Verfassungsgerichtlicher Jurisdiktionsstaat?: Eine rechtsvergleichende Analyse zur Kompetenzabgrenzung von Verfassungsgericht und Gesetzgeber in den USA und der Bundesrepublik Deutschland [1 ed.] 9783428516544, 9783428116546

Die Kompetenzabgrenzung zwischen dem Verfassungsgericht und dem Gesetzgeber ist heutzutage ein viel diskutiertes und doc

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German Pages 266 Year 2005

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Verfassungsgerichtlicher Jurisdiktionsstaat?: Eine rechtsvergleichende Analyse zur Kompetenzabgrenzung von Verfassungsgericht und Gesetzgeber in den USA und der Bundesrepublik Deutschland [1 ed.]
 9783428516544, 9783428116546

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Schriften zum Öffentlichen Recht Band 984

Verfassungsgerichtlicher Jurisdiktionsstaat? Eine rechtsvergleichende Analyse zur Kompetenzabgrenzung von Verfassungsgericht und Gesetzgeber in den USA und der Bundesrepublik Deutschland

Von

Shu-Perng Hwang

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

SHU-PERNG HWANG

Verfassungsgerichtlicher Jurisdiktionsstaat?

Schriften zum Öffentlichen Recht Band 984

Verfassungsgerichtlicher Jurisdiktionsstaat? Eine rechtsvergleichende Analyse zur Kompetenzabgrenzung von Verfassungsgericht und Gesetzgeber in den USA und der Bundesrepublik Deutschland

Von

Shu-Perng Hwang

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

Gedruckt mit Unterstützung des Deutschen Akademischen Austauschdienstes Die Rechtswissenschaftliche Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität zu München hat diese Arbeit im Jahre 2004 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten # 2005 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0200 ISBN 3-428-11654-2 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Sommersemester 2004 von der Juristischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München als Dissertation angenommen. Der Text wurde im Dezember 2003 abgeschlossen. Später erschienene Literatur konnte noch bis Juni 2004 Berücksichtigung finden. Meinem Doktorvater, Herrn Prof. Dr. Stefan Korioth, danke ich ganz herzlich für die Betreuung dieser Arbeit und für vielfältige Unterstützung. Herrn Prof. Dr. Peter M. Huber danke ich für die Erstellung des Zweitgutachtens. Mein Dank gilt ferner Herrn Prof. Dr. Oliver Lepsius, dessen Anregungen und wertvolle Hinweise mir sehr geholfen haben, und Herrn Prof. Dr. Jau-Yuan Hwang, dessen wohlwollende Förderung die Ausarbeitung des zweiten Teils dieser Arbeit erleichtert hat. Zu danken habe ich auch Herrn Prof. Dr. Tzong-Li Hsu, der mich zum Studium in Deutschland ermuntert hat. Nicht zuletzt danke ich Herrn Fang-Hua Chung für die Durchsicht des Manuskripts und die stetige Diskussionsbereitschaft sowie Herrn Florian Erdle für die sprachliche Korrektur. Meine Eltern haben mich in allen Jahren vorbehaltlos unterstützt. Ihnen ist die Arbeit gewidmet. München, im Juli 2004

Shu-Perng Hwang

Inhaltsverzeichnis Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

13

1. Teil Die Debatte um die Verfassungsgerichtsbarkeit im demokratischen Staat aus rechtsvergleichender Perspektive

17

I. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

17

1. „Auf dem Weg in den verfassungsgerichtlichen Jurisdiktionsstaat“? – Zur gegenwärtigen Kritik an der Verfassungsgerichtsbarkeit in Deutschland . . . . . . . .

17

a) Die Einrichtung einer zentralisierten Verfassungsgerichtsbarkeit im Grundgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

17

b) Entfaltung der objektiven Dimension der Grundrechte und Politisierungsgefahren der Verfassungsgerichtsbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

24

c) Der funktionell-rechtliche Ansatz und die Kontrolldichten des BVerfG zur Abwehr der Politisierungsgefahren der Verfassungsgerichtsbarkeit . . . . . . . .

26

aa) Die funktionell-rechtliche Reaktion auf die Politisierungsgefahren der Verfassungsgerichtsbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

26

bb) Die Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

28

2. Das Spannungsverhältnis zwischen Verfassungsgerichtsbarkeit und demokratischer Gesetzgebung als Verfassungsproblem sowohl in Deutschland als auch in den USA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

30

a) Verschiedene Hintergründe und gemeinsame Schwierigkeiten . . . . . . . . . . . . .

30

b) Antrieb und Ansatzpunkt einer Vergleichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

31

aa) Der funktionsorientierte Ansatz in den USA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

31

bb) Das „Funktions-Modell“ des US Supreme Court als die endgültige Lösung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

32

II. Rechtsvergleichung als juristische Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

35

1. Die Eigenart der Methode der Rechtsvergleichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

35

2. Deskriptive und eigentliche Rechtsvergleichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

37

3. Methodik und Aufgabe der funktionellen Rechtsvergleichung . . . . . . . . . . . . . . . . . .

38

a) Das Funktionalitätsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

38

b) Ein lockerer, funktionsgerichteter Systembegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

38

c) Über Gleichheit und Unterschiedlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

39

8

Inhaltsverzeichnis

III. Die Methode der Rechtsvergleichung zur Untersuchung der Debatte um das Spannungsverhältnis zwischen dem Verfassungsgericht und dem demokratischen Gesetzgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

41

1. Rechtsvergleichung im öffentlichen Recht: Zur Vergleichbarkeit von amerikanischem und deutschem Verfassungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

41

2. Gegenstand und Ziel der vorliegenden Rechtsvergleichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

43

a) Die Problemstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

43

b) Die amerikanische Verfassungsentwicklung als Ausgangspunkt der Rechtsvergleichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

44

c) Die amerikanische Verfassungsentwicklung zur Erklärung der deutschen Kontroverse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

44

2. Teil Die Debatte um das Spannungsverhältnis von Verfassungsgerichtsbarkeit zu demokratischer Gesetzgebung in den USA

46

I. Die Einrichtung und Entwicklung der Verfassungsgerichtsbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . .

46

1. Anerkennung der (diffusen) Verfassungsgerichtsbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

46

a) Die Rechtfertigung der Verfassungsgerichtsbarkeit durch die Federalist Papers und Marbury v. Madison . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

46

b) Die Verfassungsgerichtsbarkeit unter traditioneller Gewaltenteilungsstruktur

49

c) Die Verfassungsgerichtsbarkeit unter dem Common Law . . . . . . . . . . . . . . . . . .

52

aa) Zum Begriff des Common Law: Eine Vorklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

52

bb) Die Verfassungsgerichtsbarkeit vor dem Hintergrund des Common Law . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

53

d) Die Grundrechte im amerikanischen Verfassungsrecht: Grundrechtsschutz durch die Verfassungsgerichtsbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

55

2. Zuspitzung des Spannungsverhältnisses von Verfassungsgerichtsbarkeit zu Gesetzgebung seit der „Lochner-Ära“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

57

II. Die Debatte um die Verfassungsgerichtsbarkeit aus demokratischer Perspektive . . .

61

1. Die „countermajoritarian difficulty“ der Verfassungsgerichtsbarkeit: Bickels Behauptung als Ausgangspunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

61

2. Zur Überwindung der countermajoritarian difficulty . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

64

a) Schwerpunkt der Debatte: Wie passt das Common Law zur repräsentativen Demokratie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

64

b) Die Debatte im Lichte des Common Law: Zur demokratischen Legitimation der Verfassungsgerichtsbarkeit unter dem Common Law . . . . . . . . . . . . . .

65

aa) Die Ansätze von Strauss und Sunstein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

66

bb) Judicial restraint oder judicial self-restraint unter dem Common Law?

71

cc) Der Alternativansatz Dworkins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

78

Inhaltsverzeichnis

9

3. Der Einfluß der Problemstellung der countermajoritarian difficulty auf die praktische Entwicklung der Verfassungsgerichtsbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

81

III. Die Entwicklung der Grundrechte und der Prüfungsstandards durch den Supreme Court . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

83

1. Grundrechtsentfaltung durch den Supreme Court . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

83

a) Grundrechtsschutz unter dem Common Law: Grundrechte als Abwehrrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

83

b) Grundrechtsschutz vor der countermajoritarian difficulty . . . . . . . . . . . . . . . . .

86

c) Grundrechtsschutz durch die Klassifikation der Grundrechte . . . . . . . . . . . . . .

87

2. Grundrechtsverstärkung durch die Prüfungsstandards . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

89

a) Zum Stufenbau der Prüfungsstandards . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 aa) Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 bb) Der „rational basis / relationship test“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 cc) Der „strict scrutiny test“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 dd) Der „intermediate scrutiny test“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 ee) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 b) Die Eigenheit und Bedeutung der Entwicklung der Prüfungsstandards . . . . . aa) Die Entwicklung der Doppelstandards vor dem Hintergrund der countermajoritarian difficulty . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Die Entwicklung der Prüfungsstandards unter dem Common Law . . . . (1) Die Prüfungsstandards unter dem Einfluß der Empirie . . . . . . . . . . . . (2) Die Aufgaben- und Funktionsverteilung durch das Common Law?

105 105 106 106 111

IV. Countermajoritarian difficulty überwunden? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 1. Die Aufgaben- und Funktionsverteilung unter dem Common Law: Zum normativen Problem der Prüfungsstandards . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 2. Prozeduralisierung als einziger Ausweg? – Zur prozeduralen Theorie John Hart Elys . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 3. Zur Problemstellung der countermajoritarian difficulty unter dem Common Law 119 V. Fazit: Die common law-Verfassungsgerichtsbarkeit vor der countermajoritarian difficulty . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120

3. Teil Die Beiträge der Entwicklungen in den USA zur Debatte um die Verfassungsgerichtsbarkeit in Deutschland

122

I. Einleitung: Das Recht-Politik-Problem als Bezugspunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 1. Der Supreme Court und das BVerfG im Schnittpunkt zwischen Recht und Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 2. Die Erläuterung zum „Beitrag“ amerikanischer Entwicklung zu deutscher Diskussion: Eine methodische Reflexion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127

10

Inhaltsverzeichnis

II. Wesen und Probleme der Verfassungsgerichtsbarkeit im Lichte der Tradition der Gegenüberstellung von Rechtsanwendung und Rechtsetzung in Deutschland . . . . . . 129 1. Zur Tradition der Rechtsanwendung in der Entwicklung der juristischen Methodenlehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 a) Die frühere Entwicklung: Zur Herrschaft von Labands Positivismus . . . . . . . 129 b) Der Methoden- und Richtungsstreit der Staatsrechtslehre in der Weimarer Republik in der Tradition der Rechtsanwendung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 aa) Die Vorstellung von richterlicher Rechtsanwendung vor dem Hintergrund des Methodenstreits . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 bb) Einige Auffassungen über das richterliche Prüfungsrecht unter der Vorstellung der richterlichen Rechtsanwendung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 cc) Der Gegensatz zwischen Schmitt und Kelsen in der Tradition der richterlichen Rechtsanwendung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 c) Zusammenfassung: Die deutsche Tradition der Rechtsanwendung im Gegensatz zur amerikanischen Tradition des Common Law . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 2. Die gegenwärtige Kritik an der Verfassungsgerichtsbarkeit auf dem Hintergrund der Tradition der Rechtsanwendung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 a) Die Aufnahme der Kelsen-Linie im Grundgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 aa) Die zentralisierte Verfassungsgerichtsbarkeit und der besondere Status des BVerfG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 bb) Garantie der Objektivität der Verfassungsinterpretation zur Sicherung des Rechtsanwendungscharakters der Verfassungsgerichtsbarkeit . . . . . 152 cc) Die Konkretisierung der Verfassungsnorm durch das BVerfG . . . . . . . . . 158 b) Die Ausweitung der Kompetenz des BVerfG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 aa) Vom formalen zum materiellen Rechtsstaat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 bb) Grundrechte als subjektive Rechte und als objektive Normen . . . . . . . . . 163 c) Die Krise der Verfassungsgerichtsbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 aa) Die Annäherung der Rechtsanwendung an die Rechtsetzung in der Verfassungsrechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 bb) Das vom negativen zum positiven Gesetzgeber werdende BVerfG . . . . 167 d) Die Nachwirkung des Kelsen-Schmitt-Streits . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 III. Die gegenwärtige Debatte in Deutschland aus der rechtsvergleichenden Sicht . . . . . 172 1. Der funktionell-rechtliche Ansatz als Alternative? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 a) Die Grundthese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 b) Der Aufbau der abgestuften Kontrolldichten durch das BVerfG . . . . . . . . . . . . 176 c) Die funktionell-rechtliche Kritik und die rechtsvergleichende Reflexion . . . 180 2. Rückkehr zur materiell-rechtlichen Richtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 a) Die materiell-rechtlichen Vorgaben für das BVerfG: Die Grundlage der Verfassungsrechtsdogmatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 b) Die materiell-rechtliche Kritik an der Verfassungsgerichtsbarkeit unter besonderer Berücksichtigung des Arguments von Böckenförde . . . . . . . . . . . . 192

Inhaltsverzeichnis

11

c) Die rechtsvergleichende Reflexion über den Einfluß der Entfaltung der Grundrechtsfunktion auf das Verhältnis von Verfassungsgericht und Gesetzgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 d) Die rechtsvergleichende Reflexion über die Politisierungsgefahren der Verfassungsgerichtsbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 3. Die materiell-rechtliche Abgrenzung von Recht und Politik? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 a) Vorbemerkung: Zur Verfassung als Wertordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 b) Verfassungsgerichtsbarkeit als rechtliche Grenze der Politik . . . . . . . . . . . . . . . 209 aa) Vom Wesen der Verfassungsgerichtsbarkeit unter dem Grundgesetz . . . 209 bb) Gebundenheit und Fallbezogenheit der Verfassungsrechtsprechung als Gebote der Tradition der Rechtsanwendung: Anmerkungen zu einigen Entscheidungen des BVerfG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 cc) Das Urteil des BVerfG vom 11. November 1999 – Ein Irrweg aus dem Selbst(miß)verständnis des BVerfG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 c) Die materiell-rechtliche Entwicklung gegen die Politisierungsgefahren – Eine Reflexion über den Kelsen-Schmitt-Streit im Lichte der Entwicklung der Verfassungsgerichtsbarkeit unter dem Grundgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 IV. Verfassungsgerichtlicher Jurisdiktionsstaat – Unvermeidbar? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225

Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232

Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263

Einleitung Die Kompetenzabgrenzung zwischen dem Verfassungsgericht und dem Gesetzgeber ist heutzutage ein viel diskutiertes und doch nicht endgültig gelöstes Problem. Die Kontroverse um die Frage, worin die Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit liegen sollen und auf welche Weise die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers gegenüber der verfassungsgerichtlichen Kontrolle gewährleistet werden kann, bleibt noch immer lebendig. Die gegenwärtige Debatte spiegelt im wesentlichen das komplizierte Verhältnis zwischen Recht und Politik wider, das eine lange Geschichte hat. Vor dem heutigen Hintergrund aber ist die Debatte auch deshalb von großer Bedeutung, weil das Verfassungsgericht Akte des Gesetzgebers, der im demokratischen Staat eine zentrale Rolle spielt, kontrolliert. Auf dieser Ebene läßt sich die Debatte um die Kompetenzabgrenzung zwischen Verfassungsgericht und Gesetzgeber als die Suche nach einer Balance zwischen Verfassungsgerichtsbarkeit und Demokratie verstehen. Vor dem Hintergrund kommt die amerikanische Diskussion in den Blick, die in Bezug auf das Verhältnis von Verfassungsgericht und Gesetzgeber hauptsächlich von der „countermajoritarian difficulty“ des Supreme Court (Alexander M. Bickel) ausgeht. Daher überrascht es auch nicht, daß die amerikanischen theoretischen sowie praktischen Entwicklungen seit einiger Zeit zu einem Lieblingsgegenstand der deutschen Diskussionen werden. Folglich liegt es nahe, daß sich viele deutsche Untersuchungen zum Thema „Verfassungsgerichtsbarkeit in der Demokratie“ auf den deutsch-amerikanischen Vergleich konzentrieren. Sie bemühen sich überwiegend um die Darstellung der amerikanischen wissenschaftlichen und praktischen Reaktionen auf das Gewaltenteilungsproblem zwischen dem Supreme Court und dem Gesetzgeber, ihrer Unterschiede von deutschen Entwicklungen sowie gegebenenfalls ihrer Übertragbarkeit auf Deutschland. Indem die Vergleichung als solche die amerikanischen und die deutschen Reaktionsweisen fokussiert, können aber die unterschiedlichen Entstehungshintergründe des gemeinsam aussehenden Problems in beiden Ländern vernachlässigt oder ungenügend berücksichtigt werden, so daß die Eigenheiten der Entwicklungsmodelle sowie ihre verschiedenen Voraussetzungen unter der amerikanischen und der deutschen Rechtsordnung auch außer acht bleiben können. Ein Vergleich ohne Rücksicht auf die prinzipiellen Unterschiede zwischen den verglichenen Rechtsordnungen gerät infolgedessen in Gefahr, die Gründe und Voraussetzungen für eine bestimmte Entwicklungsperspektive zu verkennen und sogar die theoretischen oder praktischen Erfahrungen verglichener Rechtsordnungen voraussetzungslos aufeinander zu übertragen. Zielt eine eigentliche Rechtsvergleichung darauf, durch die

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Einleitung

Analyse ausländischer Rechtsentwicklung ein inländisches Rechtsproblem besser erkennen und dadurch zweckmäßiger lösen zu können, so lassen sich die unterschiedlichen Entwicklungshintergründe verglichener Rechtsordnungen in allen Phasen der Rechtsvergleichung nicht übersehen. Dabei sind in erster Linie die prägende Rolle des Common Law für die amerikanische Entwicklung auf der einen Seite und die der kontinentaleuropäischen Rechtstradition für die deutsche Entwicklung auf der anderen Seite hervorzuheben, denn die verschiedenen Hintergründe des Common Law und der kontinentaleuropäischen Rechtstradition haben die ganz unterschiedlichen juristischen Denkweisen in den USA und der Bundesrepublik Deutschland entscheidend beeinflußt, so daß die Rechtstraditionen und entwicklungslinien in beiden Ländern auch vom Common Law und vom kontinentaleuropäischen Hintergrund unterschiedlich geformt sind. Aus diesem Blickwinkel kann eine amerikanisch-deutsch rechtsvergleichende Betrachtung des Gewaltenteilungsproblems zwischen Verfassungsgericht und Gesetzgeber ohne Rücksicht auf die Einflüsse des Common Law und der kontinentaleuropäischen Rechtstradition zu kurz greifen. Die vorliegende Arbeit ist ein Versuch auf dieser Erkenntnisgrundlage. Gerade die Tatsache, daß kaum eine amerikanisch-deutsche Rechtsvergleichung zum heutigen Spannungsverhältnis zwischen Verfassungsgericht und Gesetzgeber auf dem Unterschied zwischen dem Common Law und der kontinentaleuropäischen Tradition fußt, macht die Analyse ausgehend von diesem grundsätzlichen Unterschied trotz vieler hervorragenden, ausführlichen einschlägigen Untersuchungen noch erforderlich und sinnvoll. Auf der Basis der Forschungsergebnisse der vorhandenen Untersuchungen will die vorliegende Arbeit nicht mehr jede Stufe der amerikanischen und der deutschen Entwicklungen in der Wissenschaft und der Praxis im einzelnen darstellen, sondern sie versucht, ausgehend von den unterschiedlichen Hintergründen und Voraussetzungen unter der amerikanischen und der deutschen Rechtsordnung, die Auswirkungen der common law- und der kontinentaleuropäischen Tradition auf die Entwicklungsorientierung und -eigenschaft in den USA und der Bundesrepublik Deutschland vor Augen zu führen. Ziel der Arbeit ist es, durch die Analyse der amerikanischen Entwicklung unter dem Einfluß des Common Law den Angelpunkt zur Überwindung der Schwierigkeit der Kompetenzabgrenzung zwischen dem Verfassungsgericht und dem Gesetzgeber aufzuzeigen und dadurch die heutige deutsche Debatte um die Verfassungsgerichtsbarkeit aus einer unterschiedlichen, sozusagen rechtsvergleichenden Perspektive zu examinieren. Daraus soll sich für die gegenwärtige Problematik eine überzeugende Antwort ergeben. Dementsprechend gliedert sich die vorliegende Arbeit in drei Teile. Im ersten Teil wird zunächst das oben genannte Problem, sozusagen das Problem der Kompetenzabgrenzung zwischen dem Verfassungsgericht und dem Gesetzgeber infolge der Verstärkung der Verfassungsgerichtsbarkeit insbesondere durch die Entfaltung der objektiven Dimension der Grundrechte, im Lichte der heutigen Lage der deutschen Diskussion dargestellt. Sodann wird der Grund für eine Vergleichung mit

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den theoretischen und praktischen Erfahrungen in Amerika erläutert. Um die deutsche Debatte durch die Rechtsvergleichung näher zu betrachten, muß aber vor der Untersuchung der amerikanischen Entwicklung die Rechtsvergleichung als juristische Methode beleuchtet werden. Hier wird erklärt, wodurch eine eigentliche Rechtsvergleichung gekennzeichnet ist und wie sie vorgenommen werden soll, um zur Lösung des (inländischen) Problems beitragen zu können. Dies macht dann deutlich, wie die vorliegende Arbeit durch die Methode der Rechtsvergleichung nicht nur die amerikanische Lage erfassen, sondern das Zwischenergebnis der Untersuchung zur amerikanischen Entwicklung als Mittel zur Erklärung der deutschen Debatte benutzen kann. Aufgrund der Methode der Rechtsvergleichung setzt die vorliegende Untersuchung mit der Betrachtung der Entwicklungslinie des amerikanischen Verfassungsrechts an. Im zweiten Teil befasst sich die Arbeit mit der amerikanischen Debatte um den Supreme Court, die sich immer sehr stark auf die countermajoritarian difficulty der Verfassungsgerichtsbarkeit konzentriert und infolgedessen stets darum kreist, wie die Kompetenzausübung des Supreme Court in der Demokratie legitimiert ist. Hier wird aber gezeigt, daß der amerikanischen Rechtsordnung die selbstverständliche Hintergrundrolle des Common Law nicht besonders auffällt und daher bei den typischen amerikanischen Diskussionen um die demokratische Legitimation der Verfassungsgerichtsbarkeit im allgemeinen unterschätzt wird. Die Arbeit wird also versuchen, den in der Tat großen Einfluß des Common Law auf die amerikanischen Verfassungstheorien aufzuzeigen und dadurch den Grund für eine funktionsorientierte Entwicklung der verfassungsgerichtlichen Prüfung unter dem Common Law herauszufinden. Der Beitrag des Funktions-Modells zur Überwindung der countermajoritarian difficulty des Supreme Court, das sich in erster Linie durch die vom Supreme Court selbst entwickelten abgestuften Prüfungsstandards auszeichnet, steht vor dem common law-Hintergrund aber noch in Rede. Nach der Beobachtung der Entwicklung der Prüfungsstandards durch den Supreme Court wird also beleuchtet, wie das Common Law für die theoretische sowie praktische Entwicklung des amerikanischen Verfassungsrechts stets eine entscheidende Rolle spielt und wie es sich auf den Versuch einer Überwindung der countermajoritarian difficulty des Supreme Court auswirkt. Daraus wird sich das innere Dilemma der amerikanischen Verfassungsgerichtsbarkeit zwischen dem Common Law und der countermajoritarian difficulty, die aus der traditionellen Gewaltenteilungsstruktur unter dem amerikanischen Verfassungsrecht resultiert, verdeutlichen. Der dritte Teil der Arbeit knüpft unmittelbar an die Ergebnisse des zweiten Teils an, damit die Analyse zur amerikanischen Entwicklung und Problematik zur deutschen Debatte beitragen kann. Während der Hintergrund des Common Law zum fundamentalen Dilemma im amerikanischen Verfassungsrecht und für die amerikanische Verfassungsgerichtsbarkeit gegenüber der demokratischen Gesetzgebung führt, stellt sich das Verhältnis zwischen Verfassungsgericht und Gesetzgeber in Deutschland unter der kontinentaleuropäischen Tradition ganz anders dar, die, im Gegensatz zum Common Law, in Bezug auf die Gewaltentrennung zwischen Le-

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Einleitung

gislative und Justiz an erster Stelle durch die Gegenüberstellung von Rechtsetzung und Rechtsanwendung gekennzeichnet ist, die typischerweise vom Gebot der Bindung des Richters an das Gesetz (und das Recht) ausgeht. Aus der Perspektive der Rechtsvergleichung wird also dem Wesen und den Problemen der deutschen Verfassungsgerichtsbarkeit hier besonders im Lichte der Unterscheidung zwischen Rechtsanwendung und Rechtsetzung nachgegangen. Indem durch die Betrachtung der Entwicklung der juristischen Methodenlehre veranschaulicht ist, daß die Tradition der Rechtsanwendung die Justiz immer wieder begleitet und naturgemäß auch für die Verfassungsgerichtsbarkeit gilt, wird deutlich gemacht, daß unter der deutschen Tradition die Kompetenzabgrenzung zwischen dem Verfassungsgericht und dem Gesetzgeber die Gegenüberstellung von Rechtsanwendung und Rechtsetzung voraussetzt und voraussetzen muß. Dies liegt aus rechtsvergleichender Sicht besonders nahe. Mit der sich aus rechtsvergleichender Betrachtung verstärkenden Überzeugung, daß die zwar alte, aber nicht veraltete und nie wirklich aufgegebene Gegenüberstellung von Rechtsanwendung und Rechtsetzung für die Begrenzung der Verfassungsgerichtsbarkeit gegenüber der Gesetzgebung jedenfalls eine entscheidende Rolle spielen soll, will die Arbeit versuchen, die heutigen Reaktionsweisen auf das Gewaltenteilungsproblem zwischen dem BVerfG und dem Gesetzgeber gerade im Lichte der Tradition der Rechtsanwendung und, anders formuliert, aus der Perspektive der Rechtsvergleichung zu examinieren. Daraus wird sich dann ergeben, was in Deutschland zur Lösung des heutigen, aus Sicht der Kritiker an erster Stelle durch die Entfaltung der objektiven Dimension der Grundrechte herbeigeführten Problems des Übergangs vom parlamentarischen Gesetzgebungsstaat zum verfassungsgerichtlichen Jurisdiktionsstaat (Ernst-Wolfgang Böckenförde) im Mittelpunkt stehen soll. Da die anfängliche Problemstellung der Arbeit entsprechend der Entwicklung der deutschen Debatte um die Verfassungsgerichtsbarkeit unter dem Grundgesetz von der Entfaltung der objektiven Dimension der Grundrechte ausgeht, wird sich die vorliegende Untersuchung des Verhältnisses von Verfassungsgericht und Gesetzgeber hauptsächlich auf die Problematik der Grundrechte konzentrieren. Als eine rechtsvergleichende Untersuchung läßt sich die vorliegende Arbeit, deren Hauptgegenstand Grundrechte sind, insbesondere dadurch rechtfertigen, daß gerade der amerikanische common law-Hintergrund, der in dieser Arbeit hervorgehoben ist, die Aufgabe des Supreme Court in erster Linie als Grundrechtsschutz darstellt und dadurch die Stellung des Supreme Court im Gefüge der Staatsfunktionen in den Vordergrund rückt, was das Spannungsverhältnis zwischen dem Supreme Court und dem Gesetzgeber verschärft und infolgedessen heftige Kontroverse erregt hat. Dabei ist jedoch nicht zu vernachlässigen, daß mit der Weiterentwicklung der Verfassungsgerichtsbarkeit das Spannungsfeld von BVerfG und Gesetzgeber sich nicht auf das Gebiet der Grundrechte beschränkt, sondern sich auch auf den Bereich des Staatsorganisationsrechts erstreckt. Einige jüngere Entscheidungen, die Staatsorganisationsrecht betreffen, werden daher bei der Diskussion um die Kompetenzbegrenzung des BVerfG mit einbezogen.

1. Teil

Die Debatte um die Verfassungsgerichtsbarkeit im demokratischen Staat aus rechtsvergleichender Perspektive I. Einführung 1. „Auf dem Weg in den verfassungsgerichtlichen Jurisdiktionsstaat“? – Zur gegenwärtigen Kritik an der Verfassungsgerichtsbarkeit in Deutschland a) Die Einrichtung einer zentralisierten Verfassungsgerichtsbarkeit im Grundgesetz Die Einrichtung des BVerfG im Grundgesetz spiegelt den Paradigmenwechsel der Verfassungsgerichtsbarkeit in der deutschen Verfassungsentwicklung: Nach dem 2. Weltkrieg wurde angesichts der Erfahrungen der jüngsten Vergangenheit im Grundgesetz festgelegt, dem BVerfG einen besonderen Status1 zu geben, um eine zentralisierte, machtvolle Verfassungsgerichtsbarkeit aufzubauen2. Aufgrund 1 Der besondere Status des BVerfG ist in erster Linie dadurch gekennzeichnet, daß das BVerfG sowohl Gericht als auch Verfassungsorgan ist. Vgl. Denkschrift des Bundesverfassungsgerichts vom 27. Juni 1952: Die Stellung des Bundesverfassungsgerichts, in: JöR N.F. 6 (1957), S. 144 ff.; G. Leibholz, Der Status des Bundesverfassungsgerichts – Einleitung, in: JöR N.F. 6 (1957), S. 110, 112; auch K. Schlaich / S. Korioth, Das Bundesverfassungsgericht – Stellung, Verfahren, Entscheidungen, 5. Aufl. 2001, Rdnr. 25 – 35; H. Laufer, Verfassungsgerichtsbarkeit und politischer Prozeß. Studien zum Bundesverfassungsgericht der Bundesrepublik Deutschland, 1968, S. 279 ff.; G. Roellecke, Aufgaben und Stellung des Bundesverfassungsgerichts im Verfassungsgefüge, in: J. Isensee / P. Kirchhof (Hrsg.), HStR II, 1987, § 53, Rn. 8 – 10. 2 Die Entscheidung für eine starke Verfassungsgerichtsbarkeit basiert vor dem geschichtlichen Hintergrund auf den besonderen Entstehungsbedingungen des Grundgesetzes. Vgl. E. Forsthoff, Der Staat der Industriegesellschaft, 1971, S. 61: „Das Grundgesetz ist nicht das Ergebnis einer politischen Entscheidung, sondern das Produkt einer Lage, genauer eines Zustandes beispielloser Schwäche als Folge der Verwüstungen des verlorenen Krieges.“ Zitiert in: R. Dreier, Zur Problematik und Situation der Verfassungsinterpretation, in: R. Dreier / F. Schwegmann (Hrsg.), Probleme der Verfassungsinterpretation, 1976, S. 13 (Fn. 2). Vgl. ferner W. Geiger, Grundwertentscheidungen des Grundgesetzes, in: BayVBl. 1974, S. 297: „Das Grundgesetz war die Antwort auf das nationalsozialistische Unrechtssystem.“ R. Dolzer, Die staatstheoretische und staatsrechtliche Stellung des Bundesverfassungsgerichts, 1972, S. 36: „Der Ausgangspunkt für die Errichtung des Verfassungsgerichts lag

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1. Teil: Verfassungsgerichtsbarkeit im demokratischen Staat

der Bestimmungen im Grundgesetz besitzt das BVerfG einen weiten Kompetenzbereich, in dem die verfassungsgerichtlichen Zuständigkeiten von Normenkontrollen (nach Art. 93 I Nr. 2, 2a und Art. 100 I GG; auch nach Art. 93 I Nr. 4a GG) sowie Entscheidungen über Organ- und Föderativstreitigkeiten (nach Art. 93 I Nr. 1, 3 und 4 GG) bis zu Verfassungsbeschwerden (nach Art. 93 I Nr. 4a GG) reichen3. Damit ist das BVerfG ermächtigt, auf mehrere Arten die Akte des Gesetzgebers zu kontrollieren. Ein Gesetz kann hauptsächlich durch die abstrakte Normenkontrolle, die konkrete Normenkontrolle oder die Verfassungsbeschwerde4 zum Gegenstand einer verfassungsgerichtlichen Überprüfung werden5. Die Normenkontrolle in ihren verschiedenen Ausgestaltungen, vor allem im Verfahren der abstrakten Normenkontrolle6, die keinen Anlaß eines konkreten Falles voraussetzt7, verkörpert deswegen den die Politik bzw. die politische Gesetzgebung regulierenden Charakter des BVerfG. Trotz Auseinandersetzungen über die „Bedeutungsweite“ der Institution der Normenkontrolle8 ist nicht zu verleugnen, daß sie primär wohl im negativen: im Gefühl, daß Exekutive und Legislative in ihrer Macht beschränkt werden sollen und dies durch die Verfassungsgerichtsbarkeit geschehen kann.“ Vgl. auch M. Tohidipur, Einleitung: Zu Status und Funktion des Bundesverfassungsgerichts, in: ders. (Hrsg.), Verfassung, Verfassungsgerichtsbarkeit, Politik. Zur verfassungsrechtlichen und politischen Stellung und Funktion des Bundesverfassungsgerichts, 1976, S. 10, 11. 3 Zum Überblick vgl. Schlaich / Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, Rn. 74 – 322; W. Löwer, Zuständigkeiten und Verfahren des Bundesverfassungsgerichts, in: J. Isensee / P. Kirchhof (Hrsg.), HStR II, 1987, § 56, S. 737, 738 ff. 4 Hiermit ist in erster Linie die sogenannte „Rechtssatzverfassungsbeschwerde“ (als die Alternative zur „Urteilsverfassungsbeschwerde“) gemeint. Dazu C. Gusy, Die Verfassungsbeschwerde, in: P. Badura / H. Dreier (Hrsg.), FS 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, Bd. I, 2001, S. 641, 657 ff., 662. Vgl. auch W. Heun, Normenkontrolle, in: Badura / Dreier (Hrsg.), FS 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, Bd. I, S. 615, 627. 5 Vgl. Schlaich / Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, Rn. 112 f.; Heun, Normenkontrolle, S. 618 ff. Auch H. Säcker, Gesetzgebung durch das Bundesverfassungsgericht? Das Bundesverfassungsgericht und die Legislative, in: M. Piazolo (Hrsg.), Das Bundesverfassungsgericht. Ein Gericht im Schnittpunkt von Recht und Politik, 1995, S. 189. Ferner K. Chryssogonos, Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgebung. Zur Methode der Verfassungsinterpretation bei der Normenkontrolle, 1987, S. 13. 6 Zur Eigenschaft und Bedeutung der abstrakten Normenkontrolle vgl. Dolzer, Die staatstheoretische und staatsrechtliche Stellung des Bundesverfassungsgerichts, S. 114 ff.; H. Söhn, Die abstrakte Normenkontrolle, in: C. Starck (Hrsg.), Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz Bd. I, 1976, S. 292, 293 ff.; auch W. Rupp-von Brünneck, Verfassungsgerichtsbarkeit und gesetzgebende Gewalt. Wechselseitiges Verhältnis zwischen Verfassungsgericht und Parlament, in: AöR 102 (1977), S. 1, 9, 10 f.; P. Häberle, Das Bundesverfassungsgericht als Muster einer selbständigen Verfassungsgerichtsbarkeit, in: Badura / Dreier (Hrsg.), FS 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, Bd. I, S. 311, 328; D. Kommers, The Constitutional Jurisprudence of the Federal Republic of Germany, 1989, S. 44. 7 So ist das Wort „abstrakt“ gemeint. Vgl. Schlaich / Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, Rn. 113, vgl. aber Rn. 114; Heun, Normenkontrolle, S. 618 f. 8 Da die Normenkontrolle das Spannungsfeld zwischen dem Verfassungsgericht und dem Gesetzgeber am direktesten zum Ausdruck bringt, hat ihr dogmatisches Wesen Streit hervorgerufen. Die Debatte kreist hauptsächlich darum, ob und inwieweit die Normenkontrolle in der Tat eine gesetzgeberische Funktion des BVerfG besitzt. Zur Befürwortung des gesetz-

I. Einführung

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die materiell-rechtliche Forderung unter dem Grundgesetz darstellt, daß die Politik bzw. die politische Gesetzgebung durch das BVerfG rechtlich kontrolliert und eingeschränkt werden muß9. Infolgedessen ist der Mechanismus der Gewaltenteilung im Grundgesetz nicht vollständig aus der traditionellen Sicht, nämlich im Sinne der Montesquieuschen Tradition10 zu verstehen11. Erst auf dieser Ebene läßt sich die Bezeichnung des BVerfG als „Hüter der Verfassung“12 sinnvoll erfassen. geberischen Charakters der Verfassungsgerichtsbarkeit vgl. E.-W. Böckenförde, Die Methoden der Verfassungsinterpretation – Bestandaufnahme und Kritik, in: ders., Staat, Verfassung, Demokratie, 1991, S. 53, 87 f.; ders., Verfassungsgerichtsbarkeit: Strukturfragen, Organisation, Legitimation, in: ders., Staat, Nation, Europa, 2. Aufl. 2000, S. 157, 164 f., 167, 169 f.; ders., Diskussionsbeitrag, in: VVDStRL 39 (1981), S. 172 ff., 176; C. Gusy, Parlamentarischer Gesetzgeber und Bundesverfassungsgericht, 1985, S. 39 f.; C. Starck, Die Bindung des Richters an Gesetz und Verfassung, in: VVDStRL 34 (1976), S. 43, 67, 74; U. Scheuner, Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgebung, in: DÖV 1980, S. 473, 474 ff. (s. aber S. 477); R. Zuck, Das Bundesverfassungsgericht als Dritte Kammer, in: ZRP 1978, S. 189, 194; E. Benda, Bundesverfassungsgericht und Gesetzgeber im dritten Jahrzehnt des Grundgesetzes, in: DÖV 1979, S. 465, 467; von „negativem Gesetzgeber“ sprach bereits H. Kelsen, Wesen und Entwicklung der Staatsgerichtsbarkeit, in: VVDStRL 5 (1929), S. 30, 54 ff.; die Auffassung, daß die Entscheidung des Verfassungsgerichts eine Entscheidung über den Inhalt einer verfassungsgesetzlichen Bestimmung und deswegen nicht mehr eine richterliche Entscheidung ist, vertrat schon C. Schmitt, Das Reichsgericht als Hüter der Verfassung (1929), in: ders., Verfassungsrechtliche Aufsätze aus den Jahren 1924 – 1954, 1958, S. 63, 75 ff. Dagegen Schlaich / Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, Rn. 111; K. Schlaich, Die Verfassungsgerichtsbarkeit im Gefüge der Staatsfunktionen, in: VVDStRL 39 (1981), S. 99, 132 f.; Heun, Normenkontrolle, S. 616 f.; K. A. Bettermann, Richterliche Normenkontrolle als negative Gesetzgebung?, in: DVBl. 1982, S. 91 ff. Zur Problemstellung vgl. ferner Chryssogonos, Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgebung, S. 39 ff. 9 Dazu etwa Laufer, Verfassungsgerichtsbarkeit und politischer Prozeß, S. 45, 284 ff., 336 ff.; ders., Politische Kontrolle durch Richtermacht. Das Bundesverfassungsgericht als Kontrollorgan der Politik, in: M. Tohidipur (Hrsg.), Verfassung, Verfassungsgerichtsbarkeit, Politik, S. 92, 94 ff.; Scheuner, Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgebung, S. 473 f.; R. Wahl, Elemente der Verfassungsstaatlichkeit, in: JuS 2001, S. 1041, 1046; Kommers, The Constitutional Jurisprudence of the Federal Republic of Germany, S. 44 f.; ähnlich R. Wahl, Der Vorrang der Verfassung und die Selbständigkeit des Gesetzesrechts, in: ders., Verfassungsstaat, Europäisierung, Internationalisierung, 2003, S. 161, 162 f.; H. Säcker, Die Verfassungsgerichtsbarkeit im Konvent von Herrenchimsee, in: FS W. Zeidler, 1987, S. 265. Insofern hat die rechtsprechende Tätigkeit des BVerfG einen „politischen Charakter“, und dadurch unterscheidet sich das BVerfG von den übrigen Gerichten. Vgl. Leibholz, Der Status des Bundesverfassungsgerichts, S. 111 f.; ders., Bericht des Berichterstatters an das Plenum des Bundesverfassungsgerichts zur „Status“-Frage, in: JöR N.F. 6 (1957), S. 120, 121, 125 f.; Denkschrift des Bundesverfassungsgerichts, S. 144 f. 10 Dazu vgl. Laufer, Verfassungsgerichtsbarkeit und politischer Prozeß, S. 277, 339. Zur Rolle der richterlichen Gewalt aus Sicht der Montesquieuschen Gewaltenteilung vgl. auch E.W. Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt. Von den Anfängen der deutschen Staatsrechtslehre bis zur Höhe des staatsrechtlichen Positivismus (1958), 2. Aufl. 1981, S. 32 f.; U. Lange, Teilung und Trennung der Gewalten bei Montesquieu, in: Der Staat 19 (1980), S. 213, 219 f.; L. Adamovich, Verfassungsgerichtsbarkeit und Gewaltentrennung, in: FS W. Zeidler, 1987, S. 281, 282 f.; S. Korioth, „Monarchisches Prinzip“ und Gewaltenteilung – unvereinbar? Zur Wirkungsgeschichte der Gewaltenteilungslehre Montesquieus im deutschen Frühkonstitutionalismus, in: Der Staat 37 (1998), S. 27, 33. 2*

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1. Teil: Verfassungsgerichtsbarkeit im demokratischen Staat

Durch diesen eigenartigen Charakter unterscheidet sich das BVerfG klar vom Supreme Court der USA. Während das BVerfG (vor allem durch die Normenkontrolle) die Aufgabe hat, der Politik (verfassungs-)rechtliche Grenzen zu ziehen, ist die Stellung des US-Supreme Court zunächst einmal durch eine komplette Trennung von der Politik gekennzeichnet13. Institutionell zeigt sich dies in erster Linie dadurch, daß eine abstrakte Normenkontrolle aus der Hand des Supreme Court unter dem amerikanischen Kriterium „case or controversy“, wonach eine verfassungsgerichtliche Überprüfung das Vorliegen eines konkreten Streitfalls voraussetzt14, undenkbar ist. Im Ergebnis führt der Unterschied dazu, daß im Vergleich zum Supreme Court unter der amerikanischen Verfassung das BVerfG unter dem Grundgesetz eine höhere Stellung besitzt15, obwohl die Verfassungsgerichtsbarkeit im Grundgesetz ideell unter dem Einfluß des amerikanischen Verfassungsrechts konstruiert war16. Die Zuständigkeit zur Normenkontrolle und ihr Zusammenwirken mit der Nichtigerklärung17 haben zur mächtigen rechtlichen Kontrollkompetenz des BVerfG gegenüber dem (politischen) Gesetzgeber beigetragen, die dem amerikanischen Verfassungsdenken völlig fremd ist. Die Bestimmung des Verhältnisses von Verfassungsgerichtsbarkeit und Politik oder (auf der Seite der Politik 11 Vgl. Roellecke, Aufgaben und Stellung des Bundesverfassungsgerichts, Rn. 34; Säcker, Gesetzgebung durch das Bundesverfassungsgericht?, S. 191 f.; auch Scheuner, Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgebung, S. 474; F. Ossenbühl, Aktuelle Probleme der Gewaltenteilung, in: DÖV 1980, S. 545, 547 f. Auf dieser Grundlage wird deswegen die Sorge um die Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit aus Sicht des traditionellen Gewaltenteilungsprinzips „zweitrangig“ und sogar „obsolet“, denn „die Grenzen des BVerfG sind . . . mit den von der Verfassung gesteckten Grenzen identisch.“ So C. Simons, Grundrechte und Gestaltungsspielraum. Eine rechtsvergleichende Untersuchung zum Prüfungsinstrumentarium von Bundesverfassungsgericht und US-amerikanischem Supreme Court bei der Normenkontrolle, 1999, S. 18. 12 Siehe Denkschrift des Bundesverfassungsgerichts, S. 144; G. Leibholz, Verfassungsgerichtsbarkeit im demokratischen Rechtsstaat, in: ders., Strukturprobleme der modernen Demokratie, 1958, S. 168, 173; ferner Chryssogonos, Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgebung, S. 30 ff. Vgl. auch BVerfGE 1, 184 (195): „Bei der Normenkontrolle nach Art. 93 Abs. 1 Ziff. 2 GG steht die Aufgabe des BVerfG als Hüter der Verfassung durchaus im Vordergrund.“ 13 Dieser Charakter beruht auf der Vorstellung einer traditionellen, sozusagen Montesquieuschen Gewaltenteilung, die schon durch die Erläuterung der Federalist Papers zur Grundlage der institutioinellen Anordnung des amerikanischen Verfassungsrechts geworden ist. Vgl. A. Hamilton, J. Jay, J. Madison, The Federalist Papers, No. 47 (Madison), C. Rossiter ed., 1961, S. 303. 14 Dazu G. Stone / L. Seidman / C. Sunstein / M. Tushnet, Constitutional Law, 3. ed., 1996, S. 88 ff.; Kommers, The Constitutional Jurisprudence of the Federal Republic of Germany, S. 45. 15 Vgl. Dolzer, Die staatstheoretische und staatsrechtliche Stellung des Bundesverfassungsgerichts, S. 33, 39. 16 Vgl. Dolzer, Die staatstheoretische und staatsrechtliche Stellung des Bundesverfassungsgerichts, S. 16, 32 f., 38 f. 17 Die Normenkontrollentscheidung ist nicht unbedingt mit der Nichtigerklärung eines verfassungswidrigen Gesetzes verbunden. Vgl. Söhn, Die abstrakte Normenkontrolle, S. 295.

I. Einführung

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stehender) Gesetzgebung im Grundgesetz und der amerikanischen Verfassung hat folglich auch die frühere Entwicklungslinie des amerikanischen und des deutschen Verfassungsgerichts entschieden. Während der Supreme Court stets auf dem Weg der „countermajoritarian difficulty“18 geht, ist die Kritik an der Stellung sowie der Kompetenz des BVerfG im Lichte des (grundgesetzlichen) Gewaltenteilungsprinzips relativ selten geübt19, denn nach der Anordnung des Grundgesetzes ist die rechtliche Kontrolle über die politische Gesetzgebung durch eine zentralisierte Verfassungsgerichtsbarkeit eines der unentbehrlichen Elemente zur Wahrung der Verfassungsmäßigkeit der Rechtsordnung nach der Rechtsstaatlichkeit, auf der das Gewaltenteilungsprinzip basiert. Wegen der Hinwendung des Grundgesetzes zum „materiellen“ Rechtsstaat nach 194520 spielt die Verfassungsgerichtsbarkeit zur Gewährleistung der Rechtsstaatlichkeit eine noch größere Rolle, indem sie die Bindungswirkung der Grundrechte (Art. 1 III und Art. 20 III GG) geltend macht21. Die grundgesetzliche Bestimmung einer rechtlichen Kontrolle über die Politik durch die Verfassungsgerichtsbarkeit ist jedoch nicht nur im historischen, sondern auch im staatstheoretischen Kontext zu verstehen. So gesehen beruht die Tradition der deutschen Diskussion um die Verfassungsgerichtsbarkeit nicht nur darauf, daß das BVerfG mit seinem die Politik rechtlich kontrollierenden Charakter der Garantie der Rechts- oder Verfassungsmäßigkeit dient und dadurch eine für die Verfassungsordnung in den USA keine Entsprechung findende Bedeutung hat. Sie ist zudem auf den wichtigeren staatsrechtlichen Hintergrund zurückzuführen, daß die Einrichtung einer zentralisierten Verfassungsgerichtsbarkeit in theoretischer Hinsicht als die Aufnahme der Auffassung Hans Kelsens gilt22, die aus der Lehre vom 18 Zur Terminologie A. Bickel, The Least Dangerous Branch: The Supreme Court at the Bar of Politics, 1986, S. 16 ff. 19 Vgl. Dolzer, Die staatstheoretische und staatsrechtliche Stellung des Bundesverfassungsgerichts, S. 33 ff.; D. Grimm, Verfassungsgerichtsbarkeit im demokratischen System, in: JZ 1976, S. 697, 698: „Die in der Weimarer Republik begonnene Auseinandersetzung um ihre juristische oder politische Natur wurde in der Bundesrepublik zugunsten des Rechts beendet. Ein Widerspruch zwischen Verfassungsgerichtsbarkeit und Demokratie konnte auf diese Weise nicht entstehen.“ Zur früheren Kritik aus der Perspektive der Gewaltenteilung vgl. aber Laufer, Verfassungsgerichtsbarkeit und politischer Prozeß, S. 22 ff.; U. Scheuner, Probleme und Verantwortungen der Verfassungsgerichtsbarkeit in der Bundesrepublik, in: DVBl. 1952, S. 293; K. Stern, Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgebung, 1997, S. 7. 20 Zu Wiederherstellung und Begriffswandel des Rechtsstaates nach dem zweiten Weltkrieg s. E.-W. Böckenförde, Entstehung und Wandel des Rechtsstaatsbegriffs, in: ders., Recht, Staat, Freiheit, 1991, S. 143, 158 ff. 21 In diesem Sinne ist die Stellung des BVerfG durch die Aufgabe des Grundrechtsschutzes verstärkt, die aber auch zum Wandel des Schwerpunkts der deutschen Debatte um die Verfassungsgerichtsbarkeit führt. Siehe dazu unten b). 22 So S. Korioth, Garantie der Verfassung oder Verfassungsrecht aus der Hand der Justiz – Richterliche Normenkontrolle in der Weimarer Republik, in: FS C. Link, 2003, S. 705, 723. Zu Kelsens Rolle in der Einrichtung der Verfassungsgerichtsbarkeit im Grundgesetz vgl. Dolzer, Die staatstheoretische und staatsrechtliche Stellung des Bundesverfassungsgerichts, S. 31; Laufer, Verfassungsgerichtsbarkeit und politischer Prozeß, S. 38 f.; Kommers, The Constitutional Jurisprudence of the Federal Republic of Germany, S. 8 f.

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1. Teil: Verfassungsgerichtsbarkeit im demokratischen Staat

Stufenbau der Rechtsordnung abgeleitet ist23. Gerade aufgrund der Lehre vom Stufenbau der Rechtsordnung muß eine zentralisierte Verfassungsgerichtsbarkeit eingerichtet werden, um die Gesetz- und Verfassungsmäßigkeit der Staatsfunktionen zu gewährleisten24. Mittlerweile wird Kelsens Befürwortung einer (durch die Verfassungsgerichtsbarkeit zu erfüllenden) rechtlichen Kontrolle über die Politik insbesondere in dem Sinne dargestellt, daß aus Kelsens Sicht die Staatsfunktion nur als Rechtsfunktion gilt25. Daraus entwickelt sich auch Kelsens Verständnis der Gewaltenteilung, die sich in Kelsens Sicht von dem erwähnten traditionellen Gewaltenteilungsprinzip unterscheidet: Nach Kelsen bedeutet die Institution der Verfassungsgerichtsbarkeit „nicht nur keinen Widerspruch zum Prinzip der Trennung der Gewalten, sondern gerade im Gegenteil dessen Bestätigung“, denn das Gericht, das im wesentlichen nicht nur als Gericht tätig ist, kann durch die Aufhebung eines Gesetzes als „negativer Gesetzgeber“ fungieren; und „[das Prinzip der Trennung der Gewalten] ist der Gedanke der Aufteilung der Macht auf verschiedene Organe, nicht so sehr zum Zweck ihrer gegenseitigen Isolierung, als vielmehr zu dem ihrer gegenseitigen Kontrolle. Und dies nicht nur zu dem Zwecke, um eine der Demokratie gefährliche, allzu große Machtkonzentration in einem Organ zu verhindern, sondern insbesondere um die Rechtmäßigkeit der Funktion der verschiedenen Organe zu garantieren.“ 26 Nach dieser Auffassung besteht dann theoretisch (und auch institutionell) gar kein „Spannungsverhältnis“ zwischen Verfassungsgerichtsbarkeit und demokratischem Gesetzgeber, obwohl die „Politisierungsgefahren“ der Verfassungsgerichtsbarkeit in der Praxis auch zu beachten und zu vermeiden sind27. Gerade auf dieser Grundlage entwickelt Kelsen die Auffassung, daß die durchaus legitime Frage nach den Grenzen der Verfassungsjustiz „nicht als Frage nach dem Begriff der Justiz (wie Carl Schmitt), sondern nach der zweckmäßigsten Gestaltung ihrer Funktion“ gestellt werden sollte28. Die Tradition der deutschen Diskussion um die Verfassungsgerichtsbarkeit unter dem Grundgesetz läßt sich vor dem staatsrechtlichen (bzw. Kelsenschen) Hintergrund begreifen. Unter dem Einfluß der Lehre Kelsens kreiste die Verfassungstheorie unter dem Grundgesetz folglich weniger um die Stellung der Verfassungs23 Hierzu H. Kelsen, Reine Rechtslehre. Mit einem Anhang: Das Problem der Gerechtigkeit, 2. Aufl. 1960, Nachdruck 2000, S. 228 ff. 24 Vgl. H. Kelsen, Wesen und Entwicklung der Staatsgerichtsbarkeit, in: VVDStRL 5 (1929), S. 30, 51 ff. 25 Dazu Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 228 ff.; ders., Schlußwort zur Aussprache, in: VVDStRL 5 (1929), S. 122. 26 H. Kelsen, Wer soll der Hüter der Verfassung sein?, in: Die Justiz VI, 1930 / 31, S. 576, 598 f. (Fn. 1). Dazu vgl. auch R. Marcic, Verfassungsgerichtsbarkeit und Reine Rechtslehre, 1966, S. 58 ff. 27 Siehe sofort unten. Nach Kelsen ist hier Rechtserzeugung nicht mit Rechtserkenntnis zu verwechseln. Dazu Kelsen, Schlußwort zur Aussprache, S. 122 f. 28 So Kelsen, Wer soll der Hüter der Verfassung sein?, S. 595. Erst auf der Ebene der Rechtserzeugung läßt sich Kelsens Betonung der „zweckmäßigsten Gestaltung der Funktion der Verfassungsjustiz“ verstehen. Siehe unten für weitere Erläuterung.

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gerichtsbarkeit im Zusammenhang mit dem Gesetzgeber, als darum, wie die Objektivität oder die Rationalität der Verfassungsinterpretation durch eine geeignete Interpretationsmethode des BVerfG gesichert werden kann, um die Kompetenz des BVerfG zur Garantie der Verfassungsmäßigkeit der Staatsfunktionen kontrollierbar zu machen29, während als Hauptthema des amerikanischen Verfassungsrechts immer die Debatte um die angemessene Rolle der Verfassungsgerichtsbarkeit unter der Struktur der Gewaltenteilung, nämlich „legitimacy and justification of judicial review“ dient30. Anders als die Situation in den Vereinigten Staaten sind in Deutschland nicht die Gewaltenteilung und die Gewaltenbalance von Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgebung, sondern die Rationalität und Evidenz der Verfassungsnorm und die Objektivität der Verfassungsinterpretation der Schwerpunkt der typischen Diskussion um die Verfassungsgerichtsbarkeit, auch wenn Kelsen selbst vor den Gefahren einer Politisierung der Verfassungsgerichtsbarkeit warnte31. Diese prinzipielle Orientierung kann trotzdem nicht als Mißachtung der Warnung Kelsens beurteilt werden. Sie ist im Gegenteil ebenfalls als Produkt der Lehre Kelsens zu erfassen, denn selbst Kelsens Warnung zielt an erster Stelle auf die Gewährleistung der erwähnten Objektivität der Verfassungsinterpretation und dadurch die zweckmäßigste Gestaltung der Verfassungsgerichtsbarkeit als Garantie der Recht- und Verfassungsmäßigkeit der Staatsfunktionen ab32. Wenn Kelsen von Politisierungsgefahren der Verfassungsgerichtsbarkeit spricht, geht es bei dieser Beschreibung im wesentlichen stärker um die Verfassungsgerichtsbarkeit als Kontrollkompetenz als um die gefährdete Balance zwischen der Verfassungsgerichts29 Dazu vgl. E. Forsthoff, Die Umbildung des Verfassungsgesetzes, in: Dreier / Schwegmann (Hrsg.), Probleme der Verfassungsinterpretation, S. 51, 53 ff.; auch ders., Zur Problematik der Verfassungsauslegung, 1961; Dreier, Zur Problematik und Situation der Verfassungsinterpretation, S. 15; Simons, Grundrechte und Gestaltungsspielraum, S. 19 ff. 30 Vgl. z. B. J. H. Choper, The Supreme Court and the Political Branches: Democratic Theory and Practice, 122 U. Pa. L. Rev. 810, 810 (1974); ders., Judicial Review and the National Political Process, 1980, S. 4; B. Friedman, The History of the Countermajoritarian Difficulty, Part One: The Road to Judicial Supremacy, 73 N.Y.U. L. Rev. 333, 339 f. (1998); ders., The History of the Countermajoritarian Difficulty, Part Three: The Lesson of Lochner, 76 N.Y.U. L. Rev. 1383 (2001); ders., The History of the Countermajoritarian Difficulty, Part Four: Law’s Politics, 148 U. Pa. L. Rev. 971 (2000). 31 Aufgrund seiner Konzentration auf die „zweckmäßigste Gestaltung“ der Verfassungsgerichtsbarkeit warnte Kelsen trotz seiner Behauptung der zentralisierten Verfassungsgerichtsbarkeit auch vor „der Gefahr einer von der Verfassung nicht intendierten und politisch höchst unangebrachten Machtverschiebung vom Parlament zu einer außerhalb stehenden Instanz, die zum Exponenten ganz anderer politischer Kräfte werden kann als jene, die im Parlament zum Ausdruck kommen“. H. Kelsen, Wer soll der Hüter der Verfassung sein?, S. 595 ff. (Fn. 1); ders., Wesen und Entwicklung der Staatsgerichtsbarkeit, S. 70. Diese Warnung beruht, wie erwähnt, auf Kelsens kritischer Beobachtung der Realität der Institution der Verfassungsgerichtsbarkeit im parlamentarisch demokratischen Staat. Nach Kelsen soll das eine „legislativ-politische Erwägung“ sein. Vgl. Kelsen, Schlußwort zur Aussprache, S. 122. 32 Zum Zusammenhang zwischen der Warnung vor den Politisierungsgefahren und dem Problem der verfassungsrechtlichen Interpretation aus Kelsens Perspektive vgl. H. Wendenburg, Die Debatte um die Verfassungsgerichtbarkeit und der Methodenstreit der Staatsrechtslehre in der Weimarer Republik, 1984, S. 133 ff.

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barkeit und der Gesetzgebung. In Kelsens Sicht soll sich die Objektivität der Verfassungsinterpretation deswegen darauf richten, daß die Kontrollkompetenz der Verfassungsgerichtsbarkeit zweckmäßig funktioniert, nicht so sehr darauf, daß die Verfassungsgerichtsbarkeit wegen ihrer Vereinbarkeit mit der demokratischen Gesetzgebung zulässig ist33. Das Kelsensche Verständnis für die Institution der Verfassungsgerichtsbarkeit hat im Ergebnis nicht nur die Entwicklung der klassischen Verfassungsrechtsdogmatik in Deutschland geleitet, sondern auch die fundamentale Orientierung der deutschen Verfassungstheorie klar von der amerikanischen Verfassungstradition unterschieden.

b) Entfaltung der objektiven Dimension der Grundrechte und Politisierungsgefahren der Verfassungsgerichtsbarkeit Die Fortentwicklung der Verfassungsgerichtsbarkeit aber hat wahrscheinlich die traditionelle Orientierung der deutschen Verfassungstheorie mehr oder minder verändert. Die Kontrollkompetenz des BVerfG hat sich so erweitert, daß die Politisierungsgefahren der Verfassungsgerichtsbarkeit realisiert scheinen. Obwohl die Sonderstellung des BVerfG keineswegs den Verzicht auf die Gewaltenbalance andeutet, hat diese Stellung zur offensichtlichen Ausweitung der Kompetenz des BVerfG und wahrscheinlich sogar zur „Machtverschiebung vom Gesetzgeber zum BVerfG“ geführt. In diesem Sinne kann die Ausweitung der Verfassungsgerichtsbarkeit in der Gegenwart nicht mehr lediglich durch den Sonderstatus des BVerfG gerechtfertigt werden; und wenn die Kelsensche Verfassungsgerichtsbarkeit sich zur Gefahr aus Kelsenscher Sicht und folglich zur Kelsenschen Schwierigkeit entwickelt, scheint die Rechtfertigung für die Ausweitung der Verfassungsgerichtsbarkeit aus Kelsenscher Perspektive auch nicht mehr einleuchtend. Besonders bedeutsam hat die Entfaltung der objektiven Dimension der Grundrechte durch das BVerfG34 einerseits die Geltungskraft der Grundrechte verstärkt, andererseits aber wegen ihrer möglichen Gefährdung des Gestaltungsspielraums des Gesetzgebers heftige Kritik hervorgerufen, insbesondere aus der Perspektive der Gewaltenbalance zwischen dem BVerfG und dem demokratischen Gesetzgeber oder der sogenannten Abgrenzung von Recht und Politik. Das Hauptargument liegt darin, daß die Entfaltung der objektiven Dimension der Grundrechte das Verhältnis von Gesetzgebung und Verfassungsgerichtsbarkeit grundlegend verändert und folglich zu den Politisierungsgefahren der Verfassungsgerichtsbarkeit führt35. Die Folge ist, nach Ernst-

33 Dazu auch H. Kelsen, Wer soll der Hüter der Verfassungs sein?, S. 595 ff. (Fn. 1); ders., Wesen und Entwicklung der Staatsgerichtsbarkeit, S. 69 f. 34 Paradigmatisch: BVerfGE 7, 198 – Lüth. 35 Dazu etwa E.-W. Böckenförde, Grundrechte als Grundsatznormen. Zur gegenwärtigen Lage der Grundrechtsdogmatik, in: Der Staat 20 (1990), S. 1 ff.; ders., Zur Lage der Grundrechtsdogmatik nach 40 Jahren Grundgesetz, 1989; E. Denninger, Verfassungsrechtliche Schlüsselbegriffe, in: FS R. Wassermann, 1985, S. 279, 281 ff.; W.-R. Schenke, Der Umfang

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Wolfgang Böckenförde, die Unvermeidlichkeit des Fortschreitens zum „verfassungsgerichtlichen Jurisdiktionsstaat“36. Aus geschichtlicher Perspektive sind die Auseinandersetzungen um die Verfassungsgerichtsbarkeit keineswegs neu in dem Sinne, daß die potentielle Kompetenzüberschreitung des BVerfG, vor der auch Kelsen warnte, zum Wiedereintritt in den staatsrechtlichen Streit um die Verfassungsgerichtsbarkeit in der Weimarer Republik geführt hat. Die Bezeichnung der Politisierungsgefahren der Verfassungsgerichtsbarkeit, die Böckenförde repräsentativ zeigte, stammt theoretisch gerade aus der Kritik Schmitts, daß „eine hemmungslose Expansion der Justiz nicht etwa den Staat in Gerichtsbarkeit, sondern umgekehrt die Gerichte in politische Instanzen verwandeln würde,“ daß „es nicht etwa die Politik juridifiziert, sondern die Justiz politisiert würde.“37 Insofern spiegelt die gegenwärtige Debatte gerade die Nachwirkung des bekannten KelsenSchmitt-Streits wider38. Da die Politisierungsgefahren der Verfassungsgerichtsbarkeit schon in der Praxis realisiert scheinen und nicht nur theoretisch beschrieben sind, wird die starke Verfassungsgerichtsbarkeit als Kontrollkompetenz weniger überzeugend. Auf dieser Ebene spielt die Schmittsche Kritik eine Kontrastrolle, weil sie die Institution der Verfassungsgerichtsbarkeit direkt im Lichte der Abgrender bundesverfassungsgerichtlichen Überprüfung, in: NJW 1979, S. 1321, 1327 f.; H. Vogel, Gewaltenvermischung statt Gewaltenteilung?, in: NJW 1996, S. 1505 ff.; W. Knies, Auf dem Weg in den „verfassungsgerichtlichen Jurisdiktionsstaat“?, in: FS K. Stern, 1997, S. 1155, 1178 ff.; O. Höffe, Wieviel Politik ist dem Verfassungsgericht erlaubt?, in: Der Staat 38 (1999), S. 171, 184 ff.; W. Brohm, Die Funktion des BVerfG – Oligarchie in der Demokratie?, in: NJW 2001, S. 1 ff. Zur Kritik an dieser Tendenz aus der Perspektive der „Wertbegründung“ der Verfassungstheorie bzw. -rechtsprechung vgl. ferner Forsthoff, Die Umbildung des Verfassungsgesetzes; C. Schmitt, Die Tyrannei der Werte, in: Säkularisation und Utopie. Ebracher Studien, FS E. Forsthoff, 1967, S. 37 ff.; Böckenförde, Zur Kritik der Wertbegründung des Rechts, in: ders., Recht, Staat, Freiheit, 1991, S. 67, 87 f.; E. Denninger, Freiheitsordnung – Wertordnung – Pflichtordnung, in: M. Tohidipur (Hrsg.), Verfassung, Verfassungsgerichtsbarkeit, Politik. Zur verfassungsrechtlichen und politischen Stellung und Funktion des Bundesverfassungsgerichts, 1976, S. 163 ff.; Chryssogonos, Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgebung, S. 155. 36 So Böckenförde, Grundrechte als Grundsatznormen, S. 29; ders., Zur Lage der Grundrechtsdogmatik nach 40 Jahren Grundgesetz, S. 69. Von „verfassungsvollziehendem Jurisdiktionsstaat“ spricht Böckenförde schon in ders., Nachwort: Gesetzesbegriff und Gesetzesvorbehalt. Bemerkungen zur Entwicklung und zum heutigen Stand der Diskussion (1981), in: ders., Gesetz und gesetzgebende Gewalt, S. 375, 402. Zur Terminologie s. C. Schmitt, Legalität und Legitimität (1932), 6. Aufl. 1998, S. 8 f. Obwohl E. Forsthoff auch vor dem Übergang zum Justizstaat warnte, begründete er die Behauptung vor dem Hintergrund der Tradition der Verfassungstheorie, die sich, wie erwähnt, auf die Objektivität der Verfassungsinterpretation konzentrierte. Der Unterschied von Forsthoffschem Justizstaat zu Schmittschem Jurisdiktionsstaat zeigt sich dadurch deutlich, daß der Justizstaat aus Forsthoffs Sicht als Antipode des Rechtsstaates, nicht des Gesetzgebungsstaates gekennzeichnet ist (so zutreffend Simons, Grundrechte und Gestaltungsspielraum, S. 21). Vgl. Forsthoff, Die Umbildung des Verfassungsgesetzes, S. 64, 71, 76 f. 37 C. Schmitt, Das Reichsgericht als Hüter der Verfassung (1929), in: ders., Verfassungsrechtliche Aufsätze aus den Jahren 1924 – 1954, 1958, S. 63, 98. 38 Ähnlich Korioth, Garantie der Verfassung oder Verfassungsrecht aus der Hand der Justiz, S. 724.

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1. Teil: Verfassungsgerichtsbarkeit im demokratischen Staat

zung zwischen Recht und Politik und deswegen des Gewaltenteilungsprinzips examiniert. Infolgedessen haben sich die deutschen Auseinandersetzungen über die Verfassungsgerichtsbarkeit nicht nur an der Schmitt-Linie39, sondern auch an amerikanischem Stil orientiert, der, wie erwähnt, sich stets durch die Konzentration auf die Gewaltenteilung und -balance auszeichnet. Die Abgrenzung von Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgebung – oder theoretischer: von Recht und Politik – gilt folglich als Schwierigkeit sowohl in den Vereinigten Staaten als auch im heutigen deutschen Verfassungsrecht. Mit der Wiederbelebung der Debatte zwischen Kelsen und Schmitt kreisen die Auseinandersetzungen über die Kompetenzausübung des BVerfG immer stärker um die institutionelle Rolle und Funktion der Verfassungsgerichtsbarkeit im Zusammenhang mit anderen Staatsorganen, insbesondere der demokratischen Gesetzgebung, und insofern haben sie sich trotz verschiedener Verfassungstraditionen an die Situation in den USA angenähert40. Auf dieser Ebene erstaunt es nicht, daß sich der funktionsorientierte Gedanke über die Verfassungsgerichtsbarkeit auch in der deutschen Verfassungstheorie und -praxis entwickelt hat.

c) Der funktionell-rechtliche Ansatz und die Kontrolldichten des BVerfG zur Abwehr der Politisierungsgefahren der Verfassungsgerichtsbarkeit aa) Die funktionell-rechtliche Reaktion auf die Politisierungsgefahren der Verfassungsgerichtsbarkeit Der funktionsorientierte Gedanke ist, ohne Rücksicht auf die erwähnte Nachwirkung des Kelsen-Schmitt-Streits, traditionell Produkt der amerikanischen Verfassungstheorie, denn bei diesem Denken geht es stärker um die Funktion oder Rolle der Verfassungsgerichtsbarkeit in der Institution der Gewaltenteilung als um die Kontrollkompetenz des Verfassungsgerichts durch Verfassungsinterpretation. Mit dem Aufkommen der Kritik am BVerfG aus der Perspektive des Gewaltenteilungsprinzips und infolgedessen dem Wiedereintritt in die weimarische Debatte aber wird der sogenannte funktionell-rechtliche Ansatz populär auch in Deutschland. Auf dem Hintergrund der allgemeinen Angst vor den Politisierungsgefahren der 39 Die Orientierung an der Schmitt-Linie bedeutet nicht, daß die Lehre Schmitts heute offensichtlich im Vordergrund steht. Sie zeigt aber doch die Tendenz, daß die Kelsensche Behauptung vor dem Hintergrund der Drohung der Politisierungsgefahren der Verfassungsgerichtsbarkeit schon aus Schmittscher Sicht skeptisch bewertet wurde, und daß wegen der Wiederbelebung der Schmittschen Kritik der Schwerpunkt der Debatte unvermeidlich auf die Rolle der Verfassungsgerichtsbarkeit im Zusammenhang mit der demokratischen Gesetzgebung gelegt wird. 40 Vgl. in diesem Zusammenhang U. Scheuner, Das Grundgesetz in der Entwicklung zweier Jahrzehnte, in: AöR 95 (1970), S. 353, 384: „. . . Im Gesamtergebnis hat diese Entwicklung jedenfalls eine gewisse Annährung an das Rechtsverständnis und die Rolle der Gerichte im angelsächsischen Bereich bewirkt.“

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Verfassungsgerichtsbarkeit sowie der Auseinandersetzungen über die Abgrenzung zwischen dem BVerfG und dem demokratischen Gesetzgeber erscheint der funktionell-rechtliche Ansatz, der die Gewaltenteilung aus der Perspektive untersucht, ob ein Staatsorgan seiner Legitimation, seiner Zusammensetzung und seiner Struktur nach zu einer bestimmten Entscheidung adäquat bzw. funktionsgerecht ist41, als eine in der Gegenwart erfolgversprechende Strategie gegen die Krise eines verfassungsgerichtlichen Jurisdiktionsstaates, denn im Vergleich zu dem schwachen Gebot des judicial self-restraint scheint eine funktionsorientierte Überlegung viel sinnvoller und hilfreicher zur Lösung des Kompetenzabgrenzungsproblems zwischen den Staatsorganen42. Aus Sicht des funktionell-rechtlichen Ansatzes ist die Sonderstellung des BVerfG zweitrangig geworden; trotzdem hat dieser Gedanke vor dem Hintergrund der Angst vor einem verfassungsgerichtlichen Jurisdiktionsstaat Befürworter gewonnen. Der funktionell-rechtliche Ansatz hat infolgedessen unter der Tradition des materiell-rechtlichen Ansatzes, der seit langem eine große Rolle im deutschen Verfassungsrechts gespielt hat, wahrscheinlich eine andere Möglichkeit geschaffen, die Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit zu ziehen und dadurch die Politisierungsgefahren abzuwehren.

41 Zum Begriff des funktionell-rechtlichen Ansatzes vgl. z. B. Ossenbühl, Aktuelle Probleme der Gewaltenteilung, S. 548 f.; ders., Diskussionsbeitrag, in: V. Götz / H. H. Klein / C. Starck (Hrsg.), Die öffentliche Verwaltung zwischen Gesetzgebung und richterliche Kontrolle, 1985, S. 198, 201; J. Isensee, Verfassungsrecht als „politisches Recht“, in: ders. / P. Kirchhof (Hrsg.), HStR VII, 1992, § 162, Rn. 89; K. Hesse, Funktionelle Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit, in: FS H. Huber, 1981, S. 261, 264 ff.; W. Heun, Funktionell-rechtliche Schranken der Verfassungsgerichtsbarkeit: Reichweite und Grenzen einer dogmatischen Argumentationsfigur, 1992, S. 12 ff. Kritisch etwa Böckenförde, Zur Lage der Grundrechtsdogmatik nach 40 Jahren Grundgesetz, S. 64; ders., Grundrechte als Grundsatznormen, S. 26 f.; Jestaedt, Grundrechtsentfaltung im Gesetz, S. 135 ff. Terminologisch schon H. Ehmke, Prinzipien der Verfassungsinterpretation, in: VVDStRL 20 (1963), S. 53, 72 ff., 102: „Es gibt die materiell-rechtlichen und funktionell-rechtlichen Interpretationsprinzipien.“ 42 Dazu etwa Heun, Funktionell-rechtliche Schranken der Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 11 f.; A. Rinken, in: R. Wassermann (Gesamthrsg.), AK-GG, 2. Aufl. 1989, Bd. 2, vor Art. 93 Rn. 92; G. F. Schuppert, Self-restraints der Rechtsprechung: Überlegung zur Kontrolldichte in der Verfassungs- und Verwaltungsgerichtsbarkeit, in: DVBl. 1988, S. 1191; Hesse, Funktionelle Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 263 f.; Isensee, Verfassungsrecht als „politisches Recht“, Rn. 88. Zu judicial self-restraint vgl. z. B. Schenke, Der Umfang der bundesverfassungsgerichtlichen Überprüfung, S. 1324 ff.; M. Kriele, Recht und Politik in der Verfassungsrechtsprechung. Zum Problem des judicial self-restraint, in: NJW 1976, S. 777 ff.; ders., Grundrechte und demokratischer Gestaltungsspielraum, in: J. Isensee / P. Kirchhof (Hrsg.), HStR V, 1992, § 110, Rn. 4, 7 – 11; R.. Dolzer, Verfassungskonkretisierung durch das Bundesverfassungsgericht und durch politische Organe, 1982, S. 20 ff.; Schlaich / Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, Rn. 493; F. von der Heydte, Judicial Self-restraint eines Verfassungsgerichts im freiheitlichen Rechtsstaat?, in: FS W. Geiger, 1974, S. 909, 922 ff.; J. Seifert, Verfassungsgerichtliche Selbstbeschränkung, in: Tohidipur (Hrsg.), Verfassung, Verfassungsgerichtsbarkeit, Politik, S. 116 ff.; P. Unruh, Der Verfassungsbegriff des Grundgesetzes: eine verfassungstheoretische Rekonstruktion, 2002, S. 524 – 526; auch P. Badura, Staatsrecht. Systematische Erläuterung des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland, 3. Aufl. 2003, S. 708 f.

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1. Teil: Verfassungsgerichtsbarkeit im demokratischen Staat

Der funktionell-rechtliche Ansatz hat nicht nur theoretische Bedeutung, sondern schon Auswirkungen auf die Entwicklung der Prüfungstechnik des BVerfG getätigt. Die durch das BVerfG entwickelte Drei-Stufen-Lehre der Verfassungsgerichtsbarkeit, die als die Reaktion des BVerfG auf die Politisierungsgefahren der Verfassungsgerichtsbarkeit gilt, versucht, durch unterschiedliche Kontrolldichten unter verschiedenen Voraussetzungen die Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit genauer zu ziehen43. Die Differenzierung von Evidenzkontrolle, Vertretbarkeitskontrolle und intensivierter inhaltlicher Kontrolle richtet sich gerade darauf, die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers besonders bei Prognoseentscheidungen in unterschiedlichen Sachbereichen sachgemäß zu berücksichtigen und sogar zu respektieren. Ideell sowie institutionell entsteht dieser flexiblere Gedanke über die Kontrollkompetenz des BVerfG offensichtlich unter dem Einfluß des funktionellrechtlichen Ansatzes. Mit Blick auf ihren Inhalt und ihre Verwendung aber scheint den Kritikern die Lehre der Kontrolldichten auch aus der funktionell-rechtlichen Perspektive angreifbar. In materiell-rechtlicher Hinsicht steht ferner in Rede, ob und inwiefern der funktionell-rechtliche Ansatz zur genaueren Begrenzung der Verfassungsgerichtsbarkeit wirklich Beitrag geleistet hat.

bb) Die Kritik Während die Drei-Stufen-Lehre zur Kontrolldichte des BVerfG als „Kronzeuge“ für funktionell-rechtliches Denken44 dient, bemängeln ihre Kritiker, daß die Abstufung der Kontrolldichten keine echte Konkretisierung des funktionell-rechtlichen Ansatzes und vielmehr materiell-rechtlich gesteuert sei45. Die Kritiker aus funktionell-rechtlicher Sicht behaupten, daß die Lehre der Kontrolldichten in Wirklichkeit kaum etwas mit dem funktionell-rechtlichen Ansatz zu tun habe, weil der Maßstab der Abstufung der Kontrolldichten überhaupt nicht von einer funktionsorientierten 43 Vgl. an erster Stelle BVerfGE 50, 290 – Mitbestimmung. Dort vor allem S. 332 f.: „Im einzelnen hängt die Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers von Faktoren verschiedener Art ab, im besonderen von der Eigenart des in Rede stehenden Sachbereichs, den Möglichkeiten, sich ein hinreichend sicheres Urteil zu bilden, und der Bedeutung der auf dem Spiele stehenden Rechtsgüter. Demgemäß hat die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, wenn auch im Zusammenhang anderer Fragestellungen, bei der Beurteilung von Prognosen des Gesetzgebers differenzierte Maßstäbe zugrunde gelegt, die von einer Evidenzkontrolle über eine Vertretbarkeitskontrolle bis hin zu einer intensivierten inhaltlichen Kontrolle reichen.“ 44 Schlaich / Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, Rn. 520. Vgl. auch G. F. Schuppert, Funktionell-rechtliche Grenzen der Verfassungsinterpretation, 1980, S. 2 f.; ders., Selfrestraints der Rechtsprechung, S. 1192; C. Rau, Selbst entwickelte Grenzen in der Rechtsprechung des United States Supreme Court und des Bundesverfassungsgerichts, 1995, S. 231 ff. 45 Schlaich / Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, Rn. 525; schärfer Heun, Funktionellrechtliche Schranken der Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 37 ff. In dieser Richtung auch Simons, Grundrechte und Gestaltungsspielraum, S. 228 – 233; Chryssogonos, Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgebung, S. 190.

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Überlegung ausgeht, die sich darauf konzentriert, ob das BVerfG oder der Gesetzgeber im betroffenen Sachbereich oder Einzelfall „funktionsgerecht“ ist, eine Entscheidung zu treffen. Vielmehr seien die entscheidenden Kriterien „die fundamentale Bedeutung und der Rang der betroffenen Grundrechte sowie die Intensität des Grundrechtseingriffs“46. Die Drei-Stufen-Lehre sei also eher auf der Basis des Systems der Verfassungsrechtsdogmatik – vor allem der Grundrechtsdogmatik – als aus einem funktionell-rechtlichen Gedanken entwickelt. Auf diese Weise sei der Aufbau der verschiedenen Kontrolldichten nicht als Produkt des funktionellrechtlichen, sondern wieder als Darstellung des materiell-rechtlichen Ansatzes anzusehen. Trifft die Auffassung zu, daß sich die Drei-Stufen-Lehre in der Tat nicht oder mindestens nicht lediglich auf den funktionell-rechtlichen Ansatz stützen kann, sondern immer noch überwiegend auf die materiell-rechtliche Ordnung im Grundgesetz stützen muß, so muß sich die Frage stellen, ob, angesichts der Entwicklung und Auswirkung der Drei-Stufen-Lehre, der funktionell-rechtliche Ansatz für die Kompetenzabgrenzung zwischen dem BVerfG und dem Gesetzgeber in der Praxis wirklich eine Rolle spielen kann. Schon die in der Tat vage Aussage von „funktionsgerechter Organstruktur“, die allein zum Kriterium der Funktions- und Aufgabenverteilung zwischen dem BVerfG und dem Gesetzgeber dienen soll, macht zweifelhaft, ob der funktionell-rechtliche Ansatz tatsächlich eine „neue“ Möglichkeit neben der typischen materiell-rechtlichen Kompetenzabgrenzung eröffnet hat. In materiell-rechtlicher Hinsicht muß der Schlüssel für die Bestimmung der Kontrolldichte und Reichweite des BVerfG immer „die Verfassung sein und bleiben“47. Gerade aus der materiell-rechtlichen Perspektive hat Böckenförde also den funktionell-rechtlichen Ansatz kritisiert und gezeigt, daß die Funktion der Verfassungsgerichtsbarkeit sich nicht unabhängig von den ihr zugewiesenen Kompetenzen, sondern erst aus ihnen heraus bestimmen läßt48. Die Kontrollkompetenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit seien daher nicht durch den funktionell-rechtlichen Ansatz, sondern nur durch die Beschränkung der Grundrechtsfunktionen auf die subjektive Dimension zu begrenzen49. Infolgedessen sind weder die Entstehung des funktionell-rechtlichen Ansatzes noch die Entwicklung der Drei-Stufen-Lehre zur Kontrolldichte des BVerfG in der Lage, die Debatte um die Kompetenzabgrenzung von Verfassungsgericht und Gesetzgeber zu einem Ende zu bringen. Die Auseinandersetzungen darüber, worin die Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit liegen sollen und auf welche Weise die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers gegenüber der verfassungsgerichtlichen KonSo Heun, Funktionell-rechtliche Schranken der Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 38. Schlaich / Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, Rn. 515. 48 Vgl. Böckenförde, Zur Lage der Grundrechtsdogmatik, S. 64 ff. 49 Böckenförde, Zur Lage der Grundrechtsdogmatik, S. 66 ff.; ders., Grundrechte als Grundsatznormen: Zur gegenwärtigen Lage der Grundrechtsdogmatik, in: ders., Staat, Verfassung, Demokratie, 1991, S. 159, 191 ff. 46 47

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1. Teil: Verfassungsgerichtsbarkeit im demokratischen Staat

trolle gewährleistet werden kann, sind noch nicht beendet. Vor diesem Hintergrund liegt es nahe, daß der deutschen Literatur und Praxis die amerikanische Reaktionsweise auf das Spannungsverhältnis zwischen dem Supreme Court und dem Gesetzgeber immer wieder auffällt, die zwar in erster Linie durch ihre Funktionsorientierung gekennzeichnet ist, sich vor dem Hintergrund des amerikanischen Verfassungsrechts aber anders als die deutsche Entwicklung der Kontrolldichten darstellt. Gerade im Hinblick auf die Unterschiede bzw. Eigenheiten des amerikanischen Modells verwundert es nicht, daß in Deutschland, wo eine endgültige Lösung zum Gewaltenteilungsproblem noch nicht gefunden ist, den theoretischen und praktischen Erfahrungen der Vereinigten Staaten immer häufiger nachgegangen wird.

2. Das Spannungsverhältnis zwischen Verfassungsgerichtsbarkeit und demokratischer Gesetzgebung als Verfassungsproblem sowohl in Deutschland als auch in den USA a) Verschiedene Hintergründe und gemeinsame Schwierigkeiten Obwohl die Gewichtigkeit des US Supreme Court schon durch die allgemein bekannte Entscheidung Marbury v. Madison verankert wurde50, beruht die Verfassungsgerichtsbarkeit auf einer traditionellen Gewaltenteilungsstruktur im amerikanischen Verfassungsrecht51, die die Justiz im allgemeinen als „the least dangerous“, „the weakest“ Organ darstellt52. Daraus, daß der Supreme Court unter der traditionellen Gewaltenteilungsstruktur keinen Sonderstatus besitzt, ergeben sich über die Gewaltenbalance zwischen Justiz und Legislative in den USA ständige Auseinandersetzungen. Wie oben erwähnt, hat diese strukturelle Voraussetzung eine andere Verfassungstradition geprägt, bei der es sich immer wieder um die institutionelle und funktionelle Begrenzung der Verfassungsgerichtsbarkeit gegenüber der demokratischen Gesetzgebung handelt. Mit seiner aktiven Betätigung und folglich der Vergrößerung seiner Auswirkungen auf die Kompetenzausübung des Gesetzgebers hat der Supreme Court zunehmende Kritik erfahren. Vor allem ist seit der sogenannten Lochner-Ära die Kontrollkompetenz des Supreme Court lang und heftig umstritten53. Die Bezeichnung von „countermajoritarian difficulty“, die 50 „It is emphatically the province and the duty of the judicial department to say what the law is. Those who apply the rule to particular cases must of necessity expound and interpret that rule. If two laws conflict with each other, the courts must decide on the operation of each. . . . This is of the very essence of judicial duty.“ 5 U.S. 137, 177 f. (1803). 51 Vgl. J. Madison, The Federalist Papers, No. 47, in: A. Hamilton / J. Jay / J. Madison, The Federalist Papers, 1961, S. 303. 52 So A. Hamilton, The Federalist Papers, No. 78, in: Hamilton / Madison / Jay, The Federalist Papers, S. 464, 465 f. 53 Diese Auffassung ergibt sich hauptsächlich aus empirischer Sicht: Wegen der Aufhebungen zahlreichender Gesetze durch den Supreme Court während der Lochner-Ära verschärfte sich das Spannungsverhältnis vom Supreme Court zum Gesetzgeber, und dieser Hin-

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im allgemeinen als Ausgangspunkt für die amerikanische Diskussion um die Problematik der Verfassungsgerichtsbarkeit dient, kennzeichnet schon deutlich die Stellung und Situation des Supreme Court unter dem amerikanischen Gewaltenteilungssystem.

b) Antrieb und Ansatzpunkt einer Vergleichung aa) Der funktionsorientierte Ansatz in den USA Wie angedeutet, ist vor dem Hintergrund der amerikanischen Verfassungstradition die Entwicklung des funktionell-rechtlichen Gedankens zur Überwindung der countermajoritarian difficulty des Supreme Court im Vergleich zur deutschen Lage noch folgerichtiger, da der funktionell-rechtliche Gedanke gerade auf die Gewaltenbalance gerichtet ist. Beachtenswert aber: Während die Konkretisierung eines funktionell-rechtlichen Denkens vom Supreme Court auch durch den Aufbau der verschiedenen Prüfungsstandards durchgeführt wurde, hat sie sich ganz anders ausgewirkt. Das Funktions-Modell des Supreme Court besitzt wahrscheinlich eine Eigenart, die der Abstufung der Kontrolldichten des BVerfG fehlt und die der (deutsche) funktionell-rechtliche Ansatz voraussetzt: Es ist dem Wesen nach funktionsorientiert, sachbereichsspezifisch thematisiert und stellt folglich einen „Alles-oderNichts“-Approach54 dar, der, ohne Verhältnismäßigkeitsprinzip als allgemeinem Prüfungsmaßstab, sich an erster Stelle dadurch auszeichnet, daß bereits die Auswahl eines bestimmten Prüfungsmaßstabs die Funktions- und Aufgabenverteilung zwischen dem Supreme Court und dem Gesetzgeber bestimmt und daher schon grundsätzlich das Ergebnis der gerichtlichen Überprüfung andeutet. Während z. B. die Auswahl des dem Gesetzgeber einen großen Gestaltungsspielraum überlassenden „rational basis test“ in einem großen Teil der Fälle das Ergebnis der Verfassungsmäßigkeit impliziert, führt die Anwendung des den Gesetzgeber am strengsten kontrollierenden „strict scrutiny test“ fast immer zur Verfassungswidrig-Erklärung55. Aus der funktionell-rechtlichen Perspektive kann deswegen die amerikanitergrund hat heftigere Auseinandersetzungen über „legitimacy and justification of judicial review“ verursacht. Das bedeutet aber nicht, daß die Debatte darum rein Produkt der LochnerÄra ist; sie läßt sich in der ganzen Geschichte der Vereinigten Staaten immer als Mittelpunkt der amerikanischen Verfassungtheorie ansehen. Dazu vgl. J. H. Choper, The Supreme Court and the Political Branches: Democratic Theory and Practice, S. 810; B. Friedman, The History of the Countermajoritarian Difficulty, Part One: The Road to Judicial Supremacy, S. 339 f. 54 Terminologisch Rau, Selbst entwickelte Grenzen in der Rechtsprechung des United States Supreme Court und des Bundesverfassungsgerichts, S. 251. 55 Dazu näher unten 2. Teil unter III. 2. Vgl. an dieser Stelle auch G. Gunther, Foreword: In Search of Evolving Doctrine on a Changing Court: A Model for a Newer Equal Protection, in: 86 Harv. L. Rev. 1, 1972, S. 8; Rau, Selbst entwickelte Grenzen in der Rechtsprechung des United States Supreme Court und des Bundesverfassungsgerichts, S. 95 – 97; Simons, Grundrechte und Gestaltungsspielraum, S. 110 f.; W. Brugger, Einführung in das öffentliche Recht der USA, 1993, S. 91.

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sche Theorie des Prüfungsstandards den Geist des funktionell-rechtlichen Ansatzes wahrscheinlich kompletter verkörpern und im Ergebnis die Schwierigkeit der Abgrenzung von Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgebung leichter überwinden. Darüber hinaus scheint aus materiell-rechtlicher Sicht das amerikanische Modell auch schon deshalb angemessen, weil es seinen Grundrechtsschutz immer noch auf die typischen subjektiven Rechte beschränkt. In der Weise kann der Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers nicht durch (verfassungsgerichtliche) Entfaltung der objektiven Gehalte der Grundrechte verengt werden, die Krise eines verfassungsgerichtlichen Jurisdiktionsstaates läßt sich insofern leichter vermeiden. Insgesamt hat das amerikanische Modell aus dem Blickwinkel der deutschen Kritiker wahrscheinlich schon eine andere Möglichkeit für die künftige deutsche Entwicklung geschaffen, obwohl es auf einer traditionellen Gewaltenteilungsstruktur, auf einem anderen Verständnis der Grundrechte („constitutional rights and liberties“56), und, prinzipieller beobachtet, auf einer ganz unterschiedlichen Tradition des Common Law basiert57.

bb) Das „Funktions-Modell“ des US Supreme Court als die endgültige Lösung? Aus dem Gesagten ergibt sich, daß den deutschen Kritikern sowohl aus der funktionell-rechtlichen als auch aus der materiell-rechtlichen Perspektive die amerikanische Entwicklung nicht nur eine Kontrastschablone, sondern eine neue Chance zur Reflexion über die deutsche Lage bietet, sofern sie durch eine sachbereichsspezifisch thematisierte Funktions- und Aufgabenverteilung die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers wahrscheinlich stärker gewährleistet, die ferner vor dem Hintergrund des amerikanischen Grundrechtsverständnisses die Möglichkeit des verfassungsgerichtlichen Eingriffs durch die verfassungsgerichtliche Interpretation der Grundrechte als objektiver Normen ausschließt. Während also der Beitrag der Lehre der Kontrolldichten zur Lösung des Gewaltenteilungsproblems noch in Rede steht, kann das amerikanische Funktions-Modell auf den ersten Blick den deutschen Kritikern mindestens Hoffnung darauf machen, daß sich die Abgrenzung von Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgebung durch eine vergleichende Überlegung genauer erklären läßt. Daß die amerikanischen Erfahrungen eine zur Überwindung der heutigen Schwierigkeiten sinnvolle Alternative darstellen und eine Chance zur Reflexion über die deutsche Entwicklung und Debatte bieten, bedeutet aber nicht, daß das Funktions-Modell des Supreme Court tatsächlich zweckmäßiger zur Lösung des Be56 Vgl. hierzu W. Brugger, Grundrechte und Verfassungsgerichtsbarkeit in den USA, 1987, S. 22. 57 Das Zusammenwirken dieser Faktoren oder Elemente hat das eigene „System“ der amerikanischen Grundrechte gebildet, das sich durch die Analyse zur amerikanischen Verfassungsentwicklung (s. unten 2. Teil) zeigen wird.

I. Einführung

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grenzungsproblems der Verfassungsgerichtsbarkeit funktioniert hat. Zwar scheint aus dem Blickwinkel der deutschen Kritik aus funktionell-rechtlicher und materiellrechtlicher Perspektive die amerikanische funktionsorientierte Entwicklung auf den ersten Blick in der Lage, die Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit genauer zu ziehen und den Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers zu garantieren, es läßt sich angesichts einer ganz unterschiedlichen Rechtstradition in den USA jedoch nicht oder mindestens noch nicht sagen, daß die amerikanische Reaktionsweise besser oder erfolgversprechender als die deutsche ist und daher sogar auf Deutschland übertragen werden solle. Eine zutreffende Beurteilung der amerikanischen Entwicklung setzt naturgemäß voraus, daß nicht nur der Stil oder die Tendenz, sondern die Hintergründe dieser Entwicklung in Betracht gezogen werden. Aus dieser Perspektive machen zwar die Eigenarten und Unterschiede der amerikanischen Entwicklungslinie in Reaktion auf das Spannungsverhältnis zwischen dem Verfassungsgericht und dem Gesetzgeber eine vergleichende Beobachtung erforderlich; eine sinnvolle, im Ergebnis für die deutsche Problematik hilfreiche Vergleichung setzt aber ein vollständiges Verständnis für die amerikanische Situation voraus. Dies besagt freilich auch, daß bei der amerikanisch-deutschen Vergleichung selbst die deutschen Entwicklungshintergründe und -eigenheiten ebenfalls nicht vernachlässigt werden dürfen. Vor allem ist nicht zu übersehen, daß, wie erwähnt, die deutsche Debatte trotz einer Annäherung an den amerikanischen Schwerpunkt ihre eigene staatstheoretische Wurzel hat. Die Wiederbelebung der Schmittschen Kritik58 und des KelsenSchmitt-Streits unter dem Grundgesetz zeigt schon deutlich, welch große Auswirkungen die Entwicklungshintergründe einer Rechtsordnung auch auf die Gegenwart haben können. Durch eine sinnvolle Rechtsvergleichung kann die heutige Bedeutung der Kelsen-Schmitt-Kontroverse aber noch stärker verdeutlicht werden, indem der Eigenart der Tradition der deutschen Entwicklungen und den Hintergründen für die deutsche Debatte um die Verfassungsgerichtsbarkeit eingehender nachgegangen wird. Ob und wie die heutige Problematik in Deutschland näher betrachtet und genauer erklärt werden kann, hängt für die vorliegende Untersuchung also davon ab, ob und inwiefern ein Vergleich mit der amerikanischen Situation zu einem vollständigeren Verständnis nicht nur für die amerikanische, sondern auch für die deutsche Entwicklung beitragen kann. In diesem Zusammenhang spielt hier die Rechtsvergleichung daher eine zentrale Rolle. 58 Hier spielt Böckenförde eine große Rolle. Zur Grundlage des Verfassungsdenkens Bökkenfördes vgl. z. B. Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt; ders., Entstehung und Wandel des Rechtsstaatsbegriffs, in: ders., Recht, Staat, Freiheit, 1991, S. 143 ff.; ders., Die Eigenart des Staatsrechts und der Staatsrechtswissenschaft, in: ders., Staat, Verfassung, Demokratie, 1991, S. 11 ff.; N. Manterfeld, Die Grenzen der Verfassung: Möglichkeiten limitierender Verfassungstheorie des Grundgesetzes am Beispiel E.-W. Böckenfördes, 2000, S. 44 ff.; R. Mehring, Carl Schmitt und die Verfassungslehre unserer Tage, in: AöR 120 (1995), S. 177, 195 ff.; ders., Zu den neu gesammelten Schriften und Studien Ernst-Wolfgang Böckenfördes, in: AöR 117 (1992), S. 449 ff.; T. Oppermann, Das Bundesverfassungsgericht und die Staatsrechtslehre, in: P. Badura / H. Dreier (Hrsg.), FS 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, Band I, 2001, S. 421, 448. Vgl. auch Böckenförde, Diskussionsbeitrag, in: VVDStRL 39 (1981), S. 172 ff.

3 Hwang

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1. Teil: Verfassungsgerichtsbarkeit im demokratischen Staat

Gerade auf dieser Erkenntnisgrundlage ist schon vor Beginn der rechtsvergleichenden Untersuchung zu beleuchten, was Rechtsvergleichung heißt, welche Aufgabe sie trägt und wie sie als juristische Methode in der vorliegenden Arbeit verwandt werden soll. Erst dadurch, daß die Eigenart, Aufgabe sowie Funktion der Methode der Rechtsvergleichung richtig begriffen werden, gewinnt eine rechtsvergleichende Untersuchung ihre wesentliche Bedeutung. Während heute schon viele ausführliche Analysen zum Spannungsverhältnis zwischen Verfassungsgerichtsbarkeit und demokratischer Gesetzgebung in vergleichender Darstellung vorhanden sind, sind Ausführungen auf der eigentlich-rechtsvergleichenden Ebene relativ selten. Vor allem ist erstaunlich, daß bisher kaum eine amerikanisch-deutsche Rechtsvergleichung zum heutigen Spannungsverhältnis zwischen Verfassungsgericht und Gesetzgeber von den unterschiedlichen Hintergründen zwischen dem Common Law und der kontinentaleuropäischen Tradition ausgeht, die aus Sicht der vorliegenden Untersuchung aber schon deswegen keinesfalls unterschätzt oder gar ignoriert werden sollten, weil die verschiedenen Hintergründe des Common Law und der kontinentaleuropäischen Tradition die ganz unterschiedlichen juristischen Denkweisen in den USA und der Bundesrepublik Deutschland so entscheidend beeinflußt haben, daß die Rechtstraditionen und -entwicklungslinien in beiden Ländern auch vom Common Law und vom kontinentaleuropäischen Hintergrund unterschiedlich geformt sind59. Gerade auf diesem Hintergrund will die vorliegende 59 Die Arbeiten von Ulrich R. Haltern, Cornelius Simons und Jörg Riecken lassen sich als rechtsvergleichend beurteilen, insofern sie eher problembezogen sind und sich nicht bloß auf das (konträre) Nebeneinanderstellen der amerikanischen und der deutschen Situation beschränken. Vgl. U. R. Haltern, Verfassungsgerichtsbarkeit, Demokratie und Mißtrauen. Das Bundesverfassungsgericht in einer Verfassungstheorie zwischen Populismus und Progressivismus, 1998; Simons, Grundrechte und Gestaltungsspielraum; J. Riecken, Verfassungsgerichtsbarkeit in der Demokratie. Grenzen verfassungsgerichtlicher Kontrolle unter besonderer Berücksichtigung von John Hart Elys prozeduraler Theorie der Repräsentationsverstärkung, 2003. Allerdings kommt auch bei diesen Untersuchungen der grundlegende Unterschied zwischen der common law- und der kontinentaleuropäischen Tradition und seine große Auswirkungen auf die verschiedenen Entwicklungslinien der USA und der Bundesrepublik Deutschland nicht vor. Zur deutsch-amerikanischen Rechtsvergleichung auf der darstellenden bzw. deskriptiven Ebene vgl. z. B. Rau, Selbst entwickelte Grenzen in der Rechtsprechung des United States Supreme Court und des Bundesverfassungsgerichts; W. Brugger, Der moderne Verfassungsstaat aus der Sicht der amerikanischen Verfassung und des Grundgesetzes, in: AöR 126 (2001), S. 337 ff.; ders., Verfassungsstabilität durch Verfassungsgerichtsbarkeit? Beobachtungen aus deutsch-amerikanischer Sicht, in: ders., Demokratie, Freiheit, Gleichheit. Studien zum Verfassungsrecht der USA, 2002, S. 80 ff. Zum internationalen institutionellen Vergleich der Verfassungsgerichtsbarkeit s. etwa A. v. Brünneck, Verfassungsgerichtsbarkeit in den westlichen Demokratien. Ein systematischer Verfassungsvergleich, 1992 (dort S. 24 f. mit zahlreichen Nachw.); K. Zweigert, Einige rechtsvergleichende und kritische Bemerkungen zur Verfassungsgerichtsbarkeit, in: C. Starck (Hrsg.), Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz, Band I, 1976, S. 63 ff.; M. Cappelletti, Judicial Review in the Contemporary World, 1971; M. Cappelletti / T. Ritterspach, Die gerichtliche Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit der Gesetze in rechtsvergleichender Betrachtung, in: JöR N.F. 20 (1971), S. 65 ff. Zur Analyse, die sich ausschließlich auf die amerikanische Entwicklung konzentriert, vgl. etwa M. Schefer, Konkretisierung von Grundrechten durch den US-Supreme

II. Rechtsvergleichung als juristische Methode

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Arbeit versuchen, die Debatte um die Kompetenzabgrenzung zwischen dem BVerfG und dem Gesetzgeber durch die amerikanisch-deutsche Rechtsvergleichung eingehender zu erfassen und genauer zu erklären, die gerade von dem prinzipiellen Unterschied zwischen der common law- und der kontinentaleuropäischen Tradition ausgeht. Durch die (eigentliche) Rechtsvergleichung, deren Methodik sofort unten II. dargelegt ist, zielt die Arbeit darauf ab, durch die Analyse der amerikanischen Entwicklung unter dem Einfluß des Common Law den Angelpunkt zur Überwindung der Schwierigkeit der Kompetenzabgrenzung zwischen dem Verfassungsgericht und dem Gesetzgeber aufzuzeigen und dadurch die heutige deutsche Debatte um die Verfassungsgerichtsbarkeit aus einer unterschiedlichen Perspektive zu untersuchen.

II. Rechtsvergleichung als juristische Methode 1. Die Eigenart der Methode der Rechtsvergleichung Wolfgang Fikentscher hat treffend formuliert, die Rechtsvergleichung habe eine dem Studium der einzelnen nationalen Rechte übergeordnete Betrachtungsweise zum Ziel, die den Gründen von Gemeinsamkeiten und Verschiedenheiten nachgehe. Sie habe ihre eigenen Methoden, die mit den Methodenlehren der einzelnen nationalen Rechte und ihrer vergleichenden Darstellung nichts zu tun hätten.60, 61 Court: zur sprachlichen, historischen und demokratischen Argumentation im Verfassungsrecht, 1997. Besonders bemerkenswert ist das Buch von Oliver Lepsius, das sich zwar nicht mit dem Thema „Verfassungsgerichtsbarkeit in der Demokratie“ befaßt und auf den ersten Blick nur als eine Darstellung der Entwicklungen des amerikanischen Verwaltungsrechts erscheint, die Funktion sowie große Bedeutung einer (eigentlichen) Rechtsvergleichung aber durch die Herausstellung des Elements des Common Law in der amerikanischen Rechtsordnung erfolgreich darstellt. Vgl. O. Lepsius, Verwaltungsrecht unter dem Common Law: Amerikanische Entwicklungen bis zum New Deal, 1997. 60 W. Fikentscher, Methoden des Rechts in vergleichender Darstellung, Bd. I, 1975, S. 39. Zum Unterschied der Methodik der Rechtsvergleichung zur vergleichenden Methodenlehre s. ferner ders., Gedanken zu einer rechtsvergleichenden Methodenlehre, in: Recht im Wandel. Beiträge zu Strömungen und Fragen im heutigen Recht, FS hundertfünfzig Jahre Carl Heymanns Verlag KG, 1965, S. 141, 142; auch ders., Methoden des Rechts in vergleichender Darstellung, Bd. III, 1976, S. 781. 61 An dieser Stelle soll also nur am Rande vermerkt werden, daß in der vorliegenden Arbeit die Methode der Rechtsvergleichung nicht so sehr im Sinne Peter Häberles verstanden wird, der die Rechtsvergleichung als „fünfte Auslegungsmethode“ bezeichnet, die neben den klassischen Savignyschen Auslegungsmethoden nach Wortlaut, Systematik, Geschichte und telos bzw. ratio steht. Dazu P. Häberle, Grundrechtsgeltung und Grundrechtsinterpretation im Verfassungsstaat – Zugleich zur Rechtsvergleichung als „fünfter“ Auslegungsmethode – , in: ders., Rechtsvergleichung im Kraftfeld des Verfassungsstaates: Methoden und Inhalte, Kleinstaaten und Entwicklungsländer, 1992, S. 27, 35 ff.; ders., Aspekte einer kulturwissenschaftlich-rechtsvergleichenden Verfassungslehre in „weltbürgerlicher Absicht“ – die Mitverantwortung für Gesellschaften im Übergang, in: JöR N.F. 45 (1997), S. 555, 561 ff. Zur Analyse 3*

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1. Teil: Verfassungsgerichtsbarkeit im demokratischen Staat

Es ist dennoch nicht zu verkennen, daß die Rechtsvergleichung selbst auch keine fixe und zwar geschlossene Methodik voraussetzt. Daraus stammen viele abgrenzungsorientierte Definitionen oder Diskussionen über die Methode der Rechtsvergleichung, die einerseits die möglichen Schranken der Methode der Rechtsvergleichung setzen, andererseits aber Mißverständnisse über die Eigenart der Methode der Rechtsvergleichung verursachen können. Da die Methoden der Rechtsvergleichung nach Zweck, Gegenstand und geographischem Umfang (usw.) der geplanten Vergleichung variieren62, hängen ihre Grenzen häufig von verschiedenen Untersuchungen ab. In diesem Sinne soll der „nicht-dogmatische“ Charakter der Rechtsvergleichung63 nicht so überspitzt werden, daß die Verwendung der Methode der Rechtsvergleichung im Laufe aller Untersuchungen mit der Rechtsdogmatik gar nichts zu tun haben und im wesentlichen „anti-dogmatisch“64 sein soll, sondern er zielt bestenfalls auf die Funktionsorientierung der Rechtsvergleichung, deren Verhältnis zur Rechtsdogmatik in Wirklichkeit nicht ein kritisch-gespanntes ist65. Die Funktionsorientierung relativiert gleichzeitig die Stellung der Methode der Rechtsvergleichung. Wegen der Funktionsorientierung läßt sich die Stellung der Methode der Rechtsvergleichung nicht allgemein bestimmen; infolgedessen spielen die Auseinandersetzungen über die Stellung der Rechtsvergleichung als eine bloße Methode oder als eine autonome Wissenschaft66 im Verlauf einer Vergleichung auch gar keine Rolle. Eine sinnvolle Verwendung der Rechtsvergleichung als einer wissenschaftlichen Methode der Jurisprudenz67 hängt nicht davon ab, ob oder wie die Rechtsvergleichung als eine bloße Methode oder als eine autonome Wissenschaft gilt, sondern davon, ob die Rechtsvergleichung bedeutsame Funktionen für das zu und Anwendung der Rechtsvergleichung als eines zusätzlichen Mittels zur Verfassungsauslegung, d. h. als „einer zusätzlichen Plausibilitäts- und Rationalitätskontrolle“ für die Verfassungsinterpretation, vgl. etwa A. Weber, Zur Bedeutung der Rechtsvergleichung für die Verfassungsgerichtsbarkeit, dargestellt am Beispiel des Schwangerschaftsabbruchs, in: FS W. Zeidler, 1987, S. 371 ff. 62 So C. Starck, Rechtsvergleichung im öffentlichen Recht, in: JZ 1997, S. 1021, 1026. 63 So H. Kötz, Rechtsvergleichung und Rechtsdogmatik, in: RabelsZ 54 (1990), S. 202 ff. 64 So aber K. Zweigert, Rechtsvergleichung, System und Dogmatik, in: FS E. Bötticher, 1969, S. 443, 448: „Die Rechtsvergleichung ist (also) ihrer Natur nach eine funktionelle und antidogmatische Methode.“ 65 Ähnlich H. Dölle, Rechtsdogmatik und Rechtsvergleichung, in: RabelsZ 34 (1970), S. 403, 406 f.: „Die Rechtsvergleichung leistet genug, wenn sie uns die Augen öffnet für Zusammenhänge (auch systematische, dogmatische!) und Lösungen, die uns bisher nicht vertraut waren, und uns damit in den Stand setzt, bei der Anwendung des eigenen Rechts durch die Verbesserung dieses Rechts im Wege der Gesetzgebung zu vernünftigen Resultaten zu kommen. Wird die Rechtsvergleichung nach ihrer Funktion und ihren Möglichkeiten so verstanden, dann konkurriert sie nicht mit der Rechtsdogmatik, sondern sie gesellt sich ihr als methodischer Partner im Streben nach sozialer Gerechtigkeit.“ 66 Dazu vgl. Léontin-Jean Constantinesco, Rechtsvergleichung, Band I: Einführung in die Rechtsvergleichung, 1971, S. 217 ff. 67 So K. Zweigert / H. Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung auf dem Gebiete des Privatrechts, 3. Aufl. 1996, S. 13.

II. Rechtsvergleichung als juristische Methode

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untersuchende Problem hat. Die Methode der Rechtsvergleichung setzt deswegen eine relativ offene Verwendungsmöglichkeit voraus, um ihre Funktionen zweckmäßig machen und folglich das behandelte Problem lösen zu können. Gerade darin besteht die Eigenart der Methode der Rechtsvergleichung, deren analytische Struktur auf der Funktionsorientierung bzw. auf dem sogenannten „Funktionalitätsprinzip“ [s. unten 3. a)] beruht, das auf eine nähere Erklärung und die Lösung eines inländischen Problems abzielt. Anders formuliert ist der Begriff der Methode der Rechtsvergleichung direkt mit der Funktion oder dem Zweck der Rechtsvergleichung verbunden68. Mit dieser Eigenheit unterscheidet sich die Rechtsvergleichung nicht nur von den Methodenlehren der einzelnen nationalen Rechte, sondern auch von der vergleichenden Darstellung verschiedener Auslandsrechtsordnungen. Dabei sind in erster Linie die deskriptive und die eigentliche Rechtsvergleichung deutlich zu unterscheiden.

2. Deskriptive und eigentliche Rechtsvergleichung Da die Rechtsvergleichung im Ergebnis zum inländischen Rechtsproblem beitragen soll, kann man bei reiner Auslandsrechtskunde noch nicht von Rechtsvergleichung sprechen. „Bloße Kenntnis des ausländischen Rechts ohne tiefgehende Erkenntnis kann nicht zum Selbstzweck rechtsvergleichender Studien werden“69; deswegen ist das Studium oder sogar die vergleichende Darstellung ausländischen Rechts mehrerer ausländischen Rechte noch nicht als die eigentliche Rechtsvergleichung, sondern nur als die deskriptive Rechtsvergleichung anzusehen70. „Von eigentlicher Rechtsvergleichung wird nur dort die Rede sein können, wo im Zuge der Behandlung des Problems, das Gegenstand der konkreten Arbeit bildet, spezifisch vergleichende Überlegungen angestellt werden.“71 Da die vorliegende Arbeit darauf zielt, durch die Untersuchung der amerikanischen Erfahrungen die deutsche Debatte um die Abgrenzung von Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgebung zu examinieren, ist im Verlauf dieser Untersuchung jedenfalls zu bestimmen, inwieweit die amerikanische Entwicklung zur deutschen Debatte beitragen kann; infolgedessen muß die Untersuchung im Hinblick auf ihre Problemorientierung auf der Ebene der eigentlichen Rechtsvergleichung durchgeführt werden. Es ist deshalb am wichtigsten, daß die Ergebnisse dieser beschreibenden oder deskriptiven Rechtsvergleichung zur Lösung konkreter Probleme dienen [unten 3. b)], und deswegen ist es besonders notwendig, eine konkrete Frage an den Anfang der RechtsVgl. aber R. Sacco, Einführung in die Rechtsvergleichung, 2001, S. 13 f. R. David / G. Grasmann, Einführung in die großen Rechtssysteme der Gegenwart, 1989, S. 2, (dazu auch) 18. 70 Zur Terminologie vgl. z. B. Zweigert / Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, S. 6; M. Rheinstein, Einführung in die Rechtsvergleichung, 1987, 28; J. M. Mössner, Rechtsvergleichung und Verfassungsrechtsprechung, in: AöR 99 (1974), S. 193, 197, 224 f. 71 Zweigert / Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, S. 6. 68 69

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1. Teil: Verfassungsgerichtsbarkeit im demokratischen Staat

vergleichung zu stellen72. In diesem Sinne kann man die eigentliche Rechtsvergleichung schon als eine funktionelle Rechtsvergleichung bezeichnen, die trotz Flexibilität einige methodische Grundsätze voraussetzt.

3. Methodik und Aufgabe der funktionellen Rechtsvergleichung a) Das Funktionalitätsprinzip Der Grundsatz der Funktionalität gilt als das methodische Grundprinzip der gesamten Rechtsvergleichung, das im wesentlichen mit der Problemorientierung der Rechtsvergleichung verbunden ist. Die funktionelle Rechtsvergleichung setzt eine auf die Erkenntnis der Funktion der Rechtsnormen zielende, Problemlösungen vergleichende Betrachtungsweise voraus73. Nur dort, wo verschiedene Reaktionen auf ein gleiches (oder ähnliches) Problem vorhanden sind, besteht eine sinnvolle funktionelle Rechtsvergleichung74. In der Tat kann man auch sagen, daß sich die Funktionalität gerade aus der „Grunderfahrung“ ergibt, daß ein gleiches Problem unter verschiedenen Rechtsordnungen oft unterschiedlich gelöst wird75. Wichtig ist deshalb, daß die Ausgangsfrage einer funktionellen Rechtsvergleichung rein problembezogen ist, daß „man sich in der Rechtsvergleichung von seinen eigenen juristisch-dogmatischen Vorurteilen radikal befreien muß.“76

b) Ein lockerer, funktionsgerichteter Systembegriff Mit seinem problembezogenen Charakter bildet das Funktionalitätsprinzip einen lockeren Systembegriff der Rechtsvergleichung, damit das Ziel der eigentlichen, funktionellen Rechtsvergleichung erreicht werden kann77. Der auf dem lockeren Systembegriff beruhende Stufenbau der Methode der Rechtsvergleichung, der in 72 Mössner, Rechtsvergleichung und Verfassungsrechtsprechung, S. 225: „Ausgangspunkt jeglicher Rechtsvergleichung ist eine konkrete Frage. Man möchte wissen, was für eine Antwort mehrere Rechtsordnungen hierauf bereithalten.“ 73 So Rheinstein, Einführung in die Rechtsvergleichung, S. 27. 74 Hierzu Mössner, Rechtsvergleichung und Verfassungsrechtsprechung, S. 198 f.; Zweigert / Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, S. 44. 75 Dazu vgl. Zweigert / Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, S. 33. Dort ist hervorgehoben, daß der Grundsatz der Funktionalität auf der rechtsvergleichenden Grunderfahrung beruht, „daß zwar jede Gesellschaft ihrem Recht im wesentlichen die gleichen Probleme aufgibt, daß aber die verschiedenen Rechtsordnungen diese Probleme, selbst wenn am Ende die Ergebnisse gleich sind, auf sehr unterschiedliche Weise lösen.“ „Die Ausgangsfrage jeder rechtsvergleichenden Arbeit muß deshalb rein funktional gestellt, das zu untersuchende Problem frei von den Systembegriffen der eigenen Rechtsordnung formuliert werden.“ 76 Zweigert / Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, S. 34. 77 Hierzu Zweigert / Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, S. 43 f.

II. Rechtsvergleichung als juristische Methode

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drei Stufen eingeteilt ist78, nämlich die Auslandrechtskunde, die erklärende (oder beschreibende bzw. verstehende) Rechtsvergleichung79 und die Lösung konkreter Probleme nach und nach80, kann deshalb nur die allgemeinen Grundsätze, nicht aber die konkreten Aufgaben oder Zwecke jeder durchgeführten Rechtsvergleichung kennzeichnen. Aus dem Funktionalitätsprinzip folgt weiterhin: Obwohl die Auslandsrechtskunde sowie die Erklärung der Unterschiedlichkeit oder Ähnlichkeit der verglichenen Rechtsordnungen als unentbehrliche Phasen der Methode der Rechtsvergleichung gelten, ist es viel wichtiger, daß die Ergebnisse der beschreibenden oder deskriptiven Rechtsvergleichung, wie erwähnt, zur Lösung konkreter Probleme dienen81. Entscheidend für die Aufgabe der funktionellen Rechtsvergleichung ist deshalb der sogenannte „Oberbegriff“, unter dem die verschiedenen Lösungen aus neuen und vor allem gemeinsamen Perspektiven betrachtet und die Lösungen des untersuchten Problems daraus gefunden werden können82.

c) Über Gleichheit und Unterschiedlichkeit Aufgrund des Grundsatzes der Funktionalität wird ein lockerer Systembegriff gebildet, so daß verglichene Rechtsordnungen unter einem weiten, von der Funktion eines konkreten Vergleichs abhängenden Oberbegriff zusammengefaßt und die untersuchten Probleme durch die Rechtsvergleichung erklärt und gelöst werden können. Schon auf dieser Ebene sind nicht mehr die Gleichheit und Unterschiedlichkeit der zu untersuchenden Probleme sowie Problemlösungen, sondern die Gründe dafür aus Sicht der Rechtsvergleichung von zentraler Bedeutung. Das faßten Konrad Zweigert und Hein Kötz so zusammen: 78 Zu den Stufen der Methode der Rechtsvergleichung vgl. Mössner, Rechtsvergleichung und Verfassungsrechtsprechung, S. 224 f. Auch Zweigert / Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, S. 42 ff. 79 Mössner, Rechtsvergleichung und Verfassungsrechtsprechung, S. 224: „Die Aufgabe dieser Phase des komparativen Prozesses wird jedoch verschieden aufgefaßt: Manche sind der Auffassung, daß hier die Unterschiede zwischen den in der ersten Stufe ermittelten Ergebnissen analysiert und in ihrer Unterschiedlichkeit oder Ähnlichkeit erklärt werden, ohne daß irgendeine Wertung oder Anwendung erfolge; andere hingegen wollen die Ergebnisse der ersten Stufe in die Rechtsordnung, deren Teil sie sind, zurückgliedern, um sie im Gesamtzusammenhang ihres sozialen, menschlichen, moralischen, religiösen, historischen, politischen, wirtschaftlichen und ideologischen Milieus zu sehen.“ Aus beiden diesen Perspektiven kann immerhin diese Stufe nur zu der schon erwähnten „deskriptiven Rechtsvergleichung“ gehören (vgl. ebenda, S. 225). 80 Die dritte Stufe, auf der der eigentliche Vergleich sich erst vollzieht, muß schon am Anfang behandelt werden in dem Sinne, daß das zu untersuchende und lösende Problem vor Beginn eines Vergleiches festzustellen ist. Vgl. Mössner, ebenda, S. 225. 81 Mössner, Rechtsvergleichung und Verfassungsrechtsprechung, S. 224. 82 Zum „Oberbegriff“ auf dem Gebiete der Methode der Rechtsvergleichung s. Zweigert / Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, S. 43; Mössner, Rechtsvergleichung und Verfassungsrechtsprechung, S. 198.

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1. Teil: Verfassungsgerichtsbarkeit im demokratischen Staat „ . . . Die Lösungen der untersuchten Rechtsordnungen sind von allen systematischen Begriffen dieser Rechtsordnungen zu befreien, aus ihren nur-nationalen-dogmatischen Verkrustungen zu lösen und ausschließlich unter dem Aspekt der Funktionalität, der Befriedigung des jeweiligen Rechtsbedürfnisses zu sehen. Stellt man fest, daß gleiche Aufgaben unterschiedlich gelöst werden, so muß man fragen, ob sich dafür Gründe finden lassen . . .“83

Insbesondere wenn als Aufgabe oder Zweck einer Rechtsvergleichung (wie in dieser Untersuchung bezweckt und dargestellt) ein besseres Verständnis für das inländische Recht bestimmt ist84, kann gerade, indem man diesen Gründen nachgeht, eine rechtsvergleichende Untersuchung der Reaktion ausländischer Rechtsordnung auf ein konkretes Problem zur Erklärung oder Lösung des Problems im Inland beitragen. Besteht die potentielle Schwierigkeit der Rechtsvergleichung darin, daß eine rechtsvergleichende Untersuchung einerseits die Schranken oder Grenzen der Auslandsrechtskunde aufgrund ihrer eigenen Kontexte oder Entwicklungshintergründe im Laufe der Rechtsvergleichung, vor allem in der Phase, in der die ausländische Rechtsordnung als Mittel zur Erklärung oder Lösung des inländischen Problems dient, nicht übersehen darf85, sie aber andererseits wegen ihrer Funktionsund Problemorientierungen einer Befreiung von nationalen juristisch-dogmatischen Vorurteilen bedarf, so können diese Gründe als eine hilfreiche Vermittlung zwischen den Grenzen der verglichenen Rechtsordnungen und der Funktionalität der Rechtsvergleichung dienen.

83 Zweigert / Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, S. 43. Diese Zusammenfassung geht weiter: „Das ist ein besonders anspruchsvolles und schwieriges Unternehmen, weil Wirkungsfaktoren aus dem gesamten Bereich des sozialen Lebens in die Betrachtung einzubeziehen sind, dies auch dann, wenn sie eigentlich den Forschungsgegenstand anderer sozialwissenschaftlicher Disziplinen bilden, etwa der Ökonomie, der Soziologie oder der Politikwissenschaft.“ Unter dem Prinzip der Funktionalität aber müssen für jede Rechtsvergleichung nicht alle Perspektiven der Wirkungsfaktoren berücksichtigt werden. 84 Dazu Starck, Rechtsvergleichung im öffentlichen Recht, S. 1023 f.; David / Grasmann, Einführung in die großen Rechtssysteme der Gegenwart, S. 35 ff. ; C. Waldhoff, Verfassungsrechtliche Vorgaben für die Steuergesetzgebung im Vergleich Deutschland-Schweiz, 1996, S. 13; ähnlich R. Sacco, Einführung in die Rechtsvergleichung, S. 19 ff. 85 Solche Schranken oder Begrenzungen finden sich besonders häufig im öffentlichen Recht. Vgl. z. B. H. Nawiasky, Die Gleichheit vor dem Gesetz im Sinne des Art. 109 der Reichsverfassung, in: VVDStRL 3 (1927), S. 25, 26, 43; J. Kaiser, Vergleichung im öffentlichen Recht – Einleitung, in: ZaöRV 24 (1964), S. 391 ff.; R. Bernhardt, Eigenheiten und Ziele der Rechtsvergleichung im öffentlichen Recht, in: ZaöRV 24 (1964), S. 431 ff.; Dolzer, Die staatstheoretische und staatsrechtliche Stellung des Bundesverfassungsgerichts, S. 9 (Vorwort); M. Stolleis, Nationalität und Internationalität: Rechtsvergleichung im öffentlichen Recht des 19. Jahrhunderts, 1998, S. 27. Vgl. dazu sofort unten für weitere Erklärungen.

III. Die Methode der Rechtsvergleichung

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III. Die Methode der Rechtsvergleichung zur Untersuchung der Debatte um das Spannungsverhältnis zwischen dem Verfassungsgericht und dem demokratischen Gesetzgeber 1. Rechtsvergleichung im öffentlichen Recht: Zur Vergleichbarkeit von amerikanischem und deutschem Verfassungsrecht Obwohl die Vergleichung im öffentlichen Recht „älter als das Bewußtsein ihrer Methode“ ist86, schwankt ihre Entwicklungslinie im politischen Wind viel stärker als das inhaltlich stabilere Privatrecht87; und da das öffentliche Recht näher mit der einzelstaatlichen Souveränität verbunden ist88, erscheint die Verwendung der Rechtsvergleichung im öffentlichen Recht komplizierter und beschränkter. Unter dem Funktionalitätsprinzip aber suggeriert dieser Charakter keineswegs die allgemeine Unvergleichbarkeit zwischen verschiedenen öffentlichen Rechtsordnungen, sondern er bedeutet nur, daß die funktionellen Grenzen dieser Rechtsvergleichung zu beachten sind. Wichtig (und überaus interessant für die vorliegende Arbeit) ist, daß die Rechtsvergleichung im öffentlichen Recht von der politischen Wissenschaft unterschieden werden muß. Die Folge also: „Je höher der politische Gehalt einer Institution, desto problematischer die Rechtsvergleichung.“89 Aus dieser Betrachtungsweise kann der sich auf die Verfassungsgerichtsbarkeit konzentrierende Vergleich noch zu einer sinnvollen Rechtsvergleichung gehören90. Trotzdem ist die Vergleichbarkeit zwischen dem amerikanischen und dem deutschen Verfassungsrecht in Bezug auf das Spannungsverhältnis von Verfassungsgerichtsbarkeit und demokratischer Gesetzgebung hier weiter zu behandeln. Die Vergleichbarkeit hängt im wesentlichen auch vom Funktionalitätsprinzip ab, obwohl das Erfordernis von (grundsätzlicher) „Ähnlichkeit der Rechtsstruktur“ gelegentlich betont wird91. „Unvergleichbares kann man nicht sinnvoll vergleiKaiser, Vergleichung im öffentlichen Recht – Einleitung, S. 391. So Stolleis, Nationalität und Internationalität, S. 18. Zur klassischen Ausführung zur Rechtsvergleichung auf dem Gebiet des Privatrechts vgl. etwa E. Rabel, Aufgabe und Notwendigkeit der Rechtsvergleichung (1924 / 67), in: K. Zweigert / H.-J. Puttfarken (Hrsg.), Rechtsvergleichung, 1978, S. 85 ff. 88 Hierzu Stolleis, Nationalität und Internationalität, S. 27. 89 Bernhardt, Eigenheiten und Ziele der Rechtsvergleichung im öffentlichen Recht, S. 435, 437. 90 Vgl. Bernhardt, Eigenheiten und Ziele der Rechtsvergleichung im öffentlichen Recht, S. 437. Nach ihm läßt sich die Verfassungsgerichtsbarkeit als „Grenzfall“ ansehen. Zur Vergleichbarkeit zum Thema Verfassungsgerichtsbarkeit vgl. auch H. Strebel, Vergleichung und vergleichende Methode im öffentlichen Recht, in: ZaöRV 24 (1964), S. 405, 421. Zum Überblick der Verfassungsvergleichung s. F. Münch, Einführung in die Verfassungsvergleichung, in: ZaöRV 33 (1973), S. 126 ff. 91 Vgl. z. B. Bernhardt, Eigenheiten und Ziele der Rechtsvergleichung im öffentlichen Recht, S. 437. Die Forderung als solche wird allerdings zweitrangig, sofern diese Ähnlichkeit auch von den konkreten Funktionen oder Aufgaben des Vergleichs abhängen muß. 86 87

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1. Teil: Verfassungsgerichtsbarkeit im demokratischen Staat

chen, und vergleichbar ist im Recht nur, was dieselbe Aufgabe, dieselbe Funktion erfüllt.“92 Infolgedessen setzt die sinnvolle Rechtsvergleichung, wie schon erwähnt, voraus, daß ein gemeinsames Problem und verschiedene Reaktionsweisen zwischen verglichenen Rechtsordnungen vorliegen; es ist ferner unter dem Funktionalitätsprinzip erforderlich, daß die Reaktionsweise der verglichenen ausländischen Institution zur inländischen Lösung des konkreten Problems beitragen und dadurch die Aufgabe und zugleich Funktion dieses Vergleichs erfüllen kann. Deshalb ist die Vergleichbarkeit zwischen amerikanischem und deutschem Verfassungsrecht nicht durch den großen Unterschied zwischen Common Law und kontinentaleuropäischer Tradition gesperrt, sofern die Problemstellung von Anfang an genau festgelegt ist [s. unten 2. a.)]. Das bedeutet aber freilich nicht, daß die Unterschiede zwischen dem Common Law und der kontinentaleuropäischen Rechtstraditionen keine Rolle spielen. Umgekehrt: Diese Unterschiede dürfen, wie hervorgehoben, schon in der Stufe nicht unterschätzt werden, in der das bereits oben erwähnte amerikanische Funktions-Modell beobachtet und analysiert wird; insbesondere dürfen sie bei der Untersuchung der Gründe sowie Hintergründe für das amerikanische Modell nicht außer acht gelassen werden93. Infolgedessen dient der Einfluß des Common Law während der Erläuterung oder Erklärung der amerikanischen Entwicklungslinie als Schwerpunkt dieser Untersuchung unter der (eigentlich selbstverständlichen) Voraussetzung, daß die Wichtigkeit der Unterschiede zwischen Common Law und kontinentaleuropäischer Tradition sich auf die sogenannte Mikrovergleichung94 beschränkt, die angesichts der Aufgabe oder Funktion dieser rechtsvergleichenden Untersuchung für vorrangig für die vorliegende Arbeit gehalten wird.

92 Zweigert / Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, S. 33. Ergänzend auch H. Krüger, Stand und Selbstverständnis der Verfassungsvergleichung heute, in: Verf. U. R. in Übersee 5 (1972), S. 5, 20. 93 Vgl. Lepsius, Verwaltungsrecht unter dem Common Law, S. 9: „Die prägende Rolle, die das Common Law für die Entwicklung und Denkweise des amerikanischen öffentlichen Rechts spielt, wird gerade wegen der vielen thematischen Gemeinsamkeiten von deutschen Autoren noch zu oft verkannt.“ Vgl. aber A. Scalia, A Matter of Interpretation – Federal Courts and the Law, 1997, S. 13. 94 Im Gegensatz zur Makrovergleichung, die sich mit den Rechtskreisen und Rechtssystemen im Ganzen beschäftigt, bedeutet Mikrovergleichung die Vergleichung, die sich auf die konkreten Einzelprobleme sowie ihre Lösungen konzentriert. Zum Unterschied und Verhältnis von Mikro- und Makrovergleichung vgl. z. B. Zweigert / Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, S. 4 f.; Rheinstein, Einführung in die Rechtsvergleichung, S. 32 ff.; Constantinesco, Rechtsvergleichung, Band I, S. 258 f. Zur Anwendung der Mikrovergleichung im Wissenschaftsrecht vgl. H. Krüger, Rechtsvergleichung im Wissenschaftsrecht, 1992, S. 19 ff.

III. Die Methode der Rechtsvergleichung

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2. Gegenstand und Ziel der vorliegenden Rechtsvergleichung a) Die Problemstellung Da die Methode der Rechtsvergleichung in der vorliegenden Arbeit als die Methode der Untersuchung verwendet wird, muß nach dieser Methode das zu untersuchende Problem in erster Linie genau gestellt werden. Wie oben erwähnt, gilt das Spannungsverhältnis zwischen der Verfassungsgerichtsbarkeit und der demokratischen Gesetzgebung in der Gegenwart schon als die gemeinsame Schwierigkeit für Deutschland und die USA, besonders insofern, als die Betrachtungsperspektive zu diesem Gewaltenteilungsproblem in erster Linie durch die Überschreitung der Grenzen und folglich die Politisierungskrise der Verfassungsgerichtsbarkeit in beiden Ländern ähnlich wird95: Die Ausweitung der Kompetenz des BVerfG hat einen Schwerpunktwechsel in der Debatte um die Verfassungsgerichtsbarkeit verursacht, so daß es sich bei den die Nachwirkung des KelsenSchmitt-Streits widerspiegelnden Auseinandersetzungen schon stärker um die Kompetenzabgrenzung zwischen BVerfG und demokratischem Gesetzgeber handelt, die stets als eines der wichtigsten und schwierigsten Probleme im amerikanischen Verfassungsrecht gilt. Vor diesem Hintergrund entwickelt sich die für die beiden Verfassungsrechtsordnungen geltende und sinnvolle Problemstellung: Auf welche Weise ist die Kompetenz des Verfassungsgerichts gegenüber dem Gesetzgeber genau zu begrenzen? Und weiter (und fundamentaler): Ist eine unpolitische Verfassungsgerichtsbarkeit (entweder theoretisch oder praktisch) zu erwarten? Ist die Entwicklungstendenz zur Politisierung der Verfassungsgerichtsbarkeit und folglich zu einem verfassungsgerichtlichen Jurisdiktionsstaat unausweichlich? In der Praxis haben das BVerfG und der Supreme Court auf das Abgrenzungsproblem unterschiedlich reagiert, so daß die Voraussetzung für die Rechtsvergleichung96 komplett gegeben ist. Ein wesentlich wichtigerer Antrieb der Rechtsvergleichung ist allerdings, daß die amerikanische Reaktionsweise den deut-schen Kritikern zur Bewältigung des Gewaltenteilungsproblems erfolgversprechender scheint, so daß es sich lohnt, die amerikanische Entwicklung näher zu betrachten.

95 Die Bedeutung der Politik ist in beiden Ländern identisch, soweit die Politik im allgemeinen als Kompetenz- und Tätigkeitsbereich des demokratischen Gesetzgebers verstanden wird. Die unterschiedlichen Begriffsbildungen der Politik oder des Politischen in verschiedenen Entwicklungskontexten in Deutschland und den USA sind insofern nicht berücksichtigt. Auch die Rolle der Sprache für einen Rechtsvergleich kommt hier nicht in Betracht; ihre Bedeutung wurde schon viel diskutiert (dazu z. B. S. Braga, Zur Methode der rechtsvergleichenden Arbeit, in: Gedächtnisschrift für Léontin-Jean Constantinesco, 1983, S. 99 ff.; B. Großfeld, Kernfragen der Rechtsvergleichung, 1996, S. 43 ff.; Sacco, Einführung in die Rechtsvergleichung, S. 33 ff.; Starck, Rechtsvergleichung im öffentlichen Recht, S. 1026 ff.). 96 Siehe bereits oben II. 3. a).

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1. Teil: Verfassungsgerichtsbarkeit im demokratischen Staat

b) Die amerikanische Verfassungsentwicklung als Ausgangspunkt der Rechtsvergleichung Vor dem erwähnten Hintergrund dient das amerikanische Funktions-Modell, nämlich die Theorie der Prüfungsstandards, als Gegenstand der rechtsvergleichenden Analyse. Auf welche Weise die verschiedenen Standards sich auf die Interaktion zwischen dem Supreme Court und dem demokratischen Gesetzgeber auswirken, wird dann ausführlich diskutiert. Es ist aber genauso selbstverständlich, daß im Hinblick auf die Aufgabe und Funktion der Rechtsvergleichung die Gründe für das Entwicklungsmodell noch bedeutsamer und nicht zu ignorieren sind. Deshalb müssen die Voraussetzungen für die Entwicklung der Prüfungsstandards ernst genommen werden. Um die amerikanischen Entwicklungshintergründe richtig zu erkennen und zu begreifen, sind drei wichtige Elemente in Betracht zu ziehen, nämlich der Einfluß des amerikanischen Verständnisses für die Grundrechte, der traditionellen Gewaltenteilungsstruktur unter dem amerikanischen Verfassungsrecht und, am wichtigsten, der Tradition des Common Law. Danach stellt sich die Wertungsfrage97: Sind die Politisierungsgefahren der Verfassungsgerichtsbarkeit durch die Prüfungsstandards zu vermeiden? Läßt sich die countermajoritarian difficulty des Supreme Court endlich überwinden? Angesichts des Kontextes der amerikanischen Entwicklungslinie sind diese Fragen vor dem Hintergrund der countermajoritarian difficulty der Verfassungsgerichtsbarkeit auf der einen Seite und des Common Law auf der anderen Seite zu beantworten. Die Ergebnisse der Analyse zur amerikanischen Entwicklung werden dann jedenfalls als Mittel zur Reflexion über die heutige Kritik sowie die gesamte Debatte in Deutschland in der nächsten Phase der Rechtsvergleichung dienen.

c) Die amerikanische Verfassungsentwicklung zur Erklärung der deutschen Kontroverse Wie dargelegt, sollen nach der Methode der Rechtsvergleichung und entsprechend der Zielsetzung der vorliegenden Arbeit die Ergebnisse der Untersuchung zur amerikanischen Entwicklung zu einem eingehenderen Verständnis für die deutsche Problematik sowie zur genaueren Erklärung der deutschen Debatte beitragen. Die Ausgangsfrage lautet also: Was und wie kann man von amerikanischen Erfahrungen lernen? Zwar beruht die ganze amerikanische Entwicklung auf dem Hinter97 Zur Wertung in einer rechtsvergleichenden Untersuchung vgl. Zweigert / Kötz, Einführung in die Recthsvergleichung, S. 46 f.; auch Starck, Rechtsvergleichung im öffentlichen Recht, S. 1029. Vgl. aber auch Krüger, Stand und Selbstverständnis der Verfassungsvergleichung heute, S. 27 f.: „. . . Insbesondere kann es nicht Sinn der Verfassungsvergleichung sein, zur Entdeckung des vollkommenen Staates oder der besten Verfassung, beides für alle Völker, Räume und Zeiten, zu verhelfen: Utopie und Schwärmertum können offenbar nicht Sache oder Stil der Verfassungsvergleichung sein . . .“.

III. Die Methode der Rechtsvergleichung

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grund des Common Law, das der deutschen Tradition fremd ist. Dennoch beschränkt sich der Wert der Analyse zur amerikanischen Entwicklung unter dem Common Law nicht darauf, eine im wesentlichen ganz unterschiedliche Erfahrung darzustellen. Gerade der Unterschied, der vor allem durch die Eigenart des Common Law deutlich gezeigt wird, ist in der Lage, das Wesen des untersuchten Problems zu verdeutlichen und den Mittelpunkt zur Bewältigung dieses Problems widerzuspiegeln, der unter der deutschen bzw. kontinentaleuropäischen Tradition unterschiedlich angesehen und behandelt werden kann. In der Folge kann also die deutsche Debatte, die, wie erwähnt, in gewissem Maße zur Wiederbelebung des Kelsen-Schmitt-Streits geführt hat, aus einer unterschiedlichen, nämlich der amerikanisches und deutsches Recht vergleichenden Perspektive examiniert werden. Beachtenswert ist vor allem, daß gerade aus dem Vergleich mit den Vereinigten Staaten die Eigenarten der deutschen bzw. kontinentaleuropäischen Tradition noch anschaulicher werden können, die in der heutigen deutschen Diskussion nicht immer oder sogar weniger herausgestellt sind, obwohl sie aus der Perspektive der Rechtsvergleichung eine entscheidende Rolle für die Kompetenzabgrenzung zwischen dem Verfassungsgericht und dem Gesetzgeber spielen sollten. Auf dieser Ebene ist zugleich zu erwarten, daß der Kelsen-Schmitt-Streit durch die rechtsvergleichende Untersuchung vor dem Hintergrund „50 Jahre BVerfG“ noch eine große Bedeutung haben und zur Erklärung der heutigen Debatte beitragen kann.

2. Teil

Die Debatte um das Spannungsverhältnis von Verfassungsgerichtsbarkeit zu demokratischer Gesetzgebung in den USA I. Die Einrichtung und Entwicklung der Verfassungsgerichtsbarkeit 1. Anerkennung der (diffusen) Verfassungsgerichtsbarkeit a) Die Rechtfertigung der Verfassungsgerichtsbarkeit durch die Federalist Papers und Marbury v. Madison In den Vereinigten Staaten wurde die Verfassungsgerichtsbarkeit in der Form des diffusen richterlichen Prüfungsrechts (nämlich judicial review) von Anfang an anerkannt. In den Federalist Papers, die stets als Grundlage des amerikanischen Verfassungsgedankens angesehen wurden1, kennzeichnete Alexander Hamilton bereits das Wesen und den Wert der Justiz in der Verfassungsordnung2. Nach Hamilton ist das richterliche Prüfungsrecht zu befürworten und nicht zu befürchten, da die Justiz „the least dangerous“, „the weakest“ (branch) ist3; aus diesem Grund 1 Dazu z. B. O. Lepsius, Besprechung von A. Hamilton / J. Madison / J. Jay, Die „Federalist Papers“, in: AöR 120 (1995), S. 455. Vgl. auch W. Brugger, Freiheit, Repräsentation, Integration. Zur Konzeption politischer Einheitsbildung in den „Federalist Papers“, in: ders., Demokratie, Freiheit, Gleichheit. Studien zum Verfassungsrecht der USA, 2002, S. 311 ff. 2 A. Hamilton, The Federalist Papers, No. 78, in: A. Hamilton / J. Madison / J. Jay, The Federalist Papers, 1961, S. 464 ff. 3 Dies setzt selbstverständlich die Unabhängigkeit der Justiz voraus. Vgl. Hamilton, The Federalist Papers, No. 78, S. 465 f.: „[T]he judiciary, from the nature of its functions, will always be the least dangerous to the political rights of the Constitution; because it will be least in a capacity to annoy or injure them. The executive not only dispenses the honors but holds the sword of the community. The legislature not only commands the purse but prescribes the rules by which the duties and rights of every citizen are to be regulated. The judiciary, on the contrary, has no influence over either the sword or the purse; no direction either of the strength or of the wealth of the society, and can take no active resolution whatever. It may truly be said to have neither force nor will but merely judgment; and must ultimately depend upon the aid of the executive arm even for the efficacy of its judgments. . . . It proves incontestably that the judiciary is beyond comparison the weakest of the three departments of the power; that it can never attack with success either of the other two; and that all possible care is requisite to enable it to defend itself against their attacks. It equally proves that though individual oppression may now and then proceed from the courts of justice, the general

I. Entwicklung der Verfassungsgerichtsbarkeit

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kann erwartet werden, daß die Justiz in der Lage ist, das Recht einschließlich der Verfassung ohne Gefährdung für die anderen Staatsorgane oder die Verfassungsordnung zu interpretieren und folglich die Volkssouveränität zu garantieren, indem sie den Vorrang der Verfassung bzw. die Willensäußerung des Volkes durch die Verfassungsrechtsprechung wahrnimmt4, 5. Auf diese Weise läßt sich das richterliche Prüfungsrecht verfassungsrechtlich legitimieren, solange die Justiz ihre „Gefahrlosigkeit“ beibehält, indem sie streng von der Legislative und der Exekutive entfernt bleibt6. Das richterliche Prüfungsrecht wurde dennoch erst in der paradigmatischen Entscheidung Marbury v. Madison7 verankert. Es ist auf jeden Fall zu bejahen, daß diese Entscheidung eine zentrale Bedeutung für die Etablierung der gerichtlichen Kontrolle über Akte der Gesetzgebung besitzt, insbesondere vor dem Hintergrund, daß der Inhalt sowie die konkrete Reichweite der Kompetenz der Justiz in der amerikanischen Verfassung nicht ausdrücklich bestimmt sind8. In diesem Fall, dessen berühmter Sachverhalt hier nicht wiederholt werden muß9, führte Chief Justice liberty of the people can never be endangered from that quarter; I mean so long as the judiciary remains truly distinct from both the legislature and the executive. For I agree that „there is no liberty if the power of judging be not seperated from the legislative and executive powers.“ And it proves, in the last place, that as liberty can have nothing to fear from the judiciary alone, but would have everything to fear from its union with either of the other departments . . .“ (Hervorhebung von der Verfasserin) 4 Hamilton, The Federalist Papers, No. 78, S. 467 f.: „ . . . It is far more rational to suppose that the courts are designed to be an intermediate body between the people and the legislature in order, among other things, to keep the latter within the limits assigned to their authority. The interpretation of the laws is the proper and peculiar province of the courts. A constitution is, in fact, and must be regarded by the judges as, a fundamental law. It therefore belongs to them to ascertain its meaning as well as the meaning of any particular act proceeding from the legislative body. If there should happen to be an irreconcilable variance between the two, that which has the superior obligation and validity ought, of course, to be preferred; or, in other words, the Constitution ought to be preferred to the statute, the intention of the people to the intention of their agents. Nor does this conclusion by any means suppose a superiority of the judicial to the legislative power. It only supposes that the power of the people is superior to both, and that where the will of the legislature, declared in its statutes, stands in opposition to that of the people, declared in the Constitution, the judges ought to be governed by the latter rather than the former. They ought to regulate their decisions by the fundamental laws rather than by those which are not fundamental.“ (Hervorhebung von der Verfasserin) 5 Insofern ist die Kompetenz der Gerichte durch ein demokratisches Argument gerechtfertigt. Siehe dazu E.-W. Böckenförde, Verfassungsgerichtsbarkeit: Strukturfragen, Organisation, Legitimation, in: ders., Staat, Nation, Europa, 2. Aufl. 2000, S. 157, 162. 6 Es ist deshalb wichtig, daß das richterliche Prüfungsrecht streng gebunden ausgestaltet ist. Vgl. Hamilton, The Federalist Papers, No. 78, S. 471: „. . . To avoid an arbitrary discretion in the courts, it is indispensible that they should be bound down by strict rules and precedents which serve to define and point out their duty in every particular case that comes before them . . .“ 7 5 U.S. 137 (1803). 8 Siehe Art. III Sec. 2 The Constitution of The United States.

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2. Teil: Verfassungsgerichtsbarkeit in den USA

John Marshall ausdrücklich aus, daß die Gerichte die Zuständigkeit haben, die Verfassung und Gesetze auszulegen und die Akte von anderen Verfassungsorganen zu überprüfen10. Aus dem Grund war die Ausweitung der Original Jurisdiction des Supreme Court durch Gesetze (nämlich Abschnitt 13 des Judiciary Act von 1789) wegen Verfassungswidrigkeit (Art. III Sec. 2 Constitution) einerseits zu verneinen; andererseits aber konnte der Kläger William Marbury folglich auch nicht vom Supreme Court den Rechtsbehelf bekommen, den er beantragt hatte, einen sogenannten writ of mandamus nämlich. Im Ergebnis hat die Entscheidung nicht nur die gerichtliche Überprüfungskompetenz verankert, sondern eine politische Turbulenz verhindert11. Obwohl Marshalls Begründung in Marbury v. Madison aus verschiedenen Perspektiven bestritten und kritisiert werden kann12, ist sie durchaus als legitime 9 Vgl. z. B. D. Currie, The Constitution in the Supreme Court: The First Hundred Years 1789 – 1888, 1985, S. 66 ff.; Clinton, Marbury v. Madison and Judicial Review, S. 81 ff.; B. Schwartz, A History of the Supreme Court, 1993, S. 39 ff. Auch W. Brugger, Grundrechte und Verfassungsgerichtsbarkeit in den USA, 1987, S. 5 – 9; ders., Kampf um die Verfassungsgerichtsbarkeit: 200 Jahre Marbury v. Madison, in: JuS 2003, S. 320, 320 f.; G. Robbers, Die historische Entwicklung der Verfassungsgerichtsbarkeit, in: JuS 1990, S. 257, 259; W. Hoffmann-Riem, Das Ringen um die verfassungsgerichtliche Normenkontrolle in den USA und Europa, in: JZ 2003, S. 269, 269 f.; W. Heun, Die Geburt der Verfassungsgerichtsbarkeit – 200 Jahre Marbury v. Madison, in: Der Staat 42 (2003), S. 267 ff. Zur Bewertung dieses Falls etwa R. L. Clinton, Marbury v. Madison and Judicial Review, 1989; W. E. Nelson, Marbury v. Madison: The Origins and Legacy of Judicial Review, 2000; M. Troper, The Logic of Justification of Judicial Review, in: International Journal of Constitutional Law (I.CON), 2003, S. 99, 104. 10 Marbury v. Madison, 5 U.S. 137, S. 174 ff.: „ . . . If congress remains at liberty to give this court appellate jurisdiction, where the constitution has declared their jurisdiction shall be original; and original jurisdiction where the constitution has declared it shall be appellate; the distribution of jurisdiction, made in the constitution, is form without substance. ... . . . The distinction between a gevernment with limited and unlimited powers is abolished, if those limits do not confine the persons on whom they are imposed, and if acts prohibited and acts allowed, are of equal obligation. It is a proposition too plain to be contested, that the constitution controls any legislative act repugnant to it; or, that the legislature may alter the constitution by an ordinary act. ... Certainly all those who have framed the written constitutions contemplate them as forming the fundamental and paramount law of the nation, and . . . that an act of the legislature, repugnant to the constitution, is void. ... It is emphatically the province and duty of the judicial department to say what the law is. . . . . . . So if a law be in opposition to the constitution; if both the law and the constitution apply to a particular case, so that the court must either decide that case conformably to the law, disregarding the constitution; or conformably to the constitution, disregarding the law; the court must determine which of these conflicting rules governs the case. This is of the very essence of judicial duty.“ (Hervorhebung von der Verfasserin) 11 Vgl. z. B. P. Kahn, The Reign of Law: Marbury v. Madison and the Construction of America, 1997, S. 10: „Marbury seeks to displace a politics of revolution by the rule of law.“

I. Entwicklung der Verfassungsgerichtsbarkeit

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Quelle und materielle Grundlage der Kontrollkompetenz des Supreme Court anzusehen, insbesondere aus der Sicht, daß sie sich geistig auf die Federalist Papers zurückführen läßt. Gerade auf der Basis zeigen sich ebenfalls dieser Charakter und die Eigenheit der Verfassungsgerichtsbarkeit unter der amerikanischen Verfassungsordnung.

b) Die Verfassungsgerichtsbarkeit unter traditioneller Gewaltenteilungsstruktur Die Entscheidung Marbury v. Madison gibt das Argument der Federalist Papers insofern wieder, als sie aufgrund des Vorrangs der Verfassung und der Befürwortung der gerichtlichen Kontrolle über Akte des Gesetzgebers getroffen ist. Dabei ist zu beachten, daß die Argumente in Marbury v. Madison und den Federalist Papers auf einer Vorstellung von traditioneller bzw. Montesquieuscher Gewaltenteilungsstruktur basieren13. Unter traditioneller Gewaltenteilungsstruktur hat sich die Justiz trotz ihrer Zuständigkeit zur Überprüfung von Gesetzen verfassungsrechtlich von der gesetzgebenden Gewalt bzw. von der Politik scharf zu unterscheiden. Insofern kommt die grundgesetzliche Idee vom „Hüter der Verfassung“14 im amerikanischen Verfassungsrecht nicht vor. In der Sicht der Federalist Papers gilt die Justiz sogar als the least dangerous, the weakest Organ, und deswegen droht keine Gefahr, auch wenn die Justiz die Rolle des Verfassungsinterpreten spielt. Aus dieser Perspektive setzte Marbury v. Madison eine immer von der Politik entfernte Verfassungsgerichtsbarkeit voraus, als sie die Kontrollkompetenz des Supreme Court behauptete. Mehr oder weniger hat sich diese Vorstellung eigentlich auch in der begrenzten Zuständigkeit des Supreme Court widergespiegelt. Die Voraussetzung von „case or controversy“15 für die Verfassungsgerichtsbarkeit, die Erfordernisse wie das „advisory opinions-Verbot“16, die „standing-“17 und die „political que-

12 Zur Übersicht über die Kritik s. G. Stone / L. Seidman / C. Sunstein / M. Tushnet, Constitutional Law, 3. ed., 1996, S. 31 ff. 13 Dies zeigt sich genauso durch das Zitat des Anspruchs Montesquieus in J. Madison, The Federalist Papers, No. 47, S. 303: „Were the power of judging joined with the legislative, the life and liberty of the subject would be exposed to arbitrary control, for the judge would then be the legislator.“ Zur scharfen Gewaltentrennung von Justiz und Gesetzgebung im amerikanischen Gewaltenteilungs-system s. auch R. Pound, Common Law and Legislation, in: 21 Harv. L. Rev. 383 (1908), S. 403. 14 Mit der Aufgabe der Garantie der Gesetz- und Verfassungsmäßigkeit ist das BVerfG als Hüter der Verfassung in dem Sinne bezeichnet, daß es durch seine Überprüfung der parlamentarischen Gesetze der politischen Gewalt (verfassungs-)rechtliche Grenzen zieht. Dazu vgl. etwa Denkschrift des Bundesverfassungsgerichts vom 27. Juni 1952: Die Stellung des Bujndesverfassungsgerichts, in: JöR N.F. 6 (1957), S. 144. Auch BVerfGE 1, 184 (195): „Bei der Normenkontrolle nach Art. 93 Abs. 1 Ziff. 2 GG steht die Aufgabe des BVerfG als Hüter der Verfassung durchaus im Vordergrund.“ 15 Zur Terminologie s. Art. III Sec. 2 The Constitution of The United States.

4 Hwang

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2. Teil: Verfassungsgerichtsbarkeit in den USA

stions-Doktrin“18 enthält, besagt, daß nach dem strengen Gewaltenteilungsprinzip „[t]he courts may rule only in the context of a constitutional case“19. Vor diesem Hintergrund steht dem Supreme Court die Kompetenz der abstrakten Normenkon16 Dieses Verbot deutet an, die Gerichte dürften ohne konkrete „Fälle oder Kontroverse“ ihre Meinung zur Verfassungsmäßigkeit der Akte der Legislative oder der Exekutive nicht äußern. Dazu etwa Stone / Seidman / Sunstein / Tushnet, Constitutional Law, S. 90 f. 17 Die standing-Doktrin bestimmt, wer unter welchen Voraussetzungen eine Verfassungsverletzung besonderer Interessen vor dem Supreme Court geltend machen kann. Dazu näher Stone / Seidman / Sunstein / Tushnet, Constitutional Law, S. 91 – 121; W. Haller, Supreme Court und Politik in den USA. Fragen der Justiziabilität in der höchstrichterlichen Rechtsprechung, 1972, S. 147 – 161; C. Rau, Selbst entwickelte Grenzen in der Rechtsprechung des United States Supreme Court und des Bundesverfassungsgerichts, 1995, S. 55 – 57; Brugger, Grundrechte und Verfassungsgerichtsbarkeit in den USA, S. 15 f. 18 Nach der political questions-Doktrin sind Kontroversen, die ihrer Natur nach als „politisch“ und nicht als justitiabel beurteilt werden, nicht durch den Supreme Court zu entscheiden. Zu Elementen dieser Doktrin vgl. Baker v. Carr, 369 U.S. 186, 217 (1962). Dies entspricht auf den ersten Blick der Anforderung der „unpolitischen“ Justiz unter der traditionellen Gewaltenteilungsstruktur, ruft jedoch in der Praxis Zweifel hervor, ob und inwieweit die Doktrin eine „politische Verfassungsrechtsprechung“ verhindern kann und sogar, ob die Doktrin überhaupt sinnvoll ist. Dazu näher Stone / Seidman / Sunstein / Tushnet, Constitutional Law, S. 121 – 143. Kritisch vor allem L. Henkin, Is There a „Political Question“ Doctrine?, in: 85 Yale L. J. 597 (1976). Zur deutschen Diskussion vgl. etwa Rau, Selbst entwickelte Grenzen in der Rechtsprechung des United States Supreme Court und des Bundesverfassungsgerichts, S. 64 – 94; Haller, Supreme Court und Politik in den USA, S. 180 – 288; M. Piazolo, Verfassungsgerichtsbarkeit und politische Fragen. Die Political Question Doctrin im Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht und dem Supreme Court der USA, 1994, S. 29 – 51; Brugger, Grundrechte und Verfassungsgerichtsbarkeit in den USA, S. 17 – 21; ders., Verfassungsstabilität durch Verfassungsgerichtsbarkeit? Beobachtungen aus deutschamerikanischer Sicht, in: ders., Demokratie, Freiheit, Gleichheit. Studien zum Verfassungsrecht der USA, 2002, S. 80, 94 f.; C. Gusy, Parlamentarischer Gesetzgeber und Bundesverfassungsgericht, S. 52 – 58. Zur Übertragbarkeit dieser Doktrin auf Deutschland etwa C. Landfried, Bundesverfassungsgericht und Gesetzgeber. Wirkungen der Verfassungsrechtsprechung auf parlamentarische Willensbildung und soziale Realität, 1984, S. 151 ff.; R. Dolzer, Verfassungskonkretisierung durch das Bundesverfassungsgericht und durch politische Verfassungsorgane, 1982, S. 27 ff.; Piazolo, Verfassungsgerichtsbarkeit und politische Fragen, S. 70 – 76; ders., Das Bundesverfassungsgericht und die Beurteilung politischer Fragen: Zu den Grenzen verfassungsrechtlicher Kontrolle, in: ders. (Hrsg.), Das Bundesverfassungsgericht. Ein Gericht im Schnittpunkt von Recht und Politik, 1995, S. 243, 253 ff.; H.-P. Schneider, Verfassungsgerichtsbarkeit und Gewaltenteilung. Zur Funktionsgerechtigkeit von Kontrollmaßstäben und Kontrolldichte verfassungsgerichtlicher Entscheidung, in: NJW 1980, S. 2103, 2104; K. Vogel, Das Bundesverfassungsgericht und die übrigen Verfassungsorgane. Bundesverfassungsgerichtliche Argumentationsfiguren zu den Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit, 1988, S. 23 – 32; neuerdings J. Riecken, Verfassungsgerichtsbarkeit in der Demokratie. Grenzen verfassungsgerichtlicher Kontrolle unter besonderer Berücksichtigung von John Hart Elys prozeduraler Theorie der Repräsentationsverstärkung, 2003, S. 429 – 432; P. Unruh, Der Verfassungsbegriff des Grundgesetzes: eine verfassungstheoretische Rekonstruktion, 2002, S. 523 f. 19 Stone / Seidman / Sunstein / Tushnet, Constitutional Law, S. 88. Zur Voraussetzung von „case or controversy“ vgl. auch P. G. Kauper, Judicial Review of Constitutional Issues in the United States, in: H. Mosler (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit in der Gegenwart, 1962, S. 568, 589 ff.; Brugger, Grundrechte und Verfassungsgerichtsbarkeit in den USA, S. 13 f.

I. Entwicklung der Verfassungsgerichtsbarkeit

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trolle nicht zu20. Weiterhin führt die Verfassungswidrigerklärung eines Gesetzes durch den Supreme Court zur Unanwendbarkeit des Gesetzes nur im konkreten Streitfall21. Somit besitzt der Supreme Court unter der amerikanischen Verfassung vom Anfang an keine entsprechende Stellung im Vergleich zum BVerfG im Grundgesetz. Unter einer traditionellen Gewaltenteilungsstruktur soll der Supreme Court typischerweise unpolitisch sein22. Erst mit diesem Charakter kann der Supreme Court zweckmäßig fungieren. Anders formuliert: Die Kontrollkompetenz des Supreme Court ist aus der Sicht der Federalist Papers sowie Marbury v. Madison gerade durch den unpolitischen Charakter der Justiz gerechtfertigt. Institutionell kam der unpolitische, sozusagen „gefahrlose“ und „schwache“ Supreme Court weiterhin durch die Federalist Papers und Marbury v. Madison zustande. Allerdings beschränkt sich die praktische Kompetenzausübung des Supreme Court nicht auf diese institutionelle Anordnung, sondern der Supreme Court entwickelt sich genauso unter dem Einfluß des Common Law, das trotz des Hintergrunds der traditionellen Gewaltenteilungsstruktur den Status des Supreme Court beträchtlich verstärkt hat. Die prägende Rolle des common law-Hintergrunds, der in den USA für selbstverständlich gehalten wird und daher der amerikanischen Diskussion nicht besonders auffällt, hat in der Tat die Entwicklung der amerikanischen Verfassungsgerichtsbarkeit immer wieder begleitet, so daß sich die Probleme und die Reaktionsweisen in den USA ohne Kenntnis der Hintergrundrolle des Common Law nicht verstehen lassen. Deshalb ist im folgenden aufzuzeigen, in welcher Weise das Common Law sich auf alle Phasen der amerikanischen theoretischen und praktischen Entwicklung auswirkt. Hinsichtlich der Problemstellung der vorliegenden Arbeit ist besonders von Bedeutung, welche Rolle das Common Law im Spannungsverhältnis von Verfassungsgerichtsbarkeit und demokratischer Gesetzgebung gespielt und inwiefern es den amerikanischen Entwicklungsapproach, die amerikanische Reaktionsweise auf dieses Spannungsverhältnis sowie ihre Auswirkungen grundlegend beeinflußt hat.

20 Dazu D. Kommers, The Constitutional Jurisprudence of the Federal Republic of Germany, 1989, S. 15; Kauper, Judicial Review of Constitutional Issues in the United States, S. 605 f. 21 Zu diesem strengen „fallbezogenen“ Charakter der amerikanischen Verfassungsgerichtsbarkeit und weiter zum Modell der Verfassungsgerichtsbarkeit in vergleichender Darstellung vgl. Böckenförde, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 171 ff. Zum institutionellen Unterschied zwischen der amerikanischen und der deutschen Verfassungsgerichtsbarkeit auch R. Wahl, Elemente der Verfassungsstaatlichkeit, in: JuS 2001, S. 1041, 1046. 22 Dazu auch Böckenförde, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 171: „Verfassungsgerichtsbarkeit bleibt voll in die normale Rechtsprechung einbezogen, ihr spezifisch politikbezogener Charakter wird nicht hervorgehoben oder anerkannt, sondern eher negiert.“ Zum unpolitischen Charakter des Supreme Court vgl. auch R. McCloskey, The American Supreme Court, 3. Aufl. 2000, S. 6 ff.

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2. Teil: Verfassungsgerichtsbarkeit in den USA

c) Die Verfassungsgerichtsbarkeit unter dem Common Law aa) Zum Begriff des Common Law: Eine Vorklärung Im Hinblick auf die entscheidende Bedeutung des Common Law sowohl für diesen Teil als auch für die ganze rechtsvergleichende Arbeit ist eine Begriffsvorklärung zum Common Law erforderlich, wenngleich der Begriff des Common Law schwer zu erfassen ist23. In erster Linie ist angesichts des Gegenstands der vorliegenden Untersuchung darzustellen, daß sich dieser Begriff im Kontext der Arbeit nicht auf das englische, sondern auf das amerikanische Common Law bezieht24, das eine geschriebene Verfassung voraussetzt und sich infolgedessen im Bereich des Verfassungsrechts anders auswirkt als in England25. Zudem sollte betont werden, daß der Begriff des Common Law hier an erster Stelle als eine Methode verstanden wird, die nicht nur die richterliche Fallrechtsmethode bedeutet, die hauptsächlich die Bindung an die Präjudizien (nämlich stare decisis) herausstellt, sondern sich auf die Koexistenz der Befolgung der Präzedenzfälle und der case by case-Abwägung im konkreten Fall bezieht26 und dadurch die Stabilität sowie die 23 So treffend W. Heun, Verfassungsrecht und einfaches Recht–Verfassungsgerichtsbarkeit und Fachgerichtsbarkeit, in: VVDStRL 61 (2002), S. 81, 81 (Fn. 3). Zum Begriff des Common Law vgl. z. B. O. Lepsius, Verwaltungsrecht unter dem Common Law: Amerikanische Entwicklungen bis zum New Deal, 1997, S. 31 ff. 24 Trotzdem bestehen noch Gemeinsamkeiten zwischen englischer und amerikanischer Rechtsdenkweise. Zum englischen Recht schrieb G. Radbruch in: Der Geist des englischen Rechts, 3. Aufl. 1956, S. 35: „Die . . . Methodik des Case-Law hält sich selbst nicht für eine Methode schöpferischer Rechtserzeugung aus der Idee des Rechts, sie glaubt vielmehr, eine empirisch-induktive Rechtsfindung aus der Natur der Sache zu sein. Deshalb ist das englische Rechtsdenken viel wirklichkeitsnäher als das kontinentale Rechtsdenken. Der englische Richter ist an dem Sachverhalt, welcher der Entscheidung zugrunde liegt, viel weitergehend interessiert als der deutsche Richter.“ Diese Eigenart der englischen Case-Law-Tradition kann auf das amerikanische Common Law übertragen werden. Zu diesem Charakter ähnlich R. Pound, What is the Common Law?, in: The Future of the Common Law, 1937, S. 3, 18 f.: „Behind the characteristic doctrines and ideas and techniques of the common-law lawyer there is a significant frame of mind. It is a frame of mind which habitually looks at things in the concrete, not in the abstract; which puts its faith in experience rather than in abstractions. It is a frame of mind which prefers to go forward cautiously on the basis of experience from this case or that case to the next case, as justice in each case seems to require, instead of seeking to refer everything back to supposed universals. It is a frame of mind which is not ambitious to deduce the decision for the case in hand from a proposition formulated universally . . . It is the frame of mind behind the sure-footed Anglo-Saxon habit of dealing with things as they arise instead of anticipating them by abstract universal formulas.“ Zitiert in: K. Zweigert / H. Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung auf dem Gebiete des Privatrechts, 3. Aufl. 1996, S. 253. 25 Hierzu unten bb); d); III. 1. a). 26 Es wurde schon gezeigt, daß stare decisis in den USA nicht so streng befolgt wird wie in England. Vgl. H. F. Stone, The Common Law in the United States, in: 50 Harv. L. Rev. 4 (1936), S. 8 f.; Zweigert / Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, S. 254 f. Auch im Vergleich zu anderen Rechtsgebieten ist stare decisis im Verfassungsrecht weniger verbindlich. Vgl. C. A. Miller, The Supreme Court and the Uses of History, 1969, S. 16 f.; G. Seyfarth,

I. Entwicklung der Verfassungsgerichtsbarkeit

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Flexibilität gerichtlicher Kompetenzausübung gewährleistet27. Insoweit verbindet sich der konkrete Inhalt des Common Law im wesentlichen mit den gerichtlichen Entscheidungen, die in der Arbeit die Entscheidungen des Supreme Court fokussieren. Auf diese Weise ist im Kontext der Arbeit dem Common Law im Lichte und im Sinne des amerikanischen Verfassungsrechts nachzugehen28.

bb) Die Verfassungsgerichtsbarkeit vor dem Hintergrund des Common Law Das amerikanische Recht hat sich zweifellos auf der Grundlage des CommonLaw-Gedankens entwickelt29. Die Hintergrundrolle des Common Law auf allen Die Änderung der Rechtsprechung durch das Bundesverfassungsgericht, 1998, S. 43 ff. Zu stare decisis vgl. ferner F. Schauer, Precedent, in: 39 Stan. L. Rev. 571 (1987). 27 Hierzu unten II. 2.; III. 2. b). Vgl. an dieser Stelle vor allem F. Schauer, Playing by the Rules: A Philosophical Examination of Rule-Based Decision-Making in Law and in Life, 1991, S. 181: „As a method, [the common law] is most associated with comparatively or completely transparent rules of thumb, seeking case-specific optimization rather than rule-based stability. And as a method, the common law is only contingently related to those subjects, such as property, contract, and tort, that in common law countries have been substantially developed by use of that method. It is also a method used to develop a law pursuant to the implicit authorization in broad statutory terms, and it is, according to some, even a method that should influence our understanding of statutes in canonical form.“ 28 Trotz der „Debatte um eine Trennung von öffentlichem Recht (regulation) und Common Law“ ist nicht zu verleugnen, daß das amerikanische Verfassungsrecht immer noch durch das Common Law geprägt ist in dem Sinne, daß die verfassungsrechtliche Entwicklungslinie durch die Entscheidungen des Supreme Court geleitet wird. Oliver Lepsius hat zutreffend formuliert: „Die entscheidenden Konkretisierungen der Verfassung erfolgen durch die Judikatur des U.S. Supreme Court, so daß das herkömmliche und vom Common Law gewohnte Verfahren des Fallrechts wie selbstverständlich zur Behandlung verfassungsrchtlicher Fragen angewendet wird und sich das Verfassungsrecht methodisch vom Common Law nicht wesentlich unterscheidet.“ Lepsius, Verwaltungsrecht unter dem Common Law, S. 28 f. 29 Dazu allgemein R. Cappalli, The American Common Law Method, 1997; R. B. Stevens, Law School: Legal Education in America From the 1850s to the 1980s, 1983; S. Feldman, American Legal Thought from Premodernism to Postmodernism: An Intellectual Voyage, 2000, S. 50 ff., 91 ff.; auch W. Fikentscher, Methoden des Rechts in vergleichender Darstellung, Bd. II: Anglo-amerikanischer Rechtskreis, 1975, S. 58 ff., 140 ff. Die common-law Grundlage bezeichnet Fikentscher als die Grundlage des Fallrechts. Zum ideellen und historischen Hintergrund des Common Law für die USA s. W. E. Nelson, Americanization of the Common Law: The Impact of Legal Change on Massachusetts Society, 1760 – 1830, 1975; J. R. Stoner, Common Law and Liberal Theory: Coke, Hobbes, and the Origins of American Constitution, 1992. Zum Unterschied zwischen englischem und amerikanischem Common Law im allgemeinen vgl. P. S. Atiyah / R. S. Summers, Form and Substance in Anglo-American Law: A Comparative Study of Legal Reasoning, Legal Theory, and Legal Institutions, 1987; auf dem Gebiet des Verfassungsrechts s. R. Pound, The Development of American Law and its Deviation from English Law, in: 67 Law Quarterly Review 49 (1951), S. 58 f.; ders, The Spirit of the Common Law, 1921, S. 75; H. Jacob / E. Blankenburg / H. Kritzer / D. M. Provine / J. Sanders, Courts, Law, and Politics in Comparative Perspective, 1996, S. 4; auch Heun, Verfassungsrecht und einfaches Recht, S. 82 ff. Zum Einfluß der common law-

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2. Teil: Verfassungsgerichtsbarkeit in den USA

Rechtsgebieten zeigt sich darin, daß das Common Law als ein juristisches Denkmodell dient, „in dem Substanz und Verfahren untrennbar aufeinander bezogen sind und dessen Rechtsquellen das Fallrecht und überpositive Rechtsgrundsätze sind“30. In dieser Weise zeichnet sich das amerikanische Rechtsdenken vor allem durch das Fallrecht („case law“) bzw. durch die richterliche Rechtsbildung aus. Die Autorität des Common Law besagt die Autorität des „judge-made law“, die den bedeutsamen Status der Justiz verkörpert und ferner das Gesetzesrecht unterordnet, dem die Tradition des Common Law skeptisch gegenübersteht31. Vor diesem Hintergrund hat das Common Law zumindest die Voraussetzung zugunsten der Gerichte geschaffen, die trotz der erwähnten institutionellen Anordnung im amerikanischen Verfassungsrecht unverändert bleibt, weil die Gerichte unter dem Common Law immerhin das letzte Wort haben32. Infolgedessen verwundert es nicht, daß die common law-Tradition im wesentlichen eine prägende Bedeutung für die Entwicklung der amerikanischen Verfassungsgerichtsbarkeit hat. Auf dieser Grundlage kann die Kompetenzausübung des Supreme Court unter dem Common Law Auswirkungen auf das Verhältnis von Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgebung haben. Mit anderen Worten kann der Supreme Court unter dem Common Law in Wirklichkeit nur dann unpolitisch erscheinen, wenn er keine Entscheidung trifft oder in seiner Entscheidung kein Gesetz für verfassungswidrig erklärt. So war die Praxis der Verfassungsgerichtsbarkeit der Vereinigten Staaten in früherer Zeit. Nach Marbury v. Madison wurde 54 Jahre lang kein Bundesgesetz vom Supreme Court für verfassungswidrig erklärt33, so daß das Spannungsverhältnis von Common Law zu Gesetzesrecht (und deswegen auch von Supreme Court zu Gesetzgeber) damals noch nicht offensichtlich geworden ist. Anders formuliert: Das Common Law hat sich in diesem Zeitraum noch nicht offensichtlich auf die Stellung sowie die praktische Bedeutung des Supreme Court im Gewaltenteilungssystem ausgewirkt.

Tradition auf die Verfassungsinterpretation s. D. Strauss, Common Law Constitutional Interpretation, in: 63 U. Chi. L. Rev. 877 (1996). 30 Lepsius, Verwaltungsrecht unter dem Common Law, S. 35 f. 31 Dazu Lepsius, Verwaltungsrecht unter dem Common Law, S. 37 ff. In diesem Sinne können nicht nur die kontinentaleuropäische Tradition, sondern auch Gesetzesrecht als Kontrastbegriff des Common Law dienen. Zur Kritik des Vorrangs des Common Law gegenüber der Gesetzgebung auf der Grundlage des demokratischen Staates s. Pound, Common Law and Legislation, S. 403 ff. 32 Dazu Lepsius, Verwaltungsrecht unter dem Common Law, S. 40. Auch Pound, The Development of American Law and its Deviation from English Law, S. 49 f. 33 Hierzu Stone / Seidman / Sunstein / Tushnet, Constitutional Law, S. 504. Die zweite Erklärung der Verfassungswidrigkeit eines Bundesgesetzes kam in Dred Scott v. Sanford, 60 U.S. (19 How.) 393 (1857). Siehe unten 2.

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d) Die Grundrechte im amerikanischen Verfassungsrecht: Grundrechtsschutz durch die Verfassungsgerichtsbarkeit Nicht nur das Common Law selbst, sondern sein Zusammenwirken mit der Aufgabe des Supreme Court haben dazu beigetragen, die Rolle des Supreme Court zu stärken. Auf der Grundlage des Common Law ist es in der amerikanischen Verfassungstradition absolut denkbar, daß der Grundrechtsschutz durch die Gerichte, vor allem durch den Supreme Court, verwirklicht werden muß, denn in Amerika werden Gesetze typischerweise als eine Grundrechts- bzw. Freiheitsbedrohung34 angesehen35, während der gerechtfertigte Verfassungsausleger Supreme Court wegen des Vorrangs der freiheitssichernden Verfassung36 die Aufgabe hat, den Gesetzgeber an die Verfassung zu binden und dadurch die Grundrechte des einzelnen zu gewährleisten. Auf dieser Ebene wird es auch verständlich, wie die sich aus dem Common Law entwickelnde Rule of Law mit dem Due Process of Law verbunden ist. Die Rule of Law, Bestandteil des Verfassungsgedankens unter der common 34 In der amerikanischen Verfassungstradition ist der Begriff des Grundrechts typischerweise durch den des Freiheitsrechts gekennzeichnet. Vgl. z. B. Lepsius, Besprechung von P. Kirchhof / D. Kommers (Hrsg.), Deutschland und sein Grundgesetz, in: AöR 119 (1994), S. 161, 162; W. Cole Durham, Das Grundgesetz – eine grundsätzliche Bewertung aus amerikanischer Sicht, in: P. Kirchhof / D. P. Kommers (Hrsg.), Deutschland und sein Grundgesetz: Themen einer deutsch-amerikanischen Konferenz, 1993, S. 41, 46; D. Grimm, Rückkehr zum liberalen Grundrechtsverständnis?, in: ders., Die Zukunft der Verfassung, 1991, S. 221, 224 f.; ders., Deutsche Verfassungsgeschichte 1776 – 1866. Vom Beginn des modernen Verfassungsstaates bis zur Auflösung des Deutschen Bundes, 1988, S. 132 f.; M. Kriele, Einführung in die Staatslehre, 3. Aufl. 1988, S. 156 ff. Zur engen Verbindung zwischen der Freiheitsidee und dem Individualismus unter dem common law-Gedanken vgl. Pound, The Spirit of the Common Law, S. 13 f., 35 ff., 100 ff. Dazu näher unten III. 1. a). 35 Dazu Lepsius, Verwaltungsrecht unter dem Common Law, S. 208, auch 49 ff.; ders., Besprechung von P. Kirchhof / D. Kommers (Hrsg.), Deutschland und sein Grundgesetz, S. 162; Durham, Das Grundgesetz – eine grundsätzliche Bewertung aus amerikanischer Sicht, S. 52 f.; U. Di Fabio, Das Recht offener Staaten: Grundlinien einer Staats- und Rechtstheorie, 1998, S. 76 f. Vgl. auch J. Masing, Die US-amerikanische Tradition der Regulated Industries und die Herausbildung eines europäischen Regulierungsverwaltungsrechts. Constructed Markets on Networks vor verschiedenen Rechtstraditionen, in: AöR 128 (2003), S. 558, 562, 566 f. Die Bezeichnung der Gesetze als Freiheitsbedrohung in den USA ist auch vor dem Hintergrund verständlich, daß die Suprematie des Parlaments Englands nicht vom amerikanischen Verfassungsrecht aufgenommen wurde. Dazu vgl. Pound, The Development of American Law and its Deviation from English Law, S. 58 f.; ders., Common Law and Legislation, S. 402; ders., The Spirit of the Common Law, S. 75, 122 f. 36 Dazu Lepsius, Besprechung von A. Hamilton / J. Madison / J. Jay, Die „Federalist Papers“, S. 457; Madison, The Federalist Papers, No. 51, S. 321 f.; Pound, The Development of American Law and its Deviation from English Law, S. 59. Wegen des „vorrechtlichen“ bzw. „vor-konstitutionellen“ Grundrechtsverständnisses aber war am Anfang der amerikanischen Verfassung heftig umstritten, ob es notwendig sei, in der Verfassung individuelle Grundrechte gegenüber dem Staat mit begrenzten Befugnissen auszubilden. Hierzu vgl. Durham, Das Grundgesetz– eine grundsätzliche Bewertung aus amerikanischer Sicht, S. 46. Auch J. E. Nowak / R. D. Rotunda, Constitutional Law, 5th. ed., 1995, § 11.1, S. 365 f. zur Federalists-AntifederalistsKontroverse über die Inkorporation von individuellen Grundrechten in die Verfassung.

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law-Tradition und deswegen mit dem deutschen Begriff des Rechtsstaatsprinzips nicht gleich zu behandeln37, betont den Grundrechtsschutz durch das Gerichtsverfahren38 und fokussiert infolgedessen die Bedeutung des Due Process of Law für die Garantie der individuellen Grundrechte39, die erst durch die Gerichte zu verwirklichen ist. Vor diesem Hintergrund impliziert die Aufgabe des Supreme Court, die Grundrechte des einzelnen unter dem common law-System zu gewährleisten, trotz des unpolitischen Charakters der Institution der Justiz das unvermeidliche Konfliktverhältnis zwischen der Verfassungsgerichtsbarkeit und der demokratischen Gesetzgebung im amerikanischen Verfassungsrecht. Das Common Law hat den Supreme Court in den Vordergrund gerückt. Das Gewaltenteilungssystem unter dem amerikanischen Verfassungsrecht hat dennoch einen Supreme Court bestimmt und gefordert, der gegenüber dem demokratischen Gesetzgeber mit Politik nichts zu tun hat40. Übt der Supreme Court auf dieser Grundlage seine Zuständigkeit der Verfassungsauslegung aus, so daß seine Kompetenz mit dem Gesetzgeber in Konflikt gerät, so führt seine paradoxe Rolle unvermeidlich zur erheblichen Kontroverse über die Abgrenzung von der Verfassungsgerichtsbarkeit und der Gesetzgebung. Aus dieser Perspektive liegt es nahe, daß die Lochner-Ära als ein entscheidender Zeitpunkt für die Debatte um die Verfassungsgerichtsbarkeit angesehen wird41. 37 Vgl. dazu E.-W. Böckenförde, Entstehung und Wandel des Rechtsstaatsbegriffs, in: ders., Recht, Staat, Freiheit, 1991, S. 143, 144 (insb. Fn. 4); Fikentscher, Methoden des Rechts II, S. 133 ff.; M. Kriele, Einführung in die Staatslehre, S. 109 ff.; ders., Das demokratische Prinzip im Grundgesetz, in: VVDStRL 29 (1971), S. 46, 49 f.; Lepsius, Verwaltungsrecht unter dem Common Law, S. 208 – 213; E. Fraenkel, Das amerikanische Regierungssystem, 4. Aufl. 1981, S. 196 ff. 38 Die Verwirklichung der Rule of Law durch das Gerichtsverfahren ist auch in Marbury v. Madison verkörpert: „The government of the United States has been emphatically termed a government of laws, and not of men.“ 5 U.S. 137 (1803), S. 163. 39 Dazu Fikentscher, Methoden des Rechts II, S. 135; M. Kriele, Einführung in die Staatslehre, 109; Fraenkel, Das amerikanische Regierungssystem, S. 171 ff., 175 ff.; Lepsius, Verwaltungsrecht unter dem Common Law, S. 209 ff. Nach Lepsius ist Due Process die Konsequenz der Rule of Law. 40 In den Federalist Papers hat Hamilton die Kompetenz der Justiz nicht ohne Rücksicht auf die common law-Tradition behauptet, indem er die Bedeutung von Präzedenzfällen betonte (s. oben Fn. 6). Zur Verbindung vom Argument in den Federalist Papers und dem common law-Gedanken s. auch J. Stoner, Common Law and Liberal Theory, S. 207 ff. Unbeachtet oder ignoriert von Hamilton bleibt aber wahrscheinlich, daß die Bindungswirkung der Präzedenzfälle nicht absolut und deswegen nur eine Seite des Common Law ist. Entscheidend ist vielmehr die zentrale Rolle der Gerichte unter dem common law-System, die an erster Stelle durch das richterliche Recht auf die Wahl zwischen der Bindung an die Präzedenzfälle und der case by case-Abwägung gekennzeichnet ist [hierzu unten II. 2. b); III. 2. b)]. Insofern ist Alexander Bickels Kritik zutreffend, daß das Argument der Federalist Papers „sich einer Erklärung für den undemokratischen Charakter der Justiz entzogen hat.“ Siehe dazu unten II. 1. 41 Zur (großen) Bedeutung der Lochner-Ära für die Debatte um die Verfassungsgerichtsbarkeit vgl. L. Tribe, American Constitutional Law-Vol. One, 3rd. ed. 2000, S. 302 ff.;

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2. Zuspitzung des Spannungsverhältnisses von Verfassungsgerichtsbarkeit zu Gesetzgebung seit der „Lochner-Ära“ Obwohl das Spannungsfeld von institutioneller Anordnung der traditionellen scharfen Gewaltentrennung zur common law-Tradition in der amerikanischen Verfassungsgeschichte immer existierte, hat es erst seit Mitte des 19. Jahrhunderts wegen zunehmender und aktiverer Kompetenzausübung des Supreme Court zur heftigen Kontroverse geführt. Repräsentativ war zunächst die berüchtigte Entscheidung Dred Scott v. Sanford42, die ein Bundesgesetz, das die Sklaverei auf dem Gebiet der Louisiana Territory verbot, aufgrund Verstoßes gegen den verfassungsrechtlichen Eigentumsschutz nach der Due Process of Law-Klausel für verfassungswidrig erklärte43. Es ist kein Wunder, daß diese Entscheidung wegen ihres Ergebnisses und (vielleicht wichtiger) ihrer eine kontroverse Ideologie zugrunde legenden Argumentation scharfe und ständige Kritik hervorgerufen hat44. Bemerkenswerter ist aber, daß zum zweiten Mal in der Geschichte der amerikanischen Verfassungsgerichtsbarkeit eine Entscheidung zur Aufhebung eines Bundesgesetzes große Bedeutung für die Entwicklung und Debatte um die Kompetenz der Verfassungsgerichtsbarkeit hatte45. In diesem Sinne wirkte Dred Scott nach. Durch den Begriff des „substantive Due Process of Law“, der durch die Interpretation der Due Process of Law-Klausel durch den Supreme Court entwickelt war46, wurde die VerB. Friedman, The History of the Countermajoritarian Difficulty, Part Three: The Lesson of Lochner, in: 76 N.Y.U. L. Rev. 1383 (2001), S. 1390, (im einzelnen aber auch) 1439 ff. 42 Dred Scott v. Sandford, 60 U.S. (19 How.) 393 (1857). 43 Für einen kritischen Überblick vgl. Currie, The Constitution in the Supreme Court: The First Hundred Years, S. 263 ff. 44 Die auf einer Rassendiskriminierung basierende Ideologie hat sich durch das rechtlich angreifbare Argument dieser Entscheidung deutlich gezeigt. Vgl. dazu Currie, The Constituiton in the Supreme Court: The First Hundred Years, S. 265 ff.; Stone / Seidman / Sunstein / Tushnet, Constitutional Law, S. 504 f.; Schwartz, A History of the Supreme Court, S. 105 ff. 45 Vgl. dazu Stone / Seidman / Sunstein / Tushnet, Constitutional Law, S. 504 f. 46 Durch die Entwicklung der Doktrin des „substantive Due Process of Law“ sind die wichtigen fundamentalen (und vor allem nicht deutlich geschriebenen) Rechte, damals in erster Linie die Vertragsfreiheit, in den Schutzbereich der Due Process-Klausel einbezogen worden. Vgl. Stone / Seidman / Sunstein / Tushnet, Constitutional Law, S. 813; P. Rosen, The Supreme Court and Social Science, 1972, S. 46 ff.; ausführlich Friedman, The History of the Countermajoritarian Difficulty, Part Three: The Lesson of Lochner, S. 1413 ff. Allgemein zur Entwicklung des substantive due process H. Ehmke, Wirtschaft und Verfassung. Die Verfassungsrechtsprechung des Supreme Court zur Wirtschaftsregulierung, 1961, S. 270 – 289. Zur Entwicklung der substantive Due Process of Law-Klausel im Zusammenhang mit dem naturrechtlichen Denkens in der amerikanischen Verfassungstradition s. C. G. Haines, The Revival of Natural Law Concepts: A Study of the Establishment and of the Interpretation of Limits on Legislature with special reference to the Development of certain phases of American Constitutional Law, 1965, S. 104 – 232; B. F. Wright, Jr., American Interpretations of Natural Law: A Study in the History of Political Thought, 1962, S. 298 – 306. Zum Verhältnis von Vertragsfreiheit und Eigentumsschutz vgl. auch J. B. Attanasio, Die persönlichen und wirtschaftlichen Grundrechte in der amerikanischen Rechtspolitik, in: Kirchhof / Kommers

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tragsfreiheit nicht nur als ein wichtiges Grundrecht angesehen, sondern gewissermaßen zum Mittel zur Ausweitung der Kompetenz des Supreme Court47. Im Jahr 1905 erging die bedeutsame Entscheidung Lochner v. New York48, deren Erklärung der Verfassungswidrigkeit eines die Maximalarbeitsstunden der Arbeiter von Bäkkereien limitierenden Gesetzes des Staates New York den Verfassungswert und die -stellung der Vertragsfreiheit (oder im allgemeinen der Laissez Faire-Ideologie) in der Due Process-Klausel widergespiegelt und eine Ära eröffnet hat, in der der aktive Supreme Court durch seine Rolle als „Hüter des Laissez Faire-Geistes“ gekennzeichnet werden konnte49. Nach Lochner hat der Supreme Court über 200 Wirtschafts- und Sozialgesetze (von Bund oder Ländern) wegen einer Verletzung des Due Process, in Wirklichkeit wegen „einer Verletzung mit der als Due Process identifizierten Wirtschaftsideologie“50 aufgehoben51. Auf der einen Seite waren in der sogenannten Lochner-Ära die Grundrechte der Vertragsfreiheit und des Eigentumsschutzes durch den Supreme Court fast vorbehaltlos garantiert, soweit unter der common law-Tradition die Akte der Legislative nicht als die Ausübung der „Police Power“ anerkannt wurden52. Dabei gipfelte die freiheitssichernde Funktion (Hrsg.), Deutschland und sein Grundgesetz, S. 249, 255: „Aus ökonomischer Sicht war dieses Ideal der Vertragsfreiheit eine logische Erweiterung der Eigentumsrechte: Wenn eine Gesellschaft das Recht auf Innehabung von Eigentum garantiert, wäre der nächste logische ökonomische Schritt die Garantie des Rechts, es zu erwerben.“ 47 Dazu Stone / Seidman / Sunstein / Tushnet, Constitutional Law, S. 813 ff.; Friedman, The History of the Countermajoritarian Difficulty, Part Three: The Lesson of Lochner, S. 1413 ff., 1419 ff.; H. Hovenkamp, The Cultural Crises of the Fuller Court, in: 104 Yale L. J. 2309 (1995), S. 2312. 48 Lochner v. New York, 198 U.S. 405 (1905). 49 Zur Debatte um die Verbindung der Kompetenzausübung des Supreme Court in der Lochner-Ära und der Laissez Faire-Ideologie vgl. etwa Friedman, The History of the Countermajoritarian Difficulty, Part Three: The Lesson of Lochner, S. 1420 ff. 50 So Lepsius, Verwaltungsrecht unter dem Common Law, S. 54. 51 Zu statistischen Daten siehe Lepsius, Verwaltungsrecht unter dem Common Law, S. 54; Rosen, The Supreme Court and Social Science, S. 49. 52 Zur früheren Entwicklung dieses Begriffs s. Ehmke, Wirtschaft und Verfassung, S. 127 – 133, 289 – 312. Vor dem common law-Hintergrund gilt die „Police Power“ des Gesetzgebers traditionellerweise als Kehrseite des grundrechtlichen Schutzbereiches bzw. des Freiheitsoder Eigentumsschutzbereiches. Vgl. hierzu Lepsius, Verwaltungsrecht unter dem Common Law, S. 55 ff., 56: „Die Police Power umfaßt traditionellerweise einen Kompetenzbereich, dessen Betätigung vom Common Law nicht als Verletzung von Freiheit und Eigentum angesehen wird. Fällt eine Regelung unter die Police Power, kann sie keine Verletzung der Eigentumsfreiheit sein, liegt eine Eigentumsverletzung vor, kann das Gesetz nicht als Ausübung der Police Power gerechtfertigt werden.“ In der Lochner-Ära aber wurde die Reichweite der Police Power streng ausgelegt, so daß die grundrechtliche Schutzfunktion des Supreme Court klar dargestellt wurde. Vgl. C. Sunstein, Lochner’s Legacy, in: 87 Colum. L. Rev. 873 (1987), S. 877: „The scope of the „police power,“ as understood in the Lochner era, has never been entirely clear. But there can be no doubt that most forms of redistribution and paternalism were ruled out.“ Dennoch ist nicht zu verkennen, daß in der Lochner-Ära auch viele Gesetze für verfassungsmäßig erklärt wurden. Entscheidender Beurteilungsmaßstab war, ob der betroffene Sachverhalt (grundsätzlich aufgrund von Präzedenzfällen) zur Police Power

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der Verfassung und Verfassungsgerichtsbarkeit darin, daß der Laissez Faire-Wirtschaftsliberalismus des Supreme Court vor dem common law-Hintergrund53 dazu führte, daß „Gesetze, die das freie Spiel des Marktes von Angebot und Nachfrage – auch auf dem Arbeitsmarkt – zu gefährden drohten, tendenziell verfassungswidrig waren.“54 Auf der anderen Seite aber hat die häufige Aufhebung von Wirtschafts- und Sozialgesetzen des Bundes oder der Staaten unvermeidlich zu scharfen Auseinandersetzungen geführt55. Während des New Deal erschien dem Gesetzgeber die Kompetenz des Supreme Court so bedrohlich ausgeübt56, daß der damalige Präsident Franklin Roosevelt 1937 darauf mit dem „Court-packing Plan“ reagierte57, der in der Folge gescheitert ist, dessen Bedeutung oder Auswirkungen aber noch feststellbar sind, insbesondere im Lichte des Falls West Coast Hotel Co. v. Parrish58, 59. Gerade im Jahr 1937 hat auch der Supreme Court durch die Entscheidung West Coast Hotel die Lochner-Ära beendet, indem er von seinem Standpunkt in Lochner abwich, den Präzedenzfall Adkins v. Children’s Hospital verweigerte60 und die Verfassungsmäßigkeit einer Bestimmung des Minimalgehaltes durch ein Staatsgesetz anerkannte. Einerseits hat dieser Wechsel wahrscheinlich ein „happy ending“ geschaffen; andererseits aber konnte er wegen komplizierter Hintergründe des Falls die Kontroverse über das Verhältnis zwischen Recht und Politik nicht zu Ende bringen61. Das Spannungsverhältnis zwischen Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgebung ist deswegen durch die aktive Kompetenzausübung des Supreme Court veroder zum Schutzbereich des Freiheitsrechts oder Eigentums zählte. Vgl. hierzu Stone / Seidman / Sunstein / Tushnet, Constitutional Law, S. 829 ff.; Currie, The Constitution in the Supreme Court: The Second Century 1888 – 1986, S. 139 ff., 208 ff. 53 Zum Verhältnis zwischen laissez-faire-Ideologie und Common Law vgl. Fraenkel, Das amerikanische Regierungssystem, S. 201 ff. 54 Lepsius, Verwaltungsrecht unter dem Common Law, S. 53 f. 55 Hierzu Friedman, The History of the Countermajoritarian Difficulty, Part Three: The Lesson of Lochner, S. 1384 ff. 56 Die gerichtlichen Verfassungswidrigerklärungen im New Deal (besonders 1935 – 1936) beruhten nicht nur auf einer Verletzung des Due Process, sondern auf mehreren Gründen (Verletzung der Commerce Clause u. a.). Vgl. im einzelnen Currie, The Constitution in the Supreme Court: The Second Century 1888 – 1986, S. 216 ff.; McCloskey, The American Supreme Court, S. 111 ff. Vgl. auch J. Wieland, Die Entwicklung der Wirtschaftsregulierung in den Vereinigten Staaten von Amerika, in: Die Verwaltung 18 (1985), S. 84, 93 f. 57 Dazu Currie, The Constitution in the Supreme Court: The Second Century 1888 – 1986, S. 235; McCloskey, The American Supreme Court, S. 113, 117. 58 West Coast Hotel Co. v. Parrish, 300 U.S. 379 (1937). 59 Vgl. zur Verbindung von court-packing plan und der Entscheidung Parrish („switch in time that saved Nine“) B. Friedman, The History of the Countermajoritarian Difficulty, Part Four: Law’s Politics, in: 148 U. Pa. L. Rev. 971 (2000), S. 973 ff. Vgl. aber Currie, The Constitution in the Supreme Court: The Second Century 1888 – 1986, S. 236. 60 Adkins v. Children’s Hospital, 261 U.S. 525 (1923). 61 Zum politischen Einfluß auf diese Entscheidung vgl. Friedman, The History of the Countermajoritarian Difficulty, Part Four: Law’s Politics, S. 1057 ff.

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2. Teil: Verfassungsgerichtsbarkeit in den USA

schärft worden. Die mittels der Due Process-Klausel die (Freiheits-)grundrechte garantierende Verfassungsgerichtsbarkeit unter dem Common Law und die Wirtschafts- und Sozialgesetzgebung stehen seither offenbar gegeneinander. Im Hinblick auf die (oben 1.) dargestellten Hintergründe kann das Spannungsverhältnis im wesentlichen als die Realisierung des Konfliktes zwischen dem Common Law und der traditionellen Gewaltenteilungsstruktur angesehen werden. Angesichts der Erfahrungen in der Lochner-Ära kann also das fundamentale Dilemma nicht mehr außer acht gelassen werden. Aus dieser Perspektive hat sich seither der Schwerpunkt der Debatte um die Abgrenzung zwischen Verfassungsgerichtsbarkeit und demokratischer Gesetzgebung dahin verlagert, wie die Balance zwischen der Tradition des Common Law und der der strengen Gewaltenteilung zu erzielen ist, oder anders formuliert, wie die Verfassungsgerichtsbarkeit unter dem Common Law von Politik entfernt bleiben kann. Erst auf dieser Grundlage läßt sich das Wesen der ganzen gegenwärtigen Kontroverse sowie der praktischen Entwicklung der Verfassungsgerichtsbarkeit durch den Supreme Court im amerikanischen Kontext verstehen, wenngleich auf den ersten Blick der Ausgangspunkt der heutigen Debatte an erster Stelle durch die Konzentration auf die Sicherung von unpolitischer Verfassungsgerichtsbarkeit sowie gesetzgeberischem Gestaltungsspielraum gekennzeichnet ist. Angesichts der Entwicklung des seit der Lochner-Ära stärker gewordenen Supreme Court hat in erster Linie die These Aufmerksamkeit erregt, daß der die gesetzgeberischen, politischen Entscheidungen kassierende und deswegen selbst „politisierte“ Supreme Court durch die Einschränkung und zwar Verletzung der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers eine Gefährdung für die repräsentative Demokratie sein könnte. Dies wird verständlicher, wenn man es auch in Betracht zieht, daß sich in der Lochner-Ära viele Wirtschafts- und Sozialgesetze aufhebende Entscheidungen auf heftig umstrittene Sozialprobleme bezogen62. Aus demokratischer Perspektive ist daher die Legitimität der Verfassungsgerichtsbarkeit problematisch geworden, und gerade aus der „demokratischen These“ entstand die berühmte Bezeichnung oder Problemstellung von der „countermajoritarian difficulty“, die erstmals 1962 in Alexander M. Bickels „The Least Dangerous Branch“ erschien. Trotz dieser Problemstellung, die seither immer wieder als Ausgangspunkt der Debatte um die Verfassungsgerichtsbarkeit gilt und daher den Schwerpunkt der amerikanischen Diskussion darstellt, ist mittlerweile die Hintergrundrolle des Common Law nicht zu ignorieren, das die Denkweise amerikanischer Theoretiker im allgemeinen entscheidend beeinflußt und dadurch die Eigenart des Spannungsverhältnisses zwischen dem Supreme Court und dem demokratischen Gesetzgeber widerspiegelt, die der deutschen Debatte fehlt.

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Besonders bemerkenswert: Die Umstände der Great Depression.

II. Die Debatte um die Verfassungsgerichtsbarkeit

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II. Die Debatte um die Verfassungsgerichtsbarkeit aus demokratischer Perspektive 1. Die „countermajoritarian difficulty“ der Verfassungsgerichtsbarkeit: Bickels Behauptung als Ausgangspunkt Bickels These in „The Least Dangerous Branch“ geht davon aus, daß die Verfassungsgerichtsbarkeit eine countermajoritarian Gewalt im amerikanischen Gewaltenteilungssystem ist63. Nach Bickel ist die Demokratie durch die majority rule gekennzeichnet, die nicht der Supreme Court, sondern der den Willen des Volkes repräsentierende Gesetzgeber vollzieht. In diesem Sinne sei die Verfassungsgerichtsbarkeit „undemokratisch“64. Aufgrund derselben Überzeugung kritisiert er das Argument in Marbury v. Madison und den Federalist Papers, das sich einer Erklärung für den undemokratischen Charakter der Justiz entzogen hat65. Aus der These, daß die Verfassungsgerichtsbarkeit der countermajoritarian difficulty unvermeidlich begegne, ergebe sich die Behauptung der Verweigerung der Verfassungsgerichtsbarkeit aber nicht. Trotz der countermajoritarian difficulty sei die Verfassungsgerichtsbarkeit durch die Rolle als Hüter oder Garant der (in der amerikanischen Gesellschaft anerkannten) Prinzipien zu rechtfertigen, denn neben der Befriedigung von unmittelbaren materiellen Bedürfnissen, die Aufgabe des Gesetzgebers sei, solle die Regierung ebenfalls für die Garantie der ständigen Werte sorgen, die im Hinblick auf den eigenartigen Charakter der Justiz66 nur durch die Verfassungsgerichtsbarkeit erfüllt werden könne67. Darauf, daß die Ver63 Vgl. A. Bickel, The Least Dangerous Branch: The Supreme Court at the Bar of Politics, 1986, S. 16: „The root difficulty is that judicial review is a counter-majoritarian force in our system.“ 64 Bickel, The Least Dangerous Branch, S. 17. 65 Dazu Bickel, The Least Dangerous Branch, S. 1 ff.; 16 f. 66 Bickel, The Least Dangerous Branch, S. 25 f.: „Courts have certain capacities for dealing with matters of principle that legislatures and executives do not possess. Judges have, or should have, the leisure, the training, and the insulation to follow the ways of the scholar in pursuing the ends of government. . . . Another advantage that courts have is that questions of principle never carry the same aspect for them as they did for the legislature or the executive. . . . The courts are concerned with the flesh and blood of an actual case. This tends to modify, perhaps to lengthen, everyone’s view. It also provides an extremely salutary proving ground for all abstractions; it is conductive, in a phrase of Holmes, to thinking things, not words, and thus to the evolution of principle by a process that tests as it creates.“ 67 Gerade dadurch sei die Kompetenz der Gerichte (vor allem des Supreme Court) gerechtfertigt. Hierzu Bickel, The Least Dangerous Branch, S. 58: „[J]udicial review is the principled process of enunciating and applying certain enduring values of our society. . ..the root idea is that the process is justified only if it injects into representative government something that is not already there; and that is principle, standards of action that derive their worth from a long view of society’s spiritual as well as material needs and that command adherence whether or not immediate outcome is expedient or agreeable.“ Unter der Voraussetzung der countermajoritarian difficulty aber sei diese Rechtfertigung noch durch die Befolgung der sogenannten „passive virtues“ bedingt (s. unten).

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2. Teil: Verfassungsgerichtsbarkeit in den USA

fassungsgerichtsbarkeit einerseits der countermajoritarian difficulty begegnet und andererseits die Rolle als Garant von Prinzipien spielt, begründet Bickel seine Behauptung von judicial self-restraint bzw. „passive virtues“ der Verfassungsgerichtsbarkeit68. Zusammengefasst: In Bickels Sicht ist die Existenz der Verfassungsgerichtsbarkeit wegen ihrer großen Bedeutung für die Sicherung von Prinzipien zu bejahen; auf dem Hintergrund der countermajoritarian difficulty muß allerdings die Verfassungsgerichtsbarkeit gegenüber der die Majorität wahrnehmenden, demokratischen Gesetzgebung das Kriterium von passive virtues befolgen, um die countermajoritarian difficulty des Supreme Court durch die Vereinbarkeit einer zurückhaltenden Verfassungsgerichtsbarkeit mit der majority rule von Demokratie zu überwinden. Es ist klar, daß Bickels These in vielen Aspekten problematisch ist. In erster Linie ist fragwürdig, wie in der Praxis die Bestimmung und Betonung der Rolle der Verfassungsgerichtsbarkeit als Garant von Prinzipien mit der Behauptung von judicial self-restraint und passive virtues im Einklang stehen können69. Um Widersprüche zu vermeiden, muß Bickels Argument im Ergebnis die Zweitrangigkeit oder sogar Sinnlosigkeit der Behauptung von „Verfassungsgerichtsbarkeit als Garant der Prinzipien“ in Kauf nehmen, weil die majority rule-Demokratie im Mittelpunkt der Lehre Bickels steht70. Dies zeigt sich insbesondere dadurch, daß die Erklärung eines Prinzips durch den Supreme Court nach Bickel nur dann gerechtfertigt werden kann, wenn das Prinzip die „allgemeine Befürwortung“, in Wirklichkeit die Befürwortung der Majorität, gewinnt71. Solange die Thesen der Garantie der Prinzipien und der passive virtues koexistieren, kann ständiger Konflikt zwischen der Verfassungsgerichtsbarkeit und der demokratischen Gesetzgebung nicht vermieden werden72. Trotz ihrer Problematik und vielleicht auch Fehlerhaftigkeit ist jedoch die große Bedeutung der Behauptung Bickels für die amerikanische Verfassungstheorie nicht zu bezweifeln. Seit dem Erscheinen von „The Least Dangerous Branch“ ist die countermajoritarian difficulty zur allgemeinen Problemstellung fast aller DiskusDazu Bickel, The Least Dangerous Branch, S. 111 ff. Bickel, The Least Dangerous Branch, S. 239: „The Court should declare as law only such principles as will–in time, but in a rather immediate foreseeable future–gain general assent.“ Eine genaue Erklärung dafür, was hier „general assent“ gemeint ist und wie der Supreme Court „general assent“ erkennt oder gewinnt, kommt jedoch in Bickels Argument nicht vor. 70 So P. W. Kahn, Community in Contemporary Constitutional Theory, in: 99 Yale L. J. 1 (1989), S. 14. 71 Auch aufgrund dieses Arguments kritisierte Bickel die Behauptung Herbert Wechslers, daß der Supreme Court jeweils durch seine Befolgung des „neutralen Prinzips“ gerechtfertigt ist. In Bickels Sicht ignoriert diese Behauptung die Flexibilität des Prinzips bzw. die Koexistenz von „guiding principle“ und „expedient compromise“. Siehe dazu H. Wechsler, Toward Neutral Principles of Constitutional Law, in: 73 Harv. L. Rev. 1 (1959); Bickel, The Least Dangerous Branch, S. 63 f. 72 Ähnlich R. Dworkin, Taking Rights Seriously, 1978, S. 145. 68 69

II. Die Debatte um die Verfassungsgerichtsbarkeit

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sionen um die Verfassungsgerichtsbarkeit geworden73. Infolgedessen kreisen die gegenwärtigen Auseinandersetzungen im allgemeinen darum, wie die Verfassungsgerichtsbarkeit aus demokratischer Sicht zu rechtfertigen ist. Dabei ist zu behandeln, wie eine durch die Kompetenzausübung des Supreme Court verursachte Störung demokratischer Gesetzgebung vermieden und dadurch die countermajoritarian difficulty überwunden werden kann. Dieser Trend führt dazu, daß die heutigen Auseinandersetzungen häufig auf die Debatte um die demokratische Legitimation der Verfassungsgerichtsbarkeit reduziert sind. Dies erweckt folglich den Eindruck, daß seither die Hervorhebung der Demokratie oder des Gestaltungsspielraums des Gesetzgebers gegenüber der Verfassungsgerichtsbarkeit wieder im Vordergrund steht. In Wirklichkeit aber spielt inzwischen das Common Law sowohl in der Praxis des Supreme Court als auch im Kreis der Verfassungstheorie immer wieder eine prägende Rolle. In erster Linie ist nicht zu übersehen, daß schon Bickels Argument als Darstellung eines Versuchs der Balance zwischen der Verfassungsgerichtsbarkeit unter der traditionellen Gewaltenteilungsstruktur einerseits und der Verfassungsgerichtsbarkeit unter dem Common Law andererseits anzusehen ist, indem er die passive virtues der Verfassungsgerichtsbarkeit und die Garantie der Prinzipien aus der Hand des Supreme Court gleichzeitig betont74. Wenn Bickel seine Behauptung der Rolle der Verfassungsgerichtsbarkeit als Garant der Prinzipien damit begründet, daß der Supreme Court wegen seines fallbezogenen Charakters besser in der Lage ist, die Prinzipien richtig zu erkennen und durchzusetzen75, stellt er in Wirklichkeit sein common law-Verständnis für den Supreme Court dar, soweit das amerikanische Common Law, wie erwähnt, durch judge-made law und deswegen durch die Hervorhebung von Präzedenzfällen und zugleich von Konzentration auf konkrete Fälle („case by case“) charakterisiert ist76. In diesem Sinne spielt der common law-Hintergrund trotz der countermajoritarian difficulty des Supreme Court immer noch eine nicht immer hervorgehobene, in der Tat aber stets große Rolle nicht nur für Bickels Lehre, sondern auch im allgemeinen für die amerikanischen Auseinandersetzungen über die Verfassungsgerichtsbarkeit. In den fol73 Ebenso J. H. Choper, The Supreme Court and the Political Branches: Democratic Theory and Practice, in: 122 U. Pa. L. Rev. 810 (1974), S. 810; B. Friedman, The History of the Countermajoritarian Difficulty, Part One: The Road to Judicial Supremacy, in: 73 N.Y.U. L. Rev. 333 (1998), S. 339 f.; U. R. Haltern, Demokratische Verantwortlichkeit und Verfassungsgerichtsbarkeit. Nachbemerkungen zur Diskussion um den Kruzifix-Beschluß, in: Der Staat 35 (1996), S. 551, 553 (Fn. 5). 74 In diesem Sinne hat „Bickels Dilemma“ wahrscheinlich die Schwierigkeit der Balance zwischen der traditionellen Gewaltenteilung und dem Common Law widergespiegelt. 75 Dazu Bickel, The Least Dangerous Branch, S. 26. 76 Der Einfluß der common law-Tradition auf Bickels Behauptung wird im Licht der Formulierung Pounds deutlicher. Vgl. Pound, The Spirit of the Common Law, S. 176: „[T]he jurist works over the traditional materials and the legislator provides new materials. From these the judges make the actual law by a process of trying the principles and rules and standards in concrete cases, observing their practical operation and gradually discovering by experience of many causes how to apply them so as to administer justice by means of them. Such has been the common law from the first.“ (Hervorhebung von der Verfasserin)

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genden Abschnitten wird also beleuchtet, wie das Common Law die verschiedenen Theorien oder Ansätze beeinflußt, die auf die Überwindung der countermajoritarian difficulty gerichtet sind.

2. Zur Überwindung der countermajoritarian difficulty a) Schwerpunkt der Debatte: Wie paßt das Common Law zur repräsentativen Demokratie? Aus der Perspektive, daß einerseits die countermajoritarian difficulty des Supreme Court im Mittelpunkt der heutigen Debatte steht und andererseits das die starke Stellung des Supreme Court fördernde Common Law trotzdem immer eine große Hintergrundrolle spielt, läßt sich das heutige Thema für das amerikanische Verfassungsrecht als das Common Law in der countermajoritarian difficulty oder im wesentlichen als das Verhältnis zwischen dem Common Law und der repräsentativen Demokratie77 bezeichnen. Wenn man versucht, wie Bickel, die countermajoritarian difficulty zu bewältigen, überlegt man (normalerweise) eigentlich, wie das Common Law zur repräsentativen Demokratie passt, und infolgedessen streiten die heutigen Hauptargumente in erster Linie darüber, in welcher Weise das Common Law in der repräsentativen Demokratie fungieren soll, nicht darüber, ob die common law-Tradition wegen der countermajoritarian difficulty der demokratischen Legislative unterliegen muß. Vor dem Hintergrund, daß unter der common law-Tradition der Supreme Court in Wirklichkeit bereits eine prägende Rolle in der Entwicklung des amerikanischen Verfassungsrechts spielt, versucht die von der Sorge um die countermajoritarian difficulty erregte Diskussion im allgemeinen, die gegenwärtige Aufgabe des Common Law zu bestimmen. Mit anderen Worten liegt heute der Schwerpunkt darin, welcher Charakter des Common Law unter der Voraussetzung der repräsentativen Demokratie bzw. des Respektes für den demokratischen Gesetzgeber hervorgehoben werden und wie dieser Charakter funktionieren soll, um der Kompetenzausübung des Supreme Court Grenzen zu ziehen und dadurch die countermajoritarian difficulty der Verfassungsgerichtsbarkeit zu überwinden. In diesem Sinne läßt sich Antonin Scalias Auffassung, daß ein common law-Verständnis für die Verfassung undemokratisch und deswegen zu verneinen ist, keinesfalls zur herrschenden Meinung zählen oder als zur Realität passend bezeichnen78. 77 Hier geht es um die Demokratie, die an erster Stelle durch den vom Volk gewählten Gesetzgeber erfüllt wird. In diesem Sinne unterscheidet sich das Verhältnis von Common Law zu repräsentativer Demokratie von dem Verhältnis von Common Law zu Demokratie. Auf der Ebene der countermajoritarian difficulty betrifft die heutige Debatte hauptsächlich das erstere, das überhaupt als etwas Spannendes erachtet wird. Die Geltendmachung dieser Unterscheidung setzt aber sicherlich das Bestehen verschiedener Betrachtungsweisen zur Demokratie voraus. Für Theoretiker, z. B. Bickel und Scalia (s. unten), die die Demokratie rein als Majoritätsdemokratie (mit Dworkins Wort: „majoritarian democracy“) verstehen, spielt die Unterscheidung keine Rolle.

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b) Die Debatte im Lichte des Common Law: Zur demokratischen Legitimation der Verfassungsgerichtsbarkeit unter dem Common Law Scalia nimmt an, die common law-Verfassungsgerichtsbarkeit führe dazu, daß die Kompetenz des Supreme Court zu weit gehe und infolgedessen die Demokratie verletze, da das Common Law im wesentlichen die richterliche Entscheidung bzw. das Fallrecht ohne Rücksicht auf den vorliegenden Text in den Vordergrund stelle79. Nach ihm besteht zwischen der common law-Rechtsetzung und der Demokratie (aus praktischer Sicht) ein „unangenehmes“ Verhältnis80. Deshalb könne die Verfassungsgerichtsbarkeit nur dadurch mit der Demokratie im Einklang stehen, daß der Supreme Court auf die common law-Orientierung verzichte und sich statt dessen auf den Text der Gesetze oder der Verfassung konzentriere. Dies ist vor dem heutigen Hintergrund besonders machbar, weil zunehmend Gesetze bzw. Texte vorliegen81. Gerade darauf beruht Scalias These vom „Textualismus“ (textualism), der eine (durch Bindung an den Text) kontrollierbare und deswegen der Demokratie bedrohungslose Verfassungsgerichtsbarkeit bezweckt82. Scalias Anliegen erfüllt sich jedoch nicht im Trend der heutigen Diskussion. Sicher gibt es Theorien, die sich vor dem Hintergrund der countermajoritarian difficulty auf die demokratische Legitimation der Verfassungsgerichtsbarkeit und nicht so sehr auf das Verhältnis von der common law-Tradition und dem demokratischen Gesetzgeber konzentrieren. Die von John Hart Ely vertretene prozeßbasierte Theorie zum Beispiel versteht die Verfassungsgerichtsbarkeit rein als Schiedsrichter des demokratischen Prozeßes83 und keinesfalls als Vertreter eines substantiellen Wertes. Die prozeßbasierte bzw. prozedurale Theorie geht deswegen von einer Auffas78 Dies hat Scalia auch selbst gezeigt. Vgl. A. Scalia, A Matter of Interpretation: Federal Courts and the Law: An Essay, 1997, S. 39 f.: „If you go into a constitutional law class, or study a constitutional law casebook, or read a brief filed in a constitional law case, you will rarely find the discussion addressed to the text of the consitutional provision that is at issue, or to the question of what was originally understood or even the originally intended meaning of that text. The starting point of the analysis will be Supreme Court cases, and the new issue will presumptively be decided according to the logic that those cases expressed, with no regard for how far that logic, thus extended, has distanced us from the original text and understanding. . . . This is preeminently a common-law way of making law, and not the way of construing a democratically adopted text.“ (Hervorhebung von der Verfasserin) 79 Vgl. Scalia, A Matter of Interpretation, S. 38 ff. 80 Vgl. dazu Scalia, A Matter of Interpretation, S. 10. 81 Dazu Scalia, A Matter of Interpretation, S. 13: „We live in an age of legislation, and most new law is statutory law. . . . This is particularly true in the federal courts, where . . .there is no such thing as common law. Every issue of law resolved by a federal judge involves interpretation of text–the text of a regulation, or of a statute, or of the Constitution.“ (Hervorhebung von der Verfasserin) 82 Dazu Scalia, A Matter of Interpretation, S. 23 ff. 83 Nach Ely soll der Supreme Court auf diese Weise als Garant der möglicherweise ignorierten Minderheitsinteressen dienen. Vgl. J. H. Ely, Democracy and Distrust: A Theory of Judicial Review, 1980, S. 77 ff., 135 ff.

5 Hwang

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sung aus, die sich auf die repräsentative Demokratie richtet und nicht ersichtlich auf den common law-Hintergrund bezieht84. Es ist dennoch nicht zu verleugnen, daß sich der Einfluß der common law-Tradition auf das Verständnis für die Rolle des Supreme Court und dessen Verhältnis mit dem demokratischen Gesetzgeber in vielen repräsentativen Verfassungstheorien deutlich gezeigt hat.

aa) Die Ansätze von Strauss und Sunstein Offensichtlich ist in erster Linie die Lehre von David Strauss, der durch die Betonung zweier Hauptkomponenten der Verfassungsinterpretation unter dem Common Law („Traditionalismus“ und „Konventionalismus“) und ihrer praktischen Bedeutung das Verfassungsrecht und zugleich die Verfassungsgerichtsbarkeit rechtfertigt. Ganz im Gegenteil zu Scalia plädiert Strauss dafür, daß das common law-Verständnis des Verfassungsrechts die Möglichkeit einer grenzenlosen Machtausweitung des Supreme Court ausschließt, weil die Richter durch das Common Law effektiver kontrolliert werden können85. Nach Strauss verbindet sich der Grund dafür eng mit der großen Rolle der Präzedenzfälle unter dem common lawSystem, auf die die beiden Komponenten gerichtet sind: Die Präzedenzfälle dienen für die common law-Interpretation nicht nur als die von Generationen anerkannten Werte, die nach der Forderung des (vernünftigen) Traditionalismus grundsätzlich respektiert werden müssen86 und nur durch die in der Gesellschaft stattfindenden „Evolutionen“ verändert werden dürfen87, sondern im Hinblick auf die Kosten von Kontroversen im konkreten Fall88 als die Grenze für die Ausübung der Kompetenz 84 Allerdings ist angesichts der grundlegenden Problematik des Common Law, die im folgenden verdeutlicht wird, die prozedurale Theorie Elys als die Alternative zum (substantiellen) Versuch der Überwindung des prinzipiellen Dilemmas zwischen der countermajoritarian difficulty des Supreme Court und dem Common Law anzusehen. Gerade in diesem Sinne läßt sich der enge Zusammenhang von Elys These mit dem common law-Hintergrund des amerikanischen Verfassungsrechts noch veranschaulichen. Aus der Perspektive kann man auch sagen, daß die Tendenz zur Prozeduralisierung sogar das Dilemma der common law-Verfassungsgerichtsbarkeit in der countermajoritarian difficulty zum Ausdruck gebracht hat. Dazu ausführlich unten IV. 2. 85 Vgl. D. Strauss, Common Law Constitutional Interpretation, in: 63 U. Chi. L. Rev. 877 (1996), S. 879, 925 ff. 86 Die in den Präzedenzfällen dargestellten Grundsätzen sind unter dem Traditionalismus zu achten, denn sie verkörpern die Weisheit von Generationen. In diesem Sinne ist der Traditionalismus von Vernunft und Empirie gefärbt. Vgl. Strauss, Common Law Constitutional Interpretation, S. 891 ff. Zum Empirismus des Common Law vgl. ferner Pound, The Spirit of the Common Law, S. 166 ff. 87 Die Veränderung durch die Evolutionen ist nach Strauss als Kennzeichnen der Flexibilität des Common Law anzusehen, die ebenfalls Bestandteil der common law-Vernunft ist. Vgl. Strauss, Common Law Constitutional Interpretation, S. 894 ff. 88 Im Vergleich zum Traditionalismus richtet sich der Konventionalismus mehr auf den regel-basierten Charakter sowie die Stabilität des common law-Systems. Vgl. Strauss, Common Law Constitutional Interpretation, S. 908 f.: „it was important to have certain matters

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des Supreme Court, die aufgrund des Konventionalismus vermieden werden sollen, um die Balance zwischen Flexibilität („case by case“-Abwägungen) und Verbindlichkeit (der Bindung an die Präzedenzfälle) des Common Law zu halten. Durch die Erfüllung des Traditionalismus und des Konventionalismus sei deswegen die Verfassungsgerichtsbarkeit völlig kontrollierbar; auf diese Weise könne institutionell die überschrittene Machtausdehnung oder die richterliche Willkür auch nicht passieren89. In Straussens Sicht ist sogar die Behauptung, daß die Kompetenzausübung des Supreme Court nur durch Textualismus oder Originalismus90 eingeschränkt werden kann, nur insofern und unter der Voraussetzung plausibel, daß die Verfassungsinterpretation nach Textualismus oder Originalismus auf dem common law-Hintergrund basiert91. In demokratischer Hinsicht werde die common law-Interpretation im Vergleich zu Textualismus oder Originalismus noch überzeugender in dem Sinne, daß unter dem Traditionalismus die Entscheidung des Supreme Court auf den von der ganzen Gesellschaft anerkannten Werten oder Prinzipien beruhen muß, die durch Präzedenzfälle und unter Umständen durch Evolutionen dargestellt sind. Nach Strauss ist dies ein wichtiges demokratisches Element des common law-Systems: „Common law constitutionalism is democratic in an important sense: the principles developed through the common law method are not likely to stay out of line for long with views that are widely and durably held in the society“.92 Andererseits ist aber auch bemerkenswert, daß aus Straussens Sicht die settled because the costs of further controversy were too great. This aspect of the common law approach is sometimes overlooked when the common law is identified with an encompassing case-by-case method that emphasizes analogy, context, and „situation sense.“ In fact, rules, as well as case-by-case decision making, are an important part of common law. “ (Hervorhebung von der Verfasserin.) Der Grundgedanke ist es, „it is that more important that some things be settled than that they be settled right.“ (Hervorhebung von der Verfasserin) Dazu Strauss, ebenda, S. 907. 89 In der Tat ist sicher, daß die Möglichkeit eines Mißbrauchs der Justizmacht nicht ausgeschlossen werden kann. Allerdings ist aus Straussens Sicht kein System immun gegen Mißbrauch. Vgl. Strauss, Common Law Constitutional Interpretation, S. 927. 90 Vgl. in erster Linie R. H. Bork, The Tempting of America: The Political Seduction of the Law, 1990. Siehe ferner unten bb). 91 Vgl. Strauss, Common Law Constitutional Interpretation, S. 926 ff. 92 Strauss, Common Law Constitutional Interpretation, S. 929. Die These setzt sicher voraus, daß Demokratie sich nicht in „rule by a current majority“ erschöpft (s. Strauss, ebenda). Durch sein Verständnis für Demokratie unterscheidet sich Strauss auch von dem von Bruce Ackerman vertrettenen „Neo-Hamiltonian view“ [nach Straussens Beschreibung, s. Strauss, Common Law Constitutional Interpretation, S. 886 (Fn. 30)], der die common law-Interpretation scharf kritisiert aus dem Grund, daß sich die common law-Verfassungsgerichtsbarkeit an Elite-herrschaft orientiert. Siehe dazu Ackerman, The Common Law Constitution of John Marshall Harlan, in: 36 NY L Sch L. Rev. 5 (1991), S. 26 ff.; ders., We The People: Foundations, 1991, S. 17 f., 20. Zur Reaktion s. Strauss, Common Law Constitutional Interpretation, S. 930 ff. Es ist allerdings zu bemerken, daß Ackermans „dualistische Demokratie“ oder „Dualismus“, der durch die Unterscheidung zwischen „normal“ und „higher“ lawmaking die Verfassungsgerichtsbarkeit auf der Grundlage demokratisch legitimiert, daß das „higher“ lawmaking dem Supreme Court zusteht, das von „We the People“ belebt wird, eigentlich nur den elitären Gedanke von Bindung an die Präzedenzfälle kritisiert, nicht aber den common 5*

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Interpretationsmethode des Supreme Court nicht auf der Ebene der Methodologie demokratisch sein muß. Entscheidend sei vielmehr, auf welche Weise die Verfassungsgerichtsbarkeit mit der Demokratie harmonisiert werden könne93: „It may be a mistake to suppose that a method of constitutional interpretation should be democratic, at least when the courts have important responsibility for implementing it. Judicial review necessarily has a guild character in a sense, because by definition judges do it, and inevitably lawyers’ norms will heavily influence it. This means that we have to address the tensions between democracy and judicial review on the level of substance, not on the level of method. That is, we should not try to find – because we cannot find – a wholly democratic method of constitutional interpretation. Instead, we should determine, as a matter of substantive constitutional law, when judges in a constitutional democracy must accept the decisions of the political branches and when the judges should oppose the political branches.“

Nach Strauss ist die common law-Interpretation deshalb besonders plausibel und überzeugend, weil sie ein vernünftiges Mittel zur Harmonisierung der Verfassungsgerichtsbarkeit mit der Demokratie aufweisen kann, indem Traditionalismus und Konventionalismus fordern, daß der Supreme Court im konkreten Fall die countermajoritarian difficulty konfrontieren und zwischen der Verfassungsgerichtsbarkeit und der Demokratie ausgleichen muß. Es könne sogar angenommen werden, daß die Forderung eines Ausgleichs auf der Grundlage, daß der Supreme Court die Entscheidung des demokratischen Gesetzgebers grundsätzlich respektieren soll, selbst ein durch das Common Law entwickeltes Prinzip sei94. Zusammenfassend kann daraus entnommen werden, daß nach Strauss die Realisierung des Konfliktes zwischen der Verfassungsgerichtsbarkeit und dem demokratischen Gesetzgeber durch das Common Law vermieden werden kann, soweit die common law-Interpretation durch die grundsätzliche Bindung des Supreme Court an die Präzedenzfälle gekennzeichnet ist. Mit anderen Worten betont Strauss (im Gegenteil zu Scalia) die andere, „weniger mächtige“ Seite des Common Law: Die Verfassungsgerichtsbarkeit unter dem Common Law sei in der Regel an Präzedenzfälle bzw. an Vernunft, Tradition und Regel gebunden. Der Balance von Verfassungsgerichtsbarkeit und Demokratie dient auf diese Weise das Common Law selbst. Allerdings steht unter Straussens These noch in Rede, wie die common law-Interpretation als solche fungieren soll. Die Erfahrung der Lochner-Ära hat deutlich gezeigt, daß der common law-Grundsatz von Bindung an die Präzedenzfälle mit dem anderen, nach Strauss auch im common law-System anerkannten und angewandten Prinzip von Respekt vor der Entscheidung des demokratischen Gesetzgebers in Konflikt kommen kann. Obwohl Strauss zugleich das demokratische Elelaw-Hintergrund verweigert. Vielmehr ist aus Ackermans These zu entnehmen, daß der „Dualismus“ einfach die Flexibilität des common law-Systems durch die Betonung der (richterlichen) Rücksicht auf die Meinungsäußerung von „We the People“ darstellt. Dazu vgl. Ackerman, We the People, S. 3 – 80; ders., The Common Law Constitution, S. 29 ff. 93 Strauss, Common Law Constitutional Interpretation, S. 932 f. 94 Vgl. Strauss, Common Law Constitutional Interpretation, S. 933 f.

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ment der Verfassungsgerichtsbarkeit unter dem Common Law auf der Ebene betont, daß das Common Law „vernunftbasiert“ ist95, kann seine Hauptthese vom Vorrang der Präzedenzfälle wegen deren potentiellen Konfliktes mit der Entscheidung des demokratischen Gesetzgebers in der Praxis aus repräsentativ-demokratischer Perspektive keineswegs frei von Skepsis bleiben96. Im dem Punkt fällt daher Cass R. Sunsteins Behauptung ins Auge: Gerade im Hinblick auf den Vorrang der Präzedenzfälle unter dem common law-System nimmt Sunstein an, daß wegen der richterlichen Anwendung des formalistischen Interpretationskanons unter dem Common Law97 das Spannungsverhältnis zwischen Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgeber und folglich die Möglichkeit einer Ersetzung der Entscheidungen des demokratischen Gesetzgebers durch diejenigen der Gerichte besteht, die die deliberative Demokratie98 beeinträchtigen kann99. Deshalb sei es wichtig, einige Interpretationsprinzipien zugunsten der Entwicklung der deliberativen Demokratie einzuführen100. Trotzdem ist dieser Auffassung nicht zu entnehmen, daß nach Sunstein die common law-Interpretation beseitigt werden soll101; vielmehr sei vor dem 95 In diesem Sinne läßt sich sagen, daß in Straussens Sicht der Konflikt zwischen der common law-Verfassungsgerichtsbarkeit und dem demokratischen Gesetzgeber nicht den Konflikt zwischen der common law-Verfassungsgerichtsbarkeit und der Demokratie bedeutet. 96 Straussens Betonung der Bindung an die Präzedenzfälle führt zwangsläufig dazu, daß der Supreme Court durch die Befolgung der Präjudizien ein Gesetz für verfassungswidrig erklären und dadurch mit dem demokratischen Gesetzgeber in Konflikt geraten könnte. Hier kann Strauss aber nicht erklären, warum in diesem Fall die Befolgung der Präjudizien im Vergleich zur Befolgung des Willens des demokratischen Gesetzgebers besser in der Lage ist, die (echte?!) Demokratie zu verkörpern. 97 Vgl. C. Sunstein, After the Rights Revolution: Reconceiving the Regulatory State, 1990, S. 111 ff. Hier führt Sunstein die Entscheidungen in der Lochner-Ära, die auf der Basis der Laissez Faire-Ideologie die verschiedenen Funktionen der regulativen Gesetze ignoriert haben, als Beispiel an. In diesem Punkt stimmt Sunstein der Auffassung des Legal Realism zu. Vgl. dazu Sunstein, ebenda, S. 148: „In the realist view, the real basis [of the judicial decisions] was frequently an illegitimate judicial policy preference. Even when it was not, the canons had the disadvantage of substituting the unhelpful and mechanical rules for a more pragmatic and functional inquiry into statutory purposes and structure in the particular case. . . . This view of the canons of construction has deeply penetrated modern legal culture. . . . For the most part, the canons are treated as anachronisms held over from the days of legal formalism.“ 98 Aufgrund seiner Rolle als Vertreter des civic Republicanism sieht Sunstein die amerikanische Demokratie nicht als bloße Mehrheitsdemokratie, sondern als deliberative Demokratie an, die die Funktion der (demokratischen) Deliberation in einer pluralistischen Gesellschaft betont. Siehe dazu Sunstein, The Partial Constitution, 1993, S. 20 ff., 123 ff.; ders., One Case at a Time: Judicial Minimalism on the Supreme Court, 1999, S. 24 ff. 99 Vgl. Sunstein, After the Rights Revolution, S. 9, 111 ff., 231 ff.; zur Eigenart typischer common law-Interpretation vgl. auch ders., Lochner’s Legacy, S. 874 ff. 100 Vgl. Sunstein, After the Rights Revolution, S. 160 ff. 101 Nach Sunsteins Auffassung besagt die formalistische common law-Interpretation in der Lochner-Ära nicht, daß die common law-Interpretation jedenfalls formalistisch sein muß. Dies zeigt sich besonders daran, daß (anders als anscheinend die common law-Interpretation in der Lochner-Ära) das Common Law nicht lediglich auf einem bestimmten Wert, sondern

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common law-Hintergrund eine „anti-formalistische“, der (deliberativen) Demokratie entsprechende Interpretationsorientierung zu erstreben. Bereits vor Jahren hat Sunstein für eine Verfassungsgerichtsbarkeit plädiert, die sich durch eine „unvollständige Theoretisierung“ (incomplete theorization) auszeichnet102 und später als „Minimalismus“ (judicial minimalism) benannt wurde103. Sunsteins Minimalismus verbindet sich eng mit der common law-Tradition. Auf der einen Seite ist der Minimalismus methodologisch durch seine Einzelfallorientierung bzw. case by case gekennzeichnet; auf der anderen Seite beruht der Minimalismus auf der Kenntnis des common law-Prinzips der Bindung an die Präzedenzfälle und behauptet im Hinblick auf die Belastung des Supreme Court und (wichtiger) die Wahrung der deliberativen Demokratie, daß der Inhalt bzw. die Begründung einer gerichtlichen Entscheidung möglichst „minimal“ 104 sein soll, um die übermäßige Bindung künftiger Entscheidungen (wegen der Verbindlichkeit von Präzedenzfällen) und die Beeinträchtigung der Demokratie zu vermeiden. Nach Sunstein kann die minimalistische Verfassungsgerichtsbarkeit durch die Kernthese „leaving things undecided“ zur Förderung der deliberativen Demokratie beitragen105. Dies besagt gleichzeitig, daß aus Sunsteins Sicht das Common Law im wesentlichen mit der Demokratie vereinbar ist, soweit der Geist des common law-Gedankens durch die minimalistische Verfassungsgerichtsbarkeit dargestellt ist, die durch die minimale gerichtliche Betätigung die demokratische Deliberation schützt106. In dieser Weise diene die Gewährleistung der deliberativen Demokratie auf mehreren Prinzipien beruht. Vgl. Sunstein, Legal Reasoning and Political Conflict, 1996, S. 79: „The common law reflects a complex set of judgements not uniquely derivable from a unitary value, but embodying instead a wide range of decisions based on mid-level principles, some of which do not cohere well with one another. This is the kind of outcome more reasonably to be expected from a heterogeneous group of judges, ill-equipped to think about first principles, and working in a more or less ad hoc way from particular situations.“ Die These verbindet sich folgeweise mit der Behauptung, daß die gerichtliche Entscheidung „unvölliger theoretisiert“ sein soll (s. u.). 102 Vgl. Sunstein, Legal Reasoning and Political Conflict, 1996, S. 35 ff. Bei „unvollständiger Theoretisierung“ behauptet Sunstein, die Begründung einer gerichtlichen Entscheidung solle im Hinblick auf die Fähigkeit der Richter „weniger theoretisch“ sein; die Kontroverse über die Theorie sei vielmehr die Sache der deliberativen Demokratie. 103 Vgl. Sunstein, One Case at a Time – Preface. 104 Nach Sunstein ist eine minimale gerichtliche Entscheidung so „eng“ und „flach“ wie möglich zu begründen („narrow rather than wide; shallow rather than deep“). Die „Enge“ (narrowness) bedeute, das Gericht konzentriere sich nur auf die Entscheidung über den konktreten Fall und nicht zugleich auf die Bestimmung „weiter“ Regel. Die „Flachheit“ (shallowness) bedeute, das Gericht lasse in der Entscheidung das Problem des fundamentalen Prinzips offen. Siehe im einzelnen Sunstein, One Case at a Time, S. 10 ff.: „First, minimalists try to decide cases rather than to set down broad rules. In this way, minimalists ask that decisions be narrow rather than wide. . . . The second point is that minimalists generally try to avoid issues of basic principle. They want to allow people who disagree on the deepest issues to converge. In this way they attempt to reach incompletely theorized agreements. . . .“ 105 So ist der sog. democracy-promoting minimalism gemeint. Vgl. Sunstein, One Case at a Time, S. 24 ff.

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zur Begrenzung der common law-Verfassungsgerichtsbarkeit. Daraus folgt Sunsteins Behauptung: Die Auffassung, daß der Justizminimalismus als judicial restraint anzusehen ist, sei falsch und richtig zugleich: Sie sei falsch, sofern der judicial restraint das allgemeine Widerstreben des Supreme Court bedeute, die gesetzgeberische Entscheidung für verfassungswidrig zu erklären, weil der Minimalismus ebenfalls eine Verfassungswidrigerklärung anfordere, wenn sie aus demokratischem Grund notwendig sei107; ihr sei dennoch zuzustimmen in dem Sinne, daß nach dem Minimalismus der Supreme Court versuchen muß, seine Entscheidung hinsichtlich der Sicherung der deliberativen Demokratie so minimal wie möglich zu treffen. Der Minimalismus stellt also eine richterliche Anschauung dar, die im Zusammenhang mit dem demokratischen Gesetzgeber lediglich eine allgemeine fundamentale Haltung fixiert, daß die minimalistische Verfassungsgerichtsbarkeit die deliberative Demokratie unterstützen kann und muß. Wie der Supreme Court in einem zu lösenden konkreten Einzelfall entscheiden solle, hänge also immer wieder von einer case by case-Abwägung ab108.

bb) Judicial restraint oder judicial self-restraint unter dem Common Law? Aus den Thesen von Strauss und Sunstein, die zweifellos auf dem common lawGedanken beruhen und die common law-Eigenarten gründlich widerspiegeln, ergibt sich, daß das Common Law durch das Zusammenwirken von grundsätzlicher Bindung an die Präzedenzfälle und zugleich der Rücksicht auf die Eigenart des zu lösenden konkreten Einzelfalles gekennzeichnet ist. Richtet man sich nach dem Doppelcharakter des Common Law, so kann man feststellen, daß die common lawKenntnis in den meisten Lehren der Verfassungsgerichtsbarkeit besteht, auch wenn sie sich auf den ersten Blick überwiegend an der Hervorhebung der zentralen Bedeutung des Gesetzgebers unter der repräsentativen Demokratie orientieren. Die Streitfrage ist nur, welche Seite des Common Law – die Stabilität durch die Verbindlichkeit der Präzedenzfälle oder die Flexibilität durch die case by case-Abwä106 Vgl. Sunstein, One Case at a Time, S. 241: „Common law thinking is even connected with the Court’s general and entirely appropriate reluctance to disturb the outcomes of political processes. To the extent that it partakes of ambitious theories at all, common law thinking, in its current incarnation in American public law, largely attempts to protect the workings of a well-functioning system of democratic deliberation.“ 107 Vgl. Sunstein, One Case at a Time, S. 28, 31 f. Nach Sunstein ist die Verfassungswidrigerklärung eines Gesetzes vom minimalistischen Supreme Court gerechtfertigt, indem die Erklärung zur politischen Verantwortlichkeit des Gesetzgebers und dessen Begründung beiträgt, die (beide) als Ziele der deliberativen Demokratie dienen. 108 Sicher aber sieht Sunstein den Minimalismus nicht nur als eine grundlegende Haltung, sondern als eine Substanz enthaltende Behauptung an. Nach Sunstein konstituiert die „minimalistische Substanz“ die oben erwähnten Übereinstimmungen („incompletely theorized agreements“), und deswegen muß sie von jeder gerichtlichen Entscheidung anerkannt werden. Zu den Kernelementen der minimalistischen Substanz (Protection against unauthorized imprisonment, protection of political dissent, usw.) s. Sunstein, One Case at a Time, S. 63 ff.

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2. Teil: Verfassungsgerichtsbarkeit in den USA

gung – unter dem Hintergrundverständnis der countermajoritarian difficulty der Verfassungsgerichtsbarkeit herausgestellt oder reformiert werden soll, um den Konflikt zwischen Supreme Court und demokratischem Gesetzgeber zu vermeiden. Gerade im Lichte des Common Law lassen sich die folgenden verschiedenen Auffassungen über die Verfassungsgerichtsbarkeit in der Demokratie aus einer unterschiedlichen Perspektive betrachten. Die schon oben erwähnte Lehre von „neutralen Prinzipien“ betont die Bindung an die Präzedenzfälle dadurch, daß gleiche Fälle gleich behandelt werden müssen109. Der Originalismus Robert H. Borks, der von einer durch die ursprüngliche Intention des Verfassungsgebers streng gebundenen Verfassungsgerichtsbarkeit ausgeht110, sieht die Bindung an die ursprüngliche Intention als die Ergänzung der (sonst ungenügenden) Bindung an die Präzedenzfälle an111. Sowohl neutral prin109 So Ely, Democracy and Distrust, S. 54. Vgl. auch Wechsler, Toward Neutral Principles of Constitutional Law, S. 15: „The main constituent of the judicial process is precisely that it must be genuinely principled, resting with respect to every step that is involved in reaching judgement on analysis and reasons quite transending the immediate result that is achieved. To be sure, courts decide, and should decide, only the case they have before them. But must they not decide on grounds of adequate neutrality and generality, tested not only by the instant application but by others that the principles imply? Is it not the very essence of judicial method to insist upon attending to such other cases, preferably those involving an opposing interest, in evaluating any principle avowed?“ Es ist deshalb den Ausführungen von Wechsler zu entnehmen, daß die Neutralität an die Konsistenz in gerichtlichen Entscheidungen und deswegen an die Bindung an Präzedenzfälle anknüpft, obwohl Wechsler auch anerkennt, daß die Präzedenzfälle u. U. kritisch examiniert werden müssen. Dazu auch Wechsler, ebenda, S. 19 ff., 31 ff. 110 Vgl. z. B. Bork, The Tempting of America. Zum original intent im allgemeinen vgl. auch W. Heun, Original Intent und Wille des historischen Verfassungsgebers: zur Problematik einer Maxime im amerikanischen und deutschen Verfassungsrecht, in: AöR 116 (1991), S. 185 ff. Aus den verschiedenen Betrachtungsweisen zu den Begriffsbestimmungen und Auslegungen des „original intent“ entstehen unter dem Oberbegriff Originalismus unterschiedliche Argumente. Sogar Scalias Textualismus kann auf diese Weise zum Originalismus im weiteren Sinne gehören. S. dazu etwa P. Brest, The Misconceived Quest for the Original Understanding, in: 60 B.U.L. Rev. 204 (1980). Der Unterschied wirkt sich aber nicht auf die hier gezeigte Grundthese aus. 111 Vgl. z. B. Bork, The Tempting of America, S. 155 ff. Auf der einen Seite betont Bork die Wahrung der Stabilität des Fallrechtssystems, so daß die Bindungswirkung der Präzedenzfälle respektiert oder zumindest berücksichtigt werden solle. Dazu Bork, ebenda, S. 158: „The previous decision on the subject may be clearly incorrect but nevertheless have become so embedded in the life of the nation, so accepted by the society, so fundamental to the private and public expectations of individuals and institutions that the result should not be changed now.“ Auf der anderen Seite aber nimmt er zugleich an, die Präzedenzfälle selbst seien nicht in der Lage, die künftigen gerichtlichen Entscheidungen zu binden, da es keine Regel dafür gebe, ob die Präzedenzfälle aufgegeben werden sollten oder nicht. Auf der Prämisse des Vorrangs der originalen Intention des Verfassungsgebers behauptet Bork in der Folge, die Stabilität des Fallrechtssystem solle an erster Stelle und könne erst durch die richterliche Bindung an die originale Intention ermöglicht und verankert werden. Dazu Bork, ebenda, S. 159: „. . . it should be said that those who adhere to a philosophy of original understanding are more likely to respect precedent than those who do not . . . If you do not care about stability,

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ciples als auch original intent dienen also zur Sicherung und Verbesserung der Systematik der Präzedenzfälle, um die Richter strenger zu binden. Erst in dieser Weise lasse sich die Ersetzung des Willens des demokratischen Gesetzgebers durch den Willen des Supreme Court vermeiden, und folglich werde die repräsentative Demokratie nicht von der Verfassungsgerichtsbarkeit gefährdet. Der Legal Realism kritisiert die in seiner Sicht formalistische, maschinelle Bindung der Ausübung von Rechtsprechung des Supreme Court an die Präzedenzfälle aus dem Grund, daß die gerichtlichen Entscheidungen als solche die soziale Realität außer Betracht lassen und in dieser Weise vom Demokratieprinzip abweichen. Daraus folge, daß sich die gerichtliche Kompetenzausübung an einer ungewünschten common law-Methode orientiere, die die formalistische Bindungswirkung der Präzedenzfälle überspitze und überschätze. Aus dem Grund müsse der Supreme Court seine Entscheidung realistischer und dadurch demokratischer begründen, indem er im konkreten Fall in Betracht ziehe, was in der realen Welt passiert sei und was im Kontext des konkreten Falls berücksichtigt werden solle112, auch wenn die noch zu beachtenden Präzedenzfälle betroffen seien113. Ähnlicherweise behauptet der Pragmatismus, daß es die Aufgabe des Supreme Court sei, die (aus Sicht des Supreme Court selbst) beste Entscheidung für den konkreten Fall sowie für die Zukunft zu treffen114. Infolgedessen solle der Supreme Court keiner Autorität unterliegen. Das heißt, daß nach dem Pragmatismus die Präzedenzfälle bestenfalls die hilfreichen Informationen für die Falllösung aufweisen; wichtiger sei vielmehr, daß der Supreme Court aufgrund der aus Präzedenzfällen entnommenen Informationen und case by case-Abwägungen pragmatisch (und nicht positivistisch) ent-

if today’s result is all-important, there is no occasion to respect either the constitutional text or the decisions of your predecessors.“ 112 Vgl. hierzu O. W. Holmes, The Path of the Law, in: 10 Harv. L. Rev. 457 (1897); ders., Dissenting in Lochner v. New York (1905), abgedruckt in: W. Fisher III / M. Horwitz / T. Reed (eds.), American Legal Realism, 1993, S. 25, 26; Pound, Liberty of Contract (1909), abgedruckt in: American Legal Realism, S. 27, 32; ders., Law in Books and Law in Action (1910), abgedruckt in: American Legal Realism, S. 39, 42 ff.; ders., The Call for a Realist Jurisprudence, in: 44 Harv. L. Rev. 697 (1931); K. N. Llewellyn, Some Realism about Realism, in: ders., Jurisprudence: Realism in Theory and Practice, 1962, S. 42, 53 ff.; ders., Legal Tradition and Social Science Method – A Realist’s Critique, in: ders., Jurisprudence, S. 77, 78 ff.; J. Frank, Law and the Modern Mind, 1970. In der Sicht einiger Legal Realists ist Demokratie durch die realistische, sozusagen die das „echte“ Common Law oder, nach Llewellyns Einteilung, den „Grand Style“ des Common Law verkörpernde Verfassungsgerichtsbarkeit zu erreichen. Siehe dazu etwa Llewellyn, American Common Law Tradition, and American Democracy, in: ders., Jurisprudence, S. 282, 307 ff. Zum Unterschied zwischen „Grand Style“ (sozusagen dem realistischen Stil) und „Formal Style“ (sozusagen dem formalistischen Stil) des Common Law s. Llewellyn, The Common Law Tradition: Deciding Appeals, 1960, S. 35 – 45. 113 Dies betont B. N. Cardozo. Vgl. ders., The Nature of the Judicial Process (1921), abgedruckt in: Fisher III / Horwitz / Reed (eds.), American Legal Realism, S. 172, 176 f.; ähnlich Llewellyn, American Common Law Tradition, and American Democracy, S. 307. 114 Vgl. R. A. Posner, Pragmatic Adjudication, in: 18 Cardozo L. Rev. 1 (1996), S. 4.

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scheide115. Sowohl der Legal Realism als auch der Pragmatismus verkörpern und verstärken also insbesondere die Flexibilität bzw. den case by case-Charakter des Common Law. In Wirklichkeit entstehen die beiden unmittelbar aus dem common law-Hintergrund bzw. der Reflexion über die sich überwiegend auf die Bindung an die Präzedenzfälle konzentrierende formalistische common law-Praxis116, und zwar beschränken sich die beiden auf das common law-System bzw. die Reform des formalistischen Common Law, soweit sich der Legal Realism und der Pragmatismus auf das Verhalten des Richters konzentrieren117. Als Sonderfall ist die ehrgeizige Critical Legal Studies-Perspektive (CLS) zu erachten. Zur Erfüllung der Demokratie direkt durch das Volk bezweckt die CLS (hier besonders Mark Tushnet) den Umbruch des Konstitutionalismus. Auf diese Weise ist die common law-Verfassungsgerichtsbarkeit zwangsläufig in Kauf zu nehmen118. Dieses Argument soll hier dennoch nicht in Betracht kommen, weil es sich überhaupt nicht auf das Common Law, sondern auf die ganze herkömmliche Verfassungsordnung bezieht119. Bemerkenswert auch: Obwohl die CLS gegen die common law-Tradition argumentiert, geht sie gerade vom Grundverständnis eines Rechtssystems unter dem Common Law aus120. Im Hinblick auf den Entstehungshintergrund der CLS, die insofern als die Nachfolge des Legal Realism anzusehen ist, als sie, genauso wie der Legal Realism, als Gegner eines formalistischen Vgl. Posner, Pragmatic Adjudication, S. 5 ff. Ebenso Lepsius, Verwaltungsrecht unter dem Common Law, S. 241 ff.; 247: „Der Legal Realism kann nur verstanden werden vor dem Hintergrund der inhaltlichen und methodischen Krise des Fallrechts in den USA.“ Und S. 248: „Der Legal Realism ist . . . eine typische Reaktion auf spezifische (Fehl-)Entwicklungen des amerikanischen Common Law, auch wenn immer wieder die Verbindungen zur etwa zwanzig Jahre älteren Freiheitsschule hervorgehoben zu werden pflegen. Der Legal Realism konzentriert sich jedoch, ganz in der amerikanischen Tradition stehend, auf die Kritik des Richterrechts und des Case Law, während die Freirechtsschule gerade die strenge Bindung des Richters an das Gesetz und die Subsumtionstechnik zum Ausgangspunkt nahm und flexibleres Richterrecht forderte.“ Zum Einfluß der Freirechtsschule auf das Rechtsdenken der amerikanischen Legal Realists s. z. B. J. E. Herget, The Influence of German Thought on American Jurisprudence, in: M. Reimann (ed.), The Reception of Continental Ideas in the Common Law World 1820 – 1920, 1993, S. 203 ff., 215 ff.; M. Reimann, Historische Schule und Common Law. Die deutsche Rechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts im amerikanischen Rechtsdenken, 1993, S. 250 ff. Zum ideellen Zusammenhang zwischen dem Pragmatismus und dem Legal Realism vgl. N. Reich, Sociological Jurisprudence und Legal Realism im Rechtsdenken Amerikas, 1967, S. 37 ff.; G. Casper, Juristischer Realismus und politische Theorie im amerikanischen Rechtsdenken, 1967, S. 39 ff.; Posner, Overcoming Law, 1995, S. 387 ff.; vgl. ferner S. 4 ff. für den common lawHintergrund des Pragmatismus. 117 Vgl. Lepsius, Verwaltungsrecht unter dem Common Law, S. 242 f. 118 Vgl. etwa M. Tushnet, Taking the Constitution away from the Courts, 1999. 119 Für die CLS (hier besonders Tushnet) ist das Problem mit der Abgrenzung von Recht zu Politik stets unlösbar. Gewissermaßen gibt also das von Tushnet vertretene populist constitutional law das Recht auf. Siehe Tushnet, Taking the Constitution away from the Courts, S. 177 ff. 120 Hierzu Tushnet, Taking the Constitution away from the Courts, S. 154 ff. 115 116

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Rechtsdenkens gilt, läßt sich sogar sagen, daß die CLS in der Tat eine besonders vor dem common law-Hintergrund folgerichtige Bewegung ist121. Es liegt auf der Hand, daß die oben erwähnten Theorien (außerhalb der CLS) die common law-Tradition voraussetzen und verankern. Die Lehre von neutralen Prinzipien und der Originalismus unterstreichen das Element der Verbindlichkeit der Präzedenzfälle; im Gegenteil ist für den Legal Realism sowie den Pragmatismus das case by case-Element zugunsten der Flexibilität wichtiger; die Lehren von Strauss und von Sunstein stellen das vollständige common law-System und deswegen die beiden Elemente dar. Alle diese Theorien zielen darauf ab, die Verfassungsgerichtsbarkeit unter dem Common Law mit der repräsentativen Demokratie bzw. der demokratischen Gesetzgebung zu harmonisieren. Selbstverständlich liegt den unterschiedlichen Ansätzen ein jeweils eigenes Verständnis des Common Law sowie der Demokratie zugrunde, so daß eine eingehende Bewertung der Theorien jedenfalls mit Rücksicht auf diese Verständnisse vorzunehmen ist. Dies ist nicht die Aufgabe dieser Arbeit. Fraglich ist vielmehr, ob sich die Abgrenzung zwischen der Kompetenz des Supreme Court und der des demokratischen Gesetzgebers durch diese das Common Law verankernden Theorien ergeben kann. Die Lehren Wechslers, Borks, Straussens sowie Sunsteins neigen (in unterschiedlicher Weise) der Zurückhaltung des Supreme Court gegenüber dem Gesetzgeber zu. Insofern lassen sie sich als der Ansatz von judicial restraint bezeichnen122. Fraglich ist jedoch, wie dieser Ansatz fungieren kann. In der Hinsicht, daß das Common Law durch die Lehren verankert wird, stößt die Behauptung von judicial restraint auf Schwierigkeiten, da die zentrale Stellung des Supreme Court durch die Verankerung des Common Law in diesen Theorien unverändert bleibt. Aus den Lehren Straussens und Sunsteins ist ohne Schwierigkeit zu entnehmen, daß sich die oben I. 1. c) erwähnte zentrale Stellung der Verfassungsgerichtsbarkeit unter dem Common Law gerade dadurch darstellt, daß die Richter ermächtigt werden, durch die Analogie mit den Präzedenzfällen zwischen der Befolgung der Präjudizien und den situationsorientierten Kontexten123, sozusagen den case by caseAbwägungen zu wählen124, 125. Obwohl der judicial restraint versucht, die Kompe121 Dazu näher unten 3. Teil unter I. Zur Hintergrundrolle des Common Law für die Entwicklung der CLS vgl. an dieser Stelle O. Lepsius, Besprechung von Duncan Kennedy, A Critique of Adjudication: Fin de siècle, in: RabelsZ 63 (1999), S. 378, 379, 381. 122 Damit ist nicht gemeint, daß diese Lehren übereinstimmend dazu neigen, daß der Supreme Court grundsätzlich keine Akte des Gesetzgebers für verfassungswidrig erklären soll (in diesem Punkt erklärt Sunstein ausdrücklich, daß der Minimalismus kein judicial „restraint“ besagt. Hierzu ders., One Case at a Time, S. 28). Vielmehr wird von diesen Ansätzen betont, daß der Supreme Court sich gegenüber dem demokratischen Gesetzgeber vorsichtig verhalten soll, denn in demokratischer Hinsicht ist der Gesetzgeber immerhin von zentraler Bedeutung, während der Supreme Court vor der countermajoritarian difficulty steht. 123 Nach Straussens Wort heißt das „situation sense“. Siehe Strauss, Common Law Constitutional Interpretation, S. 909. 124 Die Gegenüberstellung von Befolgung der Präzedenzfälle und case by case-Abwägungen betont eher die Gegenseitigkeit und doch Koexistenz von Stabilität und Flexibilität unter

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tenz der Richter zu beschränken, kann er kein objektives Kriterium zur richterlichen Anwendung oder Auswahl der zwei common law-Richtlinien von der Befolgung der Präzedenzfälle und den case by case-Abwägungen anbieten126; statt dessen behauptet er nur eine richterliche Anschauung, die selbstverständlich vom Common Law vorausgesetzt ist127. In dieser Weise wird dem Richter sein Recht auf die Wahl zwischen der Bindung an die Präzedenzfälle und der case by caseAbwägung von diesem Ansatz im wesentlichen nicht entzogen, so daß die starke Verfassungsgerichtsbarkeit unter dem Common Law bewahrt ist. Unter der Prämisse, daß selbst das Common Law dem Supreme Court die Alternativen von der dem Common Law. Während die Bindung an die Präzedenzfälle vom traditionellen Fallrecht betont wird, hebt der rechtsrealistische Ansatz eine case by case-Überlegung hervor. Besonders aus der Behauptung Straussens läßt sich verdeutlichen, daß die beiden Elemente als Bestandteil des common law-Rechtsdenkens dienen. 125 Bereits durch die Analogie kommt das richterliche „Recht auf die Wahl“ leicht zum Ausdruck, sofern die Analogie dem Richter die Beurteilung überläßt, ob der zu lösende Einzelfall mit den einschlägigen früheren Entscheidungen gleich oder unterschiedlich zu behandeln ist. Da im Wesentlichen keine zwei Fälle identisch sind, stützt sich die Entscheidung darüber, ob ein alter Fall als Präjudiz zu befolgen ist, in der Tat auf die eigene richterliche Beurteilung. Zwar kann theoretisch das „Recht“ freilich nicht mißbraucht werden. Unter dem Common Law entwickelten sich z. B. einige Voraussetzungen, unter denen der Richter erst einen Präzedenzfall aufgeben darf („overruling“). Dazu etwa M. A. Eisenberg, The Nature of the Common Law, 1988, S. 104 ff. Das Problem liegt jedoch darin, daß diese sogenannten Voraussetzungen oder Grenzen nicht materiell-rechtlich bestimmt sind und daher überwiegend von der eigenen Beurteilung des Richters abhängen müssen. Insofern bleibt das richterliche „Recht“ unverändert. 126 Weder neutral principles noch original intent können selbst als objektive Kriterien gelten. Die These von den neutral principles behauptet eine gerichtliche Entscheidung nach Prinzipien („a principled decision“). Vgl. Wechsler, Toward Neutral Principles of Constitutional Law, S. 19: „A Principled decision . . . is one that rests on reasons with respect to all the issues in the case, reasons that in their generality and their neutrality transcend any immediate result that is involved.“ Die These, die wesentlich durch „treat like cases alike“ gekennzeichnet ist (so Ely, Democracy and Distrust, S. 54; ähnlich M. Tushnet, Following the Rules Laid Down: A Critique of Interpretivism and Neutral Principles, in: 96 Harv. L. Rev. 781 (1983), S. 805), führt aber zwangsläufig dazu, daß die neutral principles immerhin von Präzedenzfällen bestimmt werden müssen, sofern es stets umstritten ist, was neutral principles eigentlich sind. Insoweit ist die Forderung der Befolgung der neutral principles nichts anders als die der Befolgung der Präzedenzfälle und liefert daher keinen Maßstab. Nach Borks Originalismus erscheint original intent auf den ersten Blick ein Kriterium, das neben den Präzedenzfällen den Richter (strenger) bindet. Schon in der Hinsicht aber, daß sich die (endgültige) Bestimmung zu original intent letztlich auf die Beurteilung des Richters stützt, muß festgestellt werden, daß original intent nicht in der Lage ist, das richterliche Recht auf die Wahl zwischen der Befolgung der Präjudizien und den case by case-Abwägunen einzuschränken. Diese Problematik gilt auch für Scalias Textualismus. Zur Kritik an Borks Originalismus vgl. etwa G. H. Reynolds, Sex, Lies and Jurisprudence: Robert Bork, Griswold and the Philosophy of Original Understanding, in: 24 Ga. L. Rev. 1045 (1990); an der These Scalias etwa W. N. Eskridge, Jr., Textualism, The Unknown Ideal?, in: 96 Mich. L. Rev. 1509 (1998) (dort insbesondere S. 1532 – 1548). Allgemein zur Problematik des Originalismus etwa H. J. Powell, Rules for Originalists, in: 73 Va. L. Rev. 659 (1987). 127 Dies zeigt sich besonders deutlich in den Lehren von Strauss und Sunstein.

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Befolgung der Präzedenzfälle und deren Abweichung zur Verfügung stellt und sich gerade dadurch auszeichnet, wäre ein strenger judicial restraint im wesentlichen sogar unvereinbar mit dem Common Law, da das Common Law bereits eine Justiz voraussetzt, die sich keiner absoluten Autorität unterordnet128 und institutionell mehrere Alternativen haben kann und muß. Solange das Common Law noch anzuerkennen ist, kann von judicial restraint keine Rede sein. In der Folge weist sich der judicial restraint bestenfalls als der judicial self-restraint aus, der eher ein moralisches Gebot als ein objektiver Maßstab und folglich nicht in der Lage ist, der Kompetenz des Supreme Court eine echte, sozusagen objektive materiell-rechtliche Grenze zu ziehen. Der Legal Realism und der Pragmatismus sehen sogar die case by case-Abwägung und -Beurteilung des Supreme Court selbst als die „mit der Demokratie in Einklang stehende Grenze“ an, sofern diese Abwägung und Beurteilung auf einer realistischen bzw. pragmatischen (und folglich aus der Sicht der Vertreter dieser Theorien demokratischen) Grundlage basieren. Gewissermaßen kann also dieser des judicial self-restraint noch intensiver bedürfende Ansatz129 sogar als ein vollständiger Verzicht auf die objektive Begrenzung der Verfassungsgerichtsbarkeit angesehen werden, weil aus der Sicht dieses Ansatzes bereits eine realistische oder pragmatische Verfassungsgerichtsbarkeit selbst der Demokratie entsprechen und ihre Gebote erfüllen kann. Ob die vom Supreme Court erfüllte Demokratie mit der vom Gesetzgeber repräsentierten Demokratie in Konflikt geraten kann, spiele hier keine Rolle, da ein realistischer oder pragmatischer Richter dies jedenfalls ins Betracht gezogen haben müsse. Insgesamt läßt sich sagen, daß nach den oben erwähnten verschiedenen Auffassungen, die entweder den einen oder / und den anderen Aspekt des Common Law, sozusagen die Stabilität durch die Bindung an die Präjudizien oder / und die Flexibilität durch die case by case-Abwägungen, hervorheben, die Kompetenzausübung des Supreme Court zum großen Teil durch den einen keineswegs objektiven Maßstab bildenden judicial self-restraint zu begrenzen ist. Dies ist auch der Fall, wenn der judicial restraint betont wird, der sich unter dem Common Law schwer erfüllen läßt, das bereits die Koexistenz von der Verbindlichkeit der Präzedenzfälle und der freien, situationsorientierten case by case-Methode voraussetzt und gerade dadurch den Supreme Court in den Vordergrund rückt. In der Folge sind die objektiven Maßstäbe zur Begrenzung der Verfassungsgerichtsbarkeit weder durch judicial self-restraint noch durch judicial restraint zu gewinnen.

So zutreffend Strauss, Common Law Constitutional Interpretation, S. 879. Der judicial self-restraint ist hier noch intensiver gebraucht in dem Sinne, daß nach Legal Realism und Pragmatismus der Richter materiell-rechtlich durch nichts beschränkt werden muß. 128 129

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cc) Der Alternativansatz Dworkins Auf dieser Ebene kann die Lehre von Ronald Dworkin, die genauso auf dem common law-Hintergrund beruht130, eine Alternative bilden. Statt der Fragestellung, wer – der Supreme Court oder der Gesetzgeber – in demokratischer Hinsicht die Befugnis hat, eine Entscheidung zu treffen, geht Dworkin davon aus, daß der Supreme Court und der Gesetzgeber unterschiedliche sachliche Aufgaben zu übernehmen und deswegen unterschiedliche sachliche Entscheidungen zu treffen haben. Nach Dworkin liegt der Ansatzpunkt in der Unterscheidung zwischen Prinzip und Politik: Das Argument des Prinzips stehe auf der Seite des subjektiven Rechts des einzelnen; demgegenüber stehe das Argument der Politik auf der Seite des Gemeinwohls131. Diese Unterscheidung führe folglich zur Abgrenzung der Aufgaben des Supreme Court und des Gesetzgebers: Während dem Gesetzgeber die Entscheidung über die Politik zustehe, habe der Supreme Court die Aufgabe, seine Entscheidung auf Grund des Prinzips zu begründen132. Diese Aufgaben- oder Funktionsdifferenzierung ist in Dworkins Sicht aus dem (amerikanischen) Konstitutiona130 Dworkin erklärt immer wieder, daß seine Verfassungstheorie auf dem amerikanischen Hintergrund beruht. Aus diesem Argument in seinen zahlreichenden Werken ist zu entnehmen, daß der sog. amerikanische Hintergrund sich gewissermaßen auf die common law-Tradition bezieht. Vgl. etwa Dworkin, Taking Rights Seriously, S. 105 ff.; ders., Law’s Empire, 1986, S. 184 ff.; 227 ff. Vgl. auch H. Hofmann, Das Recht des Rechts, das Recht der Herrschaft und die Einheit der Verfassung, 1998, S. 27 – 29. Gerade auf der common law-Grundlage begründet Dworkin seine Auffassung darüber, wie und inwieweit die Bindungswirkung der Präzedenzfälle sich geltend machen soll. Für Dworkin wird ein Präzedenzfall bindend, sofern er seine Entscheidung auf das Argument vom Prinzip (s. unten) begründet. Dazu Taking Rights Seriously, S. 110 ff. Dworkins berühmte Analogie vom Richter zum Autor eines Fortsetzungsromans stellt wieder die common law-Voraussetzung in seiner Lehre dar, indem er durch die Analogie hervorhebt, daß der Richter sowohl die Konsistenz seiner Entscheidung mit dem Argument von Prinzipien in der Vergangenheit als auch die Auswirkung seines Arguments des Prinzips auf die Zukunftsentwicklung in Betracht ziehen soll. Dazu Law’s Empire, S. 228 ff. 131 Dazu Dworkin, Taking Rights Seriously, S. 90: „Arguments of principles are arguments intended to establish an individual right; arguments of policy are arguments intended to establish a collective goal. Principles are propositions that describe rights; policies are propositions that describe goals.“ Im Zusammenhang mit der letzten Fußnote vgl. ferner Heun, Verfassungsrecht und einfaches Recht, S. 94 (Fn. 78): „Das Konzept der Prinzipien im Unterschied zu Regeln von R. Dworkin . . . ist bezeichnenderweise nicht am Beispiel des Verfassungsrechts, sondern des Common Law entwickelt worden; . . .“ 132 Dazu Dworkin, Taking Rights Seriously, S. 82 ff.; auch ders., Law’s Empire, S. 243 f.: „A legislature does not need reasons to justify the rules it enacts . . . A legislature may justify its decision to create new rights for the future by showing how these will contribute, as a matter of sound policy, to the overall good of the community as a whole. . . . Law as integrity assumes, however, that judges are in a very different position from legislators. . . . Judges must make their common-law decisions on grounds of principle, not policy; they must deploy arguments why the parties actually had the „novel“ legal rights and duties they enforce at the time the parites acted or at some other pertinent time in the past.“ (Hervorhebung von der Verfasserin) Auf dieser Ebene ähnlich H. H. Wellington, Common Law Rules and Constitutional Double Standards: Some Notes on Adjudication, in: 83 Yale L. J. 221 (1973), S. 266 f.

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lismus abzuleiten. Da (aufgrund des Konstitutionalismus) die Mehrheitsherrschaft dem individuellen Recht unterliege133, müsse in der repräsentativen Demokratie, in der die auf dem Mehrheitsprinzip basierende Gesetzgebung die Hauptrolle spielt, ein Gegengewicht bestehen, um das individuelle Recht gegen die Majorität zu verteidigen. Unter der common law-Tradition, die ohne Zweifel von Dworkins Lehre vorausgesetzt wird, wird dann selbstverständlich, daß der Supreme Court als dieses Gegengewicht dienen soll134. Die Folge: Gehe es um das Recht des einzelnen, so falle es unter die Aufgabe des Supreme Court und müsse die Entscheidung vom Supreme Court getroffen werden. Unter der Aufgaben- bzw. Funktionsdifferenzierung besagt dies zugleich, der Supreme Court könne und zwar solle aktivistisch handeln, soweit seine Entscheidung das individuelle Recht betreffe. So beschreibt Dworkin im Ergebnis den fiktiven, seine Lehre verkörpernden Richter „Hercules“135: „[Hercules] is not a passivist because he rejects the rigid idea that judges must defer to elected officials, no matter what part of the constitutional scheme is in question. He will decide that the point of some provisions is or includes the protection of democracy, and he will elaborate these provisions in that spirit instead of deferring to the convictions of those whose legitimacy they might challenge. He will decide that the point of other provisions is or includes the protection of individuals and minorities against the will of the majority, and he will not yield, in deciding what those provisions require, to what the majority’s representatives think is right. [Hercules] is not an „activist“ either. He will refuse to substitute his judgement for that of the legislative when he believes the issue in play is primarily one of policy rather than principle, when the argument is about the best strategies for achieving the overall collective interest through goals like prosperity or the eradication of poverty or the right balance between economy and conservation.“

Dworkins Verfassungstheorie beruht auf einer komplizierten, vielschichtigen Grundlage, so daß es unmöglich und unnötig ist, seine Lehre hier im einzelnen darzustellen. Schon aber diese im Vergleich zu Dworkins zahllosen Werken knappen Ausführungen haben gezeigt, daß der Ansatz von Dworkin zur Reaktion auf die countermajoritarian difficulty der Verfassungsgerichtsbarkeit unter dem Common 133 Das bedeutet der Konstitutionalismus in Dworkins Sicht. Siehe Dworkin, Taking Rights Seriously, S. 142. Aufgrund dieser Auffassung behauptet Dworkin weiter, daß die amerikanische Verfassung eine konstitutionelle und nicht eine majoritätsbasierte Konzeption von Demokratie voraussetzt. Siehe dazu Dworkin, Freedom’s Law: The Moral Reading of the American Constitution, 1996, S. 16 f.: „In the United States, however, most people who assume that the majoritarian premise states the ultimate definition of and justification for democracy nevertheless accept that on some occasions the will of the majority should not govern. . . . [The constitutional conception of democracy] does reject the majoritarian premise. . . . It takes the defining aim of democracy to be a different one: that collective decisions be made by political institutions whose structure, composition, and practices treat all members of the community, as individuals, with equal concern and respect.“ 134 Dies bezieht sich auf die typische Rolle des common law-Gerichts als Garant der individuellen Grundrechte. Siehe auch oben I. 1. d). 135 Dworkin, Law’s Empire, S. 398.

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Law durch die Verteilung zwischen den Aufgaben des Supreme Court und des demokratischen Gesetzgebers neben judicial restraint und judicial self-restraint eine andere Perspektive eröffnet hat, die nicht mehr (wie judicial self-restraint) durch ein moralisches Gebot, sondern durch ein objektives sachlich-inhaltliches Kriterium, nämlich die Aufgabenverteilung von Supreme Court und Gesetzgeber nach der Unterscheidung von Prinzip und Politik, den Ausgleich zwischen dem Gewaltenteilungs- und dem common law-Hintergrund der Verfassungsgerichtsbarkeit ermöglicht. Mit anderen Worten hat die Lehre Dworkins sowohl den mit dem Common Law unvereinbaren judicial restraint als auch den nutzlosen judicial self-restraint abgelehnt; statt dessen begründet sie die vom Common Law vorausgesetzte aktive Verfassungsgerichtsbarkeit (sozusagen judicial activism136), ohne daß deren Abgrenzung von der demokratischen Gesetzgebung entfällt137. Auf diese Weise spielt also das vom Argument des Prinzips geförderte individuelle Grundrecht eine zentrale Rolle, das nicht nur an die common law-Tradition des Grundrechtsschutzes, sondern an das funktionsbezogene Aufgabengebiet der Verfassungsgerichtsbarkeit anknüpft. Im Ergebnis bleibt einerseits das Common Law in manchen Sachbereichen einschlägig; andererseits aber hat der demokratische Gesetzgeber die Befugnis in anderen Sachbereichen. Hier handelt es sich daher nicht um die richterliche Anschauung von judicial self-restraint, sondern um die Aufgaben- und Funktionsverteilung. Durch die vorhergehende Diskussion und Reflexion über all die oben genannten Theorien oder Ansätze im Lichte des Common Law lassen sich die Notwendigkeit sowie die eigenartige Bedeutung der Entwicklungstendenz zur Aufgaben- und Funktionsverteilung für die common law-Verfassungsgerichtsbarkeit besonders deutlich erklären. Gerade im Vergleich zu judicial restraint oder self-restraint scheint die Funktionsverteilung schon deshalb sinnvoller und zweckmäßiger zu sein, weil sie, entsprechend der Eigenheit des Common Law, unter dem das Gericht nicht „schwach“ bleiben kann, die zentrale Stellung des Supreme Court anerkannt, aber trotzdem zugleich versucht, seine Kompetenz nicht mehr durch ein moralisches Gebot, sondern vielmehr durch einen objektiven Maßstab auf ein bestimmtes Sachge136 Damit ist nicht gemeint, daß der Supreme Court unter dem Common Law immer zur Verweigerung der gesetzgeberischen Entscheidung neigt. Vielmehr zeigt sich „judicial activism“ vor allem dadurch, daß der Supreme Court jedenfalls die Befugnis hat, im konkreten Fall zwischen Bindung an die Präzedenzfälle und case by case-Abwägungen abzuwägen und zu wählen. 137 Gerade an dieser Stelle unterscheidet sich Dworkins Behauptung der aktiven Verfassungsgerichtsbarkeit von anderen Ansätzen, die in der Folge nur an judicial restraint oder judicial self-restraint appellieren. Auch und gerade dadurch zeichnet sich die Bedeutung der Aufgaben- oder Funktionsverteilung im Sinne Dworkins aus, nach der der Gedanke von judicial restraint oder self-restraint nicht vorkommt, erst damit der Charakter des Common Law nicht verzerrt ist, obwohl mehrere Thesen zum funktionell-rechtlichen Ansatz zählen könnten rein aus der Perspektive, daß der Supreme Court und der Gesetzgeber wesentlich unterschiedliche Aufgaben haben. In diese Richtung vgl. z. B. G. F. Schuppert, Self-restraints der Rechtsprechung: Überlegung zur Kontrolldichte in der Verfassungs- und Verwaltungsgerichtsbarkeit, in: DVBl. 1988, S. 1191, 1196.

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biet zu beschränken. In der Tat kennzeichnet gerade die Funktionsverteilung zwischen dem Supreme Court und dem Gesetzgeber die praktische Entwicklungsorientierung nach der Lochner-Ära: Mit Blick auf die Tendenz zum „Funktionsmodell“ der Verfassungsgerichtsbarkeit, das in erster Linie durch die Entwicklung der abgestuften Prüfungsstandards gekennzeichnet ist, läßt sich sagen, daß der Gedanke von sachlicher Aufgaben- und Funktionsverteilung zwischen dem Supreme Court und dem Gesetzgeber gerade die Entwicklungslinie des Supreme Court nach 1937 darstellt. Wie erwähnt, wurde seit der Lochner-Ära die starke common law-Verfassungsgerichtsbarkeit grundlegend untersucht; danach wird das common law-Element des Supreme Court aber nicht beseitigt, sondern durch die Funktionsdifferenzierung in unterschiedlicher Weise zum Ausdruck gebracht.

3. Der Einfluß der Problemstellung der countermajoritarian difficulty auf die praktische Entwicklung der Verfassungsgerichtsbarkeit Die Entscheidung United States v. Carolene Products Co.138 sowie ihre bekannte „Fußnote 4“ spiegeln die praktische Reflexion über die Verfassungsgerichtsbarkeit wider139. Die Entscheidung erklärte ein Bundesgesetz aufgrund seiner „rationalen Basis“ für verfassungsgemäß140; allerdings deutete Justice Stone in der Fußnote 4 an, daß der Prüfungsmaßstab der „rationalen Basis“, der „rational basis test“141, nicht für jeden Gesetzgebungsbereich gleichermaßen gelte: „There may be narrower scope for operation of the presumption constitutionality when legislation appears on its face to be within a specific prohibition of the Constitution, such as those of the first ten amendments [The Bill of Rights], which are deemed equally specific when held to be embraced within the Fourteenth.“142 Im Ergebnis 304 U.S. 144 (1938). Sicherlich ist die Reflexion nicht durch die Entwicklung der oben 2. erörterten Theorien bedingt, die alle – inklusive Bickels Lehre, die erst die Problemstellung der „countermajoritarian difficulty“ zum Ausdruck bringt, die aber immer existiert und daher offensichtlich nicht von Bickel „erfunden“ ist – erst nach dem Wendepunkt von Carolene Products erschienen sind. Sie bezieht sich auf die Überlegungen des Supreme Court selbst angesichts der Erfahrung in der Lochner-Ära. Hier ist deswegen notwendig zu erklären, daß die vorhergehende Darstellung oder Analyse zu den oben erwähnten Theorien nicht begründen kann und will, daß diese Theorien eine „führende Rolle“ für die praktische Entwicklung spielen. Sie zielt vielmehr darauf, den Einfluß des common law-Hintergrundes auf die amerikanische Betrachtungsweise zur Problematik der Verfassungsgerichtsbarkeit aufzuzeigen, um daraus zu entnehmen und zu veranschaulichen, warum das „Funktionsmodell“ die Entwicklungstendenz der Verfassungsgerichtsbarkeit unter dem Common Law sein muß. 140 304 U.S. 144, S. 152: „[85] regulatory legislation affecting ordinary commercial transactions is not to be announced unconstitutional unless in the lights of the facts made known or generally assumed it is of such a character as to preclude the assumption that it rests upon some rational basis within the knowledge and experience of the legislators . . .“ 141 Dazu unten III. 2. a) bb). 142 304 U.S. 144, S. 152 (Fn. 4). 138 139

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bewirkt diese Ansicht einen Paradigmenwechsel in der Entwicklung der common law-Verfassungsgerichtsbarkeit. Vor dem Hintergrund der countermajoritarian difficulty ist allgemein bewußt, daß dem demokratischen Gesetzgeber ein irgendgearteter größerer Spielraum überlassen werden soll, und diese Fußnote zeigt gerade, in welcher Richtung dies erfolgen soll143. Infolgedessen richtet sich das Common Law seither auf die Aufgabenverteilung zwischen dem Supreme Court und dem Gesetzgeber, die als das Kriterium sowie Mittel zur Balance der Verfassungsgerichtsbarkeit unter der countermajoritarian difficulty und unter dem Common Law angesehen wird: Während die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers auf dem Gebiet allgemeiner wirtschaftlicher Regulation grundsätzlich anerkannt ist, mag es sein, daß der Supreme Court die direkt die Bill of Rights betreffenden Gesetze strenger zu überprüfen hat. Die Tendenz zur „Typisierung“ ist methodologisch keineswegs neu im Hinblick auf die common law-Tradition, da das Common Law sich gerade durch die Analogie auszeichnet, die zwischen Bindung an die Präzedenzfälle und case by case-Abwägungen vermittelt144. In empirischer Hinsicht ist aber anzuerkennen, daß die weitere, detaillierte Typisierung auf den Hintergrund der countermajoritarian difficulty zurückgeführt werden muß, die gerade angesichts der Erfahrung in der Lochner-Ära besondere Aufmerksamkeit erregt. Vor dem Hintergrund der countermajoritarian difficulty wird also versucht, die „Drohung“ des Common Law gegen den demokratischen Gesetzgeber wahrscheinlich durch die auf dem Gedanken von Aufgaben- oder Funktionsverteilung basierende Typisierung zu beseitigen. Fraglich ist jedoch, ob die Drohung in dieser Weise nur versteckt wird. Nach der Funktionsdifferenzierung übernimmt der Supreme Court die Aufgabe, wie die erwähnte Fußnote angedeutet hat, die bestimmten wesentlichen Grundrechte zu gewährleisten145; was nicht in den Bereich dieser Grundrechte gehört, fällt unter der Voraussetzung von „rationaler Basis“ unter die Handlungsfreiheit des Gesetzgebers. Bemerkenswert ist allerdings, daß die die persönlichen Grundrechte in den Vordergrund rückende Typisierung oder Klassifizierung die Kompetenz des Supreme Court einerseits einschränken, andererseits aber noch stärker begründen kann. Besonders bedenklich ist dabei, ob und inwiefern sich die Verfassungsgerichtsbarkeit tatsächlich durch die Funktionsverteilung auf ein bestimmtes Gebiete beschränken läßt, deren Zweckmäßigkeit einen objektiven Maßstab (zur Typisierung) voraussetzt146. Deshalb ist eine nähere Betrachtung des Funktionsmo143 Der oben zitierte Teil der Fußnote deutet die Garantie von Bill of Rights durch den Supreme Court an. In der Weise suggeriert er zugleich, wie in der Entscheidung selbst dargestellt ist, daß die Gesetze, die mit der Bill of Rights nichts zu tun haben, nur einer lockeren gerichtlichen Überprüfung unterliegen sollen. Zur nähreren Betrachtung bzw. Kritik dieser Fußnote vgl. etwa B. Ackerman, Beyond Carolene Products, in: 98 Harv. L. Rev. 713 (1985). 144 Als ein schönes Beispiel dafür gilt wieder die Lochner-Ära, in der der Supreme Court zunächst beurteilt, sozusagen typisiert, auf welcher Seite der Sachverhalt eines überprüften Gesetzes steht, Police Power oder Grundrechtsschutz. Siehe hierzu Lepsius, Verwaltungsrecht unter dem Common Law, S. 56 f. 145 Wie immer wieder bei der common law-Tradition ist die Kategorie der bestimmten wesentlichen Grundrechte nach der Empirie ausgestaltet. Siehe unten III.

III. Die Entwicklung der Grundrechte durch den Supreme Court

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dells bzw. des „amerikanischen funktionell-rechtlichen Ansatzes“ des Supreme Court erforderlich, um zu beantworten, ob die innere Balance zwischen der Verfassungsgerichtsbarkeit unter der countermajoritarian difficulty und der Verfassungsgerichtsbarkeit unter dem Common Law durch die Funktionsdifferenzierung zwischen dem Supreme Court und dem demokratischen Gesetzgeber erreichbar ist. Mit anderen Worten ist im Hinblick auf den Charakter der Verfassungsgerichtsbarkeit unter dem Common Law, der in der Tat durch das richterliche Recht auf die Wahl zwischen der Bindung an die Präzedenzfälle und den case by case-Abwägungen gekennzeichnet ist, zu überlegen, ob und inwiefern die richterliche Freiheit oder sogar Beliebigkeit durch die sachliche Funktionsverteilung eingeschränkt werden kann.

III. Die Entwicklung der Grundrechte und der Prüfungsstandards durch den Supreme Court 1. Grundrechtsentfaltung durch den Supreme Court a) Grundrechtsschutz unter dem Common Law: Grundrechte als Abwehrrechte Wie oben I. 1. d) erwähnt, wird das Gesetz in den USA typischerweise als Grundrechts- bzw. Freiheitsbedrohung angesehen. Wie oben gezeigt, entstand der Gedanke aus der common law-Tradition. Ursprünglich verbindet sich die amerikanische Grundrechtsidee mit dem vorkonstitutionellen Naturrecht unter der common law-Tradition147, so daß das Grundrecht, das an erster Stelle durch das Freiheitsrecht gekennzeichnet ist, als Mittel zum „Distanzschutz“ des einzelnen gegen den Staat dient. Vor dem Hintergrund ihrer Unabhängigkeit vom Mutterland England haben die Vereinigten Staaten die Suprematie des englischen Parlaments nicht übernommen. Statt dessen gaben sie eine geschriebene Verfassung, die vor den Gesetzen den Vorrang hat, den der Supreme Court sichert148. Auf diese Weise bedeu146 Erst dadurch unterscheidet sich der Ansatz der Funktionsverteilung wirklich vom judicial self-restraint. 147 Zur Verbindung der common law-Tradition mit dem Gedanken des Naturrechts vgl. z. B. Pound, The Spirit of the Common Law, S. 85 ff.; Llewellyn, One „Realist’s“ View of Natural Law for Judges, in: ders., Jurisprudence, S. 111, 114 f.; Stoner, Common Law and Liberal Theory, S. 13 – 47, 69 – 175, 185 – 195; Reich, Sociological Jurisprudence und Legal Realism im Rechtsdenken Amerikas, S. 17 ff.; Lepsius, Besprechung von P. Kirchhof / D. Kommers (Hrsg.), Deutschland und sein Grundgesetz, S. 162; Sunstein, Lochner’s Legacy, S. 879 (Fn. 30). 148 Vgl. Ehmke, Wirtschaft und Verfassung, S. 201: „Geschriebene Verfassung, Bindung des Gesetzgebers an die geschriebene Verfassung, gerichtliche Kontrolle des Gesetzgebers in Auslegung der geschriebenen Verfassung waren die drei Hauptmerkmale einer ,Abweichung‘“. Vgl. auch Grimm, Rückkehr zum liberalen Grundrechtsverständnis, S. 224; ders.,

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2. Teil: Verfassungsgerichtsbarkeit in den USA

tet in Amerika der „Distanzschutz“ den einzelnen Distanzschutz vor Gesetzen, während die Grundrechte des einzelnen durch die Verfassung und deswegen durch die Verfassungsgerichtsbarkeit gewährleistet werden. Vor diesem Hintergrund haben sich die amerikanischen Grundrechte als negative Abwehrrechte entwickelt149, die in erster Linie besagen, daß das Individuum so viel Freiheit und so wenig staatliche (hier besonders: gesetzgeberische) Einmischung wie möglich will150. Die Grundrechte als Abwehrrechte fungieren also stets als Kehrseite der Gesetzgebung, und infolgedessen wirkt sich das Common Law in den USA im Vergleich zu England unterschiedlich aus, da in den USA das Common Law durch die geschriebene Verfassung auf der Seite des Supreme Court und folglich gegenüber dem Gesetzgeber steht. Wie Roscoe Pound zutreffend gezeigt hat: „[T]he common-law guarantees of individual rights are established in our constitutions, state and federal. So that, while in England these common-law dogmas have had to give way to modern legislation, in America they have stood continually between the people, or large classes of people, and legislation they desire.“151 In der Folge hat die common law-Verfassungsgerichtsbarkeit die Grundrechte, also die negativen Abwehrrechte auf der einen Seite effektiver geschützt, indem sie, wie oben I. 2. erläutert, Die Grundrechte im Entstehungszusammenhang der bürgerlichen Gesellschaft, in: ders., Die Zukunft der Verfassung, S. 67, 81 f.; Heun, Verfassungsrecht und einfaches Recht, S. 84 f. 149 Zum Hintergrund etwa H. Hofmann, Die Grundrechte 1789 – 1949 – 1989, in: NJW 1989, S. 3177, 3178. Auf dieser Grundlage ist der Begriff der objektiven Dimension der Grundrechte in den Vereinigten Staaten bis heute noch fremd. 150 Das Verständnis der Grundrechte als Abwehrrechte führt allerdings nicht dazu, daß das Individuum von politischer Gemeinschaft entfernt sein will. Auf der Basis des amerikanischen demokratischen Gedankens zielen die Grundrechte nicht nur darauf ab, das Individuum gegen den Staat, vor allem gegen die gesetzgebende Gewalt, zu schützen, sondern darauf, daß der einzelne bei der politischen Willensbildung mitwirkt. Schon daraus läßt sich auch ablesen, daß die amerikanische Verfassungstradition nicht nur das Freiheitsrecht, sondern auch das gleiche Freiheitsrecht voraussetzt. Hierzu etwa Fraenkel, Das amerikanische Regierungssystem, S. 39 ff., 90 f., 169 ff.; H. Steinberger, Konzeption und Grenzen freiheitlicher Demokratie. Dargestellt am Beispiel des Verfassungsrechtsdenkens in den Vereinigten Staaten von Amerika und des amerikanischen Antisubversionsrechts, 1974, S. 24 f. Vgl. auch Art. 1 der Virginia Bill of Rights vom 26. August 1776, wo „all men are by nature equally free“ ausdrücklich betont wird (Text zitiert in: Grimm, Die Grundrechte im Entstehungszusammenhang der bürgerlichen Gesellschaft, S. 68). 151 Pound, The Spirit of the Common Law, S. 103. Pound setzte fort: „In consequence, the courts were long put in a false position of doing nothing and obstructing everything, which it was impossible for the layman to interpret aright.“ In Pounds Sicht führt die amerikanische Institution zwangsläufig zur Verzerrung des Common Law, weil das Common Law durch die amerikanische Verfassung vom Volkswillen differenziert ist, der in erster Linie durch die Gesetzgebung dargestellt wird. Dazu ferner Pound, ebenda, S. 106 ff. Diese Ansicht hat in gewißem Maße genauso die unvermeidliche, in diesem Teil immer wieder gezeigte Schwierigkeit von Verfassungsgerichtsbarkeit unter dem Common Law auf der einen Seite und unter der traditionellen Gewaltenteilungsstruktur auf der anderen Seite widergespiegelt. Auch gerade daraus folgt Pounds Neigung zum Legal Realism, der behauptet, nur durch einen realistischen Richter könne das verzerrte Common Law „korrigiert“ und folglich „demokratisiert“ werden [dazu auch oben II. 2. b) bb)].

III. Die Entwicklung der Grundrechte durch den Supreme Court

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das Eigentum sowie die Vertragsfreiheit durch die Due Process of Law-Klausel gewährleistete152; auf der anderen Seite aber hat ihre Funktion von Grundrechtsschutz das Spannungsverhältnis zwischen dem Supreme Court und dem Gesetzgeber besonders vor dem amerikanischen Hintergrund verschärft. Das Spannungsverhältnis zwischen der common law-Verfassungsgerichtsbarkeit und der demokratischen Gesetzgebung ist ferner dadurch heftiger geworden, daß das oben bezeichnete common law-Verständnis für die Grundrechte bzw. Freiheitsrechte schon ein common law-Modell des Grundrechtsschutzes gebildet hat, das keineswegs mit dem herkömmlichen deutschen Modell der Grundrechtsgewährleistung, dem Aufbau nach Schutzbereich, Eingriff (Schranken)153 und dessen Rechtfertigung (sowie Schranken-Schranken)154 gleichgesetzt werden kann155, denn ganz anders als das deutsche Denken setzt das typische amerikanische Common Law voraus, daß die Gesetze unbedingt als Kehrseite zum Grundrechtsschutz gelten. Bei der Grundrechtsprüfung beschäftigt sich das Gericht also zunächst einmal, und zwar in großem Umfang mit der Bestimmung des Schutzbereichs eines zu behandelnden Grundrechts (nur) im Zusammenhang mit dem Tatbestand des zu lösenden konkreten Streitfalls, so daß die Entscheidung darüber, ob ein Recht oder Interesse im Zusammenhang mit dem Fakt des vor Augen stehenden Einzelfalls in den Schutzbereich einzubeziehen ist, getroffen werden kann156. Da die Bestim152 Zur Wichtigkeit des Eigentumsschutzes in der Geschichte der Vereinigten Staaten vgl. etwa M. J. Horwitz, The Transformation of American Law, 1780 – 1860, 1977, Kapitel II – VIII. 153 Zu unterschiedlichen Begriffsperspektiven von Eingriff und Schranken J. Isensee, Das Grundrecht als Abwehrrecht und als staatliche Schutzpflicht, in: ders. / P. Kirchhof (Hrsg.), HStR V, 1992, § 111, Rn. 58. 154 Zum Aufbau der deutschen Grundrechtsprüfung vgl. grundlegend B. Pieroth / B. Schlink, Grundrechte. Staatsrecht II, 18. Aufl. 2002, Rn. 195 ff. Vgl. auch P. Lerche, Grundrechtlicher Schutzbereich, Grundrechtsprägung und Grundrechtseingriff, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), HStR V, § 121; ders., Grundrechtsschranken, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), HStR V, § 122; R. Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte. Reflexive Regelung rechtlich geordneter Freiheit, 2003, S. 318 ff. Ferner M. Kloepfer, Grundrechtstatbestand und Grundrechtsschranken in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts – dargestellt am Beispiel der Menschenwürde –, in: C. Starck (Hrsg.), Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz, Band II, 1976, S. 405 ff.; H. D. Jarass, Baustein einer umfassenden Grundrechtsdogmatik, in: AöR 120 (1995), S. 345 ff. 155 Vgl. aber Brugger, Grundrechte und Verfassungsgerichtsbarkeit in den USA, S. 38 – 43; ders., Einführung in das öffentliche Recht der USA, 1993, S. 90. Die Einteilung Bruggers hat die deutsche Systematik direkt auf die amerikanische Grundrechtsprüfung übertragen, indem er nicht nur entsprechend der deutschen Einteilung von Schutzbereich, Eingriff und Rechtfertigung dem amerikanischen Modell nachgeht, sondern es in Bezug auf die Stufen von Schranken und von Schranken-Schranken aufgrund des Textes der amerikanischen Verfassung oder der Lehre der Prüfungsstandards analysiert. Auf die Weise könnte dennoch unbeachtet bleiben, daß das amerikanische Modell wegen des Fehlens der Idee der Rechtsanwendung im Sinne der kontinentaleuropäischen Tradition den Text der Verfassung nicht wie in Deutschland behandelt; auch die Lehre von Prüfungsstandards dürfte nicht mit der deutschen Schrankendogmatik gleichgesetzt werden, denn sie beruht überhaupt nicht auf dem Gedanken von Gewährleistungsschranken der Grundrechte. Siehe dazu unten 2.

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2. Teil: Verfassungsgerichtsbarkeit in den USA

mung des Schutzbereichs in der Regel vom Common Law abhängt, kann ein in der common law-Tradition157 nicht anerkanntes Interesse schon am Anfang der gerichtlichen Prüfung aus dem Schutzbereich ausgeschlossen werden. Solange aber ein Recht oder Interesse in den Schutzbereich einbezogen ist, wird der Grundrechtsschutz absolut. Das heißt also, daß ein in das Recht eingreifendes Gesetz folglich kaum gerechtfertigt werden dürfte; anders gesagt (und grob formuliert) kennt das amerikanische Modell die „Schrankendogmatik“ im Sinne des deutschen Verfassungsrechts158 nicht. Auf diese Weise kommt beim common law-Verständnis der Grundrechte und der Grundrechtsgewährleistung ein Gedanke wie Ausgleich oder Abwägung zwischen den Grundrechten und anderen Interessen traditionellerweise nicht vor, solange ein überprüftes Gesetz schon nach der common law-Tradition unter die Kategorie des Grundrechtsschutzes fällt.

b) Grundrechtsschutz vor der countermajoritarian difficulty Angesichts der Erfahrungen der Lochner-Ära aber hat sich die Haltung des Supreme Court in der Entscheidung United States v. Carolene Products Co. offensichtlich gewendet. Dadurch, daß die eigentumsrechtsbezogenen Gesetze, wie oben gezeigt, grundsätzlich nur der nach den „rational basis test“ gerichteten gerichtlichen Überprüfung unterliegen, werden die wirtschaftlichen Grundrechte, insbesondere die Eigentumsrechte sowie die Vertragsfreiheit, nicht wie früher geschützt. Vor dem Hintergrund der countermajoritarian difficulty, die besonders durch die Entwicklung der Verfassungsgerichtsbarkeit in der Lochner-Ära realisiert wurde, hat der Supreme Court wegen seines Verständniswandels des Eigentumsrechtsschutzes159 dem Gesetzgeber die Entscheidung über die Eigentumsverteilung 156 Die Falllösung unter der common law- und der kontinentaleuropäischen Tradition geht insofern unterschiedliche Wege: Während die Falllösung unter der kontinentaleuropäischen Tradition von der Auslegung der anzuwendenden abstrakten Norm(en) ausgeht, konzentriert sich die common law-Falllösung immer auf den zu behandelnden Einzelfall. Gerade auf diese Weise sind unter dem Common Law die Elemente von Faktizität und Normativität in erheblichem Maße untrennbar. Dazu näher unten 2. b) bb). 157 Sachlich stützt sich die common law-Tradition naturgemäß auf das Fallrecht. Im Hinblick auf die oben genannte Eigenart der common law-Falllösung liegt es aber nahe, daß auch die Empirie eine besondere Rolle spielt. Dies findet sich schon in der Lochner-Ära. Vgl. z. B. Lepsius, Verwaltungsrecht unter dem Common Law, S. 59: „Der verfassungsrechtliche Prüfungsmaßstab wird letztlich nicht aus dem Verfassungsrecht gewonnen, sondern entweder aus dem traditionellen Fallrecht oder aus der Überzeugungskraft empirischer Untersuchungen abgeleitet. Diese beiden Eckpunkte, Common Law und Empirie, grenzen die Handlungsfreiheit des Gesetzgebers ein.“ Die Zusammenwirkung des Fallrechts und der Empirie führt sich weiterhin durch die praktische Entwicklung der abgestuften Prüfungsstandards vor Augen. Dazu unten 2. 158 Eingehende Diskussion über die deutsche Schrankendogmatik in: C. Bumke, Der Grundrechtsvorbehalt: Untersuchungen über die Begrenzung und Ausgestaltung der Grundrechte, 1998.

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in gewissem Maße überlassen160. Auf diese Weise kann daher die Gewährleistung der wirtschaftlichen Grundrechte nach Carolene Products nicht mehr für absolut erachtet werden. Mit anderen Worten ist seither der Schutz der wirtschaftlichen Grundrechte relativiert, indem die wirtschaftlichen Freiheitsrechte nicht mehr unter die typische common law-Kategorie von Grundrechtsschutz fallen, in dem die Grundrechte als subjektive, negative Abwehrrechte vollumfänglich gewährleistet werden161. Vielmehr ist Carolene Products als ein Wendepunkt anzusehen in dem Sinne, daß nach der Entscheidung „die Legislative das Zusammentreffen widerstreitender wirtschaftlicher Interessen ins Gleichgewicht zu bringen habe.“162 Aus dieser Entscheidung ist deswegen abzulesen, daß schon die Anwendung des „rational basis test“ eine ziemlich lockere gerichtliche Überprüfung suggeriert, die gewissermaßen andeutet, daß ihr Anwendungsbereich nicht mehr zur Kategorie des common law-Grundrechtsschutzes zählt163. Gerade mit der Entstehung der sog. „Doppelstandards“ (double standards)164 tritt der Gedanke der Aufgabenverteilung ein, die, wie gedeutet, zur zwangsläufigen Entwicklungstendenz des Supreme Court unter der countermajoritarian difficulty dient.

c) Grundrechtsschutz durch die Klassifikation der Grundrechte Wie erwähnt, hat nicht der Leitsatz der Begründung, sondern die Fußnote 4 zu dieser Entscheidung Aufmerksamkeit erregt und die nachherige Entwicklungslinie 159 Zu den Gründen für den Wandel des richterlichen Verständnisses für den Eigentumsrechtsschutz siehe Attanasio, Die persönlichen und wirtschaftlichen Grundrechte in der amerikanischen Rechtspolitik, S. 260 f. 160 Nach Lepsius hat sich die am Rationalitätsmaßstab ausgerichtete Begründungsweise dieser Entscheidung bereits an der „Prozeduralisierung“ des Grundrechtsschutzes orientiert. Siehe Lepisus, Verwaltungsrecht unter dem Common Law, S. 140: „Mit dieser Entscheidung hat der Supreme Court die langjährige Rechtsprechung des economic due process aufgegeben und den Schutz der wirtschaftlichen Grundrechte an ein prozedurales Modell geknüpft. Das Gericht prüft im wesentlichen nur nach, ob der Gesetzgeber die einschlägigen Fakten richtig erhoben hat und ob in die Faktenermittlung auch alle maßgeblichen Gesichtspunkte eingeflossensind. Die Schlußfolgerungen, die der Gesetzgeber aus der Faktenerhebung zieht, werden jedoch nicht mehr vom Gericht materiell überprüft.“ 161 Siehe oben I. 2. zur Unterscheidung zwischen den zwei gegenseitigen Kategorien von Grundrechtsschutz und Police Power unter dem Common Law. 162 Attanasio, Die persönlichen und wirtschaftlichen Grundrechte in der amerikanischen Rechtspolitik, S. 261. 163 Vgl. etwa McCloskey, The American Supreme Court, S, 125: „It is hard to conceive a law so patently unreasonable that would fail under this test . . .“ 164 Vgl. generell Stone / Seidman / Sunstein / Tushnet, Constitutional Law, S. 841; W. M. Wiecek, The Liberal Critique of the U.S. Supreme Court, in: H. Wellenreuther (ed.), German and American Constitutional Thought: Contexts, Interaction and Historical Realities, 1990, S. 373, 387 f. Aufgrund Carolene Products beziehen sich die Doppelstandards auf den im Leitsatz dieser Entscheidung angewandten rational basis test und den in der Fußnote 4 behaupteten strengeren Maßstab.

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2. Teil: Verfassungsgerichtsbarkeit in den USA

der Verfassungsgerichtsbarkeit angedeutet. Aufgrund des Gedankens der Aufgabenverteilung ist die Aufgabe oder die Funktion der Verfassungsgerichtsbarkeit nach den Ausführungen dieser Fußnote entweder als die Garantie anderer Grundrechte165 oder als die Sicherung des demokratischen Prozesses166 bestimmt worden. Immerhin läßt sich jedoch ablesen, daß diese Fußnote sich am Minderheitsschutz orientiert und deswegen den Gleichheitsschutz ausschließlich durch die Verfassungsgerichtsbarkeit suggeriert hat, der mit Blick auf den ganzen Kontext der Fußnote nicht bloß auf der prozeduralen Ebene beschränkt werden kann167. Daraus folgt also, daß der materiell-rechtliche Gleichheitsschutz hervorgehoben ist und sich auf die nachherigen Entscheidungen ausgewirkt hat168. Weiterhin hat die Fußnote, die den Grundrechtsschutz (durch die Bill of Rights) als die Aufgabe der Verfassungsgerichtsbarkeit bestimmt hat, angesichts des „Abstiegs“ der wirtschaftlichen Freiheitsrechte 169 zum Themen- oder Schwerpunktwechsel in Bezug auf die substantive due process-Klausel geführt, die in der Lochner-Ära eine zentrale Rolle gespielt hat. Seither konzentriert sich die substantive due process-Klausel nicht besonders auf die Vertragsfreiheit, sondern bezieht sich im Laufe der Zeit auf das Recht auf Intimsphäre, die persönliche Autonomie usw170. Dies zeigt infolgedessen, daß nach Carolene Products das gerichtliche Ver165 Die wirtschaftlichen Grundrechte sind daher ausgeschlossen. Im Hinblick auf den Leitsatz und die Fußnote ist aber gleichzeitig zu entnehmen, daß das Freiheitsverständnis durch diese Entscheidung nur teilweise verändert ist. Mit Ausnahme der wirtschaftlichen Freiheitsrechte sind die anderen Freiheitsrechte, sozusagen die persönlichen Grundrechte, noch durch die common law-Verfassungsgerichtsbarkeit völlig garantiert. So Attanasio, Die persönlichen und wirtschaftlichen Grundrechte in der amerikanischen Rechtspolitik, S. 263 ff.; dazu auch Lepsius, Besprechung von P. Kirchhof / D. Kommers (Hrsg.), Deutschland und sein Grundgesetz, S. 165. 166 Da der dritte Teil der Fußnote sich auf den Schutz besonderer und isolierter Minderheiten bezieht („whether prejudice against discrete and insular minorities may be a special condition, which tends seriously curtail the operation of those political processes ordinarily to be relied upon to protect minorities, and which may call for a correpondingly more searching judicial inquiry.“), kreisen viele Diskussionen über diese Entscheidung um den Minderheitenschutz bzw. die Sicherung demokratischer Willensbildung durch die Verfassungsgerichtsbarkeit. Auf der Ebene hat diese Entscheidung genauso die prozeßbasierte bzw. prozedurale Theorie veranlasst. Dazu vgl. etwa Ely, Democracy and Distrust, S. 75 ff.; Ackerman, Beyond Carolene Products, S. 713 ff.; H. H. Wellington, Interpreting the Constitution: The Supreme Court and the Process of Adjudication, 1990, S. 64 ff.; Attanasio, Die persönlichen und wirtschaftlichen Grundrechte in der amerikanischen Rechtspolitik, S. 261 f.; Riecken, Verfassungsgerichtsbarkeit in der Demokratie, S. 40 ff.; Brugger, Grundrechte und Verfassungsgerichtsbarkeit in den USA, S. 363 ff., 410 ff.; auch Lepsius, Verwaltungsrecht unter dem Common Law, S. 139 f. 167 Vgl. insbesondere den ersten und zweiten Paragraphen zu der Fußnote. 168 So H. J. Abraham / B. A. Perry, Freedom and the Court: Civil Rights and Liberties in the United States, 7th. ed., 1998, S. 20. 169 Zur Terminologie s. Attanasio, Die persönlichen und wirtschaftlichen Grundrechte in der amerikanischen Rechtspolitik, S. 257. 170 Siehe unten zum Schutz des Rechts auf Intimsphäre (right of privacy) durch die substantive due process-Klausel. Dazu auch McCloskey, The American Supreme Court, S. 171 ff.

III. Die Entwicklung der Grundrechte durch den Supreme Court

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ständnis für die Freiheitsrechte mit Ausnahme der wirtschaftlichen Freiheitsrechte unverändert bleibt, so daß diese Freiheitsrechte durch das Common Law noch vollständig gewährleistet werden. Das heißt also, daß diese Freiheitsrechte noch zum Gegenstand der common law-Kategorie von Grundrechtsschutz gehören. Zusammenfassend kann man sagen, daß trotz des Verzichts auf den absoluten Schutz für die wirtschaftlichen Freiheitsrechte der Supreme Court durch die Fußnote 4 seine Kompetenz des materiellen (und nicht nur prozeduralen) Grundrechtsschutzes durch die Anwendung der equal protection-, der (substantive) due process-Klausel und natürlich auch der Bill of Rights noch beibehalten hat, wenn und soweit die common law-Kategorie des Grundrechtsschutzes berührt ist. Dieser Entwicklungstendenz, die an erster Stelle durch die Klassifizierung bzw. Typisierung der Grundrechte gekennzeichnet ist, läßt sich entnehmen, daß der Supreme Court versucht, die Aufgabenverteilung zwischen der Verfassungsgerichtsbarkeit und der Gesetzgebung zu konkretisieren, indem er die abgestuften Prüfungsstandards nach unterschiedlichen Grundrechtstypen anwendet. Wenn ein Grundrechtstyp nach dem rational basis test überprüft ist, dann bedeutet das in gewissem Maße, daß der Supreme Court bereits die common law-Garantie dieses Grundrechtstyps aufgegeben hat, und dadurch gewinnt der Gesetzgeber eine vergrößerte Gestaltungsfreiheit; demgegenüber steht der absolute common lawGrundrechtsschutz wieder im Vordergrund, wenn der Supreme Court einen strengeren Prüfungsmaßstab anwendet, der im allgemeinen den Vorrang der Verfassungsgerichtsbarkeit besagt. Ob und inwieweit das Verhältnis von common law-Supreme Court zu demokratischem Gesetzgeber sich verändert, hängt infolgedessen davon ab, auf welche Weise der Stufenbau von Prüfungsstandards sich weiterentwickelt und auswirkt.

2. Grundrechtsverstärkung durch die Prüfungsstandards a) Zum Stufenbau der Prüfungsstandards aa) Überblick Wer von amerikanischen Prüfungsstandards spricht, meint an erster Stelle die „Drei-Stufen-Lehre“, nämlich den Stufenbau von rational basis / relationship test, strict scrutiny test, und intermediate scrutiny test171, der vom Supreme Court selbst 171 Vgl. etwa K. M. Sullivan, Foreword: The Justices of Rules and Standards, in: 106 Harv. L. Rev. 22, 1992, S. 60 f.; W. Brugger, Einführung in das öffentliche Recht der USA, 1993, S. 90; Rau, Selbst entwickelte Grenzen in der Rechtsprechung des United States Supreme Court und des Bundesverfassungsgerichts, S. 95; C. Simons, Grundrechte und Gestaltungsspielraum. Eine rechtsvergleichende Untersuchung zum Prüfungsinstrumentarium von Bundesverfassungsgericht und US-amerikanischem Supreme Court bei der Normenkontrolle, 1999, S. 86 ff. Zum „Doppel-Standard“ vgl. auch Abraham / Perry, Freedom and the Court, S. 7 – 28. Zur Übersicht dieses Stufenbaus in bezug auf die equal protection-Klausel vgl.

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2. Teil: Verfassungsgerichtsbarkeit in den USA

entwickelt wurde und als Gegenstand der folgenden Diskussion dienen wird. Es ist jedoch zugleich zu bemerken, daß sich die Kategorie der Prüfungsstandards nicht auf die Drei-Stufen-Lehre beschränkt, sondern immer noch – besonders in den einzelnen Grundrechten – fortentwickelt172. Unter der common law-Tradition ist dies besonders plausibel in der Hinsicht, daß die fallbezogene, sehr ausdifferenziert vorgenommene Verfassungsgerichtsbarkeit notwendigerweise zu differenzierten Präjudizentwicklungen anhand verschiedener Fallgruppen führt. Da aber schon die Darstellung der Entwicklung der Drei-Stufen-Lehre in der Lage ist, die Eigenart der amerikanischen Erfahrungen und ihre potentielle Problematik unter dem Common Law aufzuzeigen173, konzentriert sich die vorliegende Ausführung darauf, wie die drei abgestuften Prüfungsstandards aufgebaut sind und angewendet werden. Außerdem beschränken sich die beobachteten Fallgruppen auf die substantiven due process- und equal protection-Fälle, die für die Darstellung des Charakters der amerikanischen Entwicklungen unter dem Common Law genügen sollen174.

Nowak / Rotunda, Constitutional Law, 5th. ed., § 14.3, S. 600 ff.; M. Schefer, Konkretisierung von Grundrechten durch den US-Supreme Court: zur sprachlichen, historischen und demokratischen Argumentation im Verfassungsrecht, 1997, S. 48 ff. 172 Zum Beispiel ist der Schutz der Meinungsfreiheit des First Amendment nicht durch die herkömmlichen abgestuften Standards erschöpft, sondern durch weitere Klassifizierungen gekennzeichnet. Auf der Basis der Gruppierung von „content-based“ und „content-neutral“ Regelungen haben sich die weiteren Klassifikationen wie „high value-“ und „low value-“ Meinungsäußerungen entwickelt, die unterschiedlichen Standards oder tests unterworfen sind. Zum Prüfungsstandard in Fällen der Meinungsfreiheit s. etwa M. E. Isserles, Overcoming Overbreadth: Facial Challenges and the Valid Rule Requirement, in: 48 Am. U.L. Rev. 359, 1998; Simons, Grundrechte und Gestaltungsspielraum, S. 100 ff.; allgemein auch Schefer, Konkretisierung von Grundrechten durch den US-Supreme Court, S. 6 ff.; W. Brugger, Meinungsfreiheit im Recht der Vereinigten Staaten von Amerika, in: ders., Demokratie, Freiheit, Gleichheit, S. 263, 270 ff. 173 Die vorliegende Darstellung der Entwicklung der Prüfungsstandards zielt darauf, die amerikanische praktische Reaktionsweise auf die countermajoritarian difficulty und den Einfluß des common law-Hintergrunds auf diese Entwicklung zu zeigen. Im Hinblick auf den Zweck genügt daher die Analyse der Drei-Stufen-Lehre, deren Entwicklung schon in der Lage ist, die Eigenschaft der amerikanischen Entwicklung unter dem Common Law exemplarisch zu präsentieren. 174 Obwohl die substantive due process- und die equal protection-Fälle als die Hauptfallgruppen für die herkömmlichen Prüfungsstandards gelten, werden der strict scrutiny test und der intermediate scrutiny test auch in Fällen der Meinungsfreiheit benutzt: Ganz grob ist die „content-based“ Regelung dem strict scrutiny test, die „content-neutral“ Regelung dem intermediate scrutiny test unterworfen; allerdings ist die praktische Handhabung wegen ihrer starken Orientierung am „balancing test“ [dazu unten ee)] viel komplizierter. Im Hinblick auf das Ziel der vorliegenden Diskussion, die Eigenschaft der Entwicklung der Prüfungsstandards vor dem common law-Hintergrund zu zeigen, müssen jedoch nicht alle Fallgruppen einbezogen werden. Zur Anwendung der herkömmlichen Prüfungsstandards in den Fällen der Meinungsfreiheit vgl. Simons, Grundrechte und Gestaltungsspielraum, S. 87, 89 f.; Isserles, Overcoming Overbreadth, S. 379, 419, 431. Zum balancing test in diesem Bereich s. T. A. Aleinikoff, Constitutional Law in the Age of Balancing, in: 96 Yale L. J. 943, 1987, S. 966 ff.

III. Die Entwicklung der Grundrechte durch den Supreme Court

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Um anfangs einen kompletten Umriß der Ausgestaltung der Prüfungsstandards zu zeichnen, wird die folgende Diskussion sich zunächst einmal auf die Darstellung der Entwicklung der Prüfungsstandards konzentrieren. Die Eigenheit und die Bedeutung dieser Entwicklung vor dem common law-Hintergrund werden erst danach weiter examiniert. bb) Der „rational basis / relationship test“ Nach der Fußnote 4 zu Carolene Products wird die Lehre von den Doppelstandards vom Supreme Court weiter entwickelt, indem der Supreme Court in späteren Entscheidungen immer wieder erläutert und konkretisiert hat, welche Standards für welche Grundrechte verwendet werden sollen und was der materielle Inhalt verschiedener Standards ist. Wie erwähnt, hat der Supreme Court angesichts der Erfahrungen in der Lochner-Ära nicht nur seit West Coast Hotel Co. v. Parrish seine Haltung grundlegend geändert175, sondern seit Carolene Products den Grundsatz aufgestellt, daß die Gesetze, die die wirtschaftlichen Grundrechte betreffen oder als Wirtschafts- und Sozialgesetzgebung anzusehen sind, mit einem leichteren Standard, sozusagen dem rational basis / relationship test, überprüft werden sollen176. Nach dem Supreme Court ist beim rational basis / relationship test nachzuprüfen, ob der Gemeinwohlzweck eines Gesetzes „legitim“ („legitimate“) ist und ob zwischen dem dazu eingesetzten Mittel und dem besagten Zweck eine vernünftige, „rationale“ („rational“) Beziehung besteht177. Da in der Praxis nur die völlig willkürlich beschlossenen Gesetze nach dem rational basis review für verfassungswidrig erklärt werden, führt dieser test grundsätzlich zur Verfassungsmäßigkeit des überprüften Gesetzes178. Dies bedeutet zugleich, daß bereits die Entscheidung für die Anwendung dieses tests in der Regel die Verfassungsmäßigerklärung impli175 Vgl. dazu Nowak / Rotunda, Constitutional Law, 5th. ed., § 11.4, S. 386: „Unlike the Nebbia opinion, the Parrish decision would not prove to be an isolated departure from the doctrine of substantive due process because the Court followed Parrish with a series of cases that reflected the discredit that had befallen economic substantive due process.“ 176 Zur Bedeutung dieser Geschichte vgl. auch J. E. Nowak / R. D. Rotunda, Constitutional Law, 6th. ed., 2000, § 10.6, S. 376. Vgl. ferner Abraham / Perry, Freedom and the Court, S. 10 ff. zur Rolle Oliver Wendell Holmeses Jr., Marshall Harlans und Louis Dembitz Brandeises im Prozeß dieses Paradigmenwechsels des Supreme Court. 177 Zum Begriff vgl. etwa Nowak / Rotunda, Constitutional Law, 6th. ed., § 10.6, S. 376; Nowak / Rotunda, Constitutional Law, 5th. ed., § 11.4, S. 383, 390 ff., § 14.3, S. 601; Simons, Grundrechte und Gestaltungsspielraum, S. 86 f., 91 ff.; Rau, Selbst entwickelte Grenzen in der Rechtsprechung des United States Supreme Court und des Bundesverfassungsgerichts, S. 95; Brugger, Einführung in das öffentliche Recht der USA, S. 91. 178 So Brugger, Einführung in das öffentliche Recht der USA, S. 91; Rau, Selbst entwikkelte Grenzen in der Rechtsprechung des United States Supreme Court und des Bundesverfassungsgerichts, S. 96 f.; Simons, Grundrechte und Gestaltungsspielraum, S. 87 f.; G. Gunther, Foreword: In Search of Evolving Doctrine on a Changing Court: A Model for a Newer Equal Protection, in: 86 Harv. L. Rev. 1, 1972, S. 8; vgl. auch Nowak / Rotunda, Constitutional Law, 5th. ed., § 11.4, S. 389; § 14.3, S. 608.

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ziert179. Selbst in Carolene Products wurde der Filled Milk Act of 1923 nach dem rational basis test überprüft und dadurch aufrechterhalten. Der ziemlich lockere und in den meisten Fällen die Verfassungsmäßigerklärung implizierende rational basis / relationship test hat insbesondere von 1937 bis in die 1970er Jahre in verschiedener Weise die gerichtliche Grundhaltung verkörpert, daß im Bereich der Wirtschafts- und Sozialgesetzgebung der Gesetzgeber die Einschätzungs- und Beurteilungsprärogative hat180. In den 1980er Jahren aber hat der Supreme Court durch die Anwendung dieses Standards einige Gesetze oder Verordnungen für verfassungswidrig erklärt, die aus Sicht des Supreme Court ein illegitimes oder verbotenes Gemeinwohlziel verfolgten und deswegen als absolut irrational oder willkürlich anzusehen waren. Zum Beispiel war in City of Cleburne v. Cleburne Living Center181 interpretiert worden, daß „mere negative attitudes, or fear, unsubstantiated by factors which are properly cognizable in a zoning proceeding, are not permissible basis for treating a home for the mentally retarded differently from . . .“182. „The short of it is that requiring the permit in this case appears to us to rest on an irrational prejudice against the mentally retarded . . .“183. Trotz 179 So Simons, Grundrechte und Gestaltungsspielraum, S. 110 f. Deswegen wird die Lehre der Doppelstandards („a fixed two-tier system of judicial review“) als eine „rule-like“ Klassifikation bezeichnet, deren Bildung gerade der Zweck der Doppelstandards ist. Vgl. dazu Sullivan, Foreword: The Justices of Rules and Standards, S. 59 f. („Thus, in true categorical fashion, two-tier review generally decides cases through categorization at the outset . . ..“) 180 Vgl. Nowak / Rotunda, Constitutional Law, 5th. ed., § 14.3, S. 606. Dagegen aber Gunther, Foreword: In Search of Evolving Doctrine on a Changing Court, S. 18 f. („After an era during which the „mere rationality“ requirement symbolized virtual judicial abdication, the Court [of the 1971 term] . . . has suddenly found repeated occasions to intervene on the basis of the deferential standard.“) Zur Argumentation gerichtlicher Entscheidungen, die diese Haltung darstellen, vgl. z. B. Railway Express Agency v. New York, 336 U.S. 106 (1949), zitiert in: Stone / Seidman / Sunstein / Tushnet, Constitutional Law, S. 571 („It is no requirement of equal protection that all evils of the same genus be eradicated or none at all.“); Williamson v. Lee Optical, 348 U.S. 483 (1955), S. 489 („The problem of legislative classification is a perennial one, admitting of no definition. Evils in the same field may be of different dimensions and proportions, requiring different remedies. . . . The legislature may select one phase of one field and apply a remedy there, neglecting the others. The prohibition of the Equal Protection Clause goes no further than the invidious discrimination . . .“); New York City Transit Authority v. Beazer, 440 U.S. 568 (1979), S. 594 („No matter how unwise it may be for TA to refuse employment to . . . , the Constitution does not authorize a federal court to interfere in that policy decision.“); U.S. Railroad Retirement Board v. Fritz, 449 U.S. 166 (1980), S. 175 [„In [recent] years, [the] Court in cases involving social and economic benefits has consistently refused to invalidate on equal protection grounds legislation which it simply deemed unwise or unartfully drawn.“ „Where, as here, there are plausible reasons for Congress’ action, our inquiry is at an end.“ (S. 179)]. 181 473 U.S. 432 (1985). Ähnliche Beispiele in diesem Zusammenhang vgl. etwa Zobel v. Alaska, 457 U.S. 55 (1982); Hooper v. Bernalillo County Assessor, 472 U.S. 612 (1985); Metropolitan Life Insurance Co. v. Ward, 470 U.S. 869 (1985); Allegheny Pittsburgh Coal Co. v. County Commission, 488 U.S. 336 (1989). 182 473 U.S. 432, S. 448. 183 473 U.S. 432, S. 450.

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der „neueren“ Entwicklung, die gelegentlich als eine gerichtliche Tendenz zur aktiveren Betätigung im Sachbereich der Wirtschafts- und Sozialgesetzgebung eingeschätzt werden könnte184, erklärte der Supreme Court immer wieder, daß der rational basis test im wesentlichen locker und dem Gesetzgeber gegenüber durchaus tolerant ist und daß er daher in der Regel keine gesetzliche Regelung unter dem test aufheben wollte185, 186. Angesichts der countermajoritarian difficulty, die sich in der Lochner-Ära und im New Deal empirisch deutlich gezeigt hat, übernimmt dieser test die Aufgabe, durch die gerichtliche Zurückhaltung im Sachbereich der Sozial- und Wirtschaftsgesetzgebung die Funktion des Supreme Court und des demokratischen Gesetzgebers zu verteilen und dadurch die gesetzgeberische Gestaltungsfreiheit beizubehalten. Aus dieser Perspektive spielt die Begriffsbildung des „legitimen Zwecks“ und der „rationalen Beziehung“ in der Tat keine Rolle.

cc) Der „strict scrutiny test“ Sicherlich aber will der Supreme Court nicht alle Sachgebiete aufgeben. Am entgegengesetzten Ende der Doppelstandards befindet sich der strict scrutiny test, bei dem der Supreme Court ein angegriffenes Gesetz ziemlich streng überprüft. Unter dem test kann ein Gesetz nur dann verfassungsmäßig sein, wenn es ein „zwingendes“ („compelling“) Gemeinwohlziel verfolgt und wenn das dazu eingesetzte Mittel in einem „notwendigen“ („necessary“), „extrem engen“ („narrowly tailored“) Bezug zu diesem Ziel steht187. Im Gegensatz zum rational basis review ist der strict scrutiny test so drakonisch, daß die Verwendung dieses tests fast immer zur Verfas184 Schon Simons, Grundrechte und Gestaltungsspielraum, S. 112 f. Vgl. aber Nowak / Rotunda, Constitutional Law, 5th. ed., § 14.3, S. 606, 619. 185 Wie zitiert in Dallas v. Stanglin, 490 U.S. 19 (1989), S. 27: „. . . [The rational-basis standard] is true to the principle that the Fourteenth Amendment gives the federal courts no power to impose upon the States their views of what constitutes wise economic or social policy.“ „[I]n the local economic sphere, it is only the invidious discrimination, the wholly arbitrary act, which cannot stand consistently with the Fourteenth Amendment.“ Vgl. auch Federal Communications Commission v. Beach Communications, Inc., 113 S. Ct. 2096 (1993), zitiert in: Stone / Seidman / Sunstein / Tushnet, Constitutional Law, S. 593: „In areas of social and economic policy, a statutory classification that neither proceeds along suspect lines nor infringes fundamental constitutional rights must be upheld against equal protection challenge if there is any reasonably conceivable state of facts that could provide rational basis for the classification . . ..“ „[Because] we never require a legislature to articulate its reasons for enacting a statute, it is entirely irrelevant for constitutional purposes whether the conceived reason for the challenged distinction actually motivated the legislature.“ 186 Kritisch aber J. L. Mashaw, Greed, Chaos, and Governance: Using Public Choice to improve Public Law, 1997, S. 61 ff. 187 Zum Begriff etwa Nowak / Rotunda, Constitutional Law, 6th. ed., § 10.6, S. 376; Nowak / Rotunda, Constitutional Law, 5th. ed., § 11.4, S. 384, § 14.3, S. 601 f.; Simons, Grundrechte und Gestaltungsspielraum, S. 88 f.; Rau, Selbst entwickelte Grenzen in der Rechtsprechung des United States Supreme Court und des Bundesverfassungsgerichts, S. 95; Brugger, Einführung in das öffentliche Recht der USA, S. 91.

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sungswidrig-Erklärung führt188: Schon die Auswahl dieses tests hat in einem großen Teil der Fälle über das Verfassungswidrig-Ergebnis vorentschieden189. Es ist hier insbesondere beachtenswert, in welchen Fallgruppen der strict scrutiny test angewendet wird, denn gerade durch die Klassifizierung der Fallgruppen entwickelt sich die Aufgaben- oder Funktionsverteilung zwischen dem Supreme Court und dem demokratischen Gesetzgeber fort. Im Hinblick auf den Hintergrund der Entwicklung der Doppelstandards geht es hier im wesentlichen darum, in welchen Fallbereichen der common law-Grundrechtsschutz gewährt wird. Nach der Fußnote 4 zu Carolene Products stellt sich die Frage, in welchen Fällen ein „narrower scope for operation of the presumption of constitutionality“ oder ein „correspondingly more searching judicial inquiry“190 erforderlich ist. Vor dem Hintergrund des gerichtlichen Verzichts auf die Nachprüfung der Sozial- und Wirtschaftsgesetzgebung einerseits und angesichts der in den USA besonders bedeutsamen Rassenfrage191 andererseits überrascht es nicht, daß die Rasse-Klassifikation zum Gegenstand der strengeren Überprüfung des Supreme Court wird, dessen Aufgabe stets als Grundrechtsgewährleistung gilt, die sich hinsichtlich der Empirie der Lochner-Ära und des New Deal nicht mehr auf die wirtschaftliche Freiheit, sondern, wie gezeigt, auf die persönlichen Grundrechte konzentriert. Im Jahr 1944 hat der Supreme Court die Entscheidung Korematzu v. United States192 getroffen, die nicht nur den konkreten Inhalt des strict scrutiny-Standards erklärte, sondern dessen Anwendung für die Klassifikation aufgrund der Rasse festsetzte: „It should be noted, to begin with, that all legal restrictions which curtail the civil rights of a single racial group are immediately suspect. This is not to say that such restrictions are unconstitutional. It is to say that courts must subject them to the most rigid scrutiny. Pressing public necessity may sometimes justify the existence of such restrictions; racial antagonism never can . . .“193. Obwohl die Klassifikation im Ergebnis untypischerweise194 unter dem Aspekt staatlicher Sicherheit für verfas188 So Brugger, Einführung in das öffentliche Recht der USA, S. 91; Rau, Selbst entwikkelte Grenzen in der Rechtsprechung des United States Supreme Court und des Bundesverfassungsgerichts, S. 96 f.; Gunther, Foreword: In Search of Evolving Doctrine on a Changing Court, S. 8. 189 Zur Zusammenfassung vgl. Simons, Grundrechte und Gestaltungsspielraum, S. 109 ff.; D. P. Kommers, Der Gleichheitssatz: Neuere Entwicklungen im Verfassungsrecht in den USA und der Bundesrepublik Deutschland, in: C. Link (Hrsg.), Der Gleichheitssatz im modernen Verfassungsstaat. Symposion zum 80. Geburtstag von Gerhard Leibholz, 1982, S. 31, 41. Vgl. auch Gunther, Foreword: In Search of Evolving Doctrine on a Changing Court, S. 8, zur Beschreibung des strict scrutiny test als „strict in theory and fatal in fact“ und des rational basis test als „minimal scrutiny in theory and virtually none in fact“. 190 Vgl. 304 U.S. 144, S. 152 (Fn. 4). 191 Dazu im allgemeinen Abraham / Perry, Freedom and the Court, S. 331 ff.; auch Fraenkel, Das amerikanische Regierungssystem, S. 96 ff. 192 323 U.S. 214 (1944). 193 323 U.S. 214 , S. 216. 194 Diese Entscheidung dient häufig als ein gutes Beispiel für die Ausnahme zur Regel, wonach der strict scrutiny test zur Verfassungswidrigkeit, der rational basis test zur Ver-

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sungsmäßig erklärt wurde195, ist in der Entscheidung festgelegt, daß die RasseKlassifikation, die als „suspekt“ beurteilt wird, dem strict („most rigid“) scrutiny unterworfen werden muß. Gleichzeitig ist dadurch die „suspekte Klassifikation“ zu einem wichtigen Maßstab zur Verwendung des strict scrutiny test im Bereich der equal protection-Klausel geworden. Unter der seit 1944 anerkannten Prämisse, daß die Klassifikation aufgrund der Rasse jedenfalls unter dem grundsätzlich die verfassungswidrig-Erklärung implizierenden strict scrutiny test zu prüfen ist, verwundert es nicht, daß die historische Entscheidung Brown v. Board of Education of Topeka (Brown I)196 „selbstverständlicherweise“ die separate but equal-Doktrin197 aufgibt und die Rasse-Voraussetzung für die Zulassung zum Besuch der Volksschule für verfassungswidrig erklärt, ohne daß die Anforderungen des strict scrutiny test gedeutet und ausdrücklich verwendet werden. Das Argument der Entscheidung Brown konzentriert sich vielmehr auf die große soziale Bedeutung der Erziehung und die Wichtigkeit des Gleichheitsrechtsschutzes in diesem Zusammenhang: „Today, education is perhaps the most important function of state and local governments. . . . It is the very foundation of good citizenship. . . . In these days, it is doubtful that any child may reasonably be expected to succeed in life if he is denied the opportunity of an education. Such an opportunity, where the state has undertaken to provide it, is a right which must be made available to all on equal terms.“198 „To separate them from others of similar age and qualifications solely because of their race generates a feeling of inferiority as to their status in the community that may affect their hearts and minds in a way unlikely ever to be undone.“199 Daß der Supreme Court sich hier aktiv betätigt, versteht sich von selbst. Daraus ist genauso zu entnehmen, daß in Bezug auf die Bedeutung der Doppelstandards für die Aufgaben- oder Funktionsverteilung von Supreme Court und Gesetzgeber die Implikation der Auswahl des strict scrutiny test in Wirklichkeit bedeutsamer ist als dessen explizite Handhabung nach den konkreten Anforderungen wie „compelling interest“ und „necessary and close relationship“. Anders ausgedrückt sind diese Anforderungen, wie beim rational basis test, hinsichtlich des Ziels der Verwendung des strict scrutiny test ohne Belang. fassungsmäßigkeit der angegriffenen Regelungen führt. Siehe z. B. Rau, Selbst entwickelte Grenzen in der Rechtsprechung des United States Supreme Court und des Bundesverfassungsgerichts, S. 96 f. 195 Aus der Sicht des Supreme Court dient die staatliche Sicherheit als „compelling interest“; zudem sei das hier eingesetzte Mittel so gerechtfertigt: „[E]xclusion from a threatened area . . . has a definite and close relationship to the prevention of espionage and sabotage.“ 323 U.S. 214 , S. 218. 196 347 U.S. 483 (1954). 197 Vgl. Plessy v. Ferguson, 163 U.S. 537 (1896), S. 551: „We consider the underlying fallacy of the plaintiff ’s argument to consist in the assumption that the enforced separation of the two races stamps the colored race with a badge of inferiority. If this be so, it is not by reason of anything found in the act, but solely because the colored race chooses to put that construction upon it. . . .“ 198 347 U.S. 483, S. 493. 199 347 U.S. 483, S. 494.

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Obwohl die suspekte Klassifikation, die für eine Minderheitsgruppe (z. B. Schwarze) nachteilig ist, jedenfalls mit dem strict scrutiny test nachgeprüft werden muß, ist noch umstritten, ob eine zugunsten der Minderheitsgruppe vorgenommene Klassifikation – die sogenannte „affirmative action“ – dem gleichen Standard unterworfen werden soll. Der Brennpunkt besteht darin, ob die affirmative action wegen ihres „benign“ oder „remedial“ Charakters einem toleranteren Prüfungsstandard zu unterwerfen ist oder ob die affirmative action zur „reverse discrimination“ führen kann und deswegen immer noch unter dem traditionellen strict scrutiny test zu überprüfen ist. In Metro Broadcasting Inc. v. Federal Communications Commission200 behauptete der Supreme Court, daß die „benign raceconscious“ Maßnahme nur nach dem „intermediate scrutiny test“201 überprüft werden muß202. Obwohl die Auffassung später in Adarand Constructors, Inc. v. Pena203 geändert wurde, bleibt der Anwendungsstandard für affirmative action bis heute ein umstrittenes Problem204. Im Hinblick auf den Schwerpunkt der Debatte läßt sich aber jedenfalls sagen, daß die empirischen Überlegungen hier wieder eine große Rolle spielen.

497 U.S. 547 (1990). Siehe unten dd). 202 Vgl. die Begründung in City of Richmond v. J. A. Croson Co., 488 U.S. 469 (1989), S. 493: „[T]here is simply no way of determining what classifications are ‘benign’ or ‘remedial’ and what classifications are in fact motivated by illegitimate notions of rational inferiority or simple racial politics. Indeed, the purpose of strict scrutiny is to ‘smoke out’ illegitimate use of race by assuring that the legislative body is pursuing a goal important enough to warrant use of a highly suspect tool. The test also ensures that the means chosen ‘fit’ this compelling goal so closely that there is little or no possibility that the motive for the classification was illegitimate racial prejudice or stereotype.“ „Classifications based on race carry a danger of stigmatic harm. Unless they are strictly reserved for remedial settings, they may in fact promote notions of racial inferiority and lead to a politics of racial hostility.“ „[T]he guarantee of equal protection cannot mean one thing when applied to on individual and something else when applied to a person of another color.“ (S. 494) „[Marshall‘s] dissent’s watered down version of equal proteciton review effextively assures that race will always be relevant in American [life].“ (S. 495) Dagegen Marshalls Dissens, S. 528 ff., 552: „[R]acial classifications drawn for the purpose of remedying the effects of discrimination that itself was race-based have a highly pertinent basis: the tragic and indelible fact that discrimination against blacks and other racial minorities in this Nation has pervaded our Nation’s history and continues to scar our society.“ 203 115 S. Ct. 2097 (1995), zitiert in: Stone / Seidman / Sunstein / Tushnet, Constitutional Law, S. 675 f. („The three propositions undermined by Metro Broadcasting all derive from the basic principle that the Fifth and Fourteenth Amendments to the Constitution protect persons, not groups. It follows from that principle that all governmental action based on race – a group classification long recognized as „in most circumstances irrelevant and therefore prohibited,“ – be subjected to detailed judicial inquiry to ensure that the personal right to equal protection of the laws has not been infringed.“) 204 Zur Übersicht der Debatte vgl. etwa Stone / Seidman / Sunstein / Tushnet, Constitutional Law, S. 684 ff. Vgl. auch W. Brugger, Recht und Rasse in der amerikanischen Verfassungsrechtsprechung, in: ders., Demokratie, Freiheit, Gleichheit, S. 289, 302 ff. 200 201

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Neben der „suspekten Klassifikation“, die sich hauptsächlich auf die Rasse, die nationale Herkunft und die Ausländereigenschaft205 bezieht, hat der Supreme Court weiterhin den Begriff der sogenannten „fundamentalen Rechte“ entwickelt206, die als der andere Maßstab zur Verwendung des strict scrutiny test sowohl in equal protection- als auch in substantive due process-Fällen gelten207. Das Recht auf Intimsphäre (right of privacy) zum Beispiel wird seit der Entscheidung Griswold v. Connecticut208 als verfassungsrechtlich schutzwürdig angesehen209. In Roe v. Wade210 hat der Supreme Court nicht nur das right of privacy explizit als ein auf dem Fourteenth Amendment beruhendes „fundamentales Recht“ anerkannt211, sondern zusammengefasst, daß nach den Präzedenzfällen die das fundamentale Recht betreffenden gesetzlichen Regelungen dem strict scrutiny test unterworfen werden müssen: „Where certain „fundamental rights“ are involved, the Court has held that regulation limiting these rights may be justified only by a „compelling state interest,“ and that legislative enactments must be narrowly drawn to express only the legitimate state interests at stake.“212 Die Anwendung des Maßstabs der fundamentalen Rechte in 205 Vgl. Nowak / Rotunda, Constitutional Law, 5th. ed.,§ 14.5, S. 636 f.; § 14.8, S. 644; auch Kommers, Der Gleichheitssatz: Neuere Entwicklungen im Verfassungsrecht in den USA und der Bundesrepublik Deutschland, S. 41. 206 Die Entwicklung dieses Begriffs hat mit der Debatte um die Inkorporation der für den Bund geltende Bill of Rights in das Fourteenth Amendment zu tun, das sich auf die Einzelstaaten richtet. Nach Carolene Products hat der Supreme Court seine Konzentration von der Wirtschaftsfreiheit auf die anderen Grundrechte verlegt; dabei ist zu bestimmen, welche Rechte verfassungsrechtlich schutzwürdig sind. Vor dem Hintergrund kreist die Kontroverse hauptsächlich darum, wie das Wort „liberty“ des Fourteenth Amendment ausgelegt werden und ob es sich auch auf die Grundrechte der Bill of Rights erstrecken soll. In der Folge hat der Supreme Court im allgemeinen angenommen, daß die Grundrechte, die als „fundamental“ anerkannt sind, durch das Fourteenth Amendment zu gewährleisten sind. Vgl. Nowak / Rotunda, Constitutional Law, 5th. ed.,§ 11.5 – 11.7, S. 393 ff.; Stone / Seidman / Sunstein / Tushnet, Constitutional Law, S. 804 ff. 207 Dennoch ist der Maßstab von fundamentalen Rechten meistens in equal protection-Fällen angewendet worden. Siehe dazu Nowak / Rotunda, Constitutional Law, 5th. ed.,§ 11.4, S. 383: „Most fundamental rights cases since 1937 have involved rulings based upon equal protection rather than due process principles. The reason for this predominance of equal protection analysis in fundamental rights cases is not based upon . . . but, rather, on the fact that virtually all government laws regulating fundamental rights involve classifications.“ (Hervorhebung von der Verfasserin.) 208 381 U.S. 479 (1965). 209 In dieser Entscheidung debattierten die Richter hauptsächlich darüber, auf welcher verfassungsrechtlichen Grundlage das right of privacy beruhen sollte. Vgl. 381 U.S. 479, S. 484 ff. Zudem Nowak / Rotunda, Constitutional Law, 5th. ed.,§ 11.7, S. 400 f. 210 410 U.S. 113 (1973). 211 Vgl. 410 U.S. 113, S. 152 f.: „[O]nly personal rights that can be deemed „fundamental“ or „implicit in the concept of ordered liberty,“ are included in this guarantee of personal privacy.“ „This right of privacy, whether it be founded in the Fourteenth Amendment’s concept of personal liberty and restrictions upon state action, as we feel it is, or, as the District Court determined, in the Ninth Amendment’s reservation of rights to the people, is broad enough to encompass a woman’s decision whether or not to terminate her pregnancy.“ 212 410 U.S. 113, S. 155 f.

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equal protection-Fällen hat eine noch längere Geschichte. Schon in Skinner v. Oklahoma213 hat der Supreme Court judiziert, daß marriage und procreation als fundamentale Rechte anzusehen sind und daß das angegriffene Staatsgesetz Oklahomas nach dem strict scrutiny test nachzuprüfen ist214. In Harper v. Virginia State Board of Elections215 wurde das Wahlrecht als fundamentales Recht anerkannt, so daß ein vom Vermögen abhängigen Wahlrecht oder (anders formuliert) die Klassifikation aufgrund des Vermögens nach dem strict scrutiny test ungültig war216. Ähnlich wie Brown aber hat weder Skinner noch Harper im einzelnen erläutert, wie der strict scrutiny test angewendet werden soll. Obwohl die Anforderungen von „compelling interest“ und von enger Mittel-Zweck-Beziehung später in Kramer v. Union Free School District217 erwähnt werden, bleibt noch unklar, unter welchen Umständen oder Voraussetzungen ein überprüftes Gesetz diesen Ansprüchen genügen kann. Auch in der Entscheidung Shapiro v. Thompson218, die right to interstate travel in die Kategorien von fundamentalen Rechten inkorporierte, wurde nur entschieden, daß das nachgeprüfte Gesetz unvernünftig beschlossen war, so daß „even under traditional equal protection tests a classification of welfare applicants according to whether they have lived in the State for one year would seem irrational and unconstitutional. But . . . Since the classification here touches on the fundamental right of interstate movement, its constitutionality must be judged by the stricter standard of whether it promotes a compelling state interest.“219 Infolgedessen wird „selbstverständlich“, daß das Argument zur Verfassungswidrig-Erklärung führte. Die fundamentalen Rechte sind begrifflich nie genau definiert220, und ihre Kategorie entwickelt sich bis heute noch221. Aus den Begründungen in den einschlägi316 U.S. 535 (1942). Dieses Gesetz wurde dann für verfassungswidrig erklärt. Vgl. 316 U.S. 535 (1942), S. 541: „Marriage and procreation are fundamental to the very existence and survival of the race. The power to sterilize, if excercised, may have subtle, far-reaching and devastating effects. . . . We mention these matters not to reexamine the scope of the police power of the States. We advert to them merely in exphasis of our view that strict scrutiny of the classification which a State makes in a sterilization law is essential . . . When a law lays an unequal hand in those who have committed intrinsically the same quality of offense and sterilize one and not the other, it has made as invidious discrimination . . . Sterilization of those who have thrice commited grand larceny, with immunity for those who are embezzlers, is a clear, pointed, unmistakable discrimination.“ 215 383 U.S. 663 (1966). 216 383 U.S. 663, S. 670: „[We] have long been mindful that where fundamental rights and liberties are asserted under the Equal Protection Clause, classifications which might invade or restrain them must be closely scrutinized and carefully confined. Those principles apply here. For to repeat, wealth or fee paying has, in our view, no relation to voting qualifications; the right to vote is too precious, too fundamental to be so burdened or conditioned.“ 217 395 U.S. 621 (1969). 218 394 U.S. 618 (1969). 219 394 U.S. 618, S. 638. 220 Die Kontroverse kreist zunächst darum, ob der Supreme Court auch die Rechte schützen soll, die nicht explizit in der Verfassung erwähnt sind. Vgl. etwa Stone / Seidman / Sun213 214

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gen Fällen läßt sich gewissermaßen ablesen, daß sich die Beurteilung eines Grundrechts als fundamentales Recht genauso wie die suspekte Klassifikation auf die Empirie stützt222. Auf diese Weise aber wird die begriffliche Reichweite der fundamentalen Rechte offen gelassen. Die Unsicherheit zeigt sich weiterhin nicht nur in der Begriffsbildung, sondern in der Auswahl des Prüfungsstandards in fundamental rights-Fällen, obwohl der Grundsatz bereits festgelegt ist, daß gesetzliche Regelungen, die fundamentale Rechte betreffen, dem strict scrutiny test zu unterwerfen sind223. Zum Beispiel haben Nowak und Rotunda zutreffend beobachtet und gezeigt, daß im Bereich des Wahlrechts der Supreme Court nicht immer den strict stein / Tushnet, Constitutional Law, S. 785. Daher beziehen sich die fundamentalen Rechte grundsätzlich auf die „ungeschriebenen“ Rechte, die allerdings verfassungsrechtlichen Grundrechtsschutz verdienen und zumindest aus der Interpretation von „liberty“ des Fifth oder Fourteenth Amendment abgeleitet werden können. Zum Begriff vgl. auch Nowak / Rotunda, Constitutional Law, 5th. ed.,§ 11.4, S. 383; § 11.7, S. 399. 221 Nach der Sortierung von Nowak / Rotunda, Constitutional Law, 5th. ed.,§ 11.7, S. 403 f., sind die folgenden Rechte bereits vom Supreme Court als „fundamental rights“ anerkannt: 1. The freedom of association; 2. The right to vote and to participate in the electoral process; 3. The right to interstate travel; 4. A right to fairness in the criminal process; 5. A right to fairness in procedures concerning individual claims against governmental deprivations of life, liberty, or property; und 6. A right to privacy (which includes various forms of freedom of choice in matters relating to the individual’s personal life). Demgegenüber gibt es auch Rechte, deren Stellung als fundamentale Rechte umstritten sind. Vgl. z. B. Dandridge v. Williams, 391 U.S. 471 (1970) zu welfare right und San Antonio Independent School District v. Rodriguez, 411 U.S. 1 (1973) zu right to education. 222 Vgl. z. B. die Formulierungen in Skinner (316 U.S. 535 (1942), S. 541): „Marriage and procreation are fundamental to the very existence and survival of the race. The power to sterilize, if excercised, may have subtle, far-reaching and devastating effects“; in Shapiro (394 U.S. 618 (1969), S. 629): „This Court long ago recognized that the nature of our Federal Union and our constitutional concepts of liberty unite to require that all citizens be free to travel . . ..“; in Duncan v. Louisiana, 391 U.S. 145 (1968), S. 150 (Fn. 14): „A criminal process which was fair and equitable but used no juries is easy to imagine . . . Yet no American State has undertaken to construct such a system.“ „Because we believe that trial by criminal cases is fundamental to the American scheme of justice, we hold that . . .“ (S. 149); in Moore v. City of East Cleveland, 431 U.S. 494 (1977), S. 503: „Appropriate limits on substantive due process come [from] careful „respect for the teachings of history“ [and] solid recognition of the basic values that underlie our society.“ Our decisions establish that the Constitution protects the sanctity of the family precisely because the institution of the family is deeply rooted in this Nation’s history and tradition“; sowie in Bower v. Hardwick, 478 U.S. 186 (1986), S. 192 ff.: „Proscriptions against that conduct have ancient roots. Sodomy was a criminal offense at common law and was forbidden by the laws of the original thirteen states when they ratified the Bill of Rights. . . . Against this background, to claim that a right to engage in such conduct is ,deeply rooted in this Nation’s history and tradition‘ or ,implicit in the concept of ordered liberty‘ is, at best, facetious.“ 223 Vgl. z. B. Nowak / Rotunda, Constitutional Law, 6th. ed.,§ 10.6, S. 376 f.: „If legislation limits a fundamental right . . . the Court will more carefully scrutinize the underlying factual basis for the legislation. . . . The Court has said that such laws must be necessary to promote a compelling interest. . . . Unfortunately, many of the Supreme Court decisions involving fundamental rights are unclear regarding the standard used to review restrictions on fundamental rights.“ 7*

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scrutiny test, sondern manchmal den „intermediate scrutiny test“ [s. unten dd)] verwendet hat224. Auf jeden Fall aber kann bisher festgestellt werden, daß bei der Gewährleistung der fundamentalen Rechte die Anwendung des rational basis / relationship test nie in Betracht kommt. Dies bedeutet also, daß nach der Funktionsverteilung die Gewährleistung der fundamentalen Rechte zur Aufgabe des Supreme Court zählt. Ferner: Wegen der Unbestimmtheit der Begriffsbildung der fundamentalen Rechte hat der Supreme Court einen großen Spielraum gewonnen, ein Grundrecht als fundamentales Recht zu bezeichnen225. Trotz der Debatte um den Anwendungsstandard in Fällen von suspekter Klassifikation (mit Blick auf die affirmative action-Fälle) und von fundamentalen Rechten dürfte die Beschreibung grundsätzlich richtig sein, daß die beiden Maßstäbe zur Anwendung des strict scrutiny test führen. Und ähnlich wie der rational basis test, dessen Entstehung auf die historischen Erfahrungen der Lochner-Ära und des New Deal zurückgeführt wird, sind die beiden Maßstäbe genauso auf der empirischen Grundlage ausgestaltet226. Betrachtenswert ist aber auch, worauf die erwähnte Debatte zurückzuführen ist. Aus der Entscheidung Dandridge v. Williams227 läßt sich ablesen, daß die Kontroverse darüber, ob das welfare right ein fundamentales Recht sein soll, aus der gerichtlichen Sicht nicht nur das Dilemma der Rolle des Supreme Court im Wohlfahrtsstaat228, sondern die Schwierigkeit widerspiegelt, daß die Doppelstandards im Hinblick auf die Vielfältigkeit der zu lösenden Einzelfälle praktisch ungenügend sein können. Gerade vor dem Hintergrund behauptete Justice Marshall in seinem Dissens zu dieser Entscheidung: „The cases [that used] a ‘mere rationality’ test [involved] the regulation of business interests. [But this] case, involving the literally vital interests of a powerless minority . . . is far removed from the business regulation. . . . [E]qual protection analysis of this case is not appreciably advanced by the priori definition of a ‘right,‘ fundamental or otherwise. Rather, concentration must be placed upon the character of the classification in question, the relative importance to individuals in the cases discriminated against of the governmental benefits that they do not receive, and the asserted state interests in support of the classification. . . .“229. In dem Sinne, 224 Nowak / Rotunda, Constitutional Law, 5th. ed.,§ 11.4, S. 383; § 14.3, S. 604: „In those cases the Justices seem to exercise independent judicial review in order to insure that the regulation of the voting process reasonably promotes important ends . . . and does not unreasonably restrict the voting rights of any class of individuals. This would appear to involve a middlelevel standard of review . . .“ Zur Entscheidung vgl. etwa Ball v. James, 451 U.S. 335 (1981). 225 Dies ist auf die empirische Grundlage für die Ausgestaltung der fundamental rightsKategorie zurückzuführen. Dazu näher unten b) bb) (2). 226 Die Rolle und Bedeutung der Empirie in der Ausgestaltung der Kriterien zur Anwendung des strict scrutiny test markiert den common law-Charakter der amerikanischen Entwicklung. Dazu unten b) bb) (1). 227 391 U.S. 471 (1970). 228 Vgl. 391 U.S. 471, S. 487: „The intractable economic, social, and even philosophical problems presented by public welfare assistance programs are not the business of this Court.“ 229 391 U.S. 471, S. 520 ff.

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daß die Behauptung der Anwendung eines „gleitenden Prüfungsstandards“ („sliding scale test“)230 für eine flexiblere, sich an „case-by-case“ orientierende gerichtliche Prüfung plädiert, läßt sich Justice Marshalls Dissens als Prolog zum intermediate scrutiny test ansehen231.

dd) Der „intermediate scrutiny test“ Auch durch die Debatte um die Klassifikation aufgrund des Geschlechtes haben sich die Probleme der herkömmlichen Doppelstandards gezeigt. Wegen des Fehlens eines angemessenen Prüfungsstandards hat der Supreme Court in Reed v. Reed232 die Geschlechts-Klassifikation mit einem test invalidisiert, der als rational relationship bezeichnet ist, im wesentlichen aber strenger vorgenommen werden könnte233. Nach einer langen Kontroverse über die Auswahl des Prüfungsstandards für die Klassifikation aufgrund des Geschlechtes234 hat sich der sogenannte intermediate scrutiny test endlich seit der Entscheidung Craig v. Boren235, die den Grundsatz festlegte, daß die Geschlechts-Klassifikation dem intermediate scrutiny test zu unterwerfen ist, ausdrücklich herausgebildet. Nach diesem Standard kann ein Gesetz nur dann aufrechterhalten werden, wenn es einen bedeutenden Bezug („substantial relationship“) zu einem wichtigen („important“) Gemeinwohlziel aufweist236. Im Gegensatz zu rational basis / relationship test und strict scrutiny test 230 Der Anhaltspunkt des sliding scale-Approaches liegt darin, daß „the more fundamental the interests or the more suspect traits that are involved, the stricter the scrutiny. “ P. S. Smith, The Demise of Three-Tier Review: Has the United States Supreme Court Adopted a „Sliding Scale“ Approach Toward Equal Protection Jurisprudence?, in: 23 J. Contemp. L. 475, 1997, S. 480. Vgl. ferner Marshalls Dissens zu San Antonio Independent School District v. Rodriguez, 411 U.S. 1 (1973), S. 98 f.: „This Court has . . . applied a spectrum of standards in reviewing discrimination allegedly violative of the Equal Protection Clause. This spectrum clearly comprehends variations in the degree of care with which the Court will scrutinize particular classifications, depending, I believe, on the constitutional and societal importance of the interest adversely affected and the recognized invidiousness of a particular classification . . .“ (Hervorhebung von der Verfasserin.) 231 Ebenso Nowak / Rotunda, Constitutional Law, 5th. ed., § 14.43, S. 948: „Although the Court has never adopted [the sliding scale approach] to welfare classification, Justice Marshall’s views have given rise to a variety of academic justifications for a third standard of review under the equal protection guarantee.“ Zum Hintergrund für die Entstehung des intermediate scrutiny test s. auch Sullivan, Foreword: The Justices of Rules and Standards, S. 61, Fn. 248. 232 404 U.S. 71 (1971). 233 Ebenso Simons, Grundrechte und Gestaltungsspielraum, S. 90, Fn. 19: „In ,Reed‘ findet sich freilich eine Formulierung des mere-rationality-Standard in seiner traditionellen Form (wenngleich die einzelnen Voraussetzungen einer strengeren Prüfung als üblich unterzogen wurden.)“ 234 Zur Übersicht etwa Stone / Seidman / Sunstein / Tushnet, Constitutional Law, S. 699 ff. 235 429 U.S. 190 (1976). 236 Zum Begriff etwa Nowak / Rotunda, Constitutional Law, 5th. ed., § 11.4, S. 384, § 14.3, S. 603; Simons, Grundrechte und Gestaltungsspielraum, S. 89 f.; Rau, Selbst entwickelte

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zeichnet sich der intermediate scrutiny test dadurch aus, daß er kein spezifisches Ergebnis der Prüfung „impliziert“237. Infolgedessen sind die Entscheidungen in Bezug auf die Geschlechts-Klassifizierung sehr unterschiedlich ausgefallen238. Obwohl die Prüfung nach dem intermediate scrutiny test wegen ihres case-bycase-approach umsichtiger begründet werden sollte, sind die Anforderungen wie „important interest“ und „substantial relationship“ inhaltlich noch nicht endgültig geklärt. Aus den Entscheidungen, die den intermediate scrutiny test anwenden, läßt sich nicht leicht ablesen, warum manche Regelungen durch den test von „substantial relationship“ aufrechterhalten werden konnten, andere hingegen nicht239. Auf der Ebene kann man sagen, daß der intermediate scrutiny test die case by caseGrenzen in der Rechtsprechung des United States Supreme Court und des Bundesverfassungsgerichts, S. 95; Brugger, Einführung in das öffentliche Recht der USA, S. 91. 237 Vgl. Simons, Grundrechte und Gestaltungsspielraum, S. 110. Diese relativ case-by-case Orientierung des intermediate scrutiny test in Fällen der Geschlechts-Klassifikation kann ebenfalls daraus folgen, daß (im Unterschied zur Rasse-Debatte) die Geschlechts-Klassifizierung nicht immer für die traditionell „schwache“ oder „diskriminierte“ Gruppe, sozusagen die Frauen nachteilig ist. Vgl. z. B. Craig v. Boren. Auch der potentielle Grund für die Entstehung des intermediate scrutiny test, der als „analogical crisis“ beschrieben ist (dazu Sullivan, Foreword: The Justices of Rules and Standards, S. 61, Fn. 248), kann zu dieser Orientierung geführt haben. Wegen des „open-ended“ Charakters des intermediate scrutiny test ist dieser test manchmal als die Darstellung des von Sunstein vertretenen Minimalismus bezeichnet. So J. D. Wexler, Defending the Middle Way: Intermediate Scrutiny as Judicial Minimalism, in: 66 Geo. Wash. L. Rev. 298, 1998, S. 322: „The critics of intermediate scrutiny have one thing right: Intermediate scrutiny is not a deeply principled, highly theorized response to problems of constitutional law. It is instead a compromise position that lies between two more-or-less theorized and principled poles. Unlike strict scrutiny or rationality review, both of which predetermine the outcome of the case in front of the Court through the application of broadly applicable, deeply theorized principles, intermediate scrutiny is a form of judicial minimalism because it allows the Court to decide individual cases in both a narrow and a shallow manner.“ 238 Obwohl in Craig v. Boren das betroffene Gesetz Oklahomas für verfassungswidrig erklärt wurde, wurde in Michael M. v. Sonoma County Superior Court [450 U.S. 464 (1981)] das kalifornische Gesetz aus dem Grund aufrechterhalten, daß „this Court has consistently upheld statutes where the gender classification is not invidious, but rather realistically reflects the fact that that the sexes are not similarly situated in certain circumstances.“ Vgl. ferner United States v. Virginia [518 U.S. 515 (1996)]: „Supposed ,inherent differences‘ are no longer accepted as a ground for race or national origin classifications. Physical differences between men and women, however, are enduring . . ..“ „Inherent differences‘ between men and women . . . remain cause for celebration, but not for denigration of the members of either sex or for artificial constraints on an individual’s opportunity . . ..“ In dieser Entscheidung hat aber der Supreme Court die Geschlechts-Klassifikation aus dem Grund wieder entwertet, daß „generalizations about ,the way women are,‘ estimates of what is appropriate for most women, no longer justify denying opportunity to women whose talent and capacity place them outside the average description.“ 239 Deswegen ist z. B. zu Craig v. Boren in Stone / Seidman / Sunstein / Tushnet, Constitutional Law, S. 713, zutreffend kommentiert: „Note that in Craig, the state offered statistics purporting to demonstrate that ten times more men than women in the eighteen-to-twenty age range were arrested for drunken driving. Does the Court provide an adequate explanation for why this showing was insufficient to save the law?“

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Orientierung des Common Law gründlich darstellt. Trotz der Unbestimmtheit des intermediate scrutiny test aber ist der Supreme Court seit 1976 endlich in der Lage, den dritten konkreten test in Fällen anzuwenden, in denen der Anwendungsstandard kontrovers ist oder weder der rational basis test noch der strict scrutiny test passen. Als Beispiele dienen die „illegitimacy“-Klassifikation240, einige fundamental rights-Entscheidungen241 und ein affirmative action-Fall242.

ee) Zusammenfassung Der Aufbau der abgestuften Prüfungsstandards spiegelt die offensichtliche Entwicklungstendenz zu einem Funktionsmodell wider, das auf die sachliche Aufgaben- und Funktionsverteilung zwischen dem Supreme Court und dem Gesetzgeber abzielt. Nach den Entscheidungen, den Präzedenzfällen des Supreme Court, läßt sich die Struktur der Prüfungsstandards in groben Umrissen so darstellen: Wenn in equal protection-Fällen eine suspekte Klassifikation, z. B. die Rasse-Klassifikation, berührt ist, muß in der Regel der strengste strict scrutiny test angewendet werden; zudem verdient das fundamentale Recht, das nicht nur in equal protection-, sondern in due process-Fällen als Maßstab zur Auswahl des Prüfungsstandards gilt, dem gerichtlichen Schutz nach den strict scrutiny test. Falls es sich weder um suspekte Klassifikation noch um fundamentales Recht, sondern nur um eine Wirtschafts- oder Sozialregelung handelt, kommt grundsätzlich der rational basis test ins Spiel. In equal protection-Fällen entwickelt sich aber schon der dritte Standard, nämlich der intermediate scrutiny test, dem die sogenannte „semi-suspekte“ Klassifikation, insbesondere die Geschlechts-Klassifikation zu unterwerfen ist. Obwohl die herkömmlichen Doppelstandards durch den dritten scrutiny kompletter geworden sind, kann um die Auswahl eines angemessenen Prüfungsstandards manchmal noch heftig gestritten werden. Infolgedessen wird die case by case-„Balancing“ 243, 240 Erst seit der Entscheidung Clark v. Jeter, 486 U.S. 456 (1988), wird ausdrücklich betont, daß die illegitimacy-Klassifikation dem intermediate scrutiny test zu unterwerfen ist. Zur Entwicklung im Bereich von illegitimacy-Klassifikation s. Nowak / Rotunda, Constitutional Law, 5th. ed., § 14.14, S. 758 ff. 241 Vgl. die Analyse von Nowak / Rotunda, Constitutional Law, 5th. ed., § 14.3, S. 604 zum Prüfungsstandard in Wahlrecht-Fällen [s. auch oben cc)]. 242 Metro Broadcasting Inc. v. Federal Communications Commission [s. oben cc)]. 243 Zur Definition Aleinikoff, Constitutional Law in the Age of Balancing, S. 945: „The metaphor of balancing refers to theories of constitutional interpretation that are based on the identification, valuation, and comparison of competing interests. By a ,balancing opinion,‘ I mean a judicial opinion that analyzes a constitutional question by identifying interests implicated by the case and reaches a decision or constructs a rule of constitutional law by explicitly or implicitly assigning values to the identified interests.“ Auf der Basis ist der Begriff „Balancing“ ab und zu mit dem sliding scale-Approach gleichgesetzt worden. Siehe z. B. Smith, The Demise of Three-Tier Review, S. 477 ff.; Wexler, Defending the Middle Way, S. 327. Insofern, daß „Balancing“ die Abwägungen zwischen verschiedenen Interessen betont, läßt sich sagen, daß dieser Approach vom typischen common law-Gedanken über den

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deren Zusammenhang mit der typischen Handhabung der Drei-Stufen-Prüfungsstandards wahrscheinlich noch nicht genau geklärt ist244, gelegentlich als eine andere „Prüfungsmaßnahme“ benutzt245. Weiterhin führen die verschiedenen Prüfungsstandards normalerweise auch zu unterschiedlichen Ergebnissen: Während die Anwendung des strict scrutiny test fast immer zur Verfassungswidrigkeit führt, sind Gesetze nach dem rational basis test grundsätzlich verfassungsmäßig. Demgegenüber tendiert der intermediate scrutiny test zu case-by-case-Abwägungen, die genauso für „sliding scale test“ oder „Balancing“ gelten246. Im Kontext der vorliegenden Diskussion ist nun die Frage zu stellen, ob und inwiefern das amerikanische „Funktions-Modell“ zur Lösung des Gewaltenteilungsproblems vom common law-Supreme Court und dem demokratischen Gesetzgeber beitragen kann. Dabei ist nicht nur dem Entstehungshintergrund und der Eigenart dieses Modells, sondern insbesondere den Faktoren, die für die Ausgestaltung sowie Weiterentwicklung der abgestuften Prüfungsstandards eine Rolle spielen, im einzelnen nachzugehen, denn gerade diese Faktoren sollen als objektiver Maßstab zur Aufgaben- und Funktionsverteilung und dadurch zu einer genauen Kompetenzabgrenzung zwischen dem Supreme Court und dem Gesetzgeber dienen.

Grundrechtsschutz abweicht. Hinsichtlich ihrer case by case-Orientierung aber spiegelt Balancing in Wirklichkeit den Geist des Common Law ganz deutlich wider. 244 Nach Aleinikoff kann die herkömmlichen Drei-Stufen-Lehre der Prüfungsstandards durch Balancing ergänzt oder sogar ersetzt werden. Siehe Aleinikoff, Constitutional Law in the Age of Balancing, S. 968, 971 f. Dagegen aber Sullivan, Foreword: The Justices of Rules and Standards, S. 60. 245 Ein gutes Beipiel ist die Begründung in Planned Parenthood of Southeastern Pennsylvania v. Casey, 505 U.S. 833 (1992). Angesichts der scharfen Debatte um das Abtreibungsrecht erklärte der Supreme Court, daß trotz der Anerkennung des (fundamentalen) Rechts auf Abtreibung eine Abwägung zwischen den betroffenen Interessen erforderlich ist: „[I]t must be remembered that Roe v. Wade speaks with clarity in establishing not only the woman’s liberty but also the State’s ,important and legitimate interest in potential life.‘“ (S. 871) Und deswegen: „Not all burdens on the right to decide whether to terminate a pregnancy will be undue. In our view, the undue burden standard is the appropriate means of reconciling the State’s interest with the woman’s constitutionally protected liberty. “ (S. 876) „Regulations which do no more than create a structural mechanism by which the State, or the parent or guardian of a minor, may express profound respect for the life of the unborn are permitted, if they are not a substantial obstacle to the woman’s exercise of the right to choose. Unless it has that effect on her right of choice, a state measure designed to persuade her to choose childbirth over abortion will be upheld if reasonably related to that goal. Regulations designed to foster the health of a woman seeking an abortion are valid if they do not constitute an undue burden.“ (S. 877 f.) (Hervorhebung von der Verfasserin) 246 Bisweilen wurde der intermediate scrutiny test als Darstellung der case by case-Idee von Balancing angesehen. Siehe z. B. Aleinikoff, Constitutional Law in the Age of Balancing, S. 969. Vgl. aber C. Sunstein, Foreword: Leaving Things Undecided, in: 110 Harv. L. Rev. 4, 1996, S. 78; Wexler, Defending the Middle Way , S. 315 (Fn. 118), 327, zum Unterschied zwischen intermediate scrutiny test und sliding scale-Approach oder Balancing.

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b) Die Eigenheit und Bedeutung der Entwicklung der Prüfungsstandards aa) Die Entwicklung der Doppelstandards vor dem Hintergrund der countermajoritarian difficulty Wie beobachtet, ist die Handhabung der Doppelstandards dadurch gekennzeichnet, daß der strict scrutiny test grundsätzlich die Verfassungswidrigkeit, der rational basis test grundsätzlich die Verfassungsmäßigkeit angegriffener Gesetze andeutet. In der Hinsicht, daß die durch die Fußnote 4 zu Carolene Products entwickelte Lehre der Doppelstandards darauf zielt, durch die Aufgabenverteilung die countermajoritarian difficulty der Verfassungsgerichtsbarkeit zu bewältigen, verwundert dies nicht. Vor dem Hintergrund der countermajoritarian difficulty zielt die Entwicklung der Doppelstandards in erster Linie darauf, die gerichtliche Intervention auf dem Gebiet der Wirtschafts- und Sozialgesetzgebung in gewissem Maße aufzugeben. Dies bedeutet deswegen, daß die zwei unterschiedlichen Prüfungsstandards auf die Aufgaben- und Funktionsverteilung zwischen der Justiz und der Legislative zu richten sind. Die institutionelle Anforderung führt folglich dazu, daß bei Nachprüfung eines Gesetzes nicht die Anwendung eines Prüfungsstandards, sondern die anfängliche Auswahl des Standards entscheidend für das Ergebnis der Prüfung ist247. Hinsichtlich des institutionellen Zwecks der Doppelstandards ist die Folge ja plausibel, weil nicht das materiell-rechtliche Argument nach der Anwendung eines Prüfungsstandards, sondern das angedeutete Ergebnis der Auswahl des Standards zur Aufgabenverteilung beitragen soll. Auf dieser Grundlage läßt sich genauso verstehen, warum der konkrete Inhalt der Anforderung der Doppelstandards trotz der Akkumulation der Präzedenzfälle bisher noch nicht bestimmt werden kann und von Zeit zu Zeit sogar nicht ausdrücklich ausgeführt ist. Da bereits die Auswahl eines Prüfungsstandards die gerichtliche (aktive oder zurückhaltende) Haltung andeutet und das Ergebnis der Überprüfung impliziert, muß danach die Begründung des Supreme Court dafür, wie z. B. „compelling interest“ interpretiert werden solle und ob ein angegriffenes Gesetz daher ein compelling interest verfolgt habe, in der Tat keine große Rolle spielen. Die Folge: Während die Doppelstandards die Entwicklung der Prüfungstechnik des Supreme Court stark beeinflußt haben, ist die Handhabung ihrer inhaltlichen „Maßstäbe“ wie close / rational relationship und compelling / legitimate interest von geringer Bedeutung248. Es kann sogar der Alles-oder-nichts-Approach, der gerade durch die das Prüfungsergebnis suggerierende Auswahl der Doppelstandards gekennzeichnet ist, noch an die Situation der Lochner-Ära erinnern, in der der Supreme Court durch die common law-Unterscheidung zwischen Police Power und wirtschaftlichem Grundrechtsschutz nach der substantive due process-Klausel Ebenso Simons, Grundrechte und Gestaltungsspielraum, S. 110 ff. Dies besagt zugleich, daß im Vergleich zur Auswahl der Doppelstandards die Begründungsweise des Supreme Court keine Rolle spielt, soweit die Auswahl eines Standards zu dessen angedeutetem Ergebnis fürht. 247 248

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auch die „Grenze“ seiner Betätigung gezogen hat: Daß ein Gesetz unter die Police Power fiel, bedeutete zugleich, daß der Gesetzgeber gegenüber dem Supreme Court die Prärogative hatte. Der Unterschied besteht nur darin, daß mit der Entwicklung der Doppelstandards die common law-Kategorie von Grundrechtsschutz die Wirtschaftsregelung und Sozialgesetzgebung ausschließt. Anders formuliert ist seither die Aufgaben- oder Funktionsverteilung zwischen dem Supreme Court und dem demokratischen Gesetzgeber nach verschiedenen Sachbereichen vorgenommen und in der Weise relativ „prinzipieller“249 geworden. Dies führt infolgedessen dazu, daß die in der Lochner-Ära aktive und heftig kritisierte Verfassungsgerichtsbarkeit theoretisch nicht mehr existiert, sofern die Wirtschafts- und Sozialgesetzgebung betroffen ist. Inzwischen ist die Hintergrundrolle des Common Law, die immer wieder die theoretischen und praktischen Entwicklungen der USA beeinflußt und geprägt hat, jedoch nicht zu übersehen. In der Hinsicht, daß das Common Law die eigentlich leitende Stellung des Supreme Court begründet und stets unterstützt hat, ist trotz des Aufbaus der Doppelstandards fragwürdig, ob die countermajoritarian difficulty der Verfassungsgerichtsbarkeit durch die sachliche Aufgabenverteilung überwunden werden kann. Daher muß die Entwicklung der Doppelstandards und weiter der anderen Prüfungsstandards vor dem Hintergrund des Common Law näher betrachtet werden. Auf diese Weise ist der Frage nachzugehen, welche Rolle das Common Law inzwischen gespielt hat. bb) Die Entwicklung der Prüfungsstandards unter dem Common Law (1) Die Prüfungsstandards unter dem Einfluß der Empirie Wie erwähnt, zeichnet sich die Aufgaben- und Funktionsverteilung nach den Doppelstandards einerseits dadurch aus, daß eine Sozial- und Wirtschaftsregelung als Sache des Gesetzgebers anzusehen ist. Nach dieser Klassifizierung ist aber andererseits festzulegen, in welchen Sachgebieten der Supreme Court die Entscheidungsbefugnis hat, oder anders ausgedrückt, wie die common law-Kategorien des Grundrechtsschutzes neu zu bestimmen sind. Durch die Ausführungen zur Entwicklung der Doppelstandards liegt auf der Hand, daß die beiden Kriterien, nämlich die suspekte Klassifikation und die fundamentalen Rechte, als die Entscheidungsmaßstäbe zur Anwendung des strict scrutiny test gelten. Fraglich ist dennoch, wie diese Kriterien herausgebildet sind und sich auf die Befugnis des Supreme Court auswirken. Dies ist besonders betrachtenswert unter der Prämisse, daß selbst die Auswahl der Kriterien zum strict scrutiny test und folglich zur Verfassungswid249 Die gerichtliche Nachprüfung der Wirtschafts- und Sozialgesetzgebung in der Lochner-Ära wird als „unprincipled control“ beschrieben. Dazu Nowak / Rotunda, Constitutional Law, 5th. ed., § 11.4, S. 385. Auch Sullivan kritisiert, daß die damaligen Entscheidungen bloß „naked value choices“ darstellten. Dazu Sullivan, Foreword: The Justices of Rules and Standards, S. 60.

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rigerklärung führt. In der Weise sind die beiden Kriterien entscheidend für die Aufgaben- und Funktionsverteilung zwischen Supreme Court und demokratischem Gesetzgeber. Zunächst einmal kommt die im wesentlichen immer als Bestandteil des common law-Rechtsdenkens geltende250 und vor allem seit den 1920er und 1930er Jahren unter dem Einfluß des rechtsrealistischen Denkens251 die Entwicklungslinie der common law-Verfassungsgerichtsbarkeit leitende Rolle der Empirie in Betracht, die nicht nur zur Entstehung der Doppelstandards252, sondern zur Errichtung und Konkretisierung der suspekten Klassifikation und sogar der fundamentalen Rechte beigetragen hat. Die Entwicklung der an erster Stelle auf die Rasse gerichteten suspekten Klassifikation, nach der der Supreme Court sicher ermächtigt ist, eine aktive Rolle zu spielen, ist, wie erwähnt, als Produkt der in den USA seit langem bedeutsamen Rassenfrage zu begreifen. Gerade die Begründung zur Entscheidung Brown hat deutlich gezeigt, wie die sozialen Erfahrungen bzw. die empirischen Entwicklungen und sogar die sozialwissenschaftlichen Untersuchungen die Auffassung sowie „Interpretationstendierung“ der Richter beeinflußt und verändert haben253. Nicht zu250 Vgl. z. B. Pound, The Spirit of the Common Law, S. 166 ff.; Eisenberg, The Nature of the Common Law, S. 37 ff.; R. L. Fowler, The Future of the Common Law, in: 13 Colum.L. Rev. 595 (1913), S. 606. Auch H. Vorländer, Forum Americanum: Kontinuität und Legitimität der Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika 1787 – 1987, in: JöR N.F. 36 (1987), S. 451, 456. 251 Zum Einfluß des Legal Realism auf die Entwicklung des amerikanischen Common Law s. z. B. G. J. Aichele, Legal Realism and Twenty-Century American Jurisprudence: The Changing Consensus, 1990; Lepsius, Verwaltungsrecht unter dem Common Law, S. 241 ff.; Fikentscher, Methoden des Rechts in vergleichender Darstellung, Bd. II, S. 293 ff.; M. J. Horwitz, The Transformation of American Law, 1870 – 1960: the crisis of legal orthodoxy, 1992, S. 198 ff. Die große Rolle des Legal Realism in der amerikanischen Entwicklung geht gewissermaßen auf die zutreffende rechtsrealistische Beobachtung des fallbezogenen, Faktizität und Normativität miteinander verflechtenden Charakters des Common Law zurück. Sein tiefgehender Einfluß spiegelt sich in der Gegenwart vor allem durch die bedeutsame Stellung der economic analysis of law wider. Zu rechtsrealistischen Wurzeln der economic analysis of law vgl. etwa R. A. Posner, The Present Situation in Legal Scholarship, in: 90 Yale L. J. 1113 (1981), S. 1120; G. Minda, Postmodern Legal Movements: Law and Jurisprudence at Century’s End, 1995, S. 83 – 105; N. Duxbury, Patterns of American Jurisprudence, 1995, S. 301 – 312; O. Lepsius, Die Ökonomik als neue Referenzwissenschaft für die Staatsrechtslehre?, in: Die Verwaltung 32 (1999), S. 429, 434 f.; U. R. Haltern, Die Rule of Law zwischen Theorie und Praxis. Grundrechtsrechtsprechung und Verfassungstheorie im Kontext, in: Der Staat 40 (2001), S. 243, 250 f. 252 Vgl. allgemein Abraham / Perry, Freedom and the Court, S. 7 ff. Vgl. S. 10 ff. zum Einfluß des rechtsrealistischen Denkens in diesem Zusammenhang. 253 Hierzu oben a) cc). Besonders wegen ihrer Berufung auf die empirische Quelle bzw. die sozialwissenschaftliche Untersuchung wurde die Entscheidung stets diskutiert. Zum Überblick Stone / Seidman / Sunstein / Tushnet, Constitutional Law, S. 527 f. Vgl. ferner H. A. Linde, Judges, Critics, and the Realist Tradition, in: 82 Yale L. J. 227 (1972), S. 239, zum Einfluß des Legal Realism auf die Entscheidung. In Wirklichkeit aber ist Brown nur eines von vielen Beispielen für die gerichtliche Berufung auf die empirische Quelle oder Untersuchung. Siehe dazu Miller, The Supreme Court and the Uses of History, S. 19.

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letzt ist die Kontroverse über den Anwendungsstandard zur affirmative action auf empirische Überlegungen zurückzuführen254. Wie auch gezeigt, beruft sich weiterhin die Auffassung des Supreme Court darüber, ob ein nicht explizit in der Verfassung genanntes oder einfach ungeschriebenes subjektives Recht als fundamentales Recht anzuerkennen ist, überwiegend auf die Empirie255, obwohl das Argument häufig durch die Bestimmung des Schutzbereiches des Fourteenth (oder eines anderen) Amendment zur US-Verfassung zum Ausdruck gebracht ist. Die der Entscheidungsprärogative des Supreme Court dienenden Kriterien könnten einerseits auf ihrer empirischen Grundlage faktisch akzeptiert werden256; andererseits aber kann dadurch noch erschwert werden, den Supreme Court rechtlich zu kontrollieren. Wie schon dargelegt, liegt unter dem Common Law das Gewaltenteilungsproblem darin, daß die Wahlalternativen der Befolgung der Präzedenzfällen und der case-by-case-Abwägungen dem Supreme Court immer zur Verfügung stehen. Während das gerichtliche Wahlrecht auf der einen Seite den gelegentlich gelobten „flexiblen“ Charakter des Common Law widerspiegelt257, ist es auf der anderen Seite in der Tat die notgedrungene Folge des Unvermögens des Common Law, der gerichtlichen Entscheidung einen materiell-rechtlichen objektiven Maßstab zu liefern258 auf der Grundlage, daß sich das Common Law inhaltlich gerade auf die gerichtlichen Entscheidungen stützen muß, die jedoch mit dem einzelfallorientierten Charakter259 immer wieder im Prozeß der Falllösung die Vermischung von Rechtsanwendung und Rechtsetzung und in der Folge überwiegend die Rechtsetzungsqualität richterlicher Tätigkeit darstellen und daher aus 254 Vgl. z. B. den Gegensatz zwischen der herrschenden und der abweichenden Meinung in City of Richmond v. J. A. Croson Co., 448 U.S. 469 (1989), S. 499: „While there is no doubt that the sorry history of both private and public discrimination in this country has contributed to a lack of opportunities for black entrepreneurs, this observation, standing alone, cannot justify a rigid racial quota in the awarding of public contracts in Richmond, Virginia.“ Dagegen Marshalls Dissens, S. 528 ff., 552 f.: „In concluding that remedial classifications warrant no different standard of review under the Constitutoin . . . , a majority of this Court signals that it regards racial discrimination as largely a phenomenon of the past . . . In constitutionalizing its wishful thinking, the majority today does a grave disservice not only to those victims of past and present racial discrimination in this Nation whom government has sought to assist, but also to this Court’s long tradition of approaching issues of race with the utmost sensitivity.“ 255 Zu Beispielen schon oben Fn. 222. 256 Die Akzeptanz des Publikums wird besonders vom Legal Realism herausgestellt. Siehe Linde, Judges, Critics, and the Realist Tradition, S. 229. 257 Vgl. z. B. Posner, Pragmatic Adjudication, S. 4 ff.; Strauss, Common Law Constitutional Interpretation, S. 879 ff. 258 In historisch-politischer Hinsicht dokumentiert Hans Vorländer zu Recht, daß eine idealistische wie rationalistische Ableitung des besonderen normativ-rechtlichen Charakters der Verfassung „der amerikanischen wie überhaupt der anglo-amerikanischen Tradition und politischen Kultur fremd“ sind. Vgl. ders., Forum Americanum, S. 455. 259 Wie erwähnt, zeichnet sich dieser common law-Charakter, der dem Stil der kontinentaleuropäischen Tradition entgegensteht, vor allem durch die Konzentration auf den zu lösenden Einzelfall und dessen Analogie mit den Präjudizien und in der Weise durch die (notwendige) Verschmelzung von Faktizität und Normativität aus. Dazu näher die folgende Fußnote.

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der Perspektive der in der kontinentaleuropäischen Tradition bedeutenden Rechtsanwendung nicht objektiv materiell-rechtlich begründet werden können260. Vor dem Hintergrund soll die Aufgaben- und Funktionsverteilung durch die Doppelstandards dazu beigetragen haben, dieses richterliche Recht auf ein bestimmtes, nach dem materiell-rechtlichen Maßstab vorgegebenes Sachgebiet zu beschränken. Da aber die Bestimmung des Sachgebietes sich wegen des Substanzproblems des Common Law wieder ausschließlich auf die Richter stützen muß, muß die Frage zwangsläufig dazu zurückkehren, wie sich die richterliche Bestimmung materiell-rechtlich begründen läßt. Die Empirie, die in erheblichem Maße die Entwicklung der suspekten Klassifikation beherrscht und die Kategorien von fundamentalen Rechten auch sehr stark beeinflußt hat, läßt sich jedoch keineswegs als die materiell-rechtliche Grundlage ansehen. In der Hinsicht, daß ein normatives Sollen aus dem empirischen Sein nicht übergangslos abzuleiten ist261, 262, 260 Zum Substanzproblem des Common Law Lepsius, Verwaltungsrecht unter dem Common Law, S. 135 ff., 242 f. Auf den ersten Blick entstand das Substanzproblem des Common Law auf dem verfassungsrechtlichen Gebiet im amerikanischen Kontext aus den unzureichenden Vorgaben der geschriebenen Verfassung, deren Inhalt unter der amerikanischen Tradition ideell durch das Naturrecht und praktisch durch das Common Law, sozusagen „judge-made law“, konkretisiert werden muß. Zwar ist in den USA die Entwicklung einer materiell-rechtlichen Verfassungstheorie nicht zu erwarten, solange sich das amerikanische Verfassungsrecht stets auf dem Weg des Common Law entwickelt. Fundamentaler aber ist das Fehlen eines materiell-rechtlichen Inhalts des Verfassungsrechts auf den Unterschied zwischen kontinentaleuropäischer Tradition und common law-System in Bezug auf den Zusammenhang von Faktizität und Normativität oder von Sein und Sollen zurückzuführen. Vgl. hierzu O. Lepsius, Steuerungsdiskussion, Systemtheorie und Parlamentarismuskritik, 1999, S. 39: „Das Präjudiziendenken geht von der Verschmelzung von Normativität und Faktizität aus, die über Einzelfälle hinaus verbindlich werden soll. Das Subsumtionsmodell hingegen geht von der Trennung von Faktizität und Normativität aus, die es in Einzelfällen in Einklang bringen möchte.“ (Ebenso Lepsius, Besprechung von Duncan Kennedy, A Critique of Adjudication, S. 382) Ähnlich F. Schauer, Is the Common Law Law? in: 77 Calif. L. Rev. 455 (1989), S. 455. Dieser Unterschied führt also dazu, daß unter dem Common Law die Justiz neben der Rechtsanwendung, die sich unter der kontinentaleuropäischen Tradition auf die richterliche Bindung an das Gesetz und deswegen auf die Subsumtionstechnik aufgrund des Gesetzes konzentriert, in der common law-Tradition aber nicht gleichermaßen verstanden und betont wird, gewissermaßen auch die Aufgabe der Rechtsetzung übernimmt, so daß die amerikanische gerichtliche Rolle als Rechtssetzer gegenüber der als Rechtsanwender in den Vordergrund tritt. Infolgedessen muß sich die Substanz des Common Law auf die gerichtlichen Entscheidungen stützen, die wegen des Charakters von Flexibilität oder Unsicherheit des Präjudizsystems aber keinesfalls als die Lösung zum Substanzproblem des Common law durch die Lieferung objektiver materiell-rechtlicher Quelle dienen können. Zur rechtsetzenden Qualität gerichtlicher Entscheidung unter dem Common Law vgl. Lepsius, Besprechung von Duncan Kennedy, A Critique of Adjudication, S. 380 f.; D. Kennedy, A Critique of Adjudication: Fin de siècle, 1997, S. 26 ff., 73 ff.; Heun, Verfassungsrecht und einfaches Recht, S. 90; im allgemeinen auch G. Calabresi, A Common Law for the Age of Statutes, 1982. Der common law-Charakter der Verschmelzung von Rechtsanwendung und Rechtsetzung ist im Werk R. Pounds durch die Benennung von „Interpretation“ gekennzeichnet, die nach Pound von „Anwendung“ zu unterscheiden ist. Dazu Pound, The Development of Constitutional Guarantees of Liberty, 1957, S. 104. 261 Ebenso Lepsius, Verwaltungsrecht unter dem Common Law, S. 242 f., 245 ff.; Linde, Judges, Critics, and the Realist Tradition, S. 252; auch R. Alexy, Theorie der juristischen

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kann das Substanzproblem des Common Law, das sich nicht nur in der formalistischen Bindung an die Präzedenzfälle, sondern in der ganzen richterlichen Tätigkeit gezeigt hat, nicht einfach durch die rechtsrealistische Berufung auf die außerjuristischen, sozusagen empirischen Quellen263 gelöst werden264. Das Problem des letztlich unbegrenzten richterlichen Rechts auf die Wahl zwischen Bindung an die Präzedenzfälle und case by case-Abwägungen kann sogar durch die rechtsrealistische Betonung der Empirie verschärft werden in der Hinsicht, daß die Berufung auf die Empirie in gewissem Maße zur richterlichen Befreiung von Präzedenzfällen265 und folgeweise zu einem aus der Sicht des Legal Realism „am echten Common Law orientierten Common Law“ führt266. Die auf der Empirie beruArgumentation. Die Theorie des rationalen Diskurses als Theorie der juristischen Begründung, 2. Aufl. 1991, S. 30. Aus Sicht der Legal Realists aber ist die Objektivität der SollenBeurteilung erst durch die Sein-Untersuchung zu ermöglichen. Genau aus diesem Grund behauptete Llewellyn „the temporary divorce of Is and Ought for purposes of Study“, wenngleich „such divorce of Is and Ought is, of course, not conceived as permanent.“ Dazu Llewellyn, Some Realism About Realism, S. 55 f. 262 Bemerkenswert ist aber auch, daß die Vermischung von Sein und Sollen nicht nur als die Schwierigkeit des Legal Realism, sondern, wie gedeutet, als der Charakter und die Schwierigkeit des Common Law selbst gilt. Gerade daraus entstand das Substanzproblem des Common Law. Zur Verflechtung von Sein und Sollen im Common Law s. Lepsius, Besprechung von Duncan Kennedy, A Critique of Adjudication, S. 378 ff.; ders., Die Ökonomik als neue Referenzwissenschaft für die Staatsrechtslehre?, S. 434. 263 Für die Legal Realists beziehen sich die empirischen Quellen in erster Linie auf die Hilfsquellen, die aus außerjuristischer, sozialwissenschaftlicher Forschung gewonnen sind. Vgl. dazu J. H. Schlegel, American Legal Realism and Empirical Social Science, 1995; Reich, Sociological Jurisprudence und Legal Realism im Rechtsdenken Amerikas, S. 104 ff.; Horwitz, The Transformation of American Law, 1870 – 1960, S. 209 f. Vgl. ferner S. 211 f. zur Kritik Lon Fullers an dieser „sozialwissenschaftlichen Methodologie“. 264 Oder anders formuliert: Der Formalismus des Common Law, der in der Sicht des Legal Realism aus der typischen Case Method Langdells (dazu Duxbury, Patterns of American Jurisprudence, S. 14 ff.; Lepsius, Verwaltungsrecht unter dem Common Law, S. 221 ff.; Aichele, Legal Realism and Twenty-Century American Jurisprudence, S. 13) entstand, ist im wesentlichen nicht nur auf die mechanische Befolgung der Methode von Analogie und folglich der Bindung an die Präzedenzfälle, sondern fundamentaler auf den mangelhaften materiell-rechtlichen Inhalt des Common Law zurückzuführen. Die Lösungsweise des Legal Realism, die sich von Präzedenzfällen entfernt und durch die Berufung auf die Empirie immer wieder an case by case orientiert, bleibt daher in der common law-Tradition und hat in Wirklichkeit nichts mit dem Substanzproblem des Common Law zu tun. Dazu vgl. auch Lepsius, Verwaltungsrecht unter dem Common Law, S. 243: „Auf der einen Seite erschütterte der Legal Realism daher die Case Method und in ihrem Gefolge einen Großteil der Methodenlehre des Common Law, auf der anderen Seite überwand der Legal Realism nicht die Voraussetzung, die für von ihm beklagten Umstände verantwortlich waren, so daß die Reformvorschläge der Realists zu kurz greifen.“ 265 Dazu Schauer, Playing by the Rules, S. 192. 266 Anders formuliert betonen die Legal Realists die common law-Seite der case by caseAbwägungen aufgrund der Empirie, während die traditionelle Case Method die andere common law-Seite der Analogie und der Bindung an die Präzedenzfälle herausstellt. Auf diese Weise unterscheidet sich der Legal Realism vom traditionellen Approach nur insoweit, daß aus der rechtsrealistischen Sicht die empirische Betrachtung oder Überlegung in einzelnen

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henden Kriterien zur Bestimmung der Grenze richterlicher Gewalt, sozusagen die suspekte Klassifikation und die fundamentalen Rechte, bilden daher kein materiell-rechtliches Fundament, ohne das aber die verfassungsrechtliche Aufgabenund Funktionsverteilung zwischen dem Supreme Court und dem Gesetzgeber nicht zu erwarten ist. (2) Die Aufgaben- und Funktionsverteilung durch das Common Law? Die Unbestimmtheit der Aufgaben- und Funktionsverteilung zeigt sich besonders deutlich in der gerichtlichen Begriffsbildung der „fundamentalen Rechte“. Vor dem Hintergrund, daß die common law-Kategorie des Grundrechtsschutzes gewissermaßen auf empirischer Grundlage geprägt ist, kann der Supreme Court seinen Vorteil unter dem Common Law nützen, indem er „keiner Autorität unterliegen“ muß und soll. Wegen des Fehlens eines materiell-rechtlichen Hinweises in der Verfassung und der Verfassungstheorie stützt sich das Argument des Supreme Court immer wieder auf die Präzedenzfälle oder einfach auf die Empirie, also auf die common law-Tradition. Daraus folgt, daß alles, was nach den Präzedenzfällen oder der Empirie, unter dem Common Law oder sogar in der Sicht des Supreme Court267 verfassungsrechtlich schutzwürdig ist, als „fundamentales Recht“ anerkannt und unter dem strict scrutiny test geschützt werden soll. Diese Tendenz hat sich besonders anschaulich gezeigt vor dem empirischen Hintergrund, daß der Supreme Court nach Carolene Products seine Aufgabe in der Garantie der persönlichen Grundrechte bestimmt und sich deswegen darauf konzentriert, seine Stellung durch die Verstärkung der Grundrechte und Grundrechtsgewährleistung hervorzuheben268. Auf der amerikanischen common law-Grundlage, daß die Grundrechtsidee auf das Naturrecht zurückzuführen ist, daß sich das Grundrecht nicht nur auf das Freiheitsrecht, sondern auf das gleiche Freiheitsrecht bezieht, und daß der Grundrechtsschutz die Pflicht des Gerichts ist, werden sowohl die Grundrechtsverstärkung – insbesondere die „civil rights“ nach der equal protection-Klausel – als auch die starke Rolle des Supreme Court durch dessen Gewährleistung der civil rights noch selbstverständlicher269. Es ist infolgedessen nicht verwunderlich, daß Fällen wichtiger als die logische Befolgung der Präzedenzfälle für das Common Law ist (Zur Terminologie vgl. O. W. Holmes, The Common Law, 1881, S. 1: „The life of the law has not been logic: it has been experience.“). Mit anderen Worten hat der „rule skepticism“ des Legal Realism nur zur Verweigerung der traditionellen Case Method, aber nicht zur Abweichung vom Common Law geführt. Dazu auch Lepsius, Verwaltungsrecht unter dem Common Law, S. 242. Zum „rule skepticism“ des Legal Realism vgl. Horwitz, The Transformation of American Law, 1870 – 1960, S. 200 ff. 267 Das Casebook von Nowak / Rotunda bezeichnet die gerichtliche Bestimmung der fundamentalen Rechte als „judicial value selection“. Siehe Nowak / Rotunda, Constitutional Law, 5th. ed., § 11.7, S. 401. 268 Vgl. Attanasio, Die persönlichen und wirtschaftlichen Grundrechte in der amerikanischen Rechtspolitik, S. 257 ff.; Abraham / Perry, Freedom and the Court, S. 13 f.; McCloskey, The American Supreme Court, S. 129 ff.

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sich die Verfassungsgerichtbarkeit ohne Schwierigkeit durch die Entwicklung sowie Erweiterung der Kategorien der fundamentalen Rechte verstärkt hat270. Ferner ist die Entwicklung des intermediate scrutiny test ebenfalls als Zeugnis der Ausweitung der Verfassungsgerichtsbarkeit durch die Gewährleistung der Grundrechte zu erfassen271. Die Grundidee ist es, daß einige Rechte oder Interessen, die nicht oder noch nicht zu fundamentalen Rechten zählen, trotzdem nach einem Prüfungsstandard zu schützen sind, der nicht so lose wie der rational basis test sein soll. In Bezug auf die Geschlechts-Klassifikation, die als die typischste Fallgruppe unter dem intermediate scrutiny test gilt, liegt aber der Grund dafür, warum der intermediate scrutiny test erforderlich ist, wahrscheinlich wieder in der Empirie272. Die Betonung der Gewährleistung der persönlichen Grundrechte durch den strict scrutiny test führt sicher zur Grundrechtsverstärkung und sogar gelegentlich zur Wiederbelebung des Naturrechtsdenkens, das in der amerikanischen common lawTradition eine Rolle gespielt hat273. Hinsichtlich des Gewaltenteilungsproblems aber: Je umfangreicher die Grundrechte in der Hand des Supreme Court absolut geschützt sind, desto schwieriger scheint eine materiell-rechtliche Einschränkung der Kompetenz des Supreme Court unter dem Common Law. Aus dem Blickwinkel, daß die Kriterien zur Anwendung des strict scrutiny test entweder auf den Präzedenzfällen oder auf der Empirie beruhen, läßt sich sagen, daß der Maßstab zur Aufgaben- und Funktionsverteilung gerade durch das Common Law selbst entschieden ist. Auf diese Weise ist die Aufgaben- und Funktionsverteilung jedoch nicht in der Lage, das Konfliktverhältnis zwischen der Verfassungsgerichtsbarkeit und der Gesetzgebung zu entspannen, denn selbst das Common Law ist nicht in der Lage, eine materiell-rechtlich objektive Grenze für den Supreme Court zu ziehen. Das Problem liegt also nicht darin, daß die Doppelstandards unzureichend für die Aufgabenverteilung sind, sondern darin, daß der common law-Maßstab zur Verteilung materiell-rechtlich schwankend ist. Deswegen können die Aufgaben des Supreme Court und des Gesetzgebers nicht durch den relativ an case by case 269 Im Vergleich zur Gewährleistung anderer Grundrechte wird die Position des Supreme Court besonders durch seinen Gleichheitsschutz für die Neger unterstrichen. Vgl. McCloskey, The American Supreme Court, S. 139 ff., 165 ff. 270 Im Licht des Common Law läßt sich sagen, daß die Verstärkung der Verfassungsgerichtsbarkeit die Folge des aktiven Supreme Court ist, dessen Stärke immer wieder durch das richterliche Recht auf die Wahl zwischen der Befolgung der Präzedenzfällen und den case by case-Abwägungen zum Ausdruck kommt. 271 So Nowak / Rotunda, Constitutional Law, 5th. ed., § 14.3, S. 603; Sullivan, Foreword: The Justices of Rules and Standards, S. 61, Fn. 248. Vgl. ferner Sunstein, Foreword: Leaving Things Undecided, S. 75: „The Court did not merely restate the intermediate scrutiny test but pressed it closer to strict scrutiny. After United States v. Virginia, it is not simple to describe the appropriate standard of review. States must satisfy a standard somewhere between intermediate and strict scrutiny.“ 272 Vgl. z. B. Wexler, Defending the Middle Way, S. 319: „Gender is an immutable characteristic, and women historically have been discriminated against . . .“ Vgl. auch Abraham / Perry, Freedom and the Court, S. 411 ff. 273 Ebenso Nowak / Rotunda, Constitutional Law, 5th. ed., § 11.7, S. 399.

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orientierten sliding scale- oder balancing-Approach genauer verteilt werden, der im Vergleich zum Element der Empirie nach dem Aufbau der Doppelstandards eine noch engere Beziehung mit dem Legal Realism hat274. Anders als die Doppelstandards, deren Auswahl in der Regel bereits das Ergebnis der gerichtlichen Prüfung impliziert und deswegen bedeutender als die Begründung der Prüfung ist, spielt die gerichtliche Begründung oder die Argumentation nach dem sliding scaleoder balancing-Approach in Wirklichkeit eine entscheidendere Rolle unter der Prämisse, daß die Auswahl dieses Approaches über kein Ergebnis vorentscheidet275. In diesem Sinne wird zur Begrenzung der Verfassungsgerichtsbarkeit eine objektive materiell-rechtliche Grundlage bei Abwägungen im Einzelfall noch unentbehrlicher, die in der Praxis unter dem Common Law aber kaum ins Gewicht fällt. Statt dessen beruft sich die Begründung des sliding scale- oder balancing-Approaches immer wieder und noch häufiger auf die Empirie276, so daß sogar die durch die abgestuften Prüfungsstandards errichtete, regelbezogene Aufgabenverteilung gefährdet werden kann, indem der Approach durch die Betonung von case by case-Abwägungen und der Offenheit des Ergebnisses einer gerichtlichen Prüfung sich immer wieder an einer rechtsrealistischen Entwicklung und infolgedessen an der Eigenart und zugleich der Schwierigkeit des Common Law orientiert, daß die gerichtliche Entscheidung materiell-rechtlich durch nichts kontrolliert ist277. Die Unsicherheit des Common Law, die aus dem Substanzproblem entstand und durch die Beliebigkeit der richterlichen Tätigkeit zum Ausdruck gebracht ist, läßt sich nicht durch das Common Law lösen.

274 Zur rechtsrealistischen Grundlage für den balancing-Approach vgl. Aleinikoff, Constitutional Law in the Age of Balancing, S. 955 ff. 275 Dazu Aleinikoff, Constitutional Law in the Age of Balancing, S. 970: „Unlike the twotier approach, the choice of a balancing methodology does not determine the result.“ 276 Zum empirischen Element in der Balancing vgl. Aleinikoff, Constitutional Law in the Age of Balancing, S. 962 f. („Judges ought to search for the relevant interests in society at large and give them the weight that history, tradition, and current society attributed to them. The social science-like methodology of balancing instructed the judge to look for values ,out there.‘ Balancing could be seen as primarily descriptive.“), 974 („In the search for an external scale – for weights ,out there‘ – the modern Court has relied upon several sources that seem sensible. It may turn to history or search for a current ,social consensus‘ on the importance of an interest. Interests may also be assigned weight based on their contribution to the achievement of constitutional or non-constitutional goals.“). 277 Obwohl nach dem sliding scale- oder dem balancing-test die gerichtliche Aufgabe des Grundrechtsschutzes durch die case by case-Interessenabwägungen relativiert werden kann, kann dieser Approach keinen Maßstab zur materiell-rechtlichen Kontrolle für den Supreme Court liefern. Umgekehrt kann die Schwierigkeit des Common Law durch die von diesem Approach betonten Interessenabwägungen verschärft werden, die die typische amerikanische common law-Tradition nicht kennt, weswegen sie noch weniger Hinweis anbieten kann.

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IV. Countermajoritarian difficulty überwunden? 1. Die Aufgaben- und Funktionsverteilung unter dem Common Law: Zum normativen Problem der Prüfungsstandards Die Lehre der Prüfungsstandards zielt auf die Bewältigung der countermajoritarian difficulty der Verfassungsgerichtsbarkeit durch die Funktionsverteilung ab. Wie oben II. 2. diskutiert, ist der Ansatz der Aufgaben- oder Funktionsverteilung im wesentlichen kein Widerspruch zum Common Law und deswegen im Vergleich zu judicial restraint erfolgversprechender zur Lösung des Dilemmas des Supreme Court unter der traditionellen Gewaltenteilungsstruktur und dem Common Law. Im Hinblick auf den Entstehungshintergrund dieses Dilemmas, der, wie immer wieder gezeigt, mit dem Charakter des Common Law zu tun hat, muß eine zweckmäßige Funktionsverteilung voraussetzen, daß die Maßstäbe zur Funktionsverteilung durch die materiell-rechtlichen Vorgaben bestimmt werden, damit das Substanzproblem des Common Law nicht nur durch die Funktionsverteilung auf ein bestimmtes Gebiet beschränkt, sondern in Bezug auf die Entscheidung über die Maßstäbe zur Funktionsverteilung durch objektive materiell-rechtliche Vorgaben vermieden werden kann. Aus dieser Perspektive kann die Berufung auf die Empirie in der Ausgestaltung der Prüfungsstandards jedoch keineswegs eine Funktionsverteilung bewirken, die sich auf die Überwindung der countermajoritarian difficulty richtet. Die Reichweite der Kompetenzausübung des Supreme Court nach den Prüfungsstandards, die sich ideell zur Bewältigung der countermajoritarian difficulty entwickeln, praktisch aber am rechtsrealistischen Ansatz besonders in dem Sinne orientieren, daß der gerichtlichen Entscheidungsprärogative durch den strict scrutiny test die Empirie zugrunde liegt278, hängt infolgedessen wieder von judicial self-restraint ab279, 280. Gerade auf diese Weise zeigt sich durch die Ent278 Aber natürlich befolgt die Lehre der Prüfungsstandards noch den typischen common law-Stil in dem Sinne, daß sie durch die Klassifizierung von Fallgruppen gekennzeichnet ist. Zur rechtsrealistischen Verweigerung der Orientierung an der Klassifikation im Prozess richterlicher Tätigkeit s. z. B. Llewellyn, A Realistic Jurisprudence – The Next Step, in: ders., Jurisprudence, S. 3, 27 f. 279 Obwohl der Legal Realism einen in der Praxis sehr mächtigen Richter unterstützt und deswegen gelegentlich als Anwalt für judicial activism angesehen wird (vgl. etwa Aichele, Legal Realism and Twenty-Century American Jurisprudence, S. 97), stellt er in Wirklichkeit die Vereinbarkeit zwischen der gerichtlichen Entscheidung und der sozialen Realität heraus. Daher betonen die Legal Realists genauso judicial (self-)restraint, soweit ein nachgeprüftes Gesetz das gesellschaftliche Bedürfnis befriedigt. Ein gutes Beispiel ist die Befürwortung der Sozial- und Wirtschaftsgesetzgebung des New Deal Legal Realists. Dazu Duxbury, Patterns of American Jurisprudence, S. 149 ff. 280 Aus dieser Perspektive begegnet Dworkins These einem ähnlichen Problem: Auch wenn die Funktionsverteilung nach Dworkins Unterscheidung von Prinzip und Politik vorgenommen wird, müßte der Maßstab zur Unterscheidung, der wegen des im Common Law festzustellenden Fehlens der Ideen der Rechtsanwendung im Sinne der kontinentaleuropäischen Tradition, nämlich der richterlichen Bindung an das Gesetz und der Subsumtion aufgrund des Gesetzes, auf keiner materiell-rechtlichen, sondern (nach Dworkin) einer politisch-philoso-

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wicklung der Prüfungsstandards, wie der common law-Hintergrund die zur Lösung der countermajoritarian difficulty unentbehrliche objektive Kompetenzbegrenzung des Supreme Court, die wesentlich „rule-based“ und deswegen materiell-rechtlich sein muß, erschwert hat281. Das grundlegende Problem der Entwicklung der Prüfungsstandards hat dennoch keine gründliche Reflexion über den fundamentalen Konflikt des Common Law zur Anordnung des Gewaltenteilungssystems hervorgerufen. Statt dessen wird immer noch versucht, der countermajoritarian difficulty in vielfältiger Weise zu begegnen282. In der Hinsicht, daß sich das Substanzproblem des Common Law durch das Scheitern des Funktionsmodells deutlich gezeigt hat, ist ja vorstellbar, daß die Alternative zur herkömmlichen Lösung der countermajoritarian difficulty zur Reaktion auf dieses Substanzproblem tendiert. Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, daß die sogenannte Prozeduralisierung der Verfassungstheorie in der amerikanischen Diskussion populär wurde: Da das Common Law durch keine materiell-rechtlichen Vorgaben entwickelt, unterstützt und begrenzt ist, läßt sich die countermajoritarian difficulty oder das Gewaltenteilungsproblem unter dem Common Law wahrscheinlich nur außerhalb der materiell-rechtlichen Vorgaben und angesichts des Problems der Berufung auf die Empirie sogar außerhalb der Substanz lösen283. Gerade vor diesem Hintergrund ist John Hart Elys Versuch, eine prozedurale Theorie zur Überwindung der countermajoritarian difficulty zu entwickeln284, von großer Bedeutung285. phischen Grundlage beruht, endlich immer noch durch den Supreme Court entschieden werden. In der Weise aber müßte die Kompetenzbegrenzung des Supreme Court wieder auf judicial self-restraint basieren. Auf der Grundlage ist es nicht verwunderlich, daß Dworkin für judicial activism plädiert. Siehe z. B. ders., Taking Rights Seriously, S. 131 – 149. 281 Das Problem liegt also darin, daß die Kompetenzbegrenzung des Supreme Court durch das Common Law nicht „rule-based“ sein kann, weil das Common Law selbst keinesfalls „rule-based“ ist. Zum Charakter des Common Law in diesem Zusammenhang vgl. Schauer, Playing by the Rules, S. 175: „In common law-adjudication . . . the judicial rule is not perceived as primarily involving the application and interpretation of canonical texts containing lists of equally canonical rule-formulations. Instead, common law judges make decisions by applying legal principles contained in generations of previous judicial opinions, with each of those previous opinions being the written justification and explanation of the decision in a particular lawsuit.“ Vgl. ferner S. 177 – 187; Schauer, Is the Common Law Law?, S. 455 f. Der „nicht-rule-based“ Charakter des Common Law, der mit der schon oben III. 2. b). bb) gedeuteten common law-Eigenart der Verschmelzung von Rechtsanwendung und Rechtsetzung zu tun hat und deswegen zur Vermischung zwischen adjudication und lawmaking führen kann, war bereits von Bentham bemerkt und kritisiert worden. Hierzu G. L. Postema, Bentham and the Common Law Tradition, 1986, S. 197 – 210. 282 Der Ansatz, der wie erwähnt durch den sliding scale- oder den balancing-test dargestellt wird, reagiert darauf mit dem Anhaltspunkt, daß die countermajoritarian difficulty durch eine kompetente Verfassungsgerichtsbarkeit unterlassen werden kann. Daher ist ein noch rechtsrealistischerer Richter vorausgesetzt, dessen angemessene Kompetenzausübung gegenüber dem Gesetzgeber aber dann vollständig von judicial self-restraint abhängen muß. 283 Vgl. auch Lepsius, Verwaltungsrecht unter dem Common Law, S. 139 f. sowie ders., Besprechung von Duncan Kennedy, A Critique of Adjudication, S. 378 zum Hintergrund für die Prozeduralisierung des amerikanischen öffentlichen Rechts. 8*

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2. Prozeduralisierung als einziger Ausweg? – Zur prozeduralen Theorie John Hart Elys Elys These geht davon aus, daß die gegenwärtige Debatte zwischen „interpretivism“ und „noninterpretivism“286 stets um die Substanz der Verfassung und des Verfassungsrechts kreist; auf diese Weise aber könne sich eine allgemein akzeptierte Rolle der Verfassungsgerichtsbarkeit und des Supreme Court nicht ergeben, weil besonders in einer pluralistischen Gesellschaft der objektiv anerkannte substantielle Wert nicht festzustellen sei, und daher werde die Verfassungsgerichtsbarkeit immer damit kritisiert, daß sie die Werturteile des Gesetzgebers ersetze287. Auf dieser Grundlage behauptet Ely, daß ein Alternativansatz bestehe, der ganz anders als die „old-fashioned value imposition“288 aussehe und auf eine Reflexion über das Wesen und den Wert der Demokratie hinweise. Die prozedurale Theorie, die von Ely vertreten wird, zeichnet sich infolgedessen dadurch aus, daß die Verfassungsgerichtsbarkeit nur durch deren „Inkorporation“ in die repräsentative Demokratie gerechtfertigt werden kann, indem der Supreme Court einen „participation-oriented“, „representation-reinforcing“ Ansatz befolgt und lediglich als „policing the process of representation“ funktioniert289. In der Hinsicht, daß „the original Constitution was principally . . . dedicated to concerns of process and structure and not to the identification and preservation of specific substantive values“290, 284 Hier bezieht sich der prozedurale Ansatz auf die prozedurale Theorie im engeren Sinne, nämlich das „Partizipations- oder Repräsentations-orientierte“ Modell (nach der Einteilung U. R. Halterns, Verfassungsgerichtsbarkeit, Demokratie und Mißtrauen. Das Bundesverfassungsgericht in einer Verfassungstheorie zwischen Populismus und Progressivismus, 1998, S. 256), das von Ely vertreten wird. Zur prozeduralen Theorie im weiteren Sinne, die die Thesen von Wechsler und Bickel auch einbezieht, s. Duxbury, Patterns of American Jurisprudence, S. 205 ff., zur Entstehung der „process jurisprudence“ 205: „Process jurisprudence . . . marks the beginning of American lawyers attempting to explain legal decision-making not in terms of deductive logic or the intuitions of officials, but in terms of reason which is embodied in the fabric of the law itself.“ (Hervorhebung von der Verfasserin) 285 Ausführlich zu Elys Theorie vgl. etwa Riecken, Verfassungsgerichtsbarkeit in der Demokratie, S. 32 – 272. 286 Zum Begriff Ely, Democracy and Distrust, S. 1: „Today we are likely to call the contending sides ,interpretivism‘ and ,noninterpretivism‘ – the former indicating that judges deciding constitutional issues should confine themselves to enforcing norms that are stated or clearly implicit in the written Constitution, the latter the contrary view that courts should go beyond that set of references and enforce norms that cannot be discovered within the four corners of the document.“ Die Einteilung wurde später gelegentlich verwendet. Vgl. z. B. M. J. Perry, The Constitution, The Courts, and Human Rights: An Inquiry into the Legitimacy of Constitutional Policymaking by the Judiciary, 1982. Zur Kritik dieser Unterscheidung s. Dworkin, Law’s Empire, S. 359 f. 287 Vgl. Ely, Democracy and Distrust, S. 11 – 72. 288 Vgl. Ely, Democraca and Distrust, S. 75, auch 73. 289 Hierzu Ely, Democracy and Distrust, S. 87 ff. 290 Ely, Democracy and Distrust, S. 92. Ely erklärt weiter: „[O]ur Constitution has always been substantially concerned with preserving liberty. . . . The question that is relevant to our

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plädiert Ely dafür, daß „unlike an approach geared to the judicial imposition of ‘fundamental values’, the representation-reinforcing orientation . . . is entirely supportive of . . . the American system of representative democracy. It recognizes the unacceptability of the claim that appointed and life-tenured judges are better reflectors of conventional values than elected representatives, devoting itself instead to policing the mechanisms by which the system seeks to ensure that our elected representatives will actually represent.“291 Nach Ely sind folglich die Wertentscheidungen vom demokratischen Gesetzgeber zu treffen, während der Supreme Court nur dann intervenieren soll, wenn die Minderheit in der demokratischen Willensbildung ignoriert wird292. Gerade dadurch, daß sowohl die Verfassung als auch die verfassungsrechtliche Aufgabe des Supreme Court, der infolgedessen rein für den Prozeß demokratischer Willensbildung sorgt und substantiell die Handlungsfreiheit des Gesetzgebers dann keineswegs einschränkt, prozeduralisiert sind, kann die Verfassungsgerichtsbarkeit aus Elys Sicht mit der repräsentativen Demokratie in Einklang gebracht werden. Offensichtlich liegt der Vorteil der prozeduralen Theorie Elys darin, daß das Substanzproblem des Common Law, das immer wieder zum Dilemma des Supreme Court geführt hat, durch die Prozeduralisierung der Verfassung und Verfassungsgerichtsbarkeit auf den ersten Blick ganz gut verdeckt werden kann. Wenn die Verfassungsgerichtsbarkeit nur auf die Sicherung eines vernünftigen politischen Prozesses zielt und keine Werturteile behandelt, kann das Substanzproblem des Common Law die Gewaltenteilung zwischen Supreme Court und Gesetzgeber wahrscheinlich nicht mehr stören. In dieser Weise kann das richterliche Recht auf die Wahl zwischen der Bindung an die Präzedenzfälle und der case by case-Abwägung auch kein Problem sein, weil der Richter immer nur als „Schiedsrichter“ („referee“) des politischen Prozesses fungiert und sich keineswegs in die Substanz politischer Entscheidungen einmischt. Auf theoretischer Ebene scheint also die prozedurale Theorie vielversprechend in dem Sinne, daß sie auf den (vielleicht letzten und zugleich einzigen) Weg zur Überwindung der countermajoritarian difficulty hingewiesen hat. Aber Verdecken bedeutet nicht Lösen. Schon die vertrauteste Kritik, daß die gerichtliche Aufgabe als „policing the process of representation“ auf keinen Fall wertfrei bleiben kann293, hat aus vielfältigen Perspektiven gezeigt, wie sich die inquiry here, however, is how that concern has been pursued. The principal answers to that . . . are by a quite extensive set of procedural protections, and by a still more elaborate scheme designed to ensure that in the making of susbstantive choices the decision process will be open to all on something approaching an equal basis, with the decision-makers held to a duty to take into account the interests of all those their decisions affect.“ (S. 100) 291 Ely, Democracy and Distrust, S. 101 f. 292 Dazu Ely, Democracy and Distrust, S. 135 ff. 293 Vgl. z. B. M. Tushnet, Darkness on the Edge of Town: The Contributions of John Hart Ely to Constitutional Theory, in: 89 Yale L. J. 1037 (1980), S. 1045 ff.; L. Tribe, The Puzzling Persistence of Process-Based Constitutional Theories, in: 89 Yale L. J. 1063 (1980),

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2. Teil: Verfassungsgerichtsbarkeit in den USA

prozedurale Theorie dem Problem des Werturteils im Verfassungsrecht und in Entscheidungen des Supreme Court erfolglos entzieht294. Der Punkt liegt darin, daß das Substanzproblem des Common Law jedenfalls nur auf dem substantiellen Weg zu behandeln und bewältigen ist. In diesem Sinne läßt sich auch sagen, daß die prozedurale Theorie sogar das Wesen des Common Law verzerrt hat. Die Debatte um die Begrenzung der Verfassungsgerichtsbarkeit soll keineswegs bedeuten, daß der Supreme Court gar keine substantielle Entscheidung treffen dürfte295, denn dies würde mit dem Kernspruch der common law-Tradition, daß das Common Law „judge-made law“ ist und sich substantiell gerade auf die gerichtlichen Entscheidungen stützen muß, in Konflikt geraten296. Auch wenn Ely in dem Punkt recht hätte, daß der Supreme Court nur den vernünftigen Prozess gewährleisten muß und darf, muß aber das Problem dann wieder zum judicial self-restraint zuS. 1070 ff.; P. Brest, The Substance of Process, in: 42 Ohio St. L. J. 131 (1981); ders., The Fundamental Rights Controversy: The Essential Contradictions of Normative Constitutional Scholarship, in: 90 Yale L. J. 1063 (1981), S. 1092 ff.; Dworkin, A Matter of Principle, 1985, S. 59 ff.; Wellington, Interpreting the Constitution, 1990, S. 67 ff. 294 Nach der Kritik ist Elys These problematisch vor allem aus der Perspektive, daß zumindest die Bestimmung der Minderheit („discrete and insular minority“), die durch den Prozeß politischer Willensbildung ausgeschlossen werden könnte, sich auf die komplizierte substantielle oder politische Beurteilung bezieht und keinesfalls rein prozedural sein kann. Dazu Tushnet, Darkness on the Edge of Town, S. 1048 ff.; Tribe, The Puzzling Persistence of Process-Based Constitutional Theories, S. 1072 ff.; Duxbury, Patterns of American Jurisprudence, S. 291 ff. Zum Problem der Bestimmung von Minderheit ferner Ackerman, Beyond Carolene Products, S. 718 – 740. 295 Das Problem liegt vielmehr immer darin, wie die Grenze gezogen werden sollte, oder anders formuliert, inwiefern der Supreme Court die Befugnis hat, die substantielle Entscheidung zu treffen. 296 Zusammenfassend sind in den USA die Verfassung sowie das Verfassungsrecht durch das Common Law zu konkretisieren, dessen substantieller Inhalt auf dem System von Präzedenzfällen beruht, aber gleichzeitig die Möglichkeit für die Abweichung von Präjudizien durch das richterliche Recht auf die Wahl zwischen Bindung an die Präzedenzfälle und case by case-Abwägungen beinhaltet, das die Unsicherheit des Systems von Präzedenzfällen widerspiegelt und das Unvermögen einer materiell-rechtlichen Entwicklung des amerikanischen Verfassungsrechts zeigt. Deswegen soll es sich beim Substanzproblem des Common Law darum handeln, wie diese Substanz entwickelt werden sollte, nicht darum, ob die Substanz überhaupt notwendig ist. Mit Blick auf den oben schon erwähnten Charakter des common law-Denkmodells, in dem Substanz und Verfahren untrennbar aufeinander bezogen sind, zeigt sich auch deutlich, daß das Substanzproblem des Common Law nicht rein prozedural gelöst werden kann. Daher scheitert Elys Versuch, einen dritten Approach neben dem „interpretivism“ und dem „noninterpretivism“ einzuführen, weil auch nach Elys These die substantielle Beurteilung in Wirklichkeit unvermeidbar ist. Vgl. auch R. A. Posner, Symposium on Democracy and Distrust: Ten Years Later: Democracy and Distrust Revisited, in: 77 Va. L. Rev. 641 (1991), S. 649: „Ely believes that by correcting some defects of representation, judges could make government even more representative than it is. The almost embarrassing plenitude of vague constitutional provisions gives judges ample power to carry out this program. They can do, in fact, anything – abolish capital punishment, force the states to allow homosexual marriage, force them to extend the franchise to nonresidents and maybe even to aliens – all in the name of the Constitution’s participation-oriented, representation-reinforcing theme.“

IV. Countermajoritarian difficulty überwunden?

119

rückkehren, denn letztlich hat nur der Richter die Befugnis, darüber zu entscheiden, ob der Prozess der Repräsentation mangelhaft ist und vom Supreme Court korrigiert werden muß297.

3. Zur Problemstellung der countermajoritarian difficulty unter dem Common Law Im Hinblick auf die Problemstellung der countermajoritarian difficulty verwundert es nicht, daß judicial restraint im allgemeinen als der rote Faden298 amerikanischer Verfassungstheorie und -praxis gilt. Wie diskutiert, steht aber judicial restraint im Widerspruch mit dem Common Law und dient folglich nicht der Lösung der countermajoritarian difficulty, die trotz des Bedürfnisses nach einer zurückhaltenden Verfassungsgerichtsbarkeit den common law-Hintergrund nicht ausschließt und nicht ausschließen kann. Und wenn die Maßstäbe zur Aufgaben- oder Funktionsverteilung, die nicht auf judicial restraint oder judicial self-restraint beruht, sondern sich darum bemüht, die aktive Verfassungsgerichtsbarkeit auf ein unwandelbares bestimmtes Gebiet zu beschränken, durch die abgestuften Prüfungsstandards sich als Bestandteil des Common Law erweisen und deswegen immer noch von der richterlichen Entscheidung zwischen der Befolgung von Präzedenzfällen und den case by case-Abwägungen auf empirischer Grundlage abhängen müssen, kann die Lehre der Prüfungsstandards nur noch unter der Voraussetzung von judicial selfrestraint wirken und daher auch nicht zur Überwindung der countermajoritarian difficulty beitragen. Die Schwierigkeit des Gebots von judicial restraint oder self-restraint hat daher das Dilemma des amerikanischen Verfassungsrechts zwischen der countermajoritarian difficulty und dem Common Law veranschaulicht. Auf der Prämisse, daß das Common Law keineswegs aufgegeben oder gründlich reformiert werden kann, stellt sich die Frage, in welcher Weise die countermajoritarian difficulty vor dem common law-Hintergrund angesehen und behandelt werden soll. Obwohl die Problemstellung der countermajoritarian difficulty durchaus plausibel ist in der Hinsicht, daß aufgrund des Vorverständnisses für die traditionelle Gewaltenteilungsstruktur die aktive Verfassungsgerichtsbarkeit als Bedrohung der gesetzgeberischen Gestaltungsfreiheit und der repräsentativen Demokratie gilt, kann sie bezüglich der Kompetenzausübung des Supreme Court unter dem Common Law in Wirklichkeit nichts verändern. Oder umgekehrt: Das Common Law, dessen Substanzproblem seinem Wesen nach unlösbar ist, hat alles in die Hand des Supreme Court gelegt ohne Rücksicht auf die countermajoritarian difficulty. Infolgedessen kann von der Überwindung der countermajoritarian difficulty, deren Problemstellung auf der Prämisse einer strengen – und daher nur auf dem materiell-rechtlichen 297 298

Vgl. Posner, ebenda. So Simons, Grundrechte und Gestaltungsspielraum, S. 56.

120

2. Teil: Verfassungsgerichtsbarkeit in den USA

Weg, d. h. durch die Unterscheidung von Rechtsanwendung und Rechtsetzung zu ermöglichenden – Gewaltenteilung entsteht und sich auf die Sicherung der Gestaltungsfreiheit des demokratischen Gesetzgebers richtet, unter dem Common Law keine Rede sein. Nur dadurch, daß der countermajoritarian Charakter des Supreme Court nicht mehr als „difficulty“ angesehen wird, läßt sich der Ausweg aus dem Dilemma der amerikanischen Verfassungsgerichtsbarkeit finden. Dies bedeutet aber dann zugleich, daß sich eine aktivistische Verfassungsgerichtsbarkeit zwangsläufig aus der common law-Tradition ergeben muß und daß das Erfordernis einer traditionellen, strengen Gewaltenteilung folglich preiszugeben ist.

V. Fazit: Die common law-Verfassungsgerichtsbarkeit vor der countermajoritarian difficulty In seiner abweichenden Meinung zur Entscheidung United States v. Butler299 behauptete Justice Stone: „The power of courts to declare a statute unconstitutional is subject to two guiding principles . . . One is that courts are concerned only with the power to enact statutes, not with their wisdom. The other is that while unconstitutional exercise of power by the executive and legislative branches of the government is subject to judicial restraint, the only check upon our own exercise of power is our own sense of self-restraint.“300 Während der erste Grundsatz den common law-Hintergrund in dem Sinne verkennt, daß der Appell an judicial restraint in der Tat dem Wesen des Common Law widerspricht, spiegelt der zweite genau wider, daß sich der judicial restraint im Ergebnis als der judicial self-restraint unter dem Common Law erweisen muß, der sowohl theoretisch als auch praktisch bereits eine materiell-rechtlich unbegrenzte Verfassungsgerichtsbarkeit besagt. Die endlose Debatte um das Spannungsverhältnis zwischen dem Supreme Court und dem demokratischen Gesetzgeber angesichts der countermajoritarian difficulty der Verfassungsgerichtsbarkeit hat daher gezeigt, wie das Common Law die Entwicklungslinie des amerikanischen Verfassungsrechts so beeinflußt hat, daß trotz des Bestehens einer geschriebenen Verfassung ein materiell-rechtlicher Approach in der Entwicklung der Verfassungsauslegung nie zustande gekommen ist. Das im Common Law festzustellende Fehlen der Erkenntnis richterlicher Rechtsanwendung im Sinne der kontinentaleuropäischen Tradition, die die richterliche Bindung an das Gesetz und Recht betont und sich um die Subsumtionstechnik ausgehend vom Gesetz und aufgrund des Gesetzes bemüht, hat notwendigerweise eine materiell-rechtliche Entwicklung verhindert. Statt dessen sind unter dem Common Law die Rechtsanwendung und die Rechtsetzung immer wieder miteinander verflochten, so daß die Rechtsetzungskompetenz immer wieder in die Hand der Rich299 300

S. 32.

297 U.S. 1 (1936). 297 U.S. 1, S. 78 f.; auch zitiert in: Miller, The Supreme Court and the Uses of History,

V. Fazit

121

ter gelegt ist, obwohl dies offensichtlich von der Forderung strenger Gewaltentrennung abweicht. Infolgedessen ist Jerome Frank zuzustimmen, als er (vor dem common law-Hintergrund) schrieb: „Law is made up not of rules for decision laid down by the courts but of decisions themselves. All such decisions are law. The fact that courts render these decisions makes them law.“301 Die Rechtsetzungsqualität und -kraft der Entscheidungen des Supreme Court, die sich aus dem Substanzproblem des Common Law und fundamentaler aus der Verschmelzung von Sein und Sollen, von Faktizität und Normativität und daher von Rechtsetzung und Rechtsanwendung ergibt und in der Folge auch zur ewigen Unlösbarkeit dieses Substanzproblems führt, ist deswegen als Schicksal einer Entwicklung vor dem common law-Hintergrund anzusehen, in der die einer materiell-rechtlichen Lösung bedürfende countermajoritarian difficulty sich keineswegs überwinden läßt. Denn die Trennung von Sein und Sollen, die im Blick auf die amerikanische Lage als Voraussetzung für die Unterscheidung von Politik und Recht dienen müßte302, findet sich im Common Law überhaupt nicht.

Frank, Law and the Modern Mind, S. 134. Vgl. in diesem Zusammenhang auch Lepsius, Besprechung von Duncan Kennedy, A Critique of Adjudication, S. 382. 301 302

3. Teil

Die Beiträge der Entwicklungen in den USA zur Debatte um die Verfassungsgerichtsbarkeit in Deutschland I. Einleitung: Das Recht-Politik-Problem als Bezugspunkt 1. Der Supreme Court und das BVerfG im Schnittpunkt zwischen Recht und Politik Die Analyse zur Kontroverse um die countermajoritarian difficulty des Supreme Court hat gezeigt, wie das Verhältnis des Supreme Court und des demokratischen Gesetzgebers in den Vereinigten Staaten beurteilt wird und wie sich der Versuch einer Abgrenzung von Recht und Politik sowie von Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgebung unter dem Common Law als vergeblich erweist. Daher steht der Supreme Court, dessen Charakter unter einer traditionellen Gewaltenteilungsstruktur als unpolitisch bezeichnet wird, immer noch im Schnittpunkt von Recht und Politik. Infolgedessen überrascht es auch nicht, daß die Critical Legal Studies-Bewegung (CLS) in der heutigen amerikanischen Diskussion eine bedeutende Stellung einnimmt1. 1 Die CLS-Bewegung läßt sich ideell auf den Legal Realism zurückgreifen, der wie dargelegt die Eigenart des common law-Gedankes völlig verkörpert und deswegen die amerikanischen Entwicklungen tiefgehend beeinflußt hat. Als Nachfolger des Legal Realism in dem Sinne, daß ein formalistisches Rechtsdenken verweigert sei, entwickelt die CLS unter dem Slogan von „law is politics“ (so M. Tushnet, Critical Legal Studies: A Political History, in: 100 Yale L. J. 1515 (1991), S. 1517 f.) in unterschiedlicher Weise fort und dadurch das common law-Wesen der Verschmelzung von Sein und Sollen und von Politik und Recht aufdeckt. Zur Entwicklung der CLS vgl. etwa Tushnet, ebenda; J. H. Schlegel, Notes Toward an Intimate, Opinionated, and Affectionate History of the Conference on Critical Legal Studies, in: 36 Stan. L. Rev. 391 (1984); N. Duxbury, Patterns of American Jurisprudence, 1995, S. 435 ff.; G. Minda, Postmodern Legal Movements: Law and Jurisprudence at Century’s End, 1995, S. 106 ff.; außerdem D. Kennedy / K. E. Klare, A Bibliography of Critical Legal Studies, in: 94 Yale L. J. 446 (1984). Zur CLS im Zusammenhang mit dem Legal Realism Minda, ebenda, S. 110; M. Tushnet, Critical Legal Studies and Constitutional Law: An Essay in Deconstruction, in: 36 Stan. L. Rev. 623 (1984), S. 626 – 635; O. Lepsius, Besprechung von Duncan Kennedy, A Critique of Adjudication: Fin de siècle, in: RabelsZ 63 (1999), S. 378, 378 f.; U. R. Haltern, Die Rule of Law zwischen Theorie und Praxis. Grundrechtsrechtsprechung und Verfassungstheorie im Kontext, in: Der Staat 40 (2001), S. 243, 251.

I. Einleitung

123

Mit Blick auf die gegenwärtige Debatte um die Kompetenz des BVerfG ist jedoch nicht zu verleugnen, daß die Auseinandersetzungen über die Verfassungsgerichtsbarkeit sowohl in den USA als auch in Deutschland immer wieder von der Lage des Verfassungsgerichts zwischen Recht und Politik ausgehen. Heutzutage kann sich die Kompetenzausübung des BVerfG nicht mehr lediglich durch seinen Status als Hüter der Verfassung gegen den Vorwurf aus der Perspektive der Gewaltenteilung verteidigen. Dem läßt sich auch entnehmen, daß der vom Grundgesetz selbst bestimmte Sonderstatus des BVerfG nicht zum Ende der Recht-Politik-Debatte führen kann, solange die Folge praktischer verfassungsgerichtlicher Rechtsprechungstätigkeit als Verletzung des Gestaltungsspielraums des Gesetzgebers und als Überschreitung verfassungsrechtlicher Grenzen erscheint. Bereits die Qualifizierung und Entfaltung der Grundrechte als objektiver Wertordnung2 sind aus diesem Grund als „Veränderung des Verhältnisses von Gesetzgebung und Verfassungsgerichtsbarkeit“ kritisiert worden3. In den 1990er Jahren hat sich das Spannungsfeld zwischen dem BVerfG und dem Gesetzgeber ferner auf das Steuerrecht erstreckt4. Weiterhin haben Entscheidungen wie „Schwangerschaftsabbruch II“5, „Kruzifix-Beschluß“6 und „Soldaten sind Mörder“7 so heftige Kontroversen hervorgerufen8, daß die Lage des BVerfG im Schnittpunkt von Recht und Politik immer wieder deutlich wurde. Grundlegend BVerfGE 7, 198 (205) – Lüth. Vgl. E.-W. Böckenförde, Zur Lage der Grundrechtsdogmatik nach 40 Jahren Grundgesetz, 1989, S. 60 f.: „Im Zeichen der objektiv-rechtlichen Grundsatzwirkung der Grundrechte kommt es – typologisch betractet – zu einer Nebenordnung und Annährung von parlamentarischer und verfassungsgerichtlicher Rechtsbildung. . . . Beide – Gesetzgeber und BverfG – betreiben Rechtsbildung in Form der Konkretisierung und konkurrieren darin. In diesem Konkurrenzverhältnis hat der Gesetzgeber die Vorhand, das Verfassungsgericht aber den Vorrang.“ Ähnlich E. Denninger, Verfassungsrechtliche Schlüsselbegriffe, in: FS R. Wassermann, 1985, S. 279, 281 ff.; W. Knies, Auf dem Weg in den „verfassungsgerichtlichen Jurisdiktionsstaat“? Das Bundesverfassungsgericht und die gewaltenteilende Kompetenzordnung des Grundgesetzes, in: FS K. Stern, 1997, S. 1155, 1174 f.; O. Höffe, Wieviel Politik ist dem Verfassungsgericht erlaubt?, in: Der Staat 38 (1999), S. 171, 184 ff.; F. Ossenbühl, Grundsätze der Grundrechtsinterpretation, in: D. Merten / H.-J. Papier, Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Bd. I, 2004, § 15, Rn. 49. Zur Problematik und Kontroverse im allgemeinen vgl. auch J. Limbach, Eröffnungsrede anlässlich der Tagung der Deutschen Gesellschaft für Gesetzgebung, in: U. Karpen (Hrsg.), Der Richter als Ersatzgesetzgeber. 23. Tagung der Deutschen Gesellschaft für Gesetzgebung (DGG) im Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe, 2002, S. 11 ff.; U. Steiner, Der Richter als Ersatzgesetzgeber. Richterliche Normenkontrolle – Erfahrungen und Erkenntnisse, in: Karpen (Hrsg.), Der Richter als Ersatzgesetzgeber, S. 27 ff.; F. Ossenbühl, Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgebung, in: P. Badura / R. Scholz (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgebung, 1998, S. 75, 77 ff.; ders., Bundesverfassungsgericht und Gesetzgebung, in: P. Badura / H. Dreier (Hrsg.), FS 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, Band I, 2001, S. 33, 39 ff. 4 Vgl. z. B. BVerfGE 93, 121 – Vermögensteuer; BVerfGE 99, 216; 99, 246; 99, 268; 99, 273 – Besteuerung von Familien. 5 BVerfGE 88, 203. 6 BVerfGE 93, 1. 7 BVerfGE 93, 266. 2 3

124

3. Teil: Die Beiträge der Entwicklungen in den USA zur Debatte in Deutschland

Gerade aus den Auseinandersetzungen ergibt sich die fortdauernde Warnung vor den Politisierungsgefahren der Verfassungsgerichtsbarkeit. Wegen der umstrittenen Entscheidungen wird die Verwischung zwischen Recht und Politik stets als Krise der Verfassungsgerichtsbarkeit angesehen9. Daher ist inzwischen neben Diagnose oder Kritik auch immer wieder versucht worden, eine plausible rechtfertigende Er8 Dazu mit zahlreichen Nachw. H. Schulze-Fielitz, Das Bundesverfassungsgericht in der Krise des Zeitgeists – Zur Metadogmatik der Verfassungsinterpretation, in: AöR 122 (1997), S. 2, 3; K. Stern, Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgeber, 1997, S. 27 ff.; O. Höffe, Wieviel Politik ist dem Verfassungsgericht erlaubt?, S. 188 ff. 9 Zur gegenwärtigen Debatte um die Kompetenz des BVerfG zwischen Recht und Politik vgl. aus der zahlreichen Literatur nur H.-J. Vogel, Videant judices! Zur aktuellen Kritik am Bundesverfassungsgericht, in: DÖV 1978, S. 665 ff.; P. Häberle, Grundprobleme der Verfassungsgerichtsbarkeit, in: ders. (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit, 1976, S. 1 ff.; M. Tohidipur, Einleitung: Zu Status und Funktion des Bundesverfassungsgerichts, in: ders. (Hrsg.), Verfassung, Verfassungsgerichtsbarkeit, Politik. Zur verfassungsrechtlichen und politischen Stellung und Funktion des Bundesverfassungsgerichts, 1976, S. 10 ff.; C. Gusy, Das Bundesverfassungsgericht als politischer Faktor, in: EuGRZ 1982, S. 93 ff.; E. Denninger, Verfassungsrechtliche Schlüsselbegriffe; ders., Das Bundesverfassungsgericht zwischen Recht und Politik, in: H. Brunkhorst / P. Niesen (Hrsg.), Das Recht der Republik, 1999, S. 288 ff.; Höffe, Wieviel Politik ist dem Verfassungsgericht erlaubt?; R. Eckertz, Die Kompetenz des Bundesverfassungsgerichts und die Eigenheit des Politischen, in: Der Staat 17 (1978), S. 183 ff.; D. Grimm, Politik und Recht, in: FS E. Benda, 1995, S. 91 ff.; H.-P. Schneider, Richter oder Schlichter?. Das Bundesverfassungsgericht als Integrationsfaktor, in: FS W. Zeidler, 1987, S. 293 ff.; ders., Acht an der Macht! Das BVerfG als „Reparaturbetrieb“ des Parlamentarismus?, in: NJW 1999, S. 1303 ff.; H. H. Klein, Verfassungsgerichtsbarkeit und Verfassungsstruktur – Vom Rechtsstaat zum Verfassungsstaat, in: FS F. Klein, 1994, S. 511 ff.; Stern, Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgeber; ders., Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgebung, in: FS M. Kriele, 1997, S. 411 ff.; ders., Verfassungsgerichtsbarkeit zwischen Recht und Politik, 1980; Schulze-Fielitz, Das Bundesverfassungsgericht in der Krise des Zeitgeists; U. Haltern, Demokratische Verantwortlichkeit und Verfassungsgerichtsbarkeit. Nachbemerkungen zur Diskussion um den Kruzifix-Beschluß, in: Der Staat 35 (1996), S. 551 ff.; H. Simon, Das Bundesverfassungsgericht – Ersatzgesetzgeber und Superrevisionsinstanz?, in: NJ 1996, S. 169 f.; J. Isensee, Bundesverfassungsgericht – quo vadis?, JZ 1996, S. 1085 ff.; ders., Die Verfassungsgerichtsbarkeit zwischen Recht und Politik, in: M. Piazolo (Hrsg.), Das Bundesverfassungsgericht. Ein Gericht im Schnittpunkt von Recht und Politik, 1995, S. 49 ff.; G. Frankenberg, Hüter der Verfassung einer Zivilgesellschaft, in: KJ 1996, S. 1 ff.; T. Würtenberger, Zur Legitimität des Verfassungsrichterrechts, in: B. Guggenberger / T. Würtenberger (Hrsg.), Hüter der Verfassung oder Lenker der Politik?. Das Bundesverfassungsgericht im Widerstreit, 1998, S. 57 ff.; R. Wahl, Quo Vadis – Bundesverfassungsgericht? Zur Lage von Verfassungsgerichtsbarkeit, Verfassung und Staatsdenken, in: Guggenberger / Würtenberger (Hrsg.), Hüter der Verfassung oder Lenker der Politik?. Das Bundesverfassungsgericht im Widerstreit, S. 81 ff.; neuerdings H.-J. Jentsch, Karlsruhe oder Berlin. Die Rolle des Bundesverfassungsgerichts, in: ThürVBl. 2001, S. 1 ff.; C. Hillgruber, Die Herrchaft der Mehrheit, in: AöR 127 (2002), S. 460 ff.; K.-H. Ladeur, Das Bundesverfassungsgericht als „Bürgergericht“?. Rechtstheoretische Überlegungen zur Einzelfallorientierung der Entscheidungspraxis des Bundesverfassungsgerichts, in: Rechtstheorie 2000, S. 67 ff.; C. Walter, Hüter oder Wandler der Verfassung? Zur Rolle des Bundesverfassungsgerichts im Prozeß des Verfassungswandels, in: AöR 125 (2000), S. 517 ff.; R. Scholz, Verfassungsgerichtsbarkeit im gewaltenteiligen Rechtsstaat, in: Karpen (Hrsg.), Der Richter als Ersatzgesetzgeber, S. 15 ff.; H. Schiedermair, Das Bundesverfassungsgericht auf der Grenze zwischen dem Recht und der Politik, in: FS P. Badura, 2004, S. 477 ff.

I. Einleitung

125

läuterung oder einen Ausweg für das heutige Dilemma zu finden. Mit Blick auf die Gemeinsamkeit der Problemstellung von „Verfassungsgericht zwischen Recht und Politik“ in den Vereinigten Staaten und der Bundesrepublik Deutschland ist es nicht verwunderlich, daß die amerikanischen Entwicklungen und Diskussionen immer häufiger zum Gegenstand deutscher Untersuchung werden. Mittlerweile ist allerdings bemerkenswert, daß Amerika in dieser Beziehung gelegentlich sogar als Vorbild bezeichnet wird10; noch unbestrittener ist, daß sich die konkreten Strategien wie Selbstbeschränkung des BVerfG und funktionell-rechtlicher Ansatz ideell auf die amerikanische Erfahrung zurückführen lassen11. Dadurch, daß die praktische und theoretische Entwicklung in den USA wegen ihrer Unterschiedlichkeit im Vergleich zu Deutschland mehr oder weniger als ein empfehlenswertes Vorbild angesehen wird, könnte jedoch der Hintergrund für die unterschiedlichen Reaktionen auf das (grob gesagt) gemeinsame Recht-PolitikProblem, der eine Übertragung des amerikanischen Modells auf Deutschland in gewissem Maße hemmen kann, unbeachtet bleiben. Auf diese Weise könnte also übersehen werden, daß die deutsche Debatte um die Verfassungsgerichtsbarkeit in Bezug auf das Verhältnis von Recht und Politik auf ihrer eigenen Tradition beruht, die das Recht-Politik-Problem bereits von Anfang an aus einer dem amerikanischen common law-Hintergrund nie erkannten Perspektive betrachtet hat. Während die von der amerikanischen Verfassungsordnung bestimmte und geforderte unpolitische Justiz unter dem Common Law nicht zu gewinnen ist, in dem sich das die CLS-Bewegung kennzeichnende Ergebnis von „law is politics“ zwangsläufig aus der Vermischung von Sein und Sollen, von Faktizität und Normativität und von Rechtsetzung und Rechtsanwendung ergibt, fußt in der deutschen staatsrechtswissenschaftlichen Tradition die Erkenntnis der Trennung von Recht und Politik auf der Unterscheidung zwischen der richterlichen Rechtsanwendung und der gesetzgeberischen Rechtsetzung12. Dies führt infolgedessen nicht nur zur Konzentration 10 Vgl. Haltern, Demokratische Verantwortlichkeit und Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 552 ff., 562 (Fn. 21), 572 ff.; Ladeur, Das Bundesverfassungsgericht als „Bürgergericht“?, S. 80 f., 98 f. 11 Vgl. z. B. F. A. von der Heydte, Judicial Self-restraint eines Verfassungsgerichts im freiheitlichen Rechtsstaat?, in: FS W. Geiger, 1974, S. 909, 911 ff.; J. Seifert, Verfassungsgerichtliche Selbstbeschränkung, in: Tohidipur (Hrsg.), Verfassung, Verfassunggerichtsbarkeit, Politik, S. 116 ff.; M. Kriele, Grundrechte und demokratischer Gestaltungsspielraum, in: J. Isensee / P. Kirchhof (Hrsg.), HStR V, 1992, § 110, Rn. 7 ff. zum amerikanischen Einfluß auf judicial self-restraint; und H. Ehmke, Prinzipien der Verfassungsinterpretation, in: VVDStRL 20 (1963), S. 53, 75, 76 f.; G. F. Schuppert, Self-restraints der Rechtsprechung: Überlegung zur Kontrolldichte in der Verfassungs- und Verwaltungsgerichtsbarkeit, in: DVBl. 1988, S. 1191, 1192 ff.; C. Rau, Selbst entwickelte Grenzen in der Rechtsprechung des United States Supreme Court und des Bundesverfassungsgerichts, 1996, S. 231. zum amerikanischen Einfluß auf den funktionell-rechtlichen Ansatz. 12 Die juristische Methode der Rechtsanwendung in der Staatsrechtswissenschaft wurde ursprünglich von der Methodenlehre im Zivilrecht übertragen, die in erster Linie von Friedrich Carl v. Savigny entwickelt wurde und später in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts unter der Herrschaft der sogenannten Begriffsjurisprudenz stand. Die anfängliche Fragestel-

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3. Teil: Die Beiträge der Entwicklungen in den USA zur Debatte in Deutschland

auf die Bindung des Richters an Gesetz und Recht13, sondern zur materiell-rechtlichen Entwicklung in der deutschen Rechts- und Verfassungsordnung. Aus dieser Perspektive wird selbstverständlich, daß sich die USA und Deutschland unterschiedlich entwickeln, so daß die Kritik am deutschen Stand, Elemente wie negative Freiheitsrechte, Spannung zwischen Verfassungsgerichtsbarkeit und Demokratieprinzip und Fähigkeits- oder Funktionsgrenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit seien in den USA „besser“ oder „klarer“ erkannt worden14, zu kurz greift. Daraus wird auch deutlich, daß allein der Unterschied nicht als Mittel zur Bewertung verglichener Rechtsordnungen dienen kann. Wichtig ist vielmehr, woraus der Unterschied entsteht. Die Schwäche der erwähnten Kritik besteht gerade darin, daß der Einfluß des common law-Hintergrundes auf die amerikanische Entwicklungslinie vernachlässigt wird, so daß das fundamentale Dilemma in der Verfassungsrechtsordnung der USA unbewußt bleibt15, das in der Tat eine durchaus mächtige Justiz aufdeckt16. lung der juristischen Methodenlehre, „welches die zentralen Bedingungen richterlichen Handelns sind, auf welche Grundlagen der Richter sein Urteil stützen darf“, gilt als Grundlage für die Entwicklung der Rechtsanwendung in der Methodenlehre. Vgl. an dieser Stelle H. Wendenburg, Die Debatte um die Verfassungsgerichtbarkeit und der Methodenstreit der Staatsrechtslehre in der Weimarer Republik, 1984, S. 100 – 105, zur Entwicklung der juristischen Methode im Zivilrecht und deren Übertragung auf das Staatsrecht; B. Schlink, Die Entthronung der Staatsrechtswissenschaft durch die Verfassungsgerichtsbarkeit, in: Der Staat 28 (1989), S. 161, 165 f., 167, zum damaligen Unterschied zwischen der Zivil- und der Staatsrechtswissenschaft. 13 Zu diesem Thema vgl. exemplarisch G. Roellecke / C. Starck, Die Bindung des Richters an Gesetz und Verfassung, in: VVDStRL 34 (1976), S. 7 ff., 43 ff. Vgl. auch P. Kirchhof, Richterliche Rechtsfindung, gebunden an „Gesetz und Recht“, in: NJW 1986, S. 2275 ff. 14 So etwa Ladeur, Das Bundesverfassungsgericht als „Bürgergericht“?, S. 80 (die Bedeutung der „negativen Freiheitsrechte“ sei in der Rechtsprechung der USA besser als in Deutschland erkannt), 98 f. (im Vergleich zur Rechtsprechung in den USA, die sich an den Konflikt- und Kompromißlinien orientiere, werde die Steuerungsleistung des Verfassungsrechts und des Verfassungsgerichts überschätzt); Haltern, Demokratische Verantwortlichkeit und Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 562 (Fn. 21) (die Spannung von Demokratieprinzip zu Verfassungsgerichtsbarkeit bleibe in der herkömmlichen deutschen Diskussion unterbelichtet, während die amerikanische Debatte in dieser Beziehung viel klarer sei); ähnlich W. Brugger, Wertordnung und Rechtsdogmatik im amerikanischen Verfassungsrecht, in: R. Dreier (Hrsg.), Rechtspositivismus und Wertbezug des Rechts, 1990, S. 173, 190 („gute Gründe sind nach amerikanischer Auffassung . . . sicher demokratiefördernde Gesichtspunkte, also die Anliegen der repräsentationsoptimierenden Auffassung. In ihr drückt sich ein demokratisches Selbstbewußtsein aus, das bei uns in der Bundesrepublik Deutschland fehlt“). 15 Obwohl Ladeur den amerikanischen common law-Hintergrund auch erwähnt, bleiben bei seiner These und Bewertung die Auswirkungen des Common Law auf das amerikanische Rechtsdenken außer Betracht. Siehe Ladeur, Das Bundesverfassungsgericht als „Bürgergericht“?, S. 77 ff. 16 Daraus läßt sich auch ablesen, daß die Frage, ob das BVerfG verglichen mit dem Supreme Court ein noch mächtigeres Verfassungsgericht ist, nicht lediglich auf der Ebene betrachtet werden sollte, daß der Supreme Court „auf eine gerichtliche Überprüfung des gesamten Bereichs der Sozial- und Wirtschaftspolitik“ verzichte und „auch keine objektiven Funktionen der Grundrechte entwickelt“ habe (Diese Ansicht in: W. Brugger, Besprechung

I. Einleitung

127

2. Die Erläuterung zum „Beitrag“ amerikanischer Entwicklung zu deutscher Diskussion: Eine methodische Reflexion Es ist deshalb der Schlüssel zur eigentlichen, funktionellen Rechtsvergleichung, daß man sich an erster Stelle mit den Gründen für die unterschiedlichen Entwicklungen in den USA und Deutschland befasst17. Auf der Grundlage der Analyse zum 2. Teil, die die entscheidende Rolle des Common Law für die amerikanische Entwicklungslinie herausgestellt hat, soll die folgende Diskussion in Betracht ziehen, was die deutsche Rechtsordnung ohne common law-Hintergrund widerspiegelt oder nicht darstellt. Mit anderen Worten spielt der tiefgehende Einfluß des Common Law auf Amerika auch hier eine große Rolle, da er in der folgenden Untersuchung zur Erklärung für und zur Reflexion über die deutsche Lage und Kritik beitragen kann. Ebenso wie das amerikanische Entwicklungsmodell ohne Kenntnis des common law-Hintergrundes nicht verständlich ist, läßt sich vorstellen, daß die Übertragung des amerikanischen Modells auf Deutschland ohne Rücksicht auf dessen kontinentaleuropäische Tradition genauso nicht verständlich sein kann. Damit ist außerdem gemeint, daß schon das amerikanische Dilemma von common lawVerfassungsgerichtsbarkeit vor der countermajoritarian difficulty den Schlüssel zur Lösung für die Politisierungsgefahren der Verfassungsgerichtsbarkeit oder das Recht-Politik-Problem angedeutet hat: Sofern das Substanzproblem des Common Law die Bedeutung eines materiell-rechtlichen Maßstabs für die richterliche Entscheidung widerspiegelt, läßt sich erwarten, daß unter der kontinentaleuropäischen Tradition die jeder richterlichen Tätigkeit zugrunde liegenden materiell-rechtlichen Vorgaben mindestens als Ausgangspunkt zur Überwindung der Krise der Verfassungsgerichtsbarkeit dienen können. Gerade in diesem Punkt ist die Trennung von Rechtsetzung und Rechtsanwendung von großem Belang, eine Trennung, die den USA fremd ist, in Deutschland aber durchgängig als Ansatz zur Erklärung richterlicher Tätigkeit anerkannt ist und deswegen eine für die Rechtsprechung notwendige materiell-rechtliche, rechtsdogmatische Auslegungs- und Anwendungsgrundlage voraussetzt und immer noch benötigt. Daher soll auf der rechtsvergleichenden Basis in erster Linie näher beleuchtet werden, wie sich die Tradition der Rechtsanwendung, nämlich der Bindung des Richters an Gesetz und Recht, entwickelt hat. Gerade aus der rechtsvergleichenden Sicht kann die Tradition der Rechtsanwendung zur Eigenschaft der deutschen Betrachtung der zwischen Recht und Politik stehenden Verfassungsgerichtsbarkeit und zur Eröffnung einer anderen Perspektive zur Recht-Politik-Problematik entscheidend beigetragen haben18. Geht man von dieser deutschen Tradition aus, so von M. Tushnet, Taking the Constitution Away From the Courts, in: Der Staat 39 (2000), S. 135, 137). 17 Dazu oben 1. Teil unter II. 3. c). Zur eigentlichen, funktionellen Rechtsvergleichung vgl. auch oben 1. Teil unter II. 2. 18 Daher bin ich aus dem rechtsvergleichenden Grund nicht der Meinung, daß sich die Kompetenz der Verfassungsgerichtsbarkeit nicht durch die Entgegensetzung von Recht und

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3. Teil: Die Beiträge der Entwicklungen in den USA zur Debatte in Deutschland

soll der heutigen Kontroverse um die Verfassungsgerichtsbarkeit aus der Perspektive nachgegangen werden, daß die debattierte Kompetenz der „Verfassungskonkretisierung“ des BVerfG19 im wesentlichen das Dilemma der Verfassungsgerichtsbarkeit in der Tradition der Rechtsanwendung widergespiegelt hat: Einerseits ist die Aufgabe des BVerfG immer noch als Rechtsanwendung bestimmt, erwartet und gefordert; andererseits aber ist wegen der Offenheit und Unbestimmtheit der Verfassungsnormen und zugleich wegen des Bedürfnisses nach den materiellrechtlichen Vorgaben vor dem Hintergrund der Rechtsanwendung die starke Rechtsfortbildung durch die Verfassungskonkretisierung des BVerfG praktisch gebraucht und sogar erwünscht. Dabei ist zu untersuchen, ob und inwieweit die Annäherung der Rechtsanwendung an die Rechtsetzung in der Verfassungsrechtsprechung die Rechtsanwendungsqualität des BVerfG gefährdet, die sich in der Regel durch den fallbezogenen Charakter auszeichnet, in der Verfassungsrechtsprechung aber durch die sich in der Tradition der Rechtsanwendung mehr oder weniger an einer materiell-rechtlichen Verallgemeinerung orientierende Verfassungsinterpretation relativiert scheint. Indem die Tradition der Rechtsanwendung herausgestellt wird, läßt sich die deutsche Debatte jedenfalls von der amerikanischen unterscheiden; infolgedessen ist die Übertragbarkeit des amerikanischen Entwicklungsmodells auf Deutschland zu verdeutlichen. Aus der rechtsvergleichenden Perspektive, vor allem aus dem Blickwinkel des Gegensatzes von amerikanischem Hintergrund des Common Law zu deutscher Tradition der Gegenüberstellung von Rechtsanwendung und Rechtsetzung, ist die bisherige Untersuchung zur amerikanischen Entwicklung weiterhin in der Lage, zu einer genaueren Erklärung der deutschen Lage, Problematik sowie Kontroverse und dadurch zu einer vor dem deutschen Hintergrund und für die deutsche Rechtsordnung befriedigenden Reaktions- und Lösungsweise beizutragen. Durch die rechtsvergleichende Analyse wird also im Ergebnis aufgezeigt, wie die heutige deutsche Debatte, die, wie im 1. Teil dargelegt, sich gewissermaßen als die Nachwirkung des Kelsen-Schmitt-Streits ansehen läßt, begriffen werden und welchen Weg die deutsche Entwicklung gehen sollte.

Politik oder von Rechtsanwendung und Rechtsetzung angemessen bestimmen und begrenzen läßt (so etwa U. Haltern, Verfassungsgerichtsbarkeit, Demokratie und Mißtrauen. Das Bundesverfassungsgericht in einer Verfassungstheorie zwischen Populismus und Progressivismus, 1998, S. 218 f.; J. Riecken, Verfassungsgerichtsbarkeit in der Demokratie. Grenzen verfassungsgerichtlicher Kontrolle unter besonderer Berücksichtigung von John Hart Elys prozeduraler Theorie der Repräsentationsverstärkung, 2003, S. 29, 432). Wie im 2. Teil gezeigt, stammt das Substanzproblem des Common Law aus der unvermeidlichen Vermischung von Rechtsetzung und Rechtsanwendung, das infolgedessen zu einer materiell-rechtlich unbegrenzten Verfassungsgerichtbarkeit führt. Aus der rechtsvergleichenden Perspektive kann also die deutsche Tradition der Unterscheidung von Rechtsanwendung und Rechtsetzung zu einer sinnvolleren Reflexion über die Kompetenzabgrenzung von Verfassungsgericht und Gesetzgeber beitragen in dem Sinne, daß sie sich von Anfang an für eine materiell-rechtliche Entwicklungslinie entscheidet. 19 Etwa E.-W. Böckenförde, Diskussionsbeitrag, in: VVDStRL 39 (1981), S. 173.

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II. Wesen und Probleme der Verfassungsgerichtsbarkeit im Lichte der Tradition der Gegenüberstellung von Rechtsanwendung und Rechtsetzung in Deutschland 1. Zur Tradition der Rechtsanwendung in der Entwicklung der juristischen Methodenlehre a) Die frühere Entwicklung: Zur Herrschaft von Labands Positivismus Die Tradition der Rechtsanwendung geht zunächst auf die Entwicklung der juristischen Methodenlehre im Zivilrecht zurück20. Ausgehend von der Fragestellung, „welches die zentralen Bedingungen richterlichen Handelns sind, auf welche Grundlagen der Richter sein Urteil stützen darf“21, bemüht sich die für das Zivilrecht entwickelte juristische Methodenlehre um die Erforschung der Grundlagen sowie der Methode der Gesetzesinterpretation. Unter der Herrschaft der historischen Rechtsschule22 und später der sogenannten Begriffsjurisprudenz23 im 19. Jahrhundert hat sich die Tradition der Rechtsanwendung, die von der gesetzgeberischen Rechtsetzung zu unterscheiden ist24, dahin entwickelt, daß die rich20 Zur früheren Entwicklung der Tradition der Rechtsanwendung s. R. Ogorek, Richterkönig oder Subsumtionsautomat? Zur Justiztheorie im 19. Jahrhundert, 1986. 21 Wendenburg, Die Debatte um die Verfassungsgerichtbarkeit und der Methodenstreit der Staatsrechtslehre in der Weimarer Republik, S. 101. Vgl. auch R. Dreier, Zur Problematik und Situation der Verfassungsinterpretation, in: R. Dreier / F. Schwegmann (Hrsg.), Probleme der Verfassungsinterpretation, 1976, S. 13, 23 ff. 22 Zu der von F. C. v. Savigny begründeten historischen Rechtsschule etwa F. Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit: unter besonderer Berücksichtigung der deutschen Entwicklung, 2. Aufl. 1967, S. 377 ff.; W. Wilhelm, Zur juristischen Methodenlehre im 19. Jahrhundert. Die Herkunft der Methode Paul Labands aus der Privatrechtswissenschaft, 1958, S. 17 ff. Zur Methodenlehre Savignys etwa K. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, S. 11 ff.; W. Fikentscher, Methoden des Rechts in vergleichender Darstellung, Bd. III: Mitteleuropäscher Rechtskreis, 1976, S. 51 ff.; D. Grimm, Methode als Machtfaktor, in: ders., Recht und Staat der bürgerlichen Gesellschaft, 1987, S. 347, 351 – 355; J. Rückert, Der Methodenklassiker Savigny (1779 – 1861), in: ders. (Hrsg.), Fälle und Fallen in der neueren Methodik des Zivilrechts seit Savigny, 1997, S. 25, 32 ff. 23 Zur Begriffsjurisprudenz, die von G. F. Puchta entwickelt wurde und die deutsche Methodenlehre der zweiten Hälfte des 19. Jh. beherrscht hat, vgl. Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, S. 399 ff.; Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 19 ff.; Wilhelm, Zur juristischen Methodenlehre im 19. Jahrhundert, S. 70 ff.; Fikentscher, Methoden des Rechts, Bd. III, S. 88 ff.; Grimm, Methode als Machtfaktor, S. 356 f.; W. Krawietz, Begriffsjurisprudenz, in: ders. (Hrsg.), Theorie und Technik der Begriffsjurisprudenz, 1976, S. 432 ff.; ders., Zur Einleitung: Juristische Konstruktion, Kritik und Krise dogmatischer Rechtswissenschaft, in: ders. (Hrsg.), ebenda, S. 1 ff. 24 Vgl. F. K. v. Savigny, Juristische Methodenlehre, herausgegeben von G. Wesenberg, 1951, S. 43: „Eine Vervollkommung der Gesetze ist zwar möglich, allein bloß durch den Gesetzgeber, nie durch den Richter darf sie vorgenommen werden.“ Ferner S. 15: „Jetzt entscheidet nicht mehr die Willkür des Richters, sondern das Gesetz selbst, der Richter erkennt

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terliche Aufgabe als logische Interpretation des Gesetzes zu bestimmen ist, die nach der historischen Rechtsschule „historisch und systematisch“ erfolgt25, aus Sicht der Begriffsjurisprudenz sogar auf der Grundlage der „Genealogie der Begriffe“ rein durch formallogische Deduktion vorgenommen werden muß26. Die Begriffsjurisprudenz hat nicht nur das Privatrechtsdenken beherrscht, sondern ist auch in das Staatsrecht eingedrungen27. Sie wurde hauptsächlich von Carl Friedrich von Gerber und Paul Laband auf das Staatsrecht übertragen und vor allem von Laband in der Staatsrechtswissenschaft ausführlich entwickelt in dem Sinne, daß Labands Staatsrecht als „die unmittelbare Dogmatisierung des neuen positiven Reichsstaatsrechts“ gilt und „allein die in den positiven Rechtstexten enthaltenen Bestimmungen begrifflich verarbeiten“ will, während bei Gerber das Staatsrecht „ein System von Begriffen und Sätzen“ ist, das „nicht unmittelbar auf positiven Rechtsanordnungen beruht“28. Ausgehend von der Auffassung, daß alle nichtjuristi-

nur die Regeln und wendet sie auf den einzelnen Fall an. . . . Da das Gesetz zur Ausschließung aller Willkür gegeben wurde, so ist die einzige Behandlung und das einzige Geschäft des Richters eine rein logische Interpretation.“ Vgl. auch Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 12 f. 25 Savigny, Juristische Methodenlehre, S. 18: „Wer ein Gesetz also interpretiert, muß den im Gesetz liegenden Gedanken nachdenken, den Inhalt des Gesetzes nachfinden. Interpretation ist also vorerst: Rekonstruktion des Inhalts des Gesetzes.“ Auf dieser Prämisse erkennt Savigny den logischen, den grammatischen, den historischen sowie den systematischen Bestandteil der Interpretation an. Vgl. ebenda, S. 19. Dazu auch Fikentscher, Methoden des Rechts, Bd. III, S. 67. 26 In diesem Punkt sind die Kontinuität und Diskontinuität der Lehre Savignys in der Begriffsjurisprudenz verdeutlicht. Vgl. Fikentscher, Methoden des Rechts, Bd. III, S. 92: „Die Forderung, das Recht als ,Ganzes‘ als ein ,System‘ zu sehen, ist also bei Savigny noch anschaulich-organisch, bei Puchta hingegen begrifflich-logisch gemeint. Doch ist nicht zu verkennen, daß in einem wichtigen Punkt Savigny selbst den Anstoß zu diesem Umschwung ins Begrifflich-Logische gegeben hat. Es ist Savignys These vom ,selbständigen Dasein des Rechts‘, das, in kantischer Tradition, zweckfrei und wertfrei, unbelastet von aller Empirie besteht.“ Vgl. auch Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, S. 401 f.: „Wenn bei Savigny noch offenblieb, ob mit seinen Institutionen nicht Erscheinungen oder doch Idealtypen des menschlichen Zusammenlebens selbst gemeint seien, so ist hier jeder Zweifel behoben, daß sich der wissenschaftliche Begriff vom Lebensgrund abgelöst und nur mehr intellektuelle Existenz hat. Damit war die Entfremdung der Rechtswissenschaft von der gesellschaftlichen, politischen und moralischen Wirklichkeit des Rechts endgültig geworden und der Formalismus zum Siege geführt . . .“ 27 Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, S. 430 f.; Krawietz, Begriffsjurisprudenz, S. 434. 28 M. Friedrich, Paul Laband und die Staatsrechtswissenschaft seiner Zeit, in: AöR 111 (1986), S. 197, 205. Daher fasste Friedrich zusammen: „Dient bei Gerber die neue Staatsrechtskonzeption dazu, ein sublimiertes Gegenbild zum positiven Recht aus demselben herauszuarbeiten, so reduziert sich bei Laband die Bedeutung der neuen Konzeption auf die eines voraussetzungslosen Aufbauschemas für das neue Verfassungsrecht.“ Zum Unterschied zwischen Gerber und Laband vgl. ferner P. v. Oertzen, Die soziale Funktion des staatsrechtlichen Positivismus. Eine wissensoziologische Studie über die Entstehung des formalistischen Positivismus in der deutschen Staatsrechtswissenschaft, 1974, S. 254 ff. Zu Gerber ferner 9*

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schen, nämlich historischen, politischen und philosophischen Betrachtungen „für die Dogmatik eines konkreten Rechtsstoffes ohne Belang“29 sind, konzentriert sich Labands Staatsrecht auf die logische, systematische Ausgestaltung des positiven Rechtsstoffes, mit der Überzeugung, die Rechtsordnung sei lückenlos30. Daraus folgt, daß nach Laband und dem von ihm angeführten staatsrechtlichen Positivismus die richterliche Rechtsanwendung sich in der Subsumtionstechnik und infolgedessen in der „Entdeckung der im gegebenen Obersatz schlummernden Entscheidung des Einzelfalls“31 erschöpft32. Für eine richterliche Tätigkeit deutet also die Lückenlosigkeit der Rechtsordnung an, daß ein Raum für die richterliche Rechtsschöpfung oder -fortbildung nicht existiert. Die richterliche Rechtsanwendung ist in diesem Sinne mit der logischen Rechtsfindung gleichzusetzen. Die so erfasste richterliche Rechtsanwendung läßt sich von der gesetzgeberischen Rechtsetzung klar unterscheiden. Im Gegensatz zur Rechtsetzung zeichnet sich die richterliche Aufgabe der Rechtsanwendung nicht nur durch ihren fallbezogenen Charakter33, sondern zusätzlich dadurch aus, daß sie „wie jeder logische Schluß vom Willen unabhängig“ ist34. Infolgedessen ist die von Laband beOertzen, Die Bedeutung C. F. von Gerbers für die deutsche Staatsrechtslehre, in: FS R. Smend, 1962, S. 183 ff.; Grimm, Methode als Machtfaktor, S. 362 – 364. 29 P. Laband, Das Staatsrecht des deutschen Reiches, Bd. I, 5. Aufl. 1911, S. IX (Vorwort zur zweiten Auflage). 30 P. Laband, Das Budgetrecht nach den Bestimmungen der preußischen VerfassungsUrkunde (1871), 1971, S. 75: „Eine Lücke in der Verfassungs-Urkunde . . . darf man nicht verwechseln mit einer Lücke in der Staatsverfassung. Die letztere ist ein undenkbarer Begriff; Gesetze können lückenhaft sein, die Rechtsordnung selbst aber kann ebenso wenig eine Lücke haben, wie die Ordnung der Natur.“ Zitiert in: S. Korioth, Erschütterungen des staatsrechtlichen Positivismus im ausgehenden Kaiserreich – Anmerkungen zu frühen Arbeiten von Carl Schmitt, Rudolf Smend und Erich Kaufmann –, in: AöR 117 (1992), S. 212, 215. Zur Lückenlosigkeit der Rechtsordnung vgl. vor allem K. Bergbohm, Jurisprudenz und Rechtsphilosophie. Kritische Abhandlungen (1892), 1973, S. 371 – 393. 31 Korioth, Erschütterungen des staatsrechtlichen Positivismus im ausgehenden Kaiserreich, S. 217. 32 Dazu P. Laband, Das Staatsrecht des deutschen Reiches, Bd. II, 1911, S. 178: „. . . Trotzdem hat der Richter nicht seinen Willen, sondern denjenigen des objektiven Rechts zur Geltung zu bringen; er ist die viva vox legis; er schafft sich nicht den Obersatz, sondern er nímmt ihn hin als von einer über ihm stehenden Macht gegeben. Der Richter kann sich irren hinsichtlich . . . ; aber ein Richter kann nicht, wenn er pflichtgemäß verfährt, denselben Fall nach seinem Belieben verschieden entscheiden, d. h. an die Stelle einer logischen Operation, die durch einen gegebenen Obersatz und Untersatz und die allgemeinen in der menschlichen Natur begründeten Denkgesetze beherrscht wird, seinen freien Willen setzen.“ 33 Vgl. Laband, Das Staatsrecht des deutschen Reiches, Bd. II, S. 176: „Das Wesen der Gesetzgebung besteht nun in der verbindlichen Anordnung einer Rechtsregel, also in der Aufstellung eines abstrakten Rechtssatzes; das Wesen der Rechtssprechung besteht in der verbindlichen Feststellung eines konkreten Rechtsverhältnisses, in der Anerkennung, Versagung, Fixierung eines Rechtsanspruchs.“ Vgl. auch Korioth, Erschütterungen des staatsrechtlichen Positivismus im ausgehenden Kaiserreich, S. 217: „Die richtige Entscheidung bildet lediglich die Norm im einzelnen Fall ab.“ 34 Laband, Das Staatsrecht des deutschen Reiches, Bd. II, S. 178.

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stimmte Aufgabe der rechtswissenschaftlichen Behandlung des Staatsrechts, die öffentlich-rechtliche Dogmatik fortzuentwickeln35, auch aus der Perspektive des Charakters der Rechtsanwendung plausibel, weil erst die dogmatische Entwicklung in der Lage ist, die Lückenlosigkeit der Rechtsordnung möglichst umfassend darzustellen und dadurch eine vollständige Sammlung der objektiv-rechtlichen Vorgaben für die rein logische, an die rechtsetzende Entscheidung gebundene richterliche Rechtsanwendung zu ermöglichen. Wegen der lange dauernden Herrschaft des Labandschen staatsrechtlichen Positivismus hat die rechtsdogmatische Entwicklung im Staatsrecht eine beständig beherrschende Stellung eingenommen, die sich in der Weimarer Zeit durch den erfolg- und einflußreichen Kommentar von Gerhard Anschütz deutlich gezeigt hat36. Auf der einen Seite hat diese Entwicklung zur Verankerung der Tradition der Rechtsanwendung beigetragen; auf der anderen Seite hat allerdings die von ihr vorausgesetzte Lückenlosigkeit der Rechtsordnung auch Skepsis und Kritik hervorgerufen. Bereits um 1900 beginnt die Krise des staatsrechtlichen Positivismus37, die sich in den methodischen Abwendungen von der Labandschen Staatsrechtswissenschaft widergespiegelt und in der Folge zum Methoden- und Richtungsstreit der Staatsrechtslehre38 der Weima35 Laband umschreibt die Aufgabe der Rechtswissenschaft als „die Analyse der neu entstandenen öffentlich-rechtlichen Verhältnisse“, „die Feststellung der juristischen Natur deselben“ und „die Auffindung der allgemeineren Rechtsbegriffe“. Ders., Das Staatsrecht des deutschen Reiches, Bd.I, S. VI (Vorwort zur ersten Auflage). Genauer S. IX (Vorwort zur zweiten Auflage): „Die wissenschaftliche Aufgabe der Dogmatik eines bestimmten positiven Rechts liegt aber in der Konstruktion der Rechtsinstitute, in der Zurückführung der einzelnen Rechtssätze auf allgemeinere Begriffe und andererseits in der Herleitung der aus diesen Begriffen sich ergebenden Folgerungen.“ 36 G. Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919 (1921), 14. Aufl. 1933, unveränderter Nachdruck 1960. Dazu M. Friedrich, Geschichte der deutschen Staatsrechtswissenschaft, 1997, S. 337 – 339. Zur Lehre Anschützes unter dem Einfluß des Labandschen Positivismus und zu ihrem Wandel s. E.-W. Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt. Von den Anfängen der deutschen Staatsrechtslehre bis zur Höhe des staatsrechtlichen Positivismus (1958), 2. Aufl. 1981, S. 253 ff., 271 ff.; Wendenburg, Die Debatte um die Verfassungsgerichtbarkeit und der Methodenstreit der Staatsrechtslehre in der Weimarer Republik, S. 113 ff. 37 So Korioth, Erschütterungen des staatsrechtlichen Positivismus im ausgehenden Kaiserreich, S. 212 ff.; ders., Integration von Norm, Wert und Wirklichkeit. Verfassungstheorie und Verfassungsrecht bei Rudolf Smend, in: M.-S. Lotter (Hrsg.), Normenbegründung und Normenentwicklung in Gesellschaft und Recht, 1999, S. 200, 202 f.; M. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Zweiter Band: Staatsrechtslehre und Verwaltungswissenschaft 1800 – 1914, 1992, S. 450; Friedrich, Geschichte der deutschen Staatsrechtswissenschaft, S. 275. 38 Zum Methoden- und Richtungsstreit der Weimarer Staatsrechtslehre vgl. etwa R. Smend, Die Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer und der Richtungsstreit, in: FS U. Scheuner, 1973, S. 575 ff.; M. Friedrich, Der Methoden- und Richtungsstreit. Zur Grundlagendiskussion der Weimarer Staatsrechtslehre, in: AöR 102 (1977), S. 161 ff.; ders., Geschichte der deutschen Staatsrechtswissenschaft, S. 320 ff.; M.-E. Geis, Der Methodenund Richtungsstreit in der Weimarer Staatslehre, in: JuS 1989, S. 91 ff.; W. März, Der Richtungs- und Methodenstreit der Staatslehre, oder der staatsrechtliche Antipositivismus, in: K. W. Nörr / B. Schefold / F. Tenbruck (Hrsg.), Geisteswissenschaften zwischen Kaiserreich und

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rer Republik geführt hat. Als Vorläufer dieser Hinwendung hat Oskar Bülow schon das Wesen der richterlichen Tätigkeit als (mehr oder minder selbständige) Rechtsbestimmung und Rechtsordnung entlarvt, indem er dokumentierte, es gebe immer Lücken in der Rechtsordnung: „Auch die vollkommenste Gesetzgebung vermag es nicht, die Rechtsordnung schon allein von sich aus fertig zu stellen. Nicht einmal den Plan zu einer solchen kann sie bis in alle Einzelheiten hinein vollständig entwerfen. Das Gesetz muß Vieles und Wichtiges der selbständigen, genauer und bestimmter ins Einzelne eindringenden Rechtsordnungsarbeit der anderen Rechtsanstalt, des Richteramts überlassen.“39 Die sich dem Labandschen Positivismus entgegensetzende Interessenjurisprudenz hat den Zusammenhang des Rechts mit den Interessen des Lebens, den Zweck im Recht, die Freirechtsbewegung, weiterhin das schöpferische Element der Rechtsfindung so betont, daß der Charakter richterlicher Tätigkeit trotz der Aufgabe der Rechtsanwendung nicht mehr als bloß logische Subsumtion angesehen werden kann40: Unter dem Republik. Zur Entwicklung von Nationalökonomie, Rechtswissenschaft und Sozialwissenschaft im 20. Jahrhundert, 1994, S. 75 ff.; C. Gusy, Die Weimarer Reichsverfassung, 1997, S. 420 ff.; M. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Dritter Band: Staatsrechtswissenschaft und Verwaltungsrechtswissenschaft in Republik und Diktatur 1914 – 1945, 1999, S. 153 – 202; ders., Der Methodenstreit der Weimarer Staatsrechtslehre– ein abgeschlossenes Kapitel der Wissenschaftsgeschichte?, 2001. Der Methodenstreit erreichte 1926 / 27 seinen Höhepunkt. Zu nennen sind vor allem die Arbeiten von E. Kaufmann, H. Nawiasky, R. Smend und H. Heller (vgl. Kaufmann / Nawiasky, Die Gleichheit vor dem Gesetz im Sinne des Art. 109 der Reichsverfassung, in: VVDStRL 3 (1927), S. 2 ff., 25 ff.; Smend, Das Recht der freien Meinungsäußerung, in: VVDStRL 4 (1928), S. 44 ff.; Heller, Der Begriff des Gesetzges in der Reichsverfassung, in: VVDStRL 4 (1928), S. 98 ff.). Dazu kommentierte U. Scheuner: „Nicht in politischen Meinungsverschiedenheiten, sondern in diesen methodischen Unterschieden traten innerhalb der Staatslehre die Ansichten mit Deutlichkeit und mit einer gewissen Unversöhnlichkeit einander gegenüber.“ Ders., 50 Jahre deutsche Staatsrechtswissenschaft im Spiegel der Verhandlungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer, in: AöR 97 (1972), S. 349, 350 f. Zur Weimarer Staatslehre vgl. ferner A. J. Jacobson / B. Schlink (Hrsg.), Weimar: a Jurisprudence of Crisis, 2000; P. C. Caldwell, Popular Sovereignty and the Crisis of German Constitutional Law: The Theory & Practice of Weimar Constitutionalism, 1997; O. Lepsius, Staatstheorie und Demokratiebegriff in der Weimarer Republik, in: C. Gusy (Hrsg.), Demokratisches Denken in der Weimarer Republik, 1994, S. 366 ff.; C. Gusy, Einleitung: Demokratisches Denken in der Weimarer Republik – Entstehungsbedingungen und Vorfragen, in: ders. (Hrsg.), Demokratisches Denken in der Weimarer Republik, S. 11 ff.; D. Dyzenhaus, Legality and Legitimacy: Carl Schmitt, Hans Kelsen and Hermann Heller in Weimar, 1997. 39 O. Bülow, Gesetz und Richteramt (1885), abgedruckt in: W. Krawietz (Hrsg.), Theorie und Technik der Begriffsjurisprudenz, 1976, S. 107, 124. 40 Zur Entstehung und Entwicklung der Interessenjurisprudenz sowie der Freirechtsbewegung vgl. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 49 ff. Zur Interessenjurisprudenz vgl. repräsentativ P. Heck, Das Problem der Rechtsgewinnung (1912). Gesetzesauslegung und Interessenjurisprudenz (1914). Begriffsbildung und Interessenjurisprudenz (1932), 1968; im allgemeinen J. Edelmann, Die Entwicklung der Interessenjurisprudenz, 1967; G. Ellscheid / W. Hassemer (Hrsg.), Interessenjurisprudenz, 1974. Zur Freirechtsbewegung vgl. vor allem E. Ehrlich, Freie Rechtsfindung und freie Rechtswissenschaft (1903), Neudruck 1973.

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Einfluß dieser neueren methodischen Ansätze ist das Verhältnis zwischen Recht und richterlicher Rechtsanwendung vor dem Hintergrund des Methodenstreits in der Weimarer Republik anhand verschiedener Methodologien aus vielfältigen Perspektiven zu betrachten. Der Ausgangspunkt liegt darin, worauf sich die richterliche Rechtsanwendung stützen soll, wenn die Behauptung der Lückenlosigkeit der Rechtsordnung sich als unhaltbar erweist.

b) Der Methoden- und Richtungsstreit der Staatsrechtslehre in der Weimarer Republik in der Tradition der Rechtsanwendung aa) Die Vorstellung von richterlicher Rechtsanwendung vor dem Hintergrund des Methodenstreits Die Auffassung, daß „Lücken“ in der Rechtsordnung unvermeidlich sind, besagt zugleich, daß selbst die sich lediglich aus der Verarbeitung des Rechtsstoffes ergebende Rechtsdogmatik nicht in der Lage ist, die vollständigen Vorgaben für den Recht anwendenden Richter zu liefern und die richterliche Rechtsanwendung zu kontrollieren. Infolgedessen muß untersucht und aufgeklärt werden, auf welche Weise das Wesen der richterlichen Rechtsanwendung, d. h. die einen objektiven vorgegebenen Maßstab zugrunde legende und dadurch gebundene richterliche Tätigkeit, gesichert werden kann. Die Reflexion aus der Interessenjurisprudenz und der Freirechtsbewegung hat verdeutlicht, wie einseitig und ungenügend die bloß rechtsdogmatische Vorstellung zur Beschreibung einer richterlichen Entscheidung ist. In dieser Strömung überrascht es nicht, daß die Versuche, das rein normative, juristische Verständnis für die Rechtsordnung und damit für die richterliche Rechtsanwendung durch die Erkenntnis der Wirklichkeit zu ergänzen, immer wieder unternommen und zunehmend beliebt werden41. Der Versuch der Vermittlung zwischen Normativität und Faktizität fand schon in Georg Jellineks Zwei-Seiten-Lehre statt42 und wurde weiterhin zum Brennpunkt des Methoden- und Richtungsstreits in der Weimarer Republik. Gegen die Reine Rechtslehre Hans Kelsens, die den Staat mit der Rechtsordnung identifiziert und die Rechtsordnung nur als Normensystem versteht, deren Betrachtung daher philosophische, politische, moralische und soziologische Erwägungen aus41 Die Bedeutung der Wirklichkeit für die richterliche Lückenausfüllung wird von der Interessenjurisprudenz etwa durch die Betonung des Zusammenhangs zwischen Recht und Leben und von der Freirechtsschule durch die Betonung der schöpferischen Rechtsfindung aufgezeigt. 42 Das Ziel der Zwei-Seiten-Lehre Jellineks ist es, die unterschiedlichen Betrachtungsweisen in Bezug auf den Staat, nämlich die soziale Staatslehre und die Staatsrechtslehre, zu trennen und gleichzeitig zu vermitteln. Dazu G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre (1900), 3. Aufl., Neudruck 1976, S. 10 ff. Dazu eingehend J. Kersten, Georg Jellinek und die klassische Staatslehre, 2000, S. 5 – 7, 145 ff. Vgl. auch Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Zweiter Band, S. 450 – 453.

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schließt43, zielt die sogenannte „geisteswissenschaftliche Richtung“ auf die „Rematerialisierung“ der Staatsrechtslehre44 ab, indem „dem positiven Recht die materialen Rechtsvoraussetzungen in Soziologie und Ethik unter Berücksichtigung historischer Bedingtheit“ wiedergewonnen werden45. Daraus folgt, daß für diese Richtung nicht die Rechtsdogmatik, sondern die dem positiven Recht zugrunde liegende, das geisteswissenschaftliche Verständnis des Rechts voraussetzende Rechtsidee als Hauptbasis für die Rechtsinterpretation gelten soll. Unter der Tradition der Rechtsanwendung, die im Gegensatz zur Rechtsetzung eine objektivrechtliche (Interpretations-)Grundlage voraussetzt, richten sich die geisteswissenschaftlichen Ansätze allerdings nicht darauf, den subjektiven Willen des Interpreten an die Stelle der objektiv-rechtlichen Vorgaben zu setzen. Vielmehr behaupten sie die Objektivität der den Richter bindenden Interpretationsgrundlage46, wenngleich die objektive Grundlage für den Interpreten nicht mehr rein durch die juristischen Bemühungen – sozusagen die Rechtsdogmatik – zu gewinnen sei. Dies zeigt sich deutlich an Erich Kaufmanns These, der für die überpositive materielle Ordnung – sozusagen die Gerechtigkeitsprinzipien 47 – als Leitlinie richterlicher Rechtsanwendung plädiert und gleichzeitig die Objektivität dieser Ordnung betont48. Für ihn wird die Rechtsordnung durch die grundlegenden überpositiven Rechtssätze vervollständigt, damit die richterliche Rechtsanwendung möglich ist: „Eine ganze Fülle von Rechtssätzen, die in keinem Gesetzbuche aufgezeichnet sind, . . . werden vom Richter angewendet. Ja, auch wo es überhaupt an gesetzli43 Vgl. dazu H. Kelsen, Allgemeine Staatslehre, 1925, S. 16 ff.; ders., Reine Rechtslehre. Mit einem Anhang: Das Problem der Gerechtigkeit, Nachdruck der 2. Aufl. (1960), Nachdruck 2000, S. 289 ff. Damit sind Sein und Sollen, Faktizität und Normativität voneinander zu trennen. Zum Gegensatz von Sein und Sollen in Bezug auf die Eigenart der Norm gegenüber dem Naturgesetz schon Kelsen, Hauptprobleme der Staatsrechtslehre entwickelt aus der Lehre vom Rechtssatze, 1911, S. 3 ff. Dazu ferner R. Dreier, Sein und Sollen. Bemerkungen zur Reinen Rechtslehre Kelsens, in: ders., Recht – Moral – Ideologie: Studien zur Rechtstheorie, 1981, S. 217, 218 ff. 44 Korioth, Integration von Norm, Wert und Wirklichkeit, S. 204. 45 K. Rennert, Die „geisteswissenschaftliche Richtung“ in der Staatsrechtslehre der Weimarer Republik: Untersuchungen zu Erich Kaufmann, Günther Holstein und Rudolf Smend, 1987, S. 62. 46 Diese Position der geisteswissenschaftlichen Ansätze geht auf eine damals entstehende philosophische Richtung zurück, die „von der Objektivität der Werte im Recht ausgeht. Diese Objektivität sollte sich in der „Wirklichkeit“ äußern; man sprach von der Konkretheit, der Wirklichkeit der Werte.“ Dazu O. Lepsius, Die gegensatzaufhebende Begriffsbildung: Methodenentwicklungen in der Weimarer Republik und ihr Verhältnis zur Ideologisierung der Rechtswissenschaft im Nationalsozialismus, 1994, S. 219 ff. Zum philosophischen Ausgangspunkt der geisteswissenschaftlichen Richtung s. vor allem Rennert, Die „geisteswissenschaftliche Richtung“ in der Staatsrechtslehre der Weimarer Republik, S. 67 ff. 47 Nach Kaufmann geht es beim Begriff der Gerechtigkeit um eine materielle Ordnung. Vgl. E. Kaufmann, Die Gleichheit vor dem Gesetz im Sinne des Art. 109 der Reichsverfassung, in: VVDStRL 3 (1927), S. 2, 11. 48 Zur philosophischen Grundlage dieser These schon E. Kaufmann, Kritik der neukantischen Rechtsphilosophie, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. III, 1960, S. 176 ff.

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chen Bestimmungen fehlt, besteht nicht etwa ein rechtsleerer Raum. Die Praxis hat sich oft ohne gesetzliche Bestimmungen helfen können, und es ist gut so gegangen. Es hat daher seinen guten Sinn, wenn der Gesetzgeber dem Richter den Vortritt läßt, oder, wie man zu sagen pflegt, gewisse Fragen der Praxis, d. h. der richterlichen Rechtsfindung, überläßt.“49 Betont sei aber zugleich, daß der Richter sich im Rahmen seiner spezifischen richterlichen Aufgaben halte, indem die spezifischen Aufgaben der „Entscheidung über die Wahl der maßgeblichen Gerechtigkeitsprinzipien für die zu regelnden Lebensgebiete“ und der „Schaffung der rechtstechnischen Formen und Normen“ dem Gesetzgeber vorbehalten blieben50. Dadurch zeigt sich, daß nach Kaufmann die Unterscheidung zwischen Rechtsetzung und Rechtsanwendung beibehalten werden muß, auch wenn der Richter genauso wie der Gesetzgeber das Recht auszubauen hat. „Wenn man dem Richter diese Aufgaben gegenüber dem Gesetz zumutet, so entfremdet man ihn nicht von den ihm eigentümlichen Aufgaben, sondern man ermöglicht ihm nur das völlig zu tun, was seines spezifischen Amtes ist. Denn es macht das Wesen der richterlichen Tätigkeit aus, daß sie einen Bestand von rationalen Normen voraussetzt, die der Richter auf die einzelnen Fälle anwendet, gleichgültig, ob diese Normen im geschriebenen Recht ausdrücklich formuliert sind oder von diesem vorausgesetzt werden.“51 Gleichgültig deshalb, weil die „rationalen Normen“ oder die inhaltlich gerechte materielle Ordnung objektiv erkennbar sei(en). „Was [die materielle Ordnung] ist, läßt sich nicht definieren. . . . Alles das ist uns in unserem Gewissen gegeben. Das Gewissen ist aber nichts Subjektives und darf nicht psychologisch aufgelöst und relativiert werden; sondern es ist unmittelbar Gewißheit einer höheren objektiven Ordnung . . .“52. Diese Objektivität wurde später auch von Gerhard Leibholz hervorgehoben. Erst unter der Prämisse der (objektiven) Bindung der Werturteile entwickelt Leibholz die phänomenologische Methode, um „vollständig den geisteswissenschaftlichen Charakter der Rechtsbegriffe evident machen zu können.“53 Obwohl die Einschaltung von (politischen) Werturteilen unentbehrlich bei jeder Begriffsbildung sei, komme in der Pflicht zur sachbezogenen Wertung die Bindung des Verfassungsjuristen an die grundgesetzlichen Normen zum Ausdruck. Und „nur in den seltenen Fällen, in denen die Rechtsauffassungen der Gemeinschaft in den Normen selbst nicht einen konkreten Niederschlag gefunden haben, ist ein Zurückgehen des Verfassungsauslegers auf die allgemeinen Anschauungen und Überzeugungen der Gemeinschaft zuläs49 Kaufmann, Die Gleichheit vor dem Gesetz im Sinne des Art. 109 der Reichsverfassung, S. 20. 50 Vgl. Kaufmann, Die Gleichheit vor dem Gesetz im Sinne des Art. 109 der Reichsverfassung, S. 21. 51 Kaufmann, Die Gleichheit vor dem Gesetz im Sinne des Art. 109 der Reichsverfassung, S. 22. 52 Kaufmann, Die Gleichheit vor dem Gesetz im Sinne des Art. 109 der Reichsverfassung, S. 11. 53 Leibholz, Zur Begriffsbildung im öffentlichen Recht, in: ders., Strukturprobleme der modernen Demokratie, 1958, S. 262, 268.

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sig, die als Ausdruck objektiver Gemeinschaftswerte den reinen Subjektivismus ausschließen.“54 Die Herausstellung der objektiven Vorgaben zur Bindung des Richters findet sich ebenfalls in den Thesen von Günther Holstein, Rudolf Smend und Hermann Heller. Während Holstein sich gegen die begriffliche Formalistik wendet und eine geisteswissenschaftliche (Interpretations-)Methode vertritt, die „die ideengeschichtlichen Zusammenhänge unserer Rechtskultur bewußt als Erkenntnisquelle für die Erfassung des positiven Rechts und die Herausarbeitung seiner tragenden Rechtsgedanken fruchtbar zu machen versucht“55, verzichtet er nicht darauf, die Objektivität der Rechtserfassungsgrundlage und der dadurch gebundenen Rechtsinterpretation zu fordern. „Alles Bekennen ist noch immer seinem Wesen nach ein Zeugnis und Aussprechen von etwas gewesen, das man nicht als Emanation des eigenen subjektiven Personalismus empfand, sondern dem man eben die eigene innere Haltung selbst als etwas ganz Anderem, Objektivem und Transpersonalem irgendwie verpflichtet fühlte.“56 Auch wenn Smend die Verfassung nicht nur als Norm, sondern als Wirklichkeit begreift, die „nicht durch die Verfassung als das ,ruhende, beharrende Moment im staatlichen Leben‘, sondern durch das sich immerfort erneuernde Verfassungsleben immer neu hergestellt wird“57 und deren Dynamik sich auf den inhaltlichen Bestand der Verfassung auswirken könne58, hebt er die Funktion der Verfassung als „Rechtsordnung“ des Staates hervor59. Auf dieser Grundlage seien die Grundrechte als „Normierung“ eines Wert-, Güter- oder Kultursystems zu erfassen60, die sich trotz oder sogar angesichts der Integrationsaufgabe und -funktion der Verfassung auf eine vorgegebene objektive Grundlage für die Verfassungsinterpretation und die Verfassungsrechtsanwendung richten muß, Leibholz, Zur Begriffsbildung im öffentlichen Recht, S. 267 f. G. Holstein, Von Aufgaben und Zielen heutiger Staatsrechtswissenschaft, in: AöR N. F. 11 (1926), S. 1, 31. 56 Holstein, Von Aufgaben und Zielen heutiger Staatsrechtswissenschaft, S. 27; dazu ferner S. 35 – 37. Vgl. auch S. Korioth, Normativität mit Vorbehalt – Günther Holsteins Greifswalder Beitrag zur Methodendiskussion in der Weimarer Staatsrechtslehre, in: AöR 123 (1998), S. 606, 615: „Wertungen im Bereich der Geisteswissenschaften haben für Holstein nichts von ,Subjektivismus‘ an sich. Es gibt für ihn objektiv gültiges Recht jenseits des positiven Rechts und objektive Erkenntnis dieses Rechts. Wer geistesgeschichtliche Ideen und Entwicklungen bewertet, kann und muß dabei ,etwas ganz Anderem, Objektivem und Transpersonalem‘ verpflichtet sein.“ 57 R. Smend, Verfassung und Verfassungsrecht (1928), in: ders., Staatsrechtliche Abhandlungen, 3. Aufl. 1994, S. 119, 192. 58 Ähnlich Korioth, Integration von Norm, Wert und Wirklichkeit, S. 210 (kritisch S. 211). Dazu näher S. Korioth, Integration und Bundesstaat: ein Beitrag zur Staats- und Verfassungslehre Rudolf Smends, 1990, S. 211 ff. 59 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 189. Daher ist für Smend die Verfassung Integrationswert und Rechtswert zugleich verpflichtet. Vgl. Korioth, Integration und Bundesstaat, S. 215 – 219. 60 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 264. Vgl. auch ders., Das Recht der freien Meinungsäußerung, S. 51 (am Beispiel der Auslegung zu „allgemeinen Gesetzen“ s. S. 52). 54 55

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denn auch innerhalb des Integrationsprozesses ist die Verfassung, die für die staatliche Integrationsordnung sowohl als Integration bewirkende „Anregung“ als auch als normative „Schranke“ gelten soll61, nur dann möglich, wenn ihr Inhalt objektiv bestimmbar ist62. Heller hat zwar versucht, aus einer politisch-historischen, wirklichkeitswissenschaftlichen Perspektive den Begriff der Verfassung zu erklären und dadurch den „unlösbaren Zusammenhang“ von Sein und Sollen, nämlich von Normalität und Normativität einer Verfassung darzustellen63; auf diese Weise aber ist die Normativität keineswegs relativiert. Vielmehr betont Heller immer wieder die „relative Statik“64 sowie die „Verselbständigung“, sozusagen die objektive normative Dimension der Verfassung: „Die Möglichkeit der Verselbständigung eines verfassungsrechtlichen Normenzusammenhangs gegenüber der gesellschaftlichen Wirklichkeit beruht auf der grundlegenden Tatsache, daß diese Wirklichkeit selbst dialektisch aufgebaut ist; entsteht sie doch durch eine immer erneute menschliche Wirksamkeit, in welcher Art und Sinn, Wirklichkeit und Bedeutung eine Dialektische Einheit bilden. Dadurch daß es dem menschlichen Bewußtsein gelingt, aus dem Fluß der Ausführungsaktion eines sinnhaften Handelns dessen objektiven, den Akt transzendierenden Sinn herauszuheben, ihn von seinem subjektiven Erlebnisprozeß abzulösen, zu vergegenständlichen und ihn gegebenenfalls–was keineswegs notwendig ist–sogar in einem körperlichen Gebilde . . . zu objektivieren, durch diese Wendung unseres Bewußtseins haben wir einen Bedeutungsgehalt der gesellschaftlichen Wirklichkeit zu einem Sinngebilde verselbständigt, das nunmehr von neuen und fremden seelischen Akten aufgenommen und wiedererlebt werden kann . . . Die Verselbständigung des Sinnzusammenhanges „Recht“ hat ihre große praktische Bedeutung darin, daß diese Objektivierung des ideellen Sinngebildes „gesellschaftliche Ordnung“ im Dienste des wirklichen Sozialgebildes „gesellschaftliche Ordnung“ steht. Deshalb hat auch die Verselbständigung einer normativen Rechtsverfassung des Staates nur dann und nur insofern einen wissenschaftlich feststellbaren Sinn, als diese Objektivierung der wirklichen Staatsverfassung dient. Von diesem Gesichtspunkt hat sich auch die verfassungsrechtliche Dogmatik leiten zu lassen, wenn sie den Bedeutungsgehalt „Recht“ aus der gesellschaftlichen Wirklichkeit isoliert und in seiner relativen Eigengesetzlichkeit 61 Vgl. Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 195; Korioth, Integration und Bundesstaat, S. 217 f. Nach Smend aber steht die Verfassung als Anregung im Vordergrund, „da die Integrationsaufgabe das zentrale Merkmal jeder Verfassung ist“ (Korioth, ebenda, S. 218). 62 Hier kann sich die „Objektivität“ auf Konsens richten. Vgl. Korioth, Integration von Norm, Wert und Wirklichkeit, S. 213: „das Interpretationsergebnis muß Konsens stiften und widerspiegeln“. Vgl. auch ders., Europäische und nationale Identität: Integration durch Verfassungsrecht?, in: VVDStRL 62 (2003), S. 117, 124. 63 Hellers Staatslehre geht davon aus, daß jede politische Verfassung „nur als normgeformtes Sein zu begreifen“ ist. Vgl. H. Heller, Staatslehre (1934), in: C. Müller (Hrsg.), Gesammelte Schriften III, 2. Aufl. 1992, S. 79, 363. Auch H. Heller, Die Krisis der Staatslehre (1926), in: C. Müller (Hrsg.), Gesammelte Schriften II, 2. Aufl. 1992, S. 5 ff. 64 Heller, Staatslehre, S. 362. Dort betont Heller, daß „eine Verfassung nur insoweit erkennbar wird, als sie sich in und trotz der Dynamik dauernd wechselnder Integrationsprozesse mit relativer Statik behauptet.“ Deshalb sei die Verfassung nicht als „Gestaltungsprozess“ oder als „Integration“, sondern als „Produkt“ oder als „das relativ dauernde Ergebnis dieses Gestaltungsprozesses“ anzusehen (S. 384).

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untersucht. Denn auch diese normative Eigengesetzlichekeit des Verfassungsrechts ist letzlich nur zu begreifen aus dem komplexen Zusammenhang, in dem das Recht als objektive Norm mit der gesamten gesellschaftlichen Wirklichkeit steht . . .“65.

Auf der Prämisse also könnten die Rechtsgrundsätze, die durch den Richter zu konkretisieren sind und deren Heranziehung notwendigerweise die Rücksicht auf die positiv bewertete gesellschaftliche Normalität besagt66, keinesfalls andeuten, daß sich der Richter an die Stelle des Gesetzgebers oder der objektiv geltenden Norm setzen könne. Nach Heller üben die Rechtsgrundsätze selbst eine „die Verfassung verstetigende Funktion“ aus67 und stellen sich in der Weise als objektive normative Vorgaben für die Rechtsanwendung dar, um den Richter zu binden. Vielleicht in der Strömung von Versuchen einer Vermittlung zwischen Normativität und Faktizität will der staatsrechtliche Positivismus in der Weimarer Zeit die gesellschaftliche Wirklichkeit auch nicht mehr völlig außer acht lassen. Aus der Sicht, daß zwar die geistesgeschichtliche, politische und ethische Bedeutung der Grundrechte „in keiner Weise geleugnet oder herabgesetzt“ solle, mittlerweile aber als „Werturteile“ anzusehen sei68, die etwas Subjektives sein müßten, neigt Anschütz dazu, daß das Ausmaß der richterlichen Tätigkeit streng einzuschränken ist, um die richterliche Willkür und infolgedessen die Politisierung der Justiz zu vermeiden69. Daraus wird deutlich, daß nach Anschütz die den Charakter der richterlichen Tätigkeit kennzeichnende, sich auf eine objektive Grundlage stützende Rechtsanwendung aufrechterhalten werden muß, die erst dadurch von der Rechtsetzung unterschieden werden kann, daß alle möglichen (politischen, subjektiven) Werturteile aus der richterlichen Rechtsprechung verbannt sind. Die objektiven Vorgaben ließen sich (immer) durch die rechtslogische Betrachtung gewinnen, da für Anschütz die Verfassung die „zwar nicht vollkommene, aber inhaltlich ausreichende Ordnung“ ist70, die daher in der Lage sein soll, den objektiven Leitsatz für die richterliche Rechtsanwendung zu liefern. Obwohl Heinrich Triepel diese Auffassung aus dem Grund kritisiert, daß (Staats-)Recht und Politik im wesentlichen nicht voneinander trennbar sind71, weicht seine „teleologische Auslegung“ der Heller, Staatslehre, S. 374 f. Vgl. Heller, Staatslehre, S. 370 f. 67 Heller, Staatslehre, S. 371. 68 G. Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919 (1921), 14. Aufl. 1933, Nachdruck 1960, S. 516; Art. 109, S. 528 f. Dazu auch W. Heun, Der staatsrechtliche Positivismus in der Weimarer Republik. Eine Konzeption im Widerstreit, in: Der Staat 28 (1989), S. 377, 379, 388 f. Vgl. ferner H. Triepel, Staatsrecht und Politik, 1927, S. 11: „Noch im Jahre 1913 hat Anschütz die preußische Hegemonie in Deutschland zwar im Sinne einer historisch-politischen Bewertung der Dinge anerkannt, im Sinne des Staatsrechts aber energisch abgeleugnet.“ 69 Vgl. G. Anschütz, Diskussionsbeitrag, in: VVDStRL 3 (1927), S. 47, 49 f. 70 So Wendenburg, Die Debatte um die Verfassungsgerichtbarkeit und der Methodenstreit der Staatsrechtslehre in der Weimarer Republik, S. 115. 71 Vgl. Triepel, Staatsrecht und Politik, S. 12: „Das Staatsrecht hat ja im Grunde gar keinen anderen Gegenstand als das Politische. Der Staatsrechtslehrer kann also gar nicht darauf 65 66

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Verfassung72 nicht davon ab, daß die richterliche Tätigkeit an die objektiven Vorgaben gebunden ist. Unter dem Einfluß der Interessenjurisprudenz73 zielt Triepels Methode vielmehr darauf ab, durch die teleologische Erwägung die objektive „Rechtsidee“ festzustellen, so daß es für die Rechtsauslegung und -anwendung immer objektive und dadurch bindende Maßstäbe gibt74. bb) Einige Auffassungen über das richterliche Prüfungsrecht unter der Vorstellung der richterlichen Rechtsanwendung Aufgrund der Tradition der Rechtsanwendung sind also die verschiedenen Methodologien darin einig, daß die richterliche Tätigkeit irgendwie an eine vorgegebene objektive Rechtsnorm gebunden sein muß, wenngleich die Quelle der Objektivität umstritten ist. Diese Vorstellung von richterlicher Rechtsanwendung hat infolgedessen auch Auswirkungen auf die Diskussion um das richterliche Prüfungsrecht. Obwohl die Stellungnahme der Positivisten oder Antipositivisten zum richterlichen Prüfungsrecht durch vielschichtige Faktoren, nämlich durch die Ansicht über das Verhältnis von Gesetz und Recht oder von Gesetz und Verfassung, die Vorstellung von Demokratie- und Rechtsstaatsprinzip und sogar die Überlegung der praktischen, politischen Lage beeinflußt wurde, hat die typische Erkenntnis der richterlichen Rechtsanwendung in den konkurrierenden methodischen Ansätzen mehr oder minder eine Rolle gespielt75: Anschütz’ Ablehnung des richterliverzichten, politische Vorgänge oder Ansichten mit den Maßstäben des öffentlichen Rechts zu messen.“ S. 20: „Nennen wir nun ,politisch‘ . . . alles, was sich auf die Staatszwecke oder auf deren Abgrenzung gegenüber individuellen Zwecken bezieht, so ist es klar, daß eine allseitige Erfassung der Normen des Staatsrechts ohne Einbeziehung des Politischen gar nicht möglich ist.“ Ferner ders., Wesen und Entwicklung der Staatsgerichtsbarkeit, in: VVDStRL 5 (1929), S. 2, 7: „Rechtsstaatliches Denken ist nicht unpolitisches Denken, sondern eine besondere Art des politischen Denkens, und die bürgerlich-rechtsstaatlichen Bestandteile einer Verfassung gehören auch zu ihrem ,politischen System‘“. 72 Für Triepel ist die teleologische Auslegung, die sich vor allem um die Interessenabwägung bemüht, die „dem Gegenstande der Rechtswissenschaft adäquate Methode“, da „das Recht selbst nichts ist als ein Komplex von Werturteilen über Interessenkonflikte.“ Triepel, Staatsrecht und Politik, S. 37. 73 Vgl. Triepel, Staatsrecht und Politik, S. 39. Zum Einfluß der Interessenjurisprudenz auf die „teleologische Richtung“ der Staatsrechtslehre s. Rennert, Die „geisteswissenschaftliche Richtung“ in der Staatsrechtslehre der Weimarer Republik, S. 56 f. 74 Vgl. Triepel, Staatsrecht und Politik, S. 39: „Die Zweckjurisprudenz macht . . . deutlich, wo sie sich an der Grenze der subjektiven und der objektiven Interessenwertung befindet. Daß freilich ihre Aufgabe darin besteht, die Maßstäbe, an die sie sich hält, in der Sphäre des Objektiven zu suchen, steht fest.“ Dazu kritisch Wendenburg, Die Debatte um die Verfassungsgerichtbarkeit und der Methodenstreit der Staatsrechtslehre in der Weimarer Republik, S. 141: „Die Grenze zwischen objektiven Wertungen, subjektiven Meinungen und politischen Überzeugungen ist unscharf, wenn nicht der einzelne seine persönlichen (rechts-)politischen Forderungen als seine eigenen und nicht im Namen des Rechts gebotene darstellt.“ 75 Der Anknüpfungspunkt bezüglich der Erkenntnis des rechtsanwendenden Charakters der richterlichen Tätigkeit und der Diskussion um das richterliche Prüfungsrecht liegt vor

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chen Prüfungsrechts gründet sich auf seine Gleichsetzung des Rangs von Verfassung und Gesetz und folglich auf die absolute richterliche Bindung an das Gesetz, denn der Konflikt von Gesetz und Verfassung wird dann zur „politischen“ Kontroverse, deren Lösung dem Richter nicht zusteht; hinter der Ansicht steht aber natürlich der Grundgedanke, daß die Rechtsanwendung aufgrund eines objektiven Maßstabs vorzunehmen ist, der nur im Gesetz vorgegeben werden kann. Für Anschütz würde also das richterliche Prüfungsrecht zur Loslösung der richterlichen Tätigkeit aus der Bindung an die objektive Rechtsnorm und folglich zur Gefährdung des richterlichen Charakters von Rechtsanwendung führen. Triepel geht davon aus, daß Verfassungsstreitigkeiten immer politische Streitigkeiten sind, so daß „das Wesen der Verfassung bis zu gewissem Grade mit dem Wesen der Verfassungsgerichtsbarkeit in Widerspruch“ steht76; trotzdem plädiert er für die Verfassungsgerichtsbarkeit, weil im bürgerlichen Rechtsstaat das Recht gegenüber der Politik den Vorrang habe77: „wir wünschen keine Rückkehr der Tage, in denen man Staatsrecht durch Politik ersetzte. Erst recht verabscheuen wir es, wenn politische Tendenz das geltende Recht verfälschen will.“78 Dies setzt allerdings voraus, daß allem darin, ob und inwieweit die das richterliche Prüfungsrecht begleitende Verfassungsrechtsanwendung oder -auslegung den typischen Charakter der richterlichen Rechtsanwendung verändert. Für manche führt die Überlegung als solche direkt zur Stellungnahme zur Debatte um das richterliche Prüfungsrecht; für andere ergibt sich die Ablehnung oder Befürwortung des Prüfungsrechts jedoch aus mehreren Gründen, deren Zusammenhang mit den Für-oder-Gegen-Auffassungen rein aus methodischer Perspektive nicht zu erklären ist. Dies gilt etwa für Richard Thoma und Hermann Heller, deren Stellungnahmen zum richterlichen Prüfungsrecht sich weniger aus dem methodischen Standpunkt als aus den praktischen legislativ-politischen Erwägungen oder Überlegungen ergeben. Vgl. R. Thoma, Das richterliche Prüfungsrecht, in: AöR 43 (1922), S. 267, 270 ff.; H. Heller, Rechtsstaat oder Diktatur?, in: C. Müller (Hrsg.), Gesammelte Schriften II, 2. Aufl. 1992, S. 443, 449 f. Deshalb lassen sich die Auffassungen über das richterliche Prüfungsrecht nicht einfach entsprechend der positivistischen oder antipositivistischen Richtung typisieren. Auch aus diesem Grund ist für die vorliegende Arbeit die Untersuchung zu Stellungnahmen verschiedener Ansätze, die nicht immer unmittelbar auf ihrer Vorstellung von richterlicher Rechtsanwendung beruhen, nicht immer von Belang. Zu einer umfassenden Darstellung der konkurrierenden Stellungnahmen zum richterlichen Prüfungsrecht oder der Verfassungsgerichtsbarkeit sowohl auf theoretischer als auch auf praktischer Ebene vgl. Wendenburg, Die Debatte um die Verfassungsgerichtbarkeit und der Methodenstreit der Staatsrechtslehre in der Weimarer Republik, S. 43 ff.; C. Fricke, Zur Kritik an der Staats- und Verfassungsgerichtsbarkeit im verfassungsstaatlichen Deutschland: Geschichte und Gegenwart, 1995., S. 84 ff. Vgl. auch C. Gusy, Richterliches Prüfungsrecht: Eine verfassungsgeschichtliche Untersuchung, 1985, S. 74 ff.; U. Scheuner, Die Überlieferung der deutschen Staatsgerichtsbarkeit im 19. und 20. Jahrhundert, in: C. Starck (Hrsg.), Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz Bd. I, 1976, S. 1, 50 ff. 76 Triepel, Wesen und Entwicklung der Staatsgerichtsbarkeit, S. 8. Diese Ansicht beruht darauf, daß die Verfassungsgerichtsbarkeit sich auf Streitigkeiten bezieht, „die ihrer Natur nach, weil sie politisch sind, einer Entscheidung in prozeßförmiger Art widerstreben.“ 77 So Wendenburg, Die Debatte um die Verfassungsgerichtbarkeit und der Methodenstreit der Staatsrechtslehre in der Weimarer Republik, S. 144 f. Hierzu vgl. Triepel, Wesen und Entwicklung der Staatsgerichtsbarkeit, S. 13 ff. Vgl. auch U. M. Cassner, Heinrich Triepel: Leben und Werk, 1999, S. 381 – 388. 78 Triepel, Staatsrecht und Politik, S. 37.

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nach Triepel die richterliche Verfassungsrechtsanwendung oder -auslegung trotz Interessenabwägungen nicht auf die subjektiven Werturteile des Richters reduziert ist, sondern immer auf einer objektiven normativen Grundlage fußt. Erst auf der Basis würde das richterliche Prüfungsrecht das Wesen der richterlichen Rechtsanwendung nicht verzerren. Auch bei Kaufmann ist der Einfluß dieser traditionellen Vorstellung von richterlicher Tätigkeit anschaulich. Seine Befürwortung des richterlichen Prüfungsrechts beruht darauf, daß der Richter nicht nur an das Gesetz, sondern an das (überpositive) Recht gebunden werden muß, das „nicht minder real“ ist als die geltende positive Ordnung79. Er ist zwar der Meinung, daß „die richterliche Tätigkeit der gesetzgeberischen nicht so scharf gegenübersteht“, denn „der Staat schafft nicht Recht, der Staat schafft Gesetze; und Staat und Gesetz stehen unter dem Recht“80; das richterliche Prüfungsrecht läßt sich aber erst auf der Prämisse bejahen, daß sich die richterliche Rechtsanwendung auch im Bereich der Verfassungsinterpretation von gesetzgeberischer Rechtsetzung unterscheidet, indem sie immer von den objektiv-rechtlichen Vorgaben ausgeht und auch stets an diese Vorgaben gebunden ist. Aus Smends konventionellem Verständnis von Rechtsprechung81 läßt sich entnehmen, daß auch der Richter am Verfassungsgericht die Aufgabe zur Rechtsanwendung hat, die nicht durch die Verfassungsinterpretation entzogen werden kann. Auch aus der Perspektive ist die Einschätzung Helge Wendenburgs plausibel, daß nach Smend das richterliche Prüfungsrecht nur insofern zu befürworten ist, als der Richter bei der Verfassungsmäßigkeitskontrolle die Grenzen zwischen Rechts- und Integrationswert beachtet82.

cc) Der Gegensatz zwischen Schmitt und Kelsen in der Tradition der richterlichen Rechtsanwendung Die gemeinsame Vorstellung von richterlicher Rechtsanwendung zeigt sich durch die gegensätzlichen Gesichtspunkte von Carl Schmitt und Hans Kelsen in Bezug auf die Verfassungsgerichtsbarkeit besonders deutlich. Sowohl der Schmittsche Dezisionismus als auch der Kelsensche Normativismus83 liegen ihren Stel79 Kaufmann, Die Gleichheit vor dem Gesetz im Sinne des Art. 109 der Reichsverfassung, S. 3. Ähnlich gründet Leibholz das richterliche Prüfungsrecht auf naturrechtliche Vorstellungen. Dazu Wendenburg, Die Debatte um die Verfassungsgerichtbarkeit und der Methodenstreit der Staatsrechtslehre in der Weimarer Republik, S. 155 – 157. 80 Kaufmann, Die Gleichheit vor dem Gesetz im Sinne des Art. 109 der Reichsverfassung, S. 20. 81 Dazu Korioth, Integration und Bundesstaat, S. 216: „Sein Verständnis der Rechtsprechung beruht auf dem Subsumtionsideal, daß der Richter die durch das Gesetz bereits getroffene Entscheidung im Einzelfall nur zur Anwendung bringt.“ 82 Vgl. Wendenburg, Die Debatte um die Verfassungsgerichtbarkeit und der Methodenstreit der Staatsrechtslehre in der Weimarer Republik, S. 160 – 165. 83 Zu Dezisionismus und Normativismus C. Schmitt, Über die drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens, 1934, S. 7 – 40.

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lungnahmen zur Errichtung der Verfassungsgerichtsbarkeit zugrunde, und genauso wie andere Ansätze verkörpern die beiden die Tradition der Rechtsanwendung, wenngleich sich ihr Verständnis für die richterliche Tätigkeit auf den ersten Blick nicht auf die typische Unterscheidung zwischen Rechtsanwendung und Rechtsetzung richtet. Zur Untersuchung der richterlichen Rechtsprechung geht Schmitt von der Frage aus, wann eine richterliche Entscheidung richtig ist84. Auf der theoretischen Grundlage des Dezisionismus85 verweigert Schmitt die herkömmliche Ansicht, daß eine richterliche Entscheidung „dann richtig ist, wenn sie sich als Ergebnis einer Subsumtion unter das Gesetz darstellt, wenn sie . . . gesetzmäßig ist“86; Schmitt ist es gar nicht plausibel, daß das Gesetz selbst oder der Wille des Gesetzes oder Gesetzgebers in der Lage seien, dem Richter die im konkreten Fall anzuwendenden Maßstäbe vollständig vorzugeben. Auf der Prämisse behauptet Schmitt, daß die praktische richterliche Entscheidung in der Tat mit der theoretischen Subsumtionstätigkeit unter die vorgegebene Rechtsnorm nichts zu tun hat, sofern die Methode der Rechtsanwendung von Rechtsnormen in der Rechtspraxis nicht mit der Methode der wissenschaftlichen Verarbeitung von Rechtsnormen gleichzusetzen ist: „Die Auslegung eines Rechtssatzes durch die Rechtslehre und seine ,Auslegung‘ durch den Richter sind wesentlich verschiedene Dinge, schon deshalb, weil der Richter nur den konkreten Fall richtig entscheiden will und das Recht anwendet, und wenn er auslegt, das nur tut, um anzuwenden.“87 Dadurch wird deutlich, daß Schmitt der Betrachtungsweise widerspricht, daß die richterliche Rechtsanwendung einfach die Subsumtion von Rechtsnormen bedeutet. Dennoch führt dies nicht dazu, daß die richterliche Rechtsanwendung – sozusagen die richterliche „Entscheidung“ – sich keinem objektiven Kriterium unterwirft oder der gesetzgeberischen Rechtsetzung gleichgestellt ist. Umgekehrt: Gerade aus dem eigenständigen Charakter der richterlichen Entscheidung gegenüber der Rechtsnorm, der durch das eigenartige willkürliche Element der richterlichen Tätigkeit im konkreten Einzelfall88 gekennzeichnet ist, ergeben sich der grundlegende Unterschied zwischen dem richterlichen Urteil und dem gesetzgeberischen Gesetz89 84 C. Schmitt, Gesetz und Urteil. Eine Untersuchung zum Problem der Rechtspraxis (1912), 2. Aufl. 1969, S. 1. 85 So Korioth, Erschütterungen des staatsrechtlichen Positivismus im ausgehenden Kaiserreich, S. 218 („In dieser nicht näher begründeten These kündigt sich deutlich der Schmittsche Dezisionismus der zwanziger Jahre an“). 86 Schmitt, Gesetz und Urteil, S. 8. 87 Schmitt, Gesetz und Urteil, S. 61. 88 Dazu vgl. Korioth, Erschütterungen des staatsrechtlichen Positivismus im ausgehenden Kaiserreich, S. 217 f. 89 Zum Unterschied von Gesetz und Urteil (d. h. richterlicher Entscheidung) vgl. Schmitt, Gesetz und Urteil, S. 68 f.: „. . . Aber solche Erwägungen, die zu einer strengen Trennung von Gesetz und Gesetzesmaterialien und namentlich der Belanglosigkeit dieser für die Interpretation des Gesetzes führen, sprechen bei der Entscheidung für eine Begründung. Es gibt ohne Urteil ohne Begründung, die Begründung gehört zur Entscheidung. Nicht bloß, weil sie den Tenor der Entscheidung verständlich machen und, mit dem Tatbestand zusammen, ihn indi-

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sowie das objektive Kriterium für den Richter, das nicht im Gesetz oder Recht, sondern darin liegt, daß „ein anderer Richter ebenso entschieden hätte.“90 Zwar beruht die Objektivität oder Richtigkeit der richterlichen Entscheidung nicht auf der Rechtsnorm, doch muß die richterliche Rechtsanwendung aufgrund der Rechtsnorm und mittels der Subsumtion vorgenommen werden, um das Wesen der richterlichen Tätigkeit im Rechtsstaat beizubehalten. Gerade auf der Basis wird klar, daß nach Schmitt die Verfassungsgerichtsbarkeit abzulehnen ist, die bereits vom Charakter der richterlichen Entscheidung abweicht, soweit sich der Richter durch die Verfassungsgerichtsbarkeit nicht mehr um die Subsumtion unter die vorgegebene Rechtsnorm, sondern um die „Beseitigung des Zweifels über den Inhalt einer verfassungsgesetzlichen Bestimmung“ bemüht91. Auf der Prämisse, daß der bürgerliche Rechtsstaat als politische Entscheidung der Weimarer Republik gelte, also als unentbehrlicher Bestandteil der Weimarer Verfassung diene92, sei die richterliche Unabhängigkeit von großem Belang, die vom bürgerlichen Rechtsstaat untrennbar sei, und setze die richterliche Entfernung von politischer Entscheidung durch die richterliche Bindung an eine generelle Rechtsnorm voraus. Infolgedessen betont Schmitt, daß „es keinen bürgerlichen Rechtsstaat ohne unabhängige Justiz, keine unabhängige Justiz ohne inhaltliche Bindung an ein Gesetz, keine inhaltliche Bindung an das Gesetz ohne sachliche Verschiedenheit von Gesetz und Richtersspruch gibt.“93 Für Schmitt ist die richterliche Entscheidung trotz des unvermeidlichen willkürlichen Elements94 von der politischen Entscheidung zu unterscheiden, deren „dezisionistisches Element“ am klarsten ist, das sich „nicht normativ ableiten“ läßt95. Gerade darin liegt die Eigenart der der richterlichen Unabhängigkeit entsprechenden richterlichen Entscheidung, deren Inhalt „aus dem Inhalt des Gesetzes abgeleitet wird“ und „durch tatbestandsmäßige Subsumtion zustande kommt.“96 Infolgedessen ist es kein Wunder, daß nach Schmitt die Verfassungsgevidualisieren hilft, sondern vor allem deshalb, weil die Frage nach der Richtigkeit eines Gesetzes ein ganz anderes Problem enthält als die nach der Richtigkeit einer Entscheidung, welch letztere immer im Rahmen einer bestehenden Rechtsordnung liegt.“ 90 Schmitt, Gesetz und Urteil, S. 71. 91 Dazu C. Schmitt, Das Reichsgericht als Hüter der Verfassung (1929), in: ders., Verfassungsrechtliche Aufsätze aus den Jahren 1924 – 1954, 1958, S. 63, 79 – 81. 92 Hierzu C. Schmitt, Verfassungslehre (1928), 5. Aufl. 1970, S. 23 f., 125, 131 ff. 93 C. Schmitt, Der Hüter der Verfassung (1931), 4. Aufl. 1996, S. 36. 94 Diese Auffassung zeigt sich auch in Schmitt, Der Hüter der Verfassung, S. 45 f.: „In jeder Entscheidung, selbst in der eines tatbestandsmäßig subsumierenden prozeßentscheidenden Gerichts liegt ein Element reiner Entscheidung, das nicht aus dem Inhalt der Norm abgeleitet werden kann.“ 95 Zum Begriff des Politischen, der Schmitts Verständnis für die politische Entscheidung zugrunde liegt, vgl. C. Schmitt, Der Begriff des Politischen: Text von 1932 mit einem Vorwort und drei Corollarien, 7. Aufl., 5. Nachdruck der Ausgabe von 1963, 2002. Dazu ferner E.-W. Böckenförde, Der Begriff des Politischen als Schlüssel zum staatsrechtlichen Werk Carl Schmitts, in: ders., Recht, Staat, Freiheit, 1991, S. 344 ff.; H. Hofmann, Legitimität gegen Legalität. Der Weg der politischen Philosophie Carl Schmitts (1964), 4. Aufl. 2002, S. 94 ff.; U. Di Fabio, Der Verfassungsstaat in der Weltgesellschaft, 2001, S. 123 – 125.

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richtsbarkeit dem Richter die Befugnis zur politischen Entscheidung verleihen und zur Zerstörung der richterlichen Unabhängigkeit und des bürgerlichen Rechtsstaates führen würde97. Die Folge: „Es würde nicht etwa die Politik juridifiziert, sondern die Justiz politisiert.“98 Aus dem Vorhergehenden ergibt sich, daß nach Schmitt trotz der Grundhaltung des Dezisionismus die richterliche Rechtsanwendung im Einzelfall durch die richterliche Bindung an die generelle Rechtsnorm dargestellt werden muß. Dagegen geht Kelsen einen anderen Weg, der zur Befürwortung der Verfassungsgerichtsbarkeit führt. Zwar liegt es auf der Hand, daß Kelsens Bejahung der Errichtung der Verfassungsgerichtsbarkeit auf die aus seinem Stufenbau der Rechtsordnung abgeleitete Verfassungs- und Rechtmäßigkeitsgarantie zurückzuführen ist99; in unserem Zusammenhang ist aber bemerkenswerter, daß Kelsens Behauptung und Verteidigung gegen Schmitts Einwand auf der ebenfalls von der Stufentheorie erkannten „Wesensgleichheit von Gesetzgebung und Gerichtsbarkeit“ beruhen100. Kelsens These geht davon aus, daß sowohl die Gesetzgebung als auch die Gerichtsbarkeit als „Normerzeugung“ und zugleich als „Normanwendung“ gelten, denn „in Anwendung der Verfassung erfolgt die Erzeugung der generellen Rechtsnormen durch Gesetzgebung und Gewohnheit; und in Anwendung dieser generellen Normen erfolgt die Erzeugung der individuellen Normen durch richterliche Entscheidungen . . .“101. Fungiere die richterliche Entscheidung nicht nur als Rechts-“Findung“ oder Recht-„Sprechung“, sondern als Rechtserzeugung der individuellen Normen im konkreten Fall, so könne nicht gesagt werden, daß die Verfassungsgerichtsbarkeit, die nicht nur auf die Subsumtionstechnik beschränkt werde, schon mit dem Wesen der Justiz unvereinbar sei, da das Gericht seiner Funktion nach nicht eigentlich nur als Gericht tätig sei. Kelsen ging sogar weiter und sagte, auch wenn die Verfassungsgerichtsbarkeit (zwangsläufig) ein Gericht ermächtige, in dem Sinne, daß „die Aufhebung eines Gesetzes den gleichen generellen Charakter wie die Erlassung eines Gesetzes“ habe102, bedeute dies nicht Schmitt, Das Reichsgericht als Hüter der Verfassung, S. 79. Demgegenüber sei allerdings das diffuse richterliche Prüfungsrecht in einem sehr eingeschränkten Umfang anzuerkennen, sofern die richterliche Unabhängigkeit durch ein Gesetz gefährdet wird. Dazu Schmitt, Das Reichsgericht als Hüter der Verfassung, S. 83 ff. Auch S. Korioth, Garantie der Verfassung oder Verfassungsrecht aus der Hand der Justiz – Richterliche Normenkontrolle in der Weimarer Republik, in: FS C. Link, 2003, S. 705, 716 (Fn. 41). 98 Schmitt, Das Reichsgericht als Hüter der Verfassung, S. 98. 99 Vgl. H. Kelsen, Wesen und Entwicklung der Staatsgerichtsbarkeit, in: VVDStRL 5 (1929), S. 30, 51 ff. 100 Dazu H. Kelsen, Wer soll der Hüter der Verfassung sein?, in: die Justiz VI, 1930 / 31, S. 576, 593 (Fn. 1). 101 Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 240. 102 Kelsen, Wesen und Entwicklung der Staatsgerichtsbarkeit, S. 54. Nach Kelsen kann die Gerichtsbarkeit funktionell von der Gesetzgebung dadurch getrennt werden, daß grundsätzlich die Gesetzgebung die generellen Normen, die Rechtsprechung die individuellen Normen 96 97

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die Bedrohung des Gewaltenteilungsprinzips, denn „es ist der Gedanke der Aufteilung der Macht auf verschiedene Organe, nicht so sehr zum Zweck ihrer gegenseitigen Isolierung, als vielmehr zu dem ihrer gegenseitigen Kontrolle. Und dies nicht nur zu dem Zwecke, um eine der Demokratie gefährliche, allzu große Machtkonzentration in einem Organ zu verhindern, sondern insbesondere um die Rechtmäßigkeit der Funktion der verschiedenen Organe zu garantieren.“103 Dennoch soll nicht übersehen werden, daß auch Kelsen genau in der Tradition der Rechtsanwendung bleibt. Indem er die Verfassungsgerichtsbarkeit als „negativen Gesetzgeber“ bezeichnet, erkennt er die Wesens- und Funktionsgemeinsamkeit zwischen dem Gericht und dem Gesetzgeber einerseits, betont aber zugleich den Unterschied vom „negativen“ zum „positiven“ Gesetzgeber andererseits. Vor allem stellt Kelsen den rechtsanwendenden Charakter der Verfassungsgerichtsbarkeit heraus: „Denn alle jene politischen Erwägungen, die für die Frage bestimmend sind, wie das den staatlichen Willen im Gesetzgebungsverfahren bildende Organ beschaffen sein soll, sie kommen nicht eigentlich in Betracht, wenn es die Aufhebung von Gesetzen gilt. Hier macht sich der Unterschied zwischen der Erlassung und der bloßen Aufhebung eines Gesetzes geltend. Die Aufhebung eines Gesetzes aus dem Grunde seiner Verfassungswidrigkeit erfolgt wesentlich in Anwendung der Verfassungsnormen. Hier überwiegt das Moment der Bindung, hier tritt das für die Gesetzgebung charakteristische Moment der freien Schöpfung sehr zurück. Der positive Gesetzgeber: das Parlament, evtl. in Verbindung mit der Regierung, ist nur hinsichtlich seines Verfahrens durch die Verfassung gebunden, hinsichtlich des Inhalts der von ihm zu erlassenden Gesetze nur ausnahmsweise, und nur durch allgemeine Grundsätze, Richterlinien usw. Der negative Gesetzgeber aber, das Verfassungsgericht, ist bei seiner Funktion wesentlich durch die Verfassung bestimmt.“104

Dem läßt sich entnehmen, daß die Verfassungsgerichtsbarkeit überwiegend als an rechtsetzende Entscheidungen gebundene Rechtsanwendung fungiert, auch wenn sie ermächtigt ist, durch die Aufhebung eines Gesetzes die „generellen“ Normen zu setzen. Dies deutet zugleich an, daß die verfassungsgerichtliche Erzeugung von generellen (und nicht nur individuellen) Normen keineswegs mit der gesetzgeberischen Rechtsetzung von generellen Normen gleichzusetzen ist oder sogar besagt, das Verfassungsgericht könne dann an die Stelle des Gesetzgebers treten105. Vor allem auf dieser Grundlage läßt sich erklären, warum Kelsen trotz der Behauperzeugt. Dies muß aber nicht so sein und ist auch nicht immer der Fall. Dazu Kelsen, ebenda; ders., Reine Rechtslehre, S. 255 ff. 103 Kelsen, Wesen und Entwicklung der Staatsgerichtsbarkeit, S. 55. 104 Kelsen, Wesen und Entwicklung der Staatsgerichtsbarkeit, S. 55 f. 105 Dazu Kelsen, Wesen und Entwicklung der Staatsgerichtsbarkeit, S. 52: „Die Gesetzgebung . . . kann keinem Gericht übertragen werden; nicht so sehr wegen der Verschiedenheit der Funktionen der Gesetzgebung und der Gerichtsbarkeit, als vielmehr darum, weil die Organisation des Gesetzgebungsorgans wesentlich von anderen Gesichtspunkten her bestimmt wird als dem der Verfassungsmäßigkeit seiner Funktion.“ Auch darin sieht Kelsen den (vom Verfassungsgericht zu unterscheidenden) Charakter des Gesetzgebers: „Das Gesetzgebungsorgan fühlt sich in Wirklichkeit begreiflicherweise nur als freier Schöpfer des Rechts, und nicht als ein durch die Verfassung gebundenes Organ der Rechtsanwendung, obgleich es letzteres der Idee nach ist.“ (Kelsen, ebenda, S. 53).

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tung der „Wesensgleichheit von Gesetzgebung und Gerichtsbarkeit“ das Element der Subsumtion bei der Verfassungsgerichtsbarkeit unterstreichen will106. In der Tradition der Rechtsanwendung verkennt Kelsen also nicht, daß dem als negativer Gesetzgeber und trotzdem gleichzeitig als Gericht fungierenden Verfassungsgericht die Grenzen gegenüber dem politischen, demokratischen Gesetzgeber gezogen werden sollen. Insbesondere auf der Ebene der Rechtserzeugung oder genauer der legislativ-politischen Erwägung107 sieht auch Kelsen die Gefahren einer „von der Verfassung nicht intendierten und politisch höchst unangebrachten Machtverschiebung vom Parlament zu einer außerhalb desselben stehenden Instanz,“108 also die Politisierungsgefahren der Verfassungsgerichtsbarkeit. Deswegen betont Kelsen, daß sich die Verfassung „jeder derartigen Phraseologie enthalten“ muß; „und, wenn sie Grundsätze, Richtlinien, Schranken für den Inhalt der zu erlassenden Gesetze aufstellen will, diese so präzise wie möglich bestimmen.“109 Kurz gesagt soll nach Kelsen vermieden werden, die Beurteilung der Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes durch das subjektive, möglicherweise willkürliche „Ermessen“ des Verfassungsgerichts zu ersetzen110. Daraus wird noch deutlicher, daß auch in Kelsens Sicht die Verfassungsgerichtsbarkeit erst aus der Perspektive der die objektiven Vorgaben voraussetzenden Rechtsanwendung zu begreifen ist, so daß die Objektivität der Machtausübung des Verfassungsgerichts, d. h. der Verfassungsinterpretation, entscheidend wird. Auch aus dieser Sicht ist der Gegensatz zwischen Schmitt und Kelsen darauf zurückzuführen, daß die Verfassungsgerichtsbarkeit nach Schmitt den rechtsanwendenden Charakter der richterlichen Tätigkeit grundlegend verändert, nach Kelsen aber noch als „echte Gerichtsbarkeit“ zu bezeichnen ist.

106 In diesem Punkt wird Schmitts Ansicht aus der Perspektive kritisiert, daß er „den Unterschied zwischen dem Gesetz als Norm und Erzeugung des Gesetzes als Tatbestand nicht sieht,“ so daß das Element der Subsumtion bei der Prüfung der Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes in der Weise ignoriert sei; Kelsen, Wer soll der Hüter der Verfassung sein?, S. 591. 107 Zur Unterscheidung von Rechtserkenntnis und Rechtserzeugung, wobei bei der letzteren eine legislativ-politische Erwägung „unabweislich und selbstverständlich“ ist, s. Kelsen, Schlußwort zur Aussprache, in: VVDStRL 5 (1929), S. 117, 122. 108 Kelsen, Wer soll der Hüter der Verfassung sein?, S. 595 f. Vgl. auch ders., Wesen und Entwicklung der Staatsgerichtsbarkeit, S. 69 f. 109 Kelsen, Wesen und Entwicklung der Staatsgerichtsbarkeit, S. 70. 110 Dazu Kelsen, Wesen und Entwicklung der Staatsgerichtsbarkeit, S. 70: „Daß es Sinn der Verfassung nicht sein kann, durch den Gebrauch eines nicht näher bestimmten, so vieldeutigen Wortes wie jenes der ,Gerechtigkeit‘ oder eines ähnlichen, jedes vom Parlament beschlossene Gesetz von dem freien Ermessen eines politisch mehr oder weniger willkürlich zusammengesetzten Kollegiums, wie es das Verfassungsgericht ist, abhängig zu machen, versteht sich von selbst.“ Hinsichtlich der Gefahr, daß „Richter unter unmittelbarer Berufung auf Gründe der Gerechtigkeit eigene rechtspolitische Vorstellungen gegen den Gesetzgeber durchsetzen könnten“ (so Korioth, Garantie der Verfassung oder Verfassungsrecht aus der Hand der Justiz, S. 721), neigt Kelsen dazu, das allgemeine richterliche Prüfungsrecht abzulehnen. Ebenso Wendenburg, Die Debatte um die Verfassungsgerichtbarkeit und der Methodenstreit der Staatsrechtslehre in der Weimarer Republik, S. 133 ff.

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Aus dem Vorhergehenden wird dann selbstverständlich, daß die sich vor dem deutschen Hintergrund und deswegen aufgrund des Vorverständnisses der Rechtsanwendung entwickelnde Verfassungsgerichtsbarkeit sich keinesfalls weit vom typischen richterlichen Charakter entfernen darf. Die Auffassung über das Wesen der richterlichen Tätigkeit ist in diesem Sinne so übereinstimmend, daß auch Kelsen, dessen Lehre zur Verfassungsgerichtsbarkeit später Aufnahme ins Grundgesetz fand, das Element der richterlichen Rechtsanwendung im Verfassungsgericht und deren Gewährleistung nicht vernachlässigt. Die Eigenart der Tradition der richterlichen Rechtsanwendung besteht an erster Stelle darin, daß in dieser Tradition der Richter sich erst aufgrund der objektiv-rechtlichen Vorgaben betätigt und stets an diese objektiv-rechtlichen Vorgaben gebunden ist111. Die Bindung des Richters an Recht, die erst durch die Objektivität der richterlichen Rechtsprechung garantiert ist, gilt auch für das Verfassungsgericht. Daher spielt die Objektivität der Verfassungsinterpretation eine bedeutende Rolle nicht nur aus der Perspektive, daß sie den Unterschied zwischen dem „negativen“ und dem „positiven“ Gesetzgeber darstellt, sondern in dem Sinne, daß sie eine die Tradition der Rechtsanwendung kennzeichnende richterliche Bindung an das (Verfassungs-)recht widerspiegelt. Dadurch zeigt sich zugleich, daß die Verfassungsgerichtsbarkeit ihre Grenzen darin finden soll: Sie darf als negativer Gesetzgeber die generellen Normen nicht „positiv“, d. h. nicht tatsächlich wie der politische Gesetzgeber, erzeugen; daraus folgt dann der entscheidende Punkt, daß sie nicht zu einer sich aus der Bindung der Verfassungsnorm loslösenden Rechtsetzungsmacht werden darf. Wie schon dargelegt, müssen die Erfordernisse in erster Linie durch die Garantie der Objektivität der Verfassungsauslegung erfüllt werden.

111 Diese Vorstellung der richterlichen Tätigkeit unter der Tradition der Rechtsanwendung zeigt sich deutlich in den Ausführungen von Larenz zur Bedeutung der Interessenjurisprudenz gegenüber der Freirechtsbewegung für die Rechtspraxis: „An die Stelle der formal-logischen Deduktion setzt die Interessenjurisprudenz nicht den Willen oder das Gefühl, sondern die Erforschung der Interessen und ihre Beurteilung nach dem dem Gesetz zugrunde liegenden Bewertungsmaßstab. Damit räumt sie dem Richter wohl einen größeren Urteilsspielraum, aber keine Freiheit zu lediglich gefühlsbetonter Entscheidung ein. Die Rechtspraxis ist daher auch ganz überwiegend der Interessenjurisprudenz, nicht aber der Freirechtslehre gefolgt.“ (Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 62.) Bemerkenswert ist allerdings, daß auch die Freirechtsbewegung, die der Freiheit in der richterlichen Entscheidung nachgeht und die „freie“ Rechtsfindung betont, keineswegs als Sonderfall in der Tradition der Rechtsanwendung anzusehen ist. Zum klaren Unterschied zwischen der Freirechtsschule und dem amerikansichen Legal Realism vgl. O. Lepsius, Verwaltungsrecht unter dem Common Law: amerikanische Entwicklungen bis zum New Deal, 1997, S. 248: „Der Legal Realism konzentriert sich jedoch, ganz in der amerikanischen Tradition stehend, auf die Kritik des Richterrechts und des Case Law, während die Freirechtsschule gerade die strenge Bindung des Richters an das Gesetz und die Subsumtionstechnik zum Ausgangspunkt nahm und flexibleres Richterrecht forderte. Das Gesetz, für die Freirechtsschule so wichtig, spielt für die Legal Realists kaum eine Rolle.“

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c) Zusammenfassung: Die deutsche Tradition der Rechtsanwendung im Gegensatz zur amerikanischen Tradition des Common Law Aus dem Gesagten wird ersichtlich, wie in der Tradition der Rechtsanwendung das Wesen der richterlichen Tätigkeit anzusehen ist, die in der common law-Tradition aus einer ganz unterschiedlichen Perspektive betrachtet wird. Die deutsche Tradition der Rechtsanwendung geht davon aus, daß die richterliche Rechtsanwendung aufgrund eines für den Richter objektiv-rechtlichen Maßstabs vorgenommen und stets an den objektiven Maßstab gebunden ist. Dagegen geht die amerikanische Tradition des Common Law davon aus, daß die richterliche Entscheidung keine objektiv-rechtlichen Vorgaben voraussetzt und sich nur auf den vorliegenden konkreten Fall konzentriert, wobei es zunächst einmal um den Fakt und damit um die Analogie mit den Präzedenzfällen geht112. Bei der deutschen Diskussion handelt es sich daher immer um die richterliche Bindung an Gesetz und Recht, die sich nach dem staatsrechtlichen Positivismus auf die Rechtsdogmatik, nach dem AntiPositivismus auf die Rechtsidee, die überpositiven Rechtssätze, die ideengeschichtlichen Zusammenhänge der Rechtskultur, die objektiven Gemeinschaftswerte, die Verfassung als Ordnung des Integrationsprozesses oder die Normativität der Verfassung stützen muß, während sich die amerikanische Diskussion um die richterliche Bindung kaum auf eine objektiv-rechtliche Grundlage, sondern vielmehr auf die Einschränkung des (in der Tat unbegrenzten) richterlichen Rechts auf die Wahl zwischen der Befolgung der Präzedenzfälle und der case by case-Abwägung konzentriert. Da in Deutschland die richterliche Rechtsanwendung immerhin von den vorliegenden Rechtsnormen ausgehen muß, bedarf sie trotz des Methodenstreits auf jeden Fall der Unterstützung der Rechtsdogmatik, die daher in der 112 Mit Blick auf den Gegensatz müsste Kelsens Andeutung, daß auch im Common Law die richterliche Entscheidung die „Fortsetzung des Rechtserzeugungsprozesses“ anzusehen ist, denn „die Gerichte erzeugen Recht . . . ; aber innerhalb einer Rechtsordnung, die ein Gesetzgebungsorgan einsetzt oder Gewohnheit als rechtserzeugenden Tatbestand anerkannt, tun sie dies, indem sie schon vorher durch Gesetzgebung oder Gewohnheit geschaffenes generelles Recht anwenden“ (dazu Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 260), für unvertretbar gehalten werden. Zwar ist es unrichtig, im Common Law die Gerichte als das einzige Rechtsetzungsorgan anzusehen, denn dort ist schon Gewohnheit „als rechtserzeugender Tatbestand“ anerkannt; aber die im Common Law aufgenommene richterliche „Anwendung“ von Gewohnheit, d. h. von Präzedenzfällen, kann in der Tat nicht mit der kontinentaleuropäischen richterlichen Rechtsanwendung gleichgesetzt werden, deren Charakter auf dem Hintergrund der Unterscheidung von Rechtsetzung und Rechtsanwendung bestimmt ist, und die sich daher durch die richterliche Bindung an Gesetz und Recht auszeichnet. Der Gegensatz besteht nicht nur darin, daß das Ausmaß der richterlichen Bindung unterschiedlich ist, sondern besonders darin, daß die kontinentaleuropäische Tradition auf dem Boden der Unterscheidung von Rechtsetzung und Rechtsanwendung eine vorgegebene objektive Rechtsnorm voraussetzt, die dann zur Grundlage für die (richterliche) Rechtsanwendung dient, während die common law-Tradition niemals von der Vorstellung einer „generellen Rechtsnorm“, sondern immer wieder vom vorliegenden konkreten Fall ausgeht, so daß die richterliche Entscheidung unter dem Common Law nicht als Rechtsanwendung im kontinentaleuropäischen Sinne bezeichnet werden sollte.

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deutschen Entwicklung der juristischen Methode der Rechtsanwendung immer noch eine große Rolle spielt113. Die in der Tradition der Rechtsanwendung eingerichtete Verfassungsgerichtsbarkeit befindet sich also innerhalb der Schranke der richterlichen Bindung an die Verfassung. Auch auf der Basis, daß die theoretische Grundlage des BVerfG auf die Lehre Kelsens zurückzuführen ist, der das Verfassungsgericht als negativen Gesetzgeber in dem Sinne anerkennt, daß es durch die Aufhebung eines Gesetzes zur Setzung einer generellen Norm ermächtigt wird, soll die Verfassungsgerichtsbarkeit immer noch als gebundene Rechtsanwendung fungieren, und unterscheidet sich erst dadurch von der Gesetzgebung. Der Unterschied besteht auf der Seite des Verfassungsgerichts gerade darin, daß sich die Verfassungsgerichtsbarkeit durch die Objektivität der Verfassungsinterpretation auszeichnen soll. Die Frage ist nun, wie diese Objektivität zu gewinnen und garantieren ist. Ohne Zweifel setzt die richterliche Bindung an das Gesetz voraus, daß das Gesetz konkrete und bestimmte objektive Vorgaben liefert. Die Objektivität der Verfassungsinterpretation bzw. die ihr zugrunde liegende Bindung des Richters an die Verfassung setzt also gleichermaßen voraus, daß die Verfassungsnorm in der Lage ist, dem Interpreten bzw. dem Richter inhaltlich präzise objektive Vorgaben oder Maßstäbe zu liefern. Dies ist jedoch kaum der Fall. Wie Ernst-Wolfgang Böckenförde sagte: „In der Verfassung finden sich aber viele Normen, die nur Prinzipiencharakter haben, die bruchstückhaft sind, bei denen eine Interpretation in dem landläufigen Sinn auf große Schwierigkeiten stößt.“114 Fehlt es dem Inhalt der Verfassungsnorm an Bestimmtheit, so müsste die Verfassungsinterpretation als Verfassungskonkretisierung115 fungieren, die dann dem BVerfG notwendigerweise einen großen Gestaltungsspielraum überläßt. Ob und inwiefern die (verfassungs-)richterliche Bindung an die Verfassungsnorm trotz der Unbestimmtheit des Inhalts der Verfassung geltend gemacht werden kann, wird deswegen zum grundlegenden Problem der Verfassungsgerichtsbarkeit unter dem Grundgesetz, deren aktive Betätigung schon zur heftigen Kontroverse geführt hat, die sich angesichts der Annäherung der verfassungsgerichtlichen Rechtsanwendung an die gesetzgeberische Rechtsetzung und infolgedessen der verlorengehenden „richterlichen Bindung an Recht“ bei der Verfassungsrechtsprechung immer offensichtlicher der Gewaltenteilung zwischen dem Verfassungsgericht und dem Gesetzgeber zuwendet.

113 Zur Bedeutung der Rechtsdogmatik für die richterliche Rechtsanwendung s. Dreier, Zur Problematik und Situation der Verfassungsinterpretation, S. 18 ff. 114 Böckenförde, Diskussionsbeitrag, S. 173. 115 So K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1999, Rn. 60 ff.

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2. Die gegenwärtige Kritik an der Verfassungsgerichtsbarkeit auf dem Hintergrund der Tradition der Rechtsanwendung a) Die Aufnahme der Kelsen-Linie im Grundgesetz aa) Die zentralisierte Verfassungsgerichtsbarkeit und der besondere Status des BVerfG Wie oben erwähnt, wurde Kelsens Auffassung zur Einrichtung eines zentralisierten Verfassungsgerichts zur Gewährleistung der Recht- und Verfassungsmäßigkeit der Staatsfunktionen ins Grundgesetz aufgenommen116. Das BVerfG als Hüter der Verfassung zeigt sich besonders deutlich durch seine Kompetenz zur Normenkontrolle, die die Akte des Gesetzgebers einer verfassungsgerichtlichen Überprüfung unterwirft117. Indem die politischen Akte des Gesetzgebers einer rechtlichen Kontrolle durch das BVerfG unterworfen werden, kann das Verhältnis zwischen dem Verfassungsgericht und dem Gesetzgeber nicht mehr lediglich aus der Perspektive der Montesquieuschen Gewaltenteilung begriffen werden118. Vielmehr versteht das Grundgesetz das BVerfG nicht nur als Gericht, sondern als „ein mit höchster Autorität ausgestattetes Verfassungsorgan“119, so daß das BVerfG durch seine Rechtsprechung zugleich an der Ausübung der „obersten Staatsgewalt“ partizipiert120. Dieser Doppelcharakter bzw. der besondere Status des BVerfG spiegelt einerseits das politische Element der Verfassungsgerichtsbarkeit wider; andererseits deutet er aber gleichzeitig an, daß das BVerfG sich vom Gesetzgeber dadurch unterscheiden muß, daß es berechtigt und verpflichtet ist, die politischen Akte durch eine „rechtlich vernünftige Auslegung“121 verfassungsrechtlich zu kontrollieren, um seine Macht zweckmäßig, d. h. zur Sicherung der Recht- und Verfassungsmäßigkeit der Staatsfunktionen, auszuüben. Daher kreiste die typische Verfassungslehre der Bundesrepublik Deutschland immer wieder um die Methoden der Verfassungsinterpretation122, die darauf abzielen, Vgl. dazu oben 1. Teil unter I. 1. a). Dazu näher K. Chryssogonos, Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgebung. Zur Methode der Verfassungsinterpretation bei der Normenkontrolle, 1987, S. 29 ff. 118 Vgl. oben 1. Teil unter I. 1. a). 119 Denkschrift des Bundesverfassungsgerichts vom 27. Juni 1952: Die Stellung des Bundesverfassungsgerichts, in: JöR N.F. 6 (1957), S. 144 f. 120 Dazu H. Laufer, Verfassungsgerichtsbarkeit und politischer Prozeß. Studium zum Bundesverfassungsgericht der Bundesrepublik Deutschland, 1968, S. 301; K. Schlaich / S. Korioth, Das Bundesverfassungsgericht – Stellung, Verfahren, Entscheidungen, 5. Aufl. 2001, Rn. 31 f. 121 G. Leibholz, Bericht des Berichterstatters an das Plenum des Bundesverfassungsgerichts zur „Status“-Frage, in: JöR N.F. 6 (1957), S. 120, 126. 122 Vgl. etwa die Referate von P. Schneider und H. Ehmke (Prinzipien der Verfassungsinterpretation, in: VVDStRL 20 (1963), S. 1 ff., 53 ff.); Dreier / Schwegmann (Hrsg.), Probleme der Verfassungsinterpretation; E.-W. Böckenförde, Die Methoden der Verfassungsinterpreta116 117

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die verbindlichen Interpretationsvorgaben zu liefern und dadurch die Objektivität der Interpretation zu ermöglichen123.

bb) Garantie der Objektivität der Verfassungsinterpretation zur Sicherung des Rechtsanwendungscharakters der Verfassungsgerichtsbarkeit Hinsichtlich des Wesens der richterlichen Rechtsanwendung auch bei der Verfassungsrechtsprechung soll die juristische Methodenlehre der Verfassungsinterpretation dazu beitragen, den Richter (des Verfassungsgerichts) an einen in der Verfassungsnorm vorgegebenen objektiv-rechtlichen Maßstab zu binden, der typischerweise durch die Rechtsdogmatik gewonnen wurde. Daher betont Ernst Forsthoff die „Gesetzesform der Verfassung“ und damit die für die Verfassungs- wie für die Gesetzesinterpretation geltende „klassisch-hermeneutische“ Auslegungsmethode124, weil nach Forsthoff nur die die Rechtsdogmatik zugrunde legende traditionelle Methode der Verfassungsinterpretation in der Lage sein kann, die Evidenz und Stabilität der Verfassung zu sichern und dadurch die Ideologisierung oder Wertorientierung der Verfassungsrechtsprechung und deren Loslösung von der Verbindlichkeit der Verfassungsnorm zu vermeiden125. Auch die „Theorie der Rechtsgewinnung“ Martin Krieles126 und die „strukturierende Methodik“ Friedrich Müllers127 konzentrieren sich auf die Bindung des Richters an die Verfassung und damit die Kontrollierbarkeit und Objektivität der Verfassungsinterpretation. Zwar hat Kriele die Problematik der überkommenen juristischen Methode als „Beziehungslosigkeit zwischen den Theorien und der Praxis“128 diagnostiziert und eine Methodenlehre behauptet, die „uns sowohl ein richtiges theoretisches Verständnis des tion – Bestandsaufnahme und Kritik, in: NJW 1976, S. 2089 ff.; B. Schlink, Bemerkungen zum Stand der Methodendiskussion in der Verfassungsrechtswissenschaft, in: Der Staat 19 (1980), S. 73 ff. Zur Methodendiskussion in Verbindung mit der Weimarer Debatte s. H.-J. Koch (Hrsg.), Seminar: Die juristische Methode im Staatsrecht: über Grenzen von Verfassungs- und Gesetzesbindung, 1977. 123 Vgl. etwa M. Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung entwickelt am Problem der Verfassungsinterpretation, 1967, S. 24: „Gegenstand und Ziel der Methodendiskussion ist in erster Linie die Eingrenzung – und wenn möglich Ausschaltung – subjektiver Willkür bei der Auslegung und autoritativen Anwendung der Verfassung.“ 124 Zur Terminologie Böckenförde, Die Methoden der Verfassungsinterpretation, S. 2090. 125 Vgl. Forsthoff, Die Umbildung des Verfassungsgesetzes, S. 52 ff. Auch ders., Zur Problematik der Verfassungsauslegung, 1961, S. 22 ff. Deswegen hält Forsthoff die mit dem Übergang zum Sozialstaat populär werdende „geisteswissenschaftliche“ Auslegungsmethode für gefährlich, die „das Verfassugsrecht verunsichert, indem sie das Verfassungsgesetz . . . in (fallorientierter) Kasuistik auflöst“ (dazu ders., Die Umbildung des Verfassungsgesetzes, S. 61 ff., 72). Infolgedessen werde sie die Wendung vom Rechtsstaat zum Justizstaat herbeiführen (ebenda, S. 67, 71, 76 ff.). 126 Vgl. Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung. 127 Vgl. F. Müller, Juristische Methodik, 6. Aufl. 1995. 128 Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, S. 158.

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Denkvorgangs bei der Rechtsgewinnung im Verfassungsrecht, als auch Gesichtspunkte für eine praktisch fruchtbare Kritik der einzelnen Entscheidungen vermittelt“129; allerdings liegt die Rationalität der Verfassungsinterpretation durch deren Bindung an die Entscheidungen des Verfassungsgebers offenbar noch im Zentrum seiner These130. Dabei betont er neben der Verbindlichkeit der verfassungsgeberischen Entscheidungen aber zugleich die Bedeutung der Präjudizien131. Die Her129 Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, S. 17. In diesem Sinne ist Krieles Theorie (wie das topische Denken) problemorientiert. 130 Zum Verhältnis des Verfassungs- und Gesetzgebers zum Richter behauptet Kriele, daß „die gesetzgebende Gewalt kein Rechtsetzungsmonopol, sondern nur eine Rechtsetzungsprärogative hat. Das Verhältnis von Gesetz- und Verfassungsgeber einerseits und Richter andererseits ist demgemäß nicht das von Rechtssetzer und Rechtsanwender. Vielmehr hat der Richter eine originäre rechtsschöpferische Gewalt. Der Gesetz- und Verfassungsgeber kann aber die Entscheidung jeder rechtspolitischen Frage an sich ziehen und dem Juristen entweder Richtpunkte setzen oder auch detaillierte Vorschriften machen. Soweit er von seiner Prärogative Gebrauch gemacht hat, ist der Jurist an seine Entscheidungen gebunden.“ Ferner drückt er aus, Rechtsgewinnung sei nicht Auslegung im Sinne von Sinnbedeutung und Analogie, sondern vernunftrechtliche Erwägung von Normhypothesen, wobei alle Probleme insoweit abgeschnitten seien, als der Gesetz- und Verfassungsgeber sie entschieden habe. Ders., Theorie der Rechtsgewinnung, S. 311. 131 Im Hinblick auf sein Interesse an der Verknüpfung von Theorie und Praxis stellt Kriele vor allem die Bedeutung des Präjudizes heraus. Hier ist bemerkenswert, daß seine Auffassung zwar im Prinzip zutrifft, daß die Präzedenzfälle sowohl im deutschen als auch im angelsächsischen Rechtskreis grundsätzlich verbindlich sind und insofern in beiden Rechtskreisen gleichermaßen funktionieren (dazu S. 247); hinsichtlich des unterschiedlichen Denkmodells im common law- und kontinentaleuropäischen System soll aber betont werden, daß im wesentlichen die Präzedenzfälle unter dem Common Law als Grundlage für die richterliche Entscheidung fungieren und folglich als Quelle der Verbindlichkeit anzusehen sind, unter der kontinentaleuropäischen Tradition jedoch erst deshalb von Bedetung sind, weil sie für die Anwendung der Verfassung eine Interpretationsmöglichkeit oder gelegentlich ein Vorbild dargestellt haben. Mit anderen Worten: Sie fungieren als Hilfsmittel zur Verfassungsanwendung und -interpretation und werden erst auf dieser Ebene „verbindlich“. Folglich ist diese Bindung eher von „faktischer“ Bedeutung (Fikentscher, Methoden des Rechts in vergleichender Darstellung, Bd. III, S. 718; B. Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung: zum Wandel der Privatrechtsordnung im Nationalsozialismus (1967), 5. Aufl. 1997, S. 461; R. Alexy, Theorie der juristischen Argumentation. Die Theorie des rationalen Diskurses als Theorie der juristischen Begründung, 2. Aufl. 1991, S. 334 f.). Dazu Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 430: „Nicht das Präjudiz als solches ,bindet‘, sondern allein die darin richtig ausgelegte oder konkretisierte Norm.“ Infolgedessen bezeichnet auch Kriele die Präjudizien als „zusätzliche“ Bindung (dazu S. 245; auch 164 ff.). Allerdings ist die „Bindung“ als solche freilich nicht absolut. Vgl. G. Seyfarth, Die Änderung der Rechtsprechung durch das Bundesverfassungsgericht, 1998, S. 272: „Nach der herrschenden Auffassung in Deutschland soll das Bundesverfassungsgericht bereits immer dann von einer alten Entscheidung abweichen dürfen, wenn es diese für falsch entschieden erachtet.“ Die Bindungswirkung der Entscheidung des BVerfG nach § 31 I BVerfGG gilt nach der herrschenden Meinung nicht für das BVerfG selbst (dazu Schlaich / Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, Rn. 470; Seyfarth, Die Änderung der Rechtsprechung durch das Bundesverfassungsgericht, S. 200 – 203; T. Lundmark, Stare Decisis vor dem Bundesverfassungsgericht, in: Rechtstheorie 1997, S. 315, 327; (kritisch) M. Sachs, Die Bindung des Bundesverfassungsgerichts an seine Entscheidungen, 1977, S. 101 ff.). Von „faktischen“ Bindungswirkungen der verfassungsgerichtlichen

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ausstellung von Rationalität und Kontrollierbarkeit der richterlichen Entscheidung durch die Normbindung ist noch anschaulicher bei der juristischen Methodik Müllers. Schon durch seine Kritik an dem topischen Denken zeigt sich deutlich, was für eine Rolle in seiner These die „(richterliche) Bindung an den Normtext im Verfassungsrecht“ spielt. Er führt ausdrücklich aus: „Der nicht zuletzt für das Staatsund Verfassungsrecht verbindliche Primat der Normbindung macht die Vorstellung eines primär topischen Problembezugs unzulässig.“132 „Zwar ist rationale Konkretisierung im Verfassungsrecht schwieriger als in Rechtsgebieten mit dichter gearbeiteten Textzusammenhängen. Doch ist damit noch nicht gesagt, rechts(norm)theoretisch und methodisch müsse der Primat vom Normtext auf das Problem übergehen.“133 Nach seiner strukturierenden Methodik richtet sich die Bindung allerdings nicht auf die Bindung an „die“ Norm im Sinn des herkömmlichen positivistischen Normbildes, sondern auf die Bindung an „einen bestimmten Strukturbestandteil von Rechtsgestaltung“134. Spruchpraxis für sie selbst spricht H. Schulze-Fielitz, Wirkung und Befolgung verfassungsgerichtlicher Entscheidungen, in: P. Badura / H. Dreier (Hrsg.), FS 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, Band I, 2001, S. 385, 393; ähnlich Lundmark, Stare Decisis vor dem Bundesverfassungsgericht, S. 327 ff. Zum Unterschied des stare decisis unter dem Common Law von der bindenden Wirkung präjudizieller Entschiedungen in der kontinentaleuropäischen Tradition vgl. M. Cappelletti, The Doctrine of Stare Decisis and the Civil Law: A Fundamental Difference – or no Difference at all?, in: FS K. Zweigert, 1981, S. 381 ff.. Zur Bedeutung der Präjudizien bzw. des Richterrechts im deuschen Recht vgl. ferner J. Esser, Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des Privatrechts: rechtsvergleichende Beiträge zur Rechtsquellen- und Interpretationslehre, 4. Aufl. 1990, S. 14 ff., 267 ff.; W. Fikentscher, Methoden des Rechts in vergleichender Darstellung, Bd. IV: Dogmatischer Teil, Anhang, 1976, S. 313 ff.; K. Langenbucher, Die Entwicklung und Auslegung von Richterrecht: eine methodologische Untersuchung zur richterlichen Rechtsfortbildung im deutschen Zivilrecht, 1996; M. Reinhardt, Konsistente Jurisdiktion – Grundlegung einer verfassungsrechtlichen Theorie der rechtsgestaltenden Rechtsprechung, 1997, S. 271 ff., 409 ff.; R. Alexy / R. Dreier, Precedent in the Federal Republic of Germany, in: D. N. MacCormick / R. S. Summers (Hrsg.), Interpreting Precedents: a Comparative Study, 1997, S. 17 ff.; J. Ipsen, Richterrecht und Verfassung, 1975; H.-P. Schneider, Richterrecht, Gesetzesrecht und Verfassungsrecht. Bemerkungen zum Beruf der Rechtsprechung im demokratischen Gemeinwesen, 1968; H. Hofmann, Das Recht des Rechts, das Recht der Herrschaft und die Einheit der Verfassung, 1998, S. 29 – 39; F. Ossenbühl, Gesetz und Recht – Die Rechtsquellen im demokratischen Rechtsstaat, in: J. Isensee / P. Kirchhof (Hrsg.), HStR III, 1988, § 61, Rn. 35 – 41. 132 Müller, Juristische Methodik, S. 94. 133 Müller, Juristische Methodik, S. 98. Dagegen richtet sich die Topik weniger auf die Normbindung als auf die Problemlösung. Aufgrund der Tradition der Rechtsanwendung wurde die Auffassung der problemorientierten Topik kritisiert, weil das topische Problemdenken die als Grundlage der richerlichen Bindung geltende Rechtsnorm nur als einen unter allen relevanten Gesichtspunkte ansieht, die der Richter berücksichtigt. Zur Topik vgl. in erster Linie T. Viehweg, Topik und Jurisprudenz. Ein Beitrag zur rechtswissenschaftlichen Grundlagenforschung (1953), 5. Aufl. 1974. Vgl. auch Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, S. 114 – 153; Ehmke, Prinzipien der Verfassungsinterpretation, S. 55 ff., 59 ff. Zum Problemdenken im Zivilrecht s. auch Esser, Grundsatz und Norm, S. 44 ff., 218 ff.; C. –W. Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz entwickelt am Beispiel des deutschen Privatrechts, 2. Aufl. 1983, S. 135 ff.

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Der Themenkreis der traditionellen Diskussion um die Verfassungsgerichtsbarkeit nach dem Grundgesetz betrifft also in erster Linie die Garantie der Objektivität, und zwar vor allem die Methoden der Verfassungsinterpretation135. Dies ist in der Hinsicht besonders folgerichtig, daß das BVerfG als aufgrund der Verfassung der gesetzgeberischen politischen Entscheidung rechtliche Grenzen ziehendes Organ sein Wesen der Rechtsanwendung beibehalten muß, denn nach der herrschenden Meinung können die Methoden der Verfassungsinterpretation dazu beitragen, durch die Eingrenzung subjektiver Willkür des Interpreten die Verfassungsinterpretation an die Verfassung zu binden und sie in der Weise als Verfassungsrechtsanwendung zu kontrollieren. Die Verfassungsrechtsdogmatik, die zur Grundlage für die Verfassungsinterpretation dient, spielt also immer noch eine bedeutsame Rolle für die Rechtsanwendung des BVerfG. Auch besonders aus der Perspektive der Tradition der Rechtsanwendung ist Böckenfördes Behauptung zuzustimmen, daß eine verbindliche Verfassungstheorie erforderlich ist, die nur möglich ist „als in der Verfassung ausdrücklich oder implizit enthaltene Verfassungstheorie“, die „aus Verfassungstext und Verfassungsentstehung mit rationalen Erkenntnismitteln erhebbar ist“136. Gerade dieses Argument hat die Bedeutung der „verbindlichen“ Verfassungstheorie für den Rechtsanwendungscharakter des BVerfG angedeutet, die dazu beitragen soll, durch die dogmatische, materiell-rechtliche Entwicklung im Verfassungsrecht einen objektiven rationalen Maßstab für die Verfassungsrechtsanwendung anzubieten und die Objektivität und Kontrollierbarkeit der Verfassungsinterpretation zu garantieren. Demgegenüber hat vor dem Hintergrund der Tradition der Rechtsanwendung das Verhältnis zwischen der Verfassungsgerichtsbarkeit und der Gesetzgebung im Gefüge der Staatsfunktionen in den typischen Diskussionen um die Machtausübung des BVerfG weniger Aufmerksamkeit erregt137. Die Gewaltenteilung von Verfassungsgericht und Gesetzgeber wurde in den frühesten Jahren des Grundgesetzes kaum als Kernpunkt der Problematik der Verfassungsgerichtsbarkeit angesehen, oder genauer ausgedrückt, sie war schon durch die Tradition der Unterscheidung zwischen Rechtsanwendung und Rechtsetzung so deutlich bestimmt, daß sie kaum zum Problem werden konnte. Dazu läßt sich freilich auch sagen, daß bereits die Sicherung des Rechtsanwendungscharakters des BVerfG der Gewährleistung der Gewaltenteilung dient. Der Punkt liegt jedoch darin, daß trotz der starken Ver134 Müller, Juristische Methodik, S. 99. Müller geht davon aus, die Rechtsnorm müsse im Fall jeweils erst produziert werden (ebenda, S. 30). 135 Die vorherrschende Herausstellung der Methodik zeigt sich schon deutlich durch die Einwände gegen Kriele, die in erster Linie dadurch gekennzeichnet sind, daß Kriele „die methodische Kontrolle der Interpretation“ vernachläßigt (so Riecken, Verfassungsgerichtsbarkeit in der Demokratie, S. 308. Vgl. auch Fn. 97 zu weiterführenden Literaturhinweisen). 136 Böckenförde, Die Methoden der Verfassungsinterpretation, S. 2098. 137 Ebenso C. Simons, Grundrechte und Gestaltungsspielraum. Eine rechtsvergleichende Untersuchung zum Prüfungsinstrumentarium von Bundesverfassungsgericht und US-amerikanischem Supreme Court bei der Normenkontrolle, 1999, S. 19 ff. Vgl. auch W. Brohm, Die Funktion des BVerfG – Oligarchie in der Demokratie?, in: NJW 2001, S. 1, 3.

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3. Teil: Die Beiträge der Entwicklungen in den USA zur Debatte in Deutschland

fassungsgerichtsbarkeit nach dem Grundgesetz die Unterscheidung von Rechtsanwendung und Rechtsetzung einen Hintergrund so prinzipiell gebildet hat, daß die Gewaltenteilung von Verfassungsgericht und Gesetzgeber klar und selbstverständlich scheint138. Dies gilt nicht nur auf der Seite der Rechtsanwendung des BVerfG, sondern aus der Perspektive der Rechtsetzung des Gesetzgebers, da anders als die amerikanische Rechtstradition die deutsche schon seit langem dem Gesetzgeber und dessen Gesetz fest vertraut und folgeweise ihm wichtige Befugnis zur Ausgestaltung und Gewährleistung individueller Freiheitsräume139 eingeräumt hat140. Das Gesetzesvorbehaltsprinzip, das im 19. Jahrhundert aus dem auf der Gegenüberstellung von monarchischer Exekutive und bürgerlichen Volksvertretungen beruhenden Rechtsstaatsdenken abgeleitet wurde und die zentrale Stellung des parlamentarischen Gesetzes verankerte141, gilt also immer noch, auch unter dem Grund138 Wie oben schon erwähnt, kann aber die Gewaltenteilungsstruktur unter dem Grundgesetz nicht mehr gänzlich aus der Montesquieuschen Perspektive betrachtet werden, derzufolge der die Justiz ihrem Wesen nach keineswegs mit der politischen Herrschaft von Menschen über Menschen zu tun haben und in diesem Sinne streng von der Legislative getrennt werden soll. Die hier erwähnte „klare“ und „selbstverständliche“ Gewaltenteilung bedeutet vielmehr, daß trotz der „Sonderstellung“ des BVerfG eine klare Gewaltenteilung zwischen dem Verfassungsgericht und dem Gesetzgeber nach der Unterscheidung von Verfassungsrechtsanwendung und Rechtsetzung theoretisch immer noch deutlich und erreichbar ist. Das BVerfG, das die politische gesetzgeberische Gewalt rechtlich kontrolliert, kann nur dann zweckmäßig funktionieren, wenn es stets an die Verfassung gebunden ist und sich in der Weise als Verfassungsrechtsanwender betätigt. 139 Vgl. O. Lepsius, Besprechung von P. Kirchhof / D. Kommers (Hrsg.), Deutschland und sein Grundgesetz, in: AöR 119 (1994), S. 161, 162: „Gesetze haben in Deutschland auch eine freiheitsbewährende Wirkung und werden nicht nur, wie ursprünglich in Amerika, als etwas Freiheitsbedrohendes angesehen. Im Gegenteil, das Gesetz soll oft das Grundrecht ausgestalten und den Ausgleich zwischen Grundrechtskonflikten herbeiführen (Gesetzesvorbehalt).“ Vgl. auch ders., Die erkenntnistheoretische Notwendigkeit des Parlamentarismus, in: M. Bertschi u. a. (Hrsg.), Demokratie und Freiheit, 1999, S. 123, 125 f.; R. Wahl / J. Masing, Schutz durch Eingriff, in: JZ 1990, S. 553, 560. Dazu allgemein G. Morgenthaler, Freiheit durch Gesetz: der parlamentarische Gesetzgeber als Erstadressat der Freiheitsgrundrechte, 1999. Aus dieser Perspektive läßt sich auch verstehen, weshalb die Entfaltung der objektiven Dimension der Grundrechte [s. unten b) bb)], deren Verwirklichung der gesetzgeberischen Ausgestaltung bedarf, in Deutschland, aber niemals in Amerika stattfindet. 140 Vgl. etwa E. Fraenkel, Das amerikanische Regierungssystem: eine politologische Analyse, 4. Aufl. 1981, S. 174: „Die Väter der deutschen Konstitutionen erblickten den mutmaßlichen Störer dieser Rechtsgüter in der Exekutive und ihren zuverlässigsten Garanten in der Legislative. Die Väter der amerikanischen Verfassung erblickten den mutmaßlichen Störer dieser Rechtsgüter in der Legislative und ihren zuverlässigsten Garanten in der Justiz.“ Zu diesem Unterschied in der amerikanischen und der deutschen Tradition vgl. auch Lepsius, Verwaltungsrecht unter dem Common Law, S. 207 – 216. 141 Zum geschichtlichen Hintergrund des Gesetzesvorbehalts und zu seiner Bedeutung für das Verhältnis Legislative-Exekutive D. Jesch, Gesetz und Verwaltung. Eine Problemstudie zum Wandel des Gesetzmäßigkeitsprinzips, 1961, S. 108 ff.; J. Staupe, Parlamentsvorbehalt und Delegationsbefugnis: Zur „Wesentlichkeitstheorie“ und zur Reichweite legislativer Regelungskompetenz, insbesondere im Schulrecht, 1986, S. 42 ff.; F. Ossenbühl, Der Vorbehalt des Gesetzes und seine Grenzen, in: V. Götz / H. Hugo Klein / C. Starck (Hrsg.), Die öffentliche Verwaltung zwischen Gesetzgebung und richterlicher Kontrolle, München 1985,

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gesetz, das in historischer Hinsicht die Gestaltungsfreiheit der Gesetzgebung schon in großem Maße eingeschränkt hat142. Infolgedessen demonstriert die Beibehaltung dieses Prinzips in erster Linie die zentrale Bedeutung des Gesetzes und des Gesetzgebers gegenüber der Exekutive im demokratischen Rechtsstaat143. Dieser zentrale Status besagt aber zugleich, daß das BVerfG, anders als der die individuellen Grundrechte vor Gesetzen schützende US-Supreme Court, die die Grundrechte ausgestaltende Funktion des Gesetzgebers zu beachten hat, solange es sich um Rechtsetzung handelt, oder anders gesagt, soweit das BVerfG durch seine Verfassungsrechtsanwendung keinen (verfassungsrechtlichen) Grund dafür findet, der gesetzgeberischen Machtausübung rechtliche Grenzen zu ziehen. Bereits in dieser Hinsicht richtet sich der Vorbehalt des Gesetzes nicht nur auf das Verhältnis Legislative-Exekutive, sondern auch auf das Verhältnis Legislative-Judikative144, 145. S. 9, 15 ff.; ders., Vorrang und Vorbehalt des Gesetzes, in: J. Isensee / P. Kirchhof (Hrsg.), HStR III, 1988, § 62, Rn. 7 ff.; ferner W. Krebs, Vorbehalt des Gesetzes und Grundrechte. Vergleich des traditionellen Eingriffsvorbehalts mit den Grundrechtsbestimmungen des Grundgesetzes, 1975, S. 16 ff. Vgl. auch K. Sobota, Das Prinzip Rechtsstaat: verfassungsund verwaltungsrechtliche Aspekte, 1997, 107 ff., zum Gesetzesvorbehalt unter dem Rechtsstaatsprinzip. 142 Dies kommt in erster Linie durch Art. 1 Abs. 3 sowie Art. 20 Abs. 3 GG zum Ausdruck. Siehe dazu unten b). Vgl. schon an dieser Stelle D. Grimm, Der Wandel der Staatsaufgaben und die Krise des Rechtsstaates, in: ders., Die Zukunft der Verfassung, 1991, S. 159, 166: „Der Rechtsstaat, auch der materielle und soziale, erzielt seine Wirkung vermittels des Gesetzes.“ (Dies unter Verweis auf K. Hesse, Der Rechtsstaat im Verfassungssystem des Grundgesetzes, abgedruckt in: E. Forsthoff (Hrsg.), Rechtsstaatlichkeit und Sozialstaatlichkeit, 1968, S. 557 ff.) 143 Zur Herrschaft des Gesetzes in der parlamentarischen Demokratie etwa P. Badura, Die parlamentarische Volksvertretung und die Aufgabe der Gesetzgebung, in: ZG 1987, S. 300 ff.; ders., Diskussionsbeitrag, in: VVDStRL 40 (1982), S. 105, 107; K. Eichenberger, Gesetzgebung im Rechtsstaat, in: VVDStRL 40 (1982), S. 7, 9 f.; H. Dreier, Hierarchische Verwaltung im demokratischen Staat: Genese, aktuelle Bedeutung und funktionelle Grenzen eines Bauprinzips der Exekutive, 1991, S. 160 ff.; E. Schmidt-Aßmann, Das allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee: Grundlagen und Aufgaben der verwaltungsrechtlichen Systembildung, 1998, S. 160 ff..; P. M. Huber, Die parlamentarische Demokratie unter den Bedingungen der europäischen Integration, in: P. M. Huber / W. Mößle / M. Stock (Hrsg.), Zur Lage der parlamentarischen Demokratie, 1995, S. 105, 110 f.; Lepsius, Die erkenntnistheoretische Notwendigkeit des Parlamentarismus, S. 124 f.; Jesch, Gesetz und Verwaltung, S. 92 ff. Schon H. Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie (1929), 2. Aufl. 1963, S. 69 ff. 144 Vgl. etwa Ossenbühl, Vorrang und Vorbehalt des Gesetzes, Rn. 48; M. Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande: Untersuchung zur normativen Ausgestaltung der Freiheitsrechte, 2000, S. 393 f., zur Bedeutung des Gesetzesvorbehaltsprinzips nicht nur für das Verhältnis Legislative-Exekutive, sondern auch für das Verhältnis LegislativeJudikative. 145 Das Verhältnis Legislative-Judikative läßt sich daher im Rahmen der deutschen Tradition der zentralen Stellung des Gesetzes begreifen. Dazu ist allerdings zu bemerken, daß das Legislative-Judikative Gewaltenteilungsproblem in Deutschland viel komplizierter als das in den USA ist, sofern es in Deutschland von den politischen Hintergründen inklusive der langen Tradition von Monarchie abhängt, die sicherlich auch die theoretischen sowie praktischen Stellungnahmen zur richterlichen Normenkontrolle und Einrichtung der Verfassungs-

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cc) Die Konkretisierung der Verfassungsnorm durch das BVerfG Vor dem Hintergrund, daß nach der Unterscheidung von Rechtsanwendung und Rechtsetzung die Gewaltenteilung zwischen dem BVerfG und dem Gesetzgeber für unproblematisch gehalten wird, bemühen sich die einschlägigen Diskussionen immer wieder um die zweckmäßigste Gestaltung der Funktion des Verfassungsgerichts als Kontrolleur der politischen Gewalt und daher um die Garantie der Rationalität und Objektivität der Verfassungsinterpretation. Dies hat, wie angedeutet, für die Tradition der Rechtsanwendung freilich eine unterstützende Bedeutung, denn es dient durch die Entwicklung der Verfassungsrechtsdogmatik und der Methoden der Verfassungsinterpretation der Vervollständigung der verfassungsrechtlichen Vorgaben für die Verfassungsrechtsanwendung des BVerfG. Das Verhältnismäßigkeitsprinzip als verfassungsgerichtlicher Kontrollmaßstab ist z. B. typischer Ausdruck einer dogmatischen Entwicklung146. Aber auch im Hinblick auf die Tradition der Rechtsanwendung wird die Fähigkeit der verfassungsrechtlichen Vorgaben zur Bindung des BVerfG fragwürdig: Wenn die Verfassung sich gegenüber dem Gesetz einerseits durch ihre inhaltliche Offenheit und Unbestimmtheit auszeichnet und das BVerfG andererseits als authentischer Interpret der Verfassung dient, muß die Frage aufgeworfen werden, ob und inwieweit die Bindung des Richters des Verfassungsgerichts an die Verfassung geltend zu machen ist. Der Appell für eine Rückkehr zur traditionellen juristischen gerichtsbarkeit beeinflußt haben. Da aber die vorliegende Untersuchung sich auf die heutige Lage der Verfassungsgerichtsbarkeit konzentriert und in erster Linie der gegenwärtigen Problematik des Verfassungsgerichts gegenüber dem Gesetzgeber nachgehen will, spielen die einschlägigen Diskussionen vor dem monarchischen Hintergrund nur dann eine Rolle, wenn sie für die Entwicklungen unter dem Grundgesetz von Bedeutung sind. Zur Untersuchung der Normenkontrolle im 19. Jahrhundert vgl. etwa R. v. Mohl, Staatsrecht, Völkerrecht und Politik, Bd. 1 (1860), 1962, S. 66 – 95. Zur historischen Darstellung der Entwicklung der Institution der Verfassungsgerichtsbarkeit Fricke, Zur Kritik an der Staats- und Verfassungsgerichtsbarkeit im verfassungsstaatlichen Deutschland, S. 7 ff. 146 Zum Verhältnismäßigkeitsprinzip B. Schlink, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, in: P. Badura / H. Dreier (Hrsg.), FS 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, Band II, 2001, S. 445 ff.; H. Schneider, Zur Verhältnismäßigkeits-Kontrolle insbesondere bei Gesetzen, in: C. Starck (Hrsg.), Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz Bd.II, 1976, S. 390 ff.; P. Wittig, Zum Standort des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im System des Grundgesetzes, in: DÖV 1968, S. 817 ff.; erwähnt schon in H. Krüger, Die Einschränkung von Grundrechten nach dem Grundgesetz, in: DVBl. 1950, S. 625, 628; auch P. Lerche, Übermass und Verfassungsrecht. Zur Bindung des Gesetzgebers an die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und der Erforderlichkeit, 1961. Eingehend zur historischen Entwicklung B. Remmert, Verfassungs- und verwaltungsgeschichtliche Grundlagen des Übermaßverbotes, 1995; zur Entwicklung in der Verfassungsrechtsprechung E. Grabitz, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, in: AöR 98 (1974), S. 568 ff. Die Verwendung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit spiegelt den Grundgedanken der typischen deutschen Grundrechtsgewährleistung genau wider, die ihrer Natur nach nicht absolut und einer Abwägung von betroffenen Rechtsgütern zu unterwerfen ist. Aus dieser Perspektive läßt sich der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als dogmatischer Maßstab für die verfassungsgerichtliche Abwägung ansehen.

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Methode unter der Prämisse der Gleichsetzung von Verfassung und Gesetz übersieht also die Eigenart der Verfassungsnorm, die selbst als Rahmenordnung147 nicht in der Lage ist, die verbindlichen objektiv-rechtsdogmatischen Vorgaben für die bundesverfassungsgerichtliche Rechtsanwendung vollständig zu liefern148. In dieser Hinsicht ist Kelsens Anforderung, Grundsätze, Richtlinien und Schranken für den Inhalt der Gesetze in der Verfassung so präzise wie möglich zu bestimmen, um subjektive Willkür in der Verfassungsinterpretation zu vermeiden149, in der Tat nicht vollziehbar; vielmehr wird eine Konkretisierung150 unentbehrlich, und zwar 147 So Böckenförde, Die Methoden der Verfassungsinterpretation, S. 2091. Zum Begriff schon ders., Die Eigenart des Staatsrechts und der Staatsrechtswissenschaft, in: ders., Staat, Verfassung, Demokratie, 1991, S. 11, 13 f., 17 f., 22 f.: „Dogmatische Interpretation und Bearbeitung ist nicht an detaillierte, kodifikationsartige rechtliche Regelungen gebunden. Gerade um den rahmenartigen Charakter und das oftmals Unvollständige und Fragmentarische staatsrechtlicher Regelungen im Verfassungsbereich nicht zu überspielen, ist es vielmehr erforderlich, normativ Gegebenes und Festgelegtes von nicht Geregeltem und offengehaltenen Spielräumen, inhaltlich bestimmte Normierungen von der Aufstellung von Prinzipien, die konkretisierungsoffen sind, zu unterscheiden.“ (Hervorhebung von der Verfasserin) Vgl. auch N. Manterfeld, Die Grenzen der Verfassung: Möglichkeiten limitierender Verfassungstheorie des Grundgesetzes am Beispiel E. –W. Böckenfördes, 2000, S. 45 f.; R. Wahl, Der Vorrang der Verfassung, in: ders., Verfassungsstaat, Europäisierung, Internationalisierung, 2003, S. 121, 148; D. Grimm, Verfassung, in: ders., Die Zukunft der Verfassung, 1991, S. 11, 17 f.; J. Isensee, Verfassungsrecht als „politisches Recht“, in: ders. / P. Kirchhof (Hrsg.), HStR VII, 1992, § 162, Rn. 43 ff.; P. Lerche, Stil und Methode der verfassungsrechtlichen Entscheidungspraxis, in: P. Badura / H. Dreier (Hrsg.), FS 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, Band I, 2001, S. 333, 345; P. Unruh, Der Verfassungsbegriff des Grundgesetzes: eine verfassungstheoretische Rekonstruktion, 2002, S. 408 – 416; R. Alexy, Verfassungsrecht und einfaches Recht – Verfassungsgerichtsbarkeit und Fachgerichtsbarkeit, in: VVDStRL 61 (2002), S. 7, 14 f. 148 Ebenso Böckenförde, Die Methoden der Verfassungsinterpretation, S. 2090 f. 149 Kelsen, Wesen und Entwicklung der Staatsgerichtsbarkeit, S. 70. Vgl. auch ders., Wer soll der Hüter der Verfassung sein?, S. 595: „Wünscht man die Macht der Gerichte und damit den politischen Charakter ihrer Funktion zu restringieren – eine Tendenz, die bei der konstitutionellen Monarchie besonders hervortritt, die aber auch in der demokratischen Republik zu beobachten ist, dann muß der Spielraum freien Ermessens, den die Gesetze ihrer Anwendung einräumen, möglichst eng gezogen sein. Dann dürfen die einem Verfassungsgericht zur Anwendung stehenden Verfassungsnormen, insbesondere jene, mit denen der Inhalt künftiger Gesetze bestimmt wird, wie die Bestimmungen über die Grundrechte u. dgl. nicht zu allgemein gefaßt sein, nicht mit vagen Schlagworten wie ,Freiheit‘, ,Gleichheit‘, ,Gerechtigkeit‘ usw. operieren.“ 150 Im Hinblick auf die Offenheit und Unbestimmtheit der Verfassungsnorm bedeutet die Konkretisierung hier, wie Böckenförde dargelegt hat, „die gestaltend-schöpferische Entwicklung anwendungsfähiger rechtlicher Normen aus einem Prinzip, die dieses Prinzip erst mit einem bestimmten Inhalt füllen, nicht diesen nachvollziehend erkennen“, nicht (nur) „Bildung von Untersätzen, die die Subsumtion des zu entscheidenden Sachverhalts ermöglichen, aus den vorhandenen rechtlichen Normen“. Zu diesen zwei unterschiedlichen Begriffen der Konkretisierung vgl. E. –W. Böckenförde, Grundrechte als Grundsatznormen. Zur gegenwärtigen Lage der Grundrechtsdogmatik, in: Der Staat 20 (1990), S. 1, 22 (Fn. 85) unter Hinweis auf H. Huber, Die Bedeutung der Grundrechte für die sozialen Beziehungen unter den Rechtsgenossen, abgedruckt in: Forsthoff (Hrsg.), Rechtsstaatlichkeit und Sozialstaatlichkeit, S. 259, 284 f. Allgemein zur Konkretisierung K. Engisch, Die Idee der Konkretisierung in Recht und Rechtswissenschaft unserer Zeit, 1953. Zur Problematik der Konkretisierung auch

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ist nach dem Grundgesetz die Konkretisierung der Verfassungsnorm durch das Verfassungsinterpretationsorgan, also durch das BVerfG vorzunehmen. Dies führt jedoch dazu, daß das rechtsanwendende BVerfG wegen der Offenheit und Unbestimmtheit der Verfassungsnorm durch seine „authentische Verfassungsinterpretation“151 die Verfassungsrechtsdogmatik selbst entwickeln muß, um nachfolgender Rechtsanwendung eine komplettere dogmatische Interpretationsgrundlage anzubieten152. Es ist deshalb kein Wunder, daß sich die Entwicklung der Verfassungsgerichtsbarkeit nach dem Grundgesetz am sogenannten „Bundesverfassungsgerichtspositivismus“ orientiert153. Bedenklicher ist aber ferner, daß diese Entwicklungstendenz in der Folge das Verhältnis zwischen der Verfassungsgerichtsbarkeit und der Gesetzgebung auch beeinflußt, indem das BVerfG den Verfassungsinhalt auf dem Hintergrund des sogenannten „materiellen Rechtsstaates“ konkretisiert. Unter der Prämisse der Unumgänglichkeit einer verfassungsgerichtlichen Konkretisierung, die nicht einfach durch die Normbindung der Rechtsanwendung kontrollierbar scheint, will Kriele, wie Bernhard Schlink zusammenfasst, „die Vernünftigkeit der Methodenwahl auf die drei Elemente der Orientierung an Maximen, der Erwägung der Folgen der Maximen und der Abwägung der betroffenen Interessen nach ihrer mehr oder weniger fundamentalen Bedeutung stützen.“154 Auch Müller H. Huber, Über die Konkretisierung der Grundrechte, in: P. Saladin / L. Wildhaber (Hrsg.), Der Staat als Aufgabe. Gedenkschrift für Max Imboden, 1972, S. 191 ff. 151 Die verfassungsgerichtliche Normenkontrolle bezeichnet Böckenförde als „authentische Verfassungsinterpretation und damit Verfassungsgesetzgebung“. Siehe ders., Die Methoden der Verfassungsinterpretation, S. 2099 (Fn. 113). Vgl. auch schon Schmitt, Der Hüter der Verfassung, S. 42 ff. (45). Dagegen Schlaich / Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, Rn. 111. 152 Hier zeigt sich die oben erwähnte Bedeutung der Präzedenzfälle in der deutschen Tradition, daß nämlich die Entscheidungen des BVerfG als Präjudizien verbindlich werden, sofern sie als Hilfsmittel zur Verfassungsanwendung und –interpretation dienen. Aus dieser Persepktive zeigt sich auch deutlich, daß die deutsche Verfassungsgerichtsbarkeit in ihrer Verfassungsinterpretation die Verfassungsnorm immer wieder durch eine dogmatische, materiell-rechtliche Entwicklung konkretisiert und sich auf diese Weise vom amerikanischen judicial review unterscheidet. 153 Von „(Bundes-)Verfassungsgerichtspositivismus“ vor dem Hintergrund der Entthronung der Staatsrechtswissenschaft spricht Schlink, Die Entthronung der Staatsrechtswissenschaft durch die Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 168 ff.; mit Blick auf das Verhältnis von Verfassungsgericht und Verfassungsgesetzgeber M. Jestaedt, Verfassungsgerichtspositivismus. Die Ohnmacht des Verfassungsgesetzgebers im verfassungsgerichtlichen Jurisdiktionsstaat, in: Nomos und Ethos: Hommage an Josef Isensee zum 65. Geburtstag, 2002, S. 183 ff. Die heutige Entwicklungstendenz bezeichnet Thomas Vesting als „Wissenschaftspragmatismus“ bzw. „richterrechtlichen Rechtsprechungspositivismus“ (unter Bezugnahme auf W. Schmidt, Grundrechte – Theorie und Dogmatik seit 1946 in Westdeutschland, in: D. Simon (Hrsg.), Rechtswissenschaft in der Bonner Republik: Studien zur Wissenschaftsgeschichte der Jurisprudenz, 1994, S. 188, 209). Vgl. T. Vesting, Gegenstandsadäquate Rechtsgewinnungstheorie–Eine Alternative zum Abwägungspragmatismus des bundesdeutschen Verfassungsrechts?, in: Der Staat 2002, S. 73. Von „Rechtsprechungspositivismus“ spricht auch Klaus Adomeit (Der Rechtspositivismus im Denken von Hans Kelsen und von Gustav Radbruch, in: JZ 2003, S. 161, 166).

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hat richtig erkannt, daß die richterliche Entscheidung ihrem Wesen nach als Normkonkretisierung anzusehen ist155; erst auf dieser Basis entwickelt er seine Methodik. Die Entstehung der Ansätze Krieles und Müllers, die, ausgehend von der Erkenntnis des schöpferischen oder konkretisierenden Elements der Verfassungsrechtsanwendung, auf die Rationalität und Kontrollierbarkeit der Verfassungsrechtsprechung abzielen, kann aber geleitet von der Betrachtung der Verfassung als Wertordnung angesichts der Erfahrung des Rechtsmißbrauchs im NS-Regime die Entwicklungstendenz zur materiellen Rechtsstaatlichkeit nicht grundlegend verändern, denn bereits die Entfaltung des Wertordnungsgedankens unter dem Grundgesetz hat sich zwangsläufig auf die Verstärkung der Verfassungsgerichtsbarkeit und gleichzeitig die Schwächung der gesetzgebenden Gewalt gerichtet156.

b) Die Ausweitung der Kompetenz des BVerfG aa) Vom formalen zum materiellen Rechtsstaat Die Wendung zum materiellen Rechtsstaatsbegriff zeigt sich an erster Stelle durch die Verfassungsbindung der Gesetzgebung und die Normierung von Grundrechten157. Auf der Grundlage des materiellen Rechtsstaates, der dadurch gekenn154 Schlink, Bemerkungen zum Stand der Methodendiskussion in der Verfassungsrechtswissenschaft, S. 78. Vgl. auch Riecken, Verfassungsgerichtsbarkeit in der Demokratie, S. 306: „Entscheidend ist damit, ob sich die Normhypothese im Einklang mit den verbindlichen Vorgaben in Verfassung und Gesetz und unter Beachtung der Präjudizien durch rechtspolitische, gerechtigkeitsbezogene Folgenabwägung rechtfertigen läßt.“ 155 Vgl. Müller, Juristische Methodik, S. 153 ff. 156 Sofort unten b). Auf der anderen Seite kann die Schwierigkeit der Versuche, durch eine bestimmte „angemessene“ oder „richtige“ Methode die Verfassungsinterpretation zu kontrollieren, in der Praxis darin bestehen, daß unter der „Methodenvielfalt“ das BVerfG selbst darüber entscheiden kann, welche Auslegungsmethode es auswählen und verwenden will. Von „Methodenvielfalt“ sprechen etwa Schlaich / Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, Rn. 494. Ähnlich G. Roellecke, Prinzipien der Verfassungsinterpretation in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, in: C. Starck (Hrsg.), Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz, Band II, 1976, S. 22, 23, 26; J. Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung. Rationalitätsgarantien der richterlichen Entscheidungspraxis, 1970, S. 7, 121 ff.; Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, S. 25 f. ; dagegen K. Larenz, Die Bindung des Richters an das Gesetz als hermeneutisches Problem, in: FS E. R. Huber, 1973, S. 291, 294 ff. Fundamentaler beobachtet aber ist das Scheitern solchen Versuchs darauf zurückzuführen, daß die Methodenlehre bzw. Theorie der Rechtsanwendung ihrer Funktion nach nicht auf die Schranke oder Abwehr, sondern auf die Verwirklichung der in der Rechtsgemeinschaft maßgebenden Rechts- und Wertvorstellungen gerichtet ist. So Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, S. 442 ff.; ders., Rechtstheorie: Begriff, Geltung und Anwendung des Rechts, 1999, Rn. 991 ff.; ders., Demokratischer Rechtsstaat oder oligarchischer Richterstaat?, in: JZ 2002, 365, 368. Vgl. auch Grimm, Methode als Machtfaktor, S. 368 f. 157 So E. Schmidt-Aßmann, Der Rechtsstaat, in: J. Isensee / P. Kirchhof (Hrsg.), HStR I, 1987, § 24, Rn. 19. Vgl. auch I. Richter / G. F. Schuppert / C. Bumke, Casebook Verfassungsrecht, 4. Aufl. 2001, S. 312: „Eckpfeiler eines solchen materialen Rechtsstaatsverständnisses

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zeichnet ist, daß „die staatliche Gewalt vorab an bestimmte oberste Rechtsgrundsätze oder Rechtswerte gebunden erachtet und der Schwerpunkt staatlicher Tätigkeit nicht primär in der Gewährleistung formaler Freiheitsverbürgungen, sondern in der Herstellung eines materiell gerechten Rechtszustandes gesehen wird“158, ist also die Legitimität der rechtlichen Kontrolle der politischen Gesetzgebung durch die Verfassungsgerichtsbarkeit noch ersichtlicher dargestellt, deren Konkretisierung der Verfassungsnorm durch den Appell des BVerfG an „bestimmte oberste Rechtsgrundsätze oder Rechtswerte“ leicht gerechtfertigt, sozusagen noch als Rechtsanwendung bezeichnet werden kann159. Besonders vor diesem Hintergrund läßt sich die bundesverfassungsgerichtliche Erläuterung zur Formel „Gesetz und Recht“ (Art. 20 Abs. 3 GG) begründen: Die Formel hält das Bewußtsein aufrecht, daß sich Gesetz und Recht zwar faktisch im allgemeinen, aber nicht notwendig und immer decken. Das Recht ist nicht mit der Gesamtheit der geschriebenen Gesetze identisch. Gegenüber den positiven Satzungen der Staatsgewalt kann unter Umständen ein Mehr an Recht bestehen, das seine Quelle in der verfassungsmäßigen Rechtsordnung als einem Sinnganzen besitzt und dem geschriebenen Gesetz gegenüber als Korrektiv zu wirken vermag; es zu finden und in Entscheidungen zu verwirklichen, ist Aufgabe der Rechtsprechung. . . . Die Aufgabe der Rechtsprechung kann es insbesondere erfordern, Wertordnungen, die der verfassungsmäßigen Rechtsordnung immanent, aber in den Texten der geschriebenen Gesetze nicht oder nur unvollkommen zum Ausdruck gelangt sind, in einem Akt des bewertenden Erkennens, dem auch willenhafte Elemente nicht fehlen, ans Licht zu bringen und in Entscheidungen zu realisieren. Der Richter muß sich dabei von Willkür freihalten; seine Entscheidung muß auf rationaler Argumentation beruhen. Es muß einsichtig gemacht werden können, daß das geschriebene Gesetz seine Funktion, ein Rechtsproblem gerecht zu lösen, nicht erfüllt. Die richterliche Entscheidung schließt dann diese Lücke nach den Maßstäben der praktischen Vernunft und den „fundierten allgemeinen Gerechtigkeitsvorstellungen der Gemeinschaft“ . . .160.

sind die Gewährleistung und unmittelbare Geltungskraft der Grundrechte, die verfassungsrechtliche Konstituierung des Rechtsstaates als sozialer Rechtsstaat und die in der Rechtsprechung des BVerfG immer wieter betonte Betrachtung der Verfassung als Wertordnung.“ Vgl. ferner Forsthoff (Hrsg.), Rechtsstaatlichkeit und Sozialstaatlichkeit, zur Wendung vom liberalen zum sozialen Rechtsstaat, die eng mit dem Übergang zum materiellen Rechtsstaat verbunden ist. 158 E.-W. Böckenförde, Entstehung und Wandel des Rechtsstaatsbegriffs, in: ders., Recht, Staat, Freiheit, 1991, S. 143, 164. 159 Der Appell an „bestimmte oberste Rechtsgrundsätze oder Rechtswerte“ oder einfach an die Verfassung als „Wertordnung“ erinnert an die Spannung von Legalität und Legitimität, in historischer Hinsicht also an die Abkehr vom juristischen Positivismus in der Weimarer Zeit. Die vorhergehende Darstellung zum damaligen Methodenstreit hat deutlich gezeigt, daß auch die geisteswissenschaftliche Richtung in der Tradition der Rechtsanwendung bleibt, sofern sie die Objektivität der (Verfassungs-) Interpretationsgrundlage, sei es Rechtsgrundsatz, sei es Rechtswert, betont. 160 BVerfGE 34, 269 (286 f.). Zu dieser Formel vor dem Hintergrund der „Diskreditierung der Legalität, der formalen Gesetzesmäßigkeit“ schon E. Forsthoff, Die Bindung an Gesetz und Recht (Art. 20 Abs. 3 GG). Strukturanalytische Bemerkungen zum Übergang vom Rechtsstaat zum Justizstaat, in: DÖV 1959, S. 41, 43.

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Der materielle Rechtsstaatsbegriff hat in der Weise nicht nur den Gesetzgeber der Verfassungsbindung, insbesondere der unmittelbaren Bindung an die Grundrechte (Art. 1 Abs. 3 und Art. 20 Abs. 3 GG) unterworfen, sondern das Element der Verfassungskonkretisierung in der Verfassungsrechtsprechung sehr unterstützt und sogar verstärkt, denn angesichts der Offenheit oder des Prinzipiencharakters der Verfassungsnormen, insbesondere der Grundrechte, hat besonders das BVerfG die Aufgabe, die „Wertordnungen (der Verfassung) ans Licht zu bringen und im Einzelfall zu realisieren“, die aber jedenfalls erst durch seine Konkretisierung der Verfassung zu bestimmen sind. Dies führt infolgedessen dazu, daß das BVerfG durch sein Verständnis der Verfassung als Wertordnung die Gesetzgebung nicht nur aufgrund der Verfassung kontrolliert, sondern durch seine Realisierung der Wertordnung im Prozeß der Verfassungskonkretisierung die Reichweite der Gesetzgebung bestimmt161. In der Folge ist das Verhältnis zwischen dem rechtsetzenden Gesetzgeber und dem verfassungsrechtsanwendenden BVerfG durch die Entwicklung der Verfassungsgerichtsbarkeit verändert. bb) Grundrechte als subjektive Rechte und als objektive Normen Die Entfaltung der objektiven Dimensionen der Grundrechte hat ohne Zweifel das Zustandekommen des Wertordnungsbegriffs in der Grundrechtsdogmatik verkörpert. In dem bekannten und einflußreichen „Lüth-Urteil“162 hat das BVerfG explizit erklärt, daß die Grundrechte nicht nur als Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat, sondern als objektive Normen zu begreifen sind163. Seitdem werden aus 161 Zur Kritik an der vom Wertordnungsgedanken geleiteten Verfassungstheorie bzw. -rechtsprechung vgl. Forsthoff, Die Umbildung des Verfassungsgesetzes; C. Schmitt, Die Tyrannei der Werte, in: Säkularisation und Utopie. Ebracher Studien, FS E. Forsthoff, 1967, S. 37 ff.; E. –W. Böckenförde, Zur Kritik der Wertbegründung des Rechts, in: ders., Recht, Staat, Freiheit, 1991, S. 67 ff.; ders., Geschichtliche Entwicklung und Bedeutungswandel der Verfassung„ in: ders., Staat, Verfassung, Demokratie, 1991, S. 29, 49 ff.; H. Goerlich, Wertordnung und Grundgesetz. Kritik einer Argumentationsfigur des Bundesverfassungsgerichts, 1973, S. 135 ff.; E. Denninger, Freiheitsordnung – Wertordnung – Pflichtordnung. Zur Entwicklung der Grundrechtsjudikatur des Bundesverfassungsgerichts, in: Tohidipur (Hrsg.), Verfassung, Verfassungsgerichtsbarkeit, Politik, S. 163 ff.; Chryssogonos, Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgebung, S. 155. Dagegen R. Alexy, Theorie der Grundrechte, 1985, S. 137 ff., 477 ff.; B. Rüthers, Rechtsordnung und Wertordnung. Zur Ethik und Ideologie im Recht, 1986, S. 19 ff., 25 ff.; ders., Rechtstheorie, Rn. 752 ff.; C. Starck, Zur Notwendigkeit einer Wertbegründung des Rechts, in: Dreier (Hrsg.), Rechtspositivismus und Wertbezug des Rechts, S. 47, 49 ff. (vgl. aber ders., Die Grundrechte des Grundgesetzes. Zugleich ein Beitrag zu den Grenzen der Verfassungsauslegung, in: JuS 1981, S. 237, 239). 162 BVerfGE 7, 198. 163 BVerfGE 7, 198, S. 204 f.: „Ohne Zweifel sind die Grundrechte in erster Linie dazu bestimmt, die Freiheitssphäre des einzelnen vor Eingriffen der öffentlichen Gewalt zu sichern; sie sind Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat. . . . Ebenso richtig ist aber, daß das Grundgesetz, das keine wertneutrale Ordnung sein will, in seinem Grundrechtsabschnitt auch eine objektive Wertordnung aufgerichtet hat und daß gerade hierin eine prinzipielle Verstärkung der Geltungskraft der Grundrechte zum Ausdruck kommt. Dieses Wertsystem, das

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3. Teil: Die Beiträge der Entwicklungen in den USA zur Debatte in Deutschland

der Anerkennung der Grundrechte als objektive Grundsatznormen und Wertentscheidungen nicht nur die Drittwirkung der Grundrechte, die im Lüth-Urteil selbst entwickelt wurde164, sondern auch die der Organisations- und Verfahrensgarantie dienende Grundrechtsfunktion165 und die grundrechtlichen Schutzpflichten abgeleitet166. Auf diese Weise hat der Wertordnungsgedanke in der Praxis solche Bedeutung erlangt, daß sein Einfluß auf die Bindungswirkung der Grundrechte für den Gesetzgeber und auf sein Verhältnis zu dem die Grundrechte konkretisierenden BVerfG prinzipiell geworden ist. Da das Verständnis der Grundrechte als objektiver Normen in der Tat auf einem wertbezogenen Verfassungsgedanken beruht167, der sich unter der Offenheit der Grundrechtsnormen so entfaltet, daß die Ausdehnung der Kompetenz des BVerfG durch dessen „schöpferische“ Konkretisierung der Verfassung herbeigeführt ist, hat es durch die Fortentwicklungen der Verfassungsrechtsprechung das Verhältnis von Gesetzgebung zu Verfassungsgerichtsbarkeit grundlegend verändert. Die Gewaltentrennung zwischen dem Gesetzgeber und dem BVerfG kann insofern nicht mehr durch die klare Unterscheidung von Rechtsetzung und Rechtsanwendung gekennzeichnet werden. Vielmehr sind der Rechtsetzungscharakter der Gesetzgebung und der Rechtsanwendungscharakter der Verseinen Mittelpunkt in der innerhalb der sozialen Gemeinschaft sich frei entfaltenden menschlichen Persönlichkeit und ihrer Würde findet, muß als verfassungsrechtliche Grundentscheidung für alle Bereiche des Rechts gelten; Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung empfangen von ihm Richtlinien und Impulse.“ In diese Richtung bereits BVerfGE 6, 55 (71 f.). 164 Dazu BVerfGE 7, 198 (205 ff.). 165 Dazu etwa H. Goerlich, Grundrechte als Verfahrensgarantien. Ein Beitrag zum Verständnis des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland, 1981. 166 Zu den objektiven Dimensionen der Grundrechte Böckenförde, Grundrechte als Grundsatznormen; H. D. Jarass, Grundrechte als Wertentscheidungen bzw. objektivrechtliche Prinzipien in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, in: AöR 110 (1985), S. 363 ff.; ders., Die Grundrechte: Abwehrrechte und objektive Grundsatznormen. Objektive Grundrechtsgehalte, insbes. Schutzpflichten und privatrechtsgestaltende Wirkung, in: P. Badura / H. Dreier (Hrsg.), FS 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, Band II, 2001, S. 35 ff.; R. Alexy, Grundrechte als subjektive Rechte und als objektive Normen, in: der Staat 29 (1990), S. 49 ff.; F. Ossenbühl, Die Interpretation der Grundrechte in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, in: NJW 1976, S. 2100, 2101 ff.; neuerdings M. Dolderer, Objektive Grundrechtsgehalte, 2000; C.-Y. Chang, Zur Begründung und Problematik der objektiven Dimension der Grundrechte, 1999; R. Wahl, Die objektiv-rechtliche Dimension der Grundrechte im internationalen Vergleich, in: Merten / Papier, Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, § 19; Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, S. 36 ff. 167 Die Entfaltung der objektiven Dimensionen der Grundrechte läßt sich auf Smends Lehre zurückführen. So etwa Forsthoff, Die Umbildung des Verfassungsgesetzes, S. 53 ff., 62 (Fn. 18); E.-W. Böckenförde, Grundrechtstheorie und Grundrechtsinterpretation, in: ders., Staat, Verfassung, Demokratie, 1991, S. 115, 129 ff.; W. Hennis, Integration durch Verfassung? Rudolf Smend und die Zugänge zum Verfassungsproblem nach 50 Jahren unter dem Grundgesetz, in: JZ 1999, S. 485, 492; Korioth, Integration von Norm, Wert und Wirklichkeit, S. 215; Brohm, Die Funktion des BVerfG, S. 5; C. Starck, Das Grundgesetz nach fünfzig Jahren: bewährt und herausgefordert, in: JZ 1999, S. 473, 481; Alexy, Verfassungsrecht und einfaches Recht, S. 9 f.

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fassungsgerichtsbarkeit unter der einen Wertordnungsgedanken zugrunde legenden Betrachtung der Grundrechte als objektive Normen relativiert, indem die Grundrechtsanwendung des BVerfG wegen der Offenheit der Grundrechtsnormen und gleichzeitig unter der Leitung der Wertordnungsidee durch die Befugnis zur Konkretisierung einerseits modifiziert wird und die Rechtsetzungsfreiheit des Gesetzgebers durch die unmittelbare Bindungswirkung der Grundrechte andererseits eingeschränkt wird. Zwar kann jedenfalls argumentiert werden, daß das Verständnis der Verfassung als Wertordnung immer noch auf einem objektiven Maßstab fußt und das Wesen der Rechtsanwendung des BVerfG keineswegs verzerrt168. In der Hinsicht, daß die grundgesetzliche Verfassungsgerichtsbarkeit nach der Kelsenschen These eine objektive Verfassungsrechtsprechung voraussetzt, die erst durch die Vermeidung der Benutzung von Begriffen wie „Gerechtigkeit“ und „Sittlichkeit“, also durch die Vermeidung einer Wertorientierung in der Verfassungsinterpretation zu gewinnen ist, muß allerdings die Frage gestellt werden, ob und inwiefern das BVerfG unter Leitung vom Wertordnungsgedanken seinen Rechtsanwendungscharakter noch beibehalten und sich dadurch vom Gesetzgeber unterscheiden kann. Wichtiger: Die Entfaltung der objektiven Dimensionen der Grundrechte, die zwar keine unzulässige, aber auch keinesfalls die einzige, selbstverständliche Auslegungsmöglichkeit darstellt169, hat offensichtlich dazu geführt, daß das BVerfG durch seine Fortentwicklung des objektiven Gehaltes der Grundrechte die Geltungskraft des Art. 1 Abs. 3 GG weiterführend verstärkt und infolgedessen durch seine Entscheidungen den Gesetzgeber zunehmend verpflichtet und belastet170. Mit Blick auf die Folge der „Nebenordnung und Annährung von parlamentarischer und verfassungsgerichtlicher Rechtsbildung“171 und sogar des tatsächlichen „VorDies erinnert nochmals an Smends Auffassung. Vgl. oben 1. a) aa) u. bb). So etwa Böckenförde, Zur Lage der Grundrechtsdogmatik nach 40 Jahren Grundgesetz, S. 23: „Es handelt sich bei der Qualifizierung der Grundrechte als objektive Grundsatznormen / Wertentscheidungen um eine Entwicklung unter dem Grundgesetz, nicht um eine Vorgabe des Grundgesetzes.“ Vgl. aber Lepsius, Besprechung von P. Kirchhof / D. Kommers (Hrsg.), Deutschland und sein Grundgesetz, S. 162: „. . . Ein solches Modell ,vorrechtlicher‘ Freiheiten paßte jedoch für Deutschland nicht, da hier die Ausgestaltung der individuellen Freiheitsräume nicht dem Privatrecht überlassen werden konnte. Denn Privatrecht war als Gesetzesrecht ein staatlicher Akt und konnte als solche nicht, wie ursprünglich das common law in den USA, gegenüber der Verfassung immunisiert werden. Die deutsche Grundrechtstheorie kann sich mit einer Beschränkung auf negative Abwehrrechte nicht zufrieden geben.“ An dieser Stelle auch D. Grimm, Rückkehr zum liberalen Grundrechtsverständnis?, in: ders., Die Zukunft der Verfassung, S. 221, 225 ff. 170 So etwa Böckenförde, Zur Lage der Grundrechtsdogmatik nach 40 Jahren Grundgesetz, S. 60 ff.; ders., Grundrechte als Grundsatznormen, S. 24 ff.; Knies, Auf dem Weg in den „verfassungsgerichtlichen Jurisdiktionsstaat“?, S. 1178 ff. Vgl. aber Grimm, Rückkehr zum liberalen Grundrechtsverständnis?, S. 238 ff.; Alexy, Grundrechte als subjektive Rechte und als objektive Normen, S. 62 f. 171 Vgl. Böckenförde, Zur Lage der Grundrechtsdogmatik nach 40 Jahren Grundgesetz, S. 60: „Im Zeichen der objektiv-rechtlichen Grundsatzwirkung der Grundrechte kommt es – typologisch betrachtet – zu einer Nebenordnung und Annährung von parlamentarischer und verfassungsgerichtlicher Rechtsbildung. Die erstere wird von originärer Rechtsetzung zur 168 169

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rangs“ des BVerfG172 muß also für zweifelhaft gehalten werden, ob und inwieweit die Verfassungsgerichtsbarkeit Rechtsanwendung betreibt.

c) Die Krise der Verfassungsgerichtsbarkeit aa) Die Annäherung der Rechtsanwendung an die Rechtsetzung in der Verfassungsrechtsprechung Im Hinblick auf dieses veränderte Verhältnis, das sich bezüglich des Gestaltungsspielraums zugunsten des BVerfG und zulasten des Gesetzgebers darstellt, überrascht es nicht, daß die Kompetenzausübung und -ausdehnung des BVerfG aus der Perspektive scharf dahingehend kritisiert wird, daß die Verfassungsgerichtsbarkeit bereits ihre Grenzen überschreitet, die Gestaltungsfreiheit der Gesetzgebung verletzt und infolgedessen in Politisierungsgefahren gerät173. Mit anderen Worten: Nach dieser Kritik fungiert die heutige Verfassungsgerichtsbarkeit nicht mehr lediglich als Rechtsanwendung, sondern zugleich als Rechtsetzung, so daß die gesetzgeberische (originäre) Rechtsetzung der verfassungsgerichtlichen Verfassungsrechtsetzung, oder, radikaler formuliert, der „authentischen Verfassungsinterpretation und damit Verfassungsgesetzgebung“174, unterliegen muß. Unter dieser Entwicklungstendenz ist also das Problem der Gewaltenteilung zwischen dem BVerfG und dem Gesetzgeber wegen der Annäherung der Rechtsanwendung an die Rechtsetzung in der Verfassungsrechtsprechung zum Schwerpunkt der heutigen Debatte geworden.

Konkretisierung herabgestuft, die letztere von interpretativer Rechtsanwendung zur rechtsschöpferischen Konkretisierung heraufgestuft.“ Auch ders., Grundrechte als Grundsatznormen, S. 22: „In dem Maße, in dem die Grundrechte den Charakter von solchen PrinzipienNormen annehmen, verändert sich ihre Anwendung von Interpretation zur Konkretisierung.“ Dazu kritisch W. Heun, Funktionell-rechtliche Schranken der Verfassungsgerichtsbarkeit, 1992, S. 61 ff. 172 So Böckenförde, Zur Lage der Grundrechtsdogmatik nach 40 Jahren Grundgesetz, S. 61. 173 Die Kritik aus der Perspektive der Politisierungsgefahren der Verfassungsgerichtsbarkeit geht auf C. Schmitt zurück (ders., Das Reichsgericht als Hüter der Verfassung, S. 98) und wird heute mit der Bezeichnung von „verfassungsgerichtlichem Jurisdiktionsstaat“ immer wieder geübt (zur Terminologie Schmitt, Legalität und Legitimität (1932), 6. Aufl. 1998, S. 8 f.). So etwa Böckenförde, Zur Lage der Grundrechtsdogmatik nach 40 Jahren Grundgesetz, S. 60 ff.; ders., Grundrechte als Grundsatznormen, S. 24 ff.; Knies, Auf dem Weg in den „verfassungsgerichtlichen Jurisdiktionsstaat“?, S. 1178 ff. Vgl. ferner W. –R. Schenke, Der Umfang der bundesverfassungsgerichtlichen Überprüfung, in: NJW 1979, S. 1321, 1327 f.; H. Vogel, Gewaltenvermischung statt Gewaltenteilung?, in: NJW 1996, S. 1505 ff.; Brohm, Die Funktion des BVerfG. Vgl. auch oben Fn. 3 zur weiteren Literatur. 174 Zur Erklärung dieser Formulierung vgl. Böckenförde, Diskussionsbeitrag, S. 173 f. Dagegen etwa K. Schlaich, Die Verfassungsgerichtsbarkeit im Gefüge der Staatsfunktionen, in: VVDStRL 39 (1981), S. 99, 127 ff.

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Wie erwähnt, zeigt sich das rechtsetzende Element der Verfassungsgerichtsbarkeit besonders deutlich durch die verfassungsgerichtliche Konkretisierung der Betrachtung der Verfassung als Wertordnung. Aufgrund des Appells an den materiellen Rechtsstaat neigt das BVerfG dazu, die inhaltlich offene Verfassung durch bestimmte Rechtssätze oder -werte aufzufüllen. Die Anerkennung der Grundrechte als objektiver Wertentscheidungen spiegelt gerade diese Tendenz wider. Obwohl die Konkretisierung durch das BVerfG angesichts der Eigenheit der Verfassungsnorm schon unentbehrlich ist, können die Ableitung sowie die Weiterentwicklungen der objektiven Dimensionen der Grundrechte weiterhin zur Ausdehnung dieser Konkretisierungskompetenz in dem Sinne führen, daß die Konkretisierung durch den Appell an bestimmte Rechtswerte als Rechtsanwendung gerechtfertigt ist, hinsichtlich der Offenheit und Unbestimmtheit der Verfassungsnorm aber schon Rechtsetzung betreibt. Dies ist durch die erwähnte Konkurrenz der Rechtsetzungskompetenz zwischen dem BVerfG und dem Gesetzgeber realisiert worden. Besonders in der Hinsicht, daß Kelsens Behauptung der Einrichtung eines Verfassungsgerichts zwar aufgenommen, seine Betonung der Objektivität der Verfassungsinterpretation aber mehr oder weniger durch die Wertorientierung der Verfassungsrechtsprechung ersetzt ist, verwundert es nicht, daß die Krise einer „Machtverschiebung“ vom Gesetzgeber zum BVerfG eingetreten ist, vor der auch Kelsen gewarnt hat. bb) Das vom negativen zum positiven Gesetzgeber werdende BVerfG Mit der bisher dargestellten Tendenz findet die Änderung des Verhältnisses zwischen dem BVerfG und dem Gesetzgeber oder die „Machtverschiebung“ sogar nicht nur auf dem Gebiet der Grundrechte als objektiver Normen, sondern schon häufig dort statt, wo die Reichweite der Kompetenz des Gesetzgebers betroffen ist. In der neueren Entscheidung zum Altenpflegegesetz, in der es um die Kompetenzverteilung zwischen dem Bundes- und dem Landesgesetzgeber geht, beschäftigt sich das BVerfG mit der Interpretation des Art. 72 II GG und nimmt aufgrund seiner Interpretation die Position ein, daß „ein von verfassungsgerichtlicher Kontrolle freier gesetzgeberischer Beurteilungsspielraum hinsichtlich der Voraussetzungen des Art. 72 II GG nicht besteht“175. Nach dieser Entscheidung ist der Prognosespielraum des Bundesgesetzgebers verengt, indem das BVerfG erklärt, der Prognosespielraum könne nur im Wege einer Gesamtbetrachtung ermittelt werden, die sowohl sachbereichsbezogen sei als auch die zu schützenden Interessen berücksichtige und dabei das Ausmaß der Objektivierbarkeit und Rationalisierbarkeit der dem Gesetz zu Grunde liegenden Erwartungen nicht außer Acht lasse176. Hier BVerfG Urt. v. 24. 10. 2002 – 2 BvF 1 / 01, NJW 2003, 41 – Altenpflegegesetz. NJW 2003, 41, 54. Das BVerfG führt weiterhin aus: „Äußere oder vom Gesetzgeber zu vertretende Umstände wie Zeitnot oder unzureichende Beratung sind nicht geeignet, den Prognosespielraum zu erweitern.“ Vgl. zu dieser Entscheidung auch H. Jochum, Richtungsweisende Entscheidung des BVerfG zur legislativen Kompetenzordnung des Grundgesetzes, in: 175 176

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zeigt sich deutlich, wie das BVerfG durch seine Verfassungsinterpretation das Ausmaß der Kompetenz des Gesetzgebers autoritativ bestimmt und begrenzt177. Im Bereich des Steuerrechts schränkt das BVerfG die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers sogar durch seine zu umfangreiche Entscheidung178 ein, so daß Böckenförde in einer seiner abweichenden Meinung kritisiert, daß das BVerfG „mit seinen breit ausgeführten, durch die Vorlage nicht veranlaßten Darlegungen in den Kompetenzbereich des Gesetzgebers“ übergreift; in der Weise „läßt es den gebotenen judicial self-restraint außer acht, der dem Verfassungsgericht gegenüber dem Gesetzgeber obliegt und leistet der Veränderung des vom Grundgesetz festgelegten gewaltenteiligen Verhältnisses zwischen Gesetzgeber und Verfassungsgericht weiter Vorschub“179. Ein weiteres Beispiel für die bundesverfassungsgerichtliche Einschränkung der gesetzgeberischen Gestaltungsfreiheit bietet die jüngere Entscheidung zum Länderfinanzausgleich180. Zwar hat das BVerfG hier versucht, weitgeNJW 2003, S. 28, 30: „Es ist zu erwarten, dass die Ablehnung eines legislativen Beurteilungsspielraums über den engen Bereich des Bund-Länder-Verhältnisses hinaus allgemein auf parlamentarische Prognoseentscheidungen übertragen werden wird. Die vorliegende Entscheidung des BVerfG setzt damit auch für das von rechtsstaatlicher Gewaltenteilung geprägte Verhältnis von Legislative und Judikative neue Akzente.“ 177 Näher zu dieser Entscheidung vgl. unten III. 3. b) bb). 178 Eine verfassungsgerichtliche Entscheidung wird allgemein zu umfangreich, wenn sie sich nicht mehr ausschließlich auf den Streitfall konzentriert, sondern vielmehr die Stellungnahme zu Rechtsfragen enthält, die nicht durch Verfahren zur Verfassungsmäßigkeitsprüfung veranlaßt werden. Siehe z. B. abweichende Meinung des Richters Böckenfördes zum Beschluß des zweiten Senats vom 22. Juni 1995, in: BVerfGE 93, 121 (149 ff.). Kritisch zu dieser Entscheidung auch J. Wieland, Der Vermögensteuerbeschluß – Wende in der Eigentumsrechtsprechung?. Zu den denkwürdigen Umständen einer vielbeachteten Entscheidung, in: Guggenberger / Würtenberger (Hrsg.), Hüter der Verfassung oder Lenker der Politik?, S. 173 ff.; H.-W. Arndt / D.-K. A. Schumacher, Die verfassungsrechtlich zulässige Höhe der Steuerlast – Fingerzeig des BVerfG an den Gesetzgeber?, in: NJW 1995, S. 2603 ff.; H. P. Bull, Vom Eigentums- zum Vermögensschutz – ein Irrweg. Zur Bewertung der EinheitswertBeschlüsse des Bundesverfassungsgerichts, in: NJW 1996, S. 281 ff. Befürwortend aber K. Vogel, Anmerkung, in: JZ 1996, S. 43 ff.; W. Leisner, Steuer- und Eigentumswende – die Einheitswert-Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichts, in: NJW 1995, S. 2591 ff. 179 BVerfGE 93, 121, 151. Vgl. ferner 152: „Ausgriffe, wie der Senat sie vornimmt, finden auch dann keine Rechtfertigung, wenn sie in favorem des Gesetzgebers erfolgen, um ihn durch verbindliche Orientierungspunkte vor dem Risiko eines späteren Scheiterns zu bewahren. Eine solche Argumentation verschöbe die Verantwortung zwischen Gesetzgeber und Verfassungsgericht in unzulässiger Weise. Das Verfassungsgericht ist nicht als fürsorglicher Praeceptor des Gesetzgebers, sondern als – je nach dem zulässigen Anrufungsbegehren – nachträglich punktuell kontrollierendes Gericht konstituiert und organisiert . . .“ Zu weiteren Beispielen im Steuerrecht vgl. BVerfGE 99, 216; 99, 246; 99, 268; 99, 273 – Besteuerung von Familien. Zu diesen Entscheidungen kommentiert etwa H.-P. Schneider: „Das BVerfG hat sich hier subjektiv nicht mehr als Kontrolleur, sondern als ,Reparateur‘ des Parlamentarismus verstanden und objektiv als Vorkämpfer einer bestimmten Familien- und Sozialpolitik, für die es bisher keine politischen Mehrheiten in den gesetzgebenden Körperschaften gab, ganz offen zum ,Ersatzgesetzgeber‘ aufgeschwumgen.“ Ders., Acht an der Macht, S. 1305. Näher zu all diesen steuerrechtlichen Entscheidungen s. unten III. 3. b) bb). 180 BVerfGE 101, 158 – Länderfinanzausgleich IV.

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hend auf eine inhaltliche Kontrolle des Gesetzgebers zu verzichten und ihm im Hinblick auf seine wesentliche Rolle in der Demokratie verfahrensrechtliche Pflichten aufzuerlegen181, indem es ausführt: „Eine abschließende Würdigung einzelner Regelungen oder des Gesamtsystems des Finanzausgleichsgesetzes durch das Bundesverfassungsgericht kommt derzeit nicht in Betracht. Die verfassungsgerechte Ausformung finanzausgleichsrechtlicher Maßstäbe ist dem Gesetzgeber zugewiesen.“182 Dadurch, daß der Gesetzgeber verfahrensrechtlich verpflichtet ist, zunächst einmal ein „Maßstäbegesetz“ und danach in Anwendung dieses ihn „selbst bindenden“ Gesetzes183 das Finanzausgleichsgesetz zu beschließen, weicht das BVerfG jedoch ersichtlich von seiner früheren Position184 ab, die gerade dadurch gekennzeichnet ist, daß die Finanzverfassung eine Rahmenordnung bilde und deshalb dem Gesetzgeber größere und flexiblere Handlungsspielräume er181 So etwa S. Korioth, Maßstabgesetzgebung im bundesstaatlichen Finanzausgleich – Abschied von der „rein interessenbestimmten Verständigung über Geldsummen?“, in: ZG 2002, S. 335, 336 f.; A. Hanebeck, Zurückhaltung und Maßstäbegesetz. Das Urteil des BVerfG zum Länderfinanzausgleich, in: KJ 2000, S. 262, 263 ff.; U. Berlit / I. Kesper, Ein Eingriff in die demokratische Gestaltungsverantwortung. Fallstricke in der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Länderfinanzausgleich, in: KJ 2000, S. 607, 608 f.; B. Pieroth, Die Missachtung gesetzter Maßstäbe durch das Maßstäbegesetz, in: NJW 2000, S. 1086. Ähnlich P. Helbig, Maßstäbe als Grundsätze. Anmerkungen zum Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom 11. November 1999, in: KJ 2000, S. 433, 439; H. P. Bull / V. Mehde, Der rationale Finanzausgleich – ein Gesetzgebungsauftrag ohnegleichen – Die Aufgabe des Gesetzgebers nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts –, in: DÖV 2000, S. 305, 306.; T. Christmann, Vom Finanzausgleich zum Maßstäbegesetz, in: DÖV 2000, S. 315, 324. Zur „prozeduralisierten“ Kontrolle des BVerfG in dieser Entscheidung vgl. auch T. Bauer, Die produktübergreifende Bindung des Bundesgesetzgebers an Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts. Zugleich ein Beitrag zur Prozeduralisierung des Rechts, 2003, S. 147 – 149. 182 BVerfGE 101, 158 (238). 183 Der „den Gesetzgeber selbst bindende“ Charakter des Maßstäbegesetzes hat heftige Kontroverse erregt. Kritisch etwa J. Wieland, Das Konzept eines Maßstäbegesetzes zum Finanzausgleich, in: DVBl. 2000, S. 1310, 1312 ff.; ders., Finanzverfassung, Steuerstaat und föderaler Ausgleich, in: P. Badura / H. Dreier (Hrsg.), FS 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, Band II, 2001, S. 771, 775 f., 795 f.; Helbig, Maßstäbe als Grundsätze, S. 444 f.; H. H. Rupp, Länderfinanzausgleich. Verfassungsrechtliche und verfassungsprozessuale Aspekte des Urteils des BVerfG vom 11. 11. 1999, in: JZ 2000, S. 269, 271; Pieroth, Die Missachtung gesetzter Maßstäbe durch das Maßstäbegesetz, S. 1086 f.; J. Linck, Das „Maßstäbegesetz“ zur Finanzverfassung – ein dogmatischer und politischer Irrweg – Anmerkungen zum FAGUrteil des Bundesverfassungsgerichts –, in: DÖV 2000, S. 325, 326 ff.; Berlit / Kesper, Ein Eingriff in die demokratische Gestaltungsverantwortung; S. 617 ff.; Korioth, Maßstabgesetzgebung im bundesstaatlichen Finanzausgleich, S. 352 f.; verteidigend aber Hanebeck, Zurückhaltung und Maßstäbegesetz, S. 267 ff.; C. Degenhart, Maßstabbildung und Selbstbindung des Gesetzgebers als Postulat der Finanzverfassung des Grundgesetzes. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Länderfinanzausgleich, in: ZG 2000, S. 79, 83 f., 88 f.; C. Waldhoff, Reformperspektiven der bundesstaatlichen Finanzverfassung im gestuften Verfahren, in: ZG 2000, S. 193, 208 ff., 217; auch J. Becker, Forderung nach einem Maßstäbegesetz – Neue Maßstäbe in der Gleichheitsdogmatik, in: NJW 2000, S. 3742, 3745 f. Zur Stellungnahme der vorliegenden Arbeit vgl. unten III. 3. b) cc). 184 Vgl. BVerfGE 72, 330; 86, 148.

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öffne185. Statt dessen schränkt das BVerfG die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers durch die Forderung nach einem „Maßstäbegesetz“ entscheidend ein, das zwar vom Gesetzgeber selbst zu beschließen ist, aber auch den Gesetzgeber selbst bindet. Die Folge also: „Für politische Entscheidungen und Kompromisse soll nach Festlegung der langfristig angelegten allgemeinen Maßstäbe, die den Gesetzgeber selbst binden sollen, kein Raum mehr bleiben, wenn der Gesetzgeber über das Finanzausgleichsgesetz beschließt.“186 In der Hinsicht, daß auch das Maßstäbegesetz nicht absolut frei von (inhaltlicher!) Kontrolle durch das BVerfG sein kann187, zeigt sich die Gebundenheit des Gesetzgebers um so deutlicher. Im Ergebnis bleibt trotz einer Tendenz zur Verfahrenskontrolle in der Entscheidung die Schwierigkeit der Begrenzung der Verfassungsgerichtsbarkeit ungelöst188. All diese erwähnten Entscheidungen werden unten III. 3. b) bb) und cc) im Kontext und aus dem Blickwinkel der vorliegenden Untersuchung näher betrachtet. Bereits an dieser Stelle aber läßt sich sagen, daß die allgemeine Entwicklungstendenz, die die kontroversen Entscheidungen andeuten, wahrscheinlich dadurch gekennzeichnet ist, daß das BVerfG vom negativen zum positiven Gesetzgeber geworden ist. Während nach Kelsen das Verfassungsgericht durch seine Aufhebung eines Gesetzes und daher seine Setzung einer generellen Norm als negativer Gesetzgeber anzusehen ist, übt das heutige Verfassungsgericht seine Kompetenz schon nicht nur zur negativen, sondern vielmehr zur positiven Gesetzgebung besonders insofern aus, als das BVerfG durch die Allgemeinheit (im Gegensatz zur 185 Vgl. BVerfGE 72, 330 (388 ff., 390): „Die normativen Festlegungen der Finanzverfassung weisen allerdings zum Teil nicht das Maß an inhaltlicher Bestimmtheit auf, das für Regelungen im Staat-Bürger-Verhältnis charakteristisch ist, verwenden vielmehr unbestimmte Begriffe und schaffen damit Beurteilungs- oder auch Entscheidungsspielräume, die verfassungsgerichtlicher Nachprüfung nur auf Einhaltung des verbindlich gesetzten Rahmens unterliegen. Diese Eigenart und besondere Struktur der Finanzverfassung ist bei ihrer Auslegung und Anwendung zu berücksichtigen. Innerhalb dieses Rahmens vermag der politische Prozeß sich nach seinen eigenen Regeln und Bedingungen zu entfalten, der Rahmen selbst stellt indessen eine Grenze dar, die der Gesetzgeber nicht überschreiten darf.“ (Dazu S. Korioth, Der Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern, 1997, S. 76 ff.) Auch BVerfGE 86, 148 (212): „Aus den materiell-rechtlichen Bindungen des Finanzausgleichsgesetzgebers können keine verfahrensrechtlichen Erfordernisse im Sinne spezifischer Begründungsanforderungen abgeleitet werden. Soweit im Finanzausgleichsgesetz die Höhe bestimmter Berechnungsfaktoren wie die Einwohnerwertung der Stadtstaaten nicht frei gegriffen werden darf, sondern sich nach Maßgabe verläßlicher, objektivierbarer Indikatoren als angemessen erweisen muß, kommt es darauf an, ob die gesetzgeberische Entscheidung im Ergebnis diesen Anforderungen genügt. Besondere Vorgaben für das Gesetzgebungsverfahren folgen daraus nicht.“ 186 Wieland, Das Konzept eines Maßstäbegsetzes zum Finanzausgleich, S. 1311. 187 Vgl. insbesondere BVerfGE 101, 158 (219 ff.). Vgl. an dieser Stelle auch Hanebeck, Zurückhaltung und Maßstäbegesetz, S. 271: „Wie groß der Spielraum ist, der das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber tatsächlich einräumen wird, ist ebenso offen wie die Frage, ob und in welchem Umfang das Gericht die im Urteil angelegten Kontrollmöglichkeiten nutzen wird.“ 188 Zur Problematik dieser Entscheidung näher unten III. 3. b) cc).

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Fallbezogenheit) seiner Entscheidung als „autoritativer / fürsorglicher Praeceptor des Gesetzgebers“, als „Reparateur des Parlamentarismus“ oder sogar als „Ersatzgesetzgeber“ fungiert, indem es, wie gesagt, in der Tradition der Rechtsanwendung und wegen der Unbestimmtheit des Verfassungsinhalts die Aufgabe zur Vervollständigung der verfassungsrechtlichen Vorgaben selbst übernimmt und damit genauso wie der Gesetzgeber eine generelle Norm setzt. Dadurch, daß die verfassungsgerichtliche Aufhebung eines Gesetzes nicht mehr einfach in „Anwendung“, sondern vielmehr in „freier Schöpfung“ der Verfassungsnorm erfolgt189, kann auch die Kelsensche Rechtfertigung der Verfassungsgerichtsbarkeit durch die Trennung von negativem und positivem Gesetzgeber nicht mehr aufrechterhalten werden.

d) Die Nachwirkung des Kelsen-Schmitt-Streits Durch die Annäherung der Rechtsanwendung an die Rechtsetzung und damit die Annäherung der negativen an die positive Gesetzgebung in der Verfassungsrechtsprechung haben sich also die Politisierungsgefahren des auf dem theoretischen Fundament Kelsens errichteten BVerfG realisiert, die auch Kelsen selbst gesehen hat. Es ist zwar richtig, daß die Politisierungsgefahren darauf zurückgehen müßten, daß die von Kelsen betonte Objektivität der Verfassungsinterpretation oder -rechtsprechung durch die Vermeidung der Wertorientierung nicht ernst genommen wird; im Hinblick auf die Offenheit und Unbestimmtheit der Verfassungsnorm müßte aber gefragt werden, ob und inwiefern Kelsens Begründung für die Einrichtung des Verfassungsgerichts, daß die Verfassungsgerichtsbarkeit immer noch als echte Gerichtsbarkeit im Sinne der Rechtsanwendung fungiert, wirklich überzeugend ist190. In diesem Sinne wirkt der Kelsen-Schmitt-Streit nach, denn gerade die Angst vor den Politisierungsgefahren, die in Schmitts Sicht unvermeidbar sind, weil die Verfassungsgerichtsbarkeit ihrem Wesen nach die Aufgaben der Gesetzgebung betreiben muß, konstituiert Schmitts Grund für seine Ablehnung der Verfassungsgerichtsbarkeit. Freilich kann vor dem Hintergrund und unter der Voraussetzung des Grundgesetzes nicht mehr sinnvoll sein, die Legitimität der Institution der Verfassungsgerichtsbarkeit skeptisch zu examinieren oder sogar die AbHierzu Kelsen, Wesen und Entwicklung der Staatsgerichtsbarkeit, S. 55 f. Wie bereits erwähnt, fordert Kelsen, Grundsätze, Richtlinien und Schranken für den Inhalt der Gesetze in der Verfassung so präzise wie möglich zu bestimmen, um subjektive Willkür in der Verfassungsinterpretation zu vermeiden. Dies gilt Kelsen als Voraussetzung für die zweckmäßige Gestaltung der Verfassungsgerichtsbarkeit, ist angesichts der Offenheit der Verfassungsnorm jedoch schwer vollziehbar. Sicherlich mag dies nach Kelsens Auffassung eine Frage nach den Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit sein, die nicht auf der Ebene des Rechtserkenntnisses, sondern vielmehr auf der Ebene der Rechtserzeugung, d. h. durch eine legislativ-politische Erwägung zu ziehen sind (hierzu Kelsen, Schlußwort zur Aussprache, S. 122). Wenn aber die Verfassungsnorm schon ihrem Wesen nach offen ist und dem Interpreten (d. h. dem BVerfG) weiten Spielraum einräumt, so muß gefragt werden, ob Kelsens Argument aufgrund seiner Unterscheidung von Rechtserkenntnis und Rechtserzeugung in der Tat plausibel und einleuchtend ist. 189 190

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3. Teil: Die Beiträge der Entwicklungen in den USA zur Debatte in Deutschland

schaffung des BVerfG zu überlegen. Vor allem aus diesem Grund ist Böckenfördes Erklärung plausibel, daß das BVerfG niemals „die politische Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers“ hätte, auch wenn es „durch authentische Verfassungsinterpretation Verfassungsgesetzgebung, Verfassungsfortbildung“ betreibt191. Angesichts der heutigen Entwicklungstendenz, die sich durch die sich an der Rechtsetzung orientierende Verfassungsgerichtsbarkeit und die intensiver tangierte Gestaltungsfreiheit der Gesetzgebung auszeichnet und folgeweise zum Gewaltenteilungsproblem zwischen dem BVerfG und dem Gesetzgeber geführt hat, muß aber jedenfalls untersucht werden, ob und auf welche Weise die Verfassungsgerichtsbarkeit an ihrem Rechtsanwendungscharakter festhalten kann und was dazu als Beurteilungsmaßstab gelten soll, wenn die Tradition der Unterscheidung von Rechtsanwendung und Rechtsetzung noch beizubehalten ist. Gerade auf dieser Erkenntnisgrundlage ist festzustellen, daß in der Tradition der Rechtsanwendung die Garantie einer an die Verfassung gebundenen rechtsanwendenden Verfassungsgerichtsbarkeit immer noch eine entscheidende Rolle zur Überwindung der Schwierigkeit der Kompetenzabgrenzung von Verfassungsgericht und Gesetzgeber spielen muß. Die gegenwärtigen Ansätze oder Vorschläge sind infolgedessen aus dieser Perspektive zu beobachten und zu examinieren.

III. Die gegenwärtige Debatte in Deutschland aus der rechtsvergleichenden Sicht 1. Der funktionell-rechtliche Ansatz als Alternative? a) Die Grundthese Wegen des oben erwähnten Gewaltenteilungsproblems wird heute in Deutschland, wie in Amerika, immer wieder versucht, die (verfassungsrechtlichen) Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit gegenüber der Gesetzgebung genauer zu ziehen. Wird die Gegenüberstellung von Rechtsanwendung und Rechtsetzung durch die Entwicklung und sogar Ausweitung der Verfassungsgerichtsbarkeit relativiert, so müßte das dadurch verschärfte Gewaltentrennungsproblem aus anderen Perspektiven behandelt werden, die sich weniger auf die Kontrollkompetenz des BVerfG als auf die Gewaltenbalance zwischen dem BVerfG und dem Gesetzgeber richten sollen. Angesichts ähnlicher Erfahrungen oder Schwierigkeiten verwundert es nicht, daß die Lösungsmöglichkeiten zum Spannungsverhältnis von Verfas191 Vgl. Böckenförde, Diskussionsbeitrag, S. 173 f.: „Diese Funktion, die (das Verfassungsgericht) der Sache nach wahrnimmt, ist für es gerade an Richterlichkeit, an Gerichtsförmigkeit gebunden und dadurch nicht als politisches Vetorecht ausgestaltet.“ Böckenfördes These ist ferner deshalb von Bedeutung, weil er die Schmittsche Auffassung vor den Hintergrund des Grundgesetzes gebracht hat. Zur Beziehung des Verfassungsgedankens Böckenfördes zur Lehre C. Schmitts vgl. etwa R. Mehring, Carl Schmitt und die Verfassungslehre unserer Tage, in: AöR 120 (1995), S. 177, 195 ff.

III. Die gegenwärtige Debatte in Deutschland

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sungsgericht und Gesetzgeber, die ursprünglich den USA entstammen, mindestens ideell die deutsche Entwicklung inspiriert haben. Vor allem sind der judicial selfrestraint und der funktionell-rechtliche Ansatz zu nennen, wobei der letztere sowohl wissenschaftlich als auch praktisch jedenfalls eine Rolle spielt, während der erstere wegen seiner offensichtlichen Ungeeignetheit192 heutzutage kaum noch als Schlüssel zur Begrenzung der Verfassungsgerichtsbarkeit bezeichnet wird193. Wie im 2. Teil dargestellt, resultiert das amerikanische Funktions-Modell aus dem realisierten Spannungsverhältnis zwischen dem Supreme Court und dem Gesetzgeber und zielt auf die Bewältigung der countermajoritarian difficulty der Verfassungsgerichtsbarkeit ab. Der amerikanische funktionsorientierte Gedanke zeichnet sich also dadurch aus, daß der Supreme Court und der Gesetzgeber unterschiedliche Aufgaben haben und daß die Auswahl des angewandten Prüfungsstandards des Supreme Court von der sachbereichsspezifischen Funktionsverteilung abhängen soll. Gerade dieser Gedanke von sachbereichsspezifischer Aufgabenund Funktionsverteilung faßt später auch in Deutschland Fuß und entwickelt sich zum sogenannten funktionell-rechtlichen Ansatz, der sich vom traditionellen „materiell-rechtlichen“ Ansatz unterscheidet194: Während der überkommene Ansatz zur Begrenzung der Verfassungsgerichtsbarkeit von der Trennung von Rechtsanwendung und Rechtsetzung ausgeht und sich auf die verfassungsgerichtliche „Auslegung und Anwendung des im Einzelfall einschlägigen materiellen Verfassungsrechts“195 konzentriert196, beruht der funktionell-rechtliche Ansatz direkter auf 192 Dies wurde bereits oben im 2. Teil immer wieder aufgezeigt. Vgl. exemplarisch II. 2. b) bb). Das Gebot des judicial self-restraint findet sich aber auch in der Rechtsprechung des BVerfG. Vgl. dazu BVerfGE 36, 1 (14 f.). 193 Zur (deutschen) Kritik am judicial self-restraint vgl. z. B. A. Rinken, in: R. Wassermann (Gesamthrsg.), AK-GG, 2. Aufl. 1989, Bd. 2 vor Art. 93 Rn. 92: „Als Prinzip des selfrestraint schließlich verzichtet er ausdrücklich auf die Erarbeitung normativer und kontrollierbarer Kriterien und überantwortet als berufsethischer Appell die Kompetenz-Kompetenz der subjektiven Weisheit des Richterareopags. Das ist aber eher eine archaische als eine modern-rechtsstaatliche, auf Formalität und Berechenbarkeit insistierende Lösung des Kompetenzkonflikts.“ Vgl. auch Heun, Funktionell-rechtliche Schranken der Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 11 f.; G. F. Schuppert, Self-restraints der Rechtsprechung, S. 1191; K. Hesse, Funktionelle Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit, in: FS H. Huber, S. 261, 263 f.; Isensee, Verfassungsrecht als „politisches Recht“, Rn. 88; Unruh, Der Verfassungsbegriff des Grundgesetzes, S. 525 f. 194 Von „materiell-rechtlichen“ und „funktionell-rechtlichen“ Interpretationsprinzipien spricht schon Ehmke, Prinzipien der Verfassungsinterpretation, S. 72 ff. Zu „materiell-rechtlichen“ Interpretationsprinzipien rechnet er, wie zusammengefasst in G. F. Schuppert, Funktionell-rechtliche Grenzen der Verfassungsinterpretation, 1980, S. 8 (Fn. 26), „das Prinzip der Grundrechtseffektivität, das Prinzip der Interpretation der Verfassung als einer Einheit, die Interpretation der Grundrechte aus einem vorausgesetzten Grundrechts-,System‘.“ Vgl. auch Ehmke, ebenda, S. 72 f. 195 Schlaich / Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, Rn. 494. 196 Vgl. auch Riecken, Verfassungsgerichtsbarkeit in der Demokratie, S. 440: „Für den materiell-rechtlichen Ansatz ergeben sich Spielräume des Gesetzgebers allein aus der Interpretation der Grundrechte.“

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3. Teil: Die Beiträge der Entwicklungen in den USA zur Debatte in Deutschland

dem Gewaltenteilungsgedanken und dient selbst als Reaktion auf das heute verschärfte Gewaltenteilungsproblem197. Der funktionell-rechtliche Ansatz betrachtet die Gewaltentrennung von Verfassungsgericht und Gesetzgeber also nicht „unter dem Gesichtspunkt materieller Staatsfunktionen (Rechtsetzung versus Rechtsanwendung) und einer auf diese bezogenen Rechtsformenlehre (allgemeine Norm versus Einzelakt)“, sondern „analysiert sie unter dem Gesichtspunkt des Zusammenhangs von Funktionszuweisung, Organkompetenz und Organstruktur als Legitimationszusammenhang.“ 198 Aus Sicht des Ansatzes ist also die sogenannte „funktionsgerechte Organstruktur“199 von zentraler Bedeutung für die Gewaltenabgrenzung (zwischen Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgebung): „Ein verfassungsgerechtes Gewaltenteilungssystem erfordert, daß die Staatsfunktionen so verteilt sein müssen, daß die Staatsaufgaben und Entscheidungen auch von solchen Organen erledigt und getroffen werden, die nach ihrer inneren Struktur, Besetzung, Arbeitsweise, dem zu beobachtenden Entscheidungsprozeß usw. für die betreffende Aufgabe legitimiert und gerüstet sind, effizient zu entscheiden.“200 Eine funktionell-rechtliche Interpretation fragt also danach, „ob dieses Organ nach seiner Zusammensetzung, nach seiner Legitimation, nach dem Verfahren, in dem es Entscheidungen trifft, überhaupt geeignet ist, eine solche Entscheidung zu treffen, wie sie in Rede steht.“201 In dieser Weise ist nach dem funktionell-rechtlichen Ansatz die Gewaltenteilung zwischen dem BVerfG und dem Gesetzgeber an erster Stelle nicht mehr durch die 197 Dazu vgl. Schuppert, Self-restraints der Rechtsprechung: Überlegung zur Kontrolldichte in der Verfassungs- und Verwaltungsgerichtsbarkeit, S. 1191, 1193; Riecken, Verfassungsgerichtsbarkeit in der Demokratie, S. 444; Unruh, Der Verfassungsbegriff des Grundgesetzes, S. 527 f.; H.-D. Horn, Gewaltenteilige Demokratie, demokratische Gewaltenteilung. Überlegungen zu einer Organisationsmaxime des Verfassungsstaates, in: AöR 127 (2002), S. 427, 447 ff.; auch Haltern, Verfassungsgerichtsbarkeit, Demokratie und Mißtrauen, S. 220 – 224. Rinken bezeichnet den „Übergang von einer Wesensschau zu einer funktionellen Sicht“ als einen „Paradigmenwechsel“. Vgl. ders., in: AK-GG, Bd. 2 vor Art. 93 Rn. 90, 98. 198 Rinken, AK-GG, Bd. 2 vor Art. 93 Rn. 99. Dort wurde gezeigt, daß der funktionellrechtliche Ansatz „keine Aushöhlung der (Verfassungs-)Gesetzesbindung“, sondern „deren komplexe Einlösung“ beabsichtigt. 199 Zum Begriff F. Ossenbühl, Aktuelle Probleme der Gewaltenteilung, in: DÖV 1980, S. 545, 548 f. Von „funktionsgerechter Organstruktur“ sprach schon O. Küster, Das Gewaltenproblem im modernen Staat, in: AöR 75 (1949), S. 397, 402, zitiert auch in Ossenbühl, ebenda, S. 548 (Fn. 18). Zu „funktioneller Richtigkeit“ vgl. auch M. Jestaedt, Grundrechtsentfaltung im Gesetz. Studien zur Interdependenz von Grundrechtsdogmatik und Rechtsgewinnungstheorie, 1999, S. 174 ff. 200 Ossenbühl, Aktuelle Probleme der Gewaltenteilung, S. 549. 201 F. Ossenbühl, Diskussionsbeitrag, in: V. Götz / H. H. Klein / C. Starck (Hrsg.), Die öffentliche Verwaltung zwischen Gesetzgebung und richterliche Kontrolle, 1985, S. 198, 201. In Bezug auf die Grenze der Verfassungsgerichtsbarkeit vgl. auch Hesse, Funkitonelle Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 265: „Es bedarf der Entfaltung und Konkretisierung des Grundgesetzes, dass das Verfassungsgericht sich im Rahmen der ihm von der Verfassung aufgetragenen Funktionen zu halten hat.“

III. Die gegenwärtige Debatte in Deutschland

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Unterscheidung von Rechtsanwendung und Rechtsetzung, sondern vielmehr durch die bereichsspezifische202, sachgemäße Funktions- oder Aufgabenverteilung nach dem Grundsatz von „funktionsgerechter Organstruktur“ zu erfüllen203: Wenn sowohl das BVerfG als auch der Gesetzgeber „Rechtsbildung in Form der Konkretisierung betreiben und darin konkurrieren“204, so daß die Verfassungsgerichtsbarkeit nicht nur als Rechtsanwendung, sondern als (die rechtsetzende Kompetenz des Gesetzgebers bedrohende) Rechtsetzung fungiert, können nach dem funktionell-rechtlichen Gedanken die Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit (gegenüber der Gesetzgebung) nicht (nur) durch die Gegenüberstellung von Rechtsanwendung und Rechtsetzung gezogen werden, sondern müssen sich auf die (funktionsgerechte) Allokation von Konkretisierungskompetenzen richten205. Daraus ergibt sich ein wichtiges Argument des funktionell-rechtlichen Ansatzes, daß (auch) die Verfassungsgerichtsbarkeit die Demokratie und die demokratische Gesetzgebung respektieren soll und daß insbesondere der Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers zu bewahren ist206, denn nach dem Grundsatz der „funktionsgerechten Organstruktur“ müssen bestimmte Aufgaben oder Sachbereiche dem demokratischen Gesetzgeber vorbehalten bleiben, der seiner Zusammensetzung, seiner Legitimation oder seinem Entscheidungsprozeß nach „funktionsgerecht“ ist, eine Entscheidung zu treffen. Gerade aus dieser demokratischen Überlegung wird die Annäherung zwischen diesem Ansatz und dem amerikanischen Funktions-Modell noch anschaulicher.

202 Von „bereichsspezifischer Abstufung“ spricht etwa Schuppert, Self-restraints der Rechtsprechung, S. 1193. 203 Der Kernpunkt der Aussage, daß eine funktionell-rechtliche Betrachtung vom Verständnis des BVerfG als Gericht ausgeht (so etwa Schlaich / Korioth, Das Bundesverfassungsgeircht, Rn. 498), soll daher im Hinblick auf den Unterschied von materiell-rechtlichem und funktionell-rechtlichem Ansatz eher in der Organstruktur als im Rechtsanwendungscharakter des BVerfG liegen. 204 So Böckenförde, Zur Lage der Grundrechtsdogmatik nach 40 Jahren Grundgesetz, S. 61. 205 Dazu vgl. Jestaedt, Grundrechtsentfaltung im Gesetz, S. 138: „(Der funktionell-rechtliche Ansatz) zielt darauf, das – an sich funktionsblinde, da aus hermeneutischer Einsicht in den Vorgang der Normaktualisierung gewonnene – Verständnis der (Verfassungs-) Rechtsgewinnung als „Konkretisierung“ mit der – auf arbeitsteilige Rechtsgewinnung ausgelegten – Funktionenordnung des Grundgesetzes zu versöhnen.“ Vgl. dort auch Fn. 11. Präziser S. 155: „Der funktionell-rechtliche Ansatz versteht sich selbst als Reaktion auf die mit dem Konzept der Konkretisierung verbundenen Gefahren für das Gleichgewicht in der grundgesetzlichen Funktionenordnung.“ Zu diesem Ausgangspunkt des funktionell-rechtlichen Ansatzes vgl. auch Rinken, AK-GG, Bd. 2 vor Art. 93 Rn. 78 f., 87 – 101; B.-O. Bryde, Verfassungsentwicklung: Stabilität und Dynamik im Verfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland, 1982, S. 308. 206 Das Demokratiegebot betont etwa Rinken, AK-GG, Bd. 2 vor Art. 93 Rn. 101 – 104; Brohm, Die Funktion des BVerfG, S. 9 f. Vgl. auch Riecken, Verfassungsgerichtsbarkeit in der Demokratie, S. 460 ff.

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3. Teil: Die Beiträge der Entwicklungen in den USA zur Debatte in Deutschland

b) Der Aufbau der abgestuften Kontrolldichten durch das BVerfG Der Gedanke von Funktions- oder Aufgabenverteilung ist in der Verfassungsrechtsprechung ferner anerkannt und dargestellt. Schon früh erläuterte das BVerfG, daß der Gesetzgeber in bestimmten Sachbereichen größere Gestaltungsfreiheit besitzt207. Weiterhin führte das BVerfG in der Entscheidung zum Mitbestimmungsgesetz208 ausdrücklich aus: „Im einzelnen hängt die Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers von Faktoren verschiedener Art ab, im besonderen von der Eigenart des in Rede stehenden Sachbereichs, den Möglichkeiten, sich ein hinreichend sicheres Urteil zu bilden, und der Bedeutung der auf dem Spiele stehenden Rechtsgüter. Demgemäß hat die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, wenn auch im Zusammenhang anderer Fragestellungen, bei der Beurteilung von Prognosen des Gesetzgebers differenzierte Maßstäbe zugrunde gelegt, die von einer Evidenzkontrolle über eine Vertretbarkeitskontrolle bis hin zu einer intensivierten inhaltlichen Kontrolle reichen.“209 Gerade dieser Aufbau der abgestuften Kontrolldichten spiegelt das funktionell-rechtliche Denken besonders in dem Sinne deutlich wider210, daß die Differenzierung der Kontrolldichten auf eine sachgemäße Gewaltenteilung von Verfassungsgericht und Gesetzgeber gerichtet ist und daß das Ausmaß der gesetzgeberischen Gestaltungsfreiheit oder Einschätzungsprärogative (auch) von der Eigenart des in Rede stehenden Sachbereichs abhängt211, obwohl 207 Vgl. z. B. BVerfGE 18, 315 (331 f.): „Die von dem Bundesverfassungsgericht bei Anwendung des allgemeinen Gleichheitssatzes auf Gesetze allgemein geübte Zurückhaltung ist im besonderen Maße angezeigt, wenn es sich um wirtschaftslenkende Maßnahmen innerhalb einer Marktordnung handelt“; BVerfGE 39, 210 (230 f.): „Bei dieser verfassungsrechtlichen Prüfung der Erforderlichkeit einer Maßnahme ist zu beachten, daß dem Gesetzgeber bei der Auswahl und technischen Gestaltung wirtschaftsordnender und -lenkender Maßnahmen ein weiter Gestaltungsbereich zusteht“; BVerfGE 49, 280 (283): „Der Gesetzgeber besitzt im Bereich der gewährenden Staatstätigkeit größere Gestaltungsfreiheit als innerhalb der Eingriffsverwaltung und ist in diesem Bereich in weitem Umfang zum Erlaß typisierender und generalisierender Regelungen berechtigt“, zitiert auch in: Schuppert, Self-restraints der Rechtsprechung, S. 1193. 208 BVerfGE 50, 290. 209 BVerfGE 50, 290 (332 f.). 210 So G. F. Schuppert, Funktionell-rechtliche Grenzen der Verfassungsinterpretation, 1980, S. 2 f.; ders., Self-restraints der Rechtsprechung, S. 1192 ff.; H.-P. Schneider, Verfassungsgerichtsbarkeit und Gewaltenteilung. Zur Funktionsgerechtigkeit von Kontrollmaßstäben und Kontrolldichte verfassungsgerichtlicher Entscheidung, in: NJW 1980, S. 2103, 2104 f.; Schlaich / Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, Rn. 520. Obwohl die Entscheidung zum Mitbestimmungsgesetz sich auf die Prognosen des Gesetzgebers konzentriert, soll danach die Verwendung des Stufenbaus der differenzierten Kontrolldichten auch für Tatsachenfeststellungen des Gesetzgebers gelten. So etwa Chryssogonos, Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgebung, S. 191 f.; Heun, Funktionell-rechtliche Schranken der Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 36. 211 So etwa Schuppert, Self-restraints der Rechtsprechung, S. 1193; Hesse, Funkitonelle Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 268; auch F. Ossenbühl, Die Kontrolle von Tatsachenfeststellungen und Prognoseentscheidungen durch das Bundesverfassungsgericht, in: C. Starck (Hrsg.), Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz, Bd. I, 1976, S. 458, 505 f. Vgl. aber Heun, Funktionell-rechtliche Schranken der Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 38: „Ent-

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das Prinzip der Verhältnismäßigkeit immer noch als Kontrollmaßstab des BVerfG angewandt wird212, das dem BVerfG besonders durch die Befugnis zu Interessenabwägungen starke Kontrollkompetenz zugesteht. Insofern geht es bei der Systematisierung der „Drei-Stufen-Lehre“, nämlich der Evidenzkontrolle, der Vertretbarkeitskontrolle und der intensivierten inhaltlichen Kontrolle, weniger um die Differenzierung des Kontrollmaßstabs des BVerfG als um die der Beweislast des Gesetzgebers in der Verfassungsmäßigkeitsüberprüfung durch das BVerfG nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Das heißt also, daß ein angegriffenes Gesetz in der Regel immer so überprüft wird, ob „der vom Staat verfolgte Zweck als solcher verfolgt werden darf“, ob „das vom Staat eingesetzte Mittel als solches eingesetzt werden darf“, ob „der Einsatz des Mittels zur Erreichung des Zwecks geeignet ist“ (das Erfordernis der „Geeignetheit“), ob „der Einsatz des Mittels zur Erreichung des Zwecks notwendig (erforderlich) ist“ (das Erfordernis der „Erforderlichkeit“), und letztlich ob „der Einsatz des Mittels zur Erreichung des Zwecks proportional ist“ (das Erfordernis der „Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne“)213; erst im Prozeß dieser Prüfung spielt die Differenzierung von Kontrolldichten eine Rolle, indem nach der Evidenzkontrolle lediglich überprüft wird, „ob die Erwägungen des Gesetzgebers so offensichtlich fehlsam sind, daß sie vernünftigerweise keine Grundlage für legislative Maßnahmen abgeben können“214, nach der Vertretbarkeitskontrolle verlangt wird, „daß der Gesetzgeber sich an einer sachgerechten und vertretbaren Beurteilung des erreichbaren Materials orientiert hat“215, und scheidende Kriterien sind die fundamentale Bedeutung und der Rang der betroffenen Grundrechte sowie die Intensität des Grundrechtseingriffs. Je gewichtiger das betroffene Grundrecht und je höher die Intensität des Eingriffs ist, desto höhere Anforderungen sind an die Rechtfertigung des Eingriffs zu stellen. . . . Sachlich geht es ausschließlich darum, ob der staatliche Eingriff in zureichender Weise gerechtfertigt werden kann. Die übrigen Gesichtspunkte zur Bestimmung der Kontrolldichte ergeben sich zwanglos aus den beiden grundrechtlichen Kriterien.“ Allerdings steht es noch in Frage, ob die grundrechtlichen Kriterien mit dem funktionell-rechtlichen Gedanken wirklich nichts zu tu haben. Dazu näher unten c). 212 Vgl. z. B. Ossenbühl, Die Kontrolle von Tatsachenfeststellungen und Prognoseentscheidungen durch das Bundesverfassungsgericht, S. 503 f. 213 Zur Grundrechtsprüfung des BVerfG nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit s. B. Pieroth / B. Schlink, Grundrechte. Staatsrecht II, 18. Aufl. 2002, Rn. 279 – 292. 214 C. Gusy, Parlamentarischer Gesetzgeber und Bundesverfassungsgericht, 1985, S. 175; auch Schneider, Verfassungsgerichtsbarkeit und Gewaltenteilung, S. 2105: „Nur dann, wenn eine Maßnahme der öffentlichen Gewalt ,auf den ersten Blick‘, ,für jedermann erkennbar‘, ,offenkundig‘, ,eindeutig‘, ,zweifelsfrei‘ oder ,offensichtlich‘ gegen das Grundgesetz verstößt, wird sie für verfassungswidrig erklärt.“ Vgl. dort ferner Fn. 35 zu den einschlägigen verfassungsgerichtlichen Entscheidungen. Vgl. ferner Simons, Grundrechte und Gestaltungsspielraum, S. 221; Chryssogonos, Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgebung, S. 180 f. (zur Kritik S. 181). 215 Gusy, Parlamentarischer Gesetzgeber und Bundesverfassungsgericht, S. 175; auch Schneider, Verfassungsgerichtsbarkeit und Gewaltenteilung, S. 2105; Chryssogonos, Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgebung, S. 182 – 184; Simons, Grundrechte und Gestaltungsspielraum, S. 220. Zur bundesverfassungsgerichtlichen Darlegung vgl. etwa BVerfGE 50, 290 (334): „Er muß die ihm zugänglichen Erkenntnisquellen ausgeschöpft haben, um die vor12 Hwang

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nach der strengsten, intensivierten inhaltlichen Kontrolle das BVerfG nicht mehr an die Rechtsauffassung gebunden ist und statt dessen seine „eigene Prognosen anzustellen und die legislativen Vorhersagen an ihnen zu messen“ hat216. Aus dieser Bertrachtungsweise läßt sich entnehmen, warum „die drei Stufen – Evidenz, Vertrebarkeit, Intensität – nicht deutlich geschieden werden können“217, insbesondere im Vergleich zum amerikanischen Stufenbau der Prüfungsstandards, dessen Anwendung vom Supreme Court sowie deren Auswirkungen. Vor allem ist zu bemerken, daß anders als die amerikanischen Prüfungsstandards die Verwendung der differenzierten Kontrolldichten nicht über bestimmte Prüfungsergebnisse vorentscheidet, da nicht die Kontrolldichte selbst, sondern erst ihre Inkorporation in die Handhabung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit als Kontrollmaßstab für das BVerfG fungieren kann218, der zwar eine vollständige dogmatische Grundlage für verfassungsgerichtliche Überprüfung gebildet hat, aber niemals irgend ein bestimmtes Ergebnis der Überprüfung andeuten will. Infolgedessen kommt der sogenannte „Alles-oder-nichts-Approach“219 bei der Verfassungsmäßigkeitsprüfung in Deutschland nicht vor. aussichtlichen Auswirkungen seiner Regelung so zuverlässig wie möglich abschätzen zu können und einen Verstoß gegen Verfassungsrecht zu vermeiden. Es handelt sich also eher um Anforderungen des Verfahrens.“ Vgl. auch BVerfGE 30, 250 (263). 216 Gusy, Parlamentarischer Gesetzgeber und Bundesverfassungsgericht, S. 174 f.; auch Schneider, Verfassungsgerichtsbarkeit und Gewaltenteilung, S. 2105; Chryssogonos, Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgebung, S. 184 – 187; Simons, Grundrechte und Gestaltungsspielraum, S. 219 f. Zur bundesverfassungsgerichtlichen Darlegung vgl. etwa BVerfGE 7, 377 (415): „Die entscheidende Frage ist mithin, ob bei Wegfall der Niederlassungsbeschränkungen . . . mit hinreichender Wahrscheinlichkeit die Entwicklung . . . verlaufen . . . würde . . .“; 39, 1 (51 ff.) (zum Schwangerschaftsabbruch aber BVerfGE 88, 203 (262). Dazu kritisch Schlaich / Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, Rn. 526); 50, 290 (333). 217 Schlaich / Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, Rn. 524: „. . .So bleibt eigentlich nur die Aussage, daß das BVerfG in besonders gewichtigen Fällen besonders intensiv prüft.“ Ähnlich Chryssogonos, Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgebung, S. 190. 218 Dies zeigt sich schon deutlich in BVerfGE 7, 377 (405 ff.). Vgl. außerdem 39, 1 (51 ff.); 30, 250 (262 ff.); 50, 290 (340 ff., 355 ff., 365); 40, 196 (222 ff.). Bei der Prüfung des Gleichheitssatzes scheint es jedoch, daß das Verhältnismäßigkeitserfordernis als der strengste Kontrollmaßstab für den Gesetzgeber angesehen wird (vgl. BVerfGE 99, 367 (388): „Aus dem allgemeinen Gleichheitssatz ergeben sich je nach Regelungsgegenstand und Differenzierungsmerkmalen unterschiedliche Grenzen für den Gesetzgeber, die vom bloßen Willkürverbot bis zu einer strengen Bindung an Verhältnismäßigkeitserfordernisse reichen“). Demgegenüber dient der Maßstab des Willkürverbots nur als „Evidenzkontrolle“ (ebenda, S. 389: „. . . wenn die Unsachlichkeit der Differenzierung evident ist“). Weiterhin erscheint die Vertretbarkeitskontrolle als ein anderer, selbständiger Maßstab, der gerade in BVerfGE 99, 367 verwendet wird (vgl. ebenda, S. 390: „Es genügt vielmehr, daß die differenzierende Regelung in diesem Gesetz auf hinreichend sachbezogenen, nach Art und Gewicht vertretbaren Gründen beruht“). Vgl. auch Schlaich / Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, Rn. 506 zum Zusammenwirken des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit mit dem funktionell-rechtlichen Gesichtspunkt. 219 Von „Alles-oder-Nichts“-Approach sprach Rau, Selbst entwickelte Grenzen in der Rechtsprechung des United States Supreme Court und des Bundesverfassungsgerichts, S. 251.

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Trotzdem ist die Differenzierung von Kontrolldichten aus funktionell-rechtlicher Sicht nicht unwichtig. Indem das BVerfG aufgrund der Eigenart des in Rede stehenden Sachbereichs, der Möglichkeiten des Gesetzgebers, sich ein hinreichend sicheres Urteil zu bilden, sowie der Bedeutung der auf dem Spiele stehenden Rechtsgüter die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes nach der Evidenzkontrolle, der Vertretbarkeitskontrolle oder der intensivierten inhaltlichen Kontrolle überprüft, läßt sich die Funktion oder Aufgabe des Verfassungsgerichts und des Gesetzgebers aus funktionell-rechtlicher Sicht genauer verteilen, weil in dieser Weise die Größe der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers unter verschiedenen Situationen unterschiedlich bestimmt ist220. Zwar scheint die Stellungnahme des BVerfG zu dieser „DreiStufen-Lehre„in der Schwangerschaftsabbruch II-Entscheidung wieder zurückhaltend221, in der das Verfassungsgericht darlegte: „Ob sich hieraus für die verfassungsrechtliche Prüfung drei voneinander unterschiedliche Kontrollmaßstäbe herleiten lassen, bedarf keiner Erörterung; die verfassungsrechtliche Überprüfung erstreckt sich in jedem Fall darauf, ob der Gesetzgeber die genannten Faktoren „ausreichend“ berücksichtigt und seinen Einschätzungsspielraum „in vertretbarer Weise“ gehandhabt hat.“222, 223 Jedenfalls ist aber nicht zu verleugnen, daß besonders unter dem Einfluß des funktionell-rechtlichen Gedankens sowie der Entwicklung der unterschiedlichen Kontrolldichten das BVerfG anerkannt hat, daß die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers aufgrund der Funktions- und Aufgabenverteilung zwischen der Verfassungsgerichtsbarkeit und der Gesetzgebung in jeder Verfassungsrechtsprechung zu berücksichtigen ist224. Dies zeigt sich deutlich, wenn das BVerfG in einer neueren Entscheidung zum Mitbestimmungsergänzungsgesetz225 ausführt: „Der unterschiedlichen Weite des gesetzgeberischen Gestaltungsspielraums entspricht eine abgestufte Kontrolldichte bei der verfassungsgerichtlichen Prüfung. Kommt als Maßstab nur das Willkürverbot in Betracht, so kann ein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG erst festgestellt werden, wenn die Unsachlichkeit der Differenzierung evident ist. Dagegen prüft das Bundesverfassungsgericht bei Regelungen, die Personengruppen verschieden behan-

220 Zur Kritik dieser „Drei-Stufen-Lehre“ auch aus der funktionell-rechtlichen Perspektive s. aber unten c). 221 BVerfGE 88, 203. 222 BVerfGE 88, 203 (262). 223 Ebenso Schlaich / Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, Rn. 526; Rau, Selbst entwickelte Grenzen in der Rechtsprechung des United States Supreme Court und des Bundesverfassungsgerichts, S. 196 f.; Simons, Grundrechte und Gestaltungsspielraum, S. 218 (Fn. 567). 224 Die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers ist nach Simons aber vom BVerfG nur „vorgeblich anerkannt“. „Sie ist mangels ausreichender normativer Fundierung praktisch ohne jede Struktur, in ihrer konkreten Ausprägung lediglich ein Reflex der vom BVerfG festgelegten Reichweite des jeweiligen Grundrechts und scheint damit dem Gericht häufig zu kaum mehr als bloßer Gewissensberuhigung zu dienen.“ Simons, Grundrechte und Gestaltungsspielraum, S. 134. 225 BVerfGE 99, 367.

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3. Teil: Die Beiträge der Entwicklungen in den USA zur Debatte in Deutschland

deln oder sich auf die Wahrnehmung von Grundrechten nachteilig auswirken, im einzelnen nach, ob für die vorgesehene Differenzierung Gründe von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, daß sie die ungleichen Rechtsfolgen rechtfertigen können. Die Erwägungen, die dieser Abstufung zugrunde liegen, sind auch für die Frage von Bedeutung, inwieweit dem Gesetzgeber bei der Beurteilung der Ausgangslage und der möglichen Auswirkungen der von ihm getroffenen Regelung eine Einschätzungsprärogative zukommt. Für die Überprüfung solcher Prognosen gelten ebenfalls differenzierte Maßstäbe, die von der bloßen Evidenzkontrolle bis zu einer intensivierten inhaltlichen Kontrolle reichen. Dabei sind insbesondere die Eigenart des jeweiligen Sachverhalts und die Bedeutung der auf dem Spiel stehenden Rechtsgüter zu berücksichtigen; außerdem hängt der Prognosespielraum auch von der Möglichkeit des Gesetzgebers ab, sich im Zeitpunkt der Entscheidung ein hinreichend sicheres Urteil zu bilden.“226

c) Die funktionell-rechtliche Kritik und die rechtsvergleichende Reflexion Wie bereits erwähnt, wird die verfassungsgerichtliche Reaktion auf das Konfliktverhältnis zwischen der Verfassungsgerichtsbarkeit und der Gesetzgebung durch den Aufbau der abgestuften Kontrolldichten als Produkt des funktionellrechtlichen Gedankens angesehen. Dennoch scheint in funktionell-rechtlicher Sicht zweifelhaft, ob die differenzierten Kontrolldichten wirklich funkionell-rechtlich gesteuert sind227. Gerade aus der funktionell-rechtlichen Perspektive kritisiert Werner Heun heftig, daß die Abstufung der Kontrolldichte „sogar ausschließlich mit materiell-rechtlichen Argumenten vorgenommen“ wird228, denn „[e]ntscheidende Kriterien sind die fundamentale Bedeutung und der Rang der betroffenen Grundrechte sowie die Intensität des Grundrechtseingriffs“229, und folglich: „Je gewichtiger das betroffene Grundrecht und je höher die Intensität des Eingriffs ist, desto höhere Anforderungen sind an die Rechtfertigung des Eingriffs zu stellen.“ Und im Ergebnis: „Je höher die Anforderungen an die Eingriffsrechtfertigung sind, umso weniger darf der Eingriff auf eine knappe Tatsachenbasis oder unsichere Prognose gestützt werden.“230 Die Frage sei also nicht, „ob das Bundesverfassungsgericht oder der Gesetzgeber die bessere Prognose stellen kann. Das Bundesverfassungsgericht hat sich insoweit sogar oftmals als der bessere Prognostiker erwiesen. BVerfGE 99, 367 (389 f.). Vgl. etwa Schlaich / Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, Rn. 252. Dort wird behauptet, die verschiedenen Kontrolldichten seien nicht „funktionell-rechtliche Kompetenzkritierien selbständiger Art“, sondern vielmehr „materiell-rechtlich gesteuert“. Ähnlich Heun, Funktionell-rechtliche Schranken der Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 37 – 40; Simons, Grundrechte und Gestaltungsspielraum, S. 228 – 233; Chryssogonos, Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgebung, S. 190. 228 Heun, Funktionell-rechtliche Schranken der Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 37. 229 Heun, Funktionell-rechtliche Schranken der Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 38. 230 Heun, Funktionell-rechtliche Schranken der Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 38. 226 227

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Die Anforderungen an die Sicherheit der Prognose und Verläßlichkeit der Tatsachenbasis steigen lediglich mit der Bedeutung des Grundrechts und der Eingriffsintensität“231. Diese Kritik setzt also voraus, daß ein echtes funktionell-rechtliches Argument nicht oder mindestens an erster Stelle nicht vom Grundrechtsschutz ausgehen soll; statt dessen sei in erster Linie zu fragen, ob das BVerfG oder der Gesetzgeber im betroffenen Sachbereich oder Einzelfall „funktionsgerecht“ ist, eine Entscheidung zu treffen. Daher soll nach dieser Kritik die „Rücksicht auf die Eigenart der betreffenden Staatsfunktion“232 die entscheidende Rolle für die Abgrenzung der Kompetenzen des BVerfG und des Gesetzgebers spielen, wenn der funktionell-rechtliche Ansatz in der Praxis ernst genommen wird. Fraglich ist jedoch, ob der Appell an den Grundrechtsschutz und die funktionellrechtliche Überlegung durchaus unvereinbar sind. Zwar konzentriert sich der überkommene materiell-rechtliche Ansatz zur Lösung des Gewaltenteilungsproblems zwischen dem BVerfG und dem Gesetzgeber überwiegend auf die Begrenzung der Verfassungsgerichtsbarkeit durch die verfassungsgerichtliche Interpretation und Anwendung der Grundrechte233; aber das funktionell-rechtliche Argument als „neuer“ Ansatz schließt trotzdem diesen Aspekt nicht aus, sondern will im Hinblick auf die konkurrierenden Konkretisierungskompetenzen des BVerfG und des Gesetzgebers möglichst alle Überlegungen einbeziehen, die zu genaueren Kompetenzabgrenzungen beitragen können234. Aus dieser Perspektive läßt sich also schwer verstehen, weshalb die Kriterien der fundamentalen Bedeutung und des Rangs der betroffenen Grundrechte sowie der Intensität des Grundrechtseingriffs aus der funktionell-rechtlichen Betrachtung etwa Heuns ausschließlich für materiell-rechtlich gehalten werden müssen. In der Tat geht es hier nicht darum, ob die Grundrechte und die Grundrechtsdogmatik in Betracht kommen; vielmehr ist von zentraler Bedeutung, ob die „funktionsgerechte Organstruktur“ überhaupt berücksichtigt wird. Die These, je gewichtiger das betroffene Grundrecht und je höher die Intensität des Eingriffs sei, desto höhere Anforderungen seien an die Rechtfertigung des Eingriffs zu stellen, schließt die funktionell-rechtliche Überlegung in der Tat niemals aus. Geht man davon aus, daß das BVerfG seinem Wesen oder seiner Funktion nach besser in der Lage ist, die Grundrechte zu gewährleisten, so daß das BVerfG dort gegenüber dem Gesetzgeber „funktionsgerechter“ ist und daher die Prärogative zur Entscheidung hat, wo die (gewichtigen) Grundrechte berührt Heun, Funktionell-rechtliche Schranken der Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 38. Heun, Funktionell-rechtliche Schranken der Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 39. Auch Schneider, Verfassungsgerichtsbarkeit und Gewaltenteilung, S. 2103. 233 So Riecken, Verfassungsgerichtsbarkeit in der Demokratie, S. 440; vgl. auch Schlaich / Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, Rn. 494. 234 Zur Darstellung dieser (funktionell-rechtlichen) Überlegungen, die freilich die grundrechtliche Eingriffsintensität (eines Gesetzes) enthalten, vgl. z. B. Schuppert, Self-restraints der Rechtsprechung, S. 1193 ff.; auch Ossenbühl, Die Kontrolle von Tatsachenfeststellungen und Prognoseentscheidungen durch das Bundesverfassungsgericht, S. 504 ff.; U. Seetzen, Der Prognosespielraum des Gesetzgebers, in: NJW 1975, S. 429 ff. 231 232

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sind235, so kann nicht mehr behauptet werden, daß die Abstufung der Kontrolldichten nach der Bedeutung oder Wichtigkeit der betroffenen Grundrechte und nach der Intensität des Eingriffs keineswegs mit dem funktionell-rechtlichen Argument zu tun hat236. Gerade in dem Punkt tritt aber gleichzeitig die (entscheidende) Frage hervor, was eigentlich der funktionell-rechtliche Appell der „funktionsgerechten Organstruktur“ oder der „funktionellen Richtigkeit“ bedeutet und wie er ins Spiel kommen soll. Einerseits ist die oben dargestellte Kritik aus dieser Perspektive angreifbar, weil sie den Grundrechtsschutz bloß im materiell-rechtlichen Sinne beobachtet; andererseits spiegelt sie jedoch die Inhaltslosigkeit des funktionell-rechtlichen Ansatzes genau wider237. Eine nähere Betrachtung wird schnell zeigen, daß selbst die „funktionsgerechte Organstruktur“ nicht als Maßstab zur Aufgabenverteilung oder Gewaltenabgrenzung zwischen dem Verfassungsgericht und dem Gesetzgeber gelten und deswegen nicht unabhängig fungieren kann. Die Erläuterung, daß eine funktionell-rechtliche Kompetenzverteilung danach fragt, ob ein Verfassungsorgan seiner Zusammensetzung, seiner Legitimation oder seinem Entscheidungsprozeß nach „funktionsgerecht“ ist, bildet in Wirklichkeit keine konkreten, sinnvollen Maßstäbe zur Beurteilung von funktionsgerechter Organstruktur, es sei denn, die Bestimmungen von Zusammensetzung, Legitimation und Entscheidungsprozeß eines Staatsorgans ergeben sich wiederum aus den materiell-rechtlichen Betrachtungen, die dann auf die Gegenüberstellung von Rechtsanwendung und Rechtsetzung zurückgehen müssen, denn ein materiell-rechtliches Argument unter der Tradition der Rechtsanwendung setzt gerade diese Gegenüberstellung voraus, die gleichzei235 Die Argumentation als solche erinnert an die Analyse dieser Arbeit zu Dworkins Ansatz, der aus Sicht der vorliegenden Untersuchung bereits eine funktionsorientierte Betrachtungsweise darstellt. Hierzu oben 2. Teil II. 2. b) cc). 236 Heun führt zwar aus: „Der Kontrollmaßstab ist in diesem Fall nicht vorrangig Instrument einer funktionell-rechtlichen Abgrenzung, es sei denn in dem Sinn, daß jede Verfassungsnorm, d. h. etwa auch die Grundrechte, der funktionellen Abgrenzung zwischen dem Bundesverfassungsgericht und allen anderen Staatsorganen dient. Da sich die Aufgaben des Bundesverfassungsgerichts über seine Kontrollfunktion anhand des Maßstabs der Verfassung definieren, ist die Feststellung, daß die Normen der Verfassung Reichweite und Umfang der Kontrollkompetenz des Verfassungsgerichts bestimmen, selbstverständlich immer richtig, aber banal und wertlos. Denn eine solche Aussage würde die Eigenständigkeit des funktionell-rechtlichen Ansatzes als dogmatische Kategorie völlig entwerten.“ Heun, Funktionellrechtliche Schranken der Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 37. Diese Auffassung scheint jedoch anders zu sein als die hier dargestellte Argumentation, die nicht davon ausgeht, daß die Grundrechte selbst die Kompetenz des BVerfG bestimmten und begrenzen, sondern die, wie gerade formuliert, auf der Grundlage beruht, daß das BVerfG seinem Wesen oder seiner Funktion nach besser in der Lage ist, die Grundrechte zu gewährleisten, so daß das BVerfG dort gegenüber dem Gesetzgeber „funktionsgerechter“ ist und daher die Prärogative zur Entscheidung hat, wo die (gewichtigen) Grundrechte berührt sind. 237 Auf dieser Ebene wird die Formulierung Simons plausibel: „Funktionell-rechtlich beachtliche Auswirkungen können schließlich auch solche Entscheidungen haben, die originär funktionell-rechtlichem Denken weit entfernt stehen.“ Ders., Grundrechte und Gestaltungsspielraum, S. 230 f.

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tig das Fundament für die Gewaltentrennung zwischen der Verfassungsgerichtsbarkeit und der Gesetzgebung bildet238. Wenn aber die funktionsgerechte Organstruktur als selbständiger Maßstab zur Kompetenzabgrenzung diente, würde sie in der Tat nicht auf einer objektiven Grundlage, sondern auf der richterlichen Beliebigkeit beruhen239. Wie schon dargelegt, läßt sich der funktionell-rechtliche Ansatz als Reaktion auf die Krise der Annäherung der Rechtsanwendung an die Rechtsetzung in der Verfassungsrechtsprechung ansehen und zielt daher auf die Begrenzung der Verfassungsgerichtsbarkeit nicht (nur) durch die traditionelle Trennung von Rechtsanwendung und Rechtsetzung, sondern durch die nach der funktionsgerechten Organstruktur vorgenommenen Aufgaben- und Funktionsverteilung ab. Aber genau dadurch, daß sich der funktionell-rechtliche Ansatz weniger auf die Unterscheidung

238 Wie bereits erwähnt, geht der traditionelle materiell-rechtliche Ansatz von der Trennung der Rechtsanwendung und Rechtsetzung aus. Gerade auf dieser Prämisse ergeben sich die Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit in der materiell-rechtlichen Sicht aus der verfassungsgerichtlichen Anwendung und Interpretation der Verfassungsnorm bzw. der Grundrechte. Dazu vor allem oben a). 239 Gerade auf dieser Grundlage liegt ein funktionell-rechtlicher Versuch nahe, auf dogmatischer Ebene die Differenzierung zwischen Kontroll- und Handlungsnormen festzustellen. Dazu Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 306 f.: „Will man an der umfassenden Bindung aller staatlichen Gewalt an eine Verfassung mit universalem normativem Anspruch festhalten und trotzdem eine justizstaatliche Verdrängung der demokratischen und gewaltenteilenden Funktionenordnung vermeiden, muß man die Bedeutung der Verfassung als Handlungsmaßstab für die Staatsorgane und als Kontrollmaßstab für das BVerfG unterscheiden.“ Auch Jestaedt, Grundrechtsentfaltung im Gesetz, S. 187: „. . . Das ,Konkretisierungs‘-Theorem und die Disjunktionsthese [von Handlungs- und Kontrollmaßstab] stehen (folglich) in einem Verhältnis wechselseitiger Rechtfertigung und Stützung. Anders gewendet: Sie legitimieren – und delegitimieren! – einander wechselseitig.“ Dennoch kann die Differenzierung die funktionellrechtliche Grenze der Verfassungsgerichtsbarkeit schon deshalb nicht verdeutlichen, weil die Reichweite der Kontrollnorm, des „Willkürverbots“ des Art. 3 Abs 1 GG z. B., nicht einfach durch die begriffliche Gegenüberstellung von Kontroll- und Handlungsmaßstab zu bestimmen ist, sondern, genauso wie die Abstufung der Kontrolldichte, dargestellt beispielsweise in BVerfGE 50, 290 (333), vom „Gewicht des von der gesetzlichen Regelung mitbetroffenen Grundrechts“, also wieder von der Funktionsverteilung im Einzelfall abhängt, die selbst maßstablos ist. Vgl. dazu Schlaich / Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, Rn. 505 f. Vgl. auch W. Krebs, Kontrolle in staatlichen Entscheidungsprozessen: ein Beitrag zur rechtlichen Analyse von gerichtlichen, parlamentarischen und Rechnungshof-Kontrollen, 1984, S. 55, Fn. 22: „Die Qualifizierung als Handlungs- oder Kontrollnorm ist (damit) relativ und abhängig von der Funktion der Norm im Entscheidungsprozeß.“ Zur Differenzierung zwischen Kontrollund Handlungsnormen vgl. ferner Hesse, Funktionelle Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 269; ders., Die verfassungsgerichtliche Kontrolle der Wahrnehmung grundrechtlicher Schutzpflichten des Gesetzgebers, in: FS E. G. Mahrenholz, 1994, S. 541, 542. Kritisch Heun, Funktionell-rechtliche Schranken der Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 46 ff.; Jestaedt, Grundrechtsentfaltung im Gesetz, S. 186 ff.; C. Starck, Die Verfassungsauslegung, in: J. Isensee / P. Kirchhof (Hrsg.), HStR VII, 1992, § 164, Rn. 14; Klein, Verfassungsgerichtsbarkeit und Verfassungsstruktur – Vom Rechtsstaat zum Verfassungsstaat, S. 516 f.; Unruh, Der Verfassungsbegriff des Grundgesetzes, S. 526 f.; auch Böckenförde, Zur Lage der Grundrechtsdogmatik nach 40 Jahren Grundgesetz, S. 66; ders., Grundrechte als Grundsatznormen, S. 27.

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zwischen Rechtsanwendung und Rechtsetzung als auf die funktionsorientierte Verteilung von „Konkretisierungskompetenz“ zwischen Verfassungsgericht und Gesetzgeber richtet, muß sich ein funktionell-rechtliches Argument in der Folge entweder als zweckwidrig oder als bedeutungslos erweisen: Eine genauere Gewaltenteilung lediglich durch die keinesfalls objektiv konkrete „funktionsgerechte“ Verteilung von Konkretisierungskompetenzen, die sowohl das BVerfG als auch der Gesetzgeber besitzen, kann sich ohne materiell-rechtliche, d. h. den Richter bindende objektive Maßstäbe nur auf die richterliche subjektive Beurteilung oder Abwägung stützen240. Wenn aber der funktionell-rechtliche Ansatz nur auf der materiell-rechtlichen Grundlage funktionieren kann, kann das nur bedeuten, daß dieser Ansatz zur Kompetenzeinschränkung des BVerfG in der Tat wertlos ist241. Vor allem kann eine rechtsvergleichende Betrachtung die Schwierigkeiten des funktionell-rechtlichen Ansatzes ganz deutlich zeigen. Im 2. Teil wurde dargelegt, daß auch in Amerika das Funktions-Modell, das in der Praxis durch die nach den unterschiedlichen Grundrechtsbereichen und weiterhin den einzelnen Grundrechten abgestuften Prüfungsstandards gekennzeichnet ist, als Alternative zu dem schwachen judicial restraint bzw. judicial self-restraint gilt. Wie analysiert, kann sich jedoch die Auswahl eines angewendeten Prüfungsstandards, die auf eine genauere Begrenzung der Verfassungsgerichtsbarkeit zielt und deswegen auf einem objektiven Maßstab basieren soll, nicht allein auf die funktionell-rechtliche Über240 Daß lediglich der funktionell-rechtliche Ansatz nicht in der Lage ist, einen Maßstab zur Verteilung der Konkretisierungskompetenzen zu liefern, spiegelt sich auch bei Jestaedt deutlich wider, der diagnostiziert: „[D]as Schreckbild eines verfassungsgerichtlichen Konkretisierungsprimats oder gar –monopols ist selbst nur Symptom, nicht aber Ursache. Diese ist in der dem Konkretisierungskonzept immanenten Logik zu suchen.“ (Ders., Grundrechtsentfaltung im Gesetz, S. 156. Dazu näher 156 ff.) Infolgedessen reflektierten die funktionellrechtlichen Argumentationen „in aller Regel nur das funktionell-institutionelle Problem: daß nämlich das Konkretisierungsdenken nachgerade zwangsläufig dazu führt, daß das Bundesverfassungsgericht auf die ,Konkretisierungskompetenzen‘ der anderen Staatsorgane überzugreifen und deren Freiraum zur ,Konkretisierung‘ zu absorbieren droht.“ (Ders., Grundrechtsentfaltung im Gesetz, S. 173). Vgl. auch Schlaich / Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, Rn. 513: „Und doch bleiben entscheidende Zweifel, ob ein funktionell-rechtlicher Satz wie derjenige, zuständig sei das Organ, das der Entscheidung ,strukturell am nächsten‘ steht, sicherere Anhaltspunkte für die Reichweite und Gesetze der Verfassungsgerichtsbarkeit liefert als die traditionellen Kriterien der Gerichtsförmigkeit und Maßstabgebundenheit . . .“. Ähnlich Unruh, Der Verfassungsbegriff des Grundgesetzes, S. 529. 241 Vgl. an dieser Stelle auch Böckenförde, Zur Lage der Grundrechtsdogmatik nach 40 Jahren Grundgesetz, S. 64: „Der Gedanke funktionellrechtlicher Begrenzung verfängt sich in sich selbst. Die Funktion der Verfassungsgerichtsbarkeit läßt sich nicht unabhängig von den ihr zugewiesenen Kompetenzen, sondern erst aus ihnen heraus bestimmen. Mithin kommt es auf die konkreten, im Grundgesetz festgelegten Aufgaben und Befugnisse an. Ergibt sich daraus, daß es dem Verfassungsgericht obliegt, die Geltung der Grundrechte in näher geregelten Verfahren zu gewährleisten, und sind die Grundrechte auch objektive Grundsatznormen für alle Bereiche des Rechts, die gemäß Art. 1 Abs. 3 GG in diesem normativen Gehalt alle drei Staatsfunktionen binden, so kann der dadurch gegebene Kompetenzumfang des Verfassungsgerichts nicht durch den Verweis auf vorgebliche Funktionsgrenzen wieder geschmälert werden.“ Auch zitiert in ders., Grundrechte als Grundsatznormen, S. 26 f.

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legung stützen, die selbst in Wirklichkeit nichts zum konkreten normativen Maßstab zur Gewaltenabgrenzung gesagt hat. Vielmehr bildet in den USA das sich auf traditionelles Fallrecht oder Empirie stützende Common Law die Grundlage für die Anwendung und Weiterentwicklung der unterschiedlichen Prüfungsstandards, sein (im 2. Teil) immer wieder erwähntes Substanzproblem aber eine erfolgversprechende Begrenzung der Kompetenz des Supreme Court verhindert. Hier zeigt sich das schon oben genannte Problem der richterlichen Beliebigkeit, die infolge des Substanzproblems des Common Law durch das (letztlich unbegrenzte) richterliche Recht auf die Wahl zwischen der Befolgung der Präzedenzfälle und der case by case-Abwägung dargestellt ist, besonders deutlich. Den amerikanischen Erfahrungen ist also zu entnehmen, daß nicht die Eigenart der betroffenen Staatsfunktion, sondern der Hintergrund der Rechtsordnung, auf der die Staatsfunktion beruht, die Kompetenzabgrenzung zwischen der Verfassungsgerichtsbarkeit und der Gesetzgebung durch die abgestuften Prüfungsstandards oder Kontrolldichten entscheidet. Gerade aus dieser Perspektive läßt sich besonders gut erfassen, warum das Funktions-Modell in den USA auf das Common Law, der funktionell-rechtliche Ansatz in Deutschland auf die materiell-rechtliche dogmatische Grundlage zurückgeführt werden muß. Die Analyse zu den Erfahrungen in den USA zeigt ferner, daß das in Deutschland mehr oder weniger als Vorbild dargestellte242 amerikanische Funktions-Modell, das sich nicht nur durch die sachbereichsspezifische Thematisierung243, sondern insbesondere durch seinen Alles-oder-nichts-Approach, d. h. die bestimmte Prüfungsergebnisse suggerierenden Prüfungsstandards, auszeichnet, wegen der Verschmelzung von Normativität und Faktizität und daher von Rechtsanwendung und Rechtsetzung nicht in der Lage ist, zur Kompetenzabgrenzung zwischen dem Supreme Court und dem Gesetzgeber beizutragen, so daß die Auffassung, der funktionell-rechtliche Ansatz könne der Verfassungsgerichtsbarkeit eine genauere Grenze ziehen, im Hinblick auf das Scheitern der amerikanischen funktionsorientierten Kompetenzabgrenzung problematisch wird. Gerade aus dem Grund, daß selbst ein funktionell-rechtliches Argument inhaltslos ist und keinen konkreten Maßstab bildet, kann es dem Gewaltenteilungsproblem freilich keine echte Lösung versprechen. Infolgedessen symbolisieren weder die bereichsspezifische Abstufung noch der Alles-oder-nichts-Approach eine klare Funktionsoder Aufgabenverteilung244. Vielmehr ist immer noch entscheidend, ob ein objek242 So etwa Schuppert, Self-restraints der Rechtsprechung, S. 1192 ff.; Rau, Selbst entwikkelte Grenzen in der Rechtsprechung des United States Supreme Court und des Bundesverfassungsgerichts, S. 251 f.; Simons, Grundrechte und Gestaltungsspielraum, S. 227 f., 331 ff., 377, 379 ff. 243 Dabei kann oft ignoriert werden, daß auch die amerikanische Funktions- und Aufgabenverteilung zwischen dem Supreme Court und dem Gesetzgeber die (unterschiedliche) Bedeutung und Gewichtigkeit der einzelnen Grundrechte in Betracht zieht. Beispiel dafür sind die Kriterien der suspekten Klassifikation und der fundamentalen Rechte zur Anwendung des strict scrutiny test. 244 Darüber hinaus soll aus rechtsvergleichender Perspektive nicht vernachläßigt werden, daß sowohl die bereichsspezifische Abstufung als auch der Alles-oder-nichts-Approach

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tiver materiell-rechtlicher Maßstab zur Kompetenzabgrenzung besteht und wie er den Richter binden kann. Unter dem Common Law kann das amerikanische Verfassungsrecht einen solchen Maßstab nicht entwickeln; in der deutschen Tradition der Rechtsanwendung aber ist noch zu versuchen, die Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit auf der zwar typischen, aus rechtsvergleichender Sicht jedoch zutreffenden materiell-rechtlichen Ebene zur Bewältigung des Gewaltenteilungsproblems zwischen dem Verfassungsgericht und dem Gesetzgeber zu ziehen. Mit anderen Worten: Zur genauen Kompetenzabgrenzung zwischen dem Verfassungsgericht und dem Gesetzgeber ist die Gegenüberstellung von Rechtsanwendung und Rechtsetzung unentbehrlich.

2. Rückkehr zur materiell-rechtlichen Richtung a) Die materiell-rechtlichen Vorgaben für das BVerfG: Die Grundlage der Verfassungsrechtsdogmatik Gerade auf dem Hintergrund der Unterscheidung von Rechtsanwendung und Rechtsetzung gewinnt die bekannte Aussage von Klaus Schlaich ein besonderes Gewicht: „Nicht das Gericht, sondern die Verfassung als Prüfungsmaßstab des Gerichts ist entweder zurückhaltend oder deutlich greifend.“245 Besonders in diesem Sinne ist die materiell-rechtliche Tradition der Verfassungsrechtsdogmatik für unumgänglich zu halten, da die Verfassungsrechtsdogmatik, die die Erläuterung der für das Verfassungsrecht maßgeblichen Begründungen und Lösungsmuster bedeutet und daher das Verfassungsrecht mit rationaler Überzeugungskraft erklären soll246, als materiell-rechtliche Grundlage sowie Vorgabe für die (Verfassungs-) Rechtsanwendung des BVerfG dient247. Unter der Tradition der Rechtsaneigentlich als folgerichtiges Produkt des amerikanischen common law-Hintergrunds anzusehen sind (dazu oben 2. Teil unter III), die beiden sich also nicht voraussetzungslos auf Deutschland übertragen lassen. 245 Bereits Schlaich, Die Verfassungsgerichtsbarkeit im Gefüge der Staatsfunktionen, S. 112; auch zitiert in Schlaich / Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, Rn. 515. Ähnlich K. Korinek, Die Verfassungsgerichtsbarkeit im Gefüge der Staatsfunktion, in: VVDStRL 39 (1981), S. 7, 41; M. Brenner, Die neuartige Technizität des Verfassungsrechts und die Aufgabe der Verfassungsrechtsprechung, in: AöR 120 (1995), S. 248, 257 f. 246 Vgl. Rüthers, Rechtstheorie, Rn. 312. Vgl. auch C. Bumke, Der Grundrechtsvorbehalt: Untersuchungen über die Begrenzung und Ausgestaltung der Grundrechte, 1998, S. 30 f. Zu weiterer Literatur zum Begriff der Rechtsdogmatik vgl. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 22 f. (Fn. 5). 247 Dies bezeichnet Rüthers als Bindungsfunktion der Dogmatik für die Rechtsanwendung. Vgl. ders., Rechtstheorie, Rn. 325. Ähnlich N. Luhmann, Rechtssystem und Rechtsdogmatik, 1974, S. 19 ff.; R. Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, S. 331 f.; H. D. Jarass, Baustein einer umfassenden Grundrechtsdogmatik, in: AöR 120 (1995), S. 345, 346; W. Brohm, Die Dogmatik des Verwaltungsrechts vor den Gegenwartsaufgaben der Verwaltung, in: VVDStRL 30 (1972), S. 245, 248.

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wendung entwickelt sich die Verfassungsgerichtsbarkeit also immer noch auf dem dogmatischen, materiell-rechtlichen Weg, auch wenn das BVerfG die Konkretisierungskompetenz ausübt, die den Übergang von Rechtsanwendung zu Rechtsetzung eröffnet. An erster Stelle fällt die der Grundrechtsprüfung des BVerfG zugrunde liegende Grundrechtsdogmatik ins Auge, die nicht nur durch die Wissenschaft, sondern durch die Praxis immer weiter entwickelt wurde248. Indem das BVerfG ein Gesetz immer wieder nach der dogmatischen Abfolge von Schutzbereich, Eingriff und Rechtfertigung überprüft, ist dieses Prüfungsschema zum vorgegebenen dogmatischen Gebot für die verfassungsgerichtliche Grundrechtsprüfung geworden249. Zwar läßt sich diese Abfolge auf die Verfassungsrechtsprechung selbst zurückführen250. Dies bedeutet aber nicht, daß das Verfassungsgericht in der Tat ohne objektive Maßstäbe, nach Belieben verführe. Vielmehr stellt das dogmatische Gebot einen typischen kontinentaleuropäischen Begründungsstil dar, der immer wieder von der Erläuterung des Begriffs abstrakter Normen ausgeht und sich dann auf der Basis der Begriffserläuterung mit der Vermittlung zwischen den anzuwendenden abstrakten Normen und dem vor Augen stehenden konkreten Einzelfall beschäftigt251. Allein der Ausgangspunkt verkörpert die Forderung von richterlicher Bindung an das Gesetz und Recht unter der Tradition der Rechtsanwendung. Das genannte Prüfungsschema legt ferner einen Grundgedanken der typischen deutschen Grundrechtsdogmatik zugrunde, daß die Grundrechte ihren Schranken unterliegen und mit anderen einschlägigen Rechtsgütern zu einem Ausgleich gebracht werden müssen252. Dies zeigt sich bereits deutlich, wenn das BVerfG in der Entscheidung 248 Zur Entwicklung der Rechtsdogmatik durch die Gerichte und die Rechtswissenschaft s. Rüthers, Rechtstheorie, Rn. 317 – 320. Zur prägenden Rolle des BVerfG in der Entwicklung der Verfassungsrechtsprechung Schulze-Fielitz, Wirkung und Befolgung verfassungsgerichtlicher Entscheidungen, S. 396 ff.; ähnlich W. Hoffmann-Riem, Grundrechtsanwendung unter Rationalitätsanspruch. Eine Erwiderung auf Kahls Kritik an neueren Ansätzen in der Grundrechtsdogmatik, in: Der Staat 43 (2004), S. 203, 212. 249 Grundlegend: Pieroth / Schlink, Grundrechte, Rn. 195 ff. 250 Vgl. etwa M. Kloepfer, Grundrechtstatbestand und Grundrechtsschranken in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts – dargestellt am Beispiel der Menschenwürde –, in: C. Starck (Hrsg.), Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz, Bd. II, 1976, S. 405, 408 ff. 251 Zu diesem Falllösungsansatz, der auf dem kontinentaleuropäischen juristischen Denken beruht, vgl. K. Engisch, Einführung in das juristische Denken (1956), 9. Aufl. 1997; Fikentscher, Methoden des Rechts in vergleichender Darstellung, Bd. III, S. 641 ff. Desem Ansatz entspricht das genannte Grundrechtsprüfungsschema, das mit der Bestimmung des Schutzbereichs beginnt, der im deutschen in erster Linie die Interpretation der anzuwendenden Grundrechtsnormen betrifft. Dazu E. –W. Böckenförde, Schutzbereich, Eingriff, verfassungsimmanente Schranken. Zur Kritik gegenwärtiger Grundrechtsdogmatik, in: Der Staat 42 (2003), S. 165, 166; Richter / Schuppert / Bumke, Casebook Verfassungsrecht, S. 9 f.; Pieroth / Schlink, Grundrechte, Rn. 195 ff., 231 ff. Gerade dadurch unterscheidet sich die Grundrechtsprüfung in Deutschland von der in den USA, wo, wie im 2. Teil dargelegt, die „Bestimmung des Schutzbereichs“ von dem zu lösenden Streitfall ausgeht und sich aus der Analogie mit den Präzedenzfällen und dadurch aus der Befolgung der Präzedenzfälle oder case by caseAbwägungen ergibt.

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„Schnellreinigung“ 253 auf der Prämisse der Trennung von Grundrechtsschutzbereich und -schranken erklärt, daß der Begriff „Wohnung“ in Art. 13 Abs. 1 GG weit auszulegen ist, denn es sei bedenklich, „den Wirkungsbereich des Grundrechts vom Schrankenvorbehalt her zu bestimmen und etwa zu argumentieren: weil bei weiter Auslegung die Schrankenziehung praktische Schwierigkeiten bereite, sei die engere Auslegung zu wählen, bei der die Schranken gegenstandslos würden. Vielmehr ist zunächst die materielle Substanz des Grundrechts zu ermitteln; erst danach sind unter Beachtung der grundsätzlichen Freiheitsvermutung und des Verfassungsgrundsatzes der Verhältnismäßigkeit und Zumutbarkeit die rechtsstaatlich vertretbaren Schranken der Grundrechtsausübung zu fixieren.“254 Diese „weite Schutzbereiche, weite Schranken“-Aussage255 stellt also die deutsche Tradition der Grundrechtsgewährleistung unter dem Grundgesetz dar, die eine Ausgleichs-

252 Dieser Gedanke liegt nahe in der Hinsicht, daß die Grundrechte in Deutschland nicht, wie in den USA, als Kehrseite der parlamentarischen Gesetzgebung verstanden werden; sondern sie bedürfen mehr oder minder gesetzgeberischer Ausgestaltung. In dem Sinne ist das deutsche Grundrechtsverständnis nicht mit dem amerikanischen gleichzusetzen, da das letztere überwiegend als die Darstellung des Gedankens von vorstaatlichen Naturrechten anzusehen ist. Vgl. in diesem Zusammenhang J. Isensee, Das Grundrecht als Abwehrrecht und als staatliche Schutzpflicht, in: ders. / P. Kirchhof (Hrsg.), HStR V, 1992, § 111, Rn. 46. Zur deutschen Tradition der Grundrechtsgewährleistung und -dogmatik unter dem Grundgesetz vgl. etwa Bumke, Der Grundrechtsvorbehalt; S. 53 ff.; R. Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte. Reflexive Regelung rechtlich geordneter Freiheit, 2003, S. 48 ff., 153 ff., 315 ff. (vgl. dort ferner 15 ff., sowie Jestaedt, Grundrechtsentfaltung im Gesetz, S. 87 ff., zur geschichtlichen Entwicklung); auch Böckenförde, Schutzbereich, Eingriff, verfassungsimmanente Schranken, S. 170 f. 253 BVerfGE 32, 54. 254 BVerfGE 32, 54 (72). In diese Richtung auch Isensee, Das Grundrecht als Abwehrrecht und als staatliche Schutzpflicht, Rn. 44 f. 255 Vgl. ferner BVerfGE 32, 54, 75 f.: „. . . Bei reinen Geschäfts- und Betriebsräumen wird dieses Schutzbedürfnis durch den Zweck, den sie nach dem Willen des Inhabers selbst erfüllen sollen, gemindert. Die Tätigkeiten, die der Inhaber in diesen Räumen vornimmt, wirken notwendig nach außen und können deshalb auch die Interessen anderer und die der Allgemeinheit berühren. Dann ist es folgerichtig, daß die mit dem Schutz dieser Interessen beauftragten Behörden in gewissem Rahmen diese Tätigkeiten auch an Ort und Stelle kontrollieren und zu diesem Zweck die Räume betreten dürfen . . .“ Für „weite Schutzbereiche, weite Schranken“ plädiert etwa U. Scheuner, Die Funktion der Grundrechte im Sozialstaat. Die Grundrechte als Richtlinie und Rahmen der Staatstätigkeit (1971), in: ders., Staatstheorie und Staatsrecht. Gesammelte Schriften, 1978, S. 737, 745: „. . . Aber eine Freiheit von jeder Beschränkung ist auch schon als Vorstellung eine leere Idee, weil Freiheit nur dort sich entfaltet, wo sie gegenüber Schranken und Grenzen sich geltend macht.“ Vgl. auch W. Berg, Konkurrenzen schrankendivergenter Freiheitsrechte im Grundrechtsabschnitt des Grundgesetzes, 1968, S. 42; M. Kloepfer, Grundrechte als Entstehenssicherung und Bestandsschutz, 1970, S. 44. Zur Verteidigung weiter Schutzbereiche bzw. einer weiten Tatbestandstheorie vgl. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 290 ff. Vgl. ferner W. Kahl, Vom weiten Schutzbereich zum engen Gewährleistungsgehalt. Kritik einer neuen Richtung der deutschen Grundrechtsdogmatik, in: Der Staat 43 (2004), S. 167 ff., der eine Tendenz vom weiten Schutzbereich zum engen Gewährleistungsgehalt in der jüngeren Grundrechtsjudikatur des BVerfG sieht und sie kritisiert.

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vorstellung und -operation enthält256, die sich aber nicht nach Belieben des Richters durchsetzt, sondern „einem schärferen Argumentationszwang“ zu unterwerfen ist257. Der seit langem vom BVerfG regelmäßig angewandte Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als „Schranken-Schranke“, die einen Kernpunkt der deutschen Schrankendogmatik bleibt, ist als dogmatische Darstellung des Argumentationszwangs anzusehen. Indem er zwar die Grundrechtsbindung für den Gesetzgeber verstärkt, gleichzeitig aber eine normierte Ausgleichsvorstellung durch seine Erfordernisse der Geeignetheit, Erforderlichkeit sowie Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne widerspiegelt, stellt er nicht nur den Gedanken dar, daß Grundrechte Schranken unterliegen, sondern liefert auch dogmatische materiell-rechtliche Kriterien für die Schrankenziehung bzw. den Ausgleich258. Die Anwendung des genannten Prüfungsschemas bedeutet also die verfassungsgerichtliche Befolgung nicht nur einer vorgegebenen dogmatischen Prüfungsform, sondern eines der deutschen Grundrechtsdogmatik zugrunde liegenden inhaltlichen Gebots. Die verfassungsgerichtliche Durchführung sowohl der Grundrechtsprüfung beginnend mit der Begriffserklärung der anzuwendenden Grundrechtsnormen als auch des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit hat die Tradition der Rechtsanwendung anschaulich verkörpert, die hier durch die richterliche Bindung an die festgelegte Grundrechtsdogmatik gekennzeichnet ist. Dies besagt freilich, daß auch die wertbezogenen Prüfungen wie Interessenabwägungen nach diesen dogmatischen Vorgaben vorgenommen werden müssen259. 256 Zur Ausgleichsvorstellung bei der Grundrechtsprüfung in Deutschland vgl. etwa P. Lerche, Grundrechtsschranken, in: J. Isensee / P. Kirchhof (Hrsg.), HStR V, 1992, § 122, Rn. 3 ff. 257 Starck, Die Verfassungsauslegung, Rn. 36. Vgl. aber H. H. Klein, Grundrechte am Beginn des 21. Jahrhunderts, in: Merten / Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, § 6, Rn. 69 – 72, zur Kritik an der Ausweitung der Grundrechtsschranken durch die extensive Auslegung der Grundrechtstatbestände. 258 Vgl. an dieser Stelle B. Schlink, Freiheit durch Eingriffsabwehr – Rekonstruktion der klassischen Grundrechtsfunktion, in: EuGRZ 1984, S. 457, 467: „Die Schranke, die dem Staat dabei gezogen ist, scheidet keine verdinglichten Sphäre, sondern errichtet für den Staat die Anforderung, daß er seine Maßnahmen an den Grundrechten ausweisen können muß, unter dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz insbesondere als geeignete und notwendige Mittel zur Erreichung legitimer Zwecke.“ Der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne als Maßstab lehnt Schlink aber ab, die sich nach ihm letztlich nur auf die subjektive Beurteilung der Prüfenden stützen kann. Siehe dazu die nächste Fußnote. 259 Vgl. aber Schlink, Freiheit durch Eingriffsabwehr, S. 462: „Auf die Geeignetheit und Notwendigkeit hin kann methodisch korrekt, rational kontrollierbar und dogmatisch generalisierbar überprüft werden. Die Wertungs- und Abwägungsoperationen der Verhältnismäßigkeitsprüfung im engeren Sinn sind dagegen methodisch und dogmatisch befriedigend nicht zu bewältigen und letztlich nur dezisionistisch zu leisten.“ Um zu vermeiden, daß die objektiven Abwägungen durch die subjektiven des Richters ersetzt sind, wird also immer wieder versucht, die Prüfung der Verhältnismäßigkeit objektivierend zu verfeinern. So z. B. Schlink, ebenda, S. 462 ff.; ders., Abwägung im Verfassungsrecht, 1976, S. 127 ff.; ders., Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, S. 458 ff. (nach Schlink ist die Prüfung der Verhältnismäßigkeit auf die Prüfung der Geeignetheit und Erforderlichkeit zu beschränken); M. Gentz, Zur Verhältnismäßigkeit von Grundrechtseingriffen, in: NJW 1968, S. 1600, 1601 ff.

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3. Teil: Die Beiträge der Entwicklungen in den USA zur Debatte in Deutschland

Auf der Grundlage ist die Entfaltung der objektiven Dimension der Grundrechte ebenfalls in das dogmatische Geflecht einbezogen und daher zum Bestandteil der materiell-rechtlichen Vorgaben für die nachfolgende Rechtsanwendung geworden. Seit dem Lüth-Urteil wurde der objektive Gehalt der Grundrechte sowohl in der Literatur als auch in der Praxis so weitgehend anerkannt260 und entwickelt, daß die nachfolgenden Grundrechte betreffende Verfassungsrechtsprechung davon auszugehen hat, daß die Grundrechte als subjektive Rechte und zugleich als objektive Normen gelten261. Trotz der Anerkennung der Grundrechte als objektive Normen, die wegen der erheblichen Unbestimmtheit des objektiven Grundrechtsgehaltes zur Ausweitung der Konkretisierungskompetenz des BVerfG und folglich zur zunehmenden Belastung für den Gesetzgeber führen kann, ist aus einer Gesamtbetrachtung der Verfassungsrechtsprechung abzulesen, daß die überkommene dogmatische Begründungsweise, einen konkreten Fall jedenfalls ausgehend von Erklärungen der anzuwendenden abstrakten Verfassungs- bzw. Grundrechtsnormen und zwar nach dogmatischen Maßstäben – vor allem nach Aspekten der Verhältnismäßigkeit – zu lösen, sich auch bei der Prüfung der als objektive Normen geltenden Grundrechte überhaupt nicht verändert. Dies besagt an erster Stelle, daß sowohl die Aufgabe, die das BVerfG dem Gesetzgeber stellt, als auch der Gestaltungsspielraum, den das BVerfG dem Gesetzgeber überläßt, mögliche Folgen verfassungsgerichtlicher Interpretation, d. h. verfassungsgerichtlicher Rechtsanwendung, sind, die keinesfalls von der angewendeten Verfassungsnorm abweichen darf. Deswegen spiegelt die teils weit, teils eng bestimmte Schutzpflicht des Staates bzw. des Gesetzgebers, deren Ableitung eine der Folgen der Entfaltung der objektiven Dimension der Grundrechte ist, weniger die richterliche Beliebigkeit als den großen Spielraum der Interpretation wider, denn in beiden Fällen sind das Ob und Wie der Schutzpflicht folgerichtig und zwar manchmal ausdrücklich262 aus der verfassungsgerichtlichen Interpretation der anzuwendenden Verfassungsnorm(en) erschlossen. Wegen der hohen Unbestimmtheit des Inhalts der Schutzpflicht bewegt sich das BVerfG zwischen dem Grundsatz, daß eine Auslegung zu wählen ist, die „die juristische Wirkungskraft der Grundrechtsnorm am stärksten entfaltet“263, und der Grundhaltung, daß dem Gesetzgeber ein weiter Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum bei der Erfüllung von Schutzpflichten zukommt264, und gerade auf diese Weise kommt es in der Sache mehr oder weniger zur Abwägung, die sich fast bei jeder Interpretation der Grundrechte, die zumeist Prinzipiencharakter 260 Ablehnend aber W. Cremer, Der sog. objektiv-rechtliche Gehalt der Grundrechte in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Eine kritische Würdigung eines „Grundbestands des Grundrechtswissens“, in: W. Erbguth u. a. (Hrsg.), Rechtstheorie und Rechtsdogmatik im Austausch: Gedächtnisschrift für Bernd Jeand’Heur, 1999, S. 59 ff. 261 Zu jüngeren Beispielen vgl. etwa BVerfGE 92, 26 (46); 96, 56 (64). 262 Beispiel: BVerfGE 39, 1 (42, 44 f.). 263 Vgl. z. B. BVerfGE 6, 55 (72); 39, 1 (38). 264 Vgl. z. B. BVerfGE 56, 54 (81); 77, 170 (214 f.); 79, 174 (202); 88, 203 (251 ff., 254 f., 262); 92, 26 (46); 96, 56 (64). Ähnlich 39, 1 (68, 71 ff.) (abweichende Meinung der Richterin Rupp-v. Brünneck und des Richters Dr. Simon).

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haben, schwer vermeiden läßt265. Hier tritt das Prinzip der Verhältnismäßigkeit wieder als dogmatischer Maßstab ein266, deren Handhabung sich überwiegend auf die Angemessenheits-Verhältnismäßigkeit bzw. die Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne, nämlich auf den Ausgleich mehrerer Prinzipien konzentriert267. Aus dieser Perspektive ist die richterliche Bindung an die Grundrechtsdogmatik nicht mit der Entfaltung des objektiven Grundrechtsgehalts verschwunden. Unter der Tradition der Rechtsanwendung spielt also die Grundrechtsdogmatik als materiell-rechtliche Vorgabe für die verfassungsgerichtliche Rechtsanwendung eine bedeutende Rolle. Sie ist schon deshalb wichtig, weil sie zur Gewinnung der immer wieder betonten objektiven Maßstäbe dient, die die Rechtsanwendung binden. Die Schwierigkeit einer die (verfassungsgerichtliche) Rechtsanwendung bindenden Grundrechtsdogmatik besteht jedoch darin, daß die Ausgestaltung sowie Vertiefung der Grundrechtsdogmatik angesichts der Offenheit und Unbestimmtheit der Verfassungsnorm einerseits und der Kompetenz des BVerfG zur authentischen Interpretation andererseits sich auf die bundesverfassungsgerichtliche Rechtsprechung stützen müssen. Anders ausgedrückt: Sie sind durch die bundesverfassungsgerichtliche Konkretisierung der Verfassung zu gewinnen. Daraus ist zu entnehmen, daß das BVerfG auch die Aufgabe übernehmen muß, durch seine Rechtsprechung die Grundrechtsdogmatik fortzuentwickeln. Daher verwundert es nicht, daß 265 Zum Prinzipiencharakter der Grundrechte R. Alexy, Theorie der Grundrechte, 1985, S. 71 ff. Dazu ferner Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 73 ff.; Jestaedt, Grundrechtsentfaltung im Gesetz, S. 206 ff. 266 Vgl. etwa BVerfGE 56, 54, 79 f.: „Ist die Lärmbekämpfung nach wissenschaftlichen Erkenntnissen im Interesse der körperlichen Integrität der Bürger geboten und ist sie deshalb eine grundrechtliche Pflicht, dann kann deren Erfüllung nicht ausschließlich davon abhängen, welche Maßnahmen gegenwärtig technisch machbar ist. Maßgebliches Kriterium kann in einer am Menschen orientierten Rechtsordnung letztlich nur sein, was dem Menschen unter Abwägung widerstreitender Interessen an Schädigung und Gefährdungen zugemutet werden darf. Eine andere Beurteilung ließe sich auch nicht mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit vereinbaren, dem es nicht entspräche, den Verkehrsbedürfnissen nach Maßgabe des Standes der Technik auch dann stets den Vorzug zu geben, wenn durch die damit verbundenen Lärmbelästigungen Dritte erheblich beeinträchtigt werden und wenn diese Beeinträchtigung auf andere Weise in vertretbarer Weise gemildert werden könnte.“ 267 Ebenda. Vgl. ferner Böckenförde, Grundrechte als Grundsatznormen, S. 20 f. Nach Böckenförde hat dies zur Folge, daß der Spielraum einer Rechtsprechung eröffnet ist, „die den Maßstab dieser Verhältnismäßigkeit, der ohne weitere Ausformung letztlich mit Gerechtigkeit synonym ist, als vorgeblich justiziablen, weil für richterliche Rechtsanwendung hinreichend inhaltsgewissen Maßstab handhabt. „Konkretisierung“ ist ein Wort dafür, das den Vorgang eher verhüllt als erklärt.“ Für Robert Alexy ist dies aber folgerichtig aus dem Prinzipiencharakter der Grundrechtsnormen abgeleitet, der sich nicht nur bei Grundrechten als objektiven Normen, sondern schon bei Grundrechten als subjektiven Abwehrrechten darstellen kann. Dazu näher Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 71 ff., 100 ff.; ders., Grundrechte als subjektive Rechte und als objektive Normen, S. 55 ff. Zur Verwendung der AngemessenheitsVerhältnismäßigkeit bei der Prüfung der Grundrechte als objektiver Nomen vgl. auch E. Klein, Grundrechtliche Schutzpflicht des Staates, in: NJW 1989, S. 1633, 1638; G. Hermes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit. Schutzpflicht und Schutzanspruch aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, 1987, S. 201 f.

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die Verfassungsrechtsprechung einen mehr oder weniger allgemeinen Charakter hat268. Gerade vor diesem Hintergrund läßt sich erklären, wieso die Begründungsweise der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung in Deutschland ganz anders aussieht, wo der amerikanische common law-Appell an „one case at a time“269 unvorstellbar ist. Eine Gesamtschau der Verfassungsrechtsprechung zeigt, daß die Begründung des BVerfG jedenfalls von der Begriffserläuterung zu den betreffenden abstrakten Verfassungsnormen ausgeht, die sich gerade in der Tradition der Rechtsanwendung auf die Entwicklung der Verfassungs- und vor allem der Grundrechtsdogmatik konzentriert und infolgedessen an der Ausgestaltung und Verankerung der materiell-rechtlichen Vorgaben für die Rechtsanwendung nachfolgenden Verfassungsrechtsprechung teilnimmt, auch in Entscheidungen, in denen die Verfassungsgerichtsbarkeit schon als „Rechtsetzung“ beurteilt und kritisiert wurde270. Wenn aber die Grundrechtsdogmatik erst durch die verfassungsgerichtliche Konkretisierungskompetenz entwickelt wird und der paradoxe „Bundesverfassungsgerichtspositivismus“ daher unvermeidlich ist, muß die Frage aufgeworfen werden, ob und inwiefern die Grundrechtsdogmatik als objektive materiell-rechtliche Vorgabe fungieren kann.

b) Die materiell-rechtliche Kritik an der Verfassungsgerichtsbarkeit unter besonderer Berücksichtigung des Arguments von Böckenförde Gerade vor dem Hintergrund des „Bundesverfassungsgerichtspositivismus“ wurde materiell-rechtliche Kritik am BVerfG geübt, die an der Trennung von Rechtsanwendung und Rechtsetzung festhält. An erster Stelle wird dieser Ansatz durch die Kritik Böckenfördes am deutlichsten dargestellt, der von der Überzeugung ausgeht, daß die Grundrechtsdogmatik einen problematischen Weg einschlägt, indem sie objektiven Gehalte der Grundrechte annimmt. Nach Böckenförde führt die Entfaltung der objektiven Dimension der Grundrechte, die er als Grundsatznormen bezeichnet271, höhere Unbestimmtheit, d. h. schlimmere Maßstablosigkeit bei der Verfassungsinterpretation, herbei272. Daraus folge, daß sich 268 Damit ist der große Spielraum des BVerfG bei der Verfassungsinterpretation, nicht jedoch die die Grenze der Interpretation überschreitende Meinungsäußerung gemeint, die, wie dargestellt in BVerfGE 93, 121 [dazu oben II. 2. c) bb)], nicht durch Verfahren zur Verfassungsmäßigkeitsprüfung veranlaßt ist. Dazu näher unten d) sowie unten 3. b). 269 Zur Terminologie C. Sunstein, One Case at a Time: Judicial Minimalism on the Supreme Court, 1999. Dazu oben 2. Teil unter II. 2. b) aa). 270 Siehe oben II. 2. c) aa). 271 Vgl. Böckenförde, Grundrechte als Grundsatznormen. Diese Bezeichnung soll sich begrifflich mit Robert Alexys „Prinzipien“ oder Prinzipien-Normen verbinden. Vgl. dazu Böckenförde, ebenda, S. 21; Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 75 ff. 272 Böckenförde, Grundrechte als Grundsatznormen, S. 21: „Prinzipien-Normen sind Optimierungsgebote, die in unterschiedlichem Maße erfüllt werden können und bei denen das gebotene Maß der Erfüllung nicht nur von den tatsächlichen, sondern auch den rechtlichen

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die verfassungsgerichtliche Anwendung der Grundrechte „von der Interpretation zur Konkretisierung“ verändere, sofern „die Grundrechte den Charakter von solchen Prinzipien-Normen annehmen“273. Dadurch verschärft sich das Spannungsverhältnis zwischen dem BVerfG und dem Gesetzgeber: „Beide – Gesetzgeber und BVerfG – betreiben Rechtsbildung in Form der Konkretisierung und konkurrieren darin. In diesem Konkurrenzverhältnis hat der Gesetzgeber die Vorhand, das Verfassungsgericht aber den Vorrang. Zwar vollzieht das Verfassungsgericht die kraft Art. 1 Abs. 3 GG bestehende Bindung des Gesetzgebers nur kontrollierend nach, konstituiert sie nicht. Es verstärkt sie aber, weil es in der Anwendung der Grundsatznorm wegen deren Unbestimmtheit selbst konkretisierend vorgeht und eben diese Konkretisierungen ihrerseits Verfassungsrang erhalten und den Gesetzgeber wiederum binden. Das Ergebnis ist eine Veränderung in der Zuordnung der Gewalten und eine Verlagerung des Schwerpunkts zwischen ihnen. Es vollzieht sich ein gleitender Übergang vom parlamentarischen Gesetzgebungsstaat zum verfassungsgerichtlichen Jurisdiktionsstaat. Er vollzieht sich auf dem Weg über die Entfaltung der Grundrechte als objektive Grundsatznormen und die Kompetenz des Verfassungsgerichts zu deren Konkretisierung. Die Aufgabe des BVerfG verändert sich insoweit von rechtsanwendender Rechtsprechung zu verfassungsbezogener Jurisdictio im alten Sinn, die der Trennung von Rechtsetzung und Rechtsanwendung vorausliegt. Das den kontinentaleuropäischen Verfassungsstaat prägende Konzept von Gewaltenteilung, das auf der klaren Unterscheidung von Rechtsetzung und Rechtsanwendung und deren organisatorisch-institutioneller Umsetzung beruht, wird ein Stück zurückgebildet. Das Verfassungsgericht wird zu einem stärker politischen (nicht parteipolitischen) Organ, zu einem Verfassungs-Areopag; der Zipfel der Souveränität, den es kraft seiner Kompetenz zur verbindlichen Letztentscheidung in der Hand hält, weitet sich aus. Die Frage, die sich daran anknüpft, ist die der demokratischen Legitimation des Verfassungsgerichts . . .“274.

Böckenfördes Behauptung hat zunächst einmal den Anschein erweckt, als ob erst die Annahme der Grundrechte als Grundsatznormen oder objektive Wertentscheidungen die Konkretisierungskompetenz des BVerfG herbeiführt275. Mit Blick auf die anderen Werke Böckenfördes soll allerdings verdeutlicht werden, daß nach ihm die Konkretisierung durch das BVerfG schon wegen der Unbestimmtheit der Verfassung unvermeidlich ist. Zum Beispiel führte er aus, daß die BestimmunMöglichkeiten der Erfüllung abhängt. Sie haben eine normative Tendenz auf Optimierung, ohne indes auf einen bestimmten Gehalt fixiert zu sein; sie sind – notwendigerweise – der Abwägung zugänglich. In diesem Prinzipiencharakter verbinden sich Unbestimmtheit, Beweglichkeit und Dynamik . . .“. Im einzelnen vgl. auch S. 9, 13. 273 Böckenförde, Grundrechte als Grundsatznormen, S. 22. 274 Böckenförde, Grundrechte als Grundsatznormen, S. 25. Auch ders., Zur Lage der Grundrechtsdogmatik nach 40 Jahren Grundgesetz, S. 61 f. 275 Vgl. Böckenförde, Grundrechte als Grundsatznormen, S. 22; ähnlich ders., Schutzbereich, Eingriff, verfassungsimmanente Schranken, S. 166. Kritik unter dieser Prämisse Heun, Funktionell-rechtliche Schranken der Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 61; B. Jeand’Heur, Grundrechte im Spannungsverhältnis zwischen subjektiven Freiheitsgarantien und objektiven Grundsatznormen. Zur Erweiterung der Grundrechtsfunktionen und deren Auswirkungen auf die Grundrechtsdogmatik, in: JZ 1995, S. 161, 166. 13 Hwang

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gen des Verfassungsinhalts Prinzipien enthalten, die „der Ausfüllung und Konkretisierung bedürfen, um im Sinne einer Rechtsanwendung vollziehbar zu sein“276; neuerdings betonte er nochmals, die Verfassung enthalte in ihrem materiellen Teil, insbesondere den Grundrechten, „Prinzipien oder Grundsatzregelungen. Sie sind durch Weite und inhaltliche Unbestimmtheit gekennzeichnet. Interpretation tendiert hier dazu, in Konkretisierung überzugehen: Sie geht über die Inhalts- und Sinnermittlung von etwas Vorgegebenem hinaus, schreitet fort zur – auch schöpferischen – Ausfüllung von etwas nur der Richtung oder dem Prinzip nach Festgelegtem, das im übrigen offen ist. Es wird, um als Entscheidungsmaßstab verwendbar zu sein, einer gestaltenden Ver-bestimmung zugeführt (Konkretisierung)“277. Daraus ist zu entnehmen, daß nach Böckenfördes Auffassung die Entfaltung der objektiven Dimension der Grundrechte nicht den Grund für die verfassungsgerichtliche Konkretisierungskompetenz konstituiert, sondern die Kompetenz als solche weiterführend verstärkt. Für ihn besteht das Problem vielmehr darin, daß die Anerkennung der objektiven Dimension der Grundrechte die Offenheit sowie Unbestimmtheit der Grundrechtsnormen steigert, indem der Prinzipien-Charakter der Grundrechte herausgestellt wird, so daß sich das Bedürfnis nach Konkretisierung vermehren muß. Daraus folge, daß sich die Konkretisierungskompetenz so ausdehne, daß sich die verfassungsgerichtliche Rechtsanwendung zu verfassungsgerichtlicher Rechtsetzung verändere. Aus Sicht Böckenfördes sind also die Grundrechte auf subjektive Freiheitsrechte zurückzunehmen, um den durch die Rechtsetzung bzw. die Politisierung der Verfassungsgerichtsbarkeit gekennzeichneten verfassungsgerichtlichen Jurisdiktionsstaat zu vermeiden, den der große Gestaltungsspielraum der Konkretisierungskompetenz des BVerfG durch die Entfaltung der objektiven Dimension der Grundrechte bewirkt278. Aus dem Gesagten läßt sich ablesen, daß nach Böckenförde die Gegenüberstellung von Rechtsanwendung und Rechtsetzung als Anhaltspunkt der Begrenzung der Verfassungsgerichtsbarkeit dienen muß. Da im wesentlichen eine Konkretisie276 Böckenförde, Die Methoden der Verfassungsinterpretation, S. 2091. Ähnlich ders., Diskussionsbeitrag, S. 173. 277 E.-W. Böckenförde, Verfassungsgerichtsbarkeit: Strukturfragen, Organisation, Legitimation, in: ders., Staat, Nation, Europa, 2. Aufl. 2000, S. 157, 167 f. Zu Böckenfördes Unterscheidung zwischen Interpretation und Konkretisierung auf der Prämisse der Annahme der Verfassung als Rahmenordnung vgl. ferner ders., Die Eigenart des Staatsrechts und der Staatsrechtswissenschaft, S. 22 f.: „Gerade um den rahmenartigen Charakter und das oftmals Unvollständige und Fragmentarische staatsrechtlicher Regelungen im Verfassungsbereich nicht zu überspielen, ist es vielmehr erforderlich, normativ Gegebenes und Festgelegtes von nicht Geregeltem und offengehaltenen Spielräumen, inhaltlich bestimmte Normierungen von der Aufstellung von Prinzipien, die konkretisierungsoffen sind, zu unterscheiden. Diese Unterschiede dürfen nicht in einer vagen ,Konkretisierung‘, die sich von methodisch gesicherter Interpretation entfernt, verwischt oder gar aufgehoben werden.“ Wie eine sich von „Konkretisierung“ unterscheidende und trotzdem immer noch auf Rechtsanwendung im konkreten Einzelfall zielende „Interpretation“ der „unvollständigen“ und „fragmentarischen“ Verfassungsnormen praktisch geltend gemacht ist, bleibt jedoch ungeklärt. 278 Vgl. Böckenförde, Grundrechte als Grundsatznormen, S. 28 f.

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rung bei der Verfassungsinterpretation unentbehrlich ist, kann sie in der Tat nicht verboten, sondern nur in bestimmtem Maße beschränkt werden, damit sie nicht zur Ersetzung der verfassungsgerichtlichen Rechtsanwendung durch die verfassungsgerichtliche Rechtsetzung und folglich zur Verletzung des Gestaltungsspielraums des demokratischen Gesetzgebers279 führen wird. Aus Böckenfördes Sicht gilt die dogmatische Rückkehr zum subjektiven Grundrechtsgehalt als angemessene Grenze für die Konkretisierungskompetenz, weil die Beschränkung auf die Gewährleistung der subjektiven Abwehrrechte in der Lage ist, den Gesetzgeber von „gerichtlicher Erforderbarkeit und konkretisierender Festlegung durch das Verfassungsgericht mit bindender Wirkung“ zu befreien280. Böckenfördes Vorschlag einer Rückkehr zu den subjektiven Rechten als (erfolgversprechende) Grenze der Verfassungsgerichtsbarkeit zeigt also eine Umdeutung der Auffassung Carl Schmitts, obwohl seine Warnung vor einem Jurisdiktionsstaat gerade Schmitts These in der Weimarer Republik vor dem Hintergrund des Grundgesetzes wiedergibt281. Während Schmitt die Verfassungsgerichtsbarkeit aufgrund ihres widersprüchlichen Wesens vorbehaltlos abgelehnt hat, versucht Böckenförde unter dem Grundgesetz, die Konkretisierungskompetenz des BVerfG einzuschränken, damit die Verfassungsgerichtsbarkeit die Grenze der Rechtsanwendung nicht überschreitet. Nach Böckenförde kann also die Politisierung der Verfassungsgerichtsbarkeit immer noch verhindert werden. Die Auffassung Böckenfördes steht jedoch nicht außer Zweifel282. Zunächst einmal stellt sich die Frage, ob und inwieweit die Rückkehr zum subjektiven, liberalen Grundrechtsverständnis zur Einschränkung der Verfassungsgerichtsbarkeit beitragen kann. Böckenfördes Vorschlag erinnert an die Erfahrung in den USA, in denen das traditionelle liberale Grundrechtsverständnis stets vorherrscht, die Begrenzung der starken Kompetenz des Supreme Court aber immer noch in Rede steht. 279 Böckenfördes These ist immer wieder von seinem demokratischen Bewußtsein begleitet, das im Zusammenhang mit der Problematik der Verfassungsgerichtsbarkeit gegenüber der Gesetzgebung ähnlich wie die herrschende Kritik in den USA aussieht. Dazu etwa ders., Grundrechte als Grundsatznormen, S. 25 f., 31; Zur Lage der Grundrechtsdogmatik nach 40 Jahren Grundgesetz, S. 62, 72 f.; Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 176 ff. Vgl. auch ders., Schutzbereich, Eingriff, verfassungsimmanente Schranken, S. 187 [s. unten c)]. Repräsentativ zu seinem Verständnis der Demokratie ders., Demokratie als Verfassungsprinzip, in: ders., Staat, Verfassung, Demokratie, S. 289 ff. 280 So Böckenförde, Grundrechte als Grundsatznormen, S. 28 f. 281 So R. Mehring, Zu den neu gesammelten Schriften und Studien Ernst-Wolfgang Bökkenfördes, in: AöR 117 (1992), S. 449, 464. Zur heutigen Kritik in Bezug auf Schmitts Warnung etwa W. Hoffmann-Riem, Das Ringen um die verfassungsgerichtliche Normenkontrolle in den USA und Europa, in: JZ 2003, S. 269, 274. 282 Zur Kritik an der These Böckenfördes etwa Heun, Funktionell-rechtliche Schranken der Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 58 ff.; Jeand’Heur, Grundrechte im Spannungsverhältnis zwischen subjektiven Freiheitsgarantien und objektiven Grundsatznormen, S. 166 ff.; Jestaedt, Grundrechtsentfaltung im Gesetz, S. 125 ff.; Riecken, Verfassungsgerichtsbarkeit in der Demokratie, S. 396 ff.; P. Unruh, Zur Dogmatik der grundrechtlichen Schutzpflichten, 1996, S. 54 f.

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3. Teil: Die Beiträge der Entwicklungen in den USA zur Debatte in Deutschland

Ob und in welchem Umfang die Beschränkung des Grundrechtsverständnisses auf subjektive Abwehrrechte zur Lösung des Konfliktverhältnisses von Verfassungsgericht und Gesetzgeber beitragen kann, erscheint mit Blick auf die amerikanische Lage fragwürdig. Daher lohnt es sich, die These Böckenfördes aus der rechtsvergleichenden Perspektive zu betrachten und examinieren. Zunächst ist der Frage nachzugehen, ob oder welche Zusammenhänge zwischen der Verwirklichung der Grundrechtsfunktion(en) einerseits und der Stellung der Verfassungsgerichtsbarkeit im Gefüge der Staatsfunktionen und folglich dem Gewaltenteilungsproblem zwischen dem Verfassungsgericht und dem Gesetzgeber andererseits bestehen. Dadurch soll verdeutlicht werden, ob Böckenfördes Vorschlag aus der Perspektive der Rechtsvergleichung begründet und zweckmäßig ist. Aufgrund dieses Zwischenergebnisses ist weiterhin zu beleuchten, wie sich das Wesen der Politisierungsgefahren der Verfassungsgerichtsbarkeit in Deutschland in der Tat klar von dem des Gewaltenteilungsproblems in den USA unterscheidet und wie infolgedessen die Gefahren einer Politisierung des BVerfG abgewehrt werden können.

c) Die rechtsvergleichende Reflexion über den Einfluß der Entfaltung der Grundrechtsfunktion auf das Verhältnis von Verfassungsgericht und Gesetzgeber Wie im 2. Teil dargestellt, zeichnet sich die amerikanische Grundrechtsidee typischerweise durch das vorkonstitutionelle Naturrecht aus, das sich mit der common law-Tradition verbindet und angesichts der Erfahrungen mit der englischen Parlamentssouveränität bei der amerikanischen verfassungsrechtlichen Grundrechtsgewährleistung im Vergleich zu England besonders hervorgehoben wird. Vor diesem Hintergrund bleibt in den USA der sogenannte objektive Grundrechtsgehalt unbekannt. Dies zeigt sich schon dadurch deutlich, daß Rechte auf staatliche Leistungen (welfare rights) vom Supreme Court nicht anerkannt werden283. Trotzdem wurde zugleich dargelegt, daß der Supreme Court bei der Grundrechtsgewährleistung immer wieder eine starke Rolle gespielt hat, die den verfassungsrechtlichen Grundrechtsschutz verwirklicht, gleichzeitig aber keineswegs unbestritten ist, sofern die Verfassungsgerichtsbarkeit durch ihre Aufgabe des Grundrechtsschutzes mit der Gesetzgebung in Konflikt gerät. Die von der common law-Tradition in den Vordergrund gerückte starke Verfassungsgerichtsbarkeit der USA stellt typischerweise eine absolute Grundrechtsgewährleistung dar, die den grundrechtsbedrohenden Charakter des Gesetzesrechts voraussetzt und deswegen der Gesetzgebung gegenübersteht. Infolgedessen liegt es nahe, daß sich das Konfliktverhältnis zwischen 283 Vgl. etwa Dandridge v. Williams, 397 U.S. 471, 484 – 487 (1970); Lindsey v. Normet. 405 U.S. 56, 74 (1972); Lavine v. Milne, 424 U.S. 577, 584 & n.9 (1976). Ähnliche Stellung hat der Supreme Court zu right to education sowie right to health care genommen. Vgl. San Antonio Indep. Sch. Dist. v. Rodriguez, 411 U.S. 1, 35 (1973); Harris v. Mcrae, 448 U.S. 297, 318 & n.20 (1980); Youngberg v. Romeo, 457 U.S. 307, 317 (1982).

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dem Supreme Court und dem Gesetzgeber notwendigerweise durch die Verstärkung solcher absoluten Grundrechtsgewährleistung verschärft284. Die absolute Grundrechtsgewährleistung, die die Ausgleichsvorstellung nicht oder mindestens nicht wie in Deutschland kennt, konstituiert jedoch nicht den Hauptgrund für das Gewaltenteilungsproblem in den USA. Vielmehr spielt die Frage die entscheidende Rolle, nach welchem Maßstab der Supreme Court seine Aufgabe des Grundrechtsschutzes erfüllt. Aus den Darlegungen des 2. Teils wird verdeutlicht, daß die Gefahr einer im wesentlichen starken und mit dem Gesetzgeber im Spannungsverhältnis stehenden Verfassungsgerichtsbarkeit in Amerika nicht daraus entstand, daß der Supreme Court so an seiner Aufgabe der Grundrechtsgewährleistung festhält, daß seine Kompetenzausübung zur Verletzung der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers führt. Das eigentliche Problem besteht darin, daß die Intervention des Supreme Court in die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers durch Verfassungswidrigerklärung materiell-rechtlich maßstablos, d. h. ohne objektive materiell-rechtliche Vorgaben, die unter der substanzlosen common lawTradition unbekannt bleiben, vorgenommen wird. Infolgedessen entscheidet das Common Law selbst die Prüfungsintensität, das als einziger Maßstab für Ob und Wie der Gewährleistung eines Grundrechts zwangsläufig dazu führt, daß die Verfassungsgerichtsbarkeit in der Tat nach Belieben des Supreme Court, das immer wieder durch das richterliche Recht auf die Wahl zwischen der Befolgung der Präzedenzfälle und der case by case-Abwägung zum Ausdruck kommt, ein Gesetz überprüft. Auf diese Weise verändert sich die verfassungsgerichtliche Überprüfung des Gesetzes in Wirklichkeit zur Konkurrenz des subjektiven Willens zwischen dem Supreme Court und dem demokratischen Gesetzgeber, so daß sich die dadurch hervorgerufene Kritik notwendigerweise immer wieder auf die countermajoritarian difficulty des Supreme Court richtet, die zwar relativ die Gewichtigkeit der demokratischen Willensbildung im Prozess der Gesetzgebung herausstellt, im Hinblick auf das Substanzproblem des Common Law aber nicht gelöst werden kann. Den Erfahrungen der USA ist also zu entnehmen, daß das Ausmaß des Grundrechtsschutzes, inklusive der anerkannten Grundrechtsfunktionen, nicht an der Entstehung des Dilemmas des Supreme Court zwischen der countermajoritarian difficulty und dem Common Law teilnimmt. Mit anderen Worten: Die im Vergleich zum Gesetzgeber starke Stellung des Supreme Court spiegelt sich nicht durch die umfangreiche oder vollständige verfassungsgerichtliche Grundrechtsgewährleistung, sondern dadurch wider, daß der Supreme Court vor dem Hintergrund des 284 Darüber hinaus soll nur am Rande vermerkt werden, daß gerade im Hinblick auf die Vorbehaltlosigkeit der von der common law-Tradition anerkannten Gewährleistung eines Grundrechts die Stärke des Grundrechtsschutzes in den USA und der Bundesrepublik Deutschland als unvergleichbar erscheint. Daß in den USA die Entwicklung der objektiven Dimension der Grundrechte fehlt, bedeutet nicht, daß der amerikanische Grundrechtsschutz schon deswegen „schwächer“ ist als der deutsche. Eine die common law-Anekennung voraussetzende absolute Gewährleistung, von der die deutsche Grundrechtsdogmatik durch deren Betonung des Ausgleichs des Grundrechts mit anderen betreffenden Rechtsgütern unterschieden wird, stellt im Gegensatz dazu einen starken Grundrechtsschutz dar.

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3. Teil: Die Beiträge der Entwicklungen in den USA zur Debatte in Deutschland

Substanzproblems der common law-Tradition, das im wesentlichen aus der Verschmelzung von Normativität und Faktizität und deswegen von Rechtsanwendung und Rechtsetzung resultiert, durch sein (letztlich beliebiges) Wählen zwischen der Befolgung der Präzedenzfälle und der case by case-Abwägung den im konkreten Einzelfall anzuwendenden Prüfungsmaßstab für sich selbst entscheidet. Aus dem Vorhergehenden wird also deutlich, daß nicht die verfassungsgerichtliche Entfaltung der Grundrechtsgewährleistung, sondern vielmehr das Fehlen der objektiven materiell-rechtlichen Maßstäbe zur verfassungsgerichtlichen Grundrechtsgewährleistung zu einer unkontrollierbaren Verfassungsgerichtsbarkeit führt. Wenn es also richtig ist, daß nach Böckenförde die Konkretisierungskompetenz des BVerfG, die eine verfassungsgerichtliche Rechtsetzung, d. h. eine verfassungsgerichtliche Kompetenzausübung ohne objektive materiell-rechtliche Vorgaben, ermöglicht, nicht erst durch die Entwicklung der objektiven Dimension der Grundrechte geschaffen wird, sondern schon im Wesen der Verfassungsgerichtsbarkeit enthalten ist, so ist festzustellen, daß nicht die Entfaltung der objektiven Grundrechtsgehalte, sondern bereits die Konkretisierungskompetenz des BVerfG zum Gewaltenteilungsproblem in Deutschland führen kann. Die Politisierungsgefahren der Verfassungsgerichtsbarkeit lassen sich infolgedessen nicht durch die Rückkehr zum subjektiven Grundrechtsverständnis vermeiden. Denn die Umgestaltung der Grundrechtsdogmatik kann das Problem der Konkretisierung vielleicht mildern, aber keineswegs beseitigen. Nimmt man an, daß wegen der Offenheit und Unbestimmtheit der Verfassungsnorm eine verfassungsgerichtliche Konkretisierung der Natur nach nicht nur unvermeidlich, sondern sogar besonders erforderlich ist verglichen mit einfachem Gesetz, und daß, wenn man Schmitts Ansichten teilt, die Konkretisierung als solche zwangsläufig zur Rechtsetzung und folglich zur Politisierung der Justiz führen wird, so kann die Lösung nicht durch die Grenzziehung, sondern nur durch die Abschaffung der Verfassungsgerichtsbarkeit gefunden werden. Aus dieser Perspektive kann Böckenfördes grenzziehender Vorschlag, die Grundrechtsfunktion auf subjektive Abwehrrechte zu beschränken, nur wenig zur Einschränkung der Kompetenzausübung des BVerfG beitragen. Gleichermaßen läßt sich Böckenfördes Behauptung kritisieren, daß auch die klassische Grundrechtsdogmatik in die Richtung reformiert werden soll, den Schutzbereich eines Grundrechts durch die Unterscheidung zwischen dem Sach- und Lebensbereich des Grundrechts und seinem Gewährleistungsinhalt einzuengen, um in der SchrankenPhase eine allgemeine Tendenz zu dem insbesondere durch die Anwendung verfassungsunmittelbarer immanenter Schranken herbeigeführten „Richtervorbehalt“ zu mildern, d. h. eine Beschädigung der rechtsstaatlich-gewaltenteiligen Verfassungsstruktur zu vermeiden285. Zwar kann man annehmen, daß Böckenfördes Vorschlag 285 Böckenförde nimmt an, daß die heutige Grundrechtsdogmatik den Grundrechtsinhalt ohne Rücksicht auf die Eigenart des einzelnen Grundrechts aus der Perspektive einer abstrakten, einheitlichen Freiheitsvorstellung zu verstehen sucht, mit der Folge, daß der Schutzbereich eines Grundrechts so abstrakt und so weit bestimmt wird, daß auch der Eingriff ausgeweitet wird und ein Ausgleich zwischen tangierten Grundrechten und anderen Rechtsgütern

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vielleicht einen „Richtervorbehalt“ einschränken (nicht ausschließen!) und dem Gesetzgeber größere Gestaltungsfreiheit gewähren kann, indem die Grundrechtsprüfung gegebenenfalls in der Phase der Bestimmung des Gewährleistungsinhalts erledigt wird. Dennoch bleibt festzustellen, daß eine in Wirklichkeit nach Belieben des Richters vorgenommene Argumentation auch bei der Interpretation stattfinden kann, die also (genauso wie Konkretisierung!) möglicherweise zur Gewaltenverschiebung vom Gesetzgeber zum Verfassungsgericht führen wird286. Da aber die Verfassungsinterpretation des BVerfG unter dem Grundgesetz keinesfalls verweigert, sondern nur, wie Böckenförde behauptet, in bestimmtem Maße beschränkt werden kann, läßt sich die Politisierung der Verfassungsgerichtsbarkeit, die durch die genannte Gewaltenverschiebung realisiert ist, auch nicht durch eine Grenzziehung verhindern. Böckenfördes Vorschlag einer begrenzten, „historisch-genetischen“ Interpretation der als Rahmenordnung geltenden Verfassung aus demokratischer Überlegung287 widerspricht sogar der Tradition der Rechtsanwendung, denn gerade diese Tradition fordert, angesichts der Unbestimmtheit der Verfassungsnorm und der verfassungsgerichtlichen Kompetenz zur Verfassungsrechtsprechung, die Verfassungsrechtsdogmatik für die nachfolgende Rechtsanwendung durch die Verfassungsinterpretation des BVerfG zu vertiefen und zu vervollständigen. Im Hinblick auf die schon oben dargelegte dogmatische, materiell-rechtliche Entwicklungslinie unter der Tradition der Rechtsanwendung ergibt sich trotz des Gesagten aber nicht, daß die heutige Lage in Deutschland als Realisierung der Pobei der Eingriffsrechtfertigung vorgenommen werden muß, bei der das Schrankenproblem des „Richtervorbehalts“ aber durch die richterliche beliebige Handhabung der Schrankendogmatik entstehen kann. Deshalb plädiert er dafür, auf der Grundlage der Auseinanderhaltung von Sach- und Lebensbereich und Gewährleistungsinhalt den Gewährleistungsinhalt des Grundrechts durch eine konkrete historisch-genetische Ermittlung zu begreifen, um „präziser zu bestimmen, welcher Freiheitsgehalt den einzelnen Grundrechten innewohnt und von ihnen geschützt wird“ und damit „das Schrankenproblem von Beliebigkeitseffekten zu entlasten“. Vgl. ders., Schutzbereich, Eingriff, verfassungsimmanente Schranken, S. 166 ff., 174 ff. Die junge, viel diskutierte Entscheidung zur Glykol-Liste (BVerfGE 105, 252) nennt er als Beispiel dieses Ansatzes (S. 178). 286 Dadurch zeigt sich also deutlich, daß all dies ein Problem ist, das jede Verfassungsinterpretation notwendigerweise enthält. 287 Vgl. Böckenförde, Schutzbereich, Eingriff, verfassungsimmanente Schranken, S. 187. Dort erfasst er den Rahmencharakter der Verfassung aus der demokratischen Perspektive und betont daher, die Vorgaben der Verfassung „nicht als umfassend, sondern eher als begrenzt zu verstehen. Es soll bewußt eine Offenheit für die Rechtsgestaltung durch den Gesetzgeber erhalten bleiben und dieser nicht durch ein stets wachsendes Geflecht von Verfassungskonkretisierungen an die Kandare gelegt werden. Die Verfassung ist deshalb, zumal ihr aus gutem Grund Vorrang vor den Gesetzen zukommt, nicht extensiv zu interpretieren, vielmehr erscheint es strukturell angemessen, ihre Vorgaben nicht umfassend oder gar flächendeckend zu verstehen.“ Eine historisch-genetische Interpretation diene also dazu, diese Vorgaben „in ihrer normativen Stoßrichtung präzise zu erfassen und auch zu begrenzen, nicht aber bestehende Festlegungen ausufernd zur Quelle neuer Festlegungen zu machen“. Zu Böckenfördes Versuch, in der Verfassungsrechtsprechung das Konzept der Verfassung als Rahmenordnung zum Tragen zu bringen, vgl. BVerfGE 72, 330 (388 ff.); 86, 148 (212). Dazu s. oben Fn. 185.

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litisierungsgefahren der Verfassungsgerichtsbarkeit anzusehen ist. Zwar kann nicht verleugnet werden, daß die Verfassungsgerichtsbarkeit schon ihrem Wesen nach eine Konkretisierungskompetenz enthält, die durchaus den Übergang von Rechtsanwendung zu Rechtsetzung eröffnet hat. Auf der Grundlage der Verfassungsrechts- und insbesondere der Grundrechtsdogmatik, die heutzutage überwiegend durch das BVerfG entwickelt ist, ist allerdings noch der Frage nachzugehen, ob die durch die Konkretisierungskompetenz herbeigeführte „Rechtsetzung“ des BVerfG genauso wie die bereits von Anfang an mit der Rechtsanwendung vermischte Rechtsetzung des Supreme Court angesehen und bewertet werden kann. Während in den USA die gerichtliche Rechtsetzung materiell-rechtlich maßstablos vorgenommen wird, wird in Deutschland die gerichtliche „Rechtsetzung“ stets als „schöpferische“ Rechtsfindung verstanden und bezeichnet288, die aus Sicht der deutschen Tradition der Rechtsanwendung immerhin niemals von einem objektiven Maßstab, nämlich von „richterlicher Bindung an das Gesetz und Recht“, losgelöst werden kann289. Aus der Perspektive der Rechtsvergleichung bedarf also die im deutschen Kontext genannte und (in erster Linie von Böckenförde) befürchtete „verfassungsgerichtliche Rechtsetzung“ einer näheren begrifflichen Erklärung.

d) Die rechtsvergleichende Reflexion über die Politisierungsgefahren der Verfassungsgerichtsbarkeit Wie oben dargestellt, geht die Verfassungsrechtsprechung jedenfalls von der Interpretation der anzuwendenden abstrakten Verfassungsnormen aus. Erst danach folgt die konkrete Falllösung, die sich gerade aus der Verfassungsinterpretation und nach dogmatischen Maßstäben, etwa der Verhältnismäßigkeit, ergibt. Zwar ist dem zuzustimmen, daß wegen des Prinzipiencharakters der Verfassung die (Verfassungs-) Rechtsanwendung ausgehend von der Verfassungsnorm notwendigerweise Elemente schöpferischer Rechtsfindung bzw. Konkretisierung enthält. Allein der Ausgangspunkt von Verfassungsinterpretation in Verbindung mit dem daraus entstehenden selbstverständlichen Gebot, daß jede Interpretation auf die Verfassungsnorm zurückzuführen sein muß, hat allerdings eindeutig impliziert, daß auch die vom Hintergrund des Erfordernisses einer Interpretation in der Tradition der Rechtsanwendung abgeleitete Konkretisierung nicht von der Verfassungsnorm abweichen darf. In diesem Sinne ist Konkretisierung im wesentlichen als Bestandteil der Interpretation anzusehen. Sie hat dem BVerfG also wie die Interpretation einen So etwa BVerfGE 3, 225 (243). So Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Rn. 60; ähnlich K. A. Bettermann, Die rechtsprechende Gewalt, in: J. Isensee / P. Kirchhof (Hrsg.), HStR II, 1987, § 73, Rn. 27 f. Vgl. auch Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, S. 7 (Fn. 14). Dort macht Rüthers diesen Unterschied deutlich, wenn er zur Aussage von John Shipman Gray, daß „all the law is judge-made law“, bemerkt: „Die prinzipielle Richtigkeit dieser Aussage auch für ein kodifiziertes Recht wird durch die darin regelmäßig enthaltene Bindung des Richters an das Gesetz eingeschränkt.“ 288 289

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großen Spielraum eingeräumt; gleichzeitig bedeutet sie aber genauso wie Interpretation keineswegs, daß das fundamentale Gebot von richterlicher Bindung an das Gesetz und Recht deswegen gleichgültig wird oder sogar ignoriert werden kann. Kurz: Problem und Grenze der Konkretisierung sind in der Tat Problem und Grenze der Interpretation. Gerade auf dieser Erkenntnisgrundlage ist festzustellen, daß Konkretisierung bei der Verfassungsinterpretation einerseits unvermeidbar290, andererseits aber als notwendige Folge oder gewissermaßen sogar Synonym von Interpretation nach dogmatischen Maßstäben vorzunehmen ist, nach Maßstäben, die zwar überwiegend durch das BVerfG selbst entwickelt sind, im Hinblick auf das Gebot der oben genannten Zurückführbarkeit der Interpretation auf die Verfassungsnorm aber keineswegs Produkt der richterlichen Beliebigkeit sein können. Wie dargelegt, spiegelt das ganze Grundrechtsprüfungsschema, das die Verfassungsrechtsprechung stets befolgt, die Eigenart der deutschen Tradition der Verfassungsinterpretation bzw. rechtsanwendung wider. Das bedeutet, daß trotz ihrer Unbestimmtheit die Verfassungsnorm sowohl Ausgangspunkt als auch Bindungsquelle für die Interpretation des BVerfG ist, und zwar wird dies durch die verfassungsgerichtliche Befolgung des genannten Prüfungsschemas erfüllt. Als eine Darstellung dieser Eigenart dient es, daß die in diese Prüfungsabfolge einbezogenen Grundsätze, die zur Vervollständigung der anzuwendenden Dogmatik vom BVerfG entwickelt wurden, ihre normative Grundlage jedenfalls direkt in der Verfassung finden können und müssen. Daher ist es als die erste und oftmals die zentrale Aufgabe der Rechtswissenschaft anzusehen, den verfassungsrechtlichen Grundlagen dieser Grundsätze nachzugehen. Zum Beispiel ist für Diskussionen um den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit immer relevant, aus welcher Verfassungsnorm dieses Prinzip abgeleitet ist291. Aus dieser Perspektive ist die Dogmatik immer noch in der Lage, objektive materiellrechtliche Vorgaben für die nachfolgende Rechtsanwendung zu liefern. Ihre Ausgestaltung durch das BVerfG ist die Folge der Verfassungsinterpretation, die zwar sehr weit gehen kann, aber immer an die Verfassungsnorm und nur an die Verfassungsnorm gebunden ist. Infolgedessen kann die Grenze der verfassungsgerichtlichen Konkretisierungs- bzw. Interpretationskompetenz nur darin liegen, daß jedes vom BVerfG selbst entwickelte Gebot in der Lage sein muß, seine Grundlage auf die Verfassungsnorm zurückzuführen292. Aber auch und gerade auf dieser Basis 290 Die Unvermeidlichkeit wird noch anschaulicher, wenn man den Blick auf die Interpretation des einfachen Gesetzes lenkt. Dort besitzt der Richter trotz des relativ bestimmten Inhalts des Gesetzes einen ziemlich großen Auslegungsspielraum. Die Studie von Bernd Rüthers zeigt eingehend und deutlich, wie die ganze deutsche Privatrechtsordnung einen erheblichen interpretativen Inhaltswandel unter gewandelten politischen Verhältnissen erfahren hat. Vgl. ders., Die unbegrenzte Auslegung. 291 Zur wissenschaftlichen Diskussion etwa Wittig, Zum Standort des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im System des Grundgesetzes, S. 818 ff.; Schneider, Zur Verhältnismäßigkeits-Kontrolle insbesondere bei Gesetzen, S. 390 – 392; Schlink, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, S. 447 – 449. Auch das BVerfG beschäftigt sich mit dieser Frage. Vgl. z. B. BVerfGE 19, 342 (348 f.); 23, 127 (133); 35, 382 (400 f.); 38, 348 (368); 65, 1 (44).

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läßt sich die Konkretisierung klar von der von Bindung an Gesetz und Recht losgelösten Rechtsetzung unterscheiden293, deren Ausübung aus der Hand des Gerichts im strengeren Sinne nur unter dem Common Law stattfinden kann, das die Gegenüberstellung von Rechtsanwendung und Rechtsetzung nicht kennt294. Daraus folgt, daß die Politisierungsgefahren der Verfassungsgerichtsbarkeit in Deutschland, vor denen Böckenförde warnt, nicht als mit dem Dilemma in den USA vergleichbar anzusehen sind: Während die Politisierungsgefahren unter dem Common Law aus der Vermischung von Rechtsetzung und Rechtsanwendung in der Verfassungsrechtsprechung entstehen, die sich im common law-System immer wieder mit dem zu lösenden Fall beschäftigt und deswegen in erster Linie eher auf Fallvergleichung als auf Normauslegung konzentriert, ergeben sie sich in der Tradition der Rechtsanwendung vielmehr aus der Konkretisierungskompetenz des Verfassungsgerichts, die aber jedenfalls zur verfassungsgerichtlichen Kompetenz der (authentischen) Interpretation gehört und auf diese Weise nicht als Rechtsetzung, sondern, wenn Politisierungsgefahren daraus entstehen, als offensichtliche Darstellung der „unbegrenzten Auslegung“295 zu bezeichnen ist, die in der Tradition der Rechtsanwendung in Kauf genommen werden muß, aber auch gerade vor dem Hintergrund der Unterscheidung von Rechtsanwendung und Rechtsetzung nicht wirklich unbegrenzt wird. Die rechtsvergleichende Betrachtung soll besonders deutlich gezeigt haben, wie sich die Verfassungsrechtsprechung des BVerfG im Gegensatz zur amerikanischen Verfassungsgerichtsbarkeit immer wieder durch das Gebot von richterlicher Bindung an Gesetz und Recht auszeichnet und wie die Verfassungsrechtsdogmatik mittlerweile eine große Rolle gespielt hat296. Aus der 292 Vgl. an dieser Stelle auch G. Robbers, Zur Verteidigung einer Wertorientierung in der Rechtsdogmatik, in: Dreier (Hrsg.), Rechtspositivismus und Wertbezug des Rechts, S. 162, 167: „Der Text der Verfassung, der mögliche Wortsinn seiner Normierungen in der jeweiligen Zeit beitet eine wesentliche Stabilisierung der Verfassungstradition auch in der Auslegung.“ 293 In diese Richtung auch D. Merten, Demokratischer Staat und Verfassungsgerichtsbarkeit, in: DVBl. 1980, S. 773, 778: „Das Verfassungsgericht ist darauf verwiesen, seine Entscheidungen aus der verfassungsgesetzlichen Grund- und Rahmenordnung und in nachprüfbarer Interpretation abzuleiten; es muß argumentieren und darf nicht wie der Gesetzgeber dekretieren.“ 294 Rüthers kritisiert: „Betrachtet man die wertende und normbildenden Elemente richterlicher Tätigkeit als Rechtsanwendung und grenzt diese in einem strengen Gesensatz von der Rechtsetzung ab, so wird der in der Sache rechtspolitische Vorgang einer wertenden Gebotsbildung durch den Richter, der keimhaft in jeder Rechtsanwendung enthalten ist, terminologisch eliminiert.“ Ders., Die unbegrenzte Auslegung, S. 473. Es ist allerdings zu betonen, daß auch die Behauptung einer Gegenüberstellung von Rechtsanwendung und Rechtsetzung das schöpferische Element der richterlichen Tätigkeit niemals versagen kann und will. Vielmehr hält diese Gegenüberstellung daran fest, daß im Gegensatz zur Rechtsetzung die (richterliche) Rechtsanwendung jedenfalls der Bindung an Gesetz und Recht unterliegen muß. Dies erkennt auch Rüthers eindeutig an. Vgl. ders., ebenda, S. 7 (Fn. 14), 436, 473 f.; ders., Rechtstheorie, Rn. 754 f., 991 ff., 998 ff. 295 Terminologie bei Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung. 296 Gleichfalls nicht zu unterschätzen ist dabei, daß die Rechtsdogmatik ihrer Funktion nach der Stabilisierung der Rechtsordnung dient. Dazu Luhmann, Rechtssystem und Rechts-

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Perspektive der Rechtsvergleichung müssen also die von Böckenförde diagnostizierten „Politisierungsgefahren“ der Verfassungsgerichtsbarkeit in Deutschland endlich überwiegend auf die alte Problematik der Rechtsinterpretation297 zurückgehen.

3. Die materiell-rechtliche Abgrenzung von Recht und Politik? a) Vorbemerkung: Zur Verfassung als Wertordnung Daß das Problem der Verfassungsinterpretation auf das der Rechtsinterpretation zurückzuführen ist, bedeutet freilich nicht, daß die oben genannte Eigenschaft der Verfassung im Gegensatz zum einfachen Gesetzesrecht übersehen werden kann. Vielmehr ist die Verfassung, die, wie immer wieder betont, sicherlich durch Offenheit und Unbestimmtheit gekennzeichnet ist, im wesentlichen „lapidarer und konkretisierungsbedürftiger als normales Gesetzesrecht“298. Wenn aber die Bezeichnung des Verfassungsrechts als „politisches Recht“ nicht, wie von Peter Häberle gefordert, auf eine „offene“ Verfassung299 gerichtet werden soll300, die in einem dogmatik, S. 24 ff.; Rüthers, Rechtstheorie, Rn. 322; Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, S. 326 ff.; Robbers, Zur Verteidigung einer Wertorientierung in der Rechtsdogmatik, S. 163; C. Starck, Empirie in der Rechtsdogmatik (1972), in: ders., Der demokratische Verfassungsstaat: Gestalt, Grundlagen, Gefährdungen, 1995, S. 97, 98. 297 Wie erwähnt, wurzelt unter der Tradition der Rechtsanwendung die deutsche Diskussion um Rechts- bzw. Gesetzesauslegung im sogenannten Lückenproblem der Rechtsordnung; daher kreist die Diskussion immer wieder um die sogenannte Lückenausfüllung. Dazu – statt vieler – Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 370 ff.; Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, S. 174 ff.; Rüthers, Rechtstheorie, Rn. 832 ff.; Engisch, Einführung in das juristische Denken, S. 175 ff.; Fikentscher, Methoden des Rechts in vergleichender Darstellung, Bd. III, S. 718 ff.; F. Wieacker, Gesetz und Richterkunst. Zum Problem der außergesetzlichen Rechtsordnung, 1958, S. 6, 8 ff. Zur Bedeutung der Lückenproblematik für die kontinentaleuropäische Rechtstradition vgl. auch F. Ossenbühl, Richterrecht im demokratischen Rechtsstaat: Rede zur Eröffnung des akademischen Jahres 1987 / 88 am 19. Oktober 1987, 1988, S. 7: „Eine Lücke kann nur dort existieren, wo etwas fehlt, was man erwartet hat. Die Lücke setzt also als Bezugspunkt eine geschlossene Einheit, ein durchgebildetes Ganzes, in sich Abgeschlossenes voraus. Deshalb ist schon die Frage nach der Lücke, also das Lückenproblem, in seiner Bedeutung nur verständlich vom Standpunkt des kontinentalen Kodexdenkens.“ 298 So Grimm, Verfassung, S. 15. 299 Repräsentativ P. Häberle, Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpretation. Ein Beitrag zur pluralistischen und „prozessualen“ Verfassungsinterpretation, in: JZ 1975, 297 ff.; ders., Zeit und Verfassung. Prolegomena zu einem „zeit-gerechten“ Verfassungsverständnis, in: ZfP 1974, S. 111 ff.; ders., Verfassungsgerichtsbarkeit zwischen Politik und Rechtswissenschaft, 1980. 300 Zur Gegenüberstellung von der offenen Verfassung und der Verfassung als (bloßer) Rahmenordnung vgl. Isensee, Verfassungsrecht als politisches Recht, Rn. 48; auch E.-W. Bökkenförde, Zur Diskussion um die Totalrevision der Schweizerischen Bundesverfassung, in: AöR 106 (1981), S. 580, 597 ff.

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großen Umfang die unzulässige Auflösung der Gegenüberstellung von Rechtsanwendung und Rechtsetzung impliziert, indem die Verfassungsinterpretation als „ein offener Prozeß“ verstanden und deren Bindung folglich in dem Maße zur Freiheit wird, „wie das neuere Interpretationsverständnis die Subsumtionsideologie widerlegt hat“301, sondern auf jeden Fall daran festhält, daß die Verfassung auf „die Verrechtlichung der politischen Machtausübung“302 zielt und daher als rechtliche Grenze für Politik fungiert, dann muß die Verfassungsinterpretation zwar wegen der Eigenart der Verfassung „den Mittelweg zwischen der Scylla der Verrechtlichung und der Charybdis der Verpolitisierung suchen“303, aber genauso wie Rechts- oder Gesetzesinterpretation an die anzuwendende abstrakte Norm – hier die Verfassung – gebunden sein. Erst dadurch gewinnt die Verfassung ihren Charakter als rechtliche Grenze der Politik. Aber gerade die Tatsache, daß Verfassungsinterpretation insofern Rechtsinterpretation und folglich Rechtsanwendung ist, führt dazu, daß das zwischen der abstrakten Norm und dem konkreten Einzelfall bestehende Lückenproblem und der dadurch herbeigeführte große Spielraum der Interpretation auch bei der Verfassungsauslegung unvermeidlich sind. Es ist daher wichtig, zwischen „Beliebigkeit des Richters losgelöst von Bindung an die Verfassung“ und „Freiheit des Richters im Rahmen der Verfassungsinterpretation“ zu unterscheiden. Soweit Freiheit nicht in Beliebigkeit umschlägt, muß die Schwierigkeit der Kontrolle der Verfassungsinterpretationskompetenz genauso wie der Rechts- oder Gesetzesinterpretationskompetenz als hermeneutisches Problem behandelt werden, das zwar zur Ausweitung, aber keineswegs zur Überschreitung bzw. Politisierung der Verfassungsgerichtsbarkeit führen kann, was hier nicht mehr im einzelnen erörtert werden soll304. Der für die vorliegende Arbeit bedeutsamere Punkt liegt infolgedessen wieder darin, wie der Richter nach einem objektiven materiell-rechtlichen Maßstab, sozusagen die Lücken in der Verfassungsordnung ausfüllt305. Im Hinblick auf die Entwicklungslinie der Verfassungsgerichtsbarkeit ist 301 Häberle, Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpretation, S. 300. Häberles These legt sicherlich eine Ablehnung der qualitativen Trennbarkeit von Recht und Politik zugrunde (dazu ders., Verfassungsgerichtsbarkeit als politische Kraft, in: ders., Verfassungsgerichtsbarkeit zwischen Politik und Rechtswissenschaft, S. 55, 64). Auf dieser Grundlage plädiert Häberle für „law in public action (Personalisierung und Pluralisierung der Verfassungsinterpretation)“ (dazu auch ders., Zeit und Verfassung, S. 116); nach ihm interpretiert der Richter „in der Öffentlichkeit und Wirklichkeit der Verfassung“, und „[s]o offen Verfassungsinterpretation sachlich und methodisch ist, so offen ist auch der Kreis der an ihr Beteiligten.“ Ders., Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpretation, S. 300 f. Daher bezeichnet Josef Isensee die „offene Verfassung“ als „in einem besonderen Maße ,politisches‘ Recht“. Vgl. Isensee, Verfassungsrecht als „politisches Recht“, Rn. 48: „Einerseits nimmt sie das politische Leben in sich auf, andererseits besitzt sie nicht die rechtliche Kraft, dieses zu kanalisieren.“ 302 Grimm, Verfassung, S., 14. 303 Isensee, Verfassungsrecht als „politisches Recht“, Rn. 47. 304 Zum hermeneutischen Problem vgl. H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, 4. Aufl. 1975, S. 250 ff.; an dieser Stelle auch K. Larenz, Die Bindung des Richters an das Gesetz als hermeneutisches Problem, in: FS E. R. Huber, 1973, S. 291 ff.

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also an erster Stelle der Frage nachzugehen, ob und in welchem Umfang die vom BVerfG begründete „Verfassung als Wertordnung“ für die Verfestigung oder umgekehrt die Auflösung eines solchen Maßstabs eine Rolle gespielt hat. Wie oben dargelegt, sieht das BVerfG vor dem Hintergrund des materiellen Rechtsstaats die Verfassung immer wieder als Ausdruck einer objektiven Wertordnung an306 und entwickelte auf dieser Basis die objektive Dimension der Grundrechte307. Mit Blick auf die heftige Debatte um den Wertbezug des Rechts308 verwundert es nicht, daß die verfassungsgerichtliche Bezeichnung der Verfassung als Wertordnung scharfe und vielschichtige Kritik erfahren hat309. In unserem Zusammenhang fällt in erster Linie das Argument ins Auge, der Rekurs auf Werte führe „zu einem Einfließen subjektiver, durch den normativen Gehalt der Grundrechte nicht notwendig gedeckter Wertungen des Richters“310. Zum Beispiel führt Bökkenförde aus: „Das Rationalitätsdefizit der Wertbegründung wird nämlich in der Rechtspraxis nicht etwa ausgeglichen oder aufgearbeitet, vielmehr bildet sich ein Begründungs-Anschein heraus. Die Berufung auf Werte und den Wertcharakter des Rechts gibt sich als Begründung für etwas aus, das damit in der Sache nicht begründet wird, jedoch der weiteren Begründung enthebt. Das öffnet einerseits eine Schleuse für das Einströmen wertbezogener subjektiver Auffassungen der Richter . . . , andererseits für die Sanktionierung der je zeitigen Wertauffassungen, die in der Gesellschaft tatsächlich vorherrschend sind oder vorherrschend scheinen . . .“311. Für ihn bildet die Wertordnung also keinen echten objektiven Maßstab 305 Ähnlich Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Rn. 77: „Interpretation ist an etwas Gesetztes gebunden. Deshalb liegen die Grenzen der Verfassungsinterpretation dort, wo keine verbindliche Setzung der Verfassung vorhanden ist, wo die Möglichkeiten eines sinnvollen Verständnisses des Normtextes enden oder wo eine Lösung in eindeutigen Widerspruch zum Normtext treten würde.“ 306 Die Bezeichnung der Verfassung als Wertordnung hat sich in den letzten Jahren kaum gefunden. So etwa Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, S. 37; H. Rossen-Stadtfeld, Verfassungsgericht und gesellschaftliche Integration, in: G. F. Schuppert / C. Bumke (Hrsg.), Bundesverfassungsgericht und gesellschaftlicher Grundkonsens, 2000, S. 169, 178 f. Im Urteil vom 24. 9. 03 („Lehrerin mit Kopftuch“) spricht das BVerfG aber wieder von „Wertentscheidungen“. Vgl. BVerfG Urt. v. 24. 9. 2003 – 2 BvR 1436 / 02, NJW 2003, 3111 („Grenzen dieser Gestaltungsfreiheit [des Gesetzgebers] ergeben sich aus den Wertentscheidungen in anderen Verfassungsnormen; insbesondere die Grundrechte setzen der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers Schranken“). Zur Wertordnung des Grundgesetzes vgl. neuerdings U. Di Fabio, Grundrechte als Werteordnung, in: JZ 2004, S. 1, 5 ff. 307 Siehe oben II. 2. b). 308 Zu diesem Thema exemplarisch Dreier (Hrsg.), Rechtspositivismus und Wertbezug des Rechts. 309 Zusammenfassend Dolderer, Objektive Grundrechtsgehalte, S. 129 – 146. 310 Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Rn. 299. 311 Böckenförde, Zur Kritik der Wertbegründung des Rechts, S. 87. Im folgenden nennt Böckenförde nochmals das Lüth-Urteil als Beispiel und führt dazu aus: „Nun mag es gute verfassungsrechtliche Gründe für diese Geltungserstreckung der Grundrechte geben, die in ihrer Folge das gesamte Verfassungsgefüge vom parlamentarischen Gesetzgebungsstaat zum

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für den Richter, sondern einen Maßstabs-Anschein, der in Wirklichkeit nichts anders als Ansatzpunkt subjektiver Werturteile des Richters ist. In der Weise richtet sich diese Kritik auf die schon oben erwähnte Krise, daß die Rechtsprechung des BVerfG durch den Appell an bestimmte Rechtswerte ohne Schwierigkeiten als Rechtsanwendung gerechtfertigt werden, hinsichtlich der Offenheit und Unbestimmtheit der Verfassungsnorm aber schon Rechtsetzung betreiben kann312. Nimmt man jedoch an, daß die Verknüpfung von Rechtsnorm und Wertentscheidung in der Tat unlösbar ist, so geht die Kritik fehl. Schon die Untersuchung von Bernd Rüthers hat überzeugend gezeigt, wie erheblich die Interpretation auch bei der (inhaltlich relativ bestimmten) Privatrechtsordnung von der politischen Lage und den Werturteilen des Interpreten vor dem jeweiligen politischen Hintergrund beeinflußt werden kann313. Die Aussage, „[j]eder Rechtsordnung liegt eine bestimmte Wertordnung zugrunde“314, gilt im Blick auf die Offenheit und Unbestimmtheit der Verfassungsnorm sicherlich auch für die Verfassungsordnung. Unter der Prämisse, daß der Wertbezug des Verfassungsrechts und damit eine Werturteile zugrunde legende Verfassungsinterpretation nicht zu verleugnen sind, stellt sich die Bestimmung der Verfassung als Wertordnung nicht als ein Begründungs-Anschein, sondern vielmehr als eine Begründungs-Tatsache oder mindestens ein Ausgangspunkt dar315. Die Frage ist nur, wie auf dieser Grundlage die Wertordnung als objektiver Maßstab angewendet, sozusagen im konkreten Einzelfall vervollständigt werden kann. Auch und gerade an diesem Punkt muß Böckenfördes Angriff, die Wertbegründung enthebe der weiteren Begründung, für unvertretbar gehalten werden. Insofern sagt Robert Alexy mit Recht zu Grundrechten als objektiven Grundsatznormen: „Eine solche nicht-rationale Verwendung ist freilich nur eine mit objektiven Prinzipien höchster Abstraktionsstufe verbundene Möglichkeit, nicht aber eine Notwendigkeit. Ebensogut ist es möglich, daß die abstrakten Prinzipien als Ausgangspunkte einer rationalen Begründung Verwendung finden, bei der die präzisierenden Prämissen angegeben und gerechtfertigt werden. Geschieht dies, so ist ihre Annahme rationalitätsfördernd und nicht

verfassungsgerichtlichen Jurisdiktionsstaat hin verändert (hat). Aber inwiefern dies aus den Grundrechten als ,Werten‘ und dem Grundrechtsteil als ,objektiver Wertordnung‘ folgen soll, ist in keiner Weise ersichtlich.“ (Ebenda, S. 88). 312 Vgl. oben II. 2. b) aa); c) aa). 313 Vgl. Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, S. 13 – 430. 314 Rüthers, Rechtstheorie, Rn. 999. Ebenso Starck, Zur Notwendigkeit einer Wertbegründung des Rechts, S. 58. 315 Vgl. an dieser Stelle auch H.-W. Arndt, Gleichheits- und freiheitsrechtliche Bindungen des Steuergesetzgebers – Zu den „Kinderbeschlüssen“ des Bundesverfassungsgerichts vom 10. 11. 1998 –, in: J. Worter u. a. (Hrsg.), Einwirkungen der Grundrechte auf das Zivilrecht, Öffentliche Recht und Strafrecht: Mannheimer Fakultätstagung über 50 Jahre Grundgesetz, 1999, S. 187, 196: „Da auch der kirchliche Einfluß stark geschwunden ist, ein Bedürfnis für Werte aber in jeder Gesellschaft besteht, verkörpert das Bundesverfassungsgericht in seiner Judikatur zur Auslegung der Grundrechte in den Augen vieler Bundesbürger eben diejenigen Wertvorstellungen, ohne die eine Gesellschaft schwerlich bestehen kann.“

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rationalitätsmindernd. Die Annahme einer objektiven Wertordnung in Gestalt oberster objektiver Prinzipien ist deshalb nichts an sich Nicht-Rationales, sondern vielmehr etwas höchst Unvollständiges, was sowohl auf eine rationale als auch auf eine nicht rationale Weise verwendet werden kann. Die These, daß den Grundrechtsbestimmungen oberste Prinzipien zuzuordnen sind, die in alle Bereiche des Rechtssystems ausstrahlen, ist deshalb weder falsch noch inadäquat, sie sagt nur sehr wenig . . .“316.

Aus dieser Perspektive erscheint die oben genannte Krise der Verfassungsgerichtsbarkeit zwar absolut vorstellbar, wird aber nicht unbedingt realisiert. In der Hinsicht, daß die Bestimmung der Verfassung als Wertordnung in Wirklichkeit den unlösbaren Wertbezug der Verfassungsordnung besagt, wird die Unbestimmtheit der Verfassungsnorm im Einzelfall nicht notwendig durch die Beliebigkeit des Richters ersetzt. Vielmehr bildet für den Richter die Wertordnung die Grundlage für die Beseitigung der Unbestimmtheit bzw. die Lückenausfüllung, die in der Tradition der Rechtsanwendung als selbstverständliche Aufgabe an den Richter gestellt ist und nicht zur richterlichen Willkür führt, soweit aus der Bestimmung der Wertordnung eine nach dem Maßstab dieser Wertordnung vorgenommene Argumentation folgt. Dies setzt freilich voraus, daß die Wertordnung in anwendbare Maßstäbe umgeformt ist. Das heißt, daß die Aussage der Wertordnung einer normativen Verfestigung bedarf. Aus dem oben Dargelegten317 soll schon deutlich werden, daß die materiell-rechtliche Entwicklungslinie der deutschen Verfassungsgerichtsbarkeit dieser Forderung entspricht, sofern das BVerfG sich überwiegend auf eine dogmatische Argumentation gestützt hat, die zwar ein Werturteil zugrunde legen kann, aber jedenfalls auf dem Boden der Verfassungsrechtsdogmatik zu entwickeln ist, die sich auf diese Weise als objektiver Maßstab darstellt. Deren Objektivität kann und muß durch die Rückbindung an die Verfassungsnorm bestätigt werden318. Eine Gesamtschau der Rechtsprechung des BVerfG, die von der Annahme der Verfassung als Wertordnung oder Wertsystem ausgeht, zeigt deutlich, daß die Aussage von Wertordnung oder Wertsystem zumeist zum Ausgangspunkt 316 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 480. Ähnlich Rüthers, Rechtsordnung und Wertordnung, S. 27 f. 317 Vgl. oben 2. a); d). 318 Die Objektivität der Wertordnung als Maßstab setzt allerdings nicht die Objektivität der Werturteile voraus. Vielmehr sind subjektive Werturteile des Richters in der Tat nicht zu kontrollieren und zu vermeiden. Dazu Rüthers, Rechtsordnung und Wertordnung, S. 20 ff.; ders., Rechtstheorie, Rn. 806 ff., 818. Wichtig ist aber, daß in der Rechtsprechung die richterliche Argumentation niemals beliebig dargestellt werden darf. In der Tradition der Rechtsanwendung ist sie jedenfalls auf der Grundlage der Dogmatik oder nach dogmatischen Forderungen vorzunehmen, die in der Lage sein muß, auf die (Verfassungs-)Norm zurückzugehen. Infolgedessen gibt es zwar keine „objektiv richtige“ richterliche Entscheidung, die ein „objektiv richtiges“ Werturteil voraussetzt; sicher gibt es aber die „objektive“, d. h. „nicht beliebige“, d. h. „nach einem bestimmten objektiven Maßstab getroffene“ Entscheidung, die die Bindung des Richters an die Verfassung voraussetzt. Die Sicherung der Objektivität der Dogmatik und damit der Wertordnung als Maßstab für den Richter zielt daher auf die Gebundenheit der Argumentation des Richters in der Rechtsprechung, nicht aber auf die Verhinderung der subjektiven Werturteile des Richters.

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3. Teil: Die Beiträge der Entwicklungen in den USA zur Debatte in Deutschland

einer dogmatischen Argumentation, oftmals einer auf der Grundlage der systematischen Auslegung vorgenommenen Rechtsgüterabwägung dient319. Bereits das Lüth-Urteil bietet ein gutes Beispiel, wenn dort erklärt wird: „Aus der grundlegenden Bedeutung der Meinungsäußerungsfreiheit für den freiheitlichdemokratischen Staat ergibt sich, daß es vom Standpunkt dieses Verfassungssystems aus nicht folgerichtig wäre, die sachliche Reichweite gerade dieses Grundrechts jeder Relativierung durch einfaches Gesetz . . . zu überlassen. Es gilt vielmehr im Prinzip auch hier, was oben allgemein über das Verhältnis der Grundrechte zur Privatrechtsordnung ausgeführt wurde: die allgemeinen Gesetze müssen in ihrer das Grundrecht beschränkenden Wirkung ihrerseits im Lichte der Bedeutung dieses Grundrechts gesehen und so interpretiert werden, daß der besondere Wertgehalt dieses Rechts, der in der freiheitlichen Demokratie zu einer grundsätzlichen Vermutung für die Freiheit der Rede in allen Bereichen, namentlich aber im öffentlichen Leben, führen muß, auf jeden Fall gewahrt bleibt. Die gegenseitige Beziehung zwischen Grundrecht und „allgemeinem Gesetz“ ist also nicht als einseitige Beschränkung der Geltungskraft des Grundrechts durch die ,allgemeinen Gesetze‘ aufzufassen; es findet vielmehr eine Wechselwirkung in dem Sinne statt, daß die ,allgemeinen Gesetze‘ zwar dem Wortlaut nach dem Grundrecht Schranken setzen, ihrerseits aber aus der Erkenntnis der wertsetzenden Bedeutung dieses Grundrechts im freiheitlichen demokratischen Staat ausgelegt und so in ihrer das Grundrecht begrenzenden Wirkung selbst wieder eingeschränkt werden müssen.“320

Darüber hinaus legt das BVerfG im Beschluß zum Kontaktsperregesetz321 anschaulich dar: „. . . Diese Abwägung ist verfassungsrechtlich unausweichlich, wenn sonst die staatlichen Organe die ihnen nach dem Grundgesetz und der verfassungsmäßigen Ordnung obliegenden Aufgaben nicht mehr sachgerecht wahrnehmen können. Dabei ist nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts davon auszugehen, daß die verfassungsmäßige Ordnung ein Sinnganzes bildet, ein Widerstreit zwischen verfassungsrechtlich geschützten Belangen mithin nach Maßgabe der grundgesetzlichen Wertordnung und unter Berücksichtigung der Einheit dieses Wertsystems zu lösen ist. In diesem Rahmen können auch uneinschränkbare Grundrechte Begrenzungen erfahren; denn schlechthin schrankenlose Rechte kann eine wertgebundene Ordnung nicht anerkennen.“322

Wie in der Untersuchung von Christian Starck aufgezeigt wird: „Die Verwendung der Ausdrücke ,Wertordnung‘ oder ,Rechtswerte‘ hat keinen Einfluß auf die Richtigkeit der Argumentation, weder im bestätigenden noch im ablehnenden 319 Nach Schlink ist aber das Einfließen der subjektiven Beurteilung bei Güterabwägungen unausweichlich. Gerade auf dieser Prämisse behauptet er, daß im Rahmen der Abwägung die subjektive Beurteilung durch das BVerfG nicht die des Gesetzgebers ersetzen darf. Vgl. etwa ders., Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, S. 462: „Verfassungsgerichtsbarkeit ist nicht als integraler Bestandteil der Politik, sondern als deren balancierender Widerpart gemeint, mit eigener Rationalität und eigener Legitimation. Die politische Rationalität des letztlich subjektiven und dezisionistischen Bewertens und Abwägens ist von einer politischen Legitimation getragen, über die das Bundesverfassungsgericht nicht verfügt.“ 320 BVerfGE 7, 198 (208 f.). Hervorhebung von der Verfasserin. 321 BVerfGE 49, 24. 322 BVerfGE 49, 24 (56). Hervorhebung von der Verfasserin.

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Sinne.“323 Ähnlicherweise nimmt Konrad Hesse an, „daß der Begriff ,Werte‘ vielfach nur zur Kennzeichnung des normativen Inhalts der Grundrechte verwendet wird“324. Die Betrachtung der bundesverfassungsgerichtlichen Entscheidungen führt also zum Ergebnis, daß die Wertordnung nicht an die objektive Wertlehre der Philosophie325, sondern vielmehr an die dogmatische Begründung anknüpft326. Erst dadurch funktioniert sie als objektiver Maßstab für den Richter327. Indem die Wertordnung durch die Verfassungsrechtsdogmatik in die Wertmaßstäbe umgeformt ist, gewinnt sie die für die Rechtsanwendung gewichtige Bedeutung der Schließung der Lücken bzw. Beendigung der Unbestimmtheit der Verfassungsordnung.

b) Verfassungsgerichtsbarkeit als rechtliche Grenze der Politik aa) Vom Wesen der Verfassungsgerichtsbarkeit unter dem Grundgesetz Aus der Perspektive, daß die Wertordnung zum objektiven Maßstab für den Richter dient, soweit sie in das auf die Verfassungsnorm zurückführbare dogmatische Geflecht einbezogen ist, bedeutet die gegenwärtige Entwicklung der Verfassungsgerichtsbarkeit keine absolute Abweichung von Kelsens Behauptung, auf der Starck, Zur Notwendigkeit einer Wertbegründung des Rechts, S. 61. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Rn. 299. 325 Zum objektiven Wertdenken in der Philosophie s. etwa Böckenförde, Zur Kritik der Wertbegründung des Rechts, S. 73 f., 75 ff.; A. Podlech, Wertungen und Werte im Recht, in: AöR 95 (1970), S. 185, 202 ff. 326 In dieser Richtung auch Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 137: „Intuitionistische Werttheorien wie die Schelersche sind nur eine Variante im Spektrum denkbarer Werttheorien. So starke und leicht angreifbare Annahmen wie die über das Sein und die Evidenz von Werten sind keinesfalls notwendig mit dem Begriff des Wertes verbunden. Daß das Bundesverfassungsgericht von Werten, einer Wertordnung und einem Wertsystem spricht, bedeutet deshalb noch nicht, daß ihm diese Annahmen zu unterstellen sind.“ Vgl. auch Unruh, Zur Dogmatik der grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 54 f.; F. Hufen, Entstehung und Entwicklung der Grundrechte, in: NJW 1999, S. 1504, 1507 f. Dagegen aber Böckenförde, Zur Kritik der Wertbegründung des Rechts, S. 87 – 89; J. Habermas, Faktizität und Geltung: Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, 4. Aufl. 1994, S. 309 f. Die Entfaltung der Grundrechte als Wertentscheidungen sieht Rüdiger Breuer als eine Darstellung der „Synthese des positiven Verfassungsrechts und der überpositiven Gerechtigkeit“ an. Vgl. ders., Staatsrecht und Gerechtigkeit. Antworten auf juristische Herausforderungen in existentiellen Grenzsituationen, in: FS K. Redeker, 1993, S. 11, 21. 327 Aus dem Blickwinkel, daß die verfassungsgerichtliche Annahme der Verfassung als Wertordnung nicht die philosophische objektive Wertlehre voraussetzt, kann die vom BVerfG formulierte Wertordnung zwar besonders in terminologischer Hinsicht auf Smends Lehre zurückgeführt werden (so etwa Böckenförde, Zur Diskussion um die Totalrevision der Schweizerischen Bundesverfassung, S. 601 f.). Sie spiegelt aber nicht zwangsläufig den philosophischen Standpunkt der Integrationslehre Smends wider. 323 324

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die Einrichtung des BVerfG aus theoretischer Betrachtung beruht328. Da in der Tat nicht die Objektivität der Werte oder Werturteile, sondern die der Rechtsprechung, deren Objektivität von der richterlichen Bindung an die Verfassungsrechtsdogmatik und damit an die Verfassung abhängen muß, durch die Annahme der Verfassung als Wertordnung behauptet wird329, wird das Kelsensche Gebot nicht verletzt, daß die Objektivität der Verfassungsinterpretation oder -rechtsprechung durch die Verhinderung eines Einflusses des richterlichen subjektiven Ermessens bzw. Werturteils zu sichern ist. Zwar betont Kelsen, daß der Spielraum freien Ermessens des Verfassungsgerichts möglichst eng gezogen werden muß, indem die Verfassungsnormen „nicht zu allgemein gefaßt sein, nicht mit vagen Schlagworten wie ,Freiheit‘, ,Gleichheit‘, ,Gerechtigkeit‘ usw. operieren“ dürfen330. Die heutige Entwicklung auf der Basis der Verfassung als Wertordnung, die auf den ersten Blick vage und genauso wie die Verfassung selbst unbestimmt erscheint, hat sich jedoch, wie gesagt, nicht an einem abstrakten Wertdenken, sondern vielmehr an der dogmatischen Argumentation orientiert, die die Gebundenheit der Verfassungsgerichtsbarkeit wahrt. Insofern trägt das BVerfG immer noch zur rechtlichen Begrenzung der Politik bei. Das von Kelsen gesetzte Ziel der Einrichtung eines Verfassungsgerichts, die Verfassungsmäßigkeit der Staatsfunktionen zu garantieren, wird auch dadurch erreicht. Die richterliche Bindung an die Verfassung ist daher durch eine dogmatische, materiell-rechtliche Entwicklung der Verfassungsgerichtsbarkeit geltend gemacht, auch wenn die Verfassung am Ansatzpunkt der Interpretation als Wertordnung verstanden wird. Infolgedessen entspricht die heutige Entwicklung den Erwartungen Kelsens, durch die Sicherung der Objektivität der Verfassungsinterpretation die Verfassungsgerichtsbarkeit als den Hüter der Verfassung am zweckmäßigsten zu gestalten. Unter der Voraussetzung der richterlichen Bindung an die Verfassung räumt Kelsens Lehre dem Verfassungsgericht aber zugleich starke Befugnis und große Gestaltungsfreiheit ein. Wie schon ausgeführt, geht Kelsens Rechtfertigung der Verfassungsgerichtsbarkeit von der „Wesensgleichheit von Gesetzgebung und Gerichtsbarkeit“ aus331. Die These verzichtet freilich nicht auf die Ge328 Auf den ersten Blick scheint aber die Behauptung der Wertordnung mit der der Lehre Kelsens zugrunde liegenden Haltung von (Wert-)Relativismus widersprüchlich zu sein. Dazu Jarass, Grundrechte als Wertentscheidungen bzw. objektivrechtliche Prinzipien in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, S. 366: „Weiter hat das BVerfG in der ersten Phase seiner Rechtsprechung generell dazu geneigt, verfassungsrechtliche Regelungen als Wertentscheidungen zu bezeichnen, um das Grundgesetz gegen den Wertrelativismus der Weimarer Zeit abzuheben.“ (Dies unter Bezugnahme auf W. Geiger, Grundwertentscheidungen des Grundgesetzes, in: BayVBl. 1974, S. 297.) Zu Kelsens Stellungnahme etwa ders., Reine Rechtslehre, S. 65 ff.; ders., Vom Wesen und Wert der Demokratie, S. 98 ff., 101: „. . .Darum ist der Relativismus die Weltanschauung, die der demokratische Gedanke voraussetzt.“ 329 Vgl. oben a) (insbesondere Fn. 318). 330 Kelsen, Wer soll der Hüter der Verfassung sein?, S. 595. 331 Dazu oben II. 1. b) cc).

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bundenheit der Verfassungsgerichtsbarkeit332, erkennt aber eindeutig an, daß das Verfassungsgericht Normanwendung und zugleich Normerzeugung betreibt. Dies zeigt sich um so deutlicher, wenn man den Blick auf Kelsens Erklärung des Wesens der Interpretation führt. Daraus, daß in Kelsens Sicht die Interpretation als Erkenntnis- und gleichzeitig als Willensakt zu erfassen ist, in dem „das rechtsanwendende Organ eine Wahl trifft zwischen den durch die erkenntnismäßige Interpretation aufgezeigten Möglichkeiten“, bei der „nicht nur eine der durch die erkenntnismäßige Interpretation der anzuwendenden Norm aufgezeigten Möglichkeiten realisiert, sondern eine Norm erzeugt werden kann, die völlig außerhalb des Rahmens liegt, den die anzuwendende Norm darstellt“333, ergibt sich, daß nach Kelsen selbst die Tätigkeit der Interpretation einen großen Gestaltungsspielraum enthält, den der Interpret besitzt, dessen Entscheidung sich nicht in der zu interpretierenden Norm vorgeben läßt. Dies hat zur Folge, daß sich die Kompetenz des BVerfG innerhalb des Spielraums der dogmatischen Argumentation sehr ausdehnen kann, und zwar kann diese Kompetenzausweitung immerhin durch die „Wesensgleichheit von Gesetzgebung und Gerichtsbarkeit“ insbesondere im Sinne der Kelsenschen Aussage, die Interpretation durch das rechtsanwendende Organ schaffe Recht334, gerechtfertigt werden. Die „Kompetenz-Kompetenz“335 ergibt sich also nicht nur aus dem Doppelcharakter des BVerfG als Gericht und zugleich als Verfassungsorgan, sondern auch aus dem erheblichen Spielraum des rechtsanwendenden BVerfG, das lediglich durch die richterliche Bindung an die Verfassung begrenzt ist. Mittlerweile kann dennoch übersehen werden, daß im Hinblick auf die Zielsetzung der Unterscheidung von Rechtsanwendung und Rechtsetzung die Tradition der Rechtsanwendung nicht nur die richterliche Bindung an die Verfassung, sondern die Fallbezogenheit der Verfassungsrechtsprechung fordert. Gerade in der Hinsicht, daß der große Spielraum für das BVerfG darauf abzielt, eine Vermittlung zwischen der abstrakten Verfassungsnorm und dem konkreten Einzelfall zu ermöglichen, d. h. die Lücken in der Verfassungsordnung durch die Verfassungsinterpretation und -rechtsanwendung im Streitfall zu schließen336, kann die Rechtsanwendung nur dann zweckmäßig vorgenommen werden, wenn sie von dem im Verfahren zur Verfassungsmäßigkeitsprüfung stehenden Streitfall abhängt. Zwar kann die VerfassungsrechtspreEbenda. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 351 f. 334 Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 351. 335 Zur „Kompetenz-Kompetenz“ des BVerfG etwa Schlaich / Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, Rn. 494. 336 Diese Zielsetzung macht auch Kelsen deutlich. Vgl. ders., Reine Rechtslehre, S. 350: „[D]ie Notwendigkeit einer „Interpretation“ ergibt sich gerade daraus, daß die anzuwendende Norm oder das System von Normen mehrere Möglichkeiten offen läßt, das heißt aber: noch keine Entscheidung darüber enthält, welches der im Spiele stehenden Interessen das höherwertige ist, diese Entscheidung, diese Rangbestimmung der Interessen vielmehr einem erst zu setzenden Akt der Normerzeugung – dem richterlichen Urteil z. B. – überläßt.“ 332 333

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chung gerade wegen des Bedürfnisses nach dogmatischen Vorgaben für die nachfolgende Rechtsanwendung umfangreich sein und damit allgemeinen Charakter haben; allerdings ist dieser Charakter nur unter der Voraussetzung erlaubt, daß die verfassungsgerichtliche Interpretation und Rechtsanwendung auf die Lösung des Streitfalls gerichtet sind. Sonst bleibt die Fähigkeit der Verfassungsgerichtsbarkeit, wenn sie sich nicht betätigt, um einen konkreten Streitfall zu lösen, auch wenn sie dabei einen dogmatischen Weg geht, nicht mehr Rechtsanwendung337.

bb) Gebundenheit und Fallbezogenheit der Verfassungsrechtsprechung als Gebote der Tradition der Rechtsanwendung: Anmerkungen zu einigen Entscheidungen des BVerfG Dem Vorhergehenden ist zu entnehmen, daß die Bewahrung des Rechtsanwendungscharakters in der Rechtsprechung des BVerfG von der richterlichen Bindung an die Verfassung und zugleich von der Fallbezogenheit der Verfassungsinterpretation abhängt. Die beiden Erfordernisse drückt auch das BVerfG explizit aus: „Die Gerichte müssen bei unzureichenden gesetzlichen Vorgaben das materielle Recht mit den anerkannten Methoden der Rechtsfindung aus den allgemeinen Rechtsgrundlagen ableiten, die für das betreffende Rechtsverhältnis maßgeblich sind. Das gilt auch dort, wo eine gesetzliche Regelung, etwa wegen einer verfassungsrechtlichen Schutzpflicht, notwendig wäre. Nur so können die Gerichte die ihnen vom Grundgesetz auferlegte Pflicht erfüllen, jeden vor sie gebrachten Rechtsstreit sachgerecht zu entscheiden.“338 Erst auf der Prämisse kommt dem BVerfG der Spielraum zu, der sich aus der notwendig in der Tätigkeit der Interpretation bzw. der Konkretisierung enthaltenen Freiheit des Rechtsanwenders ergibt339. 337 Das Erfordernis der Fallbezogenheit in der Tradition der Rechtsanwendung läßt sich schon durch die Gegenüberstellung von Gesetzgebung und Gesetzesanwendung verdeutlichen. Vgl. dazu Lepsius, Die erkenntnistheoretische Notwendigkeit des Parlamentarismus, S. 168: „Gesetzgebung ist von Gesetzesanwendung zu trennen, weil beide Vorgänge Institutionen mit anderen erkenntnistheoretischen Aufgaben und Fähigkeiten benötigen. Im ersten Fall geht es um eine allgemein-abstrakte Entscheidung, die individuell erkenntnisleitend wirkt, im zweiten Fall um eine konkret-individuelle Entscheidung, die eines subjektiven Erkenntnisaktes bedarf. Diese subjektive Erkenntnis aber soll nicht beliebig sein, sondern nach vorab konsentierten, nachvollziehbaren Kriterien erfolgen. Der Subsumtionsvorgang ist daher kein mechanischer Vollzugsprozeß, sondern das Umschalten von einer Form der Erkenntnis auf eine andere. Daraus folgt, daß die Gesetzes allgemein-abstrakt sein müssen, denn nur so können sie die individuelle Erkenntnisfähigkeit anleiten, ohne sie zu ersetzen.“ 338 BVerfGE 84, 212 (226 f.). 339 Der Spielraum im Prozess der Lückenausfüllung erstreckt sich dann über ein riesiges Gebiet. Vgl. etwa BVerfGE 82, 6 (12): „Die tatsächliche oder rechtliche Entwicklung kann jedoch eine bis dahin eindeutige und vollständige Regelung lückenhaft, ergänzungsbedürfig und zugleich ergänzungsfähig werden lassen. Die verfassungsrechtliche Zuständigkeit der Lückensuche und -schließung findet ihre Rechtfertigung unter anderem darin, daß Gesetze einem Alterungsprozeß unterworfen sind. Sie stehen in einem Umfeld sozialer Verhältnisse und gesellschaftspolitischer Anschauungen, mit deren Wandel sich auch der Norminhalt

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Nach diesen Maßstäben läßt sich verdeutlichen, ob und in welchem Sinne die oben340 erwähnten bundesverfassungsgerichtlichen Entscheidungen, in denen sich das BVerfG wahrscheinlich schon als der positive Gesetzgeber, nämlich „Ersatzgesetzgeber“, betätigt, die Grenzen der Rechsanwendung überschreiten. Zur Entscheidung „Altenpflegegesetz“341 ist schon deshalb nicht viel zu sagen, weil sie nichts anderes als das Resultat einer typischen, zwischen den abstrakten Verfassungsnormen (hier besonders: Art. 72 Abs. 2 GG) und dem konkreten Streitfall (hier in erster Linie: ob Art. 1 des Gesetzes über die Berufe in der Altenpflege wegen fehlender Gesetzgebungskomptenz des Bundes mit Art. 70 GG, hilfsweise mit Art. 72 Abs. 2 GG, unvereinbar ist) vermittelnden Verfassungsinterpretation ist. Die die Reichweite der Kompetenz des Bundesgesetzgebers begrenzende und damit das Verhältnis zwischen dem Bundes- und dem Landesgesetzgeber beeinflußende Entscheidung hat zwar den Norminhalt des Art. 72 Abs. 2 GG im einzelnen und im Zusammenhang mit anderen einschlägigen Vorschriften erläutert und in der Weise eine vollständige Begriffsbildung zur Erforderlichkeitsklausel vorgenommen. Dennoch richtet sich all diese Begriffserklärung auf die Falllösung durch die Bestimmung der verfassungsrechtlichen Voraussetzungen für eine Bundesgesetzgebung nach Art. 72 Abs. 2 GG342. Die Entscheidung ist also in jeder Hinsicht durch eine Rechtsanwendung getroffen, die davon ausgeht, daß Art. 72 Abs. 2 GG darauf abzielt, die Kompetenz des Bundes zu begrenzen, sie an bestimmte materielle Voraussetzungen zu binden und im Ergebnis dazu führt, daß „ein von verfassungsgerichtlicher Kontrolle freier gesetzgeberischer Beurteilungsspielraum hinsichtlich der Voraussetzungen des Art. 72 Abs. 2 GG nicht besteht“ und daß dem Bundesgesetzgeber nur ein begrenzter Prognosespielraum zusteht, dessen Bemessung „auf die empirischen und normativen Voraussetzungen achten muß, unter denen die Gesetzgebung stattfindet“343. Gerade nach den Maßstäben, die auf dieser Grundlage und nach der Orientierung „am Sinn der besonderen bundesstaatlichen Integrationsinteressen“344 konkretisiert sind, wurde der in Frage stehende Fall gelöst345. ändern kann . . . In dem Maße, in dem sich aufgrund solcher Wandlungen Regelungslücken bilden, verliert das Gesetz seine Fähigkeit, für alle Fälle, auf die seine regelung abzielt, eine gerechte Lösung bereit zu halten. Die Gerichte sind daher befugt und verpflichtet zu prüfen, was unter den veränderten Umständen „Recht“ im Sinne des Art. 20 Abs. 3 GG ist.“ Aus dieser Perspektive läßt sich die Entfaltung der objektiven Dimension der Grundrechte, die zumindest nicht im Wortlaut der Grundrechtsnormen ausgedrückt ist, genauso als Resultat der Lückenausfüllung bzw. Norminhaltsergänzung durch das BVerfG vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Wandlungen ansehen. In dieser Richtung auch Grimm, Rückkehr zum liberalen Grundrechtsverständnis?, S. 227 ff. 340 Unter II. 2. c) bb). 341 NJW 2003, 41. 342 Vgl. NJW 2003, 41, 52 ff. 343 Vgl. NJW 2003, 41, 50 ff. 344 NJW 2003, S. 52. 345 Dazu NJW 2003, 41, 54 ff.

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Nach dem Gebot und aus der Perspektive der Rechtsanwendung sind auch die Entscheidungen zur Besteuerung von Familien346 nur wenig zu beanstanden. Zwar können diese Entscheidungen starke Auswirkungen auf die künftige Entwicklung der Familien- und Sozialpolitik haben, indem sie dem Gesetzgeber kaum einen Gestaltungsspielraum belassen, wie er die Vorgaben zur Entlastung der Familien erfüllt347. Nicht zu bezweifeln ist allerdings, daß die Entscheidungen folgerichtig aus einer Rechtsanwendung resultieren, die von der Auslegung des Art. 6 Abs. 1 und 2 GG ausgeht und nach den daraus abgeleiteten Maßstäben die Entscheidung im Streitfall trifft. Auf der Prämisse, daß Art. 6 Abs. 1 GG „einen besonderen Gleichheitssatz“ enthält, der also den Betreuungs- und Erziehungsbedarf der Eltern in Betracht zieht348, und daß der Schutzbereich des Art. 6 Abs. 2 GG die (steuerliche) Berücksichtigung des Betreuungs- und Erziehungsaufwandes für Kinder bei allen Eltern einbezieht349, überrascht aus Sicht der Rechtsanwendung nicht, daß das BVerfG den Gesetzgeber stark verpflichtet. Indem er hervorhebt: „Neben der Pflicht, die von den Eltern im Dienst des Kindeswohls getroffenen Entscheidungen anzuerkennen und daran keine benachteiligenden Rechtsfolgen zu knüpfen, ergibt sich aus der Schutzpflicht des Art. 6 Abs. 1 GG auch die Aufgabe des Staates, die Kinderbetreuung in der jeweils von den Eltern gewählten Form in ihren tatsächlichen Voraussetzungen zu ermöglichen und zu fördern“350, liegt es nahe, daß er Art. 6 Abs. 1 GG so weit interpretiert, daß danach auch der Erziehungsbedarf steuerlich angemessen berücksichtigt werden muß: „Zwar umfaßt der [Erziehungsbedarf] für die Gewährleistung von Sozialhilfe und damit für die Festlegung des allgemeinen steuerlichen Existenzminimums maßgebliche notwendige Lebensunterhalt neben Ernährung, Unterkunft, Kleidung, Körperpflege, Hausrat und Heizung auch persönliche Bedürfnisse des täglichen Lebens. Zu diesem Minimum gehören in vertretbarem Umfange auch Beziehungen zur Umwelt und sine Teilnahme am kulturellen Leben . . . Bei der Quantifizierung dieses Bedarfs sind jedoch die allgemeinen Kosten noch nicht hinreichend berücksichtigt, die Eltern aufzubringen haben, um dem Kind eine Entwicklung zu ermöglichen, die es zu einem verantwortlichen Leben in dieser Gesellschaft befähigt. Hierzu gehört gegenwärtig . . . die Mitgliedschaft in Vereinen sowie sonstige Formen der Begegnung mit anderen Kindern oder Jugendlichen außerhalb des häuslichen Bereichs, das Erlernen und Erproben moderner Kommunikationstechniken, der Zugang zu Kulturund Sprachfertigkeit, die verantwortliche Nutzung der Freiheit und die Gestaltung der Ferien.“351

BVerfGE 99, 216; 99, 246; 99, 268; 99, 273. So Arndt, Gleichheits- und freiheitsrechtliche Bindungen des Steuergesetzgebers, S. 196. 348 BVerfGE 99, 216 (232 ff., 241 f.). 349 BVerfGE 99, 216 (236, 241 f.). 350 BVerfGE 99, 216 (234). 351 BVerfGE 99, 216 (241 f.). 346 347

III. Die gegenwärtige Debatte in Deutschland

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Die starke Auswirkung der Entscheidungen ergibt sich also eher aus der familienfreundlichen Interpretation des BVerfG als aus seiner Überschreitung der Grenze zwischen Recht und Politik352. Denn weder die Gebundenheit noch die Fallbezogenheit der Entscheidung sind verletzt. Es kann zwar umstritten sein, ob die dogmatische Begründung in dieser Entscheidung durchaus überzeugend ist353 und sogar ob der nach Art. 6 Abs. 1 GG gebotene besondere Schutz von Ehe und Familie durch die verfassungsgerichtliche Auslegung zu einem Ergebnis zu Lasten kinderloser Ehen führen kann354. Allerdings erscheint dies jedenfalls als Auseinandersetzung im Rahmen aller Interpretationsmöglichkeiten, die in der Tradition der Rechtsanwendung in Kauf zu nehmen sind355. Aus dem Blickwinkel, daß Art. 6 GG eine „Rangfolge“ herstellt, nach der die altbewährten Formen sozialer Gemeinschaftsbildung einen Vorrang genießen, und daß die staatliche Befugnis, Familien besonders zu fördern, bei einer Veränderung der Lebensverhältnisse immer intensiver zu einer Pflicht werden kann356, gestaltet das BVerfG nicht Politik357, sondern nimmt durch seine Rechtsanwendung Stellung zu dem vorliegenden Einzelfall. Daß diese Entscheidung politische Wirkung zeitigt, bedeutet nicht, daß sie schon als eine die Grenze der Rechtsanwendung überschreitende und daher „politische“ Entscheidung anzusehen ist358. Entscheidend ist immer, ob die (dogmatische) Argumentation der Verfassungsrechtsprechung auf die Verfassungsnorm zurückführbar und ob sie auf die Falllösung gerichtet ist. Dies ist hier der Fall. Anders ist dies bei der Entscheidung zur Vermögensteuer359. In dieser Entscheidung befaßt sich das BVerfG mit der Frage, ob § 10 Nr. 1 des Vermögensteuergesetzes einheitswertgebundenes Vermögen und nicht einheitswertgebundenes Vermögen unterschiedlich belastet und daher mit Art. 3 Abs. 1 GG unverein352 Dagegen aber Arndt, Gleichheits- und freiheitsrechtliche Bindungen des Steuergesetzgebers, S. 196; Schneider, Acht an der Macht, S. 1305. 353 Dazu etwa Schneider, Acht an der Macht, S. 1304: „Bei Lichte besehen, hat das BVerfG jedoch in Art. 6 I GG etwas hineingelesen, was es nach allgemeiner Ansicht im Grundgesetz gar nicht geben darf: Es hat dem Schutz von Ehe und Familie als staatlicher Aufgabe ein ,soziales Teilhaberecht‘ von Kindern entnommen, wobei es keinen Unterschied macht, ob es sich dabei um eine Teilhabe an staatlichen Leistungen oder an steuerlichen Vergünstigungen handelt.“ 354 Dazu ebenfalls Schneider, Acht an der Macht, S. 1304. 355 Über die Interpretation des Art. 6 GG stellt etwa U. Di Fabio, Der Schutz von Ehe und Familie: Verfassungsentscheidung für die vitale Gesellschaft, in: NJW 2003, S. 993 ff., eine aufschlußreiche Reflexion dar. 356 So Di Fabio, Der Schutz von Ehe und Familie, S. 997. 357 So aber Arndt, Gleichheits- und freiheitsrechtliche Bindungen des Steuergesetzgebers, S. 196 („Indem das Gericht das familiäre Existenzminimum um den Betreuungs- und Erziehungsbedarf erweitert hat und den Abzug von der steuerlichen Bemessungsgrundlage verfassungsrechtlich einfordert, gestaltet es zugleich Politik“). 358 Vgl. an dieser Stelle auch J. Wieland, in: H. Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, 2000, Bd. 3, Art. 93 Rn. 31: „Auswirkungen auf die Politik haben die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts in jedem Fall“ (Hervorhebung von der Verfasserin). 359 BVerfGE 93, 121.

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bar ist360. Statt sich direkt auf die Frage zu konzentrieren, bemüht sich das BVerfG aber in großem Maße um seine Stellungnahme zu Grund, Ausmaß, Bemessungsgrundlagen und rechtlicher Eigenart der Vermögenbesteuerung361. Dies begründet das BVerfG zunächst damit, es sei im Verfahren der konkreten Normenkontrolle nach Art. 100 Abs. 1 GG nicht darauf beschränkt, die Verfassungsmäßigkeit einer Norm nur vom Standpunkt des vorlegenden Gerichts und seiner verfassungsrechtlichen Bedenken aus zu erörtern. „Vielmehr ist die Norm insoweit, als sie zulässigerweise zur Prüfung gestellt worden ist, unter allen denkbaren verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten Gegenstand des Verfahrens.“362 Darüber hinaus findet das BVerfG den Anknüpfungspunkt, Ausführungen zu den verfassungsrechtlichen Grundlagen und Grenzen der Vermögensbesteuerung zu machen363, besonders darin: „Die verfassungsrechtlichen Schranken der Besteuerung des Vermögens durch Einkommen- und Vermögensteuer begrenzen den steuerlichen Zugriff auf die Ertragsfähigkeit des Vermögens. An dieser Grenze der Gesamtbelastung des Vermögens haben sich die gleichheitsrechtlich gebotenen Differenzierungen auszurichten. Diese bilden für den Senat, der für die Einkommensteuer und im vorliegenden Verfahren auch für die Vermögensteuer zuständig ist, als tragende Gründe den Maßstab seiner verfassungsrechtlichen Prüfung . . .“364.

Auf der Grundlage betont das BVerfG das Verbot einer übermäßigen Belastung des Steuerpflichtigen und führt aus: „Die Vermögensteuer darf deshalb zu den übrigen Steuern auf den Ertrag nur hinzutreten, soweit die steuerliche Gesamtbelastung des Sollertrags bei typisierender Betrachtung von Einnahmen, abziehbaren Aufwendungen und sonstigen Entlastungen in der Nähe einer hälftigen Teilung zwischen privater und öffentlicher Hand verbleibt und dabei insgesamt auch Belastungsergebnisse vermeidet, die einer vom Gleichheitssatz gebotenen Lastenverteilung nach Maßgabe finanzieller Leistungsfähigkeit zuwiderlaufen.“365

Wenn die Ausführungen zum Überlastverbot und zur Belastungsobergrenze für den Gesetzgeber dann als Maßstäbe zur Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit des angegriffenen Gesetzes nach Art. 3 Abs. 1 GG verwendet würden, so wären sie möglicherweise dadurch gerechtfertigt, daß sie für die Lösung des vorliegenden Falls unentbehrlich wären366. Eine nähere Betrachtung der verfassungsgerichtliBVerfGE 93, 121 (121, 142 ff.). Vgl. dazu BVerfGE 93, 121 (136 – 142). 362 BVerfGE 93, 121 (133). 363 Diese Ausführungen gehen davon aus, daß die Vermögensteuer „in die in der Verfügungsgewalt und Nutzungsbefugnis über ein Vermögen angelegte allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2. Abs. 1 GG) gerade in deren Ausprägung als persönliche Entfaltung im vermögensrechtlichen Bereich eingreift (Art. 14 GG).“ BVerfGE 93, 121 (137). 364 BVerfGE 93, 121 (136). Hervorhebung von der Verfasserin. 365 BVerfGE 93, 121 (138). 366 Dabei würde aber noch die Frage offenbleiben, ob und inwiefern die vom BVerfG aufgestellte Belastungsobergrenze aus der Verfassung abzuleiten ist. Dazu etwa Wieland, Der 360 361

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chen Begründung367 führt jedoch zum Gegenteil. Die These, das Vermögensteuergesetz im Zusammenwirken mit dem Bewertungsgesetz gebe gegenwärtig nicht annähernd gleiche Ausgangswerte für die Ermittlung eines Sollertrages und führe deshalb zu einer ungleichen Belastung368, hat mit dem oben genannten, vom BVerfG herausgestellten Überlastverbot nichts zu tun369. Schon an diesem Punkt ist festzustellen, daß das Gebot der Fallbezogenheit in dieser Entscheidung ignoriert und verletzt wird. Aus der Perspektive muß der abweichenden Meinung Bökkenfördes zugestimmt werden: „Alles was der Senat zu Grund, Ausmaß, Bemessungsgrundlagen und rechtlicher Eigenart der Vermögensbesteuerung sagt – es betrifft auch vier der fünf Leitsätze – , ist durch die Vorlagefrage nicht veranlaßt. Entgegen den Ausführungen des Senats wirken die hierbei entwickelten Maßstäbe auch bei der Subsumtion in keiner Weise sachlich in die Prüfung des Gleichheitssatzes hinein und sind insoweit auch als Vorfrage im vorliegenden Verfahren entbehrlich. Die Prüfung der Vermögensteuer am Maßstab des Art. 2 Abs. 1 und Art. 14 Abs. 1 GG und die hieraus gewonnenen Maßgaben dienen vielmehr speziell dazu, die dem Gesetzgeber nunmehr obliegenden Entscheidungen zur Korrektur der Vermögensbesteuerung durch vermögensschützende Vorgaben begrenzend vorzuprägen und teilweise vorwegzunehmen . . . ... . . . Das Grundgesetz hat, wie Art. 93, 94 GG und in deren Ausführung das Bundesverfassungsgerichtsgesetz ausweisen, die Gewähr der Verfassung durch das Bundesverfassungsgericht bewußt an Gerichtsförmigkeit und Richterlichkeit gebunden, ihr dadurch eine bestimmte Struktur gegeben und sie auch begrenzt. Dazu gehört nicht zuletzt die Beschränkung der Entscheidung auf den jeweils unterbreiteten Fall und seinen – durch das Klage- oder Antragsbegehren umschriebenen – Streitgegenstand . . .“370.

Aus Sicht Böckenfördes wird also „der gebotene judicial self-restraint“ verletzt, sobald die verfassungsgerichtliche Entscheidungszuständigkeit auf nicht veranlaßte maßstäbliche Fragen erstreckt wird: „Das Gericht begrenzt und bindet dann Vermögensteuerbeschluß, S. 184: „Was unter der ,Nähe einer hälftigen Teilung‘ zu verstehen ist, könnte zudem nur das Bundesverfassungsgericht verbindlich festlegen, nicht jedoch die Verfassung, die derartige Ableitungen nicht ermöglicht.“ 367 Vgl. insbesondere BVerfGE 93, 121 (142 ff., 146). 368 BVerfGE 93, 121 (146 f.). 369 Ebenso Wieland, Der Vermögensteuerbeschluß, S. 180: „Ob eine Steuernorm dem Gleichheitssatz gerecht wird, läßt sich unabhängig davon beantworten, ob und in welchem Umfang Freiheit und Eigentum des Bürgers vor der Auferlegung von Steuern geschützt sind“; Arndt / Schumacher, Die verfassungsrechtlich zulässige Höhe der Steuerlast, S. 2603: „Zwar kann das BVerfG im Rahmen der konkreten Normenkontrolle die Verfassungsmäßigkeit der in Frage stehenden Norm unter allen denkbaren verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten überprüfen. Da das BVerfG aber die Verfassungsmäßigkeit des Vermögensteuertarifs in § 10 Nr. 1 VermStG überhaupt nicht ernsthaft an der von ihm zunächst aufgestellten Obergrenze mißt, verbleibt der Eindruck, daß hier ohne Notwendigkeit und ohne Bezug zum konkreten Verfahren Standpunkte klargestellt werden sollten. Dies ist verfassungspolitisch bedenklich und verstärkt den bedauerlichen Trend hin zum BVerfG als Ersatzgesetzgeber.“ 370 BVerfGE 93, 121 (150 f.) – abweichende Meinung des Richters Böckenförde.

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Entscheidungen des Gesetzgebers im vorhinein in abstrakt ausgreifender Weise, ohne die Anschauung eines konkreten Falls und die Begrenzung auf diesen Fall. Es etabliert sich gegenüber dem Gesetzgeber als autoritativer Praeceptor.“371 Obwohl die Aussage im Ergebnis durchaus zutrifft, ist am Rande zu vermerken, daß die Verletzung der Fallbezogenheit aus dem Blickwinkel der Tradition der Rechtsanwendung nicht so sehr deshalb unzulässig ist, weil „der gebotene judicial self-restraint verletzt wird“, der sich in jeder Hinsicht nur als nutzlos erweisen kann. Sie ruft vielmehr notwendigerweise verfassungsrechtliche Bedenken besonders in der Hinsicht hervor, daß sie eine Gefährdung des Rechtsanwendungscharakters der Verfassungsgerichtsbarkeit bewirkt. Die Erörterung der bundesverfassungsgerichtlichen Entscheidungen führt vor Augen, daß die Erfordernisse von Gebundenheit und Fallbezogenheit der Verfassungsrechtsprechung zwar dem Verfassungsgericht einen großen Spielraum einräumen, gleichzeitig aber das Wesen der Verfassungsgerichtsbarkeit ganz genau kennzeichnen und daher in der Lage sind, die Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit durch die Sicherung eines rechtsanwendenden BVerfG zu ziehen. Daraus läßt sich zugleich ablesen, daß nicht die gerichtliche Zurückhaltung, sondern lediglich die gerichtliche Rechtsanwendung für die Kompetenzabgrenzung zwischen dem Verfassungsgericht und dem Gesetzgeber eine Rolle spielen soll. Schon aus dieser Perspektive ist festzustellen, daß das Urteil des BVerfG vom 11. November 1999372 einen Irrweg geht.

cc) Das Urteil des BVerfG vom 11. November 1999 – Ein Irrweg aus dem Selbst(miß)verständnis des BVerfG Wie oben dargelegt373, hat das BVerfG in dieser Entscheidung einerseits versucht, sich gegenüber dem Inhalt einzelner gesetzgeberischer Regelungen zurückzuhalten; andererseits will es aber nicht darauf verzichten, den Gesetzgeber zu kontrollieren, denn „[d]ie Regelung des Finanzausgleichs darf nicht dem freien Spiel der politischen Kräfte überlassen bleiben“374. Daraus folgt, daß das BVerfG sich hier überwiegend auf eine Verfahrenskontrolle konzentriert375. Aufgrund seiner Interpretation der Finanzverfassung erklärt das BVerfG, daß der Gesetzgeber bei der Regelung des Finanzausgleichs einen „doppelten Auftrag“ hat: „Zunächst hat er die verfassungsrechtlichen Grundsätze inhaltlich zu verdeutlichen und seine verfassungskonkretisierenden Maßstäbe der Zuteilung und des Ausgleichs tatbestandlich zu benennen. Sodann hat er aus diesen Maßstäben die konkreten finanz371 372 373 374 375

BVerfGE 93, 121 (152) – abweichende Meinung des Richters Böckenförde. BVerfGE 101, 158. Vgl. oben II. 2. c) bb). BVerfGE 101, 158 (218). Dazu oben oben II. 2. c) bb) (Fn. 181 mit Nachw.).

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rechtlichen Folgerungen für die jeweilige Ertragshoheit, Zuweisungsbefugnis und Emfangsberechtigung, Ausgleichsberechtigung und Ausgleichsverpflichtung zu ziehen.“376, 377 Nach dem BVerfG stützt sich das variable Steuerzuweisungs- und Ausgleichssystem also in seiner Konkretheit wie in seiner Zeitwirkung auf drei aufeinander aufbauende Rechtserkenntnisquellen: „Das Grundgesetz gibt in der Stetigkeit des Verfassungsrechts die allgemeinen Prinzipien für die gesetzliche Steuerzuteilung und den gesetzlichen Finanzausgleich vor; der Gesetzgeber leitet daraus langfristige, im Rahmen kontinuierlicher Planung fortzuschreibende Zuteilungs- und Ausgleichsmaßstäbe ab; in Anwendung dieses den Gesetzgeber selbst bindenden maßstabgebenden Gesetzes (Maßstäbegesetz) entwickelt das Finanzausgleichsgesetz sodann kurzfristige, auf periodische Überprüfung angelegte Zuteilungs- und Ausgleichsfolgen.“378

Daß das sogenannte Maßstäbegesetz gegenüber dem Finanzausgleichsgesetz den Vorrang hat, läßt sich leicht nachvollziehen. Daraus entsteht aber die Frage, worauf der den Gesetzgeber selbst bindende Charakter des Maßstäbegesetzes verfassungsrechtsdogmatisch beruht379. In der Hinsicht, daß der Gesetzgeber nach Art. 20 Abs. 3 GG nur an die verfassungsmäßige Ordnung, nicht aber an das einfache Gesetz gebunden ist, muß beurteilt werden, daß sich die verfassungsgerichtliche Ableitung des Maßstäbegesetzes aus der Finanzverfassung nicht auf die Verfassungsordnung zurückführen läßt. Schon in der Weise gerät die Entscheidung in Gefahr, daß sie sich nicht nur von der Annahme der (Finanz-)Verfassung als Rahmenordnung380, sondern auch von der Rechtsanwendung entfernt, indem sie das Gebot der richterlichen Bindung an die Verfassung ignoriert. Auf den ersten Blick kann es überraschen, daß die verfassungsgerichtliche Verletzung der Bindung an die Verfassung durch die Einführung des Begriffs eines „Maßstäbegesetzes“ aus einer „zurückhaltenden“ Entscheidung resultiert. In der Tat spiegelt sich dadurch aber ein Mißverständnis des BVerfG für die Bedeutung der Zurückhaltung ganz genau wider. Wie dargelegt, kann lediglich die Rechtsanwendung, nicht aber die Zurückhaltung zur Begrenzung der Verfassungsgerichtsbarkeit beitragen. In diesem Sinne läßt sich die gerichtliche „Zurückhaltung“ nur dann sinnvoll verstehen und zweckmäßig anwenden, wenn sie darauf gerichtet ist, den Richter an der Tätigkeit der Rechtsanwendung festzuhalten. BVerfGE 101, 158 (216). Ob sich diese Interpretation folgerichtig aus der Finanzverfassung ableiten läßt, bleibt hier offen. Zur Kritik etwa Wieland, Das Konzept eines Maßstäbegesetzes zum Finanzausgleich, S. 1312; ders., Finanzverfassung, Steuerstaat und föderaler Ausgleich, S. 795; Linck, Das „Maßstäbegesetz“ zur Finanzverfassung, S. 327; Pieroth, Die Missachtung gesetzter Maßstäbe durch das Maßstäbegesetz, S. 1086. 378 BVerfGE 101, 158 (217). Hervorhebung von der Verfasserin. 379 Zur Kritik in der Literatur vgl. oben II. 2. c) bb) (Fn. 183). 380 So insbesondere Wieland, Das Konzept eines Maßstäbegesetzes zum Finanzausgleich, S. 1311; ders., Finanzverfassung, Steuerstaat und föderaler Ausgleich, S. 773 – 776; Korioth, Maßstabgesetzgebung im bundesstaatlichen Finanzausgleich, S. 337. Vgl. auch oben II. 2. c) bb). 376 377

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In dieser Entscheidung sieht das BVerfG seine Zurückhaltung jedoch anders an und stellt sie infolgedessen in der Weise dar, daß es dem Gesetzgeber in großem Umfang eine Aufgabe überträgt, die normalerweise vom BVerfG als rechtlichem Kontrolleur der Politik erfüllt wird. Zum Maßstäbegesetz sagt das BVerfG ausdrücklich: „Vom Gesetzgeber als dem Erstinterpreten des Grundgesetzes wird also erwartet, daß er die bestehenden Regelungen des Finanzausgleichsgesetzes zunächst auf den Prüfstand stellt und dann entscheidet, welche Maßstäbe dem neuen Finanzausgleichsgesetz zugrunde zu legen sind. Diese abstrakten, auf Dauer wirksamen Maßstäbe haben die Verteilungsprinzipien verständlich zu machen, die jeweiligen Verteilungsfolgen zu rechtfertigen, damit auch Maßstäbe der Selbstbindung und der Kontrolle zur Verfügung zu stellen.“381

Indem der Gesetzgeber als Erstinterpret des Grundgesetzes angesehen wird382, der das Grundgesetz bzw. die Finanzverfassung „konkretisieren“ und „ergänzen“383 und daraus anwendbare, allgemeine, bindende Maßstäbe384 für die nachfolgende Finanzausgleichsgesetzgebung ableiten soll, übernimmt er in der Tat die verfassungsgerichtliche Aufgabe der Interpretation und Konkretisierung der Verfassungsnorm sowie der Festlegung und Entwicklung der aus der Finanzverfassung abzuleitenden Maßstäbe, die den Gesetzgeber (selbst) binden und kontrollieren. Es scheint – wenn man hier einer Tendenz zur richterlichen Zurückhaltung zustimmt – daß das BVerfG seine Zurückhaltung gerade dadurch darstellen will, daß es weitgehend auf seine Kompetenz verzichtet, die (Finanz-) Verfassung zu interpretieren und zu konkretisieren und dadurch den Gesetzgeber materiell-inhaltlich zu kontrollieren. Aber gerade daraus entsteht das normative Problem des Maßstäbegesetzes. Zwar ist unbestritten, daß auch der Gesetzgeber die Funktion besitzt, die Verfassungsnormen zu interpretieren und zu konkretisieren385; nach dem Grundgesetz können BVerfGE 101, 158 (236). Die Bezeichnung des Gesetzgebers als Erstinterpreten der Verfassung geht auf Paul Kirchhof zurück. Vgl. P. Kirchhof, Die Aufgaben des Bundesverfassungsgerichts in Zeiten des Umbruchs, in: NJW 1996, S. 1497, 1504; ders., Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgebung, in: P. Badura / R. Scholz (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgebung, 1998, S. 5, 16. 383 BVerfGE 101, 158 (214, 215). 384 BVerfGE 101, 158 (215): „Die Finanzverfassung enthält somit keine unmittelbar vollziehbaren Maßstäbe, sondern verpflichtet den Gesetzgeber, das verfassungrechtlich nur in unbestimmten Begriffen festgelegte Steuerverteilungs- und Ausgleichssystem entsprechend den vorgefundenen finanzwirtschaftlichen Erkenntnissen durch anwendbare, allgemeine, ihn selbst bindende Maßstäbe gesetzlich zu konkretisieren und zu ergänzen.“ Daraus ist zu entnehmen, daß diese vom Gesetzgeber entwickelten anwendbaren, allgemeinen, (ihn selbst) bindenden Maßstäbe aus der Finanzverfassung abzuleiten sind und insoweit eine „verfassungsähnliche“ Bedeutung gegenüber dem Finanzausgleichsgesetz erhalten (terminologisch Helbig, Maßstäbe als Grundsätze, S. 443). Aus dieser Perspektive ist es kein Wunder, daß das BVerfG in dieser Entscheidung den „Vor-Rang“ und „Vor-Behalt“ des Maßstäbegesetzes betont (S. 218). 381 382

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aber die aus der Verfassung abzuleitenden, den Gesetzgeber bzw. die Politik bindenden Maßstäbe nur in der Verfassungsnorm vorgegeben und durch das BVerfG festgestellt werden, das der Politik rechtliche Grenzen zu ziehen hat. Die richterliche Zurückhaltung läßt sich also nicht dort darstellen, wo das BVerfG verpflichtet ist, seine Kompetenz der verfassungsrechtlichen Kontrolle auszuüben386. Aus dieser Perspektive hat die Entscheidung ganz deutlich gezeigt, wie die sogenannte richterliche Zurückhaltung mißdeutet werden und zu welchen dogmatischen Problemen ein verfassungsgerichtliches Mißverständnis für die Funktion, Aufgabe und Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit führen kann. Gerade daraus, daß das BVerfG fälschlicherweise auf seine Aufgabe verzichtet und sie in die Hand des Gesetzgebers selbst legt, ergibt sich der verfassungswidrige Begriff des den Gesetzgeber selbst bindenden Maßstäbegesetzes, das seine dogmatische Grundlage in der Verfassung nicht finden kann387. Darüber hinaus bleibt zweifelhaft, ob und in welchem Umfang, wie auch schon erwähnt388, die Verfahrenskontrolle dieser Entscheidung in inhaltlicher Hinsicht zurückhaltend vorgenommen wurde. Insofern, als das BVerfG hier durch seine Verfahrenskontrolle in der Tat auch eine inhaltliche Kontrolle erreicht389, erweist sich die Trennung von Verfahren und Inhalt nur als Schein390. 385 Dies kann aus Kelsens Deutung der „Wesensgleichheit von Gesetzgebung und Gerichtsbarkeit“ noch verständlicher werden. Siehe oben II. 1. b) cc). 386 Gerade auf ähnliche Weise hat die abweichende Meinung der Richter Jentsch, Di Fabio und Mellinghoff zur Entscheidung „Lehrerin mit Kopftuch“ [BVerfG Urt. v. 24. 9. 2003 – 2 BvR 1436 / 02, NJW 2003, 3111 (3117 ff.)] mit Recht dargelegt, daß der Landesgesetzgeber im vorliegenden Fall nicht befugt sei, die verfassungsimmanenten Schranken der Glaubensfreiheit zu konkretisieren. Vgl. NJW 2003, 3121: „Die Senatmehrheit gibt dem Landesgesetzgeber auf, verfassungsimmanente Schranken der Bundesverfassung zu konkretisieren, obwohl diese hinreichend konkret aus dem Grundgesetz zu ermitteln sind. Es ist deshalb bereits zweifelhaft, ob der Landesgesetzgeber überhaupt – über eine deklaratorische Bekräftigung oder Verdeutlichung hinausreichend – befugt ist, diese immanenten Schranken zu konkretisieren. Letztverbindlich hat das BVerfG über Umfang und Reichweite immanenter Grundrechtsschranken zu entscheiden. Es ist nicht die Aufgabe eines Landesgesetzgebers, die sich unmittelbar aus Verfassungsrecht ergebenden Beschränkungen deklaratorisch nachzuzeichnen. Dem Landesparlament wird auch nicht der angemessene Respekt erwiesen, wenn es zu einer Gesetzesformulierung gezwungen wird, die es einerseits ausdrücklich und wohlerwogen nicht wollte und die andererseits – nach Auffassung der Senatsmehrheit – verfassungsunmittelbare Schranken konkretisiert, die in späteren Verfahren vor dem BVerfG erneut auf den Prüfstand gestellt werden. Ein zuständiges Gericht, das in einer so umstrittenen verfassungsrechtlichen Grundsatzfrage auf den Gesetzgeber verweist, muß diesem wenigstens sagen, wie er die ihm angesonnene Aufgabe der Konkretisierung verfassungsunmittelbarer Schranken bewältigen soll.“ 387 Zur Kritik oben Fn. 183. Vgl. aber Hanebeck, Zurückhaltung und Maßstäbegesetz, S. 268 ff.; Degenhart, Maßstabbildung und Selbstbindung des Gesetzgebers als Postulat der Finanzverfassung des Grundgesetzes, S. 88; Becker, Forderung nach einem Maßstäbegesetz, S. 3745 f. 388 Vgl. oben II. 2. c) bb). 389 Dazu schon oben II. 2. c) bb).

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c) Die materiell-rechtliche Entwicklung gegen die Politisierungsgefahren – Eine Reflexion über den Kelsen-Schmitt-Streit im Lichte der Entwicklung der Verfassungsgerichtsbarkeit unter dem Grundgesetz Am Beispiel des jüngsten Urteils des BVerfG zum Länderfinanzausgleich wird also ersichtlich, daß nicht die Zurückhaltung, sondern vielmehr die Rechtsanwendung des BVerfG als Grenze der Verfassungsgerichtsbarkeit dienen soll und kann. Das Gebot der Rechtsanwendung ist niemals inhaltsleer. Im Gegenteil: Sie erweist sich durch die vorhergehenden Anmerkungen zu den jüngeren kontroversen Entscheidungen als verwirklichungsfähig. Bereits durch die Befolgung der Erfordernisse von Gebundenheit und Fallbezogenheit läßt sich der Rechtsanwendungscharakter der Verfassungsrechtsprechung erkennen und beibehalten. In der Hinsicht sind die Politisierungsgefahren der Verfassungsgerichtsbarkeit durch die Sicherung der Gebundenheit und der Fallbezogenheit der Verfassungsrechtsprechung abzuwehren. Die Betrachtungsweise ist in der Lage, eine sinnvolle Reflexion der KelsenSchmitt-Kontroverse zu bieten, bei der es in erster Linie darum geht, ob die Politisierung der Verfassungsgerichtsbarkeit im wesentlichen unvermeidlich ist391. Sind Gebundenheit und Fallbezogenheit erfüllbar, so muß die Verfassungsgerichtsbarkeit ihrem Wesen nach nicht zur Politisierung der Justiz führen. Es ist zwar richtig, daß sowohl das Gebot der Fallbezogenheit, die fordert, daß die verfassungsgerichtliche Auslegung und Erläuterung der abstrakten Verfassungsnormen auf die Falllösung gerichtet, d. h. als Maßstäbe für die Falllösung angewandt sind, als auch das Gebot der Gebundenheit, d. h. der richterlichen Bindung an die Verfassung, d. h. der Ableitbarkeit der verfassungsgerichtlichen Verfassungsinterpretation aus der Verfassungsnorm sowie der Zurückführbarkeit dieser Interpretation auf die Verfassungsnorm, dem BVerfG einen ziemlich großen Spielraum überlassen. Soweit die Fallbezogenheit und die Gebundenheit ins Spiel kommen, läßt sich die richterliche Entscheidung jedoch klar von politischen Gestaltungsakten unterscheiden. In diesem Sinne verändert sich der Rechtsanwendungscharakter der richterlichen Entscheidung bei der Verfassungsrechtsprechung nicht. Auch der Inhalt der verfassungsgerichtlichen Entscheidung wird „aus dem Inhalt des (Verfassungs-)Gesetzes“ abgeleitet und kommt „durch tatbestandsmäßige Subsumtion“ zustande392. Insofern unterscheidet Schmitt zu Unrecht zwischen der Subsumtion unter die vor390 Die in diesem Fall versuchte „Prozeduralisierung“ der Verfassungsmäßigkeitsprüfung stößt infolgedessen auf Schwierigkeiten, die die prozedurale Theorie Elys schon erfahren hat. Zur Elyschen Prozeduralisierung vor dem amerikanischen common law-Hintergrund s. oben 2. Teil unter IV. 2. 391 Dazu oben II. 1. b) cc); 2. d). 392 So beschreibt Schmitt die richterliche Entscheidung. Vgl. ders., Das Reichsgericht als Hüter der Verfassung, S. 79. Nach Schmitt ist es demgegenüber „offenbar unmöglich, den Inhalt politischer Gestaltungsakte wie Gesetzgebung oder Regierung aus dem Inhalt der verfassungsgesetzlichen Bestimmungen abzuleiten“.

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gegebene Rechtsnorm und der Beseitigung des Zweifels über den Inhalt einer verfassungsgesetzlichen Bestimmung393, denn beide müssen jedenfalls im Rahmen der gebundenen und fallbezogenen Verfassungsinterpretation in der Tradition der Rechtsanwendung vorgenommen werden. Aus der Perspektive ist die Politisierung der Verfassungsgerichtsbarkeit im wesentlichen nicht unausweichlich. Zwar basiert nach Schmitt die oben genannte Unterscheidung in gewissem Maße auf seiner eigenartigen Begriffsbildung zur Verfassung, die in seiner Sicht „mehr als Gesetze und Normierungen“ ist und als „politische Entscheidung“ angesehen werden muß394. Vor dem Hintergrund des Grundgesetzes, das die Politik durch die Verfassungsnorm kontrollieren will, ist die Verfassungsgerichtsbarkeit jedoch nicht als Hüter der Verfassung als politischer Entscheidung, sondern als Hüter der Verfassung als rechtlicher Grenze der Politik ausgestaltet395. Insofern wird die Verfassung „verrechtlicht“396. Sie ist gerade und nur in diesem spezifischen Sinne „zum Gesetz geworden“397, so daß ihre Anwendung dem Wesen nach eher eine „(rechtliche) Subsumtion unter die vorgegebene Rechtsnorm“ als eine „(politische) Beseitigung des Zweifels über den Inhalt einer verfassungsgesetzlichen Bestimmung“ ist. Infolgedessen kann und muß die Entscheidung des BVerfG „normativ abgeleitet“ werden. Das Kennzeichen besteht gerade darin, daß die Funktion des BVerfG „an Richterlichkeit, an Gerichtsförmigkeit gebunden und dadurch nicht als politisches Vetorecht ausgestaltet“ ist398. Ungeachtet seiner Fehldiagnose spiegelt Schmitts Auffassung über den Charakter der richterlichen Entscheidung in erheblichem Maße die Eigenschaft der als Rechtsanwendung fungierenden gebundenen und fallbezogenen Verfassungsgerichtsbarkeit genau wider: Auf der einen Seite ist die typische Subsumtion nicht in der Lage, das Ganze oder sogar den Hauptteil der richterlichen Entscheidung zu erklären; in der Tat sind dem Richter im Rahmen der Rechtsanwendung viel Freiheit, ein großer Spielraum und daher starke Befugnisse eingeräumt, denn einerseits sagt das (Verfassungs-)Gesetz zu wenig, der Richter andererseits will (und muß) es aber anwenden, um im konkreten Fall richtig zu entscheiden. Auf der anderen Seite ergeben sich gerade daraus jedoch die Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit, die genau im Charakter der Rechtsanwendung bestehen. Das heißt, daß eine 393 Schmitt, Das Reichsgericht als Hüter der Verfassung, S. 79 f. Nach Schmitt ist die Verfassungsgerichtsbarkeit auf die letztere gerichtet, die nicht mehr mit der Gebundenheit und der Fallbezogenheit zu tun hat und daher vom Wesen der richterlichen Entscheidung abweicht. Vgl. ferner Böckenförde, Der Begriff des Politischen als Schlüssel zum staatsrechtlichen Werk Carl Schmitts, S. 357. 394 Dazu Schmitt, Verfassungslehre, S. 23 f. 395 Dazu – statt vieler – Rinken, AK-GG, Bd. 2 vor Art. 93 Rn. 39. 396 Ebenso Wahl, Der Vorrang der Verfassung, S. 122 (der „Rechtscharakter“ der Verfassung werde gesteigert). 397 Im Ergebnis ebenso Schlaich, Die Verfassungsgerichtsbarkeit im Gefüge der Staatsfunktionen, S. 106. Damit sind der Vorrang der Verfassung und ihre Unterscheidung vom einfachen Gesetz jedoch nicht geleugnet. 398 Böckenförde, Diskussionsbeitrag, S. 173 f.

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3. Teil: Die Beiträge der Entwicklungen in den USA zur Debatte in Deutschland

verfassungsgerichtliche Entscheidung „normativ abzuleiten“ ist; sie muß im konkreten Fall also „aufgrund der Verfassungsnorm und mittels der Subsumtion vorgenommen werden“, um richtig zu sein. Daß Gebundenheit und Fallbezogenheit sowohl bei Schmitt als auch in der heutigen Entwicklung der Verfassungsgerichtsbarkeit geboten sind, liegt auf der Hand. In diesem Sinne läßt sich sogar ablesen, daß der Gegensatz zwischen Kelsen und Schmitt in Wirklichkeit nicht so scharf ausgebildet ist, wie er auf den ersten Blick und hinsichtlich der gegenteiligen Stellungnahmen der beiden erscheint. Eine Gesamtschau der Argumentationen von Kelsen und Schmitt zeigt deutlich, daß beide die unumgängliche Freiheit der Interpretationstätigkeit und zugleich die Bindung der Interpretationstätigkeit an die zu interpretierende bzw. anzuwendende Norm betonen. Diese vor dem Hintergrund der Rechtsanwendung folgerichtigen Eigenarten der richterlichen Entscheidung spiegeln sich sowohl bei Kelsen als auch bei Schmitt wider. Sie gelten auch für die Verfassungsgerichtsbarkeit unter dem Grundgesetz und werden immer wieder durch die materiell-rechtliche Entwicklungslinie dargestellt, die infolgedessen, wie dargelegt, die Verfassungsrechtsdogmatik in den Vordergrund rückt. Heutzutage kann man daher sagen, daß die Verfassungsrechtsdogmatik schon deshalb eine entscheidende Rolle spielt, weil sie (wie eigentlich immer) als der in der Tradition der Rechtsanwendung stets hervorgehobene objektive materiell-rechtliche Maßstab für die richterliche Entscheidung gilt. Dabei ist jedoch nicht zu übersehen, daß gerade in diesen Eigenarten sich gleichzeitig die Verfassungsschranken oder -grenzen für das BVerfG finden. Als Rechtsanwendung muß die Verfassungsgerichtsbarkeit den Geboten von Gebundenheit und Fallbezogenheit unterliegen. Der Schlüssel für die Sicherung des Rechtsanwendungscharakters der Verfassungsgerichtsbarkeit besteht daher immer noch in der Vertiefung und Verfeinerung der Verfassungsrechtsdogmatik. Je vollständiger die Dogmatik entwickelt ist, desto kräftiger kann sich ihre Objektivität darstellen, die für die richterliche Rechtsanwendung unentbehrlich ist. Indem die richterliche Argumentation in der Verfassungsrechtsprechung auf der Verfassungsrechtsdogmatik beruht, die freilich in der Lage sein muß, auf die Verfassungsnorm zurückzugehen, ist sie an die objektiven Maßstäbe gebunden, deren Bestand dann sowohl die innere Motivation des Richters als auch mögliche Folgen oder Wirkungen der Verfassungsrechtsprechung399 gleichgültig macht. Denn in der Tat haben weder Motivation noch Wirkung mit dem Rechtsanwendungscharakter der Verfassungsrechtsprechung und folglich damit zu tun, ob eine Verfassungsrechtsprechung losgelöst ist von richterlicher Bindung an die Verfassung und dadurch politisiert wird. Zur Garantie der richterlichen Bindung an die Verfassung bei der Verfassungsrechtsprechung ist viel wichtiger, daß die verfassungsgerichtliche Argumentation niemals nach Belieben des Rich399 Zu „Folgenerwägungen“ bzw. „folgenorientierter Argumentation“ des BVerfG vgl. etwa D. Grimm, Entscheidungsfolgen als Rechtsgründe: Zur Argumentationspraxis des deutschen Bundesverfassungsgerichts, in: G. Teubner (Hrsg.), Entscheidungsfolgen als Rechtsgründe: Folgenorientiertes Argumentieren in rechtsvergleichender Sicht, 1995, S. 139 ff. (mit zahlreichen Nachw.).

IV. Verfassungsgerichtlicher Jurisdiktionsstaat – Unvermeidbar?

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ters vorgenommen werden darf, sondern immer nach den von der Verfassungsrechtsdogmatik gelieferten objektiven materiell-rechtlichen Maßstäben begründet und dargestellt werden muß. Mittlerweile muß sich die Entwicklung der Dogmatik durch das BVerfG aber natürlich auch mit der Fallbezogenheit verbinden, die das BVerfG darauf beschränkt, seine dogmatische Argumentation nur in Bezug auf die Entscheidung im konkreten Fall zu begründen.

IV. Verfassungsgerichtlicher Jurisdiktionsstaat – Unvermeidbar? Die bisherige Untersuchung hat gezeigt, daß die Politisierung der Justiz nicht schon nach dem Wesen der Verfassungsgerichtsbarkeit unvermeidlich ist. Dabei wird die enge Beziehung zwischen (Verfassungs-)Recht und Politik aber nicht verleugnet. Darüber hinaus ist unwiderleglich, daß besonders in einer pluralistischen Gesellschaft das Recht – vor allem das Verfassungsrecht – sich immer wieder durch den Einfluß verschiedener Weltanschauungen vieldeutig darstellt, und daß die endgültige Interpretation der Verfassung durch ein Verfassungsgericht infolgedessen leicht zu einer Kontroverse führen kann400, die darum kreist, ob das BVerfG durch die Interpretation bzw. Konkretisierung der Verfassungsnorm seine eigene Beurteilung oder seinen eigenen Standpunkt an die Stelle der Entscheidung des Gesetzgebers gesetzt hat und so „politisiert“ wurde. Auf dieser Ebene nähern sich die deutsche und die amerikanische Problematik an, und zwar ist in Deutschland die Kritik an der Tendenz zur Entwicklung vom parlamentarischen Gesetzgebungsstaat zum verfassungsgerichtlichen Jurisdiktionsstaat schon deshalb besonders einleuchtend, weil in der deutschen Verfassungsgeschichte der Gesetzgeber eine zentrale Rolle gespielt hat, während die amerikanische common law-Tradition die Funktion der Gerichte immer wieder für leitend hält. Soweit der Gesetzgeber direkt an die Grundrechte gebunden ist, muß das gesetzgeberzentralisierte Gefüge der Staatsfunktionen verändert werden. Dies resultiert aus dem Wandel der Gewaltenteilungsstruktur durch das Inkrafttreten des Grundgesetzes, nicht aus dem Mißbrauch der Verfassungsgerichtsbarkeit oder deren „Politisierung“. Nicht zu verkennen ist insbesondere, daß eine aktivistische, den Gesetzgeber intensiv kontrollierende Verfassungsgerichtsbarkeit nicht notwendig zur Politisierung der Justiz oder zur Machtverschiebung vom Gesetzgeber zum Verfassungsgericht führt. Oder umgekehrt formuliert: Eine zurückhaltende bzw. dem Gesetzgeber größere Gestaltungsfreiheit überlassende Verfassungsgerichtsbarkeit be400 So etwa Schulze-Fielitz, Wirkung und Befolgung verfassungsgerichtlicher Entscheidungen, S. 419; ders., Das Bundesverfassungsgericht in der Krise des Zeitgeists, S. 20 ff. Zur Rolle des Verfassungsgerichts in moderner pluralistischer Gesellschaft vgl. auch U. R. Haltern, Integration als Mythos. Zur Überforderung des Bundesverfassungsgerichts, in: JöR N.F. 45 (1997), S. 31 ff.; Schuppert / Bumke (Hrsg.), Bundesverfassungsgericht und gesellschaftlicher Grundkonsens.

15 Hwang

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3. Teil: Die Beiträge der Entwicklungen in den USA zur Debatte in Deutschland

deutet nicht notwendig ihr Festhalten an der Tätigkeit der Rechtsanwendung und ihre klare Trennung von der gesetzgebenden Gewalt. Denn weder aktivistische noch zurückhaltende Betätigung sind auf den Rechtsanwendungscharakter der Rechtsprechung des BVerfG gerichtet, der allein die Bindung des Richters an einen objektiven materiell-rechtlichen Maßstab bzw. an die anzuwendende Verfassungsnorm besagt und dadurch die Gefahr, die subjektive Wertung des Gesetzgebers durch die des Verfassungsgerichts zu ersetzen, grundlegend abwehrt. Insoweit hat die deutsche Tradition der Rechtsanwendung schon von Anfang an den Vorteil, die Schwierigkeit der Abgrenzung zwischen Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgebung zu überwinden, während die amerikanische Tradition des Common Law noch zu versuchen hat, einen objektiven Maßstab für die Richter zu finden, der sich nicht auf das Case Law selbst, nämlich – an erster Stelle – die Präzedenzfälle, aber auch nicht auf die Empirie stützen kann, sondern sich erst aus einer materiellrechtlichen Entwicklung ergibt. Diese ist unter dem Common Law, dessen Denkweise gerade durch die Verschmelzung von Faktizität und Normativität und von Rechtsetzung und Rechtsanwendung im Prozeß der Falllösung gekennzeichnet wird, aber schwer zu erwarten. Unter dem Common Law muß also der judicial self-restraint eine Rolle spielen, der zwar immer wieder hervorgehoben werden kann, praktisch aber keine objektiven materiell-rechtlichen Grenzen zieht. Infolgedessen kann sich die Beurteilung, ob eine verfassungsgerichtliche Entscheidung gesetzgeberische Rechtsetzung betreibt und daher „politisiert“ wird, nicht daraus ergeben, ob die Entscheidung zur Einengung der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers führt. Entscheidend ist das Wie. Ob eine verfassungsgerichtliche Entscheidung politisch ist, hängt davon ab, wie die Entscheidung getroffen ist bzw. ob sie sich aus der Rechtsanwendung ergibt. Aus dieser Perspektive muß die Aussage, „[a]nders als im amerikanischen Verfassungsrecht, wo der Supreme Court mit der ,political question‘-Doktrin die – nicht justitiable – politische Sphäre von der rechtlichen Sphäre abtrennt, ist nach bundesrepublikanischem Rechtsverständnis Politik Recht und Recht Politik“401, für unvertretbar gehalten werden. Allein die Reichweite der Kompetenz des Verfassungsgerichts kann keine Auswirkungen darauf haben, ob die Politisierungsgefahren der Verfassungsgerichtsbarkeit vorliegen und bedrohen402. Trotz seiner beschränkten Zuständigkeit befindet sich der Supreme Court stets im Dilemma zwischen der traditionellen Gewaltenteilungsstruktur und dem Common Law, unter dem die Gegenüberstellung von Recht und Politik durch die immer wieder in Einzelfällen dargestellte Vermischung von Rechtsanwendung und Rechtsetzung in erheblichem Maße abgelehnt wird. Dem401 So Arndt, Gleichheits- und freiheitsrechtliche Bindungen des Steuergesetzgebers, S. 196. 402 Daß das BVerfG, anders als der Supreme Court, die Zuständigkeit zur Normenkontrolle hat, spielt für die Politisierungsgefahren der Verfassungsgerichtsbarkeit daher auch keine Rolle. So aber C. Landfried, Bundesverfassungsgericht und Gesetzgeber. Wirkungen der Verfassungsrechtsprechung auf parlamentarische Willensbildung und soziale Realität, 1984, S. 175 ff.

IV. Verfassungsgerichtlicher Jurisdiktionsstaat – Unvermeidbar?

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gegenüber ist die deutsche Tradition der Unterscheidung zwischen Rechtsanwendung und Rechtsetzung trotz der Einrichtung des starken BVerfG nie verschwunden, so daß die Gleichsetzung von Politik und Recht in der deutschen Rechtstradition schwer vorzustellen ist403. Die Vorstellung der Verfassung als Rahmenordnung spiegelt insoweit die (deutsche) Gegenüberstellung von Recht und Politik wider. Gerade der Rahmencharakter der Verfassung verlangt, „normativ Gegebenes und Festgelegtes“ von „nicht Geregeltem und offengehaltenen Spielräumen“ zu unterscheiden404. Nicht zu verleugnen ist dabei, daß die Verfassung durch ihren Rahmencharakter, der die Offenheit und Unbestimmtheit des Verfassungsinhalts kennzeichnet, Normatives von nicht Normativem trennt, damit die Politik einerseits von diesem normativen Rahmen begrenzt, andererseits aber „innerhalb des Rahmens“405 ihre Gestaltungsfreiheit genießen kann406. Wo in der Verfassung die Grenze zwischen „normativ Gegebenem und Festgelegtem“ und „nicht Geregeltem und offengehaltenen Spielräumen“ liegt, steht jedoch noch in Rede. Gerade der Rahmencharakter bzw. die Unvollständigkeit, Offenheit und Unbestimmtheit der Verfassungsnorm macht ihre inhaltliche Konkretisierung unentbehrlich für die Rechtsanwendung. Aus dieser Perspektive findet sich die Grenze nicht in der „methodisch gesicherten Interpretation“ im Gegensatz zur Konkretisierung407, sondern vielmehr in der (verfassungsgerichtlichen) Rechtsanwendung im Gegensatz zur (gesetzgeberischen) Rechtsetzung. Wie erwähnt, gilt Konkretisierung in der Tat als Bestandteil der Tätigkeit der Interpretation, die notwendig die Freiheit bzw. den großen Spielraum des Interpreten „im Rahmen der Interpretation“ enthält, deren Beschränkung auf ein „nicht umfassendes“, „gar flächendeckendes“ Verständnis für die anzuwendende Verfas403 Daher ist die Aussage, daß sich die Unterschiede zwischen dem angloamerikanischen System des Common Law und dem kontinentaleuropäischen Kodifikationssystem „relativieren“ (so etwa A. Söllner, Zum Eingriff der Rechtsprechung in die Gesetzgebung, in: ZG 1996, S. 241, 245 f.; K. Zweigert / H. Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung auf dem Gebiete des Privatrechts, 3. Aufl. 1996, S. 262 – 265; Walter, Hüter oder Wandler der Verfassung ?, S. 532 f.), darauf zu beschränken, daß in beiden Systemen der Richter mehr oder minder die Aufgabe der Rechtsschöpfung übernimmt. Immerhin ist das Verhältnis zwischen Rechtsanwendung und Rechtsetzung unter dem Common Law und der kontinentaleuropäischen Tradition auch vor dem heutigen Hintergrund ganz unterschiedlich betrachtet. 404 Böckenförde, Die Eigenart des Staatsrechts und der Staatsrechtswissenschaft, S. 23. 405 So Wahl, Der Vorrang der Verfassung, S. 148. 406 Die Vorstellung der Verfassung als Rahmenordnung verbindet sich häufig mit der Hervorhebung des Gestaltungsspielraums des Gesetzgebers. Vgl. Unruh, Der Verfassungsbegriff des Grundgesetzes, S. 408 (dort insbesondere Fn. 140); Alexy, Verfassungsrecht und einfaches Recht, S. 14. Auch Lerche, Stil und Methode der verfassungsrechtlichen Entscheidungspraxis, S. 345 („[d]er Stil der judikativen Bewältigung offener Textbestandteile des Grundgesetzes wird häufig daran zu messen gesucht, ob die Verfassung grundsätzlich als bloße sogenannte Rahmenordnung („legalistische“ Sicht) oder vielmehr als umfassend dirigierende Grundordnung („konstitutionalistische“ Sicht) verstanden wird und werden soll“). 407 So aber Böckenförde, Die Eigenart des Staatsrechts und der Staatsrechtswissenschaft, S. 23; Wahl, Der Vorrang der Verfassung, S. 148 f.

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3. Teil: Die Beiträge der Entwicklungen in den USA zur Debatte in Deutschland

sungsnorm408 sich also zwar theoretisch behaupten läßt, angesichts der Unvollständigkeit der Verfassung und ihrer unterschiedlichen Interpretations- oder Konkretisierungsmöglichkeiten aber nichts anders als das Gebot des judicial self-restraint darstellt. Demgegenüber trägt die Garantie des Rechtsanwendungscharakters der Verfassungsgerichtsbarkeit zur Begrenzung des normativen Gegebenen in der Verfassung bei. Allein und erst die Rechtsanwendung, die die Erfordernisse von Gebundenheit und Fallbezogenheit der Verfassungsrechtsprechung enthält, genügt der Gewaltentrennung und der Funktionsverteilung zwischen dem Verfassungsgericht und dem Gesetzgeber, denn sie erkennt einerseits die unumgängliche Freiheit der Interpretationstätigkeit an, läßt andererseits die Bindung der Interpretationstätigkeit an die anzuwendende, d. h. zu interpretierende, also gegebenenfalls zu konkretisierende Verfassungsnorm aber nicht außer acht. Die Lösung des Problems eines „verfassungsgerichtlichen Jurisdiktionsstaates“, das sich auf die Gewaltenmißbalance zwischen der Verfassungsgerichtsbarkeit und der Gesetzgebung bezieht, läßt sich im Ergebnis lediglich in der Tradition der Rechtsanwendung finden. Die Verankerung der den Richter bindenden objektiven materiell-rechtlichen Maßstäbe, die für die Tradition der Rechtsanwendung unentbehrlich sind und durch die Fortentwicklung der Verfassungsrechtsdogmatik verfestigt werden müssen, ist das Hauptthema für die heutige Verfassungsgerichtsbarkeit.

408 So Böckenförde, Schutzbereich, Eingriff, verfassungsimmanente Schranken, S. 187. Dort plädiert Böckenförde also für eine „historisch-genetische Interpretation“. Dazu schon oben Fn. 285.

Zusammenfassung 1. Mit der Entwicklung in der Verfassungsrechtsprechung, besonders durch die Entfaltung der objektiven Dimension der Grundrechte, konzentriert sich die heutige deutsche Debatte überwiegend auf die Gefahren einer Politisierung der Verfassungsgerichtsbarkeit bzw. die Gewaltenteilungsproblematik zwischen dem Verfassungsgericht und dem Gesetzgeber, die in der amerikanischen Verfassungstradition schon immer als Hauptthema galt. Infolgedessen stoßen die amerikanische und die deutsche Verfassungsgerichtsbarkeit auf gemeinsame Schwierigkeiten, auf die die beiden Rechtsordnungen aber unterschiedlich reagiert haben. Mit der Methode der (eigentlichen) Rechtsvergleichung, die problem- und funktionsbezogen ist und daher gerade das Vorliegen eines gleichen Problems und unterschiedlicher Lösungsweisen voraussetzt, versucht die vorliegende Arbeit, ausgehend von den grundlegenden Unterschieden zwischen der common law- und der kontinentaleuropäischen Tradition, die zu den verschiedenen amerikanischen und deutschen Entwicklungslinien geführt haben, die Eigenarten der Problematik und der Kontroverse der Verfassungsgerichtsbarkeit unter den beiden Rechtsordnungen und dadurch den Angelpunkt zur Überwindung der Schwierigkeit der Kompetenzabgrenzung zwischen dem Verfassungsgericht und dem Gesetzgeber aufzuzeigen. 2. Die amerikanische Verfassungsgerichtsbarkeit entwickelt sich sowohl unter einer traditionellen Gewaltenteilungsstruktur, die die Judikative als „the weakest, the least dangerous branch“ einordnet, als auch unter dem Einfluß des Common Law, das die Gerichte in den Vordergrund rückt. Vor diesem Hintergrund ist das Spannungsverhältnis von Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgebung dadurch gekennzeichnet, daß der Supreme Court zwar gegenüber dem demokratischen Gesetzgeber die countermajoritarian difficulty konfrontiert, unter dem Common Law aber immer wieder durch das richterliche Recht, zwischen Befolgung der Präzedenzfälle und case by case-Abwägungen zu wählen, seine zentrale Stellung zum Ausdruck bringt und dadurch die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers bedroht. Zur Begrenzung der Verfassungsgerichtsbarkeit unter dem Common Law ist also zu versuchen, dieses richterliche Recht, das die Eigenart des Common Law kennzeichnet, einerseits anzuerkennen, andererseits aber durch einen objektiven Maßstab auf ein bestimmtes Gebiet zu beschränken. Aus dieser Perspektive stößt der Ansatz des judicial restraint zwangsläufig auf Schwierigkeiten, der trotz Betonung einer an die Präzedenzfälle gebundenen oder einfach zurückhaltenden Verfassungsgerichtsbarkeit das oben genannte richterliche Recht nicht versagt und sich in der Folge lediglich als judicial self-restraint erweist, der bestenfalls als ein moralisches Gebot anzusehen ist. Der als Alternative erwartete funktionsorientierte Ansatz, der in der Praxis durch die Entwicklung der abgestuften Prüfungsstandards

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Zusammenfassung

zum Ausdruck kommt, ist jedoch ebenfalls nicht in der Lage, die leitende Kompetenz des Supreme Court zu begrenzen. Da die Funktions- und Aufgabenverteilung von Supreme Court und Gesetzgeber in der Tat nicht durch einen objektiven Maßstab, sondern immer wieder durch das Common Law, nämlich unter Berufung auf das traditionelle Fallrecht oder die Empirie, vorgenommen wird, stehen dem Richter die Alternativen von Präjudizbindung und case by case-Abwägung letztlich unverändert zur Verfügung. Aus dem Dilemma der funktionsorientierten Entwicklung des Supreme Court wird das Substanzproblem des Common Law verdeutlicht: Gerade das Substanzproblem, das sich im wesentlichen aus der unter dem Common Law unausweichlichen Verflechtung von Normativität und Faktizität und deswegen von Rechtsanwendung und Rechtsetzung ergibt, hat nicht nur eine materiell-rechtliche Entwicklung im amerikanischen Verfassungsrecht, sondern einen materiell-rechtlich objektiven Maßstab zur Abgrenzung der Kompetenz von Supreme Court und Gesetzgeber verhindert. Im Ergebnis ist also die countermajoritarian difficulty des Supreme Court, die aus der traditionellen Gewaltenteilungsstruktur entstand und daher eine objektive materiell-rechtliche Lösung braucht, unter dem Common Law nicht zu überwinden. 3. Im Gegensatz zum Common Law ist die kontinentaleuropäische Tradition durch die Gegenüberstellung von Rechtsanwendung und Rechtsetzung gekennzeichnet. Die deutsche Tradition der Rechtsanwendung geht davon aus, daß die richterliche Rechtsanwendung aufgrund eines objektiven materiell-rechtlichen Maßstabs vorgenommen wird und stets an den objektiven Maßstab gebunden ist. Daher handelt es sich bei der deutschen Diskussion in der Entwicklung der juristischen Methodenlehre immer wieder um die richterliche Bindung an Gesetz und Recht. Der Rechtsanwendungscharakter und folglich die Bindung des Richters gelten schon deshalb ebenfalls für die Verfassungsgerichtsbarkeit, weil sie, nach Kelsen, ihrem Wesen nach immer noch als „echte Gerichtsbarkeit“ zu bezeichnen ist. Aus dieser Perspektive ist die heutige Problematik der Kompetenzabgrenzung zwischen dem BVerfG und dem Gesetzgeber aufgrund der Unterscheidung von Rechtsanwendung und Rechtsetzung und ausgehend vom Rechtsanwendungscharakter des BVerfG zu betrachten. Der Mittelpunkt besteht also in der Wahrung der Rechtsanwendung durch einen den Richter bindenden objektiven materiell-rechtlichen Maßstab. Daher kann allein der funktionell-rechtliche Ansatz kaum zur Kompetenzabgrenzung zwischen dem BVerfG und dem Gesetzgeber beitragen. Auch der materiell-rechtliche Versuch, die Konkretisierungskompetenz des BVerfG durch die Beschränkung der Grundrechtsfunktion auf die subjektive Dimension einzugrenzen, verkennt, daß die Kompetenz des BVerfG zur (Verfassungs-)Konkretisierung, die nicht erst aus der Entfaltung der objektiven Dimension der Grundrechte resultiert, sondern dem Wesen nach als Bestandteil der Interpretationstätigkeit anzusehen ist, niemals unbegrenzt sein kann. Entscheidend sind also immer wieder und immer nur die objektiven materiell-rechtlichen Maßstäbe zur richterlichen Bindung an die Verfassungsnormen, die in Deutschland bereits durch die Entwicklung und Vertiefung der Verfassungsrechtsdogmatik ins Spiel kommt. Indem

Zusammenfassung

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sich das BVerfG auf dem materiell-rechtlichen, dogmatischen Weg entwickelt, geht es bei der Lückenausfüllung in der Falllösung immer wieder von der Begriffserklärung der anzuwendenden Verfassungsnorm aus und ist stets an die Verfassungsnorm gebunden, auch wenn es die Kompetenz zur Konkretisierung betreibt, die trotz großen Spielraums jedenfalls an die Verfassungsnorm und nur an die Verfassungsnorm gebunden ist und sich schon dadurch klar von Rechtsetzung unterscheidet. Auch gerade im Hinblick auf die unumgängliche Freiheit der Interpretationstätigkeit und zugleich die Bindung der Interpretationstätigkeit an die anzuwendende Norm ist festzustellen, daß der Gegensatz zwischen den Ansichten von Kelsen und Schmitt nicht so scharf ausgebildet ist. Die vor dem Hintergrund der Rechtsanwendung folgerichtigen Eigenarten der richterlichen Entscheidung, die auch für die Verfassungsgerichtsbarkeit unter dem Grundgesetz gelten und immer wieder durch die materiell-rechtliche Entwicklungslinie dargestellt sind, spiegeln sich sowohl bei Kelsen als auch bei Schmitt wider. Aus dieser Perspektive lassen sich die Politisierungsgefahren der Verfassungsgerichtsbarkeit immer noch dadurch vermeiden, daß der Rechtsanwendungscharakter des BVerfG durch die Gebote der Gebundenheit und der Fallbezogenheit der Verfassungsrechtsprechung garantiert ist. Die Gebundenheit verlangt die Ableitbarkeit der Verfassungsinterpretation aus der Verfassungsnorm sowie die Zurückführbarkeit dieser Interpretation auf die Verfassungsnorm. Die Fallbezogenheit fordert, daß die verfassungsgerichtliche Auslegung und Erläuterung der abstrakten Verfassungsnormen auf die Falllösung gerichtet, d. h. als Maßstäbe für die Falllösung angewandt sind.

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Sachwortverzeichnis Anti-positivismus 149 Aufgabenverteilung s. Funktionsverteilung Begriffsjurisprudenz 129 f. Bundesverfassungsgericht (BVerfG) – besonderer Status 17, 151 f. – Zuständigkeiten 17 ff. – als Hüter der Verfassung 19, 151, 210, 223 – Kompetenz-Kompetenz 211 Bundesverfassungsgerichtspositivismus 160, 192 Carolene Products 81 ff., 86 ff., 91 f., 94, 105, 111 Case by case (-Abwägung) 52 f., 67, 70, 71 ff., 110 ff., 119 ff., 149, 185, 197 f. Case Law 54 Case Method 110 (Fn. 264) Common Law – Begriff 52 ff. – und kontinentaleuropäische Rechtstradition 42, 44 f., 127 f., 149 f. – Substanzproblem 109 ff. Countermajoritarian difficulty s. „Supreme Court“ Critical Legal Studies (CLS) 74 f., 122 Demokratie – repräsentative 64 – deliberative 69 ff. – und Common Law 64 ff. – aus Sicht der Legal Realists 73 f., 77 Dogmatik (s. auch Grundrechtsdogmatik, Verfassungsrechtsdogmatik) 131 ff., 152 ff., 186 ff., 224 f. Due Process 55 ff. Empirie 99, 106 ff.

Faktizität und Normativität 106 ff., 121, 125, 134, 139, 185, 198, 226 Fallbezogenheit 211 ff. Freirechtsbewegung 133 f. Funktionalität 38 ff. Funktionell-rechtlicher Ansatz – funktionsgerechte Organstruktur 174 ff. – Drei-Stufen-Lehre (s. auch Kontrolldichte) 28 ff., 175 ff. – Differenzierung zwischen Kontroll- und Handlungsnormen 183 (Fn. 239) Funktionsdifferenzierung s. Funktionsverteilung Funktions-Modell 31 ff., 104, 173, 175, 184 f. Funktionsverteilung 78 ff., 106 ff., 173, 183, 228 Gebundenheit 209 ff. Geisteswissenschaftliche Richtung 135 ff. Gesetzesvorbehalt 156 f. Gesetzgeber – Spannungsverhältnis zum Verfassungsgericht 22, 30 ff., 46 ff., 122 ff. – negativer und positiver 146 ff., 167 ff. – Prärogative 92, 106, 176, 180 Gesetzgebung s. Gesetzgeber Gewaltenteilung s. Kompetenzabgrenzung Grundrechte – subjektive Dimension 29, 163 ff. – objektive Dimension 24 ff., 163 ff., 192 ff., 196 ff. – als Abwehrrechte 83 ff., 163, 195, 198 – Schutzpflicht 164, 190, 212, 214 – Freiheitsrechte 83 ff., 194 – Prinzipiencharakter 190 f. Grundrechtsdogmatik (s. auch Dogmatik, Verfassungsrechtsdogmatik) 163, 181, 187 ff. Grundrechtsprüfung – in den USA 85 ff. – in Deutschland 187 ff.

264

Sachwortverzeichnis

Historische Rechtsschule 129 f. Interessenabwägung 113 (Fn. 277), 142, 177, 189 Interessenjurisprudenz 133 f. Intermediate scrutiny test 101 ff. Interpretation – Freiheit 204 ff., 227 – Bindung 135 ff., 152 ff., 200 ff., 210 ff., 228 Judge-made law 54, 63, 118 Judicial activism 80 Judicial restraint 71 ff., 114, 119 f. Judicial review 46 Judicial self-restraint 62, 71 ff., 114, 119 f., 217 Juristische Methodenlehre 129, 152 Kelsen-Schmitt-Streit od. -Kontroverse 25 f., 33, 45, 128, 142 ff., 171 ff., 222 ff. Kompetenzabgrenzung 27, 29, 35, 43 ff., 104, 172, 180 ff., 218 Konkretisierung (s. auch Verfassungsinterpretation) 128, 150, 158 ff., 167, 175, 181, 184, 187, 193 ff. Kontinentaleuropäische Rechtstradition 42, 45, 127 f. Kontrolldichte (s. auch Drei-Stufen-Lehre) 26 ff., 175 ff.

Naturrecht 83, 111 f., 196 Neutrale Prinzipien (neutral principles) 72 f., 76 (Fn. 126) New Deal 59, 93 f., 100 Normativität – und Normalität 138 – der Verfassung 149 Objektiv-rechtliche Vorgaben (s. auch materiell-rechtliche Maßstäbe od. Vorgaben) 114, 132, 135, 142, 148 f., 152 Objektive Gemeinschaftswerte 137, 149 Objektive Wertlehre 209 Objektivität – der Verfassungsinterpretation 148, 152 ff., 210 ff. – der den Richter bindenden Interpretationsgrundlage 135, 162 (Fn. 159) – der richterlichen Rechtsprechung 148 Originalismus 67, 72 f., 76 (Fn. 126)

Legal Realism 73 f., 77, 107, 110, 113 Lochner-Ära 56 ff., 93 f., 100 Lücken 133 f., 204, 209, 211 Lückenausfüllung 207 Lückenlosigkeit 131 f., 134 Lüth-Urteil 163, 190, 208

Passive virtues 62 f. Police Power 58, 105 f. Politisierung s. Verfassungsgerichtsbarkeit Präjudizien s. Präzedenzfälle Präzedenzfälle – Bindung / Befolgung 52, 67 ff. – und case by case-Abwägung 71 ff., 110 ff., 119 ff., 149, 185, 197 f. – stare decisis 52 – in Deutschland 153 f. (Fn. 131) Pragmatismus 73 f., 77 Prozedurale Theorie 65 f., 116 ff. Prozeduralisierung 116 ff. Prüfungsmaßstab 186, 198 Prüfungsstandards 89 ff. – Doppelstandards 87, 105 ff.

Machtverschiebung 24, 147, 167, 225 Marbury v. Madison 46 ff. Maßstäbegesetz 169 f., 219 f. Materiell-rechtliche Maßstäbe od. Vorgaben (s. auch objektiv-rechtliche Vorgaben) 114, 127, 189, 191 f., 197 f., 201, 224 Materiell-rechtlicher Ansatz 27, 29, 173, 181, 186 ff. Minimalismus 70 f. Mitbestimmungs-Urteil 176 ff.

Rational basis test 91 ff. Recht und Politik 24 ff., 59, 121 ff., 203 ff., 226 ff. Rechtsanwendung – Tradition 129 ff. – und Rechtsetzung 108, 120 f., 125 ff., 129 ff. Rechtsfortbildung 128 Rechtsidee 135, 140, 149 Rechtskultur 137, 149

Sachwortverzeichnis Rechtsnorm 140 ff., 206, 223 Rechtsschöpfung 131 Rechtsstaat 140 f., 144 f., 156 f., 160 ff., 205 Rechtsvergleichung – als juristische Methode 35 ff. – eigentliche 37 f. – deskriptive 37 f. – funktionelle 38 ff., 43 ff., 127 f. – im öffentlichen Recht 41 f. Richterliche Bindung – an die Verfassung 150, 204, 210 ff., 219, 222, 224 – an Gesetz und Recht 126 f., 149, 202 Richterliche Entscheidung 65, 119, 127, 134, 143 f., 161 f., 222 Richterliches Prüfungsrecht 46, 140 ff. Rule of Law 55 f.

265

Schöpferische Rechtsfindung 200 Sein und Sollen 109, 121, 125, 138 Staatsrechtlicher Positivismus 131 f., 149 Strict scrutiny test 93 ff. Strukturierende Methodik 152, 154 Subsumtion 120, 131, 133, 143 f., 145, 147, 204, 217, 222 f. Supreme Court – unter traditioneller Gewaltenteilungsstruktur 49 ff., 63, 114, 119 – countermajoritarian difficulty 61 ff., 81 ff., 86 f., 114 ff. – als Hüter des Lassez Faire-Geistes 59

Verfassung – als Wertordnung 203 ff. – als Rahmenordnung 159, 169, 199, 219, 227 f. – als Ordnung des Integrationsprozesses 138, 149 – offene 167, 203 f. Verfassungsauslegung s. -interpretation Verfassungsgericht – Spannungsverhältnis zum Gesetzgeber 22, 30 ff., 46 ff., 122 ff. Verfassungsgerichtlicher Jurisdiktionsstaat 17, 25, 27, 32, 43, 193 ff., 225 ff. Verfassungsgerichtsbarkeit – zentralisierte 17 ff., 151 f. – diffuse 46 ff. – Politisierung 24 ff., 43 ff., 122 ff., 166 ff., 200 ff., 222 ff. Verfassungsinterpretation (s. auch Interpretation, Konkretisierung) – Objektivität 23 f., 148, 150, 152 ff., 167, 171, 210 – Rationalität 153 f., 158 – Methoden 151 ff. Verfassungsnorm – Offenheit und Unbestimmtheit 128, 158, 160, 167, 171, 191, 198, 203, 206, 227 Verfassungsrechtsdogmatik (s. auch Dogmatik, Grundrechtsdogmatik) 155, 158, 160, 186 ff., 199, 202, 207, 209 f., 224 f., 228 Verfassungstheorie 22 f., 26, 62, 66, 79, 111, 115, 119, 155 Verhältnismäßigkeit 158, 177 f., 188 f., 190 f., 200 f.

Textualismus 65, 67 Theorie der Rechtsgewinnung 152 f. Topik 154 (Fn. 133)

Wertentscheidung 164, 167, 193, 206 Wertmaßstäbe 209 Wertordnung s. Verfassung

Überpositive Rechtssätze 135, 149

Zurückhaltung 75, 93, 218 ff.