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German Pages XXV, 428 [443] Year 2020
Tijen Mollenhauer
Eheliche Partnerschaftsverläufe und -abbrüche bei türkeistämmigen Frauen in Deutschland Eine quantitative Analyse zu den Kurzzeit- und Langzeitfolgen der Ehescheidung sowie den Bewältigungsbestrebungen
Eheliche Partnerschaftsverläufe und -abbrüche bei türkeistämmigen Frauen in Deutschland
Tijen Mollenhauer
Eheliche Partnerschaftsverläufe und -abbrüche bei türkeistämmigen Frauen in Deutschland Eine quantitative Analyse zu den Kurzzeit- und Langzeitfolgen der Ehescheidung sowie den Bewältigungsbestrebungen
Tijen Mollenhauer Gladbeck, Deutschland Dissertation zum Erwerb des Doktorgrades (Dr. phil.) an der Fakultät für Geisteswissenschaften (Turkistik) der Universität Duisburg-Essen; vorgelegt von Tijen Mollenhauer (geb. in Greven); Gutachter: Prof. Dr. Haci-Halil Uslucan, Prof. Dr. Manuela Westphal; Datum der Disputation: 31.01.2019.
ISBN 978-3-658-30939-8 ISBN 978-3-658-30940-4 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-30940-4 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Planung/Lektorat: Stefanie Eggert Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany
Für Ophelia und Lavinia
Dank
Besonderer Dank gebührt meinen Betreuern, Prof. Dr. Haci-Halil Uslucan, der mir stets mit wertvollen Ratschlägen und hilfreichen Lösungsansätzen zur Seite stand, und Prof. Dr. Manuela Westphal, die mir in der Endphase meiner Arbeit viele zusätzliche Denkanstöße gab. Großen Anteil am Gelingen dieser Arbeit tragen mein Ehemann, meine Eltern, meine Geschwister und meine Freunde, die mich geduldig auf ihre je eigene Weise bei der Entstehung dieser Arbeit unterstützt, bestärkt und motiviert haben. Gewidmet ist diese Arbeit auch den Studienteilnehmerinnen, ohne deren Teilnahmebereitschaft, Vertrauen und Unterstützung die vorliegende Arbeit nie hätte entstehen können.
VII
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 1.1 Ausgangslage und Problemstellung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 1.2 Aufbau der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Teil I Theorien und Forschungsstand 2
Theoretische Erklärungsansätze. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 2.1 Der individualisierungstheoretische Ansatz nach Beck. . . . . . . . . 11 2.2 Theorien der Ehestabilität und Ehequalität – Die Stress-Scheidungstheorie nach Bodenmann . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 2.3 Das transaktionale Stressbewältigungsmodell nach Lazarus. . . . . 21 2.3.1 Kognitive Bewertungsprozesse und deren Auswirkungen auf das Bewältigungsverhalten sowie die Anpassung an das zukünftige Leben. . . . . . . 23 2.3.2 Der Stressbewältigungsprozess. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 2.3.3 Die Wahl der Bewältigungsformen . . . . . . . . . . . . . . . . 33 2.4 Zusammenfassung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35
3 Forschungsstand. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 3.1 Die Rolle der Frauen in der Türkei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 3.1.1 Türkische Frauen vor der Migration: zwischen weiblichen Emanzipationsbestrebungen des kemalistischen Modernisierungsprozesses und Tradition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 3.1.2 Die gegenwärtigen Geschlechterverhältnisse in der Türkei. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44
IX
X
Inhaltsverzeichnis
3.1.3
Die gesellschaftliche Bedeutung und der Wandel von Familie und Ehe. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 3.1.4 Die Ehescheidung und die gesellschaftliche Stellung und Situation der geschiedenen Frauen: gesellschaftliche Diskriminierung oder Normalität? . . . . . . . . . . . . 51 3.2 Die familiären Lebensverhältnisse der Türkeistämmigen in Deutschland: Bedeutungsverlust oder Bedeutungswandel? . . . . . 54 3.2.1 Die Lebenssituation türkeistämmiger Frauen in Deutschland – zwischen Kollektivismus, Familialismus und Individualismus. . . . . . . . . . . . . . . . 58 3.2.2 Der Wandel der Geschlechterverhältnisse. . . . . . . . . . . 64 3.2.3 Partnerwahlorientierung und Heiratsverhalten der zweiten Generation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 3.2.3.1 Innerethnische, transnationale und interethnische Eheschließungen der zweiten Generation türkeistämmiger Frauen in Deutschland. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 3.2.3.2 Partnerwahlentscheidung türkeistämmiger Frauen zwischen Fremd- und Selbstbestimmung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 3.3 Die Ehescheidung und die Scheidungsursachen im Wandel. . . . . 80 3.3.1 Scheidungsursachen im Umbruch. . . . . . . . . . . . . . . . . 81 3.3.1.1 Soziodemografische Faktoren. . . . . . . . . . . 81 3.3.1.2 Subjektive Scheidungsgründe. . . . . . . . . . . 83 3.3.1.3 Psychologische Risikofaktoren der Ehescheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 3.3.2 Scheidungsfolgen: gegenwärtiges Kurzzeitereignis oder langfristiger Prozess?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 3.3.2.1 Das Desorganisationsmodell. . . . . . . . . . . . 87 3.3.2.2 Das Reorganisationsmodell der Ehescheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 3.3.2.3 Die Transition im Rahmen des Familienentwicklungsprozesses. . . . . . . . . 89 3.3.2.4 Scheidungsfolgen für Kinder . . . . . . . . . . . 93 3.3.3 Eheliche Partnerschaftsabbrüche bei türkeistämmigen Frauen in Deutschland. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 3.4 Zusammenfassung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98
Inhaltsverzeichnis
XI
Teil II Hypothesen und Methode 4
Zentrale Untersuchungsfragen und Hypothesen. . . . . . . . . . . . . . . . . 105 4.1 Hypothesen zur Ehedauer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 4.2 Hypothesen zu den Scheidungsgründen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 4.3 Hypothesen zu den Scheidungsfolgen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 4.3.1 Hypothesen zur Moderation der Kurzzeit- und Langzeitfolgen durch die soziodemografischen Merkmale. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 4.3.2 Hypothesen zur Moderation der Kurzzeit- und Langzeitfolgen durch Scheidungsgründe und Scheidungsbarrieren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 4.4 Hypothesen zu den Bewältigungsbestrebungen. . . . . . . . . . . . . . . 111 4.4.1 Hypothesen zur Moderation der Bewältigungsbestrebungen durch die soziodemografischen Merkmale. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 4.4.2 Hypothesen zur Moderation der Bewältigungsbestrebungen durch die Kurzzeit- und Langzeitfolgen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 4.4.3 Hypothesen zur Moderation der Bewältigungsbestrebungen durch die kognitive Bewertung der Scheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 4.5 Hypothesenmodell der Untersuchung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113
5 Methode. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 5.1 Untersuchungsdesign. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 5.2 Pretest. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 5.3 Rekrutierung der Stichprobe und Ausschöpfung. . . . . . . . . . . . . . 120 5.4 Hauptuntersuchungsablauf. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 5.5 Beschreibung der Untersuchungsteilnehmerinnen. . . . . . . . . . . . . 125 5.6 Datenaufbereitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 5.6.1 Datenbereinigung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 5.6.2 Behandlung von und Umgang mit fehlenden Werten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 5.6.3 Auswertungsmethode. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 5.7 Beschreibung der verwendeten Erhebungsinstrumente. . . . . . . . . 143 5.7.1 Erfassung des soziodemografischen Hintergrundes der Frauen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144
XII
Inhaltsverzeichnis
5.7.2 5.7.3 5.7.4 5.7.5
Erfassung von Modus und Anlass der Eheschließung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 Erfassung der Ehequalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 Erfassung der Scheidungsursachen. . . . . . . . . . . . . . . . 149 Erfassung der Nachscheidungssituation. . . . . . . . . . . . . 151
Teil III Die Ergebnisse 6
Deskriptive Ergebnisse zur Ehedauer. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 6.1 Ehedauer im Sozialisationsvergleich. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 6.2 Subjektiv wahrgenommener Eheverlauf bis zur Scheidung. . . . . 160 6.2.1 Zusammenhang von Konfliktbereichen und Ehedauer. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 6.2.2 Partnerschaftszufriedenheit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 6.2.3 Die Ehedauer der in Deutschland Sozialisierten und Heiratsmigrantinnen in Abhängigkeit von der ehelichen Partnerschaftszufriedenheit und -qualität. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 6.3 Die Ehedauer der in Deutschland sozialisierten Frauen und Heiratsmigrantinnen in Abhängigkeit von soziodemografischen Merkmalen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 6.4 Heiratsmodus nach Sozialisationsland. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 6.5 Vergleich der Ehedauer von in Deutschland sozialisierten Frauen und Heiratsmigrantinnen nach Heiratsmodus. . . . . . . . . . 182 6.6 Zusammenhang zwischen Ehedauer und Traditionsgebundenheit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 6.7 Die Ehedauer in Abhängigkeit von Ähnlichkeitsmerkmalen der Paare. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 6.8 Die Ehedauer in Abhängigkeit von den Scheidungsbarrieren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 6.9 Die Ehedauer in Abhängigkeit von der Scheidungstransmission. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197
7
Deskriptive Ergebnisse zu den Scheidungsgründen . . . . . . . . . . . . . . 203
8
Deskriptive Ergebnisse zu den Kurzzeitfolgen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 8.1 Kurzzeitfolgen Gesamt und nach Sozialisationsland. . . . . . . . . . . 207 8.2 Ergebnisse der Kurzzeitfolgen – Gesamt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 8.2.1 Soziodemografische Merkmale. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 8.2.2 Scheidungsgründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209
Inhaltsverzeichnis
XIII
8.2.3 8.2.4
8.3
9
Faktoranalyse der Kurzzeitfolgen – Gesamt . . . . . . . . . 209 Regressionsanalyse der wirtschaftlichen Probleme und Diskriminierung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 Deskriptive Ergebnisse der Kurzzeitfolgen – getrennt nach Sozialisationsland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 8.3.1 Kurzzeitfolgen nach verschiedenen Merkmalen. . . . . . 216 8.3.2 Kurzzeitfolgen nach Heiratsmodus. . . . . . . . . . . . . . . . 218 8.3.3 Kurzzeitfolgen nach Ehedauer. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 8.3.4 Kurzzeitfolgen nach Scheidungsgründen. . . . . . . . . . . . 224 8.3.5 Kurzzeitfolgen nach Scheidungsbarrieren. . . . . . . . . . . 227 8.3.6 Faktoranalyse der Skala Kurzzeitfolgen – nur in Deutschland Sozialisierte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 8.3.7 Regressionsanalyse der seelisch-physischen Erkrankungen und Diskriminierung – nur in Deutschland sozialisierte Frauen. . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 8.3.8 Faktoranalyse der Kurzzeitfolgen – nur Heiratsmigrantinnen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240 8.3.9 Regressionsanalyse der Probleme bei der Reorganisation der Familie – nur Heiratsmigrantinnen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245
Ergebnisse der Langzeitfolgen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 9.1 Bewertung der Langzeitfolgen nach Sozialisationsland und Gesamt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 9.2 Ergebnisse der Langzeitfolgen – Gesamt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252 9.2.1 Langzeitfolgen nach verschiedenen Merkmalen. . . . . . 252 9.2.2 Langzeitfolgen nach Heiratsmodus. . . . . . . . . . . . . . . . 255 9.2.3 Langzeitfolgen nach Scheidungsgründen . . . . . . . . . . . 255 9.2.4 Langzeitfolgen nach scheidungsverzögernden Bedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 9.2.5 Faktoranalyse der Skala Langzeitfolgen . . . . . . . . . . . . 262 9.2.6 Logistische Regression des bisherigen und gegenwärtigen Lebens – Gesamt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268 9.2.7 Logistische Regression des Selbstwertgefühls – Gesamt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 9.3 Ergebnisse der Langzeitfolgen – getrennt nach Sozialisationsland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274 9.3.1 Langzeitfolgen nach verschiedenen Merkmalen. . . . . . 275
XIV
Inhaltsverzeichnis
9.3.2
9.4
Zusammenhang von Langzeitfolgen und Heiratsmodus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 9.3.3 Langzeitfolgen nach Scheidungsgründen . . . . . . . . . . . 279 9.3.4 Zusammenhang der Langzeitfolgen und scheidungsverzögernden Bedingungen. . . . . . . . . . . . . 284 9.3.5 Langzeitfolgen nach Ehedauer. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288 9.3.6 Faktoranalyse der Skala der Langzeitfolgen – nur in Deutschland Sozialisierte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290 9.3.7 Logistische Regression des Mutter-Kind-Verhältnisses – nur in Deutschland sozialisierte Frauen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 294 9.3.8 Faktoranalyse der Langzeitfolgen – nur Heiratsmigrantinnen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298 9.3.9 Logistische Regression des Selbstwertgefühls – nur Heiratsmigrantinnen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 Auswirkungen der Kurzzeitfolgen auf die Langzeitfolgen – getrennt nach Sozialisationsland. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307
10 Ergebnisse zu den Bewältigungsbestrebungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311 10.1 Bewältigungsbestrebungen nach Sozialisationsland und Gesamt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311 10.2 Ergebnisse zu den Bewältigungsbestrebungen – Gesamt . . . . . . . 313 10.2.1 Bewältigungsbestrebungen nach verschiedenen Merkmalen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313 10.2.2 Bewältigungsbestrebungen in Abhängigkeit von den Kurzzeitfolgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 316 10.2.3 Bewältigungsbestrebungen nach Langzeitfolgen. . . . . . 318 10.2.4 Bewältigungsbestrebungen nach Dimensionen der Kurzzeit- und Langzeitfolgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 320 10.2.5 Bewältigungsbestrebungen nach Wohlbefinden – Gesamt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 322 10.2.6 Clusteranalyse des Wohlbefindens. . . . . . . . . . . . . . . . . 323 10.2.7 Bewältigungsbestrebungen nach Clusterzugehörigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325 10.2.8 Regressionsanalyse der professionellen Hilfe und Unterstützung – Gesamt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327 10.2.9 Regressionsanalyse der Familiären Unterstützung . . . . 330
Inhaltsverzeichnis
XV
10.3 Ergebnisse der Bewältigungsbestrebungen – getrennt nach Sozialisationsland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333 10.3.1 Korrelationen zwischen den soziodemografischen Merkmalen und den Bewältigungsbestrebungen. . . . . . 333 10.3.2 Bewältigungsbestrebungen in Abhängigkeit vom Heiratsmodus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 344 10.3.3 Bewältigungsbestrebungen in Abhängigkeit von den Kurzzeitfolgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 346 10.3.4 Bewältigungsbestrebungen nach Dimensionen der Kurzeitfolgen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351 10.3.5 Bewältigungsbestrebungen nach Langzeitfolgen. . . . . . 353 10.3.6 Bewältigungsbestrebungen nach Dimensionen der Langzeitfolgen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 357 10.3.7 Bewältigungsbestrebungen nach Wohlbefinden der Befragten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 358 10.3.8 Clusteranalyse des Wohlbefindens. . . . . . . . . . . . . . . . . 360 10.3.9 Bewältigungsbestrebungen nach Clusterzugehörigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 363 10.3.10 Logistische Regressionsanalyse der professionellen Hilfe und Unterstützung – nur in Deutschland Sozialisierte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367 10.3.11 Logistische Regression der familiären Unterstützung – nur Heiratsmigrantinnen. . . . . . . . . . . 371 11 Zusammenfassung und Diskussion der Ergebnisse. . . . . . . . . . . . . . . 375 11.1 Ergebnisse zur Ehedauer und zu den Scheidungsgründen. . . . . . . 375 11.2 Ergebnisse zu den Kurzzeit- und Langzeitfolgen der Scheidung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 384 11.3 Ergebnisse zu den Bewältigungsbestrebungen . . . . . . . . . . . . . . . 394 11.4 Abschlussbemerkung: Geschiedene türkeistämmige Frauen in Deutschland. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 401 11.5 Diskussion der herangezogenen Theorien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 402 12 Ausblick. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 407 Literaturverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 411
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 2.1 Abbildung 2.2 Abbildung 2.3 Abbildung 2.4 Abbildung 2.5 Abbildung 2.6 Abbildung 2.7 Abbildung 3.1 Abbildung 3.2
Abbildung 3.3 Abbildung 3.4 Abbildung 4.1 Abbildung 5.1
Das stresstheoretische Scheidungsmodell . . . . . . . . . . . . 15 Der Einfluss von Stress auf die gemeinsam verbrachte Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 Zusammenhänge zwischen Stress, Kommunikationsdefiziten und Partnerschaftsqualität . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 Zusammenhang zwischen Stress und Krankheiten. . . . . . 19 Austausch-Typologie der Ehequalität und Ehestabilität. . 20 Das Stressbewältigungsmodell nach Lazarus. . . . . . . . . . 25 Klassifizierung der Bewältigungsprozesse nach Lazarus und Launier. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 Bildungsbeteiligung von 1975 bis 2008. . . . . . . . . . . . . . 41 Anteil der Frauen in der Türkei, die körperliche Gewalt durch ihre Ehe- oder Lebenspartner erlebt haben, 2008 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 Durchschnittliches Heiratsalter in der Türkei von 2001 bis 2011 nach Geschlecht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 Netto-Geburtenraten nach Regionen in der Türkei von 1993 bis 2008. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 Hypothesenmodell der zentralen Untersuchungsfragen. . 114 Verteilung nach Altersgruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126
XVII
XVIII
Abbildung 5.2
Abbildungsverzeichnis
Herkunftsregion beider Untersuchungsgruppen in der Türkei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 Abbildung 5.3 Staatsangehörigkeit der Frauen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 Abbildung 5.4 In Deutschland erworbene Bildungsabschlüsse . . . . . . . . 130 Abbildung 5.5 In der Türkei erworbene Bildungsabschlüsse . . . . . . . . . 130 Abbildung 5.6 Arbeitsverhältnis und Erwerbstätigkeit der Frauen . . . . . 131 Abbildung 5.7 Monatliches Netto-Einkommen der Frauen . . . . . . . . . . . 132 Abbildung 5.8 Anlass der Eheschließung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 Abbildung 5.9 Sorgerecht für die Kinder nach der faktischen Scheidung – nur in Deutschland sozialisierte Frauen . . . 136 Abbildung 5.10 Sorgerecht für die Kinder nach der faktischen Ehescheidung – nur Heiratsmigrantinnen . . . . . . . . . . . . 137 Abbildung 6.1 Histogramm der Konfliktskala zu Beginn der Ehe. . . . . . 161 Abbildung 6.2 Histogramm der Konfliktskala gegen Ende der Ehe. . . . . 161 Abbildung 6.3 Histogramm der Partnerschaftszufriedenheit zum Ehebeginn. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 Abbildung 6.4 Histogramm der Partnerschaftszufriedenheit zum Eheende. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 Abbildung 6.5 Selbst- und fremdbestimmte Partnerwahlentscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 Abbildung 6.6 Histogramm der Werteeinstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 Abbildung 6.7 Histogramm der Skala Scheidungsbarrieren nach Sozialisationsland. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 Abbildung 7.1 Histogramm der Skala Scheidungsgründe nach Sozialisationsland. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 Abbildung 9.1 Histogramm der Skala Langzeitfolgen nach Sozialisationsland. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250
Tabellenverzeichnis
Tabelle 3.1 Tabelle 3.2 Tabelle 3.3
Tabelle 5.1 Tabelle 5.2 Tabelle 5.3 Tabelle 6.1 Tabelle 6.2
Tabelle 6.3
Tabelle 6.4 Tabelle 6.5
Tabelle 6.6
Ehepartner von Frauen nach nationaler Herkunft . . . . . . . . 70 Einstellungen von türkischen Frauen zu inter- und innerethnischen Eheschließungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 Herkunft der Ehepartner türkeistämmiger Frauen in Nordrhein-Westfalen (ohne Ledige) nach Zuwanderungsgeneration und Altersgruppen 2011 . . . . . . . 74 Übersicht der Rekrutierung der Stichprobe über einzelne Formate . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 Ehepartner der Frauen nach ethnischer Herkunft . . . . . . . . 133 Mittelwerte der seit der Scheidung vergangenen Zeit – Gesamt und nach Sozialisationsland. . . . . . . . . . . . . 138 Ehedauer der letzten Ehe – Gesamt und im Sozialisationsvergleich. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 Korrelationsanalyse der Skalenwerte von Konfliktbereichen zu Beginn und gegen Ende der Ehe – nur für in Deutschland Sozialisierte. . . . . . . . . . . . . . 162 Korrelationsanalyse der Skalenwerte von Konfliktbereichen zu Beginn und gegen Ende der Ehe – nur Heiratsmigrantinnen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 Ausgewählte Konfliktbereiche bis zur Scheidung nach Sozialisationsland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 Korrelation der Konfliktskala (zu Beginn der Ehe) und der Ehedauer – nur in Deutschland sozialisierte Frauen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 Korrelation der Konfliktbereiche zu Beginn der Ehe – nur Heiratsmigrantinnen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166
XIX
XX
Tabelle 6.7 Tabelle 6.8
Tabelle 6.9 Tabelle 6.10 Tabelle 6.11 Tabelle 6.12 Tabelle 6.13
Tabelle 6.14 Tabelle 6.15 Tabelle 6.16 Tabelle 6.17 Tabelle 6.18 Tabelle 6.19 Tabelle 6.20 Tabelle 6.21 Tabelle 6.22 Tabelle 6.23 Tabelle 7.1 Tabelle 8.1 Tabelle 8.2
Tabellenverzeichnis
Mittelwerte der Ehedauer nach ausgewählten Konfliktbereichen und Sozialisationsland . . . . . . . . . . . . . . 167 Korrelation der Partnerschaftszufriedenheit zu Beginn und gegen Ende der Ehe – nur in Deutschland Sozialisierte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 Korrelation der Partnerschaftszufriedenheit zu Beginn und gegen Ende der Ehe – nur Heiratsmigrantinnen. . . . . . 170 Verlauf der Partnerschaftszufriedenheit bis zur Scheidung nach Sozialisationsland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 Partnerschaftszufriedenheit nach Ehedauer – nur in Deutschland Sozialisierte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 Partnerschaftszufriedenheit nach Ehedauer – nur Heiratsmigrantinnen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 Mittelwerte der Ehedauer nach ausgewählter Partnerschaftszufriedenheit und -qualität sowie Sozialisationsland. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 Mittelwerte der Ehedauer nach soziodemografischen Merkmalen und Sozialisationsland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 Ehedauer nach Heiratsmodus und Sozialisationsland . . . . . 183 Ehedauer nach traditioneller Orientierung und Sozialisationsland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 Mittelwerte der Ehedauer nach Ähnlichkeiten der Werteeinstellungen der Ehepartner und Sozialisationsland. . . . . . 188 Mittelwerte der Ehedauer nach Ähnlichkeiten der Eigenschaften der Ehepartner und Sozialisationsland. . . . . 189 Mittelwerte der scheidungsverzögernden Bedingungen nach Sozialisationsland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 Korrelation der Skala Scheidungsbarrieren nach Ehedauer – nur in Deutschland Sozialisierte. . . . . . . . . . . . 195 Korrelation der Skala Scheidungsbarrieren nach Ehedauer – nur Heiratsmigrantinnen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 Mittelwerte der Ehedauer nach ausgewählten scheidungsverzögernden Bedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . 196 Relation von Ehedauer und Scheidungstransmission . . . . . 199 Mittelwerte der Scheidungsgründe nach Sozialisationsland. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 Kurzzeitfolgen Gesamt und nach Sozialisationsland . . . . . 208 Faktoranalyse der Kurzzeitfolgen – Gesamt . . . . . . . . . . . . 210
Tabellenverzeichnis
Tabelle 8.3
Tabelle 8.4 Tabelle 8.5 Tabelle 8.6 Tabelle 8.7 Tabelle 8.8 Tabelle 8.9 Tabelle 8.10 Tabelle 8.11 Tabelle 8.12
Tabelle 8.13
Tabelle 8.14
Tabelle 8.15 Tabelle 8.16
Tabelle 8.17
Tabelle 8.18
XXI
Ausgewählte scheidungsverzögernde Bedingungen nach wirtschaftlichen Problemen und Diskriminierung (Index der Kurzzeitfolgen) – Gesamt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 Logistische Regression des Index’ der wirtschaftlichen Probleme und Diskriminierung (Kurzzeitfolgen) – Gesamt. 214 Ausgewählte Kurzzeitfolgen nach verschiedenen Merkmalen – getrennt nach Sozialisationsland. . . . . . . . . . 217 Kurzzeitfolgen nach Heiratsmodus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 Ausgewählte Kurzzeitfolgen nach Ehedauer . . . . . . . . . . . 222 Ausgewählte Kurzzeitfolgen nach ausgewählten Scheidungsgründen – getrennt nach Sozialisationsland . . . 225 Kurzzeitfolgen nach ausgewählten scheidungsverzögernden Bedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . 229 Faktoranalyse der Skala Kurzzeitfolgen – nur in Deutschland Sozialisierte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232 ‚Keine Probleme‘ nach ‚seelisch-physischen Erkrankungen und Diskriminierung‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 Mittelwerte der Indices der Kurzzeitfolgen nach verschiedenen Merkmalen – nur in Deutschland Sozialisierte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 Kurzzeitfolgen (Summative Indices nach Dimensionen der Faktoranalyse der in Deutschland sozialisierten Frauen) nach ausgewählten Scheidungsgründen. . . . . . . . . 235 Logistische Regression der seelisch-physischen Erkrankungen und Diskriminierung (Dimension der Faktoranalyse der Kurzzeitfolgen) – nur in Deutschland Sozialisierte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 Faktoranalyse der Skala Kurzzeitfolgen – nur Heiratsmigrantinnen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240 Mittelwerte der Kurzzeitfolgen (Dimensionen) nach soziodemografischen Merkmalen – nur Heiratsmigrantinnen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242 Probleme bei Reorganisation der Familie (Dimension der Kurzzeitfolgen) nach Heiratsmodus – nur Heiratsmigrantinnen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 Kurzzeitfolgen (Summative Indices nach Dimensionen der Faktoranalyse der Heiratsmigrantinnen) nach ausgewählten Scheidungsgründen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244
XXII
Tabelle 8.19 Tabelle 9.1 Tabelle 9.2 Tabelle 9.3 Tabelle 9.4 Tabelle 9.5 Tabelle 9.6 Tabelle 9.7 Tabelle 9.8
Tabelle 9.9
Tabelle 9.10
Tabelle 9.11
Tabelle 9.12 Tabelle 9.13 Tabelle 9.14 Tabelle 9.15
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Logistische Regression zu Problemen bei der Reorganisation der Familie – nur Heiratsmigrantinnen. . . . 245 Mittelwerte der Langzeitfolgen nach Sozialisationsland und Gesamt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 Ausgewählte Langzeitfolgen nach verschiedenen Merkmalen – Gesamt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 Korrelation der Skala Scheidungsgründe und der Skala Langzeitfolgen – Gesamt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 Ausgewählte Langzeitfolgen nach ausgewählten Scheidungsgründen – Gesamt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 Korrelation der Skala Scheidungsbarrieren und der Skala Langzeitfolgen – Gesamt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260 Ausgewählte Langzeitfolgen nach ausgewählten scheidungsverzögernden Bedingungen – Gesamt. . . . . . . . 260 Faktoranalyse der Langzeitfolgen – Gesamt. . . . . . . . . . . . 262 Bisheriges und gegenwärtiges Leben und Selbstwertgefühl (Summative Indices nach Dimensionen der Faktoranalyse der Langzeitfolgen) nach verschiedenen Merkmalen – Gesamt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 Bisheriges und gegenwärtiges Leben und Selbstwertgefühl (Summative Indices nach Dimensionen der Faktoranalyse der Langzeitfolgen) nach Heiratsmodus – Gesamt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 Summative Indices des bisherigen und gegenwärtigen Lebens und Selbstwertgefühls nach ausgewählten Scheidungsgründen – Gesamt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 Summative Indices des bisherigen und gegenwärtigen Lebens und Selbstwertgefühls nach ausgewählten scheidungsverzögernden Bedingungen – Gesamt . . . . . . . . 267 Regressionsanalyse des bisherigen und gegenwärtigen Lebens (Dimension der Langzeitfolgen) – Gesamt. . . . . . . 269 Regressionsanalyse des Selbstwertgefühls. . . . . . . . . . . . . . 272 Mittelwerte der ausgewählten Langzeitfolgen nach verschiedenen Merkmalen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 Mittelwerte der gesundheitlichen Verfassung sowie des gegenwärtigen Lebensstandards und der finanziellen Situation nach selbst- oder fremdbestimmter Eheschließung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278
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Tabelle 9.16
Tabelle 9.17 Tabelle 9.18
Tabelle 9.19
Tabelle 9.20 Tabelle 9.21 Tabelle 9.22 Tabelle 9.23 Tabelle 9.24 Tabelle 9.25 Tabelle 9.26 Tabelle 9.27
Tabelle 9.28 Tabelle 9.29 Tabelle 9.30
XXIII
Korrelation zwischen der Skala Scheidungsgründe und der Skala Langzeitfolgen – in Deutschland Sozialisierte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 Korrelation zwischen der Skala Scheidungsgründe und der Skala Langzeitfolgen – Heiratsmigrantinnen. . . . . . . . . 280 Gesundheitliche Verfassung sowie gegenwärtiger Lebensstandard und finanzielle Situation nach ausgewählten Scheidungsgründen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280 Korrelation zwischen der Skala Langzeitfolgen und der Skala Scheidungsbarrieren – in Deutschland Sozialisierte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284 Korrelation zwischen der Skala Langzeitfolgen und der Skala Scheidungsbarrieren – Heiratsmigrantinnen . . . . 284 Mittelwerte ausgewählter Langzeitfolgen nach ausgewählten scheidungsverzögernden Bedingungen. . . . . 285 Korrelation zwischen der Skala der Langzeitfolgen und der Ehedauer – in Deutschland Sozialisierte. . . . . . . . . . . . 288 Korrelation zwischen der Skala der Langzeitfolgen und der Ehedauer – Heiratsmigrantinnen. . . . . . . . . . . . . . . . . . 288 Mittelwerte ausgewählter Langezeitfolgen nach Ehedauer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 Faktoranalyse der Langzeitfolgen – in Deutschland sozialisierte Frauen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 Individuelle Zufriedenheit und Selbsteinschätzung nach Mutter-Kind-Verhältnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 292 Mittelwerte der neuen Partnerschaft und des Lebensstandards und des Mutter-Kind-Verhältnisses (Summative Indices nach Dimensionen der Faktoranalyse der Langzeitfolgen) nach soziodemografischen Merkmalen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293 Regression des Mutter-Kind-Verhältnisses – nur in Deutschland sozialisierte Frauen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296 Faktoranalyse der Skala ‚Langzeitfolgen‘ – nur Heiratsmigrantinnen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298 Summative Indices der partnerschaftlichen Zufriedenheit und des Selbstwertgefühls nach Mutter-Kind-Verhältnis sowie Gesundheit und Lebensstandard . . . . . . . . . . . . . . . . 300
XXIV
Tabelle 9.31
Tabelle 9.32
Tabelle 9.33 Tabelle 9.34 Tabelle 10.1 Tabelle 10.2 Tabelle 10.3 Tabelle 10.4 Tabelle 10.5
Tabelle 10.6 Tabelle 10.7 Tabelle 10.8 Tabelle 10.9 Tabelle 10.10 Tabelle 10.11 Tabelle 10.12 Tabelle 10.13 Tabelle 10.14
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Indices der partnerschaftlichen Zufriedenheit und der Mutter-Kind-Beziehung nach verschiedenen Merkmalen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 Mittelwerte der partnerschaftlichen Zufriedenheit und des Selbstwertgefühls (Summative Indices nach Dimensionen der Faktoranalyse der Langzeitfolgen) nach Scheidungsgründen der Heiratsmigrantinnen . . . . . . . 302 Logistische Regression des Selbstwertgefühls – nur Heiratsmigrantinnen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 304 Ausgewählte Kurzzeitfolgen nach ausgewählten Langzeitfolgen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 308 Bewältigungsbestrebungen Gesamt und nach Sozialisationsland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312 Bewältigungsbestrebungen nach verschiedenen Merkmalen – Gesamt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 314 Ausgewählte Bewältigungsbestrebungen nach ausgewählten Kurzzeitfolgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 316 Ausgewählte Bewältigungsbestrebungen nach ausgewählten Langzeitfolgen – Gesamt . . . . . . . . . . . . . . . 319 Summative Indices des bisherigen und gegenwärtigen Lebens und Selbstwertgefühls nach ausgewählten Bewältigungsbestrebungen – Gesamt . . . . . . . . . . . . . . . . . 321 Mittelwerte des Wohlbefindens nach ausgewählten Bewältigungsbestrebungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 322 Item-Beurteilung nach Clusterzugehörigkeit – Gesamt . . . 324 Bewältigungsbestrebungen nach Clusterzugehörigkeit – Gesamt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 326 Logistische Regression der professionellen Hilfe und Unterstützung – Gesamt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327 Logistische Regression der familiären Unterstützung – Gesamt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331 Bewältigungsbestrebungen nach Bildungsniveau, Einkommen und Arbeitsverhältnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335 Bewältigungsbestrebungen nach verschiedenen Merkmalen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 340 Bewältigungsbestrebungen nach Heiratsmodus. . . . . . . . . . 345 Bewältigungsbestrebungen nach ausgewählten Kurzzeitfolgen und Sozialisationsland. . . . . . . . . . . . . . . . . 348
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Tabelle 10.15
Tabelle 10.16
Tabelle 10.17 Tabelle 10.18 Tabelle 10.19 Tabelle 10.20 Tabelle 10.21 Tabelle 10.22 Tabelle 10.23 Tabelle 10.24
Tabelle 10.25
XXV
Index zu seelisch-physischen Problemen und Diskriminierungserfahrungen nach professioneller Hilfe und Unterstützung – nur in Deutschland Sozialisierte . . . . 351 Probleme bei der Reorganisation der Familie sowie gesundheitliche und finanzielle Schwierigkeiten (Summative Indices der Faktoranalyse der Kurzzeitfolgen) nach ausgewählten Bewältigungsbestrebungen – nur Heiratsmigrantinnen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 352 Bewältigungsbestrebungen nach ausgewählten Langzeitfolgen und Sozialisationsland . . . . . . . . . . . . . . . . 354 Neue Eheschließung nach neuer Partnerschaft und Lebensstandard sowie Mutter-Kind-Beziehung . . . . . . . . . 358 Ausgewählte Wohlbefindens-Items nach ausgewählten Bewältigungsbestrebungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359 Item-Beurteilung der in Deutschland sozialisierten Frauen nach Clusterzugehörigkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361 Item-Beurteilung der Heiratsmigrantinnen nach Clusterzugehörigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 362 Bewältigungsbestrebungen nach Clusterzugehörigkeit – nur in Deutschland sozialisierte Frauen. . . . . . . . . . . . . . . . 364 Bewältigungsbestrebungen nach Clusterzugehörigkeit – nur Heiratsmigrantinnen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 366 Logistische Regression der professionellen Hilfe und Unterstützung – nur in Deutschland sozialisierte Frauen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 368 Regressionsanalyse der familiären Unterstützung – nur Heiratsmigrantinnen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 372
1
Einleitung
1.1 Ausgangslage und Problemstellung In der deutschen Migrations- und Familienforschung zeigte sich lange Zeit eine einseitige und selektive Fokussierung der Kategorien ‚Migration‘ und ‚Geschlecht‘ (vgl. Bereswill et al. 2012, S. 8). Eine differenzierte wissenschaftliche Betrachtung der komplexen Veränderungen in migrationsgeprägten Lebensverhältnissen – angefangen bei veränderten Familienverhältnissen über Funktionsverschiebungen der Geschlechterrollen, die Partnerwahlentscheidung bis hin zur Eheschließung – hat sich insbesondere mit Blick auf türkeistämmige1 Familien und türkeistämmige Frauen2 erst in den vergangenen Jahren langsam etabliert. Viele Studien (vgl. hierzu u. a. Atabay 1998, 2011; Boos-Nünning und Karakaşoğlu 2005b; Kızılocak und Sauer 2007; Sauer 2005, 2011, 2012;
1Im
Rahmen der vorliegenden Arbeit wird, soweit in den herangezogenen Arbeiten keine andere Terminologie verwendet wird, der Terminus ‚türkeistämmig‘ benutzt. Damit „[…] sind Personen mit familiären Wurzeln in der Türkei gemeint, unabhängig ihrer ethnischen Zugehörigkeit (Türken, Kurden, Armenier usw.) und unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit“ (Sauer 2011, S. 39). 2Der Begriff ‚Frau‘ wird innerhalb der türkischen Kultur sowohl in der Türkei als auch in Deutschland nur für verheiratete Frauen verwendet und umfasst keine unverheirateten Mädchen, die diesen Begriff oftmals meiden, zumal er aufgrund direkter öffentlicher Bewertung (bezogen auf den Verlust der Jungfräulichkeit) mit einem Schamgefühl verbunden ist. In der vorliegenden Arbeit wird abgesehen von Übernahmen aus den hier herangezogenen Forschungsarbeiten der allgemeine Ausdruck ‚Frau‘ verwendet, der sowohl verheiratete als auch nichtverheiratete Frauen einschließt. © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 T. Mollenhauer, Eheliche Partnerschaftsverläufe und -abbrüche bei türkeistämmigen Frauen in Deutschland, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30940-4_1
1
2
1 Einleitung
Sechster Familienbericht 2000; Sürig und Wilmes 2011) gelangten hier zu der Erkenntnis, dass sich nicht nur die Familien und die familiären Beziehungen verändert haben, sondern dass sich auch die individuelle Identitätsentwicklung und die Lebenssituation der zweiten Generation Türkeistämmiger im Vergleich zur Elterngeneration anders gestaltet. Weitgehend unberücksichtigt blieb jedoch die geschlechterspezifische Rolle geschiedener (türkeistämmiger) Migranten. Innerhalb der deutschen Scheidungsforschung hat sich zwar eine Vielzahl von Forschungsarbeiten sowohl soziologischer als auch psychologischer Prägung mit den Ursachen und Folgen der Ehescheidung für die Gesamtfamilie und für die Kinder (vereinzelt auch geschlechtsspezifisch für Frauen) auseinandergesetzt, ethnische oder kulturelle Heterogenität als Kategorien fanden jedoch auch hier kaum Beachtung, sodass das Trennungs- und Scheidungsverhalten – vom ehelichen Partnerschaftsverlauf bis hin zur Nachscheidungsphase – türkeistämmiger Familien trotz des hohen Anteils dieser Gruppe an der deutschen Gesamtbevölkerung und trotz der damit verbundenen gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Relevanz der Thematik weiterhin ein Forschungsdesiderat bildet. Doch auch innerhalb der türkischen Migrantenpopulation zeichnet sich langsam, ähnlich wie in der einheimischen deutschen Bevölkerung und der Türkei, ein Wandel in Bezug auf die gesellschaftliche Haltung zur Ehescheidung ab. Dementsprechend ist in den letzten Jahren eine steigende Scheidungstendenz sichtbar: Für Türkeistämmige zeigen Auswertungen des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (2009) unter Bezugnahme auf den Mikrozensus 2005 eine Scheidungsquote von 4,3 % (bezogen auf die Bevölkerung ab 18 Jahren), die weit unter dem Durchschnitt der Gesamtbevölkerung (7 %) liegt3. Nach eigenen Berechnungen auf der Grundlage des Mikrozensus’ ist der Anteil Geschiedener an allen nicht Ledigen (Verheiratete, Verwitwete, Geschiedene) unter Türkeistämmigen von 5,3 % im Jahr 2005 auf 8,1 % im Jahr 2012 angestiegen, während sich für die Gesamtbevölkerung ein leichter Anstieg von 10,5 % (2005) auf 11,3 % (2012) zeigt. Trotz dieser Zahlen und einer sich in Ansätzen entfaltenden gesellschaftlichen Akzeptanz der Ehescheidung bleibt der Blick auf getrenntlebende bzw. geschiedene Frauen teilweise kritisch und wird in der türkischen Community in Deutschland und der Türkei noch ansatzweise als eine von der gesellschaftlichen Norm abweichende familiäre Entwicklung
3Die
Zahlen müssen mit großer Vorsicht interpretiert werden, denn sie reflektieren nicht die tatsächliche Zahl der Scheidungen der Türkeistämmigen. In der deutschen Eheschließungsund Scheidungsstatistik werden nur diejenigen Ehen erfasst, die vor einem deutschen Standesamt geschlossen bzw. geschieden werden.
1.1 Ausgangslage und Problemstellung
3
(vgl. Beelman und Schmidt-Denter 2003, S. 509) angesehen. Folglich kann die Ehescheidung, besonders für Frauen, eine schwierige Entscheidung, ein kritisches Lebensereignis, aber zugleich auch einen individuellen Neuanfang bedeuten. Die wenigen existierenden Arbeiten, welche die Forschungsfelder ‚Migration‘ und ‚Scheidung‘ zusammenführen (vgl. u. a. Dewran-Tütün 1993; Pasero 1990; Şirvanlı-Özen 2005; Yılmaz 2005; Zentrum für Türkeistudien und Integrationsforschung 1995), beschränken sich gemäß der deutschen Scheidungsforschung größtenteils auf die Gesamtfamilie oder auf die Folgen für die Kinder, „[…] geschlechtsspezifische Fragestellungen wurden dabei überwiegend ausgeklammert“ (vgl. Petuya Ituarte 2007). Untersucht wurde das Scheidungsverhalten türkischer Migrantinnen der zweiten Generation in der Bundesrepublik Deutschland bislang lediglich von Süzen (2003), die den wechselseitigen Einflüssen von Scheidungsverhalten und Migration mit Hilfe hermeneutischer Analyseverfahren nachgeht. Auch Petuya Ituarte (2007) widmet sich der Ehescheidung vor dem Hintergrund der Migration, bezieht sich allerdings auf spanischstämmige Migrantinnen in Deutschland. Zwar geben die qualitativ angelegten Studien von Süzen und Petuya Ituarte erste Anhaltspunkte zu den Ursachen und Folgen der Ehescheidung bei Migrantinnen, doch stellen sie aufgrund ihrer kleinen Samples und der Ortsbegrenzung keinen hinreichenden Erklärungsansatz dar. Gemein ist ihnen auch, dass die von den Betroffenen zur Bewältigung der Folgen der Ehescheidung und zur Integration der neuen Lebenssituation herangezogenen Strategien unberücksichtigt bleiben. Eben dieser Forschungslücke widmet sich die vorliegende Untersuchung. Sie unterscheidet sich von bisherigen (migrationsspezifischen) Scheidungsstudien dadurch, dass im Vordergrund die Kurzzeit- und Langzeitfolgen der Ehescheidung und die Bewältigungsbestrebungen4 türkeistämmiger Frauen stehen. Darüber hinaus wird innerhalb der Untersuchungsgruppe ein Vergleich angestellt zwischen in Deutschland sozialisierten Frauen und Heiratsmigrantinnen5.
4Im
Rahmen dieser Arbeit wird der Terminus ‚Bewältigungsbestrebungen‘ verwendet, soweit keine Bezugnahme auf Terminologien anderer Ansätze – bei Bodenmann (2005) sowie Lazarus und Launier (1981) ist beispielsweise von ‚Bewältigungsstrategien‘ die Rede – gegeben ist. 5Der Terminus ‚Heiratsmigrantinnen‘ wird dem Terminus ‚In der Türkei sozialisierte Frauen‘ im Rahmen der vorliegenden Arbeit vorgezogen, um dem Tatbestand Rechnung zu tragen, dass die Einreise der betreffenden Frauen nach einer in der Türkei durchlaufenen schulischen Sozialisation zum Zwecke der Heirat erfolgte und zeitlich an die Eheschließung gebunden war. Zwar wurden die Gründe für die Einreise im Fragebogen nicht separat erhoben – es liegen lediglich vereinzelte freiwillige Angaben vor –, ein
4
1 Einleitung
Um der Diversität von Lebenssituationen in der Zielpopulation zu entsprechen und die gruppenspezifisch variierenden gesellschaftlichen und individuellen Barrieren, Hemmungen und Schwierigkeiten bezüglich der Scheidungsfolgen und Bewältigungsbestrebungen herausarbeiten zu können, wurden 292 getrenntlebende, juristisch geschiedene und/oder nach der Scheidung erneut verheiratete türkeistämmige Frauen unterschiedlicher Milieu- und Religionszugehörigkeiten, Familientypen, Altersgruppen und Bildungsstände unter Zuhilfenahme eines standardisierten Fragebogens befragt. Mit Hilfe deskriptiver Analyseverfahren werden zunächst hinsichtlich der Ehedauer und der Scheidungsgründe bestehende Unterschiede zwischen in Deutschland sozialisierten Frauen und Heiratsmigrantinnen herausgearbeitet. Im Fokus steht anschließend zum einen die mit Hilfe bivariater und multivariater Analyseverfahren zu beantwortende Frage nach den Unterschieden, die zwischen in Deutschland sozialisierten Frauen und Heiratsmigrantinnen bezüglich der Kurzzeit- und Langzeitfolgen bestehen, sowie nach dem Einfluss von soziodemografischen Merkmalen, Heiratsmodus, Ehedauer, Scheidungsgründen und scheidungserschwerenden Bedingungen auf die Kurzzeit- und Langzeitfolgen beider Befragungsgruppen. Die zweite Kernfrage der vorliegenden Untersuchung betrifft die Bewältigungsbestrebungen der Befragten. Es wird untersucht, inwiefern die Wahl der Bewältigungsbestrebungen je nach Sozialisationsland von der kognitiven Bewertung der Ehescheidung, den Kurzzeit- und Langzeitfolgen sowie von soziodemografischen Merkmalen abhängig ist. Partnerschaftsverläufe gehen insofern in die Untersuchung ein, als mittels des verwendeten Fragebogens über die eigentliche Scheidung, ihre Folgen und die Bewältigungsbestrebungen der Betroffenen hinaus auch die Partnerwahl und deren Modus sowie den Ehebeginn betreffende Aspekte (wie die Beziehungszufriedenheit) erfasst wurden. Es handelt sich demnach nicht um eine Längsschnittstudie, die den Verlauf der Partnerschaft schrittweise nachzuzeichnen beanspruchen könnte, sondern vielmehr um eine rückwirkende Hinwendung zum Ehebeginn seitens der Befragten. Eheliche Partnerschaftsverläufe sind folglich nur insoweit Thema der vorliegenden Arbeit, als Zusammenhänge zwischen den Ehebeginn betreffenden Entscheidungen und Zuständen und der letztendlichen Scheidung angenommen wurden.
Abgleich von Einreise- und Heiratsjahr zeigt jedoch, dass alle Frauen, deren Einreise nach einer schulischen Sozialisation in der Türkei stattfand, entweder sehr zeitnah (meist innerhalb eines Jahres) nach ihrer Einreise oder (in den meisten Fällen) bereits davor geheiratet haben.
1.2 Aufbau der Arbeit
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1.2 Aufbau der Arbeit Die vorliegende Untersuchung gliedert sich in einen (I) theoretischen, einen (II) methodischen sowie einen (III) empirischen Teil. Der theoretische Rahmen umfasst die Kapitel 2 und 3. In Kapitel 2 werden zunächst allgemeine theoretische Erklärungsansätze zum Thema ‚Ehescheidung‘ vorgestellt: Die Stress-Scheidungstheorie von Bodenmann (2005, 1995b; Abschnitt 2.2) sowie die transaktionale Stressbewältigungstheorie von Lazarus und Folkman (1984) bzw. Lazarus und Launier (1981; Abschnitt 2.3), die jeweils als zentrale Scheidungstheorien gelten können, sollen in ihren Kernpunkten dargestellt und im Hinblick auf ihr Explikationspotenzial im Kontext migrationsspezifischer Fragestellungen diskutiert werden. Unter der Annahme, dass der Individualisierungsprozess in Deutschland weiter fortgeschritten ist als in der Türkei und dass sich dies einerseits auf die Einstellungen und Haltungen der in Deutschland lebenden Türkeistämmigen auswirkt, zum anderen aber traditionelle Haltungen und Einstellungen bei den Zuwanderern aus der Türkei noch stärker vorhanden sind als in der türkischen Mehrheitsgesellschaft, wird vorab (Abschnitt 2.1) der Individualisierungsansatz von Beck (1986) mit Blick auf die hier im Fokus stehenden Untersuchungsgruppen besprochen. Im Anschluss an die theoretischen Erklärungsansätze wird in Kapitel 3 der aktuelle Forschungsstand zu den Themenbereichen Die Rolle der Frauen in der Türkei, Die familiären Lebensverhältnisse der Türkeistämmigen in Deutschland und Die Ehescheidung und die Scheidungsursachen im Wandel skizziert. Die Rolle der Frauen in der Türkei (Abschnitt 3.1) wird auch historisch aufgearbeitet, da anzunehmen ist, dass die in der Türkei vollzogenen Veränderungsprozesse ein wichtiger Schlüssel zum Verständnis der heutigen Situation türkeistämmiger Frauen in Deutschland sowie deren Haltungen und Einstellungen sind, zumal sich viele der Migranten nach wie vor – nicht zuletzt aufgrund der bestehenden familiären Bindungen – an den Werten und Normen der Herkunftsgesellschaft orientieren und diese auch an die überwiegend in Deutschland sozialisierte Nachfolgegeneration weitergeben. Die Entwicklung der Lebenssituation von türkeistämmigen Familien – und insbesondere türkeistämmigen Frauen – in Deutschland (Abschnitt 3.2) wird im Kontext des oben angesprochenen Individualisierungsprozesses und der unterschiedlichen Wertekulturen (türkisch-deutsch) nachgezeichnet. Berücksichtigung finden hierbei die Familienund Geschlechterrollenverhältnisse, die Partnerwahlentscheidung und das Heiratsverhalten, unterschiedliche Heiratskonstellationen und die in den letzten Jahren viel diskutierten Partnerwahlmodi (differenziert nach innerethnischen, transnationalen und interethnischen Eheschließungen der zweiten Generation). Zudem
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1 Einleitung
wird der gegenwärtige Forschungsstand zur Partnerwahlbestimmung der jungen türkeistämmigen Frauen präsentiert, um den dominierenden Partnerwahlmodus bestimmen und mögliche Auswirkungen auf die Ehedauer und Folgen einer Ehescheidung herausarbeiten zu können. Als Kernstück des 3. Kapitels beschäftigt sich Abschnitt 3.3 schließlich sowohl mit dem allgemeinen Scheidungsdiskurs in Deutschland und den Gründen für die ansteigenden Scheidungszahlen der letzten Jahre als auch mit dem gegenwärtigen Forschungsstand zum Thema ‚Ehescheidung‘ im Kontext der Migration und den bislang so gut wie unerforschten ehelichen Partnerschaftsabbrüchen bei türkeistämmigen Frauen. Auf der Grundlage der theoretischen Vorüberlegungen sowie des geschilderten Forschungsstands (der sogleich bestehende Forschungsdesiderate aufzeigt) werden im methodischen Teil (II) anschließend die zentralen Untersuchungsfragen der vorliegenden Arbeit und die daraus abgeleiteten, den empirischen Komplex fundierenden Hypothesen vorgestellt (Kapitel 4). Kapitel 5 beschreibt das Forschungsdesign und die statistischen Verfahren (Abschnitt 5.1), den Ablauf des Pretest-Workshops (Abschnitt 5.2), die Rekrutierung der Stichprobe (Abschnitt 5.3), den Hauptuntersuchungsablauf (Abschnitt 5.4), die Untersuchungsteilnehmerinnen (Abschnitt 5.5), die Datenaufbereitung (Abschnitt 5.6) sowie die Erhebungsinstrumente (Abschnitt 5.7). Im Rahmen des empirischen Teils der vorliegenden Arbeit (III) präsentieren und diskutieren die Kapitel 6 bis 11 sodann die bivariaten und multivariaten Ergebnisse. Kapitel 6 widmet sich der Ehedauer und den sie beeinflussenden Variablen. In Kapitel 7 werden die Scheidungsgründe anschließend in Zusammenhang mit dem Sozialisationsland gebracht. Die Kapitel 8 und 9 sind mit den Kurzzeit- und Langzeitfolgen der Ehescheidung befasst. Es wird untersucht, inwieweit soziodemografische Merkmale, Heiratsmodus, Ehedauer und Scheidungsgründe die Kurzzeit- und Langzeitfolgen moderieren und inwieweit die Langzeitfolgen von den Kurzzeitfolgen beeinflusst sind. Kapitel 10 zielt auf die Bewältigungsbestrebungen der befragten Frauen. Untersucht wird hier der Einfluss, den soziodemografische Merkmale, Heiratsmodus, Ehedauer, K urzzeitund Langzeitfolgen sowie die kognitive Bewertung der Ehescheidung auf die gewählten Bewältigungsbestrebungen nehmen. Im Anschluss werden die Kernergebnisse der vorliegenden Arbeit anhand der theoretisch-empirischen Vorüberlegungen zusammengefasst und diskutiert. Dabei wird auch der Nutzen und die Angemessenheit der eingangs herangezogenen allgemeinen (Scheidungs-) Theorien vor dem Hintergrund der hier durchgeführten migrationsspezifischen Untersuchung und der generierten Ergebnisse abschließend bewertet (Kapitel 11). Mit einem Ausblick auf mögliche Anknüpfungspunkte und Anschlussprojekte (auch mit Blick auf die Praxis) schließt Kapitel 12 die Arbeit ab.
Teil I Theorien und Forschungsstand
2
Theoretische Erklärungsansätze
Die Hypothesen der vorliegenden Arbeit gründen auf einem theoretischen Fundament, das den Versuch unternimmt, unterschiedliche Theorietraditionen miteinander zu vereinen, und auch in die verwendeten Skalen des Untersuchungsfragebogens eingegangen ist (siehe Abschnitt 5.7). Da bislang keine migrationsspezifischen Scheidungstheorien vorliegen und demnach nur auf allgemeine Theorien im weiteren Kontext der Scheidungsthematik zurückgegriffen werden kann, gilt es im Verlauf der vorliegenden Arbeit zu prüfen, inwieweit allgemeine soziologisch-psychologische ‚Scheidungstheorien‘ zur Erklärung der Ehescheidung und Scheidungsbewältigung bei türkeistämmigen Frauen beitragen können, ob und inwiefern deren Erklärungsmodelle also auf türkeistämmige Frauen in Deutschland übertragbar sind. Herangezogen wurde hier zum einen die Stress-Scheidungstheorie von Bodenmann (2005; siehe auch 1995b), die ihrerseits auf der Austauschtheorie von Lewis und Spanier (1979) beruht und in Abschnitt 2.2 samt ihrer theoretischen Fundamente vorgestellt wird. Zwar stehen in Bodenmanns Theorie die Scheidungsursachen im Vordergrund, während die Scheidungsfolgen und Bewältigungsbestrebungen den Kern der vorliegenden Arbeit bilden, doch sind die beiden letztgenannten Aspekte nicht losgelöst von den Scheidungsursachen, die somit auch einer theoretischen Basis bedürfen. Den zweiten theoretischen Kernbezug bildet die zur Erklärung der Bewältigung von Ehescheidung aufgestellte transaktionale Stressbewältigungstheorie von
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 T. Mollenhauer, Eheliche Partnerschaftsverläufe und -abbrüche bei türkeistämmigen Frauen in Deutschland, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30940-4_2
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10
2 Theoretische Erklärungsansätze
Lazarus und Folkman (1984, 1987) bzw. Lazarus und Launier (1981), die es in Abschnitt 2.3 darzulegen gilt1. Um der spezifischen Untersuchungsgruppe der türkeistämmigen Frauen möglichst gerecht zu werden, soll in Abschnitt 2.1 einführend aber zunächst der Individualisierungsansatz von Beck (1986) skizziert werden. Wenngleich Beck im Rahmen seiner Theorie die Kategorie ‚Migration‘ unberücksichtigt lässt und die Kategorie ‚Geschlecht‘ nur marginal behandelt, ist der Individualisierungsprozess von großer Bedeutung für die vorliegende Arbeit2: Es ist anzunehmen, dass der Individualisierungsprozess in Deutschland weiter fortgeschritten ist als in der Türkei und dass sich dies einerseits auf die Einstellungen und Haltungen der in Deutschland lebenden Türkeistämmigen auswirkt, zum anderen aber traditionelle und stärker auf die Gemeinschaft gerichtete Haltungen und Einstellungen bei den Zuwanderern aus der Türkei noch stärker vorhanden sind als in der Mehrheitsgesellschaft. Zudem kann vermutet werden, dass die individuelle Integration der türkeistämmigen Frauen in Deutschland deutlich auf den jeweiligen
1Um
auch die von Bodenmann und Lazarus weitgehend unberücksichtigten Scheidungsfolgen zu erfassen, werden an späterer Stelle (Abschnitt 3.3.2) heterogene Annahmen zu den Auswirkungen der Ehescheidung behandelt und einander gegenübergestellt. 2An dieser Stelle sei auch auf die grundlagentheoretischen Grenzen des Beck’shen Erklärungsmodells hingewiesen (vgl. hierzu Beck 2006). Während Bourdieu (2001, S. 194) in seinem Modell des sozialen Raums um die Aufhebung einer Dichotomie von Individuum und Gesellschaft bemüht ist, indem er betont, dass der Körper sich in einer sozialen Welt bewegt, die ihrerseits aber im Körper steckt, löst Beck den Spielraum der einzelnen Akteure weitgehend von gesellschaftlichen (Klassen-)Phänomenen, insofern er den Lebensstil der Individuen zu einer Wahlmöglichkeit zwischen miteinander konkurrierenden Sinnsystemen erklärt (vgl. Beck 2006, S. 102, 105). Auch unter Hinzuziehung anderer Erklärungsansätze, z. B. Meads (1973) Auffassung einer sich ausschließlich über den gesellschaftlichen Prozess und dessen Internalisierung ablaufenden Identitätsgenese, mag diese Abkopplung gesellschaftlicher Determinanten als theoretische Leerstelle aufgefasst werden. Doch überwiegen die Stärken des Individualisierungsansatzes im Kontext der vorliegenden Arbeit, gerade wenn man ihn um die Annahme eines je nach Sozialisationsland (Kultur, Religion etc.) unterschiedlich weit vorangeschrittenen Individualisierungsprozesses ergänzt (und über diese Stärkung der gesellschaftlichen Determinante auch die ursprüngliche Leerstelle abschwächt). Zwar werden hier gemäß den Klassen Bourdieus durchaus auch je nach Bildungsniveau, finanzieller Situation etc. verschiedenartige Folgen der Scheidung und Umgänge mit ihr vermutet, basierend auf der Annahme einer in Deutschland im Vergleich zur Türkei weiter vorangeschrittenen Enttraditionalisierung im Beck’schen Sinne werden aber insbesondere sozialisationsspezifische Unterschiede zwischen Heiratsmigrantinnen und in Deutschland sozialisierten Frauen erwartet, sodass klassenspezifische Aspekte (gemäß der Individualisierungsthese) in den Hintergrund rücken.
2.1 Der individualisierungstheoretische Ansatz nach Beck
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Individualisierungsprozess wirkt und damit auch das Scheidungsverhalten, die Scheidungsfolgen und Bewältigungsbestrebungen beeinflussen kann, was aber nicht zwangsläufig bedeutet, dass durch den höheren Individualisierungsdruck in Deutschland eine Scheidung für Türkeistämmige (Männer wie Frauen) wahrscheinlicher wird. Einerseits könnte ein höherer Akkulturationsstress auf die Familie (liberalere Lebensweise, soziale Erleichterungen usw.) für türkeistämmige Frauen scheidungsbegünstigend wirken. Anderseits steht das damit verbundene Streben nach Erfüllung individueller Bedürfnisse oft einem über gemeinsam bewältigte Migrationshürden gefestigten Zusammenhalt gegenüber.
2.1 Der individualisierungstheoretische Ansatz nach Beck Der Soziologe Ulrich Beck (1986) beschreibt die Individualisierung als einen der wichtigsten Prozesse im Kontext des sozialen Wandels nach dem zweiten Weltkrieg. Allerdings weist Beck (1986, S. 206) darauf hin, dass dieser Prozess keineswegs ein neues Phänomen oder eine „Erfindung der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts“ ist. Vielmehr sei die Individualisierung ein Element des Modernisierungsprozesses oder, wie Beck und Beck-Gernsheim (1990, S. 14) formulieren, ein automatischer Prozess, der nicht vom Einzelnen gesteuert wird, diesen aber zur Individualisierung und damit zur Veränderung drängt. Den Prozess der Individualisierung gliedert Beck (1986, S. 206) dabei zunächst in drei allgemeine Aspekte: 1) Die Freisetzungsdimension: die Herauslösung aus historisch vorgegebenen Sozialformen und -bindungen im Sinne traditioneller Herrschafts- und Versorgungszusammenhänge; 2) die Entzauberungsdimension: Verlust von traditionellen Sicherheiten im Hinblick auf Handlungswissen, Glauben und leitende Normen; und 3) die Kontrollbzw. Reintegrationsdimension: eine neue Art der sozialen Einbindung. Nach diesem Verständnis bedeutet Individualisierung eine Herauslösung, eine Enttraditionalisierung aus den althergebrachten Lebensformen und Normen sowie Denk- und Verhaltensweisen, die nicht mehr durch religiöse und traditionelle Vorgaben geprägt sind (vgl. ebd.). Traditionelle Bindungen und Institutionen, die bisher das Leben strukturiert haben, wie Arbeitsmarkt, Klassen, Milieus, Geschlecht, Familien- und Verwandtschaftsbeziehungen, Ehe und Geschlechterrollen, verlieren zwar nicht an Bedeutung, werden jedoch brüchiger und rücken immer stärker in den Hintergrund individueller Lebenslagen (vgl. Beck 1983, S. 36 ff.). In seinem Buch Risikogesellschaft erweitert Beck (1986) sein Modell der Individualisierung um zwei weitere Dimensionen, die ‚objektive Lebenslage‘
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2 Theoretische Erklärungsansätze
und das ‚subjektive Bewusstsein‘. Diese Erweiterung erachtet Beck (1986, S. 206) als notwendig, insofern die drei bereits bestehenden Aspekte (Freisetzungsdimension, Entzauberungsdimension und Kontroll- bzw. Reintegrationsdimension) zunächst nur ein ahistorisches Modell der Individualisierung bildeten, das zu Fehlinterpretationen führen könne. Welcher Art diese Fehlinterpretationen sein können, bleibt allerdings offen und wird auch im weiteren Verlauf seiner Arbeit nicht näher erläutert. In seinen weiteren Überlegungen beschränkt sich Beck (1986) im Wesentlichen auf die objektive Lebenslage der Individuen, auf das subjektive Bewusstsein wird nicht mehr weiter eingegangen. Im Fokus stehen insofern nur die äußerlich wahrnehmbaren Auswirkungen des Individualisierungsprozesses, während das innere Befinden der Betroffenen außen vor bleibt. Im Hinblick auf die objektive Lebenslage vertritt Beck (1983, S. 36) die These, dass soziale Ungleichheiten (ähnlich der Marx’schen Argumentation zur sozialen Klassenformierung) zwar weiterhin fortbestehen, die Lebensstile der Individuen sich aber zunehmend verändern und nicht mehr durch den Klassenbegriff geprägt sind. Diesen Doppelcharakter des Individualisierungsprozesses führt er auf die Bildungsexpansion, die Ausweitung der Mobilität, die Ausdehnung der Konkurrenzbeziehungen und die Verrechtlichung der Arbeitsbeziehungen sowie auf andere gesamtgesellschaftliche Veränderungen zurück. Das Phänomen der Individualisierung, das eine Vereinzelung der Menschen herbeiführen kann, geht auch mit neuen Abhängigkeiten einher, z. B. mit dem Selbstzwang zur Standardisierung der eigenen Existenz (vgl. Beck und Beck-Gernsheim 1990, S. 15). Vorgegebene Normalbiographien werden zu selbstentworfenen bzw. Wahlbiographien (vgl. ebd., S. 13). Mit anderen Worten: Das Individuum wird zum Akteur seiner Lebensgestaltung, damit auch zum Umgestalter und Verantwortlichen seiner Lebenslage, es entsteht also ein „ichzentriertes Weltbild“ (vgl. Beck 1983, S. 58 f.). Dieses neue Weltbild und das veränderte Verständnis von Familie erschweren heute eine Definition der Familie. Nicht nur wurden die traditionellen Familien- und Lebensformen durch pluralisierte Lebenslagen ersetzt, deren Akzeptanz und Selbstverständlichkeit zugenommen hat; zweifellos führte der Übergang zur Moderne auch zu einem veränderten Ehe- und Partnerschaftsverständnis. Diese Entwicklungstendenz lässt sich u. a. an den steigenden Zahlen Alleinerziehender und nichtehelicher Lebensgemeinschaften sowie dem Anstieg der Ehescheidungen beobachten. Die wichtigsten sozialen Ungleichheiten bestehen nach Beck (1983, S. 69) in askriptiven Merkmalen wie Rasse, Hautfarbe, Geschlecht und Alter sowie in den unterschiedlichen Lebenslagen von Männern und Frauen. „Allerdings sind die Umbrüche im weiblichen Lebenslauf drastischer und folgenreicher als die im männlichen“ (Geissler und Oechsle 2000, S. 13). Denn mit der Angleichung
2.2 Theorien der Ehestabilität und Ehequalität …
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der Bildung und der Bewusstwerdung ihrer Lebenslage haben sich die weiblichen Gleichheitserwartungen und -ansprüche verändert. Hinzu kommt, dass der Individualisierungsprozess den Frauen neue Entscheidungs- und Handlungsmöglichkeiten eröffnet hat, wodurch sie sich vorgegebenen Abhängigkeiten und Kontrollen entziehen und vielfältige sowie selbstbestimmte Lebensführungen entwickeln konnten (vgl. Beck 1983, S. 44; Geissler und Oechsle 2000, S. 11). Der Wandel der Geschlechterverhältnisse hat sich nach Beck und Beck-Gernsheim (1990) hauptsächlich in den Bereichen Sexualität, Recht, geschlechtsspezifische Arbeitsteilung und Bildung vollzogen. Allerdings ist davon auszugehen, dass die Individualisierung nicht zwangsläufig zu einer grundlegenden Lebensveränderung aller Frauen im gleichen Ausmaß und in allen Lebensbereichen beigetragen hat. Mit der Eröffnung neuer Handlungs- und Entfaltungsmöglichkeiten und der wohlfahrtsstaatlichen Absicherung konnten zwar traditionelle Geschlechterrollen und die existenzsichernde Funktion der Ehe für Frauen zurückgedrängt werden, gleichzeitig führte der soziale Wandel aber zu einem widersprüchlich familial-institutionell geprägten Doppelleben der Frauen, da ihr Leben immer noch stärker als das der Männer von der Familiensituation beeinflusst wird (vgl. Beck 1986, S. 208 ff.), so dass nach wie vor geschlechtsspezifische Benachteiligungen bestehen. Beck und Beck-Gernsheim (1990, S. 24) weisen in diesem Zusammenhang darauf hin, dass die Freisetzung aus ständischen Zuweisungen noch nicht vollkommen abgeschlossen ist und Widersprüche zwischen der weiblichen Gleichheitserwartung und dem männlichen Festhalten an alten Geschlechterrollenzuweisungen noch weiter fortbestehen. Entsprechend kann davon ausgegangen werden, dass die Kluft zwischen Tradition und Moderne zum Nachteil der Frauen weiterhin gegeben ist. Diese Diskrepanz wird auch in den Emanzipationsbestrebungen der Frauen deutlich. Zwar werden diese Bestrebungen von der Mehrheit der Männer akzeptiert, werden für jene aber dann problematisch, wenn sich die „Selbstständigkeit der Frau […] gegen sie zu wenden droht [und] Forderungen an sie gestellt und Interessen gegen sie durchgesetzt werden“ (Beck und Beck-Gernsheim 1990, S. 32).
2.2 Theorien der Ehestabilität und Ehequalität – Die Stress-Scheidungstheorie nach Bodenmann Der Modernisierungsprozess hat zwar grundsätzlich zur Verbesserung insbesondere der weiblichen Lebensbedingungen geführt, gleichzeitig hat er aber zu einer Beschleunigung der Lebensverhältnisse und somit auch zu einem neuen Verständnis und Ausmaß von Stress beigetragen (vgl. Bodenmann 2005, S. 93 f.).
14
2 Theoretische Erklärungsansätze
Entsprechend kann vermutet werden, dass dieses neue Verständnis mit neuen Belastungen und Herausforderungen für die Individuen auf der Mikro- und Makroebene einhergeht, die auch für eheliche Paarbeziehungen Folgen haben. Bodenmann (2005) geht in seinem stresstheoretischen Scheidungsmodell (siehe Abbildung 2.1) davon aus, dass nicht nur interne Faktoren wie Persönlichkeitsmerkmale (vgl. hierzu auch Bentler und Newcomb 1978; Kurdek 1993; NaveHerz 1990b; Schneider 1990; Scheller 1992) oder soziodemografische Merkmale (vgl. hierzu Diekmann 1993; Babka von Gostomski et al. 1999), sondern oft auch externe Umstände – insbesondere, wenn die Bewältigung des Alltags zur Herausforderung wird – einen destabilisierenden Einfluss auf die Partnerschaftsverläufe und -qualität haben, d. h., dass Alltagsstress das Scheidungsrisiko erhöht. Zugleich kann aber auch eine unzufriedene Partnerschaft Stress auslösen, wodurch die eheliche Partnerschaftsqualität und -stabilität weiter abnimmt (vgl. Bodenmann 1995b). Folglich stehen Stress und Partnerschaftsqualität in einem wechselseitigen Verhältnis zueinander (Bodenmann 1995b, 2005). Oft wird das Ausmaß der stressbedingten Alltagswidrigkeiten von den Paaren entweder lange Zeit nicht bemerkt oder unterschätzt, zumal es sich um keine abrupten Veränderungen innerhalb der Paarbeziehung handelt (vgl. Bodenmann 2005, S. 86). Stress geht vielmehr mit einer schleppenden inneren emotionalen Distanzierung und Entfremdung einher (vgl. ebd.). Die zunächst unbedeutenden stressenden Alltagsereignisse, die durch äußere Erlebniszustände ausgelöst werden, betreffen in erster Linie nur die Person selbst und erfordern individuelle Bewältigungsstrategien. Bodenmann (1995b) weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass die Belastungen primär individuell bewältigt werden, d. h., es wird zunächst versucht, ohne Einbezug des Partners das Stresspotenzial zu minimieren. In dieser Phase der subjektiven Bewältigung kann der eigene Stress aber sehr schnell, wenn auch unbemerkt und schleichend, auf den Partner übertragen werden und damit Spannungen und Konflikte innerhalb der Partnerschaft auslösen oder bereits vorhandene Probleme zwischen den Partnern verstärken (vgl. ebd.). Viele Faktoren können diesen dyadischen Stress begünstigen. Bodenmann (2000a, S. 45) differenziert hier zwischen (a) situativen Faktoren (Übertragung negativer Stressemotionen), (b) personellen Faktoren (Persönlichkeitsveränderungen), (c) dyadischen Faktoren (mangelnde Passung zwischen den Partnern sowie Kompetenzdefizite) und (d) personen- und dyadenexternen Faktoren (ökonomische, kulturelle und soziokulturelle Belastungen wie Migrationserfahrungen, kritische Lebensereignisse wie schwere Erkrankungen). Anzumerken ist hier, dass Stress erst dann eine Gefährdung für die Beziehung darstellt, wenn keine individuellen oder dyadischen Bewältigungs- bzw. Unterstützungsmaßnahmen getroffen und umgesetzt werden. Das heißt, je
2.2 Theorien der Ehestabilität und Ehequalität …
15
effizienter die einzelnen individuellen und dyadischen Coping-Bemühungen3 sind, desto höher ist die Partnerschaftsqualität und -stabilität. Demnach dürften vor allem Paare mit einer geringen Partnerschaftsstabilität nicht in der Lage sein, zusätzlichen Stress gemeinsam zu bewältigen, nicht zuletzt, weil dem partnerschaftlichen Stress womöglich eine geringe Bedeutung beigemessen wird. Nach dem stresstheoretischen Scheidungsmodell (siehe Abbildung 2.1; vgl. auch Bodenmann 2000a, S. 225 f.) können vier Mechanismen zur Verschlechterung der Partnerschaftsqualität und dem Zerfall der Ehe führen: Stress führt (a) zu weniger gemeinsamer Zeit, (b) verschlechtert die Kommunikation zwischen den Paaren, (c) hat somatische und psychologische Probleme und Erkrankungen zur Folge und (d) bringt problematische Persönlichkeitszüge und Verhaltensveränderungen zum Vorschein.
Weniger gemeinsame Zeit
Alltagsstress
Unzufriedenheit
Verschlechterung der Kommunikation Somatische und psychische Probleme
Entfremdung
Evaluation von scheidungserleichternden Bedingungen & scheidungserschwerenden Bedingungen Auslöser
Freilegung problematischer Persönlichkeitszüge
Scheidung
Abbildung 2.1 Das stresstheoretische Scheidungsmodell. (Quelle: eigene Darstellung in Anlehnung an Bodenmann (2005, S. 95))
3Das
sogenannte dyadische Coping konnte in der vorliegenden Arbeit aufgrund des individuellen Zugangs nur aus der Perspektive der betroffenen Frauen erfasst werden. Auch Bodenmann adressiert mittels dieses Konzepts aber nicht notwendigerweise die interaktionale Ebene, sondern auch die soziale und reflexive Ausrichtung individueller Bewältigungsformen: „Unter dyadischem Coping werden Bemühungen eines oder beider Partner verstanden, bei (individuellen) Belastungen des anderen Partners bzw. bei
16
2 Theoretische Erklärungsansätze
Unter Stress verändert sich die Partnerschaft nachhaltig, denn zunächst beginnen die Paare, meist unbewusst, immer weniger Zeit füreinander zu haben, aber auch immer weniger Zeit miteinander zu verbringen. Die unzureichende gemeinsam verbrachte Zeit geht zudem mit einer emotionalen Entfremdung einher. Dies hat zur Folge, dass die Partner weniger Gelegenheiten zur Selbsteröffnung haben (Abbildung 2.2). „Hektik und wenig Zeit […] führen zur sukzessiven Abnahme von Intimität und Nähe und bewirken eine mehr sachbezogene und damit oberflächliche Kommunikation, die sich an Alltagsdetails orientiert, jedoch nicht die wirklich wichtigen Inhalte einander mitteilen lässt“ (Bodenmann 2005, S. 96). Vor diesem Hintergrund werden die persönlichen Probleme des anderen oft nicht wahrgenommen oder nur ansatzweise berücksichtigt. Hinzu kommt, dass gemeinsame Erlebnisse wie bspw. Freizeitaktivitäten immer stärker in den Hintergrund der Partnerbeziehungen rücken oder in Kombination mit anderen Terminen wahrgenommen werden, wodurch das Stresspotenzial konstant bleibt oder weiter erhöht wird (vgl. Bodenmann 2005, S. 92; siehe Abbildung 2.2). Durch die fehlenden gemeinsamen Erlebnisse und Aktivitäten wird die Paarbeziehung langfristig verschlechtert. Zudem bleibt keine Gelegenheit, sich gegenseitig zu unterstützen und nach gemeinsamen dyadischen Coping-Bemühungen zu suchen und diese einzusetzen.
dyadischem Stress (bei dem beide Partner annähernd gleich betroffen sind) bei der Stressbewältigung mitzuwirken und durch gezielte Bewältigungshandlungen bzw.-versuche, eine erneute Homöostase des vom Stress primär Betroffenen, des Gesamtsystems bzw. der Beziehung zwischen dem Paar und seiner Außenwelt herbeizuführen“ (Bodenmann 1997, S. 80 f.; Hervorh. T.M.; siehe auch Bodenmann 1995a, S. 74). Dyadisches Coping ist abhängig von intrinsischen (z. B. Liebe zum Partner, wenn dessen Wohlergehen von Bedeutung ist; Vorteile der Partnerschaft) sowie extrinsischen Faktoren (z. B. Erwartungen an die Partnerschaft; äußere Umstände; soziokulturelle Normen) und erfolgt dann, wenn die Stresssignale durch den anderen Partner und dessen Antwortreaktion (verbale und nonverbale Copingreaktionen) erkannt sowie berücksichtigt werden (vgl. Bodenmann 2003, S. 489; 2000a, S. 52, 63 f.). Zu ‚supportivem‘ und ‚delegiertem‘ dyadischen Coping siehe Bodenmann 2000a, S. 225.
2.2 Theorien der Ehestabilität und Ehequalität …
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Weniger Gelegenheiten für Selbsteröffnungen
Stress
Weniger gemeinsame Zeit
Weniger gemeinsame Erlebnisse Weniger Gelegenheiten für gemeinsame Stressbewältigung
Geringe Partnerschaftsqualität und höheres Scheidungsrisiko
Abbildung 2.2 Der Einfluss von Stress auf die gemeinsam verbrachte Zeit. (Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Bodenmann (2000a, S. 86))
„Nicht nur die gemeinsam verbrachte Zeit nimmt ab, sondern auch die Kommunikation zwischen den Paaren verändert sich zunehmend und verläuft oftmals sehr schlecht oder gereizt“ (Bodenmann 2005, S. 94) (Hervorh. T. M.). Auch andere Studien (vgl. u. a. Bodenmann et al. 1996; Gottman 1993, 1994; Karney und Bradbury 1995) zeigen, dass Kommunikationsdefizite einen moderierenden negativen Effekt auf die Partnerschaftsqualität haben. Nach Bodenmann (2005, S. 97) nimmt die Interaktion der Partner unter Stress einen zunehmend negativen Charakter an: Zustimmung, Lob und Komplimente werden durch negative Kommunikationsstile ersetzt. Verständnis und Geduld nehmen ab, Missverständnisse und Fehlinterpretationen nehmen zu. So fällt es schwer, Ansichten und Meinungen des anderen zu akzeptieren oder empathische Reaktionen zu zeigen (vgl. Bodenmann 2003, S. 492). Darüber hinaus ist oft eine paraverbale Negativität in der Kommunikation zwischen den Partnern zu beobachten, d. h., es wird zwischen den Zeilen (Tonfall) kommuniziert (vgl. Bodenmann 2005, S. 97 f.). Diese Form der Negativität kann mit Spannungen und Belastungen einhergehen, sodass sich Paare immer mehr entfremden, sich bewusst oder unbewusst abkapseln und zurückziehen, folglich eine Kommunikation vermeiden bzw. verweigern (siehe Abbildung 2.3).
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2 Theoretische Erklärungsansätze
Rückzug, Abkapselung Stress
Negative Effekte auf die Kommunikation
Höhere Negativität und geringe Positivität
Geringe Partnerschaftsqualität und höheres Scheidungsrisiko
Abbildung 2.3 Zusammenhänge zwischen Stress, Kommunikationsdefiziten und Partnerschaftsqualität. (Quelle: eigene Darstellung in Anlehnung an Bodenmann (2000a, S. 86))
Die Gesprächsverweigerung kann zum einen damit erklärt werden, dass viele Paare nach einer immer wieder fehlgeschlagenen Kommunikation und aufgrund negativer Verhaltensweisen des Partners enttäuscht und verletzt sind oder sich vom Partner nicht verstanden fühlen, insofern auch keinen Sinn mehr sehen, erneut die Gelegenheit zu einem Gespräch zu ergreifen. Andererseits kann der Rückzug auch erfolgen, weil Paare die spannungsvolle Atmosphäre und das bereits bestehende Konfliktpotenzial, das möglicherweise durch den Einbezug weiterer Familienmitglieder wie der Kinder oder der Schwiegereltern sowie unterschiedliche familiäre Werte und Normen der Paare entsteht, nicht noch weiter erhöhen wollen. Auch das Vertrauen zum Partner als eines der wichtigsten Fundamente einer Beziehung kann aufgrund der Kommunikationsdefizite zwischen den Partnern schwinden. Dies führt schließlich dazu, dass positive wie negative persönliche Erlebnisse dem Partner nicht mehr mitgeteilt werden; es entsteht also eine immer stärkere Selbstbezogenheit (vgl. Bodenmann 2005). Bodenmann (2005) geht in seinem stresstheoretischen Scheidungsmodell davon aus, dass der Stress im Leben der Paare, aber auch des Einzelnen, überhandnimmt und somit die Unzufriedenheit sowie das Belastungspotenzial in der Beziehung erhöht. Anzumerken ist, dass sich Stressoren und Belastungsprofile je nach Lebensphase sehr unterschiedlich gestalten können (vgl. Bodenmann 2000b, S. 68). Stress, Unzufriedenheit und Belastungen können mit einer höheren Anfälligkeit für psychische und somatische Krankheiten einhergehen, in deren Folge auch mögliche individuelle und dyadische Bewältigungsstrategien verändert werden, ja sogar komplett entfallen können (siehe Abbildung 2.4).
2.2 Theorien der Ehestabilität und Ehequalität …
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Zusätzliche Belastungen für den Partner
Stress
Höhere Anfälligkeit für psychische und somatische Krankheiten
Krankheitsbedingte Einschränkungen für den Partner
Geringe Partnerschaftsqualität und höheres Scheidungsrisiko
Gestörtes Gleichgewicht zwischen den Partnern
Abbildung 2.4 Zusammenhang zwischen Stress und Krankheiten. (Quelle: eigene Darstellung in Anlehnung an Bodenmann (2005, S. 101))
Chronische Gesundheitsprobleme, bspw. in Form von somatischen und psychischen Problemen, können zu einer Belastung innerhalb der Partnerschaft führen, die nicht nur die Lebenssituation der Paare nachhaltig und negativ verändert, sondern auch die Unzufriedenheit erhöht (vgl. Bodenmann 2005, S. 101). Ebenfalls kann vermutet werden, dass gesundheitliche Probleme des Partners eine neue und zum Teil auch ungewohnte Herausforderung darstellen, mit der viele überfordert sind. Hinzu kommt, dass dieser Zustand das Ausmaß des bestehenden Stresses in der Partnerschaft noch weiter erhöht, d. h., Stress löst neuen Stress aus. In der Folge kann es zu einem gestörten Gleichgewicht zwischen den Partnern kommen, das zunächst nur ansatzweise von dem Einzelnen oder von beiden Partnern wahrgenommen wird (siehe Abbildung 2.4). Möglicherweise kann dieses unbewusste Ungleichgewicht zwischen den Partnern die Regenerierung der Partnerschaft und der Partnerschaftsqualität enorm verzögern. Bodenmann (2005, S. 86) konstatiert, dass sich die stressbedingten Veränderungen durch emotionale Entfremdung, aber auch durch Verhaltensveränderungen gegenüber dem Partner auszeichnen. So können unter Stress unerwartete Persönlichkeitseigenschaften und problematische Persönlichkeitszüge zum Vorschein treten, die vorher beim Partner nicht beobachtet wurden, die wiederum zu Enttäuschungen, Ernüchterung, Frustration und zu einem veränderten Gesamtbild des Partners führen und die Unzufriedenheit mit der eigenen Lebenslage und der ehelichen Partnerschaft erhöhen (vgl. Bodenmann 2003, S. 493 f.).
20
2 Theoretische Erklärungsansätze
Mit einer zunehmenden Unzufriedenheit kann sich die Kostennutzenbilanzierung der Ehe verändern, sodass die Partner die gesamte eheliche Beziehung noch einmal überdenken (vgl. Lewis und Spanier 1979, 1982). Nach der austauschtheoretischen Perspektive von Lewis und Spanier (1979; siehe Abbildung 2.5)4 wird in dieser Phase zunächst abgewogen, welche Kosten und Nutzen die Beziehung für den Einzelnen hat. Hinzu kommt als zweite Dimension dieses Modells die Gegenüberstellung von Alternativen und Barrieren5, die die Partnerschaftsstabilität determinieren. „Die erhaltene Liebe und Geborgenheit, die emotionale Nähe oder die sexuelle Befriedigung sind exemplarisch für die Nutzen einer Partnerschaft, denen Konflikte, störendes Verhalten des Partners oder persönliche Einschränkungen als Kosten gegenüberstehen können“ (Zemp und Bodenmann 2013, S. 378).
IV. Niedrige Qualität/ hohe Stabilität
Alternativen
Kosten
Nutzen
III. Niedrige Qualität/ niedrige Stabilität
I. Hohe Qualität/ hohe Stabilität
Barrieren
II. Hohe Qualität/ niedrige Stabilität
Abbildung 2.5 Austausch-Typologie der Ehequalität und Ehestabilität. (Quelle: eigene Darstellung in Anlehnung an Lewis und Spanier (1979, S. 286; 1982, S. 55))
4Im
Fokus der Austauschtheorie von Lewis und Spanier (1979) liegt die Ehequalität amerikanischer Paare vor der Frauenbewegung. Auf der Basis der theoretischen Befunde von Lewis und Spanier zeigen sich wesentliche Gemeinsamkeiten zwischen der Entwicklung des amerikanischen Frauenbilds der 1960er Jahre und der im Kapitel Forschungsstand näher thematisierten Entwicklung der türkeistämmigen Frauen in Deutschland. 5Lewis und Spanier (1982, S. 54) beschreiben Alternativen (alternative attractions) als externe außereheliche Nutzen und Möglichkeiten (z. B. eine neue Berufstätigkeit oder ein potenzieller neuer Partner) und Barrieren (social pressures) als externe Kosten (z. B. gesellschaftlicher Druck).
2.3 Das transaktionale Stressbewältigungsmodell nach Lazarus
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Nach Lewis und Spanier (1982, S. 55, 60) ist eine Trennung oder Ehescheidung umso wahrscheinlicher, je geringer der Nutzen der Beziehung (geringe Ehequalität), je geringer die außerehelichen Barrieren in Form von sozialem Druck und je höher die außerehelichen Alternativen (geringe Ehestabilität) im Gegensatz zur eigenen Ehe und zum gegenwärtigen Ehepartner gewertet werden. Eine hohe Ehequalität geht nach dieser Theorie nicht mit einer hohen Ehestabilität einher (siehe Abbildung 2.5, Quadrant 2 und 4). Ein Gleichgewicht zwischen der Ehequalität und -stabilität liegt dann vor, wenn keine attraktiven außerehelichen Alternativen, wie bspw. finanzielle Unabhängigkeit, vorliegen und die Kosten der Beziehung nicht über den Nutzen hinausgehen (vgl. Lewis und Spanier 1982, S. 59 f.). Umgekehrt kann eine qualitativ niedrig wahrgenommene Ehe ebenfalls zu einer subjektiven Instabilität führen, wenn mögliche Alternativen und die Kosten (Barrieren) der Eheauflösung als realisierbar empfunden werden (vgl. Hill und Kopp 2006, S. 279). Lewis und Spanier (1982, S. 52 f.) konstatieren, dass die Ehequalität grundsätzlich von verschiedenen Faktoren und deren Zusammenspiel abhängig ist. Benannt werden die verfügbaren sozialen und persönlichen Ressourcen, die Lebenszufriedenheit der Paare und die Qualität der ehelichen Interaktion. Zudem kann vermutet werden, dass auch die voreheliche Beziehung und die Passung der Paare entscheidende Faktoren darstellen. In der Phase der Evaluation der scheidungserschwerenden und -erleichternden Bedingungen bedarf es nur eines Auslösers wie bspw. einer außerehelichen Beziehung oder eines kritischen Lebensereignisses, um eine Trennung oder Scheidung in Betracht zu ziehen und diese auch auszuführen (vgl. ebd.). Somit lässt sich ableiten, dass nicht Stress an sich die Partnerschaftsqualität und -stabilität negativ beeinflussen kann, sondern das Zusammenspiel mehrerer Stressoren in Kombination einer dysfunktionalen dyadischen Stressbewältigung.
2.3 Das transaktionale Stressbewältigungsmodell nach Lazarus Lazarus und Folkman (1984) haben für verschiedene kritische Lebenslagen das transaktionale Stressbewältigungsmodell ausgearbeitet, dass zwar keinen migrationsspezifischen Erklärungsansatz zur Ehescheidung darstellt, sich aber dennoch auf die Scheidung bei türkeistämmigen Frauen anwenden lässt. In ihrem Modell fokussieren sie die individuelle Bedeutung von Stress6 und die damit 6„Allgemein
gesehen bezieht sich psychischer Stress auf (u. U. miteinander konkurrierende) Anforderungen, die in der Einschätzung der betroffenen Person interne und externe Ressourcen auf die Probe stellen oder überschreiten“ (Lazarus 1990, S. 213).
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2 Theoretische Erklärungsansätze
verbundenen Bewertungs- und Bewältigungsprozesse. Von anderen Theorien (vgl. u. a. Selye 1981) unterscheidet sich dieser Ansatz im Wesentlichen durch die Erkenntnis, „[…] dass auf dieselben äußeren kritischen Lebensereignisse (so genannte Makrostressoren wie z. B. Scheidung), die an und für sich bestimmte Stressklassen zu charakterisieren scheinen, je nach Person unterschiedlich reagiert wird […]“ (Bodenmann und Gmelch 2009, S. 618). Stress wird also als Interaktion zwischen Person und Umwelt – in Bezug auf türkeistämmige Frauen kann das soziale Umfeld stärkeren Einfluss auf die neuen Lebensbedingungen und damit auch auf die Bewertung der Situation haben – begriffen, bei der die subjektive Bewertung eines Ereignisses durch die Person ausschlaggebend ist. Mit anderen Worten: Die Wahl der Bewältigungsmodi und die Bewältigung kritischer Ereignisse bzw. Situationen hängen mit der kognitiven Bewertung und Beurteilung des Stressors zusammen. Das Modell unterscheidet zwei Bewertungsprozesse: primäre (primary appraisal) und sekundäre Bewertung (secondary appraisal). Diese Bewertungsprozesse können „[…] sich dabei entweder auf die Bedeutung des Ereignisses für das Wohlbefinden der Person beziehen (primäre Bewertung) oder auf die verfügbaren Bewältigungsfähigkeiten und -möglichkeiten (sekundäre Bewertung)“ (Lazarus und Launier 1981, S. 233; vgl. auch Lazarus und Folkman 1984). Den die primäre und sekundäre Bewertung einschließenden ‚kognitiven Bewertungsprozess‘ beschreiben Lazarus und Launier (1981) als einen mentalen prozesshaften Vorgang, der zeitlichen Veränderungen unterliegt. Denn ein kritisches Lebensereignis wie die Ehescheidung kann je nach Situation kurz- oder langfristig wirken. Letzteres stellt einen komplizierten und oft wiederholten Prozess, ein Ungleichgewicht dar, das den Betroffenen eine neutralisierende Balance und Bewältigungsstrategien abverlangt. Nach dieser Auffassung verändern sich im Zeitverlauf und je nach Intensität des Stressors – auch bei der Scheidung können die Folgen und das psychische Wohlergehen der Betroffenen sich im Zeitverlauf wandeln, abschwächen und an Bedeutung verlieren – die Wahrnehmung, die Beurteilung und das Wohlergehen der Betroffenen. Die Beurteilung eines Ereignisses und das Verhalten bei Belastungen unterliegen dabei der individuellen Disposition, im Vordergrund steht also, wie das Individuum das Ausmaß und die Intensität eines Ereignisses subjektiv einschätzt (irrelevant, positiv oder stressend) und damit umgeht (zur Erklärung der CopingProzesse siehe unten). Kritisch anzumerken ist, dass dieser theoretischen Konzeptualisierung einer individuellen Stressbewältigung keine Wertedispositionen zu Grunde liegen. Der Einfluss der Sozialisation sowie der Werte- und Normvorstellungen der Individuen auf die Bewertung des Stressors und damit auf die Wahl der Bewältigungsstrategien – z. B. bei türkeistämmigen Frauen, die sich in der Scheidungsphase befinden – bleibt demnach unberücksichtigt.
2.3 Das transaktionale Stressbewältigungsmodell nach Lazarus
23
2.3.1 Kognitive Bewertungsprozesse und deren Auswirkungen auf das Bewältigungsverhalten sowie die Anpassung an das zukünftige Leben Die eheliche Trennung und die Scheidung gehen grundsätzlich mit unerwarteten Lebensveränderungen einher, deren Ausmaß und Auswirkungen auf das zukünftige Leben der Betroffenen kognitiv gewertet werden, um gezielte Anpassungsstrategien heranziehen zu können. Im Folgenden werden die einzelnen kognitiven Bewertungsprozesse nach Lazarus und Launier (1981) und die damit verbundenen unterschiedlichen Affekte des psychischen und physischen Wohlbefindens für die Betroffenen, deren Funktion sowie deren Auswirkungen auf das Bewältigungsverhalten der Betroffenen näher beschrieben (siehe auch Abbildung 2.6). Primäre Bewertung (primary appraisal) Die primäre Bewertung beschreibt den Prozess, durch den zunächst das eigene Wohlbefinden in Relation zur Umwelt – das Wohlergehen der Betroffenen und deren Umwelt stehen in wechselseitiger Beziehung zueinander – eingeschätzt wird (Lazarus 1990, S. 212; ähnlich dem Ansatz von Bodenmann 2005). Die Transaktion kann nach Lazarus und Folkman (1987, S. 145) als (1) ‚irrelevant‘, (2) ‚günstig/positiv‘ oder (3) ‚stressreich‘ beurteilt werden. Bei der primären Bewertung geht es also in erster Linie um den Einfluss der Situation auf das Wohlbefinden. Gefühlsreaktionen werden demnach als Konsequenz auf die erlebte Transaktion mit der Umwelt aufgefasst. „Emotionen werden dabei konzipiert als Begleit- und Folgeerscheinungen der subjektiven Einschätzung“ (Jerusalem 1990, S. 7). Ein Ereignis bzw. eine bereits eingetroffene Situation wird als irrelevant bewertet, wenn diese Situation keinen Einfluss auf das Wohlergehen der Personen ausübt, folglich keine Gefahr und/oder keine negativen Auswirkungen daraus resultieren (vgl. Lazarus und Launier 1981, S. 233). Bei türkeistämmigen Frauen kann die Scheidung dann als irrelevant oder gefahrlos gewertet werden, wenn der familiäre Rückhalt gegeben ist, die Scheidung als ein individueller Neuanfang betrachtet wird oder ein hoher gesellschaftlicher Status, mit dem sich auch die Einstellung der Betroffenen Frauen zur Scheidung verändert, die Betroffenen vor gesellschaftlicher Diskriminierung und Stigmatisierung schützt. Auch eine auf das Ereignis bezogene Anpassungs- und Bewältigungsbemühung ist in diesem Fall nicht erforderlich, zumal die Person das eigene Wohlergehen nicht als gefährdet betrachtet, sondern sich vielmehr wohlfühlt, unmittelbare Freude
24
2 Theoretische Erklärungsansätze
und Heiterkeit erlebt (vgl. ebd. S. 234). Diese Form der kognitiven Bewertung hat eine positive Wertungsdisposition und ein positives Gleichgewicht auf der affektiven Ebene zur Folge. Es liegt aber nahe, dass sich diese Bewertungsform durch unerwartete neue Ereignisse, Selbstzweifel oder Verlust der Hoffnung negativ verändern kann. Stehen die persönlichen Kompetenzen über den Anforderungen, so wird die Situation als angenehm bzw. positiv bewertet (vgl. Jerusalem 1990, S. 8). Anpassungs- und Bewältigungsbemühungen sind in dieser Phase ebenfalls nicht notwendig, zumal keine erschwerenden Konsequenzen vorliegen, die das Wohlergehen der Betroffenen gefährden. Aber auch eine positive Bewertung kann in eine leichte Bedrohung übergehen, vor allem dann, wenn die Bedingungen nicht fortbestehen können oder Zweifel an dem dauerhaften Erhalt dieser guten Situation entstehen (vgl. Lazarus und Launier 1981, S 234; vgl. auch Bodenmann 1995a). Bei türkeistämmigen Frauen könnten dies beispielsweise ein Bedauern der Scheidungsentscheidung oder unerwartete Schwierigkeiten bei der Neugestaltung des Lebens und insbesondere der Kindeserziehung sein. In einem derartigen Fall muss sich die Person neu orientieren, es erfolgt also eine Neubewertung der Situation auf kognitiver wie auch auf affektiver Ebene. Während das eigene Wohlergehen in den ersten beiden Fällen (irrelevant und positiv/ angenehm) positiv bewertet wird, verkörpert die Bewertung stressend genau das Gegenteil. Die „[…] subjektive Stressrelevanz stellt somit die eigentliche erlebnispsychologische Komponente von Stress dar“ (Jerusalem 1990, S. 8). Die stressende Bewertung – oder, wie Jerusalem (1990) formuliert, die stressbezogene Kognition – wird in drei weitere Subkategorien unterteilt, die sich sowohl auf kognitiver als auch auf affektiver Ebene voneinander unterscheiden: ‚Schädigung/ Verlust‘ (harm-loss), ‚Bedrohung‘ (threat) und ‚Herausforderung‘ (challenge) (siehe Abbildung 2.6). Grundsätzlich unterliegen alle drei Subkategorien einer negativen Bewertung, wobei die letztgenannte Kategorie darüber hinaus eine hoffnungsvolle Gefühlsstimmung impliziert (vgl. Lazarus und Launier 1981, S. 235). „Schädigung/Verlust (harm-loss) bezieht sich [auf eine gegenwärtige oder] eine bereits eingetretene Schädigung, z. B. eine fortwährend unrealisierbare kurz- oder langfristige Wertungsdisposition, ein erschüttertes Selbst- und Weltbild, eine Störung des Selbstwertgefühls oder der sozialen Anerkennung [wie nach der Trennung und Scheidung], einen zwischenmenschlichen Verlust [oder eine Trennungserfahrung wie bspw. im Falle der Heiratsmigration] oder eine beeinträchtigende Verletzung“ (Lazarus und Launier 1981, S. 235; Hervorh. T.M.).
2.3 Das transaktionale Stressbewältigungsmodell nach Lazarus
25
Persönlichkeitsmerkmale Bewertungsprozesse
Potenziell
Primäre Bewertung
Sekundäre Bewertung
Ereignis ist: irrelevant positiv stressend
Bewältigungsfähigkeiten/ -möglichkeiten beansprucht oder überstiegen
stressende Umweltereignisse
Bewertungsprozesse
Bewältigungsfähigkeit Bewältigungsmöglichkeit
Bewältigungsversuche Stress Situationsinterpretation
problemzentriert
emotionszentriert
Schädigung/Verlust
Informationssuche
Bedrohung
Direkte Handlung
Herausforderung
Aktionshemmung
Negativ getönte Emotionen
Neubewertung Nächster Stressverarbeitungszyklus
Abbildung 2.6 Das Stressbewältigungsmodell nach Lazarus. (Quelle: eigene Darstellung in Anlehnung an Ruff (1990, S. 44), erstellt nach Lazarus und Launier (1981))
Inwieweit ein eingetroffenes Ereignis nun als Schädigung bzw. Verlust gewertet wird, hängt im Wesentlichen von sozialen und psychischen Dispositionen ab. „Bewältigungsversuche richten sich nicht auf die Entstehung des Schadens selbst, sondern auf die Linderung negativer Folgen bzw. auf Wiedergutmachung“ (Jerusalem 1990, S. 8). Es besteht also eine Interaktion zwischen den verhaltenssteuernden Systemen der Kognition, Emotion und Motivation, wobei die Intensität der gegenseitigen Beeinflussung der drei Faktoren variiert. Die Subkategorie Bedrohung kann sich ebenfalls auf die oben angeführten Ereignisse im Leben eines Menschen beziehen, doch handelt es sich hier eher
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2 Theoretische Erklärungsansätze
um ein Ereignis, das noch nicht eingetroffen ist, wohl aber antizipiert wird (vgl. Lazarus 1990, S. 212). Als Bedrohung wird ein Lebensereignis gewertet, wenn die Betroffenen ihre Umwelt als gefährlich betrachten und das Fehlen von Ressourcen wahrnehmen (vgl. ebd. S. 213), so z. B., wenn im Falle der Scheidung das Herausfallen aus dem Netzwerk der bisher über Familie, Ehepartner und Nachbarschaften gesicherten Schutzleistungen droht oder fehlende Sprachkenntnisse Verunsicherung und Zukunftsängste herbeiführen. Es liegt nahe, dass hohe externe Anforderungen und das Fehlen von Ressourcen zur Bewältigung eines Ereignisses wie der Ehescheidung die persönlichen Entfaltungs- und Handlungsmöglichkeiten beeinträchtigen und das Gefühl der Orientierungslosigkeit immens erhöhen können. Weiterhin kann angenommen werden, dass der Wunsch, aus dieser bedrohenden Lebenslage zu entfliehen, das Stresspotenzial weiter steigern kann. Das Ausmaß und die Intensität dieser als Bedrohung empfundenen negativen Gefühlsstimmung können somit durch Selbstzweifel oder Zweifel an einer Bewältigung wachsen (vgl. Lazarus 1990, S. 215), wodurch sich die Anforderungen und die damit verbundenen Bewältigungsprozesse erneut verändern. Jerusalem (1990, S. 9) konstatiert, dass präventive Bewältigungshandlungen in diesem Bewertungsprozess, im Unterschied zur Verlusteinschätzung, noch möglich und notwendig sind, um die Situation überstehen zu können, wobei die Bewältigung aus Sicht der Betroffenen eher unwahrscheinlich erscheint. Es kann vermutet werden, dass die Befürchtung zu versagen – gerade bei türkeistämmigen Frauen kann dies einen erfolglosen Umgang mit der Scheidung sowie eine erfolglose Neugestaltung der Lebenslage betreffen – mit einem verringerten Selbstwertgefühl einhergeht, aber auch durch Emotionen wie Angst oder Enttäuschung aus früheren Erfahrungen verstärkt werden kann. Die Herausforderung wird im Gegensatz zur Bedrohung als Bewältigung einer eingetroffenen Situation sowie als Möglichkeit der persönlichen Entwicklung und des persönlichen Erfolgs definiert (vgl. Lazarus 1990, S. 212). Ob sie auf der affektiven Ebene nun als positiv oder negativ betrachtet wird, hängt von der persönlichen Sichtweise ab (vgl. Lazarus und Launier 1981, S. 235). Diese Definition von Lazarus korrespondiert zum Teil mit den Ausführungen von Selye (1981), der zwischen zwei Arten von Stresswirkungen – Eustress (positiver Stress; Herausforderung im Sinne von Lazarus) und Distress (negativer Stress; Bedrohung) – differenziert. „In Abhängigkeit von den jeweils vorliegenden Bedingungen ist Stress [insofern] mit erwünschten und unerwünschten Folgen verbunden“ (Selye 1981, S. 171). Als positive Herausforderung kann ein Ereignis betrachtet werden, wenn Anforderungen infolge veränderter Lebensumstände zwar mit Schwierigkeiten verbunden sind, zugleich aber auch eine realistische
2.3 Das transaktionale Stressbewältigungsmodell nach Lazarus
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Chance zur Bewältigung bieten (ähnlich der Perspektive von Hill und Kopp 2006; siehe hierzu Abschnitt 2.2). In Bezug auf die Ehescheidung kann eine Situation als positive Herausforderung gewertet werden, wenn die Scheidung zwar mit negativen Folgeerscheinungen verbunden ist, aber dennoch zur Verbesserung der aktuellen Lebenslage beiträgt, den Betroffenen neue Handlungs- und Entfaltungsmöglichkeiten einräumt, die innerhalb der Ehe nicht gegeben waren. Diese Form der kognitiven Bewertung kann dazu führen, das Erlebte als Chance zur Veränderung anzusehen, als bedeutende Triebkraft und Motivation. Andersherum können die Anforderungen aber auch als zu hoch wahrgenommen werden. Die zur Verfügung stehenden Bewältigungsstrategien erscheinen als unzureichend, sodass mit Blick auf die Bewältigungsrichtung unklar ist, wie dieser Lebenslage zu entfliehen und wie das emotionale Ungleichgewicht auszubalancieren ist (vgl. hierzu auch Beelmann und Schmidt-Denter 2003). Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die primäre Bewertung sowohl auf der kognitiven als auch auf der affektiven Ebene erfolgt. Den geschilderten Bewertungsmustern ist gemein, dass sie den Betroffenen die emotionale Richtung zur Bewältigung des Stressors angeben (vgl. Lazarus 1990, S. 213). Diesem Prozess folgt die sekundäre Bewertung, die im Folgenden ausführlicher dargestellt wird. Sekundäre Bewertung (secondary appraisal) Mit der sekundären Bewertung wird abgewogen, ob und welche Bewältigungsfähigkeiten und -möglichkeiten (coping ressources and options) zur Bewältigung oder zur Milderung eines Ereignisses vorliegen bzw. herangezogen werden können (vgl. Lazarus und Launier 1981, S. 238). In dieser Phase, die sich auf die Beurteilung der Relevanz (hier steht die stressende Bewertung im Vordergrund) bezieht und ihr folgt, wird also überlegt, welche Ressourcen auf der individuellen (im Falle einer Scheidung bei türkeistämmigen Frauen z. B. eigene Kraft, Glaube, Einstellung zur Ehescheidung, gesundheitliche Verfassung), sozialen (interne und externe Unterstützungsmaßnahmen) und finanziellen Ebene (finanzielle Absicherung durch Erwerbstätigkeit) herangezogen werden können, um die veränderten Anforderungen zu meistern und die neue Lebensumwelt psychisch sowie physisch für sich zu integrieren (siehe Abbildung 2.6). Zunächst werden „[…] die Fähigkeiten, die eine Person für verfügbar hält, psychologisch den vorhandenen Gefahren und Schädigungen gegenübergestellt und bilden einen entscheidenden kognitiven Faktor in der Entstehung der psychologischen Stressreaktion“ (Lazarus und Launier 1981, S. 240). Nicht nur die Tendenz der Bewältigungsmöglichkeiten wird dadurch beeinflusst, sondern es werden auch die Bewältigungsmaßnahmen festgelegt.
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2 Theoretische Erklärungsansätze
Der zentrale Unterschied zwischen der primären und der sekundären Bewertungsdimension liegt nach Lazarus und Folkman (1987) nicht nur in den unterschiedlichen Funktionen, sondern vielmehr in dem Bewertungsinhalt und den unterschiedlichen Informationsquellen für die Bewertung. Darüber hinaus beeinflussen sich die beiden Bewertungsdimensionen gegenseitig. Kritisch anzumerken ist jedoch, dass die Termini ‚primär‘ und ‚sekundär‘ zu Fehlinterpretationen führen können, zumal sie auf eine zeitliche Reihenfolge schließen lassen, obwohl sie diese keineswegs voraussetzen. Lazarus und Launier (1981, S. 238) kritisieren in diesem Zusammenhang selbst, dass die Bezeichnung der beiden Bewertungsdimensionen zu Missverständnissen führen kann, und ergänzen in späteren Werken, dass es besser gewesen wäre, von einer ‚Bewertung der Bewältigungsfähigkeiten‘ (statt primär) sowie einer ‚Bewertung des Wohlbefindens‘ (statt sekundär) zu sprechen. Eine andere Terminologie wäre durchaus vorteilhaft, denn die sekundäre Bewertung ist nicht nur für die möglichen Bewältigungsmaßnahmen bedeutsam, sondern auch für die Ausformung der primären Bewertung (vgl. Lazarus und Launier 1981, S. 239). Das Ausmaß und die Intensität der primären Einschätzung können sich nämlich mit den verfügbaren Ressourcen zur Bewältigung der Ereignisse positiv verändern. So kann eine Situation, die zunächst als Bedrohung oder als potenzielle Gefahr wahrgenommen wurde, mit der Einsicht, dass Bewältigungsfähigkeiten und -möglichkeiten vorliegen, weniger bedrohlich erscheinen. Umgekehrt kann eine negative sekundäre Bewertung die Bedrohung in der primären Beurteilung verschärfen. Beide kognitiven Prozesse können zeitgleich ablaufen: So können vor bzw. unmittelbar nach der primären Bewertung bereits verschiedene Bewältigungsmöglichkeiten abgewogen oder gewählt werden. „Die hier betrachteten Bewertungsoptionen sind nicht notwendigerweise bewusst oder willkürlich; sie können auch ohne das Bewusstsein ablaufen, […] insbesondere in antizipatorischen Situationen, die allmählich entstehen und Reflexionen erlauben“ (Lazarus und Launier 1981, S. 240). Innerhalb dieses Prozesses können durch das veränderte emotionale Wohlergehen der Betroffenen unerwartete, neue und komplexe Probleme entstehen, die wiederum neue individuelle Bewältigungsstrategien erfordern (Neubewertung). Neubewertung (benefit appraisal) Die Neubewertung unterscheidet sich von den ersten beiden Bewertungsdimensionen in ihrer Funktion und kommt eher am Ende des Prozesses der Bewältigungsverarbeitung zum Tragen (siehe Abbildung 2.6). Eine Neubewertung ist dann erforderlich, wenn sich die Qualität und Intensität des Ereignisses und somit der Bewältigungsversuch im Zeitverlauf auf der kognitiven und
2.3 Das transaktionale Stressbewältigungsmodell nach Lazarus
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emotionalen Ebene verändert oder erweitert und neue Verhaltensstrategien verlangt (vgl. Lazarus und Launier 1981, S. 241; vgl. auch Lazarus 1990, S. 213). Nicht selten können belastende Lebensveränderungen durch neue unerwartete Folgen verstärkt werden und neue Belastungen mit sich bringen. In dieser Phase bedarf es zunächst einer neuen kognitiven Bewertung und folglich auch neuer Bewältigungsformen. Anlass für eine Neubewertung wäre bspw. gegeben, wenn die Betroffenen nach der Scheidung unerwartet arbeitsunfähig werden oder aufgrund von Kindern eine Verkürzung der Arbeitszeit vorgenommen werden muss, wodurch finanzielle Engpässe entstehen, die neue Bewältigungsstrategien verlangen.
2.3.2 Der Stressbewältigungsprozess Lazarus und Launier (1981) haben eine auch auf das Thema Scheidung anwendbare Klassifikation von Bewältigungsprozessen für verschiedene kritische Lebensbereiche entwickelt, die sie zunächst hinsichtlich der zeitlichen Orientierung (temporal orientation) differenziert haben (siehe Abbildung 2.7). Mit dem Terminus ‚Bewältigung‘ (Coping) definieren Lazarus und Folkman (1984, S. 141) einen Prozess, in dessen Verlauf sich die Verhaltensbemühungen ständig verändern, um jene externen und internen Anforderungen (ähnlich dem Selye’schen Stresskonzept und Bodenmanns Stress-Coping-Prozess-Modell) zu minimieren, die als belastend bewertet werden. Diese zeitliche Differenzierung begründen Lazarus und Launier (1981) damit, dass neue oder zukünftig absehbare Schädigungen (Bedrohungen) gewöhnlich andere Bewältigungsprozesse voraussetzen als bereits erlebte oder gegenwärtige negative Ereignisse, die als Verlust wahrgenommen wurden. Nach diesem Verständnis kann davon ausgegangen werden, dass interne und externe Anforderungen je nach zeitlicher Abfolge und je nach Erfahrungsgehalt unterschiedliche Bewältigungsprozesse voraussetzen und die Ausrichtung der Bewältigungsformen und Bewältigungsfähigkeiten verändern können. Aus dem Modell geht allerdings nicht hervor, ob in der zeitlichen Orientierung auch Kurzzeit- und Langzeitfolgen unterschieden werden. Das Stressbewältigungsmodell lässt allein auf eine ‚zeitliche Orientierung‘ in Form von bereits erlebten Ereignissen (Vergangenheit/ Gegenwart) und noch nicht eingetroffenen zukünftigen, wohl aber antizipierten Ereignissen schließen. Das Modell beinhaltet weiterhin die Dimensionen ‚instrumenteller Schwerpunkt‘ und ‚thematischer Charakter‘. Der instrumentelle Schwerpunkt umfasst in zeitlichem Zusammenhang (Vergangenheit/Gegenwart und Zukunft) eine problemzentrierte (problem-focused-coping) und eine
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2 Theoretische Erklärungsansätze
emotionszentrierte (emotion-focused-coping) Funktionsdimension (vgl. Lazarus und Folkman 1987).
Zeitliche Orientierung Vergangenheit/Gegenwart Funktion 1) Änderung der gestörten Transaktion (Instrumentell) Instrumenteller Schwerpunkt Selbst
Umwelt
Zukunft Funktion
Bewältigungsmodi:
2) Regulierung der Emotion (Palliation) Bewältigungsmodi:
a) b) c) d)
Informationssuche Direkte Aktion Aktionshemmung Intrapsychisch
a) b) c) d)
Informationssuche Direkte Aktion Aktionshemmung Intrapsychisch
a) b) c) d)
Informationssuche Direkte Aktion Aktionshemmung Intrapsychisch
a) b) c) d)
Informationssuche Direkte Aktion Aktionshemmung Intrapsychisch
(1) - (2)
BEW.MODI (a) (b) (c) (d)
(a) (b) (c) (d)
BEW.MODI (a) (b) (c) (d)
(a) (b) (c) (d)
Bedrohung Bewertung
Schädigung
Herausforderung Aufrechterhaltung
Thematischer Charakter
Überwinden, Tolerieren, Erholen, Neuinterpretation vergangener Ereignisse im gegenwärtigen Situationszusammenhang
Abbildung 2.7 Klassifizierung der Bewältigungsprozesse nach Lazarus und Launier. (Quelle: eigene Darstellung in Anlehnung an Lazarus und Launier (1981, S. 246))
Entscheidend bei der Funktion der Bewältigung ist, „[…] die stressende Person-Umwelt-Beziehung zu verändern [– in Bezug auf die Scheidung könnte sich diese Veränderung in der Reorganisation der eigenen Persönlichkeit und dem Weltbild äußern –] oder die emotionale Reaktion zu kontrollieren, die aus dieser Beziehung […] [resultiert]“ (Lazarus und Launier 1981, S. 248). Zwar unterscheiden sich die beiden Funktionsdimensionen in der Ausrichtung des Bewältigungsversuches, beide umfassen jedoch folgende vier Bewältigungsmodi (coping modes): Informationssuche, direkte Aktion, Aktionshemmung und
2.3 Das transaktionale Stressbewältigungsmodell nach Lazarus
31
intrapsychische Formen. Grundsätzlich können sich die verschiedenen Bewältigungsmodi entweder auf die Person oder auf die Umwelt richten oder beide gleichzeitig umfassen und die stressbelastende Situation minimieren oder positiv verändern (siehe Abbildung 2.7). Die Informationssuche (information seeking) stellt die Basis für eine Handlung zur Veränderung bzw. zur Verbesserung der gestörten Person-Umwelt-Beziehung dar, gleichzeitig kann sie aber auch eingesetzt werden, um das eigene Wohlergehen zu verbessern und zu stärken (vgl. Lazarus und Launier 1981, S. 252). Zudem kann sie dazu dienen, sich selbst oder die Umwelt zu ändern bzw. zu erneuern, um die kritische Situation zu meistern oder zu kontrollieren (vgl. ebd.). Die direkte Aktion – wie das Akzeptieren der Ehescheidung und die direkte Neustrukturierung der innerfamiliären Rollenverteilung – umfasst hingegen alle direkten Handlungen einer Person, die der Bewältigung der als Herausforderung empfundenen Situation dienen. Anzumerken ist hier, dass direkte Aktionen sowohl auf vergangene als auch auf zukünftige Stresssituationen gerichtet sein können (siehe Abbildung 2.7). Darüber hinaus kann die direkte Aktion als Bewältigungsform dazu beitragen, eine aktuelle Bedrohung durch Ablenkung oder Konzentration auf andere Lebensbereiche wie die Aufnahme einer Berufstätigkeit zu reduzieren. Auch kann sie vorbeugend auf eine zukunftsbezogene Bedrohung gerichtet sein (vgl. Lazarus und Launier 1981, S. 252). Vermutlich hat diese Bewältigungsform einen wesentlichen positiven Einfluss auf die Anpassung an die neue bzw. veränderte Lebenslage, insbesondere in Folge einer Scheidung. Je früher und effektiver das Problem durch direkte Aktionen bewältigt werden kann, desto schneller ist demnach eine Anpassung (Neuorientierung) an die Lebenssituation möglich. Durch die Aktionshemmung (inhibition of action) als Bewältigungsform ist das Individuum „[…] in der Lage, im Einklang mit situativen und intrapsychischen Gegebenheiten zu bleiben“ (Lazarus und Launier 1981, S. 253). Die intrapsychischen Bewältigungsformen „[…] schließen nicht nur Mechanismen der Selbsttäuschung oder Abwehrmechanismen wie Verleugnung, Projektion und Reaktionsbildung ein, sondern auch Vermeidung und Versuche der Distanzierung von einer Bedrohung [, wie bspw. im Falle einer Isolierung bei türkeistämmigen Frauen nach der Scheidung oder im Falle von Intellektualisierung und Untätigkeit], welche das Gefühl der subjektiven Kontrolle über die Bedrohung vermitteln“ (Lazarus 1990, S. 220). Diese Form der Bewältigung bezieht sich auf der emotionsregulatorischen Ebene auf das Wohlbefinden und Selbstwertgefühl der Person. Die Bewertungsformen werden im Kontext der zeitlichen Orientierung nach thematischem Charakter differenziert und umfassen neben der Überwindung und Tolerierung der Schädigung (Bedrohung) eine Erholungsphase sowie eine Neuinterpretation vergangener Ereignisse im gegenwärtigen
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2 Theoretische Erklärungsansätze
ituationszusammenhang (vergangene und gegenwärtige zeitliche Orientierung) S (siehe Abbildung 2.7). Der thematische Charakter einer zukünftigen Bewältigungsform bezieht sich hingegen auf präventive oder entwicklungsorientierte Prozesse, d. h., die Bewältigungsbemühungen des Individuums richten sich bei zukünftigen Einschätzungen einer Bedrohung und bei Herausforderungen infolge spezifischer belastender Situationen auf Maßnahmen zur Prävention und entwicklungsorientierte Prozesse (siehe Abbildung 2.7). Neben diesen Bewältigungsfunktionen ziehen Lazarus und Launier (1981, S. 250) drei weitere heran: ‚Erhaltung der eigenen Möglichkeiten‘, ‚Tolerieren und Ertragen von affektivem Distress‘ und das ‚Bewahren einer positiven Lebensmoral‘ (in Abbildung 2.7 nicht aufgeführt). Die Erhaltung der eigenen Möglichkeiten hebt das Verhalten der Individuen bei dysfunktionalen Bewältigungsstrategien hervor. Denn „[…] es ist nicht immer möglich, durch wirkungsvolles Handeln die äußeren Bedingungen zu ändern. Vielmehr erfordern die Gegebenheiten häufig, dass man sich aus einer belastenden Situation zurückzieht oder sie erträgt“ (Lazarus und Launier 1981, S. 250). Vor dem Hintergrund der Scheidung können dies z. B. Konflikte mit dem ehemaligen Partner in Bezug auf die Kindererziehung sein. Eine weitere Funktion stellt hier Tolerieren und Ertragen von affektivem Distress dar. „Affektiver Distress ist eine zentrale psychologische Form menschlichen Leidens […]“ (Lazarus und Launier 1981, S. 251). So können in Bezug auf die Scheidung z. B. Zukunfts- und Existenzängste, Depressionen und Schuldgefühle gegenüber Kindern zum Vorschein kommen. Entscheidend bei der Auseinandersetzung mit der stressenden Person-Umwelt-Beziehung ist, dass gezielt nach Möglichkeiten gesucht werden muss, um mit diesem affektiven Distress umzugehen, ihn auszuhalten, zu tolerieren und trotz der Schwere der Belastung noch handlungsfähig zu bleiben (vgl. ebd.). Die Bewahrung einer positiven Lebenslage erfordert die Suche nach möglichen Bewältigungsstrategien, auch wenn bereits eingeführte Bewältigungsformen fehlgeschlagen sind. Es kann Betroffenen je nach Ausmaß und Intensität des Stressors (scheidungsbedingte Schwierigkeiten) und aufgrund unzureichender Ressourcen schwer fallen, eine positive Lebenslage zu bewahren, denn oft ist diese Phase eng verbunden mit Selbstzweifeln und dem Gefühl des Scheiterns. Lazarus und Launier (1981, S. 251) konstatieren, dass es von großer Bedeutung ist, eine dysfunktionale Bewältigungsstrategie nicht direkt als persönliches Versagen oder als Niederlage zu definieren. Aufgrund des hohen gesellschaftlichen Druckes bzw. der teilweise negativen gesellschaftlichen Haltung gegenüber Geschiedenen dürfte dies gerade türkeistämmigen Frauen zweifellos schwer fallen.
2.3 Das transaktionale Stressbewältigungsmodell nach Lazarus
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2.3.3 Die Wahl der Bewältigungsformen Die subjektive Wahl der Bewältigungsstrategien – auch in Bezug auf die Bewältigung der Scheidungsfolgen – kann von zahlreichen Faktoren abhängen, oft liegt sie aber im situativen Kontext begründet (vgl. Lazarus und Launier 1981, S. 255). Je nach Situation muss also eine geeignete Wahl getroffen werden, um die gestörte Transaktion bzw. das Ungleichgewicht wiederherzustellen und sich aus der ungewünschten und als unangenehm interpretierten Lebenslage zu lösen. Lazarus und Launier (1981, S. 256) weisen darauf hin, dass gewisse Umweltanforderungen das Verhalten und parallel dazu auch die Wahl der Bewältigungsformen bestimmen können, und ergänzen, dass verschiedene Individuen und Gruppen bei gleichen oder ähnlichen Umweltkonfigurationen unterschiedliche Reaktionen zeigen können. Grundsätzlich kann in Anlehnung an Lazarus und Launier (1981) zwischen vier Faktoren unterschieden werden, die unter Einbezug der kognitiven Bewertung wesentlichen Einfluss auf die Bewältigungsmodi (siehe Abbildung 2.7) nehmen können: (1) Grad der Ungewissheit, (2) Grad der Bedrohung, (3) Vorliegen eines Konfliktes und (4) Grad der Hilfslosigkeit. Werden Individuen mit komplexen Herausforderungen konfrontiert, deren Konsequenzen, aber auch mögliche Bewältigungsstrategien ihnen unklar sind, steigt die Ungewissheit und eine direkte Aktion scheint unmöglich. „Ein hoher Grad an Ungewissheit (oder Mehrdeutigkeit) […] [führt folglich zunächst] verstärkt zur Informationssuche, deren Scheitern wiederum intrapsychische Bewältigungsformen wie bspw. Leugnen der Situation anregen dürfte“ (ebd., S. 256 f.). Als weiterer Faktor für die Wahl der Bewältigungsform kann die bewertete Bedrohung in Bezug auf die Scheidung bei türkeistämmigen Frauen die materielle Existenz, eine negative Grundhaltung des Umfeldes in Form von Diskriminierung und Stigmatisierung, aber auch verbale und sexuelle Belästigungen von Männern im nahen und fernen Umfeld betreffen. Nicht selten können in dieser Phase negative Emotionen wie Angstzustände und Panikattacken auftreten, die die Bewältigungsentscheidung erschweren und mitunter falsche Bewältigungsentscheidungen – wie die Flucht in eine neue und ungewollte, aber dennoch als Schutzschirm erachtete Ehe – zur Folge haben. Je höher der Grad der bewerteten Bedrohung ist, desto eher scheint dies zu verzweifelten Bewältigungsstrategien zu führen (vgl. ebd., S. 257). Auch das Vorliegen eines Konfliktes – bei türkeistämmigen Frauen in Scheidungssituationen z. B. Unstimmigkeiten mit der eigenen Familie – kann eine Bewältigung erschweren, zumal eine Lösung unter solchen Bedingungen oft mit weiteren Problemen verbunden ist, wodurch sich bereits bestehende
34
2 Theoretische Erklärungsansätze
Situationen erneut negativ verändern können. Darüber hinaus steigt mit dem Konfliktpotenzial auch der psychische Stress (siehe hierzu auch Bodenmann 2005), was zur Folge hat, dass eine direkte Aktion nicht gewählt werden kann und die Betroffenen stärker auf intrapsychische Bewältigungsformen zurückgreifen müssen (vgl. ebd.). Die Hilflosigkeit als weitere Determinante ist oft das Resultat einer bereits eingetretenen Schädigung bzw. eines Verlustes oder einer unvermeidbar scheinenden zukünftigen Schädigung, was sich vor allem bei Heiratsmigrantinnen darin äußern kann, dass sie aufgrund fehlender Sprachkenntnisse, Orientierungslosigkeit in einem fremden Land und der räumlichen Trennung von den Eltern (Trennungsschmerz) nicht mit der Ehescheidung und den damit einhergehenden Schwierigkeiten fertig werden. Unter solchen Bedingungen kann eine direkte Aktion (sekundäre Bewertung) zur Verhinderung bzw. zur Minimierung der Stresssituation nicht herangezogen werden, die Situation kann vielmehr nur akzeptiert, toleriert oder neu interpretiert werden (vgl. Lazarus und Launier 1981, S. 257). In diesem Kontext weisen Lazarus und Launier (1981, S. 257 f.) mit Rekurs auf Beck (1967, 1976) darauf hin, dass zwischen Hilflosigkeit und Hoffnungslosigkeit eine sehr schmale Linie besteht – wenn man bspw. erfolglos versucht, aus einer unerwünschten und stressbeladenen neuen Lebenssituation in Folge der Ehescheidung herauszukommen – und Hilflosigkeit in Hoffnungslosigkeit übergehen kann, was häufig psychische und gesundheitliche Probleme nach sich zieht. Neben Umweltmerkmalen wie Anforderungen, Zwängen und Möglichkeiten können auch Persönlichkeitsmerkmale wie verdrängte neurotische Wunschvorstellungen, spezielle Grundeinstellungen sowie falsche Schlussfolgerungen die Bewältigungsprozesse beeinflussen (vgl. Lazarus und Launier 1981, S. 258). Es ist anzunehmen, dass sich viele türkeistämmige Frauen aufgrund ihrer Überzeugungen oder ihres Glaubens selbst im Weg stehen oder dass sie sich stark von der Umwelt, den Werten und Normen der eigenen Kultur sowie von Angehörigen aus dem Herkunftsland beeinflussen lassen. So könnte ihnen die Überwindung ihrer Lebenslage trotz aller Bewältigungsversuche unmöglich werden oder sie gehen zunächst von einer Überwindung aus, bis erneut belastende Ereignisse in den Vordergrund rücken. Eine nicht erfolgreiche Bewältigung aufgrund unverarbeiteter Rückstände (nicht verarbeitete scheidungsbedingte Folgen und Schwierigkeiten) kann nach Lazarus und Launier (1981, S. 254; mit Rekurs auf Erikson 1950, 1963) zur Beeinträchtigung späterer Anpassungsbemühungen führen. Somit ist nicht die Wahl der Bewältigungsform alleine, sondern vielmehr ihre Effektivität und das daraus hervorgehende Resultat ausschlaggebend für die abschließende Bewältigung und eine Anpassung an die neue Lebenssituation.
2.4 Zusammenfassung
35
2.4 Zusammenfassung Der Individualisierungsansatz von Beck liefert eine fruchtbare Grundlage für das Verständnis des Wandels der (türkeistämmigen) Familien in Deutschland, des Bedeutungswandels der Ehe, der Emanzipationsbestrebungen der (türkeistämmigen) Frauen, der Mechanismen der Ehescheidung sowie einen erweiterten Rahmen für die hier herangezogenen Stress-Scheidungstheorien. Der Ansatz verdeutlicht, dass der Modernisierungsprozess nicht nur zur Veränderung der Lebenslagen und zur Funktionsverschiebung der Geschlechterrollen und der Ehe beigetragen hat, sondern auch zur Beschleunigung der Lebenssituationen und somit zu einem veränderten Verständnis von Stress. Ausgangspunkt ist die Enttraditionalisierung des Lebens in der Postmoderne, die u. a. zu einer verstärkten Individualisierung führt. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, inwieweit türkeistämmige Frauen in Deutschland an diesem Modernisierungsund Individualisierungsprozess partizipieren. Hiermit hat sich eine Reihe von Studien beschäftigt, deren Ergebnisse in die folgenden Kapitel eingegangen sind. Weiterhin steht infrage, ob und inwiefern sich türkeistämmige Frauen in den von Bodenmann herausgearbeiteten Scheidungsursachen je nach Sozialisationserfahrung unterscheiden. Bodenmann geht in seinem Stress-Scheidungs-Modell davon aus, dass nicht nur veränderte Persönlichkeitseigenschaften im Kontext des sozialen Wandels, sondern vielmehr das Zusammenspiel mehrerer Stressoren und fehlende dyadische Bewältigungsstrategien einen destabilisierenden Einfluss auf die Partnerschaftsqualität und -stabilität haben. Entscheidend ist hierbei, wie ein Stressor subjektiv oder auf dyadischer Ebene eingeschätzt wird, d. h., welche Bedeutung diesem Aspekt auf individueller oder dyadischer Ebene beigemessen wird und welche Stresssignale vom Partner erkannt und berücksichtigt werden. Lazarus und Folkmann (1984) gehen in ihrer transaktionalen Stresstheorie, deren Schwerpunkt auf der individuellen Bedeutung von Stress und Stressbewältigung liegt, davon aus, dass die Wahl der Bewältigungsstrategie und der Verarbeitungsprozess mit der kognitiven Bewertung (emotionales Wohlbefinden) des Stressors ebenso wie mit den verfügbaren Bewältigungsfähigkeiten und -möglichkeiten der Betroffenen zusammenhängen. Der Stressbewältigungsprozess setzt sich in der Stress-Scheidungs-Theorie von Bodenmann ebenso wie in der transaktionalen Stresstheorie von Lazarus und Folkmann aus mehreren Bewertungsphasen zusammen – von der Relevanz des Stresses und dem Einfluss auf das Wohlbefinden bis zur Bewertung der verfügbaren Bewältigungsmöglichkeiten und -fähigkeiten –, die sich in ihren Grundüberlegungen überschneiden bzw. ergänzen. Zudem gelangen Bodenmann und Lazarus zu
36
2 Theoretische Erklärungsansätze
der Erkenntnis, dass die Bewältigung eines (kritischen) Ereignisses nicht nur vom Individuum (persönliche Ressourcen) selbst, sondern auch von äußeren Faktoren wie Umweltanforderungen und sozialen Ressourcen abhängt. Durch die Berücksichtigung dyadischer Bewältigungsstrategien stellt Bodenmanns Ansatz eine systematische Erweiterung des transaktionalen Stressbewältigungsmodells von Lazarus und Folkman (1984, 1987) dar. Im Unterschied zu Bodenmann nimmt Lazarus aber im Hinblick auf die individuelle Bedeutung von Stress und Stressbewältigung sowie die Wahl der Bewältigungsprozesse nicht nur eine Differenzierung bezüglich der kognitiven Einschätzung, sondern auch eine Differenzierung hinsichtlich der zeitlichen Abfolge und des Erfahrungsgehaltes vor. Gemeinsam betonen beide Theorien die Bedeutung von Opportunitäten auf individueller Ebene (bei Bodenmann auch auf dyadischer Ebene), ohne die eine Bewältigung eines kritischen Lebensereignisses wie der Ehescheidung und die Anpassung an die neue Lebenswelt nicht vollzogen werden können.
3
Forschungsstand
Vor dem Hintergrund der dargestellten theoretischen Erklärungsansätze von Bodenmann und Lazarus werden nachstehend das Scheidungsverhalten und die damit einhergehenden Folgen und Bewältigungsbestrebungen türkeistämmiger Frauen näher beleuchtet. Um migrationsspezifische Herausforderungen und zugleich die mit der Ehescheidung verbundenen Veränderungen zu verstehen, wird auf der Basis der Beck’schen Individualisierungsthese zunächst die Entwicklung der Lebenssituation türkischer/türkeistämmiger Frauen in der Türkei und in Deutschland – von veränderten Familienverhältnissen über Funktionsverschiebungen der Geschlechterrollen und die Partnerwahlentscheidung bis hin zur Ehescheidung – erörtert. Die hier erstellte Übersicht erhebt aufgrund der Fülle existierender Studien keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit. Ihr Zweck besteht vielmehr darin, verschiedene Perspektiven auf die genannten Themenbereiche herauszuarbeiten und voneinander abzugrenzen. Auf einen Exkurs zur Gastarbeiterperiode wurde dabei verzichtet; dies würde den Umfang der Arbeit sprengen. Abschnitt 3.1 befasst sich, gestützt auf empirische Studien und in der einschlägigen Literatur thematisierte gesellschaftliche Entwicklungstendenzen (vgl. Tekeli 1991, S. 27), mit der Lebenssituation der Frauen in der Türkei und mit der auch dort im Wandel befindlichen Bedeutung von Ehe und Ehescheidung. Es nimmt seinen Ausgang bei der Reformpolitik Mustafa Kemal Atatürks1, die eine
1Mustafa
Kemal, von seinem Volk ‚Atatürk‘ (Vater der Türken) gennant, wurde zum ersten Staatspräsidenten der Türkei ernannt.
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 T. Mollenhauer, Eheliche Partnerschaftsverläufe und -abbrüche bei türkeistämmigen Frauen in Deutschland, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30940-4_3
37
38
3 Forschungsstand
Wende in der türkischen Geschichte und einen Umbruch in der Lebenssituation türkischer Frauen in der Türkei einleitete. Dieser Umbruch wird hier als Schlüssel zum Verständnis der heutigen Situation türkeistämmiger Frauen in Deutschland gesehen. Sowohl die gegenwärtige Lebenssituation der Familien bzw. Frauen in der Türkei als auch die Situation mittlerweile in Deutschland lebender Frauen vor ihrer Migration wirken auf die Haltungen und Einstellungen türkeistämmiger Zuwanderer in Deutschland ein. Viele Migranten orientieren sich nach wie vor – nicht zuletzt aufgrund bestehender familiärer Bindungen – an den Werten und Normen der Herkunftsgesellschaft und geben diese auch an die Nachfolgegeneration, deren Sozialisation2 überwiegend in Deutschland erfolgt, weiter. Abschnitt 3.2 adressiert sodann die Lebenssituation türkeistämmiger Familien in Deutschland, insbesondere die der türkeistämmigen Frauen – angefangen beim Wandel der Familien- und Geschlechterrollenverhältnisse bis hin zum Wandel der Partnerwahlentscheidung und des Heiratsverhaltens. In Abschnitt 3.3 stehen schließlich der Wandel von Scheidungsursachen und Scheidungsfolgen im Allgemeinen sowie Partnerschaftsabbrüche spezifisch bei türkeistämmigen Frauen im Fokus.
3.1 Die Rolle der Frauen in der Türkei Nach dem Zerfall des Osmanischen Reiches und der Republikgründung durch Mustafa Kemal Atatürk erfolgte Mitte des 19. Jahrhunderts eine erste Reform durch eine weltliche Gesetzgebung, die den Prozess der Säkularisierung, der Verweltlichung des Staatssystems, einleitete (vgl. Acet 2008, S. 15). Doch Atatürks Bestreben, die Türkei nach Vorlage des Bürgerlichen Zivilgesetzbuchs der Schweiz zu modernisieren und außerhalb von „Religionseinflüssen zu einem
2Die
vorliegende Arbeit stützt sich auf den Sozialisationsbegriff von Hurrelmann (2006). Nach Hurrelmann (2006, S. 15 f.) ist Sozialisation ein „[…] Prozess, in dessen Verlauf sich der mit einer biologischen Ausstattung versehene menschliche Organismus zu einer sozial handlungsfähigen Persönlichkeit bildet, die sich über den Lebenslauf hinweg in Auseinandersetzung mit den Lebensbedingungen weiterentwickelt. Sozialisation ist die lebenslange Aneignung von und Auseinandersetzung mit den natürlichen Anlagen, insbesondere den körperlichen und psychischen Grundmerkmalen, die für den Menschen die ‚innere Realität‘ bilden, und der sozialen und physikalischen Umwelt, die für den Menschen die ‚äußere Realität‘ bilden“.
3.1 Die Rolle der Frauen in der Türkei
39
laizistischen3 Staat zu gestalten“ (vgl. Hirsch 1974, S. 106), fand lange keine Akzeptanz unter der noch stark religiös und traditionell geprägten türkischen Mehrheitsbevölkerung. So konnte sich der gesetzliche Umstrukturierungsprozess (die Revolution und Modernisierung von oben), nur über einen langen Zeitraum vollziehen. Der Widerstand der Mehrheitsbevölkerung gegen die kemalistischen Reformen führte zu einer Diskrepanz zwischen den Schichten und Regionen und somit zu einer sehr heterogenen demografischen und sozio-ökonomischen Entwicklung der Türkei (vgl. El-Menouar und Fritz 2009). So finden sich auch heute noch wesentliche Ungleichheiten zwischen den verschiedenen Regionen (Ostund Westtürkei, Stadt-Land)4, die in erheblichem Maße auch die Situation der Frauen betreffen.
3.1.1 Türkische Frauen vor der Migration: zwischen weiblichen Emanzipationsbestrebungen des kemalistischen Modernisierungsprozesses und Tradition Die Stellung der Frau hat zwar durch die Einführung des Zivilgesetzbuches, das die geltenden islamischen5 Regeln zurückdrängte und den Frauen auf juristischer Ebene mehr Rechte zusprach6, mehr Anerkennung erhalten (vgl. Acet
3Der
Ausdruck ‚Laizismus‘, im türkischen ‚Layiklik‘, bezeichnet die Trennung von Religion und Staat (siehe hierzu ausführlicher Hirsch 1974). 4Nach El-Menouar und Fritz (2009, S. 559) haben neben der sozioökonomischen Entwicklung auch spezifische Kontexteffekte wie die ethnische Zusammensetzung einer Region oder die dort herrschenden Machtverhältnisse Einfluss auf das Leben der Bevölkerung und ihren Wertehorizont. 5In der türkischen Gesellschaft dominiert die Glaubensrichtung der Sunniten, gefolgt von den Aleviten. 6Insbesondere im Sorge- und Erbrecht sowie im Bereich der Eheschließung und Scheidung wurde eine rechtliche Gleichstellung der Geschlechter angestrebt, wonach ein Beschluss nur Gültigkeit besitzt, wenn beide Eheleute anwesend sind (vgl. Acet 2008, S. 19). Zudem wurde das öffentliche Verbot des Schleiers eingeführt, der für Atatürk die Unterdrückung der Frau symbolisiert (vgl. ebd.). Anfang der 1930er Jahre erhielten die Frauen offiziell das Wahlrecht, das ihnen bis zu diesem Zeitraum verwehrt wurde.
40
3 Forschungsstand
2008, S. 19), doch fand die egalitäre Gesetzgebung zunächst keinen Zugang zu Frauen in städtischen Unterschichten oder ländlichen Regionen. Selbst innerhalb städtischer Eliten erforderte der Umsetzungsprozess eine lange Zeit (vgl. Süzen 2003, S. 21). Atatürks Bestreben, den „[…] gesellschaftlichen Status der türkischen Frauen radikal zu verändern und aus ihnen verantwortungsbewusste Staatsbürgerinnen zu machen“ (Abadan-Unat 1985, S. 13), mündete in einem Nebeneinander unterschiedlicher Lebensstile innerhalb der Türkei. Während einige Frauen noch heute sehr traditionell und an den vorherrschenden Normen und Werten orientiert leben, haben sich andere davon emanzipiert und versuchen, ihr Leben selbstbestimmt – im Rahmen der von der Gesellschaft gewährten Möglichkeiten – zu gestalten, was sich u. a. auch in ihrer Handlungsfreiheit und Bildungsbeteiligung widerspiegelt. Beginnend mit dem Inkrafttreten der kostenfreien gesetzlichen Schulpflicht im Jahre 1924 und der Abschaffung des arabischen Alphabets (vgl. Ergöçmen 1997; Tongul 2004) hat sich die Bildungsbeteiligung, auch die der Frauen, in den letzten Jahrzehnten deutlich erhöht – dies zeigt auch ein stetiger Rückgang der Analphabeten-Rate: Während im Jahr 2000 noch 6 % der Männer und 19 % der Frauen Analphabeten waren, lagen die Werte 2008 bei 3,3 % (Männer) und 13,1 % (Frauen). Im Jahr 2014 waren lediglich 1,3 % der Männer und 6,4 % der Frauen Analphabeten (vgl. TÜIK 2008–2014). Auch im Hinblick auf die Bildungsbeteiligung wird im Zeitraum zwischen 1975 und 2008 deutlich, dass Frauen vermehrt nach Bildung streben (siehe Abbildung 3.1). Die Befunde zeigen geschlechterunspezifisch eine geringe Abnahme der Grundschulabsolventen; parallel dazu aber einen Anstieg der Sekundar- und Hochschulabsolventen bei Frauen und Männern. Im Jahre 2008 lag der Anteil der Sekundarschulabsolventen bei Männern (22 %) etwas höher als bei den Frauen (18 %). Bei der Betrachtung der Hochschulabsolventen zeichnet sich ein ähnliches Bild ab: Während 10 % der Frauen im Jahre 2008 über einen Hochschulabschluss verfügten, lag der Anteil der Männer bei 14 %. Insgesamt deuten die Befunde in Abbildung 3.1 auf eine schwache Ausprägung geschlechterspezifischer Unterschiede im Bildungssystem hin, zeigen gleichzeitig aber ein etwas niedrigeres Bildungsniveau der Frauen auf. Neben hochqualifizierten Frauen finden sich in der Türkei weiterhin viele Analphabetinnen.
3.1 Die Rolle der Frauen in der Türkei
100 90
5 9
9 10
8 12
9
13
80
12 18
41
14
2 9
5 11
4 11
5 11
8 14
10 18
22
70 60 50 40
86
81
80
78
89 70
30
84
85
64
83
78
72
20 10 0 1975 1980 1985 1990 2000 2008 Grundschule
1975 1980 1985 1990 2000 2008
Sekundarschule
Hochschule
Abbildung 3.1 Bildungsbeteiligung (Bezogen auf das Bildungsniveau der Bevölkerung) von 1975 bis 2008. (Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an die Auswertungen des HÜNEE (2008) unter Bezugnahme auf TÜIK (2010a, 2010b))
Auch wenn der gesellschaftliche Wandel zur Abschwächung traditioneller Werte und zur Übernahme fortschrittlicher Normen besonders in den Städten geführt hat, lassen sich in vielen Lebensbereichen weiterhin Einschränkungen und gesellschaftliche Benachteiligungen beobachten7, darunter auch häusliche Gewalt gegen Frauen. Sowohl die Gewalterfahrungen selbst als auch der Umgang mit derartigen Erlebnissen spielen, wie sich im empirischen Teil dieser Arbeit noch zeigen wird, im Kontext der Scheidung bei türkeistämmigen Migrantinnen eine nicht zu vernachlässigende Rolle. Begründet durch den Status der Ehe, der Außenstehenden eine Einmischung verbietet, galt auch häusliche
7Berktay
(2012) zeigt in ihrer vergleichenden Analyse zur Stellung der Frauen im Christentum und Islam, dass gesellschaftliche Benachteiligungen und Diskriminierung von Frauen nicht ausschließlich auf den Islam zu reduzieren sind, sondern dass Frauen in allen Gesellschaften damit konfrontiert sind.
42
3 Forschungsstand
Gewalt lange Zeit als innerfamiliäre Angelegenheit8 – eine Sichtweise, die heute noch in einigen Regionen der Türkei (zum Teil auch bei Türkeistämmigen in Deutschland) vertreten ist. Die (jüngsten) Ereignisse in der Türkei haben jedoch immer mehr Bewegung in die – trotz der seit den 1980er Jahren in der Türkei wachsenden Frauenbewegung – bislang ignorante gesellschaftliche Haltung gebracht und das Bewusstsein der Frauen (aber auch einiger Männer) gestärkt, gegen diese patriarchalischen Strukturen und Unterdrückungen anzukämpfen9. Obwohl Gewalt gegen Frauen in den letzten Jahren stärker in den öffentlichen Diskurs gerückt ist, fehlt es auf staatlicher Ebene nach wie vor an intensiven Maßnahmen zum Schutz der körperlichen Unversehrtheit von Frauen sowie an der stärkeren Etablierung von Beratungsstellen und Einrichtungen. Auch der Nationale Aktionsplan Kadına yönelik Aile içi Şiddetle Mücadele Ulusal Eylem Planı 2012–2015, der am 08. März 2012 in Kraft trat und einen Riegel vor die zunehmende Gewalt gegen Frauen setzen soll, konnte erst in Ansätzen umgesetzt werden. Allgemein wird zwar von einem systematischen Anstieg der Gewalt gegen Frauen ausgegangen, es ist jedoch anzunehmen, dass die Zahl der Gewaltdelikte in den letzten Jahren nicht zwangsläufig angestiegen ist, sondern dass das Thema durch vermehrte Anzeigen und die öffentliche Thematisierung auch auf wissenschaftlicher Ebene an Bedeutung gewonnen hat. Die Ergebnisse der ersten repräsentativen Untersuchung zur häuslichen Gewalt (vgl. HÜNEE 2009a; siehe Abbildung 3.2) zeigen, dass 4 von 10 Frauen in der Türkei einmal in ihrem Leben körperlicher Gewalt ausgesetzt waren. Zudem erfuhren 10 % der Frauen innerhalb der letzten 12 Monate körperliche Gewalt10. Getrennt nach Regionen hat die
8Daher
das Sprichwort: Karı koca arasına girilmez (sinngemäß: in das Eheleben der Paare sollte sich niemand einmischen). 9So haben mediale Berichterstattungen und eine zunehmende Thematisierung von (nach-) ehelicher Gewalt gegen Frauen in türkischen Filmen und Serien den Diskurs verstärkt an die Öffentlichkeit getragen, um die Betroffenen von der gesellschaftlich auferlegten Schuld zu befreien; zudem wurde die Plattfrom Wir werden die Frauenermordungen stoppen mit dem Slogan Asla yalnız yürümeyeceksin (sinngemäß: du wirst niemals alleine diesen Weg gehen) durch diverse Frauenbewegungen etabliert. 10Dieselbe
Studie kam zu dem Ergebnis, dass die Gewalterfahrungen der Frauen altersspezifisch und je nach Bildungsstand und Milieuzugehörigkeit stark variieren (vgl. hierzu HÜNEE 2009a, S. 9 ff.).
3.1 Die Rolle der Frauen in der Türkei
43
Mehrheit (53 %) der in Nordostanatolien lebenden Frauen mindestens einmal in ihrem Leben körperliche Gewalt erlebt, ähnliche Zahlen ergeben sich für Frauen aus Zentral- (50 %) und Südanatolien (48 %). Ein Blick auf die letzten 12 Monate zeigt ein ähnliches Bild: Vor allem Frauen aus Süd- (19 %), Nordost- (18 %) und Mittelostanatolien (15 %) gaben an, in diesem Zeitraum körperliche Gewalt durch ihre Ehe- oder Lebenspartner erlebt zu haben. Frauen aus der Ägäis (5 %) und der Marmara-Region (6 %) wurden hingegen selten Opfer körperlicher Gewalt. Ein Vergleich zwischen Frauen aus ländlichen Regionen und Frauen aus städtischen Regionen zeigt außerdem, dass Erstere – nur mit Blick auf die gesamte Lebensphase – etwas häufiger (43 %) Opfer körperlicher Gewalt wurden als Letztere (38 %).
Innerhalb der Lebensphase 60
40
42
37
47 48
43
42
43
38
36
38
39
31
30
25
20 10
53
50
50
In den letzten 12 Monaten
8
12 12 6
5
7
18
13
8
7
15
19 10
10
10
0
Abbildung 3.2 Anteil der Frauen in der Türkei, die körperliche Gewalt durch ihre Eheoder Lebenspartner erlebt haben, 2008 (Angaben in gültigen %). (Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an HÜNEE (2009a))
Anzumerken ist hier, dass Gewalt gegen Frauen nicht nur durch ihre Ehemänner, Lebenspartner oder andere Familienmitglieder (oft auch Frauen) erfolgt, sondern auch durch unbekannte oder bekannte Männer im Umfeld der Frauen. Es kann davon ausgegangen werden, dass gerade Letzteres aufgrund des Schamgefühls und der Angst vor Verstoßung durch die Familie oder den Ehemann
44
3 Forschungsstand
v erheimlicht sowie nicht angezeigt wird. Dementsprechend nehmen viele Frauen auch keine institutionelle Hilfe in Anspruch. Auch in der oben benannten Studie gaben beinahe alle von häuslicher Gewalt betroffenen Frauen (92 %) an, Gewalttaten ihres Mannes nicht gemeldet zu haben, was zugleich verdeutlicht, dass Gewalt in der Ehe vielfach noch immer lange Zeit geduldet wird. Nur jeweils 4 % der Betroffenen haben eine Anzeige bei der Polizei oder beim Staatsanwalt erstattet (vgl. HÜNEE 2009a, S. 23 f.). Nur 1 % der Frauen hat eine Fraueneinrichtung aufgesucht. Darüber hinaus ergab die Studie, dass fast die Hälfte (49 %) der Frauen mit niemandem über ihre Gewalterfahrungen sprach, etwa ein Drittel (34 %) das Erlebte zuerst der eigenen Familie erzählte und weitere 12 % nur die erweiterte Familie in Kenntnis setzten. Nur jede 5. Frau wählte als Gesprächspartner den Freundeskreis oder Nachbarn (vgl. ebd., S. 22). Insgesamt stellt Gewalt gegen Frauen ein weitverbreitetes Phänomen in der Türkei dar. Wenngleich das Fehlen evidenter Daten eindeutige Aussagen erschwert, ist anzunehmen, dass vor allem die zunehmenden Anzeigen und ein selbstbewussteres Auftreten der Frauen verantwortlich sind für das Herauskristallisieren der (schon früher) großen Anzahl weiblicher Gewaltopfer.
3.1.2 Die gegenwärtigen Geschlechterverhältnisse in der Türkei Um die gegenwärtigen Geschlechterverhältnisse in der (türkischen) Migrantenbevölkerung in Deutschland zu verstehen, bedarf es einer Berücksichtigung sowohl der strukturellen Bedingungen und Merkmale als auch der unterschiedlichen Beziehungsformen und Machtverhältnisse zwischen den Geschlechtern im Herkunftsland (vgl. Süzen 2003, S. 22; HerwartzEmden 2000, S. 29). In der türkischen Familie beginnt die Sozialisation der Geschlechterrollen bereits vor der Geburt des Kindes, denn werdende Eltern neigen oft dazu, männliche Nachkommen vorzuziehen, da je nach Geschlecht unterschiedliche Erwartungen und Werte gelten: Während die Erwartungen an Töchter mit einer Eheschließung und dem Verlassen des Elternhauses sinken, werden Söhne weiterhin als zukünftige Unterstützung und Absicherung für das Wohlergehen der Eltern im Alter betrachtet (vgl. Kağıtçıbaşı und Sunar 1997, S. 146).
3.1 Die Rolle der Frauen in der Türkei
45
Zudem ist das Ausmaß der Geschlechtertrennung und die Rangordnung der Geschlechter auf das Konzept der Familienehre ‚Namus‘ und ‚Şeref‘11 zurückzuführen, das bei Frauen eine stärkere Gewichtung hat, da vor allem die Reinheit und Jungfräulichkeit der Frau den Status der Familie in der Gesellschaft prägt. Entsprechend kann davon ausgegangen werden, dass junge Mädchen und Frauen im Vergleich zu Männern größere Anstrengungen unternehmen, auf ihr Verhalten in der Öffentlichkeit achtzugeben, was aber nicht bedeutet, dass sie nur nach den Wünschen und moralischen Vorstellungen der Eltern und der Gesellschaft handeln. Vielmehr handelt es sich um einen automatisierten Prozess, der ihnen oft nicht bewusst ist, der durch die verinnerlichten Werte und Normen aber unbewusst Einfluss nimmt auf ihr Verhalten – von der Partnerwahlentscheidung über das Eheleben und den Umgang mit ehelichen Problemen (die schließlich zu Scheidungsgründen werden können) bis hin zum Umgang mit einer etwaigen Trennung. Während die Frau als Trägerin der Familienehre gesehen wird, ist der Mann Hüter der Ehre12 (vgl. Ottens 1998, S. 107). Die für Mädchen geltenden Einschränkungen und Tabus werden mit zunehmendem Alter verstärkt durch die männlichen Familienmitglieder (bspw. Vater oder Bruder), aber auch durch das weitere soziale Umfeld (vgl. Steinhilber 1994) kontrolliert. Payandeh (2002, S. 149) geht in diesem Zusammenhang davon aus, dass der Status der Mädchen und Frauen innerhalb der türkischen Gesellschaft trotzt der hohen Bedeutung für die Familienehre sehr niedrig ist und erst mit zunehmendem Alter und vor allem mit der Geburt eines Sohnes eine sozial höhere Rangstellung eingenommen wird. Allerdings dürfte auch das Bildungsniveau einen wesentlichen Beitrag zu einem höheren gesellschaftlichen Status von Frauen leisten. Zu bedenken ist außerdem,
11Die
Begriffe ‚Namus‘ (Ehrgefühl) und ‚Şeref‘ (Wertschätzung, Ansehen) besitzen keine statische Gültigkeit, sondern ihr Bedeutungsgehalt wechselt je nach Ort und steht der Interprationen offen (vgl. Yalçın-Heckmann 2000, S. 143). Beiden Begriffen gemein ist, dass sie einer gesellschaftlichen Bewertung unterliegen und sich gegenseitig voraussetzen. Gleichwohl sie sich ähneln, sind sie inhaltlich nicht gleichzusetzen: Şeref ist im Gegensatz zu Namus entkoppelt vom Geschlecht, ein Wert, der durch hohes soziales Kapital erworben werden kann, während Namus nur verloren werden kann (vgl. Schiffauer 1983, S. 70). Namus wird oft direkt mit dem Verhalten bzw. Missverhalten der Frau in Verbindung gebracht: „So definiert sich die Ehre eines Mannes im Wesentlichen über die Ehre der ihm anvertrauten Frauen […]“ (Schiffauer, S. 74). Zur weiteren Abgrenzung der Konzepte siehe Schiffauer (1983, S. 65 ff.) sowie Yalçın-Heckmann (2000, S. 149 ff.). 12Der Ausdruck ‚Ehre‘ wird individuell und je nach Region und Milieu differenziert interpretiert.
46
3 Forschungsstand
dass unter bestimmten Umständen, z. B. im Falle einer Scheidung, auch der Verlust einer einst erworbenen hohen sozialen Stellung droht. Die der Frau von der Gesellschaft zugeschriebene Rolle13 wird heute nicht mehr von allen Frauen unhinterfragt akzeptiert. Es ist anzunehmen, dass Frauen – dies verdeutlichen auch zum Teil die Ergebnisse zur Bildungsbeteiligung (siehe oben) – nicht mehr ausschließlich auf die Mutterrolle reduziert werden können, die Aufgabe der Kindererziehung heute, wenn auch nicht so ausgeprägt wie in anderen Gesellschaften, also durch beide Elternteile erfolgt. Auch wenn die Frauen teilweise weiterhin primär dem Innenbereich der Familie zugeordnet werden und verschiedene Formen der geschlechtlichen Arbeitsteilung vorherrschen (vgl. Birsl et al. 1999, S. 28), sind Veränderungen in den Geschlechterverhältnissen zu verzeichnen, die u. a. auf die Zunahme der Mittelschicht und die zunehmende Berufstätigkeit der Frauen zurückgeführt werden können (vgl. Acet 2008, S. 25). So ist zu vermuten, dass die Erziehung von Mädchen gerade in städtischen Regionen und Großstädten heutzutage weniger traditionellen Regeln folgt. Aufgrund des Nebeneinanders von ländlichen und städtischen Lebenskontexten kann jedoch nicht von einer grundlegenden Umstrukturierung der Geschlechterverhältnisse in der heutigen Türkei gesprochen werden, sondern vielmehr, wie schon Tekeli (1991) formulierte, von ‚Geschlechterverhältnissen im Plural‘ (vgl. hierzu auch Birsl et al. 1999).
3.1.3 Die gesellschaftliche Bedeutung und der Wandel von Familie und Ehe Die Institutionen Ehe und Familie14 haben in der türkischen Gesellschaft einen hohen Stellenwert und sind die existentielle Basis der Individuen (vgl. HerwartzEmden 1995, S. 45). Neben arrangierten Ehen – sogenannten ‚görücü‘-Ehen – sind
13Zu
den Einstellungen der Frauen – sowohl verheiratete als auch ledige – in Bezug auf die gesellschaftlichen Geschlechterrollen siehe ausführlicher HÜNEE (2009a, S. 16 f.). 14Bis in die 1940er Jahre galt die Großfamilie als einzige und dominierende Familienstruktur in der Türkei, deren Dominanz erst durch die Abwanderung vom Land in die (Groß-)Stadt abgelöst wurde (vgl. Birsl et al. 1999, S. 28). Der Begriff ‚Großfamilie‘ bezieht sich auf das Zusammenleben von mindestens einem Ehepaar, deren Kindern sowie Großeltern und/oder weiteren Verwandten und Nicht-Blutsverwandten (z. B. in die Familie eingeheiratete Personen).
3.1 Die Rolle der Frauen in der Türkei
47
noch viele andere Formen der Eheschließung verbreitet15, wie etwa Zwangsehen und so genannte Kindesehen, mit denen oft das Mindestheiratsalter (teilweise auch bei Männern) umgangen wird. Wie hoch der Anteil der Zwangsehen in der Türkei ist, bleibt allerdings offen. Grundsätzlich wird die Partnerwahl durch die Eltern heute zunehmend durch eigene Entscheidungen der Brautleute abgelöst. „Die romantische Liebesehe, die auch in Deutschland verbreitet ist, gewinnt immer mehr an Bedeutung“ (Toprak 2002, S. 60). Auch längere Beziehungen vor der Eheschließung sind heute, im Unterschied zur älteren Generation türkischer Frauen, für die eine Freundschaft oder Bekanntschaft mit einem Mann vor der Ehe unmöglich war, möglich und üblich (vgl. ebd.). Anzumerken ist jedoch, dass sich viele Brautleute auch bei der selbstbestimmten Partnerwahl aus Rücksicht auf das soziale Ansehen der Familie an den Wünschen der Eltern und der Familie orientieren. Die eigene Familie stellt weiterhin eine bedeutende Gelegenheitsstruktur bzw. Basis für die Partnersuche dar16, was aber nicht zwangsläufig als arrangierte Eheschließung zu interpretieren ist. So zeigen die Daten des Aile ve Sosyal Politikalar Bakanlığı (2011, S. 199), dass der Anteil arrangierter Ehen (Mitbestimmung der Eltern und freie Entscheidung der Heiratskandidaten) seit 1950 (Frauen 30,7 %; Männer 24,8 %) kontinuierlich gesunken ist und für die Jahre 2006 bis 2011 lediglich noch 1,8 % für Frauen und 1,2 % für Männer betrug.
15In
der türkischen Gesellschaft gibt es viele Formen der sogenannten ‚traditionellen Eheschließung‘, die streng genommen auch als Zwangsverheiratung definiert werden können. Hierzu zählen u. a. ‚Berdel‘ (Mädchentausch), ‚Beşik kertmesi‘ (Heiratskandidaten werden einander als Kleinkinder versprochen), ‚Polygame Eheschließungen‘ und die ‚Witwenheirat‘ (die Frau ehelicht einen Verwandten ihres verstorbenen Mannes, damit ihre Ehre in der Obhut dieser Familie verbleibt). 16Eine Untersuchung des TÜIK (2012, S. 27; mit Bezugnahme auf die Zahlen von Aile ve Sosyal Politikalar Bakanlığı 2011) zeigt, dass sich die Ehepaare altersunspezifisch mehrheitlich durch den eigenen Familien- und Verwandtenkreis sowie das Nachbarschaftsumfeld (vor allem Personen ohne oder mit niedrigem Schulabschluss), daneben durch Schule und Studium, das Arbeitsumfeld sowie durch den eigenen Freundeskreis kennengelernt haben. Nur ein geringer Anteil der Paare hat sich (altersunspezifisch) über das Internet, diverse Eheagenturen oder durch andere Möglichkeiten, die im Rahmen der Untersuchung nicht benannt wurden, kennengelernt (vgl. ebd.). Neben sogenannten Verwandtschaftsehen werden ‚nach dem Prinzip der Vertrautheit‘ (vgl. Toprak 2002, S. 160) auch Eheschließungen mit bekannten Familien stark befürwortet.
48
3 Forschungsstand
Aufgrund der hohen Bedeutung der Ehe insbesondere für die soziale und gesellschaftliche Stellung von Frauen kann angenommen werden, dass der Anteil an Single-Haushalten oder Alleinerziehenden17 im Vergleich zu Deutschland wesentlich geringer ist. Ein möglicher Grund besteht darin, dass das Leben als Single auch heute noch ein Makel darstellt, denn das auf Dauer angelegte Ledigsein verlangt oft eine Begründung (wie bspw. Ehescheidung, Studium in einer anderen Stadt) gegenüber engen Familienangehörigen und der Öffentlichkeit. Nach Angaben des TÜIK (2012, S. 17) ist der Anteil der Single-Haushalte in den letzten Jahren insbesondere bei den verhältnismäßig selten in Single-Haushalten lebenden Frauen unter 29 Jahren gestiegen. Wie hoch der Anteil nichtehelicher Lebensgemeinschaften ist, bleibt aufgrund einer unzureichenden Datenlage zwar offen, vermutet wird aber, dass in den letzten Jahren ein Anstieg auch in diesem Bereich – vor allem in der Mittel- und Oberschicht – zu verzeichnen ist. Die Mehrheit dieser Lebensformen wird durch religiöse Trauungen abgesichert und ist damit ehrbar. Das Zusammenleben ohne mindestens religiösen Trauschein wird auch heute in der modernen Türkei gesellschaftlich geächtet, was auf eine so gut wie unveränderte Einstellung zur Jungfräulichkeit der Mädchen bis zur Eheschließung zurückgeführt werden kann und Frauen somit stärker trifft als Männer. Ein Blick auf die Eheschließungsstatistiken verdeutlicht, dass Frauen in der Türkei trotz gesellschaftlicher Veränderungsprozesse im Vergleich zu einheimischen deutschen Frauen noch relativ jung heiraten, gleichzeitig deuten die Daten aber auch auf eine allgemeine Verschiebung im Heiratsalter hin. Während das Erstheiratsalter der Frauen in der Türkei im Jahre 1940 bei 19 Jahren lag, stieg es im Jahre 1990 auf 22 Jahre an (vgl. HÜNEE 2008, S. 28). Abbildung 3.3 verdeutlicht einen nur geringen Anstieg des Durchschnittsheiratsalters der Frauen, das 2001 bei 22,2 Jahren lag und bis zum Jahre 2011 auf 23,3 Jahre anstieg. Auch unter den Männern zeigt sich nur ein bedingter Anstieg des durchschnittlichen Heiratsalters (2001: 25,5 Jahre; 2011: 26,6 Jahre). Die frühe Heiratsneigung bzw. die Beschleunigung des Familienbildungsprozesses der türkischen Frauen wird von Nauck (1999, S. 11; vgl. auch Nauck 1992) auf die fehlende oder geringe Schulbildung zurückgeführt.
17Der
Anteil der alleinerziehenden Frauen in der Türkei ist im Vergleich zu den alleinerziehenden Männern deutlich höher. Die Auswertungen des TÜIK (2012; mit Bezugnahme auf die Zahlen des TÜIK 2006–2015) zeigen, dass der Anteil der Frauen unter den 1.530.832 (befragten) Alleinerziehenden im Jahre 2011 bei 85,7 % lag (gegenüber 14,3 %, die auf Männer entfielen).
3.1 Die Rolle der Frauen in der Türkei
49
Frauen 27
26
25,9
25,9
26,1
26
26,1
26,1
26,2
26,5
26,3
26,6
25,5
25 24 23
22,2
22,7
22,7
22,8
22,8
22,8
22,8
22,9
23
23,2
23,3
22 21 20 2001
2002
2003
2004
2005
2006
2007
2008
2009
2010
2011
Abbildung 3.3 Durchschnittliches Heiratsalter in der Türkei von 2001 bis 2011 (Die Daten beziehen sich auf das durchschnittliche Eheschließungsalter der ersten offiziellen Eheschließung) nach Geschlecht. (Quelle: eigene Darstellung in Anlehnung an die Daten des TÜIK (2011, 2012))
Während Frauen ohne Primarschulabschluss in der Türkei zu 50 % mit 18,6 Jahren verheiratet sind und mit 21,1 Jahren ihr erstes Kind geboren haben, sind Frauen mit Primarschulabschluss zu 50 % mit 19,6 Jahren verheiratet und haben mit 21,6 Jahren ihr erstes Kind (vgl. Nauck 1999, S. 11; vgl. auch Nauck 1992). In Anbetracht der Ergebnisse aus Abbildung 3.1 erscheint Naucks Argumentation heute nicht mehr ganz zutreffend, zumal Frauen im Vergleich zur Müttergeneration immer stärker eine qualifizierte Bildung anstreben. Toprak (2002, S. 59) argumentiert hingegen, dass die frühe Heiratsneigung oft auf dem elterlichen Wunsch basiert, die Verantwortung gegenüber der Tochter an den Schwiegersohn weiterzugeben. Auch heute wird diese Meinung innerhalb der türkischen Community sowohl in der Türkei als auch in Deutschland noch vertreten. Denn sobald die Tochter das Elternhaus durch die Eheschließung verlässt, wird folgender Satz formuliert: ‚Bizden çıktı artık, eşinin sorumluluğunda‘; sinngemäß übersetzt bedeutet das: Die Tochter hat durch die Heirat das Elternhaus verlassen und die Verantwortung über sie trägt nun der Mann. Dies bedeutet aber nicht, dass junge Frauen durch die Eheschließung nicht mehr Bestandteil der eigenen Familie sind. Ein weiteres Motiv für die frühe Heiratsneigung in der Türkei besteht in dem schon oben angesprochenen hohen Stellenwert einer Eheschließung (Yuva kurma;
50
3 Forschungsstand
inhaltlich übersetzt: eine Familie gründen) innerhalb der türkischen Community. Andererseits kann die gesellschaftliche Haltung gegenüber längeren Paarbeziehungen und das noch bestehende Tabu des Zusammenlebens ohne Trauschein viele Paare dazu verleiten, schneller eine Ehe einzugehen. In den letzten Jahrzehnten ist zudem, wenngleich in geringerer Ausprägung als in anderen Ländern, ein kontinuierlicher Geburtenrückgang zu beobachten: Während in den 1930er bis 1950er Jahren sieben Kinder pro Frau geboren wurden, waren es im Jahr 2001 2,37 und im Jahr 2011 2,02 Kinder (vgl. HÜNEE 2008, S. 33). Dieser auffallende Geburtenrückgang wird oft als Folge der Bildungsexpansion, der steigenden Binnenmigration, der Erwerbstätigkeit der Frauen, der sozioökonomischen Veränderungen, der Verbreitung von Verhütungsmitteln sowie des Anstiegs des Heiratsalters und der Möglichkeit der Abtreibung erklärt (vgl. auch Klaus 2008, S. 73–221). Die Daten in Abbildung 3.4 deuten jedoch auf eine recht heterogene Entwicklung der Fertilitätsraten in der Türkei hin. Regionale Disparitäten sind vor allem zwischen Westen und Osten sichtbar. Zwar zeigt sich auch hier tendenziell eine geringfügige Abnahme der Fertilitätsraten, doch bleibt das generative Verhalten der Frauen im Osten im Jahre 1993 mit durchschnittlich 4,4 und im Jahre 2008 mit 3,3 Kindern je Frau (siehe Abbildung 3.4) im Vergleich zu anderen Regionen der Türkei relativ hoch.
4,4
4,5
4,2
4
3,7
3,5 3 2,5 2
3,3
3,2
2 2
2,6 2,4 2,3 1,9 1,7
2,6 2,4 2,1
1,9
2,7 2,2
1,9
1993
1998
2,1
2003 2008
1,5 1 0,5 0
West
Mitte
Nord
Ost
Abbildung 3.4 Netto-Geburtenraten nach Regionen in der Türkei von 1993 bis 2008. (Quelle: eigene Darstellung in Anlehnung an HÜNEE (2008, S. 34; mit Bezugnahme auf HÜNEE 1994, 1999, 2004, 2009b) (übers. v. Verfasserin der Arbeit))
3.1 Die Rolle der Frauen in der Türkei
51
Ob sich in den nächsten Jahren die allgemeine Fertilitätsrate analog zum europäischen Trend entwickelt, kann derzeit anhand der Datenlage nicht eindeutig vorhergesagt werden (vgl. Klaus 2008, S. 46). Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass die Geburt des Kindes innerhalb der Ehe erfolgt, dennoch bleibt die Frage, wie hoch das Ausmaß der Kinderlosigkeit in der Türkei allgemein ist und welchen Einfluss dies auf die Ehestabilität hat. Vorsicht ist bei den angeführten Daten insofern geboten, als das Heiratsverhalten (und Erstheiratsalter), die Geburtenraten sowie der Anteil der Wiederverheiratung und Geburtenraten aus Folgeehen aufgrund der noch verbreiteten traditionellen Eheschließungen nur ansatzweise erfasst werden können.
3.1.4 Die Ehescheidung und die gesellschaftliche Stellung und Situation der geschiedenen Frauen: gesellschaftliche Diskriminierung oder Normalität? Bis in die 1990er Jahre lag der Anteil der Ehescheidungen in der Türkei unter einem Prozent (vgl. Payandeh 2002, S. 31). Erst seit 2000 ist, besonders in Großstädten18, ein Anstieg zu verzeichnen, auch wenn Ehescheidungen im Vergleich zu anderen Ländern noch immer selten sind (vgl. Yılmaz und Fidan 2006)19. Im ersten Quartal des Jahres 2012 registrierte das Türkiye Istatistik Kurumu insgesamt 33.474 Ehescheidungen. Dies entspricht einem prozentualen Zuwachs von 5,8 % gegenüber dem gleichen Quartal des Vorjahres. Trotz gesellschaftlicher Veränderungsprozesse wird die Scheidung von der Majorität der türkischen Community noch immer sanktioniert (vgl. Süzen 2003, S. 26). Es kann vermutet werden, dass die Familien der Eheleute wie bei der Eheschließung auch bei der Ehescheidung Einfluss auf die Ehepaare nehmen können, indem sie zunächst versuchen, die Scheidung des Paares hinauszuzögern
18Vermutlich
rührt die höhere Scheidungsrate in Großstädten auch daher, dass in ländlichen Gebieten nach wie vor eher die zivilrechtlich nicht anerkannte, ausschließlich religiöse Eheschließung (Imam-Ehen bei Sunniten; Dede-Ehen bei Aleviten) praktiziert wird und daher keine zivilrechtliche Ehescheidung erfolgt. 19In einigen ländlichen und traditionell geprägten Gebieten der Türkei, wie z. B. Ostanatolien, sind Scheidungen seltener zu beobachten, sogar dann, wenn die Frau unfruchtbar ist. Es existieren im Gegensatz zu städtischen Gebieten andere Lösungen, „[…] wenn das patriarchale System der Familie bedroht ist“ (Pasero 1990, S. 77). Eine alternative Lösung stellt die polygame Ehe dar. Sie ist zwar zivilrechtlich verboten, kann aber dennoch in Form einer religiösen Trauung geschlossen werden (vgl. Balaman 1985, S. 213 f.).
52
3 Forschungsstand
und gemeinsam nach einer für alle Beteiligten und das Ansehen der Familien akzeptablen Lösung zu suchen. In dieser Phase können insbesondere Kinder instrumentalisiert werden. Vor allem bei Verwandtschaftsehen kann die Trennung für die Betroffenen noch konfliktbeladener und prekärer sein, weil Familienmitglieder involviert sind und nur eine Trennung vom Partner, nicht aber von der Familie stattfindet. Der familiäre Druck, der im Ausstoß aus der Familie gipfeln kann, führt nicht selten dazu, dass Frauen ihre Entscheidung überdenken und die Ehe ungewollt weiterführen. Während die Paare also auf dem Weg zur Eheschließung sowohl von der Familie als auch von der Community begleitet werden, sind die Betroffenen im Falle einer Scheidung oft auf sich selbst gestellt und mit Beschuldigungen konfrontiert. Über den Ausstoß aus der Familie hinaus kann die Ehescheidung für die Betroffenen in einem Ehren-20 bzw. Rachemord durch den Ex-Mann oder die eigene Familie gipfeln. Wie hoch die Zahl der ermordeten Frauen in Folge einer Ehescheidung ist, bleibt im Dunkeln und bedarf einer genaueren Analyse. In Folge einer Scheidung sind Frauen, die den Status ‚dul‘21 erhalten, stärker der Kontrolle22 der männlichen Familienangehörigen unterworfen, um das soziale Ansehen der Familie, das schon durch die Scheidung der Tochter gelitten hat, weiterhin zu schützen. Viele Familien, insbesondere traditionell-religiös23
20Das Thema ‚Ehrenmord‘ ist auch in Deutschland in den letzten Jahren verstärkt in den Fokus wissenschaftlicher und öffentlicher Debatten gerückt, wobei zu vermuten ist, dass der öffentliche Diskurs auch durch zugespitzte und verzerrte Berichterstattungen der deutschen Medien weiter beschleunigt wird. Hier stellt sich zwar die Frage nach den Auswirkungen solcher Darstellungen auf den Rezipienten und folglich auf die gesellschaftliche Entwicklung, doch wird im Rahmen dieser Arbeit aufgrund kontroverser Ergebnisse auf eine vertiefende Analyse verzichtet. Unberücksichtigt bleiben auch die Anzahl und die Beweggründe von Ehrenmorden in der Türkei und in Deutschland. Ohnehin wäre es problematisch, den tatsächlichen Anteil sogenannter Ehrenmorde zu erfassen, zumal keine gesonderte Statistik darüber geführt wird und eine klare Abgrenzung fehlt, welche Gewaltdelikte als Ehrenmorde definiert werden können. 21In der türkischen Gesellschaft wird Geschiedenen oder Verwitweten geschlechterunspe zifisch der Status ‚dul‘ als Familienstand zugewiesen. Für Frauen ist diese Kategorisierung eine nachhaltigere Stigmatisierung als für Männer, denn ihre Scheidung wird öffentlich stärker als unmoralisch betrachtet, wodurch auch eine Wiederheirat gefährdet werden kann. Heutzutage bezeichnen sich viele Betroffene als ‚bekar‘, d. h. als ledig anstatt als getrenntlebend oder geschieden, um so klischeehaften Vorurteilen zu entgehen. 22„Diese
Kontrolle ist besonders auf das Sexualleben der Frau gerichtet“ (Süzen 2003, S. 26; vgl. auch Doğan 1996). 23Als traditionell-religiöse Familien werden diejenigen bestimmt, die stärker an traditionellen Werten und Normen festhalten und die Glaubensgrundlagen des Islams überwiegend erfüllen.
3.1 Die Rolle der Frauen in der Türkei
53
geprägte, befürworten die Rückkehr der Frauen ins Elternhaus, die für viele junge Frauen heute keine attraktive Alternative mehr ist. Zudem kann die Familie danach streben, die geschiedenen Frauen wieder zu verheiraten, um die Verantwortung und die Kontrolle der Ehre dem neuen Ehemann zu übertragen. Vermutlich ist die Situation alleinerziehender Frauen ohne familiären Rückhalt in der Türkei noch prekärer als in den europäischen Industriestaaten. Aufgrund des wenig ausgebauten staatlichen Unterstützungs- und Sozialsystems bedeutet der Verlust der Familie auch den Verlust sozialer und gesellschaftlicher Sicherheit, denn das „[…] Alleinleben bedeutet ein Herausfallen aus dem Netzwerk der Schutzleistungen und Verpflichtungen, die über Familie, Verwandtschaft und Nachbarschaft gespannt sind“ (Pasero 1990, S. 71). Alleinlebende Frauen gelten in der Öffentlichkeit oft als unehrenhaft und damit als ‚frei verfügbar für jedermann‘, es sei denn, ein hoher gesellschaftlicher Status stellt die notwendige Distanz her (vgl. ebd. 73). Nach Doğan (1996, S. 28) erweckt die geschiedene Frau aus der Sicht der türkischen Gesellschaft Angst und Begehren, Mitleid und Verachtung, aber gleichzeitig auch Neugier, heimliche Bewunderung. Dies begründet sie damit, dass die geschiedenen Frauen zum einen ‚Unzucht‘ begehen könnten und andererseits nun frei verfügbar scheinen. Zudem geht Doğan davon aus, dass diese Frauen mit starken gesellschaftlichen Diskriminierungen und Stigmatisierungen konfrontiert sind, die sich ihrer Ansicht nach auf den Verlust der Jungfräulichkeit beschränken. Hier ist allerdings zu berücksichtigen, dass auch das Herausfallen aus dem (mit dem Verlust der Jungfräulichkeit einhergehenden) ehelichen Schutzschirm eine mögliche Ursache der gesellschaftlichen Haltung darstellt. Gewiss hat sich die gesellschaftliche Haltung in der Türkei, insbesondere in den Metropolen, gegenüber geschiedenen Frauen etwas verbessert, dennoch liegt es nahe, dass diese Frauen in vielen Regionen auch heute noch mit einer negativen Haltung konfrontiert sind. Als Hauptscheidungsgründe werden Ehebruch, Weggang des Ehepartners, psychische Gewalt, Zerrüttung und gewaltbehaftete Auseinandersetzungen in der Ehe identifiziert (vgl. Yılmaz und Fidan 2006, S. 1). Zudem wird eine Scheidung fast immer mit einem moralischen Vorwurf, einer Schuldzuschreibung gekoppelt. Die Folgen einer Scheidung variieren für die Frauen je nach Schichtzugehörigkeit, allgemein zieht eine Scheidung neben gesundheitlichen und gesellschaftlichen Folgen hauptsächlich ökonomische Folgen nach sich. Zwar wurden
54
3 Forschungsstand
zum 01.01.2002 wesentliche Änderungen im türkischen Familienrecht24 vorgenommen, die nun stärker die Interessen der Frauen in Folge der Eheschließung und Ehescheidung berücksichtigen, für viele Frauen ist die Ehescheidung aber nach wie vor keine realistische Option (vgl. Süzen 2003), zumal die Mehrheit der Frauen in der Türkei nicht oder nur teilweise berufstätig und demnach finanziell vom Ehemann abhängig ist (s. oben) und sich die gesellschaftliche Ächtung getrenntlebender bzw. geschiedener Frauen nur wenig abgemildert hat (dies zeigt sich auch an den Ergebnissen zu nachehelichen Gewaltdelikten gegenüber Frauen; siehe Abschnitt 3.1.1). Yılmaz und Fidan (2006, S. 2) konstatieren, dass sich die gesellschaftliche Stigmatisierung getrenntlebender bzw. geschiedener Frauen in den letzten Jahren aufgrund des politischen Konservativismus und der infolgedessen wieder gestiegenen religiösen Orientierung der Gesellschaft sogar verstärkt hat. Die Ehescheidung wird in der Türkei gesellschaftlich dann akzeptiert, wenn wichtige Gründe vorliegen – wie bspw. Ehebruch oder Gewalt in der Familie –, die sie auch nach religiösen Vorgaben rechtfertigen (vgl. Tekeli 1991, S. 35).
3.2 Die familiären Lebensverhältnisse der Türkeistämmigen in Deutschland: Bedeutungsverlust oder Bedeutungswandel? Trotz zahlenmäßigem Wachstum der Türkeistämmigen in Deutschland und der damit verbundenen ethnischen und sozialen Differenzierung dieser Gruppe wurde der Individualisierungsprozess im Kontext der Migration lange Zeit vernachlässigt. Zwar hat sich die sozialwissenschaftliche Migrationsforschung bereits seit den 1970er Jahren den migrationsbedingten familiären Veränderungen und
24Mit
dem Inkrafttreten des neuen Familienrechts im türkischen Zivilgesetzbuch wurde die rechtliche Stellung der Frau wesentlich verbessert. Das Mindestheiratsalter wurde von 15 Jahren für Mädchen und 17 Jahren für Jungen auf 18 Jahre für beide Geschlechter festgelegt. Beiden Partnern wird gleiches Recht zugesprochen. Frauen haben nun das Recht auf eine selbstständige Arbeitsaufnahme ohne die Zustimmung des Ehemannes, die bis in die 1990er Jahre nur mit Erlaubnis des Ehemannes möglich war. Die Schutzmaßnahmen für Frauen in Folge von Gewalt in und außerhalb der Ehe wurden verstärkt. Im Falle einer Trennung liegt keine Mindesttrennungsdauer vor. Bei einer einvernehmlichen Scheidung muss mindestens eine Ehedauer von einem Jahr vor der Urteilsfällung nachgewiesen werden. Das Sorge- und Umgangsrecht kann zum Wohle des Kindes dem Vater oder der Mutter oder beiden Elternteilen zugesprochen werden.
3.2 Die familiären Lebensverhältnisse der Türkeistämmigen …
55
der sozialen Wirklichkeit türkeistämmiger Familien in Deutschland gewidmet, behandelt wurden zumeist jedoch nur Themen wie die patriarchalischen Familienstrukturen, die traditionellen Erziehungsvorstellungen, die Bedeutung des Kopftuchs, die Familienehre, innerfamiliäre Gewalt oder die schlechte Bildungssituation. Dies hat Halbwissen befördert, das vielfach von anderen Studien unreflektiert aufgegriffen und damit augenscheinlich bestätigt wurde (vgl. Sechster Familienbericht 2000, S. 75 f.). Der die Entwicklung der modernen Gesellschaft prägende Individualisierungsprozess im Sinne Becks (1986) führte jedoch nicht nur zur Herauslösung vorgegebener Sozialformen und familiärer wie religiöser Bindungen, sondern auch zu einem veränderten Verständnis von Familie und Ehe, zur Pluralisierung25 der Lebensformen und zu steigenden Scheidungszahlen, folglich auch zu familiären Spannungen und Konflikten. Das klassische Bild der traditionellen ‚Kernfamilie‘ – bestehend aus Eltern und Kindern –, das lange Zeit als einzige Familienform galt, tritt heute – auch unter Türkeistämmigen in Deutschland – neben andere Familienmodelle. Aufgrund vielfältiger Veränderungsprozesse erscheint es aus familiensoziologischer Sicht mittlerweile sehr schwer, eine allgemeingültige enge Begriffsbestimmung der Familie heranzuziehen. Zudem besteht die Gefahr, durch eine Begriffsbestimmung veränderte Familienformen unzureichend zu berücksichtigen, ja sogar auszuklammern (vgl. Nave-Herz 2007, S. 14). Zwar haben Familie und Familienbeziehungen laut Beck (1986; vgl. auch Nave-Herz 2003) nicht grundsätzlich an Bedeutung verloren, doch wurden sie in den Hintergrund des individualisierten Ichs, der individuellen Lebenslagen, verdrängt und sind damit weniger durch kollektivistische Bindungen geprägt (vgl. Beck 1986; Nave-Herz 2003). Nicht nur angesichts Becks uneindeutiger Haltung (familiäre Beziehungen rücken in den Hintergrund individueller Präferenzen, sollen aber nicht an Bedeutung eingebüßt haben) steht gerade für Türkeistämmige in Deutschland infrage, ob die Familie einem Bedeutungswandel oder einem Bedeutungsverlust unterliegt. Gemäß der weiter oben (siehe Kap. 2.1) getroffenen Annahme, dass der Individualisierungsprozess in Deutschland weiter vorangeschritten ist als in der Türkei, stellt sich hinsichtlich der Bedeutung, die Türkeistämmige in Deutschland ihrer individuellen Lebenslage einerseits und familiären Beziehungen andererseits beimessen, die Frage nach ihrer Integration und Teilhabe an der
25‚Pluralität‘ wird hier in Anlehnung an Hill und Kopp (2006, S. 306) als eine Zunahme von Ungleichheit und Heterogenität hinsichtlich der Verteilung über die vorhandenen Typen verstanden.
56
3 Forschungsstand
Mehrheitsgesellschaft. Mit der Erkenntnis, dass Deutschland zu einem Einwanderungsland geworden ist, sind diesbezügliche Debatten erst in jüngerer Vergangenheit wieder verstärkt in den öffentlichen und wissenschaftlichen Diskurs gerückt (vgl. Akdağ 2011, S. 15; Geißler 2006, S. 16 ff.), was wiederum zu einer differenzierteren Betrachtung der komplexen Veränderungen migrationsgeprägter Lebensverhältnisse, die als Indikator für den Grad der Integration (vgl. BoosNünning und Karakaşoğlu 2005a, S. 126) gewertet werden können, geführt hat. Kern des nach wie vor auf unterschiedlichen Reflexionsebenen geführten sozialwissenschaftlichen Diskurses sind die sogenannten Parallelgesellschaften der Migranten samt ihren verschiedenen Lebens- und Wertestandards sowie Erziehungsvorstellungen und -praktiken (vgl. Uslucan 2011, S. 456). Uslucan (2008, S. 27) kritisiert in diesem Zusammenhang allerdings, dass nicht von einer Parallelgesellschaft gesprochen werden kann, zumal es nicht nur grundlegende Abweichungen, sondern auch eine große Anzahl an positiven Werteübereinstimmungen gibt. Als problematisch erweist sich eine allgemeine Reflexion der Auswirkungen migrationsbedingter familiärer Veränderungen aufgrund unterschiedlich weit vorangeschrittener Wandlungsprozesse (vgl. Heinz 2000, S. 115), verschiedener Generationszugehörigkeiten und Integrationsleistungen der Migranten sowie entsprechender Verschiebungen in den subjektiven Lebenssituationen. Grundsätzlich handelt es sich bei familiären Veränderungen, die auf die Migrations- und Minoritätssituationen zurückzuführen sind, also um einen Untersuchungsgegenstand hoher Komplexität, dessen Erforschung zudem mit großen methodischen Problemen verbunden ist (vgl. Sechster Familienbericht 2000, S. 75). Verschiedene (sozialwissenschaftliche) Studien gewähren einen Einblick in die Entwicklung der Lebenssituation von türkeistämmigen Familien im Kontext des Individualisierungsprozesses und in die unterschiedlichen Wertekulturen (kollektivistische vs. individualistische Gesellschaftsstrukturen). Entgegen öffentlichen Annahmen deuten die Ergebnisse vieler dieser Studien (vgl. u. a. Boos-Nünning und Karakaşoğlu 2005b; Nauck 2007b; Sechster Familienbericht 2000) darauf hin, dass die Lebensverhältnisse von Personen mit türkischem Migrationshintergrund heute, ähnlich wie die der deutschen Familien, differenziert und vielfältig sind. Andere Studien zeigen, dass türkische Familien sich in ihrer Lebensführung und -gestaltung nicht nur von Familien in der Aufnahmegesellschaft und der Herkunftsgesellschaft unterscheiden, sondern dass die Familien auch innerhalb der türkischen Community, je nach regionaler Herkunft aus der Türkei und in Abhängigkeit von ihrem Umfeld in Deutschland, dem Familientyp und der Religions- und Milieuzugehörigkeit, sehr heterogen sind (vgl. hierzu u. a. Atabay 1998; Straßburger 2003).
3.2 Die familiären Lebensverhältnisse der Türkeistämmigen …
57
Die Ergebnisse des Sechsten Familienberichts (2000) der Bundesregierung, der zum ersten Mal die Lebenssituation von Familien mit Zuwanderungshintergrund26 zum Gegenstand seiner Untersuchung hat, belegen, dass der familiäre Wandel auf verschiedenen Ebenen abläuft. Er ist nicht nur in der Aufnahmegesellschaft, sondern auch in der Herkunftsgesellschaft (siehe Abschnitt 3.1) zu verzeichnen, insofern sich neben den nach Deutschland Zugezogenen auch die Daheimgebliebenen einer neuen Situation (dem Fehlen der Familienmitglieder) anpassen müssen (vgl. Heinz 2000, S. 101). Zudem verändern sich nicht nur die Familien, die bedingt durch die unterschiedlichen Sozialisationsprozesse verschiedene Phasen im Familienzyklus (vgl. Sechster Familienbericht 2000) durchlaufen, vielmehr gestalten sich auch die Identitätsentwicklung und die Lebenssituation der zweiten Generation im Vergleich zur Elterngeneration anders (vgl. auch Sauer und Halm 2009). Folglich ist zu vermuten, dass unterschiedliche Variationen von Werten und Normen auch zwischen den Generationen bestehen. So dürfte die erste Generation, deren Sozialisation in der Türkei stattfand und die lange Zeit an der Vorstellung der Rückkehr in das Herkunftsland festhielt, noch stark durch traditionelle27 Normen geprägt sein. Auch die mit der Lebenssituation (türkischer und sowjetischer) ArbeitsmigrantInnen befasste Forschungsgruppe FAFRA zeigt ein heterogenes Bild türkischer Migrantenfamilien auf. Die Veränderungsprozesse sollten aber nicht als ‚lineare Anpassung‘ an deutsche Familienverhältnisse gedeutet werden (vgl. B oos-Nünning und Karakaşoğlu 2005a, S. 128), zumal noch starke Differenzen in wesentlichen Lebensbereichen wie der Lebensführung, der Partnerwahl, dem Heiratsverhalten und der 26„Die Differenzierung zwischen der Bevölkerung mit Migrationshintergrund und ohne Migrationshintergrund in Deutschland war bis zum Mikrozensus 2005, aufgrund der hohen Anzahl der (Spät-)Aussiedler und der Einbürgerung der Zuwanderer, sehr komplex und nicht evident genug, um […] [eindeutige] Aussagen treffen zu können. Nach dem Statistischen Bundesamt zählen zur Bevölkerung mit Migrationshintergrund alle, die nach 1949 auf das heutige Gebiet der Bundesrepublik Deutschland zugezogen sind, alle in Deutschland geborenen Ausländer/-innen und alle in Deutschland mit deutscher Staatsangehörigkeit Geborenen mit zumindest einem zugezogenen oder als Ausländer in Deutschland geborenen Elternteil. Der Migrationsstatus einer Person wird somit sowohl aus ihren persönlichen Merkmalen zu Zuzug, Einbürgerung und Staatsangehörigkeit wie auch aus den entsprechenden Merkmalen der Eltern abgeleitet“ (Statistisches Bundesamt Deutschland: Personen mit Migrationshintergrund, unter: https://www.destatis.de/DE/ZahlenFakten/GesellschaftStaat/Bevoelkerung/ MigrationIntegration/Migrationshintergrund/Aktuell.html. (abgerufen am 10.09.2013). 27‚Traditionell‘ wird hier nicht mit ‚rückständig‘ und/oder ‚Unterdrückung‘ gleichgesetzt. Unter diesem Begriff werden in Anlehnung an Beck (1986) vielmehr althergebrachte Lebensformen und Normen sowie Denk- und Verhaltensweisen verstanden, die durch kulturelle und religiöse Vorgaben geprägt sind.
58
3 Forschungsstand
Ehescheidung zwischen beiden Bevölkerungsgruppen zu vermuten sind28. Unterschiede (vgl. hierzu Baykara-Krumme und Fuß 2009; Baykara-Krumme et al. 2011) betreffen vor allem das generative Verhalten und die Generationsbeziehungen. Im Vergleich zu deutschen Familien seien türkeistämmige Familien aber nicht nur durch Generationskonflikte geprägt, sondern auch durch stärkeren Zusammenhalt und ein höheres Maß gegenseitiger Unterstützung (vgl. Baykara-Krumme und Fuß 2009; Boos-Nünning und Karakaşoğlu 2005a; Nauck 2002; Nauck et al. 2009). Insgesamt zeigen die Befunde, dass der Familie bei Türkeistämmigen ungeachtet einer Funktionsveränderung (vgl. Herwartz-Emden 2000, S. 14) nach wie vor eine bedeutende Rolle zukommt, sodass hier nicht von einem Bedeutungsverlust familiärer Beziehungen auszugehen ist. Obwohl sich einige Studien einer differenzierten Analyse der komplexen Veränderungen migrationsgeprägter Lebensverhältnisse gewidmet haben und das bislang dominierende Bild der türkeistämmigen Familien zumindest korrigiert haben, fehlt es weiterhin an vertiefenden Untersuchungen, die nicht nur Identitäts- und Wertekonflikte zwischen den Familienmitgliedern, sondern verstärkt deren soziale Wirklichkeit berücksichtigen sollten.
3.2.1 Die Lebenssituation türkeistämmiger Frauen in Deutschland – zwischen Kollektivismus, Familialismus29 und Individualismus Im Zuge der selektiven Fokussierung der Kategorien ‚Migration‘ und ‚Geschlecht‘ durch die deutsche Migrations- und Familienforschung (vgl. Bereswill et al. 2012, S. 8) wurden Frauen, die nur einen kleinen Anteil der Arbeitsmigranten d arstellten, 28Zu
Unterschieden der Bevölkerungsgruppen in Bezug auf die Lebenssituation, die Partnerwahlentscheidung und das Heiratsverhalten sowie die Ehescheidung siehe ausführlicher die Abschnitt 3.2.1, 3.2.3 und 3.3. 29Der Terminus ‚Familialismus‘ geht auf Boos-Nünning (1998, 2005a) zurück. Aufbauend auf Naucks (1997) Feststellung, dass sich Arbeitsmigrantenfamilien verglichen mit türkischen Familien in der Türkei verstärkt an der Kernfamilie, statt an der gesamten Verwandtschaft und dem Freundeskreis orientieren, tritt der Familialismus in ihrem Ansatz an die Stelle des Kollektivismus. In der vorliegenden Arbeit finden indes beide Termini nebeneinander Verwendung, da davon ausgegangen wird, dass der Kernfamilie zwar weiterhin eine entscheidende Rolle zukommt, dass der Einfluss des weiteren sozialen Umfeldes aber nicht unterschätzt werden darf. Während noch bei der ersten Generation der Arbeitsmigranten über die Kernfamilie hinaus kaum andere Orientierungspunkte gegeben waren, dürfte der Einfluss von Verwandtschaft und Freundeskreis, z. B. durch Nachzug und Etablierung sozialer Netzwerke, mit der Zeit zugenommen haben.
3.2 Die familiären Lebensverhältnisse der Türkeistämmigen …
59
lediglich in vereinzelten Arbeiten oder gesonderten Forschungsberichten als ‚Begleiterscheinung‘ und als ‚nachgezogene Familienangehörige‘ erfasst (vgl. hierzu auch Abadan-Unat 1985; Boos-Nünning 1998; Westphal 2007). Erst mit Beginn der 1980er Jahre hat man sie „[…] aufgrund der veränderten Migrationsbewegung und der feministischen Forschung als eigenständiges Untersuchungssubjekt stärker wahrgenommen“ (Süzen 2004, S. 80). Weiterhin unberücksichtigt blieben aber die durch den sozialen Wandel bedingten Veränderungsprozesse, wodurch sich verzerrte Bilder junger türkischer Frauen verbreiteten (vgl. Gültekin 2003, S. 34), die zur Konstruktion des Fremden30 und zu einer Ethnisierung31 mit der Kategorie ‚Geschlecht‘ (‚die Türkin‘) beigetragen haben (vgl. HerwartzEmden und Westphal 1993). Türkische Frauen wurden meist als ‚rückständig‘, ‚unterdrückt‘ und vom Ehemann und Vater abhängige Objekte dargestellt, die von Identitätskrisen bedroht und in ‚unlöslichen Kulturkonflikten‘ gefangen sind (vgl. hierzu u. a. Boos-Nünning und Karakaşoğlu 2005b; Gutiérrez Rodríguez 1999, S. 559; Herwartz-Emden und Westphal 1993). „Nicht nur ihr Frau-Sein kommt zur Geltung, sondern eher ihre nationale Zugehörigkeit“ (Gutiérrez Rodríguez 1999, S. 158). Diese negative (fremdenfeindliche) Urteilsbildung über türkische Frauen mag auf den fehlenden Kontakt zwischen Minorität und Majorität zurückzuführen sein. Gerade die gesellschaftliche Diskriminierung und die ablehnende Haltung seitens der Majorität erschwerten den jungen Frauen eine Anpassung an das neue Lebensumfeld und drängten sie stärker in den Kulturkreis ihrer Herkunftsgesellschaft zurück (vgl. Süzen 2003). „Daher ist es nicht verwunderlich, dass gerade türkische Migrantinnen [der ersten Generation] an herkömmlichen Werten hängen und mehr religiöse Tendenzen zeigen, als ihre Altersgenossinnen im Herkunftsland dies tun“ (Süzen 2003, S. 82).
30Nach Gümen (2000) unterscheiden sich die aus den subjektiven Erlebnissen und Erfahrungen herausgebildeten Selbst- und Fremdwahrnehmungen (vgl. auch SchmidtKoddenberg 1989) je nach sozialer Lage der Frauen. Grundsätzlich werde das Fremdbild im Vergleich zum Selbstbild kritischer eingeschätzt und beurteilt: Die ‚fremden Frauen‘ würden von den westdeutschen Frauen nicht als anders wahrgenommen, sondern vielmehr als minderwertig, rückständig und vom Mann abhängig eingestuft. 31Die deutsche Frauenforschung hat sich erst spät mit den Kategorien ‚Geschlecht‘ und ‚Ethnizität‘ und deren Wechselwirkungen auseinandergesetzt. Das Konstrukt der ‚fremden Frau‘ wurde im bundesdeutschen Diskurs häufig mit Attributen wie ‚rückständig‘ und ‚untergeordnet‘ verbunden, wodurch bestimmte Weiblichkeitsbilder und konstruierte Unterschiede zwischen Frau und Mann, Ausländer und Ausländerin, Türkin und Deutscher geschaffen wurden, die jahrelang in der Öffentlichkeit dominierten (vgl. Gümen 2000, S. 351).
60
3 Forschungsstand
Während Frauen der ersten Generation als eigenständiges Untersuchungssubjekt nur marginal in deutschen Forschungsarbeiten aufgegriffen wurden, rückte das wissenschaftliche Interesse in den 1990er Jahren verstärkt auf die Lebenssituation der zweiten Generation32 (vgl. Atabay 1998, 2011; Boos-Nünning und Karakaşoğlu 2005b; Huth-Hildebrandt 2002; Sechster Familienbericht 2000; Sürig und Wilmes 2011). Viele der ab den 1990er Jahren veröffentlichen Studien korrigieren das Bild der ‚unterdrückten türkischen Frauen‘, doch die These um die ‚Kultur- und Identitätskonflikte‘ dominiert nach wie vor. Hierbei wird behauptet, dass sich Mädchen und junge Frauen in einem ‚bi-kulturalen‘ Spannungsfeld zwischen der deutschen (individualistischen) und der türkischen (kollektivistischen) Kultur befinden, dass sie zwischen Parallelgesellschaften hinund hergerissen seien und insofern weder die familiären Anforderungen noch die Ansprüche der Umwelt bewältigen können. „Insbesondere türkischen Frauen wird [im öffentlichen Diskurs] noch immer die größte Fremdheit gegenüber gesellschaftlichen Normen und Werten in Deutschland nachgesagt […]“ (RohrSendlmeier und Yun 2006, S. 91; vgl. auch Gültekin 2003). Die widersprüchlichen (wissenschaftlichen) Aussagen über türkeistämmige Frauen haben dazu geführt, dass den alten Stereotypen und klischeehaften Zuschreibungen neue hinzugefügt wurden. So werden türkeistämmige Frauen in Deutschland trotz gesellschaftlicher Veränderungsprozesse weiterhin unter der Opposition von ‚Tradition‘ und ‚Moderne‘ betrachtet (vgl. Petuya Ituarte 2007). F urtner-Kallmünzer (1988, S. 87) kritisierte die widersprüchliche öffentliche Haltung zu Migranten der zweiten Generation schon Ende der 1980er Jahre: „Die zweite Generation soll sich in Deutschland integrieren und gleichzeitig ihre ‚Identität‘ wahren, also in gesellschaftlich relevanten Handlungsfeldern so sein wie die Deutschen und gleichzeitig als Ausländer erkennbar bleiben“. Auch wenn die Umbrüche der weiblichen Lebenslage infolge des Modernisierungsprozesses nicht spurlos an türkeistämmigen Frauen vorbeigegangen sind und sie die Entwicklung des deutschen Frauenbildes im Rahmen veränderter gesellschaftlicher Werte, Normen, Ethik und Moral miterlebt und bewusst oder unbewusst, wenn auch nicht so ausgeprägt wie die
32Die erste Generation bilden Frauen, die während der Gastarbeiterperiode nach Deutschland immigriert sind (vgl. Süzen 2003, S. 80). Zur zweiten Generation gehören Frauen, „[…] die durch die Familienzusammenführung nachgeholt [worden sind oder in Deutschland] […] geboren [bzw.] aufgewachsen sind, [d. h. alle] […] Kinder von den Gastarbeitern und Gastarbeiterinnen bzw. alle Kinder von GastarbeiterInnen und HeiratsmigrantInnen“ (ebd.).
3.2 Die familiären Lebensverhältnisse der Türkeistämmigen …
61
ehrheitsgesellschaft, für sich integriert haben, können sie gewiss an ihre M Grenzen stoßen, wenn es darum geht, die jeweiligen kulturellen Werte miteinander zu vereinbaren. Auch Otyakmaz (1995, S. 132) konstatiert, dass türkeistämmige Frauen nicht zwischen den Stühlen, sondern auf allen Stühlen sitzen und nach einer unabhängigen Lebensführung streben; viele Frauen stünden vor der Schwierigkeit, gesellschaftliche Akzeptanz zu finden und sich gewisse Freiräume innerhalb der Familie wie auch in der Ehe zu erkämpfen. Gerade die Konfrontation mit elterlichen Normen stelle jedoch kein auf türkeistämmige Frauen begrenztes Phänomen dar, es handele sich vielmehr um Generationskonflikte (vgl. Otyakmaz 1995, S. 129). Wenngleich die elterlichen Einflüsse auch im Falle türkeistämmiger Frauen der zweiten Generation außerfamiliären Einflüssen (z. B. Sexualität, Geschlechterrolle und Autonomie) entgegenstehen (vgl. Fuhrer und Mayer 2005, S. 70), wäre es zudem grundlegend falsch anzunehmen, dass sie nur unter ihren Eltern und deren Vorstellungen leiden. Auch wenn sich viele junge Frauen von der Familie oft unverstanden fühlen, sind sie ihr dennoch eng verbunden, suchen und finden dort Schutz (vgl. Boos-Nünning 2005a, S. 114 ff.; Fuhrer und Mayer 2005, S. 72). Zu differenzieren ist in diesem Zusammenhang auch hinsichtlich der familären Orientierung. So kategorisiert Atabay (1998) die in Deutschland lebenden türkischen Familien der zweiten Generation in ‚religiös-traditionell orientierte‘, ‚zwischen Moderne und Tradition‘ und ‚modern orientierte‘. Während erstere den Frauen kaum Entscheidungs- und Mitspracherecht zugestehen und ihre Rolle weitgehend auf Kindeserziehung und Haushaltsführung beschränken, weisen Frauen zwischen Moderne und Tradition zwar noch vereinzelt traditionelle Verhaltensweisen und Wertevorstellungen auf, versuchen aber aus den ihnen zugeteilten Geschlechterrollen auszubrechen und ihr Leben selbstbestimmt zu gestalten. Frauen modern-orientierter Familien streben hingegen verstärkt nach Individualität, um ihre eigenen Interessen und Wünsche zu verwirklichen. Die Lebensverhältnisse junger türkeistämmiger Frauen sind demnach heute sehr vielfältig und nicht nur durch ‚Normalbiografien‘, sondern auch durch ‚Wahlbiografien‘ (vgl. hierzu Beck und Beck-Gernsheim 1990) geprägt. Nach Gültekin (2003, S. 214 f.) weisen Frauen aus der Türkei eine Mehrfachorientierung auf: Sie streben nach Familie, Autonomie, Erwerbsarbeit und Bildung und versuchen, diese Komponenten miteinander zu vereinen. Im Gegensatz zur öffentlichen Meinung verbinden sie die Erwartungen, Werte und Normen der Herkunftsgesellschaft mit den Anforderungen der Aufnahmegesellschaft, da jeweils traditionelle und auch moderne Orientierungsmuster beider Länder (vgl. Gültekin 2003)
62
3 Forschungsstand
vorhanden sind. Diese ‚Doppelperspektivität‘33 ermögliche ihnen eine Neuorientierung und Erweiterung der Lebensentwürfe, öffne Grenzen und stelle zugleich eine ‚Ressource‘ dar, um Krisensituationen und Belastungen des Lebens vielseitig und kreativ lösen zu können. Das klischeehafte Bild der herkunftskulturverhafteten Frauen (und Männer) mit türkischem Migrationshintergrund wird auch von einer Studie der Stiftung Zentrum für Türkeistudien und Integrationsforschung widerlegt (vgl. Kızılocak und Sauer 2007, S. 3). Rund die Hälfte der befragten Frauen konnte wenig mit dem traditionellen Rollenbild der Frau als Hausfrau und Mutter anfangen (während ebenso viele Frauen noch das traditionelle Rollenbild befürworten). Zudem zeigte sich, dass junge Frauen der zweiten Generation eine qualifizierte Bildung anstreben, bessere Bildungsabschlüsse als Männer aufweisen, im Vergleich zu Männern finanziell selbständiger sind und insgesamt keineswegs als Opfer patriarchalischer Strukturen zu sehen sind (vgl. ebd., S. 8; siehe auch Gümen et al. 2000, S. 207–231; Herwartz-Emden et al. 1994, S. 70 ff.; Kopp 1994, S. 35). Eine weitere Untersuchung der Stiftung (vgl. Sauer 2005, S. 3–28), die die Lebenssituation türkischer Frauen in Nordrhein-Westfalen beleuchtet, zeichnet ein gleichsam differenziertes Bild der Frauen und ihrer Lebenssituation, insbesondere mit Bezug auf Schulbildung, Sprachkenntnisse, Kontakte und gesellschaftliche Integration, und belegt zudem eine Verschiebung des Heiratsalters bei Männern und Frauen: So sind 49 % der Frauen zwischen 18 und 29 Jahren bisher unverheiratet, was aber nicht heißt, dass die Bedeutung von Ehe und Familie generell zurückgeht. Nach Angaben des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (2009)34 ist der Anteil der Verheirateten unter Personen mit türkischem Migrationshintergrund allerdings höher als unter Personen deutscher oder anderer nationaler Herkunft: Drei Viertel (74,9 %) der Befragten mit aktueller oder ehemals türkischer Staatsangehörigkeit leben in einer Ehe (Frauen: 76,2 %; Männer: 73,8 %) und nur jeder Fünfte (18,8 %) gibt an, ledig zu sein. „Während lediglich 56 % der Deutschen ohne Migrationshintergrund verheiratet sind, trifft dies auf
33Gültekin
(2003, S. 164) weist darauf hin, dass die meisten Untersuchungen aus der Sicht der Aufnahmegesellschaft durchgeführt wurden und somit eine differenzierte Betrachtung der Binnensicht der Migranten ausschließen. Die ‚Doppelperspektive‘ „[…] schließt die sogenannte Binnenperspektive, die Perspektive der […] [MigrantInnen,] und die sogenannte Außenperspektive, die Perspektive der Einwanderungsgesellschaft[,] mit ein“ (ebd., S. 165 f.). 34Bei der vorliegenden Forschungsreihe des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (2009) handelt es sich um eine Sekundäranalyse des Mikrozensus’ 2005.
3.2 Die familiären Lebensverhältnisse der Türkeistämmigen …
63
60,7 % der deutschen Zuwanderinnen und Zuwanderer, 58,2 % der Deutschen mit Migrationshintergrund und mehr als zwei Drittel (66,9 %) der Ausländerinnen und Ausländer35 zu“ (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2009, S. 48). Studien zum generativen Verhalten der Türkeistämmigen stimmen zwar darin überein, dass türkeistämmige Frauen eine vergleichsweise hohe Fertilität aufweisen (vgl. u. a. Babka von Gostomski 2010; Nauck 1997, 1999; Schmid und Kohls 2011), doch ist die Zahl der Kinder pro Frau von der ersten zur zweiten Generation zurückgegangen (vgl. u. a. Milewski 2010; Mikrozensus 2005; Schönpflug 2003). Wie hoch die Geburtenrate türkeistämmiger Frauen in Deutschland ist, kann nicht genau bestimmt werden, da die Daten der amtlichen Statistik nur Frauen mit türkischer Staatsbürgerschaft erfassen, gerade die zweite Generation aber eine höhere Einbürgerungsquote aufweist. Hinweise ergeben sich jedoch aus dem Mikrozensus 2012, der für türkische Familien im Durchschnitt 2,0 und für Familien ohne Migrationshintergrund 1,6 im Haushalt lebende Kinder ermittelt. Daneben ergibt eine bundesweite Untersuchung des Zentrums für Türkeistudien und Integrationsforschung aus dem Jahr 2008 für über 18-jährige türkeistämmige Frauen eine durchschnittliche Anzahl von 2,1 Kindern. Trotz der veränderten Lebensverhältnisse und Möglichkeiten türkeistämmiger Frauen in Deutschland verdeutlichen die Ergebnisse einer Teilerhebung36 der Untersuchung Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in Deutschland des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (2013, S. 28 f.), dass Frauen türkischer Herkunft (49 %) (und Frauen osteuropäischer Herkunft; 44 %) ab dem 16. Lebensjahr deutlich häufiger körperliche und sexuelle
35Hinsichtlich
des Migrationsstatus’ wurden folgende vier Gruppen unterschieden: (1) Bevölkerung ohne Migrationshintergrund: Personen, die nicht eingebürgert sind, aber dennoch die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen; (2) Ausländerinnen und Ausländer: Personen, die nicht die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen; (3) Deutsche ohne Migrationshintergrund: Zugewanderte oder in Deutschland geborene Eingebürgerte und deren Kinder; (4) deutsche Zuwanderinnen und Zuwanderer ohne Einbürgerung: Spätaussiedlerinnen und Spätaussiedler, die seit August 1990 eingereist sind oder bis 1993 mit der deutschen Staatsangehörigkeit zugewandert sind (vgl. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2009, S. 17). 36Die Teilerhebung beruht auf einem standardisierten face-to-face-Interview und einem ergänzenden schriftlichen Selbstausfüller (eine Erhebungstechnik zur intensiveren Analyse von Dunkelziffern). Sie wurde im Rahmen der ersten repräsentativen Untersuchung zu Gewalt gegen Frauen in Deutschland (mit 10.264 Frauen im Alter von 16–85 Jahren) durchgeführt (vgl. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2013, S. I, 7).
64
3 Forschungsstand
Gewalt erleben als der Durchschnitt der weiblichen deutschen Bevölkerung (40 %). Differenziert nach Gewaltformen zeigt sich, dass türkische Migrantinnen im Vergleich zur weiblichen deutschen Bevölkerung seit dem 16. Lebensjahr nicht nur häufiger körperliche Gewalt (46 % gegenüber 37 %) erlitten hatten (ein ähnliches Bild zeigt sich auch für sexuelle Gewalt), sondern auch schwereren Formen körperlicher Gewalt in Form von Verprügeln, Würgen und Bedrohen ausgesetzt waren. Auch ein Blick auf das Gewaltpotenzial in Beziehungen durch aktuelle oder frühere Partner verdeutlicht im Vergleich zu Deutschen (25 %) und Osteuropäern (28 %) eine gegenüber Frauen höhere Gewaltbereitschaft in türkischen Familien (38 %), die mitunter zum Scheidungsgrund avancieren kann (siehe empirischer Teil). Die Auswertungen deuten zudem auf eine höhere psychische Gewaltwahrnehmung und -erfahrung türkischer Frauen (61 %) durch wenig oder nicht bekannte Personen hin (osteuropäische Frauen 54 %; deutsche Gruppe 42 %). Ähnlich wie bei den Frauen in der Türkei liegt die tatsächliche Anzahl häuslicher Gewaltdelikte gegen türkeistämmige Frauen in Deutschland in den Dunkelziffern: Vermutlich vermeiden viele Opfer eine Strafmeldung aus Schamgefühl und Angst vor Ansehensverlust der Familie, da auch in der Aufnahmegesellschaft das Ehrgefühl von großer Bedeutung ist. Die Ursachen für die oben genannten Gewaltdelikte blieben im Rahmen der angeführten Untersuchung unberücksichtigt. Die hier exemplarisch herangezogenen Studien deuten insgesamt auf eine Veränderung der Lebenssituation der türkeistämmigen Frauen der zweiten Generation hin. Es ist aber zu vermuten, dass patriarchale Normen- und Werteverständnisse innerhalb der Community teilweise noch fortbestehen und damit die Lebensgestaltung der Frauen beeinflussen können. Somit bewegen sich türkeistämmige Frauen in Deutschland zwischen Kollektivismus, Familialismus und Individualismus und versuchen, diese Aspekte miteinander zu vereinen. Darüber hinaus können auch grundlegende gesellschaftliche Ungleichheitsstrukturen zu einer Benachteiligung und einer Einschränkung der individuellen Lebensführung beitragen, wovon türkeistämmige Frauen aufgrund der doppelten Diskriminierung als Frau und als Zuwanderin noch stärker betroffen zu sein scheinen als einheimische Frauen (vgl. Beer 1990; Dietzen 1993).
3.2.2 Der Wandel der Geschlechterverhältnisse Zweifellos führte der Übergang zur Moderne auch zu veränderten Gleichheitserwartungen und -ansprüchen der Frauen. Diese Entwicklungstendenz lässt sich u. a. in den Bereichen Sexualität, Recht, geschlechtsspezifische Arbeitsteilung
3.2 Die familiären Lebensverhältnisse der Türkeistämmigen …
65
und Bildung beobachten. Migrationsbedingte familiäre Veränderungen – die Auflösung der Großfamilien, die Notwendigkeit zur Erwerbstätigkeit von Frauen, die Neuzusammensetzung sozialer Netzwerke und Veränderungen der Aufgabenteilung und Entscheidungsmacht innerhalb der Ehen – mögen ebenfalls zu einer Umgestaltung bzw. Abschwächung der zuvor bestehenden Geschlechterverhältnisse beigetragen und in der Folge, ähnlich wie in der Mehrheitsgesellschaft, zu geschlechterbezogenen Konflikten und Spannungen innerhalb der Ehen und Familien geführt haben (vgl. hierzu Boos-Nünning und Karakaşoğlu 2005b; Herwartz-Emden 2000a; Koptagel-Ilal 1998; Süzen 2003). Hier stellt sich die Frage, ob die veränderten Geschlechterverhältnisse der in Deutschland lebenden türkeistämmigen Migranten mit neuen Belastungen und Herausforderungen auf der Mikro- und Makroebene einhergehen. Westphal (2007, S. 136) konstatiert in diesem Zusammenhang, dass „[i] ndividuell gelebte Weiblichkeits- und Männlichkeitsbilder und geschlechtliche Selbstkonzepte […] im Verlauf des Migrationsprozesses herausgefordert, in Frage gestellt und verändert“ werden. Nach Herwartz-Emden (2000, S. 27) bringt die Migration jedoch nicht zwangsläufig eine Veränderung der Geschlechterregimes mit sich: „Migration ist nicht eine ‚offene Tür‘ zur Verbesserung des weiblichen Status oder zu egalitären Verhältnissen zwischen Mann und Frau. Ausgehend von der Vorerfahrung, mag der Migrationsprozess existierende Geschlechterverhältnisse erhalten, Ungleichheiten verstärken oder – im Kontrast – zu mehr Gleichheit beitragen“ (Herwartz-Emden 2000, S. 27).
Die Migration kann demnach sowohl mit positiven als auch mit negativen Auswirkungen auf die Lebens- und Beziehungsformen, insbesondere für Frauen, einhergehen, die auch in der Nachfolgegeneration weiterwirken. Während Frauen der ersten Generation, trotz veränderter Lebensumstände und Berufstätigkeit, stärker an traditionellen Geschlechterregimes festhielten, verändert sich das Frauenbild in der zweiten Generation (vgl. Herwartz-Emden 2000, S. 30; Keim 2012, S. 321). Obwohl nicht von einer grundlegenden Veränderung des Familienkonzeptes auszugehen ist, beginnen Frauen aber, Anforderungen an ihre Ehepartner zu stellen, wie es ihre Männer ihnen gegenüber tun (vgl. Koptagel-Ilal 1998, S. 301). Diese veränderten Erwartungen an die Partnerschaft gehen vermutlich auch mit einer finanziellen Unabhängigkeit der Frauen einher. Zudem nimmt der Einfluss der Frauen auf familiäre Entscheidungen mit einem steigenden Bildungsniveau, der Beteiligung am Erwerbsleben, der Aufenthaltsdauer und den Deutschkenntnissen zu (vgl. Sechster Familienbericht 2000, S. 94).
66
3 Forschungsstand
Auch wenn traditionelle Rollenverhältnisse mit der Eröffnung neuer Handlungs- und Entfaltungsmöglichkeiten der Frauen ansatzweise zurückgedrängt werden konnten, könnte der soziale Wandel auch für Türkeistämmige zu einem widersprüchlichen ‚familial-institutionell geprägten Doppelleben‘ geführt haben (vgl. Beck 1986, S. 208 ff.). Anders als Männer sind türkeistämmige und deutsche Frauen noch immer stärker an den familiären Innenraum gebunden, versuchen aber dennoch, Erwerbstätigkeit und Mutterschaft miteinander zu vereinen (vgl. u. a. Gümen et al. 2000). Eine geschlechtsbezogene Benachteiligung türkeistämmiger und deutscher Frauen scheint demnach weiterhin fortzubestehen. Dies zeigt sich auch in Emanzipationsbestrebungen der Frauen, die von der Mehrheit der Männer akzeptiert werden, unter dem Vorbehalt, dass sich die Selbstständigkeit der Frau nicht gegen sie zu wenden droht oder zu hohe Forderungen an den Ehepartner gestellt werden (vgl. hierzu Beck und Beck-Gernsheim 1990, S. 32).
3.2.3 Partnerwahlorientierung und Heiratsverhalten der zweiten Generation Partnerwahl und Eheschließung stellen in allen Gesellschaften zweifellos eine bedeutende Entscheidung mit zentralem Einfluss auf die weitere Lebensführung dar. In kollektivistischen Gesellschaften, wie der türkischen Community, wird der Partnerwahl und der Eheschließung insbesondere von Frauen eine noch prominentere Bedeutung beigemessen, da sich mit der als Fundament geltenden Eheschließung auch ihr Status in der Gesellschaft verändert. Die Wahl des künftigen Ehepartners hat „[…] weitreichende Folgen für den Eingliederungsprozess und weitere Mobilitätsoptionen des oder der Heiratenden, für den Sozialisations- und Akkulturationsprozess […] der Kinder und für die Ausgestaltung der familialen Solidarpotenziale“ (Nauck 2007b, S. 20), die wiederum auch im Falle der ehelichen Trennung relevant sind. Ein Verständnis der Partnerwahlentscheidung und Eheschließung im Kontext der Migration erfordert, „[…] einerseits zwischen ethnisch endogamen und exogamen Heiraten zu unterscheiden – das heißt ob innerhalb der eigenen ethnisch-kulturellen Gruppe geheiratet wird oder nicht – und anderseits zwischen nationalitätsinternen und -externen Heiraten“ (Nauck 2007b, S. 20). Während in klassischen Einwanderungsländern wie den Vereinigten Staaten schon seit Jahren differenzierte Studien zu Partnerwahl und Heiratsverhalten von Migranten vorliegen (die hier aufgrund des Umfangs unberücksichtigt bleiben), gibt es im deutschsprachigen Raum
3.2 Die familiären Lebensverhältnisse der Türkeistämmigen …
67
nur vereinzelte empirische Arbeiten, was eine evidente Bestandsaufnahme des Heiratsverhaltens türkischer Migranten in Deutschland erschwert (vgl. Straßburger 2003, S. 23 f.). Der deutsche Forschungsdiskurs zu Partnerwahlorientierung und Heiratsverhalten der zweiten Generation bleibt zumeist auf innerethnische oder transnationale Ehen beschränkt (vgl. hierzu Atabay 1998; Aydın 2003; BoosNünning und Karakaşoğlu 2005a, 2005b; Keim 2012; Straßburger 2003), wobei weder die Motive der getroffenen Entscheidung noch die Auswirkungen der Partnerwahl auf die Ehestabilität und -qualität sowie die Ehedauer analysiert werden. Einige Studien befassen sich auch mit interethnischen Eheschließungen unter türkeistämmigen Migranten (vgl. hierzu Klein 2000, 2001a, 2001b; Roloff 1998), es mangelt jedoch an vertiefenden Arbeiten, was womöglich in der Schwierigkeit begründet liegt, die tatsächliche Zahl der Eheschließungen unter den Menschen mit Zuwanderungshintergrund zu erfassen. In der deutschen Eheschließungsstatistik werden nur diejenigen Ehen erfasst, die in deutschen Standesämtern geschlossen werden, doch erfolgen zahlreiche Heiraten türkeistämmiger Migranten in der Türkei oder bei türkischen Konsulaten in Deutschland, insbesondere wenn es sich um transnationale37 Ehen handelt, also um Fälle, in denen der eine Partner noch im Herkunftsland lebt (vgl. Straßburger 2001a, S. 5). Aus der nur nach Staatsbürgerschaft differenzierenden Eheschließungsstatistik geht auch das Ausmaß inner- und interethnischer Eheschließungen nicht hervor, denn durch die zunehmende Einbürgerung von Personen mit türkischem Migrationshintergrund38 reflektiert die Staatsbürgerschaft immer weniger die ethnische Zugehörigkeit. Verfügen beide Brautleute über die deutsche Staatsbürgerschaft, wird eine Ehe unter Deutschen registriert. Die meisten Angaben zu Eheschließungen oder Ehepartnern von Personen mit türkischem Zuwanderungshintergrund basieren auf den Daten des Mikrozensus’ oder auf der Visastatistik des Auswärtigen Amtes (vgl. B aykara-Krumme und Fuß 2009, S. 138). Problematisch für die Untersuchung des Heirats- und des Scheidungsverhaltens ist aber auch „[…] dass die deutsche Statistik querschnittlich haushaltsbezogen und nicht längsschnittlich lebenslaufbezogen konzeptualisiert ist, wodurch z. B. [ausgeschlossen ist,] Angaben über vollständige familienbezogene Verläufe hinsichtlich Eheschließungen und Scheidungen […] aus solchen Datenquellen zu
37Unter
‚transnational‘ versteht Pries (1997) ‚grenz- bzw. nationalüberschreitende Phänomene‘ und die Konstitution dauerhaft neuer sozialer Beziehungen, sozialer Netzwerke und sozialer Räume. 38Nach Angaben des Mikrozensus’ 2011 sind nur noch 58 % der türkeistämmigen Migranten in Deutschland türkische Staatsbürger, der Rest ist entweder eingebürgert oder hat bereits bei Geburt die deutsche Staatsbürgerschaft erhalten (vgl. Statistisches Bundesamt 2012a, 2012b).
68
3 Forschungsstand
rekonstruieren“ (Sechster Familienbericht 2000, S. 78). Nachfolgend sollen sowohl die unterschiedlichen Heiratskonstellationen der türkischen Migrantenpopulation in Deutschland als auch die in den letzten Jahren viel diskutierten Partnerwahlmodi unter Berücksichtigung ihrer Wirkung auf die spätere Ehestabilität in den Blick genommen werden.
3.2.3.1 Innerethnische, transnationale39 und interethnische Eheschließungen der zweiten Generation türkeistämmiger Frauen in Deutschland Der Partnerwahl liegen generell sehr verschiedene Aspekte zugrunde: (1) die individuellen Präferenzen der Partnersuchenden, (2) der Einfluss der sozialen Gruppen und (3) die Gelegenheitsstrukturen bzw. die demografischen Rahmenbedingungen, die das Angebot an potenziellen Partnern präsentieren (vgl. Kalmijn 1998). Zusätzlich müssen die Milieuunterschiede in der türkischen Migrantenpopulation berücksichtigt werden40. In vielen Studien finden sich Hinweise auf eine ausgeprägte ethnisch monogame Partnerwahlentscheidung der zweiten Generation (vgl. hierzu u. a. Aydın 2003; Kizilocak und Sauer 2007; Sechster Familienbericht 2000; Straßburger 2003; Schroedter 2006). Nach Westphal (2007, S. 132; vgl. auch Herwartz-Emden und Westphal 2000b) heiraten „Migrantinnen der zweiten Generation […] bevorzugt innerhalb der Herkunftskultur, modifizieren aber durch ihre kritische Haltung und geschlechteregalitäres Denken traditionelle Ehe- und Partnerschaftskonzepte“. Andere Studien weisen auf eine zunehmend heterogene Partnerwahlorientierung der zweiten Generation hin. So stellt Straßburger (2003) fest, dass der zweiten Generation im Gegensatz zur ersten Generation und deren noch stark an die Herkunftsgruppe (und Religionszugehörigkeit) geknüpften Partnerwahl mehrere Heiratsoptionen offenstehen (siehe auch Straßburger 2011, S. 218)41. Unter
39Im
Rahmen dieser Arbeit werden ‚innerethnische Ehen‘ und ‚transnationale Ehen‘ voneinander separiert. Innerethnische Ehen bezeichnen hier Ehen zwischen türkeistämmigen Partnern, die beide zum Zeitpunkt der Eheschließung in Deutschland leben – wobei der Ausdruck nichts über die Sozialisationserfahrung besagt –, transnationale Ehen bezeichnen Ehen, die zwischen einer in Deutschland lebenden türkeistämmigen Person und einer zum Zeitpunkt der Eheschließung in der Türkei lebenden Person geschlossen wurden. 40Siehe hierzu Sinus Sociovision 2007. 41Angehörige der zweiten Migrantengeneration haben die Möglichkeit, eine transnationale Ehe mit einem Partner aus der Türkei zu schließen, innerhalb der eigenen Migrantengeneration in Deutschland zu heiraten oder eine interethnische Ehe mit einem deutschen Partner zu schließen (vgl. Nauck 2007a, S. 36; Straßburger 2001a, S. 5). Darüber hinaus
3.2 Die familiären Lebensverhältnisse der Türkeistämmigen …
69
Mädchen und jungen Frauen der zweiten Generation bestehe eine sehr gespaltene Meinung im Hinblick auf die Partnerwahlentscheidung. Neben innerethnischen Ehen würden auch transnationale und interethnische Ehen bevorzugt, allerdings nur vereinzelt und meist unter bestimmten Vorrausetzungen, vor allem unter der Bedingung der elterlichen Akzeptanz. Eine starke Familienorientierung der Frauen bedeutet aber keine bedingungslose Akzeptanz der Heiratsvorstellungen und Wünsche der Eltern, wie es bspw. bei arrangierten oder gar bei Zwangsehen42 der Fall ist, sondern ist vielmehr auf eine ‚individualistische Haltung‘ (vgl. BoosNünning und Karakaşoğlu 2005b, S. 104 f.), oft mit Rücksicht auf das soziale Ansehen (Ehre also ‚Namus‘ und Würde ‚Şeref‘) der Familie, zurückzuführen. Zugleich kann die starke Bindung an die Familie damit zusammenhängen, dass die jungen Frauen im Falle einer Fehlentscheidung bei der Partnerwahl nicht den sozialen und psychischen Halt der Familie verlieren möchten. Die Ergebnisse des Mikrozensus’ 2012 bestätigen, dass Frauen mit türkischem Migrationshintergrund sehr häufig (91,2 %) auch einen Partner mit Migrationshintergrund haben (vgl. Statistisches Bundesamt 2013a). Nur ein geringer Anteil (3,8 %) gibt an, mit einem Deutschen ohne Migrationshintergrund verheiratet zu sein (Tabelle 3.1). Allerdings lassen die Daten zunächst keine Rückschlüsse darauf zu, ob es sich bei den innerethnischen Ehen um Ehen zwischen Personen aus der eigenen Migrantenpopulation in Deutschland oder um transnationale Ehen43 handelt, da dieses Merkmal nicht direkt erfasst wurde.
besteht die Option, einen Partner zu wählen, der einer anderen ethnischen Migrantengruppe in Deutschland angehört. Dennoch ist der „[…] Kreis der Personen, die für eine Heirat realistischerweise infrage kommen, […] immer noch begrenzt“ (Straßburger 2011, S. 218), da zunächst einmal Kontakte und Gelegenheitsstrukturen hierfür ausschlaggebend seien. 42Zum
Unterschied zwischen arrangierten Ehen und Zwangsehen siehe Abschnitt 3.2.3.2. der Visastatistik des Auswärtigen Amtes und des Ausländerzentralregisters belegen, dass die höchsten Anteile beim Ehegattennachzug aus der Türkei einreisen, gleichwohl in den letzten Jahren ein geringer Rückgang zu verzeichnen ist (vgl. Bundesministerium des Innern 2013, S. 102) Für das Jahr 2011 registrierte das Auswärtige Amt, dass rund ein Drittel aller nachgezogenen Ehefrauen zu Männern mit türkischem Migrationshintergrund eingereist ist und ein Viertel aller türkischen Ehemänner zu deutschen Frauen (ebd., S. 102).
43Auswertungen
70
3 Forschungsstand
Tabelle 3.1 Ehepartner von Frauen nach nationaler Herkunft – Angaben in % (Hier wurden nur gesondert die Eheschließungen zwischen Frauen und nach nationaler Herkunft differenzierten Ehepartnern – Ausländer, Deutsche mit und ohne Migrationshintergrund – herangezogen. Mit hoher Wahrscheinlichkeit handelt es sich hier überwiegend um türkeistämmige Personen.) Herkunft Ehemann
Frauen Ohne Migrationshintergrund Mit türkischem Migrationshintergrund
Ohne Migrationshintergrund 92,0
3,8
Mit Migrationshintergrund (Deutsche und Ausländer)
4,2
91,2
Ohne Angabe
3,8
5,0
Insgesamt
100
100
Quelle: Statistisches Bundesamt (2013a), Mikrozensus 2012, eigene Berechnungen
Boos-Nünning und Karakaşoğlu (2005b; vgl. hierzu auch Röhr-Sendlmeier und Yun 2006) kommen zu dem Ergebnis, dass sich türkische Mädchen und junge Frauen, je nach Bildungsstand, Familientyp und Religions- und Milieuzugehörigkeit sowohl in ihren Vorstellungen von einem künftigen Partner als auch in ihrer Einstellung bei der Wahl des Ehepartners grundlegend voneinander unterscheiden.
Tabelle 3.2 Einstellungen von türkischen Frauen zu inter- und innerethnischen Eheschließungen (Prozentwerte) Heirat eines deutschen Mannes
Heirat eines Mannes aus der Türkei
Ja, auf jeden Fall
2
14
Ja, möglicherweise
20
32
Nein, wahrscheinlich nicht
29
20
Nein, auf keinen Fall
47
32
Nein, ich möchte überhaupt nicht heiraten
2
2
Gesamt
213
213
Quelle: eigene Darstellung auf der Basis der empirischen Ergebnisse von Boos-Nünning und Karakaşoğlu (2005b, S. 248, 252)
3.2 Die familiären Lebensverhältnisse der Türkeistämmigen …
71
Rund drei Viertel der befragten Frauen lehnen ihrer Studie zufolge eine interethnische Ehe (wahrscheinlich) ab, nur 20 % können sich ‚möglicherweise‘ und 2 % ‚auf jeden Fall‘ eine Ehe mit einem Deutschen vorstellen, unter der Bedingung, dass sie sich in diesen Mann verlieben und ihre Eltern zustimmen. Auch kann nicht von einer starken Befürwortung transnationaler Eheschließungen gesprochen werden, denn nur 14 % der Befragten spricht sich ‚auf jeden Fall‘ dafür aus, während jede dritte Frau diese Form der Eheschließung prinzipiell ablehnt (vgl. ebd.; siehe Tabelle 3.2). Im Hinblick auf transnationale Eheschließungen zeichnen Baykara-Krumme und Fuß44 (2009, S. 150, 153) aber einen tendenziell zunehmenden Trend von Frauen der ersten Generation (24 %) über die mittlere Generation (31 %) bis zur zweiten Generation (30 %) nach45; weiterhin entschieden sich Frauen mittleren Heiratsalters (20–24 Jahre) häufiger für eine transnationale Ehe (während der türkische Heiratsmarkt für jüngere Frauen unattraktiver erscheine). Aydın (2003) widerlegt zudem die These, dass es sich bei Heiratsmigranten aus der Türkei nahezu ausschließlich um Frauen handelt: Während 54,8 % der Heiratsmigranten Frauen sind, liegt der Anteil der Männer bei 45,2 %. Knapp die Hälfte (46 %) der Befragten sei mit einem Verwandten oder mit einem entfernten Verwandten verheiratet, wobei diese Ehen häufig arrangiert sind (vgl. ebd., S. 291). Während Aydın (2003) hierin den Versuch (nicht zuletzt der Eltern) sieht, die Verbindung zur Herkunftskultur – die Stabilität der Familie und der Ehe (vgl. Toprak 2002, S. 159) – aufrechtzuerhalten, vermutet Straßurger (2001, S. 9) die Gründe transnationaler Eheschließungen weniger in einer Loyalitätsbeziehung zur Herkunftsgesellschaft oder zu Verwandten (vgl. auch Boss-Nünning und Karakaşoğlu 2005a, 2005b) als vielmehr in einer emotionalen Verbundenheit – die Frauen verlieben sich in die Männer. Interethnische Ehen der zweiten Generation werden in der Öffentlichkeit und den Medien oft als ‚Prüfstein gelungener Integration‘ (vgl. Straßburger
44Im
Mittelpunkt der Untersuchung zu den Determinanten der Partnerwahl steht die Frage nach dem Bildungskapital der jeweiligen Ehepartner, wobei Baykara-Krumme und Fuß (2009, S. 141 ff.) zu dem Schluss gelangen, dass die Entscheidung für einen Partner aus dem Herkunftsland weder mit dem Bildungsniveau gekoppelt ist noch mit einem ausgesprägten traditionellen Verhalten der Frauen. Vielmehr biete der Heiratsmarkt in der Türkei den türkeistämmigen Zuwanderern in Deutschland, unter anderem aufgrund des Ungleichgewichts bezüglich der Geschlechterpopulation (marriage squeeze) oft eine Alternative, einen potenziellen Partner zu finden (vgl. ebd.; siehe hierzu auch Apitzsch 2014, S. 206, 213). 45Zur Definition der Generationen siehe Baykara-Krumme und Fuß (2009, S. 141 ff.).
72
3 Forschungsstand
2011, S. 217) gewertet46, wobei dann von gelungener Integration ausgegangen wird, wenn der Anteil interethnischer Eheschließungen möglichst hoch und über die Generationen steigend ist. Bezogen auf Personen mit türkischem Zuwanderungshintergrund muss unter dieser Voraussetzung von einer nur wenig geglückten Integration ausgegangen werden, „[…] weil viele [Personen der zweiten Migrantengeneration türkischer Herkunft] nicht so heiraten, wie ‚man‘ es von jungen Leuten erwartet, die in Deutschland aufgewachsen sind“ (Straßburger 2011, S. 217), d. h., dass transnationale und innerethnische Ehen innerhalb der eigenen Community bevorzugt werden, während die Anzahl der Ehen mit deutschen Männern noch sehr niedrig ist (vgl. ebd.). Ob das Ausmaß interethnischer Ehen tatsächlich als Indikator für den Grad der Integration geeignet ist, bleibt fraglich, zumal die eigenethnische Partnerwahl dann eine bewusste Integrationsverweigerung und Abwendung von der deutschen Gesellschaft bedeuten würde. Weder ist gelungene Integration die Folge interethnischer Eheschließungen noch ist ihr Grad über das Ausmaß interethnischer Ehen bestimmbar. Zudem muss hier auch gezielt analysiert werden, ob und in welcher Intensität eine Heiratsneigung bzw. Heiratsbereitschaft von Seiten der deutschen Mehrheitsgesellschaft besteht. Ein Blick auf die Daten der amtlichen Eheschließungsstatistik weist auf einen allgemeinen Anstieg von binationalen47 bzw. interethnischen Ehen in den letzten Jahren hin, wobei geschlechts- und nationalspezifisch unterschiedliche Muster im Heiratsverhalten deutsch-ausländischer Ehen zu verzeichnen sind (vgl. Haug 2010). Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes (2012) wurden im Jahre 2011 insgesamt 377.816 Ehen geschlossen, davon 43.511 binationale. Dies sind
46In
der Migrations- und Integrationsforschung existieren sehr unterschiedliche Definitionen und Vorstellungen von Integration. Weitgehender Konsens besteht aber darin, Prozesse der strukturellen, sozialen, kulturellen und identifikativen Integration zu unterscheiden (vgl. Filsinger 2011, S. 53 ff.). Der Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration (2012, S. 19) beschreibt die Integration als „Teilhabe an den zentralen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens. Sie reicht von der Erziehung, Bildung, beruflichen Ausbildung und dem Zugang zum wirtschaftlichen Leben, insbesondere zum Arbeitsmarkt, über die sozialen Schutz- und Sicherheitssysteme bis hin zur (statusabhängigen) politischen Partizipation“ (ebd., S. 19). 47Im vorliegenden Kapitel werden binationale Ehen – bezogen auf die Staatsangehörigkeit der Ehepartner – und auch interethnische Eheschließungen – bezogen auf den Migrationshintergrund der Ehepartner – in Deutschland betrachtet (vgl. Haug 2010, S. 44). Der Begriff ‚bikulturell‘ wurde ausgespart, da der Kulturbegriff wenig konkret ist, wenngleich er gelegentlich in der Forschungsliteratur verwendet wird.
3.2 Die familiären Lebensverhältnisse der Türkeistämmigen …
73
11,5 % aller Eheschließungen, wovon 5 % ausländische Frauen und 6,6 % ausländische Männer betreffen. Die Daten reflektieren aber nur einen allgemeinen Anteil an Eheschließungen zwischen Deutschen und Ausländern, wie hoch der Anteil binationaler Ehen unter den Türkeistämmigen in Deutschland ist, bleibt hier offen.48 Differenziert nach Staatsangehörigkeiten ehemaliger Anwerbeländer belegt eine Analyse des Mikrozensus’ für den Zeitraum von 1989 bis 200049 allgemein zwar einen deutlichen Anstieg von binationalen Ehen, die Türkei weist aber „[…] unter allen betrachteten Nationalitäten für die gesamte Zeitspanne die niedrigsten Anteilswerte auf“ (Schroedter 2006, S. 425). Türkische Frauen sind seltener mit einem Mann deutscher Staatsangehörigkeit verheiratet und ihr Anteil liegt im Vergleich zu ihren Landsmännern weit zurück (für das Jahr 2000 lag der Wert für Frauen bei 6 %) (vgl. ebd.; siehe auch Schroedter 2011). Der nationalitätenübergreifende Vergleich der Frauen zeigt zudem einen deutlichen Anstieg von binationalen Ehen von der ersten zur zweiten Generation, der sich für türkische Frauen nicht konstatieren lässt (vgl. Schroedter 2006, S. 426). Zwar ergibt sich auch hier zwischen 1993 und 2000 ein leichter Anstieg binationaler Ehen von 3,1 % im Jahr 1993 auf 5,5 % im Jahr 2000, doch bleibt das Heiratsverhalten der zweiten Generation türkischer Frauen stark innerethnisch mit kaum abnehmender Tendenz. Auf der Basis des Mikrozensus’ 200850 bestätigt auch Haug (2010, S. 7, 46), differenziert nach Migrationsstatus der Ehegatten und ihrer derzeitigen bzw. früheren Staatsangehörigkeit, dass Türken geschlechtsunspezifisch am seltensten deutsche Ehepartner heiraten: Während 8,0 % der türkeistämmigen Männer (gegenüber 34 % der italienischen Männer) mit einer
48Auf
eine eigene Berechnung binationaler bzw. interethnischer Ehen auf der Basis der amtlichen Statistik wurde im Rahmen der vorliegenden Arbeit verzichtet, da Angaben über den tatsächlichen ethnischen Hintergrund der Ehepartner fehlen und Nationalität immer weniger mit ethnischer Herkunft gekoppelt ist. 49Die Daten des Mikrozensus’ für den Zeitraum von 1989 bis 2000 beziehen sich ausschließlich auf Differenzen bezüglich der Staatsangehörigkeit bei Eheschließungen und sind somit nicht aussagekräftig genug, um das tatsächliche Eheschließungsmuster türkischer Migranten widerzuspiegeln, zumal es sich bei Männern deutscher Staatsangehörigkeit um eingebürgerte Türken handeln kann. „Für die Analysen wurde ein Datensatz erstellt, der sich aus den faktischen anonymisierten 70%-Substichproben der Mikrozensen 1989, 1993, 1997 und 2000 zusammensetzt. Eine Ausnahme stellt der Mikrozensus 2000 dar: Aus ihm stammte […] das aktuellste Mikrozensus Scientific-Use-File“ (Schroedter 2006, S. 423). 50Quelle: Statistisches Bundesamt (2010); Angaben in Prozent, nur Verheiratete der jeweiligen Bevölkerungsgruppe; Berechnung von Haug (2010).
74
3 Forschungsstand
deutschen Frau ohne Migrationshintergrund verheiratet sind, fallen die entsprechenden Werte bei türkeistämmigen Frauen mit 3,3 % noch deutlich geringer aus (vgl. ebd.). Auch eine Analyse des Zentrums für Türkeistudien und Integrationsforschung51 belegt, dass der Anteil an Ehen mit deutschen Männern bei türkischen Frauen generationsunspezifisch sehr marginal ist (siehe Tabelle 3.3). Tabelle 3.3 Herkunft der Ehepartner türkeistämmiger Frauen in Nordrhein-Westfalen (ohne Ledige) nach Zuwanderungsgeneration und Altersgruppen 2011 (Zur Methodik der Befragung und zur Einteilung der Generationen siehe ausführlich Sauer (2012).) (Zeilenprozente). Herkunft Ehepartner Türkische Herkunft Zuwanderungsgeneration Erste Generation 100,0
Deutsche Herkunft
Andere Herkunft Keine Angabe
–
–
–
Nachfolgegeneration
93,4
2,5
1,6
2,5
Heiratsmigranten Altersgruppen
96,7
1,1
0,5
1,6
18 bis 29 Jahre
93,1
3,4
3,4
30 bis 44 Jahre
95,6
1,0
0,5
2,9
45 bis 59 Jahre
96,1
2,0
1,0
1,0
60 Jahre und älter 100,0
–
–
–
1,2
0,7
1,7
Gesamt
96,3
Quelle: Sonderauswertung der ZfTI-Mehrthemenbefragung in NRW 2011 (vgl. Sauer 2012)
Differenziert nach Generationszugehörigkeit52 zeigt sich, dass Frauen der ersten Generation ausschließlich mit einem Partner türkischer Herkunft verheiratet sind, 51Im
Rahmen der jährlichen repräsentativen Mehrthemenbefragung der Stiftung Zentrum für Türkeistudien und Integrationsforschung unter 1000 türkeistämmigen Personen wurde in den Jahren 2010 und 2011 die ethnische Herkunft der Ehepartner erhoben (siehe hierzu ausführlicher Sauer 2012). Die Daten beziehen sich auf Nordrhein-Westfalen und können keinen Anspruch auf Repräsentativität für ganz Deutschland beanspruchen. 52Zur Definition der Zuwanderergenerationszugehörigkeit siehe Sauer (2011, S. 49).
3.2 Die familiären Lebensverhältnisse der Türkeistämmigen …
75
während Frauen der Nachfolgegenerationen53 und Heiratsmigrantinnen einen – wenn auch kleinen – Anteil interethnischer Ehen aufweisen. Zudem deuten die Ergebnisse auf einen geringen Anteil an Ehen mit Männern anderer Herkunft hin, wobei hier keine Angabe zur genauen Herkunft vorliegt. Differenziert nach Altersgruppen zeigt sich bei jüngerem Alter ein steigender Anteil interethnischer Ehen, wobei auch in der jüngsten Gruppe die weit überwiegende Mehrheit einen Partner der gleichen ethnischen Herkunft hat (siehe Tabelle 3.3). Verschiedene Studien (vgl. u. a. Klein 2001a; Roloff 1998) zeigen auf, dass interethnische Eheschließungen tendenziell mit dem Bildungsniveau gekoppelt sind. So stellt Klein (2001a, S. 340 f.) heraus, dass binationale Eheschließungen häufiger zustande kommen, wenn zumindest ein Partner einen höheren bzw. universitären Abschluss hat. Schroedter (2006, S. 429 f.) kommt zu dem Ergebnis, dass türkeistämmige Frauen mit einem Hochschulabschluss dreimal häufiger mit einem deutschen Partner verheiratet sind als jene Frauen, die über einen Hauptschulabschluss verfügen. Trotz der hier herangezogenen Studien bleibt das Ausmaß an innerethnischen, transnationalen und interethnischen Ehen unter türkeistämmigen Personen in Deutschland letztlich unklar. Während Schätzungen zu innerethnischen und transnationalen Ehen der zweiten Generation widersprüchlich sind, weisen einige Studien (vgl. u. a. Haug 2010; Nauck 2002, 2007; Roloff 1998; Schroedter 2006) auf einen geringen Anstieg interethnischer und binationaler Ehen unter türkeistämmigen Frauen hin, „[…] sofern diese Entwicklung nicht auf Ehen mit eingebürgerten Männern türkischer Herkunft zurückzuführen ist“ (Nauck 2002, S. 323).
53„Es ist nicht möglich, die über den Familiennachzug nach Deutschland eingereisten Ehepartner eindeutig als erste Generation oder als Ehepartner der zweiten Generation zu identifizieren. Der notwendigerweise zu ziehende Schnitt bei heute 52 Jahren wurde gewählt, da ‚Gastarbeiter‘ heute mindestens 57 Jahre alt sein müssen (1973 zum Stopp der Anwerbung 18 Jahre) und von einer ähnlichen Altersstruktur (+/−5 Jahre) der Ehepartner ausgegangen wird, Ehepartner der ersten Generation also 52 Jahre oder älter sein müssen, Ehepartner der zweiten Generation jedoch jünger als 52 Jahre. Anhand der vorliegenden Daten kann nicht nach zweiter und dritter Generation unterschieden werden. Dazu wären Angaben zu den Eltern nötig“ (Sauer 2011, S. 49 f.).
76
3 Forschungsstand
3.2.3.2 Partnerwahlentscheidung türkeistämmiger Frauen zwischen Fremd- und Selbstbestimmung54 In den letzten Jahren sind arrangierte und Zwangsehen55, von denen nicht nur Mädchen und junge Frauen, sondern auch Männer (vgl. hierzu Boos-Nünning 2005b; Schröttle 2007; Toprak 2007) betroffen sind, stärker in den deutschen öffentlichen und wissenschaftlichen Fokus gerückt. Entsprechend wird auch beim Heiratsverhalten der zweiten Generation türkeistämmiger Frauen oft die Frage der ‚Selbst-, Familien- und Fremdbestimmung‘ (vgl. Straßburger 2003, S. 175) diskutiert. Hierbei dominiert die These, dass vielen Frauen bei der Partnerwahlentscheidung kein Mitspracherecht eingeräumt wird und sie von ihren Eltern in eine (ungewollte) Ehe gedrängt werden. Obwohl Fälle diese These bestätigen mögen, muss dringend von einer Verallgemeinerung abgesehen werden, denn die Einstellungen und Determinanten zur Partnerwahl sind, wie bereits erwähnt, unter den jungen türkeistämmigen Frauen individuell sehr unterschiedlich. Allerdings zeichnen sich auch klare Unterschiede zur deutschen Mehrheitsgesellschaft im Hinblick auf das Verständnis von Partnerschaften und Partnerschaftsmodellen ab. Während deutsche Paare „[…] vor der Ehe in einer intimen Beziehung [und oft innerhalb einer gemeinsamen Wohnung] prüfen, ob sie zueinander passen“ (Straßburger 2003, S. 175), wird die voreheliche Beziehung zwar von vielen jungen türkischen Frauen befürwortet, doch das voreheliche Zusammenleben wird nur selten toleriert (vgl. Boos-Nünning und Karakaşoğlu 2005a, S. 247). Die Mehrheit (68 %) der jungen türkischen Frauen tendiert also stärker zu der Option, nach der Eheschließung mit dem Partner zusammenzuwohnen (vgl. ebd.). Differenzen im Verständnis von Partnerschaften zeichnen sich auch bezüglich des Partnerschaftsmodus’56 ab. So können innerhalb derselben Familie sowohl selbstorganisierte als auch arrangierte Ehen beobachtet werden (vgl. Straßburger 2003, S. 175 f.). Ein weiteres Unterscheidungsmerkmal zur deutschen Mehrheitsgesellschaft ist der enge Einbezug türkeistämmiger
54Angesichts
der zunehmenden Bedeutung im öffentlichen Diskurs und der Fülle an wissenschaftlichen Forschungsarbeiten insbesondere zu arrangierten und Zwangsehen kann der vollständige Forschungsstand hier nicht dargestellt werden, vielmehr wird ein kurzer Überblick aktueller Arbeiten zu diesem Thema präsentiert. 55Zu unterschidelichen Formen der Zwangsverheiratung siehe Yerlikaya (2012, S. 33 ff.) sowie Yerlikaya und Çakır-Ceylan (2011). 56Während die ethnische Partnerwahl hier als Partnerschaftsmodell definiert wird, bezieht sich der Partnerschaftsmodus auf die Selbstbestimmung (z. B. Liebesehe), Fremdbestimmung (z. B. Eingreifen von außenstehenden Personen) und Familienorientierung (die Rolle und der Einfluss der Familie).
3.2 Die familiären Lebensverhältnisse der Türkeistämmigen …
77
Eltern bei der Partnerwahl, der alle Eheschließungsformen betrifft, aber nicht auf eine patriarchalische Bestimmung über den künftigen Ehegatten reduziert werden sollte. Vielmehr handelt es sich hierbei um den elterlichen Segen zur Ehe, eine Tradition, die noch in zahlreichen Ländern vorzufinden ist und nicht nur auf die türkische oder muslimische Community in Deutschland und in der Türkei beschränkt ist. In der deutschen Gesellschaft stößt diese wohl auch in dem elterlichen „[…] Wunsch, einer späteren Enttäuschung ihrer Kinder vorzubeugen“ (2002, S. 179), begründete Tradition oft auf Unverständnis (vgl. BoosNünning und Karakaşoğlu 2005b, S. 254). Gleiches gilt für arrangierte Ehen, die nach Straßburger (2003, S. 176) in der Öffentlichkeit noch stark als eine Form der Eheschließung betrachtetet werden, bei der „[…] individuelle Wünsche unberücksichtigt bleiben und familiäre Interessen den Ausschlag geben“. So hat sich die Auffassung herausgebildet, dass fast alle türkeistämmigen Frauen, gedrängt durch ihre Eltern und Familienangehörige, arrangierte Ehen eingehen und in diesen ungewollten ‚Käfigen‘ festsitzen. Zweifellos erschwert diese eingeschränkte Sichtweise die im öffentlichen und wissenschaftlichen Diskurs weiterhin strittige Grenzziehung zwischen arrangierten und Zwangsehen. In Auseinandersetzung mit den diesbezüglich sehr gespaltenen Meinungen geht Straßburger (2007, S. 71) von einer klaren Abgrenzung zwischen arrangierten und Zwangsehen aus, nimmt aber vergleichbare Merkmale zwischen selbstorganisierten und arrangierten Ehen an. Eine arrangierte Ehe sei eine Partnerwahlform, die wie eine selbstorganisierte Ehe auf einer freien Entscheidung57 basiert und keineswegs ein Zeichen von Unterdrückung und Gewalt sei. Der zentrale Unterschied zwischen selbstbestimmten und arrangierten Ehen bestehe darin, dass bei Letzteren die Partnerwahlentscheidung nach reiflicher Überlegung und Abwägung mit der Familie zusammen getroffen werde (vgl. Straßburger 2007, 2011.). Es wird also eine für alle Beteiligten – ohne elterlichen Druck und Zwang – akzeptable Entscheidung gefällt, die den Heiratskandidaten jederzeit die Möglichkeit einräumt, ihre Zustimmung zu widerrufen.
57Straßburger (2007, S. 78 f.) unterscheidet zwei Fälle, die die Entscheidungsfreiheit der jungen Frauen beeinträchtigen und somit eine Fehlentscheidung und eine teilweise ungewollte Ehe zur Folge haben können: Das (1) kommunikative Setting bezieht sich darauf, dass viele Frauen sich – zumal das Ansehen der Familie auf dem Spiel steht – nicht gegen den Willen der Eltern durchsetzen können. Der Aspekt des (2) Zeitdrucks ergibt sich, wenn im Zuge einer transnationalen Eheschließung eine schnelle Entscheidung zu fällen ist, wodurch die Gefahr besteht, sich ‚überrumpeln zu lassen‘ (vgl. ebd.).
78
3 Forschungsstand
Wie hoch der Anteil tatsächlicher Zwangsehen ist, bleibt unklar. „Schätzungen zu Folge werden in Deutschland jährlich ‚tausende betroffene Menschen‘ mit Zuwanderungshintergrund, insbesondere mit türkischem Zuwanderungshintergrund, in eine Zwangsehe gedrängt“ (vgl. Karakaşoğlu und Subaşı 2007, S. 103) (Hervorh. i. O.), was in den letzten Jahren zur Etablierung intensiverer Präventionsmaßnahmen sowie weltweiter Onlineberatungsstellen geführt hat. Einer nicht repräsentativen Studie im Auftrag der Behörde für Soziales, Familie, Gesundheit und Verbraucherschutz in Hamburg (Mirbach et al. 2011) zufolge waren in 830 bundesweit erfassten Beratungsstellen 3.443 Personen (darunter 252 Männer; 7 %) von Zwangsverheiratung bedroht (60 %) oder betroffen (40 %)58. Unter den Betroffenen waren 31,8 % in Deutschland und 23,3 % in der Türkei geboren (vgl. Mirbach et al. 2011, S. 28)59. Überwiegend handelte es sich um minderjährige Mädchen bis zu einem Alter von einschließlich 17 Jahren, gefolgt von jungen Frauen im Alter von 18 bis 21 Jahren, die aus allen Schichten, insbesondere jedoch aus armutsgefährdeten Familien stammten. Ferner ergab die Studie, dass es sich in vielen Fällen um Eingebürgerte handelt (vgl. ebd.). Allerdings verzichtet die Studie auf eine Definition von Zwangsverheiratung und nimmt dementsprechend auch keine Differenzierung unterschiedlicher Formen der Zwangsehe vor. Die Ergebnisse60 einer Teilerhebung der Untersuchung Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in Deutschland deuten im Widerspruch zu weitverbreiteten Annahmen zu arrangierten und Zwangsehen darauf hin, dass „[…] die große Mehrheit der in Deutschland lebenden Frauen türkischer Herkunft nicht gegen ihren Willen mit einem Partner verheiratet wurde[.]“ (Schröttle 2007, S. 147) Die Hälfte (49 %) der Befragten gab an, ohne Einfluss der Eltern
58Die
in der Studie ermittelten Zahlen lassen keine Rückschlüsse auf die Gesamtrate der Zwangsehen zu, sondern vielmehr auf den (teilweise geschätzten) Stand der in den Beratungsstellen (und Schulen) vorzufindenden Fälle (vgl. Mirbach et al. 2011, S. 7 f.). 59Obwohl Personen türkischer Herkunft nach Schätzungen die größte Gruppe der von Zwangsverheiratung Betroffenen in Deutschland sind, warnen Mirbach et al. (2011, S. 34) davor, Zwangsehen auf den Islam zu reduzieren, zumal unter den Beratungssuchenden auch Jesiden (9,5 %), Christen (3 %), Hinduisten (1 %) und Menschen ohne Religionszugehörigkeit (2,5 %) zu finden waren. 60Die Ergebnisse beruhen auf einer zusätzlichen Teilerhebung im Rahmen der ersten repräsentativen Untersuchung zu Gewalt gegen Frauen in Deutschland im Auftrag des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Die Teilerhebung, bei der 143 Frauen befragt wurden, erhebt keinen Anspruch auf Repräsentativität, sondern zeigt nur mögliche Tendenzen auf, weswegen die Ergebnisse mit Vorsicht interpretiert werden sollten (vgl. Schröttle 2007, S. 149).
3.2 Die familiären Lebensverhältnisse der Türkeistämmigen …
79
s elbstbestimmt den Ehepartner gewählt zu haben, weitere 48 % entschlossen sich für eine arrangierte Ehe durch die Empfehlung ihrer Verwandten und 3 % gaben keine Auskunft (vgl. ebd., S. 148). Auffällig ist, dass 46 % der Frauen, deren Eheschließung arrangiert wurde, nicht die Gelegenheit hatten, ihren künftigen Ehepartner vor der Eheschließung kennen zu lernen. Allerdings war nicht genauer spezifiziert, was mit ‚Kennenlernen vor der Ehe‘ gemeint war bzw. in welcher Zeitspanne die Ehe arrangiert und geschlossen wurde. Bei arrangierten Ehen kann, wie bei selbstorganisierten Ehen auch, die Zeitspanne zwischen Beschluss und Vollzug der Ehe kurz oder lang gehalten werden. Dieser Entscheidung liegen gewiss unterschiedliche Mechanismen zugrunde, die näher untersucht werden müssten, um gesicherte Aussagen machen zu können. Die Auswertung zeigt zudem, dass die Ehe bei drei Vierteln der Frauen mit Zustimmung und aktiver Mitsprache arrangiert wurde (vgl. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2013, S. 30). Allerdings geht Schröttle (2007, S. 149) in ihrer Untersuchung davon aus, dass „[…] etwa jede vierte bis fünfte in der Studie erfasste arrangierte Ehe […] menschenrechtlich als problematisch zu bewerten ist, weil die Frauen nicht nach ihrem Einverständnis gefragt wurden sowie den Partner lieber selbst ausgewählt hätten und/oder mit der Partnerwahl nicht einverstanden waren“. Knapp ein Fünftel (18 %) der Frauen gab sogar an, dass sie das Gefühl hatten, zur Ehe gezwungen zu sein (vgl. ebd.). Anzumerken ist hier jedoch, dass die Formulierung ‚Ich hatte das Gefühl, zur Ehe gezwungen zu sein‘ keine eindeutigen Rückschlüsse erlaubt. Insgesamt deuten die Ergebnisse darauf hin, dass die Mehrheit der Frauen zwar nicht von Zwangsverheiratung betroffen ist, einige wenige jedoch durchaus mit familiärem Druck im Hinblick auf die Partnerwahl konfrontiert sind. Auch Boos-Nünning und Karakaşoğlu (2005b, S. 256) belegen eine überwiegend selbstbestimmte Partnerwahlentscheidung der Mädchen und jungen Frauen mit türkischem Migrationshintergrund. Die deutliche Mehrheit (63 %; N = 208) unter ihnen lehnt demnach eine arrangierte Ehestiftung durch die Eltern oder Verwandten ab, nur ein geringer Anteil (11 %) kann eine arrangierte Ehe akzeptieren (‚auf jeden Fall‘ und ‚ja, vielleicht‘) und weitere 12 % waren sich unsicher und würden solch eine Entscheidung zum einen von der Situation und andererseits von dem Heiratskandidaten abhängig machen (vgl.). Während sich die Ergebnisse zum Ausmaß der Zwangsverheiratung bei türkeistämmigen Frauen in Deutschland wenig eindeutig präsentieren, liegen zu den Auswirkungen der Partnerwahl bzw. des Partnerwahlmodus’ auf die zukünftige Ehedauer keine empirischen Studien, sondern lediglich unbelegte Vermutungen vor. Angesichts dessen wird dieser Aspekt im weiteren Verlauf der vorliegenden Arbeit erneut aufzugreifen sein (siehe empirischer Teil).
80
3 Forschungsstand
3.3 Die Ehescheidung und die Scheidungsursachen im Wandel Ehescheidungen stießen in Deutschland bis ins 20. Jahrhundert hinein auf starke öffentliche Ablehnung61, obwohl im Jahre 1874 mit der Zivilehe auch das bürgerliche Scheidungsrecht eingeführt wurde (vgl. Schwab 2007, S. 507). Nave-Herz (1990a, S. 35) konstatiert mit Rekurs auf Rheinstein (1972) und Halem (1980), dass die Ehescheidung lange Zeit als moralische Verfehlung der Betroffenen, als persönliches Scheitern und Misserfolg galt, das mit Sanktionen verbunden war. Zeitweise wurde sie zudem als pathologisches Phänomen erklärt, das einer therapeutischen Behandlung bedarf (vgl. Rottleuthner-Lutter 1989, S. 607). Erst durch den Anstieg der Scheidungszahlen und das Inkrafttreten des ersten Eherechtsreformgesetztes am 01.07.1977, welches das Schuldprinzip durch das Zerrüttungsprinzip ersetzte, hat sich ein Wandel in der gesellschaftlichen Sicht und der Bewertung von Trennung und Scheidung vollzogen, welcher sich auch verstärkt in der wissenschaftlichen Literatur bemerkbar machte (vgl. Fthenakis und Walbiner 2008a, S. 1). Kontroverse Debatten um die Ehescheidung in Deutschland drehten sich dabei vor allem um die Frage, ob und inwieweit die Institution ‚Familie‘, die als Kern der Gesellschaft gewertet wird, durch die steigenden Scheidungszahlen gefährdet ist. Während Kardas und Langenmayr (1996, S. 25) darauf hinweisen, dass die anhaltend steigenden Scheidungsziffern sowie die Pluralisierung alternativer Lebensformen den Erhalt der traditionellen Familie gefährden können, beschreibt Goode (1976, S. 40) die Ehescheidung nicht als Gefährdung bzw. Zerfall der Familie und Ehe, sondern als soziale Einrichtung, als eine Art Fluchtweg aus ehelichen Spannungen. Rottleuthner-Lutter (1989, S. 607 f.) konstatiert mit Rekurs auf König (1976), dass die zunehmenden Scheidungszahlen die Institutionen ‚Ehe‘ und ‚Familie‘ nicht betreffen: Solange die meisten Geschiedenen wieder heiraten (Folge-Ehe) und die Heiratsneigung nicht abnimmt, könne nicht von einer Krise der modernen Kleinfamilie gesprochen werden (ähnlich argumentiert auch Burkart 2018, S. 196).
61Die
Institutionen ‚Ehe‘ und ‚Familie‘ waren lange Zeit durch die Kirche geprägt, denn das Verständnis von Ehe und Eherecht wurde bis zur Einführung der bürgerlichen Zivilehe durch das kirchliche Eherecht bestimmt und beeinflusst. „Während die Evangelischen Kirchen die Ziviltrauung als rechtmäßige Eheschließung betrachten […], wird nach katholischem Kirchenrecht bis heute eine Eheschließung nur dann als gültig angesehen, wenn die Trauung kirchlich vollzogen wurde“ (Schwab 2007, S. 507). Bei Letzterem gilt die Ehe als unlösbarer Bund des Lebens und kann nur unter eng begrenzten Bedingungen rechtmäßig geschieden werden (vgl. Herzer 1998, S. 24 f.).
3.3 Die Ehescheidung und die Scheidungsursachen im Wandel
81
Schätzungen zufolge endet heute jede dritte Ehe in Deutschland mit einer Scheidung. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes (2013b) wurden 2011 insgesamt 187.640 Ehen geschieden. Dies entspricht einem prozentualen Anstieg von 1,1 % im Vergleich zum Vorjahr. Bierhoff und Grau (1999, S. 137 f.) vermuten, dass der Anteil fortbestehender Ehen mit unzufriedenen und stark belasteten Ehepartnern in Deutschland höher ist als der Anteil geschiedener Ehen. Denkbar ist, dass der Anteil an Trennungen bei nicht verheirateten Paaren höher ist als bei Verheirateten (vgl. u. a. Bierhoff und Grau 1999; Kurdek 1993). Heute liegt eine Vielzahl von empirischen Untersuchungen zur Ehescheidung, deren Ursachen und Folgen vor. Für die vorliegende Arbeit werden einige relevante empirische Forschungsarbeiten vorgestellt, um den gegenwärtigen Forschungsdiskurs ansatzweise abzubilden und mögliche Forschungslücken in diesem Feld hervorzuheben.
3.3.1 Scheidungsursachen im Umbruch Zur allgemeinen Erklärung der Scheidungszahlen wird in der gegenwärtigen Literatur eine Vielzahl von unterschiedlichen Faktoren herangezogen. Im Vordergrund stehen dabei vor allem soziodemografische Daten. Analysiert wird beispielsweise, welchen Einfluss Heiratsalter, Ehedauer, Nationalität, Kinderzahl, Frauenerwerbstätigkeit, Bildungsniveau und Vererbung des Scheidungsrisikos auf die Instabilität der Ehe haben. Neben soziodemografischen Studien haben sich einige Forschungsarbeiten auch den subjektiven Ursachen sowie den psychologischen Gründen der Ehescheidung zugewandt.
3.3.1.1 Soziodemografische Faktoren Heiratsalter: Das Scheidungsrisiko wird in der wissenschaftlichen Literatur oft auf das Heiratsalter zurückgeführt. Diekmann und Klein (1993, S. 365) weisen darauf hin, dass insbesondere diejenigen Ehen ein erhöhtes Scheidungsrisiko haben, bei denen die Frau älter ist als der Mann. Aber auch Frühehen sind stark scheidungsgefährdet, zumal sich die Persönlichkeitseinstellungen der Paare im Eheverlauf verändern können. Bahr et al. (1983) kommen hingegen zu dem Ergebnis, dass das Heiratsalter keinen Einfluss auf die Ehestabilität hat bzw. nicht ausschlaggebend ist für die Qualität der Ehe und die eheliche Zufriedenheit. Ehedauer: Eine weitere Determinante des Scheidungsrisikos ist die Ehedauer. Viele Untersuchungen bestätigen, dass sich die Ehequalität und -stabilität mit der Dauer der Ehe verändert. Vor allem in den ersten fünf Jahren lässt sich ein erhöhtes Scheidungsrisiko beobachten, das nach 5 Jahren einen
82
3 Forschungsstand
Höhepunkt erreicht und sich schließlich langsam abschwächt (vgl. Emmerling 2003). Nationalität: Es liegen mehrere Befunde vor, nach denen interethnische Ehen aufgrund der Unvereinbarkeit der Lebensweisen und Wertdifferenzen scheidungsanfälliger sind als innerethnische Ehen (vgl. Babka von Gostomski et al. 1999; Roloff 1998). Kinderzahl: Auch wenn dies kontrovers diskutiert wird, finden sich in der sozialwissenschaftlichen Forschung Hinweise darauf, dass Kinder einen stabilisierenden Effekt auf die Ehe haben, insofern scheidungshemmend sind (vgl. u. a. Wagner 1993). Ein ähnliches Fazit zieht auch Babka von Gostomski (1999, S. 204) aus den Ergebnissen seiner Untersuchung und resümiert, dass kinderlose Ehen die höchste Scheidungsrate aufweisen. Crohan (1996) stellte hingegen fest, dass das Konfliktpotenzial innerhalb der ehelichen Partnerschaft nach der Geburt eines Kindes steigt, zumal die veränderte Lebensbedingung durch die Geburt eines Kindes eine intensive Belastung für das Ehepaar darstellt. Erwerbstätigkeit der Frau: Die Meinungen zur Bedeutung der Erwerbstätigkeit der Frau für die Ehescheidung gehen in der sozialwissenschaftlichen Forschung weit auseinander. Während Diekmann und Engelhardt (1995, S. 215 ff.) eine Wechselwirkung zwischen der Erwerbstätigkeit der Frau und dem Scheidungsrisiko nachzeichnen, verdeutlichen Beck und Hartmann (1999), dass die Erwerbstätigkeit der Frau nicht für sich genommen das Scheidungsrisiko erhöht, sondern vielmehr berufstätige Ehepaare signifikant häufiger geschieden werden als Ehepaare, bei denen nur der Mann berufstätig ist. Der Statuswettbewerb zwischen den Ehepartnern, die Belastung der Ehe durch Streit wegen fehlender häuslicher Unterstützung des Mannes und die reduzierte gemeinsam verbrachte Zeit haben einen negativen Einfluss auf die Ehestabilität (vgl. Hartmann und Beck 1999, S. 195 f.). Bildungsniveau: Eine weitere umstrittene Determinante ist das Bildungsniveau der Frau. Wagner (1993) kommt zu dem Ergebnis, dass Ehen, in denen Frauen ein höheres Bildungsniveau aufweisen als Männer, scheidungsanfälliger sind. Diekmann und Klein (1993) konnten aber grundsätzlich kein ansteigendes Scheidungsrisiko bei einem höheren Ausbildungs- bzw. Schulbildungsniveau der Frau feststellen. Eine finanzielle Unabhängigkeit infolge des höheren Bildungsniveaus kann die Frauen im Konfliktfall – im Gegensatz zu Frauen, die aufgrund ihres niedrigen Bildungsniveaus finanziell vom Ehepartner abhängig sind – allerdings eher dazu verleiten, eine unbefriedigende Ehe aufzukündigen. Vererbung des Scheidungsrisikos: Einige Studien zeigen, dass neben den soziodemografischen Merkmalen auch die elterliche Scheidung einen
3.3 Die Ehescheidung und die Scheidungsursachen im Wandel
83
destabilisierenden Effekt auf die Ehequalität hat (vgl. u. a. Diekmann und Engelhardt 1995; Glenn und Kramer 1987; Wagner 1993; Wallerstein et al. 2002). In der einschlägigen Forschungsliteratur finden sich jedoch starke geschlechterspezifische Differenzen im Ausmaß der Transmissionseffekte. Während einige Studien (vgl. u. a. Amato und Booth 1996; Amato et al. 2001; Wallerstein et al. 2002) eine höhere Wahrscheinlichkeit des Transmissionsrisikos bei Frauen nachweisen, belegen andere Studien (vgl. hierzu u. a. Diekmann und Engelhardt 1995) ein erhöhtes Scheidungsrisiko bei Männern. Bierhoff und Grau (1999) weisen zudem darauf hin, dass die Scheidungswahrscheinlichkeit mit einer bereits erlebten Scheidung in der Biographie ansteigen kann. Aufgrund der widersprüchlichen Ergebnisse in der einschlägigen Forschungsliteratur scheinen die soziodemografischen Faktoren keinen ausreichenden Erklärungsansatz für die Scheidungsursachen und keine Antwort auf den sozialhistorischen Anstieg zu bieten (vgl. Nave-Herz 2003, S. 181).
3.3.1.2 Subjektive Scheidungsgründe Im deutschsprachigen Raum widmete sich die Familiensoziologin Nave-Herz (1990b, S. 61) den subjektiven Gründen der Ehescheidung. Im Rahmen ihrer qualitativen Retrospektivstudie mit 65 Geschiedenen und Getrenntlebenden gelangte sie zu dem Ergebnis, dass die steigenden Scheidungsziffern nicht mit den gesellschaftlichen Veränderungsprozessen in Bezug auf die Bedeutung der Ehe einhergehen, sondern vielmehr auf bestimmte veränderte Persönlichkeitsmerkmale der/des Ehepartner(s) zurückzuführen sind. Die hohen Erwartungen an eine eheliche Partnerschaft führen häufig zu Enttäuschungen und Spannungen in der Ehe, wodurch das Scheitern der Ehe häufig schon vorprogrammiert ist (vgl. ebd., S. 138). Daraus kann die Schlussfolgerung gezogen werden, dass nicht der Bedeutungsverlust der Ehe, sondern eher die veränderten Persönlichkeiten im Kontext des sozialen Wandels und die damit verknüpften hohen Anforderungen an den Ehepartner die Stabilität und die Aufrechthaltung der Ehe heute erschweren. Zu ähnlichen Ergebnissen gelangten auch Schneider (1990) und Scheller (1992). Allerdings geht Scheller (1992) bei ihrer Längsschnittstudie62
62Die
verwendeten Daten gründen auf der qualitativen Untersuchung Ursachen des zeitgeschichtlichen Anstiegs von Ehescheidung von Nave-Herz et al. (1990). In dieser Studie wurden anhand einer qualitativen und halbstandardisierten Befragung Geschiedene und als Kontrollgruppe dienende Verheiratete aus verschiedenen Eheschließungs- bzw. Geburtenkohorten befragt (vgl. Scheller 1992, S. 11).
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3 Forschungsstand
davon aus, dass geschlechtsspezifisch sehr unterschiedliche Veränderungen in den Persönlichkeitseinstellungen zu beobachten sind. Auch wenn das Ausmaß der Veränderung bei Männern niedriger ausfiel, sind nicht nur die veränderten Persönlichkeitsmerkmale und die daraus resultierenden diskrepanten Ansprüche der Frauen Anlass für die Auflösung der Ehe, sondern vielmehr die unterschiedliche Entwicklung beider Ehepartner (vgl. Scheller 1992). Bodenmann et al. (2002) versuchen im Rahmen ihrer deskriptiven Untersuchung Scheidungsursachen und -verlauf aus Sicht der Geschiedenen die Auflösung der Partnerschaft aus Sicht der Betroffenen zu erfassen. Neben den subjektiven Scheidungsgründen wurden gesondert auch die scheidungserleichternden Bedingungen, die scheidungserschwerenden Faktoren sowie die scheidungsauflösenden Bedingungen analysiert – mit dem Ergebnis, dass die Mehrheit der Paare einen ‚schleichenden und unbemerkten Zerfall‘ ihrer Partnerschaft durchlebten. Ausschlaggebende Gründe für die Ehescheidung waren die Entfremdung vom Ehepartner und unerfüllte Erwartungen. „Als scheidungserleichternd wurden eine unbefriedigende Sexualität und mangelnde Passung gesehen, während die Verantwortung gegenüber den Kindern als wichtiger scheidungserschwerender Umstand bezeichnet wurde“ (Bodenmann et al. 2002, S. 5). Zweitrangig waren hingegen die Faktoren ‚Gewalt‘ sowie ‚Alkohol- und Drogenprobleme‘. Als auflösende Bedingungen der Ehe wurde nachweislich der Faktor ‚Stress‘ klassifiziert (vgl. ebd.). Zwar haben die hier exemplarisch angeführten Untersuchungen wichtige Erkenntnisse zu den subjektiven Scheidungsursachen gegeben, beschrieben wurden in der Regel aber nur die Gründe für den Entschluss zur Ehescheidung. Unberücksichtigt oder ungenügend erfasst bleiben die Gründe, die im Eheverlauf dazu geführt haben, dass eine anfänglich glückliche Ehe mit einer Scheidung endet (vgl. Bodenmann und Cina 2000, S. 125). Auch baut nicht jeder Entschluss zur Ehe, wie von Bodenmann und Cina (2000) angenommen, auf dem Fundament des Glücks auf; die Motive zur Eheschließung können je nach Biografie des Partnerschaftsverlaufes sehr stark variieren.
3.3.1.3 Psychologische Risikofaktoren der Ehescheidung Im Mittelpunkt der psychologischen Scheidungsursachenforschung stehen neben den Persönlichkeitsmerkmalen (vgl. hierzu u. a. Bentler und Newcomb 1978; Kurdek 1993) der Bindungsstil sowie Kompetenz- und Kommunikationsdefizite (vgl. hierzu u. a. Bodenmann 2001; Gottman 1993, 1994; Hahlweg 1986) und die damit verbundene Entfremdung von Paarbeziehungen. Neuere Studien weisen darauf hin, dass nicht nur innere, sondern auch äußere Faktoren,
3.3 Die Ehescheidung und die Scheidungsursachen im Wandel
85
wie beispielsweise der Alltagsstress, großen Einfluss auf die Instabilität der Partnerschaft haben können. Bodenmann (1995b, 2000a) belegt auf der Grundlage einer Längsschnittstudie, dass Stress sich direkt und indirekt auf die Paarbeziehung auswirkt, insofern die Partnerschaftsqualität und -stabilität beeinträchtigt und das Scheidungsrisiko erhöht. „[Vor allem] die durch die Partnerschaft bedingten Belastungen, tägliche Mikrostressoren63, Freizeitstress und finanzielle Belastungen korrelieren signifikant negativ mit der dyadischen Zufriedenheit [der Ehe]“ (Bodenmann 1995b, S. 247; siehe auch Bodenmann und Cina 1999). Als indirekte Prädiktoren von Belastungen erwiesen sich neben der schlechten Interaktionsqualität (gereiztere und negative Interaktion) mit dem Partner psychosomatische Beschwerden bzw. die Befindlichkeit der Partner (vgl. Bodenmann 1995b, S. 244 f.). Direkte Prädiktoren sind die ungenügenden Bemühungen des individuellen und des dyadischen Copings (siehe Kapitel 2). In einer über 4 Jahre angelegten Längsschnittstudie zeigen Bodenmann und Cina (1999), dass stabil-zufriedene Paare Stress im Gegensatz zu stabilunzufriedenen oder Scheidungspaaren gemeinsam bewältigen, sich in Stresssituationen emotional unterstützen und damit das ‚Wir-Gefühl‘ festigen und die Partnerschaftszufriedenheit erhöhen. Die Wechselwirkung zwischen Stress und Bewältigungsstrategien nimmt daher eine bedeutende Rolle für den Verlauf der Partnerschaftsstabilität und -qualität ein (vgl. Bodenmann und Cina 2000). Auch Bierhoff und Grau (1996) widmeten sich den psychologischen Prädiktoren der Beziehungsstabilität. Über einen Zeitraum von einem Jahr wurden 130 Paare, deren durchschnittliche Beziehungsdauer zum ersten Messzeitpunkt 5 Jahre betrug, im Hinblick auf den Einfluss der Prädiktoren ‚Liebesstil‘, ‚Bindungsstil‘, ‚Investment‘, ‚Kommunikation‘, ‚Nähe‘, ‚Streit‘ und ‚Zufriedenheit‘ auf die Stabilität einer Beziehung analysiert (vgl. Bierhoff 1999, S. 146; siehe hierzu auch Bierhoff und Grau 1996, S. 251). „Partner, die zum zweiten Messzeitpunkt noch zusammen sind, brachten zum ersten Messzeitpunkt mehr Bindung und mehr Investment zum Ausdruck, waren zufriedener mit der Partnerschaft, schrieben dem Partner bzw. der Partnerin weniger Streitverhalten zu und hatten eher einen niedrig ausgeprägten ängstlich-ambivalenten Bindungsstil“ (Bierhoff und Grau 1996, S. 251). Zusammenfassend ergab die Studie, dass sich Liebe, Altruismus und ein sicherer Bindungsstil als relativ bedeutungslos
63Bodenmann
und Cina (2000, S. 127) unterscheiden hauptsächlich zwischen Makrostressoren (kritische Lebensereignisse) und Mikrostressoren (tägliche Widrigkeiten).
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3 Forschungsstand
für die Trennung erweisen, während die Konfliktintensität – keine kleinen Auseinandersetzungen, sondern verletzende, wiederholt auftretende Streitereien (z. B. unter Einsatz von Sarkasmus) – sich positiv auswirkt (vgl. Bierhoff und Grau 1996, S. 260). Paare, die wenig in die Partnerschaft investiert haben, sind auch in Konfliktsituationen schneller geneigt, die Beziehung aufzugeben, als jene, die mehr investiert haben (vgl. ebd.). Wahrscheinlicher sei eine Trennung auch bei Paaren mit einem ängstlich-ambivalenten Bindungsstil.
3.3.2 Scheidungsfolgen: gegenwärtiges Kurzzeitereignis oder langfristiger Prozess? Wenngleich die eheliche Trennung und Scheidung grundsätzlich ein kritisches Lebensereignis voller Veränderungen und Herausforderungen darstellt (vgl. Beelman und Schmidt-Denter 2003, S. 506 f.), kann sie auch als ein individueller Neuanfang, unter gewissen Umständen womöglich auch als Befreiung oder Öffnung neuer persönlicher Entfaltungs- und Handlungsmöglichkeiten erlebt werden (vgl. Filipp 1995; siehe auch Filipp und Aymanns 2010). Nichtsdestotrotz geht die Ehescheidung für alle Beteiligten mit kurz- oder langfristigen Emotionen wie Trauer, Wut, Angst, Verunsicherung und Versagensgefühlen einher (vgl. Zütphen 2010, S. 15), die sich auf das gesamte zukünftige Leben auswirken können. Ob und inwiefern eine Ehescheidung nun als traumatisches Lebensereignis oder als zeitlich begrenzte Krise erlebt wird, hängt von unterschiedlichen Faktoren ab (vgl. Fthenakis und Walbiner 2008b, S. 37). Ungeachtet der individuell variierenden Folgen der Scheidung sind die scheidungsbedingten Auswirkungen für alle Betroffenen mit übergangsspezifischen Anpassungsleistungen und komplexen Aufgaben verbunden. Die Folgen der Ehescheidung für die Betroffenen wurden im wissenschaftlichen Diskurs allerdings lange Zeit unzureichend beleuchtet. Dies lag vor allem an der Dominanz des Desorganisationsmodells, das später vom Reorganisationsmodell abgelöst wurde und erst in jüngster Zeit der Annahme gewichen ist, die Ehescheidung als einen Übergang im Entwicklungsprozess der Familie zu definieren, in dem sich die Familien reorganisieren und weiterentwickeln zu einem ‚binuklearen Familiensystem‘64. Anhand des Drei-Phasen-Modells,
64“The
divorce process can be viewed as a series of transitions that mark the family’s change from married to divorced status, from nuclearity to binuclearity“ (Ahrons 1980, S. 534; siehe auch Ahrons 1979).
3.3 Die Ehescheidung und die Scheidungsursachen im Wandel
87
das zugleich einen Hinweis auf den zeitlichen Bedeutungswandel der Ehescheidung gibt, soll nachfolgend der Forschungsstand zum Thema ‚Scheidungsfolgen‘ und ‚Bewältigungsstrategien‘ nachgezeichnet werden, bevor abschließend die Situation der Kinder nach der Scheidung beleuchtet wird.
3.3.2.1 Das Desorganisationsmodell Im lange Zeit dominierenden Desorganisationsmodell wird die Ehescheidung als Auflösung der Kernfamilie (leibliche Eltern und Kinder) und als Endpunkt der familiären Entwicklung gewertet (vgl. Fthenakis und Walbiner 2008a, S. 1). Der Fokus war ausschließlich auf die traditionelle Kernfamilie gerichtet, die aufgrund der Pluralisierung der Lebensformen heute nur eine von diversen Familienkonstellationen darstellt. Diesem Modell zufolge wird „[…] die Ehescheidung […] als eine von der gesellschaftlichen Norm abweichende, wenn nicht gar pathogene Entwicklung der Familie betrachtet, was eine Stigmatisierung der Betroffenen impliziert“ (Beelman und SchmidtDenter 2003, S. 509). So galt die Scheidung als persönlicher Misserfolg in der Biographie. Die Bewältigung der Scheidung und ihrer Folgen fand zumeist auf individueller Ebene ohne gesellschaftliche Unterstützung statt und war gegenüber dem sozialen Umfeld zu rechtfertigen (vgl. Fthenakis und Walbiner 2008a, S. 2). In diesem Ansatz wurden zwar die Rechte der Eltern infolge der Ehescheidung beleuchtet, weitgehend unberücksichtigt blieben aber die Rechte der Kinder. Auch deren Wohlergehen und die Eltern-KindBeziehung nach der Scheidung hatten eine eher untergeordnete Bedeutung. Ebenfalls unzureichend berücksichtigt wurden die weiteren familiären Entwicklungen und die Neugestaltung der Lebenssituation. Im Vordergrund standen primär strukturelle Merkmale wie die Wohnsituation und die finanziellen Ressourcen der (Rest-)Familien, psychologische und prozessuale Aspekte waren hingegen zweitrangig bzw. blieben zumeist unbeachtet (vgl. Fthenakis und Walbiner 2008a, S. 2). Im Desorganisationsmodell stehen die negativen Folgen der Scheidung im Fokus, mögliche positive Veränderungen für die Betroffenen wurden praktisch nicht betrachtet. „Die im Rahmen der Scheidungsforschung gewonnenen Erkenntnisse führten im Laufe der Zeit zu einer grundsätzlichen Kritik am Desorganisationsmodell der Scheidung und den hierbei zugrundeliegenden Theorien“ (Fthenakis und Walbiner 2008a, S. 2).
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3 Forschungsstand
3.3.2.2 Das Reorganisationsmodell der Ehescheidung Dem neueren Reorganisationsmodell zufolge wird die Ehescheidung nicht als ein einmaliges traumatisches und ‚kritisches Lebensereignis‘65 definiert. Dieses Modell zeichnet sich im Wesentlichen dadurch aus, dass die Ehescheidung als „[…] ein dynamischer langanhaltender Prozess [zu verstehen ist], der lange vor der juristischen Scheidung beginnt und weit darüber hinaus andauert“ (Beelman und Schmidt-Denter 2003, S. 510; siehe hierzu auch Fthenakis und Walbiner 2008a, 2008b). Mit dem Reorganisationsmodell geht nach Fthenakis und Walbiner (2008a, S. 2) die Annahme einher, dass die Ehescheidung als normatives Lebensereignis in den prozesshaften Verlauf der Familienentwicklung eingebettet ist. „Dies bedeutet zum einen, dass problematische Entwicklungsverläufe in der Familie in der Regel schon lange vor einer Trennung gegeben sind“ (ebd., S. 2). Andererseits wird nicht wie im Desorganisationsmodell vom Zerfall, sondern von einer Reorganisation der Familie gesprochen, in der sich die Familienmitglieder neu strukturieren. Die ursprüngliche Kernfamilie geht in ein ‚binukleares Familiensystem‘66 über. Jener Übergang beinhaltet auf verschiedenen Ebenen wesentliche Veränderungen für die Betroffenen, wobei es sich nicht zwangsläufig nur um negative Veränderungen handeln muss, sondern gleichzeitig auch die Möglichkeit bzw. Chance eingeräumt wird, die Beziehungen sowie verschiedene Lebensbereiche neu und besser zu gestalten (vgl. ebd.). Über die Neuausrichtung der Familienstruktur hinaus beleuchtet das Modell auch die individuelle Verarbeitung der Trennung und Scheidung durch die Familienmitglieder. Nicht nur die Rollenverteilungen verändern sich oder müssen neu organisiert werden, sondern auch Einstellungen und Denkweisen. Darüber hinaus wird in diesem Modell auch die kindliche Entwicklung nach der Scheidung stärker berücksichtigt. 65‚Kritische Lebensereignisse‘ werden hier mit Filipp (1990, S. 3) als abrupte und unvorhersehbare Übergangsprozesse im Leben eines Individuums betrachtet, d. h. als abrupte Veränderungen in der Personen-Umwelt-Beziehung der Betroffenen. Die Konfrontation mit ihnen kann eine Herausforderung zur Folge haben und eine Umorientierung im Handeln und Denken sowie in den Überzeugungen und Verpflichtungen verlangen (vgl. ebd.). Aus entwicklungspsychologischer Perspektive werden „kritische Lebensereignisse entweder als konstitutives Merkmal des menschlichen Lebenslaufs betrachtet und/oder als Erklärungsprinzip für ontogenetische Veränderungen über die Lebensspanne […]“ (ebd., S. 5). 66“The reorganization of the nuclear family through divorce frequently results in the establishment of two households, maternal and paternal. These two interrelated households, or nuclei of the child’s family of orientation, form one family system – a binuclear family system“ (Ahrons 1979, S. 500).
3.3 Die Ehescheidung und die Scheidungsursachen im Wandel
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Zwar entstand im Zuge des Reorganisationsmodells eine neue theoretische Perspektive auf Scheidungsfamilien, „[…] die Phänomene der Trennung, Scheidung und Wiederheirat wurden jedoch weiterhin nicht in einen generellen Ansatz der familiären Entwicklung integriert und dabei als mögliche Übergänge begriffen“ (Fthenakis und Walbiner 2008a, S. 3). Auch wenn wesentliche Veränderungen zum Desorganisationsmodell vorzufinden sind, konnte die bislang dominierende Perspektive, Scheidung sei eine von den gesellschaftlichen Werten und Normen abweichende Lebensform, nicht widerlegt werden.
3.3.2.3 Die Transition im Rahmen des Familienentwicklungsprozesses Erst mit dem Modell von Cowan und Hetherington (1991) wurde die Perspektive der Scheidung als abweichende Lebensform verworfen. Cowan und Hetherington (1991) charakterisieren die Scheidung und Wiederheirat als eine ‚Transition‘67 im Rahmen des familialen Entwicklungsprozesses. Die Übergänge führen im Familienentwicklungsprozess nicht nur zu strukturellen Veränderungen, sondern erfordern von den Betroffenen eine situationsbedingte Anpassung an die neue und veränderte Lebenswelt. Im Kontext der Anpassungsleistungen durchlaufen die Betroffenen – hier sind alle Familienmitglieder gemeint – verschiedene Lebensphasen, die mit neuen Anforderungen, Belastungen und übergangsspezifischen Entwicklungsaufgaben verbunden sind (vgl. Fthenakis und Walbiner 2008a, S. 3). „Die übergangsspezifischen Anforderungen sind [für viele Betroffene] oft unklar und unstrukturiert und erfordern seitens der betroffenen Personen eine Vielzahl von Bewältigungsstrategien auf verschiedenen Ebenen, wobei die Veränderungsrichtung […] [Chance vs. Gefährdung der Anpassung] zu Beginn noch nicht festliegt“ (Beelman und Schmidt-Denter 2003, S. 511). Nicht selten können die unstrukturierten übergangsspezifischen Anforderungen emotionale Verunsicherungen, Ohnmacht und Dissonanz hervorrufen. Die Entwicklungsaufgaben betreffen nach Fthenakis und Walbiner (2008a) die Ebenen des Individuums, der Interaktion und des Kontexts. Anzumerken ist in diesem Zusammenhang jedoch, dass die übergangsspezifischen Anforderungen, Belastungen und Bewältigungsstrategien je nach Lebensbereich und Intensität der Belastung variieren können (ähnlich dem Ansatz von
67Unter ‚Transition‘ verstehen Fthenakis und Walbiner (2008a, S. 3) einen Übergang, der im entwicklungspsychologischen Sinne auf den weiter unten näher erläuterten Ebenen (individuelle, interaktionale und kontextuelle Ebene) verarbeitet und bewältigt wird.
90
3 Forschungsstand
Lazarus, siehe oben). Die subjektiven Veränderungen können auf individueller Ebene oft zu einem emotionalen Ungleichgewicht führen, denn diese Phase ist eng verknüpft mit einer neuen Selbsteinschätzung und der veränderten Wahrnehmung des eigenen Umfeldes (ähnlich dem Ansatz von Lazarus, siehe oben). Zur Bewältigung des emotionalen Ungleichgewichtes bedarf es somit einer Ausbalancierung, die für die Betroffenen nicht selten mit großen Schwierigkeiten verbunden ist. Denn durch einen Lebensübergang wie die Ehescheidung kommen häufig Verwirrungen, Verunsicherungen, Zukunftsängste, Depressionen, Aggressionen, aber auch mögliche Schuldgefühle zum Vorschein (vgl. Fthenakis und Walbiner 2008a, S. 4). Das Selbstwertgefühl kann unter diesen Belastungen stark abnehmen und damit (anhaltende) psychische Störungen hervorrufen, aber auch die Möglichkeit einer subjektiven Bewältigung und Neuorientierung des Lebens erschweren (siehe hierzu auch Napp-Peters 1995). Entscheidend ist, dass zunächst das Selbstwertgefühl, die Selbstwahrnehmung und die Identität erneuert und wieder aufgebaut werden müssen (vgl. ebd.). Nötig ist nicht nur eine Neuordnung der eigenen Person, sondern auch der Aufbau eines veränderten Weltbilds. Die Einstellungs- und Verhaltensveränderungen gehen zugleich mit einem Wandel des sozialen Umfelds und der Weltansicht einher. Fthenakis und Walbiner (2008a, S. 4) konstatieren, dass die Bewältigung der Transition zum einen mit der Akzeptanz der erlebten Lebenssituation und zum anderen mit der Entwicklung selbstregulierender Strategien gelingt. Auch Cowan (1991) vertritt diese Annahme, allerdings geht er in seinen Überlegungen davon aus, dass nicht nur das Akzeptieren der neuen Lebenssituation und selbstregulierende Strategien eine Ausbalancierung des emotionalen Ungleichgewichtes und damit eine Anpassung an die neuen Lebensverhältnisse ermöglichen, sondern dass vielmehr die Wechselwirkung zwischen der Reorganisation der eigenen Persönlichkeit und dem Weltbild, das Akzeptieren der Scheidung sowie die Kontrolle bzw. Regulierung des emotionalen Ungleichgewichtes entscheidend sind. Hier stellt sich die Frage, ob eine Reorganisation und Anpassung auch dann gelingen kann, wenn gemeinsame Kinder vorhanden sind. Auf interaktionaler Ebene setzt die Bewältigung der Ehescheidung situationsspezifische Verhaltens- und Anpassungsformen voraus, die grundsätzlich im Kontext der individuellen Ebene entwickelt werden (vgl. Fthenakis und Walbiner 2008a, S. 4). In dieser Phase müssen nicht nur die persönlichen Kompetenzen und Beziehungen zu den einzelnen Familienmitgliedern neu ausgerichtet und wiederhergestellt (verändertes Eltern-Kind-Verhältnis) werden, sondern es bedarf zudem einer Reorganisation gegenwärtiger Rollenverteilungen, die nach Fthenakis und Walbiner (2008a, S. 4) wie folgt verlaufen kann:
3.3 Die Ehescheidung und die Scheidungsursachen im Wandel
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a) Die veränderten Rollen innerhalb der Familien können selbstbestimmt oder fremdbestimmt umstrukturiert oder übernommen werden oder auch komplett entfallen. b) Die Erwartungen an die Personen, die die Rollen übernommen haben, können gesteigert oder gesenkt werden. c) Durch die Ehescheidung kann sich aber auch die Bedeutung einer bereits vorhandenen Rolle in der Familie grundlegend ändern. Wichtig ist die individuelle Anpassung der Rollenverteilung, was aufgrund der emotionalen und psychischen Situation vieler Frauen sicherlich nicht immer gelingt. Denn „Rollenverluste können die Suche nach anderen, stellvertretenden Rollen in Gang setzen, was zu neuen Konflikten in der Scheidungsfamilie führen kann“ (Fthenakis und Walbiner 2008a, S. 4). Eine zu hohe Erwartung – oft an die Kinder – birgt die Gefahr der Überforderung durch die zugewiesene Rolle und führt zu Schwierigkeiten bei der Erfüllung der Aufgaben. Darüber hinaus bedarf es oft einer Umstrukturierung des sozialen Netzwerkes oder des Freundeskreises (vgl. ebd., S. 5; siehe hierzu auch Beelmann und Schmidt-Denter 2003, S. 516 f.). Denn mit der Ehescheidung können sich die Beziehungen zu Freunden und Bekannten, aber auch möglicherweise zur eigenen Familie und zu Verwandten (z. B. auch durch einen Wohnortwechsel oder eine bei Alleinerziehenden eingeschränkte Freizeit) grundlegend verändern, was aber nicht zwangsläufig als Entfremdung oder Verlust dieser zu deuten ist. Gerade die Beziehung zur eigenen Verwandtschaft kann dann sehr konfliktbeladen sein. Gewiss kann aber auch die Beziehung zu Freunden – insbesondere wenn es sich um gemeinsame Freunde mit dem ehemaligen Partner handelte – brüchig werden, wodurch die Notwendigkeit besteht, neue soziale Netzwerke aufzubauen. Familiäre, aber auch freundschaftliche Unterstützung kann für die Anpassung an die neue Lebenssituation und nicht zuletzt für das emotionale Wohlergehen sehr entscheidend sein. Umgekehrt kann eine fehlende Unterstützung verstärkt zur Isolation führen, gleichzeitig aber auch Zukunftsängste, Verunsicherungen und Verzögerungen in der Anpassung an die neue Lebenssituation hervorrufen oder verstärken. „Als besonders effektiv und hilfreich wird die Unterstützung durch einen neuen Partner oder eine Wiederheirat erlebt, da hiermit der Blick in eine positive Zukunft eröffnet wird und der Trennung ein Sinn im Lebenslauf beigemessen werden kann“. (Fthenakis und Walbiner 2008b, S. 39). Ferner sind mit der Scheidung in der Regel Veränderungen im Lebenskontext verknüpft, wie bspw. der Auszug aus der gemeinsamen Wohnung, die Aufnahme einer neuen Berufstätigkeit oder die Reduzierung des finanziellen
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3 Forschungsstand
Lebensstandards (vgl. Beelmann und Schmidt-Denter 2003, S. 517 ff.; Fthenakis und Walbiner 2008a, S. 5). Wirtschaftliche Not und der damit verbundene ökonomische Abstieg werden von Napp-Peters (1995) im Rahmen einer repräsentativen Längsschnittstudie mit 150 Scheidungsfamilien als größte und belastendste Veränderung identifiziert. Vor allem vielen niedrig qualifizierten Frauen und älteren Frauen mag es schwerfallen, eine angemessene Berufstätigkeit zu finden, ebenso Frauen mit jüngeren Kindern (vgl. Beelmann und SchmidtDenter 2003, S. 520). Andererseits kann es den Betroffenen auch Mühe bereiten, einer bislang ausgeübten Vollzeiterwerbstätigkeit weiter nachzugehen, wenn Kinder betreut werden müssen, was finanzielle Einschränkungen und einen veränderten Lebensstandard nach sich ziehen kann. Neben der Vereinbarkeit von Kindeserziehung und beruflicher Verpflichtung können spezifische Belastungen auch durch Alltagsaufgaben, wie z. B. Haushaltsführung und Planung des Tagesablaufs, zum Vorschein kommen (vgl. Beelmann und S chmidt-Denter 2003, S. 517 f.). Somit steigen nicht nur die Handlungsanforderungen, sondern es reduzieren sich auch die Handlungsfreiräume, was den alltäglichen Stress erhöhen kann. Mit Blick auf die vorliegende Untersuchung stellt sich hier die Frage, in welchem Maße die Anzahl und das Alter der vorhandenen Kinder Einfluss auf (a) die Scheidungsfolgen sowie auf (b) die Verarbeitung und Bewältigung der Scheidung nehmen. Häufig führt eine direkte Folge der Scheidung zu weiteren belastenden Veränderungen (vgl. Fthenakis und Walbiner 2008b). Die hier exemplarisch beschriebenen Folgen müssen nicht von allen Betroffenen im gleichen Ausmaß und in der gleichen Intensität erlebt werden und können je nach Lebensphase und Biographie sehr stark variieren; sie erfordern insofern individuelle Bewältigungsstrategien sowie eine gewisse Vorbereitungszeit (vgl. Wallerstein und Blakeslee 1989, S. 28; Uslucan 2001, S. 5), können nach der Trennung mit der Zeit aber auch abschwächen. Nach Herzer (1998; mit Rekurs auf Goode 1965) gelingt die Bewältigung und Verarbeitung der Ehescheidung am besten über eine Neuorientierung des Lebens und mit einer neutralen Haltung zum Ex-Partner. Uslucan (2001, S. 5) weist jedoch darauf hin, dass die Verarbeitung der Ehescheidung und die damit einhergehende Neuorientierung erst dann erfolgen können, wenn die Ehescheidung sowohl juristisch als auch emotional abgeschlossen wird. Zwar widmen sich aufgrund des beschriebenen Perspektivenwechsels einige Untersuchungen (auch im deutschsprachigen Raum) den Folgen und der Bewältigung der Ehescheidung, weitgehend unberücksichtigt blieben jedoch die Folgen für weitere Familienangehörige. Viele Studien untersuchen die Scheidungsfolgen nur unter dem Gesichtspunkt der sozialen und finanziellen
3.3 Die Ehescheidung und die Scheidungsursachen im Wandel
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Ressourcen. Oft bleiben hierbei jedoch (vor-)eheliche Rahmenbedingungen (Verlauf der Ehe und die damit verbundenen psychischen Probleme) unberücksichtigt.
3.3.2.4 Scheidungsfolgen für Kinder Eine Ehescheidung hat, wie bereits erwähnt, nicht nur weitreichende Folgen für die geschiedenen Paare, sondern auch für die Kinder. Gleichwohl der wissenschaftliche Diskurs und die Ergebnisse zum Thema ‚Scheidungskinder‘ (in der gegenwärtigen Literatur) sehr kontrovers sind, besteht übereinstimmend die Auffassung, dass die positive Entwicklung des Kindes und die Bewältigung der Ehescheidung weniger von der Trennung, sondern vielmehr von der Nachscheidungsphase (Qualität der Beziehung zwischen den getrenntlebenden Eltern) abhängig sind (vgl. auch Amato und Keith 1991; Beelmann und Schmidt-Denter 1995, 1997). Auch Wallerstein und Blakeslee (1989) weisen darauf hin, dass eine konfliktfreie Interaktion zwischen den Eltern auch nach der juristischen Scheidung von großer Bedeutung für die psychische Entwicklung der Kinder ist. In ihrer bereits erwähnten Studie gelangte Napp-Peters (1995, S. 12 f.) zu dem Ergebnis, dass die Folgen der Ehescheidung das psychische Wohlbefinden der Kinder bis ins Erwachsenenalter beeinflussen können und die Mehrheit der Kinder auch dann noch große Schwierigkeiten mit der Bewältigung von Alltagsproblemen und der Lebensgestaltung hat (vgl. Napp-Peters 1995, S. 12, 142). Dabei sind die Reaktionstendenzen und die Verarbeitung der elterlichen Scheidung geschlechtsspezifisch sehr unterschiedlich. Während junge Frauen in der Adoleszenz unter starken Bindungs- und Beziehungsproblemen leiden, weisen junge Männer starke Anpassungs- und Verhaltensprobleme auf, die sich auf alle Lebensbereiche erstrecken können (vgl. Fthenakis und Walbiner 2008c, S. 44; Hetherington 1985; Napp-Peters 1995, S. 144 f.). Wallerstein und Blakeslee (1989) zeigen, dass die Folgen und die Verarbeitung der Ehescheidung für Kinder nicht nur geschlechtsspezifisch, sondern auch altersspezifisch stark variieren. Während bei kleinen Kindern Symptome wie Schlafstörungen festgestellt werden, weisen ältere Kinder und Jugendliche eher Konzentrationsschwierigkeiten in der Schule auf. Wallerstein und Blakeslee (1989, S. 20) stellten in Ergänzung zu Napp-Peters (1995) fest, dass sich die Situation der von Scheidung betroffenen Kinder grundsätzlich keineswegs über die Jahre verbesserte, sondern dass sie sich im Gegenteil eher noch verschärfte. In einer weiteren Längsschnittstudie, die sich über 25 Jahre erstreckte, gelangten Wallerstein et al. (2002, S. 32) zu dem Ergebnis, dass sich Kinder nicht nur mit Mutter und Vater als separate Individuen identifizieren, sondern auch mit der Beziehung ihrer Eltern, was zur Folge hat, dass sie ihre eigene Familie auf Grundlage der elterlichen Beziehungen aufbauen. Auch andere Studien (vgl.
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3 Forschungsstand
auch Hetherington 1985) zeigen Belege dafür, dass sich nichtintakte Familienbeziehungen auf die zukünftige Lebensgestaltung der Kinder in der Adoleszenz auswirken können. Denn „[…] die Angst [vor Bindungen] veranlasst viele Scheidungskinder, den falschen Partner zu wählen, zu rasch aufzugeben, wenn Probleme auftauchen, oder sich überhaupt nicht auf eine Partnerbeziehung einzulassen“ (Wallerstein et al. 2002, S. 32). Während sich immer mehr Forschungsarbeiten auch im deutschsprachigen Raum mit der Ehescheidung, ihren Ursachen und Folgen auseinandersetzen, bleibt die Ehescheidung türkeistämmiger Migrantinnen (und Migranten) in Deutschland weitgehend unerforscht, so dass kaum gesicherte Erkenntnisse über die Gründe und Folgen der ehelichen Trennung und Scheidung für diese Bevölkerungsgruppe gegeben sind. Die wenigen in diesem Bereich existierenden Studien werden nachstehend thematisiert.
3.3.3 Eheliche Partnerschaftsabbrüche bei türkeistämmigen Frauen in Deutschland Die Ehescheidung auf Initiative von Frauen war, auch in Deutschland, lange Zeit gesellschaftlich nicht akzeptiert. Doch auch innerhalb der türkischen Migrantenpopulation zeichnet sich, ähnlich wie unter der einheimischen deutschen Bevölkerung und der Gesellschaft in der Türkei, ein Wandel der gesellschaftlichen Haltung zur Ehescheidung ab. Scheidung wird nicht mehr grundsätzlich tabuisiert, sondern mehr und mehr als Teil der Normalbiografie betrachtet. Obwohl sich der gesellschaftlich kritische Blick auf die Ehescheidung und auf getrenntlebende bzw. geschiedene Frauen schrittweise abgeschwächt hat, werden Trennung und Scheidung in der türkischen Community in Deutschland wie in der Türkei auch heute noch vereinzelt als eine von der ‚gesellschaftlichen Norm abweichende familiäre Entwicklung‘ (vgl. Beelman und Schmidt-Denter 2003, S. 509) betrachtet. Mit Bezugnahme auf die Ergebnisse des Mikrozensus’ 2005 zeigen Auswertungen des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (2009) bei türkeistämmigen68 Migranten eine Scheidungsquote (bezogen auf 68Die
Zahlen müssen mit großer Vorsicht interpretiert werden, denn sie reflektieren nicht die tatsächliche Zahl der Scheidungen Türkeistämmiger. So werden in den deutschen Statistiken in der Türkei vollzogene Heiraten und Scheidungen – einschließlich solcher in einem türkischen Konsulat geschlossener und geschiedener Ehen – nicht erfasst, ebenso wenig rein religiös geschlossene und geschiedene Ehen, sondern nur solche, die vor einem deutschen Standesamt geschlossen bzw. geschieden werden.
3.3 Die Ehescheidung und die Scheidungsursachen im Wandel
95
die Bevölkerung ab 18 Jahren) von 4,3 %, die weit unter dem Durchschnitt der Gesamtbevölkerung (7 %) liegt. Auch in Migrantengruppen anderer klassischer Anwerbeländer wie Griechenland (5,5 %) und Italien (5,9 %) liegt die Scheidungsquote deutlich unter dem Durchschnitt der Gesamtbevölkerung (vgl. ebd.). Nach eigenen Berechnungen auf der Grundlage des Mikrozensus’ ergibt sich für Personen mit türkischem Zuwanderungshintergrund für das Jahr 2005 ein Anteil von 5,3 % Geschiedenen an allen nicht Ledigen (Verheiratete, Verwitwete, Geschiedene) und ein entsprechender Anteil von 10,5 % in der Gesamtbevölkerung. Für 2012 ergibt diese Berechnung einen Anteil Geschiedener von 8,1 % für die Türkeistämmigen und von 11,3 % für die Gesamtbevölkerung (vgl. Statistisches Bundesamt 2012a). Angesichts dieser Zahlen ist in den nächsten Jahren mit einem weiteren Anstieg zu rechnen. Trotz dieser Tatsache ist über die Ursachen und Folgen der Ehescheidung bei türkeistämmigen Migranten und insbesondere bei türkeistämmigen Frauen wenig bekannt. Zwar wurden in den letzten Jahren einige Forschungsarbeiten zu diesem Thema veröffentlicht (vgl. u. a. Dewran-Tütün 1993; Pasero 1990; Şirvanlı-Özen 2005; Yılmaz und Fişiloğlu 2005; Zentrum für Türkeistudien und Integrationsforschung 1995), untersucht wurden aber größtenteils, ähnlich wie in der deutschen Scheidungsforschung, entweder nur die Gesamtfamilie oder nur die Folgen für die Kinder. Petuya Ituarte (2007) kritisiert in diesem Zusammenhang, dass Frauen bzw. geschlechtsspezifische Fragestellungen überwiegend ausgeklammert wurden, sodass hier noch eine Forschungslücke besteht. Zuerst hat Süzen (2003) das Scheidungsverhalten türkischer Migrantinnen der zweiten Generation in der Bundesrepublik Deutschland untersucht und dabei die subjektiven Scheidungsursachen und -folgen im Kontext des Migrations- und Individualisierungsprozesses analysiert. Ausgangspunkt ihrer Untersuchung war die Wechselwirkung zwischen sozialem Wandel und Scheidungsverhalten bzw. -entschluss der Migrantinnen der zweiten Generation, um darüber erste Aussagen zu den Ursachen und Folgen treffen zu können. Süzen gelangte zu dem Ergebnis, dass sich das Verständnis und die Vorstellungen von einer Ehe und von der ehelichen Partnerschaft in der zweiten Generation im Vergleich zur ersten Generation erheblich gewandelt haben: Während Frauen der ersten Generation großen Wert auf den Erhalt und die Fortsetzung der Ehe legten, sind junge Frauen der zweiten Generation häufig nicht mehr bereit, eine konfliktbeladene und unbefriedigende Ehe fortzusetzen (vgl. Süzen 2003, S. 61). Die Vereinbarkeit auseinandergehender Einzelbiografien in einer Beziehung, die veränderten Rollenverhältnisse (Verschiebung der Familienhierarchie) und die hohen Erwartungen an die Partnerschaft erschweren die Aufrechterhaltung der Ehe in der modernen Zeit (vgl. Süzen 2004, S. 284). Nach diesem Verständnis ist die Aufrechterhaltung
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3 Forschungsstand
einer Ehe also keine Selbstverständlichkeit mehr, sondern vielmehr ein freiwilliger gegenseitiger Bindungswunsch. In ihrer Untersuchung unterscheidet Süzen (2004, S. 285 f.; 2008, S. 126) zwischen drei verschiedenen Scheidungstypen: Scheidung als Folge von Gewalt und Untreue, Scheidung als Weg zur Selbstbestimmung sowie Scheidung als Bruch mit der traditionellen Gemeinschaft. Typ 1 beschreibt solche Frauen, die in ihrer Kindheit bereits eine erste Trennungserfahrung (z. B. Trennung von Eltern) durchlebt haben und die von der Kindheit bis hin ins Erwachsenenalter mit Gewalt konfrontiert waren. Sie weisen oft ein gestörtes Verhältnis zu ihren eigenen Eltern auf, was nicht ohne Folgen für ihre eigene Ehe bleibt. Enttäuschung über die Partnerschaft, Gewaltbereitschaft und Untreue von Seiten des Mannes werden stillschweigend hingenommen und die Ehe wird erst mit dem Einverständnis der Eltern beendet, wenn keinerlei Hoffnung auf bessere Zeiten besteht. Als Typ 2 werden Frauen charakterisiert, die Tradition und Moderne (beide Kulturen) miteinander zu vereinen versuchen. Obwohl sie ihre Partnerschaft nicht an traditionellen Rollenverständnissen ausrichten, suchen sie, sofern es ihnen nicht gelingt, eine gleichberechtigte Partnerschaft aufzubauen, im Falle des Scheiterns der Ehe nach einer Begründung, die auch Einwänden der Eltern und der türkischen Community sowie damit verbundenen Werten standhält. Die Scheidung wird als Chance zur Selbstbestimmung und als Schritt zu einer modernen Lebensführung angesehen. Typ 3 beschreibt Frauen, die im Rahmen der Pendelmigration traumatische Trennungserlebnisse im Kindesalter erfahren haben und in der Folge unter Trennungs- und Verlustängsten sowie einem gestörten Selbstwertgefühl leiden. Sie streben nach Bildung als Schlüssel zur Selbstverwirklichung und versuchen dies mit der eigenen Familie zu vereinbaren. Eine Scheidung kommt für diese Frauen dann in Frage, wenn ihre Unabhängigkeit gefährdet ist. Eine Ehescheidung bedeutet für die Betroffenen oft einerseits eine Erleichterung, andererseits aber auch eine schwerwiegende Belastung. Im Unterschied zu einheimischen Frauen ist eine Ehescheidung für türkeistämmige Frauen nicht nur mit einer Trennungserfahrung, sondern auch mit einem Leben in der Diaspora, das in der Regel mit gesellschaftlicher Isolation, Stigmatisierung und Diskriminierung einhergeht, verbunden (vgl. Süzen 2004, S. 283; siehe auch Süzen 2008). Hinzu kommt, dass viele Frauen sich für das Scheitern der Ehe verantwortlich und damit schuldig fühlen, wodurch das psychische Wohlbefinden zusätzlich beeinträchtigt wird. Häufig fehlt den Frauen nach der Ehescheidung auch die familiäre Unterstützung und sie sind mit Armut, Arbeitslosigkeit, Einsamkeit und Erziehungsproblemen konfrontiert (vgl. ebd.). Um diese schwerwiegenden Folgen und die damit verbundenen
3.3 Die Ehescheidung und die Scheidungsursachen im Wandel
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neuen H erausforderungen zu bewältigen, „[….] setzten [die befragten Frauen] ihr soziales Kapital, ihre soziale Kompetenz und ihre Migrationserfahrung ein“ (Süzen 2004, S. 289). Eine weitere nennenswerte und zu einem generellen Verständnis der Thematik ‚Ehescheidung bei Migrantinnen‘ beitragende Untersuchung ist die Studie von Petuya Ituarte (2007), gleichwohl sich die gewonnenen Ergebnisse nicht auf türkeistämmige, sondern auf spanischstämmige Migrantinnen in Deutschland beziehen. Petuya Ituarte (2007, S. 248) untersuchte mit Hilfe einer qualitativen Befragung von 12 geschiedenen Migrantinnen aus Spanien die Lebensgeschichten von Frauen im Spannungsfeld von Migration und Scheidung. Im Zentrum ihrer Arbeit stehen die subjektiven Begründungen der Ehescheidung, die Ursachen und die Folgen für die Frauen, wobei Letztere den Schwerpunkt der Untersuchung bildet. Die Ziele der Untersuchung waren die Herausarbeitung von Veränderungen für die Frauen während des Migrations- und Scheidungsprozesses und die Herausarbeitung jener Aspekte, die die Handlungsstrategien der Frauen beeinflussen. Petuya Ituarte gelangte zu ähnlichen Ergebnissen wie Süzen. Allerdings geht sie in ihren Überlegungen davon aus, dass wesentliche Verzögerungen vom „[…] Zeitpunkt des Auftretens der Probleme bis hin zur eigentlichen Trennung und Scheidung zu beobachten sind“ (2007, S. 260 f.). Denn im Vergleich zu türkeistämmigen Frauen verkörperten Frauen mit spanischem Zuwanderungshintergrund ein anderes idealisiertes Frauenbild, das sehr viel stärker auf die Mutter- als auf die Gattinnenrolle festgelegt ist (vgl. ebd.). Aus diesem Grund beendeten sie häufig erst dann eine unzufriedene Ehe, wenn die Kinder volljährig sind (vgl. ebd., S. 261). Ferner zeigt die Studie, dass die Ehescheidung weniger mit dem Wunsch nach ökonomischer Unabhängigkeit oder einem Wertewandel verbunden ist, wie es deutsche Scheidungsstudien oft nahe legen, sondern dass sie vielmehr mit subjektiven Empfindungen der Frauen einhergeht. Dieses Ergebnis deckt sich ebenfalls mit den Befunden von Süzen. Im Unterschied zu einheimischen Frauen bringt die Ehescheidung bei Frauen mit Zuwanderungshintergrund Abgrenzungs- und Diskriminierungserfahrungen mit sich, kann aber auch, je nach biographischer Erfahrung in der Ehe, als Befreiung oder als Erlösung erlebt werden (vgl. auch Goode 1976; Filipp 1995, 2010). Auf Grundlage ihrer Untersuchung unterscheidet Petuya Ituarte (2007, S. 262) zwischen drei Bewältigungsstrategien: Auseinandersetzung bzw. Selbstreflexion, Abgrenzung (von der Mehrheitsgesellschaft) und Abwertung (Veränderungen der kollektiven Eigen- und Fremdwahrnehmung). „Diese Strategien sind nicht nur in dieser Reinform zu finden, sondern kommen oft im Zusammenspiel vor“ (ebd.).
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3 Forschungsstand
3.4 Zusammenfassung In der Türkei wurden Frauen mit der Einführung des Zivilrechts auf juristischer Ebene mehr Rechte zugesprochen, die angestrebte Gleichstellung der Geschlechter, vor allem im Sorge- und Erbrecht sowie in Bezug auf die Eheschließung und das Scheidungsrecht (vgl. Acet 2008, S. 19), etabliert sich aber erst langsam und in unterschiedlicher Ausprägung. Durch die soziale, ökonomische und kulturelle Diskrepanz zwischen den Schichten und Regionen finden sich auch heute unterschiedliche gesellschaftliche und kulturelle Entwicklungstendenzen und Ungleichheiten in den Lebensformen (vgl. El-Menouar und Fritz 2009). So trifft die kemalistische Reform in vielen Regionen der Türkei bis heute auf wenig Akzeptanz. Insgesamt bleibt die türkische Gesellschaft trotz Modernisierung in den Ballungsräumen stark geprägt von Tradition und Religion. So kann die Bindung an die Familie heute noch, wenn auch nur vereinzelt, zur Unterordnung eigener Wünsche und Vorstellungen unter die der Familie führen. Nicht zwangsläufig muss sich dies in einer Unterdrückung und Unterwerfung der jungen Frauen manifestieren, doch finden sich gewiss noch patriarchale Familienmuster, die die Entscheidungs- und Meinungsfreiheit der Frauen beeinträchtigen und deren radikalste Formen in Zwangsehe und Ehrenmord gipfeln, wobei diese Verhältnisse nicht allein durch starke Religiosität zu erklären sind, sondern auch auf geringe Bildung sowie auf die Sozialisationserfahrungen der Eltern zurückgeführt werden können. Die starke Verbundenheit zur Familie ist in allen Schichten und Regionen zu beobachten, ebenso wie die hohe Bedeutung der Familienehre. Auch für emanzipierte und moderne Frauen hat die Familie eine bedeutende Funktion im Leben, denn sie bietet gesellschaftlichen Schutz, moralischen Rückhalt und finanzielle Sicherheit. So ist die Familie in alle wichtigen Lebensentscheidungen involviert, auch dann, wenn die Frauen das Elternhaus verlassen und ihre eigene Familie gegründet haben. Wenngleich längere Beziehungen vor der Eheschließung heute möglich und üblich sind und die Partnerwahl durch die Eltern zunehmend durch die eigene Entscheidung der Heiratskandidaten abgelöst wird, orientieren sich viele Brautleute mit Rücksicht auf das soziale Ansehen der Familie weiterhin auch an deren Wünschen und Vorstellungen. Auch wenn ein bedingter Anstieg des Heiratsalters zu verzeichnen ist, heiraten Frauen in der Türkei im Vergleich zu einheimischen deutschen Frauen noch immer recht jung, was auch an der gesellschaftlichen Haltung gegenüber alleinstehenden Frauen liegen mag. Deutlich erkennbar ist ein kontinuierlicher Geburtenrückgang, im internationalen Vergleich jedoch in geringerer Ausprägung. Sowohl das Heiratsverhalten als auch die Geburtenraten können
3.4 Zusammenfassung
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angesichts der noch verbreiteten (statistisch nicht vermerkten) traditionellen Eheschließungen jedoch nur ansatzweise erfasst werden. Gleiches gilt für Ehescheidungen, die von der Majorität der türkischen Community noch immer sanktioniert werden (vgl. Süzen 2003, S. 26). Seit der Jahrtausendwende ist vor allem in Großstädten zwar ein Anstieg von Ehescheidungen zu verzeichnen, im Vergleich zu anderen Ländern treten Scheidungen aber noch immer selten auf (vgl. Yılmaz und Fidan 2006). Auch im Falle der Ehescheidung kann ein bedeutender Einfluss der am Erhalt ihres sozialen Ansehens – und damit auch der Ehe – interessierten Familie vermutet werden, und vor allem bei Verwandtschaftsehen dürfte eine Trennung noch konfliktbeladener ausfallen. So können Frauen im Falle der Scheidung, gerade wenn sie nicht erneut heiraten oder ins Elternhaus zurückkehren, aus dem gesellschaftlichen Schutzschirm herausfallen (vgl. Pasero 1990, S. 71) und sind häufiger auf sich allein gestellt. Im Jahre 2002 zu Gunsten der Frauen vorgenommene Änderungen im Familienrecht konnten die gesellschaftliche Haltung gegenüber getrenntlebenden Frauen nur wenig abmildern. Zwar wird die Scheidung bei Vorliegen schwerwiegender Gründe (Ehebruch, Gewalt), die sie auch aus religiöser Perspektive rechtfertigen, mitunter akzeptiert, der Abmilderung einer gesellschaftlichen Stigmatisierung steht indes aber ein gestiegener politischer Konservatismus entgegen (vgl. Yılmaz und Fidan 2006, S. 2). Türkeistämmige Familien in Deutschland wurden in der hiesigen Migrationsforschung lange Zeit als rückständig, patriarchalisch und an die traditionellen Werte und Normen der Herkunftsgesellschaft gebunden präsentiert – ein Bild, das in den Medien teilweise heute noch transportiert wird, das sich aber zumindest im wissenschaftlichen Diskurs ansatzweise gewandelt hat. Die Lebensverhältnisse Türkeistämmiger sind mittlerweile ähnlich vielfältig wie die Lebensverhältnisse Deutscher. Weitgehender Konses besteht jedoch darin, dass sich türkeistämmige Familien in ihrer Lebensführung sowohl von der Aufnahmegesellschaft als auch von der Herkunftsgesellschaft unterscheiden, wobei – ähnlich wie in der Türkei – je nach ursprünglicher regionaler Herkunft, Familientyp, Religionsund Milieuzugehörigkeit deutliche Variationen bestehen. Neuere Studien korrigieren auch das Bild der ‚unterdrückten türkischen Frauen‘, die an den Anforderungen der Aufnahmegesellschaft und den Erwartungen der Herkunftsgesellschaft zerbrechen und durch starke Kultur- und Identitätskonflikte geprägt sind. Es wird aber weiterhin von einer Belastung durch unterschiedliche nebeneinander bestehende Lebensentwürfe ausgegangen. Verändert haben sich auch die Haltungen und Einstellungen türkeistämmiger Frauen, ohne dass bestehende Familienstrukturen grundsätzlich in Frage gestellt würden. Während einige junge Frauen sich in der Lebensführung kaum von deutschen Frauen unterscheiden,
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3 Forschungsstand
leben andere Frauen wiederum sehr traditionsbewusst oder versuchen, Tradition und Moderne miteinander zu vereinen. Vor allem Frauen, deren Einwanderung nicht weit zurückliegt, weisen häufiger ein an die Werte und Normen der Türkei angelehntes traditionelles Verhaltens- und Lebensmuster auf. Der Übergang in eine individualisierte Gesellschaft, die von der Mehrheit der Türkeistämmigen angenommen wurde, führte auch zu einem veränderten Verständnis von Ehe, zu Verschiebungen im Heiratsverhalten und der Partnerwahlorientierung türkeistämmiger Frauen. Studien konnten zwar belegen, dass sich sehr unterschiedliche Muster und Einstellungen zu transnationalen, innerethnischen und interethnischen Ehen finden und der Partnerwahlentscheidung sehr unterschiedliche Aspekte zugrunde liegen, unklar bleibt aber das genaue Ausmaß an innerethnischen, transnationalen und interethnischen Ehen. Hinsichtlich der kontrovers diskutierten Frage nach Selbst- und Fremdbestimmung der Partnerwahl belegen einige Untersuchungen (vgl. Straßburger 2003, 2007; Schröttle 2007), dass sich die Mehrheit der türkeistämmigen Frauen nicht von ihren Eltern unter Druck gesetzt fühlt und nicht unter dem ‚Deckmantel‘ (Ateş 2007, S. 225) einer arrangierten Ehe zur Heirat gedrängt oder gezwungen wird. Vielmehr entscheiden zahlreiche junge Frauen heute sehr selbstbestimmt, jedoch zumindest teilweise unter Beteiligung der Eltern über den zukünftigen Ehepartner, wobei der Einbezug der Eltern nicht grundsätzlich als Zeichen von Unterdrückung, häuslicher Gewalt oder einer arrangierten Ehe gewertet werden darf, sondern als ‚individualistische Haltung‘ mit Rücksicht auf das soziale Ansehen der Familie (vgl. Boos-Nünning 2005b). Wie groß die Zahl der von Zwangsehen betroffenen oder bedrohten türkeistämmigen Frauen in Deutschland und in der Türkei ist und welche Folgen eine Zwangsverheiratung für die Betroffenen haben kann, bleibt aufgrund unzureichender Untersuchungen weiterhin im Dunkeln. Den Ursachen und Folgen der Ehescheidung für die Gesamtfamilie, geschlechtsspezifisch für Frauen, aber auch für die Kinder hat sich in den letzten Jahren eine Vielzahl soziologischer und psychologischer Forschungsarbeiten gewidmet. Widersprüchliche Ergebnisse erschweren jedoch eine Erklärung der Scheidungsursachen. Zwar werden Anhaltspunkte zu den Gründen der letztendlichen Scheidungsentscheidung und zu den möglichen Folgen für die Betroffenen geliefert, unberücksichtigt bleibt aber, welche Gründe im Eheverlauf dazu geführt haben, dass eine anfänglich eventuell sehr glückliche Ehe mit einer Scheidung endet (vgl. Bodenmann und Cina 2000b, S. 125). Ein Forschungsdesiderat besteht auch hinsichtlich der spezifischen Ursachen und Folgen der Ehescheidung bei türkeistämmigen Familien: Weder die Ursachen und Folgen für die Gesamtfamilie noch für die betroffenen Frauen (und Kinder) fanden bisher entsprechend Beachtung. Die qualitativ angelegten Studien von Süzen (2003)
3.4 Zusammenfassung
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und Petuya Ituarte (2007) geben zwar erste Anhaltspunkte, stellen aber aufgrund ihrer kleinen Samples und der Ortsbegrenzung keinen ausreichenden Erklärungsansatz dar, sodass es hierzu weiterer Untersuchungen bedarf. Mit Blick auf die vorliegende Arbeit sollten dabei insbesondere Unterschiede der Scheidungsursachen und -folgen und der Bewältigungsbestrebungen zwischen geschiedenen einheimischen und türkeistämmigen Frauen, aber auch Unterschiede zwischen in Deutschland und in der Türkei sozialisierten Frauen stärker hervorgehoben werden.
Teil II Hypothesen und Methode
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Zentrale Untersuchungsfragen und Hypothesen
Nachdem in den vorherigen Kapiteln der aktuelle Forschungsstand beschrieben wurde, widmet sich dieses Kapitel den zentralen Untersuchungsfragen und Hypothesen. Die Analyse zielt auf geschiedene/getrenntlebende türkeistämmige Frauen in Deutschland, wobei das zentrale Unterscheidungsmerkmal das Land der Sozialisation – Deutschland oder Türkei – ist. Ein Vergleich von nichtgeschiedenen türkeistämmigen Frauen und geschiedenen türkeistämmigen Frauen wurde ebenso wenig durchgeführt wie ein Vergleich von geschiedenen türkeistämmigen Frauen und geschiedenen Frauen anderer Herkunft. In Anlehnung an Bodenmann et al. (2002), Diekmann und Klein (1993), Wagner (1993) sowie Babka von Gostomski (1999) wird zunächst untersucht, inwieweit die Ehedauer der hier untersuchten geschiedenen Frauen in Abhängigkeit von ihrem Sozialisationsland je nach Konfliktpotenzial innerhalb der Ehe, Partnerschaftszufriedenheit, soziodemografischen Merkmalen, Heiratsmodus, Ähnlichkeitsmerkmalen zwischen den Ehepartnern, Traditionsgebundenheit und Scheidungsbarrieren variiert. Zudem soll überprüft werden, inwieweit die von Wallerstein und Blakeslee (2002) sowie Bierhoff und Grau (1999) mit Blick auf das Scheidungsrisiko aufgestellte Transmissionsthese auch auf die Ehedauer der türkeistämmigen Frauen anwendbar ist, d. h., ob die Ehedauer der Befragten von einer eigenen ersten Scheidungserfahrung und/oder einer elterlichen Scheidung beeinflusst wird. Untersucht wurde auch, ob und – wenn ja – welche Unterschiede zwischen beiden Befragungsgruppen hinsichtlich der Scheidungsgründe und Scheidungsbarrieren bestehen. Im Zentrum der Untersuchung steht zum einen die Frage, inwieweit die Kurzzeit- und Langzeitfolgen durch soziodemografische Merkmale, Heiratsmodus, Ehedauer, Scheidungsgründe und Scheidungsbarrieren moderiert © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 T. Mollenhauer, Eheliche Partnerschaftsverläufe und -abbrüche bei türkeistämmigen Frauen in Deutschland, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30940-4_4
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4 Zentrale Untersuchungsfragen und Hypothesen
werden. Kontrolliert wird in diesem Zuge auch der Einfluss der Kurzzeitfolgen auf die Langzeitfolgen. Der zweite Schwerpunkt der Untersuchung liegt auf den Bewältigungsbestrebungen und den sie beeinflussenden Variablen. Es wird also untersucht, inwieweit sich soziodemografische Merkmale, Scheidungsfolgen und das Wohlbefinden der Befragten nach der Scheidung in subjektiven Bewältigungsbestrebungen manifestieren. Da bislang keine empirischen Studien und theoretischen Ansätze vorliegen, die Rückschlüsse auf Zusammenhänge zwischen den oben benannten Variablen speziell für türkeistämmige Frauen in Deutschland erlauben, erfolgte die Analyse hier explorativ. Aus den genannten Untersuchungszielen lassen sich folgende drei Fragen ableiten: 1) Welche Unterschiede weisen in Deutschland sozialisierte Frauen und Heiratsmigrantinnen hinsichtlich der Ehedauer und der Scheidungsgründe auf? 2) In welcher Weise werden die Kurzzeit- und Langzeitfolgen der in Deutschland sozialisierten Frauen und der Heiratsmigrantinnen durch soziodemografische Merkmale, Heiratsmodus, Ehedauer, Scheidungsgründe und scheidungserschwerende Bedingungen moderiert? 3) In welcher Weise werden die Bewältigungsbestrebungen durch soziodemografische Merkmale, die Kurzzeit- und Langzeitfolgen und die kognitive Bewertung der Ehescheidung moderiert?
4.1 Hypothesen zur Ehedauer Bodenmann et al. (2002) gelangten in ihrer Studie zu den Scheidungsursachen aus Sicht der Geschiedenen zu der Erkenntnis, dass die Partnerschaft der Befragten unbemerkt und schleichend zerfallen ist. Entgegen dieser Annahme wird hier angenommen, dass die eheliche Beziehung der Befragten in der Regel bereits zu Beginn der Ehe sehr konfliktreich war und (1) Heiratsmigrantinnen trotz des hohen innerehelichen Konfliktpotenzials eine im Vergleich zu in Deutschland sozialisierten Frauen längere Ehedauer hatten. Grundlage für diese Annahme sind ihre mutmaßlich größeren Scham- und Versagensgefühle gegenüber dem nahen Umfeld in der Türkei, ihre Angst vor einem Ansehensverlust ihrer Familie und die Angst vor Perspektivlosigkeit in der Türkei. Eine erfüllte und zufriedene Partnerschaft kann als Voraussetzung einer langjährigen Ehe gelten. Bereits Süzen (2003) gelangte zu dem Ergebnis, dass türkeistämmige Frauen nicht mehr bereit sind, eine unbefriedigende Ehe fortzusetzen. In der vorliegenden Untersuchung wird ergänzend erwartet, dass gerade
4.1 Hypothesen zur Ehedauer
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(2) Heiratsmigrantinnen eher dazu neigen, eine unzufriedene Ehe vorerst fortzuführen, um z. B. den Erwartungen ihres sozialen Umfeldes und damit verbundenen Erwartungen an sich selbst zu entsprechen. In der einschlägigen Literatur werden oft soziodemografische Merkmale herangezogen, um darüber das Scheidungsrisiko zu bestimmen (vgl. Diekmann und Klein 1993; Emmerling 2003; Babka von Gostomski 1999; Wagner 1993). Diese Argumentation mag durchaus auch auf die Ehedauer türkeistämmiger Frauen übertragbar sein. Aufgrund der verschiedenen Sozialisationsländer der Befragten sind jedoch zusätzlich wesentliche Unterschiede zwischen den Befragungsgruppen zu erwarten. Es wird angenommen, dass (3) das Bildungsniveau der Heiratsmigrantinnen keinen Einfluss auf die Ehedauer hat. Diese Annahme liegt darin begründet, dass ihre Bildungsabschlüsse in der Aufnahmegesellschaft oft nicht anerkannt werden und dass die Betroffenen aufgrund etwaiger Sprachdefizite nicht in den von ihnen erlernten Berufen arbeiten. Aufgrund anderer Herausforderungen, die sich Heiratsmigrantinnen im Rahmen der Ehescheidung stellen, dürfte auch die grundsätzlich mit einem hohen Bildungsniveau einhergehende finanzielle Unabhängigkeit für sie eine eher untergeordnete Rolle spielen. Weiterhin sind altersspezifische Differenzen und Unterschiede in Bezug auf das Heiratsalter der Befragten zu erwarten. Bedingt durch den Individualisierungsprozess ist davon auszugehen, dass (4) die Eheverläufe der jüngeren Frauen im Vergleich zu älteren Frauen brüchiger geworden sind. Hinsichtlich des Heiratsalters ist anzunehmen, dass (5) Frühehen schneller aufgekündigt werden, zumal Persönlichkeitsmerkmale und Denkweisen in jungen Jahren noch stärkeren Veränderungen unterliegen. Darüber hinaus wird in Anlehnung an Babka von Gostomski (1999), der das Augenmerk auf deutsche Familien richtete, angenommen, dass (6) die Anzahl der Kinder einen Einfluss auf die Ehedauer haben kann; insbesondere bei kinderlosen Ehen wird eine kurze Ehedauer vermutet. Weiterhin wird erwartet, dass (7) auch das Alter der Kinder die Ehedauer beeinflusst, Ehen womöglich erst dann aufgekündigt werden, wenn Kinder volljährig sind (vgl. Petuya Ituarte 2007). Anzunehmen ist auch, dass (8) Frauen mit vorehelicher Beziehung eine kürzere Ehedauer aufweisen. Dies mag darin begründet sein, dass sich auch Paare mit einer bereits zur Routine gewordenen und womöglich konfliktreichen Beziehung irgendwann mit Rücksicht auf Familie und Community zur Eheschließung entscheiden. Denkbar ist auch, dass sie glauben, einander gut zu kennen, ohne das Zusammenleben in einem gemeinsamen Haushalt erprobt zu haben, so dass es auch bezüglich Charaktereigenschaften des jeweils anderen zu enttäuschten Erwartungen kommen kann.
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4 Zentrale Untersuchungsfragen und Hypothesen
Neben den soziodemografischen Merkmalen wurde auch der Heiratsmodus1 als Indikator für die Ehedauer herangezogen. Dabei wird vermutet, dass (9) Paare, die eine arrangierte Ehe eingehen, ein anderes Partnerschaftsmodell und Eheverständnis haben als Paare, die selbstbestimmt geheiratet haben, und dass sie aufgrund dieses Eheverständnisses eine längere Ehedauer aufweisen. Auf der Basis der theoretischen Vorannahmen ist anzunehmen, dass (10) Heiratsmigrantinnen im Vergleich zu in Deutschland sozialisierten Frauen traditioneller orientiert sind und demnach eine höhere Ehedauer aufweisen. Denkbar ist, dass eine stärkere traditionelle Orientierung mit einer stärkeren sozialen Einbettung einhergeht, sodass die betreffenden Frauen ihr Verhalten gegenüber dem sozialen Umfeld stärker rechtfertigen und mehr nach gesellschaftlicher Akzeptanz streben als nicht traditionell-orientierte Frauen und folglich größeren Wert auf den Erhalt der Ehe legen, was gegenüber modern-orientierten Frauen zu einer höheren Ehedauer führt. Als ein weiteres beeinflussendes Merkmal der Ehedauer wurden die Ähnlichkeitsmerkmale der Ehepartner vermutet. So wird angenommen, dass (11) bei einer hinsichtlich der Werteeinstellungen anfänglich hohen Ähnlichkeit der Ehepaare die Ehedauer steigt. Weiterhin ist zu vermuten, dass (12) bei hoher Ähnlichkeit der Eigenschaften der Ehepartner die Ehedauer höher ist als bei solchen Ehen, in denen die Eigenschaften der Ehepartner von Anfang an sehr unterschiedlich sind. Nach der Austauschtheorie von Lewis und Spanier (1979, 1982) wird die Ehe als Kosten-Nutzen-Bilanz aufgefasst, bei der die Betroffenen abwägen, welche Vor- und Nachteile mit einer Trennung verbunden sind. Demzufolge müsste (13) die Ehedauer bei solchen Frauen sinken, die mit weniger scheidungserschwerenden Bedingungen (Scheidungsbarrieren) konfrontiert sind, d. h., je geringer die Barrieren, desto kürzer die Ehedauer. Denkbar ist zudem, dass (14) Heiratsmigrantinnen im Vergleich zu in Deutschland sozialisierten Frauen deutlich häufiger mit scheidungserschwerenden Bedingungen konfrontiert sind und somit womöglich eine längere Ehedauer aufweisen. Die Transmission der Ehescheidung kennzeichnet einen zentralen Punkt der Scheidungsforschung. Dabei wird die elterliche Scheidung als Indiz für
1Der
Einfluss der Ethnie der ehemaligen Ehepartner auf die Ehedauer wurde aufgrund der sehr geringen Fallzahl von Eheschließungen mit einem Partner anderer Nationalität nicht in der Berechnung berücksichtigt. Die Ergebnisse in Abschnitt 5.5, Tabelle 5.2, haben verdeutlicht, dass die Partnerwahlorientierung der hier befragten Frauen noch stark innerethnisch ist.
4.2 Hypothesen zu den Scheidungsgründen
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das eigene Scheidungsrisiko herangezogen (vgl. u. a. Diekmann 1995; Glenn 1987; Wagner 1993; Wallerstein et al. 2002). Zudem ist bekannt, dass die Scheidungswahrscheinlichkeit mit einer bereits erlebten Scheidung in der Biografie ansteigt (vgl. Bierhoff und Grau 1999). Empirische Erkenntnisse bezüglich der Transmission der Ehescheidung bei türkeistämmigen Frauen existieren bislang nicht, ebenso wenig wie Befunde zum Einfluss einer bereits erlebten Scheidung in der Lebensbiografie auf die Ehedauer. Entsprechend ist zu prüfen, inwieweit diese allgemeinen Annahmen auf türkeistämmige Frauen übertragbar sind. Im Gegensatz zu bisherigen Studien im weiteren Rahmen der Scheidungsforschung wird der Fokus hier auf die Ehedauer statt auf das Scheidungsrisiko der Befragten gerichtet. Dabei ist zu erwarten, dass (15) die Ehedauer mit der elterlichen Scheidung und der eigenen Scheidungserfahrung in der Biografie sinkt. Die elterliche Scheidung könnte sich insofern auf die spätere Ehe der Befragten auswirken, als die eigene Beziehung womöglich auf der Grundlage des elterlichen Vorbildes gestaltet wird (vgl. Wallerstein et al. 2002, S. 32). Der Einfluss einer eigenen früheren Scheidungserfahrung kann damit begründet werden, dass gesellschaftliche und individuelle Barrieren und Hemmungen nunmehr als weniger schwerwiegend wahrgenommen werden, was zur Folge haben kann, dass eine (unglückliche) Ehe schneller aufgegeben wird als bei einem ersten Trennungsgedanken. Weiterhin wird erwartet, dass (16) Kinder aus der ersten Ehe ebenfalls einen Einfluss auf die Ehedauer haben können. Dabei wird die Ehestabilität und somit die Ehedauer nicht nur durch die Präsenz der Kinder beeinflusst, sondern auch durch einen womöglich weiterhin bestehenden Kontakt zum früheren Ehepartner.
4.2 Hypothesen zu den Scheidungsgründen Jüngere Studien haben unterschiedliche Gründe für die Auflösung der Ehe bei deutschen Frauen (Paaren) herausgestellt (vgl. hierzu Abschnitt 3.3.1). Für türkeistämmige Frauen führt Süzen (2003, 2004) Scheidung als Folge von Gewalt, Scheidung als Weg zur Selbstbestimmung und Scheidung als Bruch mit der traditionellen Gesellschaft als zentrale Scheidungsursachen an. Nachfolgend soll überprüft werden, ob und – wenn ja – inwiefern sich die befragten Frauen in ihren subjektiven Scheidungsgründen voneinander unterscheiden. Dabei wird angenommen, dass (17) Heiratsmigrantinnen ihre Ehe im Vergleich zu in Deutschland sozialisierten Frauen nur im Falle schwerwiegender Probleme aufkündigen.
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4 Zentrale Untersuchungsfragen und Hypothesen
4.3 Hypothesen zu den Scheidungsfolgen 4.3.1 Hypothesen zur Moderation der Kurzzeit- und Langzeitfolgen durch die soziodemografischen Merkmale Bisherige Befunde konnten belegen, dass die Intensität der Kurzzeit- und Langzeitfolgen von verschiedenen Faktoren abhängig ist und von Betroffenen nicht gleichermaßen erlebt wird (vgl. Schmidt-Denter und Beelmann 2003; Fillip 1995; Fhtenakis und Walbiner 2008a). Entsprechend wird für türkeistämmige Frauen erwartet, dass die (18) Bewertung der Kurzzeitfolgen (und Langzeitfolgen) im Zusammenhang mit den soziodemografischen Merkmalen – insbesondere werden alters- und sozialisationsspezifische Effekte erwartet – steht und dass auch Anzahl und Alter der Kinder während der Scheidung der Eltern sowie wirtschaftliche Rahmenbedingungen einen Einfluss auf die Scheidungsfolgen haben. In Bezug auf den Heiratsmodus wird angenommen, dass (19) die Trennung im Falle arrangierter Ehen – die oft auf Verwandtschaftsehen basieren – besonders konfliktbeladen ist und dass auch die Langzeitfolgen noch prekärer für die Betroffenen sind, weil weitere Familienmitglieder involviert sind. (20) Bei selbstbestimmten Ehen gegen den Willen der Eltern steigen vermutlich insbesondere die innerfamiliären Konflikte an, wodurch den Betroffenen auch nach der Scheidung die familiäre Unterstützung verweigert werden kann. Dies mag damit begründet sein, dass die Lebenssituation dieser Frauen nach der Scheidung von der eigenen Familie als selbstverschuldet gewertet wird.
4.3.2 Hypothesen zur Moderation der Kurzzeit- und Langzeitfolgen durch Scheidungsgründe und Scheidungsbarrieren Es ist zu vermuten, dass das Ausmaß mehrerer bereits im Verlauf der Ehe gegebener Stressoren (belastende Scheidungsgründe sowie Scheidungsbarrieren) auch nach der Scheidung von hoher Bedeutung für die Betroffenen ist, sie emotional belastet und langfristig die Unzufriedenheit der gesamten Lebenssituation erhöht (vgl. hierzu auch Lewis und Spanier 1979, 1982; Zemp und Bodenmann 2013), d. h., (21) je belastender die scheidungsbegünstigenden Gründe und je belastender die scheidungsverzögernden Bedingungen wahrgenommen wurden, desto belastender sind die Kurzzeit- und Langzeitfolgen. Erwartet wird
4.4 Hypothesen zu den Bewältigungsbestrebungen
111
zudem, dass die Scheidungsfolgen je nach Ehedauer sehr stark variieren, d. h., (22) je höher die Ehedauer, desto belastender sind die Scheidungsfolgen. In Anlehnung an die Stressbewältigungstheorie von Lazarus wird zudem erwartet, dass die Kurzzeitfolgen einen Einfluss auf die Langzeitfolgen haben: (23) Je intensiver die Kurzzeitfolgen wahrgenommen werden, desto belastender werden auch die Langzeitfolgen wahrgenommen.
4.4 Hypothesen zu den Bewältigungsbestrebungen 4.4.1 Hypothesen zur Moderation der Bewältigungsbestrebungen durch die soziodemografischen Merkmale Die Stressbewältigungstheorie nach Lazarus und Launier (1981) konstatiert, dass die Bewältigungsbestrebungen von den verfügbaren Bewältigungsmöglichkeiten abhängig sind. In Anlehnung daran ist zu vermuten, dass das Fehlen wirtschaftlicher Ressourcen (z. B. finanzielle Engpässe), insbesondere für Heiratsmigrantinnen, eine Bewältigung erschweren oder zweifelhafte Bewältigungsentscheidungen zur Folge haben kann (z. B. die Flucht in eine neue Ehe), d. h., (24) je geringer die verfügbaren Bewältigungsmöglichkeiten und -fähigkeiten, wie bspw. wirtschaftliche Ressourcen, desto schwieriger ist die Bewältigung der kritischen Lebenssituation. Anzunehmen ist auch, dass (25) die Wahl der Bewältigungsbestrebungen der Frauen altersspezifisch, je nach Sozialisationsland und je nach Anzahl und Alter der Kinder sehr unterschiedlich ausfällt. Denkbar ist z. B., dass mit der Höhe der Belastung durch kindliche Betreuung – in Abhängigkeit von Anzahl und Alter der Kinder – und mit den damit verbundenen scheidungsbedingten Anforderungen auch die Verarbeitung der Scheidung schwerer fällt. Angenommen wird weiterhin, dass (26) ein fremdbestimmter Heiratsmodus Auswirkungen auf das psychische Wohlbefinden der Befragten während und nach der Ehe hat und dass die betroffenen Individuen nach der Ehe verstärkt Unterstützung durch Dritte suchen, zumal sie die gewünschte Hilfe während der Ehe aus Angst vor dem Partner sowie der eigenen Familie möglicherweise nicht in Anspruch nehmen konnten und bereits während der Ehe an ihre Grenzen stießen.
112
4 Zentrale Untersuchungsfragen und Hypothesen
4.4.2 Hypothesen zur Moderation der Bewältigungsbestrebungen durch die Kurzzeitund Langzeitfolgen Neben soziodemografischen Merkmalen spielen die Intensität und das Ausmaß der erlebten Kurzzeit- und Langzeitfolgen eine bedeutende Rolle bei der Wahl der Bewältigungsformen, wie es bereits Lazarus und Launier (1981) nahe legten. (27) Je belastender die Kurzzeit- und Langzeitfolgen, desto unterschiedlicher sind die herangezogenen Bewältigungsformen. Denkbar ist zudem, dass (28) negative Folgeerscheinungen der Scheidung – unter der vor allem Heiratsmigrantinnen leiden – eine selbstständige Bewältigung und Verarbeitung der Scheidung erschweren können. Diese Annahme liegt darin begründet, dass Heiratsmigrantinnen im Vergleich zu in Deutschland sozialisierten Frauen mit komplexeren Anforderungen – wie Kindeserziehung, Zugang zum öffentlichen Leben und neuen Bekanntschaften –, die durch die Scheidung verstärkt/erhöht werden, konfrontiert sind. Weiterhin ist in Anlehnung an Lazarus und Launier zu erwarten (1981), dass (29) die Befragten die Belastungen im Zeitverlauf (Langzeitfolgen) intensiver wahrnehmen oder auch neue unerwartete Belastungen zum Vorschein kommen, die im Vergleich zum Umgang mit den Kurzzeitfolgen andere Bewältigungsformen begünstigen.
4.4.3 Hypothesen zur Moderation der Bewältigungsbestrebungen durch die kognitive Bewertung der Scheidung Fthenakis und Walbiner (2008a, 2008b) sowie Lazarus und Folkman (1984; siehe auch Lazarus und Launier 1981) belegen, dass die Wahl der Bewältigungsbestrebungen nicht nur mit soziodemografischen Merkmalen, sondern auch mit der kognitiven Bewertung und Beurteilung der Ehescheidung zusammenhängt. Folgt man dieser Annahme, dann sollten (30) Heiratsmigrantinnen, u. a. aufgrund der räumlichen Trennung zur eigenen Familie, stärker mit psychischen Problemen in Form von Überforderung, Verunsicherung, Verzweiflung, Enttäuschungen und Zukunftsängsten konfrontiert sein als in Deutschland sozialisierte Frauen und damit häufiger (31) professionelle Hilfe in Anspruch nehmen und ihre Probleme seltener lösen können. Die übergangsspezifischen
4.5 Hypothesenmodell der Untersuchung
113
Anforderungen und Anpassungsmöglichkeiten an die neue Lebenssituation in einem fremden Land gehen für Heiratsmigrantinnen vermutlich mit größerer Unsicherheit einher. Vor allem diejenigen Frauen, deren Migration noch nicht so weit zurück liegt und die sich folglich noch nicht ganz an die neue Lebenssituation in Deutschland angepasst haben, dürften mit stärkeren Zukunfts- und Existenzängsten, aber auch mit einer möglichen Ausweisung aus dem Land konfrontiert werden, wodurch das psychische Wohlbefinden noch stärker leiden kann.
4.5 Hypothesenmodell der Untersuchung Die in den Abschnitt 4.1 bis 4.4 vorgestellten Hypothesen werden in Abbildung 4.1 zusammenfassend grafisch dargestellt. In diesem Hypothesenmodell wird, wie bereits weiter oben beschrieben, angenommen, dass die Ehedauer vom subjektiv wahrgenommenen Eheverlauf, von den soziodemografischen Merkmalen, dem Heiratsmodus, der Traditionsgebundenheit, den Ähnlichkeitsmerkmalen der Ehepartner und der Transmission der Ehescheidung beeinflusst wird. Die Ehedauer, der Heiratsmodus und die soziodemografischen Merkmale nehmen ihrerseits Einfluss auf die Kurzzeit- und Langzeitfolgen. Weiterhin wird angenommen, dass die Scheidungsgründe und Scheidungsbarrieren soziodemografischen Einflüssen unterliegen und ihrerseits auf die Kurzzeit- und Langzeitfolgen wirken, wobei ein stärkerer Einfluss der Scheidungsbarrieren vermutet wird. Zudem wird ein Zusammenhang zwischen den Kurzzeitfolgen und den Langzeitfolgen insofern erwartet, als die Kurzzeitfolgen einen Effekt auf die Langzeitfolgen haben. In Anlehnung an die theoretischen Annahmen wird die Wahl der herangezogenen Bewältigungsbestrebungen der Befragten nicht allein durch soziodemografische Merkmale beeinflusst, sondern steht auch in Zusammenhang mit der kognitiven Bewertung der Frauen hinsichtlich der gesamten Scheidung sowie in Zusammenhang mit den Kurzzeit- und Langzeitfolgen. Demnach kommt das Wohlbefinden der Befragten nach der Scheidung als moderierender Einfluss bei den Bewältigungsbestrebungen zum Tragen. Folglich wird auch ein Moderationseffekt zwischen den Kurzzeit- und Langzeitfolgen und den Bewältigungsbestrebungen vermutet.
114
4 Zentrale Untersuchungsfragen und Hypothesen
Ehedauer HP (1+2)
Subjektiv wahrgenommener Eheverlauf HP (9)
Heiratsmodus
HP (3+8)
HP (10)
HP (11+12)
Traditionsgebundenheit
HP (15+16)
Transmissionsthese
Ähnlichkeitsmerkmale
Soziodemografische Merkmale
Sozialisationsland HP (17) HP (13+14)
Scheidungsbarrieren
Scheidungsgründe
HP (21) HP (22)
Kurzzeit- und Langzeitfolgen
HP (19+20)
HP (18)
HP (23)
Wohlbefinden
HP (27+28+29)
HP (30+31)
Bewältigungsbestrebungen
HP (24+25)
HP (26)
Abbildung 4.1 Hypothesenmodell der zentralen Untersuchungsfragen
5
Methode
5.1 Untersuchungsdesign Die vorliegende Untersuchung unterscheidet sich in ihrer Anlage von bisherigen deutschen Scheidungsstudien und stellt somit keine vertiefende oder erweiternde Analyse dieser dar. Sie betrachtet getrenntlebende, juristisch geschiedene und/ oder nach der Scheidung erneut verheiratete türkeistämmige Frauen und berücksichtigt dabei, um den vielfältigen Lebenssituationen der Zielpopulation gerecht zu werden, unterschiedliche Milieu- und Religionszugehörigkeiten, Familientypen, Altersgruppen und Bildungsstände. Eine deutsche Vergleichsgruppe wurde nicht herangezogen, obwohl ein solcher Vergleich im Kontext der unterschiedlichen kulturellen Normen und Werte für die Zukunft sehr erstrebenswert erscheint. Aus erhebungsökonomischen Gründen entfiel auch eine Untersuchung der gesamten familiären Scheidungssituation – vor allem die Scheidungssituation der Männer, die bislang in der Literatur nicht thematisiert wird. Im Fokus der vorliegenden Untersuchung steht demgegenüber ein Vergleich türkeistämmiger Frauen mit unterschiedlichen Sozialisationserfahrungen, d. h., zum befragten Personenkreis zählen sowohl in Deutschland geborene und aufgewachsene Frauen als auch Heiratsmigrantinnen. Orientiert ist die vorliegende Untersuchung an den weiter oben (siehe Kapitel 4) dargelegten Forschungsfragen: Welche Unterschiede weisen die in Deutschland sozialisierten Frauen und Heiratsmigrantinnen hinsichtlich der Ehedauer und der Scheidungsgründe auf? In welcher Weise werden die Kurzzeit- und Langzeitfolgen für die in Deutschland sozialisierten Frauen und die Heiratsmigrantinnen durch soziodemografische Merkmale sowie durch
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 T. Mollenhauer, Eheliche Partnerschaftsverläufe und -abbrüche bei türkeistämmigen Frauen in Deutschland, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30940-4_5
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116
5 Methode
scheidungserleichternde und scheidungserschwerende Bedingungen moderiert? Inwiefern werden die von den Befragten im Hinblick auf den Umgang mit den Folgen der Trennung und Ehescheidung gewählten Bewältigungsbestrebungen von soziodemografischen Merkmalen, den Kurzzeit- und Langzeitfolgen und dem Wohlbefinden beeinflusst? Im Vergleich zu bisherigen migrationsspezifischen Forschungsarbeiten zu den Ursachen, Folgen und Bewältigungsbestrebungen der Scheidung strebt die vorliegende Studie einen größeren Stichprobenumfang an: Insgesamt wurden 292 türkeistämmige Frauen befragt. Die Befragung erfolgte anhand eines standardisierten Fragebogens, um angesichts der hohen Zahl der Interviews auswertbare Ergebnisse zu erhalten. Qualitative oder narrative Interviews wären in diesem Umfang nicht bearbeitbar gewesen. Zudem lag der Auswahl dieser Datenerhebungsform der Gedanke zugrunde, dass ein anonymisierter und standardisierter Fragebogen die Motivation und Bereitschaft zur Beteiligung der Frauen an der Befragung trotz des sehr persönlichen und intimen Themas steigern würde. Die Rekrutierung der Stichprobe erfolgte durch ein mehrstufiges Verfahren (siehe Abschnitt 5.3). In Kooperation mit diversen Familien- und Fraueneinrichtungen wurden die Probandinnen zu einem von der Forscherin organisierten individuell angepassten Workshop eingeladen (siehe unten). Dem Angebot eines informierenden und für die Frauen kostenlosen Workshops lag der Gedanke zugrunde, die Motivation der Probandinnen zu steigern und eine hohe Anzahl an Probandinnen direkt im Rahmen des Workshops zu befragen. Den Untersuchungsteilnehmerinnen wurde die Möglichkeit gegeben, den Fragebogen in türkischer oder deutscher Sprache auszufüllen, je nachdem, in welcher Sprache sie sich wohlfühlten und diese gut beherrschten. Die Übersetzung des Fragebogens erfolgte überwiegend durch die Autorin; ein kleiner Teil der Übersetzung erfolgte durch MitarbeiterInnen des Instituts für Turkistik an der Universität Duisburg-Essen. Die übersetzte Version wurde schließlich von der Autorin und der Leitung des Zentrums für Türkeistudien und Integrationsforschung fachlich überprüft. Der Fragebogen, der sich aus insgesamt 236 Variablen zusammensetzt, beinhaltet neben Skalen zur Erfassung der Scheidungsgründe auch Fragen zu den soziodemografischen Daten, der vorehelichen Partnerschaft, der Eheschließung sowie zu der Nachscheidungssituation der Frauen. Die verwendeten Skalen und Items basieren – bezogen auf die Fragestellungen und den theoretischen Hintergrund der Arbeit – auf Fragebögen diverser deutscher Scheidungsstudien. Die verwendeten Skalen und Items sind in Abschnitt 5.7 detailliert aufgeführt.
5.2 Pretest
117
Ein Beobachtungsprotokoll des nonverbalen Verhaltens der Frauen konnte im Rahmen der Befragung und des Workshops nicht erstellt werden; im Vordergrund standen vielmehr das Verständnis der Fragen und ein strukturiertes und vollständiges Antwortverhalten der Frauen. Nur bei einer geringen Anzahl der Frauen konnte das psychische Wohlbefinden separat dokumentiert werden, wobei es sich aber nicht um eine Dokumentation auf der Grundlage eines psychologischen Bewertungsschemas handelt. Die Daten wurden mit bivariaten und multivariaten Methoden ausgewertet (zu den Auswertungsmethoden siehe Abschnitt 5.6.3).
5.2 Pretest Zur Prüfung der Tauglichkeit des Erhebungsinstruments für die Beantwortung der in Kapitel 4 beschriebenen Fragestellungen und Hypothesen wurde im Oktober 2012 ein Testdurchlauf der Erhebung mit 12 Teilnehmerinnen in einer Fraueneinrichtung im Essener Stadtteil Katernberg durchgeführt. Wie für die Hauptuntersuchung (siehe unten) wurde in Kooperation mit der Gruppenleiterin ein Workshop angeboten und im Anschluss daran in den Räumlichkeiten der Einrichtung die Befragung durchgeführt. Im Vorfeld wurde die Erhebungszeit auf 45 bis 90 Minuten geschätzt. Tatsächlich nahmen nur acht türkeistämmige Frauen an dem Workshop teil, nur sieben Frauen im Alter zwischen 43 und 54 Jahren waren schließlich bereit, den Fragebogen auszufüllen. Um die geplante Stichprobe von N = 12 getrenntlebenden bzw. geschiedenen türkeistämmigen Frauen vervollständigen zu können, wurden weitere Frauen aus dem Bekanntenkreis der Autorin für den Pretest rekrutiert. Auch hier wurde ein neutraler Befragungsort – ein interkulturelles Begegnungszentrum – als Befragungsort gewählt. Durch den Testdurchlauf des Fragebogens konnten – neben der Prüfung der Befragungsdauer – die verwendeten Erhebungsinstrumente auf ihre Passung für die Zielgruppe und die Forschungsfragen überprüft werden. Durch Nachfragen und Rückmeldungen der Frauen konnten wichtige Aspekte, die im Fragebogen bis dahin unberücksichtigt waren, ergänzt werden. So wurden einige Fragen bzw. Items inhaltlich korrigiert, sprachlich umformuliert, aber auch Fragen ergänzt oder bestimmte Fragen bzw. Items komplett aus dem Fragebogen entfernt, bei der Skala zur Erfassung der Konfliktbereiche bspw. das Item Persönliche Eigenheiten, Gewohnheiten und Bedürfnisse, da bei den Frauen große Verständnisprobleme, aber auch Missverständnisse in Bezug auf das Wort ‚Bedürfnis‘ zu beobachten waren. Die Frauen assoziierten dieses Wort in erster Linie mit sexuellen, statt mit allgemeinen Bedürfnissen und verweigerten oft eine Beantwortung dieser Frage.
118
5 Methode
Auch in Bezug auf die Sexualität als möglichen Konfliktbereich wurde häufig eine Antwort verweigert. Gründe hierfür können einerseits in der Hemmung, offen mit der Sexualität umzugehen oder darüber zu sprechen, liegen, andererseits kann die Antwortverweigerung auch darin begründet sein, sich keine Blöße geben zu wollen. Einige Frauen argumentierten, sie hätten Angst, ihr Ex-Mann könne davon hören und in seiner Männlichkeit verletzt werden. Deutlich wurde, dass viele Probandinnen in der türkischen Version des Fragebogens große Verständnisprobleme bei der Frage Welche Religionszugehörigkeit haben Sie und Ihr damaliger Partner? hatten. Die Frage bezog sich auf die Glaubensrichtung bzw. Konfession, was für viele Frauen zunächst nicht aus der Fragestellung hervorging und zu großer Verwirrung führte. Folglich wurde diese Frage in der türkischen Version inhaltlich korrigiert und direkt nach der Konfession gefragt statt nach der Religionszugehörigkeit. Auffällig bei der türkischen Version des Fragebogens war, dass die Mehrheit der befragten Frauen Schwierigkeiten bei der Interpretation und Abstufung der Antwortvorgaben einiger Skalen (trifft sehr zu; trifft etwas zu; trifft eher nicht zu; trifft überhaupt nicht zu) hatte. Dies lag daran, dass die Übersetzung der Antwortnennungen wörtlich und nicht inhaltlich erfolgte, wodurch unerwartete Missverständnisse zum Vorschein traten. Um weiteren Missverständnissen in der Hauptuntersuchungsphase vorzubeugen, wurden diese Antwortnennungen inhaltlich korrigiert. Darüber hinaus wurden einige Fragen bzw. Antwortmöglichkeiten – im soziodemografischen Teil sowie im Frageblock zu den Trennungsgründen –, die im Fragebogen bis dahin nicht berücksichtigt waren, ergänzt (z. B.: Falls Ihr Ex-Mann/damaliger Partner nicht türkischer Herkunft ist, aus welchem Land stammt er ursprünglich?; Mein jetziger Partner/Ehemann spielte eine wichtige Rolle bei meiner Trennungsentscheidung). Weiterhin wurde in der Skala zur Erfassung des Anlasses der Eheschließung das Item Berufliche Gründe durch die Antwortkategorie Aufenthaltsstatus ersetzt. Die größten Schwierigkeiten zeigten sich in den Skalen zur Erfassung der Ähnlichkeiten zwischen den Ehepartnern sowie bei der Skala zur Erfassung der Konfliktbereiche. Hierbei wurden die Frauen zu ihrer subjektiven Einschätzung der Ähnlichkeit mit dem damaligen Ehepartner in bestimmten Lebensbereichen zu Beginn und gesondert gegen Ende der Ehe befragt, um mögliche Persönlichkeits- und Verhaltensveränderungen im Eheverlauf zu analysieren. Auch die Konflikterfahrungen wurden mit Blick auf Beginn und Ende der Ehe abgefragt. Die Mehrheit der Frauen hatte große Probleme mit dieser Einteilung. Auch in der Hauptuntersuchung konnten diese Probleme bei vielen Frauen weiterhin beobachtet werden.
5.2 Pretest
119
Aufgrund der Rückmeldungen der Frauen im Zuge des Pretests war es notwendig, die Struktur bzw. den Aufbau des Fragebogens zu verändern. Die Fragen gliederten sich nun chronologisch nach dem Eheverlauf – angefangen bei der vorehelichen Partnerschaft über die Eheschließung und die Ehe bis hin zur Trennungs-, Scheidungs- und Nachscheidungsphase – in Frageblöcke, um die Beantwortung zu erleichtern. Der Testdurchlauf des Fragebogens stellte sich als sehr hilfreich für die Operationalisierung der Fragen und für die Verbesserung der Qualität des Fragebogens heraus. Auf eine statistische Analyse wurde im Rahmen der Pilotierung verzichtet. Die konstruierten Items wurden mit Hilfe der ausgewählten Stichprobe nur durch eine inhaltliche Analyse getestet. Der Workshop war auf 45 Minuten angesetzt. Zunächst wurden den Teilnehmerinnen das Forschungsvorhaben und die Person der Forscherin vorgestellt. Der inhaltliche Ablauf des Workshops wurde so strukturiert, dass der Informationsfluss und die den Teilnehmerinnen während des Workshops gestellten und im Anschluss diskutierten Fragen keinen Einfluss auf die spätere Beantwortung des Fragebogens haben. Dem Workshop lagen nach einer kurzen Einführung in die Scheidungsthematik drei zentrale Aspekte – (1) Stressbewältigung (trotz Trennung und Scheidung den Alltag meistern), (2) Umgang mit Kindern nach der Trennung und Scheidung, (3) Maßnahmen für eine gesunde Entwicklung des Kindes – zugrunde, die dazu dienten, die befragten Frauen an das Thema heranzuführen. Die anwesenden Frauen wurden insbesondere über die Anonymität der Untersuchung unterrichtet und explizit darauf hingewiesen, dass die Teilnahme an der Studie selbstverständlich freiwillig ist. Zudem wurden die Teilnehmerinnen darüber in Kenntnis gesetzt, dass sie nicht verpflichtet sind, ihre subjektiv erlebten Erfahrungen im Rahmen der Befragung preiszugeben, dass sie aber durchaus ihre Erfahrungen in der Gruppe teilen können. Das Interesse der Befragten an dem Untersuchungsthema und die aktive Beteiligung am Workshop waren sehr groß. Über ihre aktive Teilnahme am Workshop hinaus war die Mehrheit der Frauen sehr offen in Bezug auf ihre gescheiterten Ehen. Unaufgefordert, selbstbewusst und ohne Scham brachten sie ihre eigene Perspektive auf der Basis ihrer erlebten Lebenssituation, vom Eheverlauf bis zur Nachscheidungsphase, zur Sprache. Neben der Fragebogenerhebung waren die Erfahrungsberichte der Frauen von großer Bedeutung für die vorliegende Studie, denn dadurch konnte auch ein intensiver Einblick in ihre Lebenssituation gewonnen werden. Aus den Erfahrungsberichten ging hervor, dass die Ehescheidung nicht nur mit Schwierigkeiten und Herausforderungen verbunden war, sondern den Frauen auch neue Lebensperspektiven und Handlungsmöglichkeiten eröffnete.
120
5 Methode
Während des gesamten Workshops wurde darauf geachtet, die anfangs einkalkulierte Zeit von 45 Minuten nicht zu überschreiten, um die anschließende Fragebogenerhebung nicht zu gefährden. Im Anschluss an den Workshop wurde den anwesenden Frauen der Fragebogen ausgehändigt, mit der Bitte, sich zunächst alle Fragen und Antwortmöglichkeiten sorgfältig durchzulesen und das für sie Zutreffende anzukreuzen. Zudem wurden die befragten Frauen gebeten, alle Fragen zu beantworten und sich bei Verständnisproblemen und Rückfragen jederzeit zu melden, damit diese während der Befragung schnellstmöglich geklärt werden können. Wie erwartet waren einige Frauen während der Beantwortung des Fragebogens emotional sehr berührt, was sicherlich darauf zurückgeführt werden kann, dass der Fragebogen eine Art Zeitreise in die Vergangenheit darstellt, der schlechte Erinnerungen erneut zum Vorschein bringt. Auch in der Hauptbefragung konnten, wenn auch nicht so ausgeprägt wie in der ersten Gruppe der Pretest-Teilnehmerinnen, emotionale Momente bei einigen Frauen beobachtet werden. Am Ende der Befragungen wurden alle Fragebögen nochmals auf Vollständigkeit kontrolliert.
5.3 Rekrutierung der Stichprobe und Ausschöpfung Die Rekrutierung der Stichprobe erfolgte durch ein mehrstufiges Verfahren sowie über verschiedene Formate (siehe Tabelle 5.1). Dabei wurde versucht, möglichst unterschiedliche Einrichtungen in verschiedenen Städten und Stadtteilen in Nordrhein-Westfalen einzubeziehen, um eine möglichst heterogene Gruppe von Probandinnen akquirieren zu können. Insgesamt wurden 165 Anschlüsse zur Erreichung der gewünschten Stichprobe angerufen, wobei der Erfolg oder Misserfolg der Anrufe schriftlich dokumentiert wurde. Die Ausschöpfungsquote liegt bei 44 % erreichter Anschlüsse. 30 (18,2 %) der 165 Telefonnummern konnten nicht erreicht werden (besetzt, Anrufbeantworter, Rufnummer falsch). Anschlüsse, die zum Zeitpunkt des Anrufes besetzt waren, wurden zu einem späteren Zeitpunkt (mehrmals) erneut kontaktiert. Mit 135 Anschlüssen konnte Kontakt aufgenommen werden (81,8 %). Bei den erreichten Anschlüssen war die Kontaktperson in 5,9 % der Fälle nicht anwesend, 11,9 % hatten keine Zeit und baten um späteren Rückruf. In 14,8 % der Fälle lehnten die Kontaktpersonen/Einrichtungsleiterinnen ein Interview aufgrund fehlender Beraterinnen mit Migrationshintergrund und einer dementsprechend geringen Anzahl von betreuten Frauen mit Migrationshintergrund in den Einrichtungen ab.
5.3 Rekrutierung der Stichprobe und Ausschöpfung
121
Ebenfalls lehnten anfänglich überdurchschnittlich viele Einrichtungen nach Rücksprache mit potenziellen Studienteilnehmerinnen eine Teilnahme an der Studie ab. Mitunter mag auf Seiten der Frauen doch erhebliche Angst vor gesellschaftlicher Stigmatisierung bestanden haben, weil durch die Teilnahme der familiäre Kontext öffentlich hätte werden können. Sensibilität des Untersuchungsthemas, Zweifel an der Relevanz der Untersuchung, Interessenlosigkeit sowie fehlendes Vertrauen waren weitere Gründe seitens der Frauen und der Einrichtungen. Um die Unterstützung dieser Einrichtungen und Frauen doch noch zu erhalten, wurden zusätzlich persönliche Gespräche mit einigen Institutionsund Gruppenleiterinnen und nach Wunsch auch mit potenziellen Probandinnen geführt. Zudem wurde den Gesprächspartnern, ähnlich wie im Pretest, ein Workshop angeboten und die Zusendung des Workshop-Flyers mit den Themeninhalten vorgeschlagen. Diese Herangehensweise stellte sich als sehr effektiv heraus, zumal nicht nur das Vertrauen vieler Einrichtungen und Frauen gewonnen werden konnte, sondern auch die gesellschaftliche und individuelle Bedeutung des Forschungsthemas für die Frauen präziser erläutert, offene Fragen direkt vor Ort beantwortet sowie verbindliche Termine vor Ort vereinbart werden konnten. Zudem nannten viele Einrichtungen weitere Gesprächspartner oder leiteten die Anfrage und die Informationen zum Forschungsvorhaben an andere Einrichtungen weiter, was zur Folge hatte, dass zusätzliche Familien- und Fraueneinrichtungen für die Untersuchung gewonnen werden konnten, darunter auch solche Einrichtungen, die anfangs eine Unterstützung der Befragung ablehnten. Bei 8,1 % der erreichten Anschlüsse lehnte die Einrichtungsleitung eine Studienteilnahme ohne Rücksprache mit den Frauen direkt ab, bei weiteren 14,8 % der erreichten Anschlüsse lehnten die potenziellen Studienteilnehmerinnen eine Teilnahme an der Untersuchung ab. Durch die Anwerbungsversuche zahlreicher Einrichtungen und deren Vernetzung untereinander erfuhr das Forschungsvorhaben öffentliche Aufmerksamkeit in der türkischen Community in Deutschland. Dies führte zu telefonischen Anfragen von Seiten teilnahmebereiter Frauen in Deutschland, aber auch von Frauenvereinen sowie Forschungsinstituten aus der Türkei. Darüber hinaus eröffnete die gezielte Ansprache von Studierenden im Rahmen von, mitunter auch eigenen, Lehrveranstaltungen Zugang zu weiteren geschiedenen Frauen. Zusätzlich konnten einige Probandinnen durch einen Aufruf auf der Homepage der Stiftung Zentrum für Türkeistudien und Integrationsforschung, die ein An-Institut der Universität Duisburg-Essen ist, für die Untersuchung gewonnen werden. Ein weiterer Aufruf wurde über digitale soziale Netzwerke gestartet, kontaktiert wurden aber auch Freunde und Bekannte, was sich als sehr effektiv h erausstellte
122
5 Methode
(siehe Tabelle 5.1). Durch den Schneeball-Effekt konnten zahlreiche Probandinnen identifiziert werden. Ein Zugang zu Probandinnen über Psychologen bzw. psychologische Einrichtungen sowie Rechtsanwälte erwies sich hingegen als schwierig. Auf diesem Wege konnten nur wenige Frauen für die Studie gewonnen und nur vereinzelte Workshops realisiert werden. Bis zur Erhebungsphase, die von Dezember 2012 bis September 2013 dauerte, konnten schließlich insgesamt 26 Familien- und Fraueneinrichtungen für eine Kooperation gewonnen werden, bei 21 dieser Einrichtungen wurde ein zusätzlicher Workshop durchgeführt. Fünf Einrichtungen lehnten nach Rücksprache mit den Frauen einen Workshop ab, die Befragung der Frauen fand in diesen Fällen ohne vorgeschalteten Workshop statt. Hierbei handelte es sich meist um Selbsthilfegruppen oder Einrichtungen, die bereits selbst bedarfsgerechte Unterstützungsmaßnahmen in Form von Workshops oder Informationsveranstaltungen für Frauen ihrer Einrichtung anboten. Bei insgesamt fünf Einrichtungen konnte zudem mehrmals eine Befragung mit unterschiedlichen Teilnehmerinnen zu unterschiedlichen Zeitpunkten durchgeführt werden. Über gesundheitliche (psychologische) Einrichtungen konnten 30 Probandinnen für die Untersuchung gewonnen werden. Auch hier wurden vor der Befragung teilweise Workshops realisiert. Darüber hinaus erklärten sich zwei Scheidungsanwältinnen, die mit einem Frauenverein zusammenarbeiten, bereit, den Zugang zu Probandinnen im Rahmen eines Workshops zu ermöglichen. Tabelle 5.1 Übersicht der Rekrutierung der Stichprobe über einzelne Formate Formate
Mit Workshop Ohne Workshop
Gesamt
Frauen- und Familienberatungsstellen
160
52
212
Gesundheitseinrichtungen
10
20
30
Rechtsanwälte
–
4
4
–
31
31
–
15
15
Eigene soziale
Netzwerke1
Digitale soziale Netzwerke2 1Umfasst
auch Zugang zu einigen geschiedenen Frauen über Studierende auch Aufruf auf der Homepage der Stiftung Zentrum für Türkeistudien und Integrationsforschung
2Beinhaltet
Insgesamt nahmen 170 Probandinnen an einem von der Forscherin organisierten Workshop und der Befragung teil, weitere 76 Probandinnen erklärten sich zwar bereit, an der Erhebung teilzunehmen, lehnten aber einen zusätzlichen informierenden und kostenlosen Workshop ab. Parallel zu der
5.4 Hauptuntersuchungsablauf
123
Rekrutierung der Probandinnen über diverse Familien- und Fraueneinrichtungen konnten weitere 46 Probandinnen über Freunde, Bekannte sowie über mediale Informationskanäle wie Facebook für die Untersuchung gewonnen werden. Mit ihnen wurden Einzeltermine vereinbart, in deren Rahmen die Frauen den Fragebogen erhielten und ihn in Anwesenheit der Forscherin ausfüllten. Auf eine postalische Versendung des Fragebogens an mögliche Probandinnen wurde verzichtet, um eine möglichst hohe Rücklaufquote zu erhalten. „Ein [weiterer] entscheidender Nachteil postalischer Befragungen ist die unkontrollierte Erhebungssituation“ (Bortz und Döring 2006, S. 256), denn es kann nicht kontrolliert werden, „ob [der Fragebogen] tatsächlich von der angeschriebenen Zielperson […] [ausgefüllt und] ob alle Fragen ohne Erläuterungen durch einen Interviewer richtig verstanden wurden“ (ebd.).
5.4 Hauptuntersuchungsablauf Die Befragungen für die Hauptuntersuchung fanden überwiegend vormittags in den Räumlichkeiten der einzelnen Einrichtungen bzw. Institutionen statt, da viele Frauen alleinerziehend waren (siehe hierzu ausführlicher Kapitel 10) und schulpflichtige Kinder hatten, so dass diese Tageszeit am günstigsten war. Einige Befragungen wurden aufgrund fehlender institutioneller Räumlichkeiten entweder in Nachbarorten oder in den Räumlichkeiten der Stiftung Zentrum für Türkeistudien und Integrationsforschung in Essen durchgeführt. Die Teilnehmerzahl für die Workshops war auf mindestens acht bis maximal 15 Teilnehmerinnen festgelegt. In den insgesamt 26 Familien- und Frauenvereinen haben im Durchschnitt ca. 25 % der Frauen aufgrund fehlenden Interesses, Krankheit und aus sonstigen Gründen (z. B. Zweifel an der Anonymität aufgrund der Abfrage der Geburtsdaten) nicht an der Studie teilgenommen. Einige Frauen erschienen ohne Angabe von Gründen nicht zu vereinbarten Terminen. Zu Beginn der Workshops wurden die Frauen ausführlich über die Studie, die Vorgehensweise der geplanten Befragung und die durchschnittliche Befragungsdauer informiert und hatten während sowie nach der kurzen Einführung die Möglichkeit, Verständnis- und allgemeine Fragen bezüglich der Studie zu stellen. Auffällig war, dass neben vereinzelten Verständnisfragen häufig die Frage nach der persönlichen Ambition der Autorin, dieses Thema zu erforschen, gestellt wurde. Folglich wurden die Frauen kurz über die Motivation der Autorin informiert, wodurch viele Frauen, die zu Beginn der Einführungsphase zunächst misstrauisch reagierten, schließlich doch noch für die Befragung gewonnen werden konnten.
124
5 Methode
Die Vorgehensweise bei der Befragung richtete sich in den einzelnen Einrichtungen nach der Gruppengröße und danach, ob ein Workshop durchgeführt wurde oder nicht. War ein Workshop vorgesehen, wurde er der Befragung zunächst vorangestellt. Diese Vorgehensweise erwies sich jedoch schnell als ungünstig, da sich die Workshops durch (unaufgeforderte) Erfahrungsberichte der Frauen sehr in die Länge zogen und damit auch die Gesamtdauer der Befragung anstieg. Aus Zeitmangel auf Seiten der Frauen sank demzufolge die Bereitschaft, am Ende die Fragebögen auszufüllen. Daher wurde der Ablauf soweit verändert, dass zuerst der Fragebogen auszufüllen war und dann der Workshop folgte. Damit ging auch der Vorteil einher, dass der Inhalt des Workshops keinen Einfluss auf die Befragung nehmen konnte. Die (Workshop-)Teilnehmerinnen erhielten den Fragebogen gleichzeitig und füllten diesen in Anwesenheit der Forscherin und zumeist in Anwesenheit der Gruppenleiterin aus. Die Befragungen gestalteten sich je nach Einrichtungsart und insbesondere je nach psychischem Wohlbefinden der Frauen sehr unterschiedlich. Fast allen Frauen gemeinsam war jedoch, dass mit der Teilnahme an der Befragung negative Erinnerungen hervorkamen, auch wenn die Trennung oder Scheidung schon lange zurücklag. Dies hatte zur Folge, dass einige Frauen die Teilnahme an der Befragung ab- oder unterbrachen. Auffällig war zudem, dass die Mehrheit der Frauen unter starken Konzentrationsschwierigkeiten litt, wodurch sich die Beantwortungsdauer des Fragenbogens verzögerte. Die Frauen wurden auf Wunsch in der Beantwortung des Fragebogens unterstützt, jedoch im Falle einer affektiven Reaktion keineswegs bewusst oder unbewusst dazu verleitet, den Fragebogen weiter auszufüllen. Zudem befanden sich unter den Befragten auch einige Analphabetinnen (insgesamt ca. 15 Frauen). Auch hier wurde den Frauen Unterstützung bei der Beantwortung der Fragen angeboten, indem u. a. die Fragen einzeln vorgelesen wurden. Über Gespräche konnte die Forscherin während der Ausfüllphase auch subjektive Hintergrundinformationen und Erfahrungen der Frauen zur Ehe, Scheidung und Nachscheidungsphase gewinnen, die im Fragebogen unberücksichtigt blieben. Auffällig war, dass die Mehrheit der Frauen große Probleme bei der Frage nach dem Zeitpunkt von Eheschließung oder Ehescheidung hatten. Sie konnten nicht unterscheiden, ob es sich um die offizielle Eheschließung im Standesamt oder die festliche Feier – die mitunter zeitlich weit auseinanderlagen – handeln sollte und ob nach der juristischen Scheidung oder der Trennung von Tisch und Bett bzw. dem Auszug des Mannes aus der Wohnung gefragt wurde. Zudem war manchen Frauen nicht klar, ob der Scheidungstermin in der Türkei oder in Deutschland gemeint war. Aufgrund der Tatsache, dass beide Fragen im Fragebogen inhaltlich und sprachlich richtig formuliert waren, wurde auf eine
5.5 Beschreibung der Untersuchungsteilnehmerinnen
125
eränderung der Formulierung verzichtet, stattdessen erfolgte zu Beginn jeder V Datenerhebung eine entsprechende Erklärung. Am Ende der Befragungen wurden alle Fragebögen auf Vollständigkeit kontrolliert, denn nach Abschluss der Erhebung konnte aufgrund der Anonymität keine Ergänzung mehr erfolgen. Abschließend wurden alle Daten fallweise in eine SPSS-Tabelle übertragen.
5.5 Beschreibung der Untersuchungsteilnehmerinnen1 Die Teilnehmerinnen wurden bei der Einführung im Vorfeld der Datenerhebung von der Forscherin gebeten, den Fragebogen in der Sprache auszufüllen, in der sie sich am sichersten fühlen. Auffällig und unerwartet war, dass sich 80,1 % der 282 Frauen für die türkische Version des Fragebogens entschieden haben. Nur 19,9 % füllten den Fragebogen in deutscher Sprache aus. Im Rahmen der vorliegenden Untersuchung wurde die Sprachkompetenz in Deutsch oder Türkisch nicht erfasst. Die Entscheidung für die türkische Sprachwahl zur Beantwortung des Fragebogens ist allerdings kein Indiz für mangelnde deutsche Sprachkenntnisse. Vielmehr kann die Auswahl der Befragungssprache darauf hindeuten, dass hochemotionale Themen eher in der Herkunftssprache behandelt werden. Darüber hinaus kann die Durchführung der Einführung in türkischer Sprache die Sprachwahl der Teilnehmerinnen beeinflusst haben. Die gewonnenen Daten erlauben Rückschlüsse auf die Heiratskonstellation. So ließ sich nachvollziehen, ob es sich um transnational oder innerethnisch geschlossene Ehen handelt. Dabei verdeutlichen die Ergebnisse der vorliegenden Untersuchung, dass mehr als die Hälfte (58,3 %) der Befragten Heiratsmigrantinnen sind, also Frauen, die aufgrund einer transnationalen Eheschließung2 nach Deutschland zugezogen sind3. Folglich werden die Untersuchungsteilnehmerinnen getrennt nach Sozialisationsland beschrieben.
1Die
Erfassung der soziodemografischen Daten und die Antwortmöglichkeiten werden in Abschnitt 5.7.1 ausführlich beschrieben. 2Zur Begriffsbestimmung ‚transnationaler Ehen‘ siehe Abschnitt 3.2.3.1. 3Hier wurden alle Frauen, die nach ihrer schulischen Sozialisation nach Deutschland eingereist sind, als Heiratsmigrantinnen kategorisiert, sofern die Frauen keinen anderen Grund für die Einreise angegeben haben. Anzumerken ist hier, dass die Gründe für die Einreise nicht erhoben wurden, vielmehr liegen vereinzelt freiwillige Angaben der Frauen zu den Gründen ihrer Einreise nach Deutschland vor.
126
5 Methode
Aus den im Fragebogen angegebenen Geburtsdaten konnte zudem auf das Alter der Befragten geschlossen werden. Zum Erhebungszeitraum waren 43,1 % der in Deutschland sozialisierten Frauen im Alter zwischen 31 und 40 Jahren, gefolgt von Frauen im Alter zwischen 41 und 50 Jahren (39,6 %) (Abbildung 5.1).
90 80 70 60
43,1
39,6
50
Deutschland sozialisierte
40
Heiratsmigrantinnen
30
9,7
20 10 0
7,6
36,4
38
31 bis 40 Jahre
41 bis 50 Jahre
24
1,6
23 bis 30 Jahre
51 bis 77 Jahre
Abbildung 5.1 Verteilung nach Altersgruppen (Angaben in gültigen %)
Knapp 8 % der Frauen waren bei der Erhebung unter 31 Jahre und 9,7 % über 51 Jahre alt. Heiratsmigrantinnen waren im Vergleich zu in Deutschland sozialisierten Frauen etwas älter. Während 36,4 % der Heiratsmigrantinnen zwischen 31 und 40 Jahren alt waren, lag der Anteil derer, die zwischen 41 und 50 Jahren alt waren, bei 38 %. Unter den Heiratsmigrantinnen befanden sich tendenziell auch viele Frauen im Alter zwischen 51 und 77 Jahren (24 %); nur 1,6 %, waren zwischen 23 und 30 Jahren alt. Das Durchschnittsalter lag für in Deutschland sozialisierte Frauen bei 41 Jahren (N = 144) und für Heiratsmigrantinnen bei 45 Jahren (N = 129). Gefragt wurde auch nach dem Geburtsland der Frauen. Bei der Auswertung zeigt sich, dass in Deutschland sozialisierte Frauen zu 65,3 % in der Türkei und zu 34,7 % in Deutschland geboren sind. Erwartungsgemäß sind fast alle Heiratsmigrantinnen in der Türkei geboren (94,7 % gegenüber 5,3 %, die in D eutschland
5.5 Beschreibung der Untersuchungsteilnehmerinnen
127
geboren sind). Zudem wurden die Frauen nach ihrer regionalen Herkunft gefragt. Betrachtet man nur die Frauen, die in Deutschland sozialisiert wurden, so zeigt sich, dass 25,2 % aus der Schwarzmeerregion, gefolgt von Zentralanatolien (16,8 %), Südanatolien (16,8 %) und der Ägäis (15,4 %) stammen (siehe Abbildung 5.2). Nur ein geringer Anteil der Frauen kommt ursprünglich aus der Mittelmeerregion (9,8 %), der Marmararegion (8,4 %) oder aus Ostanatolien (7,7 %). Die Heiratsmigrantinnen stammen zu 25,4 % aus Zentralanatolien, gefolgt von Südanatolien (19 %), der Schwarzmeerregion (18,3 %) und der Ägäis (14,3 %). Ähnlich wie bei den in Deutschland sozialisierten Frauen kommt nur ein geringer Anteil der Heiratsmigrantinnen ursprünglich aus der Mittelmeerregion (10,3 %), aus Ostanatolien (7,1 %) und der Marmararegion (5,6 %) (Abbildung 5.2).
50 45 40 35 30 25 20 15 10 5 0
19
14.3 10.3 15.4
9.8
5.6
7.1
8.4
7.7
16.8
25.4
16.8
18.3 Heiratsmigrantinnen
25.2
In Deutschland sozialisierte Frauen
Abbildung 5.2 Herkunftsregion (Herkunftsregionen der Familien der befragten Probandinnen) beider Untersuchungsgruppen in der Türkei (Angaben in gültigen %)
Darüber hinaus wurden die Frauen gefragt, in welchem Alter sie nach Deutschland migriert sind. Der Auswahl dieser Frage lag der Gedanke zugrunde, die unterschiedlichen Wertekulturen (kollektivistische vs. individualistische Lebensorientierung) und Sozialisationserfahrungen der Befragten zu adressieren. Das Durchschnittsalter bei der Migration lag für in Deutschland sozialisierte
128
5 Methode
Frauen bei 9 Jahren (N = 68) und für Heiratsmigrantinnen bei 22 Jahren (N = 115). Die hier ausgewerteten Daten lassen aber keine Rückschlüsse darauf zu, ob die Frauen vor der Einreise nach Deutschland eine Binnenmigration durchlebt haben; dieses Merkmal wurde im Rahmen der vorliegenden Untersuchung nicht gesondert erfasst. Betrachtet man die Staatsangehörigkeit beider Untersuchungsgruppen, so zeigt sich, dass 49,7 % (n = 74) der in Deutschland sozialisierten Frauen und 74,4 % (n = 129) der Heiratsmigrantinnen zum Erhebungszeitpunkt die türkische Staatsangehörigkeit besaßen (siehe Abbildung 5.3). Die deutsche Staatsangehörigkeit besaßen 45 % der in Deutschland sozialisierten Frauen. Nur zwei Frauen dieser Gruppe nannten eine sonstige Staatsangehörigkeit (einmal die österreichische Staatsangehörigkeit sowie einmal keine Staatsangehörigkeit). Mit 20,2 % ist der Anteil der Heiratsmigrantinnen mit deutscher Staatsangehörigkeit deutlich geringer. Jeweils 5,4 % der Heiratsmigrantinnen und der in Deutschland sozialisierten Frauen hatten sowohl die deutsche als auch die türkische Staatsangehörigkeit.
140 120 100 80
74,4 Heiratsmigrantinnen
60
Deutschland sozialierte
20,2
40 20
49,7
45
0 türkisch
deutsch
5,4 5,4 beide
Abbildung 5.3 Staatsangehörigkeit der Frauen (Angaben in gültigen %)
5.5 Beschreibung der Untersuchungsteilnehmerinnen
129
Um den Bildungsstand der befragten Frauen in Deutschland zu erfassen, wurden unterschiedliche Bildungsabschlüsse4 als Antwortmöglichkeit im Fragebogen geboten, mit der Bitte, den zutreffenden Abschluss anzukreuzen. Zudem wurden unter der Kategorie ‚weitere Schulabschlüsse‘ die von den Befragten in der Türkei erworbenen Bildungsabschlüsse erfasst. In Anlehnung an die aus Abbildung 5.4 hervorgehenden Ergebnisse werden nachfolgend zunächst alle in Deutschland erworbenen Bildungsabschlüsse der Befragten beschrieben. Bei den Bildungsinländern (N = 150) – also denjenigen, die in Deutschland ihren Schulabschluss erworben haben – zeigt sich, dass viele Frauen über keinen oder einen niedrigen Schulabschluss verfügen. Während 2 % aller Frauen keinen Schulabschluss in Deutschland aufweisen, gaben 36 % aller Frauen einen Hauptschulabschluss und 21,3 % einen Realschulabschluss in Deutschland an. Nur ein geringer Anteil der Frauen (14,7 %) verfügt über ein abgeschlossenes Abitur oder über ein abgeschlossenes Hochschul- oder Universitätsstudium (16 %) in Deutschland.
4Anzumerken
ist hier, dass das Bildungssystem in der Türkei nicht mit dem in Deutschland gleichgesetzt werden kann. Im Gegensatz zum deutschen Bildungssystem (vgl. hierzu KMK 2014, S. 25 ff.; siehe auch Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen: Bildungsportal des Landes Nordrhein-Westfalen, Schulformen in Nordrhein-Westfalen), gliedert sich das türkische Bildungssystem in zwei Säulen: (1) Örgün Eğitim und (2) Yaygın Eğitim. Der erste Bereich (Örgün Eğitim) beinhaltet den Elementarbereich (Okul öncesi; staatlicher oder privater Kindergarten für Kinder zwischen 37 und 66 Monaten), den Primarbereich (İlköğretim: Ilkokul ve Ortaokul = Grundschule und Mittelschule), den Sekundarbereich I & II (Ortaöğretim-Lise; weiterführende Schularten wie ‚Lise‘, die dem Gymnasium ansatzweise gleichgesetzt werden kann, oder Meslek Lisesi und Teknik Lisesi, die einem höheren Berufskolleg entsprechen) und den Tertiärbereich (Yükseköğretim: Universitäten und Hochschulen, die im Anschluss an die 12-jährige Schulpflicht erst nach einer erfolgreichen staatlichen Prüfung besucht werden können) (vgl. Senar und Garip 2013, S. 7 ff.). Der zweite Bereich (Yaygın Eğitim) ist altersunspezifisch und betrifft die freiwillige und vorraussetzungslose Inanspruchnahme staatlich geprüfter Lehrkräfte zum Zwecke der Weiterbildung. Am 11.04.2014 wurde durch das Grundgesetz des Kultusministeriums (Milli Eğitim Temel Kanunu) eine Schulreform beschlossen. Im Zuge des 4 + 4 + 4-Schulsystems wurde die gesetzliche Schulpflicht von acht Jahren auf zwölf Jahre erhöht. Zudem wurde die Primarebene untergliedert in Grundschule (Ilkokul; 4 Jahrgangsstufen) und Mittelschule (Ortaokul; ebenfalls 4 Jahrgangsstufen). Weitere vier Jahre entfallen auf die Sekundarstufe (vgl. Dirlik 2014).
130
5 Methode
40
36
Keinen
35
Hauptschulabschluss
30 25
Realschulabschluss
21,3
20 14,7
15
16
Abitur 10
10 5
Hochschul-/ Universitätsabschluss Anderen Schulabschluss
2
0
Abbildung 5.4 In Deutschland erworbene Bildungsabschlüsse (Angaben in gültigen %)
10 % der Frauen (N = 150) nannten einen nicht vorgegebenen Schulabschluss in Deutschland, darunter das Fachabitur, eine abgeschlossene Ausbildung und der Sonderschulabschluss.
80 70
70,1
Keinen
60
Mittelschule
50
Berufskollege
40
Abitur
30 20
10 0
Hochschul-/
13,4
9,6
3
3 1,5
Anderen Schulabschluss
Abbildung 5.5 In der Türkei erworbene Bildungsabschlüsse (Angaben in gültigen %)
131
5.5 Beschreibung der Untersuchungsteilnehmerinnen
Bei der Betrachtung der in der Türkei erworbenen Bildungsabschlüsse (siehe Abbildung 5.5) zeigt sich, dass die große Mehrheit der Frauen (70,1 %; n = 47) über keinen oder lediglich einen Ilkokul-Abschluss (=Grundschule) verfügt; 9,6 % der Frauen haben einen Ortaokul-Abschluss erworben, 13,4 % verfügen über das Abitur und 3 % haben ein Berufskolleg absolviert. Am seltensten finden sich unter den in der Türkei sozialisierten Frauen solche mit einem Universitätsabschluss oder einem Hochschulabschluss (3,0 %). Neben dem Bildungsniveau wurden auch das aktuelle Arbeitsverhältnis (siehe Abbildung 5.6) sowie das monatliche Netto-Einkommen abgefragt (siehe Abbildung 5.7).
70 60 50 40
25,2
30 20 10 0
45,7
Heiratsmigrantinnen Deutschland sozialisierte Frauen
7,1 31,8
21,6
0,8 0,7
8,7 5,4
3,9 10,8
8,7 18,2
11,5
Abbildung 5.6 Arbeitsverhältnis und Erwerbstätigkeit der Frauen (Angaben in gültigen %)
Insgesamt 64,9 % der in Deutschland sozialisierten Frauen (N = 148) und 37 % der Heiratsmigrantinnen (N = 127) waren zum Erhebungszeitpunkt berufstätig. Während 31,8 % der in Deutschland sozialisierten Frauen als Arbeiterin beschäftigt waren, lag der Anteil der Angestellten bei 21,6 % und der der Selbstständigen bei 10,8 %. Nur 0,7 % der Frauen waren als Beamtin beschäftigt. 35,1 % der in Deutschland sozialisierten Frauen waren zum Erhebungszeitpunkt nicht erwerbstätig, davon 5,4 % Rentnerinnen, 18,2 % Hausfrauen und 11,5 % Arbeitslose. Für Heiratsmigrantinnen zeigt sich hingegen, dass 25,2 % der Frauen, also ein etwas geringerer Anteil als bei den in Deutschland sozialisierten
132
5 Methode
Frauen, als Arbeiterin beschäftigt waren. 7,1 % waren als Angestellte, 3,9 % als Selbstständige und 0,8 % als Beamtin tätig. Der Anteil der nicht erwerbstätigen Heiratsmigrantinnen war mit 63,1 % annähernd doppelt so hoch wie unter den in Deutschland sozialisierten Frauen. Noch deutlicher gestaltete sich die Differenz bei den Hausfrauen, hier standen 45,7 % unter den Heiratsmigrantinnen 18,2 % unter den in Deutschland sozialisierten Frauen gegenüber. Jeweils 8,7 % der Heiratsmigrantinnen waren Rentnerinnen und Arbeitslose. Die Einkommensverteilung in Abbildung 5.7 verdeutlicht, dass das monatliche Netto-Einkommen der Frauen breit gestreut ist. Unter den in Deutschland sozialisierten Frauen finden sich solche, die monatlich weniger als 500 Euro (3,4 %) zur Verfügung haben, aber auch Frauen, die monatlich mehr als 1700 Euro verdienen (12,6 %).
60 50 40
34,3
29,3
30
8,1
20 10 0
20,2
21
25,2
23,5
1
7,1
14,3
12,6
3,4 unter 500
500-900
900-1300
1300-1500
Deutschland sozialisierte Frauen
1500-1700 mehr als 1700
Heiratsmigrantinnen
Abbildung 5.7 Monatliches Netto-Einkommen (Die Angaben beziehen sich auf das monatliche Netto-Einkommen der Frauen zum Erhebungszeitpunkt) der Frauen (Angaben in gültigen %)
Das monatliche Netto-Einkommen liegt bei 21 % der Frauen zwischen 500 und 900 Euro und bei weiteren 25,2 % der Frauen zwischen 900 und 1300 Euro. In den restlichen Fällen handelt es sich um Frauen, die entweder zwischen 1300 und 1500 Euro (23,5 %) oder zwischen 1500 und 1700 Euro (14,3 %) monatlich verdienen. Im Vergleich zu in Deutschland sozialisierten Frauen ist das monatliche Netto-Einkommen der Heiratsmigrantinnen etwas niedriger. So gaben
5.5 Beschreibung der Untersuchungsteilnehmerinnen
133
20,2 % dieser Gruppe an, dass sie unter 500 Euro verdienen, weitere 34,3 % verdienen zwischen 500 und 900 Euro. Während 29,3 % der Heiratsmigrantinnen zwischen 900 und 1300 Euro zur Verfügung haben, verdienen 8,1 % 1300 bis 1500 Euro monatlich. Ein monatliches Einkommen zwischen 1500 und 1700 Euro wurde von 1 % erzielt, 7,1 % der Frauen verdienen mehr als 1700 Euro. Entgegen den Befunden von Süzen (2004) zeigen die vorliegenden Befunde, dass türkeistämmige Frauen nach der Scheidung nicht notwendigerweise mit Armut und Arbeitslosigkeit konfrontiert sind. Weiterhin wurden die Frauen nach dem ethnischen Hintergrund ihrer ehemaligen Ehepartner gefragt. Tabelle 5.2 verdeutlicht, dass das Heiratsverhalten beider Untersuchungsgruppen gemäß den exemplarisch herangezogenen Studien zur Eheschließung bei türkeistämmigen Frauen in Deutschland (siehe Abschnitt 3.2.3.1) noch stark an die familiären Interessen gebunden und folglich stark ethnisch homogen (in Deutschland sozialisierte Frauen: 97,3 %; Heiratsmigrantinnen: 96,9 %) ist. Tabelle 5.2 Ehepartner der Frauen nach ethnischer Herkunft (Angaben in gültigen %) Herkunft Ehemann
In Deutschland sozialisierte Frauen
Heiratsmigrantinnen
Türkei
97,3 %
96,9 %
Deutschland
0,7 %
0,8 %
Griechenland
–
0,8 %
Iran
–
0,8 %
Jugoslawien
0,7 %
–
Kasachstan
0,7 %
–
Marokko
–
–
Russland
0,7 %
–
Fehlende Angaben
–
0,8 %
N
150
131
Nur bei einem geringen Anteil der Frauen ist eine Eheschließung mit einem deutschen Partner ohne Migrationshintergrund (in Deutschland sozialisierte Frauen: 0,7 %; Heiratsmigrantinnen: 0,8 %) und mit Ehepartnern anderer Herkunft zu beobachten. In Deutschland sozialisierte Frauen nannten Partner mit jugoslawischer Herkunft (0,7 %) sowie Ehepartner aus Kasachstan (0,7 %) und aus Russland 0,7 %). Heiratsmigrantinnen nannten Ehepartner mit griechischer (0,8 %)
134
5 Methode
und iranischer (0,8 %) Herkunft. Anzumerken ist in diesem Zusammenhang, dass der geringe Anteil an Eheschließungen mit Ehepartnern anderer Herkunft nicht als Abwendung von der aufnahmegesellschaftlichen Kultur gedeutet werden darf. Der Entscheidung zur Eheschließung liegen diverse Kriterien zugrunde (siehe hierzu Abschnitt 3.2.3.1). Zudem ist zu beachten, dass es sich bei einem großen Teil der Befragten um Frauen der ersten Generation handelt. Während ihre Partnerwahlentscheidung, so Straßburger (2003), noch stark auf die Herkunftsgruppe gerichtet war – und die Eheschließung häufig vor der Migration erfolgte –, steht der zweiten Generation heute eine Vielfalt von Heiratsoptionen offen. Das Ausmaß an innerethnischen und transnationalen Ehen unter den türkeistämmigen Personen in Deutschland blieb auch in der vorliegenden Untersuchung unklar. Differenziert nach Generationszugehörigkeit zeigt sich im Rahmen dieser Untersuchung in der zweiten Migrantengeneration ein geringer Anstieg von binationalen Ehen. Daran anknüpfend wurden die Frauen gefragt, ob sie selbstbestimmt oder fremdbestimmt geheiratet haben (siehe hierzu Abschnitt 6.4) und was der Anlass ihrer Eheschließung war (siehe Abbildung 5.8). In Deutschland sozialisierte Frauen befürworten mehrheitlich (51,7 %) die romantische Liebesehe, bei den Heiratsmigrantinnen gaben dies 28,2 % an. Nur ein sehr geringer Anteil der in Deutschland sozialisierten Frauen (4,8 %) und der Heiratsmigrantinnen (0,8 %) gab an, aufgrund einer Schwangerschaft geheiratet zu haben.
0
10
20
Liebe
30
40
50
60
4,8 0,8
Partner hat mich gedrängt
4,8 6,1
80
90
28,2
51,7
Schwangerschaft
70
Aufenthaltserlaubnis 3,4 2,3 Wichtig verheiratet zu sein Wunsch nach einem Kind
13,7
13,6 8,8
10,7
gemeinsam etwas aufbauen Angst, allein zu bleiben
34
41,2
5,4 0,8 Deutschland sozialisierte
Heiratsmigrantinnen
Abbildung 5.8 Anlass (Fehlend zu 100 %: ‚sonstige Gründe zur Eheschließung‘) der Eheschließung (Mehrfachnennungen möglich, Prozentwerte)
5.5 Beschreibung der Untersuchungsteilnehmerinnen
135
Der Anteil derjenigen, die durch den Partner zur Ehe gedrängt wurden, ist unter den Heiratsmigrantinnen tendenziell etwas höher (6,1 %) als bei Frauen, die in Deutschland sozialisiert wurden (4,8 %). Nur 2,3 % der Heiratsmigrantinnen gaben den Aufenthaltsstatus als Anlass der Eheschließung an, bei in Deutschland sozialisierten Frauen nannten dies 3,4 %. ‚Es war mir wichtig, verheiratet zu sein‘ wurde von 13,6 % der in Deutschland sozialisierten Frauen und von 13,7 % der Heiratsmigrantinnen als Grund der Eheschließung genannt. Der Wunsch nach Kindern war unter Heiratsmigrantinnen (10,7 %) etwas höher als unter in Deutschland sozialisierten Frauen (8,8 %). Der Wunsch, gemeinsam etwas aufzubauen, wurde sowohl von in Deutschland sozialisierten Frauen (34 %) als auch von Heiratsmigrantinnen (41,2 %) relativ häufig als Eheschließungsanlass genannt. Auffällig ist, dass in Deutschland sozialisierte Frauen (5,8 %) im Vergleich zu Heiratsmigrantinnen (0,8 %) tendenziell häufiger Angst hatten, allein zu bleiben. Als weitere Anlässe zur Eheschließung wurden der Wunsch der Eltern (in Deutschland sozialisierte Frauen: 35 %; Heiratsmigrantinnen: 45,6 %), familiärer Druck (10,0 %; 1,8 %), Verhinderung einer Zwangsehe (2,5 %; 1,8 %), eine naive Jugendentscheidung (7,5 %; 1,8 %), Kinder (5,0 %; 7,0 %) und moralisches Pflichtgefühl (5,0 %; 8,8 %) genannt. Gesondert wurden die Frauen nach dem Zeitpunkt ihrer Heirat gefragt, um so auf das Heiratsalter schließen und einen möglichen Einfluss des Heiratsalters auf die Ehedauer erfassen zu können. Die Auswertung ergab, dass das durchschnittliche Heiratsalter der in Deutschland sozialisierten Frauen (N = 142) bei 21 Jahren lag; bei Heiratsmigrantinnen lag der Wert mit 18 Jahren etwas niedriger. Dieses Ergebnis deckt sich auch mit den Befunden des TÜIK (2012; siehe Abschnitt 3.1.3, Abbildung 3.3) in Bezug auf das Durchschnittsheiratsalter der Frauen in der Türkei und bestätigt zudem teilweise die Annahme, dass türkeistämmige Frauen im Vergleich zur deutschen Mehrheitsgesellschaft früher heiraten. Ein Blick auf das generative Verhalten der in Deutschland sozialisierten Frauen verdeutlicht, dass 16,8 % der Frauen keine Kinder, 25,5 % ein Kind, 34,9 % zwei Kinder, 19,5 % drei Kinder, 2,7 % vier Kinder und 0,7 % sechs Kinder haben (N = 49). Bei Heiratsmigrantinnen zeigt sich hingegen, dass nur 2,3 % der Frauen keine, 26,2 % ein Kind, 39,2 % zwei Kinder, 19,2 % drei Kinder, 9,2 % vier Kinder, nur 3,1 % fünf Kinder haben und nur eine Frau 7 Kinder hat. Im Durchschnitt haben Frauen beider Untersuchungsgruppen zwei Kinder. Dieses Ergebnis deckt sich tendenziell mit dem in Abschnitt 3.1.3 (Abbildung 3.4) dargestellten Ergebnis des TÜIK (2012) zur Anzahl der Kinder pro Frau in der Türkei. Auch die Auswertung des Mikrozensus’ 2012 zeigt, dass
136
5 Methode
im Durchschnitt 2,0 Kinder pro Haushalt in türkischen Familien leben (siehe hierzu Abschnitt 3.2.1). Parallel dazu wurden die Frauen gebeten anzugeben, wie alt sie bei der Geburt ihres ersten Kindes waren. Das Durchschnittsalter für in Deutschland sozialisierte Frauen betrug bei der Geburt des ersten Kindes 23 Jahre (N = 123), bei Heiratsmigrantinnen 19 Jahre (N = 125). Bezüglich des Sorgerechtes zeigt sich, dass 49,6 % der in Deutschland sozialisierten Frauen (N = 117) das alleinige Sorgerecht nach der Scheidung erhalten haben (siehe Abbildung 5.9). Nur bei 1,7 % der Fälle erhielt der Vater das alleinige Sorgerecht. Weitere 45,3 % der Frauen teilen sich das Sorgerecht für die Kinder mit dem ehemaligen Ehepartner. 3,4 % der Frauen gaben an, dass ihre Kinder zum Zeitpunkt der Ehescheidung volljährig waren. Unter den Heiratsmigrantinnen (siehe Abbildung 5.10) gaben 47,9 % der Frauen an, dass sie das alleinige Sorgerecht für die Kinder erhalten haben.
3,4
Ich bekam das Sorgerecht
Mein Ex-Mann bekam das Sorgerecht 49,6 45,3
Wir teilen uns das Sorgerecht Kinder waren volljährig 1,7
Abbildung 5.9 Sorgerecht für die Kinder nach der faktischen Scheidung – nur in Deutschland sozialisierte Frauen (Angaben in gültigen %)
Nur in 2,5 % der Fälle erhielt der Vater das Sorgerecht. Weitere 38,7 % teilten sich das Sorgerecht mit dem ehemaligen Ehepartner und in 10,9 % der Fälle waren die Kinder zum Zeitpunkt der Ehescheidung bereits volljährig.
5.5 Beschreibung der Untersuchungsteilnehmerinnen
137
Ich bekam das Sorgerrecht 10,9 Mein Partner bekam das Sorgerecht 47,9 38,7
Mein Ex-Mann und ich teilen uns das Sorgerrecht Kinder sind volljährig
2,5
Abbildung 5.10 Sorgerecht für die Kinder nach der faktischen Ehescheidung – nur Heiratsmigrantinnen (Angaben in gültigen %)
Darüber hinaus wurden die Frauen gebeten anzugeben, ob und – wenn ja – wie lange sie vor ihrer letzten Ehe schon einmal verheiratet waren. Nur bei 7,3 % (n = 11) der in Deutschland sozialisierten Frauen und 6,9 % (n = 9) der Heiratsmigrantinnen war dies der Fall. Die durchschnittliche Ehedauer der ersten Ehe lag für in Deutschland sozialisierte Frauen bei 4 Jahren und für Heiratsmigrantinnen bei 7 Jahren. Auch wurden die Frauen gefragt, ob sie eine elterliche Scheidungserfahrung gemacht haben und bei wem sie aufgewachsen sind. 7,8 % der in Deutschland sozialisierten Frauen (Heiratsmigrantinnen: 8,1 %; n = 10) stammen selbst aus einer Scheidungsfamilie (N = 141). Während 77,8 % dieser Frauen (Heiratsmigrantinnen: 88,9 %) bei der Mutter aufgewachsen sind, lag der Anteil derer, die beim Vater aufgewachsen sind, bei 11,1 % (Heiratsmigrantinnen: 11,1 %). Weitere 11,1 % aller Frauen gaben an, dass sie nach der Scheidung der Eltern bei anderen (hier wurden nur die Großeltern genannt) aufgewachsen sind. Auf welche möglichen Ursachen Letzteres zurückzuführen ist, bleibt hier offen, da dieses Merkmal im Fragebogen nicht gesondert erfasst wurde. Das Durchschnittsalter beider Untersuchungsgruppen lag bei der Scheidung der Eltern bei 15 Jahren.
138
5 Methode
Gesondert erfasst wurde die Ehedauer5 der letzten geschiedenen Ehe der Befragten (siehe hierzu detaillierter Abschnitt 6.1). Des Weiteren wurden die Frauen nach dem Zeitpunkt ihrer Scheidung gefragt, um so darauf schließen zu können, wie lange sie zum Zeitpunkt der Erhebung bereits juristisch geschieden waren. Insgesamt lag die juristische Scheidung der Befragten höchstens zwischen 21 und 37 Jahren und mindestens zwischen 1 und 6 Jahren zurück (N = 281). Die durchschnittliche seit der Scheidung vergangene Zeit lag zum Zeitpunkt der Erhebung bei jeweils zwischen 1 und 6 Jahren (in Deutschland Sozialisierte: Mittelwert: 1,56, n = 147; Heiratsmigrantinnen: Mittelwert: 1,56, n = 126) (Tabelle 5.3). Tabelle 5.3 Mittelwerte* der seit der Scheidung vergangenen Zeit (Die Mittelwerte geben keine Auskunft über die Scheidungsjahre, vielmehr handelt es sich hierbei um kategoriale Mittelwerte der seit der Scheidung vergangenen Zeit.) – Gesamt und nach Sozialisationsland Gesamt
In Deutschland Sozialisierte
Heiratsmigrantinnen
Mittelwert
1,55
1,56
1,56
Median
1,00
1,00
1,00
Standardabweichung
0,78
0,79
0,77
N
274
145
126
*Kategoriale
Mittelwerte der seit der Scheidung vergangenen Zeit auf einer Skala von: 1 (1–6 Jahre), 2 (7–13 Jahre), 3 (14–20 Jahre) und 4 (21–37 Jahre)
Die durchschnittliche seit der Scheidung vergangene Zeit der Gesamtbefragten lag insgesamt ebenfalls bei 1 bis 6 Jahren (M = 1,55; N = 274). 93,8 % der in Deutschland sozialisierten Frauen (N = 144) haben den Entschluss zur Ehescheidung nicht bedauert, nur ein geringer Anteil der Frauen (6,2 %) gab an, die Scheidung zu bedauern. Letzteres meist wegen der Kinder (28,6 %), aber auch aufgrund der gesellschaftlichen Stigmatisierung (14,3 %), einer noch starken emotionalen Bindung an den Ex-Mann (14,3 %), aufgrund des Gefühls, die Ehe zu schnell aufgegeben zu haben (14,3 %), aufgrund der Tatsache, selbst ohne Vater aufgewachsen zu sein (14,3 %), oder weil auf den Ex-Mann immer Verlass gewesen sei (14,3 %). Auch unter den Heiratsmigrantinnen haben nur 11,9 %
5Im Laufe der Ehe wurde eine Paarberatung von 26,2 % der in Deutschland sozialisierten Frauen (N = 149) und von 36,7 % der Heiratsmigrantinnen (N = 50) in Anspruch genommen.
5.6 Datenaufbereitung
139
ihren Entschluss zur Ehescheidung bedauert. Am häufigsten wurden Kinder (41,7 %), finanzielle Probleme (16,7 %) und Erinnerungen an schöne vergangene Jahre (16,7 %) als Gründe des Bedauerns genannt. Angeführt wurden auch eine emotionale Bindung zum ehemaligen Ehepartner (8,3 %), die Tatsache, selbst ohne Vater aufgewachsen zu sein (8,3 %), und das Gefühl der Einsamkeit in einem fremden Land (8,3 %). Darüber hinaus wurden die Frauen gebeten anzugeben, wer sie im eigenen Umfeld während der Trennungs- und Scheidungsphase unterstützt hat. Neben Bekannten und Verwandten (in Deutschland sozialisierte Frauen: 29,9 %; Heiratsmigrantinnen: 28,8 %) sowie guten Freunden (56,3 %; 44 %) wurden die Frauen auch von Familienangehörigen unterstützt. Hier lag der Wert für in Deutschland sozialisierte Frauen mit 72,9 % deutlich höher als bei Heiratsmigrantinnen (52,8 %). Nur 8,3 % der in Deutschland sozialisierten Frauen und 16 % der Heiratsmigrantinnen nannten andere Personen und Institutionen, wie soziale Einrichtungen (in Deutschland Sozialisierte: 16,7 %; Heiratsmigrantinnen 20 %), Psychologen (8,3 %; 10 %) und Pädagogen (16,7 %; 0 %), oder gaben an, keine Unterstützung erhalten zu haben (50 %; 70 %). In 49,3 % der Fälle ging die Initiative zur Scheidung gemäß der Einschätzung der in Deutschland sozialisierten Frauen (Heiratsmigrantinnen: 46,5 %) vom ehemaligen Ehepartner, in 9,3 % der Fälle (Heiratsmigrantinnen: 3,4 %) von ihnen selbst aus. In 18,9 % der Fälle (Heiratsmigrantinnen: 25,4 %) handelte es sich um einen gemeinsamen Scheidungsentschluss. Hieraus geht hervor, dass die Initiative zur Scheidung bei beiden Untersuchungsgruppen deutlich häufiger vom ehemaligen Ehepartner ausging und seltener von ihnen selbst, wobei die Werte der in Deutschland sozialisierten Frauen etwas höher liegen. Dagegen wurde die gemeinsame Scheidungsentscheidung häufiger von Heiratsmigrantinnen genannt. 22,9 % der in Deutschland sozialisierten Frauen machten andere für das Scheitern der Ehe verantwortlich, darunter die Schwiegereltern (10 %), die Ex-Frau des ehemaligen Ehepartners (4,7 %), eine andere Frau (4 %), andere Familienmitglieder des Mannes (2 %) und die eigenen Kinder (0,7 %). Unter den Heiratsmigrantinnen waren 24,6 % der Ansicht, dass andere für das Scheitern der Ehe verantwortlich waren; 14,5 % machten die Schwiegereltern, jeweils 2,3 % andere Familienangehörige des ehemaligen Ehepartners, eine andere Frau oder die Ex-Frau des ehemaligen Ehepartners für das Scheitern der ehelichen Beziehung verantwortlich. Damit findet die eingangs erwähnte eigene Annahme (siehe hierzu Abschnitt 3.3.3), wonach Frauen sich oft selbst für das Scheitern der Ehe verantwortlich fühlen, hier keine Bestätigung. Ferner war von Interesse, ob die Teilnehmerinnen nach der Scheidung erneut geheiratet haben oder ob sie sich in einer neuen festen Beziehung befanden.
140
5 Methode
15,2 % der in Deutschland sozialisierten Frauen (N = 138) und 8,7 % der Heiratsmigrantinnen (N = 126) haben nach der Scheidung erneut geheiratet, 20,5 % der in Deutschland sozialisierten Frauen und 5,5 % (N = 76) der Heiratsmigrantinnen haben Kinder aus der neuen Ehe. Eine Teilnehmerin (0,8 %) war zum Erhebungszeitpunkt von ihrem neuen Ehemann schwanger. Weitere 18,6 % (n = 7) der in Deutschland sozialisierten Frauen gaben an, erneut in einer festen Beziehung zu sein, und 11,3 % (n = 6) dieser Befragungsgruppe planen in Zukunft eine Eheschließung mit ihrem neuen Partner. Unter den Heiratsmigrantinnen bejahten 11,9 % (n = 3) eine neue feste Beziehung, 10,2 % planten eine Eheschließung. Eine Heiratsmigrantin gab an, dass sie vielleicht eine Eheschließung mit dem neuen Partner plant.
5.6 Datenaufbereitung 5.6.1 Datenbereinigung Nach der Dateneingabe wurden mit Hilfe einer ersten Häufigkeitszählung zunächst fragwürdige oder widersprüchliche Angaben der Frauen oder Werte, die nicht im Codeplan vorgesehen waren (sogenannte ‚Wild Codes‘), identifiziert und diese Unplausibilitäten6 auf Basis der Originalfragebögen soweit wie möglich beseitigt (vgl. Schnell et al. 2011, S. 425). Dabei wurde überprüft, ob es sich bei den Fehlern im Datensatz um Dateneingabefehler handelte oder um Fehler beim Ausfüllen der Fragebögen durch die Frauen. In einem weiteren Durchlauf wurde die Plausibilität erneut kontrolliert, ebenso wie die Merkmale der Frauen bezüglich der Zielgruppenkriterien (getrennt lebende oder geschiedene türkeistämmige Frauen) (vgl. ebd., S. 427). Drei Fälle wurden aus dem Datensatz entfernt, da es sich nicht um Frauen handelte, die getrenntlebend oder geschieden waren, sondern um Frauen, die verwitwet waren. Zudem wurden zwei weitere Fälle aus dem Datensatz ausgeschlossen, weil sich die Frauen nach einer langen Trennungsphase dazu entschlossen hatten, wieder zum Ehemann zurückzukehren. Ein weiterer Fall wurde entfernt, weil die Befragte nicht türkischer, sondern marokkanischer Herkunft ist. Ein Fall wurde aufgrund von nicht aufzulösenden Unplausibilitäten der Antworten ausgeschlossen, ein weiterer Fall aufgrund zahlreicher fehlender
6Zu
Ursachen möglicher Fehler im Datensatz siehe auch Schnell et al. (2011, S. 425 f.)
5.6 Datenaufbereitung
141
Angaben bzw. Antworten. In Anlehnung an Cohen et al. (2003) wurde überprüft, ob es Fälle gibt, bei denen mehr als 20 % der Werte fehlten, was mit Ausnahme des oben geschilderten Falls nicht vorkam. Insgesamt liegen nach der Datenprüfung und -bereinigung somit 282 Fälle vor, die in die Datenauswertung eingeflossen sind.
5.6.2 Behandlung von und Umgang mit fehlenden Werten Entscheidend für die Behandlung von fehlenden Werten ist zunächst, ob es sich um zufällig fehlende Werte (‚missing completely at random‘) handelt oder ob ein systematischer Zusammenhang dieser besteht (‚missing at random‘) (vgl. Schnell et al. 2011, S. 458 f.), d. h., ob „[…] die Ursachen für das Fehlen mit inhaltlichen Aspekten der Untersuchung“ (ebd., S. 458) bzw. mit Kovariaten wie bspw. Alter, Bildung und Religiosität erklärt werden können oder ob das Fehlen der Werte von den Variablen selbst abhängig ist. Folglich wurde zunächst überprüft, ob bei bestimmten Variablen besonders häufig Werte fehlen, was auf Unverständlichkeit der Fragen hinweisen würde. In einem weiteren Schritt wurde geprüft, in welcher Intensität die fehlenden Werte bei bestimmten Itemund Skalenblöcken zum Vorschein treten. Im Rahmen der vorliegenden Untersuchung konnte kein Zusammenhang der fehlenden Werte der Variablen oder Itemblöcke festgestellt werden. Ebenso wenig ergaben sich Zusammenhänge zwischen fehlenden Werten bei den inhaltlichen Variablen und den soziodemografischen Merkmalen.
5.6.3 Auswertungsmethode Um den Zusammenhang/Einfluss von zwei Variablen (Einfluss einer unabhängigen Variable auf eine abhängige Variable) zu prüfen, wurde ein Signifikanztest mittels einer Korrelationsanalyse (bivariate Statistik) durchgeführt, woraufhin die Werte der Befragungsgruppen (geschiedene in Deutschland sozialisierte Frauen und geschiedene Heiratsmigrantinnen) untereinander verglichen wurden. Nicht-parametrische Verfahren, wie Mann–Whitney U-Tests und Wilcoxon-Tests, wurden in dieser Untersuchung nicht herangezogen, da nicht der Vergleich von zwei (un-)abhängigen Stichproben im Hinblick auf ihre zentrale Tendenz im Fokus der vorliegenden Arbeit stand.
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5 Methode
Zur Berechnung der Kurzzeit- und Langzeitfolgen sowie des kognitiven Wohlbefindens nach der Scheidung wurden zudem Struktur-entdeckende-Verfahren7 eingesetzt. Demnach wurden anhand der Faktoranalyse – ein Verfahren zur Reduktion bzw. Zusammenfassung von Variablen – mögliche Beziehungszusammenhänge im Antwortverhalten der Befragten hinsichtlich der Kurzzeitund Langzeitfolgen ermittelt. Dieses Vorgehen geht zwar immer mit einigen Informationsverlusten einher, stellt jedoch die Herausarbeitung neuer Erkenntnisse zu den einzelnen Indikatoren der K urzzeit- und Langzeitfolgen in Aussicht. Ferner wurden die Befragten anhand einer hierarchischen Clusteranalyse (Klassifikationsverfahren) nach Ähnlichkeitsstrukturen bezüglich ihrer Bewertungseinstellungen gruppiert. Damit wurden homogene Klassen identifiziert „[…], die einander im Hinblick auf bestimmte Merkmale ‚ähnlich‘ sind und sich gleichzeitig von anderen Klassen unterscheiden“ (Fromm 2012, S. 191). Für die Überprüfung von Moderationseffekten auf die Kurzzeit- und Langzeitfolgen sowie die Bewältigungsbestrebungen wurden S truktur-prüfende-Verfahren8 eingesetzt. So wurde anhand einer Logistischen Regressionsanalyse (multivariate Analyse) mit kategorialen Variablen (begrenzte Ausprägungen) ein möglicher Einfluss mehrerer (erklärender) unabhängiger Variablen auf eine abhängige Variable analysiert. Eine lineare Regressionsanalyse könnte nach Fromm (2012) nur dann herangezogen werden, wenn metrische, kontinuierliche Variablen (also Variablen mit sehr vielen Ausprägungen) zu erklären wären. Das gewählte Verfahren ermöglicht nicht nur die Ermittlung des Zusammenhanges zwischen einer dichotomen abhängigen Variablen und mehreren (erklärenden) unabhängigen Variablen, sondern auch die getrennte Berechnung des jeweils eigenständigen Effekts der verschiedenen Einflussvariablen. Die oben beschriebenen Analysen wurden mit Hilfe des Programmes SPSS (Version 19) durchgeführt. Dabei wurden die Handbücher von Backhaus et al. (2011, 2015, 2016) sowie von Fromm (2012) herangezogen.
7Ziel
von Struktur-entdeckenden-Verfahren ist die Entdeckung von Zusammenhängen zwischen Variablen, wobei im Vorfeld der Analyse keine Vorstellung hinsichtlich der Beziehungszusammenhänge innerhalb des Datensatzes existiert (vgl. Backhaus et al. 2011, S. 13 f.). 8Das primäre Ziel von Struktur-prüfenden-Verfahren liegt in der Überprüfung von Zusammenhängen zwischen einer interessierten (abhängigen) Variablen und mehreren unabhängigen Variablen, wobei theoretische Vorüberlegungen über mögliche Zusammenhänge zwischen den Variablen bereits im Vorfeld bestehen (vgl. Backhaus et al. 2011, S. 14).
5.7 Beschreibung der verwendeten Erhebungsinstrumente
143
5.7 Beschreibung der verwendeten Erhebungsinstrumente Der in der vorliegenden Arbeit eingesetzte standardisierte Fragebogen umfasst insgesamt 12 Seiten und enthält neben Items zur Einschätzung der ehelichen Partnerschaft auch Skalen und Items zur Messung von subjektiven Scheidungsgründen, von psychischem Wohlbefinden nach der Scheidung sowie zur Messung der Lebenszufriedenheit nach der Scheidung. Bei der Fragebogenkonstruktion wurden neben eigenformulierten Fragen, bspw. zur Erfassung der soziodemografischen Daten, auch vorhandene Skalen und Items aus diversen Partnerschafts- und Scheidungsstudien herangezogen (für eine detaillierte Beschreibung der verwendeten Erhebungsinstrumente siehe unten). Allerdings wurden nicht immer ganze Skalenblöcke übernommen, sondern je nach Trennschärfe und Reliabilität Einzelitems selektiert. So wurden je nach Skalengüte einige Items entweder verworfen oder modifiziert (siehe hierzu Abschnitt 5.2). Zu Beginn der Fragebogenkonstruktion wurde überprüft, ob sich die Skalengüte der vorhandenen Itemblöcke auch für die vorliegende Untersuchung als reliabel erweist. Zur Erfassung der subjektiven Scheidungsfolgen und Bewältigungsprozesse, die für das folgende Forschungsvorhaben von zentraler Bedeutung sind, wurde bewusst auf Antwortkategorien in Form von Skalen und Items verzichtet, um die befragten Frauen nicht durch mögliche Antwortvorgaben in ihren subjektiv erlebten Erfahrungsberichten im Hinblick auf die Scheidungsfolgen und Bewältigungsbestrebungen zu beeinflussen. Stattdessen wurden diese beiden Kategorien als offene Fragen formuliert. Darüber hinaus wurden bei der Erfassung der persönlichen Ähnlichkeitsbereiche, der Konfliktbereiche sowie der Partnerschaftszufriedenheit jeweils zwei Zeitpunkte erfasst. Es wurden die subjektiven Einschätzungen der Frauen im Hinblick auf den Ehebeginn und auf das Eheende abgefragt. Dies war notwendig, um die Entwicklung der ehelichen Partnerschaft ansatzweise nachzeichnen zu können. Durch die rückwirkende Hinwendung zur Ehe sowie zu deren Auflösung und damit einhergehenden Folgen ist eine verzerrte Darstellung der Ereignisse und des Erlebens dieser Ereignisse ebenso wie die nachträgliche Zuschreibung von Motiven, die im handelnden Vollzug nicht gegeben waren, nicht auszuschließen. Gerade im Hinblick auf die Erfassung des Ehebeginns geschiedener Frauen mangelt es jedoch an erhebungsökonomischen Alternativen.
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5 Methode
5.7.1 Erfassung des soziodemografischen Hintergrundes der Frauen An persönlichen Merkmalen der Frauen wurden folgende Variablen erfasst: (1) Alter und Geburtsland Ersteres wurde mittels einer offenen Frage erfasst. Im Hinblick auf den Geburtsort wurden drei Antwortkategorien vorgegeben: 1. Türkei, 2. Deutschland, 3. Anderes Land (das in diesem Fall anzugeben war). (2) Herkunftsstadt und Herkunftsregion Die in der Türkei geborenen Frauen wurden mit Hilfe einer offenen Frage gebeten, ihre Herkunftsstadt (in der Türkei) anzugeben. Die Herkunftsregion aller Befragten (und ihrer ehemaligen Partner) wurde anhand folgender Antwortmöglichkeiten erfragt: Ägäis, Mittelmeer, Marmara, Ostanatolien, Südanatolien, Zentralanatolien und Schwarzmeer. (3) Herkunftsland des damaligen Ehepartners Angesichts der Forschungsergebnisse zu binationalen und interethnischen Ehen bei türkeistämmigen Frauen (siehe Abschnitt 3.2.3.1) wurde das Herkunftsland des Ex-Mannes offen erfragt. (4) Einreisejahr nach Deutschland, Grund der Einreise sowie zwischenzeitliche Ausreise aus Deutschland Beide Aspekte wurden offen erfragt, sofern die Probandinnen nicht in Deutschland geboren wurden. Der Einreisegrund wurde nachträglich wie folgt kategorisiert: Familiennachzug, Eheschließung, Kinder und Ehescheidung. (5) Nationalität Zur Erfassung der Staatsangehörigkeit (beider Ehepartner) standen den Frauen die Antwortoptionen türkisch, deutsch oder beides zur Verfügung. Zudem wurde hier eine Sammelkategorie sonstiges verwendet. (6) Bildungsgrad (beider Partner) und Arbeitsverhältnis Es wurden die Schulabschlüsse sowohl der Frauen als auch der Ex-Männer erfasst. Der Bildungs-Index der Schulabschlüsse in Deutschland wurde nach der Struktur des Bildungswesens in der Bundesrepublik Deutschland (vgl. KMK 2014) gebildet. Die Schulabschlüsse im Herkunftsland wurden durch die Option der Nennung sonstiger Schulabschlüsse offen erfasst. Sie wurden anschließend zu folgenden Antwortkategorien gebündelt: Ohne Abschluss (auch Grundschule), Mittelschule, Berufskolleg, Abitur, Hochschulabschluss und Universitätsabschluss. Um das aktuelle Arbeitsverhältnis der Frauen zu erfassen, wurden ihnen in Anlehnung an Bodenmann et al. (1996) folgende
5.7 Beschreibung der verwendeten Erhebungsinstrumente
145
Antwortalternativen vorgelegt: Arbeiterin, Angestellte, Beamtin, Rentnerin, selbstständig, Hausfrau, arbeitslos, sonstiges. Darüber hinaus wurden Fragen zum Wohnort und zur Haushaltsgröße, Anzahl, Geschlecht, Geburtsdatum und Wohnort der Kinder, Alter der Frauen bei der Geburt des ersten Kindes, Sorgerecht für die Kinder (in Anlehnung an den Fragebogen zu Determinanten der Ehescheidung von Hartmut Esser) sowie Fragen zur vorehelichen Partnerschaft (in Anlehnung an den Fragebogen von Bodenmann et al. 1996) gestellt. Weiterhin berücksichtigt wurden die Berufstätigkeit während der Ehe sowie die Anzahl vorangegangener Ehen. Letzteres diente bei der Auswertung zur Kontrolle, ob eine voreheliche Erfahrung, die in Scheidung geendet hat, einen Einfluss auf eine erneute Scheidung hat. Das aktuelle monatliche Einkommen wurde auf der Grundlage der Kategorisierung des Statistischen Bundesamtes erfasst (Statistisches Bundesamt 2015, Fachserie 15, Heft 4, S. 26).
5.7.2 Erfassung von Modus und Anlass der Eheschließung Die Erfassung des Modus’ der Eheschließung wurde in Anlehnung an die Teilerhebung von Bodenmann et al. (1996) formuliert, allerdings entgegen dem Original mit einer 3-stufigen Antwortskala (trifft genau zu, teils/teils und trifft gar nicht zu) versehen. Die Fragen zu den Motiven bzw. Anlässen der Eheschließung stammen ursprünglich aus dem Forschungsprojekt Scheidungsursachen im Wandel von Nave-Herz (1990c, S. 77). Die Eheschließungsanlässe bestehen im Original aus 8 Items, die durch eine Mehrfachnennung beantwortet werden konnten. Für den vorliegenden Fragebogen wurden sechs der acht Motive aus der Originalerhebung verwendet. Die letzten beiden Ehemotive aus der Originalerhebung wurden – auf der Basis von Angaben der Probandinnen im Pretest – durch folgende neu entwickelte Motive ergänzt: Liebe und Aufenthaltserlaubnis. Zudem wurde eine offene Antwortmöglichkeit zur Nennung weiterer möglicher Anlässe bzw. Motive für die Eheschließung hinzugefügt.
5.7.3 Erfassung der Ehequalität Die Ehequalität wurde mit Hilfe (1) der Ähnlichkeitsmerkmale der Paare, (2) der Konfliktbereiche innerhalb der Ehe, (3) des Konfliktbewältigungsverhaltens und (4) der Ehezufriedenheit erfasst.
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5 Methode
Ähnlichkeit in der Partnerschaft9 Die Skala zur Erfassung der Ähnlichkeitsmerkmale zwischen den Partnern stammt aus dem von Bodenmann et al. (1996) entwickelten Fragenbogen zur Untersuchung von subjektiven Scheidungsgründen und enthält im Original 22 Items. Die Skalenpole variieren dabei inhaltlich: So werden die Ähnlichkeitsbereiche 1 bis 11 über eine 4-stufige Skala (trifft sehr zu bis hin zu trifft nicht zu) erfasst. Die Bereiche 12 bis 14 hingegen werden über eine 5-stufige Skala (bspw. attraktiver bis nicht attraktiv) bewertet. Für die vorliegende Untersuchung wurde das Instrument aus forschungsökonomischen Gründen auf 10 Items (Item 1, 2, 3, 5, 6, 9, 15, 16, 17 und 18 aus dem Originalfragebogen) gekürzt, die unverändert übernommen wurden. Ebenso wurden die 4- bis 5-stufigen Antwortkategorien aus dem Original übernommen, eine Ausnahme stellen hierbei die Ähnlichkeitsbereiche zur Erfassung des Bildungs- und Einkommensniveaus dar. Die Abstufungsnennungen wurden hier modifiziert. Zudem wurde die Frage nach der gleichen Religionszugehörigkeit durch eine offene Fragestellung ersetzt, d. h., die Befragten wurden explizit nach der eigenen Religions- und Konfessionszugehörigkeit und der des ehemaligen Ehepartners befragt. Die Umformulierung dieser Frage war aus Sicht der Autorin notwendig, um etwaige Vorurteile im Hinblick auf ungleiche Religionszugehörigkeiten der Paare als möglichen Prädiktor der Ehescheidung auszuschließen. Konfliktbereiche innerhalb der Ehe10 Die hier herangezogenen Frage-Items stammen ursprünglich aus dem Fragebogen des WHEZ-Projektes11 und umfassen verschiedene Themen, die als konfliktreich in einer Ehebeziehung gewertet werden können (vgl. Schneewind et al. 2003, S. 2). Die Items wurden dabei zunächst in neun Konfliktbereiche (1. Geld, 2. 9Der
Fragebogen zur Untersuchung von subjektiven Scheidungsgründen wurde der Autorin von Prof. Dr. Guy Bodenmann zur Verfügung gestellt. 10Die Projektdokumente und der Fragebogen wurden der Autorin von Prof. Dr. Eva Wunderer zur Verfügung gestellt. 11Das WHEZ-Projekt Was hält Ehen zusammen? Bedingungen und Konsequenzen ehelicher Stabilität wurde von 2001 bis 2003 an der Universität München unter der Federführung von Klaus Schneewind durchgeführt. In der Untersuchung wurden das „[…] persönliche ‚Eherezept‘ der Paare, Beziehungstiefs und deren Bewältigung, Relevanz impliziter Beziehungstheorien und deren prozessorientierte Korrelate für die Ehezufriedenheit, Paartypologie auf der Basis von ‚Positivität‘ und ‚Konfliktkompetenz‘ und deren Ausprägung bezüglich kognitiver, emotionaler und handlungsbezogener Aspekte der Paarbeziehung sowie die Bedeutung von Generativität in Langzeitehen […]“ analysiert (Schneewind et al. 2004, S. 225).
5.7 Beschreibung der verwendeten Erhebungsinstrumente
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Freizeitgestaltung/Zeiteinteilung, 3. Arbeitsteilung/Haushaltsführung, 4. Sexualität, 5. Beruf/Arbeit, 6. Ansichten über Politik, Religion etc., 7. Persönliche Eigenheiten, Gewohnheiten, Bedürfnisse, 8. Beziehungen zu Freunden, Verwandten und 9. Kinder) und eine offene Antwortmöglichkeit untergliedert, wobei die offene Antwortmöglichkeit aus erhebungsökonomischen Gründen in der Hauptstudie von Schneewind (vgl. ebd.) verworfen wurde. Die Items umfassen eine 4-stufige Skala mit den Antwortvorgaben überhaupt nicht bis sehr konfliktreich und „[…] stellen einen Indikator für die Stressbelastetheit des Paares im Alltag (‚daily hassles‘) dar“ (ebd., S. 2). Für den vorliegenden Untersuchungsfragebogen wurde der Konfliktbereich 6 (persönliche Eigenheiten, Gewohnheiten, Bedürfnisse) verworfen. Stattdessen wurde der ‚Einfluss der Schwiegereltern‘ hinzugefügt. Diese Veränderung ergab sich aus den Rückmeldungen der Frauen im Pretest. Die im Originalfragebogen verwendete 4-stufige Antwortskala wurde zwar inhaltlich durch die Antwortvorgaben sehr oft bis überhaupt nicht ersetzt, unverändert blieben jedoch die vier Antwortstufen. Im Gegensatz zum Originalfragebogen wurde den Frauen im Rahmen der vorliegenden Untersuchung die Möglichkeit geboten, weitere unberücksichtigte Konfliktbereiche zu nennen. Um den möglichen Wandel der Konfliktbereiche im Verlauf der Ehebeziehung und die damit verbundene Stressbelastung der Frauen zeitlich ansatzweise analysieren zu können, wurden die Konfliktbereiche zu Beginn und gegen Ende der Ehe erfasst. Konfliktbewältigungsverhalten Der Fragebogen zur Erfassung von Konfliktlösungsstilen bei Paaren ist eine von Schwarz und Gödde (1998) erstellte deutsche Version des von Kurdek (1994) entwickelten Conflict Resolution Styles Inventory CRSI (vgl. Schneewind et al. 2003, S. 4). Der Originalfragebogen erfasst mittels 32 Items vier Dimensionen von Konfliktlösungsstilen: ‚kämpferischer Konfliktstil‘, ‚positive Konfliktlösung‘, ‚Rückzug‘ und ‚Nachgiebigkeit‘ in der Selbst- und Partnereinschätzung (vgl. Herzberg und Sierau 2010, S. 94, 97). Während die positive Problemlösung durch Kompromissverhalten beider Partner gekennzeichnet ist, beschreibt der kämpferische Konfliktstil ein feindseliges Angriffsverhalten (vgl. Herzberg und Sierau 2010, S. 95). „Die Skala Rückzug umfasst das fehlende Interesse am Konflikt und die Verweigerung einer weiteren Auseinandersetzung mit dem Beziehungspartner“ (ebd., S. 95). Die Skala ‚Nachgiebigkeit‘ beschreibt Verhaltensweisen, bei denen die eigene Meinung und die Wünsche in Konfliktsituationen nicht verteidigt werden und die Betroffenen sich zurückziehen (vgl. ebd.). Die vierfaktorielle Struktur des CRSI erhebt zum einen die Selbstwahrnehmung der jeweiligen Ehepaare und zum anderen die Wahrnehmung des Partners bzw. der Partnerin (vgl. ebd.). Ähnlich argumentierte
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Bodenmann (2000a, 2005; siehe Abschnitt 2.2) in Anlehnung an seine Stress-Scheidungstheorie und stellte dabei fest, dass der Umgang mit Konflikten ein Indikator für die Partnerschaftszufriedenheit ist. Nicht der inhaltliche Wert der Konflikte, sondern vielmehr der Umgang mit ihnen ist demnach ausschlaggebend für die Partnerschaftszufriedenheit und somit für die Stabilität der Ehe. Auch Gottmann (1994) weist darauf hin, dass die positive partnerschaftliche Interaktion ein Prädiktor für die Paarzufriedenheit ist (siehe hierzu Abschnitt 2.2). „Die internen Konsistenten der Skalen (Cronbachs Alpha) liegen zwischen α .70 und .90 […]“ (Herzberg et al. 2010, S. 95). Die Skala ‚Nachgiebigkeit‘ wurde, dem Original entsprechend, auch im Rahmen der vorliegenden Untersuchung ausgeschlossen, da „[…] sie inkonsistente und schwer zu interpretierende Befunde erbringt“ (Schneewind et al. 2003, S. 2). Zur Erhebung der Selbstwahrnehmung bei Auseinandersetzungen mit dem ehemaligen Ehepartner wurden daher fünf Items der Dimensionen kämpferischer Konfliktstil, positiver Konfliktstil und Rückzug herangezogen. Die hier verwendeten Items wurden leicht umformuliert, ohne eine inhaltliche Veränderung vorzunehmen. Dem Original entsprechend wurde die 5-stufige Skala (nie bis immer) als Antwortkategorie für die vorliegende Untersuchung beibehalten. Ehe-Zufriedenheit Die von Hendrick (1998) entwickelte relationship assessment scale ist ein Instrument zur Erfassung der Zufriedenheit in Paarbeziehungen (ZIP) (vgl. Hassebrauck 1991, S. 256). Der Originalfragebogen beinhaltet sieben Items und ist durch eine einfaktorielle Struktur gekennzeichnet. Die interne Konsistenz für die Gesamtstichprobe liegt bei α .87 (vgl. ebd.). Für die vorliegende Untersuchung wurden alle Items des ZIP verwendet, es wurde aber mit einer leicht modifizierten Fassung gearbeitet, die inhaltlich jedoch konstant gehalten wurde. Verändert wurde zudem die Struktur der Antwortvorgaben. Anders als in der Originalversion wurde eine mehrfaktorielle Struktur herangezogen, bei der die Skalen-Abstufung den einzelnen Items angepasst wurde. Ein Beispiel-Item lautet: Wie zufrieden waren sie im Großen und Ganzen mit Ihrer Beziehung? Die Antwort erfolgte auf einer 4-stufigen Skala (sehr zufrieden bis gar nicht zufrieden). Ähnlich wie in der Skala ‚Konfliktbereiche‘ von Schneewind et al. (2003, 2004) wurde auch die Ehezufriedenheit im Rahmen der vorliegenden Untersuchung zu Beginn und gegen Ende der Ehe erhoben. Auch diesem Vorgehen lag der Gedanke zugrunde, die Persönlichkeits- und Erwartungsveränderungen der Frauen ansatzweise über den Verlauf der Ehebeziehung zu erfassen.
5.7 Beschreibung der verwendeten Erhebungsinstrumente
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5.7.4 Erfassung der Scheidungsursachen Scheidungsgründe Das zur Erfassung der Scheidungsgründe verwendete Instrument stammt aus dem Fragebogen von Bodenmann et al. (1996) und erhebt den Partnerschaftszerfall im Kontext mehrerer unterschiedlicher Stressoren sowie der dysfunktionalen dyadischen Coping-Bemühungen der Betroffenen. Die subjektiven Scheidungsgründe umfassen im Originalfragebogen 22 Items und eine offene Antwortmöglichkeit zur Benennung weiterer Scheidungsursachen. Alle Items werden in der Originalfassung auf einer 5-stufigen Skala (trifft sehr zu, trifft zu, trifft eher zu, trifft eher nicht zu sowie trifft nicht zu) beantwortet. Für die vorliegende Erhebung wurden die Originalskalen leicht modifiziert. Die nun 4-stufige Skala setzt sich wie folgt zusammen: trifft sehr zu, trifft etwas zu, trifft eher nicht zu, trifft überhaupt nicht zu. Bei der Erfassung der Scheidungsgründe der türkeistämmigen Frauen wurde das Instrument aus erhebungsökonomischen Gründen auf 10 Items gekürzt, bedingt durch die Anmerkungen der Probandinnen aber durch zwei neu entwickelte Items ergänzt: Mein Ex-Mann und ich haben gemeinsam beschlossen, uns zu trennen; Mein jetziger Partner/Ehemann spielte eine wichtige Rolle bei meiner Trennungsentscheidung. Scheidungserleichternde, -auslösende und -erschwerende Bedingungen Bei der Skala zur Erfassung der scheidungserleichternden und -erschwerenden Bedingungen handelt es sich ebenfalls um ein Erhebungsinstrument aus der Hauptstudie von Bodenmann et al. (1996). Die scheidungserleichternden, -auslösenden und -erschwerenden Bedingungen wurden im Originalfragebogen separat jeweils auf einer 5-stufigen Skala (trifft sehr zu, trifft zu, trifft eher zu, trifft eher nicht zu und trifft nicht zu) beantwortet. Die Zahl der Items zur Erfassung der jeweiligen Bedingungen variiert jedoch je nach Konstrukt: Während die scheidungserleichternden Bedingungen 15 Items umfassen, beinhalten die scheidungsauslösenden Bedingungen im Originalfragebogen insgesamt 19 Items. Die scheidungserschwerenden Bedingungen wurden in 18 Items erfasst. Für die vorliegende Untersuchung wurde das Instrument aus erhebungsökonomischen Gründen auf 7 Items gekürzt, wobei überwiegend Aspekte aus dem Originalfragebogen verwendet wurden, die eine Trennung oder Scheidung hinausgezögert haben. Die scheidungserleichternden Bedingungen wurden im Rahmen der vorliegenden Untersuchung nur teilweise dem Originalfragebogen entnommen. Diese Items wurden jedoch negativ gepolt. So wurde das Item Keine
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5 Methode
moralischen Bedenken (Item 4 aus dem Originalfragebogen) wie folgt verändert: Moralische Vorstellungen und Religiosität als Barriere (Item 3 im Fragebogen der vorliegenden Untersuchung). Entscheidend dafür war, dass einige mögliche scheidungserleichternde Bedingungen aus dem Originalfragebogen von Bodenmann et al. wie bspw. Eigene Eltern ließen sich auch scheiden (Item 14) bereits im Kontext anderer Skalen oder Fragen des vorliegenden Untersuchungsfragebogens erhoben wurden und so unnötige Doppelungen im Fragebogen vermieden werden konnten. Zudem standen vielmehr mögliche Barrieren, die eine Scheidung vorerst hinausverzögern, im Fokus der Untersuchung. Darüber hinaus wurde das Instrument durch ein weiteres Item im Bereich der Skala der scheidungserschwerenden Bedingungen ergänzt: Druck der Familie. Die Abstufung der Antwortmöglichkeiten wurde im Gegensatz zum Original leicht modifiziert auf einer 4-stufigen Skala beantwortet: trifft sehr zu, trifft etwas zu, trifft eher nicht zu und trifft überhaupt nicht zu. Die Rolle der Kinder bei der Scheidung Das Instrument zur Erfassung der Rolle der Kinder bei der Scheidung ist eine Teilerhebung aus dem Fragebogen des Forschungsprojektes Determinanten der Ehescheidung – geschiedene Frauen, 1. Untersuchungswelle –, das unter der Leitung von Hartmut Esser entwickelt und zwischen 1992 und 1993 durchgeführt wurde. Das Instrument erfasst in der Originalfassung auf einer 6-stufigen Skala (traf voll zu, traf eher zu, teils/teils, traf eher nicht zu, traf überhaupt nicht zu und weiß nicht) die Rolle der Kinder bei der Trennungsentscheidung der Frauen. Für die Untersuchung wurden die Originalitems unverändert und der Reihenfolge nach verwendet, wobei folgende 2 Items ausgeschlossen wurden: Ich setzte die Kinder bei der Scheidung gegen meinen Partner ein und Mein Partner setzte die Kinder bei der Scheidung gegen mich ein. Abgesehen von der Antwortkategorie weiß nicht wurden auch die Antwortwortmöglichkeiten konstant gehalten. Als Kontrollvariable zur Transmissionshypothese wurden zudem Fragen nach der ehelichen Trennung und Scheidung der Eltern und nach dem Alter bei der Scheidung der Eltern entwickelt. Ebenfalls berücksichtigt wurde in diesem Zusammenhang, bei wem die Frauen nach der elterlichen Scheidung aufgewachsen sind. Die Antwortalternativen waren dabei: Mutter; Vater; Andere, und zwar. Darüber hinaus wurden in Anlehnung an Bodenmann et al. (1996) folgende offene Fragen zur Erfassung der ehelichen Trennung und juristischen Scheidung herangezogen: Seit wann sind Sie geschieden? und Falls Sie nicht geschieden sind, wie lange sind Sie von Ihrem Partner getrennt? Ebenfalls gefragt wurde in Anlehnung an Essers Forschungsprojekt, wer in erster Linie für das Scheitern der Ehe verantwortlich war. Die Beantwortung dieser Frage erfolgte dem Original
5.7 Beschreibung der verwendeten Erhebungsinstrumente
151
entsprechend durch folgende vier vorgegebene Antwortalternativen: Mein damaliger Partner; Ich; Beide; Andere, und zwar. Von weiterem Interesse für die vorliegende Untersuchung waren die Bereiche (1) Unterstützung während Trennung und Scheidung, (2) aktueller Beziehungsund Familienstand sowie (3) professionelle Unterstützung nach der Scheidung (Nachscheidungssituation). Zur Erfassung der Unterstützung während der Trennung und Scheidung wurden keine bereits vorliegenden, in anderen Forschungsarbeiten verwendeten Skalen und Items herangezogen. Vielmehr wurden folgende Antwortnennungen formuliert: (1) gute Freundin/guter Freund, (2) Bekannte/Verwandte und (3) enge Familienmitglieder (z. B. Mutter, Vater, Schwester, Bruder) sowie eine offene Antwortmöglichkeit. Zudem wurden offene Antwortmöglichkeiten zur Nennung möglicher psychologischer Unterstützung und Partnerschaftsberatung formuliert. Die Antwortalternativen waren dabei: Ja/ Nein. Der von Ulrich Schmidt-Denter und Wolfgang Beelmann entwickelte Fragebogen zur Untersuchung familiärer Beziehungen nach Trennung und Scheidung (Mütter-Fragebogen)12 diente der vorliegenden Untersuchung als Teilerhebung zur Erfassung des Familienstandes sowie zur Erfassung des Wohlbefindens nach der Trennung und Scheidung (siehe unten). Zur Erfassung des aktuellen Beziehungs- und Familienstandes wurden für die vorliegende Untersuchung die Items 9–12 des Kölner Fragebogens für Scheidungsfamilien (Mütter-Fragebogen) verwendet. Es wurde mit einer leicht modifizierten Fassung gearbeitet, die inhaltlich jedoch konstant gehalten wurde.
5.7.5 Erfassung der Nachscheidungssituation Wohlbefinden nach der Trennung und Scheidung Der hier herangezogene Fragebogen13 wurde ursprünglich im Rahmen des Forschungsprojektes Familiäre Beziehungen nach Trennung und Scheidung von
12Die
Veränderungen der familiären Beziehungen nach einer ehelichen Trennung und Scheidung wurden zwischen 1990 und 1996 mit Hilfe des Kölner Fragebogen für Scheidungsfamilien unter der Federführung von Ulrich Schmidt-Denter und Wolfgang Beelmann analysiert. 13Der urheberrechtlich geschützte Kölner Fragebogen für Scheidungsfamilien wurde der Autorin von Prof. Dr. Ulrich Schmidt-Denter zur Verwendung im Rahmen der vorliegenden Arbeit zur Verfügung gestellt.
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Ulrich Schmidt-Denter entwickelt. Das Instrument erhebt die Lebenssituation von Familien nach der Trennung und Scheidung aus Sicht der Mütter und Väter, d. h., der Fragebogen erfasst nicht nur die Umstrukturierung des Familiensystems und somit die einzelnen Lebensphasen, sondern auch die Veränderungen der familiären Beziehungen (vgl. Schmidt-Denter 1995, S. 26). Für die vorliegende Untersuchung wurde ein gesonderter Teil aus dem Originalerhebungsinstrument (Mütter-Fragebogen) zur Erfassung des Wohlbefindens nach der Trennung und Scheidung verwendet. Hierbei handelt es sich nicht um eine Itemliste und die dazugehörigen Antwortskalen, sondern um neun Fragen und eine offene Antwortmöglichkeit. Die Beantwortung der Fragen erfolgt in der Originalversion des Fragebogens je nach subjektiver Bewertung, zudem war eine Mehrfachbeantwortung möglich. Im Rahmen der vorliegenden Arbeit wurde hingegen eine leicht modifizierte Fassung entwickelt, indem unter Einbezug der neun Fragen aus der Originalversion des Fragebogens eine Skala mit einer 5-stufigen Antwortskala (trifft genau zu, trifft eher zu, teils/teils, trifft eher nicht zu, trifft gar nicht zu) gebildet wurde. Die Items wurden inhaltlich unverändert übernommen. Die Items 2 und 5 des hier zugrundeliegenden Fragebogens beschreiben ein positives und erleichtertes Wohlbefinden unmittelbar nach der Trennung und Scheidung, wie z. B. Ich war sehr erleichtert, weil alles vorbei war. Die restlichen Items sind hingegen negativ gepolt und stellen einen Indikator für ein schlechtes und im Hinblick auf die Zukunft eher ängstliches Wohlbefinden dar, wie bspw. Ich war verzweifelt, weil ich viele Probleme auf mich zukommen sah. Fragen zu subjektiven Scheidungsfolgen und zur Scheidungsbewältigung Zur Erfassung der subjektiven Folgen der Ehescheidung und deren Bewältigung wurden offene Antwortmöglichkeiten formuliert. So wurde bspw. gefragt: Welche Schwierigkeiten und Belastungen haben Sie unmittelbar nach der Scheidung erlebt? und Wie haben Sie diese Schwierigkeiten und Belastungen bewältigt? Dem Einbezug einer offenen Antwortmöglichkeit lag zum einem der Gedanke zugrunde, die Frauen nicht in ihren individuellen Erfahrungsbewertungen zu beeinflussen, zum anderen sollte dadurch eine höhere Heterogenität der Antwortmöglichkeiten gewährleistet werden. Die offenen Fragen wurden in einem späteren Arbeitsschritt nach Durchsicht aller Antwortangaben klassifiziert. „Ähnliche oder vergleichbare Antworten […] [wurden] zu neuen Kategorien zusammengefasst“ (Schnell et al. 2011, S. 419) und mit Zahlen versehen. Zudem wurden diese zusätzlich in eine gesonderte Variable in der Datenmaske (SPSS) eingetragen.
5.7 Beschreibung der verwendeten Erhebungsinstrumente
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Erfassung der Lebenszufriedenheit der Frauen nach der Scheidung Der hier herangezogene Fragebogen zur Lebenszufriedenheit von Fahrenberg et al. (2000) erfasst „[…] die Lebenszufriedenheit, welche durch die individuelle Bewertung der vergangenen und gegenwärtigen Lebensbedingungen und der Zukunftsperspektiven operationalisiert wird“ (Klann et al. 2003, S. 302). Die Lebenszufriedenheit wird in der Originalversion auf folgenden zehn Skalen erfasst (vgl. ebd.): • Gesundheit • Arbeit und Beruf • Finanzielle Lage • Freizeit • Ehe und Partnerschaft • Beziehung zu den eigenen Kindern • Eigene Person • Sexualität • Freunde, Bekannte, Verwandte • Wohnung Die Items werden auf einer 7-stufigen Skala (sehr unzufrieden, unzufrieden, eher unzufrieden, weder noch, eher zufrieden, zufrieden, sehr zufrieden) beantwortet und stellen einen Indikator für die Selbstbeurteilung der subjektiven Lebensbedingungen dar. Die interne Konsistenz liegt bei einem Gesamtwert von α .95, die Werte der einzelnen Skalen liegen zwischen α .82 und α .94 (vgl. ebd. S. 303). Im Rahmen der vorliegenden Untersuchung wurden die zehn Skalen aus dem Originalfragebogen nicht komplett übernommen, sondern nur folgende fünf Skalen herangezogen: (1) Gesundheit, (2) Arbeit und finanzielle Lage, (3) Ehe und Partnerschaft, (4) Beziehung zu den Kindern, (5) Eigene Person. Zudem wurde aus erhebungsökonomischen Gründen darauf verzichtet, alle Items der verwendeten Skalen in den Untersuchungsfragebogen einzubeziehen. Vielmehr wurden nur ausgewählte Items verwendet, wobei die Anzahl der verwendeten Items zwischen den einzelnen Skalen variiert. So finden sich bspw. innerhalb der Skala zur Erfassung der Lebenszufriedenheit im Bereich Ehe und Partnerschaft drei etwas leicht umformulierte Items aus der Originalfassung, wie bspw. Mit der Ehrlichkeit und Offenheit meines (Ehe-)Partners bin ich…, und im Bereich Gesundheit nur ein etwas leicht modifiziertes Item: Mit meiner gesundheitlichen Verfassung bin ich…. In Anbetracht der Tatsache,
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5 Methode
dass im Rahmen der vorliegenden Untersuchung nur die Selbstbeurteilung der betroffenen getrenntlebenden bzw. geschiedenen Frauen entscheidend ist und nicht die Lebenszufriedenheit der Paare, wurden die verwendeten Items dementsprechend umformuliert und zur Erfassung der Langzeitfolgen eingesetzt. Die Antwortskalen wurden von einer 7-stufigen auf eine 5-stufige Skala gekürzt: sehr zufrieden, eher zufrieden, weder noch, eher unzufrieden, sehr unzufrieden. Überdies wurde die Reihenfolge der Abstufungen der Antwortskalen verändert. Die Abstufung der Antwortskalen beginnt mit einer positiven und endet mit einer negativen Antwortmöglichkeit. Fragen zur Religiosität Die Frauen wurden gebeten anzugeben, ob sie sich als einen religiösen Menschen bezeichnen. Die Beantwortung erfolgte folgendermaßen: ja, teils/teils und nein. Zudem wurden die Frauen nach dem Ausmaß ihrer selbst wahrgenommenen Religiosität befragt. Die Frage wurde auf einer 4-stufigen Antwortskala beantwortet (sehr gläubig, gläubig, etwas, überhaupt nicht). Neben der Frage der Religiosität wurde die Frage nach der Wichtigkeit des Erhalts der Traditionen gestellt. Auch hier wurde eine 4-stufige Antwortskala (sehr wichtig, wichtig, nicht so wichtig, überhaupt nicht wichtig) herangezogen. Frage zu Erwartungen an das zukünftige Leben Abschließend wurden die Frauen gefragt, wie viel Glück und Freude sie von ihrem zukünftigen Leben erwarten. Die Antwortmöglichkeiten waren dabei sehr viel, ein wenig, kaum, überhaupt nicht.
Teil III Die Ergebnisse
Vorbemerkung zur Präsentation der Ergebnisse Die Analyse der Befragungsergebnisse gliedert sich in sechs Kapitel. Bivariate Zusammenhänge wurden für alle Kapitel (mit Ausnahme der abschließenden Diskussion) auf der Ebene einzelner Items überprüft. Soweit es sich um Skalen handelt, wurden jeweils Berechnungen zur Überprüfung etwaiger Zusammenhänge auf Skalenebene vorangestellt1. Kapitel 6 widmet sich dem Eheverlauf und der Ehedauer. Hier soll ein Vergleich von in Deutschland sozialisierten Frauen und Heiratsmigrantinnen2 zeigen, inwieweit bivariate Zusammenhänge zwischen der Ehedauer und dem Konfliktpotenzial, der Partnerschaftsqualität und -stabilität, den soziodemografischen Merkmalen, dem Heiratsmodus, den Ähnlichkeitsmerkmalen zwischen den Ehepartnern und der Traditionsgebundenheit der Frauen bestehen. Darüber hinaus wird der Zusammenhang zwischen der Ehedauer und den Scheidungsbarrieren sowie der Transmission der elterlichen Scheidung und der eigenen bereits erlebten Scheidungserfahrung analysiert. Anschließend werden in Kapitel 7 die Scheidungsgründe in Zusammenhang mit dem Sozialisationsland gebracht.
1Skalenmittelwerte
konnten im Hinblick auf Konfliktbereiche, die Partnerschaftszufriedenheit, Ähnlichkeitsmerkmale der Ehepartner, Scheidungsbarrieren, Scheidungsgründe und Langzeitfolgen gebildet werden. So ergeben sich jeweils metrische Paarungen, die mittels des Korrelationskoeffizienten nach Pearson berechnet wurden. Da auch die Ehedauer – wenngleich sie keine Skala darstellt – metrisch ist, konnte auch sie mit Hilfe einer Korrelationsanalyse zu den Mittelwerten der benannten Skalen in Beziehung gesetzt werden. 2Aufgrund der geringen Fallzahl wurden alle Frauen, deren Sozialisation unklar ist, aus der Berechnung ausgeschlossen.
156
Teil III
Eine Logistische Regressionsanalyse wurde in Bezug auf die Ehedauer und die Scheidungsgründe nicht durchgeführt, da die Voraussetzungen zur Bestimmung möglicher Zusammenhänge zwischen einer abhängigen dichotomen Variablen und mehreren (erklärenden) unabhängigen Variablen für die Ehedauer nicht gegeben sind und der Schwerpunkt der vorliegenden Arbeit auf den Kurzzeitund Langzeitfolgen der Ehescheidung und den herangezogenen Bewältigungsbestrebungen liegt. In den Kapiteln 8 und 9 werden die Kurzzeit- und Langzeitfolgen3 und die sie beeinflussenden Faktoren – soziodemografische Merkmale, Heiratsmodus, Ehedauer, Scheidungsgründe – analysiert und bivariate Zusammenhänge zwischen diesen Variablen, zunächst für die Gesamtbefragten und anschließend getrennt nach Sozialisationsland, herausgearbeitet. Im Anschluss werden mit Hilfe einer Faktoranalyse Dimensionen der Kurzzeit- und Langzeitfolgen herausgearbeitet und mit den oben genannten Faktoren in Verbindung gebracht, um zu prüfen, ob zu den einzelnen Indikatoren der Kurzzeit- und Langzeitfolgen neue Erkenntnisse herausgearbeitet werden können. Ergänzend wird in diesem Zusammenhang mit der Logistischen Regressionsanalyse kontrolliert, inwieweit die Kurzzeit- und Langzeitfolgen durch die oben genannten Variablen moderiert werden. Zudem wurde bivariat überprüft, inwiefern die Kurzeitfolgen einen Einfluss auf die Langzeitfolgen haben. Kapitel 10 widmet sich den Bewältigungsbestrebungen und untersucht den Einfluss der soziodemografischen Merkmale, des Heiratsmodus’, der Ehedauer, der Kurzzeit- und Langzeitfolgen sowie der kognitiven Bewertung der Ehescheidung4 zunächst für die Gesamtbefragten sowie anschließend getrennt nach Untersuchungsgruppen. Zudem wurde sowohl für die Gesamtbefragten als auch für beide Befragungsgruppen eine Clusteranalyse im Hinblick auf die Skala ‚Wohlbefinden‘ durchgeführt und in Zusammenhang mit den Bewältigungsbestrebungen gebracht. Um überprüfen zu können, ob und in welchem Maße die in den bivariaten Analysen herausgearbeiteten Faktoren der Kurzzeit- und Langzeitfolgen sowie die soziodemografischen Merkmale, die Ehedauer, der
3Zur
Berechnung der Langzeitfolgen wurden die Aussagen der Befragten aus der Lebenszufriedenheits-Skala herangezogen. 4Zur Berechnung der kognitiven Bewertung der Ehescheidung wurden die Aussagen der Befragten aus der Wohlbefindens-Skala herangezogen. Dabei wurden die Frauen nach ihrer emotionalen Befindlichkeit im Zusammenhang mit der Scheidung gefragt.
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Heiratsmodus sowie die Cluster der kognitiven Bewertung der Ehescheidung eigenständig und signifikant die gewählten Bewältigungsbestrebungen der Befragten erklären, wurde abschließend eine Logistische Regressionsanalyse für die Gesamtbefragten und separat für die einzelnen Untersuchungsgruppen durchgeführt. Kapitel 11 schließt die vorliegende Untersuchung mit einer Zusammenfassung und Diskussion der Ergebnisse ab.
6
Deskriptive Ergebnisse zur Ehedauer
6.1 Ehedauer im Sozialisationsvergleich Die gesamte Ehedauer lag bei höchstens 43 Jahren und mindestens 0 Jahren (N = 281). Nach Sozialisationsland zeigen sich Unterschiede zwischen den Befragungsgruppen: Heiratsmigrantinnen1 gaben im Durchschnitt tendenziell eine längere Ehedauer an als in Deutschland sozialisierte Frauen. Während Heiratsmigrantinnen eine durchschnittliche Ehedauer von 16 Jahren angaben, waren in Deutschland sozialisierte Frauen durchschnittlich 12 Jahre verheiratet. Die Gesamtbefragten waren im Durchschnitt 14 Jahre verheiratet (siehe Tabelle 6.1).
1Zur
Bestimmung des Status’ ‚Heiratsmigrantin‘ siehe Abschnitt 5.5.
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 T. Mollenhauer, Eheliche Partnerschaftsverläufe und -abbrüche bei türkeistämmigen Frauen in Deutschland, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30940-4_6
159
160
6 Deskriptive Ergebnisse zur Ehedauer
Tabelle 6.1 Ehedauer der letzten Ehe – Gesamt und im Sozialisationsvergleich Mittelwert
Gesamt
Deutschland
Heiratsmigrantinnen
13,71
11,57
16,24
Median
13,00
10,00
15,00
Standardabweichung
8,629
7,796
8,945
N
270
146
123
6.2 Subjektiv wahrgenommener Eheverlauf bis zur Scheidung Die Ergebnisse der Reliabilitätsschätzung2 der aus neun Items bestehenden Gesamtskala ‚Konfliktbereiche‘ zeigen hinsichtlich des Ehebeginns sowohl für in Deutschland sozialisierte Frauen (N = 116) als auch für Heiratsmigrantinnen (N = 106) eine gute Messgenauigkeit von α = .795 (in Deutschland Sozialisierte) bzw. α = .822 (Heiratsmigrantinnen) an. Bei der Betrachtung der Reliabilität der entsprechenden Skala gegen Ende der Ehe zeigt sich für in Deutschland sozialisierte Frauen (N = 101) eine leicht gesteigerte (α = .819), für Heiratsmigrantinnen (N = 96) eine leicht abnehmende (α = .811) interne Konsistenz3, die in beiden Fällen im guten Bereich verbleibt. Aufgrund der gegebenen Homogenität wurde aus den in der Skala ‚Konfliktbereiche‘ enthaltenen Items für beide Befragungsgruppen und jeweils den Ehebeginn und das Eheende betreffend ein Skalenmittelwert gebildet. Die Verteilungen der für die einzelnen Frauen berechneten Skalenmittelwerte mit einem empirischen Minimum von eins und einem empirischen Maximum von vier sind in den Abbildung 6.1 und 6.2 zu sehen.
2Die
Reliabilität überprüft die Zuverlässigkeit einer Skala, d.h., wie gut eine Skala geeignet ist, eine Disposition zu messen (vgl. Fromm 2008, S. 315). Schmitt (1996) setzt einen Wert von α= .700 als Schwellwert an, nach Bortz und Döring (2006) ist ein Wert von α= .800 anzustreben; ein objektiver Grenzwert zur Verwendung einer Skala existiert nicht (vgl. Schecker 2014, S. 5). Hier wird der Schwellwert nach Schmitt verwendet. 3„Die interne Konsistenz beschreibt die Homogenität der Skala, d. h., inwiefern die einzelnen Items dasselbe Konstrukt erfassen. Es wird davon ausgegangen, dass die Messung der Skala umso reliabler ist, je homogener die einzelnen Items sind“ (Krüger et al. 2012, S. 41).
6.2 Subjektiv wahrgenommener Eheverlauf bis zur Scheidung
In Deutschland Sozialisierte
161
Heiratsmigrantinnen
Abbildung 6.1 Histogramm der Konfliktskala zu Beginn der Ehe
Für beide Befragungsgruppen zeigt sich hier zu Beginn der Ehe eine leicht rechtsschiefe Verteilung (siehe Abbildung 6.1). Somit ist das Konfliktpotenzial zu diesem Zeitpunkt bei einem größeren Teil beider Befragungsgruppen unterhalb des errechneten Mittelwertes angesiedelt, während bei einem kleineren Anteil der jeweiligen Gruppen eine sehr hohe Konfliktausprägung gegeben ist. Bei Heiratsmigrantinnen (M = 2,34) ist der Gesamtmittelwert im Vergleich zu in Deutschland sozialisierten Frauen (M = 2,18) etwas höher.
In Deutschland Sozialisierte
Heiratsmigrantinnen
Abbildung 6.2 Histogramm der Konfliktskala gegen Ende der Ehe
162
6 Deskriptive Ergebnisse zur Ehedauer
Die Verteilungen für das Eheende (siehe Abbildung 6.2) sind sowohl bei in Deutschland sozialisierten Frauen als auch bei Heiratsmigrantinnen nahezu symmetrisch und weisen jeweils einem im Vergleich zum Ehebeginn erwartungsgemäß höheren Gesamtmittelwert auf, der bei Heiratsmigrantinnen wiederum höher ausfällt als bei in Deutschland sozialisierten Frauen (M = 2,81; M = 2,69). Eine Korrelationsanalyse4 zeigt für in Deutschland sozialisierte Frauen eine mittelmäßige positive Beziehung zwischen dem Konfliktpotenzial zu Beginn und gegen Ende der Ehe, damit eine größere Konfliktausprägung gegen Ende der Ehe, wenn schon zu Beginn der Ehe Konflikte bestanden und umgekehrt (Tabelle 6.2).
Tabelle 6.2 Korrelationsanalyse der Skalenwerte von Konfliktbereichen zu Beginn und gegen Ende der Ehe – nur für in Deutschland Sozialisierte Konfliktbereiche zu Konfliktbereiche Beginn der Ehe gegen Ende der Ehe Konfliktbereiche zu Korrelation nach Pearson1 1 Beginn der Ehe Signifikanz (2-seitig)2 N
149
Konfliktbereiche Korrelation nach Pearson ,319** gegen Ende der Ehe Signifikanz (2-seitig) ,002 N
101
,319** ,002 101 1 148
1Pearsons
Korrelationskoeffizient kann Werte zwischen −1 bis + 1 annehmen. Ein Wert von −1 kennzeichnet einen starken negativen Zusammenhang, ein Wert von + 1 einen starken positiven Zusammenhang (vgl. Schnelle et al. 2005, S. 446) 2Es gibt keine Annahme über die Richtung der Korrelation Signifikanzniveaus: ***