene aus; mir auf indeterministischem Standpunkte findet er sie ungereimt, während er seinerseits ihr gerecht zu werden so gut wie Haut sich anstrengt. Dieser wird also seine Mir

gäbe entweder aus einer andern Schrift Priestley's oder von einem Beurtheiler

desselben (etwa Reid) entlehnt haben; mit meinem Bischen Litteratur kann ich das nicht ausmachen.

2.

Hom Wollen als Sewegungsurlacho. Ich habe btefyer von dem Wollen selbst, diesem geistigen Thu», nicht aber oder nur beiläufig von demjenigen Thun, welches die Ausführung des erster» heißt, gesprochen. Aber wollen bedeutet für das Bewußtsein des wollenden Subjects immer zugleich: auöführen wollen. Hievon macht auch der Fall, wo ich Etwas durch einen Andern thun lasse, nur scheinbar eine Ausnahme: meine Ausfüh­ rung meines Wollens besteht hier in der Ertheilnng des, wie ich erwarte, wirksamen Auftrags; das weiter Nöthige geschieht, wenn es wirklich geschieht, wessen ich ja auch bei eigenem Handanlegen nicht immer sicher bin, durch das Wollen und Handeln des Beauf­ tragten, wie in andern Fällen durch die von mir hervorgerufene Leistung einer Naturkraft. So gewiß aber, als das Wollen zugleich Ausführenwollen ist, setzt es den Glauben an die Ausführbarkeit, und eine Bestätignng dieses Glanbens voraus, wie wir sie auch durch unzählige Erfahrungen zu erhalten meinen; und so möchte es scheinen, daß man eine Bewegung seines Leibes jemals zu wollen gar nicht anfangen könne, ohne sie bereits einmal gewollt nnd die Erfahrung, daß dies Etwas helfe, gemacht zu haben. Wenn gleich nun dieser scheinbare Widerspruch sich durch den Uebergang zuerst unwillkürlicher Bewegungen in willkürliche und die nur allmälige Ausbildung der letztern auflösen lassen mag, so fragt cs sich doch immer noch, wie wir mit der Ueberzeugung, daß eine Bewegung in unserm Leibe und mittelbar in andern Körpern auf unser Wollen erfolgen könne, zu der Lehre von einem die ganze Körperwelt be­ herrschenden Mechanismus zu stehen kommen. Derjenige, welcher

70 diese Lehre in die neuere Philosophie eingeführt hat, Descartes,

nahm überdies einen substantiellen Gegensatz zwischen den körperlichen und den geistigen Dingen an, das Wesen der erstern in die Ans-

dehnung, das der letztern in das Denken setzend.

Dessenungeachtet

bestritt er nicht die Wechselwirkung zwischen Leib und Seele im

Menschen, wie denn in der That ein solches Verhältniß zwischen

Substanzen ebenso wenig durch deren bloße Ungleichartigkeit aus­ geschlossen, als durch deren bloße Gleichartigkeit erklärlich ist.

Aber

cs ergab sich ihm die Schwierigkeit, den Einfluß des Willens aus die

Bewegungen, selbst unsere eigenen, mit der von ihm angenommenen unveränderlichen Bewcgungsquantität in der Welt zu vereinigen.

Die

Lösung lautete, wie auch noch bei Spinoza in seiner frühern Zeit, der Wille vermöge nur die Richtung bereits in unserm Leibe ge­

gebener zur

abzuändern.

Bewegungen

Läugnung

jeder

Wechselwirkung

wie überhaupt zwischen

körperlichen

schritt

Spinoza

zwischen und

Leib

aber

dann und

Seele,

geistigen Dingen,

fort,

und faßte deren gegenseitiges Verhältniß als das zwischen bloßen

Modificationen

zweier

Attribute (Ausdehnung und Denken) der

Einen göttlichen Substanz, welche beiden er sich als völlig selbst­

ständig gegen einander, wiewohl einander parallel laufend, dachte. Gleichzeitig lehrten andere, Denker,

dem Cartesianismus treuer gebliebene

die sogenannten Occasionalisteu,

Veränderung

auf

der Einen

daß Gott von einer

der beiden Seiten jewcilcn nur —

immerhin nach einer diesfalls beständig von ihm beobachteten Regel

— die Gelegenheit nehme, um eine entsprechende Veränderung auch auf der andern zu bewirken.

Leibnitz endlich erklärte es gegenüber

Descartes für ebenso unzulässig, daß die Seele die Richtung einer vorhandenen Bewegung, wie daß sie die bewegende Kraft abändere;

auch darin habe sich dieser Philosoph geirrt, daß er die Quantität

der Bewegung für die der bewegenden Kraft hielt; nicht jene, nur

diese erhalte sich; nicht minder aber auch die Quantität der Rich­ tung nach einer beliebigen Seite hin in der Welt, d. h. die Quan­

tität des Fortschrittes in der Gesammtheit irgend welcher auf ein­ ander wirkenden Körper in Einem

entgegengesetzten

Sinne

Sinne,

stattsindendcn.

nach Abzug

des

Den Occasionalisten

im warf

71

Leibnitz vor, das; sie ein beständiges Wunder in den Weltlauf ein­ fuhren; denn nicht die Seltenheit eines Ereignisfes mache dasselbe Sn einem wunderbaren, sondern daß, wie hier der Fall wäre, Gott Etwas thue, was die Kräfte überstiege, die er den Geschöpfen ge­ geben habe und in ihnen erhalte. Von Spinoza ist Leibnitz schon durch seine Annahme unzähliger und zwar an sich nur vorstellender Substanzen geschieden. Zch werde auf diese Gedankenkreise zurück­ zukommen haben, gedenke mich jedoch hier vorzugsweise mit einigen neuesten^' gemachten, doch mehr an diese ältern, als an die einfluß­ reichsten zwischcnliegenden philosophischen Systeme, anknüpfenden Versuchen zu befassen, das Problem der WillenSmacht und zugleich Willensfreiheit mit den Mitteln der Mathematik und Mechanik zu lösen, und zwar mit einem der Freiheit, sogar im indeterministischen Sinne, günstigen Ergebnisse, indem dieselbe nämlich für unentbehr­ lich zum Verständniß der Bcwegungsvorgänge selbst, zur Ausfüllung einer von der mathematisch-mechanischen Gesetzgebung offen gelasfcuen Lücke, erklärt wird. Diese Versuche geben mir zugleich Gelegen­ heit, die heute unumgängliche Frage vom Verhältniß der Willens­ freiheit zum Gesetz der Erhaltung der Energie zur Sprache zu bringen, soweit man es von der gegenwärtigen Schrift erwarten mag. In dem 1861 erschienenen (mir nur aus fremden Anführungen bekannten) Tiaite de 1‘enchainenient des idees foiidainentales dans les Sciences et dans shistoire versuchte der Mathematiker Eournot die Annahme eines besondern Lebensprineips durch Hinweis darauf zu stützen, daß durch zunehmende Vervollkommnung einer Maschine der Betrag physischer Arbeit, welche der mit ihrer Lenknng und namentlich ihrer In-Gang-Setzung Betraute aufzuwenden hat, sich in's Unbestimmte fort verringern lasse. Und dieser Betrag könne im strengen Sinne gleich Null werden, wo es sich um die Lenkung eines lebenden Wesens handle. Die Wirksamkeit des lenkenden Princips sei hier nicht nach Art der physischen Kräfte zu verstehen, nicht so, daß es seine Thätigkeit zu der ihrigen hinzufüge oder diese durch eine entgegengesetzte Thätigkeit von gleicher Art aufhebe, son­ dern so, daß es denselben eine geeignete Richtung ertheile, also wie

72 nach Descartes die Seele gewissen Leibesbewegungen, und was der

Mensch durch überlegte Berechnungen zu Wege bringt, würde die Lebensenergie spontan, ohne Bewußtsein ihrer selbst, und mit un­ endlich wundervollerer Kunst thun.

Daß der Verfasser die kleine

vorgängige oder auslösende Arbeit nicht durch eine direkte Beweis­

führung zu vernichten vermöge, schreibt er einer bloßen Unvollkommen­ heit seines logischen Verfahrens zu. Das Unternehmen Couruot's hat einen Fortsetzer in Boussi-

uesq (in Lille) gefunden, hauptsächlich in der Schrift: Couciliation du verkable determinisme mecauique avec l’existence de la

vie

Mit seiner Auffassung

der

et de la liberte morale, Par. 1878.

Lcbenserscheinungen glaubt Boussinesq sich im Einklang mit Natur­ forschern wie A. v. Humboldt, Berzelius, Cl. Bernard, Berthelot.

Die bei diesen sich findende Läugnung

einer eigentlichen Lebens­

kraft, einer Kraft im Sinne der Mechaniker, Physiker und Chemiker,

komme, in die Sprache der Geometer übersetzt, auf die Annahme hinaus, daß die wirkliche Beschleunigung jedes Atoms eines beseelten Organismus eine vollkommen determinirte Function seiner Lage be­

züglich auf andere Atome sei, genau entsprechend den physicalischchemischen Gesetzen; mit andern Worten, daß dieselben Differential­

gleichungen die Bewegungen der Atome eines lebendigen Organismus

wie derjenigen eines todten Körpers regieren.

Hieraus folgt jedoch

nach unserm Verfasser keineswegs die Alleinherrschaft der erwähnten Gesetze über die lebenden Wesen, wie namentlich auch von Berthclot und Cl. Bernard noch die Dazwischenkunft einer besondern lenkenden

Kraft zugelassen werde, ohne welche die physicalisch-chemischcn Kräfte zwar wohl unter passenden Umständen die unmittelbaren, die Mate­ rialien des Organismus bildenden Principien hervorbringen tonnten, nicht aber dieselben in Zellen und Organe von bestimmten Formen

zu gruppiren vermöchten.

Dieser Auffassung eine mathematische und

mechanische Begründung zu geben, ist es, was der Verfasser sich vorsetzt.

Er fußt darauf, daß anerkanntermaßen manche Differential­

gleichungen von Bewegungen außer den allgemeinen Lösungen auch

singuläre zulassen, indem die Gleichungen es dem betreffenden Körper

an gewissen Stellen seines Weges, daß ich so sage: „frei" lassen, die

73 Eine ober die andere von verschiedenen möglichen Bahnen einznschlagcn oder auch sich an den Gabelungspnnkten beliebig lange anfznhalten. Solchen Fällen Entsprechendes komme, lehrt Bonssinesq, auch in der Wirtlichkeit vor, und da läßt er nun die „ertraphysische" Thätigkeit eines besondern lenkenden Princips in den Riß treten, unter welcher er indessen nicht eine außeriiatürliche, sondern nur eine nicht physiealisch-chcmische verstanden wissen will; er findet die Gel­ tung der singulären Integrale au ihrem Ort ebenso natürlich, wie die der allgemeinen in der anorganischen Natur — jenes ans dem Ge­ biet der Lebenserscheinungen und namentlich auch der willkürlichen Bewegungen. Ein beseeltes Wesen würde hienach eben das sein, dessen Bewegungsgleichungen singuläre Integrale zuließen, indem sie, mit sehr kurzen Unterbrechungen oder sogar stetig, durch ihre In­ determination die Dazwischenkunft eines besondern lenkenden Prineips hervorriefen. Dieses würde, sehr verschieden von dem Lebensprineip der alten Schulen, zu seinem Dienste keine mechanische Kraft haben, die ihm einen Kampf mit den von ihm in der Welt vorgefnndenen Kräften erlaubte; es würde nur von deren in den erwähnten Fällen sich zeigendem Ungcnüge Gebrauch machen, um die Reihenfolge der Erschei­ nungen zu beeinflussen, nicht eine neue mechanische Wirkung hervor­ bringend, sondern nur den vorhandenen Kräfte-Systemen die „Richtung" gebend. Gleichviel ferner, ob es mit dem Charakter von Bewußtheit oder Uubewußtheit, von Freiheit oder Nothwendigkeit wirke je nach den verschiedenen Lebewesen, würde es in Ausübung treten, wie die physiealisch chemischen Kräfte selbst, sobald ihm die Gelegenheit dazu sich böte ober gewisse beterminirte Bedingungen sich verwirklicht fänden. Dereu Existenz würde jedoch keineswegs dem Willen seine Wahl vor­ schreiben ; im Gegentheil würde sie ihn in den vollen Besitz seiner selbst, in den Stand, sich zu enthalten oder auf seine Art zu handeln, setzen. Bonssinesq hatte vor der Veröffentlichung des angeführten Haupt­ werkes das Wesentliche seiner Entdeckung in der Pariser Akademie der Wissenschaften durch de Saint-Ven aut vorlegen lassen, welcher ihm auch mit einer eigenen Arbeit seeundirte (Comptcs remlus, 1877). Die Hauptsätze dieser Arbeit sind folgende. Keines der für die Lö­ sung der mechanischen Probleme erforderlichen allgemeinen Gesetze

74 wird durch einen für frei angenommenen menschlichen Act verletzt, wie insbesondere vom Gesetze der Erhaltung der Energie gezeigt wird;

auch die

in unserm Leib und unserm Denkorgan hervorgerufenen

Z. B. die Auslösung eines

Vorgänge machen hier keine Ausnahme.

beträchtlichen Gewichtes verlangt freilich die Anwendung einer dem System, welchen dasselbe angehört, fremden Kraft; diese kann jedoch

in's Unbestimmte verringert werden. Betrachtet man die Explosionser­ scheinungen, und die Schwäche eines eine Festung zerstörenden Funkens,

so wird man sich überzeugen, daß das Verhältniß zwischen der Arbeit,

welche eine Verwandlung potentieller Energie in actnelle dcterminiren kann, und der Quantität der so umgestalteten Energie keine andere

Grenze der Kleinheit hat,

als Null.

Und es muß dieser Grenze

gerade bei der Thätigkeit unseres Gehirnes auf unsere Glieder sehr nahe kommen, gemäß der Beschaffenheit der hier auch zu den größten Muskelanstrcngungen dienenden Materie und ihrer Bewegungen; auch ist nicht nöthig, daß die Seele, um eine solche Hiruschwingung zu determiniren, eine physische Kraft, eine kleine Quantität von Arbeit oder mechanischer Energie hinznbringe.

Boussinesq hat durch I. Bertrand (Journal des Savants, 1878)

eine Widerlegung erfahren, von der ich, freilich kein Mathematiker, nicht absehe, was sich dawider sollte vorbringen lassen; und zu keinem

günstigern Ergebnisse, als Jener, sind du Bois-Ncymond (Vortrag über die sieben Welträthsel, gehalten 1880), I. Delbocnf und A. Fouilloe

(diese Beiden in der Revue philosophique, 1882) gekommen.

ich mir doch auch

Wenn

noch meinerseits einige Bemerkungen über

die

Angelegenheit erlaube, so geschieht cs, weil cs sich dabei nicht bloß um mathematische Sätze, sondern vielmehr um daraus gezogene Con­

sequenzen in Betreff ganz anderer Dinge handelt; weil ich mir ferner bei völliger Enthaltung den Tadel zuzöge,

daß ich an einer merk­

würdigen Entdeckung über meinen Gegenstand ruhig vorbeiphilosophire; weil ich endlich auch der von mir bemerkten Neigung entgegentretcn

möchte, die vorliegende Meinungsverschiedenheit unter den Mathe­ matikern im Geiste dcr neuen Hypothese selbst wie einen Fall insta­

bilen Gleichgewichtes zu behandeln, so daß ein Minimum oder Zero philosophischer Gründe genügen würde,

um sich für deu Jndeter-

75 minismns zu entscheiden. Was kann cs doch für diesen abtragen, daß cs Bewegungsgleichungen gibt, deren allgemeine Lösungen eine gewisse Unbestimmtheit darbieten? Vor allen Dingen haben wir cs hier mit der Unbestimmtheit nicht wirklicher Vorgänge oder Zustände, sondern bloßer Gleichungen }ii thun, obschon auch diese in demjenigen, was sie von jenen aussagen sollen und wollen, bestimmt genug sein mögen. Von einem gewissen Punkte seiner Bahn hinweg mag ein Körper, soviel von den Gleichungen abhängt, einen oder einen andern von verschiedenen Wegen einschlagen oder auch beliebig lange der Ruhe pflegen. Aber um auS dieser Unbestimmtheit hcrauszukommcn, bedarf cs weder im Körper selbst noch irgendwo außer ihm eines einem indetcrminirtcu Wollen ähnlichen Thnus, da er gar nicht au ihr leidet. Nur der Mathematiker leidet gewissermaßen au ihr, d. h. an der Ungewißheit, welche der verschiedenen dem Körper offen stehenden Möglichkeiten sich verwirklichen wird; aber eben in dem Wissen nm diese verschiedenen Möglichkeiten und um die Abhängigkeit der Ent­ scheidung von besondern Bedingnngcn besteht hier die mathematische Einsicht. Eine der Erkenntniß einer Lache anhaftende Unbestimmt­ heit, wie sie hier bei der für den Mathematiker nothwendigen Abstraetion unvermeidlich ist, darf man doch nicht für die Erkenntniß einer Unbestimmtheit der Lache anschen. Wenn wirklich einmal ein Körper auf einem Gipfelpunkte seiner Bahn sich zu besinnen scheint, ob er sogleich wieder hinuntersteigcn oder eine Weile ansrnhen wolle, so ist er eben einstweilen zur Ruhe determinirt, und cs wird hiebei solange sein Bewenden haben, als bloß eine Kraft, die in mechanischem Betracht gleich Null ist, sich um ihn bemüht. Vergeblich hat man diese Nullität vermittelst des Begriffes der Auslösung annehmbarer zn machen gesucht. Die auslösende Kraft, so klein sie auch im Ver­ hältniß zu der anszulösendeu fein mag, kau» doch nie gleich Null sein, nie dieser auch nur beliebig nahe kommen. Um ein von du Bois-Reymond gebrauchtes Beispiel zu wiederholen: selbst der eine Lawine zu Fall bringende Flügelschlag einer Krähe, so verschwindend klein er ist gegen die Kraft der schließlich zu Thal stürzenden Lchneemassen — in der Nähe bleibt er ein Flügelschlag, dem ein bestimmtes Gewicht auf bestimmte Höhe gehoben entspricht. „Lo wenig kann

76 die anslösende Kraft an sich wahrhaft Null sein, daß, soll nicht die Auslösung versagen, sie nicht einmal unter einen gewissen, von den

Umständen abhängigen „„Schwellenwerth""

sinken darf."

Es wäre

indessen Schade, wenn der moderne Indeterminismus nicht ans diese

nulle Kraft verfallen, um nicht zu sagen: hereingefallen, wäre; sie paßt nicht übel zur Gesellschaft eines Wollens, das nicht ohne Ur­ sache sein und doch nicht eigentlich verursacht sein soll.

Die bereits erwähnte Arbeit von I. Delboenf ist betitelt: Dctcrniinismc

et

libcrte.

La lihorte

demontrce

par la mecaniquc.

Also nicht mehr nur conciliee avec ..., sondern demontrce par ...

Aber dieser belgische Denker ist in der That zu bedeutenden Ansprüchen berechtigt; den Scharfsinn und die Reichhaltigkeit seiner vorliegenden Abhandlung gebührend anznerkennen, fühle ich mich um so mehr ge­

drungen, als ich dem von ihm versprochenen Beweis gleichfalls nicht für erbracht ansehen kann und mich in Berichterstattung wie Beur­ theilung auf die Hauptpunkte beschränken muß.

In dem ersten seiner drei Artikel, „DieData desFrciheitsproblems", sucht der Verfasser nachzuweisen,

daß es weder den Deterministen

gelinge, den freien Willen, wie er durch das allgemeine Bewußtsein und Verhalten, auch ihr eigenes,

bezeugt

werde,

als

eine

bloße

Illusion darznthun, noch den Jndetcrministen, uns von dem Vor­

handensein von Kräften zu überzeugen, die fähig wären, ihre Inten­ sität oder ihre Richtung oder ihren Angriffspunkt abzuändern und

mithin die Summe der Energie im Weltall zu vermehren oder zu vermindern.

Besitzt

aber (ich lasse jetzt auf eine Weile dem Ver­

fasser das Wort) der Mensch nicht das Vermögen, einen beweglichen

Gegenstand, der nach der Linken geht, nach der Rechten zu führen, so ist er nicht frei.

Er vermag es jedoch, und zwar unbeschadet

des Gesetzes von der Erhaltung der Energie — dadurch daß er über die Zeit verfügt.

Dies sucht der zweite Artikel, „Beweis der Existenz der Frei­

heit", darznthun.

Das Princip der Erhaltung der Kraft bedarf der

Ergänzung durch ein höheres, das der vom Verfasser so betitelten

Fixation der Krast.

Den fast banal gewordenen Satz, daß Nichts

in der Welt verloren gehe, weder Stoff noch Kraft, so verstanden,



'n



wie Jedermann ihn verstehe, nennt er radikal falsch, nämlich daß jede Veränderung eine andere erzeuge, die fähig wäre, sie ohne Ge­ winn oder Verlust wiederhervorzubriugeu. Man denke nur an die Lehre der neuen Wärmetheorie, daß zwar die mechanische Bewegung ganz in Wärme, diese aber in jene nur theilweise wieder sich ver­ wandeln kann. Jede Veränderung hat zum Erfolg, die Bewegung aus dem verwandelbaren Zustand in einen mehr oder weniger unverwandelbarcn übergehen zu lassen, sie verbraucht Verwandelbarkeit. Diese verschwindet also dadurch allmälig, und mit ihr die Ursache und Quelle der Veränderung selbst, die Kraft im Sinne der Ver­ wandlungsursache, während freilich die Quantität der Energie auch noch in dem von W. Thomson «»gesagten Endzustände der Welt sich gleich bleibt. Der freie Wille nun hat mit dem Erhaltungsprincip Nichts zu schaffe». Ob man wolle oder nicht wolle, die Quantität der Energie bleibt nothwendig dieselbe. Frei oder nicht, thun Menschen und Thiere Nichts, als ohne Unterlaß Verwandelbarcs in Nichtvcrwandclbares umsetzen. Wenn gleich aber freie Wesen, falls es deren gibt, nach dem Erhaltuugsgesetze Kräfte weder schaffen noch ver­ nichten können, so widersetzt eü sich doch nicht dem, das; sic über die in ihnen selbst befindlichen Kräfte verfügen. Da aber auch jede Ver­ änderung der Richtung und des Angriffspunktes ausgeschlossen ist, so bleibt zur Verfügung mir Eines übrig, die Zeit. Die freien Wesen würden das Vermögen haben, die Verwandlung der Spann­ kräfte, deren Träger sie sind, in lebendige Kraft zu verzögern oder zu beschleunigen. Die Verwandlung erfordert Zeit, weil die ihr unterliegenden Kräfte Widerstand entgegensetzen; die Zeit ist die Reihe der gebrochenen Widerstände, und ist auf ihre Art selbst eine Kraft, wie durch sie auch Kraft ersetzbar ist. Durch jene Verfügung über die Zeit wäre nun auch die Möglichkeit der Voraussage ein­ geschränkt, und der absolute Determinismus eines Laplace und du BoisReymond aufgehoben. Freiheit ist eine Fähigkeit oder ein Vermögen, eine Quelle, von Bewegungen, welche durch unmittelbar vorhergehende Bewegungen nicht geboten sind und folglich sich nicht vorausseheu lassen. Eine solche Freiheit ist möglich: daS betreffende Individuum braucht nur seine Thätigkeit zurückzuhaltcn (suspendre), d. h. dem

78 es anregenden Reize nicht unmittelbar nachzugeben und den Augen­ blick hinauszuschieben, wo es die Kraft entfalten wird, welche in ihm

im Spannungszustande aufgespeichert ist.

Dadurch erzeugt es keine

neuen Kräfte; es läßt nur das Universum in der Zwischenzeit sich

anders einrichten.

Und eine solche Freiheit gibt es auch wirklich:

sie liegt vor in den sogenannten freiwilligen Bewegungen, nicht bloß der Menschen,

sondern aller empfindenden Wesen.

Das Charak­

teristische dieser Bewegungen ist Discontinuität, plötzliche Abweichung

von einer Determination.

Sie ist freilich nicht immer mit Sicher­

heit erkennbar; die Discontinuität ist oft nur scheinbar: gewiß ist sie aber eine wirkliche in einem Falle wie der folgende, welcher für das

Muster aller freiwilligen Bewegungen gelten kann.

Ich zeichne mit

einem Bleistift eine gerade Linie, ich halte an, ein wenig weiterhin

beschreibe ich einen Kreisbogen — oder noch einfacher: eine Curve und ihre Tangente — eine solche Zeichnung läßt sich nicht den bloßen

Anfangskräften zuschreiben, welche die ersten Striche geleitet haben. Aus dem ebenso bedeutenden, aber meiner Aufgabe fernerlic-

gcnden, dritten und letzten Artikel, „Rolle der Freiheit im Universum", führe ich nur an, daß der Verfasser hier einen mechanischen Aus­ druck für die Wirksamkeit, die er dem freien Willen beimißt, zu geben

sucht.

Er bedient sich hiezu der Fiction einer soliden geraden Linie,

die, in ihrer eigenen Richtung, gleichförmige Translationsbewegung

besitzt, und auf die ein Tropfen amöboider Materie, mit einer in ihm verkörperten freien Kraft begabt, einwirkt, ohne seinerseits Trans­

lationsbewegung zu besitzen oder an dersenigen der Linie theilzuhaben. Je nachdem der Tropfen die besagte Einwirkung an einem frühern

oder einem spätern Punkt der Linie ausübt, werden dieser verschie­ dene Bewegungen mitgetheilt.

Anstatt der Einen Bewegung wird

aber die andere dadurch erhalten, daß man, zu der für jene erfor­ derlichen Kraft, ein Paar ihr gleicher Kräfte einführt, von denen die

Eine jener direct entgegen, und die zweite in gleichem Sinne mit derselben wirkt; man kann es das freie Kräftepaar nennen.

Worin

freilich der Mechanismus dieser Suspension bestehe, läßt sich, wenig­

stens einstweilen, nicht sagen; jedenfalls aber ist er denjenigen Borrichtnngen analog, deren wir selbst uns täglich bedienen, so oft eine

79 Maschine nicht mehr arbeiten soll. Der Verfasser weist ausführlich nach, wie diese Losung des Problems auch auf der psychischen Seite sich bewähre, wo er der Suspension die Ueberlegung und dem Hebel­ arm des Kräftepaars die Dauer der Ueberlegung entsprechen läßt. Mau sicht, cs ist entschieden die indeterministische Auffassung der Freiheit, wofür der Verfasser eintritt; und es werden von ihm sogar Determinismus und Fatalismus auf Eine Linie gestellt. Aller­ dings schränkt er die Freiheit beträchtlich ein, indem er sie nur in einer Verfügung über die Zeit bestehen läßt — er hätte, mit einiger Licenz, seiner Arbeit das Shakespeare'sche Ripeness is all zum Motto geben können. Schon dieser Einschränkung wegen erscheint es nun aber nicht zutreffend, daß er im Eingang die allgemeine Stimme für den Indeterminismus zeugen läßt; dieselbe nimmt überhaupt keine ausgesprochene Partei in unserer Frage. Um jedoch sogleich in die Mitte der Verhandlung einzutreten: gesetzt, ich spüre einen Reiz, ein Gewehr abzufeucrn — wenn ich diesem Reiz ohne Weiteres Folge gebe, so verhalte ich mich nach dem Verfasser nicht frei, wohl aber, wenn ich erst überlege, ob es in diesem Augenblicke passend sein möchte; wie auch die Katze ihre Pfote nach der Maus weder zu früh noch zu spät ausstreckcn darf. Und ich habe zu dem Aufschub nur nöthig, die Bewegung meines Fingers und weiter zurück des be­ treffenden Gehirntheils, die sonst nach mechanischer Gesetzlichkeit jetzt erfolgen würde, durch die geeignete, freilich unbekannte, Sperrvor­ richtung zu hemmen. Hier sind aber doch nur zwei Fälle möglich: entweder sind die nöthigen mechanischen Bedingungen des Schusses noch gar nicht so vollständig beisammen, daß derselbe ohne meine Gegenwirkung jetzt stattfinden würde; oder es fehlt nicht das Ge­ ringste an ihnen. In keinem von beiden Fällen werde ich, wenn ich mir über die Zeit verfügen kann, Etwas ausrichtcn: im ersten nicht, weil dann, auch ohne meinen Aufschub, noch Nichts geschieht; im zweiten nicht, weil ich dann mehr als nur einen Aufschub zu be­ wirken und eben zu dessen Behuf eine Kraft aufzuwenden hätte, eine hinreichend große und rechtzeitig genug, um diejenige, welche sonst den ungewollten Erfolg unfehlbar herbeiführt, zu entkräften. Dies wird wo möglich noch anschaulicher an einem zweiten vom Verfasser

80 benutzten Beispiel: ein Eisenbahnunglück ist dadurch entstanden, daß ein Kärrner, obgleich der Alarmpfiff geschah, Nichts hörte und Nichts sah, sondern auf sein Gespann lospeitschte; wäre ein Vorübergehender

dem Mann in den Arm gefallen und hätte diesen eine Secunde laug festgehalten, so wäre der Unfall vermieden worden; und dies hätte

auch durch den Willen des Fuhrmanns selbst geschehen können.

Ge­

wiß; aber nur wenn der Mann sich selbst in den Arm fiel, nämlich der bereits begonnenen Bewegung seines Armes ebenfalls physischen

Widerstand entgegensetzte.

Dies läßt sich denn freilich auch so aus­

drücken: es hätte nur bedurft, daß er seine Zeit besser gewählt und das Quantum Muskelkraft, das er zur Vollendung des Streichs ge­

brauchte,

auf eine andere Gelegenheit gespart hätte;

Sparen selbst erforderte,

aber dieses

nachdem der Arm ausgeholt war, einen

Kraftaufwand, so gut, wie wenn noch etwas später ein Stein im Wege das Nöthige besorgt und den Wagen gehemmt hätte.

Daß

in solchen Fällen eine bloße Zeitfrage vorliegc, kann der Verfasser

offenbar nur darum behaupten, weil er die Zeit zu etwas Kräftigerem macht, als sic ist: nämlich zu einer eigentlichen Kraft; er nennt sie

ausdrücklich so, und läßt sie nicht bloß die Reihe der gebrochncn Widerstände, sondern auch die Brecherin sein.

Und er nimmt damit

die Zeitkrast, wenn ich ihm demzufolge diesen Ausdruck leihen darf,

in wesentlich anderm Sinn, als man die Ersetzbarkeit von Kraft

durch Zeit z. B. dann versteht, wenn man von einem mechanischen Effect sagt,

daß bei doppelter Zeit die Hälfte des sonst nöthigen

Kraftaufwandes genüge; in diesem Falle wird nicht sowohl Kraft

durch Zeit, als vielmehr eine Kraft —1 durch eine Kraft = 2.'/t ersetzt.

Allerdings wird durch das Gesetz der Verwandlung der Kräfte

Nichts über den Zeitpunkt vorgeschrieben, in welchem irgend eine be­

stimmte Verwandlung stattfinden, ein Gewehr losgchen, ein Vorrath

von Muskelkraft sich entladen soll.

Es besagt nur, daß sie nach

festen Maßverhältnissen erfolge und die Summe aller wirkungsfähigen

Kräfte unverändert lasse.

So kann die Verwandlung der potentiellen

Kraft des Schießpulvers in die actuelle des explodirenden und weiter­ hin der abgcschossenen Kugel unbeschadet des Verwandlungsgesetzes

ebenso gut morgen wie heute geschehen: die Zeit ist insofern durch

81

das Gesetz frei gelassen, aber in keinem andern Sinne, als wie dies überhaupt von den Bedingungen für die einzelnen Anwendungsfälle eines Gesetzes gilt — sie sind nicht durch dieses Gesetz detenninirt,

aber darum nicht überhaupt indeterminirt.

Wie alle Umstände,

welchen ein Gesetz seine Anwendbarkeit in einem gegebenen Zeitpunkte

verdankt, durch den vorangegangenen Lauf der Dinge bestimmt sind, so auch dieser Zeitpunkt selbst;

und er läßt sich von jenem um so

weniger trennen, je gewisser es hier nicht auf die, mit dem Verfasser zu reden, „gleichförmige abstracte", sondern auf die „reelle" Zeit, das, was in der Zeit vorgeht, ankommt.

Es ist endlich auch der

versuchte Nachweis discontiuuirlicher Bewegungen in der Welt nicht

geglückt, nämlich solcher nicht in dem selbstverständlichen Sinne, wo­ nach die Bewegung eines materiellen Punktes nicht durch seine bis­ herige Bewegung allein bestimmt wird, sondern in dem Sinne, daß

auch die Wechselbeziehungen zwischen ihm und andern nicht zur Er­

klärung ausreichten.

Bewegungen, deren Kontinuität wir nicht nach­

zuweisen vermögen, gibt es freilich genug; soweit sie aber der un­ beseelten Natur angehören, werden sie auch vom Verfasser für nur scheinbar discoutinuirliche erklärt.

Die Kontinuität steht ihm also

auf diesem Gebiete grundsätzlich fest, auch wenn der Schein dawider spricht; dann kann aber dieser auch anderswo nicht ohne besondere Nöthigung für Wahrheit gelten.

(Vgl. hiezu auch Grocler und

Fouillöe in der Revue philosophique, 1882).

Ist nun aber, wie es hienach scheint, die Annahme eines in

indeterministischem Sinne freien Willens ebenso wenig mittels der

Mechanik, wie trotz ihr, zu retten, so wird aus dem Gesichtspunkt einer mechanistischen Weltansicht nichts Anderes Übrig bleiben, als entweder jener Annahme zu entsagen,

stehen zu lassen.

oder das Räthsel ungelöst

Dies ist auch wirklich das Ergebniß der Erörterung,

welche du Bois-Reymond der Willensfreiheit als dem letzten seiner

„sieben Welträthsel" gewidmet hat: „Mit unserer siebenten Schwierig­

keit also steht es so, daß sie keine ist, wofern man sich entschließt, die Willensfreiheit zu läugnen

und das snbjective Freiheitsgefühl für

Täuschung zu erklären, daß sie aber anderenfalls für transscendent Hebt er, (Elemente e. p hi los. Freiheirölebre. (j

82 [b. h. hier einfach:

„unüberwindlich^ gelten muß".

Also derselbe

Abschied, womit uns der Redner überhaupt entläßt:

Dubitemus.

Aber genau genommen muthen nns die angeführten Worte vielmehr

zu, mit unserm Zweifeln anznhalten, und zwar an einer zum Ver­ weilen wenig einladenden Stelle.

Zunächst haben wir auch hier zu

berücksichtigen, daß, was gegen die indeterministische Fassung der Willensfreiheit gilt, nicht ohne Weiteres diese selbst trifft.

Jener ist

mit einem bloßen Dubitemus noch zu viel zngestanden; denn man

hat, um sie abweisen zu dürfen, nicht nöthig, das subjective Freiheits­

gefühl zu verläugnen, da sich nicht behaupten läßt, daß unser Gefühl eine indeterministische Freiheit bezeuge.

Nimmt man hingegen Frei­

heit in dem Sinne, wonach wir ihr Bewußtsein untrennbar von dem unseres Wollens überhaupt gefunden, so liegt eine Täuschung nur

da vor, wo man jenes selbst für eine solche hält.

Hiezu

„sich ent­

schließen" könnte nur, wer in demselben Augenblicke zu bezweifeln

vermöchte, daß er auch wirklich sich entschließe.

Wir werden alsbald

sehen, wie du Bois-Reymond seinen Standpunkt genauer bestimmt;

aber eine uns noch näher angehende Sorge ist es, ob nicht die

Freiheit auch nach unserer Auffassung derselben einen unbesiegbaren

Gegner am Mechanismus habe, da dieser gar keine Wirksamkeit eines Wollens, auch nicht die eines determinirten, aufkommen zu lassen

scheint.

Indem ich nun

das Problem gern

aus den umfassenden

Gesichtspunkten der Rede von den sieben Welträthseln zu erwägeu fortfahre, habe ich jetzt noch einmal das Verhältniß zwischen mate­ riellen und geistigen Vorgängen überhaupt in Betracht zu ziehen. Manche neigen heute zu dem Glauben, daß das Wollen sich

ebenso, wie die erste beste Bewegung, in die erwähnte Verwandlungs­

reihe einfügen, z. B. dieser oder jener Willensact sich als die Ver­ wandlung eines bestimmten Quantums Wärme, und seinerseits wieder

der Zurückverwandlung in Wärme oder eine andere Bewegungsform

entgegengehend, betrachten lasse.

So oft eben eine neue Entdeckung

gemacht worden, deren Werth für ihr Gebiet einleuchtet, meinen

Viele ihr nur dadurch die gebührende Huldigung darzubringen, daß

sie dieselbe auch zur Lösung von Aufgaben verwenden,

denen sie

fremd ist; sie machen damit unwillkürlich auf die Schranken, inner-

83

halb welcher die Entdeckung Geltung hat, aufmerksam, was gleichfalls ein Verdienst ist. Die Annehmbarkeit wie die Erweisbarkeit jener Reihe hängt doch wesentlich an der Beschränkung auf gleichartige Vorgänge, wie es die Bewegungen unter einander sind; wie denn von sehr cracter Seite auch nicht zwischen Elektrieität und Wärme, sondern nur zwischen Elcktricitätsbewegung und Wärme (Atom­ bewegung) Verwandlung angenommen wird. Ferner sprechen, was die psychophysischen Dinge betrifft, Erfahrung und Forschung nicht sowohl für eine abwechselnd aus leiblichen und seelischen Vorgängen bestehende Reihe, als vielmehr für eine gegenseitige Begleitung von beiderlei Vorgängen. Das Wollen ist demgemäß in erster Linie als Mittelglied anderer, ihm theils vorangehender theils nachfol­ gender, psychischen Hergänge, und deren ganze Reihe als begleitet von Bewegungen, zunächst in's Gehirn fallenden, zu denken. Wir dürfen hienach zwar innerhalb einer jeden dieser beiden Reihen am Eansalvcrbande festhalten, aber die gewöhnlich angenommenen Zickzack­ wirkungen zwischen ihnen bezweifeln. Die Thatsache, daß bestimmte physische Ereignisse bestimmten psychischen vorangchen oder folgen, bleibt hiebei unangefochten; denn auch wo einer Reihe a, b... eine andere «, ß... parallel läuft, geht ja a dem ß uud « dem b voran, und ein besonderes Interesse oder schon die größere Leichtigkeit der Beobachtung kann es mit sich bringen, daß der Blick von a aus lieber nach ß, als nach b, oder von « aus lieber nach b, als nach ß, gleitet, ohne daß man darum Auf- und Auseinanderfolge zu ver­ wechseln braucht. Wir sind hiemit in die Nähe der erwähnten Systeme des sieb­ zehnten Jahrhunderts zurückgelangt, welche ebenfalls einen solchen Parallelismus gelehrt haben. Es wird freilich mit ihm zunächst nur ein Räthsel durch ein anderes abgelöst, solange nicht in der Natur der beiden Seiten oder Wesen selber der Grund, oder wenigstens die reale Möglichkeit, eines solchen Gleichlaufs erkannt ist. Auch damit wird Nichts gebessert, wenn man lehrt, nicht in ihnen selbst, aber in einem Dritten, in Gott, liege der Grund; gleichviel ob das zu Erklärende mit den Occasionalisten als wunderbares Erzeugniß der göttlichen Schöpferthätigkeit, oder mit Spinoza als nothwendige Folge G*

84

einer in das göttliche Wesen zurückverlegten, und hier nicht im Mindesten verständlichern, Zweiheit und Zusammenstimmung gefaßt wird. Eine fruchtbarere und zugleich strengere Jdeutitätslehre, als bei Spinoza — die Identität nun also freilich anders, als von diesem und seinen Anhängern und Fortsetzern, verstanden — finden wir bei Leibnitz dadurch angebahnt, daß er, unbeschadet des Parallelismus beider Seiten, die von jenem behauptete, wiewohl nicht streng fest­ gehaltene, Gleichwerthigkeit derselben zu entschiedenen Gunsten der Einen von ihnen aufhob. Es gibt ja nach ihm letztlich keine andern als seelische oder doch seelenartige („vorstellende") und zugleich durchaus einfache Wesen („Monaden"); was man Körper nennt, dem liegen Ansammlungen von Monaden zu Grunde; daß es uns anders vorkommt, beruht aus der Beschränktheit unseres eigenen Vorstellens; auch unser Leib, wie er sich unsern Sinnen darstellt, ist bloßes, wenn gleich wohlbegründetes, Phänomen. Nun will ich nicht wider diejenigen streiten, welche es bedächtiger finden, sich in Betreff der äußern Erscheinungen jede positive Aufstellung darüber, was ihnen letztlich zu Grunde liegt, was, um mit dem Physiker P. Er­ man zu reden, „hier im Raume spukt", zu versagen; aber wenn mau Vermuthungen wagen will oder, wohl richtiger gesprochen, sich solcher doch nicht völlig enthalten kann, so wird man allerdings in erster Linie an die Analogie des einzigen Falles, wo sich das Innere eines Wesens, wenigstens in Betreff gewisser Bestimmungen, mit aller Sicherheit kundthut, gewiesen sein. Und an demjenigen, was dieselbesondere Fall barbietet, nämlich der nicht wegzubriugenden Thatsache, daß Jeder von uns so gewiß, wie er überhaupt von sich weiß, seiner als einer Mehrheit theils gleichzeitiger, theils aufeinander folgender, geistiger Thätigkeiten und Zustände, wie zugleich einer sie befassenden geistigen Einheit bewußt ist — an dieser Thatsache werden wir mit absoluter Gewißheit festzuhalten auch dann nicht umhin können, wenn wir darauf verzichten, eine das Erwähnte überschreitende Behauptung über unser eigenes Wesen zu wagen. Wir begnügen uns bann, von diesem ohne alle Metapsychologie zu sagen, daß es eben das sich so und so zu verhalten sich Bewußte sei, und werden selbst den allgemeinen Sinn der hier gebrauchten Ausdrücke (Wesen, Thätig-

85 feit, Zustand) sicherer nach dem besondern Falle, auf den wir sie hier

anwenden, als diesen nach jenem zu deuten glauben. Bleiben wir für jetzt wirklich bei dieser Thatsache stehen, ohne jener Vermuthung weiter nachzuhangen,

Berechtigung

gegenüber

als daß wir bereit volle

dem materialistischen Dogma anerkennen.

Diesem redet auch du Bois-Reymoud insofern nicht das Wort, als er die Unbegreiflichkeit der geistigen Vorgänge aus materiellen Be­ dingungen zugesteht.

Gleichwohl läßt er jene für das „Erzeugniß"

solcher Bediugungeu und für bloße „Begleiterscheinungen der Be­ wegungen und Umlagerungen unserer Hirnmolekeln" gelten.

Aber

auch noch diese zwei letzten Fassungen sind so verschieden von ein­

ander, daß es sich fragt, welche von beiden wir im Sinne unseres Redners für die zutreffendere zu nehmen haben.

Es ist wohl nicht

zufällig, daß die zweite sich in dem grundlegenden ältern Vortrage,

„Ueber die Grenzen des Naturerkennens," (gehalten 1872), noch nicht findet, es ist darin von den geistigen Vorgängen nur als „Erzeug­ nissen materieller Bedingungen"

die Rede.

Allerdings mit einer

wichtigen Zugabe in nachfolgenden Auflagen: „Bewegung kann nur

Bewegung erzeugen, oder in potentielle Energie zurück sich verwan­ deln.

Potentielle Energie kann nur Bewegung erzeugen, statisches

Gleichgewicht erhalten, Druck oder Zug üben.

Energie bleibt dabei stets dieselbe.

Die Summe der

Mehr als dies Gesetz bestimmt,

kann in der Körperwelt nicht geschehen, auch nicht weniger; die me­ chanische Ursache geht rein auf in der mechanischen Wirkung.

Die

neben den materiellen Vorgängen im Gehirn einhergehenden geistigen

unsern Verstand des zureichenden

Vorgänge

entbehren

Grundes.

Sie stehen außerhalb des Causalgesetzes, und schon darum

also

für

sind sie nicht zu verstehen, so wenig, wie ein Mobile perpetuum es

wäre."

Diese Erläuterung war in der That nicht überflüssig, wenn

verhütet werden sollte, daß der Leser bei dem „Erzeugniß materieller

Bedingungen" an Etwas wie Wirkung denke, wie ja „Erzeugniß" gewöhnlich und auch noch in unserer Stelle selbst genommen wird,

wo ausdrücklich das von einer Bewegung oder einer potentiellen

Energie Erzeugte Wirkung heißt.

Es ist aber jetzt begreiflich, daß

der zweite Vortrag dem Ausdruck „Erzeugniß von . . ." den unbe-

86

stimmten«: „Gebundensein an " vorzieht. Ebenso, daß Vorgängen, die, obwohl Erzeugnisse, doch keine Wirkungen sein sollen, auch die Wirklichkeit nicht in vollem Sinne zugestanden, sondern lieber von bloßen geistigen „Erscheinungen" gesprochen wird, welchem, für sich allein freilich nicht in's Gewicht fallenden, Ausdrucke wir in der ersten Rede nur in einer Anmerkung der spätern Auflagen begegnen. Jedenfalls werden wir hienach die Bezeichnung der geistigen Vorgänge als bloßer Begleiterscheinungen der neben ihnen her gehenden mate­ riellen für die dem Redner selbst schließlich zusagendste zu nehmen haben. Insbesondere das Gesetz der Erhaltung der Energie gilt ihm offenbar nur dann für gesichert, wenn die geistigen Vorgänge ein mechanisches Nichts in Vergleichung mit den materiellen sind und Bewegung weder hervor bringen noch verbrauchen. Wir sind einem ähnlichen Nichts schon bei jenen Franzosen begegnet; freilich sollte es dort noch Etwas wirken und zwar auf dem mechanischen Gebiete selbst. Daß du Bois-Reymond dies unannehmbar findet, ist in der Ordnung; aber ein Geschehen, welches für ein mechanisches Nichts zu achten ist, scheint überhaupt Nichts sein zu können, wenn es Nichts als Mechanismus in allem Geschehen gibt. Selbst eine Erscheinung jedoch ist auch noch Etwas; sie setzt nicht nur etwas Reales voraus, welches in ihr erscheint, sondern auch eines, welchem oder in welchem sie erscheint. Und mag auch der Anspruch des jeweilen Erscheinenden auf Realität noch so sehr der Prüfung bedürfen, so hat doch wenigstens das Erscheinen als solches, das Vorstellen, und das Bewußtsein über­ haupt so gut Realität, wie nur irgend ein Vorgang in der Welt, ober vielmehr es ist einer, der sich mit ganz anderer und zweiselloserer Sicherheit kundgibt, als sich dies von irgend einem Materiellen, zu­ nächst ja immer selbst nur etwas bloß Erscheinenden, für unser vor­ stellendes Bewußtsein Vorhandenen, behaupten läßt. Dies ist um so gewisser, wenn man die Widersprüche bedenkt, welche du BoisReymond in den gewohnten Vorstellungen von der Materie aufge­ zeigt hat, und welche die von ihm behauptete Unbegreiflichkeit des geistigen Geschehens aus materiellem so begreiflich, zugleich aber die dennoch angenommene Erzeugung des erstem durch das letztere so problematisch machen.

87

Die Bedeutung der uns beschäftigenden Ansicht für die Frage von der Willensfreiheit im Besondern kann nicht besser, als von dem Redner selbst geschieht, ausgesprochen werden. Wir hören, in dem frühern Bortrage, von dem „unlöslichen Widerspruch, in wel­ chem die mechanische Weltanschauung mit der Willensfreiheit und da­ durch mittelbar mit der Ethik steht". Und in dem spätern: „Wenn, wie der , mechanistisches Monismus cs sich denkt, unsere Bor­ stellungen und Strebungen, also auch unsere Willensaete, zwar un­ begreifliche, doch nothwendige und eindeutige Begleiterscheinungen der Bewegungen und Umlagerungen unserer Hirnmolekeln sind, so leuchtet ein, daß es keine Willensfreiheit gibt; dem Monismus ist die Welt ein Mechanismus, und in einem Mechanismus ist kein Platz für Willensfreiheit." Wir begegnen im Zusammenhänge dieser Stelle sogar dem Ausdruck „unsere vermeintlichen Willensaete", welchen ich, da ihn der Redner nicht geradezu im eigenen Namen gebraucht, nicht betonen würde, wenn ich ihn nicht dem übrigen Inhalte des Bortrags entsprechend fünde. Etwas mehr als bloß Bermeintes ist ja ein Borgang gewiß nicht, welcher an andere und ihm völlig un­ gleichartige Vorgänge gebunden sein und solche wie ein Schatten begleiten soll, ohne zu ihnen oder überhaupt zu Etwas wirksam bei­ zutragen. Was wird da aber aus jener der Willensfreiheit schließ­ lich doch nicht alle Hoffnung benehmenden Wahl: die Freiheit zu lüngnen oder die Schwierigkeit für unüberwindlich zu erkläre»? Hat denn der Redner uns im mindesten Zweifel gelassen über die Con­ sequenz des mechanistischen Monismus in Betreff der Freiheit und Realität des Wollens? Und gilt ihm dieses System nicht für die wissenschaftlich allein berechtigte Weltansicht? Warum läßt er es dann aber nicht bei dem ersten Glied jener Alternative, Längnung der Frei­ heit, bewenden? Ans ethischen Rücksichten. Allein das Wenigste, was zu deren Befriedigung nöthig wäre, nachdem ein unlöslicher Wider­ spruch zwischen mechanistischer Weltanschauung und Ethik behauptet worden, würde doch das Zugeständniß sein, daß das Bedenken gegen jene Consequenz ein Bedenken gegen das System selbst, woraus sie fließt, sei. Statt dessen wird uns nur vergönnt, entweder den Wider­ spruch ungelöst zu lassen — das einzig Natürliche, wenn er „nnlös-

88 lich" ist — oder ihn im Sinne des mechanistischen Monismus zu lösen, was nicht angeht, wenn zugestandenermaßen die Ethik so ent­

schieden Einsage thut.

Wollte man je für die Lösung eines Wider­

spruches die Unterdrückung des Einen seiner zwei Glieder durch das andere gelten lassen, so ist nicht ersichtlich, warum in unserm Falle der bessere Anspruch gerade aus der von dem Redner bevorzugten Seite liegen soll.

Die

völlig darauf hinaus:

uns

ertheilte

Auskunft kommt

ja doch

das Problem ist entweder gar nicht oder

nur durch Läugnung der Freiheit lösbar.

Offenbar hätte du Bois-

Reymond, wenn er sich weder bei absoluter Unlösbarkeit des Pro­

blems, noch bei der für einleuchtend erkannten Consequenz der me­ chanistischen Weltansicht beruhigen konnte, sein Dubitemus auch auf

die beiden einander entgegengesetzten denkbaren Lösungen ausdehnen und also auch die Wahl gleichmäßig zwischen beiden laffen müssen.

Diese Wahl ist nun aber keine, die unentschieden bleiben könnte, wie auch unser Redner thatsächlich dadurch bezeugt, daß er, über­

haupt auf eine Lösung sich einlassend, auf Eine Seite neigt.

Daß

ich auf die andere trete, und zwar ohne skeptischen Vorbehalt, ge­ schieht nicht allein der Ethik und der Willensfreiheit zulieb — die

sich indessen auch über du Bois-Reymond nicht allzusehr beklagen dürfen, da er ihnen trotz des Mechanismus soviel einräumt — son­

dern ich thue es schon des Wollens selbst wegen.

In aller Welt

und an aller Weltansicht ist eben Nichts sicherer, als daß es wirk­

liche, nicht bloß „vermeintliche" Geistesthätigkeiten, darunter Willens­ acte, gibt.

Hier hört jede Skepsis

auf; selbst

der entschiedenste

Zweifler muß hier Halt machen, da seine Entschiedenheit nur in dem festen — Wollen besteht, nichts noch irgendwie Bezweifelbares un­

angefochten zu lassen.

Da kann uns auch die Drohung unseres

Redners nicht schrecken: wenn uns fein Pyrrhonismus nicht zusage, so bleibe uns kein anderer Ausweg, als der des Supernaturalismus,

und wo dieser anfange, da höre Wissenschaft auf.

Daß das Geistige

wenigstens ein Supermateriales sei — uud damit begnüge ich mich

— ist auch du Bois-Reymond's Ansicht insofern, als er es für et­ was

nie

aus materiellen Bedingungen Begreifbares erklärt;

nur

darin kann ich ihm nicht folgen, daß er es dessenungeachtet für

89

etwas nicht nur von ihnen Erzeugtes, sondern auch ihnen an Wesen­ haftigkeit und Wirkungskraft Nachstehendes hält. Was im Besondern das Wollen betrifft: welche Vorstellung wir auch über die den Weltlauf bedingenden und ausmachenden Begebenheiten hegen mögen, das Wollen gehört mit zu ihnen, und liefert möglicherweise (um vor­ läufig nur so viel zu sagen) seinen Beitrag auch zu demjenigen Geschehen, dessen Gesetze uns die Mechanik kennen lehrt. Diese Ge­ setze mögen dessenungeachtet für alles selbst in unserm Leibe Vor­ gehende gelten, denjenigen Hergang im Gehirn nicht ausgenommen, welchen wir als dem Wollen am nächsten zugehörend denken. Aber diese Begleitung des Wollens ist nicht es selbst, so wenig wie es für diejenigen, welche es als bloße Begleiterscheinung des Gehirn­ vorganges fassen, diesen ausmacht. Wir kennen es ursprünglich und urknndlich nur durch unser Selbstbewußtsein, und also ein Jeder zunächst nur sein eigenes Wollen; von fremdem wissen wir nur durch gewisse äußere Vorgänge, die wir uns nach Analogie dessen, was wir an uns erfahren, auf andere wollende Wesen deuten, d. h, auf Wesen, von denen wir annehmen, daß sie in ihrem eigenen Selbst das Gleiche finden, wie wir, wann wir uns eines Wollens bewußt sind. Eine von unserm Selbstbewußtsein unabhängige und in diesem Sinne gegenständliche Erkenntniß des Wollens besitzen wir also nicht, und wir müßten sehr genügsam in unsern Ansprüchen an eine solche sein, wenn wir unsere Sehnsucht durch den Hinweis auf dasjenige gestillt fänden, was sich uns bei einem Wollen an­ schaulich darbieten würde, wenn die Physiologie des Gehirns ihre Vollendung erreicht hätte. Dies wäre nicht bloß Vertröstung auf eine unendliche Zeitferne, sondern es ist auch schon heute klar, daß in Ewigkeit ein geistiges Thun nichts Anderes als es selbst, ins­ besondere nicht sein eigenes Körpergeleit oder etwas aus diesem auch nur jemals Begreifliches sein kann, in welcher Hinsicht du BoisReymond das Feld gegen alle seine Widersprecher behauptet hat. Es wird sich auch gegen den Ausdruck „Begleiterscheinung" für das Verhältniß zwischen beiden Seiten Nichts einwenden lassen; nur müssen diese die ihnen von dem Redner angewiesenen Plätze tauschen, und jener Titel eher dem Leiblichen und überhaupt Körperlichen, als

90 dem Geistigen, ertheilt werden.

Daß jenes wenigstens so, wie es

sich uns allen auf dem Standpunkte des gewöhnlichen Bewußtseins darbietet, nur den Namen einer Erscheinung verdient, steht ja außer

„Stumm und finster an sich", um mit du Bois-Neymond

Zweifel.

zu sprechen, ist die Welt insbesondere für die mechanische Ansicht; und nicht einmal so viel läßt sich strenggenommen nach dieser sagen,

da die Welt stumm und finster ebenso, wie laut und hell, nur für

Schall- und Licht- empfindende Wesen, zwar gerade für diese doch

nur dann sein würde, wenn sie mit dem Eintritt in die Mechanik anfhörten solche Wesen zu sein.

So wenig aber hicnach das, was

die wissenschaftlich ungeschulten Sinne von der ersten besten Natur­

erscheinung erkennen lassen,

dasjenige ist, was die Natnrforschung

in der Außenwelt findet, ebenso wenig ist bis auf Weiteres überhaupt das Materielle oder Raumerfüllende und das mit ihm als solchen! Vorgehende für etwas Anderes als für das Bild zu achten, welches

durch das

ihm

zu Grunde Liegende im Bewußtsein von Wesen

unserer Art hervorgerufen wird.

Mit welchen Schwierigkeiten der

Begriff der Materie auch noch in der atomistischen Ausbildung zu kämpfen hat, ist dem Leser du Bois-Ncymond's wohlbekannt.

Die

Brauchbarkeit, beziehungsweise sogar Unentbehrlichkeit, des Atomismns mag dessenungeachtet (wie gegenüber

einseitig philosophischer Be­

mängelung namentlich Fechner so eindringlich dargethan) vollgültig

bezeugt sein durch das, was er für die Bedürfnisse der Naturforschung leistet; nur daß diese, außer der Erfüllung ihrer eigenen Aufgaben, so nebenbei auch noch die Fundamente des Alls bloßlege, kann man

von ihr so wenig wie von einem System der — Philosophie ver­

langen.

Auch von dem, was in der Körperwelt letztlich vorgeht, so

oft sie uns die Vorstellung einer Bewegung erweckt, gibt uns in der

That so wenig die Eine wie die andere Forschung zweifelfeste Kunde. Es ist eben überhaupt nur eine einzige Elaste von Vorgängen, von

welchen wir mit vollkommener Sicherheit wissen, daß sie gerade so, wie wir ihrer unmittelbar inne werden, nicht der bloßen Erscheinnngswclt angehören — das Erscheinen selbst und also Vorstellen, sowie

die andern an unserer Auffassung der Dinge mitbetheiligten, und übrigens gleichfalls unmittelbar sich selbst bezeugenden, geistigen Vor-

91

gänge in dem eigenen ihrer als der {einigen inne werdenden Sub­ ject. Zunächst bloß in jenes änßerliche Weltbild fallen nicht nur die andern Menschen, von deren Dasein wir überzeugt sind, sondern auch wir selbst, so oft wir uns rein gegenständlich, d. h. hier äußer­ lich, betrachten und nns damit als bloße Leiber vorkommen, wiewohl es dann noch immer einer starken Nachhülfe bedarf, nm den Glauben zu ermöglichen, daß wir ans diesem Wege znr rechten Selbsterkenntniß gelangen, und sogar unsere Geistesthätigkeiten nur dasjenige seien, als was sie im besten Falle einem äußern Beobachter dann erscheinen würden, wenn sie überhaupt von außen beobachtbar wären. Auf dem Standpunkte, auf welchem Etwas für uns rein äußerlich-gegen­ ständlich (praeter et extra nos) ist, tritt Geistiges als solches gar nicht in unsern Gesichtskreis. Wer also etwas Anderes, als das Aeußerliche, an der Welt nicht anerkennt, dem bleibt freilich nur übrig, jenes diesem als einen bloßen, dessen sonstigem Inhalte vermeintlich gleichartigen Theil einzuzwängen, oder das Geistige zu einer bloßen Begleiterscheinung des Aenßerlichen zu verflüchtigen. Wir Andern, die wir eine zweifellosere Realität, als die des Geistigen, ohne welche es ja auch sonst keine für uns bcwußterwcise gäbe, nicht kennen, werden die Bewegung von Hirnmolekeln, worauf Jene das geistige Geschehen znrückführen möchten, eher umgekehrt für eine bloße Er­ scheinung des letztem halten. Gesetzt, cs würde dereinst, in Neberbietnng einer großen Erfindung unserer Zeit, ein Hirnspiegel herge­ stellt, und man wüßte durch ihn mit aller der überzeugenden An­ schaulichkeit, welche hier bis jetzt bekanntlich abgeht, die dem ersten besten geistigen Vorgang unmittelbar entsprechende Hirnbewegung vor Augen zu legen: so wären die kühnsten Wünsche eines mate­ rialistischen Herzens erfüllt. Aber das erwähnte Entsprechen würde ebenso gut zu der Annahme stimmen, daß das Gesehene nur für so, wie wir, geartete und selber mit geistigen Eigenschaften begabte Wesen das Letzte sei, was sie von oder an dem geistigen Hergänge bei absichtlicher Selbstbeschränkung auf räumlich-äußerliche Betrachtung wahrnehmen. Was für unsere Ansicht entscheidet, ist dies, daß nur sie den geistigen Thatsachen gerecht wird. Also zwar ein gewisser Parallelismns beider Seiten, nämlich des geistigen Geschehens und

92 des ihm entsprechenden Hirnvorganges, aber ein Parallelismus nicht im Sinn eines bloßen, beiderseits entweder realen oder phänomenalen,

Nebeneinander, sondern ein solcher, wonach der cerebralen, ja der gesammten anschanlich vorstellbaren Ereignißreihe eine tiefer liegende

und allein wahrhaft wirksame untergebreitet ist, von welcher wir, auf

Grund unserer Selbsterkenntniß,

wenigstens so viel

wissen,

daß

geistiges Geschehen zu ihr mitgehört.

Nun sehe ich vielleicht so gut wie der unbefriedigtste meiner Leser eilt, wie viel das Borstehende in Bezug auf nähere Ausführung

und Vertheidigung zu wünschen übrig läßt; und es ist hier auch nicht der Ort, auf die mannigfaltigen Darlegungen einzutreten, welche

der Grundgedanke in der neuern Philosophie von Leibnitz bis auf Lotze gefunden hat.

Aber wenigstens über die Bedeutung des Vor­

gebrachten für mein besonderes Thema darf ich keinen Zweifel lassen. Eine Zurücknahme oder auch nur Ermäßigung des Determinismus

in demjenigen Sinne, worin ich mich zu ihm bekannt habe, wird

Niemand zu guter Letzt erwarten.

Es bleibt dabei, daß wir uns

in keinem Wesen ein Wollen zu denken verwögen, wozu nicht theils in jenem selbst, theils in andern mit ihm verbundenen Wesen, gleich­

öder ungleichartigen, vollkommen ausreichende Gründe gelegen wären.

Eine relative Selbstständigkeit der wollenden Wesen aber — und von einer andern als einer bloß relativen kann ohnehin keine Rede sein — ist durch unsern Determinismus nicht ausgeschlossen, sondern

vielmehr gesetzt; wir haben diese Wesen trotz ihrer Wechselbeziehungen zu einander als selbstständige Thätigkeitsquelleu, Productions- und

nicht bloße Transit-Stätten des Weltverkehrs, anzuerkennen. von der deterministischen Seite droht der Willensfreiheit in

Nicht

dem

Sinne, wie wir von ihr nicht lassen können ohne das Wollen selbst

preiszugeben, oder doch der Ueberzeugung von ihr Gefahr; aber von

Seiten der Mechanik, wenn diese so absolut gefaßt wird, daß kein

wahrhaftiges Geschehen außer bloßen Bewegungsvorgängeu anzuneh­

men wäre. Es kann auch nicht einmal dahingestellt bleiben, ob man sich diesem Absolutismus zu fügen, oder die Freiheits- und überhaupt Willenssrage als transscendent stehen zu lassen habe.

Wenn die Me­

chanik so Unbilliges, ja Unmögliches verlangte, dann müßte man sie

93

selbst transscendiren, was ohnehin in dem Sinne zu geschehen hat, daß sie in dieser Angelegenheit nicht allein zu hören ist. Es ist ja aber nicht die Mechanik, was hier Schwierigkeiten macht, sondern nur der ihr ohne ihre Schuld beigemessene Anspruch, die absolute Wissenschaft zu sein; sie ihrerseits begehrt in Sachen der Freiheit weiter Nichts, als daß man sie auf ihrem eigenen Gebiete frei und ungeschoren lasse. Sie würde dies allerdings nicht sein und wenigstens ihren Anspruch auf Allgemeingiltigkeit für das äußere Geschehen nicht behaupten können, wenn dieses beliebigen Eingriffen eines indeterminirten Willens ausgesetzt wäre; wiewohl, wenn dessen Annahme sonst feststände, die Folgen kaum schwerer für die äußere Welt als für die innere, geistige, zu ertragen sein würden. Hinwieder aber auch bloß eine beständige Begleitung und Abschattung des Wollens und seiner psychischen Vorangänge durch gesetzmäßige mechanische Er­ scheinungen, selbst nur als eine grundsätzlich durchweg mögliche, zu­ gestanden — muß es dann nicht auch mit dem Wollen selber ebenso gewiß mechanisch zugehen, wie wenn umgekehrt das Körperliche das allein wahrhaft Reale und das Wollen bloße Erscheinung wäre? Aber eben auf diesen Unterschied kommt es hier an, darauf, daß im zweiten Falle das Wollen bloße Erscheinung einer Erscheinung sein würde; wogegen wir, mit einem durch die praktischen Gründe noch verstärkten Rechte, an dem Wollen so, wie es sich uns mit un­ mittelbarer Gewißheit aufdringt, festhalten. Dieses Recht muß doch auch für einen so entschiedenen Anhänger der mechanistischen Welt, ansicht, wie du Bois-Reymond, kein geringes Gewicht besitzen, wenn er sich nicht zu dessen Bestreitung, sondern nur zu einem nnentscheidbaren Entweder — Oder zwischen Mechanismus und Willensfreiheit entschließe» kann. Eine weitere Frage wäre freilich noch diese, wie sich mit der Beständigkeit der mechanischen Gesetze oder auch nur mit der Regel­ mäßigkeit, womit sie sich bis jetzt thatsächlich der Erfahrung bestätigt haben, die Entwicklungsfähigkeit des Geistigen vertrage — nachdem wir darauf verzichtet haben, selbst die erfolgreichsten Geistesthaten, insofern sie uns für etwas von ihrer materiellen Begleitung Ver­ schiedenes gelten, wie bloße Wölkchen oder vielmehr etwas Unkräf-

94 tigeres, als diese in Wahrheit noch hinreichend wirksamen Dinger, Ich gestehe gern, daß

über dem Erdboden dahinziehen zu lassen.

auch ich sehr dankbar dafür sein würde, über diese Frage genauern

Bescheid zu empfangen, als ich geben kann.

Eine Hauptschwierig­

keit ist hier aber wohl durch unsere Ausschließung indeterministischer Lücken und Sprünge geebnet.

Ferner hat man in den letzten Jahr­

zehnten gerade von naturwissenschaftlicher Seite die Gesetze der Me­

chanik gar nicht unvereinbar mit einer weit ausgedehnten Geltung

der Entwicklungsidee, zunächst für das Pflanzen- und Thierleben, gefunden, wenn auch nur so, daß man die Entwicklung selber me­

chanisch deutete und einen ganz bestimmten Anfangszustand der or­ ganischen und überhaupt irdischen Dinge voraussetzte, wie man ihn für die Erklärung bedurfte.

Nun findet sich aber ein Theil der von

dieser Entwicklung betroffenen materiellen Vorgänge

durchgehends

mit seelischen verbunden, und diese lassen sich so wenig in den unter­

gegangenen wie in den heutigen, und so wenig in den thierischen wie in den menschlichen Lebewesen rein mechanisch begreifen oder zu unwirksamen Begleiterscheinungen herabsetzen — geschweige daß wir die Herrschaft des Geistes über die Natur, wie sie sich am augen­ fälligsten in den Erfolgen der Technik zeigt, als einen bloßen Triumph

desjenigen mechanischen Wirkens, welches im menschlichen Leibe vor­

geht, über das außerhalb desselben stattfindende zu betrachten hätten.

Indessen mag man selbst die höchsten geistig menschlichen Entwjcklungen als sich im materiellen Gebiete durch bloße fortgesetzte Lie­ ferungen

neuen

Anwendungsstoffes

für

die mechanischen

Gesetze

erweisend denken, welchen er sich fügen kann, auch ohne seiner Her­ kunft nach aus ihnen erklärbar zu sein.

Selbst

die

größte welt­

geschichtliche Geistesthat hat ja eine sinnliche Außenseite, ohne welche

man Nichts von ihr wüßte, und nach dieser darf sie der rein natur­ wissenschaftlichen Betrachtung letztlich für eine bloße, zwar nicht mehr anschauliche, aber doch ihrem Wesen nach so vorstellbare, Hirnzuckung

gelten, die nun freilich nicht die Geistesthat selbst ist, sondern nur deren Repräsentation in der materiellen Ereignißreihe,

und mithin

zugleich über sich und die ganze Reihe hinausweisend.

Man kann

aber auch an die Möglichkeit einer tiefer eingreifenden allmäligen

95 Modifikation des Naturganges denken, mag man gleich deren Be­

merkbarkeit, wie die anderer seculären Wirkungen, in noch so weite Ferne rücken — wogegen der Eine oder der -Andere vielleicht lieber

versichern

wird, die geistige Entwicklung sei für das

Großen und Ganzen etwas so Untergeordnetes,

Weltall

daß sie unter

cs gestaltenden Ursachen eine zu vernachlässigende Größe sei.

im

den

Außer

Stande, mich zu der Erhabenheit einer solchen Geistesabschätzung

anfznschwingen, will ich jetzt nur noch einmal unserer Hauptfrage mit einem Wort gedenken:

Ein Welträthsel, und zwar in dem eigentlichsten Sinne, daß sich dessen völlige Auflösung nur zugleich mit der Antwort auf die

nun allerdings absolut transsceudeute Frage ergeben würde,

wie

überhaupt eine Welt möglich sei und gerade eine solche, worin es

ein Wollen gibt — ein Wclträthsel in diesem Sinne bleibt natür­ lich auch mir die Willensfreiheit ganz und gar; aber der Meinung glaube ich mich erwehrt zu haben, daß die Realität des Wollens

sammt seiner recht verstandenen Freiheit sich nicht anders als im

Widerspruch mit wohlbegründeteu Annahmen behaupten lasse.

II.

Von unserer iiusici'it Freiheit.

Hehler, Elemente e. vIn lei. Kreide nöl eine.

i

Die Freiheit, die wir meinen, die unser Herz erfüllt, ist nicht sowohl die unseres Wollens, als vielmehr die unseres äußern Lebens,

namentlich gegenüber andern Menschen.

Diese Freiheit allein ist es,

um die sich ein „praktischer" Mensch bekümmert; die andere wird

von ihm dem Nachbar Grübler überlassen.

Leider läßt jedoch dem

denkenden Menschen die äußere Freiheit gleichfalls keine Ruhe, wäre

es

auch nur als Gegenstand der Betrachtung; und auch für die

praktischen Leute enthält das Leben Aufforderungen genug, licher über jene nachzudenken,

scheinen.

gründ­

als sic im Durchschnitte zu thun

Wenn jedoch bei der Willensfreiheit zu untersuchen war,

ob und in welchem Sinne cs überhaupt eine gebe — während einem

andern Orte die einläßliche Beantwortung der Frage überlassen

werden durfte, was man unter einem nicht bloß freien sondern auch

guten Wollen zu verstehen habe — so bezweifelt hingegen in Betreff

der äußern Freiheit Niemand, daß sie, und zwar in den mannig­

faltigsten Gestalten, existirt, mag sie auch in jeder noch soviel zu wünschen übrig lassen; um so mehr tritt bei ihr die Frage in den

Vordergrund, wie sie geartet sein müsse, damit sie den Werth wirk­

lich habe, den wir alle ihr beilegen.

Man muß so fragen, schon weil dieser Werth von verschiedenen Menschen in so Verschiedenes gesetzt wird.

Der Eine hält die Frei­

heit darum so hoch, weil er darunter etwas wahrhaft Hohes und Gutes versteht; der Andere, weil sie ihm gleichbedeutend mit Zucht­ losigkeit oder Gewaltthätigkeit ist.

Gar Manche haben Glück und

Leben für Nichts gegen die Freiheit geachtet; aber nicht Wenige fühlen sich am freisten, wenn's ihnen kannibalisch wohl ist.

Ja,

die Freiheit ist, mit Cervantes zu reden, nicht bloß der veruünf-

100 tigen Menschen, sondern sogar der vernunftlosen Thiere geliebtestes Gut.

Denn frei sein im äußern Verhalten heißt zunächst Weiter-

Nichts, als in diesem Verhalten ungehindert sein, los sein.

Ob dies

in einem gegebenen Fall etwas Gutes ist, hängt davon ab,

wer

oder was losgelassen worden.

Wird aus einem Käfig, an dem wir

vorübergehen, ausgebrochen,

so werden wir uns vorsehen.

sklavisch Gewöhnte erweist sich dadurch allein,

Der

daß er „die Kette

bricht", noch nicht als ein der Freiheit würdiger Mensch, man wird eher vor ihm „erzittern", als ihn verehren.

Und auch wenn in ir­

gend einem, uns vielleicht hinreichend unbekannten, Winkel unseres

Planeten

eine Regierung, die sich nicht unseres Beifalls erfreut,

über den Haufen geworfen wird, so werden wir nicht Glückwünsche hinsenden, wenn wir nicht sicher davor sind, sie bald zurückgeschickt zu erhalten.

Gewiß ferner liebt auch jeder Despot, jeder Sklaven­

händler auf seine Art die Freiheit, nämlich die eigene.

Freiheit,

für sich genommen, ist eben auch auf dem Gebiet des äußern Lebens etwas rein Formales, Leeres, was sich mit jedem beliebigen Inhalte füllen läßt, für was sich daher in dieser Leerheit auch nicht leicht

Jemand begeistern kann.

Scheint es dennoch Einer zu thun, so hat

er wohl insgeheim, vielleicht ohne sich selbst klar darüber zu sein,

einen bestimmten Inhalt in die Form gefaßt, und diesem gilt seine

Hingebung.

Denn je höher Jemand Etwas schätzt, desto mehr ist

ihm begreiflich auch daran gelegen, daß es ungehindert als das, was

es ist oder nach seinem Dafürhalten sein soll, sich geltend mache, und der Bemühung um dasselbe Nichts in den Weg trete.

Was er

aber so hochschätzt, wird davon abhangen, was und wie er selbst ist.

Sage mir, mit was für einem Freiheitsideale du dich trägst, und

ich sage dir dann, was du bist; oder wenn ich das Letztere weiß, so brauche ich nach dem Erstern nicht zu fragen.

Bist du selber etwas

werth, so wird sich das auch an deinem Freiheitsideale zeigen; wo

nicht, so wird auch dieses danach sein.

So ist denn die Freiheit

einerseits eine bloße Abstraction, die sich Jeder aus seiner besondern

Denkungsart ergänzt; andererseits ist sie gerade als bloße Abstrac­

tion auch dazu geeignet, Gegenstand allgemeinster Verehrung oder

101 Sehnsucht zu sein, was dann wieder die ersten besten nach bestimmten Zielen gerichteten Freiheitsbestrebungen stärkt. Der Werth der Frei­ heit wird also überall davon abhangen, was für eine und wessen Freiheit es gilt; daß irgend Jemand irgend Etwas zu thun die Frei­ heit hat oder nicht hat, kann ohne Kenntniß dieses Jemands und dieses Etwas so wenig Gegenstand des Lobes wie des Tadels sein. — Wenn ich hier die Freiheit, darunter fortan immer nur die äußere verstehend, zunächst als ein Thunköunen gefaßt habe, so ist dies ja die gewöhnlichste, wie auch am meisten in die Augen fallende, Bedeutung des Wortes. Ebenso wichtig aber und nicht streng hie­ von trennbar ist, was man gleichfalls unter dem Worte versteht: daß man nicht zu leiden brauche, was man nicht leiden will. Beides zusammen auch meint man mit dem Ausdruck Ungeschoren heit, welcher überhaupt näher zur Sache trifft, als gar manche höher­ trabende Umschreibung. Freilich auch dies: Andere scheeren zu kön­ nen, rechnen Manche zu ihrer Freiheit. Und man braucht hier nur etwa „Schur" zu „Herrschaft" abzumildern, so springt in die Augen, daß sich nicht nur einzelne Menschen in ihrem privaten oder öffent­ lichen Leben, sondern ganze Völker in ihrer innern und äußern Politik von einander charakteristisch danach unterscheiden, ob sie sich höher durch eigene wahre Freiheit oder durch Unfreiheit Anderer beglückt finden. Ich verfolge nun die Freiheit sogleich in diejenigen zwei Haupt­ gestalten, welche sie in der bürgerlichen Gesellschaft und im Staat annimmt; doch gedenke ich, meiner elementaren Aufgabe gemäß, diese Gebiete nur so weit zu beschreiten, als dazu nöthig ist, die wichtig­ sten Gesichtspunkte und Unterschiede bemerklich zu machen, deren Mißkennung hier meines Erachtens die gröbsten wie häufigsten Irr­ thümer verschuldet.

Die bürgerliche Gesellschaft — wenn ich hier ein Weniges von ihr sagen darf, ohne mich in die Streitigkeiten über ihre Begriffs­ bestimmung einzumengen — möge uns als von der ersten besten, nur zufällig oder vorübergehend zu bestimmten einzelnen Zwecken ver­ bundenen Anzahl von Menschen dadurch unterschieden gelten, daß

102 sie auf natürlicher oder wenigstens geschichtlicher Grundlage erwachsen, auf ein dauerndes Zusammenleben eingerichtet, die verschiedenen mit

dem Wohl der Gesammtheit verträglichen Bestrebungen ihrer Genossen friedlich in sich zu hegen und nach dem Maß ihrer Bedeutung für

dasselbe zu fördern bemüht ist.

Hier muß nun auch die Freiheit

eine besondere Gestalt annehmen, wie diese denn auch mit einem

eigenen Namen, dem der bürgerlichen Freiheit (im Unterschied von

der staatsbürgerlichen), belegt ist.

Es ist damit die Sphäre oder

die Größe der Sphäre gemeint, innerhalb welcher den Gliedern der

Gesellschaft, den einzelnen und den irgendwie vereinten, ein unbe­ lästigtes Verhalten gestattet ist.

Ohne ein gewisses Maß solcher

Freiheit kann keine bürgerliche Gesellschaft bestehen.

Diese legt uns

ja immerhin auch viele Beschränkungen auf, welche wir uns

nur

darum gefallen lassen, weil sie mit noch größern Entschränkungen

verbunden sind.

Um der letztern willen ist uns doch auch an den

erstem viel gelegen, nämlich an denen, in welche sich, uns gegenüber,

die Andern schicken müssen,

damit im Gesammtkreis unserer Be­

strebungen ein Ueberschuß von Freiheit über Unfreiheit für uns

herauskomme.

Hiezu genügt es natürlich

zugetheilte Freiheitsmaß grundsätzlich

nicht, daß das Jedem

gleich groß sei; nur

dann

werden wir zufrieden sein, wenn das Grundsätzliche auch ein That­

sächliches ist, d. h. nicht dennoch mehr den Andern gegen uns, als

uns gegen die Andern, zu Statten kommt.

Vielleicht ist eine be­

stimmte Ungleichheit gut und unvermeidlich, wo dann nur zu wünschen ist, daß sie nicht durch die Verkündigung ihrer grundsätzlichen Un­

zulässigkeit erschwert sei.

In

der That ist nicht die Ungleichheit

an sich vom Uebel — mit ihr würde auch die Freiheit in die Brüche gehen — sondern nur diejenige, wo Gleiches ungleich oder in gewissen Beziehungen Ungleiches auch in solchen, worin es gleich ist, ungleich

behandelt wird.

Die ideale Forderung kann hier keine andere sein,

als diese, daß jeder Einzelne und jede Verbindung von Einzelnen nicht mehr

und nicht weniger Freiheit genieße, als dem

gesell­

schaftlichen Ganzen frommt und ihnen als Theilen, aber auch bloßen

Theilen,

desselben gebührt.

Die Freiheit eines jeden Theils

des

103

Ganzen muß soviel möglich eine nach dem Nutzen des letzter» be­ messene und abgestufte, mit Einem Wort eine geordnete sein. Es ist verkehrt, die Gesellschaft einseitig auf die Eine dieser beiden Grundlagen, Freiheit und Ordnung, stellen zu wollen. Wie die Ordnung hier nur insofern Werth und Sinn hat, als sie Freiheits­ ordnung ist, so ist auch Freiheit ohne Ordnung ein Unding, da die wahrhaftige Ordnung die gesicherte Freiheit selbst ist. Für sich ge­ nommen ist jede von beiden ebenso formal und leer wie die andere, was nicht minder von dem hohlen Fanatismus für die Eine oder die andere gilt. Es läßt sich auch keine von beiden, nicht einmal ihre Vereini­ gung, für das eigentliche Ziel des gesellschaftlichen Zusammenlebens ausgeben; dieses Ziel kann kein anderes sein als die möglichst voll­ ständige und harmonische Erfüllung der dieser bestimmten Gesellschaft zu einer gegebenen Zeit gesetzten inhaltlichen Lebensaufgaben. Dieses Ziel zu erkennen und zu fördern, ist allerdings schwieriger, als mit jenen zwei Schlagwörtern um sich zu werfen. Glücklicherweise ist aber auch nicht nöthig, daß feine Festsetzung und die Arbeit für dasselbe in einer längst vorhandenen und durch Natur, Volksthum, Geschichte, äußere Verhältnisse, in eine bestimmte Bahn gewiesenen Gesellschaft an jedem Morgen Gegenstand neuer Beschlußfassung werde. Wie sodann die gesellschaftlichen Bedürfnisse und Aufgaben an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten selber verschieden sind, so hat sich danach auch die Freiheitsordnung zu richten, be­ ziehungsweise zu verändern, was namentlich auch von dem Maße der den einzelnen Theilen einzuräumenden Freiheit gilt. Je weiter ohne Mißachtung der erwähnten Richtschnur die Freiheit der Theile ausgedehnt werden kann, desto bester stehen die Dinge unstreitig, da es soviel wie eingetretene Stärkung der dem Gemeinwesen förderlichen Kräfte bedeutet. Aber nicht daß eine Aufhebung bisheriger Schranken stattfindet, sondern daß sie ohne Gefahr stattfinden kann, also nicht sowohl die Aufhebung, als vielmehr die Aufhebbarkeit, die Entbehrlich­ keit, der Schranken ist dann das Erfreuliche. Eine Schranke besei­ tigen können, weil sie überflüssig geworden ist, bekundet einen Fort­ schritt in der Civilisation; aber eine Schranke abschaffen, deren man noch bedürftig ist, sie beseitigen, ehe anch nur der zugestandener-

104 maßen nöthige Ersatz dafür beschafft ist, ist ein Rückschritt.

Am

allerwenigsten darf die Herabsetzung eines bisherigen Strafmaßes

als Zuerkennung einer neuen Freiheit empfohlen werden; wie etwa

manche allzu ungeschickte Gegner der Todesstrafe sie mit Gründen anfechten, die auf die Forderung hinauslaufen: jeder Mensch müsse die Freiheit und also wohl auch das Recht haben, jeden Mitmenschen

um's Leben zu bringen, ohne dabei das Mindeste für das eigene

Leben zu befahren.

Selbst da, wo es sich um ein an sich wohlbc-

rechtigtes Interesse handelt, darf und soll die Freiheit, ihm nachzu­ gehen, dann eingeschränkt bleiben oder werden, wenn es andere gleiche

Berechtigung oder höhere Güter, als bloße Ungebundenheit, zu schützen

gilt.

Wem schon die bloße Hinzufügung von „frei" zu einem andern

Worte (z. B. Verkehr, Handel) genügt, um sich für das Compositum zu erwärmen, mit dem ist nicht zu reden.

„Unbeschränkte Verkehrs­

freiheit ist ein Freibrief zur Erpressung, ein Jagdpaß für Ränber

und Piraten, mit dem Recht der freien Pürsch für Alle, die in ihre

Hände fallen — wehe dem Schlachtopfer! Daß

die Wölfe nach

Freiheit schreien, ist begreiflich; wenn die Schafe in ihr Geschrei ein­ stimmen, so beweisen sie damit nur, daß sie Schafe sind ...

Das

Interesse der Gesellschaft ist das, was nicht bloß dem Einzelnen,

sondern was Allen paßt, und das ist... nichts Anderes als die Gerechtigkeit.

Sie steht

über der Freiheit" (v.

Jhering).

Eine

Schranke zweckmäßig finden, heißt ja auch nicht, ihr für alle Zu­ kunft das Wort reden; man mag von Stund' an auf ihre dereinstige

Beseitigung und die Herstellung der dafür nöthigen Bedingungen

hinarbeiten.

Hingegen das Pferd am Schwanz aufzäumen heißt es,

wenn man vor Allem die größere Freiheit einsührt und sich erst hinterdrein

Gedanken

darüber

macht

oder

durch

die Erfahrung

machen läßt, ob sich wohl Mittel und Wege finden möchten, um die Errungenschaft zum Guten zu wenden oder wieder los zu werden.

Ich verkenne hiemit nicht das Wahre an dem oft gehörten Satze,

daß die Freiheit nur durch sie selbst gelernt werde; aber daß die Gesellschaft ein guter Uebungsplatz für die Lernbedürftigen

unter

ihren Genossen sei, darf nicht der Hauptgesichtspunkt sein, aus dem

sie eingerichtet wird; nicht einmal für das Lernen selbst wäre dies

105 das Portheilhafteste.

Auch im besten Falle ferner wird eine Ver­

mehrung der Freiheit nie eine genau gleiche oder auch nur propor­ tionale für alle Glieder der Gesellschaft, sondern immer zugleich eine

neue Zurückdrängung einiger, an sich vielleicht ebenso nützlicher, aber

anderswo

besser sei».

oder ein andermal zu pflegender, Bestrebungen

Zm Allgemeinen ist sogar eine gewisse Zunahme der gesell­

schaftlichen Schranken ohne Weiteres mit dem Fortrücken der Cultur,

mit der wachsenden Manigfaltigkeit und gegenseitigen Verflechtung ihrer Leistungen verbunden — „Freiheit allein genießt der Botoknde,

der Australier, der Eskimo". Dies alles erwägend, werden wir uns Gutes für die bürger­ liche Gesellschaft nicht von einem unlöschbaren Freiheitsdurste, dem cs weniger auf die Güte als auf die Stärke oder Menge des Ge­ tränkes ankommt, versprechen, sondern nur von der Einsicht nebst

der Kraft und dem Willen, ihr nachzuleben, der Einsicht, daß die

Freiheit sich nach dem jeweiligen Zustande und Bedürfnisse der be­ sondern Gesellschaft zu richten hat, und nach diesem Maßstab auch für die mannigfaltigen Bestrebungen innerhalb

derselben im Ver­

hältnisse zu einander zu regeln ist. Auf diese Mannigfaltigkeit einzutretcn, liegt außer meiner jetzigen Absicht.

Ich will nur nicht unbemerkt lassen, daß unter diesen Be­

strebungen natürlich nicht allein die auf das „Leben", sondern viel­ mehr die auf das „gute Leben" (nach der Aristotelischen Unterschei­ dung), also insbesondere auch die auf geistige Güter abzielcnden zu verstehen sind.

Uebrigens fällt, was man z. B. religiöse Freiheit,

wissenschaftliche Freiheit nennt, nur theilwcise unter den gegenwär­ tigen Gesichtspunkt, nämlich nur insofern, als auch diese Bestre­

bungen sich im äußern Gemeinleben bethätigen, sowie auch ihrerseits von ihm theils Förderungen theils Hemmungen erfahren.

In rein

innerlichem, geistigem Sinne genommen, als ungehindertes Sich-

geltendmachen der aus der Natur der besondern Gebiete sich erge­

benden Anforderungen an den sich auf ihnen Bewegenden, ist solche Freiheit theils

von einer selbstständigen Würdigung dieser Gebiete,

theils von der Psychologie und der Ethik zu behandeln.

106 Nur durch eine erlaubte Abstraction haben wir doch auf eine

Weile davon absehen dürfen, daß cs keine bürgerliche Freiheit gibt, wenn das gesellschaftlich verbundene Ganze nicht zugleich Staat ist,

d. h. zu der Willenseinheit zusammengefaßt und mit der Macht aus­ gerüstet, die es in den Stand setzen, sich gegen auswärtige und ein­

heimische Anfechtung zu behaupten, sowie seine Lebenszwecke und die

eines jeder seiner Theile, soweit es im Interesse des Ganzen liegt, auch positiv zu fördern.

Im Staat allein und unter seinem Schutz

ist namentlich auch bürgerliche Freiheit möglich.

Aber wir wollen

ihrer auch gegenüber dem Beschützer versichert sein.

Er könnte ja

seine Macht zu ihrer Unterdrückung mißbrauchen; und dafür würden wir uns sogar durch einen uns eingeräumten Antheil an dieser Macht, selbst wenn man ihn gleichfalls mit dem Namen der Freiheit zierte,

schlecht entschädigt finden.

Wir würden von einem solchen Tausch

ungefähr dasselbe halten, was wir zu dem Versprechen sagten, daß, wenn wir uns eine Einschränkung in Bezug auf das Schalten im

eigenen Garten gefallen ließen, uns dafür eine desto freiere Bewegung

auf offenem Felde vergönnt sein solle.

Aber trotz des Mißbrauchs

seiner Gewalt ist der Staat für die Freiheit wie für das Gesammtwohl unentbehrlich; er hat die Freiheit des Ganzen gegen die der Theile und die der Einen Theile gegen die der andern zu beschützen;

er hat seinen Angehörigen auch diejenige positive Nachhülfe angedeihen zu lassen, ohne welche die Angehörigkeit mitsammt dem Freiheitsschutz weder ihnen selbst noch dem Gemeinwesen frommte.

Es ist klar, daß

der Staat, um dieser Aufgabe genügen zu können, vor Allem selber die hiezu nöthige Freiheit besitzen muß.

Ehe ich jedoch von dieser Freiheit weiter rede, die, im Unter­ schied von der in einem gewöhnlichern Sinne so genannten politischen

Freiheit, Staatsfreiheit und zwar innere heißen mag, ist die wichtigste aller Freiheiten, von denen in Sachen des Staats gesprochen werden

kann, voranzustellen, und das ist unstreitig seine Freiheit nach außen; jedes für die Sicherheit des Landes bedenkliche anderweitige Frei­ heitsverlangen, wenn es je noch diesen Namen verdient, muß schweigen.

Verstehen wir nun unter der innern Staatsfreiheit bestimmter die Ungehindertheit des Staates auf seinem

eigenen Machtgebiete

107 gegenüber dem, was nicht Staat ist, die Abwesenheit von Schranken, die sich ihm von Seiten seiner Angehörigen entgegenstellcn können: so sind diese Schranken theils solche, welche den Wirkungskreis der Staatsgewalt grundsätzlich abstecken, theils solche, welche deren Be­ wegung innerhalb desselben hindern. Was für ein Umfang der staatlichen Wirksamkeit der richtige sei, hängt lediglich von den Be­ dürfnissen des besondern Gemeinwesens in der gegebenen Zeit und Lage ab. Es werden Aufgabe» durch dieselben gestellt, die nach ihrer Natur oder deu zur Lösung nöthigen Mitteln dem Staat ent­ weder überhaupt oder wenigstens vorübergehend zufallen. Unter deu letztern mögen solche sein, die schon jetzt auch ohne ihn lösbar wären, wenn Einzelne oder Genossenschaften sich ihrer gehörig an­ nähmen. Wo dies aber fehlt, da wird es Dank verdienen, wenn der Staat das Erforderliche anordnet, wäre es auch nur, um zur Selbstthätigkeit auf dem bezüglichen Gebiete anzuregen. Es ist frei­ lich schön, wenn ein wahrer Fortschritt sich „von selbst", „von unten herauf" macht; aber es ist schöner und löblicher an den Untern, als an deu Obern; und das Schlimmste ist, wenn etwas Nöthiges von oben unterlassen und von unten auch nicht gethan wird. Völlige Einführung von oben kommt in unsern von vorn herein mit dem Volksthum verwachsenen Staaten ohnehin nicht so leicht vor, da in ihnen kaum je eine Neuerung erfolgt, die nicht von einem ansehn­ lichen Theile des Volkes begehrt wäre, so gewiß es auch auf immer der Staatskunst dazu bedarf, unter den verschiedenen derartigen An­ sprüchen die berechtigten zu erkennen und zu befriedigen, der übrigen aber sich zu erwehren. — Während nun die Wirkungssphäre der Staatsgewalt ganz und gar nach den jeweiligen Zuständen und Bedürfnissen des Gemeinwesens zu bestimmen ist, so ist cs hingegen eine gleichmäßig überall und immer gültige Forderung, daß dieselbe in dem Kreise, worin sie zu walten demgemäß berufen ist, frei und ungehindert sei. Man soll diesen Kreis beschränken, soweit es für das Gemeinwohl Vortheilhaft ist, oder genauer: der Staat selbst soll dies thun, da nicht abzusehen ist, wessen Sache dies sonst wäre; aber er darf sich innerhalb dieses Kreises sein Wirken nicht verküm­ mern lassen, da es eben so gut Staatsfreiheit, wie Volksfreiheit,

108 geben muß, schon um der letzter«

selbst willen.

Es ist zur rechten

Freiheit, wie überhaupt für die gesellschaftlichen und staatlichen Güter,

auch durchaus nöthig, was manchen Ohren so fürchterlich klingt und

unter Anderm eben dazu da ist, Furcht erregen zu können: eine

im Bereich

ihrer Befugnisse und Obliegenheiten starke Regierung.

Richt Stärke, sondern Schwäche ist da, wo es jener bedarf, das Fürchterlichere; dies gilt nicht bloß für Kriegsläufte.

Der Staats­

kunst selbst liegt freilich auch dies ob, dafür zu sorgen, daß nicht

nur die Vortheile einer starken Regierung gewahrt, sondern zugleich die möglichen Nachtheile einer solchen vermieden werden — wie die

entsprechende Aufgabe ja auch der Technik bei der Benutzung von

Naturkräften sich stellt und lösbar ist. Politische Freiheit im gewöhnlichen Sinne nun aber bedeutet

etwas nicht dem Staat oder seiner Regierung, sondern dem Volke

Zugehörendes und, wo nicht geradezu Selbstherrschaft des Volkes, doch einen gesicherten Einfluß desselben auf die Staatslenkung.

Ich

kann aber auch diesen noch nicht sogleich in dem geläufigsten Sinne

besprechen, wie sie verstanden wird

und in die bekannten äußern

Formen sich kleidet, sondern muß zuerst angebeu, was für alle Volks­ freiheit das Wichtigste ist, und ohne was alle jene Formen werthlos sind, während cs auf gewissen Stufen der politischen Entwicklung

auch ohne dieselben vorkommt: es müssen in der Staatsleitung die wahrhaftigen Bedürfnisse dieses bestimmten Volksganzen zur gebüh­

renden Geltung kommen, wie sie nicht nur durch dessen wirthschaftliche Verhältnisse, sondern

weise und

deren

auch

durch dessen Denk- und Gefühls­

nationale Eigenthümlichkeiten, die so wesentlich

das Bewußtsein der innern Einheit und Zusammengehörigkeit bedingen, angezeigt sind.

Wenn

diesen Forderungen Genüge geschähe, so

würde in Wahrheit selbst da, wo die gesammte Staatsgewalt in der

Hand der Regierung vereinigt wäre, nicht sowohl diese, als vielmehr

das Volk durch seine Regierung herrschen.

Umgekehrt, wenn ein

Volk alle Macht in seinen eigensten Händen hielte und behielte, so

wäre es doch nur einer zweifelhaften Freiheit theilhaftig, falls cs nur eben in Allem seinen Willen hätte und nicht auch das in den angegebenen Rücksichten Zuträgliche wollte.

109 Aber freilich, es genügt nicht, daß dieses Zuträgliche geschehe, es

muß als ein Solches auch anerkannt und gebilligt werden von denen, für welche es bestimmt ist.

Selbst die unter einem patriarchalischen

Regiment Lebenden empfangen nicht nur seine Gaben und tragen

nicht nur seine Lasten, sondern nehmen Beides auch mit mehr oder weniger Bereitwilligkeit hin.

Und die modernen Völker wollen mit

Fug das, was sie von ihrem Staate verlangen, nicht bloß leiden, son­

dern mitbewirken.

Zwar wie überhaupt alles Staatsgeschäft, auch

das höchste, nicht Selbstzweck, sondern nur Mittel für die inhalt­

lichen Lebenszwecke der betreffenden Volksgemeinschaft sein kann, so gilt dies auch von aller Betheiligung der Einzelnen an ihm; wir

dürfen es auch Mittel für den Staatszweck selbst nennen, wenn wir unter Staat nicht das bloße formal-politische Herrschaftswesen, son­

dern das staatlich geeinigte Volksganze, und unter Staatszweck das

Aber eben der so

verstehen, uni dessen willen die Herrschaft da ist.

gefaßte Staatszweck hat für unsere Culturvölker jene Betheiligung un­

erläßlich gemacht; nicht nur darum, weil sie sich nun einmal anders nicht mehr beherrschen lassen wollen, sondern auch weil sie jetzt wirklich anders nicht mehr gut beherrscht werden können.

Nicht die Verschmä­

hung, sondern die Benutzung dieses Hülfsmittels erweist sich demgemäß

heute auch für das Herrschen selbst als das Förderlichere, da natürlich der Unterschied von Herrschen und Beherrschtwerden auch durch die

weiteste Ausdehnung oder Vertheilung des erstern nicht aufgehoben wird.

Uebrigens • erstreckt sich

diese Vertheilung

noch in keinem

Staate, weder rechtlicher- noch thatsächlicherweise, auch nur auf die Mehrheit seiner Angehörigen; aber die Schranken sind doch schon so

weit hinausgeschoben, daß fast nicht mehr für die Zulassung, sondern

nur noch

für die Ausschließung eine Rechtfertigung verlangt zu

werden pflegt.

Eine solche möglichst weite Ausdehnung des Ein­

flusses auf die Staatslenkung, nicht bloß was die Anzahl der Per­ sonen, sondern auch was den Umfang der Befugnisse betrifft, ist es,

was man jetzt am gewöhnlichsten unter politischer Freiheit versteht. Es ist zum Mindesten etwelche Theilnahme der Vielen an der Herrschaft,

und würde also unzweideutiger Macht, als Freiheit, genannt; Frei­

heit im sonstigen Sinne wäre hier mir die Ungehindertheit in der

110 Ausübung der sogenannten politischen Freiheit selbst

wieder

zu

nennen. So hoch nun auch die Bedeutung ist, welche ich der letztern

schon im Voraus zugeschrieben habe, indem ich sie als unentbehr­ liches Mittel zur Erreichung des Staatszweckes in unsern modernen

Völkern bezeichnete, so fürchte ich doch damit nicht jedem ihrer Freunde genuggethan zu haben.

Sie sei nicht bloßes Mittel, wird

man mir entgegnen, sondern Selbstzweck; sie dürfe, wenigstens in erster Linie, nicht nach dem, was sie für Anderes, soudern nur nach

dem, was sie an sich selbst werth sei, geschätzt werden; sogar da, wo sich Nachtheile aus ihr ergeben sollten, habe man diese als die un­

vermeidliche Kehrseite des unschätzbaren Werthes, der ihr auch dann noch inwohne, sich gefallen zu lassen, und dieselben seien immer nur

untergeordnete und vorübergehende. Herabwürdigung eines Gutes ist

es jedoch gewiß nicht, wenn ihm ein Zweck zugeschrieben wird, der

hoch genug steht, um jede Anpreisung überflüssig zu machen.

Und

wenn man die Zweckbestimmung der politischen Freiheit streicht, so bleibt von dieser nichts Werthvolles übrig außer der bloßen Macht, die ja wirklich für Einige der unmittelbare Gegenstand

eines Ge­

nusses sein mag, die Meisten aber schon wegen der Geringfügigkeit des auf sie kommenden Antheils nicht merklich beglückt.

Sie haben

es auch bald weg, daß sie ihre Macht-Antheilchen, sobald sie ihnen

zugefallen sind, wieder zusammenlegen müssen, um sich ihrer zu freuen; aber wieder wird es nicht der, jetzt gemeinsame, Machtbesitz als

solcher sein, was sie befriedigt, sondern sie werden Etwas dadurch

erreichen wollen, und dies darf doch zuhöchst nichts Anderes fein, als was der Zweck des Staates selbst, oder des ganzen Volkes mit seinem Staate, sein muß.

Man entgeht der Frage nach dem Zwecke der politischen Frei­ heit auch nicht durch die Neigung, diese für ein Urrecht zu erkläre». Die Annahme von Urrechten überhaupt (Menschenrechten, natürlichen

Rechten oder dgl.) hat ja einen guten Sinn, wenn man ihm die Deutung geben darf, daß die Menschen von Natur und vermöge der jeweiligen Ausbildung ihrer natürlichen Gaben, sowie gemäß ihren

äußern Verhältnissen, gewisse Güter, theils dauernde, theils wech-

111 feinte, besitzen oder erstreben, in Bezug auf welche sie zu schützen

und zu fördern ihr Staat durch seine eigene Aufgabe, und insofern ebenfalls natürlicherweise, gehalten ist.

Obgleich es aber in diesem

Sinne keineswegs von dem Belieben des Staats und seiner Häupter

abhängt, welcherlei Ansprüche er zu befriedigen hat, so werden diese dennoch erst im Staat, und durch ihn, zu vollen, nämlich auch gel­ tenden, Rechten.

Abgesehen von solcher Anerkennung sind es nicht

sowohl Rechte, als vielmehr nur Rechtsansprüche, und auch dies in einem uneigentlichen Sinne, nämlich Ansprüche ans Rechte, nicht

Ansprüche aus einem Rechte.

Die Beziehung auf eine ihm zuge­

hörige Macht fehlt einem solchen Urrechte schon von vorn herein nicht, in der eigenen Meinung des sich auf dasselbe Berufenden;

denn nicht im Urwald ruft er es aus, sondern in einer menschlichen Gemeinschaft, von der er glaubt, daß sie es zu achten die Verbind­

lichkeit habe.

Wahrhafte Urrechte oder, wie ich jetzt, um den Ge­

danken an urwäldliche oder gar urweltliche,

an außer- oder vor­

staatliche Zustände fernzuhalten, lieber nur sage: natürliche, oder

noch lieber: ideale, Rechte werden also einfach diejenigen sein, welche, gleichviel ob sie wirklich gelten oder nicht, zu gelten verdienen; und unter Rechten im gewöhnlichen Sinne werden wir die wirklich gel­

tenden zu verstehen haben, gleichviel ob sie zu gelten verdienen oder nicht.

Im Geiste dieser Unterscheidung ist denn auch die Berufung

von positiven Rechten an natürliche oder ideale eine durchaus be­

gründete, wenn oder soweit beide nicht zusammenstimmen.

Aber so­

gar wenn die idealen Rechte am Himmel droben hangen unver­ äußerlich, oder gerade dann, wird es noch besonderer Zurüstungen

bedürfen, um sie auf unsere Erde herunter zu bekommen, da freilich von den Rechten nicht wie von den Sternen gilt, ohne sie zu begehren, ihrer Pracht freuen.

daß wir uns,

Indessen sind selbst die

idealsten Rechte auf irdischem Grunde wenigstens insofern gewachsen,

als sie in der Art,

wie sie jeweilen verstanden werden,

zunächst

doch nur das Sublimat mehr oder weniger vernünftiger aus dem

bestimmten Volksboden in dem besondern Zeitpunkt aufsteigender

Wünsche sind, die ihre örtliche und zeitliche Bedingtheit auch dann

nicht verläugnen, wenn man

noch so entschieden mit allem Ueber-

112 kommenen zu brechen meint.

ersten

Es pflegt auch, wenigstens in

Linie, je nur ein besonderer Staat zu sein, an

der

welchen

Ansprüche der in Rede stehenden Art von bestimmten Personen erhoben werden, und es wird einleuchten,

und

inwieweit

es

ihm

seine

eigenen,

daß er jene nur, wenn

beziehungsweise

seiner

übrigen Angehörigen, Bedürfnisse möglich und rathsam machen, zu befriedigen hat.

Wir werden also, jenes siderische Bild gegen ein

terrestrisches vertauschend, lieber das ideale Recht und die Rechts­

idee überhaupt mit einer hochgelegenen gemeinem Blicke

unsicht­

baren Quelle vergleichen, und das positive Recht mit den Flüffen und Bächen, worin ihr Inhalt sich verzweigen muß, um die Niede­ rungen bewäffern und für die Anwohner nutzbar machen zu können.

Man weiß, wie in einem bekannten Zeitpunkte der neuern Geschichte, eben indem man alle Privilegien unter den Menschen aufheben und

das reine Recht an deren

Stelle setzen wollte, sofort unter den

Rechten selbst wieder eine privilegirte Classe geschaffen wurde; es wäre aber wohl jederzeit praktischer, alle Rechte, die man überhaupt wie

gelten lassen, auch die scheinbar geringfügigen, für natürlich und an­

geboren zu erklären, wenn nicht zu fürchten stände, daß dieser Titel seinen Glanz ebenso bald wieder verlieren würde, wie das allgemeine Wohlgeboren. — Das hier von den subjectiven Rechten überhaupt und ihrem Verhältniffe zum Staat Gesagte gilt nun auch, und zwar

besonders einleuchtend, von jedem politischen Rechte als einem schon seinem Inhalte nach nur im Staate denkbaren.

So wenig Jemand

zu den Verrichtungen eines Staatsbeamten vor seiner Ernennung berechtigt ist, hat Jemand ein politisches Recht in einem Staate auszuüben, wenn es ihm nicht von diesem ausdrücklich oder still­

schweigend zugestanden ist.

Ein natürliches mag es darum dennoch

heißen, wie man es auch natürlich finden kann, daß Einer zum

Richter ernannt worden, ohne daß man deßhalb meint, er habe nicht

erst seine Bestallung abzuwarten gebraucht, um ein wirksames Er­ kenntniß abzugcben.

Einverstanden nun wohl damit, daß es keine politischen Rechte gibt, die Jemand überall und jederzeit von irgend einem Staate einzufordern hätte, Pflegen doch Manche dieselben als schuldige Gegen-

113 leistungen des Staates für ihm erwiesene Dienste zu betrachten. Da würde es sich zuerst fragen, welche Dienste vor andern man so belohnen wolle — mit zu den größten gehören gewiß die ihm von wackern Müttern geleisteten; dann, warum der Lohn gerade in po­ litischem Papiergeld, in Stimmzetteln, bestehen müsse; endlich, ob nicht eine schwerlich beabsichtigte bedeutende Ungleichheit der politischen Rechte die Folge jener Auffassung sein würde. Aber daß überhaupt politische Rechte gewährt werden, läßt sich nur durch das Bedürfniß des Staates selbst begründen. Nicht wegen bisheriger Leistungen an ihn oder ihrer Fortsetzung verleiht der freie Staat einem Theile seiner Angehörigen solche Rechte, sondern weil er neue Leistungen und zwar diejenigen braucht, welche in der pflichtschuldigen Ausübung dieser Rechte selbst bestehen. Die Auffassung des politischen Rechtes als eines Lohns würde hingegen folgerichtig dazu führen, daß der Em­ pfänger es in die Tasche steckte, ohne sich zu einem uneigennützigern Gebrauch davon, als von irgend einem andern Lohne, bemüßigt zu finden. Will man hier von Gegenleistungen reden, so ist solche weniger einleuchtend der Staat dem Einzelnen, als dieser jenem schuldig, für das, was Jeder von Kindesbeinen an dem Staat ver­ dankt, auch abgesehen davon, daß es wieder nur bei dem mit politi­ schen Rechten Ausgestatteten selbst steht, einen für ihn und Andere vortheilhaften Gebrauch von ihnen zu machen. Aber der Hauptge­ sichtspunkt bleibt immer dieser: der erste beste Mann ans dem Volke, welcher ein politisches Recht besitzt, ist dadurch gerade so gut vom Staat in Pflicht und Dienst genommen, wie ein Beamter durch seine Ernennung, von welcher es doch wunderlich wäre, zu fordern, sie müsse Gegenleistung für anderweitige Dienste sein. — Wie sehr diese Zusammenstellung (unbeschadet der selbstverständlichen Verschieden­ heiten) paßt, erhellt auch daraus, daß wir von denselben Köpfen, welche sich für politische Rechte ohne entsprechende Pflichten und Fähigkeiten zu begeistern vermögen, zugleich die besondern Erforder­ nisse für den öffentlichen Dienst im gewöhnlichen engern Sinne, wie namentlich die Fachbildung, unterschätzt sehen. Berechtigung zur Theilnahme an den Staatsangelegenheiten, nach Anzahl der Personen und Umfang der Befugnisse so weit ausH edler, (ylcinente e. v hi los. Freiheitölehre. Z

114 gedehnt, als dem Staate zur Lösung seiner Aufgaben nöthig und

zuträglich ist — dies ist der einzige vernünftige Sinn, welchen po­ litische Freiheit haben kann.

Keine andere Bestimmung läßt sich

ihr geben, als die: dazu beizutragcn, daß so viel Einsicht, Recht­

schaffenheit, überhaupt Tüchtigkeit in die Staatsleitung komme oder, wenn darin vorhanden, unterstützt werde und erhalten bleibe, als dafür auf dem gegebenen Boden aufgebracht werden kann.

In

wahrer und heilsamer Gestalt ist politische Freiheit vorhanden, wenn und insoweit sie dies leistet; ein Trugbild nimmt ihren Platz ein

und bloß mit seinem Scheine ist das „süße Engelsbild" gekommen, wo sie dieser Aufgabe ungewachsen ist.

Niemand kann sagen, daß

ihr damit eine zu niedrige Bestimmung angewiesen sei; es liegt vor

Augen, daß nur zu Viele sich mit Geringerm begnügen: wir sehen die Einen ihre politischen Rechte zu selbstsüchtigen Zwecken aus- und

abnuhen; wir sehen Andere Freiheitsgenuß mit blinder Parteigefolg­ schaft verwechseln; während wieder Andere mit ihren Stimmzetteln

umspringen,

als hörte man sie einander zurufen: „Laß mich der

neuen Freiheit genießen, laß mich ein Kind sein — sei es mit!" Man pflegt heutzutage auch in streng monarchisch oder aristokratisch ge­

bauten Staaten politische Geburtsrechte selbst der höchstgestellten Per­ sonen nicht mehr mit privatrechtlichen, sondern nur noch mit politischen

Gründen zu stützen und gemäß diesen zu begrenzen, sich auch noch auf den Fall vorsehend, daß die Vorrechte

Und dieser Fall kann

zusammentreffen.

dann

mit Unfähigkeit

auch bei einem Wähler

oder einem Gewählten, welche ja als solche gleichfalls Bevorrechtete gegen die Nichtwähler und Nichtgewählten sind, vorkommen.

Das

hat nun bei dem Einzelnen wenig auf sich; doch wird eine Ver-

faffung um so bester sein, je mehr sie der Forderung entspricht, daß keiner

Person

oder

Menge

oder

Auswahl

von

Personen

ein

größerer Einfluß auf die Staatsleitung ermöglicht sei, als für das

Ganze rathsam ist. schätze

Ich füge hinzu: auch kein geringerer, und unter­

mithin keineswegs den Werth, welchen eine wohlgeordnete

Beiziehung der Vielen zu den staatlichen Aufgaben hat; sie ist aber

nur daun eine wohlgeordnete, wenn sie so, wie diese Aufgaben es ver­ langen, eingerichtet ist.

Man erlaubt sich ja in dieser Hinsicht auch

115 thatsächlich überall eine ausdrückliche Regelung, überall sogar mit

Ausschließung der Mehrheit der gesammten Staatsangehörigen, und

darf dabei nun doch nicht nach reiner Willkür, sondern offenbar nur

nach der so eben erwähnten Richtschnur verfahren.

Zwar sind natür­

lich auch noch dann vielfache Einschränkungen dessen nicht zu ver­

meiden, was von dem Einen oder dem Andern unter dem Titel Freiheit begehrt wird: sie sind aber nicht als freiheitswidrig zn tadeln, wenn sie

bloße Einschränkungen eines Theiles zu Gunsten des Ganzen sind. Es wird eben allen Staatsgcnossen nebst ihren übrigen politischen Rechten auch das in die Wiege gebunden feilt, einander die vernünf­

tigen Schranken derselben begreiflich und fühlbar zu machen; wo es an

solchen Schranken fehlt, nehmen unvernünftige deren Stelle ein.

Freiheit,

Eine

die ihrem Besitzer Macht über andere Freie einräumt, läßt

sich nicht der ersten besten bloß privaten Freiheit gleichstellcn, die übrigens bekanntlich ebenfalls nur so weit geduldet wird, als sie nicht in Belästigung

Anderer ausartet.

Es darf und soll also zwar die Anzahl der po­

litisch Berechtigten, sowie auch der Kreis ihrer Befugnisse, Beides in wohlberechnetcm Verhältnisse zu einander, so weit ausgedehnt werden, als davon dem Gemeinwohl auch nur noch ein Kleinstes

zuwächst; aber man soll damit an dem Punkt innehalten, von wo an vielmehr das Gegentheil, eine bloße gemeinschädliche Befriedigung von Sonderinteressen, zu erwarten ist.

Natürlich läßt sich dieser Punkt nicht mit mathematischer Ge­

nauigkeit und auf allgemein gültige Weise für jeden Ort und jede Zeit angeben; es kommt dabei auf die ganze übrige jeweilige Ge­ stalt des betreffenden Staatswesens und dessen mannigfaltige Bedin­ gungen,

vor Allem die in der Volksbeschaffenheit gelegenen,

an.

Mit Recht wird in dieser Hinsicht neuerdings vielerorten ein großes Gewicht auf Verbesserungen der Volkserziehung gelegt; aber es gibt

Ungeduldige,

welche,

die Unerläßlichkeit

dieser Bedingung

aner­

kennend und auch wohl eifrig um deren Herstellung sich bemühend,

schon im Voraus eine Politik treiben, wie sie allenfalls am Platz sein würde, wenn das Erstrebte bereits erreicht wäre.

wohl an,

Jemandem,

Es geht nicht

nachdem ihm die höchsten Ehren

erwiesen

worden, zu Gemüth zu führen, daß er denn doch eigentlich, um sie

8*

116 zu verdienen, noch der Erziehung bedürfe.

Der einseitig politische

Gesichtspunkt bei dieser ist auch ihr selbst nicht günstig, und zwar

gleichviel für welche Altersstufe — auch auf uns Erwachsene ist es

ja gemünzt,

wenn ein Parteiführer seinen Leuten zuruft:

müssen das Volk erziehen!"

Namentlich aber was

„Wir

die eigentliche

Schule betrifft, so ist es nicht nur zur rein menschlichen Ausbildung, diesem höchsten Ziel der Schule auf allen ihren Stufen, sondern auch zur Vorbereitung auf gedeihliche Theilnahme an den Staatsange­ legenheiten dienlicher, der Jugend eine intellectuell und sittlich gute

Erziehung ohne geradezu dorthin gerichtete Abzweckung zu geben, als umgekehrt die Schule nach dieser zu gestalten und jeweilen abzu­

wandeln.

Dies ist doppelt bedenklich, wenn zugleich, über dem Ver­

gnügen an einem gewiffen Mittelmaß, die hochpolitische Bedeutung

verkannt wird, welche auf immer auch einer darüber hinausragenden frei humanen Geistesbildung, nämlich für die specifisch staatsmän­

nische Ausrüstung und dadurch für die Wohlfahrt des Volkes selbst, zukommt.

Die Cultur überhaupt würde ja sicherlich ihre Bestimmung

verfehlen, wenn sie sich nicht auch in der Breite immer weiter erstreckte; aber ebenso wichtig ist, daß sie in der Höhendimenfion erstarke und zunehme — nur dadurch wird zugleich die niemals entbehrliche Zug­

kraft für Bestand und Wachsthum auch der Volksbildung gewonnen. Um jedoch nicht von meinem Weg abzukommen: wo den Leuten mehr politisches Geschäft aufgeladen ist,' als man von ihnen ver­

langen sollte, also auch wohl mehr,

als wozu sie verständigerweise

Lust haben, da ist es dessen ohne Zweifel auch mehr, als sie ohne Vernach­ lässigung anderer, sie näher angehender und für das Gemeinwesen ebenso wichtiger Arbeit besorgen können.

(Das Letztere ist auch wohl der

in der politischen Frauenfrage entscheidende Gesichtspunkt).

Man

hat berechnet, daß seiner Zeit in Frankreich jeder Activbürger, um zu

leisten, was die Constituante ihm zumuthete, wöchentlich zwei Tage

den öffentlichen Geschäften hätte widmen müssen.

Es ist in solchem

Falle auch wohl kaum ein guter Trost, daß die Lässigkeit der Einen

durch die Uebergeschäftigkeit Anderer ausgeglichen werde, da sich nicht

behaupten läßt, daß Jemand sich desto mehr um den Staat ver­ dient mache, je mehr er sich damit abgibt —

die Verdienste um

117 den Staat wären dann heute allerdings in erstaunlicher Zunahme begriffen. Einer der vortrefflichsten Bibelsprüche lautet: „Besser eine Hand voll Ruhe, als beide Fäuste voll Arbeit und windiges Streben." Unnütze Bürger zwar nennt eine nicht minder ehrwürdige alte Rede diejenigen, welche keinen Antheil an ihrem Staate nehmen; aber den rechten Antheil bezeigt Jeder ihm am besten, wenn er „das Seinige thut", und dies wird nur ausnahmsweise durch eine berufs­ mäßig politische Geschäftigkeit geschehen. Es wird vielleicht der Eine oder der Andere diese Ansicht aristo­ kratisch schelten und sie damit abgethan meinen. Sie ist jenes aber wenigstens nicht in dem Übeln Sinne, daß sie einen Theil des Bolkes ans Kosten des ganzen bevorzugte, sondern vielmehr in dem gerade ent­ gegengesetzten, insofern sie im Interesse des ganzen Volkes verlangt, daß die nun einmal in jedem Staate wirklich und unvermeidlich Bevorzugten, nämlich die Herrschenden, auch nur irgendwie Mitherr­ schenden, wahrhaft berufen zu ihrer Stellung seien. Dies wäre denn Aristokratie nur in dem unanfechtbaren Sinne zu nennen, welcher zugleich der buchstäbliche ist: „Herrschaft der Besten", und zwar ver­ stehe ich unter diesen ausdrücklich die politisch Besten, die zur Herr­ schaft Tüchtigsten; was nun doch unzweifelhaft noththut, wie cs auch im Grund die Anhänger aller Parteien, einer jeden auf ihre Weise, meinen, indem sie sich selbst emporzubringen oder oben zu erhalten bemühen. Indessen kann Aristokratie auch übersetzt werden: Herr­ schaft des Besten (Neutrum), wie schon Aristoteles zwischen den beiden Bedeutungen: Herrschaft der Besten, und Herrschaft, die auf das Beste des Staats und seiner Theilhaber gerichtet ist, die Wahl läßt; viel kommt jedoch auf diesen Unterschied nicht an, da die Besten und die für das Beste zu sorgen Befähigtsten dieselben Personen sind. In einer dritten Bedeutung ließ sich das Wort sogar aus die ruhmvollste aller Dcmokratieen anwenden, als sie, mit Thukydides zu reden, die Herrschaft des ersten Mannes war; der heutige Sprachgebrauch würde ihr freilich schon wegen ihres Unterbaus den Namen Demokratie verweigern. Aber auch ganz abgesehen von diesem durchaus einzigen Falle, ist es Thatsache und zwar eine leicht er­ klärliche, daß gerade, je ausgedehnter die politische Berechtigung, um

118 so unentbehrlicher die Führung der Vielen durch Wenige, oft gar

nur Einen, ist; und wir sehen es einen Solchen nicht selten zu einer despotischen Macht über seinen Anhang bringen, wenn er auch nicht

immer so aufrichtig sein darf, wie der radicale englische Politiker, welcher neulich seinen Leuten in öffentlicher Versammlung

erklärt

hat: „die Mehrheit der Menschen könne auf kein höheres Privilegium Anspruch machen, als dieses, von Gescheidtern, als sie, geleitet zu werden."

Mit der Billigkeit eines Anspruches ist freilich dessen Er­

füllung noch nicht gesichert.

Es wird jeweilen besonders

darauf

ankommen, ob eine Mehrheit ihrerseits geschcidt und wacker genug

ist, so gescheidte Leute auf die Dauer ausfindig zu machen und dann an die rechten Stellen gelangen zu lassen und auf ihnen zu erhalten,

also auch in die hiezu nöthige Selbstbeschränkung sich zu schicken, und sie sich nach Bedarf durch besondere Grundsätze und Einrichtungen

aufzuerlegen, wie man etwas dieser guten Politik Aehnliches, s. z. s.

eine gute Privatpolitik, von dem erwachsenen einzelnen Menschen für seine Lebensführung erwartet.

Ohne Selbstbeschränkung ist überhaupt

keinerlei staatliche Herrschaft möglich; aber sie ist die nöthigste und in diesem Sinne eigenthümlichste Tugend in der Demokratie, als

der einzigen Herrschaftssorm, wo der Herrscher gar keine Schranken

hat, als die er sich selbst setzt, während auch der absoluteste Monarch oder Senat thatsächlich, eben des Volkes wegen, nie so unbeschränkt ist, wie ihm grundsätzlich oder schmeichlerisch zugeschrieben sein mag.

Dies vorausgeschickt nun, darf ich behaupten, auch alles an den de­

mokratischen Forderungen Berechtigte gehörig und sogar besser an­

zuerkennen, als diejenigen, welche sich auf diesem Gebiete so leicht einen bloßen Schein der Sache an deren Statt auftäuschen lassen.

Wo freilich die Forderungen, unbekümmert um die Bedürfnisse des

bestimmten Volkes, in dessen Namen sie erhoben werden, sich bloß auf irgend ein Naturrecht berufen, da lassen sie sich nicht unbesehen

erfüllen.

Auch die Erhebung der Demokratie von Athen entsprang,

wie Ranke erinnert, „nicht etwa aus der Idee von allgemeinen un­

verjährbaren Gerechtsamen; so ist sie weder von Solon noch

von

Klisthenes betrachtet worden; für diese war sie ein Moment von politischer Nothwendigkeit".

Und Solon war überzeugt, alles Nöthige

119 zu thun, indem er sich, seinen eigenen Aussprüchen zufolge, darauf

beschränkte, seinen Mitbürgern „so gute Gesetze, als sie gebrauchen konnten", und dem Demos „so viel Macht, als genug", zu geben. Das Beste von dem irgendwo und irgendwann politisch Möglichen

ist eben das politisch Beste überhaupt an diesem Ort zu dieser Zeit.

Der modern-eivilisirtc Staat nun muß ganz gewiß ein demokra­ tischer nicht bloß in dem außer Frage stehendeu Sinne sein, daß er

nur das Wohl des Volksganzen zu seinem Augenmerke haben und

demgemäß schlechterdings keine politisch bevorzugte Stellung in seinem Bereich zulassen darf, die nicht durch diesen Zweck gefordert wird: er hat unter den gegebenen Bedingungen ein demokratischer auch in

dem gewöhnlichen Sinne einer weit ausgedehnten Theilnahme des Demos an der Herrschaft werden müssen.

Da freilich der Demos,

wollten wir darunter die Gesammtheit der Volksangehörigen ver­ stehen, schon wegen der Vielköpfigkeit nicht herrschen kann, und ein

bloßer kleiner oder großer Theil desselben nach der Voraussetzung nicht herrschen darf: so ist Demokratie von vorn herein nur auf die

Art möglich, daß die Herrschaft bei einem solchen Theile steht, welchen man als genügenden Stellvertreter des ganzen betrachtet.

Während

ich hier nun einerseits „Vertreter" in der weiten Bedeutung nehme,

daß das Gesagte auch von der sogenannten unmittelbaren Demokratie gilt, da es auch bei ihr nicht ohne starke Ausschließungen abgeht: so wird andererseits von demokratischer Gestaltung des Staatswesens

auch da gesprochen, wo der Herrschaft der Vielen oder der von ihnen gewählten Vertreter bestimmte Schranken durch eine von deren Willen gesetzlich unabhängige Ordnung gezogen sind, die freilich nur dann

wahrhaft in der Ordnung ist, wenn deren Träger auf ihre Weise

gleichfalls das Volk vertreten.

Demokratie in der Einen oder der an­

dern dieser Bedeutungen, zum Mindesten etwelche Demokratisirnng, ist

auch längst mehr als bloße Forderung, ist in unsern Republiken und constitutionellen Monarchieen Thatsache, und zwar eine, von welcher

kein Verständiger denkt, daß sie sich in einer praktisch absehbaren Zeit rückgängig machen lassen werde.

Aber etwas Anderes ist eine

Thatsache, etwas Anderes ihr Verständniß, und wieder etwas Anderes

ihre Würdigung, wie sie zur Lösung der Aufgabe erforderlich ist, einem

120 Thatsächlichen seine gebührende Stellung und Form und Ausbildung zu geben. Zu wissen, was in dieser Hinsicht einem bestimmten Lande zu

einer bestimmten Zeit frommt, und so auch, welcherlei Demokratie oder

Demokratisirung nach Maß und Art ihm taugt, ist natürlich eine nur unter genauester Kenntniß und Berücksichtigung der besondern Zustände

beantwortbare Frage.

Hingegen eine überall und immer gültige

Forderung ist diese: der Wahn muß verabschiedet werden, daß für ein Volk anders, als für den einzelnen Menschen, Willens- und Herrscher­

macht schon an und für sich, abgesehen von der Art ihrer Anwendung, das größte Glück sei; daß mithin, im Gegensatz zu jenem Solonischen „Ge­ nug", alle politische Weisheit in der simpel» Losung: Je mehr (Herr­ schaft) desto besser, beschlossen und jedes Weitergehen auf diesem Wege

als ein echter Fortschritt zu begrüßen sei. Auch das Volk selbst ist, wie

allbekannte Thatsachen beweisen, gar nicht der Nimmersatt an Herr­

schergewalt, als welchen es zumeist diejenigen darzustellcn lieben, die ihm dann wieder den Ueberfluß abzunehmen sind.

die Bereitwilligsten

Die Herrschaft oder Mitherrschaft des Volkes ist ein Gut nur

in dem Maße, als sie dazu hilft, ihm — nicht nur dem großen oder kleinen Theile, welcher sich gerade im Besitze der Macht befindet,

und auch an die nachkommenden Geschlechter ziemt sich's zu denken

— diejenige Sicherung und Förderung in Bezug auf seine Güter

zu gewähren, um deren willen ein Staat da ist.

Ohne diesen Maß­

stab ließe sich auch nie sagen, daß ein Volk seine Macht gut oder schlecht anwende, und ein Tadel nicht einmal dann aussprechcn, wenn cs von ihr den Gebrauch machte, sich einem elenden Despoten

auszuliefern, wogegen ja gar Nichts einzuwenden wäre, wenn es nur darauf ankäme, daß das Volk überhaupt seinen Willen habe,

und nicht vielmehr darauf, daß von ihm oder seinen Vertretern und Lenkern gewußt, gewollt und gethan werde, was

ihm heilsam ist.

Ich höre mir hierauf nicht ohne Salbung erwiedern: was einem

Volke heilsam sei, werde Niemand besser, als es selbst, wissen.

Aber

ich sehe zugleich, daß man fast allerseits sehr beflissen ist, es dem

Volk erst zu sagen, und es gewöhnlich nur dann lobt, wenn es be­ hält, was man es gelehrt hat — behält wenigstens bis zum Prüfungs­

tag, vulgo Wahltag.

Im Gegensatze hiezu ist cs meine ernsthafte

121

Meinung, daß man das Volk nicht zu schulmeistern habe. Man gibt sich viel zu viel Mühe, das beste Wissen in dasselbe hinein-, und viel zu wenig, es aus ihm herauszubringen — wie jenes der Agitator auf seine Weise betreibt, und dieses der Staatsmann versteht. Der Letztere verhält sich zu dem Volke, wie der rechte Naturforscher zu der Natur, nicht als Einleger, sondern als Ausleger. So wenig freilich, wie der Naturforscher sein Wissen buchstäblich aus dem Munde der Natur bezieht, wird der Staatsmann den Volksmund für eine eigentliche bocca della verita halten. Eher wird er denselben dem Munde der Pythia und sich selbst dem Propheten vergleichbar finden, welcher deren verzückte Laute zum sinnvollen Spruche zu gestalten hatte. Auch da, wo das Volk sich vernehmlicher äußert, wird er weniger danach fragen, was es jetzt, in dem Zeitpunkt einer wichtigen politischen Entscheidung, sagt, als danach, was es sagen wird, wenn es ihre Folgen erkennt und spürt; auch weniger danach, was es weiß, als danach, was es ist und was er selbst von ihm weiß. Und sogar wenn eine jeweilige Volksstimmc die Gottesstimme selbst wäre, würde doch wenig damit geholfen sein, wenn es an der Kraft oder der Geschicklichkeit zu ihrer Befolgung fehlte. So wenig also, wie der moderne Staat einer Mitarbeit des Volkes an seinem Geschäft cntrathen kann, weiß er demselben die Zumuthung zu ersparen, sich von den doch verhältnißmäßig immer Wenigen, welche sich auf die Füh­ rung wirklich verstehen, leiten zu.lassen. Za, die Staatsknnst ist zu dem, was ihr Name besagt: zu einer eigentlichen, also besondere Ausrüstung und für höchste Aufgaben sogar Genialität verlangenden Kunst, ge­ rade je weiter sich die Befassung mit den Staatsdingen verbreitet hat, und zum Theil in Folge dieser Verbreitung, nur um so mehr geworden. Aber was die wahren Staatsmänner eines Volkes wollen, kann füglich des Volkes eigener vernünftiger Wille genannt werden, ähnlich wie man die Kunst der griechischen Bildhauer und Dichter die Kunst der Griechen selbst nennt. Die hier vorgetragene Ansicht ließe sich auch so charakterisiren: sie beruhe auf der völligen Unterordnung des Demokratismus unter buchstäblichen Republicanismus, unter Republik hier, wo ich vom Staat im Allgemeinen rede, nicht eine Staatsform, sondern ein

122 Staatsprincip verstanden, und zwar negativ ausgedrückt: das reine Gegentheil jeder Art von Despotismus, von Beugung der res pu­ blica unter den Eigenwillen oder gar Eigennützen Weniger oder Vieler; positiv ausgedrückt: die Uebereinstimmung des in einem Staate waltenden Willens mit demjenigen, welchen das ganze Volk in staatlichen Dingen haben — würde, wenn es ein im eigentlichen, also persönlichen, Sinne wollendes wie zugleich seinen Vortheil bestens verstehendes und zu verfolgen wissendes Subject wäre. Daß dieser Wille soviel möglich auch wirklicher Wille werde und zu klarem Ausspruch und durchgreifendem Vollzug gelange, dies ist das Ideal, wonach jedes Staatswesen, auch jede Demokratie, sowie jede Forde­ rung ihrer Einführung oder Erweiterung, zu beurtheilen ist; nicht hat sich umgekehrt das Urtheil nach dem Maße zu richten, in welchem die erwähnte Forderung in's Blaue (beziehungsweise Rothe oder Schwarze) hinein erfüllt ist. Nur insoweit, als die Machthabenden den Volkswillen in jener idealen Bedeutung erkennen, zu dem ihrigen machen und durchzusetzen int Stande sind, leistet ein Staat seinem Volke, was er ihm leisten kann und soll. Die Uebereinstimmung dieser beiden Willen zu sichern, soweit es durch gesetzliche Veran­ staltung geschehen kann, ist namentlich auch das Wichtigste, was einer Staatsverfassung obliegt. In diesem Sinne also freilich Herr­ schaft des Volkes, aber auch wirklich des Volkes, des ganzen Volkes, und genauer desjenigen an ihm, was zu herrschen berufen ist, über das, was der Beherrschung bedarf — kurz das vollkommene Seitenstück zu der vernünftigen Selbstbeherrschung, die wir von jedem einzelnen Menschen verlangen. Ich habe zuletzt das Wort Freiheit wenig mehr gebraucht, aber dennoch zur Sache gesprochen. Es galt eben, darauf zu bestehen, daß politische Freiheit vielmehr Macht und Herrschaft, als Freiheit d. h. Ungehindertheit, bedeutet; ist sie aber so eingerichtet und wird sie so angewandt, wie es den wohlerkannten Eigenschaften, Verhält­ nissen, Bedürfnissen des betreffenden Volkes entspricht, so ist dieses ebendamit auch der eigentlichen Freiheit theilhaftig. Deshalb kön­ nen hier auch einige Punkte, die der praktischen Politik etwas näher

123 und

mir daher in demselben Maße ferner, als die besprochenen,

liegen, nicht ganz übergangen werden. Gesetzt, es würde in weitesten Kreisen der heutigen civilisirten Staaten herumgefragt, was politische Freiheit sei, so würden wohl die meisten Stimmen auf das allgemeine Stimmrecht selber (hier zunächst nur das Wahlrecht darunter verstanden) fallen, obgleich es

als wirklich allgemeines nicht blos; nirgends existirt, sondern auch von Niemandem begehrt wird.

Abgesehen von Frauen und Kindern,

pflegt es ja auch für die Männer nicht ausnahmslos zu gelten; cs wird immer nur das Stimmrecht eines besondern Theils der Be­

völkerung und zwar einer bloßen Minderheit derselben gemeint; der größere Theil ist also politisch unfrei und unterthänig.

Mag dies

nun auch noch so gerechtfertigt sein, so findet doch selbst in dem be­

vorzugten kleinern Theile kaum jemals Einmüthigkeit statt.

Dann

kann also das Stimmrecht entweder überhaupt nicht in Wirksamkeit treten, oder die Eine der beiden Meinungen (daß ich jetzt nur von zweien rede) wird trotzdem, daß sie nicht einmal unter den Berech­

tigten die allgemeine ist, soviel, wie wenn sie es wäre, gelten.

Es

wird da nämlich Nichts für einfacher gehalten, als daß diejenige

Meinung vorgezogen werde, welche der Allgemeinheit näher steht,

d. h. die Mehrheit der Stimmen

derheit selbst wieder für sich hat.

innerhalb der bevorrechteten Min­

Dies ist auch wirklich nicht nur

das Eiufachste, sondern das jetzt Beste, insofern vor Allem daran gelegen ist, daß der vorhandene Streit nicht nach Faustrecht ent­ schieden werde, was in der That schon dadurch vermieden wird, daß

man die Fäuste durch ausgespreitete Hände, die Körperkraft durch die Anzahl, ersetzt.

Aber nur das Nächstbeste ist dies, weil damit

das höhere Recht doch derjenigen Seite zuerkannt wird, welche sich

auch da im Vortheil zu befinden pflegt, wo die Fäuste entscheiden.

Es bleiben auch dieselben Ausdrücke üblich: die Einen haben „ge­ siegt", die Andern sind „unterlegen",

die Mehrheit ist wohl

gar

eine „erdrückende" gewesen; wo dies den Ohren erhaben oder lieb­

lich klingt,

da kann man sich nicht verwundern,

Hände sich leicht wieder zusammenballen.

wenn auch die

Gleichwohl ist mit jener

124 Verwandlung der politischen Kräfte schon Etwas gewonnen: es ist wenigstens das Streben bekundet und ein Anfang

dazu gemacht,

von bloßer Gewalt und einer denn doch nur durchschnittlich gelten­ den Regel, nämlich Sieg der Mehrheit bei physischem Kampf,

zu

Und wenn einmal, wie es ja

Recht und Ordnung zu gelangen.

die Voraussetzung ist, alle mit Stimmrecht Begabten gleichwerthig sind, so kann eine Meinungsverschiedenheit wirklich nicht billiger als

durch einfache Stimmenmehrheit geschlichtet werden — genug wenn die Minderheit mit einem ihrer Anzahl entsprechenden Gewichte und insofern doch mit voller Gleichberechtigung zu dem Ergebnisse mitwirken kann.

Eben dies nun aber ist ihr bei dem noch heute herrschenden

Wahlsystem nicht vergönnt: nicht einmal der Mehrheit, geschweige einer, wenn auch noch so großen, Minderheit, der zur Wahl Berech­ tigten ist die ihr entsprechende Anzahl von Abgeordneten zu einer

Volksvertretung verbürgt.

Freilich hat jeder von diesen nicht sowohl

seinen Wahlkreis oder gar nur seine Wähler, als vielmehr das ganze Volk zu vertreten; hiezu aber ist er doch nur durch den verhältnißmäßig kleinen Theil des Volkes, welchen seine Wähler ausmachen,

erkoren; und selbst diese bilden in der Regel nur einen schwachen Bruchtheil aller Wahlberechtigten des Kreises, ja sogar von den ihr Recht Ausübenden

möglicherweise

nur

die Hälfte ihrer Summe

+ 7S; werden z. B. 1001 Stimmen abgegeben, so können 501 soviel ausrichtcn, wie wenn die übrigen 500 nicht vorhanden wären.

Ge­

setzt, man habe 10 Wahlkreise, mit je 10 Wählern, welche alle an 2 Parteien »ertheilt sind, und es sei in jedem 1 Vertreter zu wählen. (Ich nehme der Anschaulichkeit wegen so kleine Zahlen, da sie hier den gleichen Dienst wie größere thun.)

Alsdann bekommt eine Partei

alle 10 Vertreter, wenn sie in allen Kreisen auch nur je 6 Anhänger,

im Ganzen also nur 60 gegen 40 hat; und sie bekommt die Mehr­

heit, wenn ihr auch nur in 6 Kreisen je 6 Wähler, also im Ganzen nur 36 gegen 64 angehören.

Mit 64 Wählerstimmen auf 100 ist

es folglich einer Partei ebensowohl möglich, nur die Minderheit, als

die Gesammtheit, der Stimmen in der Vertretung zu erlangen.

Im letztern Falle, der sogar schon bei 60 Stimmen eintreten kann,

125 ist es nicht genug an der Ungeheuerlichkeit, daß möglicherweise ’/5 der Wähler gar keinen von ihnen gewollten Vertreter haben, sondern die Erwählten der übrigen 3/ä werden oft selbst wieder in Mehrheit und Minderheit zerfallen, und alsdann entscheiden möglicherweise die Vertreter von 36 Wählern gegen 64, ebenso wie wenn eine Par­ tei nur in 6 Kreisen mit je 6 Stimmen gesiegt hat, aber ihre Abgeordneten zusammenhalten. Einen sehr schlimmen Umstand will ich hier nur nebenbei erwähnen, nämlich daß die Wahlfreiheit, welche sich doch billigerweise nicht bloß auf die Partei des zu Wählenden, son­ dern auch auf dessen Person erstrecken sollte, in dieser Hinsicht be­ kanntlich für die allermeisten Wähler gar nicht vorhanden ist. Gegen das Vorige wird eingewendet: das seien zwar mögliche, aber extreme Fälle, die in der Wirklichkeit nicht vorkämen. Aber wenigstens beliebige Annäherung daran kommt oft genug vor, und auch bloß möglichen Uebeln soll man vorbauen, soweit es thunlich ist. Man sagt auch wohl, es genüge, daß wenigstens die Mehrheit in einem Wahlkreise oder doch dem ganzen Volke nicht auf die Dauer unter­ drückt werden könne. Freilich genügt das, wenn man genügsam ist. Aber um die Mehrheit braucht uns nicht bange zu sein; es sollte jedoch auch feine Minderheit, kein Einziger in einem gerechten Ansprüche gekränkt werden, und keine Mehrheit ihren Willen rück­ sichtslos durchsetzen können. Nicht das, was ihr selbst, als dieser bloßen Summe einzelner Personen, belieben möchte, sondern das, was dem ganzen staatlich geeinigten Volke zusagt, zu wollen und, soviel an ihr, zur Geltung zu bringen, hiezu ist die Mehrheit einer Volks­ vertretung da. Als nächste Abhülfe gegen die gerügten Uebelstände bietet sich heute das System der sogenannten Minoritäten-Vertretung an, wo­ nach in dem gewählten Körper zwar, wie bisher, die Mehrheit seiner Glieder zu entscheiden hätte, aber nicht bloß die Mehrheit der Wähler (des Volkes im Ganzen oder je eines besondern Wahlkreises), sondern auch deren Minderheit vertreten wäre, und zwar möglichst annähernd in dem Zahlenverhältnisse, das zwischen beiden Theilen, sowie auch zwischen deren Untcrabtheilungen stattfiiidet, wenn auch begreiflich ein Minimum der für eine gültige Wahl erforderlichen Stimmen

126 festgesetzt werden müßte.

Der Minderheit der Wähler nicht einmal

so viel gewähren, ist in der That nicht billiger, als wenn in der gewählten Versammlung selbst wieder jeweilen die Mehrheit darüber

entschiede, ob ein Mitglied der Minderheit das Wort erhalten solle. Da, wo nun einmal die Zahl gelten soll, ist es eine unabweisbare

Forderung der Ehrlichkeit, den angenommenen Grundsatz wenigstens

im Kreise der wirklich als gleichberechtigt Anerkannten auch möglichst

genau zu befolgen.

Der bloße Wunsch, eine gute und auch unter­

geordneten Zügen ihr Recht lassende Photographie des Volkes zu er­ halten, kann hier allerdings nicht entscheiden; immerhin kann eine

solche dem Staatsmann ähnliche Dienste leisten, wie die Photographie einer Person dem Portraitmaler.

Den einzigen Mangel des neuen Systems, welches Dieser oder Jener schon durch die Bezeichnung desselben als eines „philosophi­

schen" richten zu können geglaubt hat, finde ich darin, daß es noch nicht philosophisch genug ist, sondern

Mache noch zu viel Spielraum läßt.

der gewöhnlichen politischen

Ein so wünschenswerther

Fortschritt auch schon die Minoritäten-Vertretung in der Einen oder der andern ihrer verschiedenen möglichen Gestalten mancherorten ist

oder wäre, so ist sie doch eine zunächst nur arithmetische Verbesserung

und nur das bisherige System zu größerer Folgerichtigkeit gebracht, dessen Anhänger sich

ihrer daher vergeblich zu erwehren suchen.

Aber es liegt auf der Hand, daß jedes Wahlsystem außer der arith­

metischen Seite auch eine qualitative hat, schon durch die Einschränkung der Berechtigung auf Leute von besondern Eigenschaften, gesetzt auch

daß die Grenzen bloß nach Alter und Geschlecht gezogen werden. Auch wird kein aufrichtiger Parteimann in Abrede sein, daß er, wenn eine Aenderung des Wahlsystems vorgeschlagen ist, sich vor Allem darum bekümmert, wie dabei seine Partei fahren würde; welche Rücksicht

ja auf seinem Standpunkte so berechtigt wie dieser selbst ist.

Und auch

innerhalb der Schranken des jeweiligen Systems sehen wir die Parteien,

selbst die sich am meisten auf die Zahl steifenden, nicht die schlichte Ausmittlung des Mehrheitswillens anstreben; sondern sie wollen eine jede natürlich ihre eigene Sache durch die Mehrheit, als ein bloßes Mittel, zum Sieg führen und dieses Mittel sich uöthigenfalls erst

127

schaffen. Gelingt dies nicht, so fällt es keinem richtigen Parteimann ein, deshalb seine Farbe zu wechseln; nur etwa über uns Volk pflegt ein Solcher nach einer Wahl-Niederlage andere Reden, als während der Agitation, zu führen. Ganz allgemein erlaubt man sich eben zwischen dem jeweilen regelrecht ausgemittelten Volkswillen und einem andern, dieses Titels werther geachteten, welcher dann doch nur der Wille eines gesetzlich unterlegenen Theiles der Wählerschaft ist, zu unterscheiden und diesen, nicht jenen, für den besser berechtigten an­ zusehen. Da aber eben darüber, welches dieser sei, die Meinungen innerhalb des Volkes auseinandergehen, so wäre offenbar zn wünschen, daß sich der rechte Volkswille auf eine zuverlässigere Art, als durch die gewöhnlichen Mittel, feststellen ließe. Nun kann zu diesem Be­ hufe sicherlich nicht mehr von Zulassungen, Ausschließungen, Abstu­ fungen auf Grund von Eigenschaften die Rede sein, die keine Bedeutung für das Gemeinwohl und also auch keine für den Staatszweck haben. Nur um eine Bestellungsweise der Vertreter kann es sich handeln, welche den gesammten Interessen des bestimmten Volksganzen, einem jeden in dem seinem Gewichte für dieses Ganze entsprechenden Maße, die von Seiten des Staates gebührende Berücksichtigung sichert. Dies ist denn freilich je nach Ort und Zeit auf sehr verschiedene Art möglich, schon darum weil es zu der übrigen Beschaffenheit des betreffenden Staates stimmen muß. In dieser Beziehung kommt besonders darauf viel an, ob und welcherlei andere Factoren des Staats- und überhaupt Volkswesens mit dem in Rede stehenden Vertretungskörper zusammenwirken. Allgemein aber wird einleuchten, daß ein Wahlsystem, kann es auch unter günstigen Bedingungen, schon ohne ausdrücklich auf das erwähnte Ziel berechnet zu sein, auf eine demselben förderliche Art wirken, doch wesentlich eben danach zu beurtheilen ist, was es in dieser Hinsicht leistet. Die Erreichung dieses Zieles bedeutet zugleich Verhütung, daß die Freiheit der Einen Glieder der Staatsgemeinschaft in Knechtschaft anderer Gleichbe­ rechtigten ausschlage. Namentlich ist nun aber für eine solche wahre Freiheit des Ganzen auch eine Negierung vorausgesetzt, wie sie sein soll, wozu auch gehört, daß sie, entsprechend dem oben vom Staat überhaupt

128 Gesagten, selber die zur Erfüllung ihrer Aufgabe nöthige Freiheit besitze.

Wir sehen solche Regierungsfreiheit auch überall, in Re­

publiken wie in Monarchieen,

durch die Verfassung geschützt;

in

gleicher Richtung, wie hier die Selbstständigkeit der Krone, wirken dort schon Zuständigkeit und Amtsdauer der Regierung,

wozu in

bundesstaatlichen Republiken — und die Lebensfähigkeit anderer hat sich noch zu bewähren — das Oberrecht der Bundesbehörden kommt.

Die Arbeit einer freien und Freiheit schützenden Regierung besteht aber nicht, wie ein ungeschickter Ausdruck will, in bloßer Vollziehung,

sondern in selbstständiger Ausmittlung und Ausführung des innerhalb

gesetzlicher Schranken Zweckmäßigen, sowie auch einer, ost nur von fern her möglichen, Anbahnung wünschenswerther Reformen.

Hiezu

gehören denn Männer, die etwas Besseres zu thun vermögen, als ihrem Volke nur eine nach irgendwelcher angenommenen Regel formal gültige Willensverordnung abzuhören,

wie einem Sterbenden sein

Testament, mit keinem andern Einfluß, dann auch wohl noch bei

der Execution, als wie er auch einem redlichen oder Pfiffigen Notar

möglich ist.

Hiemit soll nicht etwa dem Staatsmann eine mit der

Volksfreiheit, um deren Schutz es sich ja gerade handelt, unverträg­

liche Vormundschaft eingeräumt werden.

Nur ist unter jener auch

hier etwas Höheres zu verstehen, als die bloße Freiheit jeder auf einen bestimmten Tag irgendwie zusammengebrachten sogenannten

Mehrheit, die oft so weit hinter der wirklichen Mehrheit oder gar

Gesammtheit der Berechtigten und Verpflichteten zurückbleibt.

Der

Staatsmann als solcher hat sich nöthigenfalls des Volkes gegen das

Volk selbst, nämlich des wirklichen gegen das angebliche, anzunehmen; denn er soll die seinem Volke durch dessen eigene Natur gesteckten

Ziele kennen, sowie es auf die Wege führen und auf ihnen geleiten, welche es dahin von dem jeweilen bereits erreichten Punkte aus unter den gegebenen äußern Bedingungen und Hemmungen einzuschlagen

hat.

Er hat also auch nicht sowohl dafür zu sorgen, daß dasselbe

unverbessert so bleiben könne, wie es in Wirklichkeit und Gegenwart

ist, als vielmehr dafür, daß es werde, wie es werden soll, nämlich auf der ihm, nicht etwa durch diesen oder jenen Politiker, sondern

durch es selbst, seinen eigenen Charakter, vorgezeichneten Bahn, die

129 ihm ja zum Gehen, nicht zum Ruhen gegeben ist, sich fortbewege. Er wird alsdann freilich sein Volk nicht in einem beschränkt that­ sächlichen und allenfalls typischen, aber dem idealen Sinne repräsen-

tiren, welcher ihn gleichfalls zum Volksvertreter, und in der höchsten Be­

deutung dieses Wortes, macht.

Er wird sich ebendamit auch gegen­

über einer dafür geltenden öffentlichen Meinung selbstständig ver­

halten.

Ein tüchtiger Solosänger kann recht wohl auch mit einem

wohlgeschulten Chor zusammenwirken; aber es ist für die Ausbildung und Erhaltung seiner Kunst nicht Vortheilhaft, wenn ihm Nichts über

das Vergnügen geht, im Chor selbst mitzusingen.

Schon unter uns

Regierten ist ja der ein ganz verlorener Mensch, wer nur zu meinen wagt, was Andere mit- oder gar vormeinen.

Wem seine Freiheit

lieb ist, der wird unter ihr nicht sowohl Freiheit der öffentlichen Meinung, als vielmehr Freiheit von ihr verstehen, und sagen: Ich

schwöre auf keine andern Meiner, denn Einer bin auch ich.

Gewiß

zwar wird er wünschen, daß die öffentliche Meinung sich uneinge­

schränkt kundgebe, nicht aber ebenso, daß sie

rücksichtslos durchsetze.

sich ungesichtet und

Oft genug auch ist, was ihren Namen führt,

bloß ein kecker Versuch, solche erst zu machen.

Der Staatsmann

insbesondere wird sie, sogar eine nur vorgebliche, zwar kennen und mit

ihr rechnen, aber selbst die ausgebreitetste, wenn er sie irregehen sieht, nach bestem Wissen und Gewissen aufzuklären sich verpflichtet fühlen,

und damit auch für

die Freiheit des Volkes, zunächst von Trug

oder Selbstbetrug, zu sorgen glauben.

Ein jedes Volk selber, welches

wirklich frei gesinnt ist, wird den ihm die Wahrheit, auch die unan­ genehme, Sagenden, nicht den sie ihm Verhehlenden, ihm Schmeicheln­

den, die schon der alte Aristoteles mit den Höflingen eines Tyrannen zusammenstellte, sein Vertrauen schenken.

Die hiemit verfochtene Zusammengehörigkeit von wahrer Volks­ freiheit und Staatsweisheit wird auch wirklich heute von Vielen we­

niger bezweifelt, als die vordem oft den Volksvertretungen nach beiden

Seiten in unbilligem Maße zugemuthete Bedeutung.

Keine wird

eine Versammlung von Staatsmännern sein, die ja wohl ein nicht

geringeres Wunder wäre, als nach Schopenhauer's böser Zunge eine ganze Philosophen-Versammlung — genug wenn Volksvertretungen Hebler, Elemente e. philos. Freihenoledie. 9

130 echte Staatskunst mit Einsicht und Selbstständigkeit zu unterstützen

wissen.

Nicht einmal daß sie aus eigentlichen Politikern bestehen

oder sich von Solchen gängeln lassen, ist zn fordern oder auch nur zu wünschen, da sie gerade umgekehrt ihre Bestimmung um so besser

erfüllen, je unmittelbarer sie dem Volke und dessen mannigfaltigen Bedürfnissen zur Aussprache verhelfen, je nähere Fühlung zwischen

Volk und Regierung sie ebendamit auch unterhalten, während im andern Falle die Interessen des Staates von dem Volke selbst und

von dessen Vertretern ost sehr verschieden verstanden werden, und sich gegen jene nicht selten sogar bloße Interessen der parlamentarischen Zwischenhändler selbst stellen.

Ohne mich hier auf die verschiedenen

möglichen Abhülfen einlassen zu wollen, erwähne ich nur bei dieser

Gelegenheit die besondere unter dem Namen Referendum bekannte Ergän­

zung des Vcrtretungssystems.

Von einem schweizerischen Hochgestellten

l’cssai lc plus grandiose qu’une Republique ait jamais teilte und

von einem sonstigen Parteigenossen

desselben phylloxera legislatif

genannt, ist das Referendum durch die bis jetzt mit ihm gemachten Erfahrungen auch bei manchen

achtung gerathen.

seiner frühern Freunde in Miß­

Ich meinerseits kann es bloß auf diese Erfah­

rungen hin so unbedingt weder preisen noch schmähen,

gehöre in­

dessen zu denen, welche sich von vorn herein darüber wunderten, daß wenigstens die Volksvertreter, die es einführten, nicht alle dachten,

über weitläufige Gesetze, namentlich aber solche, deren Wohlthätig­ keit sich nur von Fachmännern im Voraus und selbst von diesen oft

nur nach längerer Probe sicher beurtheilen läßt, sowie über weit­ tragende

Finanzoperationen

zu

entscheiden,

werde

den

meisten

Stimmberechtigten in Ermanglung von Sachkunde und zulänglicher gemeinsamer Berathung hoffentlich nicht besser gelingen,

als ihnen

selbst, den erwählten Vertretern, mit allen ihnen zu Gebot stehenden Hülfsmitteln. Auch eine Erweiterung der Herrschaftsrechte des Volkes, wenn bloß danach die Lust stand, hätte sich vielleicht auf andere

und nützlichere, auch die Verantwortlichkeit der Vertreter unvermin­

derter lassende, Weise bewerkstelligen lassen, etwa durch Aenderungen im untern und obern

Wahlwesen.

Freilich gibt cs — ich denke

jetzt wieder, wie überhaupt in dieser Abhan dlnng, nicht vorzugsweise

131 an Republiken und kleine Staaten — Untugenden, die sich leichter in

parlamentarischen Kreisen, als außerhalb

derselben,

und

einniften,

einem Volke die Unterscheidung zwischen seiner Freiheit und derjenigen seiner Vertreter nahe legen.

Auf schweizerischer Seite haben in den

letzten Jahren ausländische Dinge solcher Art dem Referendum einige neue Lobsprüche eingetragen.

Ich habe den Unterschied der Staatsformen bis jetzt, wie es sich für eine Abhandlung über die Freiheit gehört, gegen den von freien und unfreien Staaten oder vielmehr staatlich freien und un­

Von einer Staatsform als solcher,

freien Völkern zurücktreten lassen.

abgesehen von den lebendigen Menschen, die sich in ihr bewegen, läßt sich ja genau genommen nicht sagen, daß sie an und für sich

selbst frei sei oder ein Volk frei mache, es auch nur vor dem Ver­ sinken in schnöde Unfreiheit bewahre, wenn es zu dieser neigt; es

gibt aber zum Glück auch keine, die ohne diese Voraussetzung ein

Volk auf die Dauer zu knechten vermöchte — wie auch sonst überall Freiheit und Unfreiheit mehr in den Leuten, als in stecken.

heit,

Es

ja ein

liegt sogar eine

nicht

innerer Widerspruch

den

Formen,

geringe Gefahr für die Frei­ in

dem

daß

Vorurtheil,

mit

der bloßen Herstellung eines auf sie berechneten Formenwesens alles für sie Nöthige gethan sei;

dasselbe ist im besten Falle nur

für sie nutzbarer Mechanismus,

auf dessen Handhabung man

dann aber noch verstehen muß.

Hiemit wird keineswegs

terschied

der

Staatsformen

diejenige,

welche

überhaupt

die

diesem

sich

der Un­ der Frei­

für gleichgültig in Betreff

heit erklärt; aber die ihr günstigste ist an jedem Ort und Zeit

ein

zu

bestimmten

jeder Volke

nach seiner Natur und Geschichte, nach seinen Verhältnissen und Be­ dürfnissen angemessenste ist. Z. B. für die vor Allem auf ein duldsames

Zusammenleben ihrer verschiedenartigen Bestandtheile und nach außen

auf

strenge Neutralität angewiesene Schweiz würde jeder Versuch

einer Monarchifirung, schon einer ihr nahe kommenden Centralisirung,

auf derselben Stufe der Weisheit stehen, wie für diesen oder jenen andern Staat ein Unternehmen in entgegengesetzter Richtung, und da­ mit sind dort und

hier auch

Bahnen vorgezeichnet.

der politischen Freiheit

verschiedene

Ueberhaupt würde Niemand politische Ein9*

132 richtungen seines Landes so ohne Weiteres, wie einen gewöhnlichen Ausfuhrgegenstand, auf ein

anderes übertragbar finden, wenn er

ihre Bedeutung für das eigene begriffe.

Das Entsprechende gilt

auch von den Einfuhrbestrebungen, und Beides nicht bloß in Be­ treff der Grundformen, sondern auch innerhalb einer jeden in Bezug

auf deren verschiedene Ausgestaltungen.

Gerade je passender eine

Einrichtung für ein bestimmtes Volk ist, je freier es sich ebendamit

in ihr fühlt, desto weniger wird sie gleichmäßig einem andern taugen. Die einzige vernünftige Nachahmung wäre diese, daß das zweite Volk seine eigenthümlichen Bedürfnisse ebenso eigenthümlich und gut be­ friedigte, wie das erste die seinigen, und sich also mehr an wohlver­

standene, auch der Ungleichheit ihr Recht laffende, Analogieen, als an

zweifelhafte Gleichheiten hielte.

Insofern freilich verwandte Art und

Entwicklung derVölker es mit sichbringt, sind gegenseitige Annäherungen

sogar verschiedener Grundformen in der Ordnung.

So haben neuere

Monarchieen nicht in hartnäckiger Festhaltung der fürstlichen Macht­ vollkommenheit, sondern in gesetzlicher Beschränkung derselben ihren Vor­ theil gefunden, wie auf einem entsprechenden Verhalten des Volkes in Re­ publiken die Zuständigkeiten der Vertretungen und der Regierungen be­

ruhen. Doch darf man nicht einfach den Fürsten in der Monarchie und das

Volk in der Republik zusammenstellen; sondern in dem Maße, wie hier eine Regierung Einheit und Selbstständigkeit besitzt, macht sich neben jenem Parallelismus der andere zwischen dem Fürsten und der re-

publicanischen Regierung, besonders dem Präsidenten, wo dieser nicht

bloß zu präsidiren hat, geltend, wie nun auch die staatsrechtliche Theorie sich dies zurechtlegen mag.

Solche „gemäßigte" Verfassungen

sind unstreitig da, wo sie überhaupt Boden haben, der Volksfreiheit günstiger, als irgendwelche absolute Herrschaftsweisen.

Man pflegt

denn auch wohl auf recht genaue Abgrenzung der beiderseitigen Be­ fugnisse zu

dringen;

und allerdings ist mit der Mäßigung die

Möglichkeit gegeben, daß die Grenzen sich gelegentlich verwischen, und etwa Monarchieen sich mehr und mehr republicanisiren, während Re­

publiken unter ihren Formen monarchischen Geist begünstigen oder zu hegen fortsahren.

Aber hievon abgesehen, muß den Factoren

einer gemäßigten Verfassung auch eine gewisse Elasticität gegen ein-

133 ander zukommen, vermöge welcher je nach der wandelbaren Lage der

Dinge, wie diese schon durch den Wechsel der Aufgaben und der

Persönlichkeiten gegeben

ist, bald dem Einen bald

die hervorragendere Wirksamkeit zufällt.

dem

andern

Sogar was verschiedene

Grundformen betrifft, ist es überall Sache der Staatskunst, nicht nur jede an ihrem Orte folgerichtig auszubilden, sondern auch den

Einseitigkeiten und Ausschreitungen zu begegnen und wo möglich

schon vorzubeugen, wozu sie hinneigen oder mißbraucht werden kann, und mit völliger Unbekümmertheit

um

hohle Formalpolitik dem

eigenen Volke auch solche Güter zuzuwenden, welche leichter oder­

früher auf andern: Boden gewonnen worden sein mögen.

Nie darf

eine Maßregel, welche für das Gesammtwohl erfordert ist,

durch

doctrinäre Consequenzmacherei aus den allgemeinen Begriffen Monarchie,

Republik, Constitutionalismus u. dgl. verhindert, nie etwas Gemeinschädliches auf gleichem

Weg

eingeführt werden.

Denn in

den

politischen, wie in allen andern praktischen Dingen, ist die logisch

tadelloseste Consequenz Nichts werth, wenn der Schlußsatz lautet: Was haben wir davon? Namentlich auch, was die Freiheit angeht,

pflegt es ja dem Volke selber gar nicht darauf anzukommen, daß es

einen

nach

der Meinung

eines

beliebigen Beurtheilers

frei zu

nennenden Staat habe, sondern einzig darauf, daß es einen solchen Staat habe, worin cs selbst frei ist, d. h. ungehindert, sich nach Lust oder Verstand zu bewegen.

Ich habe im Bisherigen absichtlich den vieldeutigen Ausdruck

Volkssouverainetät gemieden, muß nun aber doch wenigstens dafür sorgen, daß diese Vieldeutigkeit uns nicht unsern Freiheitsbegriff ver­ derbe.

Wie die Jesuiten die bekanntlich zuerst von ihnen verkündigte

Volkssouverainetät genommen, werden wir dieselbe nicht gebrauchen

können.

Danach

würde das Volk oder vielmehr, wie schon der

Cardinal Bellarmin bezeichnend sagte, „die Menge" die höchste weltliche

Gewalt und mit ihr das Recht haben, sich in jedem Augenblicke nach

Belieben über

die jeweilige staatliche Organisation hinwegzusetzen.

Aber nur kraft dieser hat das Volk bis auf Weiteres überhaupt einen einheitlichen und namentlich staatlichen Willen, ohne welchen Souverainetät ein leerer Schall ist; und also wird sie unzweideutiger dem

134 Staate, als dem Volke, zugesprochen.

Jene Auffaffung würde in

Wahrheit nichts Anderes bedeuten als: das Volk soll einen Staat

immer nur so haben, als hätte es keinen. Nun ist freilich doch auch nicht der Staat als solcher ein zu wollen und zu handeln fähiges

Wesen im eigentlichen, persönlichen, Sinne; also muß es bestimmte

Personen geben, welche für geeignet dazu angesehen werden, daß deren Wille, soweit er Staatsdinge betrifft, als Staatswille zu gelten und über die zu besten Ausführung vorhandenen Mittel zu verfügen

habe.

Diese Personen, der Souverain im gewöhnlichen und engern

Sinne des Wortes, sind auf selbstherrliche Weise in der Monarchie

der Fürst und in der Republik die politische Activbürgerschaft —

selbstherrlich nicht als Privatbesitzer der Souverainetät, welche viel­

mehr

dem Staate verbleibt,

aber als deren persönliche Träger,

Niemandem im Staate verantwortlich und unterthänig, und doch nicht Herren des Staats, sondern dessen Diener, wiewohl von sonstigen

Staatsdienern durch die so eben erwähnten Vorzüge genau unter­

schieden. Doch widerstreitet es nicht ihrer Stellung, wenn sie sich für einen bestimmten und begrenzten Theil ihrer staatlichen Verrichtungen

in die Mitwirkung — in der Republik wenigstens eine über das allge­ meine Activbürgerthum noch hinausgehende Thätigkeit — ausgewählter Personen fügen; es widerstritte ihr nur, wenn sie sich diese an den Kopf oder noch über ihn hinaus wachsen ließen.

Jedenfalls nun

aber ist Souverainetät sowohl für ihre Träger, also die Herrschenden,

als für die grundsätzlich oder thatsächlich nur Beherrschten, etwas Anderes als eigentliche Freiheit, soviel auch zweifellos für diese da­

von abhängt, wie jene verkörpert ist und ausgeübt wird. Schließlich wird noch der Verflechtung zu gedenken sein, welche

der Begriff der Freiheit mit dem der Revolution in so vielen Köpfen, regierenden und regierten, zeitweise eingegangen ist.

von geschichtlicher Seite ist dies.

Erklärlich genug

In demjenigen Staate der Gegen­

wart indeffen, welcher die bis jetzt gefeiertste Freiheitsentwicklung aufzuweisen hat, werden es nächstens zweihundert Jahre seit der letzten Revolution, und diese ist vielmehr Abwehr einer solchen, einer

von oben ohne Noth und Fug begonnenen, gewesen.

Anders ist es

hundert Jahre später bei der festländischen Umwälzung zugegangen.

135 Ihre Originalität bestand nicht in den „Ideen", die man ja in England und Nordamerica längst verkündigthatteund auch zu verwirklichen sich be­

mühte, sondern in derZuversicht, womitmandieThat-undUnterlassungs ­ sünden der letzten Generationen jetzt mit Einem Ruck gut machen

Dieselben Forderungen, welche in jenen Ländern

zn können glaubte.

nur die formulirten Bedürfnisse einer nüchternen Praxis waren und

dieser sich auch

fernerhin in Auslegung und Anwendung

anzu­

bequemen hatten, wirkten in Frankreich zunächst, und zwar im Großen und Ganzen von Anfang an, nur zerstörend, nicht neugründend, so gewiß es auch ist, daß sie für viele Gemüther des In- und Aus­

landes

Gute,

im Anfang

eine idealere Bedeutung hatten.

Das positiv

das sich dessenungeachtet unläugbar im Gefolge der Bewe­

gung, in ihrer Heimath oder auswärts, in Dingen ergab, wo wirk­

lich nur Wegräumung, nämlich von Hemmungen neuer und gesunder Keime, Noth that, dieses Gute darf nicht zur Selbstverblendung gegen

die geschichtliche Wahrheit verleiten.

Selbst wo es sich um entschie­

den Veraltetes handelt: Einrichtungen oder Ueberzeugungen, die je­

mals das Leben eines Volkes beherrscht und mit ausgemacht habeu, lassen sich nicht beseitigen, wenn sie nicht zugleich ersetzt werden. Was im Besondern die Freiheit betrifft, so diente weniger ihr, als

der Gleichheit, die Aufhebung des Feudalismus, welcher allerdings zu einer gemeinschädlichen Bevorrechtung, ohne entsprechende Gegen­

leistung für das öffentliche Wesen, herabgcsunken war; aber auch die neue Gleichheit war für's Erste Nichts weniger, als was ihr Name be­

sagt, sondern nur die verkehrte Welt der vorherigen Art von Un­ gleichheit. wenn

Und zu einer dauernden Republik hätte es kommen können,

dazu weiter Nichts als eine Monarchie mit abgeschlagenem

Kopfe gehörte; aber wenigstens die ccntralisirende Richtung des alten Regime, zugleich mit persönlichster Zuspitzung der Staatsgewalt in

Regierungs- und Parteihäuptern, scheint unvertilgbar. — Doch um

die Sache grundsätzlicher zu nehmen: eine Revolution kann unstreitig unter gewissen Bedingungen zum Guten ausschlagen; aber es ist

besser, wenn sie entbehrlich ist; so lange, als sie währt — und sie währt oft sehr lange — wird namentlich Freiheit nicht genossen. Gar ein beständiges Recht zu gewaltsamer Aufhebung eines Rechts-

136 Zustandes, überhaupt ein eigentliches Recht dazu, ist ein innerer Widerspruch.

Wenn gleichwohl eine solche ausnahmsweise berechtigt

heißen kann, so ist doch dieses Recht ein bloß moralisches, dessen An­

eignung ein Jeder vor seinem Gewissen zu verantworten, und weiter dadurch zu rechtfertigen hat, daß er damit einen bessern Zustand, als der bisherige, herstellen Hilst. Sogar wo die Dinge noch so einladend

zur Gewaltthat schienen, hat man doch immer die freiheitskundigsten Männer beschäftigt gesehen, sie wo möglich, d. h. ohne Schaden für das Gemeinwohl, noch zu verhindern und, nach dem Ausbruche, sie

in den engsten noch thunlichen Schranken zu halten.

Bessern Rath

für solche Fälle, als mancher nachmalige Politiker von Profession, gibt Molivre im Monsieur de Pourceaugnac, wo Julie, von ihrem Liebhaber Eraste zum Widerstände gegen den väterlichen Willen aus­

gefordert, antwortet: Mon Dieu! Eraste, contentez-vous de ce que je fais maintenant, et n’allez point tenter sur l’avenir les resolutions

de mon coeur; ne fatiguez point mon devoir par les propositions d’une fächeuse extremite dont peut-etre n’aurons-nous pas besoin;

et, s’il y saut venir, souffrez au meins que j’y sois entrainee par la suite des choses.

Auch

für

ganze Völker

gegenüber ihren

„Erasten" dürfte diese Sprache nicht die unpolitischste sein. — Der Scheu

vor jeder kräftigen, einem Uebel wirklich an die Wurzel greifenden

Umgestaltung, vor einem verderbliche Schranken durchbrechenden Ver­ lassen ausgetretener Wege, mögen sie durch noch so vergilbte Partei­ programme, rechts oder links gerichtete, vorgeschrieben sein, ist hier­

mit nicht das Wort geredet.

Ebenso wenig einer solchen Freiheits­

liebe, die, ohne eigentlich revolutionär zu sein, nur überall dabei ist, wo Etwas los ist, die in der Freude an jeder weitern Auflockerung eines

Bestandes,

Schranke,

an jedem

neuen

Hinausrücken

irgend

welcher

in dem Verkennen der Zwecke des gesellschaftlichen und

staatlichen Zusammenlebens besteht, ohne deren kundige und gewifsen-

hafte Pflege doch alles politische Treiben ein thörichtes, wo nicht frevles, Spiel ist. Da der Haupttheil dieser Schrift der Frage von der Willens­ freiheit gewidmet ist, so komme ich in die Versuchung, hier noch eine

137

Betrachtung über die gegenseitige Beziehung zwischen dieser Freiheit und der politischen anzuhängen. Es ließe sich ja etwa sagen: dem Indeterminismus entspreche diejenige Richtung, welche, blind gegen die Lebensbedingungen und Bedürfnisse des betreffenden Staats oder überhaupt eines Staats, ihn jederzeit dem Belieben Weniger oder Vieler prciszugeben bereit ist; dem einseitigen Determinismus sei die andere Neigung verwandt, sich durch geschichtlich oder doctrinär Hergebrachtes auch da binden zu lassen, wo die lebendige Gegenwart zu eigenem Erfinden und Schaffen drängt; die rechte deterministische Freiheit endlich habe zum Seitenstück eine Politik, welche dem freisten Aufschwung ihres Volkes um so besser zu dienen überzeugt sein darf, je hingebungsvoller sie dasselbe auf dem durch seine Natur, seinen Entwicklungsgang, seine jeweilige innere und äußere Lage vorge­ zeichneten Wege zu fördern sich angelegen sein läßt. Ich überlasse es jedoch dem Leser, diese Zusammenstellung nach Gefallen weiter zn verfolgen, wenn es ihn, da auch andere Combinationen neben den drei angegebenen erklärlich sind, der Mühe werth dünkt.

Beilagen.

1.

Ursprung und Verwandtschaft des Wortes „frei." In Betreff des oben S. 1 f. dem Grimm'schen Wörterbuch Ent­

nommenen ist mir durch meinen sprachgelehrten Freund L. Tobler eine Belehrung geworden, von welcher ich hier mit seiner Erlaubniß Für die Etymologie vou „frei" muß vom latei­

Gebrauch mache.

nischen privus zunächst abgesehen und auf die Wurzel pii, lieben, zurückgegangen werden.

Der Begriff „frei" entspringt aus

dem

des Liebens durch den Mittelbegriff dessen, was später „Be-lieben"

„Frei" ist, wer seinem „Belieben" nachgehen oder

genannt wird. nachgeben kann.

Der Bedeutung „lieben" muß allerdings noch eine

ältere, sinnlichere zu Grunde liegen, die aber nicht nachzuweisen ist; wahrscheinlich die des Anhangens an oder des Greifens nach Etwas.

Wie sinnlich dergleichen Begriffe ursprünglich waren, zeigt auch das griechische Wort für „frei", i&auStepo?, was schon ein altgriechischer

Etymolog von (einem übrigens nicht vorkommenden) »Xsuftstv, gehen, ableitet.

So kommt auch das deutsche „ledig", ursprünglich „lidig",

vom alten liden — gehen, erst später — durch Etwas (Schweres) hin­

durchgehen, leiden.

Dem u der Wurzel lub in lubet, es beliebt, später

übet, entspricht das o in „loben," welches auch „beistimmen", „an­

hangen" (einer Ansicht), und in „ich lobe mir" — „mir gefällt" fast soviel wie „lieben" bedeutet.

„Geloben" grenzt auch durch sein Präfix

an „glauben" (gelouben), welches ursprünglich ebenfalls „anhangen" bedeutet; au ist diphthongische Verstärkung des u in lub.

„ anhänglich"

auch die

eigentliche

Bedeutung

Also ist

des schweizerischen

142 „hub" — lieb, freundlich, mild, zahm, in welcher Bedeutung auch

„frei"

thieren.

in der Schweiz gebräuchlich ist von Menschen und Haus­

Die sinnliche Bedeutung des Wortes hat sich am unmittel­

barsten erhalten im Substantiv „Laub", welches nach seinem Hangen am Zweig benannt ist; ähnlich vergleicht im Evangelium Johannis

Christus den Glauben oder die Liebe der Jünger zu ihm mit dem

Hangen der Zweige am Weinstock.

Auch „erlauben" gehört in die

vorliegende Wörterreihe; es heißt: aus einem Verband oder Zu­ sammenhang entlassen (wozu das Substantiv „Urlaub"); sich Etwas

erlauben — sich von einer Verpflichtung losmachen.

Nun berührt

sich allerdings auch der Begriff des privus mit dem des Liebens,

insofern dieses immer entweder Eigenthum voraussetzt oder mit dem Streben nach Aneignung verbunden ist, Eigenthum oder Aneignung aber nicht denkbar ist ohne Absonderung, Besonderheit, womit die

Sphäre des privus erreicht ist. Aber das pri in privus ist vielleicht identisch mit dem pri in prior, primus, also — prae, so daß privus eigentlich „hervorstehend", über einen Umfang hervorragend, bedeutet

hätte, wo sich nun doch wieder durch den Mittelbegriff der Absonde­

rung der Begriff des Bevorzugens

und Liebens leicht anschließt.

Die Erklärung des pri in pro-pri-us von pri, lieben, ist ebenfalls

zweifelhaft.

2.

Verhältniß zwischen Werth und Wille.

Meiner schon in einer frühern Schrift (1869) vertretenen Auf­

fassung des Verhältniffes zwischen Werth und Wille hat I. Berg­ mann damals entgegengehalten, daß nicht der Werth das Erste sei, sondern der Wille seinen Inhalt zum Werthe mache.

Ich gedenke

hier nicht eine späte Antikritik jener (mir ohnehin nie vollständig

bekannt gewordenen und nur noch in einem Auszuge zugänglichen)

Kritik zu liefern, von welcher mir der Eindruck geblieben ist, daß sie besser die Stellung des Beurtheilers zum Eudämonismus im Allgemeinen erläutert habe,

worin

als

dem Sinne gerecht geworden sei,

dieser weitschichtige Name

aus meine Ueberzeugung paffen

14.3 könnte.

Hingegen wird man es nicht zu weit obliegend von meiner

gegenwärtigen Aufgabe finden, wenn ich mich hier mit der bündigen

Ausführung des obigen Satzes befasse, weiche Bergmann so eben (Philos. Monatshefte, Bd. XVII, 1881, H. 7. u. 8) in seiner Recension von E. Pfleiderer, Eudämonismus und Egoismus, gegeben hat.

„Wie alles Bewußtsein" — hievon

geht Bergmann aus —

„welches auch sonst sein Gegenstand sein mag, sich selbst als jenen Gegenstand habendes zum Gegenstände hat und somit Selbstbewußt­ sein, wenn

auch im allgemeinen Selbstbewußtsein im Bewußtsein

von einem Anderen ist, so ist auch jedes Wollen, worauf es auch außer

sich ziele, auf sich selbst gerichtet und zwar, wenn es positives Wollen

ist, auf sich selbst als befriedigtes."

Ohne mich hier bei dem nicht

unanfechtbaren Satze aufzuhalten, daß jedes Bewußtsein sich selbst

zum Gegenstände habe, bemerke ich für's Erste bloß, daß aus der Unterordnung des Wollens unter diesen Bewußtseinsbegriff weiter Nichts folgen würde, als daß auch jedes Wollen sich selbst zum

Gegenstände habe. Dieser Satz dann aber in dem bestimmtern Sinne

genommen, daß jedes Wollen, gleichviel worauf außer sich zielend, auf sich selbst und, wenn es ein positives Wollen ist, auf sich selbst

als befriedigtes gerichtet sei, läßt fragen: warum dies nicht ebenso gut von jedem negativen Wollen gelte,

da dieser -Ausdruck

nicht

gänzliche Abwesenheit eines Wollens bedeutet, und ob es auch in dem positiven Falle genau dem Wollen um die Befriedigung seiner

selbst, und nicht vielmehr dem wollenden Subject um die seinige, um

die Stillung eines von ihm sei.

empfundenen Bedürfnisses, zu thun

Ich verstehe zwar natürlich auch Bergmann nicht so, daß er

uns zu den Gleichsetzungen nöthigen wolle: mein Trinkenwollen —

mein Trinkenwollen auf mein

Trinkenwollen

als befriedigtes ge­

richtet — mein Trinkenwollen auf mein Trinkenwollen als ein solches, das ans mein Trinkenwollen als befriedigtes gerichtet ist, gerichtet u. s. w.

— so weit wie Jemand diesen psychologischen Tantalismus zu treiben Lust hätte.

Wir entgehen

demselben

aber nur dann entschieden,

wenn wir bei der gewöhnlichen Meinung bleiben, das Trinkenwollcn sei ans das Trinken selbst, wegen der Annehmlichkeit oder Zuträglichkeit,

die man sich

davon verspricht,

gerichtet.

Daß, wer trinken will,

144 die Befriedigung seines Trinkenwollens wolle, scheint mir eben Nichts weiter bedeuten zu können, als daß er wirklich trinken wolle.

„Das befriedigte Wollen aber, welches keineswegs in seiner

Befriedigung erlischt, sondern als ein Gern-Haben des Erreichten fortbesteht, ist Lust.

Z. B. der Wille des Durstigen, zu trinken, be­

steht im Trinken fort, auch abgesehen davon, daß der Durstige, so

lange er noch nicht gesättigt ist, zu trinken fortfahren will, und

dieser in seiner Befriedigung noch bestehende Wille ist die Lust des Trinkens."

Man kann vom Gern-Haben eines Gewollten in mehr­

fachem Sinne reden, sei es daß man von dem Gewollten noch Nichts, oder daß man es theilweise, oder daß man es vollständig erreicht hat.

Im ersten Falle, wo man also nicht sowohl gern hat, als vielmehr nur gern hätte, und im zweiten, wo man gern noch mehr hätte, ist Wollen und weiteres Wollen am Platz; im dritten hat man zu

wollen anfgehört.

Ich kann zwar noch, freilich

nicht in dem ge­

brauchten Beispiele, auf Erhaltung des Erreichten bedacht sein: dann

ist sie, oder meine Beruhigung darüber, das noch zu Erreichende. Immer aber, und so auch bei'm Trinken, ist ein „in seiner Befriedi­

gung noch bestehender", also in dem zweiten der drei Fälle befind­ licher, Wille ein noch nicht völlig befriedigter Wille, und so wird ge­

schehen, wovon Bergmann uns hier ausdrücklich absehen heißt: man fährt fort zu wollen, d. h. man will auch den bis jetzt noch nicht

erreichten Theil des ersehnten Gutes erlangen; nicht aber wird das

dem schon erreichten Theile entsprechende Wollen fortbestehen. ist ja doch unbestreitbar,

Es

daß nicht nur der Durst gelöscht wird,

wenn man trinkt, sondern auch das Trinkenwollen gleichzeitig erlischt

und seinem Ende näher rückt.

Allerdings finden wir einen ange­

nehmen Trunk schon während des Schluckens wohlschmeckend; aber der­

jenige Theil unseres Schluckenwollens, welcher bereits einen Genuß zur Folge hat, ist durch diesen erledigt. Kraft eines

So gut wie die wirksame

sinkenden Gewichtes in dem Maß abnimmt,

als es

wirklich sinkt, wird auch die wirksame Trinkkraft und Trinkwillens­

kraft, die ich mir beide wie billig gleichfalls von endlicher Größe denke, durch das Trinken aufgebraucht.

„Die Lust am Anblicke eines schönen Gegenstandes ist der in

145 seiner Befriedigung thätige Wille, den schönen Gegenstand zu sehen, und dieser Wille braucht gar nicht einmal als unbefriedigter, erst Befriedigung suchender dem Anblicke vorhergegangen zu sein, sondern

er kann durch den sich zufällig darbietenden Anblick erst erregt, die Befriedigung kann die Erregung selbst sein."

Allerdings kann eine

Lust eintreten, ohne daß durch sie ein unbefriedigtes Wollen abgclöst wird; und selbst wenn Jemand sagt, er sehe mit Befriedigung dies oder das, braucht ihn das vorherige Nichtsehen nicht betrübt zu haben. Wenn er jedoch des Anblickes nur zufällig, d. h. hier: ohne vor­

her darauf gerichtetes Wollen, theilhaft ist, so mag sich zwar ein solches an die erregte Lust alsbald anschließen, indem die letztere dazu reizt,

sich des Anblickes länger oder öfter zu erfreuen: aber die Lust ist dann nicht von vorn herein ein befriedigtes Wollen gewesen; jenes „Mit Befriedigung" hat einfach bedeutet: mit Vergnügen.

„Der Endzweck aber des Wollens,

welches sich selbst als be­

friedigtes zum Gegenstände hat, ist nicht nothwendig diese Befriedi­

gung, sondern dasjenige, durch desfen Erreichung die Befriedigung

herbcigeführt wird.

Wer z. B. Erkenntniß sucht, will zwar die Be­

friedigung seines Willens, der auf den Besitz der Erkenntniß ge­ richtet ist, aber der Endzweck seines Willens und das Motiv desselben liegt ursprünglich nicht in der Befriedigung seines Willens, nicht in der aus dem Besitze der Erkenntniß deßhalb, weil er gewollt wurde,

resultirenden Lust, sondern in dem Besitze der Erkenntniß selbst, der

wenigstens einmal gewollt sein mußte, zu

werden.

ohne als

Lust vorgestellt

Bei der Fortsetzung des Erkenntnißstrebens kann sich

die Erinnerung an die bereits genossene Lust des Erkenntnißbesitzes als Motiv einmischen, und inwiefern dies der Fall ist, ist das Erkcnntnißstreben egoistisch, aber dabei muß doch der Wille nach Er­

kenntniß als solcher (unabhängig von

der Reflexion auf die aus

seiner Befriedigung entspringende Lust) sortdauern, indem ohne ihn der Besitz der Erkenntniß keine Lust gewähren könnte . . . Die Er­

kenntniß gewährt Lust

nur demjenigen,

der Erkenntniß trieb be­

sitzt, d. i. der Erkenntniß will" ... Auch die sinnlichen Triebe, lehrt

Bergmann, seien als solche nicht auf Lust gerichtet; und auch das­ jenige Wollen, dessen Ziel die Güte des Willens, die Moralität, ist, Hebler, Elemente e. Phile;. Freiheitölehre. 10

146 sei zunächst als Trieb vorhanden.

Ueber den Werthbegriff endlich

sagt er: „Alles, was man will, ist eben dadurch, daß man es will, ein wirklich oder vermeintlich Werthvolles . . . und umgekehrt wird

alles Werthvolle gewollt, indem es werthvoll nur durch sein Gewollt­

werden ist."

Werth und Wille, sowie auch Werth und Lustgefühl

„find völlig correlate Begriffe", aber „es gibt Fälle, in welchen die

beiden Relationen so vereinigt find, daß der Werth zuerst durch sein Gewolltwcrden Werth ist und die Lust in der Befriedigung dieses Wollens, also in der Aneignung oder Realisirung des Werthes durch

das dem Wollen entsprechende Handeln besteht.

In diesen Fällen geht

der Wille auf Werthvolles nicht in dem Sinne, daß er durch die

Vorstellung des realifirten, im Lustgefühl zum Abschlüsse gekommenen Werthes bestimmt wird, sondern so, daß er durch die Wahl seines

Zieles dieses erst zu einem Werthe, der als solcher gefühlt werden

kann, macht."

Ich glaube den letzten Satz jetzt etwas besser zu verstehen, als

damals, als er mir entgegengehalten wurde, weiß mich aber noch heute

könnte,

nicht

darein zu finden,

daß der Wille fich ein Ziel wählen

welches er, oder vielmehr

der wollende Mensch, nicht im

Voraus für werthvoll ansähe, sondern erst durch die Wahl selbst zu etwas Werthvollem machte.

Wir werden uns

indeffen

das Ver­

ständniß dieser Lehre erleichtern, wenn wir den Willenshergang, wie sie ihn faßt, folgendermaßen abtheilen und überblicken:

1.

Wollen, ursprünglich soviel wie Trieb, auf seine Selbstbefrie­

digung gerichtet.

2.

Erreichung des Gewollten und durch das bloße Wollen zu

einem Werthe Gemachten. 3.

Lust — das befriedigte und in seiner Befriedigung

fort­

bestehende Wollen. 4.

Vorstellung des Erreichten als eines Lustbringenden.

ö.

Wiederholung des Wollens, entweder wie vorher ohne Lust­

motiv, oder jetzt mit Beimischung desselben. Ich betone hier vor Allem, daß bei Bergmann schon der bloße

Trieb Wille heißt.

So möchten

also

immerhin dem,

was wir in

unserm engern Sinne Wille nennen, Gefühle zn Grunde liegen, diese

147 ihrerseits aber durch Triebwillen bedingt sein.

Aber auch schon den

Trieben gehen Gefühle voran, z. B. dem Erkenntnißtrieb die Lust

an Sinneswahrnehmungen, namentlich am Sehen. Unter Trieb ver­ stehe ich hier natürlich ein thatsächliches psychisches Geschehen, nicht ein bloßes Vermögen dazu; nur in Bezug auf jenes kann ja über

das Vor oder Nach hinsichtlich des Fühlens gestritten werden.

Nun

könnte behauptet werden, daß da, wo man sich eines einem Triebe vorangehenden Gefühls bewußt ist, diesem selbst schon ein Trieb vor­

angegangen sei, auch wenn man dessen nie bewußt geworden sein sollte.

Aber unter einem solchen unbewußten Treiben ließe sich nur

ein völlig unbekannter Hergang denken, von dem also auch unfaßbar wäre, was eine Befriedigung desselben bedeute, und wie wir dazu

kämen, an ihm unsere Freude zu haben.

Es ließe sich dann auch

wenigstens gleich gut behaupten, dem unbewußten Triebe sei bereits ein Gefühl, nur ebenfalls ein unbewußtes und unbekanntes, voraus­

gegangen, welche Rede

und Gegenrede

denn

beliebig

fortsetzbar

sein und sich in das Gebiet der Frage verlaufen würden, ob die Henne oder das Ei früher existirt habe. In den Grenzen möglicher Erfahrung bleibend, können wir nur sagen, daß wir Gefühle genug kennen, die von keinem Bewußtsein vorausgegangener Triebe begleitet

sind, wogegen wir uns bei jedem Trieb eines vorherigen Gefühls nm so entschiedener bewußt sind, je bestimmter und deutlicher er sich

überhaupt kundgibt.

Man ziehe von einem Triebhergange ab, was

daran Gefühlsproceß ist, so behält man nur das Klappern und Ab­ schnurren des Triebwerkes übrig.

Eine Consequenz der fraglichen Annahme über das Verhältniß zwischen Werth und Wille ist es sodann, daß alles Gewollte eben da­

durch, daß man es will, ein Werthvolles, und umgekehrt alles Werth­ volle ein Gewolltes sei.

Aber diese Consequenz kehrt sich, wie mir scheint,

entschieden gegen die Voraussetzung, woraus sie fließt, wie ich nur von der ersten Hälfte des angeführten Ergebnisses werde darzuthun

brauchen. Wenn Etwas schon durch sein Gewolltwerden zum Werthe

wird, so begreift sich schwer, warum der neue Midas, genannt Wille,

nicht Alles, was er berührt, in gleich gutes Gold verwandelt, d. h. woher der Unterschied zwischen Wollenswerthem und Nicht-Wollens10*

148 werthem kommt, und wie anders die Schätzung eines Motivs er­ folgen könnte, als durch die Beobachtung oder

den Versuch, ob,

und etwa noch mit welcher Entschiedenheit, man thatsächlich daraus zu wollen vermag. Der Eudümonist kann sich hier auf die qualitative

Verschiedenheit der Lustarten berufen, oder wenn ihm entgegnet wird,

daß ihm sein Standpunkt dies nicht gestatte, so ist der von Bergmann eingenommene einem ähnlichen Bedenken ausgesetzt. Indessen hat der Eudämonist kein Gelübde gethan, an jeder Lust nur eben ihr Lust­

sein lustig zu finden, welchen Ausdruck ich mir hier auch nur er­

laube, indem ich zugleich die ihm entsprechende Auffassung abweise. Die verschiedenen Arten von Lust können Nichts von ihrer Ver­ schiedenheit dadurch einbüßen, daß sie sammt und sonders eben Lust

sind; und sagen, daß Jemand die ihm größer erscheinende von zweien vorziehe, heißt nicht, daß dies auf einer bloß die Quantität berück­ sichtigenden Vergleichung beruhe.

Zu einer Erkenntniß qualitativer

Werthunterschiede würden es auch andere Leute, als die Eudämonisten,

nie bringen, wenn diese Unterschiede nicht allererst gefühlt würden;

schon dem Vergleichen, welches ja bereits eine Verstandesthätigkeit

ist, müssen diese Gefühle als verschiedenwerthig sich gelten machende

vorausgehen.

Bergmann unterscheidet zwar insbesondere zwischen

wirklich und bloß vermeintlich Werthvollem, sucht aber diesen Unter­ schied auf den zwischen wirklichem und vermeintlichem Wollen zu be­

gründen; was ebenso wenig gelingen wird, wie einem Hedoniker der Ver­

such, zu gleichem Behuf mit der bloßen Unterscheidung wirklicher und vermeintlicher Lust ausznkommen.

Wie die letztere doch eigentlich

nicht für den Genießenden im Moment ihres Stattfindens eine un­ wirkliche ist, sondern nur nach der vielleicht sehr wohl begründeten Ansicht des sie so bezeichnenden Beurtheilers keine Wirklichkeit haben

sollte, so ist auch das verwerflichste Wollen nur aus dem Gesichts­ punkt eines Werthurtheils für ein nichtiges, nämlich nichtswürdiges, zu erklären.

Also scheint, damit der Ausdruck „vermeintliches Wollen"

hier nur überhaupt Etwas bedeute, der Unterschied zwischen wirklich und vermeintlich Werthvollem, d. h. vorausgesetzt sein zu müssen,

eben derjenige Unterschied bereits

der sich, wenn der bloße Wille der

Werthemacher ist, nicht verstehen läßt.

Was man will, lehrt Berg-

149 mann, „sei ein wirklich Werthvolles, wenn in dem darauf gerichteten Wollen der Wille völlig mit sich selbst einig ist, wenn es, mit andern Worten, als ein Mittel oder als ein Theil zu demjenigen gehört, was das unveränderliche, weil durch seine Natur bestimmte Endziel des Willens bildet, zu dem höchsten Gute, — ein vermeintlich Werth­ volles, wenn der darauf gehende Wille sich selbst widerspricht oder, was dasselbe heißt, wenn es nicht wirklich, sondern vermeintlich gewollt wird". Aber so wenig, wie ein Endziel des Willens, kann dessen Einheit mit sich selbst als etwas wirklich Wcrthvolles anders, als auf der Grundlage von Gefühlserfahrungen, erkannt werden, welche ich mir auch hier, wie in allen Fällen, nach ihrer besondern Quali­ tät wesentlich durch unsere eigene geistige Natur bedingt denke. Nur „ans der Grundlage" sage ich; was dem Einwurfe vorbeugen wird, daß dcch schwerlich jemals ein Mensch bei sich oder Andern die Ein­ heit mit sich selbst als das Ideal verwirklicht gefunden habe, das sie für ihn ist; gerade an die dnrch dessen Nichtverwirklichung verschuldeten schmerzlichen Gefühle ist hier vornehmlich zu denken. — Die Aus­ bildung unseres Werthbewußtseins überhaupt, zu welcher auch eine Jdealisirung erfahrener Werthe gehört, ist unserer gesammten weitern Geistesentwicklung Vorbehalten, obwohl auch diese "nicht ohne fortge­ setzte Gefühlswirkungen, mit einer gewissen Selbstkritik der Lust, vor sich geht, während sie zugleich von Anfang an entscheidende Einflüsse aus dem menschlichen Zusammenleben erfährt. Wenn gleich sich aber demzufolge das Wollen im Fortgänge der Entwicklung neuen, nie zuvor erreichten und vielleicht nie erreichbaren Zielen zuwenden kann, so wird es sich doch, wenn schon auf vielfach vermittelte und zunächst rein persönlich und individuell begründete Weise, letztlich immer an bereits erfahrene Lust-, beziehungsweise Unlust-Elemente anschließen')Ausdrücklich zähle ich zu jener Weiterbildung auch dies, daß, mit den erwähnten Hülfen, die qualitativen Werthunterschiede sich in dem Geistesleben, auch gegen die zeitweiligen, anfänglichen oder anhalten*) Man hat diese Auffassung jetzt freilich auch an der, übrigens kräftig für einen gewissen Eudämonismus einstehenden, Schrift (5. Sigwart' s zu prüfen, Vorfragen der Ethik, Freib. i. B. 1886.

150 den, Verdunklungen und Schwankungen ihrer eigenen Gefühle, je

länger desto mehr zur Geltung bringen, und so die Werthe allmalig aus bloß gefühlten zu Gegenständen gesicherter Einsichten und Grund­ sätze werden, die dann auch wieder auf das Gefühl zurückwirken;

womit der Einwand beseitigt ist, daß mit dem Ausgehen vom Gefühl

das Wollen den Eindrücken des jeweiligen Augenblickes überantwortet werde.

Zugleich erfolgt allmälig eine Ordnung

und Gliederung

unseres gesummten Werthbewußtseins, wie ihrer schon das einfach praktische Verhalten in seiner Weise bedarf zur richtigen Behandlung der Ansprüche, die jeweilen von Seiten verschiedener und also mög­

licherweise mit einander streitender Werthe an uns ergehen.

Diese

Gestalt unseres Werthbewußtseins kann gleichfalls nur vom Gefühl ausgehen, speciell dem Gefühl desjenigen Werthes, welchen die Zu­ sammenstimmung der verschiedenen Werthe für uns hat.

Wir werden

einer letztlichen Berufung an das Gefühl auch für die gehörige Anwen­

dung der auf die angedeutete Art erkannten gesammten Normen un­ seres Verhaltens nie völlig entrathen können.

In der Kürze am besten hat seiner Zeit F. Ueberweg meinen

Standpunkt charakterisirt, als er mir, zugleich durch Zustimmung

mich erfreuend, schrieb (2. Febr. 1870): „Ich bin mit Ihnen darin

einverstanden, daß der Unterschied des qualitativen Werthes der ver­ schiedenen Lustarten die Basis der Ethik bilden müsse."

Auch die

durch die Betonung von „Basis" ausgedrückte Beschränkung ist ganz in meinem Sinne.

„Aber wodurch", fuhr Ueberweg fort, „bekundet

sich uns ursprünglich dieser qualitative Unterschied? Ich antworte: durch Vergleichungsgefühle (wie Scham und Achtung)." Diese Ant­

wort in ihrer Allgemeinheit belassend, nämlich die Gefühle nicht auf die zwei erwähnten beschränkend, stimme ich bei.

Bergmann hat, seitdem ich das Obige geschrieben, seine Ansicht in den Schriften: „Ueber das Richtige" und „Ueber den Utilitaria-

nismus" (beide vom I. 1883) ausgeführt, und ich benutze gern Einiges daraus zum Behuf näherer Verständigung.

Der Eudämo­

nismus wird von ihm für Eins erklärt mit Egoismus und Hedonismus.

Jenes, weil derselbe in seiner einzigen beachtenswerthen Begründung

151 die eigene Lust und Glückseligkeit für das ganze Ziel alles Begehrens erkläre; dieses, weil es für ihn keinen Unterschied zwischen edler oder

würdiger und gemeiner oder niedriger Lust gebe.

Das Erste fällt

ohne Weiteres nach dem Rechte des Sprachgebrauchs dahin, wenn

eine eudämonistisch genannte Lehre unter der eigenen Lust nicht bloß die am eigenen, sondern auch die an fremdem Wohl, ohne Unter­ ordnung dieser ohne jene, versteht. Was das Zweite betrifft, so argumentirt Bergmann

folgendermaßen.

Entweder sind alle Lust­

gefühle als solche qualitativ gleich: dann kann der Eudämonist keine

Werthunterschiede zwischen ihnen zulassen, als solche, welche auf der Größe, der Dauer, und dem Zusammenhänge mit anderer Lust oder

mit Unlust beruhen — was unter der angegebenen Voraussetzung, aber auch nur unter dieser, gewiß richtig ist. Oder es gibt qualitative

Unterschiede zwischen Lustgefühlen: dann könnte, meint Bergmann, wenn Lustsein und Gutsein

identisch

sind,

eine Lust

durch ihre

eigenthümliche Qualität ein größeres Gut als eine andere nur dann sein, wenn sie durch dieselbe die andere im Lustsein überhaupt über­

träfe; die eigenthümliche Qualität müßte also eines der Momente

steigern, welche in dem allgemeinen Begriffe der Lust gedacht werden,

und von diesen sind einer Steigerung oder Verminderung nur die vorhin erwähnten fähig; hätte eine Lust auch abgesehen von ihnen

dnrch ihre eigenthümliche Qualität einen Vorzug vor einer andern, so könnte nicht, wie doch angenommen wird, die Lust überhaupt den

reinen Bcgehrungsinhalt bilden.

Aber an der Lust überhaupt läßt

sich Keiner, welcher qualitative Unterschiede zwischen Lustgefühlen an­ nimmt, genügen.

Ein Solcher weiß nicht nur, daß man keine Lust

genießen kann, die nicht eine qualitativ bestimmt wäre — was in

Vergleichung mit anderer sogar eine an sich qualitätslose sein würde, wenn es eine gäbe — sondern eine Qualität wird ihm auch schon als solche für vorzüglicher, als eine andere, mindestens ebenso gut auf ein­ fache Gefühlsaussage hin, wie durch einen Machtspruch des Begehrens,

gelten können.

Möchte er also immerhin auch persönlich Lust und Nichts

als Lust für ein Gut halten, darum braucht ihm nicht der Unter­ schied zwischen Lust und Lust gleichgültig zu sein — so wenig, wie der Gast einer Wirthstafel, welcher überhaupt Obst, ohne Angabe

152 der Sorte, verlangt, mit jeder Sorte oder Qualität gleich gut zu­

frieden ist; nicht davon zu reden, daß ihn zwar sehr wohl überhaupt

nach Obst, aber nicht nach Obst-überhaupt gelüsten kann.

Wäre

hier der Umstand entscheidend, daß der allgemeine Begriff der Lust

keine ihrer besondern qualitativen Bestimmtheiten enthält, so würde der Eudämonist auch den quantitativen Nichts Nachfragen können, da diese gleichfalls von dem Allgemeinbegriffe freigelassen sind.

Ja,

es dürfte dann auch kein Nicht - Eudämonist von qualitativen oder

quantitativen Lust- und überhaupt Werth-Unterschieden reden, weil der

allgemeine Begriff des Werthes sie nicht kennt. Seine Ansicht über das Verhältniß von Trieb, wie auch Be­ gierde, zu Gefühl erläutert Bergmann jetzt in belehrender Weise an den

zwei Beispielen

„Trieb

des Ehrgeizes", an

kürzere Darstellung von „Ruhmbegierde" Nächstenliebe"

oder „des Wohlthuns".

spricht,

deffen Stelle die

und

„Trieb der

„Uebereinstimmcnd lehren

Kant und der Egoismus, daß der Ruhmsüchtige zuerst das Bewußt­

sein, berühmt zu sein, als eine Lust vorstelle, und dann erst vermöge

dieser Vorstellung nach demselben begehre,

also aus egoistischem

Motive nach Ruhm strebe, während er nach der andern sBergmann'sj Ansicht jenes Bewußtsein nur darum als eine Lust vorzustellen ver­

mag, weil er nach Ruhm begehrt, also ursprünglich wenigstens nicht

nach dieser Lust trachtet, da er ja nach Ruhm teachten muß, bevor er in dem Besitze desselben Lust erblicken kann.

Später allerdings,

nachdem er die Lust befriedigter Ruhmbegierde kennen gelernt hat,

wird er auch nach der zweiten Ansicht jene Lust selbst egoistisch er­

streben können".

Hier sehe ich zunächst nicht ein, daß, wer

nach

Ruhm trachtet vermöge der Vorstellung von ihm als etwas Lust­

bringendem,

sich hiemit nothwendig

egoistischer verhalte,

als wer

ihm aus einer besondern Begierde nachjagt, die doch ihrerseits nach Bergmann ebenfalls auf Selbstbefriedigung und Lust ausgeht; ist das Streben nach Ruhm nicht schon als solches ein egoistisches, so

wird es dies auch dann nicht sein, wenn es auf einem Wohlgefallen

an Ruhm beruht. Ich behaupte aber natürlich gleichfalls nicht, daß der nach

Ruhm Strebende bereits Ruhm geerntet haben

müsse,

wohl aber, daß er dessen Besitz für Lust-bringend ansehe und dies

153 nicht könne ohne den Vorangang gewisser Gefühlserlebnifse, welche ihm den Ruhm als etwas Werthvolles erscheinen lassen.

Ich will

kein Gewicht darauf legen, daß dieser oder jener Biograph angibt, die Ruhmbegierde seines Helden sei durch die bekannten Parallelen

des Plntarch geweckt worden; aber wenn Einer noch gar Nichts von berühmten Leuten und zwar mit einigem Vergnügen und Mitgenuß gelesen oder gehört hat, so wird seine Ruhmbegierde eine so bescheidene sein, daß es nicht schwer halten kann, auch eine ihr vorausgegangene

ebenso mäßige eigene Lusterfahrnng von gleicher Art bei ihm aufzu­

finden.

Schon das Kind freut sich bei Zeiten über die Beachtung

und Bevorzugung, welche man ihm schenkt und durch entsprechende Erweisungen bemerklich macht; und diese Freude wird cs bald genug auch zur Bewerbung um solche Gunst antreiben.

Ich würde dies

zwar nicht Ruhmbegierde nennen, und von Ruhmtrieb so wenig wie etwa von Goldtrieb reden; doch mag das Streben nach Ruhm in geeigneten Gemüthern auf solche Weise dcbutiren, und sich von da

aus weiter entwickeln, ohne daß die jeweilen ersehnte höhere Stufe bereits einmal erklommen worden sein müßte — wem gute Früchte zu munden pflegen, den kann es nach Ananas gelüsten, auch wenn

er deren Wohlgeschmack nur vom Hörensagen kennt und sich falsche

Vorstellungen über ihn macht. In der Consequenz der Bergmann'schen Lehre läge es nun, daß schon jene erste Freude des Kindes an den

Aufmerksamkeiten seiner Umgebung einen darauf zielenden Trieb be­ zeuge, worüber ich nur bereits Bemerktes zu wiederholen wüßte.

Betreffend das zweite der erwähnten Beispiele lesen wir: „Von einer Wohlthat, deren Urheber von dem Wohlsein des Empfängers

nicht den mindesten Vortheil erwartet, behauptet Kant mit dem

Egoismus, daß sie ihr Motiv in der Vorstellung der Lust habe, die das Wohlthuu als solches dem Wohlthäter bereite, nach der anderen

Auffassung dagegen könnte ein Mensch von dem Wohlthun als solchem unmöglich Lust für sich erwarten, wenn er nicht einen Trieb znm

Wohlthun hätte, die Lust des Wohlthuns, meint sie, entspringe erst

aus der Befriedigung eines solchen Triebes, und deßhalb können wenigstens die ersten Wohlthaten, die ein Mensch absichtlich erweist,

unmöglich egoistisch motivirt sein, da erst sie ihn mit der Lust des

154 Wohlthuns bekannt machen."

Aber entweder sind die Wohlthaten

wirklich absichtliche: dann werden sie auch bereits motivirte und durch Lust motivirte, jedoch nicht die ersten sein können, wiewohl sich von Egoismus nur in dem Falle reden läßt, daß die eigene Lust sich im

Gegensatz zu fremdem Wohl geltend macht, nicht aber wo es sich, wie hier, ausdrücklich um eine Lust

an letzterm handelt.

Oder die

fraglichen Wohlthaten sind wirklich die ersten: dann sind sie gewiß auch absichtslose, der Wohlthäter steht vermuthlich im Alter jenes

kleinen Ruhmsüchtigen, und sein Wohlthun ist ein so kindliches (schon sein Lächeln ist wohlthuend), daß hier so gut von Absicht wie von Lust daran zu reden verfrüht ist.

Sobald aber einmal das Kind

Freude einer andern Person zu bemerken im Stande ist, so kann

auch Mitfreude bei ihm eintreten, vorher aber auch nicht von Absicht oder wirksamem Trieb zur Wiederherbeiführung eines ähnlichen Er­

folges die Rede sein, wenigstens dann nicht, wenn zu Absicht und Trieb gehört, daß Einem gelegen sei an dem, was man beabsichtigt

und wozu man getrieben wird. — Auch folgende Aeußerung scheint mir ihr Ziel zu verfehlen:

„Es ist doch geradezu ungeheuerlich, die Werke

der Barmherzigkeit aus einem heimlichen Zwecke erklären zu wollen, der zu den Opfern in gar keinem Verhältnisse stände und ohne alle Opfer, durch bloßes sich Hingeben an andere Wahrnehmungen und

Vorstellungen, hätte erreicht werden können, dem Zwecke, des lästigen Mitleids ledig zu werden." Dies schiene mir nur dann treffend geurtheilt, wenn das Mitleid,

im Gegensatz zu der doch

auch vom

Eudämonisten festgehaltenen Wortbedeutung, nicht ein Leiden mit dem Andern, sondern ein bloßes Leiden durch ihn wäre; und selbst alsdann wäre die angerathene Zerstreuung durch andere Dinge kein

zweifellos probateres Mittel gegen das eigene Uebelbefinden, als etwa

gegen Zahnweh.

„Und wer", fährt Bergmann fort, „möchte es nicht

lächerlich finden, wenn die Mutterliebe als bloße Empfänglichkeit für

die Lust an dem Wohle des Kindes definirt und diese Lust selbst für das Prius der in wirkliches Begehren übergegangenen Mutterliebe

ausgegeben wird?" Sollte es aber wirklich besser lauten: die Mutter­ liebe sei ursprünglich

wohlzuthun, und

ein bloßes lustfreies Begehren, dem Kinde

erst nachträglich eine Freude an dessen Wohl?

155

Uebrigens glaube ich unter Mutterliebe nicht sowohl Empfänglichkeit für eine Lust oder Folge einer solchen, als vielmehr selbst Lust ver­ stehen zu dürfen, und zwar eine, die recht eigentlich von Haus aus und völlig ungeschieden zugleich Lust an dem Wohl einer andern Person und eigenste Lust ist, was so wenig einem sich ihr anschließenden Begehren oder Wollen, wie ihr selbst, zur Unehre gereichen kann. Von besonderm Interesse noch ist mir der jetzt vernommene Satz: „Lust sei gar nichts Anderes als befriedigtes, in seinem Ziele zur Ruhe gekommenes Begehren, mithin nicht selbst Ziel desjenigen Begehrens, dessen Befriedigung sie ist, sondern die unausbleibliche Folge der Erreichung des Zieles." Also die Lust ein zur Ruhe gekommenes Begehren — da wird es sich fragen, ob nun gleichwohl, wie der Aufsatz von 1881 zu verlangen scheint, das zur Ruhe Ge­ setzte weiter amtieren, und in der Lust das doch seiner Natur nach unruhige Begehren fortbestehen solle (da hier nämlich bei Bergmann's weiter Fassung des Wollens kein Gewicht auf den Unter­ schied zwischen ihm und dem Begehren gelegt sein kann). Das Gesagte scheint sich auch nicht mit jenem Gerichtetsein alles positiven Wollens auf Selbstbefriedigung und Lust zu vertragen. Allerdings ist schon dort zwischen „gerichtet sein auf" und „zum Endzweck haben" unterschieden worden, und der Ersatz des Erstern durch ein bloßes Hinnehmen einer unausbleiblichen, glücklicherweise doch angenehmen, Folge macht den Unterschied deutlicher; indessen lesen wir auch noch jetzt: „es gehöre zu der Natur des Begehrens, sich selbst als be­ friedigtes zu begehren." Es läßt sich auch wirklich bei der voraus­ gesetzten Geltung des Begehrens gleich viel für Beides ansühren. Auf der Einen Seite: wenn das Begehren nicht auf Selbstbefriedi­ gung gerichtet ist, so fehlt hier überhaupt die ihm doch wesentliche Richtung auf etwas Befriedigendes, da nach der Voraussetzung das­ jenige, mit dessen Erreichung die Selbstbefriedigung oder Lust sich einstellt, darum doch nicht, wenigstens ursprünglich nicht, selber als etwas Befriedigendes erstrebt wird — es würde ja sonst ebendamit zugleich als Lust-bringend erstrebt. Auf der andern Seite: wenn die Selbstbefriedigung gesucht wird und also nicht bloße unvermeidliche Folge des Begehrten ist, so kann nicht, wenigstens nicht ansschließ-

156 lich, der eigene Inhalt des letzter» das Ziel sein.

Aber immer

bleibt räthselhaft, wie Etwas begehrt werden kann, was erst durch dieses Begehren selbst zum Werthe gemacht zu werden bedarf, und

nicht minder, wie dasjenige, worin das Begehren seine Befriedi­ gung sucht, nicht ebendamit selbst als etwas Befriedigendes erstrebt

werden sollte. Uebrigens hat mich der Anklang von Bergmann's Aeußerung

„Die

an meinen in jener Schrift von 1869 stehenden Satz gefreut:

wahrhaft sittliche Lust ist eine solche, die nach der Natur der Sache

nicht eintreten kann, wenn sie gesucht wird, anstatt höchstens als die ungesuchte Folge eines durch erkannten fund vor Allem aus gefühltenj

Werth bestimmten Handelns dem Bewußtsein vorzuschweben."

Es

liegt nämlich kein Widerspruch darin, das Beruhen alles positiven Werthbewußtseins auf Lustgefühl zu behaupten und doch gewissen Werthen eine höhere Bedeutung als die bloßer Lusterreger zuzu­

schreiben.

Ich finde den Grundirrthum des Hedonismus eben in der

Meinung, daß es gleichbedeutend sei, zn sagen: was keinerlei Lust­ gefühle erregt, würde auch nie erkennbar und auerkennbar sein als ein Werth, und: darin allein, daß Etwas Lustgefühle erregt, bestehe

sein Werth.

Der Hedoniker hat Recht mit der Behauptung eines

unlösbaren Zusammenhanges zwischen Werth und Lust, aber Unrecht

darin, diesen Zusammenhang so zu deuten, als ob der Werth bloßes Mittel zur Lust und also nur diese selbst der eigentliche Werth sei.

Ein Blick auf das ästhetische Gebiet kann hier zurechtweisen.

Wenn

wir etwas uns anschaulich Gegebenes rein als ein Schönes auf­ fassen, gleichviel ob bloß genießend oder künstlerisch, so kommt es

uns einzig als das Wohlgefällige in Betracht, das es nach der be­ sondern uns ansprechenden,

und

das Ganze

unseres dermaligen

Anschauungsbildes bestimmenden, Seite seines Wesens für uns ist; darum ist aber nicht unser Wohlgefallen an ihm ein bloßes Ver­ gnügen wie an dem ersten besten Lustbringenden, sondern es ist eine Huldigung

gegen

ein

unserer

Lust

werth

Geachtetes.

wenig nun, wie das Schöne durch diese gar nicht von zudenkende

Lustwürdigkeit

Werthvolle

durch

an

Werth

die Hinweisung

verliert,

darauf

wird

herabgesetzt,

So

ihm weg­

das

sittlich

daß

ihm

157 gleichfalls eigenthümliche Lustgefühle zugehören.

Das Eine wie das

Andere — dies ist ihnen gemeinsam, wie verschiedenartig sie auch im Uebrigen sind — ist nicht deßhalb werthvoll, weil es Lustgefühle

weckt; aber ohne diese Wirkung würde es sich nicht offenbaren als Jetzt erinnere

werthvoll.

man

sich daran,

daß zu den ethische»

Werthen grundwesentlich auch eine gewisse Qualität des Wollens und

Handelns selbst gehört, eine Qualität, deren Ideal nur in der be­ harrlichen Richtung auf die höchsten jcweilen durch unser Thun realisirbaren Werthe bestehen kann. Wenn wir nun in einer gegebenen Lage der Dinge glauben, einem solchen Werthe die ihm abgehende

Wirklichkeit durch unser Handeln verschaffen, wenigstens Etwas dazu beitragen zu können, so wird das Verlangen in uns entstehen, dem Mangel abzuhelfen.

Wird aber, kann mir eingewendet werden, das­

selbe nicht einer bloßen Unlust an unserm eigenen dermaligen äußern oder innern Zustand entspringen? Wird die Verbesserung dieses Zu­ standes nicht Lust erzeugen oder versprechen? Und wird diese nicht

auch als Motiv wirken? Aber die Unlust, die der sittlich Handelnde

los wird, ist der durchaus gerechte Verdruß darüber, daß Etwas, das er aus dem Gesichtspunkte seines vollständigen Werthbewußtseins als ein

Gut erkennt, noch immer der ihm zukommenden Förderung erharrt; und die ihm aus einem Erfolg erwachsende Lust ist die ebenso ge­

rechte Freude darüber, daß, soviel an ihm liegt, dem Mangel abgeholfen, mithin Etwas in's Leben getreten ist, das werth ist, daß man sich

dessen freue.

Nur wenn sie gesucht, als selbstständiger Werth begehrt,

wäre, würde die Lust an einem guten Handeln mit dessen Güte streiten;

aber sie wäre

dann

auch

gar nicht wahrhaft Lust an

einem guten Handeln, da dieses einem von der Lust verschiedenen Werthe gewidmet ist.

Es wäre pedantisch, es bemängeln zu wollen,

wenn Jemand an einem durch ein Handeln der letzter» Art voll­

brachten Werke seine Lust hat, und völlig ungereimt, ihm eine be­ ständige Unwissenheit über diese naturgemäße Folge seines Thuns bis

zu deren Eintritte zuzumuthen.

verdenken,

Es läßt sich ihm nicht einmal

wenn er auch diese Folge mitwill,

nämlich nur eben als

Folge, ohne ihr Einfluß auf seine Entschließung zu gestatten.

So­

gar Zufriedenheit mit sich ist nur da zu tadeln, wo sie ein Wohl-

158 gefallen an selbsteigener Vortrefflichkeit ist, nicht aber wo man sich bei gründlicher Selbstprüfung das Zeugniß geben darf, fich an Vor­ treffliches ohne Selbstsucht hingegeben zu haben — zwar gleichfalls

nur ein accessorium zum principale (dem Rechtthun), aber kein es entwerthendes.

3.

Gin Ärief des Äbts Galiani.

„Kinder, wenn ihr streiten müßt, ob ihr im Käfig seid oder nicht,

so ist's so gut, als wäret ihr nicht darinnen!" So rief einst ein kluger Kanarienvogel zwei Mitgefangenen zu, die in diesem Streit begriffen waren — das deterministische Vögelchen ein nachdenksamer Buchfink,

das indeterministische ein lebensfroher Zeisig. Und der junge Goethe, in seiner 1772veröffentlichen Recension desBuches: Ueber Belohnungen

und Strafen nach türkischen Gesetzen, von A. v. Joch (Pseudonym

des Leipziger Juristen C. F. Hammel, gest. 1781), erklärte, seit der Belehrung durch diese Fabel habe er allen Streit über Freiheit auf­ gegeben. Auch der Buchfink wird sich ja von seinem Determinismus

wenigstens so lange nicht beschwert finden,

als seine Natur keine

Lust in ihm erweckt, über das Gitter hinauszufliegen.

Wenn nun

etwa noch ein viertes Vögelchen seine Stimme dahin abgegeben hätte: Obgleich ich das Vorhandensein des Gitters für erwiesen halte, bleibe

ich dennoch überzeugt, nicht eingesperrt zu sein! — so wäre dies mit einem Votum übereingekommen, welches du Bois-Reymond in einer Anmerkung zu dem Vortrag über die sieben Welträthsel nicht

mit Unrecht als eine der merkwürdigsten Aeußerungen über das

Problem der Willensfreiheit bezeichnet. Sie ist nahezu gleichzeitig mit der Goethe'schen Recension und steht in einem Briefe des Abts Galiani

an Mad. d'Epinay, 23. Nov. 1771; Veranlassung dazu gab eine neue die Freiheit läugnende Schrift: Dieu et l’homme, par M. de Valmire.

Nach Galiani ist die Ueberzeugung von der Freiheit, und zwar der indeterministisch verstandenen, geradezu das Wesen des Menschen;

dieser läßt sich nach ihm vollständig besinnen als un animal qui se

croit libre.

„Hr. v. Valmire selbst, wenn er sagt, daß man nicht

159

frei sei, warum sagt er es? Damit man es ihm glaube. Er glaubt also an die Freiheit der andern Menschen und deren Fähigkeit, sich

dazu zu determiniren, ihm zu glauben."

Er glaubt aber wohl viel­

mehr, daß seine Gründe im Stande seien, die Leser zu determiniren,

nothgedrungen ihren Freiheitsglauben aufzugeben. „Es ist", fährt Galiani fort, „absolut unmöglich für den Men­ schen, zu vergessen auch nur auf einen Augenblick, und der Ueber­ zeugung zu entsagen, die er hat, frei zn sein.

Punkt.

Hier also ein erster

Zweiter Punkt: die Ueberzeugung haben, frei zu sein, ist

es dasselbe, wie wirklich frei sein?

bringt dieselben

Es ist nicht dasselbe, aber es

moralischen Wirkungen hervor."

Hier ist für's

Erste nöthig, eine dem Satze: der Mensch ist überzeugt frei zu sein, anhaftende Zweideutigkeit zu heben.

Es soll damit entweder nur

gesagt sein: der Mensch ist überzeugt, daß er frei sei, oder: er ist überzeugt, daß er frei ist.

Meint Galiani das Erstere, so nimmt

er sich möglicherweise in diesem Punkte von der menschlichen Gat­

tung aus; im zweiten Falle wird er an dem allgemeinen Glauben theilnehmen.

In keinem Falle aber scheint er erklären zu können:

ich bin nur überzeugt, daß ich frei sei.

Gleichwohl weiß ich seiner

Ansicht keinen bessern Ausdruck als diesen seltsamen Satz zu geben.

Sie kann nicht so verstanden werden, wie Caro (Journ. d. Savants, Dec. 1881) sie nimmt und sich aneignet: durch die Ueberzeugung von unserer Freiheit werde deren Wirklichkeit selbst hervorgebracht;

sobald ein intelligentes Wesen sich frei glaube, sei es dies moralisch

und psychologisch wirklich.

Die angeführten Worte sagen ja etwas

Anderes; und die Meinung Caro's hebt sich selbst auf, da unmög­ lich Jemand von einer Wirklichkeit überzeugt sein kann, von der er

annimmt, sie werde erst durch seine Ueberzeugung selbst hervorge­

bracht.

Aber nicht minder hart ist, was Galiani uns zumuthet:

es soll zum Wesen des Menschen gehören, an seine Freiheit zu glau­

ben, hiemit aber die Einsicht vereinbar und, wenigstens bei unserm Briefsteller,

wirklich vereint sein, daß für die Ernsthaftigkeit und

Wirksamkeit dieses Glaubens Nichts auf die Gewißheit einer ent­

sprechenden Realität ankomme. genden zusammenreimen:

Wir sollen gar Sätze wie die fol­

160 „Der Mensch ist also frei, weil er innig überzeugt ist, es zu sein,

und dies ganz ebenso viel gilt, wie die Freiheit? Das ist also der ausgesprochene Mechanismus der Welt, klar wie Felswaffer. Gäbe es auch nur ein einziges freies Wesen in der Welt, so würde es keinen Gott mehr geben, keine Verbindungen unter den Wesen mehr

geben.

Die Welt ginge aus den Fugen; und wenn der Mensch nicht

innig, wesenhast immer überzeugt wäre, frei zu sein, so würde die Moral nicht mehr gehen, wie sie geht.

Die Ueberzeugung von der

Freiheit genügt, ein Gewissen, eine Neue, eine Gerechtigkeit, Beloh­

nungen und Strafen zu begründen.

Sie genügt Allem, und hier

hat man eine Welterklärung in zwei Worten."

Also die Ueber­

zeugung von der Freiheit wird für nöthig und genügend zur Moral, d. h. hier offenbar zu einem moralischen Bewußtsein überhaupt, er­

klärt; daß es jedoch hiezu der Freiheit selbst bedürfe, wird bestritten. Nun kann zwar Jemand, dem die Freiheit auch abgesehen von ihrer moralischen Bedeutung feststeht, doch schon diese zur Beseitigung der Zweifel an ihr hinreichend finden, oder auch der Ansicht sein, selbst

der entschiedenste Bestreiter der Freiheit vermöge nicht sie in seinem praktischen Verhalten zu verläugnen: aber ein unerhörter Stand­ punkt ist es, eine Annahme für völlig ungereimt zu halten und ihr

doch mit inniger Ueberzeugung anzuhangen. Zwar thut Galiani hier

das Erstere nur als Theoretiker und das Letztere nur als Praktiker; aber theoretisch Nichtiges kann dem es dafür Erkennenden auch für

das

handelnde Leben

keinen Halt geben; und wer an der Ueber­

zeugung von einer Sache einen solchen Halt besitzt und diesen un­ entbehrlich findet, kann über

nicht so absprechen, wie

die Sache

Galiani es hier über die Freiheit thut.

Wird von ihm behauptet,

die Welt ginge bei der Freiheit aus den Fugen, so hört doch Alles

auf, nicht bloß die Welt, wenn es ein freies Wesen gibt, sondern auch die Möglichkeit einer Ueberzeugung, daß es ein solches gebe, und einer diese voraussetzenden Lebensführung. Auch jene vielversprechende Definition des Menschen, er sei ein lebendiges Wesen, das sich frei

glaubt, hat offenbar mehr versprochen, als sie zu halten vermag, da

sie

nur

mit

dem Vorbehalte

gelten soll:

wenn aber der Mensch

wirklich das wäre, was er zu sein glaubt, und so gewiß, als er Mensch

161 ist, zu sein glauben muß, so gäbe es keine Weltordnung.

Galiani

selbst erwartet denn auch den Einwurf:

„Aber wie kann man von einer Sache innig überzeugt sein, wäh­ rend das Gegentheil bewiesen fund zugestandenj ist?"

Weise! ist hier offenbar die einzig mögliche Antwort.

In keiner

Galiani jedoch

meint: „ganz ebenso, wie man innig überzeugt ist, daß zwei Unend­

liche immer gleich sind, während durch die Integralrechnung bewiesen ist, daß ein Unendliches das Doppelte, das Dreifache eines andern u.s.w. sein kann, und tausend andere geometrische Sähe dieser Art."

Aber

die Integralrechnung oder überhaupt die Mathematik hat nie be­

wiesen, daß ein Unendliches in derselben Hinsicht, in welcher man

es mit „inniger Ueberzeugung" als einem andern Unendlichen gleich betrachten darf, für ein Mehrfaches des letztern zu halten sei. denke sich z. B., es

Man

werde die Theilung einer geraden Linie, und

auch die einer doppelt so langen, durch fortgesetzte Halbirungen jeder neuen Hälfte, und zwar gleich viele bei beiden Linien, schließlich über

jede

angebbare Anzahl von Theilchen hinausgetrieben.

Jedes in

diesem Sinne letzte Theilchen der größern Linie ist dann, verglichen

mit der ganzen, verhältnißmäßig ebenso unendlich klein, wie jedes

letzte Theilchen der kleinern in Vergleichung mit dieser, und

die

Menge der letzten Theilchen ist in beiden Linien eine gleich unend­ lich große; insoweit findet also beiderseits gleiche Unendlichkeit, oder

die Unendlichkeit gleicherweise, statt.

Aber darum, und weil doch

zngleich die Eine Linie das Doppelte der andern bleibt, von einem

doppelten Unendlichen zu sprechen, geht ebenso wenig an, wie Jemand

sagen wird, die größere Linie sei doppelt so sehr Linie, als die kleinere;

und umgekehrt wird der Größenunterschied durch die gleiche Unend­ lichkeit nicht getilgt.

Oder wenn gelten gemacht wird, in der größern

Linie sei doch offenbar, wie die kleinere selbst, auch die Menge beider­ seits gleich großer Theilchen zweimal enthalten, so heißt dies wieder

nur: in demselben Sinne, wie irgend eine Gerade in's Unendliche

theilbar ist, ist es auch schon jede Hälfte derselben.

Hier ist für die

Freiheitsfrage Nichts zu holen.

„So oft sich ein menschliches Gehirn keine Idee von Etwas bilden ka>in, vermag sich der Beweis nicht in Ueberzeugung zu verHeb ter. Elemente e. vhilc». Freisteitötelne.

162 wandeln.

Es ist uns unmöglich, uns die Idee des Unendlichen zu

bilden [sollte heißen: Unvollendbares als Vollendetes vorzustellens;

so werden wir einem Beweis, der uns sagen wird, daß ein Unendliches das Doppelte eines andern sei, glauben, aber vom Gegentheil über­ zeugt sein, und der Ueberzeugung, nicht dem sich der Idee entgegen­

stellenden Beweise gemäß handeln."

Ich

wäre

begierig

gewesen,

zuzusehen, wie Galiani es anfing, um durch sein Handeln verrathen zu können, wie er von den Unendlichkeitsfragen dachte.

„Es ist unmöglich, uns die Idee unserer Unfreiheit zu bilden. Wir werden also beweisen,

daß wir nicht frei

immer handeln, wie wenn wir es wären.

sind,

und

werden

Die Erklärung dieses

Phänomens ist, daß die Ideen nicht Folgen des Vernunstgebrauchs find; sie gehen dem Vernunftgebrauch voran, sie folgen den Empfin­ dungen.

Wir beweisen durch den Vernnnftgebrauch, daß ein Stab

nicht im Wasser bricht; indessen die Idee, die wir von dem Stabe

haben, zeigt ihn uns gebrochen, weil die Gesichtsempfindung es uns so gesagt hat."

Nun, wenn Galiani weiter Nichts als das Zuge-

ständniß verlangt, daß der Glaube an eine indeterministische Freiheit

auf gleicher Stufe mit einer Sinnestäuschung stehe, so hätte er dasselbe

von den meisten Deterministen wohl noch müheloser, als mit seinem Brief, erhalten

können; mancher von ihnen

Glauben damit zu niedrig geschätzt finden.

wird mit mir

jenen

Unsere Stelle selbst will der

Freiheit, unter seltsamer Berufung auf das angeführte Beispiel, viel­

mehr

die

Unabweisbarkeit eines Empfindungsinhaltes zuschreiben.

Aber von der Freiheit,

geschweige einer indeterministischen, haben

wir keine Empfindung; und gesetzt, wir hätten eine, so würde dies

uns so wenig hier, wie sonst, einer Kritik des Empfundenen über­

heben, da dieses auch da, wo keine Sinnestäuschung in der gewöhn­ lichen Bedeutung dieses Wortes vorliegt, wenn gleich nicht unmittelbar selbst täuschen, doch zur Täuschung verleiten kann.

Läßt doch Galiani

sogar, daß der Stab gebrochen sei, uns durch die Gesichtsempfindung

gesagt werden, welche freilich den Irrthum veranlaßt, aber unmittelbar nur die unschuldige, weder wahr noch falsch redende, psychische Folge

der Netzhautaffection ist, da diese vermöge der Brechung der Licht­

strahlen ebenso aussällt, wie wenn sie von einem wirklich geknickten

163 Stab herrührte.

Während wir nun den daherigen Schein, eben weil

wir ihn als solchen erkennen, ohne Schwierigkeit mit dem gleichfalls erkannten wahren Verhalte vereinigen, ist hingegen bei Galiani die

Freiheit ein wunderliches Mittelding zwischen Schein und Wahrheit,

Etwas, wovon wir innig überzeugt sein und bleiben sollen, trotzdem daß uns das Gegentheil für bewiesen gilt.

Die Meinung, daß es

von der Unfreiheit Beweis, aber ohne Ueberzeugung, und von der

Freiheit Ueberzeugung, aber ohne Beweis, gebe, wird denn auch

durch das optische Beispiel schlecht erläutert.

Der Unfreiheit würde

die erweislich unverändert gebliebene Gestalt des Stabs, der Freiheit seine anscheinende Gebrochenheit entsprechen.

Ich will davon absehen,

daß wir uns des Gerade-Gebliebenseins des Stabs auch ganz an­ schaulich versichern können, wenn wir ihn wieder aus dem Wasser ziehen oder den Tastsinn zu Hülfe rufen, und daß, wenn ein Be­

weis verlangt wird, dieser sich auch aus der scheinbaren Gebrochen­ heit selbst, in Verbindung mit dem Brechungsexponenten, führen läßt. Jedenfalls aber ist es, sobald wir, auf was für einem Weg auch

immer, den Schein als solchen erkannt haben, mit der Ueberzeugung,

daß er Wahrheit sei, vorbei.

Namentlich auch, wenn es, worin ich

mit Galiani einverstanden bin, ein sicheres Kennzeichen einer ernst­

lichen Ueberzeugung ist, daß ihr Besitzer sich in seinem praktischen Verhalten nach ihr richtet, so trifft ja dieses Merkmal hier ganz und

gar nicht zu, da einen Stab, dessen Geradheit uns bewiesen ist,

wie einen gebrochenen zu behandeln, nicht sonderlich praktisch ist. Kurz, die Galiani'sche Freiheit ist eine bloße Fiction, und zwar

im Unterschied von andern, wirklich zulässigen und sogar vortheilhaften Fiktionen, z. B. in der Mathematik oder der Jurisprudenz,

eine solche,

die etwa fictio cum persuasione genannt werden und

unter diesem Titel einen Platz in der alten Sammlung logischer

Mißgeburten verdienen mag. Ich verhehle mir nicht, daß man mir entgegenhalten wird, ein Anderes sei das Briefchen eines geistreichen Mannes an eine Dame,

ein Anderes die Beweisführung eines Lehrbuchs;

verständnißvoller,

als ich hier, habe Mad. d'Epinay dem Freunde geantwortet: sie finde seine Meinung auch durch die Erfahrung bestätigt, daß Manche an 11*

164 die ewige Treue einer Opernspielerin zu glauben fortfahren, nachdem

ihnen

das Gegentheil bewiesen worden.

Aber eine „Welterklärung

in zwei Worten" ist für Viele verführerischer, als eine in Folianten;

und vielleicht beschützt mich vor dem Vorwurf der Pedanterie schon das vorausgeschickte Urtheil du Bois-Reymond's,

und die

„merk­

würdige Ähnlichkeit", welche die letzten Herausgeber der Galiani'sche» Briefe zwischen den Ideen des Abts und denen eines zeitgenössischen

Philosophen, des von mir bereits belobten Fouilloe, finden.

Es ist

aber gerecht, hinzuzufügen, daß dieser sich nicht wie jener auf eine

einer Sinnestäuschung gleichgestellte Ueberzeugung beruft;

er ver­

weist uns auf das thatsächliche Vorhandensein der Freiheitsidee als

solcher, und läßt diese, obgleich er sie indeterministisch auffaßt, doch ihrerseits deterministisch, dem Causalgesetze gemäß,

indem er ihr die Fähigkeit und

sich benehmen,

den Erfolg zuschreibt, durch ihre

Wirkung auf uns sich allmälig zu verwirklichen.

4.

Zur Freiheitslehre Knnt’s.

Diese Beilage ist veranlaßt durch die gründliche Abhandlung C. Gerhard's: Kant's Lehre von der Freiheit (Philos. Monatsh.

Sb. XXII, 1886, H. 1 u. 2), und soll es rechtfertigen, daß meine obige längst geschriebene Darstellung und Beurtheilung dieser Lehre

Nichts von dem schroffen Gegensatze weiß, Autor,

welchen der genannte

mit seiner Ansicht nicht alleinstehend, zwischen der „Grund­

legung zur Metaphysik der Sitten" (1785) und frühern wie spätern

Schriften

des Philosophen von der „Kritik der reinen Vernunft"

(1781) an findet.

Er behauptet,

daß Kant auf dem Standpunkte

der „Grundlegung" nur die sittlichen Handlungen als freie und also dem Menschen als intelligibelm Wesen zuzurechnende betrachten und

die unsittlichen nur von der Sinnlichkeit herleiten könne, während er sonst die intelligible Freiheit sich auch in den unsittlichen Handlungen er­

weisen lasse.

Doch gibt Gerhard zu, daß jene Lehre in der Grund-



165

legung nicht ausdrücklich, sondern nur der Consequenz nach enthalten sei.

Und ich finde sie durch den Text sogar ausgcschloffen.

Gerhard selbst zählt eine Stelle der

„Grundlegung" (S. 86,

Hart. 1. A.) den zahlreichen Aussprüchen bei, rop der Wille als ein selbstständiges Vermögen vorausgesetzt werde, „das bei der Wahl der Maximen sowohl

der Vernunft, wie denen der

den Triebfedern

Sinnlichkeit nachgeben kann, und das eben in dieser Wahl seine

Freiheit bethätigt", die „dem Menschen nur als intelligibelm Wesen beigelegt werden könne".

Er muß diese Stelle für eine Jnconsequenz

an ihrem Ort erklären, obgleich er es nicht ausdrücklich thut;

meinerseits weiß sie nur auf eine Art zu deuten,

ich

welche den Vor­

wurf der Jnconsequenz als unberechtigt erscheinen

läßt.

In der

intelligibeln Welt, sagt Kant, gibt lediglich die Vernunft, und zwar

reine, von Sinnlichkeit unabhängige Vernunft, das Gesetz, und der

Mensch ist daselbst nur als Intelligenz das eigentliche Selbst — „so daß, wozu Neigungen und Antriebe (mithin die ganze Natur der

Sinnenwelt) anreizen, den Gesetzen seines Wollens, als Intelligenz, keinen Abbruch thun können, sogar, daß er die erstere nicht verant­

wortet und seinem eigentlichen Selbst d. i. seinem Willen nicht zu­

schreibt, wohl aber die Nachsicht, wenn er ihnen zum Nachtheil

die er gegen sie tragen möchte,

der Vernunftgesetze des Willens Ein­

fluß auf seine Maximen einräumte".

Hier wird also zwischen den

sinnlichen Anreizungen und der Nachsicht gegen sie Unterschieden und nur für die letztere, für sie aber ausdrücklich, unser eigentliches,

intelligibles, Selbst, welches ebensowohl Wille wie Intelligenz ist, verantwortlich gemacht.

Dies scheint auch selbstverständlich, da die

Nachsicht gegen Etwas nicht demjenigen, wogegen sie getragen wird,

zngezählt werden kann, über das Sinnliche hinaus aber nur das Uebersinnliche, das Jntelligible, liegt.

Nun kann allerdings

das

intelligible Selbst sich nicht auf die Art verfehlen, daß es positiv

etwas Anderes, als das Vernunftgemäße, wollte.

Ein solches Wollen

ist ja aber auch die Nachsicht gegen die Sinnlichkeit nicht,

auf einem

bloßen Mangel,

Wollens, beruht. besteht",

da sie

nämlich an Intensität des sittlichen

Zwar nur „darauf beruht" sage ich, nicht „darin

da dieser Mangel an und für sich noch keine Beziehung

166

zur Sinnlichkeit hat.

Aber nicht nur er selbst ist noch kein böses

Wollen, sondern auch die Nachsicht ist nur als eine Schwäche des intelligibeln an sich guten Wollens im Verhältniß zu der Stärke sinnlicher Anreizungen zu verstehen, als ein Nachlaffen desielben und Geschehenlassen dessen, was diese Anreizungen s. z s. wollen.

Das

üble Wollen ist insofern freilich nur eine Hinderung der Vernunft,

was die Vernunft für sich allein thun

eine Vereitelung dessen,

würde, durch die Sinnlichkeit (Grundlegung S. 76), aber nichtsdesto­

weniger ein Wollen, nämlich das Vernunftwollen selber als ein doch nur zugleich in Folge seiner eigenen Schwäche aus der Bahn gelenktes, entgleistes — die Diagonale eines Kräfte-Parallelogramms,

dessen

Eine Seite das seiner Richtung nach gute, aber sie nur mit einem bestimmten Jntensitätsgrad innehaltende,

dessen andere Seite die Sinnlichkeit ist.

intelligible Wollen, und

Die letztere ist also zwar

für das üble Wollen vorausgesetzt; aber sie würde Nichts ausrichten

und dieses Wollen nicht entstehen, wenn ihr nicht das intelligible

Subject eine Blöße, einen Angriffspunkt darböte, der nur in jenem Jntensitätsmangel des guten Wollens bestehen kann. Nun fragt es sich freilich, ob wir in der so verstandenen Stelle den

eigentlichen

und

folgerichtig

„Grundlegung" zu erkennen haben.

festgehaltene'n

Standpunkt

der

Da wird es für diesmal viel­

leicht genügen, wenn ich mich gegenüber der mir, wohl auch nach

Gerhard's Meinung, anscheinend ungünstigsten Stelle zu halten weiß. Nach S. 82 f. ist selbst der ärgste Bösewicht, wenn er sich in das

Reich des

Intelligibeln,

die Verstandeswelt, versetzt,

„sich eines

guten Willens bewußt, der für seinen bösen Willen, als Gliedes der Sinnenwelt, nach seinem eigenen Geständnisse das Gesetz ausmacht,

dessen Ansehen er kennt, indem er es übertritt". worden,

und Gerhard stimmt bei:

Hiezu ist bemerkt

„„Nach der Lehre vom inteüi-

gibeln Charakter würde sich der Bösewicht erst recht eines bösen Willens bewußt werden, wenn er sich in die Verstandeswelt versetzt,

und auch in der That nicht als Glied der Sinnenwelt, sondern der Verstandeswelt einen bösen Willen haben"".

So verhält es sich aber

auch in der „Grundlegung", da sie ebenfalls die Schuld dem Men­ schen

als intelligibelm Wesen beimißt.

Wenn hier überhaupt ein

167 Widerspruch vorliegt, so fällt er nur dem bösen Willen, nicht dem ihn aufdeckenden Philosophen zur Last. Als Glied der intelligibeln Welt will nämlich auch der Bösewicht das Gesetz, besten Uebertretung seinen Willen zu einem bösen macht; das moralische Sollen ist eigenes nothwendiges Wollen als Gliedes einer intelligibeln Welt. Da aber auch nur im Intelligibeln Freiheit ist, so würde jener sich keine Vorwürfe über seine Uebertretung des Gesetzes zu machen haben, wenn er nicht gleichfalls in der intelligibeln Welt schuldig wäre und sich in ihr, da hier die Zeit wegfällt, ewiglich auf all seinem bösen Thun beträfe. Freilich ist für das Böse die Sinnlichkeit voraus­ gesetzt: als rein intelligibles Wesen würde der Mensch auch nicht einmal sollen, sondern das Gute ungeheißen wollen; gleichwohl ist das Sollen an ihn nur als zugleich intelligibles Wesen gerichtet, und er kann sich nur als ebenderselbe für schuldig erkennen, als welcher er auch das Sollen vernimmt. So will es der Standpunkt wie der Text der „Grundlegung" selbst. Insbesondere die Worte: „für seinen bösen Willen, als Gliedes der Sinnenwelt" kann ich nur so verstehen, daß ein Mensch freilich nicht böse sein würde, wenn er ohne Sinnlichkeit wäre, aber nicht so, daß er es durch sie allein sei. „Als Gliedes der Sinnenwelt" heißt nicht: „als bloßen Gliedes der Sinnenwelt". Wollte man hier überhaupt ein erläuterndes Wort einschaltcn, so würde man statt „bloßen" besser „zugleich" setzen. Aber auch dies war überflüssig und an dieser Stelle sogar unpassend, weil noch nicht gesagt war, daß der Bösewicht als intelligibles Wesen am Bösen Schuld trage; die Stelle von der Nachsicht kommt erst später. Daß der Bösewicht ein böses Sinnenwesen sei, wird einfach als das allgemein Zugestandene erwähnt, um daran dasjenige anzuknüpsen, was hier allein hervorzuheben war, nämlich daß er mehr als nur dies sei und, schon um das von ihm übertretene Gesetz zu kennen, auch ein intelligibles Wesen sein müsse. Die überhaupt in diesem (dritten) Theile der Grundlegung vorwaltende Absicht, den Menschen, als moralisch beurtheilbares Wesen, der Verstandeswelt einzugliedern, brachte cs mit sich, daß hier der Gegensatz zwischen dieser und der Sinnenwelt vor dem Zwiespalt, welcher im Menschen als Gliede der Verstaudeswelt selbst sich aufthnt, den Vortritt haben

168 Hienach kann ich nicht finden, daß ein Widerspruch zwischen

mußte.

unsern beiden Stellen sei, und also auch, wenn es in der zuletzt besprochenen heißt, der Bösewicht könne es (nämlich ein besserer Mensch zu sein)

„nur wegen seiner Neigungen und Antriebe nicht

wohl in sich zu Stande bringen", anders zu verstehen wäre, als von jener an dem zweiten Orte so ausdrücklich dem intelligibeln Wesen

zngeschriebenen „Nachsicht gegen Neigungen und Antriebe". Kant hat diese Nachsichtstheorie späterhin selber zu nachsichtig

gefunden.

Schon in der „Kritik der praktischen Vernunft" (1788)

sagt er über einen von Jugend an boshaften Menschen nicht mehr

bloß, derselbe sei von jeher zu nachsichtig gegen seine Neigungen und

Antriebe gewesen, sondern vielmehr, sein Verhalten sei „die Folge der freiwillig angenommenen bösen und unwandelbaren Grundsätze,

welche ihn nur noch um desto verwerflicher und strafwürdiger machen."

Und die „Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft" (1793)

enthält die Lehre von einem radicalen Bösen in der menschlichen Natur überhaupt. Aber daß wir die „Grundlegung" richtig gedeutet

haben, wird noch dadurch bestätigt, daß auch die „Kritik der reinen Vernunft", in der ersten Auflage kurz vor, in der zweiten kurz nach der „Grundlegung" erschienen, sich über den fraglichen Punkt nicht

wesentlich anders,

und zwar wörtlich gleich in beiden Auflagen,

Wir lesen hier (S. 432 Hart.) von einer boshaften Lüge:

äußert.

„Die Handlung wird seinem sdes Lügners) intelligiblen Charakter

beigemeffen, er hat jetzt, in dem Augenblicke, da er lügt, gänzlich Schuld;

mithin war die Vernunft unerachtet aller empirischen Bedingungen

der That völlig frei, und ihrer Unterlassung ist diese gänzlich beizumeffen." sowie

Die böse That wird also hiemit dem intelligibeln Charakter,

zugleich einer

bloßen

Unterlassung

von

Seiten

der Ver­

nunft, und zwar offenbar in ganz gleichem Sinne, zugeschrieben;

ferner wird ausdrücklich auch die unterlaffende Vernunft für frei er­ klärt.

Nämlich sie hat unterlassen, das ihr Obliegende zu thun, d. h.

hier:

dem Gebot der Wahrhaftigkeit zu folgen; und diese Unter«

laffung selber, die Lüge, hätte unterlassen werden können, was zwar

freilich nicht bedeutet, daß wir sie als Erscheinung ihren zeitlichen

Bedingungen entrücken dürften, wohl aber, daß sie trotzdem, „unmittel-

169

bar unter der Macht der Vernunft stehe."

Dies alles kann, da die

Vernunft doch nur durch Unterlassung gefehlt, wieder nur heißen,

daß öhne Nachsicht des intelligibeln Selbst gegen die ans der Sinn­ lichkeit stammenden Neigungen und Antriebe die Bosheit unterblieben

fein würde. Jene vermeintliche Consequenz der „Grundlegung",

Identität

von Freiheit und Sittlichkeit, ist auch nicht in der von Gerhard da­ für angezogcnen Stelle der „Prolegomena zu jeder künftigen Meta­

physik" (1783, S. 270 f. Hart.) ausgesprochen, die nur besagt, daß Freiheit der Vernunft und Naturgesetz der Erscheinungen zusammen stehen bleiben, gleichviel ob die Vernunft einen Einfluß auf die letztern

ausübe oder nicht.

„Das

Naturgesetz bleibt, es mag nun das

vernünftige Wesen aus Vernunft, mithin durch Freiheit, Ursache der Wirkungen der Sinnenwelt sein, oder es mag diese auch nicht aus Vernunftgründen

bestimmen ... In

beiden Fällen hängen die

Wirkungen nach beständigen Gesetzen zusammen . . . Aber im ersten Falle ist Vernunft die Ursache dieser Naturgesetze und ist also frei,

im zweiten Falle laufen die Wirkungen nach bloßen Naturgesetzen der Sinnlichkeit, darum, weil die Vernunft keinen Einfluß auf sie

ausübt; sie, die Vernunft, wird aber darum nicht selbst durch die Sinn­ lichkeit, bestimmt, (welches unmöglich ist,) und ist daher auch in diesem

Falle frei."

Dies wird von Gerhard so gedeutet: „In den Worten":

„„aus Vernunft, mithin durch Freiheit"" erklärt Kant ein vernünftiges

(also sittliches) und freies Handeln als identisch. Die nicht vernunft­ gemäßen Handlungen aber erklärt er für Wirkungen bloßer Natur­

gesetze der Sinnlichkeit, „„darum weil die Vernunft keinen Einfluß auf sie ausübt"". Ich würde diese Auslegung überzeugender finden,

wenn Kant anstatt „aus Vernunft, mithin durch Freiheit" geschrieben hätte:

„durch Freiheit, mithin aus Vernunft", wonach wirklich jede

freie Handlung zugleich vernünftig und also keine nicht vernunftge­ mäße Handlung frei wäre.

Aber unsere Stelle nimmt ja ausdrück­

lich auch bei den nicht vernunftgemäßen Handlungen eines vernünftigen Wesens Freiheit an, weil auch die keinen Einfluß auf die Wirkungen

in der Sinnenwelt ausübende Vernunft nicht selbst durch die Sinn­

lichkeit bestimmt sei, welcher jedoch, wie dort dem Reize zum Lügen,

170 die Unterlassung der Vernunft

nur eben

einen

Erfolg

möglich

macht. Um endlich

auch noch die kurze Darstellung der Freiheitslehre

in der „Metaphysik der Sitten" (1797, S. 26 f. Hart.) nicht zu über­

gehen: Kant unterscheidet hier streng zwischen Wille und Willkür; von jenem läßt er die Gesetze ausgehen, von dieser die Maximen;

jener, schlechterdings nothwendig und selbst keiner Nöthigung fähig, dürfe weder frei noch unfrei genannt werden, nur die Willkür könne

frei heißen; doch dürfe diese Freiheit nicht durch das Vermögen der Wahl, für oder wider das Gesetz zu handeln, besinnt werden, obzwar

die Willkür, als Phänomen, davon in der Erfahrung häufige Bei­ spiele gebe.

Dies heißt aber nicht, wie Gerhard deutet, Beschrän­

kung der Eigenschaft der Willkür, auch Gesetzwidriges zu wollen, auf die Willkür als Phänomen in dem Sinne, daß jener Eigenschaft

Nichts in der intelligibeln Willkür entspräche.

Es kommt hier auf

die in derselben Stelle gemachte Unterscheidung zwischen Vermögen

und Möglichkeit an.

Wir würden ja gleichfalls z. B. Bedenken

tragen, dem Menschen, weil es ihm möglich ist, Sprachfehler zu machen, ein Vermögen zu solchen zuzuschreiben.

In gleichem Sinne

sagt Kant: „Die Freiheit, in Beziehung auf die innere Gesetzgebung

der Vernunft, ist eigentlich allein ein Vermögen; die Möglichkeit, von dieser abzuweichen, ein Unvermögen". Freiheit als bloße Möglichkeit

solcher Abweichung wird hiemit

nicht geläugnet; es soll nur nicht,

was in Wahrheit ein Unvermögen ist, als ein Vermögen gepriesen

werden.

Ferner würde unser Begriff von dem in unserer Sprach­

fähigkeit bestehenden Vorzüge keine Einbuße erleiden, wenn wir gar keine Sprachfehler machten; da aber einmal solche vorkommen, so darf jener sie auch nicht ausschließen. Ebenso meint Kant: es wäre Nichts

an dem Begriffe unserer Freiheit zn vermissen, wenn der

Mensch nicht anders als den Vernunftgesetzen gemäß wollte; da er

ihnen aber thatsächlich auch zuwider will, so muß er es auch können,

und er kann es in freier Weise nur als intelligibles Wesen; diese Möglichkeit und zugleich Unvermögenheit darf jedoch nicht zur Definition

der Freiheit, als wäre sie ein nothwendiges Merkmal dieses Begriffes,

verwendet werden.

Uebrigens sollte die strenge Auseinanderhaltung

171

von Wille und Willkür,

unter Beschränkung

der Freiheit

auf die

letztere, wohl hauptsächlich dazu dienen, den mit dem radicalen Bösen

auf die Spitze getriebenen Zwiespalt in dem Einen

intelligibeln

Subject — Zuwiderwollen gegeu das eigene Wollen — begreiflicher zu machen, ohne doch denselben an das selbstanerkannte Vernunft­

gesetz rühren zu lassen. So verdienstlich daher auch die Sorgfalt ist, womit Gerhard den

Verschiedenheiten

in Kant's

mehrfachen

Darlegungen seiner

Freih.eitslehre seit 1781 nachgegangcn, so scheinen sie mir doch, so­

weit sie nicht bloß terminologischer Art sind, im Wesentlichen darauf hinauszulaufen — etwas gleichfalls nicht Geringfügiges — daß das

Böse zuerst als bloße Lässigkeit gegenüber dem Vernuuftgesctz und

erst später als positives Zuwiderwollen gegen dasselbe gefaßt ist.

5.

Rümelin über die Willensfreiheit.

Ich stimme mit der Rede Rümelin's „Ueber einige psychologische

Voraussetzungen des Kriminalrechts"

(Reden und Aufsätze.

Neue

Folge, 1881) in so wesentlichen Punkten überein, daß ich gern auch

den noch vorhandenen Unterschied beseitigt sähe.

Dieser besteht frei­

lich in nichts Geringerm, als daß der Eine von uns zum Inde­

terminismus, der Andere zum Determinismus sich bekennt; es kommt aber darauf an, in welchem Sinne Beides geschieht.

„Alles Gewicht

der Motive", erklärt Rümelin, „ist nur ein ihnen von unserem Willen geliehenes und

die Entscheidung erfolgt,

Willens die Zunge der Wage

indem

der Finger des

nach der einen Seite hinabdrückt.

„„Das stärkste Motiv bestimmt uns"" heißt also nicht, das an sich stärkste, sondern das für uns stärkste,

das von uns allen andern

vorgezogene, das von uns zum stärksten gemachte" . . .

„Das

schließlich vorgezogene Motiv ist zuerst, wie alle andern, auch nur

die Vorstellung

einer möglichen Handlung und gewinnt eine wir­

kende Kraft erst in dem Augenblick, da sich der Wille ihm zuwendet

172 und seine eigene Kraft in dessen Wagschale legt."

Solcherlei Aeuße­

rungen könnte ich nur dann nicht unterschreiben, wenn

sie

das

Wollen den Motiven ein anderes Gewicht leihen ließen,

als

das

darin bestehende, daß erst das Wollen gemäß einem Motiv, nicht schon

das letztere,

ein

entsprechendes Handeln zur Folge hat, —

wenn sie dem Wollen bereits die Werthbestimmung der Motive über­ trügen, die von mir zwar ebenfalls dem wollenden

nicht gerade seinem Wollen zugeschrieben nicht das Wollen nach

jenem sich

Subject,

der Werthbestimmung, sondern

richten ließen.

nur

wird, — wenn sie also

Wir lesen aber auch:

der

diese

nach

innere Vor­

gang bei den nicht ganz einfachen Fällen des Wollens erscheine uns so, „daß wir die verschiedenen Motive, d. h. von dem Intellekt in concreter Gestaltung dargebotenen Triebreize an uns, d. h. an dem Ich, dem Seelencentrum, vorüberziehen lassen und dabei auf das Maß von Lust- und Unlustgefühl,

das jedes derselben in uns zu

erregen vermag, Acht haben, dann aber schließlich dahin den Aus­

schlag geben, wo uns das schwächste Unlustgcfühl oder das stärkste Lust- oder Werthgefühl in Aussicht zu stehen schien."

Es ist ferner

zugestanden (I. Sammlung, S. 371), daß der Ausschlag „dem Cha­

rakter des Einzelnen, d. h. dem gesummten Compler von angeborenen

und angebildeten

oder durch Uebung erstarkten Eigenschaften ent­

spricht und darum von Jemand,

der diesen Charakter vollständig

kennen würde, vorausgesagt werden könnte, dem aber gleichwohl das Gefühl des anders Gekonnthabens, des so oder anders Gesollthabens,

und somit der Zurechnung als eigener That zur Seite geht".

Eben

das Gefühl soll, trotz der hiemit so unumwunden, wie sonst nur von Deterministen geschieht, anerkannten Voraussagbarkcit der Entschei­ dung,

am Ende doch

„Jedenfalls gibt es

für den Indeterminismus zeugen (II, 66 f.):

keine sicherere Thatsache unseres Bewußtseins,

als daß wir ein Gefühl der Wahlfreiheit in uns haben und frei zu

sein glanbcn.

. . . Unter allen Zeugnissen gegen den Determinis­

mus halte ich dies für das schlagendste, daß er eine notorische und

unbestreitbare, auch von ihm nicht bestrittene Thatsache des allgemein menschlichen Bewußtseins für eine unvermeidliche Illusion erklären

muß und doch diese Unvermeidlichkeit in keiner Weise zu begründen

173 vermag."

Mir scheint, daß wir zwar ein unmittelbares Bewußtsein

des Wählens als eines unzweifelhaft von uns selbst ausgehenden Acts,

nicht aber eines von indeterministischer Freiheit dieses Acts

haben, und daß wir eben darum hier auch nicht getäuscht werden,

weder durch das erste,

da dasselbe zum Sichersten gehört, was es

für uns gibt, noch durch das zweite, da dieses nicht existirt. In strafrechtlicher Hinsicht werde ich noch besonders auf fol­

gende Bemerkung Rede zu stehen haben.

„Es haben, wie bekannt,

auch verschiedene der neueren Denker versucht die Nothwendigkeit alles Geschehens mit einer menschlichen Willensfreiheit in Einklang zu bringen; das Räthsel aber, wie man Jemand für eine That, die

er nicht lassen konnte, strafen dürfe, ist dabei stets ungelöst geblieben." Der Redner selbst jedoch (I, 25) findet nicht jede Nothwendigkeit, sondern nur die äußere, den Zwang, mit der Willensfreiheit unver­ einbar: „Die innere Nothwendigkeit ist mit ihr (der Freiheit) ver­

wandt wo nicht identisch."

Er begnügt sich ausdrücklich auch in der

vorliegenden Rede (S. 44) mit einer Freiheit

unwiderstehlichen Zwang."

„im Gegensatz zum

Zwar wird hier noch hinzugefügt: „zu

jeder Art von Müssen und Nichtanderskönnen"; sofort aber wird dies wieder auf eine äußere Nothwendigkeit beschränkt: „Alle Strafgesetze

sind in diesem Sinne indeterministisch, d. h. sie sind unvereinbar mit

der den Namen des Determinismus führenden Ansicht, wornach jede menschliche Handlung, also auch die gesetzwidrige, je durch die ge­ gebenen Verhältnisse determinirt,

ist" rc.

fest bestimmt, also nothwendig

Diese Unterscheidung zwischen äußerer, mit Zwang gleich­

bedeutender, und innerer, mit Freiheit identischer oder doch ver­

wandter Nothwendigkeit wird auch zur Beantwortung der Frage genügen, wie man Jemand für eine That, die er nicht lassen konnte, strafen dürfe.

Wenn z. B. ein mehrfach bestrafter Dieb bei der

ersten Gelegenheit rückfällig wird, so mag ein Bericht über den Fall nach Erwähnung dieser Gelegenheit fortfahren:

„da hat er es nun

natürlich nicht lassen können" rc., ohne daß sich der Berichterstatter mit diesen Worten als einen Gegner der Willensfreiheit zu erkennen

gäbe; die Meinung wird nur sein,

daß der Dieb, um seine That

zu lassen, ein anderer Mensch, als er ist, hätte sei» müssen.

Und

174

gerade weil er so ist und zu sein sortfährt, wie er sich schon vordem gezeigt hat, nicht durch die bloße Wiederholung der That, ist sogar

eine Verschärfung der Strafe gerechtfertigt.

Es wäre vielmehr eine

Milderung am Platz, wenn man das Strafen unverträglich mit Determination fände, da deren Wahrscheinlichkeit durch die Wie­ derholung, zumal eine mehrfache, eher zu- als abnimmt.

Man straft

eben und darf strafen, sobald man sicher ist, daß die That gewollt und von dem Angeklagten selbst gewollt worden, und ebendamit

keine bloß „durch die gegebenen Verhältniffe determinirte" war.

Die

Determination im letztern Sinne nehmend, hat Rümelin gewiß Recht

mit der Vermuthung, daß fast alle Richter bewußte oder unbewußte Jndeterministen seien.

In meinem Sinne aber würde ich sie eher

Deterministen nennen, da die meisten in Sachen der Willensfreiheit schwerlich nach etwas Anderm fragen, als danach, ob die That von

dem Angeklagten wahrhaftig gewollt worden sei, und sich also, wie

es scheint, mit der Freiheit in jener Bedeutung des Wortes zu­ frieden geben, in welcher sie auch mir für unabtrennbar vom Wollen gilt.

Rümelin selbst bemerkt (II, 43), daß „es überhaupt schwer fallen

dürfte, vom menschlichen Willen irgend eine Beschreibung oder De­

finition zu geben, in welcher das Merkmal der Freiheit nicht offen oder verdeckt schon enthalten wäre" — nun, so haben wir ja ziem­

lich die gleiche Losung: Haltet euch einfach an's Wollen, so wird

euch die Freiheit von selbst zufallen.

Hienach möchte ich glauben, in keinem wesentlichen Punkte von

der Freiheitslehre Rümelin's abzuweichen; nur daß er die Ausdrücke Determinismus und Indeterminismus nicht sowohl in dem üblichsten, auf die Causalfrage beschränkten, Sinne, als vielmehr zur Bezeich­ nung desjenigen Gegensatzes verwendet, welchen

auch ich für den

sachlich wichtigsten in dem ganzen Streit ansehe, nämlich des Gegen­

satzes zwischen einer Lehre, welche jene von der ethischen und straf­

rechtlichen Seite ergehende Forderung in Betreff eines beurtheilbaren

Subjects zu erfüllen, und einer, welche dies nicht zu leisten vermag; ich habe zugestanden, daß in dieser Hinsicht nicht jede beliebige Ver­

tretung des Determinismus jedem Indeterminismus überlege» ist.

175

6.

Der Indeterminismus Lotre's.

Es versteht sich,

daß ich es mir habe angelegen sein lassen,

mir die Werke Lotze's auch für meinen diesmaligen Zweck nach Ge­

bühr zu Nutze zu machen. Insbesondere habe ich meine Arbeit zuletzt noch der strengen Probe ausgesetzt, daß ich sie mit dem dritten Capitel

der „Grundzüge der praktischen Philosophie" (Lpz.

1882) zusammenhielt, nachdem ich mich auf die für den Schlußband

des

„Systems

der Philosophie"

der wesentlichsten Aufgaben

in Aussicht gestellte Erörterung

der praktischen Philosophie vergebens

gefreut hatte.

An

die

der sittlichen Beurtheilung eigenthümlichen

Begriffe

Verdienst und Schuld schließt sich — so lehrt Lotze dort — wenn

sie nicht überhaupt als Täuschungen verbannt werden sollen, ganz natürlich die Annahme einer Freiheit des Willens an, „die es ihm

möglich ließ, zwischen zwei möglichen, aber nicht nothwendigen Ent­ schlüssen

zu

wählen".

Der

vollständige,

jede

Freiheit

gänzlich

läugnende Determinismus läßt sich nicht ohne Widerspruch mit un­

sern unbefangenen Gefühlen durchführen, wenn gleich er, trotzdem einmal angenommen, durch irgend welche theoretischen Gründe oder Beweise nicht widerlegbar ist, wie man überhaupt einen Werth oder

Unwerth von irgend Etwas nur auf Grund einer bereits zugestandenen

Werthschätzung beweisen kann. Widerspruch

durch

Vergeblich hat man versucht,

den

allerhand Identitäten von Freiheit und Noth­

wendigkeit zu beseitigen.

„Nach Ausschluß dieser Meinungen bleibt

als eine Behauptung, welche aufrichtig das ausdrückt, was wir mit

dem Namen der Freiheit meinen, durchaus nur die vielfach ver­ spottete von einer solchen Freiheit des Willens zurück, wonach er

zwischen zwei entgegengesetzten Entschlüssen wählen kann, ohne durch irgend ein Motiv zur Wahl gezwungen zn werden."

Gegen die

Gültigkeit dieser Annahme läßt sich auf Grund von Erfahrungen

(Selbstbeobachtung und Statistik) nicht entscheiden. Berufung auf die

Auch nicht durch

Allgemeingültigkeit des Causalnexus,

der neue

Anfänge innerhalb des Weltlaufes neben sich nicht ausschließt.

Die

176 selbstverständliche Unerklärlichkeit eines freien Entschlusses zu beklagen,

ist sehr thöricht, und noch sinnloser wäre es, dessen Unmöglichkeit

aus ihr zu folgern.

Auch seine eigene Intensität selbst zu bestimmen,

muß der Wille im Stande sein. Um diesen Sätzen völlig gerecht zu werden, müßten wir sie in dem Zusammenhänge des ganzen philosophischen Systems, welchem

sie angehören, beurtheilen; hier kann ich ihn gemäß meiner be­ grenzten Aufgabe nur so weit berücksichtigen, als es der Urheber des Systems selbst in der vorliegenden Ausftihrung seiner Freiheitslehre thut.

Unter den von ihm abgelehnten Meinungen stimme ich am

nächsten mit einer jener Annahmen überein, deren Gemeinsames er in einer Jdentificirung von Freiheit und Nothwendigkeit findet.

„Wenn man behauptet, es komme [für die sittliche Beurtheilung^ nur aus den Willen an, aber nicht darauf, wie dieser Wille entstanden sei, so können wir diesen Ausdruck allenfalls zugeben; allein wir

thun es bloß, indem wir bereits voraussetzen, daß der Wille von be­

stimmten Gründen mit Nothwendigkeit nicht hervoxgebracht sei, und daß eben darum sein Dasein hinreicht, um eine Verantwortlich­ keit zu begründen."

Ich bin natürlich mit dieser Einschränkung

einverstanden, wenn die Nothwendigkeit in einer der von mir zurück­ gewiesenen Bedeutungen genommen wird, und finde es demgemäß

für die sittliche Beurtheilung des Wollens ebenfalls nicht gleichgültig, wie man sich

dessen Entstehung erklärt; vor Allem muß es auch

wirklich das Wollen sein, was dabei zum Vorschein kommt,

das

Wollen so, wie wir es als eine unbezweifelbare Thatsache unserer innern Erfahrung kennen; in dieser Beziehung ist Herbart, welchen Lotze hier zunächst im Auge hat, allerdings anzufechten.

Auch wenn

Lotze den „vollständigen Determinismus, der jede Freiheit gänzlich

läugnet", also vielmehr den überspannten, als den vollständigen, be­ streitet und eine solche Freiheit des Willens vertheidigt, wonach dieser „wählen kann, ohne durch irgend ein Motiv zur Wahl ge­

zwungen zu werden": so habe ich hiezu im Voraus meine Zu­

stimmung erklärt, da natürlich bei diesen Worten nicht sowohl an das Abstractum „Wille", als vielmehr an den zu wollen fähigen Menschen zu denken ist.

Uebrigens gehören auch die Motive zu

177 diesem; er könnte sagen: meine Motive bin ich selbst; nur nicht

er

so,

daß

als

etwas

in

über

ihnen

aufginge

und

nur

sie wäre;

sie Hinausragendes ist eben immer

er selbst

auch

noch

da, und will nur darum, weil er so ist, wie er mitsammt seinen

ist,

Motiven

nicht

als

wenn

die

Motive

selbst

wollten

oder,

Faßt er einen Entschluß, so geschieht es

daß er wolle, wollten.

freilich gemäß demjenigen Motiv, welches er in diesem Zeitpunkte für das gewichtigste ansieht;

da aber doch er selbst es ist, der sich ent­

schließt, und das Motiv ihn nur zu solchem Selbstthun bewegt, so

läßt sich hier zwar von Nothwendigkeit, aber nicht von Zwang reden,

wie auch Lotze in den angeführten Worten nur diesen, verwirft.

hiemit

nicht jene

Dem Menschen nun aber noch mehr Freiheit, als die ihm

zugestandene,

beilegen,

hieße,

wie

mir scheint,

ihm im

Gegentheil zu wenig einräumen, und ihn nicht nur von Zwang und Nothwendigkeit, sondern von dem eigenen Selbst losmachen und, wenigstens mit Einem Fuß, auf Nichts stellen.

Ideal des Willens,

Namentlich auch dem

möge man es sich in einem menschlichen oder

einem übermenschlichen Wesen vorstellen, kann Jndetermination un­

möglich angemessen sein.

Schon im gewöhnlichen Leben pflegt man

von einem in eine sittlich schwierige Lage verwickelten Menschen, je

höher man ihn schätzt, um so zuversichtlicher vorauszusagen, daß er

sich zum Rechten entschließen werde.

Lotze erklärt zwar das Voraus-

wiffen des Freien für undenkbar, sogar in Gott (Grundzüge der

Religionsphilosophie, S. 65);

aber wenigstens das Vorauszuwissen-

Glauben des Freien, mit Bestätigung durch den Erfolg, ist bei uns Menschen alltägliche Thatsache, und es wäre seltsam, wenn man von

einem unerläßlichen Erforderniß einer Geistesthätigkeit, wie es bei'm

Wollen die Jndetermination sein soll, um so sicherer Abstand nehmen

dürfte, je vollkommener die Thätigkeit vor sich geht. Was Lotze trotzdem zu Gunsten der Freiheit des Wollens vom Causalgesetze schon von theoretischer Seite her geltend macht, ist zu­

nächst Folgendes: „Wir wissen, daß eine Erklärung des Naturlaufs nicht bloß auf die Annahme des ursprünglichen und unableitbaren

Vorhandenseins vieler Elemente, sondern auch auf die Annahme viel­ facher und verschiedener Bewegungen dieser Elemente zurückführt... . Hehler, Elemente e. philos. Freiheitslehre. J2

178 Man kann daher nicht sagen:

„„Alles überhaupt muß eine Ursache

haben""; vielmehr das ursprüngliche Sein der Welt und die Richtung

der Bewegung in ihr find ursachlose Thatsachen. änderung,

Nur jede Ver­

die nun noch einträte, würde einer Ursache bedürfen.

Nun läßt fich fragen, warum dies ursachlose Vorhandensein einer

Thatsache auf den übrigens doch nie erreichbaren Anfang der Welt beschränkt sein und nicht auch innerhalb ihres Verlaufs

an

jedem Punkte möglich sein soll."

Vor allen Dingen weise ich darauf hin, daß auch Lotze Eigenthümliche des Indeterminismus in

das

der Annahme eines ur­

sachlosen Wollens ficht. Da finde ich so eben wieder in einer Recenfion einen philosophischen Schriftsteller darob getadelt,

daß „er die in­

deterministisch gefaßte Freiheit des Willens nur als eine ursachlose,

anstatt als einen nur nicht durch fremde Ursachen determinirten Willen zu verstehen vermag".

Ich bekenne mich gleichfalls zu diesem

Unvermögen, und nehme als ausgemacht an, daß man unter der „indeterministisch" gefaßten Freiheit des Willens nicht einen wahr­ haft und vollständig „determinirten" Willen zu verstehen hat, und

daß es hier nicht daraus ankommt, durch was für Ursachen, fremde oder einheimische, sondern darauf, ob überhaupt durch Ursachen in

dem strengen Sinne, wie man davon auf andern Gebieten reden

darf, auch der Mensch in seinem Wollen determinirt sei.

Allerdings

pflegen, wie wir wiffen, die Jndeterministen ihren ursachlosen Willen doch nicht ganz ursachlos sein zu lassen; solange sie aber überhaupt

noch grundsätzlich von ihren Gegnern abweichen, setzen sie wenigstens

aus einem gewiffen Puntte und zwar dem entscheidenden, nämlich bei der Willensentscheidung selbst, das Causalgesetz außer Geltung. Nach ihrer Lehre soll ja daffelbe Subject in derselben äußern und innern Lage ebensowohl den Einen wie den andern von zwei ent­

gegengesetzten Entschlüffen fassen können; was doch unwidersprechlich

so viel heißt: dafür,

daß es den Einen von beiden vorzieht, gibt

es keine Ursache. Die Ursachen des Wollens mögen auch noch so innig dem Subject selbst zugehören und sogar, wie nach Leibnitz, sämmtlich rein innere Bestimmtheiten, so gut wie das Wollen selbst,

sein: jedenfalls müssen sie von dem letztem verschieden sein, um es

179 verursachen zu können;

damit haben wir aber Determinismus, wie

wir ja auch bei Leibnitz sehen.

Nur dem folgerichtigen Indeterminismus also redet Lotze das Wort, wenn er ein ursachloses Wollen vertheidigt. Und er thut dies

damit, daß er sich für die Annahme ursachloser Anfänge innerhalb des Weltlaufes auf den Anfang der Welt selbst beruft.

Ob es

aber hier nicht gerade auf den Unterschied zwischen Anfang und

Verlauf, oder

zwischen unerreichbarem und erreichbarem Anfang,

was doch im Grunde heißt: zwischen uneigentlichem und eigentlichem Anfang, ankommt?

Wie

auch

immer

über Anfang oder Nicht­

anfang der Welt gedacht werden mag: jeder unserer Willensacte ist eine

innerweltliche Begebenheit, und also könnten wir ihn dem

Causalgesetze nur entziehen, wenn wir dieses durch eine Ausnahme

einschränkten, welche dessen Ansehen auch auf dem ihm überlassenen

Gebiet erschüttern müßte. haben.

Für

Lotze würde dies freilich nicht zugegeben

alle Veränderungen zwar,

nicht nur in der äußern

Natur, sondern auch in unserm Geistesleben, soll das Causalgesetz

gelten bleiben;

aber das Wollen soll keine Veränderung sein: die

„neuen Anfänge" (die freien Willensentschlüsse) und die „Verände­

rungen des Bestehenden" werden ausdrücklich einander entgegenge­ setzt; zu denjenigen Fäden, welche den frühern Weltlaus bis zu dem

Punkte x dargestellt hätten, könne sich an diesem Punkte der Anfang eines neuen Fadens gesellen, der mit allem Frühern nicht Zusammen­

hänge, aber nun, nachdem er in dies Geflecht eingegangen, natürlich

auch den Gesetzen unterliege,

dieser Fäden beherrschen.

die das gegenseitige Verhalten aller

Daß die weitere Gestaltung des jeweiligen

Bestandes unserer Welt durch (nicht wegdeutbare) Wiüensacte mit bestimmt wird, entspricht ganz meiner Ueberzeugung, wie ich sie oben in bewußter Uebereinstimmung mit Lotze ausgesprochen.

kann

ich mir diese Willensacte nicht als

indeterminirte

Nur

denken.

Denn der Eintritt des neuen Fadens in das gegebene Geflecht wird ebensowohl da, wo diese Ausdrücke eine bildliche, als da, wo sie ihre eigentliche Bedeutung haben,

eine

Veränderung des Bestehenden

sein, wie sogar noch mehr an der veranschaulichten Sache selbst, als an dem Bilde, einleuchtet, da jener Eintritt sich leichter hier, denn

180 dort, als eine bloße äußerliche Zugesellung, ohne innerliche, in unserm Falle sogar

denken läßt.

geistige,

Abwandlung

des Vorgefundenen Bestandes,

Lotze führt übrigens das Wollen, indem er es für

unabhängig vom frühern Weltlauf erklärt, nur desto kürzerer Hand auf den allgemeinen, aber hier aus besondere Art eingreifenden, gött­ lichen Weltgrund zurück, wie überhaupt nach diesem System Gott allein in allen Dingen ist und wirkt, wenn gleich es sich ihrer ge­ wöhnlichen pantheistischen Verflüchtigung zu entschlagen weiß.

„Eine letzte Schwierigkeit würde darin bestehen, daß wir zwar

ganz neue Anfänge tut Weltall nöthig fanden, für jede Veränderung

des Bestehenden aber allemal wirkende Ursachen verlangen mußten. Kann nun ein gefaßter Willensentschluß für eine Kraft gelten, welche (nicht in der äußern Welt, was selbstverständlich unmöglich ist,

sondern nur) in unserem eigenen inneren Leben die Zustände ändern kann, welche hier nach einem psychischen Mechanismus durch die

früheren Zustände determinirt find?" Will man nicht

„völlig zu dem

Determinismus zurückkehren", so muß, meint Lotze, diese Frage be­

jaht, und zugestanden werden, „daß der Wille nicht bloß die Rich­ tung seines Entschlusses, sondern auch die Intensität, mit welcher

er dieselbe verfolgt, mit vollkommener Freiheit selbst

bestimme".

Wenn die Rückkehr zum Determinismus nur durch dieses Zugeständniß vermieden werden kann, so scheint sie unvermeidlich.

So

wenig allerdings, wie in Bezug auf die Richtung, läßt sich in Be­

treff der Intensität die Selbstständigkeit des Willens oder vielmehr

des wollenden Subjects läugnen. Aber daffelbe wird Beides dem Ent­

schlüsse nicht anders geben können, als wie es ihm Dasein gibt, da er von vorn herein ebenso wenig ohne bestimmte Richtung und Intensität zu denken ist, wie eine Bewegung ohne bestimmte Richtung und

Geschwindigkeit; und die Beiden könnten durch ein indeterminirtes Wollen weder entstehen, wenn dieses Wollen dasselbe wäre, dem sie zugehören sollen, also durch Selbstverursachung, noch wenn ein zweites Wollen, welches dann folgerichtig seine Freiheit einem dritten, vierten

u. s. f. verdanken müßte. Mit alle dem wäre doch sehr wenig oder Nichts gegen Lotze

gesagt, wenn er mit seiner Behauptung der Unentbehrlichkeit des

181 Indeterminismus für die sittliche Beurtheilung Recht behielte.

Aber

diese soll auch nach Lotze nicht dem Jndeterminirtsein selbst gelten;

ein Wille existire überhaupt nicht, bevor er etwas Bestimmtes wolle, und jedenfalls würde er „erst dann, wenn er sich entschieden hat, und je nach dem. wie er sich entschieden hat, Gegenstand moralischer

Billigung oder Mißbilligung sein, als noch freier Wille dagegen

würde er die an sich gleichgültige, aber unerläßliche Vorbedingung für das Zustandekommen

des sittlich Beurtheilbaren fein".

Also

auch wenn das Wollen indeterminirt wäre, würde dies doch nicht

dasjenige oder auch nur ein Theil dessen sein, was ein gutes Wollen

zu einem guten, ein böses zu einem bösen macht; nur dem so und

so entschiedenen, um nicht sofort zu sagen: determinirten, Wollen kommt ein Werth zu.

Dann wird aber die sittliche Beurtheilung

zwar selbstverständlich ein Wollen, nicht aber eben ein indeterminirtes

voraussetzen.

Hierauf würde jedoch Lotze entgegnet haben: das Jn-

determinirtscin sei nur nicht das am Wollen, was von der sittlichen Beurtheilung gelobt oder getadelt werde, sei und bleibe aber die

unerläßliche Bedingung derselben.

Vielleicht findet Jemand

dies

wirklich ebenso einleuchtend, wie sich etwa aus der thatsächlich vor­

liegenden stilistischen Beurtheilung eines Briefs nicht nur entnehmen

läßt, daß er gelesen worden, sondern auch daß er einigermaßen leser­ lich geschrieben worden sein muß, obschon das Urtheil nicht diesen

Punkt betroffen hat.

Wenn nur das Jndeterminirtsein sich zu dem

Wollen ebenso verhielte, wie die Leserlichkeit zum Gelesenwerden, d. h.

wie Möglichkeit zu Wirklichkeit! Die Jndetermination des Wollens könnte für eine Bedingung seiner sittlichen Beurtheilung nur unter der Voraussetzung erklärt werden, daß überhaupt, schon psychologisch

angesehen, bloß ein solches Wollen ein rechtes, eigentliches, Wollen fei.

Stände dies jedoch im Voraus fest, so wäre zum Erweis der

Umweg über das sittliche Urtheil überflüssig, und wenn jenes nicht

stattfindet, so führt auch der Umweg nicht zum Ziel.

Schließlich will ich mir aber lieber selbst sagen, als mir von einem andern Verehrer des großen Denkers bemerken lassen,

daß

derselbe nicht der Mann war, dem so naheliegende Einwürfe hätten entgehen können, daß er ihnen also nur nicht das Gewicht beigelegt

182 haben kann, das sie nach meiner Ansicht besitzen.

Ich selber würde

ihnen weniger vertrauen, wenn ich es mit dem praktischen Glauben

an die Idee des Guten, wozu Leibnitz, der Determinist, und Lotze, der Jndeterminist, Jeder von ihnen auf seine Weise, sich bekannt haben, unvereinbar fände, daß die des Wollens fähigen Wesen zur

Verwirklichung dieser Idee mit einer gewissen Nöthigung, wofür Unfreiheit ein allzumißverständlicher Ausdruck wäre, beitrügen.

Zu verbessern: S. „ „ „

„ „ „ „ „

27 Z. 14 v. u., statt: er, lies: es 46 „ 4 v. o., lies: ein, im gewohnten Sinne der Naturfor­ schung selbst, „exactes" 76 „ 14 „ „ st.: dem, L: den 88 „ 18 „ „ l.: trete, nämlich nicht etwadenMechanism,ls selbst, aber seinen Primat in der Welt­ anschauung bestreite, und zwar 92„ 11 v. u., L: zu einander und zu andern Wesen als 106„ 18 v. o, nach: des, l.: möglichen 112„ 17 „ „ st.: wie, l.: will 127„ 13 v. u., streiche: ob und 142 „ 20 v. o., st.: Erklärung, l.: Ableitung

Von demselben Verfasser: Lessing-Studien, Bern, 1861. Erziehung d. M. G. und Nathan — Theologische Bruchstücke — Religionssorschung — Christenthum — Philosophie — Willensfreiheit — Nationalität und Staat.

Aufsätze über Shakespeare, Bern, 1865, 2. Auflage 1874.

Zum 23. April 1864 — Othello — Hamlet — Zwei Komödien — Miscellen — Streitschrift gegen K. Werder — Shakespeare und

die Philosophie.

Philosophische Aufsätze, Leipzig, 1869.

Copernicus und die mo­ derne Weltanschauung — Utilitarianismus — Feindesliebe bei Platon — Lessingiana — Kantiana — Jeanne d'Arc.