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German Pages [235] Year 2022
Religion and Transformation in Contemporary European Society
Band 20
Herausgegeben von Kurt Appel, Christian Danz, Jakob Helmut Deibl, Rüdiger Lohlker, Richard Potz und Sieglinde Rosenberger
Die Bände dieser Reihe sind peer-reviewed.
Marlene Deibl / Katharina Mairinger (Hg.)
Eindeutig mehrdeutig Ambiguitäten im Spannungsfeld von Gesellschaft, Wissenschaft und Religion
Mit einer Abbildung
V&R unipress Vienna University Press
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. Veröffentlichungen der Vienna University Press erscheinen bei V&R unipress. © 2022 Brill | V&R unipress, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, Verlag Antike und V&R unipress. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: RaT-Logo (Gerfried Kabas, Wien). Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2198-5235 ISBN 978-3-7370-1405-2
Inhalt
Marlene Deibl / Katharina Mairinger Zum Desiderat theologischer Ambiguitätsforschung. Einleitung . . . . . .
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Rene Ziegler / Raphael Titt Ambiguitätstoleranz. Die Entwicklung des Konstrukts in der psychologischen Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Marlene Deibl Agambens ambige Tradition. Eine Perspektive auf Ambiguität nach der Postmoderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Michael N. Ebertz Relativismus oder Relationismus? Wissenssoziologische Anmerkungen im Blick auf das kirchliche Feld der Ambiguität . . . . . . . . . . . . . . . .
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Annette Langner-Pitschmann Ambiguität und Normativität. Ein vergleichender Blick in die Sprachzusammenhänge von Recht und Religion . . . . . . . . . . . . . .
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Franz Gmainer-Pranzl Ambiguität und Katholizität. Ein interkulturell-theologischer Blick auf Lumen gentium 13 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 Katharina Mairinger Eindeutig mehrdeutig. Plädoyer für eine ambiguitätstolerante Ethik
. . . 117
Hans-Joachim Sander Distinktionsgewinn durch Selbstrelativierung. Die fällige Kreuzkusinenheirat des Lehramtes mit seiner Relativität . . . . . . . . . . 143
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Inhalt
Gunda Werner Eine dogmatische Relektüre mariologischer Transformationen im 19. Jahrhundert in ihren Auswirkungen auf die gegenwärtigen Geschlechteranthropologien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 Sibylle Trawöger Ambiguitätstoleranz im Paradox. Annäherungen an Paradoxie und Komplementarität in der Didaktik der systematischen Theologie . . . . . 179 Frank Hinkelmann Religiöse Ambiguitätstoleranz im konfessionellen Spannungsfeld zwischen charismatisch geprägten neueren römisch-katholischen geistlichen Gemeinschaften, Freikirchen und Evangelikaler Bewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 Patrick Becker Abnehmende Ambiguitätstoleranz in der Religion? Zur Politisierung von Überzeugungen in der Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 Autor:innenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233
Marlene Deibl / Katharina Mairinger
Zum Desiderat theologischer Ambiguitätsforschung. Einleitung
Dieser Sammelband geht auf den interdisziplinären und interkonfessionellen online-Workshop zum Thema Ambiguität und Toleranz des Instituts für Systematische Theologie und Ethik der Katholisch-theologischen Fakultät der Universität Wien zurück, der am 10. und 11. Dezember 2020 unter der Leitung von Marlene Deibl (Theologische Grundlagenforschung) und Katharina Mairinger (Theologische Ethik) stattfand. Im Zentrum des Workshops stand die Frage nach Ambiguität und Ambiguitätstoleranz als Merkmal und Herausforderung für gesellschaftliche Differenzierungsprozesse. Die elf eingeladenen Gäste referierten bzw. respondierten zur Ambiguitätstoleranz in neueren römisch-katholischen Gemeinschaften, der Ambiguitätsreduktion von Geschlechterverhältnissen in Narrativen römisch-katholischer Lehramtsäußerungen, zum Distinktionsgewinn des religiösen Feldes durch die Verwerfung von Relativität, zur historischen Entwicklung von Toleranz und Ambiguität als Notwendigkeit und Gefahr offener Gesellschaften und zur Vermittlung der Christologie im Religionsunterricht mit Hilfe eines komplementären Denkens. Dabei waren unterschiedliche theologische Disziplinen sowie die Religions- und Bildungswissenschaft und die Rechtsgeschichte vertreten, ebenso wie Fachperspektiven aus der theologischen Publikationslandschaft. Die Methodik des Workshops folgte einem Speaker-Respondent-Schema, um die Diskussion zu den vorgelegten Papers möglichst anregend zu gestalten. Für die Publikation wurden schließlich sowohl die Vortragenden als auch Respondierenden um einen eigenen Beitrag gebeten, ohne jedoch das Schema des Workshops beizubehalten, da noch ergänzende Beiträge aus der theologischen Grundlagenforschung und der psychologischen Ambiguitätsforschung hinzugenommen wurden. Der vorliegende Band gibt also einen erweiterten Blick auf die Themen des Workshops. Für die Publikation dieses Bandes, der ein Peer Review Verfahren (singleblind) durchlaufen hat, haben wir einen großzügigen Druckkostenzuschuss von der Fakultät für Katholische Theologie der Universität Wien erhalten. Weiters hat das Forschungszentrum Religion and Transformation in Contemporary Society,
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ebenfalls an der Universität Wien, die Herausgabe dieses Bandes finanziell und durch persönliche Unterstützung ermöglicht. Wir danken beiden Institutionen. Zu einer vorläufigen Begriffsklärung und der Beschreibung des derzeitigen Forschungsstandes sollen folgende kurze Ausführungen dienen: Das auf das lateinische Wort ambiguitas zurückgehende Wort Ambiguität wird im Deutschen oftmals mit »Mehrdeutigkeit« oder auch »Doppeldeutigkeit« wiedergegeben. Im deutschsprachigen Kontext ist der Begriff bislang beinahe ausschließlich der Psychologie und der Linguistik vorbehalten, ganz im Unterschied etwa zum Englischen (ambiguity) oder Französischen (ambiguïté), wo der Begriff als Ausdruck der Alltagssprache gilt. In der linguistischen Forschung dient der Begriff zur Beschreibung einer mehrdeutigen Äußerung, die zu Unsicherheit und Interpretationsschwierigkeiten derselben führt. Die linguistische Analyse dient dabei meist der Auflösung von Ambiguität. Erst neuere Untersuchungen widmen sich auch der konstitutiven Bedeutung von Ambiguität in der Kommunikation.1 Die lösungsorientierte Herangehensweise ist mitunter einem anderen Bereich der Philologie geschuldet: Bereits in der klassischen Rhetorik gilt Ambiguität als zu lösendes Kommunikationsproblem, vor allem dort, wo sie strategisch eingesetzt wird, um Zeit zu gewinnen, Verbindlichkeiten zu entgehen oder durch Anspielungen oder Witzeleien den Ernst einer Argumentation zu durchbrechen. Dahinter steht der Anspruch, eine Rede müsse klar und eindeutig sein. In der neueren Literaturwissenschaft, vor allem in der Rezeptions- und Wirkungsästhetik, wird Ambiguität dagegen als Charakteristikum literarischer Texte schlechthin verstanden, welcher oftmals mit dem Begriff der Leerstelle ausgedrückt wird.2 Die Offenheit eines Textes für eine mehrfache Auslegung macht ihn erst literarisch. Hier kommt es zu einem positiven Bedeutungswandel des Begriffes, der die grundlegende Vielfalt interpretatorischer Möglichkeiten als Ressource betrachtet, nicht als etwas, das es zu vermeiden gilt. Die Psychologie beschreibt mit dem Begriff der Ambiguität dagegen »inkompatible Informationen bezüglich der (subjektiven) Korrektheit hinsichtlich eines Sachverhalts«3 und unterscheidet ihn damit von jenem der Ambivalenz bzw. »Doppelgerichtetheit«4, welcher im Gegensatz dazu das subjektiv inkompatible Erleben emotionaler und/oder kognitiver Reaktionen (z. B. Hassliebe) 1 Vgl. hierzu insbesondere folgende Beiträge: Matthias Bauer/Joachim Knape/Peter Koch/Susanne Winkler: Dimensionen der Ambiguität, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik, 158 (2010), S. 7–75.; Frauke Berndt/Klaus Sachs-Hombach: Dimensions of Constitutive Ambiguity, in: Ambiguity. Hrsg. v. Susanne Winkler, Berlin 2015. 2 Vgl. Matthias Bauer/Joachim Knape/Peter Koch/Susanne Winkler: Dimensionen der Ambiguität, S. 64–65. 3 René Ziegler: Ambiguität und Ambivalenz in der Psychologie. Begriffsverständnis und Begriffsverwendung, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik, 40/158 (2010), S. 125–167, S. 128. 4 René Ziegler: Ambiguität und Ambivalenz in der Psychologie, S. 125.
Zum Desiderat theologischer Ambiguitätsforschung. Einleitung
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beschreibt. Ambiguität führt also nicht automatisch zu Ambivalenz, beide Phänomene haben aber gemeinsam, dass es zu einer Uneindeutigkeit im Sachverhalt oder Gefühlsleben kommt, mit denen Menschen umgehen lernen müssen. Der damit in Zusammenhang stehende Terminus der Ambiguitäts(in)toleranz, der sich für die psychologische Forschung als besonders fruchtbar erwiesen hat, stammt aus dem Aufsatz Intolerance of Ambiguity as an Emotional and Perceptual Personality Variable5 der amerikanischen Psychologin Else FrenkelBrunswik von 1949. Darin untersucht sie die Abhängigkeiten zwischen sozialen und emotionalen Dichotomisierungs- und Distinktionsprozessen, welche sich bei Ambiguitätsintoleranz in einem Schwarz-Weiß-Denken ausdrücken.6 Je nach sozialer Position, Sozialisation und Erziehung werden die Fähigkeiten zur Ambiguitätstoleranz unterschiedlich ausgeprägt und bestimmen die alltägliche Weltbegegnung eines Individuums in Bezug auf seine Emotionen und Neigungen.7 Hinter der Vermeidung von Ambiguität steht also die Suche nach Eindeutigkeit, oder philosophisch gewendet, nach Wahrheit. Diese Suche wird jedoch dann problematisch, wenn sie die Eindeutigkeit gegenüber der Vieldeutigkeit, die Einheit gegenüber der Vielheit moralisch positiver bewertet. Besonders letzterer Aspekt bietet Anknüpfungspunkte für die theologische Forschung. Angesichts der primären Forschungsbereiche in der Psychologie und Philologie verwundert es nicht, dass der Ambiguitätsbegriff in der deutschsprachigen, aber auch sonstigen theologischen Forschung bisher noch kaum Verwendung gefunden hat, wenngleich religiöse Semantik und Pragmatik voll von Mehrdeutigkeiten sind. Auch anthropologische Untersuchungen fehlen weitgehend.8 So scheint der an der Universität Münster tätige Islamwissenschaftler und Arabist Thomas Bauer eine der wenigen Personen zu sein, die das Thema Ambiguitätstoleranz als zentrales Forschungsthema für religionswissenschaftliche bzw. theologische Auseinandersetzungen aufgreifen. Eine neuere theologische Positionierung findet sich im Beitrag von Annette Langner Pitschmann im vorliegenden Band. Seit den 1990ern untersucht Thomas Bauer Ambiguitätstoleranz in mehrdeutigen Schriften von Gelehrten der islamischen Frühzeit.9 Während sich das 5 Else Frenkel-Brunswik: Intolerance of Ambiguity as an Emotional and Perceptual Personality Variable, in: Journal of personality, 18/1 (1949), S. 108–143. 6 Vgl. Else Frenkel-Brunswik: Intolerance of Ambiguity as an Emotional and Perceptual Personality Variable, S. 119–120. 7 Vgl. Else Frenkel-Brunswik: Intolerance of Ambiguity as an Emotional and Perceptual Personality Variable, S. 141. 8 Vgl. Frauke Berndt/Klaus Sachs-Hombach: Dimensions of Constitutive Ambiguity, S. 272. 9 Vgl. Wolfgang Streitbörger: Ambiguitätstoleranz. Lernen, mit Mehrdeutigkeit zu leben 30. 12. 2019, URL: https://www.deutschlandfunkkultur.de/ambiguitaetstoleranz-lernen-mit-mehrde utigkeit-zu-leben.976.de.html?dram:article_id=466828 abgerufen am 25. Mai 2021.
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Werk Die Kultur der Ambiguität. Eine andere Geschichte des Islams10 (erstveröffentlicht 2011) auf die schwindende Ambiguitätstoleranz muslimischer Glaubensgemeinschaften im Zuge der Konfrontation mit dem Westen beschäftigt, versammelt sein 2018 erschienenes Werk Die Vereindeutigung der Welt11 zahlreiche weitere Beobachtungen wo es zu einer Verringerung von Vielfalt kommt: »Unabhängig davon also, wohin wir schauen, ob in die Natur oder zu den Menschen und ihrer Kultur: Überall ist eine Tendenz zu einem Weniger an Vielfalt, einem Rückgang an Mannigfaltigkeit zu beobachten. Man kann damit eine ganze Reihe von (größtenteils zusammenhängenden) Ursachen benennen wie die Verstädterung, die größere Mobilität, die Globalisierung überhaupt, die Belastung durch Verkehr, die industrialisierte Landwirtschaft, den Klimawandel, die Monopole der großen Lebensmittelkonzerne wie generell die kapitalistische Wirtschaftsweise.«12
Bauers Annahme nach ist Ambiguitätstoleranz Voraussetzung für das Wachsen und Bestehen einer Religion und dies aus zwei Gründen: 1., weil die wie auch immer gedachte Transzendenz die Einsicht fordert, dass alles über das Immanent-Hinausgehende nur vorläufig begriffen werden kann und 2., weil Religion vor allem ein deutungsoffenes Kommunikationsgeschehen zwischen Menschen untereinander und Menschen mit ihrem Gott ist.13 Wenn Ambiguitätstoleranz daher schwindet, so Bauer, »dann verliert die Religion ihre Mitte, also den durch Zweifel domestizierten Glauben an etwas Transzendentes im Bewusstsein, dass Glauben kein sicheres Wissen vermittelt«14. Die Folge davon seien die Leugnung der oder die Gleichgültigkeit gegenüber Ambiguität, was zu Fundamentalismus und zur Politisierung von Religion führe.15 Inwiefern sich diese Thesen halten lassen und welche weiteren Konsequenzen aus den linguistischen und psychologischen Konzepten zu Ambiguität und Ambiguitäts(in)toleranz zu ziehen sind, möchte dieser Sammelband anhand ausgewählter Beiträge beantworten. Vorausgeschickt wird dabei der Artikel von René Ziegler und Raphael Titt, die sich aus der Sicht der psychologischen Forschung dem Themenbereit der Ambiguität und der für sie erforderlichen Toleranz annähern und dabei maßgeblich von den Arbeiten Frenkel-Brunswiks ausgehen. Die weitere psychologische Forschung betreffend arbeiten sie dann heraus, dass es bei der Toleranz oder Intoleranz von Ambiguität für die Forschungsentwicklung der letzten Jahrzehnte auch um einen affektiven gefärbten Wert geht, der also neben den wahrneh10 Thomas Bauer: Die Kultur der Ambiguität. Eine andere Geschichte des Islams, Berlin 6. Aufl. 2019. 11 Thomas Bauer: Die Vereindeutigung der Welt. Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt, Stuttgart 3. Aufl. 2018. 12 Thomas Bauer: Die Vereindeutigung der Welt, S. 11–12. 13 Thomas Bauer: Die Vereindeutigung der Welt, S. 35. 14 Thomas Bauer: Die Vereindeutigung der Welt, S. 37–38. 15 Vgl. Thomas Bauer: Die Vereindeutigung der Welt, S. 38.
Zum Desiderat theologischer Ambiguitätsforschung. Einleitung
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mungsbezogenen und kognitiven Faktoren besonders berücksichtigt werden muss. Sie gehen unterschiedliche psychologische Messverfahren durch und erarbeiten verschiedene Positionen zur Einordung der Ambiguitäts(in)toleranz hinsichtlich der Persönlichkeit der betreffenden beforschten Personen oder Personengruppen. Neben einem gewissen caveat bezüglich des Interesses der psychologischen Forschungsgemeinschaft an Ambiguitätstoleranz schließen sie allerdings mit einem Appell, weitere Forschungen mit unterschiedlichen Methodologien anzuschließen. Der Beitrag von Marlene Deibl widmet sich vor dem Hintergrund eines postmodernen Denkansatzes der Frage, wie mit dem Philosophen Giorgio Agamben Tradition als Ort produktiver Mehrdeutigkeit theologisch, im engeren Sinne fundamentaltheologisch, gedeutet werden kann. Mehrdeutigkeit im Sinne einer stets präsenten Möglichkeit der sprachlich vermittelten Tradition, neu zu werden und einen neuen Gebrauch des Tradierten selbst zu eröffnen, steht dabei im Mittelpunkt. Ambiguität wird dabei zum produktiven Movens des Theologischen, das ganz besonders als eine deutungsoffene, aber fokussierte Weise des Lesens bestimmt ist. Die wissenssoziologischen Ausführungen von Michael Ebertz umreißen nach diesen eher formalen Grundlagen die Frage, wie die Gestalt der Kirche vor dem Hintergrund eines Denkens der Ambiguität gefasst werden kann. Ebertz zeichnet zu diesem Zweck ein Bild des spezifisch katholischen Denkstils, der sich in den letzten beiden Jahrhunderten in seinen heute sichtbaren Formen entwickelte. Im Zentrum der Überlegungen steht hier der oft polemisch gebrauchte Begriff des Relativismus und die unterschiedlichen Haltungen katholischer Theolog:innen dazu. Vor dem Hintergrund der wissenssoziologischen Theorie Karl Mannheims lädt Ebertz dazu ein, zu einer wechselseitigen ambiguitätstoleranten Wirksamkeit zu finden, die aufgeladene innerkirchliche Debatten zu entschärfen und produktiver zu machen beitragen könnte. Er plädiert vor diesem Hintergrund für eine relationale Haltung, welche die konstruktives kirchliches Handeln ermöglichen würde. Annette Langner-Pitschmann nimmt in ihrem Beitrag das Themenfeld kirchlicher Sprach- und Normengefüge in den Blick. Ausgehend von der Feststellung, dass die weitgehend positive Einschätzung der Ambiguität in ästhetischen Zusammenhängen der Frage gegenübersteht, wie Ambiguität in normativen Gefügen zu bewältigen sei, sodass sie Verbindlichkeit erlaubt, entfaltet Langner-Pitschmann eine praktische Semantik des Ambigen, die insbesondere für die theologische Dogmatik entwickelt werden kann. Aus Zusammenhängen der pragmatischen Philosophietradition und der Rechtslinguistik erarbeitet sie eine durchaus normativ fassbare Möglichkeit, die Sinnvariabilität theologischer Themen weniger als Bedrohung, denn als produktives Potential religiöser Handlungsgefüge zu deuten.
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Franz Gmainer-Pranzl nimmt diesen Faden in seinem Beitrag am Beispiel einer interkulturell sensiblen Lektüre von Lumen Gentium 13 auf. Dabei hebt er ambiguitätssensible Potentiale der katholischen Missionsgeschichte hervor, um aus diesen praktischen Handlungsfeldern mögliche Rückwirkungen auf theologische Fragefelder zu formulieren. Katholizität erscheint dabei als strukturell mit Ambiguitäten und Ambiguitätstoleranz befasstes Spezifikum kirchlicher Handlungs- und Reflexionsprozesse. Davon ausgehend untersucht der Autor die ekklesiologische Dimensionierung dessen in einer Lektüre von Lumen Gentium 13, vor der Ambiguität als leitendes Moment der Katholizität gefasst werden kann. Katharina Mairinger perspektiviert die Frage aus der theologischen Ethik kommend. Ausgehend zunächst von linguistischen Erwägungen untersucht sie die durch den linguistic turn entstehenden Einflüsse sprachtheoretischer Positionen auf ethisches Nachdenken und die dadurch veränderte philosophische Bezugnahme auf Ambiguität. Angeregt durch die poststrukturalistischen Dilemmata ethischer Theoriebildung im Anschluss an Simone de Beauvoir und Judith Butler plädiert sie für eine ambiguitätstolerante Ethik, die jene Potentiale menschlicher Sprache und Handlungsfähigkeit auslotetet, die für einen produktiven und aktiven Umgang mit Ambiguität grundlegend sind und die gelingendes Zusammenleben innerhalb und außerhalb der Kirche in immer neuen ethischen Aushandlungsprozessen verbindlich ermöglichen. Hans-Joachim Sander geht in seinem Beitrag auf die Möglichkeit der Selbstrelativierung als eine zu reflektierende Strategie des katholischen Lehramts ein, mit Ambiguitäten strategisch so zu verfahren, dass die durch die Selbstrelativierung entstehenden Deutungsoptionen prospektiv als Investitionen in Veränderungsprozesse rekonstruiert werden. Zu diesem Behuf zeichnet er Kulturtechniken der Selbstrelativierung nach, die hier wirksam gemacht werden könnten. Vor einem soziologischen und ökonomischen Begriffshorizont zeigt der Autor auch auf, wo solche Prozesse schon in Gang gekommen sind. Gunda Werner macht aufmerksam für die historischen Tiefendimensionen derzeitiger dogmatischer Konfliktfelder, indem sie die mariologischen Transformationen des 19. Jahrhunderts und des dort zu verortenden Umgangs mit einer Feminisierung des Religiösen einer kritischen Lektüre unterzieht. Die Autorin zeigt dabei auf, wie die Ambiguität des Marienbildes im 19. Jahrhundert und die heutigen, eindeutig binären Geschlechterkonstruktionen des katholischen Lehramtes genealogisch verbunden und konzeptuell getrennt sind. Die binäre Geschlechtskonstruktion erweist sich dabei als bewusst von wissenschaftlichen Deutungsformen abgegrenzte und positionierte Strategie der differenzhermeneutisch begründeten Ambiguitätsintoleranz. Sibylle Trawöger plädiert für eine wissenstheoretische Lektüre des Themenkomplexes der Ambiguität in Bezug auf eine systematisch-theologische Aufar-
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beitung ihrer eigenen Didaktik. Dafür bringt sie den Begriff des Paradoxen ins Spiel, das die Ordnungen des Sprechens immer wieder produktiv zu durchkreuzen in der Lage ist. Die Autorin möchte dadurch vor allem den Blick für die Grenzen des Sprechens und des Sagbaren schärfen. Damit geht auch eine Sensibilisierung für den in der Didaktik immer wieder zu erläuternden und systematisch grundlegenden Zusammenhang von Spiritualität, Mystik und wissenschaftlicher Theologie einher. Dieser kann, wie aufgewiesen wird, für eine ambiguitätssensible Lektüre dogmatischer Grundlagenreflexion fruchtbar gemacht werden. Frank Hinkelmann bringt ein Beispiel für die Ambiguität verschiedener religiöser Gemeinschaften in einer religionssoziologischen Perspektive ein. Er stellt konkrete Fallstudien verschiedener neuerer römisch-katholischer, charismatischer und evangelikaler Gruppen im deutschsprachigen Raum vor und befragt diese hin auf die zunehmende Ambiguität konfessioneller Bindungen, die an diesen Orten zu beobachten ist. Er kommt schließlich zu einer differenzierten Analyse der durchaus großen inneren Ambiguitätstoleranz dieser Bewegungen, die dennoch mit einer eher ambiguitätsintoleranten Außenhaltung koexistiert. Patrick Becker erarbeitet zum Abschluss des Bandes eine Position hinsichtlich der gesamtgesellschaftlichen Relevanz der Frage nach Ambiguitätstoleranz in den Religionen. Er untersucht die in der Moderne entstehende Tendenz zur Politisierung religiöser Überzeugungen als Grundlage der Diskussionen um Ambiguitäts(in)toleranz. Davon ausgehend erarbeitet er eine Analyse religiöser Fundamentalismen und lotet die Möglichkeiten aus, mit Ambiguitätstoleranz einen Anker gegen religiöse Fundamentalismen verschiedener Art zu setzen. Wir als Herausgeberinnen hoffen, mit dieser Zusammenstellung sozialwissenschaftlich und psychologisch sowie linguistisch und historisch fundierter Beiträge Impulse insbesondere für die systematischen und ethischen Fächer der Theologie geben zu können. Darüber hinaus ist das Themenfeld der Ambiguität und der mit ihr verbundenen Strategien und Theorien auch für einen breiteren gesellschaftlichen Diskurs hoch relevant. Unserer Auffassung nach zeigen die hier versammelten Beitrag, dass gerade die Frage nach dem, was »eindeutig mehrdeutig« ist, zu einem konstruktiven und gesellschaftlich wirksamen Handeln beitragen können. Und es ist gerade das Gebiet der Theologie, wo sich die Frage nach der Mehrdeutigkeit immer wieder neu theoretisieren und beispielhaft behandeln lässt. So ist auch die unmittelbare Relevanz theologischer Reflexion für gesellschaftliche Prozesse unterstrichen. Theologische Debatten sind so als ganz selbstverständlich nicht nur am Puls der Zeit befindlich zu verstehen, sondern als Beitrag zur Diskussion in der Öffentlichkeit und der Auslotung normativer, sozialer, ästhetischer Fragestellungen in der Gegenwart.
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Marlene Deibl / Katharina Mairinger
Literatur Matthias Bauer/Joachim Knape/Peter Koch/Susanne Winkler: Dimensionen der Ambiguität, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik, 158 (2010), S. 7–75. Thomas Bauer: Die Vereindeutigung der Welt. Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt, Stuttgart 3. Aufl. 2018. Thomas Bauer: Die Kultur der Ambiguität. Eine andere Geschichte des Islams, Berlin 6. Aufl. 2019. Frauke Berndt/Klaus Sachs-Hombach: Dimensions of Constitutive Ambiguity, in: Ambiguity. Hrsg. v. Susanne Winkler, Berlin 2015. Else Frenkel-Brunswik: Intolerance of Ambiguity as an Emotional and Perceptual Personality Variable, in: Journal of personality, 18/1 (1949), S. 108–143. Wolfgang Streitbörger: Ambiguitätstoleranz. Lernen, mit Mehrdeutigkeit zu leben 30. 12. 2019, URL: https://www.deutschlandfunkkultur.de/ambiguitaetstoleranz-lernen-mitmehrdeutigkeit-zu-leben.976.de.html?dram:article_id=466828 abgerufen am 25. Mai 2021. René Ziegler: Ambiguität und Ambivalenz in der Psychologie. Begriffsverständnis und Begriffsverwendung, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik, 40/158 (2010), S. 125–167.
Rene Ziegler / Raphael Titt
Ambiguitätstoleranz. Die Entwicklung des Konstrukts in der psychologischen Forschung
Sucht man im Duden oder dem digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache nach dem Begriff der Ambiguitätstoleranz, wird man verwundert feststellen, dass kein Eintrag dazu vorliegt. Dass es in einem psychologischen Lexikon einen Eintrag zu diesem Begriff gibt, ist dem entgegen wenig überraschend, liegen die Wurzeln des Konzepts der Ambiguitätstoleranz doch in der Psychologie, in der es bis heute Gegenstand der Forschung ist. Wie eine Suche mit den Suchbegriffen Ambiguity sowie Tolerance oder Intolerance in der psychologischen Datenbank PsycInfo zeigt, datiert der erste Eintrag auf ein Buch von Kenneth Burke aus dem Jahr 1945 mit dem Titel A Grammar of Motives1. Seither sind (Stand Mai 2021), über 1700 Arbeiten hinzugekommen, davon mehr als 60 im Jahr 2020. Im Folgenden wenden wir uns zunächst den Arbeiten der Psychologin und Psychoanalytikerin Else Frenkel-Brunswik zu, die das Konzept der Ambiguitätsintoleranz in die Psychologie eingeführt hat. Daran anschließend befassen wir uns mit Weiterentwicklungen hinsichtlich der Konzeptualisierung und Messung von Ambiguitätstoleranz. Während Frenkel-Brunswik2 auf Intoleranz fokussierte und sich dieser Begriff entsprechend auch im Titel ihrer Arbeit findet, hat sich der begriffliche Fokus im Laufe der Jahrzehnte hin zu Ambiguitätstoleranz verschoben. Dies zeigt sich auch bei der Datenbanksuche (Ambiguity & Tolerance: mehr als 1100 Arbeiten; Ambiguity & Intolerance: 190 Arbeiten).
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Die bahnbrechenden Arbeiten von Else Frenkel-Brunswik
Else Frenkel-Brunswik studierte zunächst in Wien Psychologie und ließ sich dort auch zur Psychoanalytikerin ausbilden. Nach ihrer Promotion in Psychologie arbeitete sie dann am Psychologischen Institut der Universität Wien, bis sie 1 Vgl. Kenneth Burke: A grammar of motives, Berkeley, Calif. [Nachdr. v. 1945] 2009. 2 Vgl. Else Frenkel-Brunswik: Intolerance of ambiguity as an emotional perceptual personality variable, in: Journal of personality, 18/1 (1949), S. 108–143.
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aufgrund des Anschlusses Österreichs an das nationalsozialistische Deutsche Reich 1938 in die USA emigrierte und von 1939 an am Institute of Child Welfare, Department of Psychology der University of California (Berkeley) arbeitete. In ihren Schriften findet sich das Konzept der Ambiguitätsintoleranz zunächst nur eher nebenbei erwähnt in zwei Publikationen zu Vorurteilen bei Kindern3 und dem Thematischen Apperzeptionstest4, in letzterer bereits als Persönlichkeitsdimension, die ihren Ausführungen nach auch als Rigidität bezeichnet werden kann. Im Mittelpunkt steht die Ambiguitätsintoleranz erstmals in ihrem in der Zeitschrift American Psychologist abgedruckten Abstract zur Convention der American Psychological Association5, dem ihre Hauptarbeit6 zur Ambiguitätsintoleranz nachfolgte. Darin behandelte sie das Konzept als ein Persönlichkeitsmerkmal, das sich auf emotionale und wahrnehmungsbezogene Aspekte bezieht. Bei der Analyse von Daten von 120 Schulkindern mit sehr hohen oder niedrigen ethnischen Vorurteilswerten ermittelte sie, dass sich einige Kinder in Interviews über ihre Eltern im direkten Bericht nur auf positive Aspekte bezogen, obwohl indirekte Messungen mittels projektiven Tests Hinweise darauf lieferten, dass sie sehr wohl auch negative Assoziationen zu ihren Eltern hatten. Andere Kinder erkannten und berichteten sowohl positive als auch negative Aspekte ihrer Eltern. Frenkel-Brunswik argumentierte, dass Ambiguitätstoleranz den Befund erklärt, dass einige die Fähigkeit haben, diese »coexistence of positive and negative features in the same object, e g, in parents«7 zu erkennen und zu berichten. In diesem Sinne sollte Ambiguitätstoleranz das Ausmaß des Bewusstseins für Ambivalenz, also das Vorhandensein gegensätzlicher (positiver und negativer) Bewertungen8, bestimmen. Sie untersuchte, ob Ambiguitätsintoleranz nur im affektiven Bereich zu finden ist (d. h. als emotionale Ambivalenz), oder ob sie sich auch auf die Wahrnehmung und weitere kognitive Aspekte bezieht und berichtete von Experimenten, die sich mit Wahrnehmungsphänomenen und Gedächtnisverzerrungen befassten. Dabei kam sie zu dem Schluss, dass die vorurteilsbehafteten Kinder eine Tendenz zeigten, auch in diesen eher kognitiven 3 Vgl. Else Frenkel-Brunswik: A Study of Prejudice in Children, in: Human Relations, 1/3 (1948), S. 295–306. 4 Vgl. Else Frenkel-Brunswik: Dynamic and Cognitive Categorization of Qualitative Material. I. General Problems and the Thematic Apperception Test, in: The Journal of Psychology, 25/2 (1948), S. 253–260. 5 Vgl. Else Frenkel-Brunswik: Tolerance toward ambiguity as a personality variable, in: American Psychologist, 3 (1948), S. 268. 6 Vgl. Else Frenkel-Brunswik: Intolerance of ambiguity as an emotional perceptual personality variable. 7 Else Frenkel-Brunswik: Intolerance of ambiguity as an emotional perceptual personality variable, S. 115. 8 Vgl. Klaus Jonas/René Ziegler: Attitudinal ambivalence, in: The scope of social psychology: Theory and applications. Hrsg. v. Miles Hewstone/Henk A. W. Schut/John B. F. de Wit/Kees van den Bos/Margaret S. Stroebe, New York, NY 2007, S. 29–42.
Ambiguitätstoleranz
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Aufgaben Mehrdeutigkeit zu reduzieren. Frenkel-Brunswik konzeptualisierte Ambiguitätsintoleranz als Kontinuum von hoher Toleranz gegenüber Ambiguität, was eine hohe Fähigkeit, solche Koexistenzen anzuerkennen, bedeutet, bis zu hoher Intoleranz gegenüber Ambiguität, die charakterisiert sei durch eine Tendenz »to resort to black-white solutions, to arrive at premature closure as to valuative aspects, often at the neglect of reality, and to seek for unqualified and unambiguous over-all acceptance and rejection of other people«9. Insgesamt beschäftigte sich Frenkel-Brunswik somit mit der Frage, ob Ambiguitätsintoleranz ein formales, nicht an spezifische Inhalte gebundenes Charakteristikum von Menschen sei. Bezüglich dieser Inhaltsunabhängigkeit berichtete sie zum einen von Befunden eines Gedächtnisexperiments zu der Frage, ob die Erinnerung an eine Geschichte über Schüler:innen, die bewusst etwas verwirrend gehalten war, bei vorurteilsbehafteten Kindern mehr Verzerrungen und eine stärkere Elimination von Ambiguitäten offenbarte als bei weniger vorurteilsbehafteten Kindern. In Bezug auf die angenommene Generalisierung der Eigenschaft der Ambiguitätsintoleranz ging sie zum anderen auf Befunde von Wahrnehmungsexperimenten ein, die von emotionalen und sozialen Inhalten befreit sind, da solche Experimente dann als diagnostisches Werkzeug eingesetzt werden könnten. Beispielsweise berichtete sie davon, inwieweit vorurteilsbehaftete Personen bei Kippfiguren (Figur-Grund-Wahrnehmung) weniger Wahrnehmungswechsel zeigen, was eine Antwort auf die Frage liefern würde, ob »subjects who exhibit rigidity in the emotional and social field are generally less likely to shift back and forth between alternative interpretations of an ambiguous perceptual configuration«10. Zusammengefasst fußten Frenkel-Brunswiks Arbeiten zur Ambiguitätsintoleranz somit auf dem von Bleuler11 in die Psychologie und Psychiatrie eingeführten Konzept der Ambivalenz, das von Freud12 in seine psychoanalytische Theorie übernommenen wurde, insbesondere mit Blick auf Inkonsistenzen zwischen Emotionen wie beispielsweise Liebe und Hass.13 Von dieser emotionalen Ambivalenz ausgehend verallgemeinerte sie zunächst hin zu kognitiven Inkonsistenzen (positive und negative Aspekte) und erweiterte die Betrachtung 9 Else Frenkel-Brunswik: Intolerance of ambiguity as an emotional perceptual personality variable, S. 115. 10 Else Frenkel-Brunswik: Intolerance of ambiguity as an emotional perceptual personality variable, S. 127. 11 Vgl. Eugen Bleuler: Die Ambivalenz, in: Festgabe zur Einweihung der Neubauten der Universität Zürich 18. IV. 1914 (1914), S. 95–106. 12 Vgl. S. Freud: Zur Dynamik der Übertragung, in: Gesammelte Werke chronologisch geordnet, London 1912/1943, S. 364–374. 13 Vgl. René Ziegler: Ambiguität und Ambivalenz in der Psychologie. Begriffsverständnis und Begriffsverwendung, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik, 158 (2010), S. 125–171.
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sodann auf die inhaltsfreie kognitiv-perzeptuelle Ebene. Seit den Arbeiten von Frenkel-Brunswik zur Ambiguitätsintoleranz, insbesondere seit ihren Beiträgen zum Status der Ambiguitätsintoleranz in Relation zu anderen Persönlichkeitskonstrukten, sowie der Integration des Konzepts in die kognitive Architektur des autoritären Charakters14, hat das Konzept großes Interesse in verschiedenen Bereichen der Psychologie und der Ökonomie geweckt15. Zur Untersuchung der Annahme, dass es sich bei der Ambiguitätsintoleranz um ein allgemeines, breites Persönlichkeitscharakteristikum handelt, führten Kenny und Ginsberg16 eine Studie mit einer Reihe unterschiedlicher Aufgaben durch, auf Basis derer 10 verschiedene Indikatoren der Ambiguitätsintoleranz ermittelt wurden. Darunter waren perzeptuelle Tests, die die Häufigkeit von Wahrnehmungswechseln bei Kippfiguren wie dem Necker-Würfel und die Diskrepanz in den Bewegungsurteilen zum autokinetischen Phänomen17 ermittelten. Ebenso enthalten war ein Test zur Koexistenz positiver und negativer Merkmale im gleichen Objekt, bei dem die Anzahl evaluativ inkonsistenter Paare zweier Charakterzüge ermittelt wurde, deren gemeinsames Vorliegen bei einer Person von den Probandinnen als unwahrscheinlich gewählt wurde (z. B. gehorsam-gemächlich vs. gehorsam-sparsam). Ein weiterer Test umfasste eine bewusst vage Aufgabeninstruktion, bei dem die Anzahl der Rückfragen der Probandinnen an die Versuchsleiterin erfasst wurde. Den Annahmen FrenkelBrunswiks folgend, sollten sich substantielle Zusammenhänge zwischen den verschiedenen Indikatoren zeigen. So sollte bspw. eine höhere Anzahl an Rückfragen mit einer geringeren Häufigkeit von Wahrnehmungswechseln einhergehen, da sowohl viele Rückfragen als auch wenige Wahrnehmungswechsel Ausdruck von Ambiguitätsintoleranz sein sollten. Entgegen der Annahme eines zugrunde liegenden unitären Konstrukts erwiesen sich lediglich 6 von insgesamt 55 berechneten Korrelationen als substantiell, wobei zwei entgegengesetzt zur Hypothese waren. Von den verbleibenden vier Korrelationen können zudem drei darauf zurückgeführt werden, dass die beiden jeweils betrachteten Indikatoren anhand der gleichen Aufgabe ermittelt wurden und daher per se miteinander in Verbindung standen (z. B. wurde die Häufigkeit von Wahrnehmungswechseln unter drei Bedingungen mit leicht unterschiedlichen Aufgabeninstruktionen ermittelt). Somit war lediglich der Zusammenhang zwischen der Häufigkeit von Wahrnehmungswechseln und der Höhe der Diskrepanz in den Bewegungsur14 Vgl. Theodor W. Adorno/Else Frenkel-Brunswik/David J. Levinson/Robert N. Sanford: The Authoritarian personality, New York 1950. 15 Für einen Überblick vgl. Adrian Furnham/Joseph Marks: Tolerance of Ambiguity. A Review of the Recent Literature, in: Psychology, 4/9 (2013), S. 12. 16 Vgl. Douglas T. Kenny/Rose Ginsberg: The specificity of intolerance of ambiguity measures, in: The Journal of Abnormal and Social Psychology, 56/3 (1958), S. 300–304. 17 Vgl. Muzafer Sherif: The psychology of social norms, New York 1936.
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teilen beim autokinetischen Phänomen hypothesenkonform, da seltenere Wahrnehmungswechsel mit einer geringeren Diskrepanz einhergingen. Wie Bochner18 allerdings dargelegt hat, müssen die verwendeten Testaufgaben in dieser und anderen Studien aus psychometrischen und logischen Gründen kritisch betrachtet werden. Hierzu stellte er zunächst neun grundlegende definierende Charakteristika dar, die die Implikationen der Annahmen von FrenkelBrunswik zur Ambiguitätsintoleranz abbilden. Demnach ist Ambiguitätsintoleranz charakterisiert durch eine (a) rigide Dichotomisierung in starre Kategorien (Bedürfnis nach Kategorisierung), (b) Suche und das Bedürfnis nach Gewissheit, (c) Unfähigkeit, die Koexistenz von positiven und negativen Merkmalen im selben Objekt in Betracht zu ziehen, z. B. gute und schlechte Eigenschaften in derselben Person, (d) Akzeptanz von Aussagen, die eine rigide Schwarz-WeißSicht auf das Leben repräsentieren, (e) Präferenz für das Vertraute gegenüber dem Unvertrauten, (f) Zurückweisung des Andersartigen oder Ungewöhnlichen, (g) Resistenz gegen die Umkehrung scheinbar fluktuierender Stimuli, (h) frühe Auswahl und Beibehaltung einer Lösung in einer perzeptuell ambigen Situation, und (i) vorschnelle Geschlossenheit. Wie Bochner ausführte, müsste für jede Testaufgabe vorab sichergestellt werden, dass verschiedene definierende Charakteristika der Ambiguitätsintoleranz nicht zu widersprüchlichen oder entgegengesetzten Vorhersagen bzgl. der Testaufgabe führen. Er legte aber dar, dass genau dies in den existierenden Studien zumindest bei einigen Testaufgaben der Fall war. Nach Frenkel-Brunswik neigen ambiguitätsintolerante Personen auch dazu, »to subscribe to statements included in a personality inventory and expressly designed to reveal a dichotomizing attitude, a rejection of the different, or an avoidance of ambiguities in general«19. Entsprechend setzten Kenny und Ginsberg in ihrer Studie auch die wohl erste Skala zur Messung von Ambiguitätsintoleranz via Selbstbericht ein, die unveröffentlichte Walk A-Skala20. Sie umfasste 8 Aussagen, zu denen die befragten Personen auf einer siebenstufigen Antwortskala jeweils das Ausmaß ihrer Zustimmung bekunden sollten. Diese Aussagen hoben auf recht unterschiedliche Dinge ab. Sie thematisierten emotionale Ambivalenz21, die Bewertung von klaren Vorgaben und Vorgehensweisen22, von Gewohnheiten im eigenen Leben23 und von festen Meinungen24. 18 Vgl. Stephen Bochner: Defining Intolerance of Ambiguity, in: Psychological Record, 15 (1965), S. 393–400. 19 Else Frenkel-Brunswik: Intolerance of ambiguity as an emotional perceptual personality variable, S. 123. 20 Vgl. R. D. Walk: Perception and personality. A pretest 1950; Patricia O’Connor: Ethnocentrism, ›intolerance of ambiguity,‹ and abstract reasoning ability, in: The Journal of Abnormal and Social Psychology, 47/2, Suppl (1952), S. 526–530. 21 »Nobody can have feelings of love and hate toward the same person.«
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Auf Basis der Antworten zu den 8 Aussagen bildeten Kenny und Ginsberg einen Summenwert, sodass höhere Werte für höhere Ambiguitätsintoleranz stehen sollten (dazu wurden die Antworten zu Aussagen, bei denen hohe Zustimmung für geringe Intoleranz sprechen sollte, zuvor rekodiert, z. B. im Falle von »There is more than one right way to do anything.«). Allerdings korrelierte auch dieser Summenwert lediglich mit einem der 10 erfassten Indikatoren von Ambiguitätsintoleranz. Je höher der Summenwert war, desto mehr Rückfragen zur Klärung der vagen Aufgabeninstruktion hatten die Probandinnen gestellt. Insgesamt interpretierten Kenny und Ginsberg ihre Ergebnisse dahingehend, dass es keinen Beleg für eine generelle Ambiguitätsintoleranz gibt, wonach eine Person, die in einer Situation intolerant ist, in allen mehrdeutigen Situationen intolerant sein wird.25 Die verwendete Walk A-Skala zur Messung der Ambiguitätsintoleranz via Selbstbericht hat sich allerdings als hochgradig unreliabel26 herausgestellt27. Das bedeutet, dass sprichwörtlich Äpfel und Birnen zusammengezählt wurden, was vor dem Hintergrund der ganz unterschiedliche Phänomenbereiche umfassenden Annahmen von Frenkel-Brunswik allerdings nicht verwundern sollte.
2
Weiterentwicklungen von Definition und Messverfahren
Vor dem Hintergrund solcher eher ernüchternder Befunde zur Ambiguitätsintoleranz als einem breiten Persönlichkeitscharakteristikum und zur Erfassung via Selbstbericht mittels der Walk A-Skala kreist die psychologische Forschung seit Jahrzehnten um drei miteinander zusammenhängende Fragen. (1) Zunächst 22 »The best leaders give specific enough instructions so that those under them have nothing to worry about.«, »It is always better to have a definite course of action than to be vacillating among several possibilities.«, »There is more than one right way to do anything.«, »It is better to keep on with the present method of doing things than to take a way that might lead to chaos.« 23 »A smart person gets his life into a routine so that he is not always being bothered by petty details.«, »It is better to take a chance on being a failure than to let your life get into a rut.« 24 »A man can be well informed even if there are many subjects upon which he does not have a definite opinion.« 25 Vgl. Douglas T. Kenny/Rose Ginsberg: The specificity of intolerance of ambiguity measures, S. 304. 26 Reliabilität, als ein Gütekriterium empirischer Untersuchungen, bezieht sich darauf, ob ein Messinstrument das, was es misst, zuverlässig misst. Was ein Instrument misst, und ob es das misst, was es messen soll, ist hingegen eine Frage nach einem weiteren Gütekriterium, der Konstruktvalidität. Bei Selbstberichtskalen wird bezüglich der Reliabilität häufig die interne Konsistenz ermittelt, die umso höher ausfällt, je stärker die in der Skala enthaltenen Items miteinander zusammenhängen. 27 Vgl. Danuta Ehrlich: »Intolerance of Ambiguity,« Walk’s a Scale. Historical Comment, in: Psychological reports, 17/2 (1965), S. 591–594 abgerufen am 08. November 2019.
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stellt sich die Definitionsfrage, also die Frage danach, was unter Ambiguitätsintoleranz bzw. Ambiguitätstoleranz zu verstehen ist. Damit verknüpft sind die Fragen (2) der Konstruktvalidität und (3) der Reliabilität der unterschiedlichen Selbstberichtskalen, die zur Erfassung der Ambiguitätstoleranz im Lauf der Jahre entwickelt wurden.
2.1
Definition von Ambiguitätstoleranz
Einer der ersten Versuche, Ambiguitätstoleranz zu definieren, stammt von English und English. Sie definierten Ambiguitätstoleranz als »willingness to accept a state of affairs capable of alternate interpretations, or of alternate outcomes: e. g., feeling comfortable (or at least not feeling uncomfortable) when faced by a complex social issue in which opposed principles are intermingled«28. Geringe Ambiguitätstoleranz zeigt sich »by the desire to have everything reduced to black and white«29. Anders als Frenkel-Brunswik konzentrierten sie sich somit auf die emotionale Reaktion auf Ambiguität. Dies ist seither ein wichtiger Bestandteil von Definitionen der Ambiguitätstoleranz geblieben. Außerdem war es für die weitere Entwicklung sinnvoll, das Konzept der Ambiguitätstoleranz zu schärfen, wie zum Beispiel in Bezug auf die von FrenkelBrunswik30 wiederholt vorgenommene weitgehende Gleichsetzung von Ambiguitätsintoleranz mit Rigidität. Nach MacDonald31 sind die beiden Konzepte, wenn auch verwandt, so doch theoretisch und auch empirisch voneinander verschieden. Er illustrierte dies anhand eines weiteren von Frenkel-Brunswik berichteten Tests, in dem den Proband:innen zunächst das Bild eines Hundes gezeigt wurde, gefolgt von weiteren Bildern, die eine graduelle Verwandlung in eine Katze zeigten. Dabei wurden jene Probanden als ambiguitätsintoleranter eingestuft, die bei der Frage, was auf dem jeweiligen Bild zu sehen sei, länger an der anfänglichen Antwort (ein Hund) festhielten. Wie von MacDonald ausgeführt, stellt das Festhalten an einer Antwort trotz gegenteiliger Evidenz hohe Rigidität dar. Hohe Ambiguitätsintoleranz sollte hingegen nicht mit dem Fest-
28 Horace B. English/Ava C. English: A comprehensive dictionary of psychological and psychoanalytical terms. A guide to usage, New York 1958, S. 24. 29 Horace B. English/Ava C. English: A comprehensive dictionary of psychological and psychoanalytical terms, S. 24. 30 Vgl. dazu Else Frenkel-Brunswik: Dynamic and Cognitive Categorization of Qualitative Material; Else Frenkel-Brunswik: Intolerance of ambiguity as an emotional perceptual personality variable. 31 Vgl. A. P. Mac Donald: Revised Scale for Ambiguity Tolerance. Reliability and Validity, in: Psychological reports, 26/3 (1970), S. 791–798.
22
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halten an einer ersten (eindeutigen) Antwort einhergehen, sondern mit einer Neigung zu irgendeiner Antwort, solange sie eindeutig ist.
2.2
Erste veröffentlichte Skalen zur Messung von Ambiguitätstoleranz
Die erste veröffentlichte und häufig verwendete Skala zur Messung der Ambiguitätstoleranz stammt von Budner. Intoleranz gegenüber Ambiguität definierte er als »the tendency to perceive (i e interpret) ambiguous situations as sources of threat«32, Toleranz gegenüber Ambiguität als »the tendency to perceive ambiguous situations as desirable«33. Hohe Ambiguitätstoleranz ist demnach nicht nur die Abwesenheit von Intoleranz, was einer unipolaren Auffassung von Ambiguitätsintoleranz entspricht. Vielmehr geht er bei seiner bipolaren Konzeptualisierung von einem Kontinuum aus, das von der Ablehnung von Ambiguität bis zur Befürwortung von Ambiguität reicht. Nach Budner sind Situationen in 3 Fällen mehrdeutig. Zunächst einmal, wenn sie völlig neu sind und keine vertrauten Hinweise enthalten. Des Weiteren, wenn sie zu komplex sind und daher eine Vielzahl von Hinweisen berücksichtigt werden muss. Zuletzt, wenn sie widersprüchliche Elemente oder Hinweise aufweisen und somit unlösbar sind. Wenn eine solche Situation Reaktionen wie Angstgefühle oder Unwohlsein, destruktives Verhalten oder Vermeidungsverhalten, oder eine generelle Verleugnung der Situation hervorruft, so soll dafür das Persönlichkeitsmerkmal der Ambiguitätsintoleranz verantwortlich sein. Die 16 Items der Skala zielen dementsprechend auf die genannten Reaktionen in den drei beschriebenen Situationstypen ab. Auf die Bewertung neuer Situationen heben Items wie »What we are used to is always preferable to what is unfamiliar« und »I would like to live in a foreign country for a while.« ab. Aussagen wie »A good job is one where what is to be done and how it is to be done are always clear« sollen die Reaktion auf widersprüchliche Situationen erfassen. Zuletzt dienen Aussagen wie »An expert who doesn’t come up with a definite answer probably doesn’t know too much« und »here is really no such thing as a problem that can’t be solved« zur Erfassung des Umgangs mit komplexen Situationen. Die wiederholte Messung im Abstand von 2 Wochen bei einer kleinen Stichprobe von 15 Studierenden ergab eine recht hohe Test-Retest-Korrelation, was einen Hinweis darauf liefert, dass die ermittelten Werte eine gewisse Stabilität aufweisen, sodass bspw. Personen, deren Antworten zu einem Zeitpunkt für eine höhere (niedrigere) Ambiguitätstoleranz sprechen, auch zu einem späteren Zeitpunkt so 32 Stanley Budner: Intolerance of ambiguity as a personality variable, in: Journal of personality, 30/1 (1962), S. 29–50, S. 29. 33 Stanley Budner: Intolerance of ambiguity as a personality variable, S. 29.
Ambiguitätstoleranz
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antworten, dass erneut eine höhere (niedrigere) Ambiguitätstoleranz unterstellt werden kann. Allerdings zeigte sich über 13 andere Stichproben hinweg eine im Durchschnitt inakzeptabel niedrige interne Konsistenz.34 Nach Budner geht diese u. a. auf das komplexe, multidimensionale Konzept zurück. Dazu passen Befunde von Furnham35, der in einer explorativen Faktorenanalyse vier Faktoren ermittelte, auf denen die verschiedenen Items luden. Die Faktorenanalyse ist ein statistisches Verfahren, das Items zu identifizieren erlaubt, deren Beantwortung auf einen gemeinsamen, ihnen zugrundeliegenden Faktor zurückgeführt werden kann. Entsprechend umfasst ein Faktor Items, die untereinander höhere Korrelationen aufweisen, und gleichzeitig mit weiteren Items geringere oder keine Zusammenhänge aufweisen. Die Anzahl der ermittelten Faktoren hängt somit u. a. davon ab, wie viele Gruppen von untereinander höher korrelierten Items vorliegen. Furnham bezeichnete die vier Faktoren mit Vorhersehbarkeit36, Vielfalt und Originalität37, Klarheit38 und Regelmäßigkeit39. Allerdings erwies sich auch diese vierfaktorielle Lösung nicht als robust.40 In Anbetracht weiterer Befunde durch Bors, Gruman und Shukla41 kann lediglich festgehalten werden, dass die Items der Skala von Budner Ambiguitätstoleranz zwar nicht eindimensional abbilden, die genaue Dimensionalität jedoch ungeklärt ist. Dessen ungeachtet wird die Skala in empirischen Studien nach wie vor gerne verwendet, sei es zur Vorhersage von Autoritarismus42 oder im Zusammenhang mit Kreativitätsangst43.
34 Vgl. Lee J. Cronbach: Coefficient alpha and the internal structure of tests, in: Psychometrika, 16 (1951), S. 297–334. 35 Vgl. Adrian Furnham: A content, correlational and factor analytic study of four tolerance of ambiguity questionnaires, in: Personality and Individual Differences, 16/3 (1994), S. 403–410. 36 Beispielitem: »A person who leads an even, regular life in which few surprises or unexpected happenings arise, really has a lot to be grateful for.« 37 Beispielitem: »A good teacher is one who makes you wonder about your way of looking at things.« 38 Beispielitem: »A good job is one where what is to be done and how it is to be done are always clear.« 39 Beispielitem: »People who fit their lives to schedules probably miss most of the joy of living.« 40 Vgl. Arlin J. Benjamin Jr/Ronald E. Riggio/Bronston T. Mayes: Reliability and factor structure of Budner’s Tolerance for ambiguity scale, in: Journal of Social Behavior & Personality, 11/3 (1996), S. 625–632. 41 Vgl. Douglas A. Bors/Jamie A. Gruman/Sonia Shukla: Measuring tolerance of ambiguity. Item polarity, dimensionality, and criterion validity, in: Revue Européenne de Psychologie Appliquée/European Review of Applied Psychology, 60/4 (2010), S. 239–245. 42 Vgl. Mathias Berggren/Nazar Akrami/Robin Bergh/Bo Ekehammar: Motivated social cognition and authoritarianism. Is it all about closed-mindedness?, in: Journal of Individual Differences, 40/4 (2019), S. 204–212. 43 Vgl. Richard J. Daker/Robert A. Cortes/Ian M. Lyons/Adam E. Green: Creativity anxiety. Evidence for anxiety that is specific to creative thinking, from STEM to the arts, in: Journal of Experimental Psychology: General, 149/1 (2020), S. 42–57.
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Eine weitere Skala wurde von Rydell und Rosen44 entwickelt. Dies geschah »in the absence of any single adequate definition of ambiguity tolerance and the apparent multi-dimensionality of the concept«45 auf »a-priori basis«46. Die Skala besteht aus 16 Items, zu denen die Befragten mit »wahr« oder »falsch« antworten können, wobei die Items vielfältige Themen ansprechen. Furnham ermittelte 6 Faktoren.47 Rydell und Rosen (1966) berichten von einer hohen Test-RetestKorrelationen für sowohl ein einmonatiges wie zweimonatiges Intervall. Einen Beleg für die Validität der Skala lieferte eine Studie von Rydell48 mit männlichen Studierenden, in der sich zeigte, dass eine Gruppe mit besonders niedriger Ambiguitätstoleranz 15 widersprüchliche Adjektiv-Nomen-Paare (z. B. »beautiful abortion«, »living dead«) und 5 nicht-widersprüchliche Paare (z. B. »cold winter«, »funny clown«) extremer bewerteten als eine Gruppe mit besonders hoher Ambiguitätstoleranz. Zudem lagen die Bewertungen der Gruppe mit geringer Ambiguitätstoleranz weniger nah am Durchschnitt ihrer Bewertungen der einzelnen Konzepte, was darauf hindeutet, dass diese Personen in dem Sinne zur Disambiguierung neigten, dass sie sich mehr auf eine Komponente konzentrierten. Personen mit hoher Ambiguitätstoleranz schienen diese beiden widersprüchlichen Bedeutungen hingegen eher zu integrieren. Während Rydell und Rosen keine Angaben zur internen Konsistenz ihrer Skala machten, ermittelte Mac Donald, dass diese eine fragwürdige Reliabilität aufweist und ergänzte sie daher um vier weitere Items. Er nimmt an, dass Personen mit hoher Ambiguitätstoleranz Ambiguität suchen, genießen und sich bei der Erfüllung von mehrdeutigen Aufgaben hervortun. Für seine erweiterte Version der Skala (AT-20) berichtete er eine akzeptable bis gute interne Konsistenz. Einschränkend ist jedoch festzuhalten, dass die interne Konsistenz nicht nur von 44 Vgl. Susan T. Rydell/Ephraim Rosen: Measurement and Some Correlates of Need-Cognition, in: Psychological reports, 19/1 (1966), S. 139–165 abgerufen am 05. November 2019. 45 Susan T. Rydell/Ephraim Rosen: Measurement and Some Correlates of Need-Cognition, S. 149–150. 46 Susan T. Rydell/Ephraim Rosen: Measurement and Some Correlates of Need-Cognition, S. 150. 47 Sie drehen sich um Problemlösung (z. B. »I have always felt that there’s a clear difference between right and wrong«), durch ambige Stimuli ausgelöstes Unbehagen (z. B. »I am just a little uncomfortable with people unless I feel that I can understand their behaviour.«), den Wunsch nach Beendigung eines Problems (z. B. »If I were a scientist, I might become frustrated because my work would never be completed (science will always make new discoveries)«), Risikofreude (z. B. »I like to fool around with new ideas, even if they turn out later to be a total waste of time«), das Streben nach Unsicherheit (z. B. »If I were a doctor, I would prefer the uncertainties of a psychiatrist to the clear and definite work of someone like a surgeon or X-ray specialist«) und die Problemfragmentierung (z. B. »The way to understand complex problems is to be concerned with their larger aspects instead of breaking them into smaller pieces«). 48 Vgl. Susan T. Rydell: Tolerance of Ambiguity and Semantic Differential Ratings, in: Psychological reports, 19/3 Suppl. (1966), S. 1303–1312 abgerufen am 05. November 2019.
Ambiguitätstoleranz
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der durchschnittlichen Korrelation der Items abhängt, sondern auch allein bei steigender Anzahl der Items ansteigt, wobei bereits bei 20 Items ein Plateau erreicht wird.49 Wie auch die bereits dargestellten Befunde der Faktorenanalyse von Furnham zeigen, sagt eine gute interne Konsistenz zudem wenig darüber aus, wie viele Dimensionen im Sinne von Faktoren eine Skala umfasst. MacDonald fand mittlere Korrelationen der Skala mit verwandten Konstrukten. Höhere Toleranz ging mit geringerem Dogmatismus bzw. geringerer Rigidität einher, und Teilnehmende berichteten mit steigender Toleranz seltenere Kirchenbesuche. Zu guter Letzt berichtete MacDonald auch eine positive Korrelation der AT-20 Skala mit der Leistung beim Lösen von Anagrammen. Dabei sollten die studentischen Teilnehmenden 20 Wörter finden, deren Buchstaben in einer zufälligen Reihenfolge vorlagen. Demnach weist die Skala eine gewisse prädiktive Validität auf, da auf Basis einer höheren Ambiguitätstoleranz eine bessere Leistung vorhergesagt werden konnte.
2.3
Definitorische Ausweitungen und die Entwicklung der MAT-50-Skala
Ein nächster Schritt in Richtung der Entwicklung eines reliablen und validen Instruments zur Messung der Ambiguitätstoleranz wurde von Norton50 unternommen. Mittels einer Inhaltsanalyse von Arbeiten aus dem Zeitraum von 1933 bis 1970 ermittelte er den Gebrauch des Ambiguitätsbegriffes in der psychologischen Literatur, was in acht Kategorien mündete. Der häufigste Gebrauch (28 %) besteht demnach darin, von Ambiguität zu sprechen, wenn ein Stimulus mindestens zweierlei Bedeutungen aufweist. Oftmals ist mit Ambiguität aber auch Vagheit, Unvollständigkeit oder Fragmentiertheit gemeint (18 %), insb. wenn Teile eines Stimulus fehlen (z. B. unvollständige Bilder). Ambiguität im Sinne einer Wahrscheinlichkeit zeigte sich in Arbeiten, in denen es um die Analyse der Wahrscheinlichkeitsfunktion zu einem Stimulus ging (12 %). Ein weiteres Verständnis von Ambiguität bezieht sich auf Unstrukturiertheit, also dann, wenn ein Stimulus keine erkennbare oder nur teilweise eine Organisation aufweist (10 %). Im Sinne eines Mangels an Informationen findet sich Ambiguität auch als Kennzeichnung einer ambigen Situation (9 %). Aber auch der Zustand von Unsicherheit als Folge von Ambiguität aufgrund einer Situation, eines Ereignisses, einer Interaktion etc., wird mit dem Begriff Ambiguität belegt (9 %). Eine nächste Verwendung spricht von Ambiguität im Falle von Inkon49 Vgl. Jose M. Cortina: What is coefficient alpha? An examination of theory and applications, in: Journal of applied psychology, 78/1 (1993), S. 98. 50 Vgl. Robert W. Norton: Measurement of Ambiguity Tolerance, in: Journal of personality assessment, 39/6 (1975), S. 607.
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sistenzen oder Widersprüchlichkeiten (8 %), z. B. bei Vorliegen diskrepanter Informationen, die gleichzeitig dafür und dagegen sprechen, dass etwas »X« sei. Zuletzt wird von Ambiguität auch synonym zu Unklarheit gesprochen (5 %), z. B. bezüglich der Klarheit einer Aussage. Seine eigene Definition von Ambiguitätstoleranz spiegelt diese vielfältige Verwendung des Ambiguitätsbegriffs wider und umfasst daher über die drei Situationstypen von Budner hinausgehende Aspekte. Intoleranz gegenüber Mehrdeutigkeit ist demnach »a tendency to perceive or interpret information marked by vague, incomplete, fragmented, multiple, probable, unstructured, uncertain, inconsistent, contrary, contradictory, or unclear meanings as actual or potential sources of psychological discomfort or threat«51. Orientiert an Budner wurden die Items so konstruiert, dass sie die vier vorgeschlagenen Konsequenzen widerspiegeln: Vermeidungs- oder destruktives Verhalten, Gefühle der Angst oder eine allgemeine Verleugnung der Situation. Außerdem spiegeln die Items acht verschiedene inhaltliche Domänen wider. Diese Inhaltsbereiche bezeichnet Norton als Weltanschauung / Philosophie (z. B. »Usually, the more clearly defined rules a society has, the better off it is«), zwischenmenschliche Kommunikation (z. B. »I really dislike it when a person does not give straight answers about himself«), öffentliches Image (z. B. »It bothers me when I don’t know how strangers react to me«), arbeitsbezogen (z. B. »In a situation in which other people evaluate me, I feel a great need for clear and explicit evaluations«), Problemlösung (z. B. »In a decision-making situation in which there is not enough information to process the problem, I feel very uncomfortable«), sozial (z. B. »Whenever I go out to have fun, I like to have at least a vague purpose in mind«), Gewohnheit (z. B. »It matters to me to know what day it is«) und Kunstformen (z. B. »Generally, the more meanings a poem has, the better I like it«). Insgesamt enthält die Skala 61 Items, wird von Norton aus unerfindlichen Gründen jedoch als MAT-50 bezeichnet. Darin sind auch fast alle der 20 Items der Skala von MacDonald in meist wortidentischer Form enthalten. Die durchgeführten Reliabilitätsstudien zielten darauf ab, die interne Konsistenz der Skala insgesamt zu prüfen und zu belegen. Diese ist zwar hoch, was aber, wie bereits ausgeführt,52 angesichts der großen Itemanzahl zu relativieren ist. Faktorenanalytische Ergebnisse zur Validierung der unterschiedenen Inhaltsbereiche wurden von Norton nicht berichtet, allerdings zeigt eine von Furnham durchgeführte Faktorenanalyse zweiter Ordnung (d. h. eine Faktorenanalyse der auf Basis der ursprünglichen SkalenItems ermittelten Faktoren erster Ordnung), dass mit Ausnahme der Domäne Weltanschauung alle Inhaltsbereiche auf einem Faktor laden, was gegen eine separate Betrachtung der einzelnen Inhaltsbereiche spricht. Neben signifikanten 51 Robert W. Norton: Measurement of Ambiguity Tolerance, S. 608. 52 Vgl. Jose M. Cortina: What is coefficient alpha?
Ambiguitätstoleranz
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Korrelationen zu Rigidität und der Ambiguitätstoleranz-Skala von Budner, berichtete Norton auch Befunde zur prädiktiven Validität der MAT-50. So war die Zustimmung zur Teilnahme an einer nicht näher beschriebenen Studie (und somit ambigen Situation) bei Personen mit laut MAT-50 höherer Ambiguitätstoleranz höher als bei Personen mit geringer Ambiguitätstoleranz. Bei der Bewertung von Gedichten mit unterschiedlichem Ambiguitätsgrad zeigte sich, dass Personen mit geringer Ambiguitätstoleranz diese z. B. umso positiver bewerteten, je vollständiger sie diese einschätzten. Personen mit hoher Ambiguitätstoleranz bewerteten sie hingegen z. B. umso positiver je ungewöhnlicher sie diese einschätzten.53 Einerseits stellt die MAT-50-Skala eine interessante Weiterentwicklung zur Messung der Ambiguitätstoleranz dar, andererseits ist sie aufgrund der hohen Itemanzahl kein ökonomisches Instrument. Dies nahm Kischkel54 zum Anlass, um auf Basis von 14 Items der MAT-50-Skala von Norton und 4 Items der AT-20Skala von Mac Donald eine letztlich 14 Items umfassende Skala abzuleiten, die eine gute interne Konsistenz aufweist und inhaltlich primär um Ambiguität beim Arbeiten kreist (z. B. »Sitzungen funktionieren am besten, wenn vorher eine Tagesordnung festgelegt wurde«, »Ich habe es nicht gern, wenn bei einer Arbeit Unklarheit darüber besteht, wer im Einzelnen wofür verantwortlich ist.«). Eine bewusst sehr spezifische Ambiguitätstoleranz-Skala wurde auch von Ely55 konstruiert. Sie hebt explizit auf die Ambiguitätstoleranz beim Erlernen einer Zweitsprache ab, enthält 12 Items (z. B. »When I’m reading in Spanish, I get somewhat impatient when I don’t totally understand the meaning, »It bothers me that sometimes I don’t know exactly what the teacher is saying in Spanish, even though I understand the general idea«) und verfügt über eine hohe interne Konsistenz. Kamran und Maftoon56 fanden in einer Studie mit iranischen Studierenden, die Englisch als Fremdsprache lernten, dass höhere Ambiguitätstoleranz beim Zweitsprachenlernen mit einem besseren Leseverständnis einherging. Ein kurzes Instrument zur Erfassung von Ambiguitätstoleranz wurde von Geller, Tambor, Chase und Holtzman57 entwickelt. Mit (teils leicht modifizierten) 53 Robert W. Norton: Measurement of Ambiguity Tolerance, S. 614. 54 Vgl. Karl-Heinz Kischkel: Eine Skala zur Erfassung von Ambiguitätstoleranz, in: Diagnostica, 30/2 (1984), S. 144–154. 55 Vgl. Christopher M. Ely: Tolerance of ambiguity and use of second language strategies, in: Foreign Language Annals, 22/5 (1989), S. 437–446. 56 Vgl. Saeedeh K. Kamran/Parviz Maftoon: An Analysis of the Associations between Ambiguity Tolerance and EFL Reading Strategy Awareness, in: English Language Teaching, 5/3 (2012), S. 188–196. 57 Vgl. Gail Geller/Ellen S. Tambor/Gary A. Chase/Neil A. Holtzman: Measuring Physicians’ Tolerance for Ambiguity and Its Relationship to Their Reported Practices regarding Genetic Testing, in: Medical care, 31/11 (1993), S. 989–1001.
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Items aus bestehenden Skalen (Budner, Mac Donald und Norton) kamen sie auf Basis einer großen, aus Fachärzt:innen bestehenden Stichprobe zu einer 7-ItemSkala mit akzeptabler interner Konsistenz. Dabei zeigten sich auch Unterschiede zwischen den Fachdisziplinen. Psychiater:innen wiesen im Durchschnitt höhere Ambiguitätstoleranzwerte auf als z. B. Internist:innen und Kinderärzt:innen. Iannelloa, Mottinia, Tirellia, Rivab, Antoniettia58 und Caulfield, Andolsek, Grbic und Roskovensky59 fanden mit dieser Skala bei Krankenhausärzt:innen bzw. Medizinstudierenden umso mehr selbstberichteten Stress je geringer die Ambiguitätstoleranz ausgeprägt war. Interessanterweise fanden Geller et al. in einer Faktorenanalyse der sieben Items zwei Faktoren. Während der erste Faktor Items umfasst, die den Wunsch nach Gewissheit thematisieren (Beispielitem: »I don’t like to work on a problem unless there is a possibility of getting a clear-cut and unambiguous answer«), geht es bei den Items des zweiten Faktors um Unbehagen bei Ambiguität (»It really disturbs me when I am unable to follow another person’s train of thoughts«). Dies ist insofern interessant, als es gegen die wohl verbreitete Grundannahme spricht, Gewissheit und Ambiguität seien als Gegensätze zu verstehen bzw. stellten die beiden Enden eines Kontinuums dar. Der faktorielle Befund von Geller et al. spricht hingegen dafür, dass eine Person mit einem starken Wunsch nach Gewissheit nicht gleichzeitig ein hohes Unbehagen bei Ambiguität empfinden muss (oder umgekehrt eine Person mit starkem Unbehagen bei Ambiguität nicht notwendigerweise einen starken Wunsch nach Gewissheit hat). Als Zwischenfazit kann festgehalten werden, dass die meisten der bisher angesprochenen Skalen aufeinander aufbauen. So basiert die Skala von Norton auf der Skala von MacDonald, die selbst von der Skala von Rydell und Rosen ausging. Die Skala von Geller et al. ging aus den Items der Skalen von Budner, Mac Donald und Norton hervor.
58 Vgl. Paola Iannello/Anna Mottini/Simone Tirelli/Silvia Riva/Alessandro Antonietti: Ambiguity and uncertainty tolerance, need for cognition, and their association with stress. A study among Italian practicing physicians, in: Medical Education Online, 22/1 (2017), S. 1270009. 59 Vgl. Marie Caulfield/Kathryn Andolsek/Douglas Grbic/Lindsay Roskovensky: Ambiguity Tolerance of Students Matriculating to U.S. Medical Schools, in: Academic Medicine, 89/11 (2014).
Ambiguitätstoleranz
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3
Abstrakte, kontextspezifische und multidimensionale Ansätze
3.1
Die MSTAT-Skalen von McLain
Im Gegensatz dazu formulierte McLain60 neue Items, wobei er drei konzeptuelle Perspektiven berücksichtigte, die auf die beiden bereits dargestellten Arbeiten von Frenkel-Brunswik und Budner sowie die Arbeit von Ellsberg61 zurückgehen. Nach dem Ökonomen Ellsberg muss bei Entscheidungen unterschieden werden zwischen Entscheidungen unter Ambiguität und Entscheidungen unter Risiko. Während bei Letzteren die Wahrscheinlichkeiten aller verschiedenen Entscheidungsalternativen bekannt sind, ist dies bei Entscheidungen unter Ambiguität oder Ungewissheit nicht der Fall. Nicht zuletzt um eine hohe Inhaltsvalidität der Items zu erreichen, definierte McLain62 zunächst separat, was er unter Ambiguität und Toleranz versteht. Vor dem Hintergrund der verschiedenen konzeptuellen Perspektiven beschreibt Ambiguität, seiner Auffassung nach, die Wahrnehmung eines Mangels an Informationen, um Stimuli oder deren zeitlichen oder räumlichen Wechselbeziehungen klar zu verstehen. Ambige Stimuli können als unvertraut, unvorhersagbar, zu komplex, um sie zu verstehen, oder als multiple oder inkompatible Interpretationen aufweisend wahrgenommen werden. Toleranz zeigt (ggfs. widerwillig-missgünstige) Akzeptanz an, Intoleranz hingegen Zurückweisung. Darauf aufbauend definiert er Ambiguitätstoleranz als die auf einem Kontinuum von Zurückweisung bis Anziehung liegende Bandbreite von Reaktionen auf Stimuli, die als unvertraut, komplex, dynamisch ungewiss, oder multiplen konfligierenden Interpretationen unterworfen wahrgenommen werden. Die insgesamt 22 Items thematisieren Ambiguitätstoleranz auf einer allgemeinen Ebene. Der Definition entsprechend nehmen dabei einige der Items in abstrakter Form Bezug auf auslösende Stimuli (z. B. »I have little trouble coping with unexpected events«). Die Hälfte der Items bezieht sich unspezifisch auf den Umgang mit bzw. das Erleben in ambigen Situationen (z. B. »I don’t tolerate ambiguous situations well«). Zuletzt kreisen andere Items um Probleme (»Some problems are so complex that just trying to understand them is fun«). Seine Skala nennt er Multiple Stimulus Types Ambiguity Tolerance (MSTAT), also Ambiguitätstoleranz bei multiplen Stimulustypen. Sie weist eine hohe interne Kon60 Vgl. David L. McLain: Evidence of the Properties of an Ambiguity Tolerance Measure. The Multiple Stimulus Types Ambiguity Tolerance Scale–II (MSTAT–II), in: Psychological reports, 105/3 (2009), S. 975–988. 61 Vgl. Daniel Ellsberg: Risk Ambiguity, And the Savage Axioms, in: Quarterly Journal of Economics, 75/4 (1961), S. 643–669. 62 Vgl. David L. McLain: The Mstat-I. A New Measure of an Individual’S Tolerance for Ambiguity, in: Educational and Psychological Measurement, 53/1 (1993), S. 183–189.
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sistenz auf und korreliert positiv mit anderen Skalen zur Messung von Ambiguitätstoleranz (u. a. bei Budner und MacDonald). Darüber hinaus zeigte sich u. a., dass höhere Ambiguitätstoleranz mit einer höheren Bereitschaft, Risiken einzugehen, und einer höheren Veränderungsbereitschaft einherging. Im Jahr 2009 validierte McLain eine verkürzte Version der Skala (MSTAT-II). Zu den drei von Budner vorgeschlagenen ambigen Stimulustypen (Unvertrautheit, Komplexität und Unlösbarkeit) fügte er Ungewissheit hinzu63. Ungewissheit kann allerdings als konzeptuell getrennt von Ambiguität gesehen werden, auch wenn Ungewissheitstoleranz und Ambiguitätstoleranz Ähnlichkeiten aufweisen, insb. hinsichtlich der evaluativen Reaktionstendenz auf bestimmte Situationen (Bedrohung).64 Die MSTAT-II Skala verfügt über eine gute interne Konsistenz, und eine Faktorenanalyse lieferte Hinweise auf ein eindimensionales Modell. Beleg für die Konstruktvalidität sind signifikante positive Korrelationen zur AT-20 Skala65 (Mac Donald, 1970) und zur Sensation Seeking66. Nach McLain (2009) unterstützen die Skala und die damit ermittelten Befunde die Auffassung von Ambiguitätstoleranz als einem allgemeinen Persönlichkeitsmerkmal, das die allgemeine Aversion gegenüber oder Anziehung durch wahrgenommene Ambiguität beschreibt.
63 Von den 13 Items, die aus seiner ersten Skala abgeleitet wurden, beziehen sich nach McLain 5 auf ambige Situationen allgemein (»I dislike ambiguous situations«), 3 auf Unlösbarkeit (»Problems that cannot be considered from just one point of view are a little threatening.«), und jeweils 2 auf Unvertrautheit (»I generally prefer novelty over familiarity.«) und Komplexität (»I enjoy tackling problems that are complex enough to be ambiguous.«). Zu guter Letzt bezieht sich ein Item auf Ungewissheit (»I find it hard to make a choice when the outcome is uncertain.«). Vgl. David L. McLain: Evidence of the Properties of an Ambiguity Tolerance Measure. 64 Vgl. dazu etwa Sebastien Grenier/Anne-Marie Barrette/Robert Ladouceur: Intolerance of Uncertainty and Intolerance of Ambiguity. Similarities and differences, in: Personality and Individual Differences, 39/3 (2005), S. 593–600. Nach Grenier, Barrette, & Ladouceur bezieht sich Ambiguitätstoleranz darauf, inwieweit eine Hier und Jetzt-Situation, die durch uneindeutige Merkmale gekennzeichnet ist, als Quelle von Bedrohungsgefühlen erlebt wird. Ungewissheitstoleranz bezieht sich dem entgegen auf nicht vorhersagbare Ergebnisse in der Zukunft, was von Personen als Quelle des Unbehagens erlebt werden kann, egal wie unwahrscheinlich eine negative Entwicklung sein mag. Ungewissheitstoleranz wird hauptsächlich im klinischen Kontext untersucht, wofür zur Messung eigenständige Skalen entwickelt wurden. Vgl. Adrian Furnham/Joseph Marks: Tolerance of Ambiguity. 65 Vgl. A. P. Mac Donald: Revised Scale for Ambiguity Tolerance. 66 Vgl. Marvin Zuckerman: Sensation seeking. A comparative approach to a human trait, in: Behavioral and Brain Sciences, 7/3 (1984), S. 413–471. Sensation Seeking bezieht sich auf die Bereitschaft, Risiken bezüglich der persönlichen Sicherheit einzugehen und wird als verwandtes Konstrukt angesehen, weil Risiken einzugehen eine Toleranz bezüglich unvollständiger Informationen über die Zukunft verlangt.
Ambiguitätstoleranz
3.2
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Ambiguitätstoleranz als breites Persönlichkeitsmerkmal versus Persönlichkeitsfacette
Webster und Kruglanski (1994) entwickelten einen Fragebogen, um das Bedürfnis nach kognitiver Geschlossenheit (Need for Cognitive Closure) zu erfassen67. Dieses Merkmal umfasst fünf Aspekte, wovon einer das Unbehagen mit Mehrdeutigkeit ist (z. B. »I dislike it when a person’s statement could mean many different things.«). Während Ambiguitätstoleranz üblicherweise als ein breites Persönlichkeitsmerkmal konzeptualisiert wird, betrachten Webster und Kruglanski es lediglich als eine Facette einer noch breiteren domänenunspezifischen unidimensionalen Disposition. Aus der Perspektive der Literatur zur Ambiguitätstoleranz können aber auch die anderen Facetten des Persönlichkeitsmerkmals Bedürfnis nach kognitiver Geschlossenheit als Manifestationen von Ambiguitätstoleranz angesehen werden. In der Tat ähneln viele Items dieser Facetten Items aus anderen Ambiguitätstoleranz-Skalen, wie etwa die Facette Ordnungsliebe (»I enjoy having a clear and structured mode of life.«), Vorliebe für Vorhersagbarkeit (»I dislike unpredictable situations.«), Entschlussfreudigkeit (»I tend to struggle with most decisions.«) oder Engstirnigkeit (»I always see many possible solutions to problems I face.«). Dies veranschaulicht, dass es in der Forschung zur Ambiguitätstoleranz bis heute keinen Konsens bezüglich der Lokalisierung dieses Persönlichkeitsmerkmals als einem über- oder untergeordneten Konstrukt in der Hierarchie der Persönlichkeitseigenschaften gibt. Reis68 griff die von Norton vorgenommene Unterscheidung verschiedener Domänen der Ambiguitätstoleranz auf und zielte darauf ab, diskrete Dimensionen, die verschiedene Domänen der Ambiguitätstoleranz repräsentieren, mit faktorenanalytischen Verfahren zu entdecken und zu validieren. Er begann die Skalenkonstruktion, indem er die Teilnehmenden nach mehrdeutigen Situationen fragte und Items entwarf, die diese Situationen widerspiegelten. Im Gegensatz zu den dekontextualisierten Items des MSTAT von McLain wurden die Items von Reis daher bewusst sehr stark kontextspezifisch formuliert. Auf der Basis einer Vielzahl von Analysen entwickelte er ein aus 40 Items bestehendes kontextspezifisches Inventar zur Messung der Ambiguitätstoleranz (IMA-40), wobei Faktorenanalysen für 5 separate Dimensionen sprechen, die Ambiguitätstoleranz in verschiedenen Inhaltsbereichen widerspiegeln. Diese Subskalen sind: unlösbar erscheinende Probleme (»Mit Problemen, die mir unlösbar erscheinen, würde ich mich nicht ernsthaft beschäftigen wollen«), soziale Konflikte 67 Vgl. Donna M. Webster/Arie W. Kruglanski: Individual Differences In Need For Cognitive Closure, in: Journal of Personality and Social Psychology, 67/6 (1994), S. 1049–1062. 68 Vgl. Jack Reis: Inventar zur Messung der Ambiguitätstoleranz (IMA). Manual, Heidelberg 1996.
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(»Ich versuche, Streitigkeiten zu vermeiden«), Elternbild (»Ich habe zu meinem Vater ein zwiespältiges Verhältnis«, »Meine Mutter hat mich geliebt, aber auch gehasst«), Rollenstereotypen (»Eine Frau sollte sich entscheiden, ob sie Karriere machen oder Kinder haben will«, »Ich finde es gut, wenn Lehrer sich von ihren Schülern duzen lassen«), und Offenheit für neue Erfahrungen (»Ich interessiere mich für ausländische Sitten und Gebräuche«). Die berichteten internen Konsistenzen der Gesamtskala und der Subskalen sind allesamt gut, die Test-RetestKorrelationen (4 Wochen) allesamt sehr hoch. Evidenz für die Konstruktvalidität zeigte sich in hohen Korrelationen mit anderen Ambiguitätstoleranz-Maßen, z. B. der Skala von Kischkel, wobei die Subskala Elternbild deutlich schwächer korrelierte als die 4 anderen Subskalen. Von Leichsenring, Steuernagel, Steuernagel und Meyer69 wurden diese beide Skalen von Kischkel und Reis in 2 Studien eingesetzt, um die selbstberichtete Ambiguitätstoleranz der Teilnehmenden zu erfassen. Zudem wurde mit den Teilnehmenden der Holtzman Inkblot Test70 durchgeführt. Aufgabe der Testpersonen ist es dabei, ambige Klecksbilder zu interpretieren. Anhand der Sprachäußerungen dazu wurde festgestellt, dass die dazu verwendeten Lexeme, die indikativ auf ein dogmatisches Schwarz-WeißDenken verweisen (z. B. immer, alle, vollständig, definitiv, muss versus manchmal, teilweise, relativ, vermutlich, kann), nicht unbedingt mit einer geringen selbstberichteten Ambiguitätstoleranz einhergehen. Dies spricht jedoch nicht gegen die verwendeten Skalen, sondern kann als weiterer Beleg dafür gesehen werden, dass Selbstberichtsmaße, die eher explizite, bewusstseinsfähige Aspekte der Persönlichkeit erfassen, und eher implizite, weniger bewusstseinsfähige Aspekte der Persönlichkeit erfassende Maße, wie die mit der textanalytischen Methode ermittelten Stilmerkmale, oft nicht korrelieren.71
3.3
Ambiguitätstoleranz als kontextspezifisches Persönlichkeitsmerkmal
Wie auch Reis, beschäftigten sich Durrheim und Foster72 mit der Frage, ob Ambiguitätstoleranz ein breites Persönlichkeitsmerkmal ist oder in verschiedenen Bereichen variiert. Ihr Verständnis von Ambiguitätstoleranz geht auf 69 Vgl. Falk Leichsenring/Elke Steuernagel/Jens Steuernagel/H. A. Meyer: Tolerance of Ambiguity. Text Analytic vs Self-Report Measures in Two Nonclinical Groups, in: Perceptual and motor skills, 104/3 (2007), S. 855–869. 70 Vgl. Wayne H. Holtzman/Joseph S. Thorpe/Jon D. Schwartz/E. Wayne Herron: Inkblot Perception and Personality. Holtzman Inkblot Technique, Austin 1961. 71 Vgl. David C. McClelland/Richard Koestner/Joel Weinberger: How do self-attributed and implicit motives differ?, in: Psychological Review, 96/4 (1989), S. 690–702. 72 Vgl. Kevin Durrheim/Don Foster: Tolerance of ambiguity as a content specific construct, in: Personality and Individual Differences, 22/5 (1997), S. 741–750.
Ambiguitätstoleranz
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Frenkel-Brunswik zurück, wonach es Unterschiede in Berichten bezüglich positiver und negativer Aspekte der eigenen Eltern gibt. Obwohl Frenkel-Brunswik postulierte, dass Ambivalenz nur eine von mehreren kognitiven und wahrnehmungsbezogenen Manifestationen ist, für die Ambiguitätstoleranz das zugrunde liegende Merkmal sein könnte, konzentrierten sich Durrheim und Foster auf dieses spezifische Verständnis von Ambiguitätstoleranz. Zur Messung der Ambivalenz verwendeten sie eine objektive Ambivalenzformel73, die das Ausmaß der Ambivalenz aus zwei unipolaren Skalen berechnet, die die Stärke der positiven und negativen Bewertung für ein Einstellungsobjekt getrennt erfassen74. Ihre (südafrikanischen) Proband:innen bewerteten auf diese Art 20 Autoritäten, Parteien, bekannte Persönlichkeiten etc., wie bspw. den Papst, die Bibel, den ANC, Ärzte, Eltern, Freunde und Nelson Mandela. Eine Faktorenanalyse ergab vier Faktoren der Ambiguitätstoleranz gegenüber konservativen politischen Autoritäten, anderen politischen Autoritäten, Familienautoritäten und Religionsautoritäten. Daraus schlossen Durrheim und Foster, dass Ambiguitätstoleranz kein breites Persönlichkeitscharakteristikum, sondern multidimensional sei und sich inhaltsspezifisch äußere. Man kann in Frage stellen, ob die Untersuchung der Ambivalenz, die Probanden bezüglich verschiedener sozialer Stimuli aufweisen, es erlaubt, grundlegende Schlüsse bezüglich der Domänenspezifität vs. Generalität von Ambiguitätstoleranz zu ziehen. Jedenfalls ist ihr Ansatz insofern von eingeschränkter Nützlichkeit, als das ermittelte Profil der Ambiguitätstoleranz an die Liste der von den Befragten zu bewertenden Autoritäten gebunden ist. Einer breit und langfristig einsetzbaren Messung der Ambiguitätstoleranz stehen somit sowohl gesellschaftliche Entwicklungen innerhalb eines Landes als auch kulturelle Unterschiede zwischen Ländern im Weg, die Veränderungen bzw. Unterschiede bzgl. der zur Messung geeigneten Autoritäten mit sich bringen. Auch die Skala zur Messung der Ambiguitätstoleranz von Herman, Stevens, Bird, Mendenhall und Oddou75 geht davon aus, dass sich Ambiguitätstoleranz kontextspezifisch – in ihrem Fall in Bezug auf Interkulturalität – zeigt. Gleichzeitig schließt sich mit ihr insofern ein Kreis, als sich Herman et al. sowohl hinsichtlich ihrer Konzeptualisierung von Ambiguitätstoleranz als auch bezüglich der Itembasis auf Budner beziehen. Seinen 16 Items fügten sie 5 neu for73 Vgl. William A. Scott: Brief report. Measures of cognitive structure, in: Multivariate Behavioral Research, 1/3 (1966), S. 391–395. 74 Vgl. Kalman J. Kaplan: On the ambivalence-indifference problem in attitude theory and measurement. A suggested modification of the semantic differential technique, in: Psychological Bulletin, 77/5 (1972), S. 361–372. 75 Vgl. Jeffrey L. Herman/Michael J. Stevens/Allan Bird/Mark Mendenhall/Gary Oddou: The Tolerance for Ambiguity Scale. Towards a more refined measure for international management research, in: International Journal of Intercultural Relations, 34/1 (2010), S. 58–65.
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mulierte Items hinzu und reduzierten sie in mehreren Schritten auf eine 12 Items umfassende Skala, in der neben den 5 neuen Items noch 7 Items von Budner enthalten sind. Die Items sollten ambige Stimuli repräsentieren, die häufig in interkulturellen Situationen erlebt werden und somit hohe kulturübergreifende Relevanz aufweisen. Eine Faktorenanalyse ergab 4 Faktoren, die sie als Wertschätzung diverser Anderer, Veränderung, herausfordernde Perspektiven und Unvertrautheit bezeichneten. Die Wertschätzung diverser Anderer ergänzt somit die 3 bereits von Budner benannten Situationstypen.76 Zur Messung der Wertschätzung diverser Anderer dienen zwei neu formulierte Items (z. B. »I avoid settings where people don’t share my values«) und ein auf Budner zurückgehendes Item (»I would like to live in a foreign country for a while«). Die interne Konsistenz der Gesamtskala ist zwar akzeptabel und damit besser als die der Skala von Budner, gegen eine differenzierte Betrachtung der 4 Faktoren spricht aber deren jeweils schlechte interne Konsistenz. Herman et al. sehen ihre Befunde daher als Beleg dafür an, dass Ambiguitätstoleranz zwar ein unitäres, aber facettenreiches Konstrukt sei. Eine Validierung der Skala im Sinne ermittelter Korrelationen mit anderen Skalen zur Messung der Ambiguitätstoleranz oder im Sinne der Vorhersagekraft wurde von den Autoren nicht vorgenommen. Der Faktor Wertschätzung diverser Anderer repräsentiert nach Ansicht von Herman et al. »an interpersonal dimension of TA that prior conceptualizations lack«77. Dies ist, was den interkulturellen Kontext angeht, sicher richtig. Allgemeiner gesprochen ist Ambiguitätstoleranz im zwischenmenschlichen Bereich aber auch bereits in einigen der Inhaltsbereiche von Norton angesprochen (zwischenmenschliche Kommunikation, öffentliches Image und sozial), auf die auch Wolfradt und Rademacher78 Bezug nehmen. Sie entwickelten eine Skala, die speziell auf interpersonale und emotionale Aspekte der Ambiguitätstoleranz abhebt und zudem im klinisch-psychologischen Kontext eingesetzt werden kann. Zunächst wurden Studierende gebeten, mehrdeutige interpersonale Situationen zu schildern, in denen sie Schwierigkeiten hatten, eine eindeutige Interpretation vorzunehmen und daher Unsicherheit empfanden. Die daraufhin konstruierten 16 Items thematisierten alltagsnahe, von hoher Ambiguität und Unsicherheit gekennzeichnete Situationen. Deren Analyse mündete in die 10 Items umfassende Skala zur Erfassung interpersonaler Ambiguitätstoleranz (Beispielitems: »Wenn ich nicht weiß, was andere von mir wollen, bin ich irritiert«; »Ich bin 76 Vgl. auch Adrian Furnham: A content, correlational and factor analytic study of four tolerance of ambiguity questionnaires; David L. McLain: The Mstat-I. 77 Jeffrey L. Herman/Michael J. Stevens/Allan Bird/Mark Mendenhall/Gary Oddou: The Tolerance for Ambiguity Scale, S. 62. 78 Vgl. Uwe Wolfradt/Jeanne Rademacher: Interpersonale Ambiguitätsintoleranz als klinisches Differentialkriterium. Skalenentwicklung und Validierung, in: Zeitschrift für Differentielle und Diagnostische Psychologie, 20/1 (1999), S. 72–79.
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verunsichert, wenn ich nicht weiß, ob andere mich wirklich mögen«). Die Skala weist eine hohe interne Konsistenz auf, und eine Faktorenanalyse spricht klar für ihre Eindimensionalität. Für die Konstruktvalidität spricht u. a. eine hohe Korrelation mit dem Inhaltsbereich öffentliches Image der MAT-50-Skala von Norton, was aufgrund der semantischen Ähnlichkeit der Items leicht erklärbar ist. Es zeigte sich auch, dass eine Gruppe von Patient:innen mit den Störungsbildern Depression, Angst und Schizophrenie im Durchschnitt geringere Toleranzwerte aufwies als eine nicht-klinische Gruppe von Studierenden und gesunden Erwachsenen (Berufstätige, Schüler, Auszubildende). Depressive und ängstliche Patienten hatten niedrigere Toleranzwerte als schizophrene Patienten. In einer studentischen Stichprobe fanden Wolfradt, Oubaida, Straube, Bischoff, und Mischo79 zudem, dass geringere Ambiguitätstoleranz mit höheren Schizotypiewerten (höhere kognitiv-perzeptuelle und interpersonale Defizite sowie Desorganisation) einherging.
3.4
Ambiguitätstoleranz als multidimensionales Konstrukt
Mit der jüngsten veröffentlichten Skala von Lauriola, Foschi, Mosca und Weller80 kehrt die Entwicklung wieder zu den umfassenden Annahmen des psychodynamischen Ansatzes von Frenkel-Brunswik zurück. Lauriola et al. verstehen unter Ambiguitätstoleranz eine breite Persönlichkeitseigenschaft, die sich auf persönliche Reaktionen bei wahrgenommenen ambigen Stimuli in einer Vielzahl von Kontexten und Situationen bezieht und bezeichnen das Konstrukt als Einstellung gegenüber Ambiguität. Ihre Ausgangsannahme war, dass die Einstellung gegenüber Ambiguität ein multidimensionales Konstrukt ist, bei der jede Dimension eine spezifische Art und Weise repräsentiert, in der Menschen typischerweise mit Ambiguität umgehen, um einer komplexen sozialen Welt Sinn zu verleihen. Ihr Interesse galt daher der faktoriellen Struktur der Einstellung gegenüber Ambiguität, wozu sie, statt neue Items zu formulieren, zunächst eine umfangreiche Liste von 133 Items sieben existierender Skalen erstellten.81 Über aufwendige Analysen resultierte daraus schlussendlich die Multidimensional 79 Vgl. Uwe Wolfradt/Viktor Oubaid/Eckart R. Straube/Natascha Bischoff/Johannes Mischo: Thinking styles, schizotypal traits and anomalous experiences, in: Personality and Individual Differences, 27/5 (1999), S. 821–830. 80 Vgl. Marco Lauriola/Renato Foschi/Oriana Mosca/Joshua Weller: Attitude Toward Ambiguity, in: Assessment, 23/3 (2016), S. 353–373. 81 Vgl. dazu unter anderen: Stanley Budner: Intolerance of ambiguity as a personality variable; A. P. Mac Donald: Revised Scale for Ambiguity Tolerance; David L. McLain: The Mstat-I; Robert W. Norton: Measurement of Ambiguity Tolerance; R. D. Walk: Perception and personality.
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Attitude Toward Ambiguity Scale (MAAS) mit 21 Items, die drei spezifische Facetten oder Dimensionen widerspiegeln. Die erste Dimension betrifft das Unbehagen bei Ambiguität (z. B. »I get pretty anxious when I’m in a social situation involving me which I have little control of«) und bezieht sich auf unangenehme Gefühle beim Erleben von Ambiguität in zwischenmenschlichen Beziehungen, sozialen oder beruflichen Situation und stellt somit eine affektive Komponente dar. Die zweite Dimension wird von Lauriola et al. (2016) als moralischer Absolutismus/Spaltung bezeichnet82 (»There are two kinds of people: the ›good‹ and the ›bad‹«) und stellt eine kognitive Komponente dar, die einige der grundlegenden Charakteristika widerspiegelt, welche ursprünglich Ambiguitätstoleranz nach Bochner und Frenkel-Brunswik definierten. Zudem kann die Spaltung bzgl. der Repräsentation anderer in entgegengesetzte Konzepte mit unterschiedlicher moralischer Valenz (z. B. gut–schlecht, richtig–falsch) psychodynamisch als primärer (unreifer) Abwehrmechanismus zur Auflösung emotionaler Ambivalenz und Konflikte verstanden werden. Die dritte Dimension ist epistemischer Natur und bezieht sich auf das Bedürfnis nach Komplexität und Neuheit (»I enjoy tackling problems which are complex enough to be ambiguous«). Es repräsentiert eine tolerante annäherungsorientierte Einstellung gegenüber komplexen und neuartigen Situationen und ähnelt in Budners bipolarer Konzeptualisierung der Ambiguitätstoleranz der Befürwortung von Ambiguität. Zur Konstruktvalidität ermittelten Lauriola et al. u. a. Zusammenhänge mit den sogenannten Big-Five-Faktoren der Persönlichkeit (Extraversion, Neurotizismus, Gewissenhaftigkeit, Verträglichkeit und Offenheit für Erfahrungen) und dem Bedürfnis nach kognitiver Geschlossenheit. Höheres Unbehagen bei Ambiguität ging mit höherem Neurotizismus, geringerer Extraversion, geringerer Offenheit für Erfahrungen und einem stärkeren Bedürfnis nach kognitiver Geschlossenheit einher.83 Ein höheres Bedürfnis nach Komplexität und Neuheit ging mit höheren Werten in Bezug auf die Offenheit für Erfahrungen und auch Extraversion einher, jenen Big-Five-Faktoren also, »that are predictive of active interest in a variety of experiences for its own sake«84. Mit dem Bedürfnis nach kognitiver Geschlossenheit korrelierte es erwartungskonform negativ. Moralischer Absolutismus korrelierte mit keinem der Big-Five-Faktoren, wies aber einen positiven Zusammenhang mit dem Bedürfnis nach kognitiver Geschlos-
82 Vgl. Marco Lauriola/Renato Foschi/Oriana Mosca/Joshua Weller: Attitude Toward Ambiguity, S. 367. 83 Vgl. Donna M. Webster/Arie W. Kruglanski: Individual Differences In Need For Cognitive Closure. 84 Marco Lauriola/Renato Foschi/Oriana Mosca/Joshua Weller: Attitude Toward Ambiguity, S. 367.
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senheit auf. In einer Studie von Forsberg, Nilsson und Jørgensen85 zeigten sich für die 3 Subskalen akzeptable bis gute interne Konsistenzen. Darüber hinaus ermittelten sie eine starke Bedeutung des moralischen Absolutismus bei der Vorhersage von Vorurteilen gegenüber dissident groups (z. B. Feminist:innen, Aktivist:innen für die Rechte von LGBT-Personen) und derogated groups (u. a. physisch unattraktive Personen, fettleibige Personen). Für die Vorhersage von Vorurteilen gegenüber dangerous groups (z. B. gewalttätige Kriminelle, Bandenmitglieder) spielte moralischer Absolutismus hingegen keine Rolle.
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Fazit
Die grundlegenden Arbeiten von Frenkel-Brunswik zum Konzept der Ambiguitätsintoleranz haben vielfältige psychologische Forschungsarbeiten stimuliert. Wie auch die von Bochner erstellte Liste primärer definierender Charakteristika zeigt, thematisierten ihre Arbeiten diverse Annahmen zu den emotionalen, kognitiven und perzeptuellen Aspekten hoher Ambiguitätsintoleranz. Die vor allem in den 1950er Jahren durchgeführten Studien mit Tests zu diesen verschiedenen Aspekten erbrachten allerdings eher ernüchternde Befunde (z. B. bei Kenny & Ginsberg). Die fundierte psychometrische und logische Kritik durch Bochner hat wenig Nachhall gefunden, entsprechende neuere Arbeiten scheint es nicht zu geben. Vielmehr hat sich die psychologische Forschung primär der Frage der Messung der Ambiguitätstoleranz via Selbstbericht zugewendet. Entsprechend reichhaltig ist das Repertoire existierender Skalen. Ein gemeinsamer Kern ist die zugrundeliegende Annahme, dass ambiguitätsintolerante Menschen Ambiguität als unangenehm erleben und entsprechend affektiv reagieren. Items zur Erfassung via Selbstbericht thematisieren dieses affektive Unbehagen auch, es gibt jedoch keine veröffentlichte Studie, in der die affektive Reaktion empirisch nachgewiesen wurde.86 In verschiedener anderer Hinsicht unterscheiden sich die Skalen jedoch deutlich voneinander. Während die Skala von Durrheim und Foster ausschließlich auf Ambivalenz abhebt, spiegeln die Skalen von Budner, Rydell/Rosen, MacDonald und Norton eher ein umfassenderes Verständnis der Ambiguitätstoleranz im Sinne Frenkel-Brunswiks wider. Während manche Skalen auf spezifische einzelne Inhaltsbereiche abheben, wie etwa jene von Ely, Kischkel, und Wolfradt/Rademacher, thematisieren andere eine Reihe unterschiedlicher 85 Vgl. Erik Forsberg/Artur Nilsson/Øyvind Jørgensen: Moral dichotomization at the heart of prejudice. The role of moral foundations and intolerance of ambiguity in generalized prejudice, in: Social Psychological and Personality Science, 10/8 (2019), S. 1002–1010. 86 Vgl. Raphael Titt: Investigating the attitude towards ambiguity. Interindividual differences in automatic activations of evaluations of ambiguity 2021.
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Inhaltsbereiche, wie jene von Norton und Reis. Die Items der Skala von McLain sind im Gegensatz dazu sehr allgemein formuliert. Auch andere Skalen wie jene von Lauriola et. al. und Webster/Kruglanski fokussieren nicht auf einzelne Inhaltsbereiche, heben stattdessen aber auf unterschiedliche Manifestationsformen von Ambiguitätstoleranz ab. Offenkundig erfassen also verschiedene Skalen keineswegs das Gleiche, auch wenn fast alle von ihnen als Skalen zur Messung von Ambiguitätstoleranz bezeichnet werden. Andererseits verbirgt sich Ambiguitätstoleranz auch in Skalen, deren Bezeichnung dies nicht unmittelbar erkennen lässt, z. B. bei Webster/Kruglanski. Angesichts dieser Vielfalt an Skalen ist es interessant, sich noch einmal vor Augen zu führen, welchen drei Arten von Aussagen ambiguitätsintolerante Personen nach Frenkel-Brunswik zustimmen sollten: Aussagen (1) zu dichotomisierenden Einstellungen, (2) zur Zurückweisung des Andersartigen, und (3) zur generellen Vermeidung von Ambiguität. Der Vergleich mit den drei von Lauriola et al. ermittelten Faktoren offenbart eine hohe Übereinstimmung, auch wenn ihre Benennung in einem Fall einen entgegengesetzten Fokus setzt: (1) moralischer Absolutismus/Spaltung, (2) Bedürfnis nach Komplexität und Neuheit, (3) Unbehagen bei Ambiguität. Der Akkumulation wissenschaftlicher Erkenntnisse ist die Vielzahl existierender Skalen eher abträglich. Nach Furnham und Marks, die tabellarisch die Befunde von 30 Studien darstellen, die seit dem Jahr 1995 (in dem Furnham und Ribchester eine erste Überblicksarbeit publiziert hatten) veröffentlicht worden waren87, ist die Forschung durch einen Mangel an thematischen oder programmatischen Bemühungen und wenig inspirierende Entwicklungen gekennzeichnet. Immerhin hat die neuere Forschung begonnen, Ambiguitätstoleranz in Beziehung zu den etablierten Big-Five-Persönlichkeitsfaktoren zu setzen88. Zudem sind mögliche neurologische Mechanismen der Ambiguitätstoleranz untersucht worden. Tong et al.89 fanden einen positiven Zusammenhang zwischen der mit der MSTAT-II gemessenen Ambiguitätstoleranz von McLain und dem regionalen Volumen der grauen Substanz im linken dorsolateralen präfrontalen Kortex (DLPFC), der eine Rolle spielt bei der Emotionsregulation, Risikobereitschaft und Verarbeitung neuer Stimuli. Da Studien gezeigt haben, dass sowohl die Big-Five-Faktoren als auch das Volumen der grauen Substanz
87 Vgl. Adrian Furnham/Tracy Ribchester: Tolerance of ambiguity. A review of the concept, its measurement and applications, in: Current Psychology, 14/3 (1995), S. 179–199. 88 Vgl. Marco Lauriola/Renato Foschi/Oriana Mosca/Joshua Weller: Attitude Toward Ambiguity. 89 Vgl. Dandan Tong/Wenjing Yang/Qinglin Zhang/Wenfu Li/Dongtao Wei/Xianwei Che/Meng Zhang/Glenn Hitchman/Jiang Qiu/Yijun Liu/Guikang Cao: Association between regional white and gray matter volume and ambiguity tolerance. Evidence from voxel-based morphometry, in: Psychophysiology, 52/8 (2015), S. 983–989.
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zum Teil erblich sind, liegt es nahe, zu untersuchen, inwieweit auch Ambiguitätstoleranz genetische Wurzeln hat. Abschließend bleibt festzustellen, dass das auf die Arbeiten von Else FrenkelBrunswik zurückgehende Konzept der Ambiguitäts(in)toleranz eine wechselvolle Geschichte aufweist. Es bleibt abzuwarten, welche Entwicklungen es in der Zukunft nimmt. Die Arbeit von Lauriola et al.90 könnte dabei für die weitere Forschung eine gute Ausgangsbasis darstellen, z. B. um sich erneut mit der von Frenkel-Brunswik postulierten Manifestation von Ambiguitätsintoleranz auch im von emotionalen und sozialen Inhalten befreiten kognitiv-perzeptuellen Bereich zu widmen.
Literatur Theodor W. Adorno/Else Frenkel-Brunswik/David J. Levinson/Robert N. Sanford: The Authoritarian personality, New York 1950. Arlin J. Benjamin Jr./Ronald E. Riggio/Bronston T. Mayes: Reliability and factor structure of Budner’s Tolerance for ambiguity scale, in: Journal of Social Behavior & Personality, 11/3 (1996), S. 625–632. Mathias Berggren/Nazar Akrami/Robin Bergh/Bo Ekehammar: Motivated social cognition and authoritarianism. Is it all about closed-mindedness?, in: Journal of Individual Differences, 40/4 (2019), S. 204–212. Eugen Bleuler: Die Ambivalenz, in: Festgabe zur Einweihung der Neubauten der Universität Zürich 18. IV. 1914 (1914), S. 95–106. Stephen Bochner: Defining Intolerance of Ambiguity, in: Psychological Record, 15 (1965), S. 393–400. Douglas A. Bors/Jamie A. Gruman/Sonia Shukla: Measuring tolerance of ambiguity. Item polarity, dimensionality, and criterion validity, in: Revue Européenne de Psychologie Appliquée/European Review of Applied Psychology, 60/4 (2010), S. 239–245. Stanley Budner: Intolerance of ambiguity as a personality variable, in: Journal of personality, 30/1 (1962), S. 29–50. Kenneth Burke: A grammar of motives, Berkeley, Calif. [Nachdr. v. 1945] 2009. Marie Caulfield/Kathryn Andolsek/Douglas Grbic/Lindsay Roskovensky: Ambiguity Tolerance of Students Matriculating to U.S. Medical Schools, in: Academic Medicine, 89/11 (2014). Jose M. Cortina: What is coefficient alpha? An examination of theory and applications, in: Journal of applied psychology, 78/1 (1993), S. 98. Lee J. Cronbach: Coefficient alpha and the internal structure of tests, in: Psychometrika, 16 (1951), S. 297–334.
90 Vgl. Marco Lauriola/Renato Foschi/Oriana Mosca/Joshua Weller: Attitude Toward Ambiguity.
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Rene Ziegler / Raphael Titt
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Marlene Deibl
Agambens ambige Tradition. Eine Perspektive auf Ambiguität nach der Postmoderne
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Vorbemerkungen zu Person und Schaffen Agambens
Giorgio Agamben wurde 1942 in Rom geboren, studierte Jura und Philosophie. Er schloss dieses Studium mit einer bislang unveröffentlichten Arbeit über Simone Weil ab. Seither lehrte er in unterschiedlichen Zusammenhängen Philosophie, vorrangig in Frankreich und Italien. Unter anderem war er von 1986 bis 1992 Directeur de Programme des Collège international de philosophie in Paris, bevor er wieder nach Italien zurückkehrte. Zudem hat er sich als Herausgeber der italienischen Ausgabe der Werke Walter Benjamins und durch Bemühungen, gerade deutschsprachige Autor:innen wie Ingeborg Bachmann oder Robert Walser in Italien bekannter zu machen, einen Ruf in der wissenschaftlichen Gemeinschaft erworben. Seit den frühen 1990er Jahren bemühte er sich auch um Kontakte in die Vereinigten Staaten, wo er in bestimmten akademischen Kreisen stark rezipiert wird, und übernahm dort mehrmals Gastprofessuren,1 ebenso wie in Deutschland. In Italien lehrte er an den Universitäten von Macerata und Verona und zuletzt, von 2003 bis zu seiner Emeritierung im Jahr 2009, wirkte er in Venedig als Professor für Ästhetik. Agamben reiht sich zum einen in eine Reihe mit anderen Denker:innen der Postmoderne wie Jacques Derrida oder Gilles Deleuze ein, zum anderen aber auch in eine Tradition des politischen Denkens mit Hannah Arendt und Michel Foucault.2 1 Die Werke Agambens werden mittlerweile meist schneller ins amerikanische Englisch übersetzt als in die meisten anderen Sprachen. Schlüsselfiguren dieser nordamerikanischen und britischen Agamben-Schule sind unter anderem sein Übersetzer Adam Kotsko, der Theologe Colby Dickinson, der Literaturwissenschaftler Leland de la Durantaye und deren Umfeld sowie der international tätige italienische Philosoph Carlo Salzani oder auch die britischen Philosophinnen Julia Ng oder Yvonne Sherwood. Bemerkenswert ist vor allem, dass alle diese Forscher*innen eher jung sind und sich tendenziell in der Peripherie des akademischen Diskurses bewegen. 2 Die zitierten Bibelstellen richten sich nach den eigenen Übersetzungen Giorgio Agambens mit einem Blick auf die deutsche Einheitsübersetzung und das Neue Münchner Testament.
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Ambiguität als Ausgangspunkt
Hier möchte ich einen Raum im Werk Agambens ausmachen, in welchem dieser einen neuen Gebrauch von theologischen Kategorien macht, wodurch er sie in einer neuen Weise lesbar werden lässt – vielleicht auch für die Theologie selbst. Wer diese Herausforderung annimmt, merkt schnell: Es ist nicht einfach, theologische Aspekte im Werk Agambens zu finden, die sich für die theologisch akzentuierte Lektüre eignen. In Bezug auf die Ambiguität oder Mehrdeutigkeit von Texten ist gleich zu sagen: Agamben verwendet diesen Begriff gar nicht. Dennoch hat er ein komplexes Verhältnis zur Ambiguität, insofern er die produktive Mehrdeutigkeit von Texten der theologischen, philosophischen und literarischen Tradition immer wieder zur Darstellung bringt. Bei Agamben ist dies aber Programm – wir finden einen sehr ambiguitätsaffinen Denker vor, wenn wir uns auf die Lektüre seiner selbst oft schwierigen und mit Mehrdeutigkeiten spielenden Texte einlassen. Diese Mehrdeutigkeit ist aber kein Zufall, sondern methodologisches Kalkül. Agamben möchte die grundlegende Mehrdeutigkeit philosophischen und auch theologischen Nachdenkens mit einer neuen Dignität versehen, indem er stets zu zeigen bemüht ist, dass gerade diese Mehrdeutigkeit das eigentlich produktive Moment vieler Denkbemühungen ist – und nicht die Suche nach einer Eindeutigkeit, die letztlich auf Kosten des Marginalen geht. Dort aber finden sich manchmal die wichtigsten Gedanken, die Geschichte und Gegenwart verbinden. Geschichte ist für Agamben in erster Linie das, was zeitgenössisch (ital. contemporaneo) ist. Das heißt, dass die historischen Untersuchungen Agambens primär darauf ausgerichtet sind, in ein Gespräch, eine Analogie, mit Fragen der Gegenwart gebracht zu werden. Daraus soll sich dann eine erneuerte Perspektive ergeben, in der historisches Beispiel und gegenwärtige Frage beide in neuer Weise gedacht werden können.3 Diesem Konzept eng verwandt ist naturgemäß die genealogische Forschungsmethode, die die Herleitung und die historische Entfaltung eines bestimmten Gedankens oder Begriffs erläutern möchte. Beide, die philosophische Forderung nach Zeitgenossenschaft und die genealogische Methode, teilen eine Ausgangsfrage. Diese ist jene danach, wie eine Herausforderung der Gegenwart historisch so rückgebunden werden kann, dass sich ein veränderter Blick auf Geschichte und Gegenwart ergibt. Das vereint auch so 3 Dem liegt zwar auch das messianische Grundanliegen des Zeitdenkens Agamben zugrunde; es kann aber auch ohne nähere Ausarbeitung dessen hier angedeutet werden, dass dieses umgekehrt wiederum ganz konkret historische Situationen konfiguriert. Ohne näher auf das Denken des Messianischen einzugehen, bei dem es um die philosophische Ausformung dieser Grundintuition geht, kann festgehalten werden, dass historische Zeitgenossenschaft vor allem Handeln in der Gegenwart erschließen helfen soll und gerade die Suspension von Gesetz und Regel die religiöse Figur des Messias für Agamben so interessant macht.
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scheinbar widersprüchliche historiographische Ideengeber wie Foucault, Deleuze, Benjamin, Carl Schmitt, Kafka, Taubes oder Arendt – ihre jeweiligen Blicke auf Geschichte verflechten sich zu einer Lektüreweise, in der historische Zusammenhänge in ihrem konkreten Gehalt und als Teil einer bestimmten Geschichte je neu in den Blick kommen können.
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Ambiguität als Strukturmerkmal von Religion
Nicht nur das Christentum im engeren Sinn, sogar der Begriff der Religion überhaupt ist problematisch geworden und bleibt für Agamben auch eine Chiffre für Glaubenssysteme, die Menschen in Zusammenhänge der Abhängigkeit bringen, besonders für kapitalistische Systemzusammenhänge. Die Analyse des Religiösen hat, wie im Homo sacer-Projekt deutlich wurde, eine doppelte Funktion: Sie lässt wenn sie archäologisch im Sinne Agambens betrachtet wird, einerseits Verstrickungszusammenhänge sichtbar werden, verschleiert diese andererseits aber immer auch. Besonders gut bringt der US-amerikanische Theologe und Agamben-Experte Colby Dickinson auf den Punkt, wie Agamben es mit der Religion hält: »(…) religion does express a profound truth about our reality, but it also serves to mask this truth at the same time.«4
Wie können wir also theologisch mit dem umgehen, was uns Agamben zur Verfügung stellt? Seine analytische Verwendung des Religiösen wird uns zunächst nicht weiterbringen – diese Kritik der Religion ist weit eher eine Angelegenheit der politischen Theorie als der Theologie. Es gibt aber, wie so oft, noch einen »zweiten Agamben«5 – Giorgio Agambens Kritik ist üblicherweise auch der Versuch einer Rettung – im Fall theologischer 4 Colby Dickinson: Agamben and Theology. London/New York 2011, S. 22. Vgl. dazu auch Giorgio Agamben: Creation and Anarchy. The Work of Art and the Religion of Capitalism, Stanford 2019, S. 74–75. 5 Von »two Agambens« spricht der britische Literaturwissenschaftlicher Alex Murray in seiner einführenden Agambenstudie, vgl. Alex Murray: Giorgio Agamben. Routledge Critical Thinkers. Hrsg. v. Robert Eaglestone, London/New York 2010, S. 3–4. Murray erweitert hier entscheidend eine Bemerkung Antonio Negris, vgl. Antonio Negri: The Ripe Fruit of Redemption. Review of Giorgio Agamben’s The State of Exception. Published on Il Manifesto in 2003, translated by Arianna Bove from [the] Italian, URL: https://www.generation-online.org/t/ne griagamben.htm abgerufen am 2. Mai 2021. Murray merkt an, dass es zwei Aspekte Agambens gibt, einen negativ-kritischen und einen positiveren – in etwa stimmt das mit der in »Der Gebrauch der Körper« von Agamben vorgestellten Spannung von Konstitution und Destitution überein. Die »radical openness«, die für Murray (ebd.) den positiven (wenngleich von jedem Positivismus weit entfernten) Teil des Werkes Agambens bietet, wird allerdings auch dessen grundlegende Einheitlichkeit gewährleisten. Wie Murray ausführt, ist es notwendig,
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Denkmotive ist dies sein Herauskehren von deren Ambiguitäten. Oft geht das gegen den Strich der jeweiligen Tradition, das betrifft sowohl jüdische als auch christliche Texte, die seine Hauptbezugspunkte bilden. Bei Agamben gibt es gerade aufgrund dieser Ambiguität sogar voraussetzenden Anlage seines Denkens keine einfach fixierbare Forschungsmethode im Sinne einer bereits festgelegten Struktur seiner Arbeiten, die sich dann auf die theologischen Inhalte anwenden ließe. Inhaltliche und formale Struktur der Werke Agambens sind daher wesentlich aufeinander bezogen und immer wieder hat es den Anschein, Agamben möchte sie gewissermaßen in eins fallen lassen. Sein Anspruch ist es, mit dem Lesen und der Reflexion darauf nochmals neu zu beginnen. Dann wäre es vielleicht möglich, einen veränderten Gebrauch unserer gewohnten Kategorien des Denkens und des Handelns zu machen. Diesen Anspruch gilt es unbedingt ernst zu nehmen. Dies hat auch bedeutende Konsequenzen für eine theologische Lektüre seines Schaffens. Im Wesentlichen ist das Vorgehen Agambens eines, in dem innerhalb von geschlossen scheinenden Zusammenhängen die jeweiligen Möglichkeiten eines befreienden Umgangs, in der Regel zunächst mit Sprache, und damit in der Sichtweise Agambens auch mit politischem und religiösem Handeln, angezeigt werden können. Es ist auffällig, dass Agamben theologische Begriffe häufig als kritische Analysekategorien gebraucht, um problematische historische und politische Zusammenhänge aufzuzeigen.Die Lektüre religiöser Texte im Sinne einer ReLektüre, eines Wiederlesens, bietet neue Möglichkeiten, mit diesen Texten, mit der Tradition und mit den politischen und philosophischen Fragen der Gegenwart umzugehen. Vieles stützt diese Betrachtungsweise. Dort, wo Agamben affirmativ an theologische Zusammenhänge herangeht, geht es in der Regel um biblische oder um direkt auf diese und ihren »Gebrauch« im Leben bezogene franziskanische Werke. Ich möchte den Zugang, den Agamben hier vorlegt, dafür verwenden, eine Möglichkeit zu skizzieren, mit Agamben so mit theologischen Motiven umzugehen, dass ihre Potentialität erkennbar wird. Dafür gehe ich zwei beispielhafte Lektüren Agambens durch. In diesen kommt die grundlegende Ambiguität von Tradition besonders gut zum Ausdruck.
diese beiden Aspekte unter dem Vorzeichen einer Öffnung hin zusammenzudenken: »(…) it is necessary to think the work as a whole in which any critical moment must ultimately be linked to the radical potentiality of the coming community« (ebd., S. 4). Genau das gilt auch für das Zusammenspiel der eher dekonstruktiven, religions- und theologiekritischen Passagen im Werk Agambens mit jenen, an denen wiederum Optionen des Denkens und Handelns mit und an theologischen Motiven entwickelt werden. Es kann aber festgehalten werden: Agamben selbst ist ein mehrdeutiger Denker, dessen Ambiguität Programm ist.
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Tradition als Krisenerfahrung – Agambens Lektüre von Joh 19 und ihre Folgen
Agamben selbst beschreibt seinen Zugang zur theologischen Tradition in ihrer Mehrdeutigkeit ganz deutlich in seinem Buch »Pilatus und Jesus«, einem neueren, kleineren und – wie viele dieser kleineren Schriften – sehr programmatischen Werk.6 Viele Punkte in dieser Rekapitulation des Prozesses7 Jesu werden nicht ausgeführt, zum Begriff der Tradition und ihrer Lektüre jedoch macht Agamben eine zentrale Aussage. Es geht in »Pilatus und Jesus« im Wesentlichen um einige philologische Überlegungen in Bezug auf den Text von Joh 18 und Joh 19, also die Passagen des Johannesevangeliums, in denen die Verhaftung, das Verhör durch die Hohepriester und die Auslieferung und Verurteilung Jesu durch den römischen Statthalter Pilatus geschildert wird, ebenso wie die darauffolgende Kreuzigung und der Tod Jesu und seine Grablegung. Hier möchte ich nur auf eine dieser Überlegungen eingehen, die uns einen Schlüssel für das Verständnis vieler Überlegungen Agambens in Bezug auf biblische Texte und Texte der theologischen Tradition an die Hand gibt. Die von Agamben verwendete Argumentationsstrategie beginnt damit, gleich auf die auch sprachliche Mehrdeutigkeit hinzuweisen, in der uns der biblische Text vorliegt. Das betrifft sowohl die Grammatik als auch die Übersetzungen vom Griechischen ins Lateinische, vom Lateinischen in moderne Sprachen. »Während des gesamten Prozessberichts kehrt nicht nur bei Johannes ein Verb so beharrlich wieder, dass seine Häufung nicht dem Zufall geschuldet sein kann: paredoken (›auslieferte‹, Vulg. tradidit), im Plural paredokan (›auslieferten‹, Vulg. tradiderunt). Allem Anschein nach geht es bei der Leidensgeschichte Jesu um nichts anders als eine ›Auslieferung‹, eine ›Tradition‹ im eigentlichen Sinn des Wortes.«8
Die traditio ist also in erster Linie eine Auslieferung, ja ein Verrat: Das Verb kehrt auch dort wieder, wo Jesus von Judas verraten wird und auch an einer ganz zentralen Stelle etwa in Röm 8,32: »Gott hat seinen einzigen Sohn nicht verschont, 6 Näheres dazu habe ich dazu in meiner Masterarbeit grundgelegt: Marlene Deibl: »Du sprichst nicht mit mir?« Auf dem Weg zu einer negativen Topologie der Ausnahme in der Spannung zwischen historisch-biographischer Topographie und allgemeiner Begriffsarbeit. Versuch einer Rückbindung mit Giorgio Agambens Lektüre des Pilatus-Motivs, Masterarbeit Universität Wien 2017. 7 Eine wesentliche Frage für Agamben ist hier tatsächlich, ob ein juridischer Prozess nach römischem Recht beziehungsweise dessen Geltung für das Verwaltungsgebiet des Pilatus stattgefunden hat oder eher eine Parodie eines Prozesses. Vgl. Giorgio Agamben: Pilatus und Jesus. Berlin 2014, S. 30–31. 8 Giorgio Agamben: Pilatus und Jesus. Berlin 2014, S. 36.
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sondern für uns alle hingegeben (paredoken)«9 Tradition ist dann, so Agamben mit Karl Barth, immer eine Verlängerung dieses Auslieferungsverfahrens, das von der Auslieferung des Sohnes durch Gott über die Auslieferung Jesu in den irdischen Vollzügen hin zum Aushauchen des Geistes auf Golgatha führt10 – ein unumgänglicher, heilsökonomischer Prozess, den die christliche Tradition einfach fortsetzte und nacherzählte. So einfach ist es aber nicht mit der Tradition – Agamben beeinsprucht diese Interpretation mit einem Hinweis zunächst darauf, dass es für das Neue Testament zwei Bedeutungen der paradosis oder traditio gibt. Zum einen wird das Wort dafür verwendet, positiv die schriftliche oder auch mündliche Überlieferung zu kennzeichnen, wenn diese von Jesus ausgedeutet oder kritisiert wird. Zum anderen wird er immer mehr zum bloßen terminus technicus der Theologie. Dementsprechend gibt es in dieser letzteren Lesart nur »eine wahrhaft christliche Tradition: die der ›Auslieferung‹ Jesu zunächst durch den Vater, dann durch Judas und die Juden – am Kreuz, die alle Überlieferungen verwirklicht und aufhebt.«11 Zentral ist hier vor allem die Frage nach dem Status der in den Prozess Jesu und in der Erweiterung des Gedankens in die christliche Tradition und den christlichen Glauben involvierten Menschen: Sind unsere Optionen bereits in der Tradition verwirklicht oder können wir uns dazu noch verhalten? Paradigmatisch für diese Frage steht die Figur des Pilatus. Dieser steht traditionell, wie Agamben auch ausführt, als Vollstrecker eines heilsökonomischen Geschehens da, an dem er eigentlich keinen Anteil hat: Er ist von vornherein schon dazu verurteilt, das Urteil zu sprechen, das die Menschheit in Jesus Christus am Kreuz erlösen soll. Damit wird jedoch die weltliche Geschichte zu einer reinen Vollstreckungsinstanz der göttlichen Heilsökonomie und Pilatus sieht sich einer unmöglichen Aufgabe gegenüber, denn er kann hier nicht mehr richten. Agamben aber plädiert mit einer zweiten philologischen Pointe für eine Alternative, mit einer Verschiebung des Ablaufes des Gerichtsverfahrens und dem Blick auf die Geschichte: Wer richtet hier eigentlich? Wer liefert aus und wer wird ausgeliefert? Wie Agamben anhand der unklaren Bedeutung der entsprechenden Stelle in Joh 19 ausführt, ist es sogar im Letzten nicht klar, wer eigentlich auf dem Richtstuhl des Pilatus sitzt – dieser oder Jesus selbst.12 9 10 11 12
Vgl. ebd., S. 37. Vgl. ebd., S. 38 und Joh 19, 30: »paredoken to pneuma«, in der Vulgata »tradidit spiritum«. Ebd., S. 39–40. Es geht hier konkret um die Übersetzung der ersten Worte von Joh 19,13. Das Münchner Neue Testament lässt die Interpretation im Übrigen offen und übersetzt korrekt: Pilatos, hörend auf diese Worte, führte nach draußen Jesus und er setzte sich auf den Richtstuhl (ekathisen epi tou bematos). Ebenso in der Einheitsübersetzung: Auf diese Worte hin ließ Pilatus Jesus herausführen und er setzte sich auf den Richterstuhl (…). Wer sich hier setzt ist offen
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Die Auslieferung, die hier stattfindet, ist ambivalent – die Tradition ist, ebenso wie der Kanon der Schrift, kein bloßer Speicher, kein Archiv, in dem ein sich selbst gleichbleibendes Wissen oder Wort uns gewissermaßen überreicht würde. Vielmehr ist die Rede von der »Entwicklungsfähigkeit«, die historisch scheinbar Unverbundenes zusammenbringt, als Korrektiv eines solchen Verständnisses von Tradition zu sehen. Gleiches gilt auch für das Studium der Schrift und die Lektüre paradigmatischer Zusammenhänge. Tradition ist immer auch problematisch, in ihrer Mehrdeutigkeit und Strittigkeit produziert sie dabei allerdings stets Momente der Entwicklungsfähigkeit. Dafür muss sie aber immer wieder auch unterbrochen, das heißt befragt und durchaus mit widersprüchlichen Lesarten konfrontiert werden. Es geht hier auch um einen Gebrauch der Tradition, eine ethische Haltung, die aber keine festen Normen an das Gelesene heranträgt, sondern sich der in der Lektüre auch möglichen Krisenerfahrung bewusst aussetzt. Dafür steht für Agamben ganz besonders die Figur des Pilatus, der das Heilsgeschehen als völlig Außenstehender kritisch befragt und gleichzeitig zum Punkt der Ununterscheidbarkeit bringt, an dem nicht einmal mehr klar ist, ob ein Urteil gesprochen werden kann und an dem sich die Tradition wieder in Gang setzt. »Dass das Verhalten des Pilatus andere Ursachen hat als das des Judas geht zweifelsfrei daraus hervor, dass Jesus zu Judas sagt: ›Was du tun musst, das tu bald‹ (Joh 13,27), während er sich mit Pilatus auf ein längeres Gespräch einlässt und ihn bis zuletzt von seiner Unschuld zu überzeugen versucht. Der Präfekt von Judäa und die krisis, das Urteil, das er verkünden muss, fügen sich in die Heilsökonomie nicht als passives Werkzeug ein, sondern als die reale Gestalt eines historischen Dramas samt ihrer Leidenschaften und Zweifel, ihrer Launen und ihrer Bedenken. Pilatus’ Prozess ist der Einbruch der Geschichte in die Ökonomie, deren ›Überlieferung‹ er unterbricht. Die historische krisis ist auch und gerade eine Krise der ›Tradition‹.«13
Es geht hier also nicht darum, bereits bestehende theologische Gehalte auszuhebeln, sondern sie auf einen Gebrauch hin zu befragen, der eine neue Lektüre öffnet, hier eine der Geschichte und der Erzählung, die sich als »Tradition« präsentiert. Weltliche und überweltliche Macht sind hier endlich einmal zu einem Punkt der Ununterscheidbarkeit von christlicher Heilserzählung und ganz säkularem, gelassen; normalerweise wird der Versteil allerdings so übersetzt, dass Pilatus sich setzt. Agamben plädiert für die minoritäre exegetische Tradition, die ekathisen transitiv (mit Iesoum, Jesus) als Akkusativobjekt übersetzt, sodass sich Jesus auf den Richtstuhl setzt und eben nicht Pilatus. Damit würde der Prozess Jesu jedoch in keinem Fall rechtskräftig sein und sich sogar eigentlich in eine Farce verwandeln. Jesus wird demnach nicht verurteilt, sondern bloß ausgeliefert. Im Text ist auch nicht von einem Urteil die Rede. Weder Pilatus urteilt über Jesus noch umgekehrt. 13 Ebd., S. 42.
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geschichtlichen, Geschehen gekommen – hier und nicht in der Auslieferung, dem Transzendieren der Erzählung, des Urteils und des Menschlichen liegt das, was laut Agamben als Erlösung bezeichnet werden kann – und es ist niemals vereinbar mit dem, was dem Urteil gegenüber Gerechtigkeit heißt, wie Agamben in einer kondensierten Weise nochmals zusammenfasst, wofür die Juxtaposition von Pilatus und Jesus steht. Pilatus kann gerade keine irdische Gerechtigkeit walten lassen, weil das Reich Christi nicht von dieser Welt ist und gleichzeitig ist die Heilsgeschichte fundamental ungerecht gegenüber Pilatus, der ja überhaupt kein hier anwendbares Recht besitzt und von dem doch ein Urteil verlangt wird. Agamben sagt zu dieser Gegenüberstellung: »Gerechtigkeit und Erlösung, die einander stets aufs Neue ausschließen und hervorrufen, lassen sich nicht versöhnen.«14 Pilatus erweist sich so auch als von Agamben evozierte Figur, die die Unmöglichkeit, Gebrauch von ihren eigenen Rechts- und Handlungskategorien zu machen und das gerade weil sie sich in einer Situation befindet, in der sie eine Form der Souveränität personifiziert, die eigentlich nicht wirklich anwendbar ist. Das ist die Position, die Pilatus zur Uneindeutigkeit, zur Mehrdeutigkeit und nicht abschließend in einem Urteil einer rechtskräftigen Deutung zuführbaren Komplexität der Situation einnimmt. So beginnt die christliche Tradition. Gleichzeitig hat das eine politische Dimension. Pilatus kann nicht urteilen, er kann seine Macht nur durch Unterlassung ausüben. Die Souveränität des Pilatus ist von Jesus unterlaufen. Pilatus ist aber gerade nicht der Souverän, der versucht, den Messias zum Homo sacer zu machen. Pilatus ist ein Mensch wie wir, der dem Heilsgeschehen und seiner verstrickten Rolle darin ganz profan und human und letztlich ohnmächtig gegenübersteht. Dennoch ist er zum Handeln gezwungen und gibt sich sogar ohne Not der Schmach Preis, seine Unschuld zu beteuern. Moderne Menschen können sich darin in manchen Aspekten gut wiederfinden. Es ist beispielsweise in Bezug auf die Komplexität der wirtschaftlichen Zusammenhänge des gegenwärtigen Konsumkapitalismus fast unmöglich, »moralisch« einzukaufen oder Handel zu betreiben. Wie Pilatus sind wir immer wieder auf beinahe komische Weise zu einem Urteil gezwungen, wo uns jegliche angemessenen Maßstäbe oder Kompetenzen abgehen. Ähnliches gilt häufig für politisches Handeln –wie Pilatus sind wir uns der Unvereinbarkeit von Gerechtigkeit im Sinne des Interessensausgleichs und einem erlösten, befreiten Handeln bewusst. Dieses Bewusstsein alleine erlöst uns aber nicht vom Zwang zur willentlichen Entscheidung. Die Tragikomik des Pilatus betrifft uns alle. Gleichzeitig ist es, wie Agamben nahelegt, keine sinnstiftende Umgangsweise mit der Mehrdeutigkeit solcher unmöglichen Situationen, eine Entscheidung erzwingen zu wollen. Besser ist es vielleicht, die eigene Handlungsunfähigkeit und auch die 14 Ebd., S. 60.
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daraus sich ergebenden realen Konsequenzen – Jesus wird ja ausgeliefert und gekreuzigt – nochmals zur Disposition zu stellen. Pilatus tut ja allerhand, um die Mehrdeutigkeit noch zu vergrößern, indem er symbolische Handlungen wie das Händewaschen setzt. Wenn Jesus als Richter, der nicht richtet, Pilatus als Richter ersetzt, der dann ja ebenfalls nicht richtet, sondern bloß darauf reduziert ist, auszuliefern, dann ist hier ein Grundproblem von Souveränität und Gesetzlichkeit, das als solches in seiner Ambiguität nicht auflösbar ist, direkt in die christliche Tradition eingeschrieben. Das entspricht auch wesentlichen Beobachtungen zum Gesetz, die Agamben macht. Auf diese lohnt es sich einzugehen. Das möchte ich am Beispiel eines Interpretationsproblems tun: Der Frage, wie Franz Kafka zu lesen sei.
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Der ambige Umgang mit der Tradition als Lektüre jüdischer Autoren
In Homo Sacer I, seinem politisch-theoretischen Schlüsselwerk15, geht Agamben, das rekonstruiert der italienische Germanist Massimo Salgaro16, auf die Lesarten ein, die Massimo Cacciari und Jacques Derrida von der Erzählung Kafkas mit dem Titel »Vor dem Gesetz«, geliefert haben.17 Bekanntlich handelt die kurze und äußerst mehrdeutige Erzählung von einem »Mann vom Lande«, der vor das Gesetz tritt. Dort steht ein Türhüter. Der Mann möchte eintreten. Der Hüter vertröstet ihn und meint, dass das Gesetz noch viel mehr und mächtigere Türhüter habe als ihn. Der Mann beschließt zu warten. Eine lange Zeit vergeht. Der Mann bemüht sich mit allen seinen Mitteln, mehr zu erfahren, aber vergeblich. Dem Mann schwinden schließlich die Kräfte und er schickt sich an zu sterben. Am Ende fragt er noch den Türhüter, warum niemand außer ihm versucht habe, durch die Tür des Gesetzes einzutreten. Darauf meint der Türhüter: »Hier konnte niemand sonst Einlaß erhalten, denn dieser Eingang war nur für dich bestimmt. Ich gehe jetzt und schließe ihn.«18 Dieser Text wurde seit seiner Publikation häufig interpretiert und wird auch für die philosophische Dekonstruktion in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts
15 Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben. übers. v. Hubert Thüring, Frankfurt am Main 2002. 16 Massimo Salgaro: Kann man das Offene öffnen? Benjamin und Scholem, Agamben und Derrida vor dem Gesetz in: Franz Kafka – »Ein Landarzt«, Hrsg. v, Elmar Locher, Bozen 2004, S. 75–90. 17 Vgl. Homo sacer I, S. 60. 18 Franz Kafka: Das Urteil und Andere Erzählungen. Text und Kommentar. Hrsg. v. Peter Höfle, Frankfurt a. M. 2003, S. 27–28.
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interessant. Agamben bezieht sich auf dekonstruktive Thesen zur Tradition, deutet sie aber nochmals um. Derrida wie Cacciari weisen, so Massimo Salgaro, »explizit darauf hin, daß nichts den Mann vom Lande hindert, durch die Tür des Gesetzes einzutreten, auch nicht das Verbot des Türhüters.«19 Noch deutlicher ist das von Derrida aufgeworfene Problem, auf das Agamben eine Antwort sucht, jenes, dass in der Erzählung Kafkas der Aufschub bestehen bleibt. Auch der Tod des Mannes erfüllt den Aufschub nicht, sondern beendet ihn nur zu einem gewissen Zeitpunkt. Für Agamben entscheidet sich hier allerdings auch die Rolle der Dekonstruktion, so Salgaro. Für Agamben habe diese »den Posten des Türhüters eingenommen. Sie hat die Unentscheidbarkeit in Bezug auf die Tradition, die gilt ohne zu bedeuten, gewählt und will sie den anderen aufzwingen.«20 Damit wirft er dem Denken der Dekonstruktion vor, durch seine aufschiebende Haltung eigentlich die Position des Türhüters einzunehmen, also gar nicht die Rolle des Mannes vom Lande richtig in den Blick zu bekommen. Der eigentliche Punkt dieser Erzählung kann eigentlich nicht die Betonung eines Aufschubs sein. Das nämlich, weil das wesentliche Ereignis, das Auffinden des Gesetzes, bei Kafka immer schon vergangen ist. Agamben würde in seiner Lektüre des Todes des Mannes vom Lande unterstreichen, »wenn das Offensein des Gesetzes seine spezifische Macht bildet, dann kann die ganze Geschichte als eine Strategie des Mannes vom Lande gelesen werden, um das Tor zu schließen und damit die Geltung des Gesetzes zu unterbrechen.«21 Die Geltung des Gesetzes bestand gerade in seinem Aufschub, in seiner nie vollständigen Geltung. Diese unterbricht der Mann vom Lande mit dem Einsatz seines gesamten Lebens, seines Vermögens und seiner Listen. Zu warten ist seine Lebensform und damit zwingt er auch den Türhüter schließlich zum Handeln und zum Abschluss des Gesetzes. »Im Gegensatz zu Derrida denkt Agamben nicht, dass der Sinn der Legende [von »Vor dem Gesetz« d. Verf.] der sei, ein Ereignis darzustellen, das erreicht, sich nicht zu ereignen. Die Geschichte berichtet hingegen, daß tatsächlich etwas geschieht, was nicht zu geschehen scheint. Durch eine List, so glaubt Agamben, befreit sich der Mann vom Lande am Ende der Erzählung sowohl vom Bann des Gesetzes als auch von der Untradierbarkeit der Kultur.«22
Dieser Gedanke begegnet auch in einer der anderen direkten Lektüren Kafkas, die Agamben vornimmt, in dem abschließenden Text der Sammlung »Idee der 19 20 21 22
Salgaro wie oben, S. 86. Ebd. Ebd., S. 88–89. Ebd., S. 89, Herv. d. Verf.
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Prosa«, nämlich »Kafka vor seinen Interpreten verteidigt«. Hier versucht Agamben in genauer Übereinstimmung mit den Analysen Salgaros, Kafkas Verhältnis zur Tradition nochmals neu zu bestimmen und seine Gleichnisse und Erzählungen als solche schon zu den Schlüsseln der Interpretation zu machen: »Unsere ehrwürdigen Väter – die Patriarchen – suchten, da sie nichts zu erklären fanden, in ihrem Herzen nach einem Ausdruck für dieses Geheimnis und fanden schließlich für das Unerklärliche keine geeignetere Darstellung als die Erklärung selbst. Die einzige Weise, zu erklären, daß es nichts zu erklären gibt – so schlossen sie –, ist die, dafür Erklärungen zu liefern. Jede andere Einstellung, das Schweigen nicht ausgenommen, faßte das Unerklärliche mit allzu ungeschickten Händen an: nur die Erklärungen lassen es unversehrt.«23
Worum geht es in den beiden ungleichen Erzählungen, der johanneischen zu Pilatus und der Kafkas über den Mann vom Lande, der »Vor dem Gesetz« steht? Beide finden in der gegen den Strich, das heißt auch gegen herkömmliche Interpretationen, gehenden Lektüre Agambens überraschende Strategien, mit einer Herausforderung durch das Gesetz umzugehen und schließlich eine überraschende Entscheidung herbeizuführen, ohne selbst klar als willentlich Handelnde in Erscheinung zu treten. Das Überlieferte, Ausgelieferte, kommt in beiden Fällen als Segen und als Gefahr gleichermaßen daher. Das Unerklärliche muss in – auch performative – Erklärungen gefasst werden, ohne dass aber eine Erklärung absolut gesetzt würde. Dieser prekäre Prozess des Studiums verbindet für Agamben auch die jüdischen und christlichen Haltungen zur Tradition mit seiner Sprachphilosophie. Mehrdeutigkeit ist also nicht einfach etwas, das der Tradition zustößt, sondern eine für sie konstitutive Eigenschaft. Nur in einem Verhältnis zur Ambiguität, zu einer Mehrdeutigkeit, die semantisch genauso wie semiotisch sich nicht auf ein Urteil, eine Lesestrategie, festsetzt, kann gewährleistet werden, dass das eigentlich zum Ausdruck kommende Unsagbare adäquat dargestellt wird. Es geht also auch um einen Umgang mit der Tradition, der den Prozess der bloßen Auslieferung, den nihilistischen Zug der traditio, unterläuft. Die Frage kehrt auch an anderen, bedeutenden Stellen im Werk Agambens wieder, vielleicht am prominentesten im Gleichnis von den vier Rabbis aus dem Babylonischen Talmud, auf das Agamben an wesentlichen Punkten in den das Homo sacer-Projekt vorbereitenden Büchern »Mittel ohne Zweck« und »Die kommende Gemeinschaft« zu sprechen kommt. »Nichts kommt jener Lage näher als jene Sünde, die die Kabbalisten ›Absonderung der Schechina‹ nennen und die sie Aher zuschreiben, einem der vier Rabbis, die nach einer berühmten Aggada des Talmud in das Pardes (d. h. zur höchsten Erkenntnis) eingehen.
23 Giorgio Agamben: Idee der Prosa, S. 149.
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›Vier traten in das Paradies ein‹, so wird erzählt, ›und zwar: Ben Azaj, Ben Zoma, Aher und Rabbi Akiba (…) Ben Azaj schaute und starb (…) Ben Zoma schaute und wurde wahnsinnig (…) [sic] Aher schnitt die Zweiglein ab. Rabbi Akiba entschritt unversehrt.‹«2425
Agamben sieht in diesen vier Zugängen zum durch die mystische Erkenntnis eröffneten Paradies Optionen des Umgangs mit der Sprache und der Menschwerdung, der Anthropogenese in und durch die Sprache. Wiederum bürstet Agamben eine ganze Tradition gegen den Strich, wenn er die Schechina als die Erscheinungsform von Malkuth, der letzten Sefirah, also die letzte der zehn Sefirot des Talmud, als Sprache versteht. In der Kabbala wird diese letzte Emanation als nicht direkt von Gott ausgehende gelesen, sondern sie tritt erst dann zu den anderen Attributen Gottes hinzu, wenn die Schöpfung Gott angemessen widerspiegelt. Sefirot sind die immanenten Emanationen oder Attribute Gottes in der kabbalistischen Tradition der jüdischen Mystik, in der Regel zehn an der Zahl. Die Schechina markiert dabei die höchste Möglichkeit der Attribuierung Gottes. Dieses Motiv ist dabei gar nicht so weit von der christlichen Tradition entfernt, wie es zunächst scheinen mag. Die Mystiker des Mittelalters, die diese Theorien erarbeitet haben, sind weniger an Fragen der Gottes- oder Schöpfungslehre interessiert und vielmehr an der Frage der Offenbarung, also danach, wie Gott den Menschen und anderen Geschöpfen erscheinen kann.26 Dieses Problem sieht Agamben nun in einer überraschenden Wendung verbunden mit der Umgangsweise, die die Gesellschaft der Spätmoderne mit der Sprache und damit mit der Verbindung zu allen ihren anderen Ressourcen pflegt. Diese ist, so Agamben, von einem Nihilismus geprägt, der der Abtrennung der Schechina gleichen würde, nämlich der willkürlichen Abtrennung der Sprache von ihrem Anspruch, etwas zu offenbaren. Unser Umgang mit der Sprache würde eigentlich nur mehr implizieren, dass sie nichts offenbart und sogar vorgibt, das »Nichts aller Dinge« zu offenbaren.27
24 Giorgio Agamben: Noten zur Politik. Übers. v. Sabine Schulz, Zürich 2005, S. 81; Agamben zitiert in einer leicht veränderten Version nach »Der Babylonische Talmud«, übers. von Lazarus Goldschmid, Darmstadt 1996«, Bd. IV, Hagiga 14b, S. 283–288; vgl. dazu die Fußnote des Übersetzers: Giorgio Agamben: Mittel ohne Zweck, Fußnote 56, S. 139. 25 Eine alternative Übersetzung des letzten Satzes wäre auch: »Er ging in Frieden ein und ging friedlich wieder heraus.« Anm. d. Verf. 26 Als einer der ersten hat dies gründlich aufgearbeitet: Scholem, Gershom: Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen. Frankfurt am Main 1957. Agamben weist selten auf Scholem hin, dessen Werk und insbesondere der enge freundschaftliche Zusammenhang Scholems mit Arendt und Benjamin grundieren aber wahrscheinlich Agambens häufige Hinweise auf die talmudische und kabbalistische Tradition mit. Vgl. zur Schechina dort v. a. S. 120–122. 27 Giorgio Agamben: Mittel ohne Zweck, S. 82.
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Dieses Nichts der Dinge, der Nihilismus, sei nun keine inhaltliche Bestimmung, sondern wurde gerade in einer Abtrennung der einfachen, menschlichen Erfahrung der Sprache von positiven, konkreten, denotativen Gehalten gesetzt, mit denen Menschen dann wieder, meist in wirtschaftlichen und institutionspolitischen Zusammenhängen, in Verbindung gebracht werden müssen. Kurz: Für die Kabbalisten war es die größte Sünde, Eindeutigkeit herstellen zu wollen, auch und gerade in der Schau des Paradieses! Agamben legt an dieser Stelle nahe, dass der nihilistische Zug der Moderne nicht aus einer unübersehbaren Vielfalt von verschiedenen Lebensentwürfen und Sprachen besteht. Es verhält sich umgekehrt: Das Erzwingen von Eindeutigkeit ist genau das, was es zu vermeiden gilt. Es geht gerade darum, Ambiguitäten immer wieder neu in den Blick zu bringen, um mit etwaigen Eindeutigkeitserfahrungen besser umgehen zu können. Wenn es einen humanen Erfahrungshorizont des Sprechens gäbe, wie ihn Agamben erreichen möchte, dann wäre die von Agamben entworfene Gemeinschaft eine Gemeinschaft derer, die die Deaktivierung des nihilistischen Ausnahmezustands erreicht und als solche schon ermöglicht. Sie würde mit der Sprache, dem Recht, der Religion eben genauso umgehen wie Akiba: »Wie Rabbi Akiba in der Aggada des Talmud werden sie in das Paradies der Sprache eintreten und es unversehrt wieder verlassen.«28
Agambens Lesart möchte einen Ort anzeigen, wo die Sprache nicht als etwas »Abgetrenntes«, gewissermaßen im Sinne einer spirituell-mystischen Verbannung in ein Jenseits der Welt, gelesen würde29, sondern wo die durchaus mystische Erfahrung einer »reinen Sprache« für sich stehen würde, aber eben gerade in Bezug auf das Diesseits. Diese Erfahrung ist aber dann wieder nichts Außergewöhnliches, sondern muss, wie es die als einzige gelingende Reaktion Akibas zeigt, einfach in den humanen und profanen Alltag zurückführen. Agambens Vorschlag für den Umgang mit Sprache und Offenbarung ist, beide einfach erst einmal sein zu lassen – gerade in ihrer Mehrdeutigkeit, denn eigentlich ist es genau diese letzte Unentscheidbarkeit, die uns in den vielen Meinungen der Tradition erschlossen wird. Die Tradition tradiert ihre eigene Mehrdeutigkeit, und das ist schon ihr Geheimnis. Von dort führt aber kein Weg in eine reine, wiederum abtrennbare, mystische Schau, die nicht mit den alltäglichen Gegebenheiten zu tun hätte. Vielmehr be28 Giorgio Agamben: Mittel ohne Zweck, S. 83. 29 Auf der Ebene des Umgangs mit der Sprache wäre das ein »Abschneiden der Zweiglein«, also ein unnatürliches, die kreatürliche Beziehung zu Schöpfung und Offenbarung unterbrechendes Fehlverhalten. In der sprachorientierten postmodernen Philosophie wäre das eine Art Verlorengehen an die Sprache, eine Suche nach einer ursprünglichen Sprache oder einfach ein Festhalten an ihrem positivierenden, denotativen Gehalt.
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finden wir uns oft in einer schier ausweglosen Situation gerade dem Recht gegenüber, wie etwa Pilatus, der weiß, dass er kein angemessenes Urteil fällen kann und alles in seiner Macht stehende tut, diese Ohnmacht auch performativ zu markieren. Und genauso wie der Mann vom Lande, der sich dem Gesetz, aufgeschoben oder angewendet, gleichermaßen ausgesetzt sieht. Er bezahlt mit dem eigenen Leben für einen Widerstand, denn das Gesetz, das solcherart belagert wird, bleibt deaktiviert und der Mann bleibt, freilich zu einem hohen Preis, unbelangt von seinen Hütern. Beide haben Strategien, ihre eigene Möglichkeit, in einer durchaus komisch zu nennenden Weise ihre Rolle immer nur verfehlen zu können und sie gerade dadurch zu erfüllen: Wie soll sich ein einzelner Mensch denn zum Gesetz als solchem verhalten? Wie soll ein weltlicher Richter, dem nur seine menschliche potestas zur Verfügung steht, den Sohn Gottes richten? Aber Gesetz und Gottessohnschaft richten sich letztlich an die Menschen. Sie tun das über den stets weitergebenden, aber stets auch ausliefernden Prozess der Tradition. Diese hingegen haben ein komplexes Verhältnis zu den Weisen, wie ihnen irdische Gerechtigkeit und messianische Erlösung offenstehen könnten. Am besten, so suggeriert es Agamben, macht man es wie Akiba: Das Paradies ansehen und wieder umdrehen können. Von der Eindeutigkeit einer direkten Schau des Geheimnisses dennoch unbelangt zu bleiben, weil die existentielle Aufgabe des Rabbis oder des Theologen nicht darin besteht, Eindeutigkeit herzustellen oder in der mystischen Schau zu verbleiben. Der eigentlich interessante Ort für den Menschen, der Ort der Geschichte und der Sprache in ihrer ganzen Ambivalenz ist daher: die Mehrdeutigkeit des immer neuen und erneuerbaren Studiums.
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Fazit: Mehrdeutigkeit ist das, was in der Tradition tradiert wird
Ethische und anthropologische Reflexion tun daher laut Agambens Analysen wirklich gut daran, sich an der jüdisch-christlichen Tradition zu orientieren – allerdings aus einem Grund, der für diejenigen, die diese Traditionen hüten, ein unangenehmer ist. In der Spannung von christlicher Eschatologie und jüdischem Messianismus (die sich übrigens ganz besonders in den paulinischen Schriften niederschlägt), von Tradition und Ausdeutung, von Gerechtigkeit und Erlösung, hat sich immer schon eine Umgangsweise gezeigt, mit dem, was die Sprache für das menschliche Wesen bedeutet. Damit war auch schon eine Möglichkeit aufgezeigt, doch einen Gebrauch der Sprache, des Lebens zu ermöglichen, der sich sowohl der Positivierung als auch dem Nihilismus entzieht. Gleichzeitig können
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in dieser Option aber auch keine klaren religiösen Identitäten oder dogmatischen Gehalte festgemacht werden.30 Agamben »übersetzt« nicht theologische Begriffe in den säkularen Bereich, oder umgekehrt. Er stellt einfach die Vitalität und Aktualität ganz zentraler theologischer Konzepte vor, die auch eine politische ist. Diese Vitalität besteht gerade in ihrer Mehrdeutigkeit. Diese Mehrdeutigkeit steht entsprechend nicht der Tradition gegenüber, sondern ist ihre ganz eigene Eigenschaft, ja die Grundbedingung ihrer Weitergabe und je neuen Lesbarkeit. Ich möchte mit einer Aussage von Schillebeeckx enden, die sehr genau auch nochmals jene Mehrdeutigkeit zum Ausdruck bringt, die Agamben der theologischen Tradition in ihrer Verflechtung mit der säkularen Sphäre zum Ausdruck bringt. Beide sind nämlich nicht eindeutig trennbar, sondern ergeben immer eine neue Lesbarkeit aufeinander. Ambiguität kann so als einendes, nicht trennendes, Moment gesehen werden, das Kirche, Gesellschaft, Religion und Glauben stets aufeinander offenhält. Nur so bleibt das, was menschliche Erfahrung genauso wie eine mögliche Bezugnahme auf das, was in allen Aussagen nicht ausgesagt werden kann, erhalten: »Unsere geschaffene Welt kann niemals völlig ›säkularisiert‹ werden: In jedem geschaffenen Wesen und in jedem Menschen bleibt etwas wie ein Duft, eine Spur des Geheimnisses des absoluten ›Ursprungs‹. Daraus folgt, daß jeder Mensch mit der ihm eigenen Würde und seiner begrenzten Autonomie am Geheimnis des Göttlichen teilnimmt und daß kein Geschöpf bereit oder fähig ist, das eigene Wesen vollständig zu enthüllen.«31
Klingt das alles nicht sehr theologisch um eine geeignete Zusammenfassung für einen philosophischen Entwurf zu geben? Dann nochmals Agamben: »Nur derjenige kann der Gegenwart zeitgenössisch sein, der im Modernsten und Neusten die Signaturen des Archaischen wahrnimmt. Archaisch bedeutet: der arche, dem Ursprung, nahe. Der Ursprung ist jedoch nicht in einer chronologischen Ver30 Ein großer Vorteil dieser Lesart ist übrigens auch, dass sie hier die Ineinssetzung von Judentum und (unfrei machendem) Gesetz unterläuft, die in der europäischen Geistesgeschichte viel antisemitischen Schaden hinterlassen hat. In Agambens Lesart wäre, wenn überhaupt, dem Christentum durch die Vereinheitlichungstendenzen seiner Institutionalisierungen und seiner Zentralisierung in Rom die Neigung zu dem zuzuschreiben, was paulinisch als »Gesetz« fungiert. Dieses ist in dieser Lesart viel weniger der gerade nachchristlichen jüdischen Tradition zuzuschreiben, die sich in einer produktiven und existentiell notwendigen Distanz zum Christentum und in einer pluralistischen Spannung innerhalb ihrer selbst immer wieder zurechtfinden musste, ohne dass ihre »Gesetze« sich mit staatlicher Souveränität so verbündeten, wie es das Christentum jedenfalls von Konstantin bis ins 19. Jahrhundert und sogar bis heute tut. Eine Agamben folgende Theologie könnte damit niemals ohne Judentum auskommen (und das ganz grundlegend ab Paulus). 31 Edward Schillebeeckx: Ich höre nicht auf, an den lebendigen Gott zu glauben. Gespräche mit Francesco Strazzari. Übers. v. Barbara Häußler, Würzburg 2006, S. 58.
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gangenheit zu suchen: Er ist dem historischen Werden gleichzeitig und wirkt unablässig in ihm fort (…) wie das Kind im Seelenleben des Erwachsenen fortwirkt.«32
Das Lesen im spezifischen Sinn Agambens, als Studium und als Offenhalten des Ambigen, möchte genau diesen Ursprung, der immer ein neuer Anfang ist, auch dort finden, wo die Traditionen dazu neigen, zu erstarren und ihre chronologische Vergangenheit absolut zu setzen, anstatt die Mehrdeutigkeit dessen, was kommt, zu erforschen. Nur so käme auch das »Geheimnis des Göttlichen« in den Blick, wie Schillebeeckx schreibt: Nicht durch die Enthüllung von wesenhaften Eigenschaften, sondern durch das Fortwirken des nicht erreichbaren, immer nur in Mehrdeutigkeiten, in der ambigen Tradition gegebenen Ursprungs.
Literatur Giorgio Agamben: Creation and Anarchy. The Work of Art and the Religion of Capitalism, Stanford 2019. Giorgio Agamben: Pilatus und Jesus. Berlin 2014. Giorgio Agamben: Nacktheiten. Übers. von Andreas Hiepko, Frankfurt am Main 2009. Giorgio Agamben: Noten zur Politik. Übers. v. Sabine Schulz, Zürich 2005. Giorgio Agamben: Idee der Prosa, Frankfurt a. M. 2003. Giorgio Agamben: Mittel ohne Zweck, Freiburg/Berlin 2001. Marlene Deibl: »Du sprichst nicht mit mir?«, Univ. Wien Masterarbeit 2017. Colby Dickinson: Agamben and Theology, London/New York 2011. Franz Kafka: Das Urteil und Andere Erzählungen. Text und Kommentar hrsg. v. Peter Höfle, Frankfurt am Main 2003. Alex Murray: Giorgio Agamben. Routledge Critical Thinkers. Hrsg. von Robert Eaglestone, London/New York 2010. Massimo Salgaro: Kann man das Offene öffnen? Benjamin und Scholem, Agamben und Derrida vor dem Gesetz, in: Franz Kafka – »Ein Landarzt«. Hrsg. v. Elmar Locher, Bozen 2004. Edward Schillebeeckx: Ich höre nicht auf, an den lebendigen Gott zu glauben. Gespräche mit Francesco Strazzari. Übers. v. Barbara Häußler, Würzburg 2006.
32 Giorgio Agamben: Nacktheiten. Übers. von Andreas Hiepko, Frankfurt am Main 2009, S. 32.
Michael N. Ebertz
Relativismus oder Relationismus? Wissenssoziologische Anmerkungen im Blick auf das kirchliche Feld der Ambiguität
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Relativismus I
Joseph Ratzinger scheint für viele ein Zeichen der Zeit, vielleicht sogar den Nerv der Zeit getroffen zu haben, als er in einer Predigt am 18. April 2005 sagte: »Wie viele Glaubensmeinungen haben wir in diesen letzten Jahrzehnten kennengelernt, wie viele ideologische Strömungen, wie viele Denkweisen […] Das kleine Boot des Denkens vieler Christen ist nicht selten von diesen Wogen zum Schwanken gebracht, von einem Extrem ins andere geworfen worden: vom Marxismus zum Liberalismus bis hin zum Libertinismus; vom Kollektivismus zum radikalen Individualismus; vom Atheismus zu einem vagen religiösen Mystizismus; vom Agnostizismus zum Synkretismus, und so weiter. Jeden Tag entstehen neue Sekten, und dabei tritt ein, was der hl. Paulus über den Betrug unter den Menschen und über die irreführende Verschlagenheit gesagt hat (vgl. Eph 4,14). Einen klaren Glauben nach dem Credo der Kirche zu haben, wird oft als Fundamentalismus abgestempelt, wohingegen der Relativismus, das sich ›vom Windstoß irgendeiner Lehrmeinung Hin-und-hertreiben-lassen‹, als die heutzutage einzige zeitgemäße Haltung erscheint. Es entsteht eine Diktatur des Relativismus, die nichts als endgültig anerkennt und als letztes Maß nur das eigene Ich und seine Gelüste gelten läßt«.1
Dieser Predigtausschnitt trifft zahlreiche Unterscheidungen. Er nimmt zeitliche Markierungen (»in den letzten Jahrzehnten« »nicht selten«; »jeden Tag«; »oft«; »heutzutage«) vor und enthält soziale Differenzierungen (»wir« und die Anderen; »viele Christen« und Nicht-Christen; »Kirche« und »Sekten«; »klein« und groß (»Wogen«), »Menschen«, »der hl. Paulus«). In sachlicher Hinsicht spricht er von »Denken« und von »Denkweisen«, von »vielen Glaubensmeinungen« und dem einen Glaubensbekenntnis (»Credo«), von »Meinungen« und Ideologien. Letztere werden in einer unabgeschlossenen Liste (»und so weiter«) aufgezählt und abgewertet (»vage«; »radikal«; »bis hin«; »Extrem«), worauf schon das Sammel1 Joseph Ratzinger: Missa pro eligendo romano pontifice. Predigt von Kardinal Joseph Ratzinger, Dekan des Kardinalskollegiums. 18. April 2005, URL: https://www.vatican.va/gpII/documen ts/homily-pro-eligendo-pontifice_20050418_ge.html abgerufen am 25. Mai 2021.
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etikett »ideologische Strömungen« hinweisen mag. Zusätzlich werden sie als »Betrug« und Irreführung qualifiziert. Mit »Fundamentalismus« auf der einen Seite und »Relativismus« auf der anderen Seite werden zwei Gegenhorizonte gezeichnet, von denen sich der Predigttext absetzt. Die Bezeichnung Fundamentalismus wird als Element eines illegitimen Diskurses (»abgestempelt«), die des »Relativismus« als illegitimes Denkregime (»Diktatur«) zurückgewiesen. Dieses praktiziere eine basale und totale Vernichtung von sozialen (verbindenden) Gewissheiten, Verbindlichkeiten und Legitimationen (›nichts als gültig anerkennen‹), weil zum »letzten Maß nur das eigene Ich und seine Gelüste« erhoben und erhöht und dieses auch nur erhört werde. Die Diagnose des Relativismus, der einen Regimewechsel zum Subjekt als Norm (»nur das eigene Ich«) und zu seiner Triebstruktur (»Gelüste«) beklagt, ist bebildert durch eine nautische Metaphorik: »kleines Boot«, »Strömungen«, »Wogen«, »Windstoß«, »Schwanken«, »Hin-und-her-Treiben«. Der Zuschauer dieses Stimmungsbilds ist der zukünftige Petrus, der – so meine Anmutung als Zuschauer des Zuschauers – die Gefahr eines Schiffsbruchs heraufziehen sieht und sich in eine Linie mit der biblischen Autorität des »hl. Paulus« und der dogmatischen Autorität des »Credo der Kirche« stellt und diese als Rettungsanker und Kompass empfiehlt. Beide werden als explizite Bestandteile eines impliziten großen Bootes empfohlen, das – mit dem Nachfolger des Petrus in Sicht – einen »klaren Glauben«, also Orientierung, Navigation, Steuerung ermöglicht. Gegen die massive und den Relativismus angeblich antreibende Autozentrik wird somit die Nomozentrik der Dogmatik, gegen die »neuen Sekten« und die Vielfalt der weltanschaulichen Meinungen wird die Institution der alten »Kirche« gesetzt. Mit ihren überlieferten Heilswahrheiten und Heilsgütern verspricht diese – so heißt es an anderen Stellen der Predigt wortwörtlich und sinngemäß – im Widerstreit der Meinungen Sicherheit und »Einheit im Glauben«. Zum Zeitpunkt dieses Versprechens war sein Sprecher Kardinal, Dekan der höchsten Führungselite der römisch-katholischen Kirche, Leiter der römischen Glaubenskongregation unter Papst Johannes Paul II. geworden und Bewerber um dessen Nachfolge. Ein Tag nach dieser Bewerbungspredigt, am 19. April 2005, hatte er dieses allerhöchste Amt, das die römisch-katholische Kirche zu vergeben hat, inne, gewählt nicht vom Kirchenvolk, sondern von einer Oligarchie. Als kirchliches Oberhaupt sollte er seitdem noch mehrmals seine Zeitdiagnose vertreten und sie mit der Waffe des Ideologieverdachts und dem Vorwurf des Relativismus kombinieren.
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Katholische Zeitdiagnose
Es überrascht nicht, dass diese Zeitdiagnose einem typisch katholischen Denkstil entspricht, der etwa an der Wissenssoziologie Max Schelers erkennbar wurde.2 Zu diesem Denkstil gehören unter anderem, und nur so viel sei hier angemerkt, geistige Faktoren (hier: den sogen. »Relativismus«) auf reale Faktoren (hier: »das eigene Ich und seine Gelüste«) zurückzuführen, wobei als Realfaktoren – anders etwa als im marxistischen Denkstil mit der Betonung sozioökonomischer Kräfte – vorwiegend psychophysische Kräfte vermutet und in einer mehr oder weniger diffusen Trieblehre formuliert bzw. moralisiert werden. Dieses katholische Denken ist fundiert »durch eine Trieblehre und eine Geisteslehre ›des Menschen‹, die offenbar überzeitliche Bestimmungen des Menschen herausarbeitet und jede konkrete Situation nur als eine Komplexion solcher generellen Bestimmungen aufzufassen imstande ist«3, was dann Karl Mannheim herausarbeiten sollte. Typisch für diesen Denkstil ist auch, dass er sich und seine Vertreter:innen selbst von einem solchen Reduktionismus ausnimmt, immunisiert glaubt. Die (Trieb- und sonstige) Seinsgebundenheit und somit Begrenztheit der Autonomie des Denkens anderer wird im und am eigenen Denken ausgeblendet. Hierzu gehört auch, anderen mit Ideologieverdacht (»ideologische Strömungen«) zu begegnen, diesen zu moralisieren (»Betrug«) und die Tatsache zu ignorieren, selbst – aus der Perspektive anderer – unter Ideologieverdacht zu stehen. Hier sei nur an die These vom Priestertrug erinnert, wie sie etwa von d’Holbach vertreten wurde, als einer der wohl schärfsten antiklerikalen Aufklärer des 18. Jahrhunderts bestrebt war, kirchliche Ideologiekritik als Herrschaftskritik zu betreiben und dabei auch die eschatologischen Vorstellungen einbezog.4 Im Übrigen ist der von Ratzinger gepflegte Vorwurf des Relativismus nicht neu, entstammt er doch den Geisteskämpfen der Zwischenkriegszeit. »Das Wort gehört heute bereits«, so Karl Mannheim 1931, »zu jenen Schlagworten, die, wenn man sie gegen den Gegner schleudert, die Wirkung haben sollen, ihn ohne weiteres zu vernichten«5. Mannheim, der auch Analysen zum Faschismus vorgelegt hat, musste 1933 seinen Lehrstuhl für Soziologie in Frankfurt am Main verlassen und lehrte bis zu seinem Tod (1947) an der London School of Econo2 Vgl. Max Scheler: Probleme einer Soziologie des Wissens, in: Die Wissensformen und die Gesellschaft, Leipzig 1926, S. 1–229, S. 4–6. Vgl. besonders zu einer »Trieblehre des Menschen«. 3 Karl Mannheim: Das Problem einer Soziologie des Wissens, in: Wissenssoziologie. Hrsg. v. Kurt H. Wolff, Berlin/Neuwied 1964, S. 308–387, S. 337. 4 Vgl. Paul T. d’ Holbach [Hrsg. v. Manfred Naumann]: Religionskritische Schriften. Das entschleierte Christentum; Taschentheologie; Briefe an Eugénie, Schwerte (Ruhr) 1970. Vgl. Michael N. Ebertz: Die Zivilisierung Gottes. Der Wandel von Jenseitsvorstellungen in Theologie und Verkündigung, Ostfildern 2004, S. 158–160. 5 Karl Mannheim: Das Problem einer Soziologie des Wissens, S. 311.
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mics. Auch für ihn war es ein Kennzeichen seiner Zeit, »daß Normen und Wahrheiten, die einst für absolut, allgemein und ewig galten oder in beneidenswerter Ahnungslosigkeit über ihre Folgen hingenommen wurden, in Frage gestellt werden«6. Inzwischen ist für alle wahrnehmbar, dass auch das binnenkirchliche Feld von einer solchen Krise erfasst wurde, obgleich nicht alle davon ausgehen, dass sie irreversibel ist.
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Relativismus II
Auch Hans-Joachim Sander diagnostiziert in seinem (mir vorliegenden) Beitrag eine »ihrer selbst unsicher gewordene Moderne«7, allerdings ohne dabei warnend und drohend einen Schiffbruch mit oder ohne Zuschauer8 als daseinsmetaphorisches Menetekel an die Wand zu malen. Im Gegenteil: Er postuliert geradezu die »Tugend eines Habitus der Selbstrelativierung«9, auch für die Kirche, ahnt aber auch, dass eine solche neue Haltung und Fähigkeit neue – unintendierte – Zustände des Mangels (»prekär und fragil«) zur Konsequenz haben könnte. Bestimmte Religionen setzten »gegen die moderne Ambiguität […] die Restauration transzendentaler Sicherheit«10, die römisch-katholische mit dem Papstamt das triadische und zugleich tragische Versprechen der »Erhebung, Erhöhung, Erhörung«11: »Im Modus der Unfehlbarkeit wird der Papst«12, so Sander, »dogmatisch erhoben, seine Problemlösung gegenüber allen anderen Vorschlägen des Glaubens erhöht und die einzig mögliche Wahrheit damit für alle zu glauben erhört. Nur der Papst ist verlässlich; sein theologischer Ort garantiert ein Bollwerk gegen Relativierung, und dafür darf er alle modernen Möglichkeiten nutzen, um sie gegen diese selbst zu richten. Darum attackiert die Pianische Epoche den ›sogenannten dogmatischen ›Relativismus’‹. In nostalgischer Erinnerung daran kämpfte am Vorabend seiner Wahl Benedikt XVI. sowie danach in den Traurigen Tropen eines pianisch restaurierten 6 Louis Wirth: Vorwort zur englischen Ausgabe, in: Ideologie und Utopie. Hrsg. v. Jürgen Kaube, Frankfurt am Main 5. Aufl. 1969, S. IX–XXVII, IX. 7 Vgl. auch Hans-Joachim Sander: Nicht ausweichen. Die prekäre Lage der Kirche, Würzburg 2002, S. 118. 8 Zur Daseinsmetapher vgl. Hans Blumenberg: Schiffbruch mit Zuschauer. Paradigma einer Daseinsmetapher, Frankfurt am Main 1979. Vgl. dazu auch Alessandro Nova: Kirche, Nation, Individuum. Das stürmische Meer als Allegorie, Metapher und Seelenzustand, in: Das Meer, der Tausch und die Grenzen der Repräsentation. Hrsg. v. Hannah Baader/Gerhard Wolf, Zürich 2010, S. 67–94. 9 Hans-Joachim Sander: Distinktionsgewinn durch Selbstrelativierung. Die fällige Kreuzkusinenheirat des Lehramtes mit seiner Relativität, in: diesem Band. 10 Ebd. 11 Ebd. 12 Ebd.
Relativismus oder Relationismus?
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Lehramtes gegen ›eine Diktatur des Relativismus, die nichts als endgültig anerkennt und als letztes Maß nur das eigene Ich und seine Gelüste gelten lässt‹«13.
Was aber als papalistische Rettung14 aus der Ambiguität gedacht war, entpuppe sich als »Schein« und darüber als Tragödie: »Man verstrickt sich immer tiefer in Ambiguitäten hinein.«15 Das triadische Versprechen erweist sich, so gesehen, als Hybris, weil der Legalität kirchenrechtlich unfehlbarer Ansprüche und Entscheidungen (wie der Ausschluss der Frauen von der Priesterweihe und der Ausschluss der Protestant:innen aus dem Kirchenbegriff) – auch innerkirchlich – die Legitimität entzogen wird. Ihr wird allerdings, so Sander, nicht nur die Akzeptanz verweigert, ihr und bestimmten Praktiken des leitenden kirchlichen Bodenpersonals werden vielmehr auch Devianz, ja Delinquenz vorgeworfen: Die kirchliche »Geschlechterhierarchie«16 führe zum Diskriminierungsvorwurf 17, und massiver sexueller Missbrauch sowie – so lässt sich ergänzen – andere Sex-, Finanz-, Personal- und Machtskandale18 stellten zumindest die moralische Dimension des Anspruchs, wahre Kirche Jesu Christi zu sein, in Frage. Auch die neueren Interventionen des Papstes, welche die offensichtlich übliche Korruptionspraxis in der kirchlichen Führungselite unterbinden sollen,19 befördern den 13 Ebd. 14 Zum Papalismus als eine von drei typischen Varianten eines katholischen Fundamentalismus vgl. Michael N. Ebertz: Wider die Relativierung der heiligen Ordnung. Fundamentalismus im Katholizismus, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ), B 33/7. August (1992), S. 11–22. 15 Hans-Joachim Sander: Distinktionsgewinn durch Selbstrelativierung, in: diesem Band. 16 Norbert Lüdecke: Die Ehe im Plane Gottes und seine Kirche. Geschlechterverhältnis, Ehe und Ekklesiologie in kanonistischer Sicht, in: Ehe als Ernstfall der Geschlechterdifferenz. Hrsg. v. Bernhard Heininger, Berlin/Münster 2010, S. 115–137, S. 129. 17 Und neuerdings zum Rassismusvorwurf durch Johanna Rahner, die – auf massive Kritik hin – klarstellt: »Ich habe nicht diejenigen, die sich gegen Frauenordination aussprechen – aus welchen Gründen auch immer – als Rassisten bezeichnet. Da würde ich mich also explizit dagegen wehren. Würde aber einen Vorwurf aufrechterhalten: Wer Diskriminierung in der katholischen Kirche ignoriert, sie gar als nicht existent bezeichnet oder sie gar durch eine theologische Denkform überhöht und als solche dann doch wieder legitimiert, der kann sich durchaus den Rassismusvorwurf einhandeln, und zwar zu recht«, so in: Christian Röther: »Katholischer Kulturkampf«. Debatte über Frauenrechte und Rassismus in der katholischen Kirche. 23. 04. 2021, URL: https://www.deutschlandfunk.de/debatte-ueber-frauenrechte-und -rassismus-in-der.886.de.html?dram:article_id=496116 abgerufen am 25. Mai 2021. 18 Vgl. Michael N. Ebertz/Lucia Segler: Was tun, wenn das Vertrauen endet?, in: Der ›Fall‹ Tebartz-van Elst. Hrsg. v. Joachim Valentin/Franz-Peter van Tebartz-Elst, Freiburg 2014, S. 91–118; Michael N. Ebertz: Quo vadis Kirche? Wie kann die katholische Kirche wieder glaubwürdig werden? Vortrag auf dem Studiennachmittag für Religionslehrkräfte am 13. Juni 2010. Hrsg. v. Bischöflichen Generalvikariat Hildesheim. 2010, URL: https://michaelebertz.de /mediathek/#lesen abgerufen am 25. Mai 2021. 19 »Der Missbrauchstäter Theodore McCarrick war ein Meister darin, hoch gestellte Mitarbeiter der Kurie mit Geldgeschenken einzuwickeln. Dass selbst Kardinäle ein sehr einnehmendes Wesen haben können, ist so alt wie die Geschichte dieses geistlichen Stands. Dem hat Papst Franziskus jetzt einen Riegel vorgeschoben. Mit einem Motu proprio hat er vor einer Woche Führungskräften im Vatikan untersagt, Geschenke im Wert von mehr als vierzig Euro an-
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Verdacht des Relativismus, den auch Hans-Joachim Sander als Vorwurf gegen die Kirche selbst wendet: Sie betreibe selbst die Diktatur des Relativismus »in den Vertuschungsvorgängen dieser Verbrechen durch kirchliche Führungsfiguren. Der Kampf gegen Relativismus erweist sich als schlecht inszenierte Don Quichotterie; die Kirche kämpft gegen Windmühlen, die angeblich alles Stabile, Dauerhafte, Wertvolle zermahlen, um sich bloß nicht einzugestehen, wie sehr sie selbst der Relativierung verfallen ist«20. Statt gegen den Relativismus zu kämpfen, ohne ihm dabei selbst entkommen zu können, empfiehlt Sander der Kirche die Selbstrelativierung: »Ohne Selbstrelativierung im Lehramt selbst verblasst der Schein mit jedem Versuch mehr, der Moderne überlegen zu sein«21. Offensichtlich erhält der Begriff des Relativismus auch bei Sander, der ihn mit Relativierung (nicht mit »Selbstrelativierung«) synonym setzt, eine negative Konnotation (»verfallen«), und er kommt – wie schon bei Ratzinger – als eine Vokabelkampfkeule zum Einsatz. Die Vermutung liegt nahe, dass auch Sander auf die symbolische Vernichtung des Gegners, genauer gesagt, des bestehenden »Lehramtsystems« zielt. Denn für Sander geht es um ein »strukturelles Problem«, weshalb man auch von einem Vorwurf des strukturellen oder institutionellen Relativismus reden könnte. Und offensichtlich wird hier wie an zahlreichen Beispielen der allerjüngsten Zeit, in der die Fahnen des Regenbogens zum Protest für die Segnung gleichgeschlechtlicher Paare und gegen das römische Verbot solcher Handlungen gehisst werden, deutlich: dass sich das religiöse Feld wie auch das kirchliche Feld im Besonderen als Arena präsentiert, in denen »Kämpfe um die Durchsetzung einer legitimen Definition sowohl des Religiösen als auch der verschiedenen Arten, die religiöse Rolle zu erfüllen«22, ausgetragen werden. Es sind Auseinandersetzungen mit Mitteln der symbolischen Gewalt, die sich bis in die dabei verwendete Metaphorik hinein zeigt. Dies soll hier nicht moralisiert werden. Allerdings könnte es sich zeigen, dass ausgerechnet von der Soziologie, genauer gesagt, der schon älter gewordenen Wissenssoziologie, ein (bescheidener) Beitrag dazu geleistet werden kann, aus der Arena des destruktiven Kampfes eine Arena der konstruktiven Verständigung zu machen. Dies ist – selbstredend wie selbstrelativierend – nur ein Vorschlag, der diskutiert und vertieft werden kann.
zunehmen«, so Guido Horst: Papst sagt Korruption den Kampf an, in: Die Tagespost (14. 05. 2021). 20 Hans-Joachim Sander: Distinktionsgewinn durch Selbstrelativierung, in: diesem Band. 21 Ebd. 22 Pierre Bourdieu: Die Auflösung des Religiösen, in: Rede und Antwort. Hrsg. v. Pierre Bourdieu, Frankfurt am Main 1992, S. 231–237, S. 231–232.
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Wissenssoziologische Bausteine I
Um sich dem Baukasten der Wissenssoziologie zu nähern, versetze man sich »in eine Fernsehtalkrunde, in der zufällig ein Wortgefecht über den Christopher Street Day entbrennt. Einer der Talkgäste bemerkt in euphorischem Grundton, dass er die CSD-Parade in Berlin regelmäßig besuche, weil er es so spannend fände, sich das anzusehen. Darauf entgegnet ein anderer Talkgast ihm mit Empörung, seine exotisierende Auffassung vom Christopher Street Day sei von einer diskriminierenden und homophoben Ideologie getragen. Bei der Parade handele es sich um eine politische Demonstration und nicht um einen Ausflug in den Zoo, um dort seltene Tiere zu bewundern«23.
Auch in diesem Beispiel fällt der Vorwurf der Diskriminierung und des Ideologieverdachts, dem eine Ideologieenthüllung angeschlossen wird. Er bezieht sich nicht auf den (feindlichen) Mangel an Anerkennung von Protestanten oder Frauen in der römisch-katholischen Kirche, sondern von Homosexuellen, wie er auch von den diese segnenden Priestern und von Männern und Frauen mit dieser sexuellen Orientierung als Vorwurf gegen das einschlägige römische Segnungsverbot beklagt wurde. Hier wie da geht es nicht um konkrete Details, sondern um ein Abstraktum der Diskreditierung bzw. der Exklusion, was in zahlreichen Kommunikations- und Handlungsvarianten konkret zum Ausdruck kommt, etwa im Gaffen und in der Verweigerung des kirchenoffiziellen Segens. Die Wissenssoziologie in der Tradition Karl Mannheims bietet Unterscheidungen an, die bereits in einem ersten Schritt dazu beitragen können, klarer zu sehen, statt sich wechselseitig abzuwerten: Unterscheidungen zunächst zwischen einer »Lügenenthüllung«, einer Irrtumsenthüllung und einer »Ideologieenthüllung«, wobei ein »totaler« und ein »partikularer« Ideologiebegriff auseinandergehalten werden. Während die Enthüllung einer Lüge als eine »seinsrelativierende« Betrachtung einer theoretischen Aussage bezeichnet werden kann und damit das »hinter der Aussage stehende moralische Subjekt vernichten will«24, zielt eine Irrtumsenthüllung auf das theoretisierende Subjekt. Im vorliegenden TV-Talk-Beispiel reagiert die Empörung nicht – wie in der Ratzinger-Predigt (»Betrug«) – auf eine unterstellte Lüge, sondern auf einen unterstellten Irrtum, denn bei der CSDParade handele es sich, so klärt B auf, »um eine politische Demonstration und nicht um einen Ausflug in den Zoo«. Im Mannheimschen Verständnis intendiert eine »Ideologieenthüllung« die Auflösung einer bestimmter »Idee in ihrer
23 Michael Corsten: Karl Mannheims Kultursoziologie. Eine Einführung, Frankfurt am Main 2010, S. 116–117. 24 Karl Mannheim: Das Problem einer Soziologie des Wissens, S. 316.
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sozialen Wirksamkeit«25. Negation, Bezweiflung, Auflösung nennt er die drei dementsprechenden Funktionalitäten. Ohne explizit von Ideologieverdacht zu sprechen, steht ein solcher auch bei Hans-Joachim Sander implizit ebenso im Raum wie der Lügen- (»Doppelmoral«; »Heuchelei«) und der Irrtumsverdacht (»Fehleinschätzungen«). Ideologieenthüllungen können entweder versuchen, einen Teil von Ideen aufzulösen oder den gesamten Ideenkomplex, was im 19. Jahrhundert insbesondere die marxistische Kritik eines falschen Bewusstseins intendierte. Dementsprechend unterscheidet Mannheim einen partikularen von einem totalen Ideologiebegriff. Im oben genannten TV-Talk-Beispiel gilt die Empörung allenfalls einem partikularen Ideologieverständnis, indem dem Gegenüber (A) durch B ein Irrtum bezüglich der Intention der CSD-Parade unterstellt und dieser Irrtum als Partikel von möglichen weiteren »Teilen eines Systems«26 – sozusagen verdachtsweise – angetestet wird, ohne die grundsätzliche Haltung des Gegenübers (A) zur Homosexualität anzugreifen, da diese nicht offengelegt wird. Stellen wir uns vor, dass eine Katholikin (K) das TV-Talkrunden-Parkett betritt und von sich behauptet, ebenfalls die CSD-Parade regelmäßig zu besuchen. Auch sie findet es, sagt sie, spannend, sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer anzusehen, aber nicht, um sie anzugaffen. Vielmehr wolle sie mit ihnen in Kontakt treten, um sie von ihrem sündigen Weg abzubringen. Sie sei in Berlin präsent, um mit anderen Gläubigen für den Wert der christlichen Ehe und ein gesundes Familienleben Zeugnis abzugeben, indem sie Flugblätter mit Texten zur grundlegenden kirchenamtlichen Sexuallehre austeile. So überrascht K die TV-Runde mit der Information, dass Papst Franziskus schon vor einigen Jahren – in seinem Nachsynodalen Schreiben Amoris laetitia27 von 2016 – seine Vorgänger Ratzinger und Johannes Paul II. zustimmend zitiert und damit sein Nein begründet habe, dass »es keinerlei Fundament dafür [gibt], zwischen den homosexuellen Lebensgemeinschaften und dem Plan Gottes über Ehe und Familie Analogien herzustellen, auch nicht in einem weiteren Sinn«28. K weiß sogar, dass Joseph Ratzinger und Johannes Paul II. genau diesen Satz, der auch zur Begründung des jetzigen Neins wieder auftaucht, wortwörtlich schon 2003 geschrieben hatten, und zwar in den Erwägungen zu den Entwürfen 25 Ebd. 26 Karl Mannheim: Das Problem einer Soziologie des Wissens, S. 320. 27 Vgl. Papst Franziskus: Nachsynodales apostolisches Schreiben Amoris lætitia des Heiligen Vaters Franziskus. An die Bischöfe an die Priester und Diakone, an die Personen geweihten Lebens, an die Christlichen Eheleute und an alle christgläubigen Laien über die Liebe in der Familie. 2016, URL: http://www.vatican.va/content/francesco/de/apost_exhortations/docu ments/papa-francesco_esortazione-ap_20160319_amoris-laetitia.html abgerufen am 25. Mai 2021. [Im Folgenden zitiert als AL] 28 AL Nr. 251.
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einer rechtlichen Anerkennung der Lebensgemeinschaften zwischen homosexuellen Personen29. Da stehe noch mehr drin, was das Nein Roms zum Segen solcher Lebensgemeinschaften begründe. Roms Gründe für die Ablehnung einer rechtlichen Anerkennung homosexueller Paarbeziehungen seien auch die Basis für das Nein zur kirchlichen Anerkennung durch Segnung. Obwohl in diesen Erwägungen von 2003 – wortwörtlich – »eine ungerechte Diskriminierung homosexueller Menschen«30 abgelehnt werde, würden homosexuelle Beziehungen als »ein beunruhigendes moralisches und soziales Phänomen«31 problematisiert. Das Leitbild sei schließlich die gottgewollte Ehe von Mann und Frau. In diese auf Dauer gestellten Beziehung »vervollkommnen sie sich gegenseitig und wirken mit Gott an der Zeugung und an der Erziehung neuen Lebens mit«32. Die »Komplementarität der Geschlechter und die Fruchtbarkeit« gehörten nun einmal »zum Wesen der ehelichen Institution« und diese zum »Plan des Schöpfers«. Dementsprechend hätten homosexuelle Beziehungen einen Defekt, bleibe in ihnen doch »›die Weitergabe des Lebens […] beim Geschlechtsakt ausgeschlossen. Sie entspringen nicht einer wahren affektiven und geschlechtlichen Ergänzungsbedürftigkeit. Sie sind in keinem Fall zu billigen‹«33, zitiert K zudem aus dem Katechismus der Katholischen Kirche. Außerdem verstießen homosexuelle Lebensgemeinschaften »gegen das natürliche Sittengesetz« und seien dementsprechend als »objektiv ungeordnet« und als »abwegig«, ja als »schwere Verirrungen« zu qualifizieren, betont K. Dementsprechend würden homosexuelle Praktiken auch als »›Sünden, die schwer gegen die Keuschheit verstoßen‹«34, gelten, und so sei eine öffentliche CSD-Parade eine Aufforderung zu sündigen. Unsere TV-Katholikin erinnert ganz generell daran, »dass die Toleranz des Bösen etwas ganz anderes ist als die Billigung oder Legalisierung des Bösen«35. Die von vielen – auch christlichen – Politiker:innen praktizierte Tolerierung oder gar Legitimierung von kirchlich als widernatürlich und widergöttlich definierten Beziehungen sei ideologisch verblendet. So befehle Rom, dass »alle Gläubigen verpflichtet sind, gegen die rechtliche Anerkennung homosexueller Lebensgemeinschaften Einspruch zu erheben« – »die katholischen Poli-
29 Vgl. Kongregation für die Glaubenslehre: Erwägungen zu den Entwürfen einer rechtlichen Anerkennung der Lebensgemeinschaften zwischen homosexuellen Personen. 2003, URL: https://www.vatican.va/roman_curia/congregations/cfaith/documents/rc_con_cfaith_doc_2 0030731_homosexual-unions_ge.html abgerufen am 26. Februar 2021. 30 Kongregation für die Glaubenslehre: Erwägungen, Nr. 5. 31 Kongregation für die Glaubenslehre: Erwägungen, Nr. 1. 32 Kongregation für die Glaubenslehre: Erwägungen, Nr. 2. 33 Katechismus der Katholischen Kirche. Neuübersetzung aufgrund der Editio typica Latina, Freiburg/Schweiz/Berlin/München/Boston/Leipzig 2015, Nr. 2357. 34 Vgl. alle Zitate des Absatzes aus: Kongregation für die Glaubenslehre: Erwägungen, Nr. 4. 35 Kongregation für die Glaubenslehre: Erwägungen, Nr. 5.
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tiker in besonderer Weise«36. Als katholische Aktivistin für das bonum commune erklärt K klar und deutlich: Homosexuelle Lebensformen stellten einen »schwerem Schaden für das Gemeinwohl« dar und würden durch »das Einfügen von Kindern […] durch Adoption […] diesen Kindern Gewalt antun in dem Sinn, dass man ihren Zustand der Bedürftigkeit ausnützt, um sie in ein Umfeld einzuführen, das ihrer vollen menschlichen Entwicklung nicht förderlich ist«37. Homosexuelle Lebensgemeinschaften seien deshalb zu bekämpfen, »damit das Gewebe der öffentlichen Moral nicht in Gefahr gerät und vor allem die jungen Generationen nicht einer irrigen Auffassung über Sexualität und Ehe ausgesetzt werden, die sie des notwendigen Schutzes berauben und darüber hinaus zur Ausbreitung des Phänomens beitragen würde«38. Aus wissenssoziologischer Sicht kommt mit K ein Beispiel für den ›totalen Ideologiebegriff‹ zum Zuge, führt doch der weitere Verlauf der TV-Talks zu einer »Befragung der Eigenart und Beschaffenheit der ›totalen‹ Bewusstseinsstruktur eines Zeitalter oder einer Gruppe«39, für die K stellvertretend zu agieren beansprucht. Von A und B werden ihre Äußerungen nicht nur psychologisch, sondern auch »noologisch«40 funktionalisiert, das heißt als kohärentes Gedankensystem gedeutet und auf K als Repräsentantin einer konfessionellen Gruppe und auf ihre Lage im »sozialen Raum« bezogen.41 Zum einen fallen A und B an den Ausführungen von K auf, dass sie sich weitaus grundsätzlicher, wenn auch ablehnend auf die CSD-Parade bezieht, indem sie diese als eine ideologisch motivierte öffentliche Demonstration gegen den Schöpfungsplan entlarvt. So etwas wäre dem von B der Homophobie verdächtigten A niemals in den Sinn gekommen. Den Slogan Bewahrung der Schöpfung haben beide, so sagen sie, zwar schon gehört, aber im Zusammenhang mit Schwulen und Lesben noch nicht. B wirft K vor, dass sie eine empirisch schlechthin unzugängliche Größe, nämlich ›Gott‹, ins Spiel bringt, die – nach der Aufklärung – schon längst nicht mehr als ein von allen Bevölkerungsgruppen geteilter normativer Bezugspunkt gelten könne, auch wenn man unter den muslimischen Migrantinnen und Migranten oft eine ähnliche Argumentationsfigur antreffe. Auch würde ein modernes Bibelverständnis, so habe er noch aus dem Religionsunterricht im Ohr, die von der römisch-katholischen Kirche angezogene Auslegung des göttlichen Schöpfungsplans nicht mehr mittragen. Mit so einer Auslegung glaubte man noch in den 1950er und 1960er Jahren ein hierarchisches Ehe- und Familienbild rechtfertigen zu können, das die 36 37 38 39
Kongregation für die Glaubenslehre: Erwägungen, Nr. 10. Kongregation für die Glaubenslehre: Erwägungen, Nr. 8. Kongregation für die Glaubenslehre: Erwägungen, Nr. 5. Karl Mannheim [Hrsg. v. Jürgen Kaube]: Ideologie und Utopie, Frankfurt am Main 5. Aufl. 1969, S. 54. 40 Karl Mannheim: Ideologie und Utopie, S. 55. 41 Vgl. Karl Mannheim: Ideologie und Utopie, S. 54.
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Kirche inzwischen zugunsten einer partnerschaftlichen Idee habe korrigieren müssen.42 Was gestern aus dem Schöpfungsplan als gültig herausgelesen wurde, gelte heute nicht mehr, und deshalb werde das, was heute noch als gültig behauptet wird, schon morgen obsolet sein. Es geht also, so die Kritik an K, nicht um Lüge oder Irrtum, nicht um eine auf deren Person hin zurechenbare moralische oder theoretische Korrektur, sondern um einen radikalen Ideologieverdacht. A und B meinen »nicht nur einzelne Gedankengehalte, sondern ein ganz bestimmtes Gedankensystem, eine bestimmte Art der Erlebnis- und Auslegungsform«43, letztlich auch eine bestimmte Art der Anweisungsform, gepaart mit in einer – so sollte dann erst ein Schüler Mannheims ergänzen – ganz bestimmten Machtkonfiguration;44 würde man sich für ein bestimmtes Denken doch gar nicht interessieren, wenn es nicht auch in gesellschaftlich relevanten Ausmaß in einem Geflecht von Abhängigkeiten oder Angewiesenheiten durchsetzungsfähig bzw. geltungsfähig wäre. Ein radikaler Ideologieverdacht könne freilich, so fällt A dem B ins Wort, auch auf die homophile Position von B fallen, zumal sie interessengeleitet sei; denn B sei ein bekennender Schwuler, der sein outing schon vor Jahren in einer holländischen Zeitschrift zum Besten gegeben habe. Deshalb sei sowohl die Position von K, die von einer göttlichen »Ordnung der Zweigeschlechtlichkeit«45 ausgeht und naturrechtlich argumentiert, als auch die von B ideologisch. Letztlich wohl auch die Seine, meint A, der nicht schwul, auch nicht religiös organisiert, sondern nur humanistisch unterwegs ist und sich der Erklärung der Menschenrechte verpflichtet weiß. K bleibt am Ende der TVRunde nur noch die Zeit, zu bedenken zu geben, dass man Gott zu allen Zeiten mehr gehorchen müsse als den Menschen, weshalb sie auch Abtreibung, assistierten Suizid und Gentherapie bekämpfe. Tatsächlich, so würde Mannheim wohl dieses TV-Talk-Beispiel kommentieren, »stehen Welten Welten gegenüber, und nicht Einzelbehauptungen werden Einzelbehauptungen gegenübergestellt«46. Zugleich führe es vor Augen, dass sich das Bewusstsein in mehrere und immer weitere Trägereinheiten aufgespalten habe, wie es sich schon vor einhundert Jahren abzuzeichnen begann.
42 Vgl. Michael N. Ebertz: Die institutionelle Familiensemantik im Katholizismus, in: Religion und Wohlfahrtsstaatlichkeit in Deutschland, Tübingen 2017, S. 217–244. 43 Karl Mannheim: Ideologie und Utopie, S. 55. 44 Vgl. Norbert Elias: Was ist Soziologie?, Weinheim 5. Aufl. 1986, S. 97–98. 45 Marie-Theres Wacker: Das »Schreiben an die Bischöfe der katholischen Kirche über die Zusammenarbeit von Mann und Frau in der Kirche und in der Welt«. Ein feministisch-theologischer Exkurs, in: Katholizismus in Geschichte und Gegenwart. Hrsg. v. Richard Faber, Würzburg 2005, S. 189–195, S. 192. 46 Karl Mannheim: Das Problem einer Soziologie des Wissens, S. 320.
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Ideologieverdacht im kirchlichen Feld
Mannheim kommt zum Schluss, dass der Ideologieverdacht und die damit einhergehende Ideologieenthüllung nicht nur einer einzelnen Welt des Denkens gegenüber praktiziert werden könne, sondern gegenüber jeder. Und tatsächlich lässt sich dieser wechselseitige Ideologievorwurf zwischen verschiedenen Lagern bis heute auch und gerade im kirchlichen Feld antreffen. So sieht, um nur einige Beispiel zu nennen, der Tübinger Theologe Hermann Häring bei Joseph Ratzinger »Signale einer Ideologiebildung, die den Diskurs nicht differenziert, sondern verhindert und unangreifbar macht. Deshalb ist diese Sprache auch autoritär. Beispiele dafür finden sich bei Ratzinger viele«47. Jüngst wurde der Bischof von Passau gefragt: »Täuscht der Eindruck, dass sich unter dem Etikett der Wissenschaft in der Theologie auch ideologisches Denken breit macht?« Und er antwortete: »Ob es sich breitmacht, darüber mag ich nicht urteilen. Und bevor ich darüber ein Urteil spreche, müssten wir darüber reden, was Ideologie ist. Denn umgekehrt trifft ja auch die sogenannten Lehramtstreuen der Ideologievorwurf von der anderen Seite. Wie also unterscheiden? Und wie wüsste man selbst, ob man auf der richtigen, also auf der ideologiefreien Seite steht? Es gibt nämlich tatsächlich auch eine Lehramtstreue, die ideologisch wird – nämlich besonders dann, wenn sie lieblos wird.«48
Und Bischof Oster fährt – im Blick auf die Interaktionsebene – personalisierend fort, dass er eine Irrtumsenthüllung nicht nur bei dem, sondern durch den Gesprächspartner für möglich halte: »Daher ist das Kriterium letztlich immer: Bemühe ich mich, bei aller Suche nach Wahrheit auch in der Liebe zu bleiben, also wenigstens in der grundsätzlichen Wertschätzung des anderen als Person? Traue ich dem Gesprächs- oder Streitpartner zu, dass er Recht haben könnte?«49
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Je mehr Welten die moderne Gesellschaft ausbilde, argumentiert Mannheim, »desto mehr schränkt sich von selbst diese enthüllende Intention ein und sublimiert sich zu einer bloßen […] Funktionalitätsbestimmung jeweiliger Gedan-
47 Hermann Häring: Haus Gottes – Hüterin des Abendlandes? Joseph Ratzingers Katholizismus als europäisches Kulturprojekt, in: Katholizismus in Geschichte und Gegenwart. Hrsg. v. Richard Faber, Würzburg 2005, S. 159–187, S. 169. 48 Stefan Oster: Auch Lieblosigkeit produziert Ideologie. Im Gespräch mit Regina Einig, in: Die Tagespost (29. 04. 2021), S. 9, URL: https://www.die-tagespost.de/kirche-aktuell/aktuell/christ liche-streitkultur-der-verachtung;art4874,217791 abgerufen am 26. Mai 2021. 49 Stefan Oster: Auch Lieblosigkeit produziert Ideologie, S. 9.
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ken«50. Und wer einmal den Gedanken gefasst habe, »daß Ideologien der Gegner, eben Funktionen ihrer Weltlage sind«, könne sich »davor nicht verschließen, daß auch die eigenen Ideen Funktionen eines sozialen Seins sind«51. Wolle »man das nicht zugeben, so zwingt einen der Gegner dazu«52 bzw. die Oppositionswissenschaft, als die Mannheim vornehmlich die Soziologie bezeichnet. Von bürgerlichen »Laienschichten« getragen, habe sie ihre historische »Hauptaufgabe in der Zersetzung des aus theokratischen Resten lebenden Königtums und des ihn unterstützenden Klerus«53 gesehen. Einen Gegner zu »zwingen«, setzt freilich eine entsprechendes Machtgefüge zwischen den Kontrahenten voraus, das Mannheim zu wenig in den Blick nimmt und deshalb auch verkennen kann, dass in bestimmten Konstellationen auch ein zumindest partielles Verschließen möglich ist54. Mannheim schlägt eine Generalisierung, d. h. eine »allgemeine Fassung des Ideologiebegriffs«55 vor, wie sie sich beispielhaft an unserem fiktiven TV-Talk, aber auch an dem realen Interview manifestiert. Keine:r der Beteiligten entkommt dem Ideologieverdacht. Mannheim zufolge habe sich ein Prozess der »Expansion«56 der Vorstellung vollzogen, dass das »Denken bei allen Parteien und in sämtlichen Epochen ideologisch sei«57.
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Der zivilisierte Ideologiebegriff
Die Wissenssoziologie Karl Mannheims geht dann noch einen Schritt weiter, indem sie dem Ideologiebegriff einen neuen – werturteilsfreien – Sinn unterlegt, wenn sie ihn nicht ganz aufgibt. Jedenfalls zieht sie daraus die Konsequenz einer Versachlichung des Ideologiebegriffs. Sie entpolitisiert ihn gleichsam, zivilisiert ihn, indem sie ihm den Charakter einer Vokabelkeule im Kampf der Weltanschauungen nimmt. Sie transformiert die allgemeine Fassung des totalen Ideologiegriffs in die These »von der Seinsgebundenheit eines jeden lebendigen Denkens«58. Mannheim geht davon aus, dass jeder kollektive Standort59 in seiner jeweiligen »Gegenwartskonstellation«60 mehr oder weniger zentrale bzw. peri50 51 52 53 54 55 56 57 58 59 60
Karl Mannheim: Das Problem einer Soziologie des Wissens, S. 321. Karl Mannheim: Das Problem einer Soziologie des Wissens, S. 321. Karl Mannheim: Das Problem einer Soziologie des Wissens, S. 321. Karl Mannheim: Das Problem einer Soziologie des Wissens, S. 314–315. Vgl. Michael N. Ebertz: Von der »Vollmacht« zur Ohnmacht? Herausgeforderter Klerikalismus im Feld der Glaubenskämpfe, in: Theologie und Glaube, 110/4 (2020), S. 417–436. Karl Mannheim: Das Problem einer Soziologie des Wissens, S. 321. Karl Mannheim: Das Problem einer Soziologie des Wissens, S. 321. Karl Mannheim: Ideologie und Utopie, S. 70. Karl Mannheim: Ideologie und Utopie, S. 71. Karl Mannheim: Das Problem einer Soziologie des Wissens, S. 323. Karl Mannheim: Das Problem einer Soziologie des Wissens, S. 319.
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phere Sphären kennt, die sich gesellschaftlich, generationell und biographisch »verschieben« oder verdichten können. Das jeweilige »Lebenszentrum« der sozialen Standorte wird für das Bewusstsein bestimmend. Er meint damit diejenige »Sphäre«, in »der das betreffende (systemschaffende) Bewußtsein faktisch am intensivsten lebt«61. Dabei denkt er nicht nur an Interessen, das »Interessiertsein«62, sondern auch an ein »Engagiertsein«, das er »als die umfassendste Kategorie der Funktionalitätsbeziehungen zwischen geistigen Gehalten und sozialem Sein«63 nennt. Historisch gesehen, wurden ehedem religiöse gesellschaftliche Lebenszentren von sozioökonomischen und – heute wohl – gesundheitlichen und ökologischen überlagert oder abgelöst. Mannheim sprach für seine Zeit von einer Verschiebung des Lebens- und Erlebniszentrums von geistig-religiösen Realitäten auf das Soziale und Ökonomische. Auch Generationen sind durch unterschiedliche Erlebens- und Lebenszentren mit ihren »Formierungstendenzen«64 charakterisierbar. Um wieder unsere Beispiele heranzuziehen, wird man zumindest im Falle von B und K (aus der TV-Talk-Runde) vermuten können, dass sich ihre biographischen Lebenszentren deutlich voneinander unterscheiden und kaum überlappen, wenn sie sich auch kommunikativ auf die CSDParade in Berlin beziehen können. Liegt Bs Lebenszentrum vermutlich in der Homosexuellenbewegung und -szene, für deren Interessen und Werte er sich auch öffentlich stark macht, ist Ks Lebenszentrum in einer der vielen Welten des religionsintern pluralisierten Katholizismus verankert, die Bischof Oster als die Welt der Lehramtstreue nennt, die er seinerseits moralisch zu differenzieren weiß. Für diese Welt steht zweifellos auch der eingangs zitierte Predigttext des derzeitigen Papa emeritus, in der – so eine Betrachtung von außen – »vatikanische Metaphysik und biblische Theologie in einer letztverbindlichen Vorgabe zusammenfließen«65. Eine wissenssoziologische Querschnittsaufgabe könnte, so Mannheim seinerzeit, darin bestehen, die »Eigenart« der verschiedenen »Standorte gleichsam in ihrem Gleichzeitigsein zu fixieren«, um, den eigenen Standort eingeschlossen, herauszufinden, »in welcher Weise ein und dasselbe Problem von diesen verschiedenen Standorten aus sich jeweils verschieden gestaltet«66. Dabei macht Mannheim darauf aufmerksam, dass auch die Analyse und Interpretation »fremder Epochen nur perspektivisch möglich ist«67. Am 61 62 63 64
Karl Mannheim: Das Problem einer Soziologie des Wissens, S. 315. Karl Mannheim: Das Problem einer Soziologie des Wissens, S. 376. Alle Zitate aus: Karl Mannheim: Das Problem einer Soziologie des Wissens, S. 378. Karl Mannheim: Das Problem der Generationen, in: Wissenssoziologie. Hrsg. v. Kurt H. Wolff, Berlin/Neuwied 1964, S. 509–565, S. 550. 65 Marie-Theres Wacker: Das »Schreiben an die Bischöfe der katholischen Kirche über die Zusammenarbeit von Mann und Frau in der Kirche und in der Welt«, S. 194. 66 Alle Zitate aus: Karl Mannheim: Das Problem einer Soziologie des Wissens, S. 327–328. 67 Karl Mannheim: Das Problem einer Soziologie des Wissens, S. 353.
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Beispiel der Betrachtung einer Landschaft erläutert Mannheim den von ihm vertretenen Perspektivismus: Sie könne sich »für ein menschliches Bewußtsein nur perspektivisch konstituieren, und dennoch löst sich die Landschaft nicht in die verschiedenen von ihr möglichen Bilder auf, weil ein jedes dieser Bilder sich an etwas orientiert […], und weil die eine Perspektive, sofern sie richtig ist, auch von den anderen aus kontrollierbar ist. Hat man aber dies zugegeben, so ist die Geschichte nur aus der Geschichte selber sichtbar, nicht aber durch einen ›Sprung‹ aus der Geschichte, mit dem man sich plötzlich auf einen außerhalb der Geschichte gesetzten statischen Standpunkt willkürlich begibt.«68
Und später ergänzt er: »Nicht offenbarungsmäßig ist dieses Sinnziel erfassbar, sondern stets nur von bestimmten Standorten aus«69. Mannheim geht es um das »soziale Sein, das hinter dem ideologischen steht«70, und er empfiehlt – auch im Anschluss an Max Weber71 – insbesondere zu fragen, »welche soziale Schichten jeweils hinter den geistigen Schichten stehen«72. Für die Religionssoziologie hatte Max Weber bereits einen Zusammenhang zwischen »Ständen, Klassen und Religion« herausgearbeitet,73 wobei er z. B. Intellektuelle zu einer anderen – auf die »›Einheit‹ mit sich selbst, mit den Menschen, mit dem Kosmos«74 – Erlösungsvorstellung neigen sieht als die anders oder weniger privilegierten Statusgruppen. Spätere Soziologen sollten den Zusammenhang von religiösen Überzeugungen und Praktiken mit sozialen Klassen, Feldern und Habitus75 bzw. mit sozialen Milieus herausarbeiten. Und tatsächlich lassen sich ja mit den heutigen Mitteln der empirischen Sozialforschung milieugebundene Dispositionen aufschließen, die sich bis in die Rezeption biblischer Gleichnisse hinein bemerkbar machen.76
68 69 70 71 72 73
Karl Mannheim: Das Problem einer Soziologie des Wissens, S. 357. Karl Mannheim: Das Problem einer Soziologie des Wissens, S. 363. Karl Mannheim: Das Problem einer Soziologie des Wissens, S. 375. Vgl. Karl Mannheim: Das Problem einer Soziologie des Wissens, S. 381. Karl Mannheim: Das Problem einer Soziologie des Wissens, S. 385. Vgl. Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Religiöse Gemeinschaft, Tübingen 2005, S. 47– 81. 74 Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft, S. 73. 75 Vgl. im Anschluss an Pierre Bourdieu Michael N. Ebertz/Franz Schultheis: Populare Religiosität, in: Volksfrömmigkeit in Europa. Beiträge zur Soziologie popularer Religiosität aus 14 Ländern. Hrsg. von Michael N. Ebertz/Franz Schultheis. München 1986, S. 11–52, bes. S. 25–27. 76 Vgl. Michael N. Ebertz: Soziologie grundlegend. Milieus, Lebenswelten und Religion, in: Lebenswelten. Hrsg. v. Silke Borgstedt/Roland Diethelm/Thomas Schlag, Zürich 2012, S. 17–20.; Michael N. Ebertz: Milieufrömmigkeit und Milieutheologien, in: Milieus fordern heraus. Hrsg. v. Katholische Arbeitsstelle für missionarische Pastoral, Erfurt 2013, S. 35–56.
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Michael N. Ebertz
Relationismus statt Relativismus
Mit der Verwandlung, ja Emeritierung des Ideologiebegriffs zugunsten des Konzepts der Seinsgebundenheit transformiert die Soziologie Karl Mannheims auch den Begriff des Relativismus, sofern mit ihm die Bedeutung verbunden ist, den Wahrheitswert eines fremden Denkens in Frage zu stellen und den des eigenen Denkens zu immunisieren, gleichsam sozial zu entbetten, mit Sander gesagt: zu erheben und zu erhöhen. Mannheim geht es nicht mehr um (wechselseitige) intellektuelle Entwertungen – dieses Spiel will er gleichsam unterbrechen. Ihm geht es vielmehr um die »Funktionalisierung eines geistigen Gehaltes auf den dahinter stehenden sinnvollen Seinszusammenhang«77. So führt Mannheim weitere Bausteine seiner Wissenssoziologie vor, indem er zwischen Relativismus und Relationismus unterscheidet. Deutlich ist: Er will »aus diesem Relativismus herauskommen«78, weil der die Krise des Denkens nur befeuert. Diese Exit-Option zugunsten des Relationierens demonstriert er an dem alltäglichen Beispiel eines Bauernsohns, der in die Stadt umsiedelt und die Meinungen seiner zurückgebliebenen Verwandtschaft als dörflich charakterisiert. Der meine damit nicht unbedingt, dass diese altmodisch oder falsch seien, auch nicht nur, dass sie »partikular sind, daß sie verschiedene Blickfelder, verschiedene Ausschnitte aus der Totalwirklichkeit zur Unterlage haben, sondern daß die Blickintention und die Fassungskraft der verschiedenen Sichten bedingt sind durch den Lebensraum, in dem sie entstanden sind und für sie gelten«79. Dementsprechend meint relationieren: »man rechnet nicht nur zu, sondern in dieser Zurechnung vollzieht sich eine Geltungseinschränkung der (als absolut geltenden) Aussagen«80. Anders als der Alltagsmensch geht die Wissenssoziologie beim Relationieren »bewußt und systematisch«81 vor, indem sie insbesondere die Aspektstruktur herausarbeitet, d. h. »die Art, wie einer eine Sache sieht, was er an ihr erfaßt und wie er sich einen Sachverhalt im Denken konstruiert«82. Hier ist nicht der Platz, diese methodische Arbeit im Detail vorzustellen, auch nicht ihre Weiterentwicklung in der rekonstruktiven Sozialforschung83 und in der neueren
77 Karl Mannheim: Ideologische und soziologische Interpretation der geistigen Gebilde, in: Wissenssoziologie. Hrsg. v. Kurt H. Wolff, Berlin/Neuwied 1964, S. 388–407, S. 397. 78 Karl Mannheim: Ideologie und Utopie, S. 72. 79 Karl Mannheim: Ideologie und Utopie, S. 242–243. 80 Karl Mannheim: Ideologie und Utopie, S. 243. 81 Karl Mannheim: Ideologie und Utopie, S. 242. 82 Karl Mannheim: Ideologie und Utopie, S. 234. 83 Sie wird in der heutigen empirischen Sozialforschung insbesondere in der Inhaltsanalyse von Gruppendiskussionsverfahren angewandt; Vgl. Ralf Bohnsack: Generation, Milieu und Geschlecht. Ergebnisse aus Gruppendiskussionen mit Jugendlichen, Opladen 1989, S. 343–345.
Relativismus oder Relationismus?
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Wissenssoziologie, die das Alltagswissen84 in den Blick nimmt. Sie setzt gleichsam eine doppelte asketische Haltung voraus, einen doppelten Verzicht, geradezu eine doppelte Umkehrung: So wird man zum einen davon ablassen, »daß es Denkgebiete gibt, in denen standortsfreies, unbezügliches Wissen gar nicht vorstellbar ist«; auch »ein Gott könnte historische Einsichten nicht im Sinne des Paradigmas 2 X 2=4 formulieren, denn Verstehbares ist nur mit Beziehung auf Problemstellungen und Begriffssysteme, die dem historischen Strom erwachsen, formulierbar«85. Zum anderen wird man bei aller Suche nach dem »Optimum an Wahrheit« darüber hinaus gehen, »diese Wahrheit in unbezüglicher Formulierung besitzen zu wollen«86. Das Gegenteil dessen, was Sander als erheben oder erhöhen kritisiert, wird also vorausgesetzt, wozu eine religiöse Tradition ja auch Bezugspunkte bietet. Wer Relativismus sagt, verschließt sich diesem doppelten Verzicht oder hat von dieser Kulturtechnik noch gar keine Kenntnis. Er ist noch einer »Erkenntnistheorie älteren Typus‹« verbunden, »die das Phänomen des seinsverbundenen Denkens eigentlich noch gar nicht kennt, sich mit ihm noch gar nicht ernsthaft auseinandergesetzt hat und daher, sich an einem statischen Denkparadigma (etwa am Urbild: 2 X 2= 4) orientierend, notgedrungen zum Verwerfen eines jeden standortgebundenen Wissens als einem bloß ›relativen‹ kommen muss. Der Relativismus entsteht hier also aus der Diskrepanz, die zwischen der neuen Einsicht in die faktische Denkstruktur und einer dieser noch nicht bewältigenden Erkenntnistheorie besteht«87.
Der Verzicht auf den Relativismus zugunsten eines soziologischen Relationismus öffne, so Mannheim, den hermeneutischen Blick und mache ihn »frei für ein unbefangeneres Durchdenken der aktuell werdenden Probleme«88.
9
Religiöser und theologischer Relationismus
Aber das bedeutet Umkehr und Arbeit, auch für eine theologische Tradition, die sich, einer Wahrheitsidee verpflichtet,89 wissenssoziologischen Überlegungen nur zögerlich öffnet: Sie beginnt beim eigenen Denken und führt, so Mannheim, zu seiner »Selbsttranszendierung und Selbstrelativierung«, die »dem Denken 84 Vgl. Peter L. Berger/Thomas Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, Frankfurt am Main 4. Aufl. 1974; zum Begriff des Relativismus und zur Wissenssoziologie vgl. Karl Mannheim: Ideologie und Utopie, S. 9–11. 85 Karl Mannheim: Ideologie und Utopie, S. 72. 86 Karl Mannheim: Ideologie und Utopie, S. 72. 87 Karl Mannheim: Ideologie und Utopie, S. 71. 88 Karl Mannheim: Ideologie und Utopie, S. 72. 89 Vgl. Hans-Joachim Sander: Nicht ausweichen, S. 113–114.
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Michael N. Ebertz
keineswegs einen Primat zuschreiben, sondern vielmehr das Denken entweder als deren Emanation oder als Ausdruck, Parallelerscheinung, oder aber als etwas von einem anderen Faktor her Determiniertes auffassen«90. Dass in der Haltung der Selbstrelativierung, die auch Hans-Joachim Sander stark machen will, das Denken Gefahr läuft, seine Behauptungen zu desavouieren und sich in einem theoretischen Zirkel zu verrennen, hat Mannheim gesehen, sieht sie aber weniger für »das mystische und für das religiöse Bewusstsein«91. Diesem dürften diese Operationen naheliegen, habe es doch »von jeher die Tendenz gehabt, das Denken von der mystischen Ekstase oder von einem Offenbarungswissen her zu relativieren«92. Gerade ein christliches Offenbarungsverständnis könnte darum wissen, dass mit der Selbstmitteilung Gottes im Menschenwort noch nicht alles gesagt ist. Dieser Gott ist ein Gott der Zumutungen.93 Und die Arbeit des Relationierens mutet auch Christ:innen zu, die Aussagegehalte stets »auf eine bestimmte Art der Weltauslegung und diese wieder auf eine bestimmte soziale Struktur als auf ihre Seins-Voraussetzung«94 zu beziehen, ohne damit zu sagen, dass sie falsch seien; ohne damit zu sagen, »daß es keine Entscheidbarkeit in Diskussionen gibt, sondern daß es zum Wesen bestimmter Aussagen gehört, nicht absolut, sondern nur in standortgebundenen Aspektstrukturen formulierbar zu sein«95. Dies könnte dazu beitragen, den Kampf in der Kirche um die Kirche96 als Religions- oder Pastoralgemeinschaft97 in eine konstruktive Verständigung zu transformieren und damit ihre Krise zu bearbeiten. »Nicht durch übereiltes, gereiztes Abtun der neu auftauchenden Probleme kann man eine Krisis lösen«, mahnt Mannheim, »auch nicht dadurch, daß man sich in vergangenen Sekuritäten vergräbt, sondern durch ein allmähliches Ausweiten und Vertiefen der gewonnenen neuen Sicht und durch allmähliche Vorstöße in der Richtung der Bewältigung«98. Wer sich nur in eine Linie mit der biblischen Autorität des »hl. Paulus« und der dogmatischen Autorität des »Credo der Kirche« stellt und diese als Rettungsanker und Kompass eines großen Bootes empfiehlt, das – mit dem Nachfolger des Petrus in Sicht – einen »klaren Glauben«, also Orientierung, Navigation, Steuerung in der Welt von heute ermögliche, empfiehlt zwar Sekuritäten der kirchlichen Vergangenheit, damit aber auch Standortge90 91 92 93 94 95 96
Karl Mannheim: Das Problem einer Soziologie des Wissens, S. 311–312. Karl Mannheim: Das Problem einer Soziologie des Wissens, S. 314. Karl Mannheim: Das Problem einer Soziologie des Wissens, S. 314. Vgl. Gottfried Bachl: Wir leben mit einem Gott der Zumutungen, Sexau 1997. Karl Mannheim: Ideologie und Utopie, S. 242. Karl Mannheim: Ideologie und Utopie, S. 242. Vgl. Michael N. Ebertz: Der Kampf um die Kirche – in der katholischen Kirche. Soziologische Perspektiven auf die Debatte um »Amoris laetitia«, in: Zeitschrift für Religion, Gesellschaft und Politik, 2/1 (2018), S. 1–18, URL: https://rdcu.be/Lq7u abgerufen am 25. Mai 2021. 97 Vgl. Hans-Joachim Sander: Nicht ausweichen, S. 14–16. 98 Karl Mannheim: Ideologie und Utopie, S. 94.
Relativismus oder Relationismus?
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bundenheiten anderer. Deren Wissen ist Stückwerk wie das eigene, und die standortgebundene Stückelei wird noch nicht aufhören. »Als ich ein Kind war, da redete ich wie ein Kind und dachte wie ein Kind und war klug wie ein Kind; als ich aber ein Mann wurde, tat ich ab, was kindlich war.«99 Und immer noch sehe ich jetzt – vielleicht ähnlich wie die anderen – durch einen Spiegel ein rätselhaftes Bild; »dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich stückweise; dann aber werde ich erkennen, gleichwie ich erkannt bin«100 – freilich erst dann.
Literatur Gottfried Bachl: Wir leben mit einem Gott der Zumutungen, Sexau 1997. Peter L. Berger/Thomas Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, Frankfurt am Main 4. Aufl. 1974. Hans Blumenberg: Schiffbruch mit Zuschauer. Paradigma einer Daseinsmetapher, Frankfurt am Main 1979. Ralf Bohnsack: Generation, Milieu und Geschlecht. Ergebnisse aus Gruppendiskussionen mit Jugendlichen. Zugl.: Erlangen-Nürnberg, Univ., Habil.-Schr, Opladen 1989. Pierre Bourdieu: Die Auflösung des Religiösen, in: Rede und Antwort. Hrsg. v. Pierre Bourdieu, Frankfurt am Main 1992, S. 231–237. Christian Röther: »Katholischer Kulturkampf«. Debatte über Frauenrechte und Rassismus in der katholischen Kirche, Deutschlandfunk 23. 04. 2021, URL: https://www.deutsch landfunk.de/debatte-ueber-frauenrechte-und-rassismus-in-der.886.de.html?dram:arti cle_id=496116 abgerufen am 25. Mai 2021. Michael Corsten: Karl Mannheims Kultursoziologie. Eine Einführung, Frankfurt am Main 2010. Michael N. Ebertz: Wider die Relativierung der heiligen Ordnung. Fundamentalismus im Katholizismus, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ), B 33/7. August (1992), S. 11– 22. Michael N. Ebertz: Die Zivilisierung Gottes. Der Wandel von Jenseitsvorstellungen in Theologie und Verkündigung, Ostfildern 2004. Michael N. Ebertz: Quo vadis Kirche? Wie kann die katholische Kirche wieder glaubwürdig werden? Vortrag auf dem Studiennachmittag für Religionslehrkräfte am 13. Juni 2010. Hrsg. v. Bischöflichen Generalvikariat Hildesheim, Hildesheim 2010, URL: https://mi chaelebertz.de/mediathek/#lesen abgerufen am 25. Mai 2021. Michael N. Ebertz: Soziologie grundlegend. Milieus, Lebenswelten und Religion, in: Lebenswelten. Hrsg. v. Silke Borgstedt/Roland Diethelm/Thomas Schlag, Zürich 2012, S. 17–20. Michael N. Ebertz: Milieufrömmigkeit und Milieutheologien, in: Milieus fordern heraus. Hrsg. v. Katholische Arbeitsstelle für missionarische Pastoral, Erfurt 2013, S. 35–56.
99 1 Kor 13, 11. (Lutherbibel 2017) 100 1 Kor 13, 12. (Lutherbibel 2017)
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Michael N. Ebertz
Michael N. Ebertz: Die institutionelle Familiensemantik im Katholizismus, in: Religion und Wohlfahrtsstaatlichkeit in Deutschland, Tübingen 2017, S. 217–244. Michael N. Ebertz: Der Kampf um die Kirche – in der katholischen Kirche. Soziologische Perspektiven auf die Debatte um »Amoris laetitia«, in: Zeitschrift für Religion, Gesellschaft und Politik, 2/1 (2018), URL: https://rdcu.be/Lq7u abgerufen am 25. Mai 2021, S. 1–18. Michael N. Ebertz: Von der »Vollmacht« zur Ohnmacht? Herausgeforderter Klerikalismus im Feld der Glaubenskämpfe, in: Theologie und Glaube, 110/4 (2020), S. 417–436. Michael N. Ebertz/Lucia Segler: Was tun, wenn das Vertrauen endet?, in: Der ›Fall‹ Tebartzvan Elst. Hrsg. v. Joachim Valentin/Franz-Peter van Tebartz-Elst, Freiburg im Breisgau 2014, S. 91–118. Norbert Elias: Was ist Soziologie?, Weinheim 5. Aufl. 1986. Papst Franziskus: Nachsynodales apostolisches Schreiben Amoris lætitia des Heiligen Vaters Franziskus. An die Bischöfe an die Priester und Diakone, an die Personen geweihten Lebens, an die Christlichen Eheleute und an alle christgläubigen Laien über die Liebe in der Familie, Vatikan Stadt 2016, URL: http://www.vatican.va/content/francesco/de/apo st_exhortations/documents/papa-francesco_esortazione-ap_20160319_amoris-laetiti a.html abgerufen am 25. Mai 2021. Hermann Häring: Haus Gottes – Hüterin des Abendlandes? Joseph Ratzingers Katholizismus als europäisches Kulturprojekt, in: Katholizismus in Geschichte und Gegenwart. Hrsg. v. Richard Faber, Würzburg 2005, S. 159–187. Paul T. d’ Holbach: Religionskritische Schriften. Das entschleierte Christentum; Taschentheologie; Briefe an Eugénie, Schwerte (Ruhr) 1970. Guido Horst: Papst sagt Korruption den Kampf an, in: Die Tagespost (14. 05. 2021). Katechismus der Katholischen Kirche. Neuübersetzung aufgrund der Editio typica Latina, Freiburg/Schweiz/Berlin/München/Boston/Leipzig 2015. Kongregation für die Glaubenslehre: Erwägungen zu den Entwürfen einer rechtlichen Anerkennung der Lebensgemeinschaften zwischen homosexuellen Personen, Vatikan Stadt 2003, URL: https://www.vatican.va/roman_curia/congregations/cfaith/documen ts/rc_con_cfaith_doc_20030731_homosexual-unions_ge.html abgerufen am 26. Februar 2021. Norbert Lüdecke: Die Ehe im Plane Gottes und seine Kirche. Geschlechterverhältnis, Ehe und Ekklesiologie in kanonistischer Sicht, in: Ehe als Ernstfall der Geschlechterdifferenz. Hrsg. v. Bernhard Heininger, Berlin/Münster 2010, S. 115–137. Karl Mannheim: Das Problem der Generationen, in: Wissenssoziologie. Hrsg. v. Kurt H. Wolff, Berlin/Neuwied 1964, S. 509–565. Karl Mannheim: Das Problem einer Soziologie des Wissens, in: Wissenssoziologie. Hrsg. v. Kurt H. Wolff, Berlin/Neuwied 1964, S. 308–387. Karl Mannheim: Ideologische und soziologische Interpretation der geistigen Gebilde, in: Wissenssoziologie. Hrsg. v. Kurt H. Wolff, Berlin/Neuwied 1964, S. 388–407. Karl Mannheim: Ideologie und Utopie, Frankfurt am Main 5. Aufl. 1969. Alessandro Nova: Kirche, Nation, Individuum. Das stürmische Meer als Allegorie, Metapher und Seelenzustand, in: Das Meer, der Tausch und die Grenzen der Repräsentation. Hrsg. v. Hannah Baader/Gerhard Wolf, Zürich 2010, S. 67–94.
Relativismus oder Relationismus?
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Stefan Oster: Auch Lieblosigkeit produziert Ideologie. Im Gespräch mit Regina Einig, in: Die Tagespost (29. 04. 2021), URL: https://www.die-tagespost.de/kirche-aktuell/aktuell/chri stliche-streitkultur-der-verachtung;art4874,217791 abgerufen am 26. Mai 2021. Joseph Ratzinger: Missa pro eligendo romano pontifice. Predigt von Kardinal Joseph Ratzinger, Dekan des Kardinalskollegiums 18. April 2005, URL: https://www.vatican.va/gp II/documents/homily-pro-eligendo-pontifice_20050418_ge.html abgerufen am 25. Mai 2021. Hans-Joachim Sander: Distinktionsgewinn durch Selbstrelativierung. Die fällige Kreuzkusinenheirat des Lehramtes mit seiner Relativität, in: diesem Band. Hans-Joachim Sander: Nicht ausweichen. Die prekäre Lage der Kirche, Würzburg 2002. Max Scheler: Probleme einer Soziologie des Wissens, in: Die Wissensformen und die Gesellschaft, Leipzig 1926, S. 1–229. Marie-Theres Wacker: Das »Schreiben an die Bischöfe der katholischen Kirche über die Zusammenarbeit von Mann und Frau in der Kirche und in der Welt«. Ein feministischtheologischer Exkurs, in: Katholizismus in Geschichte und Gegenwart. Hrsg. v. Richard Faber, Würzburg 2005, S. 189–195. Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Religiöse Gemeinschaft. Studienausgabe, Tübingen 2005. Louis Wirth: Vorwort zur englischen Ausgabe, in: Ideologie und Utopie. Hrsg. v. Jürgen Kaube, Frankfurt am Main 5. Aufl. 1969, S. IX–XXVII.
Annette Langner-Pitschmann
Ambiguität und Normativität. Ein vergleichender Blick in die Sprachzusammenhänge von Recht und Religion
Die Verbindung von Ambiguität und Normativität lädt zu zweierlei Assoziationen ein. Einerseits nämlich deutet sie auf die Frage nach der normativen Bewertung von Ambiguität. Spätestens dann, wenn zur deskriptiven Analyse ambiger Äußerungen bzw. Situationen der normative Begriff der Ambiguitätstoleranz hinzutritt, wird eine Differenzierung erforderlich. Unter welchen Bedingungen lässt sich von Ambiguität als Potential sprechen – und welche Umstände lassen sie als problematisch erscheinen? Inwiefern ist es geboten, der Ambiguität ihr eigenes Recht einzuräumen – und wann ist es angezeigt, sie so weit wie möglich in Eindeutigkeit zu transformieren? Andererseits lässt sich die Überschrift Ambiguität und Normativität als Verdichtung der Frage lesen, wie eine Äußerung einerseits mehrere Deutungen zulassen, zugleich aber den Anspruch auf Verbindlichkeit erheben kann. Inwieweit ist die normative Geltung einer Aussage an ihre Eindeutigkeit gekoppelt – und wie variabel muss umgekehrt die Bedeutung einer Aussage sein, damit ihr Anspruch auf Geltung auch in unterschiedlichen Kontexten als solcher aufgefasst und potenziell realisiert wird? Was die erste Frage nach der normativen Bewertung von Ambiguität betrifft, liegt es nahe, anhand des Zusammenhangs zu entscheiden. Während Ambiguität etwa im Rahmen ästhetischer Rezeption überwiegend als produktiv wahrgenommen wird, erweist sie sich im Rahmen praktischer Koordination tendenziell als störend. Umberto Eco spitzt diese Überlegung dahingehend zu, dass die ästhetische Gültigkeit einer Form notwendig auf ihre Deutungsoffenheit verwiesen sei, wohingegen ein Verkehrsschild seine Bedeutung umgekehrt mit der gleichen Notwendigkeit aus seiner Eindeutigkeit ziehe.1 Auf den ersten Blick will man aus dieser plausiblen Beobachtung die Faustregel ableiten, dass Ambiguität so lange toleriert (oder gar geschätzt) werden kann, solange es um nichts Verbindliches geht. Normative Geltung, so wäre die Vermutung, beruht auf eindeutiger Bedeutung.
1 Vgl. Umberto Eco: Das offene Kunstwerk, Frankfurt am Main 2016, S. 30.
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Dass diese Faustregel zu einfach und die zweite Frage nach dem genauen Verhältnis zwischen Ambiguität und normativer Geltung mehr als nur rhetorisch ist, zeigt die Tatsache, dass der Stellenwert ambiger Aussagen und Situationen auch im Kontext der Rechtstheorie erörtert wird. Auch im Hinblick auf juristische Formulierungen, die ja gleichsam den Prototyp verbindlicher Aussagen darstellen, scheint also nicht abschließend geklärt zu sein, inwieweit normative Geltung auf Eindeutigkeit angewiesen ist. Die Frage nach der Erwünschtheit von Ambiguität ist also mit der Frage nach ihrer Beziehung zur Verbindlichkeit verschränkt. Angesichts dessen ist davon auszugehen, dass ein gründlicher Blick auf den zweiten Aspekt zur Klärung der ersten Frage verhelfen kann. Die Arbeitshypothese lautet also: Wer versteht, wie das grundsätzliche Verhältnis zwischen semantischer Offenheit und normativer Kraft beschaffen ist, der versteht zugleich etwas über die Kriterien, anhand derer ambige Äußerungen im Einzelfall normativ zu bewerten sind. Das Erkenntnisinteresse, aus dem heraus dieser Annahme im Folgenden nachgegangen wird, gilt den gegenwärtigen Geltungsbedingungen katholischtheologischer Dogmatik. Nicht zuletzt dann, wenn die Plausibilität geltender Dogmen öffentlich angefragt wird, steht die Theologie vor der Aufgabe, den Anspruch zeitloser Geltung der Glaubenssätze mit der Einsicht in ihre Geschichtlichkeit in Einklang zu bringen. Semantisch gewendet, lautet diese zunächst geltungstheoretische Frage: Wieviel Eindeutigkeit ist nötig – und wieviel Deutungsoffenheit ist möglich –, um die Verbindlichkeit von Glaubensaussagen im Sinne ihrer Kontinuität mit der Botschaft des Evangeliums zu garantieren? Unumgänglich ist dabei aber zugleich auch die umgekehrte Frage: Wieviel Eindeutigkeit ist möglich – und wieviel Deutungsoffenheit ist nötig –, um die Verbindlichkeit von Glaubensaussagen, im Sinne ihrer Vermittelbarkeit in historisch und kulturell disparate Kontexte hinein zu gewährleisten? In der theologischen Erörterung dieser Fragen zeigen sich immer wieder Spuren der Polarisierung zwischen einer Treue zum Wort Gottes auf der einen und einer Kapitulation vor dem relativistischen Zeitgeist auf der anderen Seite. Um über die Beziehung zwischen Ambiguität und Normativität in einem gewissen Sicherheitsabstand von dieser Dichotomie nachzudenken, bietet es sich an, über den theologischen Horizont hinauszublicken und bei dem bereits erwähnten Diskurs der Rechtslinguistik Anleihe zu nehmen. Das Kernproblem dieser Fachperspektive fasst der Sprachwissenschaftler Dietrich Busse wie folgt zusammen: »Texte, die zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt verabschiedet worden sind, sollen über einen langen, unbestimmten Zeitraum hinweg normativ wirken.«2 An der Schnittstelle zwischen Rechts- und Sprachwissen2 Dietrich Busse: Juristische Semantik. Grundfragen der juristischen Interpretationstheorie in sprachwissenschaftlicher Sicht, Berlin 2010, S. 37.
Ambiguität und Normativität
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schaft wird damit offenbar eine Problematik erörtert, die dem skizzierten Dilemma theologischer Dogmatik zumindest in einigen Hinsichten analog ist.3 Im Folgenden gehe ich der Frage nach, inwieweit sich aus dieser Parallele eine erweiterte Perspektive auf das Verhältnis zwischen Mehrdeutigkeit und Verbindlichkeit in der katholischen Dogmatik gewinnen lässt. Am Beginn stehen dabei zwei grundlegende Klärungen. Zum einen gilt es, Möglichkeiten und Grenzen der behaupteten Analogie zwischen Rechtswissenschaft und Theologie abzustecken; zum anderen ist das Verständnis von Ambiguität zu präzisieren, welches in den folgenden Ausführungen vorausgesetzt wird. Darauf aufbauend analysieren die beiden folgenden Passagen die Faktoren, die für das unausweichliche Zustandekommen sprachlicher Ambiguität in den Kontexten von Theologie und Recht ausschlaggebend sind. Der abschließende fünfte Abschnitt skizziert eine Theologie, die sich in ihrer Dogmenhermeneutik von der pragmatischen Rechtssemantik inspirieren lässt.
1
Theologie und Jurisprudenz im Horizont einer praktischen Semantik
Eine grundlegende Parallele zwischen den Praxiskontexten von Religion und Rechtsprechung lässt sich in der handlungsbestimmenden Rolle kanonisierter Schriften ausmachen.4 Sowohl in der Religion als auch im Recht wird zur Kategorisierung und Bewertung menschlicher Praxis auf Texte Bezug genommen, denen von der Gesellschaft bzw. der Gemeinschaft eine übergeordnete Autorität zuerkannt wird.5 Damit eng verbunden ist eine zweite Entsprechung: Ähnlich wie die Theologie, steht nämlich auch die Rechtstheorie vor dem Anspruch, diese maßgeblichen Texte im Wissen um ihre kontingenten Entstehungsvoraussetzungen als Instanzen notwendiger Geltung auszuweisen. Theologischerseits bringt dies Wolfgang Beinert einschlägig auf den Punkt, indem er »die Geschichtlichkeit des Dogmas« als das »Hauptproblem der Theologischen Erkenntnislehre (…) im 20. Jahrhundert«6 3 Busse selbst weist auf diese Analogie hin, wenn er in der zitierten Aussage nicht allein das »Grundproblem der Jurisprudenz«, sondern zugleich das Grundproblem schlechthin »jeder auf kanonischen Texten beruhenden Disziplin« ausmacht. (Vgl. Dietrich Busse: Juristische Semantik, 37). 4 Vgl. Anm. 3. 5 Vgl. Gerhard Stickel: Vorbemerkungen über Sprache und Recht, in: Sprache und Recht. Hrsg. v. Ulrike Haß, Berlin 2002, S. 1–6, S. 3: »Wie in keinem anderen Berufs- und Lebensbereich (allenfalls noch in der Religion) ist in der Justiz (…) alles Handeln sprachlich. (…) Rechtliches Ordnen, Bewerten und Entscheiden sind stets sprachgebunden«. 6 Wolfgang Beinert: Dogma/Dogmatische Aussage, in: Lexikon der katholischen Dogmatik. Hrsg. v. Wolfgang Beinert, Freiburg 1997, S. 89.
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ausweist. Dem korrespondiert auf der Seite der Rechtstheorie die von Ronald Dworkin zusammengefasste Einsicht, dass Gesellschaften für die Normativität ihrer je partikularen Rechtsauffassung aufzukommen hätten, im vollen Bewusstsein darüber, »that a different group, or a different society, with different culture and experience, would produce a different one«7. Auch hinsichtlich der Reaktionen auf dieses Ausgangsproblem lässt sich im rechtsphilosophischen Diskurs eine Analogie zur theologischen Debatte erkennen. Auch dort nämlich lassen sich zwei gegenläufige Tendenzen feststellen8: Auf der einen Seite stehen hermeneutisch orientierte Positionen, für die eine angemessene Analyse juristischer Normen ihren Entstehungs- und Deutungshorizont im Sinne eines sich ständig wandelnden Vorverständnisses mit einzubeziehen hat. Ihnen gegenüber stehen sprachtheoretisch zugeschnittene Ansätze, welche die Festlegung entweder auf eine zeitlose Bedeutung der Texte oder auf eine fixierbare Intention des Verfassers als Voraussetzung einer belastbaren Normenrezeption betrachten.9 Für den vorliegenden Zusammenhang beziehe ich mich auf einen Zugang, der in dieser Konstellation einen dritten Weg darzustellen scheint und dessen Vertreter:innen sich seit den 1980er Jahren in der Heidelberger Gruppe der Rechtslinguistik zusammenfinden. Das Programm dieser Gruppe bringt einer ihrer Gründerväter, Friedrich Müller, wie folgt auf den Punkt: »Sie fasst das, was Richter und andere Juristen sprechen und schreiben (z. B. Urteile), nicht als bloße Äußerung ›objektiver‹ und fixierbarer Sach- und Sprachstrukturen auf. Sie erfasst es vielmehr als Handeln: als reales, zu verantwortendes Handeln von (amtlich dazu bestellten) Menschen in bestimmten gesellschaftlichen Zusammenhängen.«10
Der Ansatz der Heidelberger Gruppe teilt mit der hermeneutischen Perspektive demnach die Aufmerksamkeit für die bedeutungskonstitutive Rolle des jeweiligen Äußerungszusammenhangs. Sein Spezifikum gegenüber klassisch-hermeneutischen Lesarten besteht darin, dass er diesen Kontext grundsätzlich als einen praktischen Zusammenhang und die fragliche Äußerung ihrerseits als einen Handlungsvollzug auffasst. Wenn Müller diese Perspektive dementsprechend mit dem Etikett der »praktischen Semantik«11 versieht, markiert er zugleich die Abgrenzung der 7 Ronald Dworkin: Taking Rights Seriously, London 2013, S. 211. 8 Vgl. Dietrich Busse: Juristische Semantik, S. 225–226. 9 Vgl. Friedrich Müller: Textarbeit, Rechtsarbeit. Zur Frage der Linguistik in der Strukturierenden Rechtslehre, in: Neue Studien zur Rechtslinguistik. Dem Gedenken an Bernd Jeand’Heur. Hrsg. v. Friedrich Müller/Rainer Wimmer, Berlin 2001, S. 11–26, S. 5–7. 10 Friedrich Müller: Textarbeit, Rechtsarbeit, S. 12. 11 Ebd. – Ausführlicher zum Konzept der Praktischen Semantik vgl. Hans-Jürgen Heringer/ Günther Öhlschläger/ Bruno Strecker/Rainer Wimmer: Einführung in die praktische Semantik, Heidelberg 1977.
Ambiguität und Normativität
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Heidelberger Rechtslinguist:innen gegen positivistische Spielarten juristischer Methodenlehre, die am Ideal einer objektiven, d. h. vom jeweiligen pragmatischen Kontext isolierten Wort- und Textbedeutung festhalten. Die Unterstellung, das Projekt der semantischen Analyse erschöpfe sich in der Feststellung einer »ein-eindeutigen Beziehung zwischen Wort und Sache«, betrachtet er als das Relikt eines »Glaubensbekenntnisses«, das »dem 19. Jahrhundert verpflichtet«12 bleibe.13 Hinter die Einsicht, dass die Bedeutung einer Äußerung kontextsensitiv ist, lässt sich demnach nur um den Preis linguistischer Naivität zurückfallen. Worin aber besteht – positiv gesprochen – das Normenverständnis einer praktischen Rechtssemantik? Mit welchem Sprachmodell legt sie die Basis für das, worum an anderer Stelle auch die katholische Dogmatik ringt – nämlich, dass die Bedeutung von Aussagen auch dann bindend bleibt, wenn dem pragmatischen Zusammenhang ihrer Äußerung eine bedeutungskonstitutive Rolle zugestanden wird? Friedrich Müller veranschaulicht die Antwort auf diese Frage anhand einer Parallelisierung der Funktionsweise sprachlicher und juristischer Regelwerke: »Sprechen wie auch juristisches Entscheiden, Spracharbeit wie Rechtsarbeit sind nicht formal objektivierbare ›Anwendung‹ vorgegebener sprachlicher bzw. rechtlicher Regeln. Sie sind vielmehr produktive Vorgänge in Orientierung an früheren Regelformulierungen bzw. Normtexten; die konkret wirksame Sprachregel wie die konkret bestimmende Rechtsnorm werden im Verlauf dieses Handelns erst als solche geschaffen. Alles andere würde – ob uns das gefällt oder nicht – die Leistungsfähigkeit der natürlichen Sprache ganz einfach überfordern.«14
Ebenso wenig, wie die Grammatik einer Sprache ein zeitlos existierendes Konstrukt sei, das ihr von außen vorgegeben werde, sei das Recht einer Gesellschaft ein der sozialen Praxis vorgeordnetes und von ihr unberührtes Regelwerk. Ebenso wie die grammatikalische, werde auch die juristische Norm stattdessen generisch aus der konkreten Handlungsrealität gewonnen. Die entsprechende Kurzformel von den »Vorgängen in Orientierung an früheren Regelwerken«15 verweist dabei zum einen auf den prinzipiell induktiv-prozessualen Charakter sprachlicher bzw. rechtlicher Normenbildung. Zum anderen sichert sie diese dynamische Vorstellung der Normenentwicklung gegen den Vorwurf ab, die 12 Friedrich Müller: Textarbeit, Rechtsarbeit, S. 12. 13 Ähnlich wendet sich Dietrich Busse, ebenfalls Gründungsmitglied der Heidelberger Gruppe, gegen den »fest verwurzelte(n) Glaube(n), es gebe tatsächlich die Möglichkeit einer empirisch gesicherten, objektiven, exakten, historisch wahren, kurzum ›richtigen‹ Feststellung von Textbedeutungen.« Aus Sicht eines Linguisten habe ein derartiges »Vertrauen in die Verlässlichkeit unserer Sprache« allenfalls »etwas Rührendes« (Dietrich Busse: Juristische Semantik, S. 226). 14 Friedrich Müller: Textarbeit, Rechtsarbeit, S. 13 (kursiv im Original). 15 Ebd.
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betreffenden Regeln der Beliebigkeit preiszugeben, indem sie einen kriteriologischen Bezugspunkt benennt: Erst die nachvollziehbare Kontinuität neu hergeleiteter Normen zu den aus früheren Praktiken abgeleiteten Regelwerken kann demnach dafür aufkommen, dass der Anspruch auf Verbindlichkeit gedeckt bleibt, ohne dass eine Überbeanspruchung der natürlichen Sprache riskiert würde.
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Praktische Semantik und Ambiguität
Die Behauptung, dass die Bedeutung von Worten und Sätzen durch den Kontext ihrer Äußerung mitgeprägt wird, lenkt den Blick auf das Phänomen der Ambiguität sprachlicher Gebilde. Wenn sich, wie es das Programm der Heidelberger Gruppe hervorhebt, die Bedeutung von Worten und Sätzen prinzipiell nicht eindeutig fixieren lässt, dann liegt es nahe, sich mit den Rahmenbedingungen ihrer Mehrdeutigkeit zu befassen. Dabei fällt auf, dass sich in der linguistischen Auseinandersetzung speziell mit dem Ambiguitätsbegriff die eben skizzierte allgemeine Kontroverse über die Reichweite semantischer Untersuchung widerspiegelt. Wie etwa die Sprachwissenschaftlerin Esme Winter-Froemel herausarbeitet16, gibt es auch hier auf der einen Seite solche Zugänge, die das Phänomen der Ambiguität ausgehend von einer zweistelligen Relation zwischen einem Wort bzw. Satz und seinem Referenzobjekt untersuchen. Ihnen stehen auf der anderen Seite solche Ansätze gegenüber, die dem pragmatischen Äußerungszusammenhang nicht erst für die nachträgliche Deutung ambiger Äußerungen, sondern bereits für das Zustandekommen von Ambiguität eine konstitutive Rolle zuschreiben. Mit anderen Worten, der im vorangehenden Abschnitt skizzierte, allgemeine pragmatic turn der linguistischen Forschung hinterlässt auch im spezifischen Hinblick auf die Ambiguitätsanalyse seine Spuren. Für die Frage nach der Beziehung zwischen Ambiguität und Normativität im Sinne der normativen Bewertung ambiger Äußerungen ist diese Beobachtung von Interesse. So machen Winter-Froemels Überlegungen deutlich, dass mit der Entscheidung für oder gegen den Mitvollzug des pragmatic turn zugleich eine Vorentscheidung über die Beurteilung ambiger Sprachphänomene getroffen wird. Im Licht der klassischen, vorpragmatischen Perspektive nämlich trete das Phänomen der Ambiguität als das Problem der Äquivokation auf. Ambiguität werde expliziert als die Offenheit für mehrere, einander wechselseitig aus16 Vgl. Esme Winter-Froemel: Introducing Pragmatic Ambiguity. On the Diversity and Ambivalence of Ambiguity in Discourse, in: Ambivalenz in Sprache, Literatur und Kunst. Hrsg. v. Matthias Bauer/Frauke Berndt/Sebastian Meixner, Würzburg 2019, S. 65–90.
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schließende Deutungen, die entweder semantisch unverbunden (homonym) oder semantisch verbunden, aber dennoch wechselseitig exklusiv (polysem) seien. Wenn dann im zweiten Schritt danach gefragt werde, wie sich Ambiguität auf die Interaktion zwischen Sprecher:in und Hörer:in auswirke, erweise sie sich primär als eine Quelle von Missverständnissen: »In classical ambiguity research, the potential for misinterpretations has led scholars to present ambiguity as a deficit of natural languages.«17 Aus den vier Argumenten, anhand derer Winter-Froemel diese Perspektive als Engführung ausweist und den Mitvollzug einer pragmatischen Wende plausibilisiert18, sei hier nur eines herausgegriffen. So arbeitet sie heraus, dass es Fälle der Ambiguität gibt, die nicht durch einander ausschließende Alternativen im Hinblick auf das Bezeichnete zustande kommen, sondern durch unterschiedliche Schlussfolgerungen auf Seiten der Hörer:innen. Der Satz: Während Du in der Sonne gelegen hast, habe ich den gesamten Abwasch erledigt, könne in diesem Sinne entweder als Tatsachenfeststellung oder als Sprechakt aufgefasst werden. Erst die Festlegung hinsichtlich dieser Alternative im pragmatischen Äußerungshorizont entscheide schließlich darüber, ob dem Wort während zeitliche oder adversative Bedeutung zugeschrieben werde.19 Erkennt man in dieser Weise auch pragmatische Aspekte als ambiguitätskonstitutive Faktoren an, erweist sich das Beurteilungsraster eindeutig vs. missverständlich als unterkomplex. Zur angemessenen Bewertung ambiger Äußerungen ist darüber hinaus u. a. zu unterscheiden, ob es sich um die Aktualisierung bereits bekannter oder um die Einführung neuer Ambiguität handelt – und im letzteren Falle, ob diese Einführung auf der Sprecher:innen- oder auf der Hörer:innenseite ihren Ursprung hat.20 Ambiguität lässt sich vor diesem Hintergrund definieren als »a coexistence of several, clearly distinguishable interpretations, which, however, need not be intended or perceived by the speaker and hearer.«21 Sie tritt dabei nicht nach einem binären Schema vorhanden vs. nicht vorhanden, sondern in graduellen Abstufungen auf. So kann sie beispielsweise im Hinblick auf die Kommunikationsteilnehmenden mehr oder weniger bewusst und im Hinblick auf den Prozess ihrer Disambiguierung mehr oder weniger stabil sein.22 Das Spektrum ihrer Bewertung jedenfalls ist mehrdimensional und nuanciert.
17 18 19 20 21 22
Esme Winter-Froemel: Introducing Pragmatic Ambiguity, S. 68. Vgl. Esme Winter-Froemel: Introducing Pragmatic Ambiguity, S. 71–72. Vgl. Esme Winter-Froemel: Introducing Pragmatic Ambiguity, S. 70. Vgl. Esme Winter-Froemel: Introducing Pragmatic Ambiguity, S. 74–75. Esme Winter-Froemel: Introducing Pragmatic Ambiguity, S. 78. Vgl. ebd.
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Ambiguitätsfaktoren in der Rede von Gott
Wenn man Ambiguität als die coexistence of distinguishable interpretations im Rahmen eines Kommunikations- und Handlungszusammenhangs beschreibt, so erweist sich der theologische Diskurs – sowohl in diachroner als auch in synchroner Perspektive – als ein Ambiguitätskontext par excellence. Hierfür lassen sich – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – drei Faktoren benennen. An erster Stelle ist festzuhalten, dass sich der Gegenstand theologischer Überlegungen von seinem Begriff her der abschließenden Vereindeutigung entzieht. Insofern der Gottesgedanke konstitutiv in einen eschatologischen Horizont eingebettet ist, lässt er sich ausschließlich als ein erfahrungstranszendenter Fluchtpunkt menschlichen Lebens, niemals aber als ein finaler Konvergenzpunkt begrifflich verfassten Denkens vorstellen. Darüber hinaus zählt es zu den Kernintuitionen einer Theologie des in der Geschichte wirksamen – und zumal eines menschgewordenen – Gottes, dass er zugleich offenbar und verborgen ist.23 Auch diese für den Gottesgedanken wesentliche Ambiguität lässt sich in keine Richtung auflösen, ohne dass sich ein begrifflicher Widerspruch ergäbe. Zweitens unterläuft die Gattung der kanonisierten Texte das Streben nach Eindeutigkeit. So besteht der biblische Kanon, als Grundlage und Maßstab schlechthin aller theologischen Aussagen, zu einem großen Teil aus Erzählungen. Erzählungen wiederum zielen bereits von ihrem Wesen her vorrangig auf Anschaulichkeit – ein Ziel, das etwa im Falle metaphorischer Rede notwendigerweise mit Momenten der Mehrdeutigkeit verbunden ist. Dabei gestaltet sich die gattungsbedingte Ambiguität biblischer Texte besonders komplex. Denn anders als andere literarische Erzählungen, bergen die kanonisierten Texte der Schrift zugleich mit ihrer auf Mehrdeutigkeit angelegten Form eine durchaus eindeutige normative Implikation. So behaupten sie die in Jesus Christus verkündete Botschaft vom Reich Gottes als die Wahrheit über die Welt und den Menschen. Diese innere Spannung spiegelt sich denn auch in der Dynamik ihrer Interpretation wider: Sie lässt sich weder auf die ästhetische Erbauung angesichts irreduzibler Ambiguitäten, noch auf die Herstellung eindeutiger Satzwahrheiten reduzieren. Stattdessen arbeitet sie in einer dialektischen Bewegung einerseits die Vielschichtigkeit der Texte, andererseits die Eindeutigkeit ihrer Botschaft heraus.24 23 Vgl. hierzu Falk Wagner: Religion und Theologie zwischen Vieldeutigkeit und Zweideutigkeit, in: Ambivalenz, Ambiguität, Postmodernität. Begrenzt eindeutiges Denken. Hrsg. v. Peter Koslowski, Stuttgart 2004, S. 229–269, S. 256–257. 24 Ulrich Körtner bezeichnet diese Struktur der Rezeption kanonisierter Texte prägnant als »Dialektik von pluralisierender und singularisierender Exegese«. Anders als die vorliegenden Überlegungen, schreibt er den Schrifttexten dabei keine Ambiguität bzw. Mehrdeutigkeit zu, sondern – zurückhaltender – eine »mehrdimensionale Eindeutigkeit« bzw. einen »poly-
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Der Aspekt der Interpretationsdynamik verweist auf einen dritten Faktor für die Ambiguität theologischer Rede, nämlich auf die Historizität ihrer Äußerungskontexte. Im Licht der skizzierten Implikationen eines pragmatic turn in der Ambiguitätsanalyse wird deutlich, dass die »Koexistenz mehrerer, klar voneinander unterscheidbarer Interpretationen«25 im Falle theologischer Aussagen schlicht eine naheliegende Begleiterscheinung ihrer langen Rezeptionsgeschichte ist. Die jesuanische Botschaft vom Reich Gottes – bereits von ihrer Entstehungsgeschichte her ein heterogenes Ganzes26 – ist während der vergangenen 2000 Jahre in historisch und kulturell disparate Handlungszusammenhänge hineingesprochen worden. In der Perspektive des pragmatic turn wird deutlich, dass diese unterschiedlichen Resonanzräume je neue Interpretationen hervorbringen. Angesichts dessen überrascht es nicht, dass die Deutungsvielfalt der Rede von Gott im Zuge der Theologiegeschichte – ungeachtet der dogmatischen Vereindeutigungsbemühungen – keineswegs abnimmt. Eingangs habe ich mit Wolfgang Beinert angedeutet, dass der Umgang mit der Geschichtlichkeit theologischer Äußerungen für das Selbstverständnis der katholischen Kirche von entscheidender Bedeutung ist.27 Angesichts dessen schließe ich die Überlegungen zum theologischen Diskurs ab, indem ich auf diesen dritten Ambiguitätsfaktor etwas näher eingehe. Hilfreich für eine Nahaufnahme der coexistence of distinguishable interpretations ist die Perspektive der Hermeneutik. Sie lässt besonders anschaulich erkennen, dass diese Koexistenz nicht etwa im Nebeneinander einer gleichbleibenden oder linear anwachsenden Menge von Bedeutungsangeboten besteht. Vielmehr steigt die Deutungsvielfalt im Zuge der langen Rezeptionsgeschichte des biblischen Kanons exponentiell an. Der Religionsphilosoph Richard Schaeffler fasst die hermeneutische Erklärung für dieses Phänomen prägnant zusammen. Demnach führt die Auseinandersetzung mit einem Text nicht nur zu einer einmaligen Relektüre der je eigenen Erfahrung, sondern sie wirkt dergestalt auf Anschauung und Denken der Reziphonen Richtungssinn« (vgl. Ulrich Körtner: Einführung in die theologische Hermeneutik, Darmstadt 2006, S. 148). 25 Vgl. Esme Winter-Froemel: Introducing Pragmatic Ambiguity, S. 78 (s. Anm. 21). 26 Michael Seewald erinnert daran, dass es sich beim biblischen Kanon um eine »Büchersammlung« handelt, »die über viele Jahrhunderte hinweg entstanden ist und demnach eine Pluralität an sozialen, politischen, kulturellen und religiösen Deutungsansätzen enthält.« Ähnlich wie Dworkins im Hinblick auf das Recht, betont Seewald im Hinblick auf die Theologie, dass die Ambiguität der jeweils normativen Texte nicht zuletzt auf die kontingenten Voraussetzungen ihrer Genese zurückzuführen ist – und ebenso wie Dworkins unterstreicht auch Seewald, dass diese Einsicht die mit diesen Texten gegebenen Geltungsansprüche nicht nivelliert, sondern lediglich mit einem kritischen Vorbehalt versieht (vgl. Michael Seewald: Dogma im Wandel. Wie Glaubenslehren sich entwickeln, Freiburg 2018, S. 75). 27 S. Anm. 6.
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pient:innen zurück, dass daraus ein neuartiger Lektüreschlüssel aller künftigen Erfahrung hervorgeht. Was für jeden Rezeptionsprozess gelte, treffe dabei in besonderer Weise auf den Kontext des Glaubens zu. Der »Hörer der Glaubensbotschaft« habe »erst verstanden, was er gehört hat, wenn er sich unter dem Anspruch des Gehörten zu einem neuen Verstehen aller bisherigen Inhalte seiner Erfahrung herausfordern läßt. Darauf beruht es, daß er nicht nur wiederholen kann, was der Sprecher ihm vorgesagt hat, sondern in eigener Verantwortung für das neu empfangene ›Licht der Wahrheit‹ Zeugnis zu geben vermag.«28
Das »neue Verstehen«29, das aus der Erschließung eines Textes hervorgeht, führt also dazu, dass sich auch für zurückliegende und künftige Erfahrungen alternative Deutungsoptionen auftun. In der Konsequenz potenziert sich mit jedem echten Verständnismoment die Anzahl der in Betracht zu ziehenden Selbst- und Weltdeutungen des Subjekts, das den »Dialog mit der Wirklichkeit«30 aufnimmt. Spezifisch für den Gegenstand der Theologie ist dabei, dass die Öffnung für immer wieder neue Deutungsvarianten nicht allein deshalb notwendig ist, weil sie dem Umgang mit Texten eingeschrieben ist. Stattdessen handelt es sich darüber hinaus auch um einen »Anspruch«31, der seine Unbedingtheit aus der Sache des Glaubens selbst bezieht. Dass dieser Anspruch auch das »Zeugnis«32, d. h. die intersubjektiv zugängliche Formulierung abweichender Interpretationen, umfasst, lässt sich dabei naheliegenderweise aus dem biblischen Sendungsauftrag herleiten. Überdies erscheint es auch aus rein begrifflichen Überlegungen notwendig, Deutungsangebote im Hinblick auf den Gottesgedanken sprachlich verfügbar zu machen. Insofern nämlich dem Konzept Gott universale Bedeutung eingeschrieben ist, verbietet sich die Zurückhaltung theologischer Deutungsangebote vor der intersubjektiven Allgemeinheit vom Begriff her. In diesem Sinne spricht David Tracy in seinem Entwurf einer theologischen Hermeneutik von einem »logical need for universality to correctly understand the divine reality« – und er fügt an: »If this faith in God is serious, then any discourse about it must be universal and public«33. 28 Richard Schaeffler: Philosophische Einübung in die Theologie. Band 1: Zur Methode und zur theologischen Erkenntnislehre, Freiburg 2016, S. 231. 29 Ebd. 30 Richard Schäffler: Philosophische Einübung in die Theologie, S. 217. 31 Ebd. 32 Ebd. 33 David Tracy: The Analogical Imagination. Christian Theology and the Culture of Pluralism, New York 1991, S. 52; Hervorhebung A. L-P. – Für den inneren Zusammenhang zwischen der einen Wahrheit Gottes und den geschichtlich-pluralen Artikulationen dieser Wahrheit lassen sich über diese Andeutungen hinaus deutlich differenziertere theologische Begründungen anführen, in erster Linie mit Blick auf das spezifisch christliche Offenbarungsverständnis, das im Gedanken der Inkarnation zum Ausdruck kommt. Vgl. hierzu: Knut Wenzel: Die Identität
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Ambiguitätsfaktoren in der Sprache des Rechts
Die Ausgangsvermutung dieser Überlegungen lautete, dass sich die Rede von Gott und die Sprache des Rechts darin gleichen, dass zwischen ihrer durch Mehrdeutigkeit geprägten Sprachstruktur und ihrer auf Eindeutigkeit zielenden Aussagefunktion ein Spannungsverhältnis besteht. Wie verhält es sich nun im Einzelnen mit den Ursachen für ambige Situationen im sprachlichen Umgang mit dem Recht? Zur Beantwortung dieser Frage bietet es sich an, die eben herausgearbeiteten Faktoren – den Gegenstand, die Gattung und die Geschichtlichkeit der sprachlichen Systematisierungsversuche – als Gliederungsschema heranzuziehen. Damit stellt sich erstens die Frage, inwieweit bereits der Gegenstand des Rechts als strukturelle Ursache für die dauerhafte Koexistenz vielfältiger Rechtsauslegungen anzusehen ist. Dieser Gegenstand besteht im weitesten Sinne im menschlichen Handeln, d. h. in einer – räumlich und zeitlich disparaten – Menge an Entscheidungssituationen, deren Kontingenzen nicht zuletzt in dem begründet liegen, was Menschen als ihren freien Willen beschreiben. Anders als der Gottesgedanke, übersteigt die Menge menschlicher Handlungsentscheidungen dabei zwar nicht mit begrifflicher Notwendigkeit den Bereich dessen, was sich systematisch auf den Begriff bringen lässt. Dass sie allerdings faktisch niemals abschließend im Rahmen der Normenformulierung eingeholt werden kann, erscheint als eine grundlegende rechtstheoretische Option. Jedenfalls lässt sich die im angloamerikanischen Raum herrschende Festlegung auf die induktive Normermittlung im Sinne des Präjudizienrechts möglicherweise im Sinne des Bekenntnisses auffassen, dass sich menschliches Handeln niemals auf einen umfassenden und abschließenden Begriff bringen lässt. Was zweitens die Gattung der Rechtssprache angeht, mag man – zumindest in Rechtskontexten jenseits des case law – in erster Linie an kanonisierte Normtexte denken. Diese sind bekanntlich auf das Ziel ausgerichtet, Rechtsentscheidungen so weit wie möglich zu vereinheitlichen und lassen dabei, insbesondere im Strafrecht, die Unterstellung allgemein verbindlicher Werte erkennen.34 Auf katholisch-theologischer Seite finden derartige rechtliche Normtexte ihre Entsprechung weniger im biblischen Kanon, als vielmehr im Codex Iuris Canonici und in dogmatischen Verlautbarungen. der Glaubenswahrheit und die Transformationsprozesse der Moderne. Dogmenhermeneutische Sondierungen, in: Dogmatisierungsprozesse in Recht und Religion. Hrsg. v. Georg Essen, Tübingen 2011, S. 277–289. 34 Vgl. hierzu: Dietrich Busse: Ambiguität und Deutungsoffenheit im Recht. Zur Auslegung und Auslegbarkeit von Gesetzestexten, in: Deutungsspielräume. Mehrdeutigkeit als kulturelles Phänomen. Hrsg. v. Nicolas Potysch/Matthias Bauer, Frankfurt am Main 2016, S. 15–40, S. 19– 20.
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Im Hinblick auf die Vergleichbarkeit zwischen Theologie und Jurisdiktion erscheint mir allerdings eine rechtslinguistische Überlegung bemerkenswert. Ihr zufolge sind juristische Normtexte für ihre Anwendbarkeit darauf angewiesen, dass sie mit der Gattung der Erzählung verknüpft werden. Der Germanist Christoph Sauer zeichnet in diesem Sinne nach, dass Richter:innen einen Sachverhalt erst dann umfassend rekonstruieren können, wenn die vernommenen Personen die Evidenz in einer kommunikativ anschlussfähigen Weise wiedergeben. Eine solche Anschlussfähigkeit lasse sich mit dem Verlesen eines Protokollberichts allein nicht herstellen. Erforderlich sei vielmehr eine »Erzählung, in die sich die anderen Beteiligten einklinken können«35. Jede Narration stelle einen Versuch dar, unverbundene Erlebnisse in einen kohärenten Sinnzusammenhang zu integrieren und die stummen Daten in sprechende Informationen zu transformieren. Erst auf dieser Grundlage sei ein normtextbasiertes Rechtssystem überhaupt operationalisierbar: Nur Erzählungen bieten kommunikative Anlässe, die zum Vergleich dienen können, darunter auch zum Vergleich mit normativen Standards.36 In der weiterführenden Analyse der Kriterien für den kommunikativen Erfolg von Erzählungen im Gerichtssaal entwickelt Sauer die These, dass Erzählungen umso mehr auf Resonanz zählen können, je deutlicher sie einen Bezug auf kulturelle Schemata erkennen lassen. In eben diesem Rückgriff auf kulturelle Ressourcen unterscheide sich die anschlussfähige Erzählung vom »blassen Berichten«37. Konkret werde dies beispielsweise dort, wo narrative Schilderungen dem Muster von im kulturellen Gedächtnis abgelagerten Mythen folgten, wenn also implizit an ebenso unterschiedliche wie sprechende Figuren wie das Aschenputtel und die Göttin Diana, aber auch den verlorenen Sohn oder den ungerechten Verwalter angeknüpft werde.38 Der Begriff der »kulturellen Ressource« lässt sich dabei auch etwas schlanker fassen. Paul Kirchhof etwa spricht in sinngemäßer Übereinstimmung mit Sauer von einem »empirischen und logischen Zusammenhang zwischen Allgemeinsprache und Rechtssprache« und hebt hervor, dass die Rechtskultur »als Instrument des Denkens, als Mittel der Verständigung und Grundlage gemeinsamen Handelns notwendig mit den Sprechgewohnheiten einer Gemeinschaft verbunden«39 ist. Für ihn verkörpern aber nicht erst die komplexen Erzählzu35 Christoph Sauer: Vom Großen im Kleinen. Über kulturelle Ressourcen juristischer Interaktionen und Darstellungen, in: Sprache und Recht. Hrsg. v. Ulrike Haß, Berlin 2002, S. 110–118, S. 105. 36 Vgl. Christoph Sauer: Vom Großen im Kleinen, S. 106. 37 Ebd. 38 Vgl. Christoph Sauer: Vom Großen im Kleinen, S. 109. 39 Paul Kirchhof: Die Bestimmtheit und Offenheit der Rechtssprache. Vortrag gehalten vor der Juristischen Gesellschaft zu Berlin am 29. April 1987, Berlin/Boston 2017, S. 6.
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sammenhänge der Mythen, sondern bereits »Begriffe wie ›Menschenwürde‹, ›Familie‹, ›Eigenes‹ oder ›Sich Vertragen‹«40 den geteilten Sinnvorrat einer Kulturgemeinschaft. Ungeachtet der Frage, für welche Spielart man sich hier entscheidet, ist festzuhalten, dass sich Gottesrede und Rechtssprache im Hinblick auf die jeweils konstitutiven Textgattungen ähnlicher sind, als man es möglicherweise auf den ersten Blick vermuten würde. Zwar unterscheiden sie sich im Hinblick auf die Art und Weise, in der auf Eindeutigkeit zielende Normtexte und auf semantische Fülle angelegte Erzähltexte miteinander verschränkt sind: Während sich das katholische Dogma als verbindliche Interpretation der biblischen Erzählungen (und als Offenbarungsquelle eigenen Rechts) versteht, dienen in der Rechtspraxis umgekehrt die Erzählungen der Vermittlung zwischen eindeutiger Norm und vielgestaltiger Handlungswirklichkeit. Ungeachtet dieser Differenz jedoch gleichen sich beide Sprachzusammenhänge im Hinblick auf ihre Grundstruktur, die von einer wechselseitigen Bezogenheit von Norm und Narration gekennzeichnet ist. Folgt man den Beobachtungen Sauers, so zählt nun der unverzichtbare Rückgriff auf die Gattung der Erzählung auch in der Rechtssprache zu den ursächlichen Faktoren für die irreduzible Ambiguität des Sprachmaterials: »Dass die sprachlich Handelnden sich in erster Linie darauf konzentrieren, ihre Handlungsziele zu verwirklichen, bedeutet, dass sie gleichzeitig ihre Formulierungen so wählen, dass diese einerseits in den Handlungsrahmen passen (…) und andererseits auf möglichst sprachökonomische Weise (erwünschte) Handlungsfortsetzungen hervorrufen. Widerspruchsfreiheit oder Ambivalenzvermeidung ist kein generelles Ziel dabei (…). Daran erweist sich, dass Formulieren eine Anpassung der sprachlichen Handlungen an die anderen Beteiligten und deren Wissenshorizonte darstellt.«41
Angesichts dieser Feststellung wird deutlich, worin die Nähe zwischen den Kontexten von Rechtsprechung und Theologie hinsichtlich ihrer narrativen Anteile besteht. Denn was hier im Hinblick auf die Vernommenen im Gerichtssaal gesagt wird, ließe sich im gleichen Wortlaut auch von den Evangelisten behaupten. Die Qualität ihrer Geschichten an ihrer Eindeutigkeit zu messen, hieße schlicht, den falschen Maßstab anzulegen. Dieser Gedanke lädt wiederum zu einem gründlicheren Blick auf die Wechselbeziehung zwischen Norm und Narration ein. Folgt man Sauer, so scheint die entsprechende Arbeitsteilung nämlich eindeutig zu sein. Beide Gattungen stehen im Dienst des übergreifenden Projekts, einen verbindlichen Geltungsanspruch an die gelebte Realität anzuschließen. Während der Part der normativen Texte dabei darin besteht, dem Gehalt dieses Anspruchs eine unverwechselbare Kontur 40 Paul Kirchhof: Die Bestimmtheit und Offenheit der Rechtssprache, S. 6. 41 Christoph Sauer: Vom Großen im Kleinen, S. 102.
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zu geben, bietet die Narration den Boden, auf dem dieser Gehalt in eine fruchtbare Wechselwirkung zu den Normadressat:innen treten kann. Tatsächlich tritt allerdings auch die umgekehrte Zuteilung auf. So lassen sich durchaus einige dogmatischen Normen als ein Versuch lesen, die historisch entfernten Erzähltexte der Schrift in ihrem normativen Anspruch neu verstehbar zu machen. Bevor darauf näher eingegangen wird, sei zunächst noch der dritte Ambiguitätsfaktor, die Historizität allen Sprechens, in den Blick genommen, der auch im eben zitierten Hinweis Sauers auf die mit dem kommunikativen Handeln verbundenen Anpassungsleistungen anklingt. Indem die Erzählenden auf das in einer Kulturgemeinschaft geteilte Repertoire an Bildern und Narrativen zurückgreifen, lassen sie gleichzeitig zu, dass der kulturelle Resonanzraum ihrer Erzählung bereits im Rahmen von deren Entstehung auf ihre Machart und ihren Verlauf zurückwirkt. Die »anderen Beteiligten« rücken in den Blick – und mit ihnen ihre impliziten und expliziten Hintergrundannahmen sowie die ihnen vertrauten Konzepte. In den Begriffen der eingangs skizzierten praktischen Semantik öffnet sich damit der »Bedeutungsraum« der verwendeten Zeichen in den »Deutungsraum« der »wechselseitig erwartbaren Wissenskonstellationen«42. Dietrich Busse bringt angesichts dessen den Zusammenhang zwischen den räumlich und zeitlich disparaten Äußerungszusammenhängen und der Ambiguität rechtlicher Normen wie folgt auf den Punkt: »Wäre es (…) möglich, Deutungsräume und Deutungsspielräume eindeutig aus Bedeutungsräumen abzuleiten, dann hätten wir kein Ambiguitätsproblem.«43 Die Geschichtlichkeit von Texten führt also einerseits in dem Sinne zu ambigen Momenten kommunikativen Handelns, dass der Zusammenhang zwischen der sprachlichen Bedeutung eines Zeichens und der Deutung des Gesprochenen kontingent ist. Folgt man Busse, so entsteht Ambiguität andererseits aber auch dadurch, dass eine nichtssagende Zeichenfolge überhaupt erst zum aussagekräftigen Text wird, wenn sie in Deutungsvorgänge eingeht: »(E)s gibt nichts: kein Wort, keine noch so banale alltagssprachliche Äußerung, keinen Satz und keinen Text, das nicht dem Deutungszwang und dem Gedeutetwerden unterliegt.«44 Dies habe »Folgen für die (…) Ambiguitätsproblematik, weil die Ubiquität von Interpretation automatisch die Möglichkeit des Aufkommens von Interpretationsdifferenzen mit der Folge der Mehrdeutigkeit von Wörtern oder Textpassagen einschließt.«45 Neben die Kontingenz im Hinblick auf die Frage, in welchen Deutungsraum hinein eine Bedeutung realisiert wird, tritt als zweites Einfallstor für Ambiguität die Notwendigkeit der Tatsache, dass Texte in Deutungsräume eintreten. Die 42 43 44 45
Dietrich Busse: Ambiguität und Deutungsoffenheit im Recht, S. 37. Ebd. Dietrich Busse: Ambiguität und Deutungsoffenheit im Recht, S. 21. Dietrich Busse: Ambiguität und Deutungsoffenheit im Recht, S. 21.
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Beobachtung, dass die Kombination aus »Deutungsoffenheit« auf der einen und »Deutungszwang« auf der anderen Seite die Daseinsbedingung für ausnahmslos jeden Text ausmacht, führt Busse zur zusammenfassenden Feststellung: »Ambiguität ist der Normalfall, und dies nicht nur in der Alltagssprache, sondern durchaus auch in der Rechtssprache.«46 Im Hinblick auf die Vielfalt der Äußerungszusammenhänge – und damit der Deutungen – im Feld der Theologie habe ich darauf hingewiesen, dass sie in der Sache der Gottesrede selbst angelegt ist. Analog lässt sich auch für den Bereich der Rechtsprechung festhalten, dass die Koexistenz mehrerer Deutungen im Wesen der Jurisdiktion begründet ist. So weist Busse darauf hin, dass im juristischen Kontext »ein Interessengegensatz immer schon vorgegeben ist«47, während Deutungen grundsätzlich interessenabhängig seien. Folglich sind für ihn »Deutungsoffenheit (und damit Ambiguität bzw. Mehrdeutigkeit von Gesetzestexten (…) nicht so sehr ein Unfall oder Versehen, das möglichst aus der Welt zu schaffen sei, sondern sehr viel mehr in der Funktionalität von Gesetzestexten selbst angelegt.«48
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In der Analyse der theologiespezifischen Ambiguitätsfaktoren habe ich darauf hingewiesen, dass die Interpretation biblischer Texte keine lineare Disambiguierung beinhaltet, sondern als dialektische Bewegung zwischen Reduktion und Vervielfältigung der Deutungsvarianten verläuft. In seiner Studie Dogma im Wandel konkretisiert Michael Seewald diese dialektische Struktur am dogmengeschichtlichen Beispiel des in Nizäa erarbeiteten homoousios’. Dieses Konzept ziele zunächst darauf ab, die biblische Lehre zu vereindeutigen, d. h. in Abgrenzung gegen anderslautende Interpretationen unmissverständlich festzulegen. Neben diesen vereinheitlichenden Aspekt tritt in der Analyse Seewalds zugleich eine pluralisierende Dimension des dogmatischen Begriffs, insofern er zur biblischen Begrifflichkeit als neues Konzept von außen hinzutrete.49 Seewald fasst die Dialektik zwischen Vereindeutigung und Differenzierung in die Begriffe von Kontinuität und Diskontinuität zum biblischen Ursprung. Die kontinuierliche Relation zwischen Dogma und Evangelium sieht er darin begründet, dass letzteres aus sich heraus nach einem gewissen Maß einer Disambiguierung (und damit zugleich einer Dogmatisierung) verlangt: »Damit das 46 47 48 49
Dietrich Busse: Ambiguität und Deutungsoffenheit im Recht, S. 37. Dietrich Busse: Ambiguität und Deutungsoffenheit im Recht, S. 38. Dietrich Busse: Ambiguität und Deutungsoffenheit im Recht, S. 23. Vgl. Michael Seewald: Dogma im Wandel, S. 54.
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Evangelium überhaupt verstanden, kritisch diskutiert, zurückgewiesen oder gläubig angenommen werden kann, ist es (…) unerlässlich, dass es in eine propositionale Bestimmtheit überführt wird, deren Gesamtheit den Namen ›Dogma‹ trägt.«50 Umgekehrt sei im Sinne eines – von jedem »theologischen Relativismus« klar unterscheidbaren – »geschichtlichen Realismus«51 einzuräumen, dass das Dogma das Evangelium aufgrund der historischen Kontingenz menschlicher Erkenntnis »nie erschöpfend zum Ausdruck bringen«52 könne. Diese strukturell bedingte Gleichzeitigkeit von Kontinuität und Diskontinuität mündet für Seewald in eine »nicht auflösbare Spannung«53. Der vorliegende Text hat einige rechtslinguistische Einsichten skizziert, die von einer praktischen Semantik ausgehen. Er soll mit einem Ausblick darauf schließen, was sich aus dieser Perspektive im Hinblick auf den von Seewald angeregten (und gegen jeden theologischen Relativismus mühelos abgrenzbaren) »geschichtlichen Realismus« lernen lässt. Zunächst einmal ist dabei zur Entlastung der Theologie allgemein festzuhalten: Die Spannung, die sich in der Fortschreibung von Überzeugungen angesichts der gleichzeitigen Kontinuität und Diskontinuität von Gehalten ergibt, nimmt der Spannung, die mit normativen Forderungen einhergeht, nichts von ihrer korrektiven Kraft. Die Anforderung, fortlaufend für die Ausgewogenheit zwischen zeitlosen Ansprüchen und sich wandelnden Rezeptionsvoraussetzungen dieser Ansprüche zu sorgen, besteht auch im Recht und damit am Stammsitz der Normativität. Dabei erweist sich der Rückgriff auf kanonisierte Texte bei näherem Hinsehen dort wie hier als ein komplexes Zusammenspiel zwischen Normtexten und Erzählungen. In diesem Zusammenspiel wiederum stellen ambige Äußerungen keineswegs einen Störfaktor dar, sondern dienen – gleichsam als Kooperationspartner eindeutiger Formulierungen – als konstitutive Voraussetzung für die kontextübergreifende Geltung von Normen. Eng damit verbunden ist ein zweiter Aspekt der rechtstheoretischen Erwägungen, der für die theologische Dogmenhermeneutik erhellend sein kann. Der Blick auf die Situation des Gerichtssaals nämlich macht deutlich: Die Einsicht des linguistischen pragmatic turn, dass Ambiguität wesentlich eine Eigenschaft kommunikativen Handelns ist, impliziert im Umkehrschluss, dass auch Eindeutigkeit niemals nur eine Eigenschaft der Beziehung zwischen Aussage und Referenzobjekt ist. Vielmehr kann sie erst dann vollständig beschrieben werden, wenn man die betreffende Kommunikationssituation als Ganze in den Blick nimmt. M.a.W., die Klarstellung von Bedeutung kann niemals im Alleingang 50 51 52 53
Michael Seewald: Dogma im Wandel, S. 16–17. Ebd. Michael Seewald: Dogma im Wandel, S. 17. Michael Seewald: Dogma im Wandel, S. 75.
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geschehen. Sie ist vielmehr – auch und besonders im hierarchischen Kontext von Gesetzgebung und Rechtsprechung – wesentlich ein Geschehen an der Schnittstelle zwischen Sender:innen und Empfänger:innen sprachlicher Mitteilung. Dem katholischen Dogmenverständnis ist diese Einsicht keineswegs neu. Dass die Theologiegeschichte sie verinnerlicht hat, noch lange bevor der Begriff des pragmatic turn zum ersten Mal verwendet wurde, legen beispielsweise das Konzept des consensus fidelium oder das Prinzip der Konziliarität nahe. Umso befremdlicher ist es, wenn manche lehramtliche Verlautbarung dennoch auf der Annahme zu beruhen scheint, der »polyphone Richtungssinn«54 der biblischen Botschaft lasse sich isoliert vom Resonanzraum der Gläubigen auf eine eindeutige Bestimmung reduzieren. Dass eine pragmatisch gewendete Auffassung von Ambiguität und Eindeutigkeit im rechtswissenschaftlichen Kontext Plausibilität beanspruchen kann, birgt für den innerkatholischen Diskurs einen womöglich wertvollen Impuls. Die Forderung nach der Berücksichtigung der Gläubigen nämlich lässt sich in diesem Licht – zumindest phasenweise – aus der Kontroverse lösen, inwieweit die Kirche von ihrem Wesen her demokratisch ist und sein kann. Jenseits dieser ekklesiologisch stark aufgeladenen Debatte, lässt sie sich nüchtern als Konsequenz aus einer linguistischen Erkenntnis betrachten. Sie wäre damit gar nicht so sehr ein wertebezogener Appell, als vielmehr zunächst einmal eine pragmatische Anregung im Einklang mit dem gegenwärtigen Stand der Sprach- und Kommunikationsforschung. Eine dritte und letzte Beobachtung zum Konzept eines nicht-relativistischen »geschichtlichen Realismus« betrifft die Tiefenstruktur begrifflicher Veränderungen – und damit zugleich die Konstitution normativer Begriffe überhaupt. Um dies zu verdeutlichen, sei abschließend noch einmal ein kurzer Exkurs in die rechtswissenschaftliche Debatte erlaubt. Die Rechtstheorie differenziert hinsichtlich der Transformation juristischer Vorgaben zwischen Rechtsänderung und Rechtswandel.55 Während die erste dadurch zustande kommt, dass Rechtstextpassagen neu formuliert werden, ergibt sich der zweite aus dem natürlichen, d. h. geschichtlich bedingten Bedeutungswandel der im Rechtstext verwendeten Begriffe. Der Begriff Rundfunk etwa umfasste zur Zeit der Entstehung des Rundfunkrechts ausschließlich den Hörfunk und wurde dann im Lauf der Zeit auf das Fernsehen ausgedehnt56; unter dem Begriff der Gewalt verstand man im 19. Jahrhundert ausschließlich physische Gewalt, während man heute zunehmend auch psychische Übergriffe unter ihn subsumiert.57 Der Bedeu-
54 55 56 57
Ulrich Körtner: Einführung in die theologische Hermeneutik, S. 148. Vgl. hierzu: Paul Kirchhof: Die Bestimmtheit und Offenheit der Rechtssprache, S. 14. Vgl. Paul Kirchhof: Die Bestimmtheit und Offenheit der Rechtssprache, S. 23. Vgl. Dietrich Busse: Ambiguität und Deutungsoffenheit im Recht, S. 32–34.
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tungsgehalt der mit diesen Begriffen operierenden Rechtsaussagen erfährt also einen Wandel, ohne dass ihr Wortlaut angetastet würde. Der Rechtswissenschaftler Peter Lerche hat sich in einem 1971 veröffentlichten Text mit dem Ernstfall solchen Rechtswandels, nämlich dem »stillen Verfassungswandel«58 auseinandergesetzt. Einleitend formuliert er dabei den Anspruch, der den Umgang mit dem ungeschriebenen Verfassungswandel seiner Auffassung nach zu leiten hat: »Ein zu schroffes Auseinanderklaffen zwischen Verfassungsinhalt und Verfassungswirklichkeit (…) soll (…) vermieden werden; andernfalls griffen, auf die Dauer gesehen, die normativen Forderungen des Verfassungstextes ins Leere. Preisgegeben wird damit der normative Gehalt der Verfassung nicht, sieht man das Verhältnis maßvoll und betont die Wechselbezüglichkeit der beiden Bereiche, die bekanntlich nur unzulänglich und blickverkürzend mit den Termini ›Norm‹ und ›Wirklichkeit‹ umschrieben zu werden pflegen.«59
Um dieses Ziel einer dauerhaften Rückkopplung zwischen Sollen und Sein einzulösen, müssen Lerche zufolge zwei Sachverhalte im Blick behalten werden. Erstens gelte es schlicht und ergreifend, das Bewusstsein für die »Sinnvariablilität der Verfassungsnormen«60 wach zu halten. Zweitens müssten die diskursiven, teils machtförmigen »Formen«61 reflektiert werden, in denen neue Bedeutungsfestlegungen vollzogen würden. Die entscheidende Voraussetzung, um in dieser Weise an das Phänomen des Verfassungswandels herantreten zu können, sieht Lerche dabei bemerkenswerterweise in der Einsicht, dass die Gehalte der Verfassung nicht vom Himmel fallen, sondern aus der menschlichen Praxis hervorgehen. So seien die Regelungen nicht nur eine »Antwort auf die sich jeweils neu stellenden sozialen Fragen und ökonomisch-technischen Herausforderungen«62, sondern immer auch – und darauf kommt es Lerche wesentlich an – »eine Art Konzentrat jener unterverfassungsgesetzlichen Vorstellungen (…), die zu rechtsverbindlicher Stärke gelangt sind«63. Die Herausbildung verfassungsrechtlicher Normen, so die Pointe dieser Betrachtungsweise, ereignet sich nicht allein aus der Konfrontation
58 Peter Lerche: Stiller Verfassungswandel als aktuelles Politikum, in: Peter Lerche: Ausgewählte Abhandlungen. Hrsg. v. Rupert Scholz/Dieter Lorenz/Christian Graf v. Pestalozza/Michael Kloepfer/Hans D. Jarass/Christoph Degenhart/Oliver Lepsius, Berlin 2004, S. 47–60. 59 Peter Lerche: Stiller Verfassungswandel als aktuelles Politikum, S. 47. 60 Ebd. 61 Ebd. 62 Peter Lerche: Stiller Verfassungswandel als aktuelles Politikum, S. 48. 63 Peter Lerche: Stiller Verfassungswandel als aktuelles Politikum, Hervorhebung »Konzentrat« im Original; Hervorhebung »unterverfassungsrechtlich« A. L.-P., S. 48.
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mit problematischen Gegebenheiten und Werten, sondern immer auch als eine Ablagerung bewährter Praktiken und Vorstellungen.64 Wenn jedoch selbst die konstitutiven Normen einer Gesellschaft letztlich induktiv aus deren Beschaffenheit und Praxis hervorgehen, ohne deshalb ihren fundamentalen Rang unter den rechtsverbindlichen Maßstäben einzubüßen – warum sollte dann die Bindekraft der Dogmen des Glaubens dadurch gefährdet sein, dass man sie nicht länger nur als deduktiv aus früheren Glaubensüberzeugungen hergeleitete »Antworten«, sondern zugleich auch als »Konzentrate«65 jahrhundertelanger kirchlicher Erfahrungen behandelt? Tatsächlich lässt sich ja auch im Hinblick auf die katholische Dogmengeschichte neben einer formalen Dogmenänderung ein stiller Dogmenwandel beobachten. Wenn die Theologie die Bereitschaft aufbringt, diesen Wandel im Vertrauen auf die Aussagekraft diskursiv und praktisch bewährter, d. h. in Anlehnung an Lerche unterdogmatischer, Vorstellungen zu begleiten, so genügt es womöglich, wenn sie – wiederum im Sinne Lerches – für die Sinnvariabilität der Lehrsätze sensibel bleibt und zugleich Formen und Instanzen im Blick behält, die an der jeweiligen Festlegung neuer Gehalte beteiligt sind. Die wiederkehrende Ambiguität sowohl der biblischen Erzählungen als auch der dogmatischen Begriffsschöpfungen müsste sie dann nicht mehr beunruhigen. Ihre Aufmerksamkeit könnte sie dann stattdessen auf eine fortlaufende und ausgewogene »Wechselbezüglichkeit« zwischen den dogmatischen Gehalten und der Wirklichkeit der Gläubigen richten.
Literatur Wolfgang Beinert: Dogma/Dogmatische Aussage, in: Lexikon der katholischen Dogmatik. Hrsg. v. Wolfgang Beinert, Freiburg 1997. Dietrich Busse: Juristische Semantik. Grundfragen der juristischen Interpretationstheorie in sprachwissenschaftlicher Sicht, Berlin 2010. Dietrich Busse: Ambiguität und Deutungsoffenheit im Recht. Zur Auslegung und Auslegbarkeit von Gesetzestexten, in: Deutungsspielräume. Mehrdeutigkeit als kulturelles Phänomen. Hrsg. v. Nicolas Potysch/Matthias Bauer, Frankfurt am Main 2016, S. 15–40. Ronald Dworkin: Taking Rights Seriously, London 2013. Umberto Eco: Das offene Kunstwerk, Frankfurt am Main 2016. Hans-Jürgen Heringer/Günther Öhlschläger/Bruno Strecker/Rainer Wimmer: Einführung in die praktische Semantik, Heidelberg 1977.
64 Vgl. ebd. 65 Peter Lerche: Stiller Verfassungswandel als aktuelles Politikum, Hervorhebung im Original, S. 48 (s. Anm. 63).
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Paul Kirchhof: Die Bestimmtheit und Offenheit der Rechtssprache. Vortrag gehalten vor der Juristischen Gesellschaft zu Berlin am 29. April 1987, Berlin/Boston 2017. Ulrich Körtner: Einführung in die theologische Hermeneutik, Darmstadt 2006. Peter Lerche: Stiller Verfassungswandel als aktuelles Politikum, in: Peter Lerche: Ausgewählte Abhandlungen. Hrsg. v. Rupert Scholz/Dieter Lorenz/Christian Graf v. Pestalozza/Michael Kloepfer/Hans D. Jarass/Christoph Degenhart/Oliver Lepsius, Berlin 2004, S. 47–60. Friedrich Müller: Textarbeit, Rechtsarbeit. Zur Frage der Linguistik in der Strukturierenden Rechtslehre, in: Neue Studien zur Rechtslinguistik. Dem Gedenken an Bernd Jeand’Heur. Hrsg. v. Friedrich Müller/Rainer Wimmer, Berlin 2001, S. 11–26. Christoph Sauer: Vom Großen im Kleinen. Über kulturelle Ressourcen juristischer Interaktionen und Darstellungen, in: Sprache und Recht. Hrsg. v. Ulrike Haß, Berlin 2002, S. 110–118. Richard Schaeffler: Philosophische Einübung in die Theologie. Band 1: Zur Methode und zur theologischen Erkenntnislehre, Freiburg 2016. Michael Seewald: Dogma im Wandel. Wie Glaubenslehren sich entwickeln, Freiburg 2018. Gerhard Stickel: Vorbemerkungen über Sprache und Recht, in: Sprache und Recht. Hrsg. v. Ulrike Haß, Berlin 2002. David Tracy: The Analogical Imagination. Christian Theology and the Culture of Pluralism, New York 1991. Falk Wagner: Religion und Theologie zwischen Vieldeutigkeit und Zweideutigkeit, in: Ambivalenz, Ambiguität, Postmodernität. Begrenzt eindeutiges Denken. Hrsg. v. Peter Koslowski, Stuttgart 2004, S. 229–269. Knut Wenzel: Die Identität der Glaubenswahrheit und die Transformationsprozesse der Moderne. Dogmenhermeneutische Sondierungen, in: Dogmatisierungsprozesse in Recht und Religion. Hrsg. v. Georg Essen, Tübingen 2011, S. 277–289. Esme Winter-Froemel: Introducing Pragmatic Ambiguity. On the Diversity and Ambivalence of Ambiguity in Discourse, in: Ambivalenz in Sprache, Literatur und Kunst. Hrsg. v. Matthias Bauer/Frauke Berndt/Sebastian Meixner, Würzburg 2019, S. 65–90.
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Ambiguität und Katholizität. Ein interkulturell-theologischer Blick auf Lumen gentium 13
Thomas Bauer, Islamwissenschaftler und Arabist an der Universität Münster, hat mit seiner Studie über Ambiguität in islamischen Traditionen eine wichtige und kritische Perspektive eingebracht, die nicht zuletzt für die interkulturelle Theologie von enormer Bedeutung ist; seine Analysen sowohl von kulturellen Ambiguitäten als auch von Prozessen der Disambiguierung machen auf Phänomene aufmerksam, die kultur-, religions- und politikwissenschaftlich von Interesse sind und auch die Theologie nachdenklich stimmen müssen. Nach Bauer kann dann von einer »kulturellen Ambiguität« die Rede sein, »[…] wenn über einen längeren Zeitraum hinweg einem Begriff, einer Handlungsweise oder einem Objekt gleichzeitig zwei gegensätzliche oder mindestens zwei konkurrierende, deutlich voneinander abweichende Bedeutungen zugeordnet sind, wenn eine soziale Gruppe Normen und Sinnzuweisungen für einzelne Lebensbereiche gleichzeitig aus gegensätzlichen oder stark voneinander abweichenden Diskursen bezieht oder wenn gleichzeitig innerhalb einer Gruppe unterschiedliche Deutungen eines Phänomens akzeptiert werden, wobei keine dieser Deutungen ausschließliche Geltung beanspruchen kann.«1
Allerdings scheint die Tugend der Ambiguitätstoleranz gegenwärtig nicht hoch im Kurs zu stehen; weltweit dominieren »Eindeutigkeiten« und »Identitäten«, mit denen kulturelle Traditionen, religiöse Überzeugungen und politische bzw. nationale Kontexte aufgeladen werden, und überformen Auseinandersetzungen, in denen es eigentlich um soziale Konflikte und gesellschaftliche Ausverhandlungsprozesse geht. Mehrdeutigkeiten, Heterogenität, Interpretationsspielräume, Abweichungen oder Dissens werden zugunsten einer vermeintlichen »Klarheit« verdrängt oder unsichtbar gemacht, wie Thomas Bauer mit kritischem Verweis auf die europäische Aufklärung verdeutlicht.2 1 Thomas Bauer: Die Kultur der Ambiguität. Eine andere Geschichte des Islams. Berlin 2011, S. 27. 2 »Lust an Ambiguität ist unvereinbar mit dem Projekt, eine radikal klare Sprache zu schaffen, mit deren Hilfe eine vermeintlich eindeutige Wahrheit immer deutlicher erkannt und be-
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Wer den spannenden Überlegungen des Buches folgt und an vielen Beispielen aus der Geschichte der Begegnungen zwischen Islam und europäischem Christentum sieht, wie sehr religiöse Traditionen (nicht nur des Islams) je schon von Ambiguität geprägt waren und sie ihre »Eindeutigkeit« – die später als »wesentliche Identität« ausgegeben wird – erst in Konflikt- und Krisenphasen erlangten,3 wird unweigerlich auch an das Christentum und seine vielfältigen Ausformungen in Geschichte und Gegenwart denken. Sind nicht auch die christlichen Traditionen von großen Ambiguitäten geprägt? Und erscheint nicht die faktische Katholizität der Kirche als Musterbeispiel dafür, wie Ambiguität gelebt wird – manchmal auch gegen das offizielle Selbstverständnis? Oder ist »Katholizität« eher als »gezähmte Ambiguität«4 zu betrachten, die auf einer ästhetischen Ebene Pluralität inszeniert, aber systemisch Einheit einfordert? Ist vieles in der katholischen Weltkirche de facto bzw. notgedrungen ambig, weil die ordnenden Kräfte des wachsenden Pluralismus (noch) nicht Herr geworden sind, oder bietet Katholizität – als kirchlich-institutionelle sowie als theologisch-diskursive Gestalt – tatsächlich Raum für Heterodiskursivität und Plurikulturalität, wie sie Thomas Bauer als typisch für die Ausprägung kultureller Ambiguität ansah? Kurz gefasst: ist die Ambiguität der katholischen Kirche eine zufällige oder eine wesentliche? Die folgenden Überlegungen gehen dieser Frage aus einer interkulturelltheologischen Perspektive nach, das heißt mit den Mitteln einer systematischtheologischen Disziplin, die sich darauf spezialisiert hat, die Wechselwirkungen zwischen Christentum und Kultur/Gesellschaft (kontextuelle Theologie), die Voraussetzungen und Methoden der Auseinandersetzung mit Identität und Alterität, Pluralität und Exteriorität5 (interkulturell-theologische Erkenntnislehre), die Beziehungen und Differenzen zwischen unterschiedlichen Religionen (komparative Theologie) sowie die Grundlagen interreligiöser Dialoge (Religionstheologie) zu erforschen.6 Ambiguitäten und Disambiguierungen begegnen
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4 5 6
schrieben werden kann« (Thomas Bauer: Die Kultur der Ambiguität, S. 32). – Für die Philosophie der Aufklärung, so Bauer, sei »Eindeutigkeit zum Wahrheitskriterium« (ebd. S. 55) geworden. Thomas Bauer spricht von Prozeduren einer »Islamisierung des Islams«, die gerade durch den Kolonialismus gefördert wurden: »Durch diese Mechanismen werden Ambiguitäten und Pluralitäten in der islamischen Welt unsichtbar gemacht und eine monolithische islamischreligiöse Kultur konstruiert, die der modernen westlichen Kultur als etwas ihr ganz Fremdes und zu ihr Gegensätzliches entgegentritt« (Thomas Bauer: Kultur der Ambiguität, S. 222–223). Thomas Bauer: Kultur der Ambiguität, S. 57. Gemeint ist hier die Erfahrung des Fremden. Vgl. Franz Gmainer-Pranzl: »Theologie Interkulturell und Studium der Religionen«: Zur Theorie christlicher Glaubensverantwortung im Horizont von Pluralität und Globalität, in: Das Theologische der Theologie. Wissenschaftstheoretische Reflexionen – methodische Bestimmungen – disziplinäre Konkretionen (Salzburger Theologische Studien 62). Hrsg. v. Franz Gmainer-Pranzl/Gregor M. Hoff Innsbruck 2019, S. 163–178, S. 165–169.
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der interkulturell-theologischen Forschung auf Schritt und Tritt – wie auch immer diese dann theologisch beurteilt werden. Ohne den Anspruch zu erheben, die »Ambiguitätskompetenz« des Katholischen abschließend zu qualifizieren, soll es im Folgenden um drei klärende Schritte gehen: erstens um den Blick auf einige exemplarische »Baustellen von Ambiguität«, zweitens um eine Auseinandersetzung mit dem Grundlagentext für das Verständnis von »Katholizität« des Zweiten Vatikanischen Konzils, dem 13. Kapitel der Kirchenkonstitution Lumen gentium, und drittens um mögliche Impulse zur Weiterentwicklung der Ekklesiologie im Zeichen von Ambiguität. Geleitet wird die folgende interkulturell-theologische Reflexion von der Vermutung, dass »Katholizität« – als systematisches und ökumenisches Konzept,7 aber nicht als konfessionelle oder gar polemische Kategorie – je schon von Ambiguität geprägt ist, diese Ambiguität aber eher als Anlass für unbestimmte »Offenheit« denn als systematisch-theologisches Potential wahrgenommen wird.
1
Missionsgeschichte: ein Laboratorium theologisch relevanter Ambiguität
Die kirchliche Mission – in einem sehr grundsätzlichen und traditionellen Sinn verstanden als Bezeugung und Verkündigung des Evangeliums in gesellschaftlichen Kontexten, in denen explizit christliches Leben kaum oder überhaupt nicht präsent ist – bringt nicht selten interkulturelle Konflikte mit sich. Der »klassische« Fall eines solchen Konflikts besteht darin, dass europäische Missionare gegenüber Elementen von Lebensformen oder kulturellen Traditionen einer bestimmten Gesellschaft kritisch eingestellt sind und diese als unvereinbar mit dem christlichen Glauben ansehen. Menschen, die sich für die Taufe und die Aufnahme in die kirchliche Gemeinschaft entschieden haben, erfahren manchmal so etwas wie eine kulturelle und existentielle Zerreißprobe, weil sie das Christentum als Entfremdung von den ihnen vertrauten Lebensweisen erfahren. Von ihren Verwandten und Mitbürgern werden sie als Abtrünnige angesehen, die mit ihrer Herkunftskultur brechen; von den Missionaren und den Verantwortlichen der Kirche werden sie als »Synkretisten« bezeichnet bzw. als Christen, die 7 Vgl. etwa die Inanspruchnahme von Katholizität durch den evangelischen Theologen Rudolf von Sinner: Reden vom dreieinigen Gott in Brasilien und Indien (Hermeneutische Untersuchungen zur Theologie 43). Tübingen 2003, S. 47–53. – Vgl. die These von Hadwig Müller: »Jede christliche Kirche ist ›katholisch‹, wenn sie damit ernst macht, dass das Evangelium Jesu Christi für die ganze Menschheit rund um die Erde gilt« (Hadwig Müller: Folgenreiche Katholizität. Anstoß aus einer brasilianischen Ortskirche – Gemeindeveränderungen in einer europäischen Ortskirche, in: Katholizität im Kommen. Katholische Identität und gegenwärtige Veränderungsprozesse. Hrsg. v. Claude Ozankom. Regensburg 2011, S. 85–94, S. 85).
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noch »heidnischen« Bräuchen anhängen würden.8 Auch wenn es aufgrund vieler schwieriger Erfahrungen zu einer ernsthaften Auseinandersetzung mit der (Inter-)Kulturalität des Prozesses christlicher Mission kam,9 muss die Missionsgeschichte auf weiten Strecken als Strategie der Disambiguierung angesehen werden – als Versuch, »Zweideutigkeiten« im Umgang mit traditionellen Ritualen und spirituellen Praxen sowie in der Einschätzung ethischer und philosophischer Motive zu beseitigen. Das Nebeneinander unterschiedlicher Diskurse, Normen und Bedeutungszuschreibungen, das Thomas Bauer als kennzeichnend für kulturelle Ambiguitäten ansieht, bildete gewissermaßen das Schreckgespenst kirchlicher Mission – und doch war und ist es vielfach Realität. Menschen folgen – auch als getaufte und überzeugte Christinnen und Christen – nicht einfach einer Position bzw. ordnen sich nicht nur einer Identität zu, sondern sind unterschiedlichen Vorstellungen verhaftet, was die Deutung des Lebens, das Verständnis der Welt und das Befolgen von Normen und Traditionen betrifft. Drei Beispiele sollen in aller Kürze den Umgang mit Phänomenen kultureller Ambiguität, die als theologisches Dilemma erschienen, verdeutlichen: der chinesische Ritenstreit, die Inkulturation afrikanisch-traditioneller Religiosität und die Christologie im Spannungsfeld asiatischer und europäischer Interpretationen. (a) Der sogenannte »Ritenstreit«, der sich im Wesentlichen zwischen 1610 und 1742 in China abspielte10 – also zwischen dem Tod Matteo Riccis SJ (1552–1610), eines der maßgeblichen Missionare und Proponenten einer Methode der »Akkomodation«, und der Publikation der päpstlichen Bulle Ex quo singulari (1742), mit der die »chinesischen Riten« verboten wurden (was die Missionare mit einem Eid bekräftigen mussten) –, kann auch als theologisches und pastorales Ringen um den Umgang mit Ambiguität verstanden werden. Mit »Riten« waren traditionelle chinesische Bezeichnungen für »Gott«, der Ahnenkult sowie die Verehrung des Konfuzius gemeint. Neugetaufte katholische Christinnen und Christen in China sollten sich also nach Meinung der Franziskaner, Dominikaner und weiterer Missionare von diesen Praktiken fernhalten, während sie entsprechend 8 Diese Problematik wurde bei der vielzitierten Tagung »Des Prêtres noirs s’interrogent« (1956) sehr klar angesprochen: »[…] Es steht nachgerade zu befürchten, dass bei uns der Christ ein Fremdling in seiner eigenen Welt wird […]. Ein Entwurzelter also, das ist der neugetaufte Christ« (Joseph Thiam: Von der Sippe zur christlichen Gemeinde, in: Schwarze Priester melden sich [Ergänzungsreihe zu »Priester und Mission« 3]. Hrsg. v. Diop, Alioune. Frankfurt am Main 1960, S. 30–41, S. 33). 9 Klaus Hock spricht in diesem Zusammenhang von einem »fundamentalen Blickwechsel […], der von der Missionsgeschichte im Sinne einer christlichen Ausbreitungsgeschichte aus europäischer Perspektive hin zur Interkulturellen Geschichte des Christentums stattgefunden hat« (Klaus Hock: Einführung in die Interkulturelle Theologie. Darmstadt 2011, S. 35). 10 Eine vergleichbare Auseinandersetzung fand in Indien zwischen Robert de Nobili SJ (1577– 1656) und anderen Missionaren statt, die einer zu starken Anpassung an die traditionelle Lebensweise in Südindien kritisch gegenüberstanden.
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der Position der Jesuiten nicht mit diesen Riten brechen müssten, weil es sich um kulturelle Traditionen und nicht um fremdreligiöse Einstellungen handle. Diese tiefgreifende Auseinandersetzung, die die Mission in China im 17. und 18. Jahrhundert maßgeblich bestimmte, sowie ihre durchaus gravierenden Folgen für das Christentum in China sind ausreichend erforscht;11 hier ist vor allem interessant, dass es sowohl Christen gab, die ihren Glauben mit chinesischen Traditionen für vereinbar hielten, als auch Christen, die nicht dieser Meinung waren. »Typisch« für das chinesische Christentum war im 17./18. Jahrhundert offenbar sowohl die Abgrenzung vom Gebrauch des traditionellen Gottesnamens, vom kultischen Ausdruck des Respekts vor den Ahnen und vor der Verehrung des Weisen Konfuzius als auch der Einbezug all dessen in ein christliches Leben. Deutlicher lässt sich kulturelle Ambiguität nicht zum Ausdruck bringen. Auch die Tatsache, dass sich die römische Kirchenleitung den »chinesischen Riten« gegenüber manchmal eher aufgeschlossen gab, sie dann wieder ablehnte, nach einem langen Hin und Her die Praxis dieser chinesischen Tradition »endgültig« verbot (1742), um sie zweihundert Jahre später durch eine Instruktion der Propaganda Fide (1939) wieder zu erlauben, zeigt, dass das Neben- und Gegeneinander unterschiedlicher Lebens- und Denkformen im chinesischen Christentum ein eindrückliches Feld kultureller Ambiguität darstellt. (b) Eine ähnlich herausfordernde, wenngleich kirchenpolitisch nicht so heftig abgehandelte Kontroverse stellt die Frage dar, inwieweit Formen traditioneller afrikanischer Religiosität in die Liturgie, Moral und Glaubenslehre der christlichen Kirche »inkulturiert« werden können und sollen. Diese Frage wurde nicht ausverhandelt, sondern von den europäischen Missionaren vorentschieden, und zwar im Windschatten kolonialer Macht, die von militärischer Gewalt, administrativer Disziplinierung und kultureller Disambiguierung geprägt war. Ohne die vielfältigen missionarischen Unternehmungen auf dem afrikanischen Kontinent im Kontext des Hochimperialismus (von der Berliner Kongo-Konferenz 1884/85 bis zu den Unabhängigkeitsbewegungen der 1950er Jahre) pauschal zu beurteilen, muss doch betont – und bedauert – werden, dass ökonomische Interessen, politische Machtansprüche sowie ein kulturelles Sendungsbewusstsein die Marschrichtung des europäischen Kolonialismus vorgaben, der sich nur wenige Missionare entgegenstellten. Vor allem galt es, die »barbarischen« bzw. »heidnischen« Traditionen zu überwinden12 und die Afrikaner:innen zu »zivilisieren« – und das heißt: kulturelle Ambiguität zu verhindern. Denn es gab viele afrikanische Gläubige, die ihr Leben in der katholischen Kirche mit traditionellen 11 Vgl. die konzise Darstellung dieses Streits bei Maria Ko Ha Fong: Christentum und chinesische Kultur (Theologie interkulturell 20), Ostfildern 2011, S. 73–77. 12 Vgl. die Analyse der Stereotypen des »Barbaren«, des »Exoten« und des »Heiden« bei Franz Wimmer: Interkulturelle Philosophie. Geschichte und Theorie, Band 1. Wien 1990, S. 80–97.
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Riten und Weltanschauungen verbanden bzw. neben ihrem »offiziellen« christlichen Glauben ihre traditionelle Religion praktizierten – nicht zuletzt an entscheidenden Wendepunkten oder besonderen Krisensituationen ihres Lebens. Positionen wie jene des burkinischen Theologen und Bischofs Anselme Titianma Sanon, dass es »Neubekehrten« möglich sein müsse, »wahrhaft Afrikaner und voll und ganz Christen zu sein«13 – also dem sogenannten »Prinzip der doppelten Treue« zu folgen, wie es Kardinal Joseph Malula von Kinshasa formulierte14 –, fanden erst in einer Phase postkolonialer Reformulierung der Missionstheologie Resonanz. Wurden in der Zeit kolonial gestützter Mission Elemente der afrikanischen Traditionen als »heidnisch« markiert, ihr Einbezug in Kirche und Theologie als »synkretistisch« qualifiziert und das durch eine »doppelte Treue« geprägte Leben afrikanischer Christ:innen als Ausdruck unzulässiger Ambiguität gewertet, setzten Inkulturationstheologien seit den 1950er Jahren neu an: Nicht die Verwurzelung in der afrikanischen Tradition und die »Gefahr« kultureller Ambiguität, sondern die selbstverständliche Geltung europäischer Kulturmaßstäbe, Argumentationsformen und institutioneller Logiken stand jetzt unter Rechtfertigungsdruck. Von daher fragte der kongolesische Theologe Metena M’nteba SJ in seiner kritischen Untersuchung des Inkulturationsparadigmas: »Kann man wirklich echt Christ sein, wenn man sich weiterhin im institutionellen, epistemologischen und ästhetischen Rahmen westlicher Kultur entwickelt?«15 Die Kritik an kolonial-»zivilisatorischen« Strategien der Disambiguierung, die eine Verdrängung bzw. Entwertung jahrtausendealter Formen des Lebens, Glaubens und Denkens zugunsten von »Fortschritt«, »Zivilisation« und »Entwicklung« intendierten, verfolgt allerdings nicht das Ziel einer Heiligsprechung afrikanischer Traditionen (die bekanntlich auch von Gewalt und Diskriminierung geprägt sein können) oder einer völligen Gleichgültigkeit im Prozess der interkulturellen Begegnung, sondern vielmehr einer Aufmerksamkeit sowohl für Praktiken und Motive afrikanischer Traditionen, von denen Europa vieles lernen könnte (vgl. etwa die Institution des Palavers16, die Bedeutung von Ritualen oder 13 Anselme Titianma Sanon: Das Evangelium verwurzeln. Glaubenserschließung im Raum afrikanischer Stammesinitiationen (Theologie der Dritten Welt 7), Freiburg im Breisgau 1985, S. 79. 14 Vgl. Simon Matondo-Tuzizila: Afrikanisches Christentum – Anspruch und Theologie. Ein Beitrag zum Verhältnis von Offenbarung und Kontext (THEOS. Studienreihe Theologische Forschungsergebnisse 83), Hamburg 2008, S. 76 und 189. 15 Metena M’nteba: Die Inkulturation in der »Dritten Kirche«: Pfingsten Gottes oder Rache der Kulturen? In: Concilium. Internationale Zeitschrift für Theologie 28 (1992), S. 93–105, S. 99. 16 »Palaver« bezeichnet im traditionellen Afrika eine Form der Kommunikation und Entscheidungsfindung, die alle Beteiligten (womit in der Tradition allerdings oft nur Männer gemeint sind) einbezieht; eine Entscheidung kommt erst dann zustande, wenn alle damit einverstanden sind.
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die Relevanz des sozialen Zusammenhalts), als auch für die Konstruktion »afrikanischer« Identitäten durch europäische Diskurse – so wie dies Thomas Bauer für die europäischen Bilder »des Islams« konstatierte.17 Weder die koloniale Degradierung »Afrikas« noch die exotische Inszenierung »afrikanischer Kultur« wird letztlich jenem anthropologischen und religiösen Reichtum dieses Nachbarkontinents Europas gerecht, der maßgeblich von einer »Kultur der Ambiguität« geformt wurde. (c) Ein drittes Beispiel für die (missions-)theologische Relevanz von Ambiguität stellt die Rezeption und Diskussion der klassischen kirchlichen Christologie in Asien dar – wobei die Bezeichnung »klassisch« bereits das Problem markiert: Die kirchlichen Lehrentscheidungen zur Christologie, die zu einer bestimmten Zeit in einem konkreten kulturellen, gesellschaftlichen und intellektuellen Kontext formuliert wurden, sind zu »klassischen« Dogmen geworden, insofern sie in ihrer konkreten Sprachgestalt durch die Jahrhunderte überliefert wurden und das theologische Denken prägten; trotz dieser großen »Reichweite« sind ihre sprachlichen und begrifflichen Mittel begrenzt und nicht nur für die Kirchen des globalen Südens, sondern auch für das gegenwärtige europäische Denken fremd geworden. In diesem Sinn forderte beispielsweise die EATWOT18Konferenz von Colombo (1979) eine Vertiefung des Verständnisses der asiatischen Wirklichkeit, um »gemeinsam das asiatische Antlitz Christi entdecken«19 zu können. Einer der bekanntesten Theologen Sri Lankas ( jenes Landes, in dem diese Konferenz stattfand) und Pionier des christlich-buddhistischen Dialogs, Aloysius Pieris SJ, setzte sich in den 1980er Jahren in einer Kontroverse mit genau dieser Frage auseinander: was heißt es, in Asien an Jesus Christus zu glauben? Gegenüber der von manchen Theologen eingeforderten Position, »das Modell von Chalkedon zu verabsolutieren, d. h. es zur Absoluten Norm der Rechtgläubigkeit zu machen«20, plädiert Pieris dafür, Christologie gerade aus dem kulturellen und soteriologischen Kontext Asiens heraus zu betreiben und nicht hellenistisch-abendländische Begriffe auf die Kirche Asiens anzuwenden.21 Die 17 Vgl. Thomas Bauer: Die Kultur der Ambiguität, S. 192–223. 18 Ecumenical Association of Third World Theologians, gegründet 1976 in Daressalam. 19 Schlusserklärung der Konferenz von Colombo/Wennappuwa 1979, in: Von Gott reden im Kontext der Armut. Dokumente der Ökumenischen Vereinigung von Dritte-Welt-Theologinnen und -Theologen 1976–1996 (Theologie der Dritten Welt 26), Freiburg im Breisgau 1999, S. 67–78, S. 76. 20 Aloysius Pieris: Christologie in Asien. Eine Antwort an Felipe Gomez, in: Derselbe: Feuer und Wasser. Frau, Gesellschaft, Spiritualität in Buddhismus und Christentum (Theologie der Dritten Welt 19), Freiburg im Breisgau 1994, S. 35–49, S. 41. 21 In einem wichtigen Beitrag aus dem Jahr 1982 betont Pieris, dass »der soteriologische oder befreiende Kern« Asiens, also jene »Tür, die Christus in Asien einst verschlossen blieb, die einzige Tür ist, die ihn heute einlassen kann«. Aloysius Pieris: Sprechen vom Sohn Gottes in
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Pluralität an christologischen Modellen und Ansätzen bedeutet nicht die Infragestellung der kirchlichen Einheit oder des biblisch bezeugten Anspruchs Jesu Christi, sondern die Einsicht, »[…] dass ›die Länge und Breite, die Höhe und Tiefe […] Christi‹ (Eph 3,18) solcherart ist, dass kein Paradigma allein ihre Fassbarkeit auszuschöpfen vermag; dazu bedarf es vieler Begriffsmodelle, die auch bereits in den Kulturen, die uns umgeben, verfügbar sind – und was noch mehr ist, alle diese Paradigmen bilden insofern, als sie potentielle christologische Formeln sind, bereits einen Teil des Mysterium Christi.«22
Die Ambiguität christologischer Positionen ist für Pieris Folge des schöpferischen Potentials, das in Person und Botschaft Jesu Christi steckt, und nicht Ausdruck kontextualistischer Beliebigkeit, als würde jede Ortskirche einfach ihre eigene »christologische Suppe« kochen – ganz im Gegenteil: »Kein Paradigma ist das Erbteil einer einzelnen Kirche, weil es die Offenbarung des gleichen Geistes ist, der die Kirchen zusammenbindet. Alle Kirchen müssen sie daher berücksichtigen und sich gegenseitig in ihrer Gemeinschaft des Glaubens bestätigen. Das bedeutet, dass es einen pfingstlichen Durchbruch der Sprachbarrieren geben muss, die bis jetzt noch in den Ortskirchen einen kulturellen Kontext vom anderen trennen. Es bedarf einer Art interkirchlichen Dialogs, durch den die Paradigmen als jeweils neue Offenbarungen des Mysteriums Christi zum Eigentum der ganzen Kirche werden, und zwar nicht durch Übernahme und Aneignung (appropriation), was weder sinnvoll noch möglich wäre, sondern durch aufgeschlossen-respektvolle Würdigung (appreciation).«23
Christologische Ambiguität – also die Erfahrung, dass in der Kirche unterschiedliche Ausdrucksweisen des Glaubens an Jesus, den Christus, existieren – stellt für Pieris ein pfingstliches Phänomen dar und vor allem eine Aufforderung dazu, sich nie mit einer einzigen Sprachgestalt der Christologie zu begnügen, und sei sie auch eine dogmatisch verbürgte. Von daher erweisen sich manche Versuche kirchlicher »Glaubenswächter«, Vertretern der asiatischen Theologie »Relativismus« vorzuwerfen, als Strategie der Disambiguierung, die vor allem deutlich macht, dass die Theologie in Europa häufig nur »einsprachig« verfährt, während die Theologie in Asien mehrere christologische Sprachen beherrscht und mit Ambiguität besser umgehen kann.24 Allerdings – und das ist wichtig zu Asien, in: Derselbe: Theologie der Befreiung in Asien. Christentum im Kontext der Armut und der Religionen (Theologie der Dritten Welt 9), Freiburg im Breisgau 1986, S. 112–121, S. 113. So wie Jesus in den Jordan eingetaucht sei, müsse die Christologie dazu bereit sein, »in das Taufwasser asiatischer Religiosität einzutauchen und durch die Leiden und den Kreuzestod asiatischer Armut hindurchzugehen« (ebd., S. 119). 22 Aloysius Pieris: Christologie in Asien, S. 45. 23 Ebd. 24 Nach Pieris ist eine Tatsache, »dass 1. wir Asiaten jahrhundertelang durch eine obligatorisch uniforme kirchliche Erziehung hindurchgetrieben wurden, um die Sprache und das Idiom
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betonen – bedeutet Ambiguitätstoleranz auch in christologischen Fragen keine Gleichgültigkeit gegenüber dem biblischen Zeugnis oder den dogmatischen Formulierungen; die prägenden Lehrentscheidungen der Christologie werden nicht der Beliebigkeit überlassen, aber als Markierung innerhalb einer Pluralität von Artikulationen christologischen Denkens wahrgenommen, wie dies auch Karl Rahner betonte, der – bei aller Offenheit für neue christologische Ansätze – stets für eine profunde Kenntnis der kirchlichen Lehrentscheidungen eintrat.25 Mit einem Wort: Christologische Ambiguitäten sind – nicht nur in Asien – eine Tatsache, die nicht den Zerfall des kirchlichen Glaubens, sondern das Übersetzungs- und Kontextualisierungspotential dogmatischer Sätze zum Ausdruck bringen.
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Lumen gentium 13: Katholizität als strukturelle Ambiguitätstoleranz?
Geschichte und Gegenwart christlicher Mission, das wollten die drei Beispiele im ersten Abschnitt zeigen, stellen gleichsam eine »Fundgrube« gelebter Ambiguität dar: seien es die chinesischen Christinnen und Christen im 17./18. Jahrhundert, die ihre Glaubenspraxis an einige Elemente ihrer kulturellen bzw. religiösen Tradition »akkomodierten«; seien es neugetaufte Christinnen und Christen im kolonialisierten Afrika des 19./20. Jahrhunderts, die versuchten, weiterhin aus der (kulturell-religiösen) afrikanischen Tradition zu schöpfen und Mitglied einer christlichen Kirche zu sein; oder seien es Ansätze christlicher Theologie im postkolonialen Asien, die – wie es Aloysius Pieris formulierte – Christus durch die »soteriologische Tür« der eigenen Tradition eintreten lassen, anstatt der trügerischen Klarheit »orthodoxer« Disambiguierungsstrategien zu folgen. Dass es diese und viele weitere Beispiele im Raum der katholischen Kirche gibt, die so etwas wie »gelebte kulturelle/religiöse Ambiguität« darstellen, wird niemand bestreiten; es stellt sich aber, wie eingangs schon angesprochen, die Frage, ob der traditionellen westlichen Christologie zu lernen und zu beherrschen, da kein anderes verfügbar oder erlaubt war; und 2. dass die Wächter der traditionellen westlichen Theologie […] sich bis jetzt nicht darum bemüht haben, unser Idiom zu studieren und zu beherrschen. Mit anderen Worten, wir verstehen ihr Denken, aber sie können uns nicht verstehen. Unsere Beherrschung beider Sprachen gibt uns die Kompetenz, in diesen Dialog einzutreten, wohingegen die Wächter des westlichen christologischen Idioms ganz einfach nicht qualifiziert sind, über unsere Versuche des Redens von Christus zu urteilen, bevor sie sich nicht die Mühe machen, unser Idiom zu beherrschen, so wie wir es umgekehrt im Hinblick auf ihr Idiom getan haben« (Aloysius Pieris: Christologie in Asien, S. 47). 25 Vgl. Karl Rahner: Kleine Anmerkungen zur systematischen Christologie heute, in: Derselbe: Schriften zur Theologie, Band XV: Wissenschaft und christlicher Glaube, Zürich/Einsiedeln/ Köln 1983, S. 225–235, S. 225.
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diese Beispiele nur für ein faktisches, »noch ungeklärtes« Nebeneinander unterschiedlicher Positionen und Traditionen stehen, oder ob von einer Ambiguitätstoleranz wenigstens insofern die Rede sein kann, als »Katholizität« so etwas wie eine »Kultur der Ambiguität« ermöglicht. Ein wichtiges theologisches Dokument stellt in diesem Zusammenhang das 13. Kapitel von Lumen gentium, der Kirchenkonstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils, dar. Bevor dieser Text in den Kapiteln 14, 15 und 16 die Frage stellt, wer zum »Volk Gottes« gehört bzw. wer auf dieses Volk hingeordnet ist,26 fragt LG 13 in vier Abschnitten danach, wer denn überhaupt dieses »Volk Gottes« sei. Zuerst ist davon die Rede, dass »alle Menschen« in diesem »neuen Volk Gottes« zur Einheit gerufen werden: durch den Willen Gottes, die Sendung des Sohnes sowie die Sendung des Heiligen Geistes.27 Dieses Motiv, die Menschheit zur Einheit zu führen, ist bekanntlich zentral für die Theologie des Zweiten Vatikanums,28 aber nur wenig rezipiert. Der zweite Abschnitt wird bereits etwas konkreter in seiner Bestimmung des »Katholischen«: Gottes Volk wohnt »[i]n allen Völkern der Erde«; seine Bürger sind »himmlischer Beschaffenheit«. Diese etwas eigenartig klingende Formulierung hat eine interessante Konsequenz: Das Volk Gottes »entzieht […] nichts dem zeitlichen Wohl irgendeines Volkes« – will heißen: Christ sein heißt nicht von vornherein, einen Bruch mit der eigenen kulturellen Identität zu vollziehen weil eben die »Bürger« des »Volkes Gottes« nicht mit einem »irdischen Reich« gleichzusetzen sind. Die »Anlagen, Fähigkeiten und Sitten der Völker« können sogar gefördert werden, also auch unterschiedliche »facultates« und »mores«. Es sind also unterschiedliche kulturelle Kennzeichen, die zum »Volk Gottes« gehören und gesammelt werden wie Gaben und Geschenke, wie es mit Bezug auf die biblischen Bilder in Ps 72,10 sowie Jes 60,4–7 und Offb 21,24 heißt. An dieser Stelle, mit Blick auf die Fähigkeit der Kirche, »die ganze Menschheit mit allen ihren Gütern unter dem Haupt Christi zusammenzufassen in der Einheit seines Geistes« – wobei »zusammenfassen« (recapitulare) nicht heißt: »vereinheitli26 Angesprochen sind hier neben den katholischen Gläubigen die Katechumenen, die nichtkatholischen Christen sowie die Nichtchristen, gegliedert in Form immer weiterer konzentrischer Kreise 1. Israel; 2. alle, die an einen Schöpfer glauben, vor allem die Muslime; 3. alle, die Gott suchen sowie 4. alle, die nach ihrem Gewissen leben. 27 Alle Konzilstexte werden zitiert nach: Die Dokumente des Zweiten Vatikanischen Konzils. Konstitutionen, Dekrete, Erklärungen. Lateinisch-deutsche Studienausgabe. Hrsg. v. Peter Hünermann (Herders Theologischer Kommentar zum Zweiten Vatikanischen Konzil 1), Freiburg im Breisgau 2004. 28 Die Erklärung über die Haltung der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen Nostra aetate etwa sieht es als Aufgabe der Kirche an, »Einheit und Liebe unter den Menschen, ja sogar unter den Völkern zu fördern« (NA 1.1); bereits die Kirchenkonstitution Lumen gentium beginnt mit der Selbstvorstellung der Kirche als »Sakrament bzw. Zeichen und Werkzeug für die innigste Vereinigung mit Gott und für die Einheit des ganzen Menschengeschlechts […]« (LG 1.1).
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chen« –, ist vom »universalitatis character« die Rede, von einer besonderen Fähigkeit, die der Kirche von Christus selbst gegeben wurde. Und genau diese Fähigkeit, so beginnt der dritte Abschnitt, wird »Katholizität« genannt. Worin besteht nun das Potential der »Katholizität«? Sie schafft eine Beziehung, die zu den üblichen politischen und gesellschaftlichen Erfahrungen in deutlichem Kontrast steht: »Kraft dieser Katholizität bringen die einzelnen Teile die ihnen eigenen Gaben den übrigen Teile und der ganzen Kirche hinzu, so dass das Ganze und die einzelnen Teile aus allen vermehrt werden, die Gemeinschaft miteinander halten und zur Fülle in Einheit zusammenwirken« (LG 13.3).
Die »singulae partes« stellen demnach weder für die anderen »partes« noch für das »totum« einen Gegensatz dar, sondern bewirken eine »Fülle in Einheit«. Teile und Ganzes, Besonderes und Allgemeines verhalten sich nicht, wie es zum Beispiel Nationalismus oder identitäre Politiken nahelegen würden, indirekt proportional (»je mehr Partikularität, desto weniger Universalität« und umgekehrt), sondern direkt proportional: Die unterschiedlichen Gaben der einzelnen Teile führen zu einer radikaleren Einheit und Verbindung. Dem entspricht, dass das Volk Gottes »in sich selbst aus vielfältigen Ordnungen gebildet wird« (LG 13.3). »Diversitas« ist das Kennzeichen dieses »Volkes Gottes«, nicht unterschiedslose Einheit.29 Dementsprechend gibt es »in der kirchlichen Gemeinschaft zu Recht Teilkirchen, die über eigene Überlieferungen verfügen«, und auch hier gilt, dass diese Partikularität keinen Gegensatz zur Einheit darstellt; der »Stuhl Petri« wird als jene Instanz vorgestellt, welche »die rechtmäßigen Verschiedenheiten schützt und zugleich darüber wacht, dass die Besonderheiten der Einheit nicht nur nicht schaden, sondern ihr vielmehr dienen«30. Der kurze vierte Abschnitt von Lumen gentium 13 wiederholt nochmals, dass »alle Menschen« zu dieser »katholischen Einheit des Gottesvolkes« gerufen sind und ihr »sowohl die katholischen Gläubigen als auch andere an Christus Glau-
29 Aloys Grillmeier gab diesem Charakteristikum einer vielfältigen Ordnung der Kirche in seinem Kommentar von Lumen gentium eine pneumatologische Deutung: »Wir haben so eine Katholizität der Verschiedenheit und des Zusammenspiels verschiedener Ordnungen, wie sie nur der Geist Gottes aus seinem Volk herausdifferenzieren und wieder zusammenhalten kann« (Aloys Grillmeier: Zweites Kapitel. Kommentar, in: LThK, 2. Aufl. Das Zweite Vatikanische Konzil. Konstitutionen, Dekrete und Erklärungen. Lateinisch und Deutsch. Kommentare, Teil I, Freiburg im Breisgau 1966, S. 176–209, S. 194). 30 Peter Hünermann merkt in seinem Kommentar an dieser Stelle an, dass hier »jeder Hinweis auf geschichtliche Konkretionen und mögliche oder aktuelle Konfliktfälle« fehle (Peter Hünermann: Theologischer Kommentar zur dogmatischen Konstitution über die Kirche Lumen gentium, in: Herders Theologischer Kommentar zum Zweiten Vatikanischen Konzil, Band 2. Hrsg. v. Peter Hünermann/Bernd Jochen Hilberath, Freiburg im Breisgau 2004, S. 263–582, S. 389).
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bende als auch schließlich alle Menschen überhaupt« angehören bzw. ihr zugeordnet sind, und zwar »auf vielfältige Weisen«. Könnte nun als Ergebnis dieses kurzen Blicks auf Lumen gentium 13 »Katholizität« als strukturelle Ambiguitätstoleranz bezeichnet werden, also als jener institutionalisierte »universalitatis character«, durch den – von Pluralität, Heterogenität und Ambiguität geprägte – Partikularität und Universalität einander bestärken? Oder bietet dieser Abschnitt der Kirchenkonstitution bloß eine idealistische Perspektive auf eine institutionelle Größe, die sehr wohl mit disambiguierenden Vereinheitlichungs-, Ausgrenzungs- und Zwangsstrategien arbeitet? Klar ist auf jeden Fall, dass die – interkulturell-theologisch höchst relevante – Auseinandersetzung mit »Ambiguität« nicht unvermittelt in diesen Konzilstext hineininterpretiert werden kann; Lumen gentium 13 ist Teil eines Abschnitts, der dezidiert nach dem Verständnis von »Volk Gottes« fragt.31 Allerdings erfolgt die Selbstcharakterisierung als »Volk Gottes« auf eine Weise, die bemerkenswerte Anschlussmöglichkeiten für eine Ekklesiologie eröffnet, welche »Ambiguität« nicht bloß als Problem, sondern als erschließendes Moment eines christlichen Glaubensverständnisses sieht. Auf drei mögliche Ansatzpunkte ist hier hinzuweisen: (1) Das »Volk Gottes« ist weder kulturell noch national festgelegt. Das bedeutet zum einen, dass Christsein mit keiner sozialen oder ethnischen Zugehörigkeit identisch ist – auch wenn einzelne kulturelle Traditionen dem kirchlichen Leben eine deutliche Prägung verleihen können –, und zum anderen, dass vielfältige und auch ambige Lebens- und Gesellschaftskonstellationen (zum Beispiel resultierend aus Migrationsprozessen) Teil der kirchlichen Gemeinschaft sein können. (2) Wie auch immer kirchliche Einheit verstanden wird bzw. wie eng sie interpretiert wird: sie besteht aus unterschiedlichen Ordnungen, denen zweifellos auch unterschiedliche Bedeutungen beigemessen wurden. Und diese unterschiedlichen Ordnungen (wie etwa Lebensformen oder Rechtssysteme) stellen nach Lumen gentium 13 kein Defizit dar, sondern »wechselseitige Bereicherung«32 und ein bleibendes Merkmal von Kirche. (3) Es ist kennzeichnend für die Katholizität der Kirche, dass unterschiedliche Gaben »herbeigebracht« werden und die Fülle des kirchlichen Lebens nicht aus »vorsortierten«, vereinheitlichten Gaben besteht. Zwar thematisiert Lumen gentium 13 nicht die Realität unterschiedlicher theologischer Ansätze und Interpretationen, die die Kirche in Geschichte und Gegenwart begleiten, lässt aber durchaus die Deutung zu, Kirche als jene Interpretationsgemeinschaft zu verstehen, die als »soziale Gruppe Normen und Sinnzuweisungen für einzelne Lebensbereiche gleichzeitig aus gegensätzlichen oder stark voneinander abweichenden Diskursen bezieht oder […] unterschiedliche Deutungen eines Phä31 Vgl. Peter Hünermann: Theologischer Kommentar, S. 371–372. 32 Peter Hünermann: Theologischer Kommentar, S. 389.
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nomens akzeptiert […], wobei keine dieser Deutungen ausschließliche Geltung beanspruchen kann«33. Resümieren lässt sich demnach: Lumen gentium 13 kann zwar nicht als »Schlüsseltext« für (strukturelle) Ambiguitätstoleranz gelesen werden, aber als ekklesiologische Skizze, die möglicher Ambiguität(stoleranz) Raum lässt – und das ist nicht selbstverständlich, beachtet man die diskursiven und politischen Disambiguierungstendenzen, die vielfach Oberhand gewinnen.34 Welche ekklesiologischen Konsequenzen lassen sich nun aus diesem – zugegebenermaßen bescheidenen – Resultat ziehen?
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Ekklesiologie im Zeichen von Ambiguität
Die entscheidende ekklesiologische Einsicht, was das Offenbarwerden von (kultureller/religiöser) Ambiguität innerhalb der Kirche betrifft, besteht wohl darin, unterschiedliche Deutungen von Normen und Ritualen, Traditionen und Texten usw. als Möglichkeit für (theologischen) Erkenntnisgewinn wahrzunehmen. Bereits die im ersten Abschnitt angeführten Beispiele aus der Missionsgeschichte haben Lernprozesse in Gang gesetzt, die aus interkulturell-theologischer Perspektive von großem Interesse sind. Was bedeutet es etwa, wenn innerhalb der Gemeinschaft der katholischen Kirche die einen an der Verehrung ihrer Ahnen festhalten und dies als völlig vereinbar mit ihrem christlichen Glauben ansehen, die anderen in dieser Praxis und Überzeugung aber einen unvereinbaren Gegensatz zu einem christlichen Leben sehen? Oder was lässt sich daraus lernen, wenn manche katholische Christen in Asien ihren Glauben an Jesus, den Christus, im Licht einer buddhistisch geprägten Heilserwartung leben und verstehen, andere hingegen sich bewusst von außerchristlichen Heilsinterpretationen abgrenzen? Die Auseinandersetzung mit der durchaus herausfordernden Erfahrung, dass im Raum der Kirche ambige Glaubensinterpretationen und -praktiken präsent sind, sollte weder disambiguierende Disziplinierung noch hyperambige Gleichgültigkeit zur Folge haben, sondern die Bereitschaft, Abweichungen, Dissens und Heterogenität als produktive Irritation für theologische Erkenntnis zu begreifen, die möglicherweise etwas Neues in das christliche Glaubensverständnis einbringen kann. Das Merkmal der »Katholizität« bedeutet für Kirche und Theologie, den Anspruch des christlichen Glaubens in der Vielgestaltigkeit und manchmal auch 33 Thomas Bauer: Die Kultur der Ambiguität, S. 27. 34 Helmut Karl Kohlenberger urteilt in seinem philosophiehistorischen Überblick: »Allen Zeiten gilt die A[mbiguität] als tadelnswert und vermeidbar« (Helmut Karl Kohlenberger: Ambiguität [Amphibolie], I., in: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hrsg. v. Joachim Ritter, Band 1. Basel/Stuttgart 1971, Sp. 201–203, Sp. 202).
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Widersprüchlichkeit theologischer Deutungen und religiöser Lebensformen wahrzunehmen und sowohl der Versuchung identitären Denkens (Exklusivität, Homogenität, Binarität), wie sie sich in rechtspopulistischer Politik und fundamentalistischer Religiosität äußert,35 als auch der Bequemlichkeit eines relativistischen Rückzugs aus dem Spannungsfeld von Ambiguität eine Alternative entgegenzusetzen: eine am Prinzip »Katholizität« orientierte Bereitschaft, sich dem Mehrdeutigen und Ungeklärten zu stellen. »Katholizität«, so betont Ralf Miggelbrink, »ist eine Eigenschaft der Entgrenzung und Verbindung, nicht der Abgrenzung und des Ausschlusses.«36 Von daher lässt sich Ambiguität als Moment von Katholizität begreifen, insofern sie die Gläubigen davor bewahrt, vorletzte Formen der Glaubensinterpretation mit dem »letzten«, konstitutiven Grund eines Lebens aus dem Glauben zu verwechseln und Leben, Glauben und Denken offenzuhalten für jene Übersetzungs- und Transformationsprozesse, ohne die Mensch, Gesellschaft und Kirche letztlich verkümmern würden. Eine Ekklesiologie im Zeichen von Ambiguität führt dementsprechend nicht zu einem Lob des Vielfältigen und Widersprüchlichen um seiner selbst willen, sondern zu einer Form von Nachdenklichkeit und Aufmerksamkeit, die im Bann »glücklicher Klarheit« nicht möglich wäre.37 Katholizität – als Gestalt und Struktur möglicher Ambiguität – erscheint hier (um hier nochmals auf eine andere Bildebene zu wechseln) nicht als gleißender Scheinwerfer, der den kirchlichen Raum grell ausleuchtet, sondern ist eher dem »Farbklangteppich«38 eines Glasfensters mit unterschiedlichen Farben vergleichbar – so der Vergleich mit dem Richter-Fenster im Kölner Dom durch Dominik Schultheis zum Abschluss seiner Studie über Katholizität: »Wie das Richter-Fenster mit seinen über 11.000 Farbquadraten und 72 Farben keine einheitliche monotone, sondern bunte facettenreiche Fläche bietet, die den Innenraum des Domes in ein abwechslungsreiches Farbspiel zu kleiden vermag, so beschreibt die Katholizität der Kirche keinen ekklesialen Uniformismus, sondern meint immer schon einen Reichtum an geistgewirkten Charismen und Gaben, an unterschiedlichen Riten und Traditionen, an spannungsreichen Strukturen und Aufgaben. Als wahrhaft katholisch erweist sich Kirche überall dort, wo sie innerhalb der kirchlichen Einheit einer größtmöglichen Vielfalt Raum gewährt, und wo sie sich offenhält für den Geist Gottes, 35 Amartya Sen weist auf »die Illusion einer einzigen Identität« hin, die unweigerlich zu Gewalt führt (Amartya Sen: Die Identitätsfalle. Warum es keinen Krieg der Kulturen gibt, München 2007, S. 183). 36 Ralf Miggelbrink: Einführung in die Lehre von der Kirche, Darmstadt 2003, S. 115. 37 Dieser Begriff stammt von Roland Barthes: Mythen des Alltags (es 92), Frankfurt am Main 1964, S. 132, und wurde ideologiekritisch vom österreichischen Theologen Franz Schupp (1936–2016) rezipiert. 38 Dominik Schultheis: Die Katholizität der Kirche. Versuch einer Bestimmung der dritten nota ecclesiae in der deutschsprachigen Systematischen Theologie seit dem Zweiten Vatikanum (Bonner Dogmatische Studien 55), Regensburg 2015, S. 561.
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der weht, wo er will (vgl. Joh 3,8). Wie das Richter-Fenster den Farbquadraten aber einen festen Rahmen und eine klare Struktur bietet, ohne den sie gar kein Fenster wären, so meint die geforderte katholische Vielfalt keine vage Allgemeinheit oder eine ins Unbestimmte abdriftende Offenheit. Katholische Vielfalt ist immer verwiesen auf eine innere Einheit der Kirche […].«39
Vielleicht ist dies die entscheidende Einsicht von Lumen gentium 13: dass es letztlich nicht darauf ankommt, »wie viel« an Ambiguität in Theologie und Kirche zulässig ist, sondern inwiefern Ambiguität »durchscheinend« werden kann für jene Erfahrung, die auch jenseits von »Eindeutigkeit« und »Sicherheit« das Leben trägt und erhellt – und vielleicht gerade dann.
Literatur Roland Barthes: Mythen des Alltags (es 92), Frankfurt am Main 1964 [Orig.: Mythologies, Paris 1957]. Thomas Bauer: Die Kultur der Ambiguität. Eine andere Geschichte des Islams, Berlin 2011. Maria Ko Ha Fong: Christentum und chinesische Kultur (Theologie interkulturell 20), Ostfildern 2011. Franz Gmainer-Pranzl: »Theologie Interkulturell und Studium der Religionen«: Zur Theorie christlicher Glaubensverantwortung im Horizont von Pluralität und Globalität, in: Das Theologische der Theologie. Wissenschaftstheoretische Reflexionen – methodische Bestimmungen – disziplinäre Konkretionen (Salzburger Theologische Studien 62). Hrsg. v. Franz Gmainer-Pranzl/Gregor Maria Hoff, Innsbruck 2019, S. 163–178. Aloys Grillmeier: Zweites Kapitel. Kommentar, in: LThK 2. Aufl. Das Zweite Vatikanische Konzil. Konstitutionen, Dekrete und Erklärungen. Lateinisch und Deutsch. Kommentare, Teil I., Freiburg im Breisgau 1966, S. 176–209. Klaus Hock: Einführung in die Interkulturelle Theologie, Darmstadt 2011. Peter Hünermann: Theologischer Kommentar zur dogmatischen Konstitution über die Kirche Lumen gentium, in: Herders Theologischer Kommentar zum Zweiten Vatikanischen Konzil, Band 2. Hrsg. v. Peter Hünermann/Bernd Jochen Hilberath, Freiburg im Breisgau 2004, S. 263–582. Helmut Karl Kohlenberger: Ambiguität (Amphibolie), in: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hrsg. v. Joachim Ritter, Band 1. Basel/Stuttgart 1971, Sp. 201–203. Simon Matondo-Tuzizila: Afrikanisches Christentum – Anspruch und Theologie. Ein Beitrag zum Verhältnis von Offenbarung und Kontext (THEOS. Studienreihe Theologische Forschungsergebnisse 83), Hamburg 2008. Ralf Miggelbrink: Einführung in die Lehre von der Kirche, Darmstadt 2003. Hadwig Müller: Folgenreiche Katholizität. Anstoß aus einer brasilianischen Ortskirche – Gemeindeveränderungen in einer europäischen Ortskirche, in: Katholizität im Kommen. Katholische Identität und gegenwärtige Veränderungsprozesse. Hrsg. v. Claude Ozankom, Regensburg 2011, S. 85–94. 39 Schultheis: Die Katholizität der Kirche, S. 563–564.
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Metena M’nteba: Die Inkulturation in der »Dritten Kirche«: Pfingsten Gottes oder Rache der Kulturen?, in: Concilium. Internationale Zeitschrift für Theologie 28 (1992), S. 93– 105. Aloysius Pieris: Sprechen vom Sohn Gottes in Asien, in: Derselbe: Theologie der Befreiung in Asien. Christentum im Kontext der Armut und der Religionen (Theologie der Dritten Welt 9), Freiburg im Breisgau 1986, S. 112–121. Aloysius Pieris: Christologie in Asien. Eine Antwort auf Felipe Gomez, in: Derselbe: Feuer und Wasser. Frau, Gesellschaft, Spiritualität in Buddhismus und Christentum (Theologie der Dritten Welt 19), Freiburg im Breisgau 1994, S. 35–49. Karl Rahner: Kleine Anmerkungen zur systematischen Christologie heute, in: Derselbe: Schriften zur Theologie, Band XV: Wissenschaft und christlicher Glaube, Zürich/Einsiedeln/Köln 1983, S. 225–235. Anselme Titianma Sanon: Das Evangelium verwurzeln. Glaubenserschließung im Raum afrikanischer Stammesinitiationen (Theologie der Dritten Welt 7), Freiburg im Breisgau 1985 [Orig.: Enraciner l’Évangile. Initiations africaines et pédagogie de la Foi, Paris 1982]. Dominik Schultheis: Die Katholizität der Kirche. Versuch einer Bestimmung der dritten nota ecclesiae in der deutschsprachigen Systematischen Theologie seit dem Zweiten Vatikanum (Bonner Dogmatische Studien 55), Regensburg 2015. Amartya Sen: Die Identitätsfalle. Warum es keinen Krieg der Kulturen gibt, München 2007 [Orig.: Identity and Violence: The Illusion of Destiny, London 2006]. Rudolf von Sinner: Reden vom dreieinigen Gott in Brasilien und Indien (Hermeneutische Untersuchungen zur Theologie 43), Tübingen 2003. Joseph Thiam: Von der Sippe zur christlichen Gemeinde, in: Schwarze Priester melden sich (Ergänzungsreihe zu »Priester und Mission« 3). Hrsg. v. Alioune Diop, Frankfurt am Main 1960 [Orig.: Des Prêtres noirs s’interrogent, Paris 1956], S. 30–41. Franz Wimmer: Interkulturelle Philosophie. Geschichte und Theorie, Band 1., Wien 1990. Die Dokumente des Zweiten Vatikanischen Konzils. Konstitutionen, Dekrete, Erklärungen. Lateinisch-deutsche Studienausgabe. Hrsg. v. Peter Hünermann (Herders Theologischer Kommentar zum Zweiten Vatikanischen Konzil 1), Freiburg im Breisgau 2004. Schlusserklärung der Konferenz von Colombo/Wennappuwa 1979, in: Von Gott reden im Kontext der Armut. Dokumente der Ökumenischen Vereinigung von Dritte-WeltTheologinnen und -Theologen 1976–1996 (Theologie der Dritten Welt 26), Freiburg im Breisgau 1999, S. 67–78.
Katharina Mairinger
Eindeutig mehrdeutig. Plädoyer für eine ambiguitätstolerante Ethik
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Einleitung
Wie viele interpretatorische Schlüsse lässt wohl dieser vielzitierte biblische Satz zu: »Gott sah alles an, was er gemacht hatte: Und siehe, es war sehr gut«1? Worin gründet die Bestimmung des Guten? Wie unterscheidet sie sich vom Bösen? Worauf diese Bibelstelle hier keine eindeutige Antwort gibt, scheint die zentrale Frage der Ethik zu sein und doch ist auch sie immer wieder genötigt, sich dem Interpretationsspielraum konkurrierender Meinungen auszusetzen. Obwohl aber die Deutungsrahmen der Idee des Guten plural und ambig sind, tun sie der ethischen Theoriebildung, wie mancherorts der Vorwurf des Relativismus suggerieren mag2, keinen Abbruch. Auf Basis einer linguistischen Analyse einerseits und einer philosophischen Anknüpfung an das Phänomen der Ambiguität andererseits möchte dieser Artikel verdeutlichen, dass ethische Urteile – so über1 Gen 1, 13. 2 Vgl. dazu Michael N. Ebertz: Relativismus oder Relationismus? Wissenssoziologische Anmerkungen im Blick auf das kirchliche Feld der Ambiguität, in: diesem Band. Insbesondere im Bereich der Ehe- und Sexualmoral sind ambiguitätstolerante Ethikmodelle umstritten. So begegnet im Bereich des katholischen Antigenderismus oft der Vorwurf, geschlechtliche Identität würde relativistischer und subjektivistischer Wahlfreiheit ausgeliefert. Vgl. Ukrainische Bischofskonferenz: Encyclical Of The Synod Of The Major Archbishopric Of Kyiv-halych Of The Ukrainian Greek Catholic Church Concerning The Danger Of Gender Ideology. 2016, URL: https://ugcc.fr/publications/official-documents-ugcc/encyclical-of-the-synod-of-bishop s-of-the-major-archbishopric-of-kyiv-halych-of-the-ukrainian-greek-catholic-church-concer ning-the-danger-of-gender-ideology/ abgerufen am 25. Mai 2021, 13. Vgl. auch die Aussage der Kongregation für das katholische Bildungswesen der römisch-katholischen Kirche: »Catholic educators are called to go beyond all ideological reductionism or homologizing relativism by remaining faithful to their own gospel-based identity, in order to transform positively the challenges of their times into opportunities by following the path of listening, reasoning and proposing the Christian vision, while giving witness by their very presence, and by the consistency of their words and deeds.« Kongregation für das katholische Bildungswesen: »Als Mann und Frau schuf er sie«. Für einen Weg des Dialogs zur Gender-Frage im Bildungswesen. 2019, URL: https://www.vatican.va/roman_curia/congregations/ccatheduc/documents/rc_co n_ccatheduc_doc_20190202_maschio-e-femmina_ge.pdf abgerufen am 25. Mai 2021, S. 27–28.
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Katharina Mairinger
zeitlich und eindeutig sie auch formuliert sein mögen – ambig sind und bleiben. Ziel dieses Beitrages ist es, die Dilemmata, die sich aus der poststrukturalistischen Denkweise in Bezug auf den Wahrheits- und Sinngehalt von Aussagen ergeben, konstruktiv für die ethische Theoriebildung aufzugreifen. Leitend hierfür sind die praktisch-philosophischen Überlegungen Simone de Beauvoirs und Judith Butlers. An sie anknüpfend soll begründet werden, dass die sich mit dem Ambiguitätsdenken ergebenden Schwierigkeiten – ethische Urteile nicht mehr eindeutig festlegen zu können und infolgedessen zu mehr Anstrengung und Austausch im ethischen Aushandlungsprozess herausgefordert zu sein – keinen Aufweis dafür bieten, Ambiguitätstoleranz in der Ethik als störend oder gar irrelevant abzutun. Das in diesem Beitrag als Leitthese formulierte Plädoyer für eine ambiguitätstolerante Ethik richtet sich damit sowohl gegen verabsolutierende und relativistische Denkweisen gleichermaßen. Strukturell gliedert sich der Beitrag in zwei Teile: Der erste, linguistische Teil verdeutlicht, dass das Phänomen der Ambiguität sprachimmanent und auf allen kommunikativen Ebenen anzutreffen ist. Linguistische Fallbeispiele zeigen auf, dass auch durch den pragmatischen Zusammenhang nie von einer völligen Kongruenz von gesendeter und empfangener Mitteilung gesprochen werden kann. Der zweite, moralphilosophische Teil zeigt, wie das Phänomen der Ambiguität in der Philosophie verhandelt wird und welche Konsequenzen diese linguistischen Einsichten nach dem linguistic turn auf die ethische Theoriebildung hatten. Das Fazit zieht aus beiden Perspektiven grundlagentheoretische Konsequenzen und plädiert trotz der durch den Dekonstruktivismus entstehenden grundlagentheoretischen Dilemmata für eine ambiguitätstolerante Ethik.
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Ambiguität in der Linguistik
Folgt man der Saussure’schen Bestimmung von Zeichensystemen, geschieht die Zuordnung eines sprachlichen Zeichens zu einem bestimmten Inhalt beliebig bzw. arbiträr.3 Die Bedeutung eines Wortes ist also nicht von sich aus festgelegt, sondern wird erst durch reale Sprecher:innen konstruiert. Auch die dafür geltenden Regeln einer Sprache unterliegen damit einem beständigen, wenngleich weniger flexiblem Wandel. So »liegt die Vermutung nahe, dass die situativ gebundenen sprachlichen Äußerungen zahlenmäßig unbegrenzt, d. h. unendlich sind«4. Das Phänomen der Ambiguität zieht sich folglich durch alle Bereiche menschlicher Kommunikation. 3 Vgl. Ferdinand de Saussure [Hrsg. v. Perry Meisel/Haun Saussy]: Course in General Linguistics. Aus dem Französischen übers. v. Wade Baskin, New York 2011, S. 68–69. 4 Peter Ernst: Pragmalinguistik, Berlin/New York 2002, S. 112.
Eindeutig mehrdeutig. Plädoyer für eine ambiguitätstolerante Ethik
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So ist aus grammatischer Perspektive zwar richtig, dass Ambiguität schwindet, je enger die Zuordnung von Bezeichnetem und Bezeichnendem ist, aber aus sprachpragmatischer Sicht kann eben diese vermeintlich grammatische Eindeutigkeit noch einmal geweitet werden: Je stärker eine sprachliche Bedeutung in einer Zeichenkombination formalisiert ist, desto weniger anfällig ist sie für Ambiguität. Je komplexer sich aber eine kommunikative Situation darstellt, desto breiter wird auch der Deutungsspielraum einzelner (Zeichen-)Kombinationen. Entgegen der linguistischen Beschreibung von Ambiguität5, werde ich hier eine Systematisierung vorschlagen, welche den sprachpragmatischen Formalisierungsgrad einer ambigen Äußerung berücksichtigt.6 Linguistische Beispiele dazu folgen in den Unterkapiteln gemäß meiner Systematisierung: (1) kategorielle Ambiguität, (2) kompositionelle Ambiguität, (3) kontextuelle Ambiguität, (4) kommunikative Ambiguität. Das Kapitel schließt mit der Zusammenfassung des linguistischen Befundes und bereitet so ein Verständnis für die an den linguistic turn anknüpfenden poststrukturalistischen Ethiken vor, welche abschließend für das Plädoyer für eine ambiguitätstolerante Ethik herangezogen werden.
2.1
Kategorielle Ambiguität
Mit kategorieller Ambiguität bezeichne ich hier die semiotischen Grundlagen von Kommunikationshandlungen, die in einer willkürlichen Zuordnung eines Zeichens zu einem Bedeutungsgehalt innerhalb eines sprachlichen Regelsystems besteht (=Arbitrarität). Als Anschauungsbeispiel für Arbitrarität wird oft die Vielfalt der Sprachen angeführt. Wie ein bestimmter Gehalt bezeichnet wird, unterscheidet sich von Sprache zu Sprache. Willkürlich festgelegte Bezeichnun5 Semiotik, Semantik, Grammatik, Pragmatik. 6 Sprachwissenschaftlich ist dieses Vorgehen bisher nicht üblich. Die Einteilung orientiert sich je nach Artikel an unterschiedlichen Einteilungskriterien: Vgl. Frauke Berndt/Klaus Sachs-Hombach: Dimensions of Constitutive Ambiguity, in: Ambiguity. Hrsg. v. Susanne Winkler, Berlin 2015; Sebastian Löbner: Semantik, Berlin/Boston 2015; Matthias Bauer/Joachim Knape/Peter Koch/Susanne Winkler: Dimensionen der Ambiguität, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik, 158 (2010), S. 7–75. Systematisiert wird im erstgenannten Beitrag etwa nach konstitutiver, elementarer und hermeneutischer Ambiguität. Löbner zieht die Unterscheidung lexikalischer, kompositionaler und kontextueller Ambiguität vor. Nach Bauer/Knape/Koch/ Winkler tendierten linguistische Systematisierungsversuche in der Vergangenheit außerdem dazu, sich aufgrund der Komplexität kommunikationspragmatischer Einblicke oft auf sprachimmanente Ambiguität und deren Auflösung zu beschränken (vgl. ebd. S. 54). Ihr Vorschlag ist es jedoch, sich auch mit den konstitutiven Eigenschaften von Ambiguität zu beschäftigen: »Im Umkreis der Ambiguität sind also einerseits – das soll hier keineswegs abgewertet werden – ›Reparaturprozesse‹ für sprachliche ›Unfälle‹ zu thematisieren, andererseits aber auch, ebenso nachdrücklich, kreative Prozesse intentionaler Art auf Sprecherseite (Indirektheit) und nicht intentionaler Art auf Hörerseite (Redeanalyse).« (ebd. S. 64).
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gen wie Baum, arbre oder tree können sich trotz ihrer phonetischen aber auch phonographischen unterschiedlichen Gestalt auf denselben Gehalt beziehen. Umgekehrt wird ein Gehalt aber nicht vollständig von einer phonetischen oder phonographischen Gestalt umfasst. Wie sich ein Zeichen innerhalb eines Zeichensystems zu anderen Zeichen und sprachpragmatischen Verwendungsweisen verhält, ist seinerseits eine Frage von Arbitrarität. Aus der Not der Verständigung heraus und zur Erleichterung der Kommunikation werden die zunächst willkürlichen Zuordnungen mit der Zeit durch Wiederholung gefestigt, bis schließlich die Zuordnung einer bestimmten Bedeutung zu einem Zeichen selbstverständlich erscheint. Kategorien bilden sich heraus, die bestimmte Bedeutungsgruppen systematisch in den alltäglichen Sprachgebrauch einbinden und zugleich den Raum menschlicher Wahrnehmung, Deutung und Handlung strukturieren. Nichtsdestotrotz bleibt diese Alltagssprache dynamisch, ambig und damit interpretationsoffen, wie an den folgenden Beispielen aufgezeigt werden soll.
2.2
Kompositionelle Ambiguität
Unter kompositioneller Ambiguität verstehe ich jene Ambiguitätsphänomene, welche aufgrund ihrer grammatischen Struktur weitgehend unabhängig von ihrem kommunikativen Kontext zustande kommen. Vielmehr dient der enge kommunikative Kontext auf der Satzebene7 in diesen Fällen gerade dazu, die Ambiguität aufzulösen. Der Linguistik dient die Ambiguitätsforschung deshalb auch zur Überprüfung eines konstruierten Grammatikmodells, da letzteres nur als sprecher:innenadäquat eingestuft wird, wenn es Ambiguitäten abbilden kann.8 Einige Beispiele, ausgehend von den kleinsten bedeutungsunterscheidenden Einheiten bis zu den größten zusammenhängenden Äußerungen, sollen erläutern, was darunter konkret zu verstehen ist. So zeigt sich bei Homophonen, dass eine Lautform graphisch oder phonetisch mehrfach umgesetzt werden kann (z. B. kann sich die Lautung von [ˈme:r]9 auf oder beziehen). Auch die Morphologie oder die Lexik kennen Phänomene der Ambiguität. So können morphologische Eigenschaften dieselbe Gestalt aufweisen, aber unterschiedlichen Morphemen angehören (z. B. kann das Morphem {-en} in ein Hinweis auf den Infinitiv, die 1. Pers. Pl. Ind. Präs. oder die 3. Pers. Pl. Ind. Präs. sein). In letzterem Fall spricht man von 7 Die Ambiguität löst sich meist schon allein innerhalb eines Satzes, oder weniger darauffolgender Sätze auf. 8 Vgl. Matthias Bauer/Joachim Knape/Peter Koch/Susanne Winkler: Dimensionen der Ambiguität, S. 64–65. 9 Laute/Phone werden in der Linguistik in eckigen Klammern [], Graphe/Grapheme in spitzen Klammern , Morpheme in geschwungenen Klammern {}, Signifikanten kursiv dargestellt.
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homonymen Morphemen; wenn ganze Lexeme dieselbe Form haben, von Homonymen (z. B. repräsentiert Bank sowohl eine Sitzgelegenheit als auch ein Geldinstitut). Auf der Satzebene kann es ebenfalls zu syntaktischer bzw. struktureller Ambiguität kommen, wenn eine Phrase oder ein Satz zunächst mehrere Interpretationen zulässt. Hier ist die Unterscheidung zwischen lokaler und globaler Ambiguität wichtig. Während die lokale Ambiguität ein temporäres Phänomen darstellt, das noch mit der Vollständigkeit eines Satzes aufgelöst wird, bleibt für Rezipient:innen von globaler Ambiguität der Deutungsspielraum bis zum Schluss des Satzes offen (vgl. Kap. 2.3). Die lokale Ambiguität beschreibt, dass durch die Fortführung und Beendigung eines Satzes und damit eine Kontextanreicherung eine anfängliche im Satz enthaltene Ambiguität grammatisch geklärt werden kann. Beispiel 1: Es wäre möglich, dass der Film der Studentin {verloren gegangen ist | gefällt}. Deutung 1 von der Studentin als Genitivattribut: Die Studentin hat einen Film besessen [den sie verloren hat]. Deutung 2 von der Studentin als Dativobjekt: Wer Besitzer:in des Films ist, wird in diesem Beispiel nicht ausgedrückt, sondern welches Urteil die Studentin möglicherweise darüber fällen wird [ob er ihr gefällt].
Würde man beim Lesen nach Wortfolge der Film der Studentin abbrechen, ließe sich daraus nicht schließen, in welchem Verhältnis die Studentin zum Film steht. Die Aussage bliebe damit mehrdeutig interpretierbar. Erst die Fortführung des Satzes zeigt dann auf, ob die Wortfolge als syntaktische Einheit oder zwei voneinander getrennte Satzglieder interpretiert werden muss. Kennzeichnend gilt für alle Formen der kompositionellen Ambiguität, dass sie mittels einer grammatischen Analyse spätestens mit dem Satzende aufgelöst werden kann.
2.3
Kontextuelle Ambiguität
Die eben genannten linguistischen Beispiele ließen sich noch beliebig weiterführen, interessant für den angezielten Forschungsgegenstand ethischer Theoriebildung ist jedoch das Phänomen, das ich unter den Begriff der kontextuellen Ambiguität stellen möchte. Sie hat mit den breit gefächerten Einsatz- und Verwendungsmöglichkeiten von Zeichen und Zeichensystemen – der Polyvalenz10 – zu tun. Ambiguität entsteht hier nicht durch den fehlenden, sondern den be10 Unglücklicherweise wird dieser Begriff in der Textlinguistik auch für die Mehrdeutigkeit eines Textes verwendet, weshalb sich hier eine alternative Benennung als Polytextualität anbieten würde.
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stehenden engen Kontext, in dem eine Äußerung getätigt wird. Die Ambiguität ist im sprachlichen Kontext angelegt. Soll diese Form der Ambiguität aufgelöst werden, hilft eine grammatikalische Analyse nur bedingt weiter, denn Klärung wird hier nicht durch linguistische, sondern vor allem durch hermeneutische Verfahren erreicht. Dazu werden dann meist weitere Erklärungen zum konkreten Sachverhalt, z. B. in Form eines mündlichen Dialogs oder einer schriftlichen Erläuterung benötigt. Mit der Polyvalenz (Mehrfachverwendung) geht gleichzeitig auch die Polysemie (Mehrdeutigkeit) einher, die eine Interpretationsvielfalt begünstigt. Auf der Wortebene zeigt sich kontextuelle Ambiguität beispielsweise durch Komposita. Dabei ist die Zusammenstellung zweier Wörter – also der enge kommunikative Kontext – dafür verantwortlich, dass ein Interpretationsspielraum entsteht, nicht aber die Wörter selbst. Beispiel 2: Gottesliebe Deutung 1: Die Liebe zu Gott (genetivus objectivus) Deutung 2: Die Liebe von Gott (genetivus subjectivus)
In Bezug auf die Satzsemantik wurde bereits die lokale Ambiguität erläutert, deren Auflösung noch im selben Satz möglich wird. Bei der globalen Ambiguität kann der engere Kontext der Klärung nicht dienen. Vielmehr entsteht die Ambiguität erst durch die spezielle Konstruktion der kommunikativen Äußerung. So kann folgender Satz doppelt gedeutet werden: Beispiel 3: Alexandra holte ihr Kind mit dem Fahrrad ein. Deutung 1: Alexandra saß auf dem Fahrrad. Deutung 2: Das Kind saß auf dem Fahrrad.
Zur globalen Ambiguität gehören auch Fälle ambiger Deixis11, bei denen man aus dem linguistischen Zusammenhang nicht eruieren kann, worauf sich ein Wort oder eine Wortfolge bezieht. Erst der weitere Kontext kann zu einer Klärung der Aussage beitragen. Beispiel 4: Die Sonne schien auf ihre helle Haut. Sie strahlte. Deutung 1: Die Sonne strahlte. Deutung 2: Die Haut strahlte (im übertragenen Sinn). Deutung 3: Eine weibliche Person lächelt (im übertragenen Sinn).
11 Darunter versteht man in der Linguistik die hinweisende Funktion von sprachlichen Äußerungen in einem kommunikativen Kontext. Hierzu zählen beispielsweise Pronomen (z. B. sie, dies, jener …) oder Adverbien (z. B. hier, nachher).
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Allen unter diesem Stichwort angeführten Ambiguitätsphänomenen ist gemein, dass sie sich nicht einfach satzimmanent auflösen, sondern mehr Kontext und hermeneutische Verfahren benötigen. Noch breitere Deutungsoptionen ergeben sich schließlich bei Diskursen und Texten, die durch die hermeneutische Interpretation erst in einen gewissen Sinnzusammenhang gestellt werden müssen. Für die Linguistik wäre eine solche unerschöpfliche Bedeutungsfülle kaum zu bewältigen, weswegen ab einer gewissen Text- oder Diskurslänge andere Methoden und damit eine andere Disziplin in Anwendung geraten. Dem Phänomen verschiedener Lesarten widmet sich daher die Literaturwissenschaft und nicht die Linguistik. Die Linguistik bringt jedoch soziopragmatische Einsichten ein, die sich die Literaturwissenschaft zunutze machen kann.
2.4
Kommunikative Ambiguität
»Da die Auflösung der Ambiguität […] systemimmanent nicht immer möglich ist«12, schließen sich notwendigerweise pragmatische Überlegungen an, welche die sprachlichen, situativen, sozialen, psychologischen, kognitiven, und viele weiteren Kommunikationsbedingungen einschließen. Es reicht daher nicht aus, die Grammatik und Semantik einer Sprache zu beherrschen, sondern darüber hinaus müssen Sprecher:innen auch eine sprachpragmatische Kompetenz erwerben. Leitend für die Pragmalinguistik gilt daher: »Der Sinn einer Äußerung besteht nicht nur in der Summierung ihrer Wortbedeutungen.«13 Unter kommunikative Ambiguität möchte ich damit alle Mehrdeutigkeitsphänomene fassen, die durch kommunikationspragmatische Umstände und nicht zuvorderst durch grammatische oder enge sprachliche Kontexte zustande kommen. Komplexe Kommunikationsmodelle wie jenes des österreichischen Sprachwissenschaftlers Peter Ernst machen anschaulich, dass für die Vermittlung sprachlicher Inhalte zumindest eine partielle Übereinstimmung der Vorstellung (V), Kodierung (Kod) und Dekodierung (Dekod) einer sprachlichen Mitteilung der miteinander Kommunizierenden notwendig ist. Beeinflusst wird ein Kommunikationsgeschehen jedoch außerdem von Faktoren wie dem Emotionalbereich (Em), der sozialen Sprachschicht (S), unterschiedlichen Konnotaten (Kn) und Erfahrungshorizonten (E). Nicht zu vernachlässigen sind neben den an die Kommunizierenden gebundenen Faktoren auch Störungsmöglichkeiten (St) – etwa durch laute Nebengeräusche, unleserliche Schrift, körperliche Beeinträchtigungen u.v.m. – und verschiedene Redekonstellationen und sozialen Normen, 12 Matthias Bauer/Joachim Knape/Peter Koch/Susanne Winkler: Dimensionen der Ambiguität, S. 54. 13 Peter Ernst: Pragmalinguistik, S. 3.
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die mit einer Kommunikationshandlung einhergehen. Bezieht man hierin auch noch subjektphilosophische Überlegungen mit ein, dürfte deutlich werden, dass Mitgeteiltes und Verstandenes niemals deckungsgleich sein können, eine Mitteilung immer ein mehr oder weniger großes Ambiguitätsspektrum aufweist. Zur Veranschaulichung soll dieses Kommunikationsmodell hier abgebildet werden:
Abbildung 1: Kommunikationsmodell nach Peter Ernst14
Um nur drei konkretisierende Beispiele zu nennen, beginne ich mit dem Bereich der Kommunikationsstörung. Diese muss nicht einmal unbedingt technischer Natur sein, sondern ist allein schon in der unterschiedlichen Phonetik der vielen existierenden Sprachen angelegt. Da Phonemen die zentrale Funktion einer Bedeutungsunterscheidung zukommt, ist ihre Beherrschung je nach Sprache zentral. Diese Bedeutungsunterscheidung wird aber kulturell bedingt nicht allen
14 Peter Ernst: Einführung in die synchrone Sprachwissenschaft, Wien 1999, Kap. 4, S. 7. [Das Werk folgt einer eigenen Paginierung in einer Kombination von Kapiteln und Seitenzahlen].
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Menschen gleichermaßen mitgegeben. So haben etwa Fremdsprachenlerner: innen aus dem chinesischen Sprachraum Schwierigkeiten, wenn sie sich die deutsche Unterscheidung von Liquiden aneignen müssen, die in ihrer eigenen Sprache irrelevant ist (z. B. Reise [ˈraɪ̯ zə], leise [ˈlaɪ̯ zə]). Eine undeutliche Aussprache kann hier je nach Situation zu Ambiguität führen. Gleichermaßen sind aber alle Sprecher:innen darauf trainiert, mit vielgestaltigen Lautäußerungen umzugehen. Als zweites Beispiel soll die Ambiguität durch soziale Normen erläutert werden: Bewusste Ambiguisierungen wirken auf Kommunikationsbedingungen und damit soziale Beziehungsgefüge zurück, weshalb nicht wenige feministische Theorien dem performativen Charakter von Kommunikationshandlungen einen großen Stellenwert für politische Zwecke einräumen.15 Die US-amerikanische Philosophin Judith Butler sieht in der Resignifizierung16, also der intendierten Transformation eines Bedeutungsgehaltes durch Wiederholung in nicht-konventioneller Form, eine Methode, gegen Heteronormativität vorzugehen. Beispielsweise gestaltet sich derzeit die Suche nach angemessenen Anredeformeln komplex, da die Selbstverständlichkeit, das generische Maskulinum zu verwenden, geschwunden ist. Sprachliche Neuerungen wie das Gendern17 haben zu starken Verunsicherungen, aber auch Widerständen geführt. Damit offenbart sich der enge Konnex von Sprache und Politik, denn je nach Redekonstellation (Öffentlichkeitscharakter, Vorbereitetheit, Anzahl der Kommunizierenden, usw.) führt der Verstoß gegen das Gendern zu interpretativen, sozialen oder gar politischen Konflikten. Je stärker das Gendern sprachpragmatisch und sprachpolitisch formalisiert ist, desto weniger Ambiguität weist eine Begrüßung wie »Sehr geehrte Bürger!« auf. Wäre eine geschlechterinklusive Anrede bereits Standard, 15 So bezieht sich etwa Butlers Identitätskritik auf sprachphilosophische Betrachtungen im Anschluss an Derrida. Da Zeichen nur in einem Verweissystem funktionieren, sind universelle oder spezielle Zuweisungen eines Zeichens zu einem Gehalt nicht möglich. Identitätskategorien haben damit einen normativen und ausschließenden Charakter. Vgl. Katja Sabisch: Poststrukturalismus. Geschlechterforschung und das Denken der Differenz, in: Handbuch interdisziplinäre Geschlechterforschung. Hrsg. v. Beate Kortendiek/Birgit Riegraf/ Katja Sabisch, Wiesbaden 2017, S. 1–10, S. 4. 16 Vgl. Judith Butler: Haß spricht. Zur Politik des Performativen, Frankfurt am Main 4. Aufl. 2013, S. 229. 17 Vgl. hierzu die aktuell massive Auseinandersetzung mit dem Gendern im Bereich der Wissenschaft, sozialen Medien und Politik, auf die hier nur exemplarisch verwiesen werden kann: Marie Busse: Reizthema im Wahlkampf. Mehrheit der Deutschen will Gendern in staatlichen Stellen verbieten. 27. Mai 2021, URL: https://www.shz.de/deutschland-welt/politik /Haelfte-der-Deutschen-befuerwortet-Genderverbot-in-Behoerden-id32377232.html abgerufen am 27. Mai 2021; Stefanie Eisenreich: Gendern oder nicht gendern? Das ist hier die Frage! 2018, URL: https://www.goethe.de/ins/fr/de/kul/dos/fem/21331398.html abgerufen am 27. Mai 2021.; Armin Wolf: Ist Gendern der »Tod der Sprache«? Spoiler: Nein. 11. März 2021, URL: https://www.arminwolf.at/2021/03/11/ist-gendern-tod-sprache/ abgerufen am 27. Mai 2021.
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würde »Sehr geehrte Bürger!« tatsächlich und ausschließlich nur Männer begrüßen. Als drittes Beispiel möchte ich kommunikative Ambiguitäten anführen, die sich aus unterschiedlichen Präsuppositionen (also durch Weltwissen und Erfahrung bedingte Vorannahmen) ergeben. Sie bestimmen darüber, welche Konnotate – Nebenbedeutungen – eine Äußerung erhält. Würde man zwei Personen darum bitten, den Begriff Christentum zu definieren und dann im äußerst unwahrscheinlichen Fall feststellen, dass ihre Definition im Wortlaut vollständig miteinander übereinstimmt, hieße das noch nicht, dass diese Definition für die zwei Personen die gleichen Konnotationen besitzt. Die Unterschiedlichkeit wird noch einmal verstärkt, wenn Sprecher:innen keinen gemeinsamen Kultur- oder Lebensraum teilen, wie besonders die synchrone Sprachinselforschung verdeutlicht. Personen können dann zwar bestimmte Grundannahmen teilen, weisen in der Deutung ihrer Definition aber ein ambiges Bedeutungsspektrum auf, da mit jedem Wort subjektiv unterschiedliche Erfahrungshorizonte mitschwingen. Um das Wort Christentum zu definieren, würde man sich vermutlich des Begriffes Religion bedienen, der aber seinerseits vielfältig konnotiert werden kann, usw. Dementsprechend kann es auch zu eklatanten Unterschieden in der alltagssprachlichen und wissenschaftlichen Verwendung eines Begriffes kommen (z. B. Laie ugs. für eine Person mit wenig Fachkenntnissen, theol. für nicht geistliche Christ:innen). Kommunikative Ambiguität ist die Manifestation dessen, dass Subjekte zwischenmenschliche Kommunikation mit ihren jeweiligen Vorannahmen, Erfahrungen und Prägungen anreichern. Da kein Subjekt dem anderen gleicht, ist auch das, was sie produktiv in die Kommunikation einbringen, notwendigerweise plural. Wie aber – könnte man sich daran anschließend fragen – ist dann eigentlich überhaupt noch Kommunikation möglich? Eben dadurch, dass durch die enorme Vielfalt in gleichem Maße wie Bedeutungsunterscheidungen auch Bedeutungsüberschneidungen stattfinden. Ähnliche Erfahrungen werden begrifflich zusammengefasst, unähnliche Erfahrungen werden begrifflich voneinander unterschieden. Konnotate werden zugunsten von Überbegriffen abgeschwächt, oder aber bewusst hervorgehoben, um einen dazugehörigen Unterbegriff damit in Verbindung zu bringen. Kommunikation fußt maßgeblich auf dem dynamischen Wechselspiel von sich überlappenden Bedeutungen, an dem Sprecher:innen aktiv und passiv beteiligt sind. Freilich beschränkt sich diese Form der Ambiguität nicht allein auf einzelne Begriffe, sondern umfasst komplexe Kommunikationsbedingungen allgemein. So wird deutlich, »dass Sprecher und Hörer nicht nur ständig damit beschäftigt sind, Äußerungen zu disambiguieren, sondern dass Sprecher auch laufend aus pragmatischen Erwägungen
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heraus neue Ambiguitäten in die Welt setzen«18, um sich verständlich zu machen. Folglich muss man, um eine nicht-christliche Person in das symbolische Gedankengut des Christentums einzuführen, die Engführung theologischer Begriffe und ihre Eindeutigkeit im Sinne des wechselseitigen Verständnisses sprachlich ausweiten (etwa durch Metaphern, Umschreibungen, Metonymien, etc.), damit eine partielle Überschneidung von Kode und Dekodierung stattfinden kann. Die Ambiguität des Begriffes Christentum wird damit zur konstitutiven Voraussetzung dafür, dass er sich überhaupt beschreiben lässt. Auch wenn es sich in diesem Beitrag nur um eine überblickshafte Analyse der linguistischen Befunde handelt, wird doch deutlich, dass Ambiguität konstitutiver Bestandteil menschlicher Kommunikationshandlungen ist. Kommunikation stellt damit eine Form sprachlicher Kontingenzbewältigung dar: Die in der Sprache angelegte Ambiguität ist zugleich Konstitutionsgrund wie auch Möglichkeitsbedingung von gelingender Kommunikation, weil sie Interpretationsleistungen und Verständigungsprozesse anregen.19 Dass bestimmte Zeichen eine allgemeine Bedeutung besitzen, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese subjektiv je unterschiedlich konnotiert sind und aus sozialpolitischen Gründen auch immer wieder neu konnotiert werden können. Im Folgenden soll aufgezeigt werden, in welchem Zusammenhang linguistische Erkenntnisse eine Rolle für ethische Urteilsbildungen haben.
3
Ambiguität in der Ethik
Die Forderung, die Ambiguität des Denkens in der ethischen Urteilsbildung zuzulassen, ist nicht neu. Vor allem aber seit dem Poststrukturalismus, der in zeitlicher und inhaltlicher Verbindung zum linguistic turn und semiotic turn steht, ist die Tendenz zu klaren und eindeutigen Antworten auf ethische Fragestellungen scharfer Kritik ausgesetzt. Da eine metaphysische Normenorientierung angesichts der zunehmenden Pluralisierung und Globalisierung im 20. Jahrhundert immer schwieriger wird, plädieren diese Ansätze für eine metaethische Reflexion ethischer Prämissen20 und damit für eine dünne Moral, welche mehr Gewicht auf individuelle statt strukturelle Aushandlungsprozesse in ethischen Fragen legt, gleichzeitig aber auch zu einer höheren moralischen
18 Matthias Bauer/Joachim Knape/Peter Koch/Susanne Winkler: Dimensionen der Ambiguität, S. 59. 19 Vgl. Frauke Berndt/Klaus Sachs-Hombach: Dimensions of Constitutive Ambiguity, S. 272. 20 Vgl. Wolfgang Barz/Thomas Grundmann/Albert Newen/Christian Nimtz: Das Ende des »linguistic turn«? Stellungnahmen von Wolfgang Barz, Thomas Grundmann, Albert Newen und Christian Nimtz, in: Stellungnahmen, 4 (2016), S. 28–38, S. 28.
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Verantwortung von Einzelpersonen führt.21 Dem praktischen Anspruch einer Ethik kann aber schnell das Gefühl der Überforderung nacheilen, wenn das Ambiguitätsdenken in poststrukturalistische Ethiktheorien nicht systematisch eingebunden wird. Mir scheint es daher für folgende Überlegungen notwendig, den Begriff der Ambiguitätstoleranz als kriteriologischen Maßstab für die ethische Theoriebildung einzuführen (vgl. Kap. 4), um daran aufzeigen zu können, dass der kommunikative Prozess ethischer Urteilsbildung gleichermaßen formal auf Ambiguität angewiesen wie auch material mit ihr konfrontiert ist. Dieses Kapitel beschäftigt sich zunächst mit den Grundlagen einer existenzialistischen Ethik der Ambiguität bei Simone de Beauvoir. Anschließend sollen die Einflüsse des Dekonstruktivismus und Poststrukturalismus von Jacques Derrida als sprachphilosophische Wegbereiter des Ambiguitätsdenkens in der Postmoderne skizziert werden. Das dritte Unterkapitel zeichnet die Entwicklung einer poststrukturalistischen Ethik nach dem linguistic turn am Beispiel von Judith Butler nach, welche das Denken der Ambiguität für eine dynamische Ethik voraussetzt. Abschließend werden die Ergebnisse des moralphilosophischen Befundes zusammengefasst.
3.1
De Beauvoirs Plädoyer für eine ambiguitätstolerante Ethik
Zeitnah zum Strukturalismus entwickelt sich auch in der Philosophie eine Strömung, welche nun nicht mit den Mannigfaltigkeiten an kommunikativen Deutungen, sondern mit der Ambiguität von kontingenten Sinn- und Weltdeutungen umzugehen versucht: der Existenzialismus. Anders aber als die linguistische Theorie entwickelt er kein vergleichbares strukturelles Äquivalent, sondern versucht die Ambiguität der Existenz im Subjekt zu zentrieren. Die Last der moralischen Verantwortung, die Sartre ausschließlich an das einzelne Subjekt bindet, evoziert »die Frage, ob eine Emanzipation der Gesellschaft überhaupt möglich sei, die Frage nach den Grenzen der Autonomie des Subjekts und der subjektiven Freiheit, nach der Vermittelbarkeit von Universalität (von lat. universalis, allgemein) und Singularität (von lat. singularis, einzeln, einzig).«22 Eine 21 Vgl. Wesley J. Wildman: The ambiguous heritage and perpetual promise of liberal theology, in: American Journal of Theology & Philosophy, 32/1 (2011), S. 43–61, S. 49. Gleichzeitig wird mit der Einsicht des linguistic turn das epistemologische Fundament für weitere philosophische Strömungen wie etwa dem postcolonial, cultural oder corporeal turn gelegt, welche eben nicht nur kommunikative, sondern auch kolonialpolitische, kulturelle oder körperliche Möglichkeitsbedingungen ethischer Reflexion einbeziehen. Inwieweit der linguistic turn zum epistemologischen Wegbereiter der ihm zeitlich nachfolgenden turns bezeichnet werden kann, wäre nähere Untersuchungen wert. 22 Thomas Seibert: Existenzialismus, Hamburg 2000, S. 75.
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Vereinnahmung dieser Spannungen im singularen Universalen wie es Sartre noch andenkt, kommt für Poststrukturalist:innen allerdings nicht mehr in Frage. Damit stellt sich »der ungeheure Anspruch der Verantwortung, den Sartre gegenüber dem Einzelnen erhebt, als letzte große Hybris des abendländischen Subjekts […]«23 heraus. Die Brücke für das Denken der Ambiguität bietet also nicht der Existenzialismus Sartres, sondern der phänomenologische Existenzialismus de Beauvoirs, deren langjährige Bekanntschaft mit Maurice MerlauPonty – »›le philosophe de l’ambiguïté‹«24 – eigene Früchte trägt.25 Selbst wenn de Beauvoir ihr philosophisches Schaffen vornehmlich als literarisches begriffen und in den Schatten von Sartre gestellt hat26, ist es ihr zu verdanken, dass der Ambiguitätsbegriff erstmals explizit in die Ethik Eingang findet, wenngleich er konzeptuell bis heute noch keine Anknüpfungspunkte kennt. Ambiguität ist für sie nicht nur eine analytische Kategorie, sondern ein subjektphilosophisches Konstitutivum für ethische Haltungen. In dem wenig bekannten Essay Pour une morale de l’ambiguïté27 von 1947 schreibt sie: »Seit es Menschen gibt und sie leben, haben sie alle diese tragische Ambiguität ihrer Kondition erfahren; aber seit es Philosophen gibt und sie denken, hat die Mehrheit versucht, sie zu verbergen. Sie haben versucht, den Geist auf die Materie zu reduzieren, oder die Materie im Geist aufzuheben, oder sie zu einer einzigen Substanz zu verschmelzen; diejenigen, die den Dualismus akzeptiert haben, haben eine Hierarchie zwischen Körper und Seele etabliert, die es erlaubte, den Teil von sich selbst, der nicht gerettet werden konnte, als vernachlässigbar zu betrachten. Sie leugneten den Tod, indem sie ihn entweder in das Leben integrierten oder dem Menschen Unsterblichkeit versprachen; sie leugneten aber auch das Leben, indem sie es als einen Schleier der
23 Hans-Martin Schönherr-Mann: Postmoderne Perspektiven des Ethischen. Politische Streitkultur, Gelassenheit, Existentialismus, München 1997, S. 167. 24 Vgl. Denis Boisseau: Merleau-Ponty et l’ambiguïté. Philosophie française, in: Les études philosophiques (1992), S. 229–243, S. 229. 25 Da das Subjekt nicht länger als autarkes Wesen bestimmt werden kann, suchen phänomenologische Strömungen des Existenzialismus Auswegen aus den finalisierenden Systematiken und Ontologien. Eine Lösungsvariante dafür bietet Maurice Merlau-Ponty mit seinem Denken der Ambiguität. Der Mensch als schwebende Existenz zwischen Tod und Leben, Freiheit und Kontingenz, Körper und Geist, ist zentral auf ein Denken verwiesen, dass seine Existenz nicht auf eine der beiden Pole beschränkt, sondern bereit ist, beides zu integrieren. Ambiguität als erkenntnistheoretischer Schlüssel stellt die Philosophie vor die gewaltige Herausforderung, die allen Systematisierungsversuchen entgegenstehende Paradoxie des Sowohl-Als-Auch anzudenken. Dabei geht es Merleau-Ponty nicht um eine Auflösung bzw. Bedeutungsverschiebung des Einen in das Andere, sondern um das konkurrenzlose und unausweichliche Nebeneinander von Deutungen. Vgl. Denis Boisseau: Merleau-Ponty et l’ambiguïté, S. 233. 26 Vgl. Christine Daigle: Beauvoir. Réception d’une philosophie, in: Horizons philosophiques, 16/ 2 (2006), S. 61–77, S. 65. 27 Simone de Beauvoir: Pour une morale de l’ambiguïté. Suivi de Pyrrhus et Cinéas, Paris 2003, [1947].
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Illusion betrachteten, unter dem die Wahrheit des Nirvana verborgen ist. Und die Moral, die sie ihren Schülern vermittelten, verfolgte immer dasselbe Ziel: Die Ambiguität zu beseitigen, indem sie sich zu reiner Innerlichkeit oder reiner Äußerlichkeit machten, der sinnlichen Welt entflohen oder von ihr verschlungen wurden, im Zugehen auf die Ewigkeit oder im Einschluss ihrer selbst im reinen Augenblick.«28 [Übers. d. Autorin]
Der Existenzialismus ist für de Beauvoir die Philosophie der Ambiguität schlechthin, weil sich der Mensch nur als konkrete Existenz realisiert. In diese Existenz ist allerdings immer auch die Absurdität des Daseins eingeschlossen, die den Menschen begrenzt und gefangen hält. Die Suche nach Sinn in der Konfrontation mit der Absurdität und dem Scheitern des Menschen sind es aber, welche die Moralität erst eröffnen: »Die Existenz für absurd zu erklären, kommt der Leugnung gleich, dass sie sich selbst einen Sinn geben kann; zu sagen, dass sie ambig ist, postuliert dagegen, dass der Sinn niemals festgelegt ist, dass er unablässig erobert werden muss.«29 [Übers. d. Autorin] Unter dem Leitsatz »sans échec, pas de moral«30 entwickelt sie eine ambiguitätssensible Subjektphilosophie, welche die Sinnfrage des Menschen nicht an seiner Nützlichkeit oder Freude am Leben bemisst, sondern am Willen zum Leben zu den jeweiligen Bedingungen.31 Insofern stimmen sowohl der Wille, das Leben frei entfalten zu können, als auch der Wille zur Moralität miteinander überein.32 Damit zieht sie auch eine Grenze zur Freiheitsauffassung des Subjekts von Sartre. Während Sartre dem Subjekt absolute Freiheit zugesteht, bindet de Beauvoir sie an die Kontingenz – sprich, die nicht notwendigen aber möglichen Existenzbedingungen – des Menschen zurück. Gerade dieser Bruch mit ihm erlaubt ihr die Entwicklung einer ambiguitätstoleranten Ethik33, welche das Alteritätsdenken 28 Simone de Beauvoir: Pour une morale de l’ambiguïté, S. 12. Vgl. Originaltext: »Depuis qu’il y a des hommes et qu’ils vivent, ils ont tous éprouvé cette tragique ambiguïté de leur condition; mais depuis qu’il y a des philosophes et qu’ils pensent, la plupart ont essayé de la masquer. Ils se sont efforcés de réduire l’esprit à la matière, ou de résorber la matière dans l’esprit, ou de les confondre au sein d’une substance unique; ceux qui ont accepté le dualisme ont établi entre le corps et l’âme un hiérarchie qui permettait de considérer comme négligeable la partie de soimême qu’on ne pouvait pas sauver. Ils ont nié la mort soit en l’intégrant à la vie, soit en promettant à l’homme l’immortalité; ou encore ils ont nié la vie, la considérant comme un voile d’illusion sous lequel se cache la vérité du Nirvâna. Et la morale qu’ils proposaient à leurs disciples poursuivait toujours le même but: il s’agissait de supprimer l’ambiguïté en se faisant pure intériorité ou pure extériorité, en s’évadant du monde sensible ou en s’y engloutissant, en accédant à l’éternité ou en s’enfermant dans l’instant pur.« 29 Simone de Beauvoir: Pour une morale de l’ambiguïté, S. 160. Vgl. Originaltext: »Déclarer l’existence absurde, c’est nier qu’elle puisse se donner un sens; dire qu’elle est ambiguë, c’est poser que le sens n’est jamais fixé, qu’il doit sans cesse se conquérir.« 30 Simone de Beauvoir: Pour une morale de l’ambiguïté, S. 15. 31 Vgl. Simone de Beauvoir: Pour une morale de l’ambiguïté, S. 14–16. 32 Vgl. Simone de Beauvoir: Pour une morale de l’ambiguïté, S. 32. 33 Vgl. Christine Daigle: Beauvoir, S. 68.
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qualitativ neu bewertet: Die Freiheit des Anderen ist nicht nur ein Faktum, mit dem man lernen muss, zu leben, sondern die Freiheit des Anderen ist für die eigene Existenz konstitutiv und wesentlich. De Beauvoirs Ethik hat damit den Anspruch, »sich gegen die totalitären Doktrinen, die das Trugbild der Humanität jenseits des Menschen errichten«34 [Übers. d. Autorin] zu stellen. Mit ihrem Denken steht de Beauvoir also an der Schwelle zur Postmoderne. Die für diese Zeit prägende Reflexion von Kommunikation und Sprache als Möglichkeitsbedingung ethischer Urteilsbildung nehmen bei ihr jedoch noch keinen besonderen Stellenwert ein. Da der linguistic turn erst nach der Hochphase des Existenzialismus erstarkt, fehlen bei de Beauvoir allerdings grundlagentheoretische Reflexionen, das Ambiguitätsdenken in die ethische Theoriebildung zu integrieren. Dieses Versäumnis holen schließlich dekonstruktivistische und poststrukturalistische Ethiktheorien nach. Philosophiegeschichtlich scheint auch plausibel, dass sich eine vertiefte Reflexion kommunikativer Ambiguität und deren Einfluss auf die Ethik erst nach dem linguistic turn einstellen kann.
3.2
Zwischen Einheit und Differenz: Einflüsse des linguistic turn auf die ethische Theoriebildung
In Anlehnung an Jacques Derridas Dekonstruktivismus werden Sprache wie Schrift als immanente Zirkulation eines nie endenden Verweisspiels verstanden, das eine Bedeutungsvielfalt hervorruft. Demnach tritt – wie bereits unter Kap. 2 erläutert – der Fall vollständiger Kongruenz zwischen Signifikat und Signifikant (Gehalt und Gestalt) nie ein.35 Der Philosoph übt damit vehemente Kritik an der klassischen Hermeneutik, deren Aufgabe hauptsächlich darin bestimmt wurde, den einen wahren Sinn aus einem Text zu extrahieren. »Seine Suche nach Differenzen, Inkohärenzen, Widersprüchen in zumeist kanonischen Texten läuft auf die Entgrenzung des Sinns hinaus. Keine Lesart ist richtig; kein {Sprachspiel} kann beanspruchen, das letzte Wort zu haben. Mit dem Kunstwort ›différance‹ bezeichnet Derrida Prozesse endloser Sinnverschiebung, die nicht zum Stillstand kommen, keinen Fixpunkt kennen.«36
In der Konsequenz dieser différance steht der Poststrukturalismus in der Kritik, er würde die Literaturwissenschaft als Disziplin auflösen, weil die Hermeneutik und 34 Vgl. Simone de Beauvoir: Pour une morale de l’ambiguïté, S. 193. 35 Vgl. Sabina Becker: Literatur- und Kulturwissenschaften. Ihre Methoden und Theorien, Reinbek bei Hamburg 2007, S. 134. 36 Jens Dreisbach: Postmoderne, in: Lexikon der Geisteswissenschaften. Hrsg. v. Helmut Reinalter/Peter J. Brenner, Wien 2011, S. 631–638, S. 636.
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das logozentrische wie interpretatorische Denken konsequent negiert würden. Vollständig konnte sich dekonstruktivistisches Denken in der Literaturwissenschaft daher nie durchsetzen,37 und auch Ethiktheorien hegen Vorbehalte, obwohl man sich spätestens seit Derrida allmählich auch die Einsicht zunutze macht, dass sich Ambiguität – meist im negativen Sinne – in der Ethik nicht vermeiden lässt.38 Mit dem linguistic turn im 20. Jahrhundert wird die Notwendigkeit metaethischer Reflexion ethischer Prämissen und die Überwindung des »methodischen Solipsismus«39 eingeleitet. Von den 1950ern an bis zum Ende der 1980er wird die Sprachphilosophie zur »Leitdisziplin der theoretischen Gegenwartsphilosophie«40. Danach versteht man sie als Teildisziplin neben anderen philosophischen Paradigmen, die nun auch kognitive, epistemische und kommunikative Funktionen von Sprache und deren konstitutive Verschränkung mit dem Ethischen und Politischen in die philosophischen Reflexionen einbeziehen.41 Die Anstöße dazu kommen jedoch nicht aus der analytisch geprägten Sprachphilosophie selbst, »sondern vielmehr aus der Sozialphilosophie, der Politischen Philosophie sowie der feministischen Philosophie und Gendertheorie«42. Die Ablösung des linguistic turn durch den cultural turn oder postcolonial turn schmälert dessen Verdienst aber nicht. Metaethische Fragestellungen behalten weiterhin ihr Gewicht und besonders »semantische Einsichten bleiben eine wichtige Inspirationsquelle für philosophische Theorieentwürfe«43. Im 21. Jahrhundert schließlich, knüpft man unter den breit gefächerten Stichworten wie etwa der Normativität des Scheiterns44, der Unschärfe in der 37 Vgl. Sabina Becker: Literatur- und Kulturwissenschaften, S. 137. Gleichwohl war er fruchtbar für die Entwicklung neuer Literaturtheorien wie etwa jener der Rezeptions- und Wirkungsästhetik und dem Begriff der Leerstelle von Wolfang Iser. Vgl. Wolfgang Iser: Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung, München 4. Aufl. 1994. 38 Vgl. Sabine Salloch: Unschärfe in der Ethik und der Spielraum praktischer Urteilskraft, in: Unschärfe. Hrsg. v. Steffen Freitag/Michaela Geierhos/Rozbeh Asmani/Judith I. Haug, Paderborn 2018, S. 41–52, S. 47. 39 Wolfgang Barz/Thomas Grundmann/Albert Newen/Christian Nimtz: Das Ende des »linguistic turn«?, S. 33. 40 Wolfgang Barz/Thomas Grundmann/Albert Newen/Christian Nimtz: Das Ende des »linguistic turn«?, S. 30. 41 Vgl. Gerald Posselt/Sergej Seitz: Einleitung: Sprache – Ethik – Politik. Normative Dimensionen der Rede, in: ZfPP, 6/1 (2019), S. 145–160, S. 146. 42 Gerald Posselt/Sergej Seitz: Einleitung: Sprache – Ethik – Politik, S. 146. 43 Wolfgang Barz/Thomas Grundmann/Albert Newen/Christian Nimtz: Das Ende des »linguistic turn«?, S. 35. 44 Vgl. Kasra Seirafi: Normativität des Scheiterns. Die Grundlagen des Ethischen bei Judith Butler, Saarbrücken 2010. In eine ähnliche Richtung gehen auch die Überlegungen Bernward Kohls in Bezug auf die für Anerkennung vorausgesetzte Vulnerabilität: Vgl. Bernhard Kohl: Die Anerkennung des Verletzbaren. Eine Rekonstruktion der negativen Hermeneutik der Gottebenbildlichkeit aus den Anerkennungstheorien Judith Butlers und Axel Honneths und der Theologie Edward Schillebeeckx’, Würzburg 2017.
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Ethik45 oder der Ungewissheit in der ethischen Urteilsbildung46 an die geisteswissenschaftlichen Diskurse an, die sich kritisch von dialektischen Verfahren und Synthesen absetzen.47 Ethische Imperative, sofern überhaupt noch welche formuliert werden, »verbleiben daher notwendigerweise im Unscharfen, Vagen, sind erklärungs- und interpretationsbedürftig, müssen auf den jeweiligen Einzelfall hin angepaßt werden […]«48. Ein konsequentes Ambiguitätsdenken zeichnet sich hier allerdings ebenfalls nicht ab, denn Ambiguität wird nicht als Konstitutionsgrund ethischer Theoriebildung überhaupt anerkannt, sondern ihr wird nur zugestanden, moralische Verantwortung und ethische Theoriebildung einzuschränken. Dabei würde gerade die Ethik der poststrukturalistischen Denkerin Judith Butler Anknüpfungspunkte für eine ambiguitätstolerante Ethik bieten.
3.3
Dekonstruktivistische Dilemmata: Judith Butlers Vorrang der Rhetorik vor der Ethik
Die US-amerikanische Philosophin positioniert sich gegen die Forderung nach der Universalisierbarkeit ethischer Urteile. Für sie gestaltet sich das Denken ethischer Ambiguität als dynamischer Prozess, da die »Artikulation des Universalen […] gerade dann [beginnt], wenn seine bestehende Formulierung angefochten wird«49 und zwar von denen, die im Begriff des Universalen noch nicht enthalten sind. »In diesem Sinn bilden die Ausgeschlossenen die kontingente Grenze der Universalisierung«50 und die Praxis definitiver Urteile51 erweist sich im Namen der Universalität als hermeneutische Illusion, welche die Suche nach ethischer Wahrheit nicht aufgeben will. Eine universale Ethik und damit eine universale Bestimmungen des Guten, fasst man mit Butler zusammen, kann es nicht geben. So stellt sie die Vermutung an, dass die inhaltliche Bestimmung dessen, was gut und richtig ist, nur aus einem offenen Spannungsverhältnis 45 Vgl. Sabine Salloch: Unschärfe in der Ethik und der Spielraum praktischer Urteilskraft. 46 Vgl. Julia Dietrich: Ungewissheit in der ethischen Urteilsbildung. Ein Überblick, in: Negativität und Orientierung. Hrsg. v. Philipp Thomas/Andreas Benk, Würzburg 2008, S. 65–77. 47 Vgl. Frauke Berndt/Klaus Sachs-Hombach: Dimensions of Constitutive Ambiguity, S. 274. 48 Hans-Martin Schönherr-Mann: Postmoderne Perspektiven des Ethischen, S. 35. 49 Judith Butler: Haß spricht, S. 143. 50 Judith Butler: Haß spricht, S. 143. 51 Vgl. Judith Butler: Die Macht der Geschlechternormen und die Grenzen des Menschlichen, Frankfurt am Main 2. Aufl. 2012, S. 116. Das Fazit Butlers zu David Reimer führt etwa nicht dazu, ein wahres oder falsches Geschlecht zu bestimmen, auch nicht dazu, die Frage zu stellen, ob es nicht besser gewesen wäre, man hätte David als Mann operiert. Viel entscheidender ist für Butler hier, dass sie sich nicht anmaßt, ein Urteil aussprechen zu können, denn sie zweifelt daran, dieser Frage je gerecht werden zu können. Vielmehr folgert sie, dass es möglicherweise in bestimmten Situationen mehr Zeit und Reflexion braucht.
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gegenüber diesen grundlegenden Kategorien zu suchen ist.52 In dieser Weise fordere die Ethik von den Menschen ein, ihr Unwissen Preis zu geben, wenn ihnen Verhältnisse begegnen, die ihren bisherigen Prägungen und Erfahrungen fremd sind. Das Subjekt, das sich in diesem Moment der Preisgabe mit all seinen Prägungen und Erfahrungen als Einheit auflöst, hat jedoch die Chance, sich durch die ethische Herausforderung neu, wenn auch unter schmerzvollen Prozessen, zu sammeln. So schreibt Butler: »Von einem anderen aufgelöst zu werden, ist eine Urnotwendigkeit, es ist natürlich eine Qual, aber auch eine Chance: die Chance, angesprochen, gefordert zu werden, an das gebunden zu werden, was man nicht selbst ist – aber auch bewegt, zum Handeln, zu unseren eigenen, wieder anderen geltenden Anreden veranlasst zu werden und so das selbstgenügsame, als Besitz verstandene ›Ich‹ hinter sich zu lassen.«53
Gefährlich seien dagegen jene Urteile, die eine reine, unvermittelte und kontextlose Beziehung zum Guten oder Richtigen durch die Vernunft voraussetzen. Vielmehr gelte es, Bedeutungskontinuität und Bedeutungsbruch in der Schwebe zu halten, um weiterhin handlungsfähig zu sein. Unter dem Anliegen einer gewaltfreien Ethik als »Vorrang der Rhetorik vor der Ethik«54 kommt sie zu der Überzeugung, dass die »Mehrdeutigkeit [equivocity] der Äußerung zur Konsequenz [hat], daß ihre Bedeutung in einer wichtigen Hinsicht umgelenkt oder ausgehebelt werden kann«55. In dieser »mangelnden Finalität«56 sieht Butler allerdings nicht ein Manko, sondern einen positiven Gewinn für ethische Urteile, da diese wie ihre Vertreter:innen dadurch fortlaufend für kritische Anfragen anfechtbar bleiben. Ambiguität begründet damit ein performatives und kritisches Potential. 52 Gleichwohl verkäme die Ethik ohne den theoretischen Anspruch der Universalisierbarkeit zu einem kasuistischen Partikularismus, der von der Sphäre des logos in jenen des mythos überginge. Die damit einhergehenden Einteilungen des Universums in antagonistische Klassen stellt damit die partikularistische Kehrseite der Abwendung von ethischer Ambiguität dar, auf welche Butler hier nicht explizit eingeht. Sie nimmt hier allerdings keine oppositionelle Stellung zum einen oder anderen, sondern zu beidem zugleich ein: Denn das Verhängnisvolle an Partikularismus wie Universalismus besteht in der in ihnen aufrechterhaltenen Dialektik von gut/böse und richtig/falsch, wie auch bereits der österreichische Theologe und Philosoph Hans Schelkshorn in Anlehnung an Enrique Dussel herausgearbeitet hat »Die Dialektik ist jedoch nicht bloß eine bestimmte Ideologie neben anderen, sondern als Methode die Denkform aller Ideologien, die innere Logik der Verabsolutierung eines endlichen Horizonts, die ›Ideologie der Ideologien‹: […].« Hans Schelkshorn: Ethik der Befreiung. Einführung in die Philosophie Enrique Dussels, Freiburg i. Br. 1992, S. 47. 53 Judith Butler: Kritik der ethischen Gewalt. Adorno-Vorlesungen 2002, Institut für Sozialforschung an der Johann Wolfgang Goethe-Universität, Frankfurt am Main, Frankfurt am Main 4. Aufl. 2014, S. 180. 54 Judith Butler: Kritik der ethischen Gewalt, S. 178. 55 Judith Butler: Haß spricht, S. 139. 56 Judith Butler: Haß spricht, S. 146.
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Wenn die Ethik dekonstruktivistische Strömungen von Sprachphilosophie, wie es Butler vornimmt, rezipiert, ergeben sich allerdings eine Reihe von theoretischen wie praktischen Dilemmata, die ich unter den Stichworten (1) Grundlagendilemma, (2) Inhaltsdilemma, (3) Methodendilemma, (4) Zieldilemma und (5) Geltungsdilemma näher erörtern möchte. 3.3.1 Grundlagendilemma Für praxisrelevante Handlungsoptionen muss eine Ethik Prinzipien voraussetzen. Diese kann sie selbst nur dann zum Gegenstand ihrer Reflexion machen, wenn sie von der Praxis abstrahiert – also Grundlagenforschung betreibt. In der praxeologischen Anwendung ihrer Theorie entzieht sie sich einer theoretischen Verhandlung und setzt kontrafaktisch einen Konsens über die verhandelbaren Prinzipien voraus: »Die Prinzipien werden nicht als solche in Frage gestellt, sondern in ihren Anwendungsbedingungen spezifiziert oder in ihrer Einschlägigkeit bezweifelt.«57 Nicht immer wird dabei deutlich gemacht, dass die Prinzipien mehrdeutig sind und auf unterschiedliche Weise ausgelegt werden können. 3.3.2 Inhaltsdilemma Selbst wenn man sich über die Grundlagen im Großen und Ganzen einig wird, bedeutet dies keineswegs, dass damit zugleich auch schon festgelegt wäre, womit sich eine ethische Theorie inhaltlich konkret beschäftigt und welche Inhalte sie ausklammert. Das Inhaltsdilemma besagt demgemäß, dass sich der jeweilige Forschungsgegenstand als solcher ebenfalls nie als eindeutig präsentiert. Die zur wissenschaftlichen Redlichkeit gehörende Praxis von Begriffsdefinitionen und inhaltlichen Abgrenzungen zu weiteren Disziplinen bemüht sich um eine Kompensation der in der Theorie abzubildenden ambigen Realität. Sie nimmt damit aber auch bewusst Vereindeutigungen in Kauf: Eine Theorie bildet gelebte Realität nur ab, entspricht ihr aber nie vollständig, denn ethische Reflexionen können schlichtweg nicht alle handlungsrelevanten Faktoren berücksichtigen. Was etwa Kerninhalte der Umweltethik sind, kann von Ethiker:in zu Ethiker:in eingedenk jeweils guter Gründe variieren.
57 Julia Dietrich: Ungewissheit in der ethischen Urteilsbildung, S. 74.
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3.3.3 Methodendilemma Das Methodendilemma folgt auf das Inhaltsdilemma, denn die Voraussetzung bestimmter ethischer Grundlagen für die eigene Urteilsbildung muss intersubjektiv nachvollziehbar sein. Welche Methoden für die Suche nach ethischer Gültigkeit herangezogen werden können und welche nicht, muss verhandelt werden. Wo aber die Grenze zwischen Toleranz und Intoleranz gegenüber methodischen Differenzen zu ziehen sind, ist schwer zu bestimmen.58 Nicht selten entbricht daher ein Streit darüber, ob empirische oder hermeneutische Verfahren verlässlichere Argumentationsquellen bieten, wie sich Forschungsergebnisse vergleichen lassen und auf welche Art die gelebte Wirklichkeit am besten dargestellt werden kann. Je eindimensionaler und modellhafter die Voraussetzungen einer bestimmten Methode sind, desto weniger relevant erscheinen die Forschungsergebnisse allerdings für die Praxis, da sie die Vielfalt der Realität nicht abbilden können. 3.3.4 Zieldilemma Das Zieldilemma besteht folglich darin, dass handlungsleitende Prinzipien auf konkrete Anwendungsbedingungen hin spezifiziert werden müssen. Da sich Ethiker:innen notwendigerweise damit zufrieden geben müssen, dass eine Theorie immer nur modellhaft bleibt, wird bei der Methodenwahl besonderes Augenmerk auf das angestrebte Ziel gelegt: Wofür oder für wen wird das ethische Forschungsvorhaben betrieben? Die nach dieser praktischen Logik erfolgte Zuspitzung birgt jedoch »einen Überschuss der Deutung, dessen vollständige Beherrschung als regulative Idee, als Illusion«59 verstanden werden muss. Es ist schlicht nicht möglich, alle für die Zielbestimmung einer Ethik relevanten Faktoren theoretisch einzufangen. Andererseits bestimmen Ethiker:innen als auch deren potentielle Rezipient:innen und Auftraggeber:innen den ökonomischen wie symbolischen Marktwert einer ethischen Theorie. Kritisch zu hinterfragen gilt daher, warum gerade bestimmte Faktoren relevant erscheinen, mit welchem Recht, mit welchen Interessen und mit welcher Macht sie durchgesetzt werden und wie dies die konkreten moralischen Urteile und Handlungsanweisungen beeinflusst. Es ist demzufolge auch die Ziel- und Motivationslage ethischer Urteilsbildung ambig, weil eben nicht allein die persönliche Zielsetzung von Ethiker:innen über die Ausgestaltung einer Ethik entscheidet, sondern auch die Zielgruppe, für welche eine Ethik entworfen wird.
58 Vgl. Hans-Martin Schönherr-Mann: Postmoderne Perspektiven des Ethischen, S. 21. 59 Julia Dietrich: Ungewissheit in der ethischen Urteilsbildung, S. 74.
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3.3.5 Geltungsdilemma So schreibt sich zuletzt und alle Dilemmata umgreifend als Geltungsdilemma die Kategorie der Kontingenz in die Ethik ein. Selbst wenn ein allgemeines Ziel ethischen Nachdenkens formuliert werden kann, kann Ethik als fortlaufender Aushandlungs- und Gewichtungsprozess moralischer Werte, Prinzipien und Normen aufgrund der nur vorläufigen und situativen Einsicht in Handlungszusammenhänge nie abgeschlossen sein. Ethischer Fortschrittsoptimismus verbietet sich einerseits aufgrund der zeitlichen und räumlichen Unbeständigkeit von Moralsystemen und andererseits aufgrund der moralischen Subjekte selbst, die sich freiwillig oder unfreiwillig in das Moralsystem entweder einfügen, oder es kreativ weiterentwickeln. Die Bedingungen der Möglichkeit ethischen Urteilens sind an ein ständig sich veränderndes Verhältnis von Person, Raum und Zeit gebunden. Für welche Personen, zu welchen Zeiten, an welchen Orten und unter welchen weiteren Umständen eine Ethik relevant und gültig wird, ist letztlich ein nach ethischen Kriterien zu begründender Aushandlungsprozess. Welche Prinzipien hierfür aber geltend gemacht werden können, betrifft wiederum das Grundlagendilemma. Die Situation scheint aber nur vermeintlich ausweglos, denn wie abschließend zum linguistischen Teil schon festgehalten wurde, ist analog dazu die in der Ethik angelegte Ambiguität zugleich Konstitutionsgrund wie auch Möglichkeitsbedingung von gelingendem Zusammenleben. Dies soll abschließend noch ausgeführt werden.
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Fazit: Plädoyer für eine ambiguitätstolerante Ethik
Aus den vorangegangenen Untersuchungen lässt sich (keineswegs abschließend) extrahieren, welche Konsequenzen das Ambiguitätsdenken für die Ethik nach sich zieht. Dabei gehen linguistische und moralphilosophische Befunde eine fruchtbare Verbindung ein und bieten durch die kriteriologische Verwendung des Ambiguitätsbegriffs eine Möglichkeit für den Umgang mit den benannten fünf dekonstruktivistischen Dilemmata (Grundlagendilemma, Inhaltsdilemma, Methodendilemma, Zieldilemma und Geltungsdilemma). Es lässt sich zusammenfassen: Sowohl die Rede von Identität als auch von Universalisierung stehen unter dem Verdacht von Ambiguitätsintoleranz, denn beide setzen voraus, dass sie über eine eindeutige Hermeneutik des Guten verfügen. Das Böse wird als das jeweils Andere, im Guten nicht Implizite, mitgedacht und fungiert als Ausschließungskriterium. Butlers Ambiguitätsdenken ist systematischer als dasjenige von de Beauvoir: Nicht nur wird die Kontingenz der Existenz unter das Stichwort der Ambiguität gestellt, sondern Ambiguität wird bei Butler – wenn auch indirekt und unter dem Stichwort equivocity – als kriteriologischer Maßstab
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für die ethische Theoriebildung eingeführt. Dieses soll abschließend und explizit unter dem Stichwort der Ambiguitätstoleranz geschehen. Die kategorielle Ambiguität, die mit der Arbitrarität von Zeichen(systemen) einhergeht, verdeutlicht zunächst die Tatsache, dass die ethische Reflexion von bereits vorhandenen Zeichensystemen60 ausgehen muss. Ethiker:innen sollten sich also der umfassenden Ambiguität bewusst sein, die sie bereits vor jeder Theorie, vor jedem ethischen Urteil umgibt. Sie ist sowohl Gestalterin als auch Produkt eines Netzwerkes von Verweisen, die auf ein gelingendes Zusammenleben möglichst aller Lebewesen ausgerichtet sind. Vereindeutigende Denkweisen wie zum Beispiel der Fundamentalismus grenzen die Kommunikationsfähigkeit einer Ethik mit anderen ein. Ein konstruktiver Umgang mit dem Grundlagendilemma würde daher bedeuten, die in den ethischen Prinzipien angelegten Ambiguitäten und damit den polymorphen Charakter von ethischen Prinzipien ernst zu nehmen, indem man mit ihrer Infragestellung rechnet, auf mögliche Einwände bereit ist einzugehen und Ähnlichkeiten miteinander und Unterschiede voneinander wertschätzend anerkennt. Dem Inhaltsdilemma und Methodendilemma zum Trotz können aber doch in der Mehrheit der Fälle Begrifflichkeiten und Methoden als Handwerkszeug für die ethische Theoriebildung benutzt werden, selbst wenn damit noch nicht gesichert ist, dass gerade das ausgewählte Handwerkszeug auch tatsächlich zum angestrebten Ziel führt. Grund dafür ist, dass in den meisten Fällen Ambiguitätsbewältigung ohnehin unbewusst vorausgesetzt ist. So zeigt die kompositionelle Ambiguität auf, dass manche Formen von Ambiguität bereits so formalisiert sind, dass sie gar nicht mehr näher analysiert werden müssen. Dass jede Person unter dem Begriff Menschenwürde etwas anderes verstehen kann, tut der Verwendung des bereits stark formalisierten Begriffes in der ethischen Theoriebildung keinen Abbruch. Ein kurzer Verweis, auf welches Verständnis welcher Autor:innen man sich bezieht, reicht in den meisten Fällen für die weitere Verständigung bereits aus. Da aber das Ethos den pragmatischen Ausgangspunkt der ethischen Reflexion bildet, lässt sich weder prospektiv noch retrospektiv abschließend über das Gelingen oder Misslingen von Ethiken und ihren Theoremen entscheiden. Hier kann die Polygenetik der Ethik aufschlussreich sein: Gescheiterte Ethiken aus der Vergangenheit können sehr wohl einen Maßstab dafür bieten, was künftig zu vermeiden ist und Bewährtes muss nicht unbedingt sofort verworfen werden, nur weil es alt ist. Die Bewertung einer ethischen Theorie nach ihrer praktischen Relevanz für moralische Subjekte entscheidet sich dann daran, ob sie moralisches Handeln befördert, ohne moralische Subjekte zugleich zu überfordern.
60 Man könnte auch Weltdeutung, Denkform, Diskurs oder Episteme sagen.
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Hiermit klingt auch schon das Zieldilemma an, welches ethische Theoriebildung als multipel interessegeleitet versteht. Der Kontext kann dazu beitragen, dass eine Ethik vor neue Reflexionsbedingungen gestellt wird: Plötzlich sind keine finanziellen, zeitlichen oder räumlichen Ressourcen mehr für eine Forschung in einem bestimmten ethischen Bereich da. Je nach politischer, familiärer oder finanzieller Abhängigkeit von Ethiker:innen können sich auch die Interessen und die Motivation, wofür man Ethik treibt, ändern. Eine Kontextanreicherung ist der ethischen Theoriebildung zuträglich, denn so kann transparent gemacht werden, aus welchen Gründen, mit welchen Mitteln und wofür eine Ethik konzipiert wurde. Aus den Entstehungsbedingungen einer Ethik können sich Rezipient:innen dann im Einzelfall herleiten, inwiefern diese Art des Reflektierens für die je spezifische Sachlage in Frage kommt. In diesem Sinne scheint es auch gerechtfertigt, im linguistisch übertragenen Sinne von polyvalenten Ethiken zu sprechen: Je breiter der Geltungsbereich einer Ethik angelegt ist und je weniger einseitig sie sich beeinflussen lässt, desto vielfältiger einsatzbereit wird sie. Welche Art spezifischer Geltung beansprucht eine Ethik in ambiguitätstoleranter Prägung für sich dann noch (Geltungsdilemma)? Wenn man Butler folgt, dass keine Ethik ein abschließendes Urteil über welchen Sachverhalt auch immer fällen kann, wird man auf den sprachpragmatischen Begriff der kommunikativen Ambiguität zurückgeworfen. Eine ambiguitätstolerante Ethik ist damit keine abgeschlossene Theorie, sondern eine geltungstheoretische Näherungsweise für die Verbindlichkeit moralischer Handlungsoptionen und Urteile – nicht mehr, aber auch nicht weniger. Deshalb befindet sich der Geltungsbereich einer ambiguitätstoleranten Ethik notwendigerweise in der Schwebe zwischen Partikularismus und Universalismus. Aus Gründen des gelingenden Zusammenlebens – um nur einen zentralen Motivationsgrund ethischen Nachdenkens zu nennen – scheint es daher viel wichtiger, die Befähigung zur Ambiguitätstoleranz auch in ethischen Modellen zu fördern, anstatt die bleibende Vielfalt autoritär zu glätten, oder verbindliche Normen ganz aufzugeben. Eine solche Ethik versteht sich als kommunikatives Geschehen, das kommunikativer Ambiguität einerseits zwar ausgesetzt ist, aber auch von ihr profitiert. Folglich sollte sich eine Ethik zuvorderst nicht vergeblich um absolute Urteile bemühen, sondern polyloge61 Verständigungsprozesse anregen, an denen sich möglichst viele beteiligen können. Im besten Fall wird dann jedes moralische Subjekt dazu ermutigt und 61 Ich verwende den Begriff hier in bewusster Abgrenzung von jenem des Dialogs, der suggerieren könnte, dass ethische Verständigungs- und Aushandlungsprozesse vor allem face-toface innerhalb einer feststehenden Gemeinschaft, aber nicht in einer Gruppe im interkulturellen Gespräch geschehen. Vgl. hierzu auch die Ausführungen von Franz Wimmer: Polylog denken. Ein Kommentar, in: Polylog denken. Hrsg. v. Franz Gmainer-Pranzl/Britta Saal, Wien 2018, S. 321–344.
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aufgefordert, seine Prinzipien, Wünsche und Vorstellungen in die ethische Gemeinschaft einzubringen, um im polylogen Verständigungsprozess feststellen zu können, wie das Zusammenleben gelingen kann. Damit werden zunächst zwar subjektiv ethische Bedingungen gestellt, viel wichtiger scheint aber, dass gerade durch diesen Aspekt gleichzeitig der konstitutive Charakter ethischer Ambiguität deutlich wird: Ethische Kommunikation entsteht ja erst da, wo Pluralität auftritt. Oder anders gesagt: Ein einzelner Mensch entwirft für sich allein keine Ethik. In der Tat ist diese Einsicht auch theologisch und kirchlich nicht neu, denn gerade »die typisch priesterliche Vorliebe für die verklärende Nachahmung und die verwirrende Ungenauigkeit, die bewusste Polyonomie und die gesuchte Zweideutigkeit, das Doppelsinnige oder die methodische Unklarheit und der systematische Gebrauch von Metaphern«62 zählt der Sozialphilosoph Pierre Bourdieu zu jenen »Vergemeinschaftungstechniken«63, die ein zentrales strategisches Mittel für die Konstitution der katholischen Gemeinschaft darstellen. Wenn Ambiguitätstoleranz – wie Thomas Bauer behauptet – die Voraussetzung für das Wachsen und Bestehen von Religion ist, dann wird sie »immer nur Wahrscheinlichkeit und vorübergehende Gültigkeit für sich beanspruchen können, nie jedoch absolute Wahrheit«64 – auch in ihrer Auslegung des moralischen Sittengesetzes. Möglicherweise bietet gerade das Theologumenon der Unverfügbarkeit Gottes wichtige Anknüpfungspunkte für eine ambiguitätstolerante theologische Ethik. Ist die Suche nach der Normativität von Gut und Böse damit gänzlich aufgegeben? Kritische Stimmen würden hier den Vorwurf des Relativismus einbringen: Verwandelt sich eine Ethik ohne feststehende Urteile oder kontextualisierte Handlungsoptionen aber tatsächlich zur moralischen Willkür? Hat nicht die Einsicht in die Vorläufigkeit einer jeden ethischen Theorie und ihrer Konsequenzen den Vorteil, dass moralischen Subjekten Autonomie zugestanden wird? Eine plurale Gesellschaft wird davon profitieren, wenn Menschen die eigenen aber auch fremden Lebensentwürfe zu hinterfragen bereit sind und den modus vivendi aktiv und kreativ mitgestalten können. Notwendigerweise werden sie dafür auch Ambiguitäten in die Welt setzen, moralisches Scheitern einerseits duldend annehmen und es andererseits zu verhindern suchen. Eine ambiguitätstolerante Ethik misst sich nicht an, abschließend zu urteilen, für sie ist nur eindeutig, mit Mehrdeutigkeit konstruktiv umgehen zu müssen: sei es mit der Ambiguität ihrer Prinzipien (Polymorphie), ihrer Entstehungsbedingungen 62 Pierre Bourdieu: Genese und Struktur des religiösen Feldes, in: Religion. Hrsg. v. Franz Schultheis/Stephan Egger, Berlin 2011, S. 30–91, S. 44–45. 63 Pierre Bourdieu: Die Heilige Familie. Der französische Episkopat im Feld der Macht, in: Religion. Hrsg. v. Franz Schultheis/Stephan Egger, Berlin 2011, S. 92–224, S. 186. 64 Thomas Bauer: Die Vereindeutigung der Welt. Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt, Stuttgart 3. Aufl. 2018, S. 78.
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(Polygenese), ihrer Anwendungsbereiche (Polyvalenz), oder ihrer Kommunikationsformen (Polylog).
Literatur Wolfgang Barz/Thomas Grundmann/Albert Newen/Christian Nimtz: Das Ende des »linguistic turn«? Stellungnahmen von Wolfgang Barz, Thomas Grundmann, Albert Newen und Christian Nimtz, in: Stellungnahmen, 4 (2016), S. 28–38. Matthias Bauer/Joachim Knape/Peter Koch/Susanne Winkler: Dimensionen der Ambiguität, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik, 158 (2010), S. 7–75. Thomas Bauer: Die Vereindeutigung der Welt. Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt, Stuttgart 3. Aufl. 2018. Simone de Beauvoir: Pour une morale de l’ambiguïté. Suivi de Pyrrhus et Cinéas, Paris 2003, [1947]. Sabina Becker: Literatur- und Kulturwissenschaften. Ihre Methoden und Theorien, Reinbek bei Hamburg 2007. Frauke Berndt/Klaus Sachs-Hombach: Dimensions of Constitutive Ambiguity, in: Ambiguity. Hrsg. v. Susanne Winkler, Berlin 2015. Denis Boisseau: Merleau-Ponty et l’ambiguïté. Philosophie française, in: Les études philosophiques (1992), S. 229–243. Pierre Bourdieu: Die Heilige Familie. Der französische Episkopat im Feld der Macht, in: Religion. Hrsg. v. Franz Schultheis/Stephan Egger, Berlin 2011, S. 92–224. Pierre Bourdieu: Genese und Struktur des religiösen Feldes, in: Religion. Hrsg. v. Franz Schultheis/Stephan Egger, Berlin 2011, S. 30–91. Marie Busse: Reizthema im Wahlkampf. Mehrheit der Deutschen will Gendern in staatlichen Stellen verbieten 27. Mai 2021, URL: https://www.shz.de/deutschland-welt/politik /Haelfte-der-Deutschen-befuerwortet-Genderverbot-in-Behoerden-id32377232.html abgerufen am 27. Mai 2021. Judith Butler: Die Macht der Geschlechternormen und die Grenzen des Menschlichen, Frankfurt am Main 2. Aufl. 2012. Judith Butler: Haß spricht. Zur Politik des Performativen. Aus dem Englischen von Katharina Menke und Markus Krist, Frankfurt am Main 4. Aufl. 2013. Judith Butler: Kritik der ethischen Gewalt. Adorno-Vorlesungen 2002, Institut für Sozialforschung an der Johann Wolfgang Goethe-Universität, Frankfurt am Main 4. Aufl. 2014. Christine Daigle: Beauvoir. Réception d’une philosophie, in: Horizons philosophiques, 16/2 (2006), S. 61–77. Julia Dietrich: Ungewissheit in der ethischen Urteilsbildung. Ein Überblick, in: Negativität und Orientierung. Hrsg. v. Philipp Thomas/Andreas Benk, Würzburg 2008, S. 65–77. Jens Dreisbach: Postmoderne, in: Lexikon der Geisteswissenschaften. Hrsg. v. Helmut Reinalter/Peter J. Brenner, Wien 2011, S. 631–638. Michael N. Ebertz: Relativismus oder Relationismus? Wissenssoziologische Anmerkungen im Blick auf das kirchliche Feld der Ambiguität, in: diesem Band.
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Hans-Joachim Sander
Distinktionsgewinn durch Selbstrelativierung. Die fällige Kreuzkusinenheirat des Lehramtes mit seiner Relativität
Moderne Lebensverhältnisse sind so gut wie nie eindeutig; sie sind nicht beruhigend homogen und auch nicht befreiend plural und darum sehnen sich so viele nach dem einen oder anderen. Aber der ernüchternde Tatbestand ist, dass sie prekär sind und Menschen darin ständig vom Abstieg gefährdet und zugleich zum Aufstieg verlockt werden. Das ist nicht abzustellen und deshalb kann es in jedem Fall immer so oder so ausgehen. An einem Tag ist man obenauf und am nächsten geht es schon nach unten, und manchmal natürlich auch umgekehrt. Die Größen, die modernes Leben produzieren, können dies oder das sein und beides zugleich. Es kann stets jener oder auch ein ganz anderer Weg genommen werden, und selbst dann wäre noch vieles andere mehr möglich. Nichts bleibt auf Dauer eindeutig und daher entsteht die Not, die unübersichtliche Lage kaum gelassen hinnehmen zu können, oder wenigstens Toleranz gegenüber anderen zu üben, die sie anders bewältigen.
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Zwischen Homogenisierung und Pluralisierung
Man kann sich natürlich auch dieser Not nicht stellen und stattdessen dem Begehren nachgeben, die jeweilige Ambiguität in eine Eindeutigkeit zu zwingen, die wenigstens vorübergehend hält, was sie verspricht. Man muss dann allerdings eine Homogenität, die mit der Eindeutigkeit einhergeht, auf autoritäre Weise mit aller Macht durchsetzen, die zur Verfügung steht. Das geht sowohl mit einem anything goes, was alles gleicht gültig nimmt, wie mit dem ebenso berüchtigten there is no alternative (tina), was unverhohlen alles andere verachtet. Radikale Pluralisierung wie extreme Homogenisierung sind daher nur scheinbare Gegensätze. Vielmehr unterlaufen beide die Notwendigkeit zu diversen kulturellen Mustern, zu offenen politischen Taktiken und zu existentiell stets umkehrbaren Ambiguitätstechniken. Sie zeigen als Extremwerte die Not an, aus der Ambiguität diese oder jene Tugend zu machen, und diese Not kennzeichnet eine Lage, die man selbst nicht verändern kann und die sich als über-
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legen erweist.1 Diese Not kann sehr gefährlich werden, wie die letzten hundert Jahre belegen, die für die Humanität äußerst finster waren. Sie haben eine völlig neue Herrschaftsform hervorgebracht, die totalitäre Herrschaft. In ihr werden Menschen überflüssig. Wer in sie gerät – und das sind hunderte von Millionen Menschen seit 1914 gewesen – kann sich auf gar nichts mehr verlassen. Es gibt keine Sicherheiten über eine angebliche Natur des Menschen, eine vorgebliche Gottebenbildlichkeit oder eine maßgebliche Gleichheit aller Menschen, die es verhindern könnte, als überflüssig ausgemacht, ausgesondert und schließlich ausgemerzt zu werden. Besonders gefährlich sind dabei Homogenitätsutopien, weil sie den Grund liefern für die Aussonderungen derjenigen, die angeblich nicht dazu passen. Auf nichts in dieser totalen Welt ist wirklich Verlass, sei es der Respekt für eine elementare Basis des Menschseins oder das Recht, Rechte zu haben. Das ist die vielleicht härteste Einsicht der letzten hundert Jahre, die jedes emphatische Versprechen von Sicherheit auf ihr jeweils illusionäres Maß herunterbricht. Ein Versprechen dieser Art ist bloß ein Ver-Sprechen der realen Lage: »Diese neue Situation, in der die ›Menschheit‹ faktisch die Rolle übernommen hat, die früher der Natur oder der Geschichte zugeschrieben wurde, würde in diesem Zusammenhang besagen, daß das Recht auf Rechte oder das Recht jedes Menschen, zur Menschheit zu gehören, von der Menschheit selbst garantiert werden müßte. Und ob dies möglich ist, ist durchaus nicht ausgemacht. Denn entgegen allen noch so gutwilligen humanitären Versuchen, neue Erklärungen der Menschenrechte von internationalen Körperschaften zu erlangen, muß man begreifen, daß das internationale Recht mit diesem Gedanken eine gegenwärtige Sphäre überschreitet, nämlich die Sphäre, die über den Nationen stünde, gibt es vorläufig nicht. Auch würde sich diese Kalamität keineswegs durch die Errichtung einer ›Weltregierung‹ ändern. […] Die Verbrechen gegen die Menschenrechte, welche eine Spezialität totalitärer Regierungen geworden sind, können immer gerechtfertigt werden dadurch, daß man behauptet, Recht sei, was gut und nützlich für das Ganze (im Unterschied zu seinen Teilen) sei. […] es ist durchaus denkbar und liegt sogar im Bereich praktisch politischer Möglichkeiten, daß eines Tages ein bis ins letzte durchorganisiertes, mechanisiertes Menschengeschlecht auf höchst demokratische Weise, nämlich durch Majoritätsbeschluß entscheidet, daß es für die Menschheit im ganzen besser ist, gewisse Teile derselben zu liquidieren.«2
Die Waffen, die Taktiken, die Technologien, die moralische Skrupellosigkeit und die aufgeheizten Konflikte sind allesamt vorhanden, um das auszuführen. Es ist 1 »Die Grundthese, wonach der Habitus eine aus Not entstandene Tugend ist, läßt sich nirgends so deutlich nachvollziehen wie am Beispiel der unteren Klassen, stellt Not für sie doch alles dar, was sich üblicherweise mit diesem Wort verbindet, nämlich daß es unvermeidlicherweise am Notwendigen fehlt.« (Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede. Kritik d. gesellschaftl. Urteilskraft, Frankfurt am Main 4. Aufl. 1987, S. 585) 2 Hannah Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft, München 20. Aufl. 2017, S. 617–618.
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auch keine bloß denkbare Möglichkeit, sondern bereits eine historische Erfahrung. Die reale Gefahr, als überflüssig behandelt zu werden, ist das, was alle Menschen seit hundert Jahren unglaublich gleichgemacht hat. Das ist die Form spätmoderner Homogenität, der niemand ausweichen kann. Alle früheren metaphysischen Heimatgebungen verblassen dahinter. So fügt Arendt an ihre prekäre Einsicht von 1951 lapidar an: »Wir begegnen hier auf höchst reale Weise einer der ältesten Aporien der politischen Philosophie, die uns nur so lange verborgen bleiben konnte, als eine unerschütterte christliche Theologie den Rahmen für alle politischen und philosophischen Probleme abgab, die aber bereits Plato dazu veranlaßte, zu sagen: ›Nicht der Mensch, sondern ein Gott muß das Maß aller Dinge sein.‹.«3
Wer nun wollte, wieder eine unerschütterliche Theologie einzurichten, so dass das, was zu denken und zu bedenken möglich geworden ist, wieder verschwindet, würde zum Don Quijote werden, der von seinen Ritterromanen ebenso benebelt wie befeuert wird. Es gibt diese unerschütterliche Theologie nicht, es sei denn in ihrer traurigen Gestalt. Aber auch der Platonismus hat es in der modernen Welt nie geschafft, über eine traurige Gestalt hinauszukommen, gegen die Windmühlen der realen Welt zu kämpfen. Seit der Moderne hat sich auch die Grammatik dieses Zusammenhangs verändert. Gott ist schon seit der frühen Neuzeit nicht mehr das Maß aller Dinge. Für Luther war er das noch – Wie kriege ich einen gnädigen Gott? Dieses Maß ist jetzt der Mensch und seit hundert Jahren wissen wird: Nichts hindert uns Menschen, sehr schnell einen Vergleich anzustellen, dass der:die andere eigentlich doch gar kein Mensch sei, den es zu respektieren gelte. Es sind allesamt politische Vergleiche, die das einrichten können. Das menschliche Leben ist latent gefährdet, zu einer rein politischen Existenz zu werden und von den Mächten und Gewalten definiert zu werden, denen es nicht ausweichen kann. Niemand kann für sich selbst die Gefahr ausschließen, zum homo sacer zu mutieren, der nicht geopfert werden darf, aber deshalb jederzeit getötet werden kann, wie Giorgio Agamben diese prekäre Lage beschreibt. Das soziale Feld, das zwischen Homogenität und Pluralität schillert, kann aufgrund der das eigene Leben pluralisierenden oder die eigene Existenz homogenisierenden Habitus’ nicht betreten werden, ohne dass man zugleich darauf unterzugehen droht.4 Mit beiden Habitus folgt man einer Not und macht eine Tugend daraus. Aber damit lässt sich das Feld nicht kontrollieren und man kann nur von Glück sagen, wenn es eine:n nicht erwischt. In der globalisierten Zivi3 Hannah Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, S. 618–619. 4 Das Problem beginnt offenbar bereits sehr früh im menschlichen Leben, vgl. Bettina Brandstetter: Kulturen, Religionen und Identitäten aushandeln. Elementarpädagogik zwischen Homogenisierung und Pluralisierung, Münster/New York 2020, S. 48–73.
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lisation ist ständig mit solchen Lebenslagen zu rechnen. Man kann dort nicht kontrollieren, was alles gleichwohl relevant ist. Deshalb dynamisiert sich die Uneindeutigkeit von Pluralität noch einmal exponentiell. Und in autoritären Gesellschaftsmodellen, die sich darüber als erhaben wähnen und sich so auch anpreisen, steigert sich die Gewalt nochmals, die für die sichtbare Durchsetzung von Homogenität unvermeidlich ist. Je ausdifferenzierter moderne Lebensverhältnisse werden, desto unwägbarer werden sie und umso mehr muss Komplexität herangezogen werden, um dabei nicht unterzugehen. Was aber tun mit einer Komplexität, wenn sie nicht auf Dauer erfolgreich reduziert werden kann? Sie ist die Antreiberin aller möglichen Ambiguitäten.
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Entweder – oder, aber eigentlich dazwischen
Damit wird aber eine andere, ebenfalls typisch moderne Strukturierung des persönlichen oder gesellschaftlichen Lebens von Menschen unterminiert, nämlich die binäre Codierung. Wir sind es gewohnt, die Sachverhalte, die auf ein Leben einstürzen, in diverse Taxierungen von klaren Gegenüberstellungen einzuordnen: Das gerade geborene Kind ist entweder männlich oder weiblich, die Börsenkurse gehen ins Plus oder Minus, in politischen Wahlentscheidungen gibt es entweder Gewinner:innen oder Verlierer:innen – also Biden oder Trump, Söder oder Laschet, Rendy-Wagner oder Kurz, und so weiter –, menschliche Aktivitäten gelingen entweder oder misslingen, ein Strafprozess spricht entweder schuldig oder erklärt für unschuldig, etwas zu essen ist entweder roh oder gekocht, ein Körper entweder attraktiv und schön oder schon verfallend und hässlich. In binären Codes entsteht unweigerlich ein Ringen um Macht, völlig unabhängig davon, ob die Beteiligten oder die Benutzer:innen das wollen oder nicht. Ist nun das Männliche das tonangebende Moment oder vielleicht doch das Weibliche? Ist roh gesünder oder gekocht doch besser für die Gesundheit? Je mehr Ambiguität eingeräumt wird, desto weniger lässt sich über diese Codierungen Macht ansammeln: Ist eine juristische deklarierte Unschuld tatsächlich schon glaubwürdige Schuldlosigkeit? Diese Fragen stellen sich zwangsläufig. In Binaritäten kann es keine Gleichheit auf Augenhöhe geben, ohne dass sich eines irgendwo und irgendwie über das andere stellen lässt. Das hört nicht auf, weil natürlich jederzeit der Umschwung ins Gegenteil möglich ist. Man muss lediglich die Kriterien verändern, den Umschlagpunkt verschieben oder auf andere Bedingungen warten. Es zeigt sich, dass Distinktionsgewinne über zweiwertige Positionierungen nicht verlässlich sind. Sie bleiben immer vorläufig und können zu Verlusten von
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feinen Unterschieden führen. Keine Kapitalsorte ist sozial und politisch, wirtschaftlich und kulturell auf Dauer stabil. Das Bild ist komplexer, weil diese Gewinne entweder inflationieren, also ihr Wert sich nicht halten lässt, oder deflationieren, also die durch Distinktionen zu erzielende Preise nicht ihre Kosten decken. Menschen erfahren sich umso heilloser verstrickt, je mehr sie auf ein Entweder-Oder gesetzt haben, das ihnen keinen Vorteil verschafft. Sie hängen dazwischen und werden weder das eine los, noch gewinnen sie das andere ganz. Die Ambiguität zwischen Homogenität und Pluralität relativiert jede Sicherheit aus binären Codierungen. Eigentlich müsste man in dieser Lage aus der Not der Ambiguität die Tugend eines Habitus der Selbstrelativierung machen. Aber das ist prekär und fragil. Darum schlägt hier die Stunde der Religion und der Religionsgemeinschaften.
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Religion transzendiert Ambiguität und erhebt sich über Relativierungen
Religion macht angesichts dieses prekären Moments der ihrer selbst unsicher gewordenen Moderne etwa seit 1979 ein verlockendes Angebot: Es kommt zur Revanche der Religion gegen die moderne Ambiguität und die Restauration transzendentaler Sicherheit. Das Jahr markiert den Pontifikatsbeginn von Johannes Paul II. sowie die iranische Revolution des Ayatollah Khomeini und auch die strukturelle Übernahme der Likud-Partei durch die jüdische Siedlerbewegung, was langfristig ihre Dominanz in Israel bedeutete.5 Man kann in betonter Religiosität modern sein etwa durch moderne Kommunikation und zugleich die moderne Ambivalenz hinter sich lassen. So formuliert Papst Johannes Paul II. sinngemäß in seiner Ansprache zu Beginn seines Pontifikats: Habt keine Angst, katholisch zu sein, und das auch klar zu zeigen.6 Diese Revanche macht modernen Menschen ein dreifaches Angebot: Erhebung, Erhöhung, Erhörung. Die Umsetzung ist jeweils von Religion zu Religion verschieden. In der katholischen Religionsgemeinschaft ist hier der Platz des Lehramtes, vor allem das des Papstes. Im Modus der Unfehlbarkeit wird der Papst dogmatisch erhoben, seine Problemlösung gegenüber allen anderen Vorschlägen des Glaubens erhöht und die einzig mögliche Wahrheit damit für alle zu glauben erhört. Nur der Papst ist verlässlich; sein theologischer Ort garantiert ein 5 Vgl. Gilles Kepel: Die Rache Gottes: radikale Moslems, Christen und Juden auf dem Vormarsch. Aus dem Französischen von Thorsten Schmidt, München 2. Aufl. 2001. 6 Vgl. Papst Johannes Paul II.: Ansprache von Johannes Paul II. am Beginn des Pontifikats. 1978, URL: https://www.vatican.va/content/john-paul-ii/de/homilies/1978/documents/hf_jp-ii_ho m_19781022_inizio-pontificato.html abgerufen am 13. Juli 2021.
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Bollwerk gegen Relativierung und dafür darf er alle modernen Möglichkeiten nutzen, um sie gegen diese selbst zu richten. Darum attackiert die Pianische Epoche den »sogenannten dogmatischen ›Relativismus‹«7. In nostalgischer Erinnerung daran kämpfte am Vorabend seiner Wahl sowie danach in den Traurigen Tropen eines pianisch restauriert-en Lehramtes Papst Benedikt XVI. gegen »eine Diktatur des Relativismus, die nichts als endgültig anerkennt und als letztes Maß nur das eigene Ich und seine Gelüste gelten lässt«8. Aber das hat Folgen. Man verstrickt sich immer tiefer in Ambiguitäten hinein.
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Vom Windmühlenkampf gegen Relativierung zur Zumutung der Selbstrelativierung
Was soll man tun mit einer Unfehlbarkeit, die sich kein Papst mehr zutraut, weil die Ambiguität der Interpretationen wächst, je unfehlbarer der Glauben positioniert wird? Man nehme den Ausschluss der Frauen von der Priesterweihe, der Unfehlbarkeit vom Lehramt zugeschrieben wird seit einem Brief von Johannes Paul II. dazu (Ordinatio sacerdotalis9), die aber kein soziales Milieu mehr hat, das sich davon bestimmen lässt. Je unfehlbarer dieser Ausschluss vertreten wird, desto stärker zieht er den Vorwurf der Diskriminierung aufgrund des Geschlechtes auf sich. Das wird weitergehen und eben nicht zur Ruhe kommen, gleich welche Päpste sich wie sehr dafür engagieren. Oder man nehme die Beanspruchung, dass die katholische Kirche die einzig wahre Kirche Jesu Christi sei (Dominus Iesus10) – sie dreht sich in der bitteren Wahrheit dieser Kirche um, massiven sexuellen Missbrauch zu verantworten zu haben. Das belegt die Diktatur des Relativismus. Es gibt sie wirklich, allerdings gibt es sie in den Vertuschungsvorgängen dieser Verbrechen durch kirchliche Führungsfiguren. Der Kampf gegen Relativismus erweist sich als schlecht inszenierte Don Quijoterie; 7 Helmut Hoping/Peter Hünermann: Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrentscheidungen. Enchiridion symbolorum definitionum et declarationum de rebus fidei et morum. Verbessert, erweitert, ins Deutsche übertragen und unter Mitarbeit von Helmut Hoping herausgegeben von Peter Hünermann, Freiburg 2017, Nr. 3883. (=Papst Pius XII., Humani generis Nr. 15) 8 Zit. n. Doris Reisinger/Christoph Röhl: Nur die Wahrheit rettet. Der Missbrauch in der katholischen Kirche und das System Ratzinger, München 2021, S. 224. 9 Vgl. Papst Johannes Paul II.: Apostolisches Schreiben Ordinatio sacerdotalis. Von Papst Johannes Paul II. an die Bischöfe der katholischen Kirche über die nur Männern vorbehaltene Priesterweihe. 1994, URL: https://www.vatican.va/content/john-paul-ii/de/apost_letters/1994/documen ts/hf_jp-ii_apl_19940522_ordinatio-sacerdotalis.html abgerufen am 28. Juli 2021. 10 Vgl. Kongregation für die Glaubenslehre: Erklärung Dominus Iesus über die Einzigartigkeit und die Heilsuniversalität Jesu Christi und der Kirche. 2000, URL: https://www.vatican.va/ro man_curia/congregations/cfaith/documents/rc_con_cfaith_doc_20000806_dominus-iesus_ ge.html abgerufen am 28. Juli 2021.
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die Kirche kämpft gegen Windmühlen, die angeblich alles Stabile, Dauerhafte, Wertvolle zermahlen, um sich bloß nicht einzugestehen, wie sehr sie selbst der Relativierung verfallen ist. Die erhobene Stellung des Lehramtes ist nicht mehr in der Lage zu halten, was sie verspricht. Es stellt Erhabenes auf einen Sockel, auf dem seine eigenen Fehleinschätzungen nur umso sichtbarer werden. An der tragischen Figur Johannes Paul II. lässt sich das erkennen. Einst war er ein gefeierter Star der katholischen Globalisierung und wird sehr schnell nach seinem Tod auch heiliggesprochen. Dann aber erweist er sich als jemand, der in vielen Fällen von Gründungsfiguren und Unterstützern der von ihm präferierten neuen Geistlichen Gemeinschaften Doppelmoral und Heuchelei mindestens zugelassen hat.11 Die Ambiguität hat den strahlenden Sieger über den Kommunismus heimgeholt. Das hat mehr als nur Gründe in Defiziten einer Person. Es ist ein strukturelles Problem des Lehramtssystems der Kirche. Es scheitert an seinen eigenen binären Codierungen und ihm zerrinnt die Macht zwischen den Fingern, mit denen es nach der Monopolisierung des Glaubens gegriffen hat. Die Zumutung der Selbstrelativierung holt irgendwann jeden Kampf gegen den Relativismus ein, weil dieser Kampf nicht aus der Not eine Tugend macht, sondern nur den Schein von Überlegenheit konstruiert, die die Probleme der zerbrochenen Binarität unfehlbare Lehre – fehlbares Leben nur verschiebt, aber nicht löst. Ohne Selbstrelativierung im Lehramt selbst verblasst der Schein mit jedem Versuch mehr, der Moderne überlegen zu sein. Daher ist diese Selbstrelativierung seine einzige Chance, selbst der prekären Ambiguität zu entgehen, die ihm von den eigenen dualen Fehleinschätzungen droht. Aber wie soll es dahin gelangen? Ich schlage eine Kombination aus einer archaischen Restrukturierung seiner Verwandtschaftsverhältnisse sowie eine riskante, aber hilfreiche Wette auf das Kapital seiner abstürzenden Glaubwürdigkeit vor.
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Wie kann die Selbstrelativierung des erhabenen Lehramtes erreicht werden? Durch Kreuzkusinenheirat mit Relativität und shorten seiner unglaubwürdigen Positionen
Es gibt eine Kulturtechnik der Selbstkonfrontation mit Ambiguität, die mit dem Desaster binärer Codierungen umgehen kann und die schon im wilden Denken archaischer Gesellschaften bekannt war. Es sind die Kreuzkusinen, mit denen
11 Vgl. Céline Hoyeau: La trahison des pères. Emprise et abus des fondateurs de communautés nouvelles, Montrouge 2021.
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sich Verwandtschaft umstrukturieren lässt.12 Der Ausgangspunkt ist die starre Binarität zwischen heiratsfähigen Mitgliedern einer Gesellschaft und den davon ausgeschlossenen, weil sie als Verwandte dem Inzesttabu unterliegen. Verwandtschaft ist nicht bloß eine persönliche Angelegenheit, sondern eine elementare gesellschaftliche Ressource, um Distinktionsgewinne gegenüber anderen zu erhalten. Bei der dualen Strukturierung von Verwandtschaft geht es um die eindeutige Positionierung – um der archaischen Grammatik zu folgen – gegenüber dem Inzesttabu: Das Tabu dient der Klärung, ob eine mögliche Kandidatin zu heiraten ist, oder dem Tabu unterliegt. Wer verwandt ist, darf nicht geheiratet werden, was in vielen vorindustriellen Gesellschaften Kusinen einbezieht, weil sie zu den Blutsverwandten gehören. Es gibt jedoch Parallelkusinen, also Töchter von Mutterschwester und Vaterbruder, und Kreuzkusinen, also Töchter von Mutterbruder und Vaterschwester. Die Kreuzkusinen sind in der Lage, die duale und damit starre Binarität von (bluts-)verwandt – nicht verwandt aufzubrechen. Kreuzkusinen sind eindeutig Verwandte, sogar Blutsverwandte. Aber sie dürfen geheiratet werden, während die Heirat mit Parallelkusinen verboten ist. Die Kreuzkusinenheirat bietet einen sozialen Vorteil, weil man selbst im engeren Clan bleibt sowie dann auch die Kinder und die Vermögenswerte. Kreuzkusinen unterlaufen nicht einfach das Inzesttabu, sondern ersetzen eine duale Struktur durch eine elementare Struktur, die eine dritte Größe in die Verwandtschaft einführt, die der heiratsfähigen Verwandten. Die elementare Struktur relativiert die duale Struktur und befähigt den darauf aufbauenden sozialen Zusammenhang, erheblich flexibler zu reagieren und aus Ambiguitäten Vorteile zu ziehen. »Was nämlich die Kreuzkusinenheirat kennzeichnet, ist nicht nur die Existenz einer sozialen Schranke zwischen biologisch identischen Verwandtschaftsgraden; auch nicht das Vorhandensein einer rein negativen Grenze, die sich darauf beschränkt, die Parallelcousins von der Heirat auszuschließen, sondern ein vollständiger Richtungswechsel. Die Antipathie gegenüber den Parallelcousins schwindet nicht nur in Gegenwart der Kreuzcousins, sie verwandelt sich sogar in ihr Gegenteil, d. h. in Affinität.«13
Das, was damit auftritt, ist eine andere Strukturierung. Statt der Binarität wird eine Dreiwertigkeit bevorzugt: die beiden Elemente, die gegeneinandergestellt sind wie eben heiratsfähig oder vom Inzest her ausgeschlossen, sowie zugleich
12 Vgl. Claude Lévi-Strauss: Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft. Aus dem Französischen übers. v. Eva Moldenhauer, Frankfurt am Main 1993, S. 194–211. Dieses Buch hat entdeckt, dass die Logik von Verwandtschaft eine Art Sprache des Sozialen darstellt. Sie markiert »soziale Spielregeln« (Kuno Füssel: Zeichen und Strukturen. Einführung in Grundbegriffe, Positionen und Tendenzen des Strukturalismus, Münster 1983, S. 26). 13 Claude Lévi-Strauss: Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft, S. 207.
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jener Umschlagpunkt, der das Gegeneinander integral relativiert, also die Kreuzkusinenheirat. »Das positive und das negative Phänomen bedeuten nichts durch sich selbst, sondern sie bilden die Elemente eines Ganzen. Wenn unsere Gesamtkonzeption richtig ist, müssen wir zugeben, daß die Kreuzcousins aus dem gleichen Grund empfohlen werden, aus dem die Parallelcousins ausgeschlossen werden.«14 Will man also eine binäre Codierung aufbrechen, benötigt man die Kontaktzone der Metonymien von Kreuzkusinen. Sie sind das pars pro toto der Selbstrelativierung eines erstarrten binären Systems. Was sind dann die Kreuzkusinen eines Lehramtes, das sich in die duale Struktur von binären Codes verrannt hat und sich deshalb dringend selbst relativieren muss? Finden sich keine Kreuzkusinen, dann wird es in der eigenen Ambiguität untergehen. Positiv gesetzt kann die Kreuzkusinenheirat des katholischen Lehramtes durch das sog. Lehramt von vorrangig pastoralem Charakter (Papst Johannes XXIII.) ausgedrückt werden; denn in ihm müssen Dogma und Geschichte verbunden werden, was zuvor strikt ausgeschlossen war. Die Wechselwirkung von Pastoral und Dogma ersetzt die Unterwerfung der Pastoral unter das Dogma, wofür exemplarisch Gaudium et spes15 des Zweiten Vatikanischen Konzils steht. Das pastorale Lehramt bedeutet die Kreuzkusinenheirat der Lehre des Dogmas mit dem Respekt vor den Zeichen der Zeit. Es wird ermöglicht durch die elementare Struktur einer dreiwertigen Taxonomie, die nicht mehr bekämpfen muss, was sie an Relativierung nicht ausschließen kann. Diese Relativierung – durch Geschichte, Gesellschaft, Lebensalltag, andere Religionen, andere Christ: innen, Ökumene, Nicht-Glauben etc. – stellt einen locus theologicus alienus dar. Dieser locus ist die Kreuzkusine eines binnenzentrierten kirchlichen Lehramtes. Aber diese positive Validierung von lehramtlichen Kreuzkusinen lässt zunächst zugleich die alten Probleme unangetastet, die sich aus der Überheblichkeit eines Lehramtes ergeben, das sich nicht selbst als falsch einschätzen kann. Diese Kreuzkusinen machen durchaus flexibel, aber wenn die falschen Verwandten, denen man davor in der starren Binarität verfallen war, nicht vom sozialen Feld des Glaubens abgeräumt werden, verfällt man der Ohnmacht der eigenen Falschheiten. Das ist die eigentliche hohe Kunst der Selbstrelativierung. Sie wird durch die Kreuzkusinenheirat möglich gemacht, aber die eigentliche Kunst besteht dann darin, diese Heirat auch zu leben und durchzuhalten. Das ist ohne die hohen Kosten, eigene Falschheiten einzugestehen, nicht zu machen. Aber diese
14 Claude Lévi-Strauss: Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft, S. 207. 15 Vgl. Zweites Vatikanisches Konzil: Pastorale Konstitution gaudium et spes über die Kirche in der Welt von heute. 1965, URL: https://www.vatican.va/archive/hist_councils/ii_vatican_coun cil/documents/vat-ii_const_19651207_gaudium-et-spes_ge.html abgerufen am 13. Juli 2021.
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Kosten sind preiswerter als deren Folgeschäden, wie der sexuelle Missbrauch der Kirche belegt. Wie lässt sich das lehramtlich einräumen? Das Lehramt aufzugeben verbietet sich, weil es die eigene Religiosität unterminieren und sie mit Säkularität vermischen würde, statt beide ungetrennt und unvermischt zu konfrontieren. Es gibt eine Alternative: Sie besteht darin, aus dem Zusammenbruch von Glaubwürdigkeit für lehramtliche Positionen Gewinn zu ziehen, die aufgrund ihrer Falschheit nicht zu halten sind. Auch das ist eine Kreuzkusine, nämlich die Verbindung des Glaubens mit der eigenen Unglaubwürdigkeit, weil diese seine Falschheiten anzeigt. Die Gewinne ergeben sich aus Leerverkäufen der eigenen zur Ambiguität gewordenen Positionen, m.a.W. man wettet auf ihren unaufhaltsamen Verfall an Glaubwürdigkeit. Statt die eigenen Positionen preiswert einzukaufen und teurer zu verkaufen (»buy low sell high«), also erfolgreich mit der Glaubensbotschaft zu missionieren, verkauft man jetzt teuer, was erst später preiswert eingekauft wird (»sell high buy low«), also die Falschheiten im eigenen Glauben auszuräumen. Short-selling16 lehramtlich erstarrter Wahrheitsansprüche geschieht dadurch, dass man sich die Produkte leiht, mit denen diese lehramtliche Position verkauft werden kann, obwohl sich ihre Falschheit noch in der Überzeugungswelt des Lehramtes hält. Diese Leerverkäufe von eigenen Lehramtspositionen sind zeitgenössische Kreuzkusinen für respektierte Ambiguität. Der Vorgang des short-selling der Lehre des Glaubens auf dem modernen Markt der religiösen Möglichkeiten hat mittlerweile das päpstliche Lehramt selbst erreicht. An die Stelle der eigenen Erhabenheit ist der Vorgang getreten, unglaubwürdig gewordene Kämpfe gegen Relativierungen auszuschließen, indem man sich moderne Möglichkeiten ausleiht. Als Beispiele aus jüngerer Zeit kann man nennen: Homosexuelle Partnerschaften sollen vom Staat geschützt werden, obwohl Ehe weiter auf Eheschließung zwischen Mann und Frau bestehen bleibt und selbst Segnungen von homosexuellen Partnerschaften verpönt bleiben (Papst Franziskus17); Kondomverbot kann man für schwule Prostituierte aufheben, obwohl bei diesem Sex Zeugung ausgeschlossen ist und er daher eigentlich abzulehnen wäre (Papst Benedikt XVI.18); der katholische Präsident Biden wird trotz klar abweichender politischer Position zur Abtreibung die Kommu16 Der aus den Wirtschaftswissenschaften stammende Begriff des Short-sellings beschreibt einen Handelsstil, welcher geliehene Wertpapiere zu einem Zeitpunkt, an dem diese hoch dotiert sind, verkauft, um sie später zu einem günstigeren Preis und daher mit Gewinn wieder einzukaufen. 17 Vgl. Kongregation für die Glaubenslehre: Responsum ad dubium der Kongregation für die Glaubenslehre über die Segnung von Verbindungen von Personen gleichen Geschlechts. 2021, URL: http://www.vatican.va/roman_curia/congregations/cfaith/documents/rc_con_cfaith_d oc_20210222_responsum-dubium-unioni_ge.html abgerufen am 25. Mai 2021. 18 Vgl. Papst Benedikt XVI.: Licht der Welt. Der Papst, die Kirche und die Zeichen der Zeit, Freiburg/Basel/Wien 2010.
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nion nicht verweigert, obwohl die Vertretungsbischöfe der reinen Lehre das vehement fordern (Erzbischof Wilton Gregory von Washington und nun erster afroamerikanischer Kardinal der USA19); den Opfern des Missbrauchs wird eine Form des kirchlichen Gehörs gegeben, welche die Unverschämtheit des Vertuschens und der Vertuscher offenbart, aber die natürlich weiter vorhandene kirchliche Unterstellung ihrer Erbschuld (und damit Mitschuld) am Geschehen peinlich verschweigt. Mit solchen Aktionen werden säkulare Produkte vom Lehramt geliehen – homosexuelle rechtlich gesicherte Partnerschaft, Mittel zur Empfängnisverhütung und zum Schutz vor sexuell übertragenen Krankheiten, Präsidentschaft, säkulares Mitgefühl mit Opfern religiöser Machenschaften –, um sich nicht länger mit kirchenpolitisch brisanten Themen aufhalten zu müssen, obwohl man die eigenen Gründe für falsche Standpunkte noch nicht abräumen kann, oder noch nicht einräumen will. Bei solchen Leerverkäufen wird in den relevanten Sachfragen die eigene Unglaubwürdigkeit des Lehramtes bereits respektiert, die sich natürlich in diesen nicht ausgeräumten Fällen weiter auswachsen wird. Diese Lehramtsstandpunkte lassen sich so gewinnbringend verkaufen, weil man auf deren unaufhaltsamen Abstieg an Glaubwürdigkeit wetten kann. Jetzt erhält man dafür noch glaubwürdigen Respekt, wenn ihre Falschheit dann irgendwann in ferner Zukunft eingestanden wird, ist das billig zu haben, weil niemand mehr sich darüber aufregen wird. Jetzt bringt die Ambiguität einen Distinktionsgewinn, für den künftig dann nur ein sehr preiswerter Distinktionsverlust an Eindeutigkeit aufgewendet werden muss. Ohne die Leerverkäufe, die von einer strukturell verankerten Selbstrelativierung eines pastoralen Lehramtes ausgehen, wird das kirchliche Lehramt in sich selbst verkrümmen und auf Dauer bedeutungslos werden.
Literatur Hannah Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft, München 20. Aufl. 2017. Papst Benedikt XVI.: Licht der Welt. Der Papst, die Kirche und die Zeichen der Zeit. Ein Gespräch mit Peter Seewald, Freiburg/Basel/Wien 2010. Bettina Brandstetter: Kulturen, Religionen und Identitäten aushandeln. Elementarpädagogik zwischen Homogenisierung und Pluralisierung, Münster/New York 2020. Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt am Main 4. Aufl. 1987. 19 Vgl. David Crary: US Catholic Bishops May Press Biden to Stop Taking Communion. 28. April 2021, URL: https://apnews.com/article/health-coronavirus-government-and-politics-religio n-22e0d1ba299fe8693013036e3cc85c81 abgerufen am 25. Mai 2021.
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Hans-Joachim Sander
David Crary: US Catholic Bishops May Press Biden to Stop Taking Communion 28. April 2021, URL:https://apnews.com/article/health-coronavirus-government-and-politics-re ligion-22e0d1ba299fe8693013036e3cc85c81 abgerufen am 25. Mai 2021. Kuno Füssel: Zeichen und Strukturen. Einführung in Grundbegriffe, Positionen und Tendenzen des Strukturalismus, Münster 1983. Helmut Hoping/Peter Hünermann: Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrentscheidungen. Enchiridion symbolorum definitionum et declarationum de rebus fidei et morum. Verbessert, erweitert, ins Deutsche übertragen und unter Mitarbeit von Helmut Hoping herausgegeben von Peter Hünermann, Freiburg 2017. Céline Hoyeau: La trahison des pères. Emprise et abus des fondateurs de communautés nouvelles, Montrouge 2021. Papst Johannes Paul II.: Ansprache von Johannes Paul II. am Beginn des Pontifikats, Vatikan Stadt 1978, URL: https://www.vatican.va/content/john-paul-ii/de/homilies/1978/docume nts/hf_jp-ii_hom_19781022_inizio-pontificato.html abgerufen am 13. Juli 2021. Papst Johannes Paul II.: Apostolisches Schreiben Ordinatio sacerdotalis. Von Papst Johannes Paul II. an die Bischöfe der katholischen Kirche über die nur Männern vorbehaltene Priesterweihe, Vatikan Stadt 1994, URL: https://www.vatican.va/content/john -paul-ii/de/apost_letters/1994/documents/hf_jp-ii_apl_19940522_ordinatio-sacerdota lis.html abgerufen am 28. Juli 2021. Gilles Kepel: Die Rache Gottes: radikale Moslems, Christen und Juden auf dem Vormarsch. Aus dem Französischen von Thorsten Schmidt, München 2. Aufl. 2001. Kongregation für die Glaubenslehre: Erklärung Dominus Iesus über die Einzigartigkeit und die Heilsuniversalität Jesu Christi und der Kirche, Vatikan Stadt 2000, URL: https://www. vatican.va/roman_curia/congregations/cfaith/documents/rc_con_cfaith_doc_2000080 6_dominus-iesus_ge.html abgerufen am 28. Juli 2021. Kongregation für die Glaubenslehre: Responsum ad dubium der Kongregation für die Glaubenslehre über die Segnung von Verbindungen von Personen gleichen Geschlechts, Vatikan Stadt 2021, URL: http://www.vatican.va/roman_curia/congregations/cfaith/do cuments/rc_con_cfaith_doc_20210222_responsum-dubium-unioni_ge.html abgerufen am 25. Mai 2021. Claude Lévi-Strauss: Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft. Aus dem Französischen übertragen von Eva Moldenhauer, Frankfurt am Main 1993. Doris Reisinger/Christoph Röhl: Nur die Wahrheit rettet. Der Missbrauch in der katholischen Kirche und das System Ratzinger, München 2021. Zweites Vatikanisches Konzil: Pastorale Konstitution gaudium et spes über die Kirche in der Welt von heute 1965, URL: https://www.vatican.va/archive/hist_councils/ii_va tican_council/documents/vat-ii_const_19651207_gaudium-et-spes_ge.html abgerufen am 13. Juli 2021.
Gunda Werner
Eine dogmatische Relektüre mariologischer Transformationen im 19. Jahrhundert in ihren Auswirkungen auf die gegenwärtigen Geschlechteranthropologien
In der TAZ (Die Tageszeitung) wurde in der Ausgabe vom 19. 11. 2020 ausführlich Stellung bezogen zum Umgang von Papst Franziskus mit den Themen der Gleichberechtigung, aber auch mit dem Gender-Thema Frauen und queeren Menschen. »Einer grundsätzlichen Neubewertung der katholischen Lehre auf Basis des humanwissenschaftlichen State of the Art, einer freien theologischwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Sexualität und Geschlecht, schiebt aber auch dieser Pontifex den Riegel vor – mit schierer Macht.«1 Diese römische Lehre lässt sich anhand der lehramtlichen Dokumente sehr schnell zusammenfassen, zielt sie doch auf eine – gottgewollte – binäre Geschlechterordnung, die die Grundlage sowohl für ekklesiologische Strukturen als auch familiäre-gesellschaftliche Settings sein soll. Die Gender-Theorie wird konsequent als Ideologie beschrieben, die eben diese Grundlagen in Frage stellt oder sogar zerstören wolle. Insbesondere das Papier Als Mann und Frau erschuf er sie. Für einen Weg des Dialogs zur Gender-Frage im Bildungswesen2, veröffentlicht am 9. Juni 2019 von der Kongregation für das katholische Bildungswesen, wiederholt alle Argumente, die bereits in Amoris Laetitia3 aufgeführt worden waren. Der Ausgangspunkt für die folgenden Überlegungen ist die fehlende Ambiguität in den Frauen- als auch Geschlechterentwürfen der religiösen Narrative, wie sie in römischen Dokumenten zu finden sind. Das Ziel meines Beitrags ist die Spannung zwischen der 1 Stefan Hunglinger: Als Mann und Frau schuf er sie, in: taz.de (20. 11. 2020), URL: https://taz.de /Sexualitaet-in-der-Kirche/!5725339/ abgerufen am 25. Mai 2021. 2 Vgl. Kongregation für das katholische Bildungswesen: Male and female he created them. Towards a path of dialogue on the question of gender theory in education. 2019, URL: http:// www.educatio.va/content/dam/cec/Documenti/19_0997_INGLESE.pdf abgerufen am 25. Mai 2021. 3 Vgl. Papst Franziskus: Nachsynodales apostolisches Schreiben Amoris lætitia des Heiligen Vaters Franziskus. An die Bischöfe an die Priester und Diakone, an die Personen geweihten Lebens, an die Christlichen Eheleute und an alle christgläubigen Laien über die Liebe in der Familie. 2016, URL: http://www.vatican.va/content/francesco/de/apost_exhortations/docume nts/papa-francesco_esortazione-ap_20160319_amoris-laetitia.html abgerufen am 25. Mai 2021. [Im Folgenden zitiert als AL]
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Gunda Werner
Ambiguität des Frauen- und Marienbildes auf der einen Seite und der Eindeutigkeit der binären Geschlechterkonstruktion in römischen Dokumenten auf der anderen Seite in einem genealogischen Zugang bezüglich Auseinandersetzungen im 19. Jahrhundert zu verorten. Die Darstellung der Transformationen des Marienbildes im 19. Jahrhundert versteht sich als Case Study, um die Auswirkungen dieser Veränderungen einerseits weit über die katholische Kirche hinaus und andererseits im argumentativen Duktus gegenwärtiger römischer Texte zur Frauen-/Geschlechterfrage besser zu verstehen. Ich arbeite in drei Schritten: Der ausführliche erste Teil rekonstruiert die Veränderungen des Marien- und Frauenbildes im 19. Jahrhundert (1). Der zweite Teil zeichnet die Auswirkungen des 19. Jahrhunderts auf exemplarische römische Dokumente nach (2). Der abschließende Teil reflektiert die zugrundeliegende argumentative Struktur dieser Dokumente als differenzhermeneutisch (3). Dahinter steht die These, dass die profanwissenschaftliche Perspektive für bestimmte ekklesiologische Themen nicht herangezogen werden darf, weil sonst die göttliche Perspektive verdunkelt würde, und sich dahingehend ambiguitätsresistent zeigt, als die lehramtliche Definition des Geschlechterverhältnisses eben durch eine gegenüber anderen Wissenschaften abschließende Denkform im streng binären Denken verbleibt.4
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Transformationen der Marienfrömmigkeit im 19. Jahrhundert in ihren Auswirkungen auch auf gegenwärtige Geschlechterverhältnisse
Im beginnenden 19. Jahrhundert hat die europäische Kirchenlandschaft tiefgreifende Veränderungen erlebt. Die Säkularisation von 1802/03, die Auflösung des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation 1806 und der Wiener Kongress 1815 hatten gravierende Auswirkungen auf die Kirche, die umfangreich beschrieben worden sind.5 Ich kann mich daher auf die geschlechtsspezifischen und mariologischen Auswirkungen, und damit zunächst auf den Binnenraum der katholischen Kirche, konzentrieren. Dass die Säkularisierung und Aufklärung, die Ausbreitung des Bürgertums und seiner Wissenskulturen einen deut4 Dieser Aufsatz geht auf ein Kapitel in: Gunda Werner: Der lange Schatten des 19. Jahrhunderts, in: Judith Butler und die Theologie. Hrsg. v. Bernhard Grümme/Gunda Werner, Bielefeld 2020, S. 287–305 zurück und wurde für die Veröffentlichung gekürzt, partiell verändert und thematisch zugespitzt; vgl. Auch Gunda Werner, Judith Butler und die Theologie der Freiheit, Bielefeld 2021, S. 180–214. 5 Vgl. Andreas Holzem: Tübinger Schule? Tübinger Theologie als Zeitgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert, in: Jahres- und Tagungsbericht der Görres-Gesellschaft. Hrsg. v. Görres-Gesellschaft, Bonn 2013, S. 13–33, S. 18.
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lich stärkeren Einfluss auf Männer als auf Frauen hatten, ist hinlänglich bekannt. Allerdings nicht weit bekannt ist, dass ebendieser Einfluss Männer in der Kirche zu theologischen Lehren bewegte, die den Frauen vorerst einen eigenen Raum persönlicher Religiosität sowie eine eigene weibliche Öffentlichkeit in der Schnittstelle von Kirche und Gesellschaft eröffneten – jedoch mit problematischer Motivation seitens jener Männer: Die Stärkung der Frauen in der Kirche erfolgte lediglich als konservative Reaktion auf die soziopolitischen Veränderungen in den beschleunigten Prozessen der Moderne, wobei diese Stärkung tatsächlich dann aber dazu missbraucht wurde, die eigene hierarchische Stellung zu untermauern, was sich in Fortfolge dann auch unterdrückend auf die Frauen in der Kirche auswirkte. Frauen hatten durchaus ein vitales Interesse daran, religiös zu bleiben, weil die Kirche ihnen eine Wahrnehmung und Bewegungsfreiheit eröffnete, die ihnen in der rapide sich verändernden gesellschaftlichen Öffentlichkeit verwehrt blieben.6 Allerdings ergab sich daraus für die katholische Kirche eine ganze Reihe von Problemen. So war die katholische Kirche bis dahin als »Kirche des Adels und der Mächtigen […] mit einer ausschließlich männlich geprägten politischen und gesellschaftlichen Ordnung verbunden«7. Andreas Holzem macht darauf aufmerksam, dass um 1800 der finale Sieg des bürgerlichen Diskurses über den adeligen Geschlechterdiskurs wahrzunehmen ist. Dies bedeutet konkret, dass der adelige Diskurs und seine Praxis einer plural gelebten Sexualität und Geschlechtlichkeit die Akzeptanz entzogen haben. Weiterhin war die Kirche des frühen 19. Jahrhunderts weder theologisch noch seelsorglich auf eine Situation vorbereitet, in der Frauen durch die faktische Abwesenheit von Männern in eine zahlenmäßig dominierende kirchlich-gesellschaftliche Öffentlichkeit gelangten. Diese Veränderung konnte z. B., so der Historiker Rudolf Schlögl, sowohl für die Bruderschaften als auch für das Wallfahrtswesen zu Beginn des 19. Jahrhunderts nachgewiesen werden.8 Kurz: Es schien keine konstruktive kirchliche Idee zu geben, mit der diese weibliche Selbstermächtigung einerseits theologisch reflektiert, andererseits seelsorglich umfangen werden konnte. Die Entwicklung erscheint beinahe paradox, denn die offenkundige Feminisierung des Religiösen und der Kirche bot kirchlichem Handeln gleich eine mehrfache Chance. Denn indem sich Frauen in den Mittelpunkt stellten, konnten sie in den Mittelpunkt gestellt werden, allerdings in einer klaren Rollenzuweisung, nämlich in der Übertragung der Aufgabe sowie Verantwortung,
6 Vgl. Thomas Mergel: Die subtile Macht der Liebe. Geschlecht, Erziehung und Frömmigkeit in katholischen Bürgerfamilien 1830–1910, in: Frauen unter dem Patriarchat der Kirchen. Hrsg. v. Irmtraud Götz von Olenhusen, Stuttgart/Berlin/Köln 1995, S. 22–47, S. 27. 7 Thomas Mergel: Die subtile Macht der Liebe, S. 28. 8 Vgl. Rudolf Schlögl [Hrsg. v. Irmtraud Götz von Olenhusen]: Sünderin, Heilige oder Hausfrau? Katholische Kirche und weibliche Frömmigkeit um 1800, Paderborn 1995, S. 23–25.
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Kinder wie Ehemänner kirchlich zu binden oder idealerweise zurückzuholen.9 Allerdings war hier theologisch eine grundlegende Veränderung der anthropologischen Grundlagen von Nöten. Denn durch den augustinischen Sexualpessimismus geprägt, hatte sich eine solide negative Anthropologie der Frau über die Jahrhunderte hinweg ausgebildet, so dass die Theologie kaum ein anderes Bild der Frau zeichnen konnte »als eine für die Sünde und die Verführbarkeit durch den Teufel besonders anfällige Kreatur«10. Deswegen waren die großen Vorbilder für Frauen die Büßerinnen oder Jungfrauen, das Leben der Frau spiegelbildlich denkbar als ein Leben als Sünderin und Büßende, als Fromme und Jungfrau in Askese und Gebet. Ein Vorbild für Frauen in bürgerlicher Existenz musste erst noch geschaffen werden, denn besonders diese Frauen waren durch ihre Sinnlichkeit und Körperlichkeit selbst für ihre eigenen Ehemänner eine Quelle unübersehbarer Gefahren.11 Vorsicht war deswegen selbst noch den frömmsten Frauen gegenüber geboten: Ihre Religiosität musste genauestens kontrolliert werden, um die vermutete besonders sinnliche Spiritualität in der Reinheit zu wahren.12 Damit theologisch und seelsorglich eine Möglichkeit eröffnet wurde, mit der durchaus ambivalenten Feminisierung des Religiösen umzugehen, geraten drei grundlegende Transformationen des Marienbildes im ausgehenden 18. bis zum späten 19. Jahrhundert in den Blick. Die erste Transformation im späten 18./ frühen 19. Jahrhundert skizzierte Maria in all ihrer barocken Prachtentfaltung hin zur Verehrung der »aufgeklärten« Maria als »tugendsames Hausweib«.13 Gerade nämlich die Intention der Aufklärung, die Marienfrömmigkeit zu entschlacken und in eine Tugendethik zu verwandeln, hatte Maria in eine für Frauen relevante lebensweltliche Realität geholt. Hier bot die katholische Aufklärung nun perfekte Rollenmodelle für ein bürgerlich-katholisches Frauenbild. Die ul9 Vgl. Manuel Borutta: Antikatholizismus. Deutschland und Italien im Zeitalter der europäischen Kulturkämpfe, Göttingen 2010, S. 25. Thomas Mergel: Die subtile Macht der Liebe, S. 28. 10 Rudolf Schlögl: Sünderin, Heilige oder Hausfrau?, S. 17. 11 Hierzu Referenzen bei Vgl. Rudolf Schlögl: Sünderin, Heilige oder Hausfrau?, S. 28–29. 12 Vgl. Rudolf Schlögl: Sünderin, Heilige oder Hausfrau?, S. 17. 13 Vgl. Klaus Schreiner: Maria. Jungfrau, Mutter, Herrscherin, München/Wien 1994, S. 374–414. Er macht auf die Rolle Mariens als Schutzpatronin aufmerksam, eine Rolle, die jedoch in der Aufklärung weitestgehend verschwand. Monique Scheer: Rosenkranz und Kriegsvisionen. Marienerscheinungskulte im 20. Jahrhundert, Tübingen 2006 untersucht die Marienerscheinungskulte im 20. Jahrhundert und entdeckt dort einen Rückverweis auf den Immaculatakult des 17. und vor allem des 19. Jahrhunderts (vgl. ebd., S. 265). Maria als Helferin in der Not findet ihren prominenten historischen Sitz im Leben 1571 in der Schlacht von Lepanto. Aber erst im 19. Jahrhundert wurde die Immaculata als Siegerin und Hilfe so institutionalisiert, dass sie als Siegerin von Lepanto auch als Siegerin gegen die moderne Welt inszeniert werden konnte, denn auch dies sei ein Krieg, so die von Manuel Borutta als katholischen Fundamentalismus bezeichnete ultramontane Bewegung. Vgl. Manuel Borutta: Antikatholizismus, S. 15.
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tramontane Bewegung konnte sich also sowohl das Marienbild als auch das das Bild der verbürgerlichten katholischen Frau ohne große Spannungen einkaufen.14 Auf diese Weise bekam aber die Geschlechtlichkeit ausgerechnet in dem Moment eine mehrfache Brisanz, in dem Frauen in den Mittelpunkt kirchlichen Machterhaltungsinteresses rückten. So wurden Diskurse angestrebt, die zum Teil gegenläufige Argumente entwickelten und eine Geschlechtskonstruktion hervorbrachten, die bis heute wirksam ist. So wurde die besondere Emotionalität der Frau als konstitutiv für die Religiosität definiert – der Mann als rational dagegen gesetzt. Religion war damit emotional und feminin besetzt; Staat, Politik, das Draußen rational und männlich. Dies ist ein bis heute binnenkatholisch und konservativ wirksames Argument!15 Allerdings geht dieses polare Geschlechterverständnis bereits auf die Bemühungen der Aufklärung zurück, die insbesondere die Natur des Mannes als vernünftig, die Natur der Frau als emotional gedacht haben. Dabei wurden Gefühle, weil auch sie dem Mann erlaubt waren, gegendert, so dass dem Mann vor allem Wut, Zorn und Aggressivität, der Frau Mitleid vorbehalten war.16 Hier hat also nicht nur die uns geläufige Ideologie der Häuslichkeit und Sittlichkeit ihren Ursprung, sondern auch die essentialistisch gegenderten Gefühlszuschreibungen.17 Die Sphäre der Öffentlichkeit und der Privatheit wurde vergeschlechtlicht und die Möglichkeiten von Frauen aufgrund ihrer biologischen Disposition in den Binnenraum der Familie verwiesen.18 Ute 14 Ansätze hierfür sind sowohl in der Predigt und Pastoral, so bei Wessenberg, als auch in der Tübinger Theologie zu finden: Sailer, Drey, der junge Möhler. 15 Vgl. hier besonders Manuel Borutta/Nina Verheyen: Vulkanier und Choleriker? Männlichkeit und Emotion in der deutschen Geschichte 1800–2000, in: Die Präsenz der Gefühle. Hrsg. v. Manuel Borutta, Bielefeld 2010, S. 11–39. Begründet wurde dies also von der Abhängigkeit der psychischen von den physischen Eigenschaften ›der‹ Frau, bereits in der Hausväterliteratur konfessionsübergreifend als ein wirkmächtiger Diskurs vollständig entwickelt. 16 Vgl. Manuel Borutta/Nina Verheyen: Vulkanier und Choleriker?, S. 12. 17 Vgl. María d. M. Castro Varela/Nikita Dhawan: Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung, Bielefeld 3. Auflage 2020, S. 70–71. 18 Vgl. Peter van der Veer: Imperial Encounters. Religion and Modernity in India and Britain, Princeton 2001. Dies ist weit über den katholischen und deutschen Raum hinaus wirksam. Peter Van der Veer verdeutlicht diese Verschiebungen in seiner soziologisch-historischen Studie über die Bedeutung der Religion in Großbritannien und Indien. Er beschreibt die Interdependenz zwischen der Kolonie und den Kolonisierenden und markiert dadurch, dass insbesondere die Geschlechterfrage die Beziehungen der Macht signifiziert. Die viktorianische Periode charakterisiert die Frau als den Engel im Haus. Die korrupte Welt brauchte das feste Fundament und den Schutz der moralisch intakten Familie, die religiös von den Frauen geleitet wurde (ebd., S. 83–84). Wirklich bemerkenswert sind die Interdependenzen zwischen der Kolonie und den Kolonisierenden, die Van der Veer aufdeckt, so dass sich im Laufe des 19. Jahrhunderts eine Form des von ihm so benannten muskulären Christentums herausbildet, die die Männlichkeit des Christentums in der Öffentlichkeit gegen die Sorge, durch den Kontakt zur Kolonie als dem feminin angesehen Orient feminin zu werden, betont. Dieses Motiv wird im Antikatholizismus wieder auftauchen.
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Gause und Benedikt Bauer haben auf die nachreformatorischen Bemühungen hingewiesen, die ein »regulierendes Schrifttum« hervorgebracht haben, »das ›Männer‹ und ›Frauen‹ als ›Ehemann‹ und ›Ehefrau‹ die neu instituierten Normierungen des sexed/gendered body einschreiben möchte«, die sogenannte Hausväterliteratur. »Hier wird dem lesenden reformatorischen Subjekt das heteronormative Gesellschaftsmodell auf der Basis der Oeconomia, also des Hausstandes, erläutert, hier wird reguliert, wie ein ›guter‹ frommer Ehemann und wie eine ›gute‹ fromme Ehefrau sich zu verhalten habe.« Dies war einerseits nach innen notwendig für die »interne (hetero)normative Stabilisierung der reformatorischen Subjekte«19, andererseits auch als Abgrenzung und Kritik an den spirituellen Gruppen, die sich innerhalb der Kirchen der Reformation bildeten und nicht der Norm entsprachen, so z. B. die Täufer. In dieser Zeit findet sich aber ein weiteres und bis heute wirksames Argument. So wurde die Abhängigkeit und Aufteilung von Physis und Wesen insbesondere in der katholischen Logik theologisch überhöht. Auf diese Weise wurde die Physis sowohl als schöpfungstheologisches Argument für den Ausschluss von kirchlichen Ämtern als auch für die Unterordnung unter dem Mann bemüht wurde, wie es etwa das Kirchen-Lexikon von 1852 tat.20 Dass die Frau dennoch aufgewertet wurde in ihrem besonderen und unverstellten Zugang zum Religiösen, eröffnet zugleich der als notwendig verstandenen Kontrolle Tür und Tor, weil diese Religiosität ja erneut in eine religiöse und professionelle Kontrolle gebracht werden musste, denn einer zu starken Schwärmerei oder zu intensiven mystischen Erfahrungen mit körperlichen Auswirkungen mussten Grenzen gesetzt werden, damit die weibliche Religiosität funktional und kontrollierbar blieb.21 19 Alle oben angeführten Zitate aus: Benedikt Bauer/Ute Gause: Judith Butler und die (protestantische) Kirchengeschichte, in: Judith Butler und die Theologie. Hrsg. v. Bernhard Grümme/ Gunda Werner, Bielefeld 2020, S. 273–286, S. 277. 20 »Das rechte Gebiet der Frauen sei das häusliche Leben, so sie in stiller Unterordnung mit allem Fleiße walten sollen«, Ferdinand Laufköther: Art. Weib, in: Kirchenlexikon oder Encyklopädie der katholischen Theologie und ihrer Hilfswissenschaften. Hrsg. v. H. J. Wetzen/ B. Welte, Freiburg 1852, S. 814–821, S. 820–821. 21 Die Romantik nimmt hier sicherlich eine Scharnierfunktion ein. In seinen Untersuchungen zum Antikatholizismus verdeutlicht Manuel Borutta, dass der Katholizismus durchaus eine Anziehungskraft für Romantiker*innen hatte, gerade weil der Katholizismus als das Andere der Moderne verstanden wurde. Dabei fungierte der Katholizismus gerade nicht als ein eindeutig konfessionelles, sondern als »transkonfessionelles System religiöser Orthodoxie und Reaktion« (Manuel Borutta: Antikatholizismus, S. 62.). Als solches wurde er mit dem Orient gleichgesetzt und dies hatte auch zur Folge, dass er als Objekt des Sehnens zugleich aus der deutschen Kulturnation ausgeschlossen wurde. Das beginnende 19. Jahrhundert verzeichnet also eine Orient-Schwärmerei unter den Romantiker*innen, diese kann sich in Deutschland, aufgrund fehlender Kolonien, anders entwickeln als z. B. in Frankreich oder England. Deswegen ist diese Schwärmerei nicht weniger unschuldig, denn sie reproduziert dieselben kolonialisierenden Machtverhältnisse und Interpretamente (Vgl. ebd., S. 62–63). Hier wiederum konnte der Katholizismus in einem regelrechten catholic turn – als innerer
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Allerdings ist hier theologisch weniger spannend, dass die Umbruchzeit um 1800 etwas Neues hervorbrachte, sondern was die entstehende ultramontane Bewegung, als sie noch nicht fest im Sattel war (also bis Mitte des 19. Jahrhunderts), aus dem gemacht hat, was ihr auf dem Silbertablett serviert worden war. An dieser Stelle kommt die zweite Transformation von Maria zum Tragen. Denn das vermenschlicht-aufgeklärte Bild Marias und das korrespondierende Frauenbild verschmelzen gewissermaßen zu einer neuen Biografie der Frau (und Maria) als Hausfrau und Mutter. Hinter dem Aufschwung der Marienverehrung, wie sie im 19. Jahrhundert zu erleben war, steckte also durchaus mehr als die übliche Deutung eines neuen Aufkommens von Volksfrömmigkeit.22 Die soziale Feminisierung des Religiösen im beginnenden 19. Jahrhundert ließ Maria zum »Vorbild eines biedermeierlichen Ideals von Weiblichkeit«23 werden, das Standards setzt und den Bewegungsraum für Frauen in der Familie und der Gesellschaft fortan bestimmt. Die Verschmelzung der aufgeklärten Maria und der verkirchlichten Frau in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts ist ein wirkmächtiger Teil einer Entwicklung der Geschlechterverhältnisse, die weit über das kirchliche oder sogar das europäische Feld der Geschlechterbeziehungen hinausgeht und Diskurse bis heute prägt. Gerade aber diese hypervisible Körperlichkeit Mariens sowie der Frauen und des sich entwickelnden kolonialen muskulären Christentums in der Paradoxie einer erneuten Feminisierung des katholischen Klerus (und der katholischen Kirche) stellt ein Forschungsfeld dar, dass in dieser Komplexität noch nicht umfassend angegangen worden ist.24 Im kolonialen Diskurs steht dahinter die Orient, dazu später mehr – hohe Attraktivität entfalten, bis zur Gleichsetzung der Romantik mit dem Katholizismus von Eichendorff im Jahr 1847 (vgl. ebd., S. 64). Allerdings ist es weniger der reale Katholizismus, so wie es weniger der reale Orient ist, der anzieht und dargestellt wird, sondern ein historisierter und stilisierter. Das katholische Andere wird aber auch, insbesondere in der Beschreibung der Frauen, infantilisiert und pathologisiert, in einer deutlichen Parallele zur Aufklärung (vgl. ebd., S. 65). 22 So Peter Walter: Art. Marienfrömmigkeit, URL: http://dx.doi.org/10.1163/2352-0248_edn_C OM_307261 abgerufen am 25. Mai 2021. Peter Walter im Lemma »Marienfrömmigkeit«, in: Peter Walter/Hans-Joachim König: Marienverehrung, in: Enzyklopädie der Neuzeit Online, URL: http://dx.doi.org/10.1163/2352-0248_edn_COM_307261 abgerufen am 8. Juli 2020. Ähnlich sind diese Beiträge gehalten: Leo C. Scheffczyk: Kennzeichen und Gestaltkräfte des ›Marianischen Zeitalters‹, in: Das marianische Zeitalter. Hrsg. v. Anton Ziegenaus, Regensburg 2002, S. 179–200. Petar Vrankic: Marianische Frömmigkeit und der Widerstand des Volkes zur Zeit der Aufklärung und der Französischen Revolution, in: Das marianische Zeitalter. Hrsg. v. Anton Ziegenaus, Regensburg 2002, S. 61–93. 23 Andreas Holzem: Christentum in Deutschland 1550–1850. Konfessionalisierung, Aufklärung, Pluralisierung, Paderborn 2015, S. 997. 24 Vgl. María d. M. Castro Varela/Nikita Dhawan: Postkoloniale Theorie, S. 70. Peter van der Veer: Imperial Encounters, S. 83–94. Van der Veer legt differenziert dar, wie sich die Muster der christlichen Männlichkeit im Gegenbild zur hinduistischen Männlichkeit ausbildeten als eine Notwendigkeit, zu einer klar umschriebenen religiös wie nationalen Identität zu kom-
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Logik, gegenüber einer nicht zu bändigenden Männlichkeit, auf eigene moralische Stärke und männliche Kraft zu setzen. Schüssler Fiorenza25 stellt die These auf, dass durch die Privatisierung von Religion die Geistlichkeit die privilegierte gesellschaftliche Position verlor und zunehmend mit den Damen der Gesellschaft auf eine Stufe gestellt wurde. Die Notwendigkeit einer verstärkten Betonung der Männlichkeit im katholischen Kontext sei die Folge, so Schüssler Fiorenza, die – ihrer Meinung nach – bis heute ein Grund für die Diskussionen um die Zulassung von Frauen zum Amt sei. Die entstehenden Männlichkeitsdiskurse in den unterschiedlichen kulturellen und kirchlichen Kontexten reagieren also durchaus auch auf eine gewisse Feminisierung des Religiösen sowie auf eine Diffamierung des Femininen als Gefährdung des Männlichen. Für die katholische Kirche wird sich diese Spannung durch die erstarkende ultramontane Bewegung als auch den zunehmenden Kulturkampf noch weiter zuspitzen. Manuel Borutta führt an vielfältigen Beispielen genau diese Dynamik aus, dass der Katholizismus als »[e]xotisch, primitiv, barbarisch«26 beschrieben wird und betont, wie parallel dies zur Beschreibung der kolonialisierten Räume der außereuropäischen Welt gelesen werden kann. Werden diese Themen erneut für die katholische Kirche zugespitzt und die genuin ekklesiologische Perspektive eingenommen, bekommt Maria eine weitere Bedeutung, die eng mit diesen beschriebenen und vielfältigen Geschlechterdiskursen zusammenhängt. In Deutschland wurde Maria nämlich selbst zu einem Medium des politisierten Mystizismus stilisiert, was notwendig war, um die konservative Volte gegen die Frz. Revolution zu befeuern. »Marienlieder, -gebete und -medaillons wurden zu einer kollektiven Quelle der Versicherung gegen den gesellschaftlichen Umbruch und die nach 1850 aufbrechenden Kulturkämpfe.«27 men, die moralische Integrität einschließt. Um dem Vorwurf des Femininen zu entkommen und zugleich klar britisch zu sein, sind spezielle Sportarten (so Cricket oder Rugby als »place of real Christian Salvation« [ebd., S. 92]) als auch religiöse Ertüchtigungen wie die der Pfadfinder in dieser Linie zu sehen. Aufhorchen lassen sollte die Rekonstruktion des Aufstands von 1857–1859, denn dort – so Van der Veer – wurde die Umschreibung der gefährdeten weißen Frau durch unzivilisierte nicht-weiße Männer geboren. »It was their sexual violation of the ›purity‹ of the Victorian ›angel in the house‹ that unleashed a hysterical, sexualized, and racialized hatred against the Indian native« (ebd., S. 86). Zudem musste die Möglichkeit von Sport eingebaut werden in ein religiöses System, das Sport nicht guthieß. Als christliche Helden wurden Missionare in den Kolonien gefeiert und in profaner Form diese Heldenhaftigkeit umgesetzt in eine Mischung aus Disziplin und Ertüchtigung, wofür sich Sport eignete, der zugleich als Teil einer Bildungsstruktur in eine missionarische Ausbildung integriert wurde. 25 Vgl. Elisabeth Schüssler Fiorenza: Die kritisch-feministische The*logie der Befreiung. Eine entkolonisierend-politische The*logie, in: Politische Theologie. Hrsg. v. Johann Baptist Metz/ Jürgen Moltmann/Elisabeth Schüssler Fiorenza, Neukirchen-Vluyn 2011, S. 23–39, S. 35–36. 26 Manuel Borutta: Antikatholizismus, S. 41. 27 Andreas Holzem: Christentum in Deutschland 1550–1850, S. 998.
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Auch für Männer war der Marienkult damit attraktiv als ein Medium der (gewaltfreien) Gegenwehr gegen Staats- und Polizeiwillkür. Dahinter stehen komplexe Diskurse der Aufklärung. Weil nämlich als Idealtypus Mensch der weiße, männliche, liberal-aufgeklärte, wissenschaftsgläubige Bürger mit allen kultur-kolonialen Ingredienzien galt, wurde auf die mariologische, klerus-hörige, verweiblichte katholische Kirche und auch auf ihre Männer hinabgeschaut.28 Die katholische Kirche wurde analog zum Orient gedacht und brauchte also ebenso eine Aufklärung als auch eine Zivilisierung, um die Nationenbildung im 19. Jahrhundert zu vollenden.29 Für die progressiven, liberalen und aufgeklärten Kräfte wurde die Art und Weise, wie sich die katholische Volksfrömmigkeit ausprägte, insbesondere die Heilig-Rock-Wallfahrt nach Trier im Jahr 1844 als auch die verstärkte marianische Spiritualität, zur Quelle harscher Kritik. Katholiken konnten – ähnlich wie eine pauschalierte Sicht auf den Orient – auf eine niedere Kulturstufe gestellt werden. Jedoch blieben auch für die aufgeklärten Männer die religiösen Frauen weiterhin anziehend, denn sie waren sinnlich, exotisch und erotisch zugleich. Dennoch waren sie nicht ungefährlich, denn sie konnten eine mögliche Quelle des religiösen Wahns sein, der als ansteckend gedacht wurde. Somit wurden sie weiterhin dämonisiert.30 28 Vgl. Andreas Holzem: Christentum in Deutschland 1550–1850, S. 998. 29 Vgl. Manuel Borutta: Antikatholizismus, S. 151. 30 Vgl. Elizabeth Johnson: Der lebendige Gott. Eine Neuentdeckung, Freiburg 2016. Dies ist übrigens keineswegs ein europäisches Phänomen, wie Elizabeth Johnson aufzeigen kann. In der Auseinandersetzung mit gegenwärtigen theologischen Herausforderungen der Gottesrede macht sie auf die besondere Situation der Latina*o Theologie in den USA aufmerksam. Interessieren soll hier der historische Kontext der sogenannten zweiten Eroberung mit den kolonialen Implikationen, die parallele Strukturen zur innereuropäischen Beurteilung des Katholizismus verdeutlichen: Denn die zweite Eroberung im 19. Jahrhundert, als die Vereinigten Staaten ihre Grenzen durch Militäraktionen, aber auch durch Annexion und Kauf ausweiteten, besaß eine implizite theologische Bedeutung. So verlor 1848 das besiegte Mexiko die Hälfte seines Gebietes an die USA, also das heutige Kalifornien, Arizona, New Mexiko, große Teile Colorados, Nevadas, Utahs. Der Vertrag legalisierte zudem die Annexion von Texas. Dass Latinos*as im Südwesten der USA wohnen, hat damit weniger mit Migration zu tun als es heute wirkt: sie lebten schlicht schon lange dort. Florida wurde bereits schon vorher von Mexiko gekauft. Der Krieg mit Spanien führte dazu, dass 1898 die amerikanische Hegemonie auf Kuba und Puerto Rico ausgeweitet wurde, ohne dass diese in die Staaten einbezogen wurden. Diese zweite Eroberung führte aber zur Oktroyierung der politischen, ökonomischen und sozialen Systeme, die die Hispanics an den Rand der Gesellschaft stellten, insofern diese bestehenden religiösen Kulturen, die eine eigene Form der Katholizität ausgebildet hatten, in eine direkte Konfrontation mit der christlichen protestantischen europäischen Kultur, deren Avantgarde eine beharrliche Abneigung gegen die papistischen, degenerierten und gemischtblütigen Menschen zum Ausdruck brachte, gerieten (vgl. ebd., S. 200–202.). Auch hier ist die katholische Volksfrömmigkeit ein Stein des Anstoßes. Jedoch bildet diese, so Johnson sehr deutlich, in sich bereits einen rassistischen Kontext ab. Gerade in der diskriminierten und unterdrückten Situation bekommt die praktizierte Volksfrömmigkeit, die sich durch symbolische Ausdruckform der göttlichen Präsenz versichert, also Altäre, Kreuze, Madonnen, große Prozessionen, eine Überlebensbedeutung. Historisch ist es eine
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Das Neue an den ersten zwei Transformationen, die ich beschrieben habe, ist dabei weniger die vordergründig betonte Verbürgerlichung der Frau und ihre Verhäuslichung, sondern die mit der Marienfrömmigkeit transportierte ekklesiologische und politische Dimension. Diese bewegt sich weit über den Katholizismus und Europa hinaus! Hinter diesen einzelnen Beschreibungen und Befunden steht eine sehr grundsätzliche Frage: Was ist die Moderne und wie wird sie gebildet? Auch an dieser Stelle sind die Untersuchungen von Manuel Borutta sehr aufschlussreich. Er macht nämlich auf die folgenreiche Entwicklung aufmerksam, die die Interpretation der Moderne im Singular nach sich gezogen hat.31 Weil Moderne bereits im 19. Jahrhundert als die eine Moderne angesehen wurde, die vor allem durch die Dimension des Fortschritts und der Säkularisierung geprägt war, konnte sich diese Deutung bis heute fast ungehindert durchsetzen. Zugespitzt ging es dann im Kulturkampf selbst sowohl für Liberale als auch für Ultramontane um einen Krieg oder eine Entscheidungsschlacht zwischen der Moderne und dem Mittelalter, also um die großen Themen Fortschritt und Tradition. Die Dichotomie also, die insbesondere im Kulturkampf zwischen Katholizismus und Moderne postuliert wurde, hat laut Borutta jedoch eine lange Geschichte. Diese zeigte sich unter anderem darin, dass der Katholizismus seit der Aufklärung aus der europäischen Geschichte und damit aber auch aus der Zivilisation ausgeschlossen wurde. Für mein Thema ist hier weniger relevant, dass diese Dichotomie kritisch hinterfragt werden muss, sondern dass sich an diesen Logiken und Deutungsschablonen wiederfinden, wie sie für die Kolonialisierung entwickelt, und angewendet wurden. Diese Deutungen lassen insbesondere durch ihr klares Gendering aufhorchen. Vom Konzept her ist ja bereits inkludiert, dass das Postulat der einen Moderne die Abgrenzung gegenüber der als anders und fremd zu beschreibenden Kolonie bereits beinhaltet, denn nur als Kolonie, als das andere, konnte die Kolonie ja fremd erscheinen. Dieses Konzept der Abgrenzung wurde eben auch auf den Katholizismus angewendet und damit die bereits beschriebene Orientalisierung des Katholizmus als von Laien geschaffene. »Man erhält Wissen, indem man auf affektbezogene Weise an den Symbolen und Ritualen teilnimmt. Daraus ergibt sich nicht vorrangig ein Kopfwissen von Glaubenssätzen – obwohl sein doktrinäres Repertoire breit und tief ist –, sondern das Gefühl des persönlichen Vertrauens und der Liebe zu Gott, der die Quelle des Bestehens der Gemeinschaft ist« (ebd., S. 205). Dieser Glaube war nicht nur für alle verfügbar, sondern auch von allen lebbar. Denn – und hier greift der interne Rassismus des Katholizismus – der ordinierte oder professionelle Klerus war kaum vorhanden. Im Zeitalter der Kolonialmächte gab es gute Gründe dafür: Große geographische Distanzen mussten überwunden werden und europäische Kleriker waren nicht in großer Zahl vorhanden. Der kirchliche Rassismus aber erlaubte es den indigenen oder mestizo/mulato Männern nicht, kirchliche Ausbildungsstätten zu besuchen. Von Frauen ganz zu schweigen. Hier treffen also zwei Diskriminierungsmomente des Rassismus ineinander und verschärfen den bestehenden kolonialen Diskurs gegenüber dem Katholizismus. 31 Vgl. Manuel Borutta: Antikatholizismus, S. 48.
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Konzept verstetigt.32 Diese beinhaltete aber gerade eine deutliche Gender-Beurteilung als ›weiblich‹. Deutlich sollte also in diesem Abschnitt werden, dass die Genese der Moderne nur auf der Logik des Ausschlusses der Nicht-Modernen geschieht und insbesondere dem Katholizismus jegliche Modernität abgestritten wird. Bisher wurde erstens vor allem verdeutlicht, wie und vor allem warum das kirchliche Marienbild im frühen 19. Jahrhundert eine grundlegende Transformation durch die Aufklärung und das seelsorgliche Plagiat der ultramontanen Bewegung durchlaufen hat. Zweitens stand die antikatholische Logik aufgeklärten, das den Katholizismus der Volksfrömmigkeit und der sich entwickelnden ultramontanen Ausprägung in kolonialer Logik beschrieb und darin ein spezifisches Zusammenwirken von Rasse, Klasse, Gender und Religion entfaltete. Insbesondere die marianische Frömmigkeit in ihrer papal-klerikalen Ausprägung wurde dabei besonders negativ beurteilt. In diesem Teil soll es nun stärker um die innerkatholischen Konsequenzen der beschriebenen Transformationen des Frauen- und Marienbildes gehen und damit um die dritte Veränderung. Ihren Höhepunkt fand die Veränderung der Marienfrömmigkeit zu einer Speerspitze der ultramontanen Bewegung im sogenannten Marianischen Zeitalter, das mit dem Mariendogma von 1854 seinen Start- als auch Höhepunkt erlangte und fast 100 Jahre lang als Katalysator ultramontaner Frömmigkeit diente. Dieser Prozess ist nicht zu denken ohne die zahlreichen Marienerschei-
32 Vgl. Manuel Borutta: Antikatholizismus, S. 50. Borutta verweist hier auf die Reisebeschreibungen von Friedrich Nicolai, die stilbildend geworden sind und exakt den Duktus der außereuropäischen Entdeckungsreisen bedienten, wobei er aber insbesondere Süddeutschland und Österreich beschrieb. Diese Beschreibungen können durchaus, so Borutta, als »innerdeutsche Kolonialphantasie« (ebd., S. 51) verstanden werden und sind von den wesentlichen Signaturen der europäischen Aufklärung geprägt. Ein weiterer Bestandteil eben dieser Signatur ist nämlich die Identifikation des wirtschaftlichen Erfolgs mit der Konfession, etwas, was die weber’sche These vorarbeitete. Borutta kann jedoch auch nachweisen, dass weitere Merkmale für die Beurteilung ebenso wesentlich waren, nämlich Rasse, Klasse und Geschlecht. Die beschriebenen nicolaischen Katholiken erscheinen nämlich nicht als eine rein konfessionell katholische Gruppe, sondern als Menschen der niederen Klassen und der unzüchtigen Frauen (vgl. ebd., S. 53). Die Logik dieser Reiseberichte wird zu strukturellen Merkmalen kolonialer Ethnographie ausgebaut, nämlich erstens die Enthistorisierung, in dem die betreffende Kultur als statisch beschrieben wird; zweitens wird die Kultur exotisiert und somit als das Andere des aufgeklärten Abendlandes gedeutet; drittens geschieht eine Essentialisierung, indem das Fremde/Andere mit der Natur gleichgesetzt wird (vgl. ebd., S. 57–58). Diese Merkmale werden nun alle auf den Katholizismus angewendet, so dass dieser als eine innere Kolonie der Aufklärung verstanden werden konnte. Über Borutta hinaus wird man sagen können, dass die Frauen innerhalb des Katholizismus selbst nun wieder als eine eigene Kolonie konstruiert werden, nur nicht mit dem Bedürfnis, diese aufzuklären, sondern sie zu zähmen und im Rahmen des herrschenden Diskurses als untergeordnet zu klassifizieren. Diese Forschungsperspektive müsste weiter ausgebaut werden.
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nungen, bei denen von einem »Marianischen Wunder«33 gesprochen wurde. Die marianische Frömmigkeit muss also durchaus kritisch betrachtet werden und hält der vordergründigen Deutung – so Andreas Holzem – einer GrassrootReligiosität gerade nicht stand.34 Die Dogmatisierung von 185435 stand sicherlich im Mittelpunkt der Veränderungen und kann auch als Testfall der religiösen Mentalitätsveränderungen gelesen werden. Mit der Enzyklika Ineffabilis Deus36 verkündete Papst Pius IX. am 8. Dezember 1854 das Dogma der Unbefleckten Empfängnis Mariens. Da die biblischen Referenzen mangelhaft waren, musste ein neuer Argumentationstypus gesucht werden. Auf diese Weise wurde die aktive Tradition der Kirche sowie das factum ecclesiae als hermeneutisch für die Schriftinterpretation leitend (Gen 3,15; Lk 1,28). Das Schreiben selbst gab den Tenor zur Deutung des Festes an. Als »Auszeichnung des katholischen Glaubens« und zur »Förderung der christlichen Religion«37 entwickelte sich der jetzt stark autorisierte und populisierte Immaculata-Kult als religionsstilgebend rasant weiter. Nur so konnte er zu einer gezielten Gegenbewegung der vermeintlich laxen Frömmigkeitspraxis einer aufgeklärten Bürgerlichkeit werden. Als ein solcher Kult vereinigte er zudem alle Spezifika der ultramontanen Pastoral: aufklärungskritisch, auf das Gefühl und die Sinne konzentrierend, moralisch vor allem im Bereich der Sexualität indoktrinierend und eine entschiedene Kirchlichkeit propagierend. Der Syllabus von 1864, der mit der Enzyklika Quanta Cura38 kommuniziert wurde, sicherte den Katholizismus gegenüber der Moderne in einer klaren Frontstellung ab.39 Vor allem aber setzte diese liberale Katholik: innen zusätzlich unter Druck, denn sie verschärfte die bestehende Spannung zwischen den sogenannten römischen und deutschen Theologen und ihren korrespondierenden katholischen Kräften. Besonders verhängnisvoll wirkte sich genau in dieser Zeit, in der der Katholizismus Bildung gebraucht hätte, die Sä33 Vgl. Andreas Holzem: Christentum in Deutschland 1550–1850, S. 997. Bernhard Schneider: Marienerscheinungen im 19. Jahrhundert. Ein Phänomen und seine Charakteristika, in: »Wahre« und »falsche« Heiligkeit. Hrsg. v. Hubert Wolf, München 2013, S. 91–102. 34 Vgl. Andreas Holzem: Christentum in Deutschland 1550–1850, S. 997. 35 Vgl. Monique Scheer: Rosenkranz und Kriegsvisionen, S. 339–341. Scheer zeichnet die Veränderung der Marienbilder durch die Erscheinungen im 19./20. Jahrhundert nach. Maria wurde als Immaculata aufgegriffen und diesmal als siegreiche Feldherrin gegen den Irrglauben der Gegenwart angerufen. 36 Vgl. Papst Pius IX.: Ineffabilis Deus. Apostolic Constitution of Pope Pius IX solemnly defining the dogma of the Immaulate Conception. 1854, URL: https://www.papalencyclicals.net/Pi us09/p9ineff.htm abgerufen am 26. Mai 2021. 37 Alle Zitate des Satzes aus: Papst Pius IX.: Ineffabilis Deus, Nr. 542. 38 Vgl. Papst Pius IX.: Litterae apostolicae Quanta Cura. Venerabilibus fratribus patriarchis, primatibus, archiepiscopis, et episcopis universis gratiam et ommunionem apostolicæ Sedis habentibus. 1864, URL: https://www.vatican.va/content/pius-ix/la/documents/encyclica-qua nta-cura-8-decembris-1864.html abgerufen am 26. Mai 2021. 39 Vgl. Manuel Borutta: Antikatholizismus, S. 103.
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kularisation aus, denn diese hob Bildungsorte auf, als sie dringend nötig waren. Wie sehr die katholische Aufklärung Mitte des 19. Jahrhunderts unter Druck geriet, ist ein komplexer und deutlich besser erforschter Bereich als die Reflexion auf die ineinandergreifenden Kategorien sozialer Konstruktion. Auffällig sind jedenfalls kirchliche Entscheidungen, die Fakten setzten: Die in der katholischen Aufklärung verpönte marianische Symbolik in der Öffentlichkeit wurde restauriert, zu denken ist hier an Mariensäulen. Die Dogmatisierung der Immaculata selbst offenbarte eine Spaltung im deutschen Katholizismus, die sich schon länger entwickelt hatte, nämlich zwischen den Befürwortenden im Seelsorgeklerus sowie den im Umfeld der Zeitschrift Der Katholik verorteten Laien einerseits (also die der römischen Theologie zuzuordnenden Kreise) und kritischen Theologen und dem höheren Klerus andererseits (der deutschen Theologie).40 Mit dem Dogma hatte die neue Synthese aus Marienfrömmigkeit, Papstdevotion und Denunzierung des Zeitgeistes einen unüberbietbaren symbolischen Ausdruck bekommen. Damit ist die Bedeutung Mariens und ihrer dreifachen Transformation weit über die Vorbildfunktion für Frauen hinaus zu verstehen. Die Marienfrömmigkeit funktionierte in der dritten Veränderung profund als Abgrenzungsdiskurs gegenüber einer als feindlich verstandenen Welt, gegenüber protestantischen und anderen Glaubensüberzeugungen sowie gegenüber den Freiheits- und Wissenschaftskonzepten der Moderne, die die Kirche grundlegend ablehnte.41 Maria war die »geeignete Patronin für einen Kampf gegen einen Feind, der das christliche Abendland aus antichristlichen Motiven heraus angreifen wollte«42, so Monique Scheer. Sie macht in ihrer Studie über Marienerscheinungen während des 2. Weltkrieges deutlich, dass das Marienbild der Immaculata in der Mitte des 18. Jahrhunderts nicht mehr zwingend selbstverständlicher Teil der christlichen Frömmigkeit gewesen ist, sondern ein Symbol des papsttreuen katholischen Glaubens. »Die steigende Bedeutung des Marienkults während der Konfessionalisierungsepoche korrespondierte […] mit einer zunehmenden Militarisierung der Gottesmutter, die als Kriegspatronin in den religiös aufgeladenen Konflikten angerufen wurde.«43
40 Vgl. Joachim Schmiedl: ›… Die Jungfrau Maria recht in ihrer himmlischen Vollkommenheit zu malen‹ (Wilhelm Heinrich Wackenroder). Der marianische Aufbruch des 19. Jahrhunderts zwischen Aufklärung und Ultramontanismus, in: Das marianische Zeitalter. Hrsg. v. Anton Ziegenaus, Regensburg 2002, S. 97–119, S. 113. 41 Vgl. das Rundschreiben »Mirari Vos« von Gregor XVI. am 15. August 1832 und den Syllabus vom 8. Dezember 1864, der zusammen mit der Enzyklika »Quanta cura« Pius’ IX. erschien. 42 Monique Scheer: Rosenkranz und Kriegsvisionen, S. 340. Dies hatte Maria ja in Lepanto bereits getan. 43 Monique Scheer: Rosenkranz und Kriegsvisionen, S. 312.
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Der Rosenkranz wurde als Waffe stilisiert, ein Bild, das in den Erscheinungen des 20. Jahrhunderts wieder aufgegriffen wurde. Mit der Dogmatisierung von 1854 konnte also zudem die Tradition der unbefleckten Empfängnis mit der Tradition der Schlachtenhelferin verbunden und reaktiviert werden. Auf diese Weise stellte die Marienfrömmigkeit einen nützlichen symbolischen Rahmen für den Kulturkampf dar. In den Rosenkranzenzykliken Leos XIII.44 wurde diese Deutung aufgenommen. Als es jedoch mit der Jahrhundertwende stiller um die kämpferische Gottesmutter wurde, denn die Päpste Pius X. und Pius XI. legten nicht so ein großes Interesse am Rosenkranz als Waffe und Maria als Schlangenzertreterin an den Tag, wie das Bild der Immaculata sie zeichnete45, war zu erahnen, dass sich innerhalb des Katholizismus durchaus ein Kulturwandel andeutete, der sicherlich nicht nur durch den Protest auf das I. Vatikanische Konzil 1870–71 hervorgerufen wurde, sondern auch durch die Beschleunigungen sozialer und gesellschaftlicher Veränderungen. Dennoch weihte Pius XII. die Welt 1942 an das Unbefleckte Herz Marias. Monique Scheer liefert einen weiteren bedeutsamen Baustein im Bild der Mariendeutungen zum Ende des marianischen Zeitalters und auch dieser ist gegendert: Denn die nach dem 2. Weltkrieg in der frommen Literatur sich findende Parallelsetzung von Maria zum Krieg kann als Versuch gedeutet werden, »die katholische Frömmigkeit der Lebenswelt kriegserfahrener Männer nahezubringen. Der Rosenkranz wird als ›Waffe Mariens‹, das Skapulier [als] ›Ihre Uniform‹«46 beschrieben. Insbesondere vom Marienerscheinungsort Fatima wurden hierzu Veröffentlichungen und Gebete formuliert. Ekklesiologisch gedeutet verschmolz Maria als hypervisible Frau und Mutter mit der kämpfenden Kirche und bekam damit jene ekklesiologische Bedeutung, die Gisbert Greshake als »Papolatrie« und »Mariolatrie«47 bezeichnet. Weil sich theologische in der Neuzeit – so Greshake – der Akzent auf das Thema Kirche verschob, wurden damit zwei unterschiedliche Aktzentren relevant: Erstens wurde der Papst und seine »einheitsstiftende plena potestas über die Kirche« betont und zweitens stellte man mit Nachdruck »die soteriologische Bedeutung Marias«48 heraus. Dazu kommt in der gegenseitigen Bedingung dieser beiden Kraftzentren ein drittes zu Tage: Die eben beschriebenen Formen der 44 Diese sind von Papst Leo XIII. zur Förderung der Gottesmutter veröfffentlicht worden. In diesen werden die Gläubigen zum ständigen Gebrauch des Rosenkranzes angeregt. Es sind alleine sieben Enzykliken zum Thema des Rosenkranzgebetes, darunter Supremi apostolatus officio (1883), Superiore anno (1884), Magnae Dei matris (englisch, 1892), Laetitiae sanctae (englisch, 1893) und Iucunda semper expectatione (1894). 45 Vgl. Monique Scheer: Rosenkranz und Kriegsvisionen, S. 345. 46 Vgl. Monique Scheer: Rosenkranz und Kriegsvisionen, S. 357. 47 Gisbert Greshake: Maria – Ecclesia. Perspektiven einer marianisch grundierten Theologie und Kirchenpraxis, Regensburg 2014, S. 8. 48 Gisbert Greshake: Maria – Ecclesia, S. 8.
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»Papolatrie und Mariolatrie sind die spezifisch katholischen Formen der ›Wende zum Subjekt‹, wie sie für die Neuzeit typisch ist. An zwei Größen, die eng zusammenrücken, nämlich am Papst und an Maria, wird alles hervorgehoben und ›angeschaut‹, was der Neuzeit heilig ist: Freiheit und Autonomie, Größe, Würde und Perfektion des Humanum. Indem die religiösen Vollzüge eines katholischen Christen sich in besonderer Weise um diese zwei Faktoren bewegten und sich von beiden prägen ließen, wurde er selbst zum ›Subjekt‹ (im Sinne der Neuzeit).«49
Die Hypersubjektivierung Marias – so Greshake – geht Hand in Hand mit einer Hyperinstitutionalisierung der Kirche als Heilsanstalt, für die dann der Papst in letzter Konsequenz die objektive Frömmigkeit in der Unfehlbarkeit sicherstellte.50 Dies wurde dann ja auch die interpretatorische Stoßrichtung des I. Vatikanischen Konzils. Aber hier liegt die ganze ekklesiologische Brisanz der Mariologie versteckt! Denn die Ultramontanen – in der Regel alles Männer, darunter viele ehemalige (Früh-)Romantiker und/oder Konvertiten, jedoch nur zum Teil Kleriker, wohl aber alle traumatisiert durch die Frz. Revolution – benutzen die aufgeklärte Maria (also die nicht mehr barocke, sondern aufgeklärte Maria der ersten Transformation) durchaus, um die Frauen als Stütze der massiv angegriffenen katholischen Kirche aufzuwerten und gleichzeitig zu modellieren und zu disziplinieren (als tugendhaftes Hausweib, also die Folgen der zweiten Transformation von Maria). Dadurch untermauert aber letztlich der Klerus seine eigene Stellung als spiritueller Kader, der die fromme Frau von seiner sakralen/ sakramentalen Kompetenz abhängig macht (dies entspricht der dritten Transformation von Maria als katholische Speerspitze der ultramontanen Bewegung). Dies ist insbesondere bei den vielen Gründungen der Frauenkongregationen zu beobachten, aber auch bei den Marienerscheinungen.51 Die Frauen zahlten für ihren kurzfristig gewonnenen Freiraum innerhalb der Kirche auf lange Sicht einen hohen Preis. Kurz: Vordergründig ging es um Maria, hintergründig ging es um eine neue Ekklesiologie, um den Papst und die (Selbst-)Aufwertung der Kleriker. Jedoch wird man behaupten können, dass diese Form der Selbstaufwertung des Klerus ein viel größeres Ziel vor Augen hatte, nämlich die Bekämpfung der Aufklärung und ihrer vermeintlichen Folgen: Revolution, Säkularisation, Glaubensverlust und Marginalisierung des Christentums sowie der Kirche. An dieser Stelle greift dann aber wieder die Logik des marianischen Wunders! Denn auch wenn Maria sich in den Erscheinungen zeigte, sie im Mittelpunkt stand, es damit zu einer vordergründigen Unmittelbarkeit und Laienreligiosität kam – für die Kirchlichkeit brauchte es die klerikale Vermittlungsinstanz sowie den klerikalen 49 Gisbert Greshake: Maria – Ecclesia, S. 8. 50 Vgl. Gisbert Greshake: Maria – Ecclesia, S. 18–20. 51 Vgl. Andreas Holzem: Christentum in Deutschland 1550–1850, S. 999.
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Erlaubnisdiskurs. Die Selbstaufwertung der Kleriker geschah also auf anderem und durchaus neuem Weg, weil sie nicht direkt ausgeübt wurde, sondern äußerst verschleiert, nämlich durch die neue ultramontane Maria der Höheren Leitung,52 der Erscheinungen, des Mystizismus von Altötting bis Sant’Ambrogio. Es war also diese Maria, die den modernen Zeitgeist der allgegenwärtigen Profanierung der Welt Lügen strafen solle. Der Kleriker wurde damit aber zu der Figur, die diese marianischen Gnadenströme antirevolutionär verdichten konnte. Daher gehören das Mariendogma 1854 und das Unfehlbarkeitsdogma 1871 eng zusammen – sind zwei Seiten der gleichen Medaille.
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Gegenwärtige lehramtliche Geschlechteranthropologie – Binarität
In dieser dogmengeschichtlichen Case Study geht es darum, das in den aktuellen Aussagen des römischen Lehramtes übliche zum Ausdruck kommende Marienund Frauenbild historisch herzuleiten: Maria wurde als Mittelpunkt der neuen katholischen Identität konstruiert und schließlich zum Inbegriff ultramontaner Religiosität. Eingebettet ist diese Veränderung in eine geistesgeschichtliche Situation, in der sich gegenseitig bedingende Faktoren Auslöser für eine eigene Dynamik werden, die mit Borutta als innere Kolonialisierung beschrieben werden kann und doch weit über den deutschen Sprachraum oder den europäischen Kulturraum hinausgeht. Ist der innerkatholische Prozess ansatzweise ziemlich gut bekannt, nicht zuletzt aus den Rezeptionskonflikten des II. Vatikanischen Konzils, wo genau dieser ekklesiologische Konnex von Marienverehrung und Papolatrie aufgegriffen wird, sind die kolonialen Prozesse mit ihren gender, rassistisch und klassizistischen Prozessen theologisch weniger eingefangen. Bei der Lektüre der entsprechenden lehramtlichen Texte wiederum, also Mulieris Dignitatem53 von 1988, des Briefes an die Frauen54 von 1995 und des Briefes zur Zusammenarbeit von Männern und Frauen55 von 2004, fällt vor allem 52 Vgl. Andreas Holzem: Christentum in Deutschland 1550–1850, S. 995. 53 Vgl. Papst Johannes Paul II.: Apostolisches Schreiben mulieris dignitatem von Papst Johannes Paul II. über die Würde und Berufung der Frau anlässlich des marianischen Jahres. 1988, URL: http://www.vatican.va/content/john-paul-ii/de/apost_letters/1988/documents/hf_jp-ii _apl_19880815_mulieris-dignitatem.html abgerufen am 28. Juli 2021. 54 Vgl. Papst Johannes Paul II.: Brief von Johannes Paul II. an die Frauen. 1995, URL: http://www. vatican.va/content/john-paul-ii/de/letters/1995/documents/hf_jp-ii_let_29061995_women.h tml abgerufen am 28. Juli 2021. 55 Vgl. Joseph Ratzinger/Angelo Amato: Schreiben an die Bischöfe der katholischen Kirche über die Zusammenarbeit von Mann und Frau in der Kirche und in der Welt, Vatikan Stadt 31. 05. 2004, URL: https://www.vatican.va/roman_curia/congregations/cfaith/documents/rc_con_c faith_doc_20040731_collaboration_ge.html abgerufen am 25. Mai 2021.
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auf, dass das Bild der Frau mit dem Begriff der Würde in den Mittelpunkt gestellt und zugleich in einen engen Zusammenhang mit Maria gesetzt wird. Die Rede von der gleichen Würde der Frau mündet nun allerdings gerade nicht in die gleichen Rechte. Das Papier der Glaubenskongregation zur Zusammenarbeit von Männern und Frauen fasst dies deutlich in seiner Argumentation zusammen: Mannsein und Frausein seien von Beginn an verschieden und gehörten als solche ontologisch verschieden zur Schöpfung. Dies bedeute zugleich, dass sich von dort aus und nur von dort aus ein tieferes Verständnis der Frau in ihrer Rolle in der Gesellschaft und Kirche ergebe. Ihre Rolle in der Gesellschaft finde die Frau deswegen als Mutter, denn dies sei mit ihrem biologischen und psychologischen Wesen in einem Maße konform, dass selbst die der Arbeit nachgehende Frau sich dieser ontologischen Grundlage nicht entziehen könne. »Man darf aber in diesem Zusammenhang nicht vergessen, dass die Überschneidung von zwei Tätigkeiten – Familie und Arbeit – bei der Frau andere Merkmale annimmt als beim Mann. Deshalb stellt sich die Aufgabe, die Gesetzgebung und die Organisation der Arbeit mit den Anforderungen der Sendung der Frau innerhalb der Familie zu harmonisieren.«56
So das Papier der Glaubenskongregation. Das frauliche Wesen sei ein Dasein-fürandere, etwas, das bei den Menschen als Abbild Gottes wohl auch bei Männern vorfindbar sei, allerdings würden Frauen, weil sie spontaner mit den Werten der Hingabe, des Dienens, Unterwerfens und der Fürsorge, übereinstimmten, für diese Werte in besonderer Weise ein Zeichen sein.57 Die Rolle der Frau in der Kirche ist zudem mariologisch gezeichnet. Denn Maria wird zum allumfassenden Vorbild für das Bild der Kirche als Braut, für die Antwort der Gläubigen auf den Ruf Gottes, den Ruf Christi, sowie für die annehmende und hingebende Haltung Mariens. »Auch wenn es sich dabei um Einstellungen handelt, die jeden Getauften prägen sollten, zeichnet sich die Frau dadurch aus, dass sie diese Haltungen mit besonderer Intensität und Natürlichkeit lebt. So erfüllen die Frauen eine Rolle von größter Wichtigkeit im kirchlichen Leben.«58 Deswegen würden Frauen einen wesentlichen Raum in der Kirche einnehmen, auch wenn die Priesterweihe ausschließlich Männern vorbehalten werde.59 Die gleiche Würde aber mündet sowohl gesellschaftlich als auch kirchlich in unterschiedliche Rechtslagen. Der Text der Glaubenskongregation reflektiert in ausgewählter 56 Joseph Ratzinger/Angelo Amato: Schreiben an die Bischöfe der katholischen Kirche über die Zusammenarbeit von Mann und Frau in der Kirche und in der Welt, Nr. 13. 57 Vgl. Joseph Ratzinger/Angelo Amato: Schreiben an die Bischöfe der katholischen Kirche über die Zusammenarbeit von Mann und Frau in der Kirche und in der Welt, Nr. 14. 58 Joseph Ratzinger/Angelo Amato: Schreiben an die Bischöfe der katholischen Kirche über die Zusammenarbeit von Mann und Frau in der Kirche und in der Welt, Nr. 16. 59 Joseph Ratzinger/Angelo Amato: Schreiben an die Bischöfe der katholischen Kirche über die Zusammenarbeit von Mann und Frau in der Kirche und in der Welt, Nr. 16.
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Form den Diskurs um eine besondere ontologisch begründete Würde der Frau von Johannes Paul II., wie er sich bereits in Mulieris Dignitatem findet. Um nun wirklich angemessen über den Menschen als Mann und Frau nachdenken zu können, muss der Horizont des Wesens und Handelns von Maria als Grundlage genommen werden, denn wesentliche Aussagen über die Würde können nur in Verbundenheit mit Gott ausgesagt werden und Maria ist der Inbegriff dieser Verbundenheit. Deswegen ist sie der alles umfassende Horizont für Aussagen über den Menschen an sich, die Frau im Besonderen.60 Denn bei Maria befinden »wir […] uns hier gewissermaßen am Höhepunkt und beim Urbild der personalen Würde der Frau«61; so Mulieris Dignitatem. Die Unmöglichkeit der Weihe von Frauen zum priesterlichen Amt wird auch in diesem Text wiederholt und betont, indem das Zueinander von Christus als Bräutigam der Kirche zu seiner Braut in der Eucharistie betont wird und dies als ein Schöpfungs- und Erlösungshandeln zueinander gesetzt wird, gemäß welchem das Zueinander von Mann und Frau doch gleich sein sollte.62 »Die Wu¨ rde der Frau wird von der Ordnung der Liebe bestimmt, die im Wesentlichen eine Ordnung von Gerechtigkeit und Nächstenliebe ist.«63 Diese Ordnung sei nicht nur auf die Ehe anzuwenden, sondern sei eine universale Aussage über das Wesen und die Würde der Frau, denn so »stellt die Frau einen Eigenwert dar als menschliche Person und gleichzeitig als jene konkrete Person in ihrem Frausein. Das trifft auf alle Frauen und auf jede einzelne von ihnen zu, unabhängig von dem kulturellen Rahmen, in dem jede sich befindet, und unabhängig von ihren geistigen, psychischen und körperlichen Merkmalen, wie zum Beispiel Alter, Bildung, Gesundheit, Arbeit, verheiratet oder ledig«64.
Die Berufung der Frau sei deswegen ontologisch begründet in ihrem Anvertrauen des Lebens, dies sei zugleich der »Genius«65 der Frau. Kurz, die Argumentation ist marianisch: »Die Kirche sieht in Maria den erhabensten Ausdruck des ›Genius der Frau‹ und findet in ihr eine Quelle nicht versiegender Inspiration.«66 So Johannes Paul II. in seinem Brief an die Frauen 1995. Die eschatologische Prolongierung ist für Männer wie Frauen durch Maria vor Augen gestellt und auf je unterschiedlichen Berufungen erreichbar. Weil es um die eschatologische Perspektive geht, dürfe es für Frauen auch kein Nachteil sein, »auch einen gewissen Rollenunterschied anzunehmen, insofern dieser Unterschied nicht das Ergebnis willkürlicher Auflagen ist, sondern sich aus der 60 61 62 63 64 65 66
Vgl. Papst Johannes Paul II.: Mulieris Dignitatem, Nr. 5. Papst Johannes Paul II.: Mulieris Dignitatem, Nr. 5. Vgl. Papst Johannes Paul II.: Mulieris Dignitatem, Nr. 26. Papst Johannes Paul II.: Mulieris Dignitatem, Nr. 29. Papst Johannes Paul II.: Mulieris Dignitatem, Nr. 29. Papst Johannes Paul II.: Mulieris Dignitatem, Nr. 30. Papst Johannes Paul II.: Brief an die Frauen, Nr. 10.
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besonderen Eigenart des Mann- und Frauseins ergibt«67. Wenn Christus nur Männer ausgewählt habe für den amtspriesterlichen Dienst, dann sei das keine Benachteiligung von Frauen, sondern die Möglichkeit, den Weg des Heiles in und durch die Kirche als unterschiedlich-ergänzend darzustellen, nämlich durch »das ›marianische‹ und das ›apostolisch-petrinische‹ Prinzip.«68 Papst Franziskus stellt sich in die Tradition, wenn er in Amoris Laetitia die Aussagen aus Mulieris Dignitatem wiederholt.69 Neu ist in diesem Dokument die eindeutige Auseinandersetzung mit der Gender Theorie, die hier bereits als Ideologie gekennzeichnet ist. »Eine weitere Herausforderung ergibt sich aus verschiedenen Formen einer Ideologie, die gemeinhin Gender genannt wird und die den Unterschied und die natürliche Aufeinander-Verwiesenheit von Mann und Frau leugnet.«70 Diese Ideologie sei bereits in die Erziehung der Kinder eingegangen und würde die Trennung von sex und gender so propagieren, dass eine komplette Beliebigkeit die Folge ist, die eine Gesellschaft ohne jede Unterschiede zum Ziel habe. In den lehramtlichen Texten wird deutlich, dass sie um eine klare Zuschreibung der ontologischen Wesenheit als auch der daraus resultierenden Rollenzuschreibungen von Männern und Frauen bemüht sind. Diese werden durch die Idealtypisierung von Petrus und Maria formiert und schließen von vorneherein jegliche Ambiguität aus. So wird die Ambiguität sowohl in der Geschlechterkonstruktion als solcher als auch in der konkreten Geschlechterformation und ihrer sozialen Rollen ausgeschlossen, wenngleich sich die marianischen Prinzipien auch als Vorbilder für das männliche religiöse und spirituelle Leben eignen. Männern, so könnte man meinen, ist eine ambigere Rollenvielfalt in ihrem sozialen Geschlecht zugestanden, als dies Frauen eröffnet wird. Die eindeutige biologische Geschlechterzuschreibung bei einer offeneren sozialen Geschlechterzuschreibung bei Männern hat nicht nur eine bereits dargestellte historische Genese, sondern vor allem mit einer differenzhermeneutischen Argumentation zu tun, die – so meine These – diesen Gedanken zugrunde liegt.
67 Papst Johannes Paul II.: Brief an die Frauen, Nr. 11. 68 Papst Johannes Paul II.: Brief an die Frauen, mit Bezug auf Papst Johannes Paul II.: Mulieris Dignitatem, Nr. 27. 69 AL, Nr. 173. 70 AL, Nr. 56.
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Das Scharnier zur heutigen Auseinandersetzung mit der Gender-Theorie und ihrer Geschlechtervielfalt: die differenzhermeneutische Argumentation
Die beschriebene zweite Transformation des Marienbildes leitet über zur These der Differenzhermeneutik. Denn die ultramontane Bewegung konnte diese aufgeklärte Maria ohne große Spannungen übernehmen und für die eigene Theologie und Ekklesiologie spirituell und religiös einsetzen. Maria wurde zum Inbegriff der Abwehr der Moderne und des Unglaubens und damit zum Symbol und wirkmächtigen rituellen Rückgrat für eine theologische Intention, die die binnenkirchliche Realität einer feindlichen Welt gegenüberstellt. Die hier entstehende differenzhermeneutische Logik sagt aus, dass nur der von Gott erleuchtete und begnadete Verstand das Geheimnis erfassen kann, was Kirche und Offenbarungswahrheit bedeutet. Diese Differenzhermeneutik ist über das II. Vatikanum hinausgetragen worden, welches sich ja durchaus der Welt und ihren Ambiguitäten geöffnet hatte. In bestimmten Bereichen aber – eben jenen, die den Machterhalt betreffen – bleibt, was neuscholastisch geprägt wurde: Nur der erleuchtete Verstand versteht, was lehramtlich im Genius der Frau und der Unmöglichkeit der Weihe ausgedrückt wird.71 Diese Hermeneutik lässt insbesondere deswegen aufhorchen, weil sie die lehramtliche Argumentation aus der weltlichen entfernt und damit – getragen von einer grundlegenden Differenz zwischen Kirche und Welt – eine Differenz in die Deutung von Mann, Frau und Welt einzieht. »Die menschlichen Wissenschaften, so wertvoll ihr Beitrag in ihrem jeweiligen Bereich auch sein mag, können hier [in der Frage der Zulassung zum Priestertum, GW] nicht genügen, denn sie vermögen die Wirklichkeit des Glaubens nicht zu erfassen: was hiervon im eigentlichen Sinn übernatürlich ist, entzieht sich ihrer Zuständigkeit.«72 In Mulieris Dignitatem wird diese Argumentation aufgenommen und weitergeführt: Alle seien berufen an dem einen Opfer teilzunehmen und so an der priesterlichen, prophetischen und königlichen Sendung Christi, denn darin sei zugleich die Verbundenheit des Bräutigam mit seiner Braut ausgedrückt. Weil alle in dieser Form teilnehmen könnten, beträfe es alle Glieder der Kirche, von den Frauen bis zu den Amtspriestern. Das hier 71 Vgl. Bernhard S. Anuth: Gottes Plan für Frau und Mann. Beobachtungen zur lehramtlichen Geschlechteranthropologie, in: Gender studieren. Hrsg. v. Margit Eckholt, Ostfildern 2017, S. 171–188, S. 178–180. Gegen die Kritik ist das Lehramt deswegen immun, so Anuth, »denn nach seinem Selbstverständnis sind seine Träger gerade nicht frei, die geltende kirchliche Lehre über das Verhältnis der Geschlechter zu ändern« (ebd., S. 178). 72 Kongregation für die Glaubenslehre: Inter Insigniores. Erklärung zur Frage der Zulassung der Frauen zum Priesteramt. 1976, URL: https://www.vatican.va/roman_curia/congregation s/cfaith/documents/rc_con_cfaith_doc_19761015_inter-insigniores_ge.html abgerufen am 26. Mai 2021, Nr. 6.
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wesentliche Argument wird nun angeschlossen, denn dieses der Kirche eigentliche Wesen müsse als solches begriffen werden und für dieses Begreifen müsse gerade vermieden werden, dass »Verständnis- und Bewertungskriterien, die nichts mit ihr zu tun haben, auf diese Kirche – auch als eine aus Menschen bestehende und in die Geschichte eingegliederte ›Institution‹«73 übertragen würden. Diese Geheimnishaftigkeit wird stets auf Maria als Sinnbild und Höchstform zurückgeführt. Über die Nicht-Zuständigkeit außerkirchlicher Einsichten und Kategorien wird jegliche Möglichkeit eines Dialogs und einer Weiterentwicklung von vorneherein verhindert. Es findet eine Hermetik statt, welche die kirchliche Logik der Logik der Welt gegenübersetzt, und nur so die Marginalisierung von Frauen als binnenlogisch ausgeben kann. Der nicht erleuchtete Verstand wird mit moderner, demokratischer oder rechtsstaatlicher Logik dieses Verständnis als Unterdrückung und Diskriminierung bezeichnen, damit aber den Heilsplan Gottes verfehlen. Dies könnte mindestens erklären, wieso sich in lehramtlichen Texten keinerlei Erkenntnisfortschritt z. B. im Kontext der Gender-Theorie und ihrer impliziten Themen (der Gleichheit, der Gleichberechtigung, der Vielfalt) zeitigt. Wird von vorneherein für den Kernbereich eine Erkenntnis außerhalb der eigenen Erkenntnis abgelehnt, kann es auch zu keiner Weiterentwicklung oder zu keinem Fortschritt kommen. Weiterhin zeigt diese Argumentationsstruktur auf, dass eine solche differenzhermeneutische Argumentation gegenüber neuen Ambiguitäten hermetisch abgeriegelt ist, denn diese werden wiederum von außen herangetragen. So ist eben eine Rollen- oder Genderambiguität nur im vorgesehenen Maße möglich. An der Anthropologie und, römisch gesprochen, der Ontologie der Geschlechter, hängt die gesamte Machtstruktur des römisch-katholischen Amtsverständnisses, weswegen verständlich ist, dass sich hier die Abschließungsprozesse verdichten.
Literatur Bernhard S. Anuth: Gottes Plan für Frau und Mann. Beobachtungen zur lehramtlichen Geschlechteranthropologie, in: Gender studieren. Hrsg. v. Margit Eckholt, Ostfildern 2017, S. 171–188. Benedikt Bauer/Ute Gause: Judith Butler und die (protestantische) Kirchengeschichte, in: Judith Butler und die Theologie. Hrsg. v. Bernhard Grümme/Gunda Werner, Bielefeld 2020, S. 273–286. Manuel Borutta: Antikatholizismus. Deutschland und Italien im Zeitalter der europäischen Kulturkämpfe, Göttingen 2010.
73 Papst Johannes Paul II.: Mulieris Dignitatem, Nr. 27.
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Manuel Borutta/Nina Verheyen: Vulkanier und Choleriker? Männlichkeit und Emotion in der deutschen Geschichte 1800–2000, in: Die Präsenz der Gefühle. Hrsg. v. Manuel Borutta, Bielefeld 2010, S. 11–39. María d. M. Castro Varela/Nikita Dhawan: Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung, Bielefeld 3. Auflage 2020. Papst Franziskus: Nachsynodales apostolisches Schreiben Amoris lætitia des Heiligen Vaters Franziskus. An die Bischöfe an die Priester und Diakone, an die Personen geweihten Lebens, an die Christlichen Eheleute und an alle christgläubigen Laien über die Liebe in der Familie, Vatikan Stadt 2016, URL: http://www.vatican.va/content/francesco/de/apo st_exhortations/documents/papa-francesco_esortazione-ap_20160319_amoris-laetiti a.html abgerufen am 25. Mai 2021. Gisbert Greshake: Maria – Ecclesia. Perspektiven einer marianisch grundierten Theologie und Kirchenpraxis, Regensburg 2014. Andreas Holzem: Tübinger Schule? Tübinger Theologie als Zeitgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert, in: Jahres- und Tagungsbericht der Görres-Gesellschaft. Hrsg. v. GörresGesellschaft, Bonn 2013, S. 13–33. Andreas Holzem: Christentum in Deutschland 1550–1850. Konfessionalisierung, Aufklärung, Pluralisierung, Paderborn 2015. Stefan Hunglinger: Als Mann und Frau schuf er sie, in: taz.de (20. 11. 2020), URL: https://ta z.de/Sexualitaet-in-der-Kirche/!5725339/ abgerufen am 25. Mai 2021. Papst Johannes Paul II.: Apostolisches Schreiben mulieris dignitatem von Papst Johannes Paul II. über die Würde und Berufung der Frau anlässlich des marianischen Jahres, Vatikan Stadt 1988, URL: http://www.vatican.va/content/john-paul-ii/de/apost_lette rs/1988/documents/hf_jp-ii_apl_19880815_mulieris-dignitatem.html abgerufen am 28. Juli 2021. Papst Johannes Paul II.: Brief von Johannes Paul II. an die Frauen, Vatikan Stadt 1995, URL: http://www.vatican.va/content/john-paul-ii/de/letters/1995/documents/hf_jp-ii_let_29 061995_women.html abgerufen am 28. Juli 2021. Elizabeth Johnson: Der lebendige Gott. Eine Neuentdeckung, Freiburg 2016. Kongregation für das katholische Bildungswesen: Male and female he created them. Towards a path of dialogue on the question of gender theory in education, Vatikan Stadt 2019, URL: http://www.educatio.va/content/dam/cec/Documenti/19_0997_INGLESE.p df abgerufen am 25. Mai 2021. Kongregation für die Glaubenslehre: Inter Insigniores. Erklärung zur Frage der Zulassung der Frauen zum Priesteramt, Vatikan Stadt 1976, URL: https://www.vatican.va/roman _curia/congregations/cfaith/documents/rc_con_cfaith_doc_19761015_inter-insignior es_ge.html abgerufen am 26. Mai 2021. Ferdinand Laufköther: Art. Weib, in: Kirchenlexikon oder Encyklopädie der katholischen Theologie und ihrer Hilfswissenschaften. Hrsg. v. H. J. Wetzen/B. Welte, Freiburg 1852, S. 814–821. Thomas Mergel: Die subtile Macht der Liebe. Geschlecht, Erziehung und Frömmigkeit in katholischen Bürgerfamilien 1830–1910, in: Frauen unter dem Patriarchat der Kirchen. Hrsg. v. Irmtraud Götz von Olenhusen, Stuttgart/Berlin/Köln 1995, S. 22–47. Papst Pius IX.: Ineffabilis Deus. Apostolic Constitution of Pope Pius IX solemnly defining the dogma of the Immaulate Conception, Vatikan Stadt 1854, URL: https://www.papa lencyclicals.net/Pius09/p9ineff.htm abgerufen am 26. Mai 2021.
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Sibylle Trawöger
Ambiguitätstoleranz im Paradox. Annäherungen an Paradoxie und Komplementarität in der Didaktik der systematischen Theologie
»Die Welt ist voll von Ambiguität«1, doch der rechte Umgang damit fehle, betont der Islamwissenschaftler Thomas Bauer. Das Leben in und mit einer »Scheinvielfalt«2 resultiere aus zu starken Vereindeutigungsunternehmungen. »Ambiguitätszähmung«3 und nicht Vereindeutigung sei der angemessene Umgang mit »Phänomene[n] der Mehrdeutigkeit, der Unentscheidbarkeit und Vagheit, mit denen Menschen fortwährend konfrontiert werden«4. Seine »These lautet […], dass unsere Zeit eine Zeit geringer Ambiguitätstoleranz ist. In vielen Lebensbereichen – nicht nur in der Religion – erscheinen deshalb Angebote als attraktiv, die Erlösung von der unhintergehbaren Ambiguität der Welt versprechen«5. Starre Klassifizierungen bzw. »Kästchenbildungen«6 und vorgefertigte Identitätszuschreibungen sowie die gegenwärtigen Markt- und Konsumlogiken7 tragen beispielsweise zur Ambiguitätsintoleranz bei. Der »allgemeine Erklärungs- und Verstehenswahn« fördere das »Vereindeutigungsstreben«8. Indem der Medienwissenschaftler Norbert Bolz unsere Gesellschaft als »Sinngesellschaft«9 bezeichnet, macht auch er aufmerksam, dass die »Komplexität« unserer Wirklichkeit in der Regel mit vorschnellen, verabsolutierenden Sinnangeboten überdeckt werde. Religiöse Sinn- und Deutungsangebote, die davon absehen, starre Antworten zu liefern, würden ein mögliches Korrektiv zu 1 Thomas Bauer: Die Vereindeutigung der Welt. Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt, Stuttgart 2018, S. 12. In einer leicht überarbeiteten Form erscheint dieser Artikel auch in der Festschrift für Stephan Ernst. 2 Ebd., S. 9. 3 Ebd., S. 15. 4 Ebd., S. 13. 5 Ebd., S. 30. 6 Vgl. dazu ebd., S. 71–81, sowie: »Der Versuch, Eindeutigkeit in einer uneindeutigen Welt wenigstens dadurch herzustellen, dass man die Vielfalt in der Welt möglichst präzise in Kästchen einsortiert, innerhalb derer größtmögliche Eindeutigkeit herrscht, ist eher dazu geeignet, Vielfalt zu verdrängen als sie zu fördern« (ebd., S. 81). 7 Vgl. z. B. ebd., S. 85. 8 Ebd., S. 88. 9 Norbert Bolz: Die Sinngesellschaft, Berlin 2012.
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den von der Marktlogik durchdrungenen Deutungsangeboten einer »Sinngesellschaft« bilden. Es sei die Aufgabe der Religion, »die Wunde des Sinns offen«10 zu halten. Komplexität und Ambiguität sind Grundmomente menschlichen Daseins, ebenso scheinbar die Sehnsucht nach Eindeutigkeit. Im Anschluss an die Arbeiten von Bauer und Bolz kann festgehalten werden, dass der rechte Umgang mit diesen gegensätzlichen Momenten samt deren Ausbalancierung ein wesentliches Moment des (religiösen) Bildungsprozesses ist. Ambiguitätsintoleranz, die sich in vielen Bereichen der Gesellschaft zeigt, kann auch im wissenschaftlichen Kontext gefunden werden. Um einer angemessenen »Ambiguitätszähmung« in der Theologie nachzugehen, werden die Phänomene Paradoxie und Komplementarität analysiert und deren Einbezug in die Didaktik der systematischen Theologie herausgearbeitet. Ein Paradox ist nicht bloß etwas Widersprüchliches, Absurdes oder Irrationales. Es ist ein Phänomen, das viele Schattierungen hat: »Wegen der Vielfalt der paradoxen Phänomene sind die bisher vorgeschlagenen Einteilungen unvollständig. Ramsey unterscheidet logische und semantische Paradoxien. Schtschegolkowa schlägt für die deduktiven Wissenschaften noch die dialektischen Paradoxien und die der logischen Folgebeziehungen vor. Paradoxien, welche die Struktur bestimmter systematisierender Denkformen und v. a. das Verhältnis von Wissen und Glauben betreffen, nennen wir konstitutive Paradoxien; solche, die nur auf unstrukturierte Merkwürdigkeiten hinweisen, rhetorische Paradoxien.«11
Eine Annäherung an das Paradox soll im Folgenden mittels der »Einteilung« des Philosophen Dieter Mersch unternommen werden. Mersch differenziert zwischen logischem und katachretischem12 Paradox. Das logische Paradox bezieht sich auf Denkstile, die die »Ordnung des Sagens«13 im Alltag oder auch in der Wissenschaft vorrangig prägen. Angelehnt an das NichtWiderspruchsprinzip generiert das logische Paradox im »Universum des Sinns« Unsinn. Innerhalb einer gewählten »Ordnung des Sagens« wird die Produktion von Unsinn vermieden und somit das logische Paradox umgangen, aufgelöst oder auch negiert. Die Arbeiten des Philosophen Gerhard Vollmer zeigen dies exemplarisch. Vollmer nimmt lediglich das logische Paradox unter der Prämisse des logischen Nicht-Widerspruchsprinzips in den Blick. Obwohl er zwischen 10 Ebd., S. 12. 11 Kurt Wuchterl: Paradox. I. Philosophisch, in: TRE XXV (31995), S. 726–731, S. 727. 12 »Katachretisch« ist im Gegensatz zu »katachrestisch« ein Neologismus. Zur Differenzierung von logischem und katachretischem Paradox vgl. ausführlicher: Sibylle Trawöger: Ästhetik des Performativen und Kontemplation. Zur Relevanz eines kulturwissenschaftlichen Konzepts für die systematische Theologie, Paderborn 2019, S. 98–108. 13 Dieter Mersch: Was sich zeigt. Materialität, Präsenz, Ereignis, München 2002, S. 33 (Hervorhebung im Original).
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Antinomie und Paradoxie unterscheidet, wirft er an zentraler Stelle beide wiederum in einen Topf: Eine Paradoxie würde – wie eine Antinomie – auf einen Fehler im (wissenschaftlichen) System hinweisen und dazu auffordern, das System zu adaptieren. Paradoxien seien ein probates Mittel, um Irrtümer in den Wissenschaften zu erkennen, denn »[w]er Widersprüche zulässt, der kann somit Wahrheit oder Geltung überhaupt nicht mehr sinnvoll beanspruchen. Deshalb darf und wird sich ein Wissenschaftler mit Widersprüchen niemals abfinden. Und da Paradoxien auf Widersprüche verweisen oder solche gerade darstellen, bieten sie den besten Anreiz, das System gründlich zu überdenken und nach Verbesserungen zu suchen«14.
Vollmers Zugang zur und Umgang mit der Paradoxie inkludiert zwar den (wissenschaftlichen) Kontext innerhalb dessen ein Paradox auftritt,15 er geht allerdings von dem Ideal aus, eine »Ordnung des Sagens« definieren zu können, die dieses Phänomen – das einem Irrtumsanzeiger oder Unsinnsgenerator gleicht – nicht mehr auftreten lässt. Mersch fasst die Paradoxie mittels der Differenzierung von logischem und katachretischem Paradox breiter in den Blick: Das katachretische Paradox hält im Bewusstsein, »dass es gerade der Aporetik bedarf, um sich aus den Sistierungen des Systems zu befreien und dem Gefängnis seiner Ordnung zu entkommen. Es bleibt nicht bei einer Polemik der Widerlegung stehen, sondern hintertreibt diese nochmals auf die Entdeckung ihrer impliziten Voraussetzungen hin.«16 Das katachretische Paradox erschließt sozusagen den Zugang zu metatheoretischen Reflexionen indem es den Blick auf die jeweils gewählte »Ordnung des Sagens« richtet und deren innewohnende Prämissen freilegt. Das katachretische Paradox inkludiert den Appell, die jeweils gewählte »Ordnung des Sagens« nicht zu verabsolutieren. Es lässt beispielsweise fragen: Passt das der »Ordnung des Sagens« innewohnende Formalobjekt zum untersuchenden Materialobjekt oder produziert diese Wahl mehr Unsinn als Sinn? Es treibt auch die Neugierde an, ein (paradoxes) Phänomen innerhalb mehrerer »Ordnungen des Sagens« zu betrachten und die daraus resultierende Veränderung des Phänomens zu benennen. Das katachretische Paradox macht also deutlich, dass »es […] nicht das Unsagbare schlechthin [gibt; S. T.], sowenig wie das Irrationale oder die Unvernunft, sondern lediglich Unsagbares oder Unvernünftiges in respekt einer Ordnung des Sagens, welche das Terrain der Rede im Ganzen absteckt. 14 Gerhard Vollmer: Paradoxien und Antinomien. Stolpersteine auf dem Weg zur Wahrheit, in: Naturwissenschaften 77 (1990), S. 49–66, S. 52. 15 Bereits anhand der Begriffsanalyse wird deutlich, dass das Paradox mit seinem Kontext verwoben ist: »Nach dem spätlateinischen paradoxus […] heißen Begriffe, Aussagen und Schlussfolgerungen umgangssprachlich paradox, wenn sie gegen die allgemeine Meinung sprechen« (Kurt Wuchterl: Paradox, S. 727). 16 Dieter Mersch: Was sich zeigt, S. 32 (Hervorhebung im Original).
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Der Widerspruch markiert dann nicht die Verwerfung der Sagbarkeit überhaupt, sondern allein deren Beschränktheit in Ansehung der zugrunde liegenden Prinzipien, wie sie durch das Maß des logos determiniert werden.«17 Weiters macht das katachretische Paradox »Ordnungen« stark, die Nicht-differentialistisches-Denken wesentlich miteinbeziehen – ein Denken, das der Versuchung, vorschnelle Identitätskonstruktionen zu bilden, widersteht, um die bleibende Differenz, die jeglichem Phänomen innewohnt, offenzuhalten: »Weniger bedeuten sie [die Paradoxe; S. T.], wie es die Reihe gängiger Klischees will, in Widersprüchen zu verharren oder Tabus zu brechen und eingeschliffene Wahrnehmungsmuster aufzusprengen, vielmehr bilden sie das bevorzugte Ereignis chiastischer Differenzpraktiken. Keineswegs bedarf es dazu allerdings des Spektakels oder opulenter Mittel, sondern bisweilen nur der leisen Interventionen, der Indirektheit oder eines einfachen Blickwechsels.«18
Das katachretische Paradox hält also generell eine »produktive Chiastik«19 offen, »ein Differenzgeschehen ohne Hoffnung auf Identität«20. Mittels räumlicher Metaphern verdeutlicht Mersch den Terminus »Chiasmus« wie folgt: »Dabei gemahnt die Figur des ›Chiasmus‹ […] weniger an die Form des griechischen Buchstabens Chi noch an das Geheimnis des christlichen Kreuzes, das sich mit dem X (Chi) als dem Anfangsbuchstaben von Christus amalgamierte, sondern wie die Parallaxe, an eine Überkreuzung von Linien, von sich im Raum nicht schneidende, sondern verfehlende Geraden. Sie spannen eine ›Zwischenräumlichkeit‹ auf, welche zugleich jene ›Mitte‹ bezeichnet, die den Begriff des Medialen allererst konturiert, wie sie ihn buchstäblich ›offen‹, d. h. auch ortlos hält.«21
Chiasmus bezeichnet den »Zwischen-Raum«, der jeglichem Verstehensprozess innewohnt: »Dieser ›Zwischen-Raum‹ […] kann als die ›Mitte‹, der Ort einer Produktion von ›Sinn‹ verstanden werden, der selbst nicht hervortritt, aber durch 17 Ebd., S. 33 (Hervorhebung im Original). 18 Dieter Mersch: Paradoxien, Brüche, Chiasmen. Strategien künstlerischen Forschens, in: Kunst und Wissenschaft. Hrsg. v. Dieter Mersch/Michaela Ott, München 2007, S. 91–101, S. 101. 19 Ebd., S. 100. Das Differenzgeschehen der Chiastik verdeutlicht Mersch anhand Slavoj Zˇizˇeks Ausarbeitungen zur Parallaxe: »Sie [die Chiastik, S. T.] spricht so eine wechselseitige Kreuzung an, wobei das, was sich kreuzt, nicht in einem Punkt trifft, sondern, wie ›Windschiefe Geraden‹ im Raum aneinander vorbeiläuft, ohne sich zu verbinden« (ebd., S. 100). 20 Ebd., S. 100. Die Figur des Chiasmus faltet Mersch im Anschluss an Lacans Arbeiten zum Begehren aus. Vgl. dazu: Dieter Mersch: Posthermeneutik, Berlin 2010, S. 203–204. Er macht diese Metapher für die Analyse von Symbolisierungsprozessen und für die Kulturtheorie brauchbar. Zur Annäherung an die »Mitte« im Chiasmus vgl. auch: Alice Pechriggl: Chiasmen. Antike Philosophie von Platon zu Sappho – von Sappho zu uns, Bielefeld 2006, S. 28 (Hervorhebung im Original). 21 Dieter Mersch: Posthermeneutik, S. 208. »Der Ausdruck Chiasmus ist dabei in einer Weise zu verwenden, dass nicht das Kreuz und seine Schnittflächen, die sich in einem Punkt treffen, im Fokus stehen, sondern die Tatsache, dass ihre verschiedenen Linien auf keine Weise zur Deckung kommen« (ebd., S. 218).
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grundlegende Risse gekennzeichnet ist, in deren Spalten das nistet, was die Erfahrung und Deutung des Realen allererst stiftet.«22 Der »Zwischen-Raum« ist auch die Herberge des »Dass«. Unter Zuhilfenahme von medienphilosophischen Überlegungen verdeutlicht Mersch dies wie folgt: Medien besitzen eine Art »Doppelstruktur, eine Verwicklung zwischen Sichzeigen und Sichverbergen, die ein Spiel von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit eröffnet«23. Im Störfall, also wenn zum Beispiel das Fernsehgerät aufgrund eines technischen Gebrechens zu flimmern beginnt und so das Fernsehen gestört wird, tritt diese Doppelstruktur auffällig zutage, denn in der Störung wird das »Sichverbergen« eines Mediums unterbrochen.24 Die Rede vom chiastischen Zwischen-Raum, will das, was sich nicht immer oder vollends offensichtlich zeigt, im Bewusstsein halten. Mersch spitzt die im Rahmen der Semiotik, der Hermeneutik und der Medienphilosophie ausgearbeiteten Reflexionen zum Zwischen-Raum innerhalb seiner Untersuchungen zur Epistemologie der künstlerischen Forschung zu: »Konträre oder kontrastive Katachresen evozieren dann Reflexivitäten, wenn ihre Differenzialität das Element eines Widerstreits aufweist, der nicht gelöst werden kann. Das Unlösbare forciert die Permanenz einer Unruhe, einer Vexierung. Deren Bewegung kann als die eines ›Denkens‹ im Sinne zetetischer Praxis aufgefasst werden, als eine sich ebenso öffnende wie sich offenhaltende Form der Reflexion oder Forschung.«25
Das »Zwischen« innerhalb Bedeutungsgenerierungsprozessen treibt eine unabschließbare Auseinandersetzung mit einem Materialobjekt gegebenenfalls unter Einbezug alternativer »Ordnungen des Sagens« an. Zwischen-Räume nicht vorschnell zu übergehen, sondern vorerst offen zu halten, um die darin innewohnenden Komplexitäten und mitgehenden Spannungen wahrzunehmen und diese erst in einem zweiten Schritt kreativ weiterzuführen, davon können sich auch religiöse Lehr-Lern-Geschehen inspirieren lassen.26 Die Fokussierung des Zwischen-Raumes (wie es etwa in der künstlerischen Forschung unternommen wird) ist demnach ein »Gegengift«27 gegen zu starke Vereindeutigungstendenzen. Ausgehend von den präsentierten Ausarbeitungen zum Paradox möchte ich auf drei, eng miteinander verknüpfte Aspekte, die für das Theologietreiben und
22 Ebd., S. 204. 23 Ebd., S. 154. 24 Vgl. dazu auch: Sybille Krämer: Medium, Bote, Übertragung. Kleine Metaphysik der Medialität, Frankfurt a. M. 2008. 25 Dieter Mersch: Epistemologien des Ästhetischen, Zürich/Berlin 2015, S. 197. 26 Mit Blick auf die Korrelationsdidaktiken bedeutet dies, nicht nur die Relata sondern auch deren Relationen im Lehr-Lern-Geschehen zu beachten, vgl. dazu: Sibylle Trawöger: Konstellation(en) der Korrelation. Skizze zur Erschließung des Korrelationsprinzips, in: Pragmatik christlicher Heilshoffnung unter Bedingungen der Säkularität. Hrsg. v. Loiero Salvatore u. a. (im Erscheinen). 27 Thomas Bauer: Die Vereindeutigung der Welt, S. 96.
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näherhin für die Didaktik der systematischen Theologie relevant sind, eingehen: (1) einmal kann die Sensibilität für die (Grenzen der) Sprache und der »Ordnungen des Sagens« verdeutlicht werden, was den Blick auf die (2) Verknüpfung von Spiritualität beziehungsweise Mystik und Theologie lenkt und zudem für die (3) Reflexion der Gestalt von Dogmen und Glaubensaussagen herangezogen werden kann. (ad 1) Im Lexikon für Theologie und Kirche ist festgehalten, dass »sich die Denker der Postmoderne häufig paradoxer Sprechweisen [bedienen; S. T.], um den sog. Logozentrismus aufzuweichen u. den Glauben an feste Bedeutungen zu untergraben.«28 So liegt – wie bereits deutlich wurde – auch ein Aspekt von Merschs Ausführungen zum katachretischen Paradox darin, das zu starre Anhaften an und die Verabsolutierung einer »Ordnung des Sagens« aufzubrechen. Um das Unruhepotential der Paradoxe für »Ordnungen des Sagens« im weiteren Sinne und etablierte Zeichensysteme im engeren Sinne zu verdeutlichen, unterscheidet Mersch ein Paradox der Referenz von einem Paradox der Materialität und einem Paradox der Performanz.29 Das Paradox der Referenz besagt, dass nicht vollständig erschlossen werden kann, was Bedeutung bedeutet. Die zwei weiteren Paradoxe stehen mit dem ersten in unmittelbarem Zusammenhang: Das Paradox der Materialität bezieht sich darauf, dass dem Zeichen aufgrund seiner »Verkörperung«30, die dessen Wahrnehmbarkeit überhaupt erst ermöglicht, eine »genuine Duplizität«31 innewohnt. Das Zeichen ist vom Chiasmus zwischen Materialität und Sinn geprägt. Das Paradox der Performanz weist darauf hin, dass jedes Zeichen »gesetzt« ist bzw. sich ereignet. Das »Faktum«32 der Setzung ist relevant, also sein »Dass«. Das Paradox liegt nun darin, dass »[k]ein Gesetztes […] den Akt seiner Setzung mit anzeigen [kann]: Ihm entgeht seine Performanz; sie entzieht sich«33. D. h., »[a]lle drei Paradoxa verweisen auf eine Unmöglichkeit, eine Grenze, aber so, dass diese keinen Mangel bedeuten, kein Verfehlen; sie sind nicht die Chiffren einer Negativität, die von einem prinzipiellen Versagen der Zeichen, der Semiose künden, vielmehr ist ihr Resultat erstens die Unbegreiflichkeit der Bedeutung, zweitens die Untilgbarkeit der Körper und ihrer Materialitäten und drittens die Undarstellbarkeit des Ereignens. Alle drei gehören zusammen.«34 In diesem Sinne deuten Paradoxe auf das jeglichem Zeichen- und
28 29 30 31 32 33 34
Klaus Michael Kodalle: Paradox, in: LThK3 VII (1995), S. 1367–1369, S. 1369. Vgl. Dieter Mersch: Posthermeneutik, S. 136f. Ebd., S. 133–135. Ebd., S. 140. Ebd., S. 143. Ebd. (Hervorhebung im Original). Ebd., S. 145 (Hervorhebung im Original).
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Symbolisierungsprozess innewohnende Unruhepotential35 hin und bezeugen deren »systematische Unerfülltheit«36. Merschs Reflexionen zum Paradox lassen die Spezifika seines posthermeneutischen Ansatzes, wie etwa ein Einbezug von Momenten, die sprachlich schwer fassbar sind (wie Materialität) und ebenso die Performativität der Ereignisse, deutlich zutage treten und entfalten die Unmöglichkeit der »Vereindeutigung« von Begriffen. Sein Ansatz fordert auf, Ambiguitätstoleranz in Bezug auf die vielfältigen »Ordnungen des Sagens« walten zu lassen. Dieser Aspekt wird im Folgenden auf die systematische Theologie übertragen: Innerhalb der (systematischen) Theologie gibt es unterschiedliche »Ordnungen des Sagens«, die sich in jeweils andersgearteten Ansätzen, »Schulen« beziehungsweise Stilen zeigen. In Bezug auf die unterschiedlichen Stile37 der Fundamentaltheologie kann derzeit beispielsweise ein erstphilosophischer Ansatz von einem handlungstheoretischen Ansatz unterschieden werden.38 In der theologischen Ethik kann etwa eine normtheoretische von einer tugendethischen »Schule« unterschieden werden.39 Den Studierenden einen Zugang zu den vielfältigen Stilen, Ansätzen und Schulen der systematischen Theologie aufzuzeigen, damit sie weiterführend rational verantwortet eigene Präferenzen ausbilden und 35 Vgl. zum Unruhepotential: Arno Schöppe: Theorie paradox. Kreativität als systemische Herausforderung, Heidelberg 1995, S. 254. 36 Dieter Mersch: Posthermeneutik, S. 136. 37 Martin Dürnberger/Aron Langenfeld/Magnus Lerch/Melanie Wurst: Stile der Theologie. Einheit und Vielfalt katholischer Systematik in der Gegenwart, Regensburg 2017. 38 Vgl. zum erstphilosophischen Ansatz beispielsweise Klaus Müller: Wieviel Vernunft braucht der Glaube? Erwägungen zur Begründungsproblematik, in: Fundamentaltheologie. Fluchtlinien und gegenwärtige Herausforderungen. Hrsg. v. Klaus Müller, Regensburg 1998, S. 77– 100; vgl. zum handlungstheoretischen Ansatz etwa: Edmund Arens: Feuerprobe auf das Tun des Glaubens. Zum Ansatz einer theologischen Handlungstheorie, in: Fundamentaltheologie. Fluchtlinien und gegenwärtige Herausforderungen. Hrsg. v. Klaus Müller, Regensburg 1998, S. 59–76. Selbstverständlich können unterschiedliche Ansätze zusammengeführt werden und wiederum einen eigenen Ansatz bilden, vgl. hierzu beispielsweise: Saskia Wendel: »…denn wir haben auf Dich gehofft.« Gedanken zu einer möglichen Verbindung von erstphilosophischer Glaubensverantwortung und Politischer Theologie, in: Freiheit Gottes und der Menschen. Hrsg. v. Michel Bönke, Regensburg 2006, S. 213–221. 39 Als ein klassischer Vertreter der normtheoretischen »Schule« in der Ausdifferenzierung des diskursethischen Ansatzes kann beispielsweise Karl-Otto Apel genannt werden. Vgl. KarlOtto Apel: Transformation der Philosophie. Band 2. Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft, Frankfurt a. M. 7. Aufl. 2015. Vgl. zur (theologischen) Tugendethik exemplarisch: Christoph Halbig: Der Begriff der Tugend und die Grenzen der Tugendethik, Berlin 2013, oder auch Hans-Joachim Höhn: Das Leben in Form bringen. Konturen einer neuen Tugendethik, Freiburg i. Br. 2014. Vgl. zu den vielfältigen Versuchen des Brückenschlags und der Vermittlung dieser beiden »Schulen« vor dem Horizont der Theologie dazu beispielsweise ansetzend an einem konkreten Materialobjekt: Daniel Bogner: Das Recht des Politischen. Ein neuer Begriff der Menschenrechte. Bielefeld 2014 und im Rahmen der Didaktik der theologischen Ethik: Stephan Ernst: Grundfragen theologischer Ethik. Eine Einführung, München 2009.
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eventuell innovative Synthesen erarbeiten können, ist ein aus den bisherigen Darstellungen von Merschs Arbeiten heraus generierter Impuls für die Lehre der systematischen Theologie an Universitäten und Hochschulen. Diesen posthermeneutischen Impuls möchte ich zur Konkretisierung mit ausgewählten Erkenntnissen des Wissenssoziologen Karl Mannheim in Verbindung setzen. Seine »Stilanalysen« zeigen, dass es den meisten Wissenschaftler(inne)n – ganz anders als Künstler(inne)n – widerstrebt »die Existenz von mehreren ›sich wiederstrebenden [sic!] Richtungen und Methoden‹ bzw. von Denkstilen anzuerkennen«40. Stilanalysen würden dazu verhelfen auch selbstreflexiv den gewählten wissenschaftlichen Stil zu »relativieren« und ihn als einen Zugang im Kanon der unterschiedlichen Stile zu betrachten,41 denn »so wie man nicht sagen kann, dass es in der Kunst die Technik und den Stil gibt, lassen sich auch die verschiedenen Methoden und Theorien, die zum Beispiel in der Soziologie vorhanden sind, nicht auf die Theorie und auf die Methode reduzieren.«42 Auch, wenn sich ein(e) systematische(r) Theologe(in) in der Forschung vorrangig einem Stil verschreibt, sollte in der Lehre die Stilvielfalt zum Vorschein kommen, um Studierenden im Grundstudium auch ohne Auslandssemester oder Studienortwechsel die Möglichkeit einzuräumen, sich eine »stilistische« Mehrsprachigkeit zu erarbeiten. (ad 2) Merschs Posthermeneutik spornt auf grundlagentheoretischer Ebene dazu an, die Vielfalt der Stile der Theologie im Sinne der Ambiguitätstoleranz 40 Amalia Barboza: Kunst und Wissen. Die Stilanalyse in der Soziologie Karl Mannheims, Konstanz 2005, S. 15. Zitat im Zitat aus: Karl Mannheim: Strukturen des Denkens. Hrsg. v. David Kettler, Volker Meja und Nico Stehr, Frankfurt am Main 1980, S. 161. Vgl. auch: »Mannheim knüpft an die in der Kunstanalyse oft verwendete methodologische Unterscheidung zwischen Form und Inhalt an, um zu betonen, dass sich die weltanschauliche Haltung eines Denkers vor allem im Formalen, in dem Wie offenbart, und nicht nur in dem Inhalt, in dem Was […]« (Amalia Barboza: Karl Mannheim, Köln 2. Aufl. 2020, S. 89). Auch Michael N. Ebertz hat in einer Diskussionseinheit der Tagung »Ambiguität und Toleranz« auf Karl Mannheim verwiesen. 41 »Ein Soziologe und besonders ein Wissenssoziologe wird diesen Stil nicht nur praktizieren, sondern auch immer wieder in einer Selbstreflexion zum Forschungsgegenstand machen können. Dank dieser selbstreflexiven Einstellung wird es möglich sein, die eigene Position zu relativieren und den wissenschaftlichen Kollegen nebenan, der am selben Institut sitzt, nicht mehr als einen »verkehrten« Soziologe zu betrachten, sondern als typischen Repräsentanten einer bestimmten Schule, eines bestimmten soziologischen Denkstils« (Amalia Barboza: Kunst und Wissen, S. 20). Vgl. auch: »Mannheim zufolge wird derjenige Denker, der sich seiner eigenen Stilzugehörigkeit bewusst geworden ist, nicht mehr nur nach diesem Stil denken, sondern er wird jetzt eine andere Einstellung zu sich selbst entwickeln. Der Denker wird nach einer Analyse seines eigenen Denkstils seine eigene Position relativieren und feststellen, dass er auch eine andere Einstellung hätte einnehmen können. Die Selbstreflexion führt zu einer Relativierung des eigenen Standpunktes und einer daraus folgenden hypothetischen Annäherung an andere Standpunkte. Es wird dadurch ein neuer Standpunkt erreicht, der es ermöglicht, einen Zugang zu den unterschiedlichen Stilen zu verschaffen« (ebd., S. 225). 42 Ebd., S. 13.
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bewusst in die Didaktik der systematischen Theologie miteinzubeziehen. Auf inhaltlicher Ebene verknüpft bereits Mersch das »Unverfügbare«, das im »Zwischen-Raum« nistet, an ausgewählten Stellen mit der Mystik. Diesem Impuls möchte ich im Sinne eines Zwischen-Schrittes folgen, bevor der Blick auf das Paradox in Glaubensaussagen gerichtet wird:43 (Katachretisches) Paradox44 und Chiasmus hinterfragen »Entweder-Oder-Logiken« und spornen an, »zweiwertiger Logik zu misstrauen«45. Die theologische Relevanz von Chiasmen und Paradoxien, v. a. im Bereich der Spiritualität und Mystik, bringt beispielsweise Alois Maria Haas ins Wort: »Innerhalb religiöser Traditionen kommt der religiösmystischen Erfahrung unzweifelhaft bei der Ausformung von Paradoxen eine schlechthin tragende Funktion zu.«46 Er führt dies darauf zurück, dass gewisse spirituelle Erfahrungen als widersprüchliche Einheitserfahrungen bezeichnet und demnach nur als paradoxes Geschehen verständlich gemacht werden können: »Einheitserfahrung aber ist denkbar nur im Moment ihrer Widersetzlichkeit gegen die Vielheit der irdischen Existenz; der Ausdruck beider zusammen muss notwendigerweise paradox ausfallen, da darin die Gleichzeitigkeit von Immanenz und Transzendenz, Kontingenz und Absolutheit, Vielem und Einem behauptet werden muss.«47
Haas erachtet die Figur des Paradoxes auch wiederum für »außermystische« Bereiche als hilfreich und wichtig: »Wie immer bedeutsam das Widerspruchsverbot im Kontext philosophischer Denkbemühungen gewesen sein mag und noch ist – seine Rolle ist für die moderne Kultur und Zivilisation von unabsehbarer Tragweite –, seine Nichteinhaltung im Laufe der Jahrhunderte ist wohl von ebenso starkem Belang. Denn Paradoxie-Erfahrungen, woher immer sie kommen mögen, haben – wie avancierte Denker längst gemerkt haben – strukturverändernde Kraft, da in den ihnen beigegebenen Erschütterungserfahrungen das Potential einer eigentlichen Schocktherapie in ausweglosen Situationen liegt.«48
43 Die Verknüpfung von Theologie und Spiritualität ist selbstverständlich mehr als ein »Zwischen-Schritt«, vgl.: Stephan Ernst/Nicolaus Klimek: Grundkurs christliche Spiritualität. Werkbuch für Schule, Gemeinde, Erwachsenenbildung, Kevelaer 2004. 44 Zum Paradox in der (Bibel)Theologie vgl. Helmut Kraft: Die Paradoxie in der Bibel und bei den Griechen als Voraussetzung für die Entfaltung der Glaubenslehren, in: Das Paradox. Eine Herausforderung des abendländischen Denkens. Hrsg. v. Roland Hagenbüchle und Paul Geyer, Würzburg 2002, S. 247–272. 45 Niklas Luhmann/Peter Fuchs: Reden und Schweigen, Frankfurt a. M. 2. Aufl. 1992, S. 46. 46 Alois Maria Haas: Das mystische Paradox, in: Das Paradox. Hrsg. v. Roland Hagenbüchle und Paul Geyer, Würzburg 2002, S. 273–294, S. 282f (Hervorhebung im Original). 47 Ebd., S. 283. Vgl. auch: »Die hénosis mystiké kennt keine Sprache mehr, da diese ins Viele führt. Mit anderen Worten: Die Initiation in die Unaussprechlichkeit Gottes führt in die paradoxe Redeform beredten Schweigens, welche jene der Dichtung ist« (ebd., S. 377). 48 Ebd., S. 281.
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Wird das Paradox nicht als logischer Widerspruch ausgeschieden, sondern als katachretisches Paradox in das Glaubensleben und folgend in die theologischen Auseinandersetzung miteinbezogen,49 kommt die ihm innewohnende strukturverändernde Kraft explizit in den Blick. Auf diese strukturverändernde Kraft möchte ich im letzten Punkt zu sprechen kommen. (ad 3) Glaubensaussagen und theologische Aussagen, die u. a. (potentielle) mystische und spirituelle Erfahrungsqualitäten speichern oder dafür sensibilisieren, folgen nicht immer einer »Entweder-Oder-Logik«. Spricht man davon, dass Jesus Christus »wahrhaft Gott und wahrhaft Mensch« (DH 301) ist, ist zum Verständnis dieser Aussage das katachretische Paradox zugrunde zu legen, andernfalls, also auf Grundlage des logischen Paradoxes, wäre dieser zentrale Glaubenssatz, und viele andere, als unsinnig zu bezeichnen. Die Theologin Sabine Pemsel-Maier stellt mit Blick auf den Religionsunterricht fest, dass ein herausforderndes Moment in der Didaktik der Theologie im Umgang mit Paradoxien liegt: »Vor allem die scheinbar theologischen Paradoxien in vielen christologischen Aussagen erscheinen nicht nachvollziehbar: Jesus ist gestorben und lebt doch weiter; er ist Gott und Mensch zugleich; er ist wirklich Mensch und doch ohne Sünde; er ist für unsere Sünden gestorben und dennoch müssen wir uns im Gericht für unser Fehlverhalten verantworten.«50
Es ist eine Aufgabe im Religionsunterricht, die Paradoxien, die der gängigen Logik widersprechen, nicht zu übergehen, sondern altersadäquat zu erschließen. Pemsel-Maier plädiert dafür, scheinbar einfache Auswege im Umgang mit Paradoxien – im Fall der Christologie wäre dies eine »Reduzierung der Christologie auf eine Jesulogie«51 –, in jeglichen Schulformen und Schulstufen zu vermeiden. Die bereits früh entwickelten und sich in Veränderung befindenden christologischen Entwürfe von jüngsten Kindern und Jugendlichen aber auch von Erwachsenen müssen je von Neuem ins Gespräch mit Christologien der Tradition gebracht werden. Dabei wird also eine »Theologie im weiten Sinne«, mit der wissenschaftlichen Theologie, der »Theologie im engen Sinne«, ins produktive (Spannungs-)Verhältnis gesetzt,52 ohne herausfordernde und zentrale53 Momente, wie eben die Paradoxien zu umgehen. 49 Je von Neuem zu bestimmen verbleibt die feine Grenzlinie zwischen (katachretischem) Paradox und Widerspruch. 50 Ebd., S. 36. 51 Sabine Pemsel-Maier: Empirie trifft Christologie. Einblicke in christologische Aneignungsprozesse von Kindern und Jugendlichen, in: Keine Angst vor Inhalten! Systematisch-theologische Themen religionsdidaktisch erschließen, Hrsg. v. Sabine Pemsel-Maier/Mirjam Schambeck, Freiburg i. Br. 2015, S. 211–231, S. 211. 52 Zur Differenzierung von »Theologie im weiten Sinne« und »Theologie im engen Sinne« vgl. Hermann Häring: Theologie/Disziplinen, in: NHThG, S. 273–282, S. 273–274. Vgl. auch: Si-
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Im religionspädagogischen Kontext hat sich im Umgang mit Paradoxien das Konzept des komplementären Denkens etabliert. Das Komplementaritätsprinzip54 – welches auf den Physiker Niels Bohr zurückgeführt und meist anhand des Welle-Teilchen-Dualismus des Lichts verdeutlicht wird – besagt vor dem Hintergrund, dass Objekt und Beobachtung aneinandergebunden sind, nicht nur, dass mehrere Beobachtungen bzw. Beschreibungen eines Objekts möglich sind, sondern dass sie auch bei gegenseitigem Widerspruch im Einklang stehen können. Komplementäres Denken wird in analoger Weise in der Religionspädagogik vorrangig im Bereich des Dialogs zwischen Naturwissenschaft und Theologie angewandt und erforscht, aber auch innerhalb der Theologie. Der Physiker und Psychologe Karl Helmut Reich spricht im ersten Fall, also wenn das Formalobjekt einmal aus der Naturwissenschaft und ein anderes Mal aus der Theologie heraus entstammt, von zirkulärer Komplementarität, und von paralleler Komplementarität, wenn die Formalobjekte einer gemeinsamen Diskurswelt entstammen. Reich, der eine Systematisierung der Entwicklung der Fähigkeit zum komplementären Denken im Kindes- und Jugendalter ausgearbeitet hat,55 plädiert dafür, die »formale zweiwertige (binäre) Logik nur da zu benutzen, wo sie ihre Berechtigung hat«56 und diese mit einer »relations- und kontextbezogenen Logik, [der] Logik einer verschränkten Komplementarität«57 zu ergänzen. Es gäbe »vier grundsätzliche[…] Schwierigkeiten von Denken in Komplementarität […]: (1) Mangel an einer genügend starken Motivation, diese nichttraditionelle Denkhaltung zu übernehmen; (2) Nichtvertrautheit mit der zugehörigen nichtklassischen Logik; (3) Vorherrschen eines ungeeigneten Weltbildes und schließlich (4) das Noch-nichterreichthaben einer entsprechenden kognitiven Entwicklungsstufe«58.
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bylle Trawöger: Sowohl: Jesus – als auch: Christus. Christologie und komplementäres Denken, in: Das Prisma 32 (2020), S. 46–52. Mirjam Schambeck zählt das »Paradoxon zur Grundstruktur der Christologie« (Mirjam Schambeck: Ganz Gott und Mensch?! Chalkedon updated – Christologische Konzepte Jugendlicher im Gespräch mit der Christologie, in: Keine Angst vor Inhalten! Hrsg. v. Sabine Pemsel-Maier/Mirjam Schambeck, Freiburg i. Br., S. 232–254, S. 238–243, S. 245). Rainer Schwindt: Komplementarität, in: LThK3 VI (2006), S. 230–231. Vgl. dazu beispielsweise Karl Helmut Reich: Kann Denken in Komplementarität die religiöse Entwicklung im Erwachsenenalter fördern?, in: Erwachen im Glauben. Beiträge zum Verhältnis von Entwicklungspsychologie und religiöser Erwachsenenbildung. Hrsg. v. Michael Böhnke u. a., Stuttgart/Berlin/Köln 1992, S. 127–154, S. 140. Reich arbeitet fünf Niveaus der Entwicklung des komplementären Denkens aus. Diese Entwicklung erfolge nicht automatisch. Eine knappe Zusammenschau der Kritiken an dieser Systematisierung von Bernhard Dressler und Martin Rothgangel finden sich in: Julia Hoffmann: Das Wirken Gottes innerhalb eines evolutiven Weltbildes. Systematische Theologie. Naturwissenschaften und Religionspädagogik im Dialog, Karlsruhe 2014, S. 261 und S. 269. Karl Helmut Reich: Es ist nicht logisch, aber doch wahr!, in: KatBl 128 (2003), S. 8–13, S. 9. Ebd., S. 10. Karl Helmut Reich: Kann Denken in Komplementarität die religiöse Entwicklung im Erwachsenenalter fördern?, 137.
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Diesen Schwierigkeiten sei mit geeigneten didaktischen Maßnahmen entgegenzusteuern.59 Komplementäres Denken müsse »kontinuierlich und systematisch […] stimuliert werden«60, denn diese Denkformen »sind nicht angeboren, sondern entwickeln sich unter geeigneten Bedingungen, wozu insbesondere die aktive Förderung durch Eltern, KatechetInnen und ReligionslehrerInnen beiträgt. Es geht […] vor allem um die Reflexion der eigenen Denkmittel, um eine passende Logik und um geistige Entwicklung.«61
Diese geistige Entwicklung muss selbstverständlich auch im Erwachsenenalter bewusst eingeübt werden,62 denn es ist lebenslange Aufgabe sich dem Glaubensgeheimnis unter Zuhilfenahme unterschiedlicher »Ordnungen des Sagens« immer wieder von Neuem anzunähern. Glaubensaussagen, die im performativen Modus dem Menschen Beziehung und Vertrauen stiften, regen auf einer Metaebene dazu an, die gängige »Ordnung des Sagens« nicht zu verabsolutieren und festgefahrene »Entweder-oder-Klassifizierungen« aufzubrechen, weil eben durch diese Logik nicht die Gesamtheit des (Glaubens-)Lebens zur Sprache gebracht werden kann. Sie beinhalten demnach eine »strukturverändernde Kraft«63. Die ihnen innewohnenden Paradoxien können »Krisen«64 innerhalb gängiger »Ordnungen des Sagens« auslösen, die zum Weiter- und Neudenken auffordern. Eine Didaktik der systematischen Theologie hat zur Aufgabe, diese »Krisen« – die sich, wie ersichtlich wurde, in Schule und Universität auf unterschiedlichen Ebnen zeigen können – nicht zu umgehen oder »ambiguitätsintolerant« über eine vorschnelle Komplexitätsreduktion beziehungsweise über ein spezifisches »Sinnangebot« aufzulösen. Ziel ist vielmehr, die Aufmerksamkeit darauf zu richten, dass und wie eine Paradoxie
59 Empfohlen werden hierzu beispielsweise die Arbeit mit Illustrationen, die in unterschiedlichen Kontexten (z. B. je nach Betrachter[innen]standpunkt) jeweils eine andere Antwort erfordern (vgl. Karl Helmut Reich: Es ist nicht logisch, aber doch wahr!, S. 10) oder auch die Arbeit mit Kunst (vgl. Claudia Gärtner: Ästhetisches Lernen. Eine Religionsdidaktik zur Christologie in der gymnasialen Oberstufe, Freiburg i. Br. 2011, u. a. S. 288), die zum komplementären Denken hinführen. 60 Julia Hoffmann: Das Wirken Gottes innerhalb eines evolutiven Weltbildes, S. 264. 61 Karl Helmut Reich: Es ist nicht logisch, aber doch wahr!, S. 9. In Karl Helmut Reich: Developing the Horizons of the Mind. Relational and Contextual Reasoning and the Resolution of Cognitive Conflict, Cambridge 2004 wird die Komposition von komplementärem Denken entwirrt. 62 Vgl. dazu auch: Karl Helmut Reich: Kann Denken in Komplementarität die religiöse Entwicklung im Erwachsenenalter fördern? 63 Alois Maria Haas: Das mystische Paradox, S. 281. 64 Vgl. zur Krise ausführlicher: Michael Schneider: Krise. II. Systematisch-theologisch, in: 3LThK VI (Sonderausgabe 2009), S. 483–484, v. a.: »[D]ie […] Krisis, die der Glaube hervorruft, erweist ihre Kraft darin, dass sie die vielfältigen K.n des Lebens in sich hineinzunehmen weiß« (ebd., S. 484).
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in Glaubensaussagen und Dogmen »Ambiguitätszähmung« betreibt.65 Die Arbeiten von Reich stützen dies, er sieht etwa in (der Genese) der zuvor erwähnten christologischen Lehrformel keinen »oberflächlichen Kompromiss […], der unter politischem Druck zustande gekommen […] sei«66, sondern vielmehr einen Beleg dafür, »dass wenigstens einige Konzilsväter in Komplementarität gedacht haben«67. »Philosophisch stehen P[aradoxien] u. System-Denken in einem extremen Spannungsverhältnis.«68 Demnach sind Paradoxien für das »System« der systematischen Theologie eine spannungsreiche Herausforderung, die zur Einübung von »Ambiguitätstoleranz« und zum gerichteten »Offenhalten des Sinns« dienen. Das Paradox lässt dem nachgehen, was wider die Erwartung steht. Es erinnert an die Verknüpfung von Spiritualität und Theologie69 und fordert auf, sich den (logischen) Herausforderungen die in den Glaubensaussagen liegen – sei es auf der inhaltlichen oder grundlagentheoretischen Ebene –, zu widmen.
Literatur Karl-Otto Apel: Transformation der Philosophie. Band 2. Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft, Frankfurt a. M. 7. Aufl. 2015. Daniel Bogner: Das Recht des Politischen. Ein neuer Begriff der Menschenrechte. Bielefeld 2014. Norbert Bolz: Die Sinngesellschaft, Berlin 2012. Amalia Barboza: Kunst und Wissen. Die Stilanalyse in der Soziologie Karl Mannheims, Konstanz 2005. Thomas Bauer: Die Vereindeutigung der Welt. Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt, Stuttgart 2018. Martin Dürnberger/Aron Langenfeld/Magnus Lerch/Melanie Wurst: Stile der Theologie. Einheit und Vielfalt katholischer Systematik in der Gegenwart, Regensburg 2017. Stephan Ernst/Nicolaus Klimek: Grundkurs christliche Spiritualität. Werkbuch für Schule, Gemeinde, Ewachsenenbildung, Kevelaer 2004. Stephan Ernst: Grundfragen theologischer Ethik. Eine Einführung, München 2009.
65 Diese Konkretisierung verdanke ich Annette Langner-Pitschmann. 66 Karl Helmut Reich: Kann Denken in Komplementarität die religiöse Entwicklung im Erwachsenenalter fördern?, S. 127. 67 Ebd. S. 136. Dies begründet er beispielsweise damit, dass die Formulierungen so gewählt wurden, dass die paradoxale Struktur klar zutage tritt und nicht etwa peinlich verborgen gehalten wird. 68 Klaus Michael Kodalle: Paradox, S. 1367. 69 »In allen Formen der Mystik […] erscheint paradoxe Rede innerhalb einer theologia negativa, um zu zeigen, dass die entsprechenden Prädikate kategorial nicht auf Gott anzuwenden sind« (Markus Mühling-Schlapkohl: Paradox, in: RGG4 IV, S. 923–924, S. 923).
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Claudia Gärtner: Ästhetisches Lernen. Eine Religionsdidaktik zur Christologie in der gymnasialen Oberstufe, Freiburg i. Br. 2011. Christoph Halbig: Der Begriff der Tugend und die Grenzen der Tugendethik. Berlin 2013. Julia Hoffmann: Das Wirken Gottes innerhalb eines evolutiven Weltbildes. Systematische Theologie. Naturwissenschaften und Religionspädagogik im Dialog, Karlsruhe 2014. Hans-Joachim Höhn: Das Leben in Form bringen. Konturen einer neuen Tugendethik, Freiburg i. Br. 2014. Sybille Krämer: Medium, Bote, Übertragung. Kleine Metaphysik der Medialität, Frankfurt a. M. S. 2008. Helmut Kraft: Die Paradoxie in der Bibel und bei den Griechen als Voraussetzung für die Entfaltung der Glaubenslehren, in: Das Paradox. Eine Herausforderung des abendländischen Denkens. Hrsg. v. Roland Hagenbüchle und Paul Geyer, Würzburg 2002. Niklas Luhmann/Peter Fuchs: Reden und Schweigen, Frankfurt a. M. 2. Aufl. 1992. Karl Mannheim: Strukturen des Denkens. Hrsg. v. David Kettler, Volker Meja und Nico Stehr, Frankfurt a. M. 1980. Dieter Mersch: Was sich zeigt. Materialität, Präsenz, Ereignis, München 2002. Dieter Mersch: Paradoxien, Brüche, Chiasmen. Strategien künstlerischen Forschens, in: Kunst und Wissenschaft. Hrsg. v. ders. u. Michaela Ott, München 2007. Dieter Mersch: Epistemologien des Ästhetischen, Zürich/Berlin 2015. Klaus Müller: Wieviel Vernunft braucht der Glaube? Erwägungen zur Begründungsproblematik, in: Fundamentaltheologie. Fluchtlinien und gegenwärtige Herausforderungen. Hrsg. v. Klaus Müller, Regensburg 1998. Alice Pechriggl: Chiasmen. Antike Philosophie von Platon zu Sappho – von Sappho zu uns, Bielefeld 2006. Sabine Pemsel-Maier: Empirie trifft Christologie. Einblicke in christologische Aneignungsprozesse von Kindern und Jugendlichen, in: Keine Angst vor Inhalten! Systematisch-theologische Themen religionsdidaktisch erschließen. Hrsg. v. Sabine PemselMaier/Mirjam Schambeck, Freiburg i. Br. 2015. Karl Helmut Reich: Kann Denken in Komplementarität die religiöse Entwicklung im Erwachsenenalter fördern?, in: Erwachen im Glauben. Beiträge zum Verhältnis von Entwicklungspsychologie und religiöser Erwachsenenbildung. Hrsg. v. Michael Böhnke u. a., Stuttgart/Berlin/Köln 1992. Karl Helmut Reich: Es ist nicht logisch, aber doch wahr!, in: Karl Helmut Reich: Developing the Horizons of the Mind. Relational and Contextual Reasoning and the Resolution of Cognitive Conflict, Cambridge 2004. Arno Schöppe: Theorie paradox. Kreativität als systemische Herausforderung, Heidelberg 1995. Sibylle Trawöger: Sowohl: Jesus – als auch: Christus. Christologie und komplementäres Denken, in: Das Prisma 32 (2020), S. 46–52. Siblle Trawöger: Ästhetik des Performativen und Kontemplation. Zur Relevanz eines kulturwissenschaftlichen Konzepts für die systematische Theologie, Paderborn 2019. Sibylle Trawöger: Konstellation(en) der Korrelation. Skizze zur Erschließung des Korrelationsprinzips, in: Pragmatik christlicher Heilshoffnung unter Bedingungen der Säkularität. Hrsg. v. Loiero Salvatore u. a. (im Erscheinen). Gerhard Vollmer: Paradoxien und Antinomien. Stolpersteine auf dem Weg zur Wahrheit, in: Naturwissenschaften 77 (1990), S. 49–66.
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Saskia Wendel: »…denn wir haben auf Dich gehofft.« Gedanken zu einer möglichen Verbindung von erstphilosophischer Glaubensverantwortung und Politischer Theologie, in: Freiheit Gottes und der Menschen. Hrsg. v. Michel Bönke, Regensburg 2006.
Frank Hinkelmann
Religiöse Ambiguitätstoleranz im konfessionellen Spannungsfeld zwischen charismatisch geprägten neueren römisch-katholischen geistlichen Gemeinschaften, Freikirchen und Evangelikaler Bewegung
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Einleitung »In Zeiten, die Uneindeutigkeiten nur schwer aushalten können, geraten Religionen von zwei Seiten unter Druck: Die eine ist die Gleichgültigkeit, die sich einstellt, wenn das, was uneindeutig ist, nicht als wichtig gilt. Die andere Seite ist der Fundamentalismus, der die Ambiguität schlicht leugnet. […] Zwischen diesen beiden Polen, der Gleichgültigkeit und dem Fundamentalismus, steht auch die katholische Kirche. Im deutschsprachigen Raum wie weltweit. Ihre große Stärke ist ihre überraschend große Ambiguitätstoleranz. Keine andere Institution hält so viele Widersprüche und Differenzen aus.«1
Der folgende Beitrag greift den Aspekt religiöser Ambiguitätstoleranz im konfessionellen Spannungsfeld zwischen charismatisch geprägten neueren römischkatholischen geistlichen Gemeinschaften, Freikirchen und Evangelikaler Bewegung auf. Dabei geht es nicht um eine Ambiguitätstoleranz im Sinne theologischer Positionen, wie sie im obigen Zitat hinsichtlich eines Fundamentalismusbegriffs angesprochen wurden. Vielmehr beschränkt sich der folgende Beitrag bewusst auf die Frage einer Ambiguitätstoleranz im konfessionellen Kontext, also im Spannungsfeld zwischen römisch-katholischer Kirche, Freikirchen und Evangelikaler Bewegung2, auch wenn theologische Positionen dabei nicht völlig außer Acht gelassen werden. Im Rahmen dieses Beitrags soll exemplarisch am Beispiel von vier zumindest in ihren Anfängen römisch-katholischen, neueren geistlichen Gemeinschaften bzw. Gruppierungen untersucht werden, wie es um ihre konfessionelle Ambi-
1 Bernhard Spielberg: Sakramentalität oder sakrale Mentalität. Was hat Mission Manifest, was die Mainstream-Kirche nicht hat?, in: Einfach nur Jesus? Hrsg. v. Ursula Nothelle-Wildfeuer/ Magnus Striet, Freiburg im Breisgau 2018, S. 120–137, S. 136–137. 2 Zu einer Klärung des Begriffs evangelikal vgl. vor allem Vgl. Frank Hinkelmann: Evangelikal in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Ursprung, Bedeutung und Rezeption eines Begriffes, Bonn 2017.
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Frank Hinkelmann
guitätstoleranz steht.3 Zu Beginn stelle ich diese Gruppen kurz vor4 und untersuche in weiterer Folge ihre Ambiguitätstoleranz im Hinblick auf ihre konfessionelle Verortung. Im Einzelnen sind dies folgende Gemeinschaften und Gruppierungen: – Die ehemalige Rhema-Gemeinschaft in St. Marien, Oberösterreich, heute eine freikirchliche Gemeinde in Linz als Teil der Elaia Christengemeinden innerhalb der Freikirchen in Österreich (FKÖ) – Den Verbund ökumenisch orientierter Gemeinschaften Österreichs – Die Loretto Gemeinschaft – Das Gebetshaus Augsburg Vorab ist es jedoch geboten, eine Arbeitsdefinition des Begriffes der religiösen Ambiguitätstoleranz vorzulegen. Ich greife dabei auf Aspekte der Definition kultureller Ambiguität des Münsteraner Arabisten und Islamwissenschaftlers Thomas Bauer zurück5 und adaptiere diese für die vorliegende Themenstellung: Religiöse Ambiguitätstoleranz beschreibt die Fähigkeit von Personen und Gruppierungen, eine Mehrdeutigkeit, Pluralität oder gar eine Widersprüchlichkeit von sprachlichen Aussagen, Symbolen, Strukturen und Handlungen im religiösen Bereich zu akzeptieren, zu tolerieren und diese bestenfalls als Bereicherung wahrzunehmen. Solcherart definierte religiöse Ambiguitätstoleranz gilt es zuerst einmal als eine neutrale Größe zu verstehen, ohne diese von vornherein mit einer positiven oder einer negativen Konnotation zu belegen.
2
Eine Kurzvorstellung der vier Gemeinschaften
Im Folgenden werden nun die vier exemplarisch ausgewählten Gemeinschaften bzw. Gruppierungen kurz in ihrer historischen und theologischen Entwicklung vorgestellt.
3 Zur Schwierigkeit der Begrifflichkeit vgl. Vgl. Bernhard S. Anuth: Kirchliche Bewegungen. Zwischen Universalkirche und Teilkirchen, in: Gerettet durch Begeisterung. Hrsg. v. Gunda Werner, Freiburg im Breisgau 2018, S. 44–92. Durchaus differenziert kritisch zu diesen neueren geistlichen Gemeinschaften Hans-Joachim Höhn: Mission First? – oder: Wenn man mit halben Wahrheiten aufs Ganze gehen will, in: Einfach nur Jesus? Hrsg. v. Ursula Nothelle-Wildfeuer/ Magnus Striet, Freiburg im Breisgau 2018, S. 34–52, S. 51. 4 Eine Herausforderung bei der Untersuchung dieser neueren Gemeinschaften und Gruppierungen stellt die oftmals eher schwierige Quellenlage dar, da eine Verschriftlichung der eigenen Positionen eher wenig stattfindet. 5 Vgl. Thomas Bauer: Die Kultur der Ambiguität. Eine andere Geschichte des Islams, Berlin 6. Aufl. 2019, S. 15–53.; Thomas Bauer: Die Vereindeutigung der Welt. Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt, Stuttgart 3. Aufl. 2018.
Religiöse Ambiguitätstoleranz im konfessionellen Spannungsfeld
2.1
197
Rhema Gemeinde Linz
Die ehemalige Rhema Gemeinschaft und heutige freikirchliche Rhema Gemeinde6 in Linz geht in ihren Anfängen auf einen durch den römisch-katholischen Kaplan Konrad Waldhör gegründeten Gebetskreis in der Pfarre Haid-Ansfelden zurück.7 Nachdem Waldhör eine Bekehrung erlebt hatte, begann er regelmäßig Freitagabend in einer Kapelle zu beten und bald schlossen sich ihm Jugendliche der Pfarre an, so dass ein Gebetskreis entstand.8 Als Waldhör 1978 als Militärseelsorger nach Zypern wechselte, übergab er die Leitung des Gebetskreises an Jakob Krämer und in weiterer Folge wuchs der Kreis durch die Unterstützung von Jugend mit einer Mission (JmeM) und erste Hauskreise entstanden. Wenige Jahre später konstituierte sich die Rhema Gemeinschaft, die in den Jahren 1989 bis 1992 in St. Marien ein Gemeinschaftshaus sowie eine Reihenhausanlage mit 24 Häusern errichtete. Die Gemeinschaft war zwar von ihren Anfängen an ökumenisch ausgerichtet, allerdings gehörte der größere Teil der rund 200 Erwachsenen und 100 Kinder der römisch-katholischen Kirche an. In den folgenden Jahren kam es jedoch zu einer wachsenden Entfremdung zwischen der Rhema Gemeinschaft und der römisch-katholischen Kirche, vor allem, nachdem Waldhör 1999 aus St. Marien wegzog und es vor Ort keine Sonntagsmesse mehr gab. In weiterer Folge verlegte die Gemeinschaft ihre Treffen von Freitagabend auf den Sonntag und immer weniger Mitglieder besuchten die römisch-katholische Sonntagsmesse. Schon Mitte der 1990er Jahren warnte daher das Pastoralamt der Diözese Linz: »Überdies wird eine Angleichung an evangelikal-freikirchliche Positionen geortet. […] die Gefahr besteht, dass aus dem gut gemeinten Aufbruch auch ein Ausbruch aus der Kirche werden kann.«9 Wenige Jahre später kam es zum Austritt der meisten Mitglieder der Rhema Gemeinschaft aus der katholischen Kirche und zur Gründung einer charismatischen Freikirche, die im Jahr 2006 zusammen mit drei anderen Gemeinden die eingetragene religiöse Bekenntnisgemeinschaft Elaia Christengemeinden gründete. Heute gehört die Gemeinde weiterhin zu den Elaia Christengemeinden und ist Teil der seit 2013 staatlich anerkannten Religionsgemeinschaft der Freikirchen in Österreich (FKÖ).
6 Vgl. Rhema-Gemeinde: Über uns. Unsere Geschichte, URL: https://www.rhema.at/ueber_uns/ abgerufen am 25. Mai 2021. 7 Vgl. hierzu und zum Folgenden: Frank Hinkelmann: Kirchen, Freikirchen und christliche Gemeinschaften in Österreich. Handbuch der Konfessionskunde, Wien/Köln/Weimar 2016, S. 158. 8 Vgl. hierzu und zum Folgenden: Rhema-Gemeinde: Über uns. 9 Zitiert bei Frank Hinkelmann: Kirchen, Freikirchen und christliche Gemeinschaften in Österreich, S. 158.
198 2.2
Frank Hinkelmann
Verbund ökumenisch orientierter Gemeinschaften Österreichs
Zum Verbund ökumenisch orientierter Gemeinschaften, der in den 1970er entstand, gehörten zeitweise bis zu sieben Laiengemeinschaften, die geprägt von einer charismatischen Frömmigkeit verschiedene Gemeinschaften gründeten.10 Trotz ihrer grundsätzlich ökumenischen Ausrichtung stellen Katholik:innen die Mehrzahl der Mitglieder der Verbundgemeinschaften. Während sich die Mödlinger Gemeinschaft Um Gottes Willen und die Vorarlberger David Gemeinschaft zwischenzeitlich aufgelöst haben, sind Umkehr zum Herrn in Wien, die Salzburger Kanaangemeinschaft, die oberösterreichische Gemeinschaft Maranatha im Linzer Zentralraum, die Ökumenische Gemeinschaft Felsenfest im Oberen Mühlviertel und die Gemeinschaft Lumen Christi in Tirol weiterhin aktiv. Beim Gemeinschaftsleben liegt der Fokus auf den Bereichen, die über Konfessionsgrenzen hinweg gemeinsam sind. Bewusst wird daher auch auf eine Eucharistiefeier im Rahmen des Gemeinschaftslebens verzichtet. Der Schwerpunkt der Spiritualität und des Apostolats der Gemeinschaften liegt auf einer authentisch gelebten Christus-Nachfolge und der Bereitschaft, das eigene Leben täglich neu unter die Führung und Korrektur des Heiligen Geistes zu stellen und sein Leben in den Dienst am Reich Gottes zu stellen. Persönlicher Austausch und Lobpreis bilden weitere wichtige Aspekte des gemeinschaftlichen Lebens, zu dem – um eine zahlenmäßige Größe zu erwähnen – sich bei Umkehr zum Herrn in Wien derzeit rund 60 Erwachsene verpflichtet haben.11
2.3
Loretto Gemeinschaft
Der private kirchliche Verein Loretto Gemeinschaft geht in seinen Anfängen auf einen Gebetskreis unter der Leitung von Georg Mayr-Melnhof zurück und gibt den 4. Oktober 1987 als Gründungsdatum an.12 Die Gruppe sah sich in Folge von Gott beauftragt, weitere Gebetskreise zu gründen. Anfang der 1990er Jahre begann man in Zusammenarbeit mit dem überkonfessionellen Missionswerk Jugend mit einer Mission mit der Durchführung von Jüngerschaftsseminaren zur 10 Vgl. Frank Hinkelmann: Kirchen, Freikirchen und christliche Gemeinschaften in Österreich, S. 99–106. 11 Vgl. Pastoralamt der Erzdiözese Wien: Kirchliche Bewegungen & neue Geistliche Gemeinschaften in der Erzdiözese Wien. Überarbeitete Ausgabe. 2019, URL: https://www.erzdioezese -wien.at/dl/uustJKJLkOMlJqx4KJK/Erneuerungsbeweg_9_2013_gesamt_v6_7_3_web2.pdf abgerufen am 25. Mai 2021, S. 72–73. 12 Vgl. hierzu und zum Folgenden: Frank Hinkelmann: Kirchen, Freikirchen und christliche Gemeinschaften in Österreich, S. 89–92.; Georg Mayr-Melnhof/Maximilian Oettingen: Pläne des Heils. Loretto Gemeinschaft. 2015, URL: https://media.loretto.at/s/PNbqdeiER8j4Y8T abgerufen am 25. Mai 2021.
Religiöse Ambiguitätstoleranz im konfessionellen Spannungsfeld
199
Vertiefung des persönlichen Glaubens. Die Gemeinschaft erlebte seit den 1990er Jahren ein starkes Wachstum und ist strukturell in ein Innen und Außen organisiert. Zum Inneren – der eigentlichen Loretto Gemeinschaft – gehören mehrere hundert Priester, Ordenschrist:innen und Laien, die sich regelmäßig in Hausgemeinschaften treffen und jährlich ein Gemeinschaftsversprechen erneuern. Zum Außen der Gemeinschaft zählen diejenigen, die an den Apostolaten in Form von Gebetskreisen oder an Festivals teilnehmen. Hier ist vor allem das jährliche Fest der Jugend im Salzburger Dom zu Pfingsten zu erwähnen, an dem jeweils rund 7.000, vor allem junge Gläubige teilnehmen.
2.4
Gebetshaus Augsburg
Als Letztes soll an dieser Stelle auf eine deutsche Initiative eingegangen werden: das Gebetshaus Augsburg. Es wurde vom promovierten römisch-katholischen Theologen Johannes Hartl zusammen mit seiner Frau Jutta im Jahr 2005 gegründet und versteht sich als Initiative innerhalb der Charismatischen Erneuerung der römisch-katholischen Kirche. Aus kleinen Anfängen in der katholische Pfarrgemeinde Zu den Hl. Zwölf Aposteln in Augsburg-Hochzoll ist inzwischen ein Werk entstanden, dass rund 50 Mitarbeiter:innen angestellt hat und weitere rund 100 ehrenamtliche Mitarbeiter:innen beschäftigt. Anliegen und Vision des Gebetshauses ist es, dass Christ:innen verschiedener Konfessionen gemeinsam rund um die Uhr durch Gebet und Lobpreis Gott verherrlichen. Neben den ständig stattfindenden Gebetszeiten findet alle zwei Wochen am Donnerstagabend eine öffentliche Veranstaltung mit Lobpreis, Lehre und Gebet statt, an der mehrere hundert Personen teilnehmen. Seit 2008 wird zudem alle zwei Jahre eine MEHR-Konferenz veranstaltet, die zwischenzeitlich auf zuletzt 12.000 Teilnehmer:innen angewachsen ist.13
13 Vgl. hierzu: Martin Schlorke: »Mehr«-Konferenz: Etwas mehr von (fast allem). Bilanz. URL: https://www.pro-medienmagazin.de/kultur/veranstaltungen/2020/01/06/mehr-konferenz-et was-mehr-von-fast-allem/ abgerufen am 1. Dezember 2020.
200
3
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Die innere Ambiguitätstoleranz der neueren geistlichen Gemeinschaften und Gruppierungen in konfessioneller Hinsicht
Betrachten wir im nächsten Schritt, was diese vier unterschiedlichen neueren geistlichen Gemeinschaften und Gruppierungen verbindet. – Alle sind als inner-katholische Bewegungen entstanden. – Alle vertreten eine charismatisch geprägte Frömmigkeit. – Alle verstanden bzw. verstehen sich als ökumenisch orientiert. – Alle betonen die Notwendigkeit von Evangelisation (der Weitergabe des Evangeliums) und der Jüngerschaft bzw. Nachfolge (Leben mit Jesus Christus im Alltag). – Alle legen großen Wert auf Gebet und Lobpreis. – Alle sind mit evangelikalen bzw. freikirchlichen Einrichtungen vernetzt bzw. Rhema hat sich für einen freikirchlichen Weg entschieden.
3.1
Das Verständnis von Ökumene
Zentral ist an dieser Stelle das Ökumene-Verständnis dieser neueren geistlichen Gemeinschaften und Gruppierungen, das es näher zu definieren gilt. Denn Ökumene wird weniger im klassischen Sinne als »amtliche Ökumene«14 verstanden, sondern als eine »geistliche Ökumene, die zu den Ursprüngen der Christenheit zurückführen soll. In ihr treffen sich bibel- und bekenntnistreue katholische, orthodoxe und evangelische Christen zum gemeinsamen Lesen der Heiligen Schrift, zum Gebet wie zur theologischen Weiterbildung.«15 Gerne wird hierfür auch von einer »Ökumene der Herzen« gesprochen.16 Dabei weiß man sich in seinem »geistlichen Ökumenismus«17 auf dem Boden des Zweiten Vatikanischen Konzils: 14 So die Begrifflichkeit bei Kardinal Kasper: Wo sind die Brücken?, in: Die Zeit, 38 (13. September 2012), URL: https://www.zeit.de/2012/38/Oekumene-Jetzt?utm_referrer=https%3A% 2F%2Fwww.google.com%2F abgerufen am 25. Mai 2021. 15 Kardinal Kasper: Wo sind die Brücken? 16 So ein von Diakon Johannes Fichtenbauer (Erzdiözese Wien) verwendeter Begriff, den auch Kardinal Schönborn in weiterer Folge aufgenommen hat. Fichtenbauer ist Mitglied von Umkehr zum Herrn in Wien und langjähriger Vorsitzende der Initiative Weg der Versöhnung – Runder Tisch Österreich. Er ist Beauftragter des Kardinals für die Beziehung zu Freikirchen und evangelikalen Gruppen. Vgl. hierzu Weg der Versöhnung. 2021, URL: https://versoeh nung.net/Story/ abgerufen am 25. Mai 2021. 17 So der Innsbrucker systematische Theologe Willibald Sandler in seinem Aufsatz über charismatisch geprägte römisch-katholische Erneuerungsbewegungen und ihren Beitrag zum ökumenischen Versöhnungsprozess. Vgl. Willibald Sandler: Bewegt vom Heiligen Geist. Der
Religiöse Ambiguitätstoleranz im konfessionellen Spannungsfeld
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»Alle Christgläubigen sollen sich bewusst sein, daß sie die Einheit der Christen umso besser fördern, ja sogar einüben, je mehr sie nach einem reinen Leben gemäß dem Evangelium streben. Je inniger die Gemeinschaft ist, die sie mit dem Vater, dem Wort und dem Geist vereint, um so inniger und leichter werden sie imstande sein, die gegenseitige Brüderlichkeit zu vertiefen. Diese Bekehrung des Herzens und die Heiligkeit des Lebens ist in Verbindung mit dem privaten und öffentlichen Gebet für die Einheit der Christen als die Seele der ganzen ökumenischen Bewegung anzusehen; sie kann mit Recht geistlicher Ökumenismus genannt werden.«18
Im letzten Teil des Zitates wird ein wichtiger Aspekt angesprochen, der diese Gemeinschaften und Gruppierungen auch mit freikirchlichen und evangelikalen Kreisen im Protestantismus verbindet: die Bekehrung des Einzelnen als eine bewusste Lebensübergabe. Es ist Magnus Striet zuzustimmen, der für den deutschsprachigen Raum von einem »Erstarken eines freikirchlich-evangelikalen Christentums und eines sich mit diesem solidarisierenden Katholizismus«19 spricht. Diese Solidarisierung zeigt sich auf Seiten der neueren geistlichen Gemeinschaften und Gruppierungen u. a. in einer ausdrücklichen Wertschätzung gegenüber Freikirchen: »Wir haben Wertschätzung für die positiven Impulse der Reformation. Wir wollen demütig lernen – auch und gerade von den Freikirchen«20 Im Folgenden sollen nun kurz einige theologische Aspekte herausgegriffen werden, die zentrale Überzeugungen dieser geistlichen Gemeinschaften bzw. Gruppierungen darstellen.
3.2
Grundlegende theologische Prämissen
Kommen wir zurück auf den zuletzt schon angesprochenen Begriff der Bekehrung. Im Buch Mission Manifest, herausgegeben u. a. von Johannes Hartl, an dem aus Österreich aber auch Maximilian Oettingen (Leiter der Loretto GemeinBeitrag von Erneuerungsbewegungen in der katholischen Kirche zum ökumenischen Versöhnungsprozess. 2017, URL: https://www.uibk.ac.at/theol/leseraum/texte/1166.html abgerufen am 25. Mai 2021. 18 Zweites Vatikanisches Konzil: Dekret Unitatis Redintegratio. Über den Ökumenismus. 21. November 1964, URL: https://www.vatican.va/archive/hist_councils/ii_vatican_council/ documents/vat-ii_decree_19641121_unitatis-redintegratio_ge.html abgerufen am 25. Mai 2021, Nr. 7–8. 19 Magnus Striet: Zeitgeist geht auf Missionsreise, in: Einfach nur Jesus? Hrsg. v. Ursula NothelleWildfeuer/Magnus Striet, Freiburg im Breisgau 2018, S. 53–74, S. 59. 20 Mission Manifest. Die Thesen für das Comeback der Kirche. Hrsg. v. Johannes Hartl/Karl Wallner/Bernhard Meuser, Freiburg im Breisgau 2018, S. 11. Zur Kritik an dieser gesuchten Nähe zu den Freikirchen Vgl. Ursula Nothelle-Wildfeuer: Mission Manifest. Welche Mission? Welche Theologie? Welche Kirche?, in: Einfach nur Jesus? Hrsg. v. Ursula Nothelle-Wildfeuer/ Magnus Striet, Freiburg im Breisgau 2018, S. 75–96, S. 77–78.
202
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schaft) sowie P. Karl Wallner (Leiter von Missio Österreich und Gründungsrektor der Philosophisch-Theologischen Hochschule Heiligenkreuz) mitgewirkt haben, lautet gleich die erste These: »Uns bewegt die Sehnsucht, dass Menschen sich zu Jesus Christus bekehren.«21 Dies wird im Weiteren begründet: »Es ist nicht mehr genug, katholisch sozialisiert zu sein. Die Kirche muss wieder wollen, dass Menschen ihr Leben durch eine klare Entscheidung Jesus Christus übergeben. Sie ist ja weniger eine Institution oder Kulturform, sondern eine Gemeinschaft mit Jesus in der Mitte.«22 Markus Wittal führt näher aus, was mit Bekehrung konkret gemeint ist: »Es geht immer um zwei Seiten einer Medaille. Die Vorderseite zeigt das Bild Christi: Die Botschaft, wer Jesus Christus ist, was seine Liebe zu uns besonders macht, was ihn dazu bewegte, sich ganz hinzuschenken. Die Rückseite betrifft uns, denn sie besteht im Ruf zur Bekehrung, zur Heimkehr in einem persönlichen Glaubensschritt und zu einem bewussten Ja zu Gott.«23
Diese Bekehrung, das bewusste Ja zu Gott, findet sich als zentrale Glaubensüberzeugung auch in Freikirchen24 und der Evangelikalen Bewegung25. Neben dem Aspekt der Bekehrung26 stellen die Gaben des Heiligen Geistes eine weitere theologische Prämisse dar, die alle hier angeführten geistlichen Gemeinschaften und Gruppierungen verbindet. Hier ist die Rede von »Charismen«27, einer »persönlichen Pfingsterfahrung«28 oder einer »Geistausgießung«29, teilweise spricht man auch von einer »Taufe im Heiligen Geist«30 im Einklang mit der Pfingstbewegung.
21 Mission Manifest. Hrsg. v. Johannes Hartl/Karl Wallner/Bernhard Meuser, S. 9. 22 Mission Manifest. Hrsg. v. Johannes Hartl/Karl Wallner/Bernhard Meuser, S. 9–10. 23 Markus Wittal: 1. Uns bewegt die Sehnsucht, dass Menschen sich zu Jesus Christus bekehren, in: Mission Manifest. Hrsg. v. Johannes Hartl/Karl Wallner/Bernhard Meuser, Freiburg im Breisgau 2018, S. 53–68, S. 66. 24 Vgl. Frank Hinkelmann: Kirchen, Freikirchen und christliche Gemeinschaften in Österreich, S. 151; S. 155. 25 Vgl. Frank Hinkelmann: Evangelikal in Deutschland, Österreich und der Schweiz, S. 140. 26 An dieser Stelle kann es wie schon oben begründet nicht um eine theologische Auseinandersetzung mit dem Bekehrungsverständnis dieser Gemeinschaften gehen, da sich der Beitrag auf die Frage einer konfessionellen Ambiguitätstoleranz beschränkt. Diese Auseinandersetzung ist schon an anderer Stelle geführt worden. Vgl. hierzu vor allem: Gunda Werner: »Überall schlägt uns Angst entgegen«. Das Mission Manifest zwischen Untergangszenario und Errettung als Ausdruck fortschreitender Binnencharismatisierung der römisch-katholischen Kirche, in: Einfach nur Jesus? Hrsg. v. Ursula Nothelle-Wildfeuer/Magnus Striet, Freiburg im Breisgau 2018, S. 11–33. Hans-Joachim Höhn: Mission First? – oder: Wenn man mit halben Wahrheiten aufs Ganze gehen will, S. 39. 27 Georg Mayr-Melnhof/Maximilian Oettingen: Pläne des Heils, S. 24. 28 Willibald Sandler: Bewegt vom Heiligen Geist, Abs. 65. 29 Willibald Sandler: Bewegt vom Heiligen Geist, Abs. 66. 30 Willibald Sandler: Bewegt vom Heiligen Geist, Abs. 65.
Religiöse Ambiguitätstoleranz im konfessionellen Spannungsfeld
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Ein dritter hier zu erwähnender Aspekt ist die Betonung von Evangelisation und Mission31, wie er in der zweiten These von Mission Manifest zum Ausdruck kommt: »2. Wir wollen, dass Mission Priorität Nummer eins wird. Und zwar durch eine Fokussierung der finanziellen und personellen Ressourcen der Kirche auf Evangelisierung. ›Die Kirche ist ihrem Wesen nach missionarisch!‹ Der finale Auftrag Jesu an seine Freunde lautet: ›Geht zu allen Völkern und macht alle Menschen zu meinen Jüngern‹ (Mt 28,19). Eine Kirche, die nicht freudig und überzeugend auf alle zugeht, hat keine Mission; sie verliert ihr Warum und Wozu. Sie steht für nichts. Und sie schrumpft statt zu wachsen. Für unsere Länder heißt das: ›The church will send or the church will end.‹«32
Dieser Aspekt findet sich in allen untersuchten Gemeinschaften und Gruppierungen. So lädt die Rhema Gemeinde Linz in ihrem Internetauftritt Menschen ein, Gott persönlich kennenzulernen33 und die Loretto Gemeinschaft bietet ein Mobiles Einsatzkommando – für den Herrn (MEK) an, das Pfarren in ihren missionarisch-evangelistischen Bemühungen genauso unterstützen soll wie Alpha-Kurse.34 Im engen Konnex zum Missionsverständnis dieser neueren geistlichen Gemeinschaften und Gruppen steht ein Verständnis der heutigen Zeit und Gesellschaft, die als »dem Verfall anheimgegebeneZeit«35 und als »missionierungsund damit veränderungsbedürftig verstanden«36 wird.37 So ist beispielsweise von einer derzeit stattfindenden »Rückabwicklung«38 der Christianisierung die Rede und in den Gemeinschaften und Gruppierungen herrscht vielfach die Überzeugung vor, dass der christliche Glaube »von Jahr zu Jahr kraft- und sprachloser zu werden«39 scheint – um nur einige Beispiele zu nennen. Gunda Werner merkt kritisch an:
31 Vgl. Hans-Joachim Höhn: Mission First? – oder: Wenn man mit halben Wahrheiten aufs Ganze gehen will, S. 34–52. 32 Mission Manifest. Hrsg. v. Johannes Hartl/Karl Wallner/Bernhard Meuser, S. 10. 33 Vgl. Rhema-Gemeinde: Gott und Du, URL: https://www.rhema.at/gott_und_du/ abgerufen am 25. Mai 2021. 34 Vgl. Georg Mayr-Melnhof/Maximilian Oettingen: Pläne des Heils, S. 110–111. In diesem Einsatzkommando will die Gemeinde dazu ermutigen »in den Bereichen Evangelisation und Gebet voran-zugehen und Verantwortung zu übernehmen« (ebd. S. 111) und im Glaubenskurs Alpha »mit der Botschaft des christlichen Glaubens bekannt machen« (ebd. S. 110). 35 Gunda Werner: »Überall schlägt uns Angst entgegen«, S. 17. 36 Gunda Werner: »Überall schlägt uns Angst entgegen«, S. 17. 37 Vgl. Michael Prüller: Präambel, in: Mission Manifest. Hrsg. v. Johannes Hartl/Karl Wallner/ Bernhard Meuser, Freiburg 2018, S. 21–36, S. 21–36. 38 Michael Prüller: Präambel, S. 36. 39 Markus Wittal: 1. Uns bewegt die Sehnsucht, dass Menschen sich zu Jesus Christus bekehren, S. 53.
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»Dies wird in durchweg abwertenden und abschätzigen Formulierungen getan, demgegenüber die ›neuen‹ Formen der gänzlichen Bekehrung in militärischer Wortwahl beschrieben werden. Beides reagiert auf ein konstruiertes Gefühl der Bedrohung, das eben solche Sprache rechtfertigt, weil die Situation dringend ist.«40
Weiter heißt es: »Die pentekostale Religiosität spannt ihr Selbstverständnis aus einer unmittelbaren Gotteserfahrung in einer sichtbaren Geisterfahrung ein in eine Weltsicht, die die nahe Wiederkunft Christis glaubt. Diese endzeitliche Perspektive auf die Welt ist verbunden mit der Überzeugung, dass Gott in dieser Welt machtvoll handeln wird. Machtvolles Handeln geschieht an und mit den Gläubigen, die sich von der Welt abwenden und Gott zuwenden.«41
Auch hier findet sich wiederum eine große Schnittmenge zu Teilen der Freikirchen bzw. der Evangelikalen Bewegung, deren Missionsverständnis vielfach eschatologisch begründet wird.
3.3
Das Anliegen der Einheit, die mögliche Auflösung konfessioneller Unterschiede und die Frage nach einer Ambiguitätstoleranz
Die zuletzt skizzierten theologischen Prämissen führen bei den untersuchten Gemeinschaften und Gruppierungen dazu, Ökumene in erster Linie nicht länger im Sinne einer amtlich-institutionellen Größe (wie dem Ökumenischen Rat der Kirchen in Österreich (ÖRK) bzw. dem Arbeitskreis christlicher Kirchen (AcK)) zu verstehen, sondern im Sinne der oben skizzierten geistlichen Ökumene der Herzen. Diese findet in erster Linie eben nicht auf kirchlich-institutioneller Ebene, sondern auf einer eher informellen Ebene zwischen einzelnen Gläubigen oder auf Leitungsebene, losgelöst von deren konfessioneller Identität statt. Aufgrund gemeinsamer theologischer (u. a. Bekehrung, Mission, Geistesgaben) sowie ethischer Prämissen (Lebensrecht, Sexualethik) kommt es zwischen diesen römisch-katholischen neueren geistlichen Gemeinschaften und Gruppierungen zu einer Annäherung mit dem freikirchlichen Lager sowie evangelikalen Bewegungen und Gruppen – und hier wiederum vor allem im charismatisch geprägten Umfeld. Magnus Striet stellt fest: »Waren es bisher vor allem biblizistisch argumentierende, evangelikal-freikirchliche Gruppierungen, die auf Gottunmittelbarkeit setzten und verblüffungsfrei ihren Wunder- und Heilungsglauben pflegten, so ist dieses Phänomen inzwischen auch in der 40 Gunda Werner: »Überall schlägt uns Angst entgegen«, S. 17. Auf die Frage, in wie weit die Gemeinschaften und Gruppierungen nicht einfach neutestamentliche militärische Sprache aufgreifen, geht Werner nicht ein. 41 Gunda Werner: »Überall schlägt uns Angst entgegen«, S. 30.
Religiöse Ambiguitätstoleranz im konfessionellen Spannungsfeld
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katholischen Kirche angekommen. Dabei lassen sich gegenwärtig deutliche Schnittmengen, ja wenn es um Mission geht, klare Allianzen beobachten.«42
Gemeinsame Aktionen und Veranstaltungen wie beispielsweise der Christustag43 2015 in Linz, Kundgebungen des Netzwerks Miteinander für Europa44 oder die ökumenische Initiative Weg der Versöhnung – »Runder Tisch Österreich« – Initiative für Einheit im Leib Christi45 tragen dazu bei, Vorurteile abzubauen, die gemeinsame Schnittmenge zu entdecken und als Ergebnis stellt sich eine wachsende gegenseitige Wertschätzung ein. Diese »Vergemeinschaftung freikirchlicher und charismatischer Konvenienz«46 – so die Formulierung von Gunda Werner, stellt ein Phänomen dar, dass in dieser Form im Bereich der römischkatholischen Kirche bis in die 1980er Jahre in Österreich und darüber hinaus eher selten anzutreffen war, waren doch vor allem Freikirchen vielfach als Sekten verschrien. Auffällig ist gleichzeitig, dass sich beide Seiten – sowohl die untersuchten Gemeinschaften und Gruppierungen auf römisch-katholischer Seite als auch das freikirchlich-evangelikale Lager, wenn überhaupt nur am Rande in der amtlich-institutionellen Ökumene engagieren, wie sie sich im Ökumenischen Rat der Kirchen institutionell organisiert hat. Wer nun nach der Ambiguitätstoleranz der hier untersuchten römisch-katholischen neueren geistlichen Gemeinschaften und Gruppierung fragt, muss zu einem differenzierten Urteil gelangen, das zuerst einmal neutral und ohne Wertung festgehalten werden soll: Die ehemalige Rhema-Gemeinschaft ist ein inzwischen schon älteres Beispiel (aus den 1990er Jahren) für eine mehrheitlich römisch-katholische und gleichzeitig ökumenisch ausgerichtete Gemeinschaft, der es – von ihren ursprünglich römisch-katholischen Wurzeln her betrachtet – nicht gelungen ist, die notwendige konfessionelle Ambiguitätstoleranz zu leben und die sich stattdessen für einen freikirchlichen Weg entschied. Die Verbundgemeinschaften sind von Haus aus in ihrem Selbstverständnis keine rein römisch-katholischen Gemeinschaften, sondern verstehen sich als ökumenische Gemeinschaften, zu denen neben römisch-katholischen sowohl evangelisch-volkskirchliche als auch freikirchliche Christ:innen gehören. Daher verzichten die Verbundgemeinschaften auf das Praktizieren konfessionell trennender Aspekte wie beispielsweise eine Eucharistiefeier und betonen stattdessen 42 Magnus Striet: Zeitgeist geht auf Missionsreise, S. 55. 43 Vgl. Christustag. 2015, URL: http://christustag.at/#doku abgerufen am 25. Mai 2021. 44 Vgl. Miteinander für Europa, URL: https://www.together4europe.org/de/ abgerufen am 25. Mai 2021. 45 Vgl. Weg der Versöhnung sowie Johannes Fichtenbauer/Lars Heinrich/Wolf Paul: Meilensteine auf dem Weg der Versöhnung. 20 Jahre »Ökumene der Herzen« am Runden Tisch für Österreich, Wien 2018. 46 Gunda Werner: »Überall schlägt uns Angst entgegen«, S. 20.
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eine Einheit in Verschiedenheit, in der die authentische Nachfolge Jesu sowie Lobpreis und persönlicher Austausch im Vordergrund stehen. Insgesamt gesehen zeichnen sich die Verbundgemeinschaften durch eine große Ambiguitätstoleranz aus, denen es gelingt, dass ihre Mitglieder weiterhin eine konfessionelle Heimat in ihren Ursprungskirchen behalten. Dies trifft vor allem auf Mitglieder der Gemeinschaften aus römisch-katholischem und evangelisch-volkskirchlichem Hintergrund zu, während Mitglieder aus Freikirchen sich oft schwerer mit dem verbindlichen Anspruch des gemeinschaftlichen Lebens tun, da eine verbindliche Mitarbeit in der Regel auch von ihrer freikirchlichen Gemeinde eingefordert bzw. erwartet wird. Im Unterschied zu den ökumenisch orientierten Verbundgemeinschaften versteht sich die Loretto Gemeinschaft als eine innerkatholische Gemeinschaft. Ihre Frömmigkeit beschreibt Maximilian Oettingen, Leiter der Gemeinschaft, mit folgenden Worten: »Wir sind natürlich katholisch; wir streben nach Charismen, um sie in Kirche und Welt fließen zu lassen; wir haben eine große Liebe zur eucharistischen Anbetung und zu den getrennten Brüdern. Maria ist sehr wichtig. Aber, der Punkt ist, es gibt auch andere Gruppen oder Gemeinschaften, deren Spiritualität mit diesen Begriffen umschrieben werden könnte. Diese Begriffe sind also nicht spezifisch genug. Das, was meines Erachtens bei uns spezifisch ist, ist diese Verbindung von Nazareth und Pfingsten.«47
Diese definiert Oettingen an anderer Stelle konkreter: »Wenn es aber um die konkrete Spiritualität der Loretto Gemeinschaft geht, würde ich heute von ›Nazareth‹ und ›Pfingsten‹ sprechen. Das wären für mich die Schlüsselbegriffe. Also, zum einen Nazareth: das Geheimnis der Menschwerdung Gottes sowie das unscheinbare Leben mit Gott im Alltag. Und dann Pfingsten: dieses Zusammenkommen im Obergemach, diese Sehnsucht nach einer größeren Ausgießung des Heiligen Geistes in unserer Zeit. Maria ist dabei ›die innere Klammer‹ unserer Spiritualität – die Verbindung von Nazareth und Pfingsten.«48
Während andere neuere geistliche Gemeinschaften und Gruppierungen bewusst theologisch trennende Fragen wie die Eucharistie und die Frage nach der Stellung und Rolle Marias außen vor lassen, führt die Loretto Gemeinschaft diese Elemente konkret als Teil der gelebten und praktizierten Spiritualität an. Gleichzeitig will man aber auch bereichernde Impulse von außerhalb der römischkatholischen Kirche in Loretto und ihre Spiritualität integrieren. »Wir geben also nicht etwas auf, wenn wir uns von außen inspirieren lassen, im Gegenteil. Wir werden bereichert – und wir geben diesem ›Drängen auf die katholische Einheit hin‹ einen Raum. 24–7 Prayer – es bereichert uns und drängt auf die katholische
47 Georg Mayr-Melnhof/Maximilian Oettingen: Pläne des Heils, S. 39. 48 Georg Mayr-Melnhof/Maximilian Oettingen: Pläne des Heils, S. 37.
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Einheit hin. Alpha – es bereichert uns und drängt auf die katholische Einheit hin. Das International House of Prayer – es bereichert uns und drängt auf die katholische Einheit hin. Jugend mit einer Mission – es bereichert uns und drängt auf die katholische Einheit hin. Im Einzelnen muss natürlich immer pastoral und pädagogisch gut unterschieden werden. Aber: können wir uns diesem ›Drängen‹ verschließen? Pointierter gefragt: Ist es katholisch, wenn wir die vielfältigen Elemente der Heiligung und der Wahrheit ›ausblenden‹, die außerhalb der katholischen Kirche zu finden sind und auf die katholische Einheit hindrängen?«49
Offen bleibt an dieser Stelle, was konkret unter der Bezeichnung »auf die katholische Einheit hindrängen« gemeint ist. Meint dies das Ziel einer konfessionellen Rückholung protestantischer Gruppen in die römisch-katholische Kirche, oder umschreibt der Begriff eine allgemeine Katholizität? Der Loretto Gemeinschaft gelang es in ihrer Geschichte und gelingt es bis heute, Impulse aus freikirchlichen und evangelikalen Kreisen aufzunehmen und zu integrieren, ohne die eigene Spiritualität aufzugeben: »Und dann, ja dann erfolgte eine Prägung zu Beginn der 1990er durch Bruce Clewett und ›Jugend mit einer Mission‹. Und wie kamen wir auf die Idee, uns von einer ökumenischen Missionsbewegung prägen zu lassen? Durch den damaligen Weihbischof von Wien, Christoph Schönborn. Rückblickend können wir sagen: ›Jugend mit einer Mission‹ in Person von Bruce Clewett hat uns viele Schätze der katholischen Lehre erschlossen, und hat uns geholfen, selbst zu einer katholischen Gemeinschaft zu werden. […] Wir können voneinander lernen, was es heißt, gute Christen zu sein‹, sagte Papst Benedikt XVI laut Christoph Kardinal Schönborn zu seinem ›Schülerkreis‹ im Sommer 2012. Dieser einfache Satz ist der Schlüssel. Die Demut zu haben, voneinander zu lernen. Ist es nicht das, was passiert, wenn wir uns als Gemeinschaft von 24–7 Prayer, Alpha, dem International House of Prayer in Kansas City oder von Jugend mit einer Mission inspirieren lassen?«50
Die Frage einer konfessionellen Ambiguitätstoleranz ist allerdings eine Frage, die nicht nur auf die römisch-katholischen Gemeinschaften und Gruppierungen beschränkt ist, sondern zwischenzeitlich auch zunehmend im Hinblick auf freikirchliche und evangelikale Kreise in ihrem Umgang mit römisch-katholischen neueren geistlichen Gemeinschaften zu stellen ist. Dies zeigt vor allem das Beispiel des Gebetshauses Augsburg und die von ihm ausgehenden Impulse. Konkret wird dies beispielsweise am hohen Anteil protestantischer Teilnehmer: innen an den von Johannes Hartl alle zwei Jahre veranstalteten MEHR-Konferenzen, der im Jahr 2018 bei rund 40 % lag.51 49 Georg Mayr-Melnhof/Maximilian Oettingen: Pläne des Heils, S. 95. 50 Georg Mayr-Melnhof/Maximilian Oettingen: Pläne des Heils, S. 91–92; S. 94. 51 Vgl. Deutschland braucht meeeeeeeeehr von Jesus, in: Medienmagazin pro (23. 02. 2016), URL: https://www.pro-medienmagazin.de/kultur/veranstaltungen/2016/02/23/deutschland-brauc ht-meeeeeeeeehr-von-jesus/ abgerufen am 25. Mai 2021.
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Während zahlreiche evangelikal und freikirchlich geprägte protestantische Christ:innen an dieser Stelle eine durchaus bemerkenswerte Ambiguitätstoleranz aufweisen bzw. zumindest keine Probleme in solcherart ökumenischen Veranstaltungen sehen, gibt es durchaus auch andere Stimmen. So wird beispielsweise auch aus evangelikaler Sicht kritisiert und vor Hartl gewarnt, denn – so heißt es dort – »Letztlich […] will Johannes Hartl alle Christen wieder in der katholischen Kirche vereinen und benutzt dazu etwas charismatisches Beiwerk.«52
3.4
Eine überkonfessionelle Spiritualität
Betrachten wir abschließend noch zwei Beispiele, die zu einer Ambiguitätstoleranz sowohl auf Seiten der hier untersuchten, neueren römisch-katholischen geistlichen Gemeinschaften als auch auf Seiten evangelikaler und freikirchlicher Kreise beitragen. Zuallererst ist eine immer stärkere Angleichung der praktizierten Frömmigkeitsstile zu beobachten, die sich auch im gemeinsamen Liedgut niederschlagen.53 Wer einer Lobpreissession beiwohnt, kann in der Regel allein aufgrund des Contents und Stils der Veranstaltung keinerlei eindeutige konfessionelle Zuordnung mehr vornehmen. Was Gunda Werner und Michael Schüßler hinsichtlich pentekostaler Gruppen schreiben, trifft vielfach auch auf das weitere freikirchlich-evangelikale Umfeld zu: »Als institutionsunabhängige religiöse Zusammenschlüsse schaffen (neo-)pentekostale Gruppen modernitätsaffine Angebote, die der Individualisierung moderner Menschen im Sinne der Pluralisierung religiöser Angebote (post-)modern entsprechen. […] Ihr Erfolg wird auf die Fähigkeit zurückgeführt, die Sichtbarkeit religiöser Erfahrungen mit deren Greifbarkeit zu verbinden. Beide Erfahrungsgrößen verlagern damit die Kompetenz für die religiöse Erfahrung und ihre Deutung in das religiöse Subjekt.«54 »Die Pentekostalen sind so erfolgreich, weil sie ein zentrales Bedürfnis moderner Lebensführung aufgreifen, nämlich Religion nicht traditional, sondern ereignishaft zu 52 Vgl. Michael Kotsch: Werbung für Charismatik und römisch-katholische Kirche. 2017, URL: https://bibelbund.de/2017/06/werbung-fuer-charismatik-und-roemisch-katholische-kirche/ abgerufen am 25. Mai 2021. Der Theologiedozent Michael Kotsch gilt als einer der profiliertesten evangelikalen Kritiker Hartls. Eine weitere kritische Auseinandersetzung auch mit Mission Manifest findet sich auf derselben Webseite des Bibelbundes. Siehe auch die Replik von Johannes Hartl: An die geschätzten Protestanten unter meinen Kritikern. 5. Oktober 2017, URL: https://www.kath.net/print/61208 abgerufen am 30. April 2021. 53 Vgl. Gunda Werner: »Überall schlägt uns Angst entgegen«, S. 22. 54 Gunda Werner: Binnencharismatisierung der römisch-katholischen Kirche als Ausdrucksform der ecclesia semper reformanda? Anmerkungen zur internen Verarbeitung von Herausforderungen der Moderne, in: Gerettet durch Begeisterung. Hrsg. v. Gunda Werner, Freiburg im Breisgau 2018, S. 116–144, S. 123.
Religiöse Ambiguitätstoleranz im konfessionellen Spannungsfeld
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entdecken. Das Heilige wird erfahrbar und konkret, und zwar in einer körperlich berührenden Art und Weise. Durch mitreißende Musik, durch Wunderheilungen, durch asketische Lebensregeln – alles soll irgendwie dokumentieren, direkten Zugang zum Heiligen zu haben und auf der richtigen Seite zu stehen – nämlich der Seite Gottes. Pentekostale Religiosität ist damit die perfekte Religion für das postfaktische Zeitalter. Nachdem Tradition, Dogmatik und die Fakten der Vernunft verblassen, bleibt die gefühlte Wahrheit. Wenn aber die gefühlte Wahrheit übrigbleibt, dann ist das Gefühlte die Wahrheit: Was ich spüre, was ich fühle, was ich von Gott erfahre, das muss wahr sein.«55
Ein weiteres Beispiel für zumindest ein Aufweichen konfessioneller Abgrenzungen zeigt sich auch im religiösen Verlagswesen. So wissen die wenigsten Mitglieder von Freikirchen, dass der führende deutschsprachige Songwriter und Komponist von Anbetungsliedern, Albert Frey, praktizierender Katholik ist.56 Hingegen mögen ihn manche Katholiken für einen Freikirchler halten. Bemerkenswert ist ferner, dass die Rechte an seinen Liedern genauso wie die meisten Bücher, die Albert Frey oder auch Johannes Hartl verlegen, bei evangelikalen Verlagen (vor allem SCM Verlagsgruppe) liegen. Beides wäre vor wenigen Jahrzehnten noch nicht vorstellbar gewesen.
4
Die Frage der äußeren Ambiguitätstoleranz
Mag es in der Frage der inneren Ambiguitätstoleranz eine relativ große Toleranz innerhalb der untersuchten römisch-katholischen, neueren geistlichen Gemeinschaften und Gruppierungen geben, stellt sich zusätzlich die Frage nach der äußeren Ambiguitätstoleranz im Umgang sowohl der römisch-katholischen Kirche an sich als auch einzelner römisch-katholischer Theologen mit diesen Gemeinschaften und Gruppierungen. Diese ist durch eine gewisse Ambivalenz charakterisiert wie an zwei Beispielen zum Abschluss verdeutlicht werden soll. Auf der MEHR Konferenz 2018 stellte Johannes Hartl mit einer Gruppe weiterer Initiatoren, darunter auch dem Leiter der Loretto Gemeinschaft, Maximilian Oettingen das schon mehrfach zitierte Mission Manifest mit zehn Thesen für die Erneuerung der Kirche vor.57 Wenige Monate später veröffentlichte die Freiburger Sozialethikerin Ursula Nothelle-Wildfeuer gemeinsam 55 Michael Schüßler: Gott erleben und gerettet werden? Praktiken und Affektstrukturen des pentekostalen Christentums in europäisch-theologischer Perspektive, in: Gerettet durch Begeisterung. Hrsg. v. Gunda Werner, Freiburg im Breisgau 2018, S. 215–262, S. 236. 56 Vgl. Albert Frey: Im Namen des Vaters. Liturgische Gebete – alte Schätze neu entdecken, Witten 2012. 57 Vgl. Mission Manifest. Hrsg. v. Johannes Hartl/Karl Wallner/Bernhard Meuser. Vgl. ferner die Webseite unter der URL: https://www.missionmanifest.online/ abgerufen am 1. Dezember 2020. Hier findet sich auch eine Liste der Unterzeichner.
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mit dem Fundamentaltheologen Magnus Striet eine Kritik am Mission Manifest, an dem acht Autor:innen mitwirkten.58 Nothelle-Widfeuer sprach u. a. von einem »demagogische[n] Grundzug des Mission Manifest«59 und in einem kurz darauf veröffentlichten Interview mit www.katholisch.de warnte die Sozialethikerin vor einer »Versektung und Evangelikalisierung der katholischen Kirche«60. Auf die Frage: »Würden Sie das Gebetshaus als Sekte bezeichnen?« lautete ihre Antwort: »Ja, das Gebetshaus und seine Anhänger haben Züge von einer sektiererischen Ausrichtung. Es gibt in der katholischen Kirche scheinbar auch so etwas wie freikirchliche oder katholische Evangelikale, mit denen haben wir es hier zu tun. Interessant ist, dass das Gebetshaus keine diözesane Einrichtung ist und auch gar nicht sein will, weil sie damit offen für Freikirchen sein kann.«61
Hier bringt Nothelle-Wildfeuer nicht nur eine grundlegend negative Konnotation gegenüber Freikirchen und jeder möglichen Kooperation mit ihnen zum Ausdruck, auch der Begriff evangelikal scheint bei Nothelle-Wildfeuer grundsätzlich negativ belegt zu sein. Eine inhaltliche Auseinandersetzung mit Freikirchen oder Klärung des Begriffs evangelikal findet allerdings nicht statt. Auch seitens der römisch-katholischen Kirche wächst zumindest in Teilen die Kritik an solcherart neueren geistlichen Gemeinschaften wie es vor allem in den Diskussionen rund um Johannes Hartl und dem Gebetshaus Augsburg deutlich wird. Während das Bistum Augsburg noch Anfang 2018 offiziell bestätigte, dass »im Gebetshaus nichts gelehrt wird, was im Gegensatz zur Lehre der katholischen Kirche steht«62, übte im Mai 2020 der neue Bischof von Augsburg, Dr. Bertram Meier, Kritik an Johannes Hartl und merkte an, dass dieser »sein Wirken mal als überkonfessionell, mal als ökumenisch [verortet]. Das ist aber nicht dasselbe. ›Überkonfessionell‹ ist mir zu unverbindlich, erinnert an Freikirche« […] Wir müssen […] darauf achten, dass aus dem Gebetshaus nicht eine neue Art von Kirche entsteht.«63 Zwar wies Hartl die Vorwürfe umgehend zurück,64 aber auch
58 Vgl. Einfach nur Jesus? Eine Kritik am »Mission Manifest«. Hrsg. v. Ursula Nothelle-Wildfeuer/Magnus Striet, Freiburg im Breisgau 2018. 59 Ursula Nothelle-Wildfeuer: Mission Manifest, S. 77. 60 Madeleine Spendier: »Das ›Mission Manifest‹ bedeutet eine Versektung der Kirche«. Sozialethikerin Ursula Nothelle-Wildfeuer sieht Rolle rückwärts, in: katholisch.de (10. 10. 2018), URL: https://www.katholisch.de/artikel/19168-das-mission-manifest-bedeutet-eine-versekt ung-der-kirche abgerufen am 25. Mai 2021. 61 Madeleine Spendier: »Das ›Mission Manifest‹ bedeutet eine Versektung der Kirche«. 62 Vgl. Bistum Augsburg prüfte ›Gebetshaus Augsburg‹ und gibt grünes Licht, in: kath.net (05. 01. 2017), URL: https://www.kath.net/news/58064 abgerufen am 25. Mai 2021. 63 Vgl. Christopher Beschnitt: Bertram Meier vor Bischofsweihe: »Manchem muss ich wohl wehtun«. Gebetshaus dürfe keine neue Art von Kirche werden – Skepsis bei Frauendiakonat, URL: https://archive.fo/Xe1Yx abgerufen am 30. April 2021.
Religiöse Ambiguitätstoleranz im konfessionellen Spannungsfeld
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bei Meier tritt ein mit einer negativen Konnotation verbundener undifferenzierter Freikirchenbegriff zutage. Für mich als evangelischen Theologe deuten solcherart Reaktionen auf eine zumindest teilweise fehlende äußere Ambiguitätstoleranz gegenüber diesen neueren geistlichen Gemeinschaften und Gruppierungen seitens der römischkatholischen Kirche hin, eventuell begründet in der Angst der Kirche vor möglichen freikirchlichen Tendenzen in diesen Gemeinschaften und Gruppierungen bzw. seitens der wissenschaftlichen Theologie hinsichtlich einer ihrer Meinung nach fehlenden theologischen Reflexion. Eine theologisch-reflektierte und differenzierte Diskussion jenseits jeder Polemik und in ökumenischer Weite auch im Hinblick auf Freikirchen wäre ein deutliches Zeichen einer notwendigen auch äußeren Ambiguitätstoleranz im Umgang mit diesen Gemeinschaften und Gruppierungen.
5
Ein Fazit
Wer nach der religiösen Ambiguitätstoleranz im konfessionellen Spannungsfeld zwischen charismatisch geprägten, neueren römisch-katholischen geistlichen Gemeinschaften bzw. Gruppierungen und Freikirchen fragt, stellt zumindest in den hier untersuchten neueren geistlichen Gemeinschaften und Gruppierungen eine durchaus große Ambiguitätstoleranz fest. Die Mitglieder und Anhänger: innen schaffen es mehrheitlich, vorhandene Spannungen und gegebene konfessionelle Strukturen zu akzeptieren und zu tolerieren und nehmen gleichzeitig Elemente aus diversen Hintergründen (freikirchlich, evangelikal, charismatisch) durchaus als Bereicherung ihrer eigenen Tradition wahr, ohne diese aufzugeben. Hingegen muss die äußere Ambiguitätstoleranz der römisch-katholischen Kirche und der wissenschaftlichen Theologie als ambivalent beurteilt werden. Während einige die Anliegen dieser neueren geistlichen Gemeinschaften und Gruppierungen aufnehmen und teilen, stehen andere diesen eher kritisch gegenüber und zweigen in mancherlei Hinsicht eine geringe Ambiguitätstoleranz, die sich vor allem aus Ängsten vor einer Verfreikirchlichung und Evangelikalisierung der betreffenden Gruppen nährt. Dieser Beitrag musste sich auf die innere und äußere Ambiguitätstoleranz in und gegenüber römisch-katholischen, neueren geistlichen Gemeinschaften und 64 Vgl. Hartl: Gebetshaus wird keine neue Kirche. Leiter des Augsburger Gebetshauses reagiert auf Kritik von Bischof Meier, in: katholisch.de (30. 05. 2020), URL: https://www.katholisch.de /artikel/25676-hartl-gebetshaus-wird-keine-neue-kirche abgerufen am 25. Mai 2021.; Rudolf Gehrig: Exklusiv-Interview: Johannes Hartl »verwundert« über Kritik am Gebetshaus Augsburg, URL: https://de.catholicnewsagency.com/story/exklusiv-interview-johannes-hartl-wei st-kritik-am-gebetshaus-augsburg-zuruck-6329 abgerufen am 25. Mai 2021.
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Gruppierungen in konfessioneller Hinsicht beschränken. Lohnenswert wäre es, in weiterer Folge auch die Frage einer Ambiguitätsrelevanz in der Spannung zwischen Lehramt und Glaubenspraxis sowie zwischen Theologie und gelebten Alltagsglaube in denselben neueren geistlichen Gemeinschaften und Gruppierungen näher zu untersuchen.
Literatur Bernhard S. Anuth: Kirchliche Bewegungen. Zwischen Universalkirche und Teilkirchen, in: Gerettet durch Begeisterung. Hrsg. v. Gunda Werner, Freiburg im Breisgau 2018, S. 44– 92. Thomas Bauer: Die Vereindeutigung der Welt. Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt, Stuttgart 3. Aufl. 2018. Thomas Bauer: Die Kultur der Ambiguität. Eine andere Geschichte des Islams, Berlin 6. Aufl. 2019. Christopher Beschnitt: Bertram Meier vor Bischofsweihe: »Manchem muss ich wohl wehtun«. Gebetshaus dürfe keine neue Art von Kirche werden – Skepsis bei Frauendiakonat, URL: https://archive.fo/Xe1Yx abgerufen am 30. April 2021. Bistum Augsburg prüfte ›Gebetshaus Augsburg‹ und gibt grünes Licht, in: kath.net (05. 01. 2017), URL: https://www.kath.net/news/58064 abgerufen am 25. Mai 2021. Christustag 2015, URL: http://christustag.at/#doku abgerufen am 25. Mai 2021. Deutschland braucht meeeeeeeeehr von Jesus, in: Medienmagazin pro (23. 02. 2016), URL: https://www.pro-medienmagazin.de/kultur/veranstaltungen/2016/02/23/deutschlandbraucht-meeeeeeeeehr-von-jesus/ abgerufen am 25. Mai 2021. Johannes Fichtenbauer/Lars Heinrich/Wolf Paul: Meilensteine auf dem Weg der Versöhnung. 20 Jahre »Ökumene der Herzen« am Runden Tisch für Österreich, Wien 2018. Albert Frey: Im Namen des Vaters. Liturgische Gebete – alte Schätze neu entdecken, Witten 2012. Rudolf Gehrig: Exklusiv-Interview: Johannes Hartl »verwundert« über Kritik am Gebetshaus Augsburg, URL: https://de.catholicnewsagency.com/story/exklusiv-interview-joh annes-hartl-weist-kritik-am-gebetshaus-augsburg-zuruck-6329 abgerufen am 25. Mai 2021. Johannes Hartl: An die geschätzten Protestanten unter meinen Kritikern, in: kath.net 5. Oktober 2017, URL: https://www.kath.net/print/61208 abgerufen am 30. April 2021. Johannes Hartl/Karl Wallner/Bernhard Meuser: Mission Manifest. Die Thesen für das Comeback der Kirche, Freiburg im Breisgau 2018. Hartl: Gebetshaus wird keine neue Kirche. Leiter des Augsburger Gebetshauses reagiert auf Kritik von Bischof Meier, in: katholisch.de (30. 05. 2020), URL: https://www.katholisch.de /artikel/25676-hartl-gebetshaus-wird-keine-neue-kirche abgerufen am 25. Mai 2021. Frank Hinkelmann: Kirchen, Freikirchen und christliche Gemeinschaften in Österreich. Handbuch der Konfessionskunde, Wien/Köln/Weimar 2016. Frank Hinkelmann: Evangelikal in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Ursprung, Bedeutung und Rezeption eines Begriffes, Bonn 2017.
Religiöse Ambiguitätstoleranz im konfessionellen Spannungsfeld
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Gunda Werner: Binnencharismatisierung der römisch-katholischen Kirche als Ausdrucksform der ecclesia semper reformanda? Anmerkungen zur internen Verarbeitung von Herausforderungen der Moderne, in: Gerettet durch Begeisterung. Hrsg. v. Gunda Werner, Freiburg im Breisgau 2018, S. 116–144. Gunda Werner: »Überall schlägt uns Angst entgegen«. Das Mission Manifest zwischen Untergangszenario und Errettung als Ausdruck fortschreitender Binnencharismatisierung der römisch-katholischen Kirche, in: Einfach nur Jesus? Hrsg. v. Ursula Nothelle-Wildfeuer/Magnus Striet, Freiburg im Breisgau 2018, S. 11–33. Markus Wittal: 1. Uns bewegt die Sehnsucht, dass Menschen sich zu Jesus Christus bekehren, in: Mission Manifest. Hrsg. v. Johannes Hartl/Karl Wallner/Bernhard Meuser, Freiburg im Breisgau 2018, S. 53–68. Zweites Vatikanisches Konzil: Dekret Unitatis Redintegratio. Über den Ökumenismus, Vatikan Stadt 21. November 1964, URL: https://www.vatican.va/archive/hist_councils/ii _vatican_council/documents/vat-ii_decree_19641121_unitatis-redintegratio_ge.html abgerufen am 25. Mai 2021.
Patrick Becker
Abnehmende Ambiguitätstoleranz in der Religion? Zur Politisierung von Überzeugungen in der Moderne
Der Blick in die täglichen Nachrichten offenbart kultur- und kontinentübergreifend eine Reihe von Konflikten, die mit Gewalt und Religion zugleich verknüpft sind. Es lassen sich schwelende und daher nur selten wahrgenommene Auseinandersetzungen wie die zwischen den buddhistischen und hinduistischen Volksgruppen in Sri Lanka, eine kaum verhohlene und mit einem das Land prägenden Nationalismus verknüpfte Intoleranz gegen ausländische Religionen in Indien oder auch der im Westen am meisten präsente Terror im Namen des Islam nennen. Auch wenn sich christliche Gruppierungen im Moment eher weniger durch offene Gewalt in den Vordergrund spielen, so fällt in einigen mehrheitlich christlichen Ländern doch die starke und gesellschaftlich hoch wirksame Verknüpfung bestimmter Minder- und auch Mehrheiten mit der Politik auf. Evangelikale Gruppen erweisen sich in den USA und mehreren Ländern Lateinamerikas als wahlentscheidend, in einigen europäischen Ländern wird der Katholizismus mit der nationalen Identität gekoppelt, und in Russland wird neuerdings wieder eine engeres Band zwischen dem Staat und der orthodoxen Kirche gesucht. Alle diese Beispiele haben als Gemeinsamkeit eine zunehmende politische Rolle der Mehrheitsreligion oder bestimmter religiöser Gruppen, die damit nicht nur eigene politische Überzeugungen artikulieren, sondern das jeweilige Land dominieren wollen und zumeist durch eine aggressive Abwehrhaltung gegen andere Religionen geprägt sind. Diese Abwehrhaltung kann sich in der Konstruktion von Freund-Bildern bis hin zur gewalttätigen Bekämpfung und Vertreibung Angehöriger anderer Religionen ausdrücken. Die kulturübergreifende Politisierung von Religion ist erklärungsbedürftig, da sie sich offensichtlich nicht lokalen gesellschaftlichen Sondersituationen verdankt, sondern ein Charakteristikum der heutigen Zeit darstellt. Mit diesem Beitrag folge ich der allgemeinen Fundamentalismusforschung darin, dass ich in ihr ein Phänomen der sich selbst ablehnenden Moderne sehe, und plausibilisiere dies mit dem Analysewerkzeug dieses Bandes, indem ich nach dem Umgang mit Ambiguität frage. Dazu werde ich im ersten Schritt auf die für die Moderne
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Patrick Becker
charakteristische Erfahrung von Pluralität verweisen und diese als globale gesellschaftliche Herausforderung markieren. Im zweiten Schritt werde ich argumentieren, dass Religion spezifische Ressourcen für den Umgang mit ihr besitzt, die auf der positiven Annahme oder negativen Ablehnung von Pluralität basieren. Diese beiden grundsätzlichen Optionen werden in den folgenden Schritten drei und vier dargestellt. Während aus der positiven Annahme von Pluralität eine relativistische Epistemologie und daraus Ambiguitätstoleranz folgen, wird mit der gegenteiligen Strategie Eindeutigkeit angestrebt und der rationale Diskurs abgelehnt; sie ist daher dem Feld des religiösen Fundamentalismus zuzuordnen. Damit kann ich die Politisierung von Religion als Kernelement des religiösen Fundamentalismus ausweisen und am Ende des Beitrags für ein modernekompatibles, nicht-fundamentalistisches Religionsverständnis votieren, das als zentrales Element Ambiguitätstoleranz beinhaltet.
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Die in modernen Gesellschaften unausweichliche Erfahrung von Pluralität
Jedes Land und jede Kultur der Welt wurden in den letzten 100 Jahren durch eine zunehmende innere Pluralität geprägt und in der eigenen Identität herausgefordert. Eine ganze Reihe von Faktoren führten zu einer engen Verwobenheit, Interaktion oder auch Verschmelzung vormals getrennter sozialer Einheiten: Dazu zählen eine weltweit festzustellende fortschreitende Urbanisierung oder auch durch konkrete Ereignisse oder langfristige Ungleichheiten ausgelöste Migrationsströme. Auch durch die weltweite Verfügbarkeit von Informationen über andere Kulturen, die wirtschaftliche Verflechtung, den Tourismus und nicht zuletzt den Erfolg digitaler Medien in den letzten beiden Jahrzehnten nahm nicht nur das Wissen über andere soziale Gruppen zu, sondern auch die Notwendigkeit, sich mit diesen auseinanderzusetzen. Diese Entwicklung läuft sowohl auf einer lokalen als auch globalen Ebene ab: Wir kommen nicht nur in unserem direkten Umfeld zunehmend in Kontakt mit verschiedenen ethnischen und religiösen Gruppen, sondern stehen auch in einem international dichter werdenden Geflecht von Abhängigkeiten und Einflüssen. Daher handelt es sich auch nicht nur um ein Phänomen wohlhabender Länder. Der Einfluss etwa des technischen Fortschritts ist selbst in entlegenen Gebieten der Welt festzustellen. Die Auswirkungen einer zunehmenden Pluralisierung sind weltweit zu beobachten und können als Effekt einer globalen Modernisierung beschrieben werden. Daher ist auch die Erfahrung von Pluralität auf der sozialen und kulturellen Ebene bis hin zum Alltagsleben unvermeidlich. Pluralität mag zwar kein spezi-
Abnehmende Ambiguitätstoleranz in der Religion?
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fisch modernes Phänomen sein, aber, so erklärt Peter L. Berger, »modernity has enormously increased its scope and accelerated its impact«1. Er betont, dass der Begriff Pluralität keine ideologische Position markiert, sondern ein Faktum unserer Zeit benennt. Indem das Individuum zunehmend mit Pluralität konfrontiert wird, werden auch seine Überzeugungen und Vorstellungen relativiert und verlieren damit nicht unbedingt an Schwäche, wohl aber an Eindeutigkeit. Der Kontakt mit anderen Lebenskonzepten, Staatsformen und kulturellen sowie religiösen Vorstellungen stellt die eigene Position in Frage. »Modernization«, erklärt Berger, »undermines taken-for-granted beliefs and values«2. Das Individuum kommt nicht umhin, wahrzunehmen, dass es auf der persönlichen wie auch institutionellen Ebene verschiedene Wahlmöglichkeiten gibt: Offensichtlich existieren verschiedene Staatssysteme, die auf ihre Art funktionieren, ohne dass eines kulturübergreifend als das bessere ausgezeichnet werden könnte; Menschen folgen unterschiedlichen religiösen Vorstellungen, ohne dass das zu eindeutigen Unterschieden etwa auf der moralischen Ebene führen würde; sogar innerhalb einer Familie werden verschiedene Lebensentwürfe verfolgt, die nicht per se zu mehr oder weniger Glück führen. Die gleiche Situation wird als unterschiedlich interpretierbar und beantwortbar erfahren – als ambig. Daher müssen moderne Gesellschaften wie auch die einzelnen Individuen sich von Eindeutigkeiten in der Weltdeutung verabschieden und eine Ambiguitätstoleranz entwickeln, aufgrund derer verschiedenartige Optionen als im Prinzip gleichermaßen wertvoll anerkannt werden können. Gleichzeitig schwächen Prozesse von Modernisierung traditionelle Strukturen, die Halt und Verlässlichkeit geben. Die beschriebenen Entwicklungen führen zu einem abnehmenden Fundamentalvertrauen, wie Geiko Müller-Fahrenholz ausführt. Er erklärt, dass das Gefühl von Geborgenheit und Sicherheit aufgrund des Verlusts stabiler Bedingungen und Beziehungen im familiären Umfeld oder im weiteren sozialen Netzwerk verschwindet.3 Das Individuum steht in modernen Gesellschaften vor der Herausforderung, sich beständig entscheiden zu müssen, ohne eindeutige Antwortmöglichkeiten oder Kriterien für die Urteilsbildung angeboten zu bekommen. Es findet sich in einer Marktsituation wieder: Überall stehen verschiedene Konzepte und Wahlmöglichkeiten in Konkurrenz zueinander und nötigen Entscheidungen ab. Das Individuum findet sich immer seltener in eindeutigen, vorbestimmten Lebenswegen wieder, sondern muss sich selbst für einen bestimmten Lebensstil, ein bestimmtes Moralsystem, eine be1 Peter L. Berger: Introduction, in: Between relativism and fundamentalism. Hrsg. v. Peter L. Berger, Grand Rapids, Michigan 2010, S. 1–16, S. 4. 2 Peter L. Berger: Introduction, S. 3. 3 Geiko Müller-Fahrenholz: Zwischen Fundamentalismus und Beliebigkeit, in: Ökumenische Rundschau. Eine Vierteljahreszeitschrift, 55 (2006), S. 68–76.
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stimmte ethnisch-kulturelle Identität und in immer mehr Kulturen auch eine bestimmte sexuelle Identität entscheiden. Peter L. Berger fasst das eben Geschilderte folgendermaßen zusammen: »Modernization can be described as a gigantic shift in the human condition from one of fate to one of choice.«4 Das Individuum hat also die Freiheit, aber auch Qual der Wahl: Es kommt nicht um die Entscheidung umhin. Das vermindert aber nicht die Intensität, mit der eine getroffene Entscheidung verfolgt wird. Die modern-plurale Situation ist mitnichten religionsfeindlich.5 Wohl aber benötigt der moderne Mensch spezifische Kompetenzen im Umgang mit Pluralität, ob er will oder nicht. Als entscheidende Frage bleibt daher, wie diese Kompetenzen gewonnen werden und was passiert, wenn die vorherrschende Pluralität als Belastung erfahren und daher negativ bewertet wird. In beiden Fällen also, wenn sowohl Pluralität wertgeschätzt als auch abgelehnt wird, kann Religion eine wichtige Rolle spielen.
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Sinnstiftung durch Religion
Es gibt eine umfangreiche Debatte über die Rolle und Funktion von Religion aus evolutionsbiologischer und psychologischer Sicht. Empirische Studien zeigen etwa, dass Religion die individuelle Gesundheit beeinflusst. In einzelnen Fällen können negative Effekte dadurch ausgelöst werden, dass religiös begründete Ansprüche oder das Gottesbild Druck ausüben.6 In anderen Fällen führt religiöser Glaube zu einem gesünderen und längeren Leben aufgrund von Regeln, die zu geringerem Drogen- und Alkoholkonsum führen oder Scheidung und Suizid verhindern. Religionen können das Individuum dadurch unterstützen, dass sie Geborgenheit und Struktur ermöglichen. Sie können stabilisierend wirken bei Stress, Unglück und erfahrener Ungerechtigkeit, indem sie eine sinnstiftende Ordnung proklamieren, die das Geschehen in ein großes Ganzes einordnen lässt.7 Auch Gesellschaften insgesamt können gestützt werden, etwa indem moralisches und altruistisches Verhalten befördert werden.8 Jüngere Forschung erweitert die Reichweite derartiger Ansätze, indem sie die sozialen
4 Peter L. Berger: Introduction, S. 6. 5 Vgl. Hans Joas: Glaube als Option. Zukunftsmöglichkeiten des Christentums, Freiburg im Breisgau 2012, S. 146–148. 6 Vgl. Gene G. Ano/Erin B. Vasconcelles: Religious Coping and Psychological Adjustment to Stress. A Meta-Analysis, in: Journal of Clinical Psychology, 61 (2005), S. 461–480. 7 Vgl. Harold G. Koenig/David B. Larson: Religion and mental health: evidence for an association, in: International Review of Psychiatry, 13/2 (2001), S. 67–78. 8 Vgl. David S. Wilson: Darwin’s cathedral. Evolution, religion, and the nature of society, Chicago 2002.
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und individuellen Vorzüge von Religion auf verschiedenen kulturellen Stufen analysiert.9 Im Hintergrund steht die evolutionsbiologisch motivierte Annahme, dass Religionen empirisch messbare Vorteile bieten müssen, weil sie ansonsten in der Menschheitsgeschichte nicht Bestand und so weite Verbreitung gefunden haben könnten. Demnach wird die evolutionsbiologische »Cui bono?«-Frage auf Religion übertragen, indem nach der spezifischen Funktion gefragt wird, die Religion in ihrer jeweiligen evolutiven Phase hatte.10 Am Beginn der menschlichen Kulturgeschichte sieht Daniel Dennett »an instinct on a hair trigger: the disposition to attribute agency – beliefs and desires and other mental states – to anything complicated that moves«11. Der Mensch begann immer dann, wenn er einen Vorgang nicht verstand, einen Akteur mit Intentionen im Hintergrund zu sehen. Wenn der prähistorische Mensch beim Rascheln von Blättern vorsorglich einen Angreifer oder ein Beutetier unterstellte, dann führte das zu einer erhöhten Vorsicht, die sich langfristig bewährte. Durch Übertragung dieses Grundprinzips auf andere Felder entstand nach Dennett am Ende der Entwicklung der religiöse »full access agent«, der die Basis für den heutigen theistischen Glauben bildet. Dazwischen lassen sich viele einzelne Schritte mit einem evolutiven Vorteil ausmachen: James McClenon zeigt beispielsweise die positiven Effekte schamanischen Heilens auf.12 Der Glaube an einen allmächtigen Gott ist demnach also weniger eine Frage von Wahrheit oder Offenbarung als vielmehr eine Strategie im Umgang mit Alltagsproblemen. Dennetts Ansatz, Religion zu erklären, fußt auf empirischer Forschung und kann daher an der Überzeugungskraft der Naturwissenschaften partizipieren. 9 Vgl. The Biological Evolution of Religious Mind and Behavior. Hrsg. v. Eckart Voland/Wulf Schiefenhövel, Berlin/ Heidelberg 2009; Wolfgang Achtner: The Future of Religions at the Intersection between Evolution, Culture, and Christian Theology, in: Zukunftsperspektiven im theologisch-naturwissenschaftlichen Dialog. Hrsg. v. Patrick Becker/Ursula Diewald, Göttingen 2011, S. 289–305. 10 Vgl. Patrick Becker: Angst vor der Empirie? Die Herausforderung der Naturwissenschaften, in: Herder-Korrespondenz, 64 (2010), S. 254–258. Eine kritische Diskussion evolutionsbiologischer Ansätze findet sich in: Contemporary theories of religion. A critical companion. Hrsg. v. Michael Stausberg, London 2009. Eine neuere Zusammenstellung evolutionsbiologisch-soziokultureller Erklärungen bietet Jonathan H. Turner/Alexandra Maryanski/Anders Klostergaard Petersen/Armin W. Geertz: The emergence and evolution of religion by means of natural selection, New York, London 2018. Eine umfassende Darstellung bietet weiterhin das jüngst erschienene James R. Liddle/Todd K. Shackelford: The Oxford Handbook of Evolutionary Psychology and Religion, Oxford 2016. Eine Grundlagenklärung liegt vor mit Ina Wunn: Barbaren, Geister, Gotteskrieger. Die Evolution der Religionen – entschlüsselt, Berlin 2017. 11 Daniel C. Dennett: Breaking the spell. Religion As a Natural Phenomenon, London 2006, S. 114. 12 Vgl. James McClenon: Wondrous healing. Shamanism, human evolution, and the origin of religion, Illinois 2002.
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Dadurch beinhaltet er eine Attraktivität, die von mehreren populärwissenschaftlichen Büchern der letzten beiden Jahrzehnte aufgegriffen wurde.13 Daniel Dennett und andere Forscher:innen wie Scott Atran14 oder Pascal Boyer15 sind in der Lage, einzelne evolutive Vorteile herauszuarbeiten und so positive Funktionen von Religion für die Bewältigung des Alltags zu benennen. Für die Theologie ist dieser Befund alles andere als überraschend, schließlich kann man Religion als »Kontingenzbewältigungspraxis«16 verstehen, die das Individuum und ganze Gesellschaften stützt. Irritieren muss allerdings, wenn die evolutionsbiologische Forschung bei Dennett mit einem reduktionistischen und damit religionskritischen Impetus gekoppelt ist, nach dem Religion auf diese Vorzüge reduziert werden kann: Der religiöse Glaube sei demnach nichts anderes als ein Trick der Evolution, der den Menschen im Kampf ums Dasein fitter macht und einen Vorteil gegenüber nicht-religiösen Artgenoss:innen verschafft. Das Problem mit und der springende Punkt an dieser Logik besteht darin, dass die aufgezeigten positiven Effekte nur dadurch erreicht werden, dass Religion Sinn stiftet. Religion hilft den Menschen, indem sie ihnen den Sinn ihres Daseins und Tuns aufzeigt. Religion eröffnet und weitet die Perspektive des Menschen, indem sie negative Erfahrungen und Probleme relativiert und in einen Gesamthorizont integriert. Religion funktioniert daher, indem sie ein stabiles Fundament schafft, das nicht von dieser Welt ist. Indem Religion auf den innerweltlichen Nutzen reduziert wird, wird sie ihrer eigentlichen Pointe beraubt. Wer Religion als evolutiven Trick versteht, ist nicht in der Lage, von ihren Vorzügen zu profitieren, da es inkonsistent und damit nicht überzeugend ist, sich auf eine höhere Macht zu verlassen, an deren Existenz man nicht glaubt. Sinnstiftung ist genau die Strategie, mit der Fundamentalvertrauen geschaffen werden kann. Daher besteht eine intrinsische Verknüpfung zwischen der im ersten Schritt dargestellten Herausforderung der Moderne und einer Orientierung hin zu Religionen.17 Religion kann tatsächlich für das Individuum im Umgang mit der modernen Komplexität eine starke Rolle spielen. Wenn prominente Vertreter:innen eines reduktiven Ansatzes wie Richard Dawkins insis-
13 Vgl. Ulrich Schnabel: Die Vermessung des Glaubens. Forscher ergründen, wie der Glaube entsteht und warum er Berge versetzt, München. 3. Aufl. 2008; Nicholas J. Wade: The faith instinct. How Religion Evolved and Why It Endures, New York 2009. 14 Vgl. Scott Atran: In gods we trust. The evolutionary landscape of religion, Oxford, New York 2002. 15 Vgl. Pascal Boyer: Et l’homme créa les dieux. Comment expliquer la religion, Paris 2003. 16 Hermann Lübbe: Religion nach der Aufklärung, Darmstadt 1986, S. 160. Vgl. Vernunft, Kontingenz und Gott. Konstellationen eines offenen Problems. Hrsg. v. Philipp Stoellger/ Ingolf U. Dalferth, Tübingen 2000. 17 Vgl. Lieven Boeve: Method in Postmodern Theology. A Case Study, in: The presence of transcendence. Hrsg. v. Lieven Boeve/John C. Ries, Leuven 2001, S. 19–39, S. 25–26.
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tieren, dass aufgeklärte Gesellschaften keinen Platz für Religionen haben,18 weil sie keinen Wert für sie besitzen und durch ihre Gewaltaffinität mehr Schaden anrichten als Nutzen haben, ignorieren sie die Kraft, die Religionen im Umgang mit Pluralität entfalten können, die durch ihre Sinnfundierung in einer großen Transzendenz entsteht. Religionen können diese Kraft auf zwei verschiedenen Wegen entfalten: Sie können einerseits das Individuum im Umgang mit Pluralität positiv stärken und sie können andererseits die erfahrene Komplexität reduzieren, indem sie ein starkes Fundament mit klaren Regeln, scharfen Innen-Außen-Grenzen und im Extremfall auch mit expliziten Feindbildern verbinden.19 Beide Strategien sind nicht auf Religionen beschränkt, sondern stellen einen normalen Umgang mit Pluralität dar: Bildung insgesamt kann unter dieser Hinsicht betrachtet werden. Sie stärkt das Individuum einerseits beim Abwägen, Reflektieren und Auswählen von Alternativen und reduziert zugleich Pluralität, indem Regeln und Werte gesetzt werden. Auch säkulare Psychologie kann beide Strategien anwenden und verknüpfen, wenn sie mit Patient:innen arbeitet, die nicht mit der Komplexität ihrer Lebenssituation klarkommen. Die Stärke und Besonderheit des religiösen Ansatzes liegt in der transzendenzbasierten Sinnstiftung. Religionen können Antworten geben, die die innerweltlichen Verstrickungen überschreiten und dadurch relativieren. Die transzendente Verankerung kann sich daher als innerweltlichen Zielsetzungen und Utopien überlegen erweisen, weil sie Ideale postuliert, die innerweltlich nicht mehr in Frage gestellt werden können. Daher besteht bei ihnen eine größere Gefahr der Selbstimmunisierung. Der entscheidende Punkt in der Argumentation dieses Beitrags liegt daher darin, in welcher Weise auf Transzendenz als sinnstiftendes Fundament rekurriert wird. Wenn dabei die Unerreichbarkeit und Andersartigkeit von Transzendenz in Rechnung gestellt werden, führt das zu Ambiguitätstoleranz und einer mit der Moderne hochkompatiblen relativistischen Epistemologie.
18 Richard Dawkins: The God Delusion, London 2007. 19 Vgl. Constantin Klein/Dirk Lehr: Religiöses Coping, in: Gesundheit – Religion – Spiritualität. Hrsg. v. Constantin Klein/ Hendrik Berth/Friedrich Balck, Weinheim 2011, S. 333–359.
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Ambiguitätstoleranz und eine relativistische Epistemologie als Antworten auf die Pluralität der Moderne
Thomas Bauer definiert Ambiguität als »Begriff für alle Phänomene der Mehrdeutigkeit, der Unentscheidbarkeit und Vagheit, mit denen Menschen fortwährend konfrontiert werden«20. Damit beschreibt er eine Eigenschaft der im ersten Schritt beschriebenen weltweiten Situation der Moderne. Er weist darauf hin, dass es nicht weiterhilft, die Erfahrung von Ambiguität abzulehnen oder zu ignorieren, sondern dass ein positiver Umgang gefunden werden muss (»Ambiguitätszähmung«21). Während ich hier mit ihm übereinstimme, widerspreche ich seiner Gleichsetzung von traditioneller Religiosität mit Ambiguitätstoleranz. Es kann zudem kein kausaler Zusammenhang zwischen einer abnehmenden Ambiguitätstoleranz und dem Rückgang der Zentralität von traditioneller, transzendenzbasierter Religion festgestellt werden. Erstens ist Bauers Proklamation einer allgemein zurückgehenden Ambiguitätstoleranz falsch. Bauer verwechselt die in der Moderne unumgängliche Relativierung von Wahrheitsansprüchen mit Gleichgültigkeit.22 Ein relativierter Weltzugang ist gerade eine Konsequenz der Erfahrung von Ambiguität: Indem ich verschiedene Lebenskonzepte wahrnehme und wertschätze, wird es unmöglich, eines davon über die anderen zu erheben und absolut zu setzen. Dennoch muss sich das Individuum entscheiden: Es ist nicht denkbar, dass jemand keine Präferenzen hat, welchen Beruf er:sie ausübt oder mit welcher:m Partner:in er:sie zusammenlebt. Auch wenn also keine Eindeutigkeiten hergestellt werden können, ist niemand gleichgültig gegenüber zentralen Lebensentscheidungen. Wenn Bauer Beispiele für Indifferenz nennt, beschreibt er keine allgemein vorherrschende Einstellung, sondern einen Weg im Umgang mit einer überbordenden Fülle an Entscheidungen. In diesen Fällen bestand die Entscheidung darin, sich nicht zu entscheiden. Auf der philosophischen Ebene hat es daher einen Wert, eine relativistische Epistemologie zu entwickeln, die einerseits Absolutheitsansprüche ausschließt und andererseits am Wahrheitsbezug von Aussagen festhält.23 Ein Beispiel für 20 Thomas Bauer: Die Vereindeutigung der Welt. Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt, Stuttgart. 3. Aufl. 2018, S. 13. 21 Thomas Bauer: Die Vereindeutigung der Welt, S. 15. 22 Vgl. Thomas Bauer: Die Vereindeutigung der Welt, S. 30. 23 Ich versuche mich an einer derartigen Epistemologie in vgl. Patrick Becker: Die Erfahrung des (ganz) anderen. Zu einem kultursensiblen Umgang mit (religiösen) Überzeugungen, in: Der Glaube und seine Gründe. Neue Beiträge zur Religiösen Epistemologie. Hrsg. v. Martin Breul/ Klaus Viertbauer, Tübingen 2022 (in Druck); Thomas M. Schmidt: Religiöse Vielfalt als epistemische und normative Herausforderung. Zur Rechtfertigung religiöser Überzeugungen in pluralistischen Gesellschaften, in: Modelle des religiösen Pluralismus. Hrsg. v. Karl Gabriel/ Christian Spiess/Katja Winkler, Paderborn 2012, S. 340–362.
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eine derartige Epistemologie wird von Hilary Putnam mit seinem internen Realismus vorgelegt, ein anderer von Jürgen Habermas im Rahmen seiner Diskurstheorie.24 Beide betonen, dass Kommunikation unmöglich wird, wenn Wahrheitsansprüche grundsätzlich aufgegeben werden. Zugleich stellen sie dar, dass es auf subjektiven Entscheidungen basiert, welche Wahrheitsansprüche ich konkret annehme. Das liegt daran, dass schon die Kriterien, anhand deren ich Wahrheit bestimme, auf unserer kulturellen und gesellschaftlichen Prägung basieren. Es gibt keine zeit- und ortsunabhängige Rationalität, auf die der Mensch direkten Zugriff hätte, sondern lediglich verschiedene Arten zu denken. Dennoch sind wir in der Lage, uns gegenseitig zu verstehen, selbst über Jahrhunderte und Kontinente hinweg. Daher ergibt es keinen Sinn, die völlige Inkommensurabilität von Rationalitätsformen zu behaupten. Während wir zwar einerseits durch unsere kulturelle Situierung geprägt sind, muss es andererseits doch so etwas wie einen gemeinsamen Menschenverstand und ein gemeinsames Interesse an der Wahrheit geben. Zweitens hat Bauer zwar Recht damit, dass in den meisten westlichen Ländern ein Rückgang traditioneller Religiosität feststellbar ist.25 Allerdings liegt der Grund dafür nicht in einem zurückgehenden Gespür für Ambiguität, sondern in verschobenen Plausibilitäten: In den letzten beiden Jahrhunderten führte der Erfolg der Naturwissenschaften und der durch sie evozierten Technik zu einem Glauben an den Menschen und den von ihm generierten technischen Fortschritt.26 Darauf basiert der Wandel von einem transzendenzbezogenen, traditionell-religiösen Glauben zu einer innerweltlichen, auf das Individuum fixierten Spiritualität.27 Hier kann als Extrembeispiel der Körperkult benannt werden, bei dem sich das Individuum auf sich selbst fixiert und dazu eine kleine Form von Transzendenz anstrebt: Hier transzendiert sich der Mensch, indem er ein Bild von sich selbst entwirft, dem er anschließend durch die Gestaltung und das Training seines Körpers nahezukommen versucht.28 24 Vgl. Martin Breul: Diskurstheoretische Glaubensverantwortung. Konturen einer religiösen Epistemologie in Auseinandersetzung mit Jürgen Habermas, Regensburg 2019. 25 Vgl. Patrick Becker: Religion in der Krise? Religiöse Pluralität in einer innerweltlich orientierten Gesellschaft, in: Die gegenwärtige Krise Europas. Hrsg. v. Martin Kirschner/Karlheinz Ruhstorfer, Freiburg/Basel/Wien 2018, S. 103–120. 26 Auf die hohe Bedeutung von Technik und Naturwissenschaften in der heutigen globalen weltanschaulichen Situation weist Karl Gabriel hin Vgl. Karl Gabriel: Religiös-weltanschaulicher Pluralismus im globalen Rahmen. Phänomene und Herausforderungen, in: Modelle des religiösen Pluralismus. Hrsg. v. Karl Gabriel/ Christian Spiess/Katja Winkler, Paderborn 2012, S. 133–154, S. 134–139. 27 Vgl. Hubert Knoblauch: Populäre Religion. Auf dem Weg in eine spirituelle Gesellschaft, Frankfurt am Main 2009, S. 41. 28 Vgl. Robert Gugutzer: Die Sakralisierung des Profanen. Der Körperkult als individualisierte Sozialform des Religiösen, in: Körper, Sport und Religion. Hrsg. v. Robert Gugutzer/Moritz Böttcher, Wiesbaden 2012, S. 285–308.
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Es lässt sich also festhalten, dass die entscheidende Frage für die Verbreitung von Weltanschauungen ihre Überzeugungskraft ist. Da auch das Feld von Weltanschauungen in der Moderne durch eine Marktsituation gekennzeichnet ist, muss das Individuum auch hier auswählen.29 Dieser Wahlprozess erfolgt oftmals nicht explizit und auch nicht reflektiert. Allerdings verändern sich unsere Überzeugungen in dem Moment, wo wir sie nicht mehr plausibel finden. Da es wiederum Teil unserer Weltanschauung ist, was wir für plausibel halten und was nicht, ergibt sich hier ein Zirkel, der unseren Erfahrungshorizont, konkrete Erlebnisse und unsere Überzeugungen sowie das, was wir für rational halten, umfasst. Mit diesem erkenntnistheoretischen Zirkel ist das Individuum in die Gesellschaft eingegliedert, da das soziale Umfeld sowohl unser Weltbild (mit-)prägt als auch den Horizont für unsere Erfahrungen darstellt. Daher sind auch Institutionen wie auch Religionsgemeinschaften wichtig, da sie Räume für (religiöse) Erfahrungen schaffen und als Plausibilitätsstrukturen bei der Interpretation der gemachten Erfahrungen helfen. Es ist ihre Aufgabe, uns im Umgang mit Ambiguität zu schulen, indem sie einen (Deute-)Rahmen bilden und uns Werkzeuge für den Umgang mit Pluralität mitgeben. Sobald eine Religionsgemeinschaft Pluralität negativ bewertet und sich daher von der vorherrschenden Pluralität abgrenzt, legt sie ein modernefeindliches Konzept vor, das mit dem Begriff Fundamentalismus belegt werden kann.
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Die Grundlage von religiösem Fundamentalismus
Nicht zufällig ist die Geschichte des religiösen Fundamentalismus intrinsisch mit dem Prozess der Modernisierung im 19. und 20. Jahrhundert verknüpft.30 Der Begriff Fundamentalismus war zu Beginn des 20. Jahrhunderts als Selbstzuschreibung kleiner evangelikaler Gruppen in den USA geprägt worden,31 die auf der Unfehlbarkeit und wörtlichen Lesart der Bibel bestanden. Daher proklamierten sie, dass ihr Glaube und ihre theologische Argumentation strikt auf der Bibel basierten. Während sie die Verfassung und soziale Vielfalt innerhalb der 29 Vgl. Rainer Bucher: … wenn nichts bleibt, wie es war. Zur prekären Zukunft der katholischen Kirche, Würzburg. 2. Aufl. 2012, S. 8. 30 Vgl. Karen Armstrong: The Battle for God. Fundamentalism in Judaism, Christianity and Islam, London 2000, Kap. 2. Vgl. Stephan Goertz: Zur Genealogie und Kritik des katholischen Fundamentalismus. Eine Einführung, in: Fluchtpunkt Fundamentalismus? Hrsg. v. Stephan Goertz/Rudolf B. Hein/Katharina Klöcker, Freiburg, Br./Basel/Wien 2013, S. 11–76, S. 13–31.; Fundamentalisms comprehended. Hrsg. v. Martin E. Marty/Robert S. Appleby, Chicago 1995. 31 Vgl. James Hunter: Fundamentalism and Relativism Together. Reflections on Genealogy, in: Between relativism and fundamentalism. Hrsg. v. Peter L. Berger, Grand Rapids, Michigan 2010, S. 17–34, S. 27–31.
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USA im Allgemeinen zwar anerkannten, wandten sie sich zugleich gegen einzelne staatliche Bestimmungen, die ihnen im Gegensatz zur Bibel zu stehen schienen. In den ersten Jahrzehnten blieben diese fundamentalistischen Gruppen klein und regional beschränkt. Erst in den 1990er Jahren kam Fundamentalismus als Phänomen aufgrund der Gewaltaffinität einiger Gruppierungen in verschiedenen Teilen der Welt in das öffentliche Bewusstsein. Es wurde deutlich, dass der religiöse Fundamentalismus unterschwellig in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts weltweit massiv an Gewicht gewonnen hatte, und zwar ganz besonders in den 1970er Jahren. Gilles Kepel benennt dazu drei zentrale Ereignisse im Judentum, Christentum und Islam, die zeigen, dass sich in diesen drei Religionen eine breitere Basis für fundamentalistische Überzeugungen gebildet hatte:32 1. In Israel erzielten (ultra-)orthodoxe religiöse Gruppierungen bei den Parlamentswahlen 1977 einen Erdrutschsieg; die Ursache hierfür sieht Kepel in den traumatischen Erfahrungen des Oktoberkriegs 1973. 2. Ein Jahr später wurde in der katholischen Kirche Papst Johannes Paul II. ernannt; da ihm Kepel eine traditionalistische Ausrichtung zuschreibt, sieht er mit dieser Wahl eine innenpolitische Verschiebung der katholischen Kirche markiert. Kepel nennt als Hintergrund dafür Verunsicherungen, die im Gefolge des moderne-freundlichen zweiten Vatikanischen Konzils entstandenen sind. 3. 1979 errichtete Ayatollah Khomeini im Iran nach einigen gewalttätigen Auseinandersetzungen ein striktes religiöses Regime. Hier macht Kepel eine lange Linie von kultureller Verunsicherung aus, die in der Kolonialzeit ihren Ursprung hat. Alle drei Ereignisse können nach Kepel als Manifestationen einer Entwicklung gesehen werden, in denen Verunsicherungen mit einer Zuwendung zu traditionellen religiösen Positionen begegnet wurde. Damit identifiziert Kepel zwar nicht Fundamentalismus, aber er legt offen, dass im Judentum, Katholizismus und Islam Strömungen mit rückwärtsgewandtem Denken an Attraktivität gewonnen hatten. Diese stehen in offenem Widerspruch zum modernen Prozess der »Öffnung des Denkens, des Handelns, der Lebensformen«33 und können daher nach Kepel als Bodensatz für eine Ausbreitung fundamentalistischen Denkens dienen. Ähnliche Ereignisse können in den letzten Jahrzehnten in allen Religionen und Regionen der Welt ausgemacht werden. Im Hintergrund steht der eingangs dargestellte, globale Prozess der Modernisierung. Kepel benennt grundsätzliche 32 Vgl. Gilles Kepel/Thorsten Schmidt: Die Rache Gottes. Radikale Moslems, Christen und Juden auf dem Vormarsch, München 1991, S. 19–23. 33 Thomas Meyer: Fundamentalismus. Die andere Dialektik der Aufklärung, in: Fundamentalismus in der modernen Welt. Hrsg. v. Thomas Meyer, Frankfurt am Main 1989, S. 13–22, S. 18.
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Unterschiede zwischen einer modern-kompatiblen Weltsicht und den von ihm beschriebenen traditionalistischen Denken, indem er deren unterschiedliche Bewertung von Pluralität aufzeigt. Fundamentalismus fügt sich in diese Logik ein: Stuart Sim charakterisiert ihn als »search for security in a period of bewildering cultural change«34. Das Hauptziel von Fundamentalismus ist demnach die Bildung einer unantastbaren Position, die sich gegenüber der modernen Grundhaltung dadurch abgrenzt, dass sie sich nicht nur gegen spezifische Fehlentwicklungen wendet, sondern Entwicklung allgemein ablehnt. Dazu muss eine ideale historische Situation konstruiert werden, die glorifiziert und gegen Wechsel immunisiert wird.35 Hier zeigt sich, dass Heilige Schriften entgegen der ursprünglichen Erklärung der ersten fundamentalistischen Gruppierungen gerade nicht den Kern, sondern nur ein Werkzeug des Fundamentalismus darstellen. In den meisten Fällen beschreiben Heilige Schriften nicht die benötigte eindeutige ideale historische Situation, sondern erzählen eher eine Fülle unterschiedlicher Erfahrungen der Gläubigen. Die Bibel kann daher eher als eine plurale Beschreibung von Glaubenszugängen mit einer bemerkenswert hohen Ambiguitätstoleranz verstanden werden. Ihre Komposition ist plural:36 Sie beinhaltet verschiedene Bücher aus unterschiedlichen Zeiten mit unterschiedlichen Gottesvorstellungen, Menschenbildern, Moralkonzepten usw. Wenn mit ihr ein geschlossenes, eindeutiges Weltbild begründet werden soll, muss eine Auswahl darüber getroffen werden, welche Bibelstellen genutzt und wie sie interpretiert werden. Daher stellt sich die Frage, woher fundamentalistische Überzeugungen ihre Grundlegung nehmen: Wenn man die Grundaussage dieses Beitrags annimmt, dass Fundamentalismus zuallererst eine Reaktion auf die zunehmende Pluralität in der Moderne ist und diese deshalb ablehnt, weil sie als Überforderung empfunden wird, dann folgt daraus, dass die idealisierte Situation aus der Vergangenheit der Vormoderne stammen muss. In der Tat kann beobachtet werden, dass fundamentalistische Gruppierungen für vor-moderne Situationen und eine vor-moderne Moral kämpfen: Jüdische militante Siedler argumentieren für ihr Recht auf die Besiedelung ihres Heiligen Lands, indem sie sich auf ein jahrtausendealtes Bild eines geeinten Israels beziehen. Dieses geeinte Israel findet sich als Versprechen Gottes in der Tora und kann so mithilfe der jüdischen Heiligen Texte religiös fundiert und proklamiert werden.
34 Stuart Sim: Fundamentalist world. The new dark age of dogma, Cambridge 2004, S. 21. 35 Vgl. Markus J. Prutsch: Fundamentalismus. Das »Projekt der Moderne« und die Politisierung des Religiösen, Wien 2007, S. 59–60. 36 Vgl. Magnus Striet: Weltliche Welt. Eine fundamentaltheologische Grundlegung, in: Diakonia – der Dienst der Kirche in der Welt. Hrsg. v. Martin Kirschner/Joachim Schmiedl, Freiburg i.Br./Basel/u. a. 2013, S. 41–56, S. 49–50.
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In anderen Religionen wird die nötige Trennung zwischen fundamentalistischen Ansprüchen und ihres Bezugs auf Heilige Schriften noch deutlicher. Wenn christlich-fundamentalistische Gruppierungen für bestimmte Familienbilder eintreten, werden sie diese nur höchst unzulänglich in der Bibel wiederfinden. Hierzu werden einzelne Verse als Losungen benutzt, aber kaum biblische Texte in ihrer Gänze. Die Bibel funktioniert hier – wenn überhaupt – als Stichwortlieferant, aber nicht als Basis für die gesamte Moralvorstellung oder Argumentation. Auf den ersten Blick wirkt der Koran als geeignetere Basis für fundamentalistisches Denken, weil er erstens eindeutigere und einheitlichere Aussagen zum Glauben, Recht und auch zur konkreten Lebensführung zu umfassen scheint und weil er zweitens in einem kompakten Zeitraum entstanden ist. Tatsächlich findet sich die Argumentation, dass der Islam anderen Religionen überlegen sei, weil der Koran in sich geschlossen und in ihm die Offenbarung daher »complete and perfect for mankind«37 sei. Aktuelle Debatten zu Moralvorstellungen, dem Umgang mit Ungläubigen oder dem Verhältnis zu Gewalt widerlegen die proklamierte Eindeutigkeit des Korans jedoch. Hier wie in vielen anderen Debatten kann man wahrnehmen, wie verschiedene Positionen gleichermaßen mit Versen aus dem Koran gestützt werden.38 Daher bleibt weiterhin die Frage, woher der Kern fundamentalistischer Überzeugungen bezogen wird. Sicherlich wird dieser Kern in einem positiven Verhältnis zu den eigenen heiligen Schriften stehen, da eine völlige Loskoppelung nicht denkbar ist: Gemäß des vorgelegten epistemologischen Zirkelmodells sind die eigenen Überzeugungen schließlich von der eigenen Kultur geprägt, zu der im religiösen Bereich die Heiligen Schriften zentral gehören. Um ein fundamentalistisches Gebäude errichten zu können, müssen allerdings zwei grundsätzliche Vorentscheidungen an die jeweilige Heilige Schrift herangetragen werden, die nicht aus dem Text selbst stammen: Erstens wird in fundamentalistischen Systemen Entwicklung grundsätzlich abgelehnt und zweitens muss eine idealisierte historische Situation proklamiert werden. Letztere ist deshalb wichtig, weil sie als politisches Ziel dient. Hier wird nun deutlich, dass Fundamentalismus in der Politisierung bestimmter, als unkritisierbar gesetzter, religiöser Überzeugungen besteht. Während militante jüdische Siedler:innen das bereits erwähnte vereinigte Königreich Israels vor Augen haben, wird im Hindu-Nationalismus für ein reines, unter dem Banner des Hinduismus vereintes Indien gekämpft. Hier dürfte eine Idealisierung eines Zustandes vor der ersten Eroberung durch Muslim:innen Pate stehen. Katholischer Fundamentalismus dürfte ein glorifiziertes Bild der 37 Syed M. N. Al-Attas: Secular – Secularization – Secularism, in: Christianity through nonChristian eyes. Hrsg. v. Paul J. Griffiths, New York 1990, S. 111–125, S. 120. 38 Vgl. Axel Heinrich: Denkmuster zur Eindämmung und zur Legitimation von Gewalt im Christentum und im Islam. Ein Literatureinblick, Bonn 2006, Kapitel 4.
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Kirche und ihrer Moralvorstellungen im 19. Jahrhundert vor Augen haben. Islamischer Fundamentalismus beruft sich auf eine Idealvorstellung einer unter den Kalifen geeinten umma. Im evangelischen Fundamentalismus können idealisierte Vorstellungen von Urgemeinden als Ausgangspunkt dienen. Der entscheidende Punkt im Verständnis von Fundamentalismus liegt darin, dass erstens diese historische Situation absolut gesetzt und damit dem rationalen Diskurs entzogen wird und dass sie zweitens als politisches Ziel dient: Fundamentalismus setzt seine so religiös begründeten Vorstellungen auf die politische Agenda und versucht, sie so mehr oder weniger zivilisiert innerhalb oder gegen die vorherrschende Gesellschaft durchzusetzen.39 Thomas Meyer definiert Fundamentalismus entsprechend als »hegemonieorientierte Politisierung kultureller Unterschiede«40. Die Unterschiede in den Gruppierungen gerade auch hinsichtlich ihrer Gewaltbereitschaft dürften sich dadurch bestimmen lassen, dass man ihre Ambiguitätstoleranz misst. Hier wäre ein empirisch anwendbares Werkzeug nützlich, das Kriterien für die Bestimmung von Ambiguitätstoleranz innerhalb fundamentalistischer Systeme anbietet. Für den Umgang mit fundamentalistischen Gruppierungen muss umgekehrt nach Wegen gesucht werden, wie Ambiguitätstoleranz gestärkt werden kann.
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Ambiguitätstoleranz als Anker gegen religiösen Fundamentalismus
Jede Religion hat als ihren Kern den Bezug auf eine letzte, transzendente Wirklichkeit. Der entscheidende Punkt fundamentalistischen Denkens liegt darin, dass es den absoluten Zugang dazu behauptet.41 Damit wird die in allen religiösen Traditionen mehrheitlich immer hoch gehaltene Trennlinie zwischen dem beschränkten menschlichen Fassungsvermögen und der unendlichen Größe des Göttlichen ignoriert. Die Offenbarung des Göttlichen wird nicht auf der Basis menschlicher Erfahrungen davon interpretiert, sondern als direktionale Linie verstanden, die dem menschlichen Diskurs entzogen und so auch gegen Kritik immunisiert wird. Damit werden Zweifeln der Boden entzogen und Sicherheit 39 Auf die große Bandbreite evangelikalen Auftretens, das nach diesem Kriterium nur in Teilen und dann auch nur in wiederum unterschiedlichem Ausmaß dem Fundamentalismus zuzuordnen ist, weist Craig Gay hin: Vgl. Craig M. Gay: Evangelicals in Search of a Political Theory, in: Between relativism and fundamentalism. Hrsg. v. Peter L. Berger, Grand Rapids, Michigan 2010, S. 56–101. 40 Thomas Meyer: Die Politisierung kultureller Differenz. Fundamentalismus, Kultur und Politik, in: Politisierte Religion. Hrsg. v. Heiner Bielefeldt, Frankfurt am Main 1998, S. 37–66, S. 50. 41 Douglas Pratt: Religion and extremism. Rejecting diversity, London (u. a.) 2018.
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generiert. Gläubige erhalten klare Regeln, eindeutige Freund- und Feindbilder und können sich so in Sicherheit fühlen. Wenn moderne Pluralität als Belastung erfahren wird, kann so Geborgenheit geboten werden. Für moderne Gesellschaften ergibt sich dabei allerdings das Problem fehlender Ambiguitätstoleranz. Wenn Eindeutigkeit das zentrale Anliegen fundamentalistischer Systeme ist, dann müssen andere Meinungen und Sichtweisen als feindlich eingestuft und abgelehnt werden. Im besten Fall führen derartige Situationen zu Debatten, im schlimmsten Fall zu offener Gewalt. In allen Fällen evoziert der Anspruch von Eindeutigkeit ein gesellschaftliches Problem, weil es ein Freund-Feind-Denken und unüberbrückbare Gräben in der Gesellschaft befördert. Ambiguitätstoleranz ist damit ein normativer Anspruch, der zu Bewertung von Weltbildern geeignet ist und als Ziel für Bildung dienen kann und sollte. Indem Ambiguitätstoleranz in Bildungssystemen direkt adressiert wird, kann Fundamentalismus identifiziert, als Problem analysiert und ihm direkt entgegengewirkt werden. Im ersten Moment scheint es praktikabel zu sein, religiösen Fundamentalismus dadurch anzugehen, dass man Widersprüche im Umgang mit der jeweiligen Heiligen Schrift aufzeigt. So könnten konkrete Aussagen durch widersprechende Verse an anderen Stellen der Heiligen Schrift konfrontiert und so nicht zuletzt die Heiligen Schriften inhärente Ambiguität verdeutlicht werden. Auch die Kritik an Idealisierungen historischer Situationen, die es so nie gegeben hat, erscheint zunächst erfolgsversprechend. Tatsächlich dürften sich die Erfolge derartiger Strategien jedoch in Grenzen halten, da sich die Selbstimmunisierung und die Ablehnung anderer Positionen im Fundamentalismus oftmals so gefestigt präsentieren, dass die nötige Mindestbereitschaft zum Dialog nicht anzutreffen sein dürfte. Daher folgt als Endergebnis, dass der Umgang mit religiösem Fundamentalismus nur im präventiven Modus gelingt: Es ist also notwendig, im Vorfeld Ambiguitätstoleranz zu fördern, indem man den konstruktiven Umgang mit moderner Pluralität übt. So kann eine Form von »community resilience«42 aufgebaut werden, welche fundamentalistischen Angeboten ihre Attraktivität nimmt. Das ist im Allgemeinen eine Anforderung an Bildungssysteme, stellt aber auch die Religionsgemeinschaften selbst vor eine unausweichliche Aufgabe: Religionen müssen einen hermeneutischen Zugang zu ihren Heiligen Schriften praktizieren, der einerseits nicht den Offenbarungsgehalt leugnet, andererseits aber immer die Gebundenheit des Textes an historische Umstände, seine Mehrdeutigkeit und daher die Notwendigkeit seiner aktuellen Interpretation vor 42 Julian Droogan/Lise Waldek: Religion, Radicalization, and Violent Extremism?, in: Does religion cause violence? Hrsg. v. Scott Cowdell/Chris Fleming/Joel Hodge/Carly Osborn, New York 2018, S. 173–190, S. 183.
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Augen hat. Religionen müssen den Umgang mit Heiligen Texten einüben und dürfen diesen nicht einer kleinen Gruppe von Expert:innen überlassen. Daher gehört zu einer moderne-kompatiblen Religion auch die positive Wertschätzung des Individuums und des individuellen Zugangs an die eigene heilige Schrift. Kurz gefasst: Religionen, die moderne-kompatibel sein und gegen Fundamentalismus arbeiten wollen, müssen Pluralität als Wert ansehen und Ambiguitätstoleranz einüben.
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Abnehmende Ambiguitätstoleranz in der Religion?
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Patrick Becker
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Autor:innenverzeichnis
Patrick Becker, Dr. theol. habil, hat im Fach Fundamentaltheologie an der Universität München promoviert und in Salzburg habilitiert. Nach Tätigkeiten als wissenschaftlicher Mitarbeiter an den Universitäten Aachen und Marburg sowie als Geschäftsführer bei AKAST in Eichstätt war er 2017–21 Professurvertreter für Systematische Theologie an der RWTH Aachen und ist seit Oktober 2021 Professurvertreter für Fundamentaltheologie und Religionswissenschaft an der Universität Erfurt. Marlene Deibl, Mag. theol., hat Philosophie und Geschichte studiert und arbeitet als Universitätsassistentin am Fachbereich Theologische Grundlagenforschung der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien. Michael N. Ebertz, Dr. rer. soc. habil, Dr. theol., Professor an der Katholischen Hochschule Freiburg. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Religionssoziologie, Kirchensoziologie und historischen Christentumsforschung. Franz Gmainer-Pranzl, Dr. theol. habil, geboren 1966 in Steyr (OÖ), studierte Katholische Theologie und Philosophie an der KTH Linz sowie an den Universitäten Innsbruck und Wien und habilitierte 2011 im Fach Fundamentaltheologie an der Universität Innsbruck. Seit 2009 ist er als Professor und Leiter des Zentrums Theologie Interkulturell und Studium der Religionen an der Universität Salzburg tätig. Frank Hinkelmann, Dr. theol., ist Leiter des Instituts für Historische Theologie am Akkreditierungsprojekt Campus Danubia, Wien und Rektor des Martin Bucer Seminars, Bonn. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der österreichischen Freikirchengeschichte und der Evangelikalen Bewegung.
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Autor:innenverzeichnis
Annette Langner-Pitschmann, Dr. theol., studierte kath. Theologie und Violoncello; sie promovierte in Religionsphilosophie. Sie ist Professorin für Theologie in globalisierter Gegenwart an der Universität Frankfurt. Katharina Mairinger, Mag. theol., studierte Germanistik und Theologie in Wien, arbeitete dort von 2018–2021 als Universitätsassistentin am Fachbereich Theologische Ethik an der Katholisch-Theologischen Fakultät und ist seit September 2021 Lehrerin an einem deutschen Gymnasium. Hans-Joachim Sander, Dr. theol. habil, ist Univ.-Prof. für Dogmatik an der Universität Salzburg mit den Schwerpunkten: Semiotik der Zeichen der Zeit, Topologien der Dogmatik, anders glauben jenseits der Macht binärer Codierungen. Raphael Titt, Dr. phil., war Kollegiat am GRK 1808 »Ambiguität – Produktion und Rezeption« der Eberhard Karls Universität Tübingen und befindet sich derzeit in der Ausbildung zum psychologischen Psychotherapeuten. Sibylle Trawöger, Dr. theol., studierte Bio- und Umwelttechnik, Katholische Fachtheologie und Religionspädagogik und ist Juniorprofessorin für Systematische Theologie und ihre Didaktik an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Würzburg. Gunda Werner, geb. 1971, Dr. theol., ist Professorin für Dogmatik und Leiterin des Instituts für Systematische Theologie und Liturgiewissenschaft an der KatholischTheologischen Fakultät der Karl-Franzens-Universität Graz. Erste Vorsitzende von AGENDA. Forum Katholischer Theologinnen und im Leitungsteam des Forschungskreises Kommunikative Theologie. Forschungsschwerpunkte: Judith Butler, Gender, Intersektionalität, Macht und Machtmissbrauch in der katholischen Kirche, theologische Diskurse im 19. Jahrhundert. René Ziegler, Dr. phil. habil, Dipl.-Psych., AOR, ist außerplanmäßiger Professor für Sozial- und Wirtschaftspsychologie am Fachbereich Psychologie der Universität Tübingen.