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German Pages 311 Year 1996
ANDREAS F. BAUER
Effektivität und Legitimität
Schriften zum Völkerrecht Band 127
Effektivität und Legitimität Die Entwicklung der Friedenssicherung durch Zwang nach Kapitel VII der Charta der Vereinten Nationen unter besonderer Berücksichtigung der neueren Praxis des Sicherheitsrats
Von
Andreas F. Bauer
DUßcker & Humblot · Berliß
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme
Bauer, Andreas F.: Effektivität und Legitimität: die Entwicklung der Friedenssicherung durch Zwang nach Kapitel VII der Charta der Vereinten Nationen unter besonderer Berücksichtigung der neueren Praxis des Sicherheitsrats / von Andreas F. Bauer. Berlin : Duncker und Humblot, 1996 (Schriften zum Völkerrecht; Bd. 127) Zug!.: München, Univ., Diss., 1995 ISBN 3-428-08730-5 NE:GT
Alle Rechte vorbehalten © 1996 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Werner Hildebrand, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0251 ISBN 3-428-08730-5 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 @l
Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Winters emester 1995/1996 von der juristischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München als Dissertation angenommen. Sie wurde im April 1995 abgeschlossen. In danke meinem Doktorvater Prof. Dr. Bruno Simma fiir die Förderung der Arbeit und die wohlwollende Beurteilung. Herrn Prof. Dr. Rupert Scholz habe ich fur die zügige Erstellung des Zweitgutachtens zu danken. Zu tiefer Dankbarkeit bin ich Prof. Dr. Thomas Buergenthal vom National Law Center der George Washington University verpflichtet, der diese Arbeit angeregt und mich während meines Studienjahres in Washington betreut und gefördert hat. Gewidmet ist diese Arbeit meinen Eltern, deren Unterstützung bei der Erstellung dieser Arbeit weit über materielle Aspekte hinausging. Meinen Freunden Barbara Bauer, Daniel Stroux und Thomas Graf danke ich fiir viele anregende Diskussionen und die logistische Unterstützung. Dem VNArchiv des Auswärtigen Amtes habe ich fiir die Übersendung zahlreicher VNDokumente zu danken. Hamburg, im August 1996
Andreas F. Bauer
Inhaltsverzeichnis Einleitung....................................................................................................................... 15
Erster Teil
Die Grundlagen des VN-Sicherheitsmechanismus
20
A. Das Konzept der kollektiven Sicherheit in der Theorie ........................................... 20
I.
Die aktuelle Bedeutung des Konzepts ............................................................. 20 1. Verfassungsrechtliche Relevanz des Begriffs ........................................... 21 2. Völkerrechtliche Relevanz ........................................................................ 22
11.
Begriffsbestimmung ....................................... :................................................ 24
III.
Abgrenzung gegenüber anderen Konzepten ................................................... 25 1. Gleichgewicht der Mächte ........................................................................ 26 2. Weltstaatsidee ........................................................................................... 28
IV. Die Attraktivität der Idee der kollektiven Sicherheit ....... ............................... 29 1. Universeller Friede durch Recht ............................................................... 29 2. Erhalt der Nationalstaaten ............................... .. ........................................ 30 V.
Anforderungen an den rechtlichen Rahmen .................................................... 1. Repression und Prävention als Aufgaben der Zwangsmaßnahmen .......... 2. Die Bedeutung der Kollektivität.. ............................................................. 3. Die Bedeutung der Zentralisierung ........................................................... 4. Der Ausgleich zwischen Effektivität und Legitimität.. ............................. 5. Garantie der einzelstaatlichen Souveränität durch Begrenzung der Eingriffsbefugnisse ...................................................................................
31 32 34 36 37 39
VI. Funktionsvoraussetzungen der kollektiven Sicherheit.. .................................. 40 1. Subjektive Voraussetzungen ..................................................................... 40 2. Objektive Voraussetzungen ...................................................................... 41 VII. Zusammenfassung ........................................................................................... 42 B. Das Friedenssicherungssystem des Völkerbundes ................................................... 44 I.
Kooperation als Organisationsprinzip ............................................................. 44
11.
Die Primämormen: Arbitrage - Securite - Desarmement ................................ 47
8
Inhaltsverzeichnis III.
Die Sanktionsnormen: Dezentraler Automatismus und Organisation der völkerrechtlichen Notwehr ........................................................................ 48 1. Dichotomie der Zwangsmaßnahmen in Art. 16 ........................................ 49 2. Die nicht-militärischen Zwangsmaßnahmen: Dezentraler Automatismus und" action isolee ......................................................................... 50 3. Die militärischen Zwangsmaßnahmen: Organisation der völkerrechtlichen Notwehr statt System der kollektiven Sicherheit ................... 50
IV. Die (fehlende) Praxis des Völkerbundes auf dem Gebiet der Zwangsmaßnahmen ..................................................................................................... 54 V.
Zusammenfassung ........................................................................................... 56
C. Das Sicherheitssystem der Charta der Vereinten Nationen ...................................... 59 I.
Die wesentlichen Verbesserungen gegenüber dem Völkerbund ..................... 60
11.
Die Regelungen des Kapitels VII über militärische Zwangsmaßnahmen ............................................................................................................ 64 1. Die Organisation kollektiven Zwanges ..................................................... 64 2. Begrenzung der militärischen Beistandspflicht apriori ........................... 65
III.
Die Schwächen des Sicherheitsmechanismus der Charta................................ 66 1. Die mangelnde Flankierung des Sanktionsmechanismus durch friedliche Streiterledigung und Abriistung ............................................... 66 2. Die mangelnde Effektivität des Charta-Sicherheitssystems ...................... 68 a) Die begrenzte Anwendbarkeit des Sicherheitssystems der Charta ........ 68 b) Die unvollkommene Pflicht zum militärischen Beistand und das Nichtzustandekommen der Sonderabkommen ............................. 71 c) Die mangelnde Verpflichtung des Sicherheitsrats zum Eingreifen bei Vorliegen des casus/oederis ....................................... 75 3. Die mangelnde Legitimität des Charta-Systems ....................................... 77
IV. Zusammenfassung ........................................................................................... 79 D. Die "Uniting-for-Peace"-Resolution als Alternativkonzept .................................... 81 I.
Die Vorgeschichte ........................................................................................... 81
II.
Die Regelungen im einzelnen ......................................................................... 83
III.
Die Vereinbarkeit der Resolution 377 A (V) mit der Charta .......................... 1. Die Kompetenz zur Empfehlung ohne rechtfertigende Wirkung .............. 2. Die Kompetenz zur Empfehlung mit rechtfertigender Wirkung ............... 3. Schaffung einer rechtlichen Basis durch nachfolgende konsensuale Praxis und universelle Anerkennung? ......................................................
85 87 88 92
IV. Zusammenfassung ........................................................................................... 93 E. Die Agenda/or Peace: Mißglückter Start in eine neue Ära..................................... 97 I.
Die Vorgeschichte ........................................................................................... 97
II.
Die Gesamtkonzeption .................................................................................... 99
Inhaltsverzeichnis I. 2. 3. 4. III.
9
Vorbeugende Diplomatie ("preventive diplomacy") .............................. 100 Friedensschaffung ("peacemaking") ....................................................... 100 Friedenserhaltung ("peace-keeping") ..................................................... 101 Friedenskonsolidierung ("post-conflict peace-building") ....................... 102
Die Vorschläge zur Friedenserhaltung durch Zwang .................................... 102
IV. Die Reaktionen in den Gremien der Vereinten Nationen .............................. 106 I. Die Reaktionen in der Generalversammlung und im Sonderausschuß für friedenserhaltende Operationen .............................................. 107 2. Die Reaktionen im Sicherheitsrat ........................................................... 108 V.
Zusammenfassung ......................................................................................... 111
Zweiter Teil
Die neue re Praxis militärischer Zwangsmaßnahmen
113
A. Die Praxis des Sicherheitsrats seit 1990 ................................................................ 114 I.
IraklKuwait (1990/91) .................................................................................. 114 I. Faktischer Hintergrund ........................................................................... 114 2. Die Reaktion des Sicherheitsrats auf die irakische Invasion ................... 116 a) Die Verhängung von Wirtschaftssanktionen .................................... 116 b) Die Überwachung und Durchsetzung der Wirtschaftssanktionen ...... 117 c) Resolution 678 (1990) und die Operation "Wüstensturm" ............... 119 3. Die Maßnahmen des Sicherheitsrats seit Beendigung der Kampfhandlungen ............................................................................................. 120
H.
Das ehemalige Jugoslawien (I 992-?) ............................................................ 123 I. Faktischer Hintergrund ........................................................................... 123 2. Das Eingreifen des Sicherheitsrats .......................................................... 125 3. Maßnahmen zur Überwachung des generellen Waffenembargos und der Wirtschaftssanktionen gegen die Republik Jugoslawien (Serbien und Montenegro) ...................................................................... 127 4. Maßnahmen zur Durchsetzung von Flugverbotszonen durch Kampfflugzeuge der Mitgliedsstaaten .................................................... ~ ............ 130 5. GewaItanwendung zur Unterstützung der friedenserhaltenden Maßnahmen in Bosnien und Kroatien ............................................................. 132
III.
Somalia (1992-1995) .................................................................................... 136 I. Faktischer Hintergrund ........................................................................... 136 2. Das Eingreifen der Vereinten Nationen .................................................. 136 3. Resolution 794 und Operation "Restore Hope" ...................................... 13 8 4. Der Übergang von UNITAF zu UNOSOM 11 ........................................ 142 5. Das Scheitern von UNOSOM H ............................................................. 144
IV. Haiti (1993-1995) ......................................................................................... 146
Inhaltsverzeichnis
10
1. Faktischer Hintergrund ........................................................................... 146 2. Die Bemühungen von OAS und Vereinten Nationen um eine friedliche Rückkehr zur Demokratie .............................................................. 147 3. Die Maßnahmen zur Überwachung und Durchsetzung von Wirtschaftssanktionen .................................................................................... 149 4. Die Ermächtigung der Mitgliedsstaaten zur Anwendung militärischer Gewalt ......................................................................................... 151 V.
Ruanda(1994) .............................................................................................. 155 1. Faktischer Hintergrund ........................................................................... 155 2. Die Reaktion des Sicherheitsrats ............................................................ 157 3. Resolution 929 (1994) und die Operation "Turquoise" .......................... 159
VI.
Zusammenfassung ......................................................................................... 163 1. Ermächtigung von Friedenstruppen der Vereinten Nationen zur Gewaltanwendung: "Robustes Peace-keeping" ...................................... 163 2. Die Autorisierung der Mitgliedsstaaten zur Gewaltanwendung: Multinationale Militäroperationen der zweiten Generation .................... 165 3. Konsequenzen der neueren Praxis .......................................................... 167
B. Die Rechtsgrundlagen der Anwendung ................................................................. 168 I.
Die Rechtsgrundlagen der neueren Praxis im Spiegel der Literatur ............. 169 1. Robustes Peace-keeping ......................................................................... 169 2. Multinationale militärische Zwangsmaßnahmen .................................... 171 3. Maßnahmen zur Friedensdurchsetzung .................................................. 173 4. Maßnahmen zur Embargoüberwachung und -durchsetzung ................... 174
II.
Die ältere Praxis des Sicherheitsrats im Spiegel der Literatur ...................... 177 1. Die Resolutionen 83 (1950) und 221 (1966) .......................................... 177 2. Die Frage der Interdependenz von Art. 42 und Art. 43 .......................... 179 3. Keine Zwangsmaßnahmen aufgrund von Empfehlungen des Sicherheitsrats? ................................................................................................. 183
III.
Die Theorie der rechtfertigenden Wirkung der Feststellung nach Art. 39 Hs. 1 und ihre Vorteile ..................................................................... 185
IV. Zusammenfassung ......................................................................................... 187 C. Die expansive Auslegung des Anwendungsbereichs des Kapitels VII .................. 189
I.
Die Erweiterung der sachlichen Zuständigkeit durch Ausdehnung des Friedensbegriffs ............................................................................................ 191 1. Die Entstehungsgeschichte des Art. 39 und der Begriff "international peace and security" ................................................................... 191 2. Der Begriff der Friedensbedrohung in der älteren Praxis des Sicherheitsrats ......................................................................................... 192 3. Die Definition der Friedensbedrohung in den Fällen Somalia, Haiti und Ruanda ............................................................................................. 195
Inhaltsverzeichnis
11
11.
Vom Weltpolizisten zur Weltregierung? Die Erweiterung der funktionellen Zuständigkeit des Sicherheitsrats ................................................... 199 I. Resolution 687 und die Verhinderung zukünftiger Friedensbedrohungen ........................................................................................... 199 2. Die Resolutionen 731 und 748 gegen Libyen und die Ausdehnung der funktionellen Zuständigkeit... ........................................................... 202
111.
Zusammenfassung ......................................................................................... 205
D. Beschränkungen der Befugnisse des Sicherheitsrats ............................................. 208 I.
Begrenzte Befugnisse oder "rechtliche Bindungslosigkeit" .......................... 209
11.
Materiellrechtliche Beschränkungen ............................................................. 213 1. Chartainterne Beschränkungen ............................................................... 214 a) Der Kernbereich der inneren Souveränität ....................................... 214 b) Das Verbot der zwangsweisen Streitschlichtung .............................. 217 c) Eingriff in die richterliche Unabhängigkeit... ................................... 220 d) Die Menschenrechte und das humanitäre Völkerrecht ....................... 222 2. Sonstige völkerrechtliche Beschränkungen ............................................ 225 a) Jus cogens ........................................................................................ 225 b) Die Allgemeinen Rechtsgrundsätze .................................................. 227
111.
Zusammenfassung ......................................................................................... 231
E. Die Frage der gerichtlichen Überprüfung durch den IGH ..................................... 232 I.
Der Text der Charta und des IGH-Statuts ..................................................... 232
11.
Systematische Argumente gegen eine gerichtliche Überprüfung von Maßnahmen des Sicherheitsrats im Rahmen von Kapitel VII ...................... 233 I. Der politische Charakter der Angelegenheit.. ......................................... 234 2. Die Hauptverantwortung des Sicherheitsrats für die Erhaltung des Weltfriedens ..................................................................................... 235
III.
Die Entstehungsgeschichte der Charta .......................................................... 236
IV. Die Behandlung des Problems in der Rechtsprechung des IGH ................... 237 1. Das Certain-Expenses-Gutachten ........................................................... 237 2. Das Namibia-Gutachten .......................................................................... 239 3. Die Entscheidung im Lockerbie-Verfahren ............................................ 242 V.
Standards der gerichtlichen Überprüfung ..................................................... 246
VI. Zusammenfassung......................................................................................... 250 F. Die Rolle der Regionalorganisationen: Probleme und Perspektiven ..................... 251 I.
Die Regionalabmachung oder -einrichtung im Sinne von Kapitel VIII der VN-Charta: Ein Begriff im Wandel ........................................................ 252 1. Abmachung oder Einrichtung .................................... ............................. 252 2. Regionalität. ............................................................................................ 254 3. Verfahren friedlicher Streitbeilegung ..................................................... 255
Inhaltsverzeichnis
12
4. Örtlich begrenzte Streitigkeiten .............................................................. 255 11.
Die Handlungsmöglichkeiten der Regionalabmachungen ............................ 256 I. Kompetenzen im Bereich der friedlichen Streiterledigung ..................... 257 2. Kompetenzen im Bereich der Zwangsmaßnahmen ................................. 258 a) Der Begriff der Zwangsmaßnahmen gemäß Art. 53 Abs. 1 ............. 260 b) Der Begriff der Ermächtigung ........................................................... 266 c) Zwangsmaßnahmen gegen regionsangehörige und regionsfremde Drittstaaten ........................................................................... 269
III.
Die neuere Praxis der Vereinten Nationen .................................................... 272 1. Die Agenda for Peace ............................................................................. 272 2. Die Resolutionen des Sicherheitsrats zum Konflikt im ehemaligen Jugoslawien ............................................................................................ 273 a) Die Frage der drittstaatenbezogenen Kompetenzen und der Rechtsgrundlage ............................................................................... 273 b) Aufgabenteilung zwischen den Vereinten Nationen und der NATO: Verbesserte Anbindung zu Lasten der Effektivität... ........... 274
IV. Befugnisse von NATO und WEU zur Durchführung militärischer Zwangsmaßnahmen ...................................................................................... 277 1. Die Notwendigkeit interner Befugnisse .................................................. 277 2. Das Fehlen ausreichender Regelungen ................................................... 278 3. Überbrückung fehlender Befugnisse durch "implied powers"? ............. 281 V.
Zusammenfassung ......................................................................................... 282
Schlußbetrachtung ....................................................................................................... 286 Literaturverzeichnis ..................................................................................................... 288
Abkürzungsverzeichnis a.A.
a.a.O. Add. AFDI AJIL ASIL Bd., Bde. BGB\. BYIL bzw. DGVR Diss.Op. EA ebd. ECOWAS EJIL eng\. FAZ f., ff. franz. h.M. Hrsg. ICJ Reports i.E. IGH
IHT
ILM JIR m.w.N. NATO OAS OAU prearnb. para. op. para. Res. RGBI. RGDIP Rn.
anderer Ansicht arn angegebenen Ort Addendum Annuaire fran~ais de droit international American Journal of International Law American Society of International Law Band, Bände Bundesgesetzblatt British Yearbook of International Law beziehungsweise Deutsche Gesellschaft für Völkerrecht Dissenting Opinion Europa-Archiv eben da; ebendort Economic Community of West African States European Journal of International Law englisch Frankfurter Allgemeine Zeitung folgende französisch herrschende Meinung Herausgeber International Court of Justice. Reports of Judgements, Advisory Opinions and Orders im Ergebnis Internationaler Gerichtshof International Herald Tribune International Legal Materials Jahrbuch für Internationales Recht mit weiteren Nachweisen North Atlantic Treaty Organization Organization of American States Organization of African Unity prearnble paragraph (einer Resolution) operational paragraph (einer Resolution) Resolution Reichsgesetzblatt Revue generale de droit international public Randnummer
14 S.c. Res. Sep.Op. sog. Suppl. SZ taz Tz. u.a. UNITAR U.N.T.S. UNYbk.
VN
WEU YILC z.B. Ziff.
Abkürzungsverzeichnis Security Council Resolution Separate Opinion sogenannt Supplement Süddeutsche Zeitung die tageszeitung Textziffer unter anderem United Nations Institute for Training and Research United Nations Treaty Series Yearbook ofthe United Nations Vereinte Nationen Westeuropäische Union Yearbook ofthe International Law Commission zum Beispiel Ziffer
Einleitung "International Law is the law which the wicked do not obey and which the righteous do not enforce." Abba Eban 1 "EssentiaIly, legal rules are worth as much as the remedies available for their enforcement." Christian Tomuschat2
Wenn die Entwicklungsstufe einer Gesellschaft daran gemessen werden kann, inwieweit die verfassungsmäßige Ordnung von einem zentralen Organ in effektiver Weise durchgesetzt wird, dann rangierte die internationale Gemeinschaft der Vereinten Nationen trotz gegenteiliger Absichtserklärungen in der Charta in den ersten 45 Jahren ihres Bestehens auf primitivstem Entwicklungsniveau. 3 Die Bestimmungen des Kapitels VII, mit denen nach Vorstellung der Verfasser der VN-Charta dem erstmals umfassend geltenden Gewaltverbot zur Durchsetzung verholfen werden sollte, fristeten ein Mauerblümchendasein. Was das Herzstück der gesamten Konzeption des Systems der kollektiven Sicherheit hätte sein sollen, erschien als obsolet und als "toter Buchstabe"4. Es regierte die Macht des Stärkeren, mühsam kaschiert als immer neue Ausformung des Rechts auf Selbstverteidigung, das - von den Verfassern der Charta als Ausnahmeregelung, als "Sicherheitsventil", gedacht - zum Regelfall wurde. Mit Beendigung des Kalten Krieges waren die Bestimmungen des Kapitels VII der Charta der Vereinten Nationen quasi über Nacht wieder aktuell geworden. Der Sicherheitsrat, der vielen Beobachtern zu Zeiten der Ost-West-Konfrontation erschien wie "eine Schar finster entschlossener Kalter Krieger [... ], die bei jeder passenden oder unpassenden Gelegenheit - wie bei einem schlechten Skat - ihr Veto auf den Tisch des Hauses knallten und dadurch eine Wahrnehmung der in der UN-Charta vorgesehenen Aufgaben weitgehend unmöglich machten"5, war nicht mehr durch den Automatismus der Lagerbildung blockiert.
1 Ehemaliger Botschafter Israels in den Vereinigten Staaten. Die Äußerung stammt aus einem Gespräch mit Edward R. Murrow, das am 20. September 1957 im Rahmen der Reihe "Person to Person" aufNBC ausgestrahlt wurde, zitiert nach von Glahn, Law Among Nations, 3-4. 2 Tomuschat, Hague Lecture, 12. 3 Tomuschat, Hague Lecture, 9: "One may rightly speak of a 'primitive' system if [... ] enforcement of rights ad duties is equally considered a matter that does not regard any third parties. When self-help is the ultimate recourse,justice and equity come under constant threat." 4 Fischer, Artic1e 42, in: CotiPellet, Charte, 705; Beyerlin, Sanktionen, 727. 5 Kühne, Blauhelme, 5.
16
Einleitung
Während noch bis Mitte der achtziger Jahre die beiden Supennächte praktisch in jeden Konflikt Elemente eines Stellvertreterkrieges hineinprojizierten, hat die von Michail Gorbatschow eingeleitete radikale Umbewertung der außenpolitischen Interessen der damals noch existierenden Sowjetunion Ende des Jahrzehnts zu einer völlig neuen Situation im Sicherheitsrat geftihrt. 6 Statt auf Bewahrung des status quo - notfalls auch durch Konfrontation - zu setzen, suchte die Sowjetunion verstärkt die Zusammenarbeit auf wirtschaftlichem und außenpolitischem Gebiet, gerade auch mit dem bisherigen Erzrivalen, den Vereinigten Staaten.? Michael Bothe hat Saddam Hussein treffend als erstes Opfer dieser neuen Konstellation bezeichnet. 8 Auch wenn sich das neue Einverständnis zwischen der Sowjetunion und den Vereinigten Staaten schon vor dem August 1990 positiv auf die Handlungsfahigkeit des Sicherheitsrats ausgewirkt hatte 9 , war es letztlich erst die unerwartet bestimmte und schnelle Reaktion des Sicherheitsrats auf die irakische Invasion in Kuwait, die für eine Wiederbelebung des totgesagten Kapitels über die Zwangsmaßnahmen der Vereinten Nationen sorgte. Die Verwirklichung des vor 45 Jahren in der Charta der Vereinten Nationen avisierten Systems der kollektiven Sicherheit schien vielen Beobachtern zum Greifen nahe gerückt. Die anfängliche Euphorie über das Funktionieren des VN-Sicherheitsmechanismus im Falle der irak ischen Aggression gegen Kuwait wich jedoch schnell einer realistischen Haltung der Mitgliedsstaaten. Zunehmend wurde auch Kritik an den Aktionen des Sicherheitsrats im Golfkonflikt laut. Diese Kritik kam aus unterschiedlichen Lagern und setzte an ganz verschiedenen Punkten an: Vor allem die arabischen Staaten vertraten die Auffassung, daß im Golfkrieg nicht Kuwaits Selbstbestimmungsrecht und territoriale Integrität verteidigt worden seien, sondern handfeste geopolitische und wirtschaftliche Interessen der westlichen Welt. Speziell die USA hätten die Vereinten Nationen zur Durchsetzung dieser Interessen instrumentalisiert, ja mißbraucht, um den Irak als Vertreter der arabischen Welt zu erniedrigen. So geriet die von George Bush prophezeite neue Weltord6 Bothe, Golfkrise, 5; eine detaillierte Beschreibung der Evolution der UN-Politik der Sowjetunion ist enthalten in Franck, Prospects, 604 ff., der einen Artikel Michail Gorbatschows vom September 1987 als ersten Ausdruck des neuen sowjetischen Denkens zitiert, in dem der damalige Staats- und Parteichef sich stark an die Vorstellungen des ehemaligen UN-Generalsekretärs Dag Hammerskjöld anlehnt und die Funktion der Vereinten Nationen als die eines "place for the mutual search for a balance of differing, contradictOl)', yet real, interests of the contemporary community of states and nations" beschreibt. Vom selben Autor stammt auch die beste Zusammenfassung der sowjetischen Umsetzung dieses neuen Verständnisses der Vereinten Nationen, vgl. Franck, Soviet Initiatives, 535 ff. 7 Bothe, Golfkrise, 4. 8 Ebd. 9 Kühne, Blauhelme, 2, zitiert Statistiken, nach denen das Veto von den ständigen Mitgliedern insgesamt 250mal gebraucht wurde, "mit der Sowjetunion als klarem Spitzenreiter"; vgl. jedoch Schmidt, VN-Krisenmanagement, 32, der darauf hinweist, daß das Veto während der achtziger Jahre fast nur noch von den Vereinigten Staaten, hauptsächlich zum Schutz Israels, eingesetzt wurde und daß das bisher letzte Veto am 31. Mai 1990 wiederum von den USA gegen eine Verurteilung Israels eingesetzt wurde.
Einleitung
17
nung in den Verdacht, nichts weiter zu sein als eine geschickt verpackte Variante neo-imperialistischen Großmachtstrebens. Gleichzeitig geriet die Praxis des Sicherheitsrats in das Visier der ChartaPuristen, die bemängelten, daß sich das Gremium bei der militärischen Durchsetzung seiner Resolutionen gegenüber dem Irak nicht an das in Kapitel VII vorgesehene Verfahren gehalten habe. Diese Kritik war insofern berechtigt, als die Kollektivaktion gegen den Irak selbst bei wohlwollender Betrachtung nur wenig mit den militärischen Zwangsmaßnahmen gemeinsam hatte, wie sie Kapitel VII der Charta vorsieht: Am Persischen Golf wurde nicht eine internationale Armee unter Führung des Sicherheitsrats zur Wiederherstellung des Weltfriedens tätig, sondern eine multinationale Streitmacht unter Führung der Vereinten Staaten, die keinerlei Kontrolle durch den Sicherheitsrat unterworfen war. Wohl auch deshalb wurde die Praxis des Sicherheitsrats im Golfkonflikt von der Mehrheit der Beobachter zwar als entscheidende Stärkung der Glaubwürdigkeit des VN-Systems der kollektiven Sicherheit interpretiert. 1O Ihr wurde jedoch wenig Präzedenzwirkung für zukünftige Zwangsmaßnahmen der Vereinten Nationen eingeräumt. Es handle sich, so lautete eine weitverbreitete Meinung, um eine mehr oder minder zufällig zustandegekommene Übereinstimmung von Interessen, die keineswegs als ein Ausdruck veränderter Einstellung der Ständigen Mitglieder gegenüber dem VN-Sicherheitssystem verstanden werden dürfe. 11 Heute, rund vier Jahre nach Beginn der Militäroperationen gegen den Irak, hat sich diese Prognose - leider - als zutreffend erwiesen. Zwar hat der Sicherheitsrat in den vergangenen Jahren noch mehrmals von seinen in Kapitel VII vorgesehenen Befugnissen der Friedenssicherung durch militärischen Zwang Gebrauch gemacht. Diese Einsätze haben jedoch die Schwächen der seit dem Golfkrieg praktizierten modemen Interpretation des Kapitels VII als einem flexiblen Instrument zur Durchsetzung der Resolutionen des Sicherheitsrats zutage treten lassen. Kritische Beobachter bemängeln daran vor allem das Fehlen einer glaubwürdigen Gesamtkonzeption für zukünftige Militäreinsätze. Die bisherige Praxis des Sicherheitsrats wird als "episodic, incremental and not based on agreed knowledge or on consensual goals" beschrieben. 12 In der Tat scheinen die Mitgliedsstaaten nicht bereit, das Konzept der kollektiven Sicherheit grundsätzlich zu überdenken und strukturelle Verbesserungen zu diskutieren. Durchaus vorhandene Denkanstöße in diese Richtung, wie sie etwa die Agenda for Peace des Generalsekretärs vom Juni 1992 enthielt, fanden keine oder nur sehr geringe Resonanz. Der Sicherheitsrat scheint nicht in der Lage oder
Russelt/Sulterlin, New World Order, 82. Vgl. exemplarisch fur diese Auffassung die Einschätzung von Reisman, Allocating Competences, 40. 12 Haas, Conflict Management, 80. 10
11
2 Bauer
Einleitung
18
nicht willens, eine breit angelegte Debatte über gemeinsame Ziele und Mittel zu deren Verwirklichung zu fUhren. Statt dessen hangelt er sich von Fall zu Fall weiter, ohne klare Linie, ohne Konsens über fundamentale Werte. Anstatt an der verbesserten Wahrnehmung seiner "klassischen" Aufgaben, sprich der Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit durch Verhinderung bewaffneter zwischenstaatlicher Gewalt, zu arbeiten, nimmt sich der Sicherheitsrat im Zuge einer immer expansiveren Interpretation seiner Befugnisse aus Kapitel VII der UN-Charta bishernichtgekannter Aufgabenbereiche an. Das gewandelte Selbstverständnis des Sicherheitsrats stößt innerhalb der Vereinten Nationen nicht nur auf Zustimmung. Viele Mitgliedsstaaten, so scheint es, realisieren nur allmählich, daß eine extensive Auslegung und Anwendung der Befugnisse durch den Sicherheitsrat unter Umständen zu empfindlichen Einbußen an Souveränität und Selbstbestimmung führen kann. Michael Reisman hat darauf hingewiesen, daß viele der (damals noch) blockfreien Staaten sich mit Paralyse des Systems der kollektiven Sicherheit abgefunden, wenn nicht gar angefreundet hatten, weil diese ihnen immerhin einen gewissen Handlungsfreiraum ließ.13 Sie müssen nun erkennen, daß der Gewinn an Handlungsfähigkeit des Zentralgremiums Sicherheitsrat mit einem Verlust an unilateralem Handlungsspielraum fUr die einzelnen Mitgliedsstaaten einhergeht. Die Furcht der Mitgliedsstaaten vor einem Verlust ihrer staatlichen Souveränität an einen scheinbar allzuständigen Sicherheitsrat fördert auf diese Weise die Skepsis gegenüber dem System der kollektiven Sicherheit insgesamt. Zudem haben die vielfältigen Aktivitäten des Sicherheitsrats in den vergangenen vier Jahren vor allem in den Ländern der westlichen Welt die Erwartung an den Sicherheitsrat stark steigen lassen. Anders als noch vor einigen Jahren wird heute die Untätigkeit des Sicherheitsrats in Fällen eklatanter Verletzung der Menschenrechte wie in Bosnien-Herzegowina oder des Völkermordes in Ruanda von der Öffentlichkeit nicht mehr hingenommen sondern als Schwäche oder Versagen des Sicherheitsrats und der gesamten Vereinten Nationen interpretiert. Mißerfolge von großangelegten Militäroperationen der Vereinten Nationen in Somalia und im ehemaligen Jugoslawien haben dazu ge fUhrt, daß sich die Weltorganisation heute, im 50. Jahr ihres Bestehens, in einer schweren Krise befindet. Diese Arbeit versucht die Frage zu klären, warum die Vereinten Nationen auch fUnf Jahre nach Beendigung des Kalten Krieges ihrem obersten Ziel, den Weltfrieden und die internationale Sicherheit durch wirksame Kollektivmaßnahmen zu wahren, nicht entscheidend näher gekommen sind. Zu diesem Zweck sollen im ersten Teil zunächst die Grundlagen des VN-Sicherheitsmechanismus herausgearbeitet werden. Das Konzept der kollektiven Sicherheit wird dazu vorab in seinen theoretisch geforderten subjektiven und objektiven 13
Reisman, Constitutional Crisis, 83-85.
Einleitung
19
Voraussetzungen dargestellt, ehe anhand der Versuche seiner Umsetzung in der Satzung des Völkerbundes und der Charta der Vereinten Nationen die Ursachen für sein Scheitern untersucht werden. Den Abschluß des ersten Teils bildet die Untersuchung des "Alternativkonzepts" der "Uniting for Peace"Resolution und des Reformvorhabens der Agenda/ar Peace. Der zweite Teil beginnt mit einer detaillierten Beschreibung der neueren Praxis des Sicherheitsrats anhand von Fallbeispielen; daran schließt sich eine Erönerung der Rechtsgrundlagen der kollektiven Anwendung militärischer Gewalt an. Danach wird die expansive Auslegung des Anwendungsbereichs von Kapitel VII in der neueren Praxis des Sicherheitsrats problematisiert, bevor die daraus resultierende Legitimitätsfrage mittels einer Diskussion über Beschränkungen der Befugnisse und ihre gerichtliche Überprüfbarkeit beantwortet wird. Das letzte Kapitel dieser Arbeit ist der Rolle der Regionalorganisationen als mögliches Mittel zur Effektivitätssteigerung des VN-Sicherheitsmechanismus gewidmet.
Erster Teil
Die Grundlagen des VN-Sicherheitsmechanismus A. Das Konzept der kollektiven Sicherheit in der Theorie I. Die aktuelle Bedeutung des Konzepts
Nach zwei verheerenden Weltkriegen in diesem Jahrhundert stand und steht die Eindämmung zwischenstaatlicher Gewalt im Mittelpunkt der politischen und rechtlichen Bemühungen um eine Neustrukturierung der Beziehungen der Staaten zueinander. I Die Errichtung eines Systems der kollektiven Sicherheit ist mit dieser Entwicklung untrennbar verbunden. Nachdem sich die Verfassungen der bei den Staatenorganisationen mit universellem Anspruch dieses Jahrhunderts, die Satzung des Völkerbundes von 1919 und die Charta der Organisation der Vereinten Nationen von 1945, dem Gedanken der kollektiven Sicherheit verschrieben haben, kann die Errichtung eines kollektiven Sicherheitssystems mit Fug und Recht als die politische Leitidee der internationalen Beziehungen im 20. Jahrhundert bezeichnet werden. 2 Entsprechend umfangreich ist die Literatur, die sich mit der Frage des Wertes des ursprünglichen Konzepts beschäftigt und in der sich gleichzeitig der Befund seines bisherigen Scheiterns wiederholt. 3 Warum also eine erneute Auseinandersetzung mit der Idee, wenn doch, wie der Schweizer Politologe Daniel Frei schon 1977 festgestellt hat, wer über kollektive Sicherheit spreche, wissen müsse, daß er sich mit einer Methode zur Erzeugung von Sicherheit beschäftige, "der bisher jeder Erfolg versagt blieb, gegenwärtig versagt bleibt und auch weiter-
Menk, Gewalt fIlr den Frieden, Vorwort. Besonders deutlich hat dies Claude, Plowshares, 223, zum Ausdruck gebracht: "If the movement for international organization in the twentieth century can be said to have a preoccupation, a dominant purpose, a supreme ideal, it is dear that the achievement of collective security answers this descriptions. Other objectives have figured prominently in the development of international organization, but the hope of establishing a successful collective security system has been the primary motivating force behind the organizational enterprises of our time." 3 Vgl. die Literaturangaben bei Verdross/Simma, Völkerrecht, 141 Fn.8, und Rousseau, Conflit arme, 525-526, sowie zum neueren Schrifttum GordenkeriWeiss, Collective Security Idea, 16 (Fn. 4 und 5). 2
A. Das Konzept der kollektiven Sicherheit in der Theorie
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hin versagt bleiben wird"4? Was bringt eine nochmalige Darstellung gerade am Beginn einer Arbeit, die neuere Entwicklungen auf dem Gebiet der militärischen Zwangsmaßnahmen behandelt? Eine Antwort auf diese Frage läßt sich heute auf zwei verschiedenen Ebenen finden: Zum einen ist das neu erwachte Interesse verfassungsrechtlich bedingt, zum anderen völkerrechtlich. Dabei greifen diese beiden Ebenen insofern ineinander, als die verfassungsrechtliche Zulässigkeit einer deutschen Teilnahme an Militäraktionen der Vereinten Nationen über Art. 24 Abs.2 Grundgesetz (GG) von der völkerrechtlichen Zulässigkeit der Aktion abhängig ist. 5 1. Verfassungsrechtliche Relevanz des Begriffs
Verfassungsrechtlich hat der Begriff durch die im Juli 1994 erfolgte Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) in drei miteinander verbundenen Organstreitverfahren aktuelle Bedeutung gewonnen. Dabei ging es um die Mitwirkungsrechte des Bundestages bei der Entscheidung über den Einsatz deutscher Streitkräfte im Rahmen von Aktionen der Nordatlantikpakt-Organisation (NATO) und der Westeuropäischen Union (WEU) zur Umsetzung von Beschlüssen des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen sowie über eine Beteiligung deutscher Streitkräfte an von den Vereinten Nationen aufgestellten Friedenstruppen. In seiner Entscheidung hat das Gericht festgestellt, daß die Ermächtigung des Art. 24 Abs. 2 GG den Bund nicht nur zum Eintritt in ein System gegenseitiger kollektiver Sicherheit und zur Einwilligung in damit verbundene Beschränkungen seiner Hoheitsrechte berechtigt. Die Ermächtigung des Art. 24 Abs. 2 GG biete auch die verfassungsrechtliche Grundlage für die Übernahme der mit der Zugehörigkeit zu einem solchen System typischerweise verbundenen Aufgaben und damit auch für eine Verwendung der Bundeswehr zu Einsätzen, die im Rahmen und nach den Regeln dieses Systems stattfinden. 6 Welche Einsätze erfüllen aber nun diese Voraussetzungen? Wie sieht der völkerrechtliche Rahmen eines solchen Systems aus und welche Regeln sind dabei zu beachten? Ist etwa die Teilnahme an einer Aktion wie der "Operation Desert Storm" gegen den Irak Anfang 199 P eine mit einem System der kollektiven Sicherheit typischerweise verbundene Aufgabe? Die je nach politischer Überzeugung stark voneinander abweichenden Antworten deutscher Po-
4 Frei, Sicherheit, 28; es gilt noch immer, was Julius Stone schon 1954 über die Erfahrungen mit der Umsetzung des Konzepts sagte: "For the student of international organisation, however, there are as yet only failures for his instruction." Vgl. Stone, Legal Controls, 183. 5 Vgl. dazu die grundlegenden Kommentierungen von Tomuschat, Art. 24 Rn. 11 t1 und RandelzhoJer, Art. 24 Abs. 1 Rn. 4 f1 6 Vgl.Leitsatz 1 des Urteils vom 12. Juli 1994,zitiertnachFAZNr.160vom 13. Juli 1994, S. 2. 7 Vgl. dazu unten 2. Teil A. 1. 2. cl.
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1. Teil: Die Grundlagen des VN-Sicherheitsmechanismus
litiker auf die zuletzt genannte Frage 8 lassen eine genauere Untersuchung des Systems der kollektiven Friedenssicherung unerläßlich erscheinen, zumal das Urteil des BVerfG - zumindest explizit - nicht zu dieser Frage Stellung nimmt. 9 Nach wie vor fehlt die "rechtliche Klarheit über die Prämissen", die Stefan Brunner schon Anfang 1992, lange vor Einleitung des jetzt entschiedenen Organstreitverfahrens, in seinem richtungweisenden Artikel zu der auch dieser Arbeit zugrunde liegenden Fragestellung eingefordert hatte. Brunner hatte solche Klarheit auf völkerrechtlicher Ebene ftir unerläßlich gehalten, damit das nationale Staatsorganisationsrecht an das "Verfassungsrecht der Weitgemeinschaft" und an dessen rechtliche und politische Vorgaben für die internationale Solidarität bei einer Bedrohung der Sicherheit angepaßt werden könne. 10 2. Völkerrechtliche Relevanz Selbst bei nur kursorischer Beschäftigung mit den das Thema dieser Untersuchung bildenden neueren Entwicklungen auf dem Gebiet der militärischen Zwangsmaßnahmen der Vereinten Nationen stellt man zudem schnell fest, daß die völkerrechtliche Ebene nicht imstande ist, die verfassungsrechtlich wünschenswerten eindeutigen Antworten auf die oben gestellten grundlegenden Fragen zu geben. Die Praxis des Sicherheitsrats in den vergangenen vier Jahren hat deutlich gemacht, daß die in Kapitel VII der Charta vorgesehene Variante des Systems der kollektiven Sicherheit wohl auf absehbare Zeit nicht verwirklicht werden wird. Statt dessen hat der Sicherheitsrat die sog. "Ermächtigungslösung" ftir militärische Zwangsmaßnahmen verwendet, die jedoch mit dem Charta-System kaum mehr Gemeinsamkeiten hat. ll Trotz des Wegfalls der Spaltung der Staatengemeinschaft in zwei antagonistische Blöcke, die viele Kommentatoren als Haupthindernis ftir die Umsetzung des VN-Systems der kollektiven Sicherheit ausgemacht hatten l2 , funktioniert die kollektiven Friedenssicherung nicht so, wie in der Charta vorgesehen.
8 Vgl. etwa die Äußerungen von Bundesaußenminister Klaus Kinkel in dem Artikel von Claus Gennrich, "KinkeI: Jetzt sind wir frei - wenn der Sicherheitsrat zustimmt" in der FAZ Nr. 161 vom 14. Juli 1994, S. 3 mit denen des SPD-Parteivorsitzenden RudolfScharping, zitiert in "Der Spiegel" Nr. 30 vom 25. Juli 1994 S. 29. 9 Zu weiteren, vom BVerfG in seiner Entscheidung ebenfalls offengelassenen Fragen, die im Rahmen der vorliegenden Untersuchung keine Rolle spielen, vgl. Bothe, Rätsel aus Karlsruhe, in: "Der Spiegel" Nr. 30 vom 25. Juli 1994. 10 Brunner, Militärische Maßnahmen, I. 11 Eine genauere Analyse dieser vom Sicherheitsrat in jüngster Zeit mehrmals wiederholten Praxis, in der einzelne oder eine Gruppe von Mitgliedsstaaten zur Durchsetzung von Resolutionen des Sicherheitsrats ermächtigt werden, findet sich in Teil 2 dieser Arbeit. 12 Vgl. als gutes Beispiel fur diese Art der Analyse den bei Claude, Management of Power, 223, zitierten Ausschnitt aus einem Artikel von Thomas J. Hamilton in der New York Times vom 30. Dezember 1960: "The great power split, together with the admission oflarge numbers of African, Asian, and European neutral ist states, has almost destroyed the collective security functions that were to be the organization's principal reason for existence."
A. Das Konzept der kollektiven Sicherheit in der Theorie
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Mit diesem vorläufigen Befund stellt sich die Frage nach der Brauchbarkeit des Konzepts zur Bewältigung seiner klassischen Aufgabe, der Eindämmung zwischenstaatlicher Gewalt: Daß in den mehr als 75 Jahren seit der Einführung des Konzepts als Leitmotiv der Sicherheitspolitik keine auch nur annähernd befriedigende Umsetzung gelungen ist, legt den Schluß nahe, daß das System der kollektiven Sicherheit in seiner Gesamtheit fUf die Bewältigung seiner ihm gestellten sog. "klassischen" Aufgabe ungeeignet ist. 13 Dieser Schluß berücksichtigt jedoch zu wenig, daß unsere Vorstellung von kollektiver Sicherheit maßgeblich von den beiden großen internationalen Organisationen mit universellem Friedensanspruch, dem Völkerbund und den Vereinten Nationen beeinflußt iSt. 14 Schlagworte wie das von der "Zahnlosigkeit" der Völkerbundsatzung mit ihren "bloß moralischen Verpflichtungen" und der Blockade des Charta-Systems durch die bei den verfeindeten politischen Blöcke verhindern bis heute oft die Diskussion über ein Konzept, dessen tatsächliche Umsetzung in beiden Fällen oft nicht oder nur unzureichend überprüft wird. Um das Konzept der kollektiven Sicherheit für gescheitert zu erklären, müssen zunächst Idee und Stnikturen der kollektiven Sicherheit genauer untersucht werden. Auch ist die Frage zu klären, ob die bisherigen beiden Versuche in Form des Völkerbundes und der Vereinten Nationen tatsächlich eine Umsetzung des Konzepts der kollektiven Sicherheit darstellen oder nicht. Unabhängig davon, wie die Antwort auf diese Frage ausfallt, kann das Konzept der kollektiven Sicherheit Hilfestellung bei der Lösung des Problems leisten, was die Mitgliedsstaaten tun müssen, um den Sicherheitsmechanismus der Vereinten Nationen doch noch funktionsfahig zu machen. 15 Die Idee der kollektiven Sicherheit könnte also in diesem Fall die Funktion erfüllen, die Leon Gordenker und Thomas Weiss als "heuristischen Nutzen" des Konzepts bezeichnet haben: Seine Fähigkeit nämlich, als Mittel zur Annäherung an ein Ideal zu dienen, ohne Anspruch auf dessen Verwirklichung zu erheben. 16 13 Daß diese Kritik keineswegs erst in den letzten Jahrzehnten des Kalten Krieges entstanden ist, zeigt etwa die Kritik von Göppert, Völkerbund, Vorwort, der schon 1938 feststellte: "Die Grundsätze, die die Satzung für die Kriegsverhütung aufgestellt hat, sind selbst verfehlt. Das von ihr konstruierte System kollektiver Sicherheit ist zum Schutze des Friedens nicht geeignet." 14 Haas, Types of Collective Security, 40, hat diese auch heute noch gültige Beobachtung schon ) 960 gemacht: "Ideologically speaking, our experience with collective security has rested on two concepts: the notion of 'universal moral obligations' ofthe League Covenant and the concert of the big powers implicit and explicit in the United Nations Charter. Thus political values held by groups and individuals were translated into legal and institutional terms in the two universal collective security organizations." 15 Vgl. Frei, Sicherheit, 29: "Auch die enttäuschenden Erfahrungen, die die Weltgesellschaft mit diesem Ansatz gemacht hat, sind aufschlußreich - nämlich im Hinblick auf die Bedingungen, die erfüllt sein müssen, damit ein derart ideales weltpolitisches Sicherheitssystem tatsächlich funktionieren könnte." 16 Vgl. Gordenker/Weiss, Whither Collective Security, 21): "As such it [the collective security idea, Anm. d. Verf.) helps to clarify and demonstrate the potential costs and benefits of actions that could be used by the international community as a whole or some part of it."
1. Teil: Die Grundlagen des VN-Sicherheitsmechanismus
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Darüber hinaus läßt sich nur durch eine genaue Kenntnis der Grundlagen des Konzepts der kollektiven Sicherheit die Frage beantworten, ob ein solches System noch geeignet ist, die im Zuge der großen weltpolitischen Veränderungen aufgetretenen neuen Herausforderungen rur die Vereinten Nationen zu bewältigen oder ob es nicht eines fundamental neuen Konzepts bedarf. Nicht nur die Anforderungen an eine internationale Organisation mit friedens sicherndem Anspruch sind heute andere und vieifliltigere, auch die weltpolitische Lage ist heute so grundverschieden von der im Jahre 1918 oder 1945, daß sich die Frage nach der Brauchbarkeit eines aus dieser Zeit stammenden Systems der kollektiven Sicherheit und der ihm immanenten Grundüberzeugungen stellt. 17 Die in den letzten Jahren erfolgte Ausdehnung des Begriffs der internationalen Sicherheit, läßt zumindest die Notwendigkeit einer Modifikation des Konzepts der kollektiven Sicherheit durchaus möglich erscheinen. 18 Diese und andere Fragen, die sich angesichts der neueren Entwicklungen auf dem hier zu behandelnden Gebiet stellen, lassen sich nur auf der Grundlage eines klaren konzeptionellen Ansatzes aus beantworten. In diesem Kapitel soll deshalb zunächst eine Begriffsbestimmung der kollektiven Sicherheit vorgenommen werden (dazu 11.), sodann soll eine Abgrenzung gegenüber anderen Konzepten der Friedenssicherung erfolgen (dazu III.), ehe die Gründe rur seine Attraktivität (dazu IV.) und seine Funktionsvoraussetzungen (dazu V.) erläutert werden. Daran anschließend werden die Anforderungen an den rechtlichen Rahmen unter besonderer Berücksichtigung der Aufgaben der militärischen Zwangsmaßnahmen erarbeitet (dazu unten VI.). 11. Begriffsbestimmung
Der Begriff der kollektiven Sicherheit ist eine relativ junge Schöpfung. 19 Nachdem der Erste Weltkrieg mit seinen verheerenden Auswirkungen die Schwächen eines auf Gegenseitigkeit beruhenden Systems der Nichtangriffspakte und Verteidigungsbündnisse des ausgehenden 19. Jahrhunderts offenbart hatte, fand in der Völkerbundsatzung zum ersten Mal die Überzeugung Niederschlag, daß im Rahmen einer universellen Organisation die Sicherheitsbedürfuisse der einzelnen Staaten besser gewährleistet sind als durch unilaterale Verteidigungsmaßnahmen. 2o HauptanGordenker/Weiss, Whither Collective Security, 214. Vgl. Dupuy, Securite collective, 618; Gordenker/Weiss, Whither Collective Security, 213; vgl. dazu unten 2. Teil C. l. 19 Der Begriff selbst ist in der Völkerbundsatzung noch nicht enthalten und taucht in der Literatur erst Anfang der dreißiger Jahre auf, vgl. Göppert, Völkerbund, Vorwort; Bourquin (Hrsg.), Collective Security, 1 ff.; Egerton, Collective Security as Myth, 95, hält den langjährigen tschechischen Außenminister Eduard Benes rur den Erfinder des Begriffs, vgl. dazu auch unten 1. Teil B. 1.; dagegen verweist RandelzhoJer, Art. 24 Abs. 1 Rn. 4 ff. darauf, daß selbst in den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg nur die wenigsten Völkerrechtslehrbücher den Begriff der kollektiven Sicherheit enthielten. 20 Vgl. Skubisziewski, Use ofForce, 783. 17
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liegen der Konzeption der kollektiven Sicherheit ist die Institutionalisierung der erlaubten Gewaltanwendung und das Zurückdrängen der Selbsthilfe, die als "rather crude instrument oflaw enforcement"21 angesehen wurde. Nach der Definition von Scheuner bezeichnet der Begriff "eine vertraglich vereinbarte internationale Ordnung, in der die Anwendung von Gewalt zu individuellen Zwecken - abgesehen von der Selbstverteidigung - untersagt und der Schutz des einzelnen Staates wie der internationalen Rechtsordnung der gemeinsamen durch das Recht sanktionierten Aktion aller Staaten einer universalen oder regionalen Staatenorganisation überantwortet ist. Die kollektive Sicherheit beruht auf dem Gedanken, daß - ebenso wie im innerstaatlichen Recht der Staat durch seine Organe den Selbstschutz ersetzt - so auch die Abwehr von Gewalt im internationalen Bereich einer organisierten und rechtlich geordneten Macht, nämlich der Staatengemeinschaft, zu übertragen ist". 22
Wenn die Errichtung eines solchen Systems als "Entarchaisierung der Gewaltanwendung im Staatenverkehr, durch einen zwischen- oder überstaatlichen pouvoir pacifique" bezeichnet wird23 , kommt darin zugleich zum Ausdruck, daß mit der Einführung eines solchen Systems ein Schritt gemacht werden sollte, weg von der "älteren Lebensform des isolierten Nebentinanders" der Staaten24 hin zu einer neuen Stufe der Staatengemeinschaft, die bereits ein gewisses Maß von Gemeinschaftsorganisation vorsieht. 25 Die kollektive Sicherheit ist deshalb auch als "Stadium des Übergangs" von der Gesellschaft souveräner Staaten ohne gemeinsames Band hin zu einer universal oder regional organisierten Gemeinschaft mit gemeinsamen Institutionen und Handlungsmöglichkeiten bezeichnet worden. 26 IH. Abgrenzung gegenüber anderen Konzepten
Nicht mehr freies, anarchisches Spiel der Mächte, aber auch noch nicht geordnetes, quasi-staatliches Miteinander: Dieser Übergangscharakter der kollektiven Sicherheit hat dazu geführt, daß der Begriff in der einschlägigen Literatur vor allem negativ, d.h. im Wege der Abgrenzung definiert wirdY KontuDelbrück, Collective Security, 104. Scheuner, Kollektive Sicherheit, 242. Menk, Gewalt fur den Frieden, Vorwort. Scheuner, Kollektive Sicherheit, 243. 25 Ebd. 26 Ebd.; dabei wird im Schrifttum stets darauf hingewiesen, daß dieser Zustand noch weit entfernt ist vom Ideal des Weltstaats, das vielen zwar wünschenswert, aber auf absehbare Zeit unerreichbar erscheint, vgl. etwa Claude, Plowshares, 224: "Collective security has generally been regarded as a halfway house between the tenninal points of international anarchy and world government. Given the assumption that the fonner has become intolerable and the latter remains, at least for the forseeable future, unattainable, collective security is conceived as an alternative, far enough from anarchy to be useful and far enough from world government to be feasible." 27 Vgl. dazu beispielhaft die Ausfiihrungen von Delbrück, Collective Security, 105 ff., der sich einer Definition im Wege der Auflistung von "distinctive traits", also von Unterscheidungsmerkmalen, nähert. 21 22 23 24
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1. Teil: Die Grundlagen des VN-Sicherheitsmechanismus
ren gewinnt das Konzept dabei in der Regel durch einen Vergleich mit den Konzepten des Gleichgewichts der Mächte 28 und des Weltstaats 29 • J. Gleichgewicht der Mächte
Ein fundamentaler Unterschied zum System des Gleichgewichts der Mächte liegt im jeweiligen Ordnungsprinzip 30, und zwar sowohl auf der Primärebene der materiellen Ordnungsnorm als auch auf der Sekundärebene der Regeln zur Durchsetzung der materiellen Ordnungsnorm. 31 Während sich das System der kollektiven Sicherheit gegen jede Art von aggressiver Politik wendet, richtet sich das Gleichgewicht der Mächte gegen ungebührliche, übertriebene Macht. 32 Zur Erreichung des Sanktionsziels verfährt das System der kollektiven Sicherheit egalitär, d.h., es wendet sein Ordnungsprinzip ähnlich wie die innerstaatliche Rechtsordnung gleichmäßig auf alle diejenigen an, die seine Grundnorm verletzen. 33 Gegenüber dem althergebrachten System der Allianzen im Konzept des Gleichgewichts der Mächte unterscheidet sich das System der kollektiven Sicherheit also durch seinen legalistischen Kern, weil es sich weigert, auf der Grundlage von Stärke, Eigeninteresse und anderen besonderen Einzelfallumständen zu unterscheiden. 34 Es liegt deshalb auf der Hand, daß jede Verbindung unter den Mitgliedsstaaten, die nicht ebenfalls den gleichen Prinzipien gehorcht, mit dieser in Widerspruch steht und diese ernsthaft gefährdet, im Extremfall gar zerstört. 35 28 Vgl. vor allem Claude, Management of Power, 219 ff.; zum Konzept des Gleichgewichts der Mächte vgl. statt aller VagtslVagts, Balance ofPower, 555 ff. 29 Vgl. zur Weltstaatsidee Frei, Kriegsverhütung, 54-6l. 30 Kimminich, Kollektive Sicherheit, 227. 31 Skubisziewski, Use of Force, 783, hat dabei die Defensivbündnisse der klassischen Völkerrechts zutreffend als rechtliche Instrumente des politischen Prinzips des Kräftegleichgewichts bezeichnet; zu der lange umstrittenen Frage, ob es sich bei der Theorie vom Gleichgewicht der Mächte überhaupt um ein rechtliches Konzept handelt vgl. die Argumente und Zitate bei Mahnke, Völkerrechtsgemeinschaft, 234; Mahnke, a.a.O., stellt zwar fest, das hervorstechendste Merkmal dieses Kräftegleichgewichts sei sein "Freisein von schematischen Ordnungsgrundsätzen", weil es keinen "kriminalisierten Angriffsbegriff', keine positiv-rechtlichen Verpflichtungen zum Beistand und auch keine Mitgliedschaftsrechte gekannt habe, schließt sich dann jedoch der wohl herrschenden Auffassung an, die besagt, der Gleichgewichtsgedanke sei zwar eine politische Zielsetzung, schaffe aber gleichzeitig die Voraussetzungen fur den vom Recht geforderten friedlichen Verkehr und fördere damit den im Sinne der Rechtsidee liegenden Zustand. 32 Claude, Plowshares, 233; ähnlich auch Mahnke, Völkerrechtsgemeinschaft, 234. 33 Vgl. TuckerlHendrickson, Imperial Temptation, 50: "Whereas the essence of a traditional statecraft is discrimination on the basis of power, interest and circumstance, the essence of collective security [... ] is precisely the absence of discrimination on the basis of these same factors." 34 TuckeriHendrickson, Imperial Temptation, 51, sprechen von einem "rigiden Legalismus", der der Konzeption der kollektiven Sicherheit innewohne. 35 Bindschedler, Grundfragen, 82; zu Recht hat deshalb Doehring, Kollektive Sicherheit, 243, einen Systemgegensatz zwischen kollektiver Sicherheit und Selbstverteidigung festgestellt; zur Frage der Vereinbarkeit von Sub-Systemen der kollektiven Sicherheit und der kollektiven Selbstverteidigung mit dem universellen System vgl. unten 2. Teil E. I. und IV.
A. Das Konzept der kollektiven Sicherheit in der Theorie
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Aus dem eben Gesagten ergibt sich zwangsläufig auch die Unterschiedlichkeit der Sanktionsmittel, mit denen die jeweiligen Systeme ihre Grundnormen durchzusetzen versuchen. Charakteristisch ist dabei vor allem die Rolle der einzelstaatlichen Gewalt. Während in einern System des Kräftegleichgewichts die Selbsthilfe die typische Form des Schutzes der einzelstaatlichen Interessen gegen Rechtsverletzungen ist36 , erlaubt das Konzept der kollektiven Sicherheit militärische Gewaltanwendung in den zwischenstaatlichen Beziehungen nur noch als konzertierte Aktion der Staatengemeinschaft oder als rechtlich gestattete Selbstverteidigung: Unilaterale Gewaltausübung wird zur Ausnahme erklärt, deren Anwendung nur solange zulässig ist, wie die kollektive Macht der Staatengemeinschaft (noch) nicht verfügbar istY Menk hat in diesem Zusammenhang treffend davon gesprochen, daß in einern System der kollektiven Sicherheit Maßnahmen der Selbstverteidigung nicht mehr nur Ausdruck des Eigeninteresses des Verteidigers seien, sondern zusätzlich "treuhänderischen Charakter" hätten, weil der Verteidigerstaat zu einer Art Sachwalter des Sicherheitssystems werde, jedoch nur solange, wie die Völkergemeinschaft sich nicht der Sache annehme. Ähnlich wie das innerstaatliche Strafrecht toleriert das System ein begrenztes Recht der Mitgliedsstaaten zur Selbstverteidigung, jedoch wird die Kontrolle über die Ausübung "vergemeinschaftet", d.h., das Gewaltmonopolliegt in den Händen der Völkergemeinschaft. 38 Auch die Sanktionsprinzipien der beiden Konzepte unterscheiden sich voneinander: Im System der kollektiven Sicherheit soll ein Staat, der das Gewaltverbot verletzt, nicht nur mit der Abwehrkraft seines Opfers, sondern mit dem Widerstand der Gesamtheit der Mitglieder zu rechnen haben. Nach dem Prinzip: "Einer für alle, alle für einen"39 will es Abschreckung durch Machtüber36 Vgl. Kelsen, Collective Security, 783; auch das klassische Völkerrecht kannte den Begriffder "Kollektivaktion" . Darunter verstand man jede, von einer Mehrzahl von Staaten gemeinsam unternommene, völkerrechtlich relevante Handlung, die von gemeinsamen politischen Interessen bestimmt wurde. Der entscheidende Unterschied zum Konzept der kollektiven Sicherheit besteht darin, daß diejeweilige Aktion unabhängig von oder auch bei völligem Fehlen einer völkerrechtlichen Organisationsform ergriffen wurden. Es handelte sich dabei also zumeist um Maßnahmen herkömmlicher Allianzen oder zeitlich eng begrenzter Ententen und nicht um kollektiv institutionelle Durchsetzungsmittel; vgl. dazu Frisch, Kollektivaktion, 647, und Menk, Gewalt ftlr den Frieden, 16. 37 Diese systemimmanente Unterordnung der unilateralen Gewalt unter die gemeinschaftliche Kontrolle hat Art. 51 der Charta klar zum Ausdruck gebracht, indem er den Mitgliedsstaaten die Ausübung des Rechts auf Selbstverteidigung nur solange gestattet, "bis der Sicherheitsrat die zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit erforderlichen Maßnahmen getroffen hat". Vgl. die deutsche Übersetzung des Art. 51, abgedruckt bei Berber, Dokumentensammlung I, 26. 38 Vgl. Claude, Plowshares, 231; zum Begriff des Gewaltmonopols vgl. statt aller Kelsen, Droit international public, 23: "Or si un ordre social statue que des actes de contrainte ne peuvent etre executes que dans des conditions deterrninees et par des individus deterrnines, et si nous considerons ces individus comme des organes de la communaute constituee par I'ordre social, nous pouvons dire que cet ordre social reserve I'emploi de la force a la communaute, qu'i1 etablit un monopole de la force au profit de la communaute." 39 Verdross/Simma, Völkerrecht, 140; Virally, L'organisation mondiale, 457; vgl. auch Morgenthau, Politics Among Nations, 331, der das Prinzip der kollektiven Sicherheit treffend als "Übersetzung" des Prinzips "Einer für alle, alle für einen" auf internationaler Ebene bezeichnet.
I. Teil: Die Grundlagen des VN-Sicherheitsmechanismus
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gewicht erreichen. 40 Im Gegensatz zu den Verteidigungsallianzen kennt das System der kollektiven Sicherheit keinen potentiellen Aggressor, es geht von der Prämisse aus, daß jeder Staat ein möglicher Aggressor ist. 41 Es ist prinzipiell binnengerichtet, nicht außengerichtet. 42 Während in einem kollektiven Sicherheitssystem eine internationale Institution die Garantie filr die Sicherheit des Einzelstaats übernimmt, basiert die Sicherheit in einem System des Kräftegleichgewichts in der Regel auf Methoden, die auf einzelstaatlicher Basis entwickelt und eingesetzt werden. 43 Der Ansatz des Systems des Kräftegleichgewichts kann also als individualistisch-kompetitiv bezeichnet werden, im Gegensatz zum kooperativen Ansatz der kollektiven Sicherheit. 44
2.
Weltstaatsidee
Unterschiede zum Konzept des Weltstaals bestehen dagegen vor allem im Verhältnis der Einzelstaaten zur Gesamtorganisation, also in der Organisations/arm. In einem System der kollektiven Sicherheit sind die Mitglieder eines Systems nicht Bundesstaaten eines föderalen Systems45 , sondern bleiben als souveräne und gleiche Einzelsubjekte erhalten, deren Verhalten theoretisch allein durch diejreiwi/lig eingegangene völkerrechtliche Verpflichtungen begrenzt ist. 46 Obwohl kollektive Sicherheit eine freiwillige Aufgabe des Rechts zur Selbstdurchsetzung der eigenen Interessen mit sich bringt, und zwar auch dann, wenn diese unter Berufung auf eine iusta causa verteidigt werden könnten und deshalb zu einer gewissen Beschränkung der Souveränität der Teilnehmer an dem System filhrt, ist diese doch in der ursprünglichen Konzeption eng begrenzt.47 Es geht ausschließlich um die Herausnahme der Sicherheit aus dem Bereich der exklusiven Zuständigkeit der Staaten, ohne daß deshalb die Ebene des Internationalen verlassen oder zerstört würde. 48 Der Übergang von einem koordinationsrechtlichen zu einem subordinationsrechtlichen System in der Regelung der internationalen Beziehungen beschränkt sich auf die Re-
Claude, Management of Power, 222; Neuhold, Internationale Konflikte, 113. Claude, Plowshares, 235; GordenkeriWeiss, Collective Security Idea, 6. 42 Delbrück, Collective Security, 106, der allerdings darauf hinweist, daß angesichts der weitreichenden Bündnisverpflichtungen in modernen Verteidigungsallianzen dieses Unterscheidungsmerkmal zunehmend verwischt wurde. 43 Skubisziewski, Use ofForce, 783; Karaosmanoglu, Actions militaires, 15. 44 Vgl. Claude, Power and International Realtions, 145: "Balance ofpower postulates two or more worlds in jealous confrontation, while collective security postulates one world, organized for the cooperative maintenance of order within its bounds." 45 Vgl. die interessante Untersuchung von Menk, Gewalt für den Frieden zur Frage, wo die VN in der Kette möglicher Rechtsformen der Integration politischer Einheit (Einheitsstaat - Bundesstaat - Staatenbund - Supranationalität) einzuordnen sind. 46 Zum problematischen Verhältnis zwischen dieser voluntaristischen Komponente des Systems der kollektiven Sicherheit und einem ständig wachsenden Bestand an sog. erga omnesVerpflichtungen vgl. unten 2. Teil C. l. 47 Doehring, Kollektive Sicherheit, 405. 48 Kimminich, Sicherheit und Zusammenarbeit, 70. 40
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A. Das Konzept der kollektiven Sicherheit in der Theorie
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gelung der zwischenstaatlichen Gewaltanwendung. 49 Deshalb wird man sagen können, daß das Konzept der kollektiven Sicherheit ebenso wie das Konzept des Gleichgewichts der Mächte über einen etatistischen Kern verfUgt. so IV. Die Attraktivität der Idee der kollektiven Sicherheit
Aus dem eben Gesagten ergibt sich zwanglos die Attraktivität eines solchen Systems der kollektiven Sicherheit in einer Welt, in der die Prinzipien der wechselnden Allianzen durch die schreckliche Erfahrung eines totalen Kriegs desavouiert sind, in dem gleichzeitig die Mitglieder der Völkergemeinschaft nicht bereit sind, das Prinzip der nationalstaatlichen Souveränität aufzugeben. Die Vorteile eines solchen Systems gegenüber den beiden konkurrierenden Ansätzen lagen und liegen darin, daß es fortschrittlich genug ist, um die "alte Ordnung in den internationalen Beziehungen"51 zu überwinden und durch die Idee vom "Frieden durch Recht" zu ersetzen und gleichzeitig die Mitgliedsstaaten nicht zu einer Aufgabe ihrer Integrität und Souveränität zwingt, sondern den Fortbestand der Einzelstaaten sogar zur unverzichtbaren Voraussetzung fiir die Erreichung des Weltfriedens erklärt.52
1. Universeller Friede durch Recht53 Die kollektive Sicherheit bietet im Gegensatz zum Gleichgewicht der Mächte ein universelles Konzept der Sicherheit: Während das Allianzsystem auf dem Prinzip der "selektiven Sicherheit"54 gründet, liegt das fundamental Neuartige der kollektiven Sicherheit darin, daß dieses System eine Sicherheitsgarantie flir alle seine Mitglieder geben will, sich somit nicht gegen einen bestimmten Staat oder eine bestimmte Staatengruppe richtet, sondern gegen einen im Zeitpunkt der Begründung noch unbekannten Friedensbrecher. 55
49 Berber, Sicherheit und Gerechtigkeit, 125, spricht in diesem Zusammenhang auch von einem Übergang von einem "genossenschaftlichen" auf ein "herrschaftliches" System. so Menk, Gewalt fur den Frieden, 42. SI Vgl. Wi/son, zitiert bei Foley, Wilson's League of Nations, 10: "The old order of things was not to depend upon the general moral judgement of mankind, not to base policies upon international right, but to base policies on international power." 52 Ähnlich auch Menk, Gewalt fur den Frieden, 36, der feststellt, die Idee der kollektiven Sicherheit sei im Grunde keine revolutionäre, sondern entspringe dem seit jeher verbreiteten Streben des Menschen nach Eindämmung des anarchischen Gebrauch von Gewalt; wie hier auch Frei, Kriegsverhütung, 71. 53 So der Titel eines Buches von Grewe, der dort allerdings mit einem Fragezeichen versehen wird; vgl. auch Koskenniemi, From Apology to Utopia, 443, der von "the idea of peace by law" spricht. 54 Ayoob, Squaring the Circ\e, 48, der gleichzeitig darauf hinweist, daß Verteidigungsbündnisse im besten Fall gegen Angriffe von außen schützen, im schlimmsten Fall jedoch zu politischen und militärischer Polarisierung fUhren und auf diese Weise das GefUhl der Unsicherheit auf regionaler oder globaler Ebene noch verstärken. 55 Bindschedler, Grundfragen, 69.
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1. Teil: Die Grundlagen des VN-Sicherheitsmechanismus
Im System der kollektiven Sicherheit ersetzen also Recht und Gerechtigkeit überlegene Macht und Stärke als Leitmotiv zwischenstaatlicher Beziehungen, was grundsätzlich zu einer rechtlichen Gleichbehandlung von großen und kleinen Mächte führt. Woodrow Wilson, der spiritus rector der- Völkerbundsatzung, nannte dies - in Abgrenzung zum "europäischen Prinzip", wonach die Mächtigen das Schicksal der Schwachen bestimmen - das "amerikanische Prinzip der internationalen Beziehungen": Weltfriede durch Recht und gleiche Rechte für alle Mitglieder der Völkergemeinschaft. 56
2. Erhalt der Nationalstaaten Das Zurückbleiben hinter dem Konzept des Weltstaats in bezug auf die Zentralisierung der Macht und Institutionalisierung stellt sich rur die Mitgliedsstaaten ebenfalls als Argument rur die kollektive Sicherheit dar: Den Staaten wird nicht abverlangt, ihre Rolle als Macht- und Autoritätszentrum des Systems der internationalen Beziehungen aufzugeben oder auch nur weitreichende Kompetenzen an eine übergeordnete Zentralinstanz zu übertragen, wie dies in einem föderal organisierten Gemeinwesen in der Regel der Fall istY Kollektive Sicherheit will Sicherheit und Ordnung erreichen wie in einem Weltstaat, jedoch mit den - wenn auch gebündelten - Machtrnitteln der Einzelstaaten. Gleichzeitig errullt es damit die Forderungen eines Systems, das im Nationalstaat des ausgehenden 19. Jahrhunderts die höchste und abschließende Organisation zwischenmenschlichen Zusammenlebens sah. 58 Daniel Frei hat darauf hingewiesen, daß die Idee der kollektiven Sicherheit bereits in jedem Weltstaatsplan enthalten sei und zwar insofern, als dort angenommen werde, daß ein Staat, der gegen die universalen Normen der Weltfriedensordnung verstoße, in gemeinsamer, also kollektiver Aktion von allen anderen Staaten bestraft werde. Da aber ein konsequent zentralisierter Weltstaat kaum in Frage komme, sei schon seit Jahrhunderten der Akzent in mehr oder weniger ausgeprägter Weise
56 Vgl. Wilson, zitiert bei Foley, Wilson's League ofNations, 10: "The American principle is that, just as the weak man has the same legal rights as the strong man [... ], so as between nations the principle of equality is the only principle of justice, and the weak nations have just as many rights and just the same rights as the strong nations." 57 Vgl. GordenkeriWeiss, Whither Collective Security, 210: ,,[qcollective security [... ] implies neither the disappearance of states nor the transfer of a wide range of decisionmaking from them to another institution. It does, however, imply an added tempering element in a world of decentral ized authority." 58 Vgl. die - zugegebenermaßen ideologisch verbrämte - Aussage bei Berber, Sicherheit und Gerechtigkeit, 127: "Der moderne Staat ist die völkerrechtlich relevante Organisation der Nation. Die Nation ist in dieser Epoche die letzte und höchste Form der Gruppenbildung."; vgl. auch Deutsch, Probability of International Law, 59-60: "The nation-state is the most powerful instrumentality devised by man for getting things done, and it is the only such effective general purpose instrumentality above the level ofthe family."
A. Das Konzept der kollektiven Sicherheit in der Theorie
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auf eine föderative Struktur gelegt worden. 59 An diese Konzepte, die sich schon bei Rousseau 60 , aber auch bei Kant61 fänden, knüpfe die Idee der kollektiven Sicherheit an und verstärke diese Tendenz noch: "Das föderative Element wird hier so nachdrücklich betont, daß in erster Linie einmal allen Staaten ihre Integrität und Souveränität garantiert wird. Das Gemeinsame, die Weitorganisation, beschränkt sich auf eine freiwillige Assoziation zum Zwecke der Friedenserhaltung, und oberstes Ziel dieser Friedenserhaltung ist gerade die Garantie der einzelstaatlichen Souveränität und Unantastbarkeit."62 Während die Realisierung der Weltstaatsidee angesichts der allgemein verbreiteten positiven Wertung des Krieges lange Zeit als "nicht anders denn als utopisch"63 bezeichnet werden konnte, schien die Idee der kollektiven Sicherheit, also einen Kompromiß zu bilden zwischen der Idee des Weltstaats und den objektiven Gegebenheiten des internationalen Systems, repräsentiert durch das für das Prinzip des Gleichgewichts der Kräfte typische System der wechselnden Allianzen des 19. Jahrhunderts. 64
V. Anforderungen an den rechtlichen Rahmen Aus dem bisher Gesagten ergeben sich zwangsläufig die strukturellen Anforderungen an den rechtlichen Rahmen eines Systems der kollektiven Sicherheit: Das System muß erstens - auf der Ebene der Primärnonnen - ein umfassendes Verbot zwischenstaatlicher Gewalt als Mittel zur Durchsetzung nationalstaatlicher Interessen enthalten; als Alternative zur verpönten gewaltsamen Auseinandersetzung muß es zweitens ein System der friedlichen Streiterledigung und des peaceful change65 bereitstellen und drittens Sekundär- oder Ver-
59 Frei, Kriegsverhütung, 69; Frei sieht in dem Plan des französischen Kardinals Pierre Dubois fur einen föderativen Friedensbund der Fürsten Europas aus dem Jahre 1306 ein erstes Beispiel fur eine solche Struktur; vgl. auch Scupin, Friedensbewegung, 572-573, der den Friedensplan von König Georg Podiebrand von Böhmen neben den Dubois' stellt, jedoch darauf hinweist, daß beide vom Gedanken der "Gegnerschaft zu einem heidnischen äußeren Feinde" getragen sind. 60 Etwa in seinem "Auszug aus dem Plan fur einen ewigen Frieden von Abbt SI. Pierre" (17561761), in dem er seinen Gedanken vom contrat socialvon der innerstaatlichen auf die zwischenstaatIiche Ebene überträgt und dafur plädiert, aufderGrundlage der volonti! generale nach friedl ichem Zusammenleben einen Bund europäischer Staaten zu gründen, in dem ein Gericht über die Erfullung der Verträge wacht und Rechtsbrecher in den Bann setzt und notfalls eine Bundesarmee gegen sie entsendet; vgl. dazu Frei, Kriegsverhütung, 56; Scupin, Friedensbewegung, 576. 61 In seiner 1795 erschienen Schrift "Zum Ewigen Frieden" beurteilte Kant die Idee einer "Weltrepublik" positiv, verwarfsiejedoch aufgrund des Bestehens der Einzelstaaten auf Autonomie als unrealistisch, und wollte an deren Stelle "das negative Surrogat eines den Krieg abwehrenden, bestehenden, und sich immer mehr ausbreitenden Bundes" setzen, der föderalen Charakter haben sollte; vgl. dazu Batscha/Saage, Einleitung, 7 ff. sowie Scupin, Friedensbewegung, 576-578. 62 Frei, Kriegsverhütung, 70-71 (Hervorhebung im Original). 63 Berber, Völkerrecht IIJ, 116. 64 Claude, Plowshares, 224; Scheuner, Kollektive Sicherheit, 243. 65 Zum hier nicht näher zu erläuternden Begriff des peaceful change vgl. VerdrosslSimma, Völkerrecht, 510 m.w.N.
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fahrensnonnen enthalten, die über Art und Ausmaß der bei Eintreten des casus foederis 66 zu ergreifenden Sanktionen Auskunft geben. 67 Schließlich - und das wird allgemein zu wenig beachtet - muß der rechtliche Rahmen die Grenzen der Sanktions befugnisse festlegen und ihre Einhaltung sicherstellen. Damit der uns hier speziell interessierende Sanktionsmechanismus funktionieren kann, muß der rechtliche Rahmen eines Systems der kollektiven Sicherheit - vergleichbar dem innerstaatlichen System der Zwangsvollstreckung68 - eindeutige Regelungen über drei verschiedene Fragenkomplexe enthalten: Zum einem ist danach zu fragen, wer die Rechtswidrigkeit des Verhaltens eines mutmaßlichen Aggressors feststellt (Determination); sodann muß die Frage geklärt werden, wer die zu ergreifenden Zwangsmaßnahmen festlegt (Autorisierung); drittens und letztens ist zu entscheiden, wer die beschlossenen Zwangsmaßnahmen ausführt (Exekution).69 I. Repression und Prävention als Aufgaben der Zwangsmaßnahmen
Die Bestimmungen über Zwangsmaßnahmen haben in einem Konzept der kollektiven Sicherheit zwei Aufgaben, eine repressive und eine präventive. Die repressive Aufgabe der Zwangsmaßnahmen besteht darin, den Primämormen Wirksamkeit nach dem Vorbild des innerstaatlichen Rechts zu verschaffen: Diese sollen in rechtlich geregelter Weise physisch durchsetzbar sein. 70 Die Sanktionsnonnen sollen also sicherstellen, daß der durch die Gewaltanwendung entstandene völkerrechtswidrige Zustand durch Ausübung von Druck auf den Rechtsbrecher möglichst unverzüglich rückgängig gemacht wird. 71 Viel entscheidender ist jedoch die präventive Funktion der Sanktionsbestimmungen, die darauf gerichtet ist, das Verhalten des potentiellen Rechtsbre66 Vgl. zum Begriff Verasta, Casus Foederis, 82; in der Literatur wird mitunter auch der Begriff "casus belli" verwendet, vgl. etwa Verdross/Simma, Völkerrecht, 142. 67 Verdross/Simma, Völkerrecht, 141-142; Claude, Plowshares, 238; Neuhold, Internationale Konflikte, 114; Barandon, Vereinte Nationen und Völkerbund, 107. 68 Auf diese Analogie zur innerstaatlichen Zwangsvollstreckung weisen Schücking/Wehberg, Völkerbund, 602 hin, indem sie in ihrer einleitenden Kommentierung zu Art. 16 VBS von "Zwangsvollstreckung in den Völkerbundentwürfen" sprechen, wobei die hier als Determination bezeichnete Entscheidung gleichzusetzen wäre mit der zu vollstreckenden gerichtlichen Entscheidung, die Autorisierung mit der Erteilung eines Titels und die Exekution mit der Zwangsvollstreckungshandlung. 69 Die hier verwendete Terminologie geht auf Brunner, Militärische Maßnahmen, 11, zurück; wie hier auch Bindschedler, Grundfragen, 73; ähnlich auch Wolfrum, Regionale Abmachungen, 581, der im Rahmen von Kapitel VII der VN-Charta von zwei "Entscheidungsprärogativen" und einer "Durchsetzungskompetenz" des Sicherheitsrats spricht. 70 Berber, Sicherheit und Gerechtigkeit, 121 ff., hat diese Analogie heftig als nicht dem koordinationsrechtlichen Wesen der internationalen Beziehungen entsprechend kritisiert und statt dessen eine Analogie zu den außerprozessualen Durchsetzungsmöglichkeiten des Zivilrechts, wie etwa dem Zurückbehaltungsrecht, plädiert. 71 Combacau, Sanctions, 339; Göppert, Völkerbund, 491.
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chers durch Drohung mit Gewaltanwendung so zu beeinflussen, daß er darauf verzichtet, vom geregelten, normierten und rechtmäßigen Verhalten abzuweichen. 72 Drohung bedeutet hier Drohung mit potentieller Gewaltanwendung, nicht unmittelbar sichtbare Anwendung von Gewalt. 73 Die Sanktionsregelungen sollen wirken, ohne daß es dazu ihrer Anwendung bedarf.74 Ihre Wirkung beruht zuförderst auf dem Prinzip der Abschreckung. 75 Diesen Gedanken hat Lawrence Lowell, einer der engagiertesten Befürworter des Völkerbundes in den Vereinigten Staaten, präzise zum Ausdruck gebracht: "We fee I that the only thing that will prevent war is the certainty that the country going to war will have to meet the world in arms, and we believe that any country which is fully convinced that if it commits acts of hostility towards another before submitting the question in dispute to arbitration it will have to fight all the world, will never commit such acts of hostility, and hence that such a universal war will never be needed. "76
Was den potentiellen Angreifer dazu bewegt, die unerwünschte Handlung zu unterlassen, ist also eine Kosten-Nutzen-Rechnung: Abschreckung funktioniert, wenn die Kosten, die der Angreifer zu erwarten hat, den allfälligen Nutzen, den ihm sein nicht normkonformes Verhalten vermutlich einbrächte, klar übersteigen. 77 Die modemen Theoretiker der Abschreckung, wie J. David Singer, Thomas Schelling und Anatol Rapoport, haben nachgewiesen, daß der zentrale Punkt des Konzepts der Abschreckung die Frage der Glaubwürdigkeit der Drohung ist. 78 Von Singer stammt die Formel: "Threat-Perception = Estimated Capability x Estimated Intent"
(Wahrnehmung der Drohung = geschätzte Fähigkeit x geschätzte Absicht).79
Damit das Prinzip der Abschreckung funktioniert, muß der rechtliche Rahmen dafür sorgen, daß im Falle einer Verletzung ein Höchstmaß an "SanktionsAutomatismus" gewährleistet ist. Jede Verletzung des Kriegs- oder Gewaltver72 Vgl. Virally, L'organisation mondiale, 458: ,,[Lla securite collective est, avant tout, un instrument de dissuasion." Menk, Gewalt fur den Frieden, 350; vgl. die eingehende Diskussion des Stellenwerts der Sanktionsbestimmungen im System der Völkerbundsatzung unten I. Teil B. 1.; vor allem Inis Claude hat wiederholt darauf hingewiesen, daß sowohl die Theorie vom Gleichgewicht der Mächte als auch die kollektive Sicherheit auf dem Prinzip der Abschreckung beruhen, vgl. Claude, Power in International Relations, 124-126. 73 Frei, Kriegsverhütung, 119; vgl. auch Schelling, Strategy of Conflict, 5: ,,[Sltrategy - in the sense in which I am using it here - is not concerned with the efficient application of force but with the exploitation ofpotential force." 74 Göppert, Völkerbund, 491. 75 RandelzhoJer, Kriegsverhütung durch Völkerrecht, 759. 76 Lowell im Gespräch mit G. Lowes Dickinson, zitiert bei Egerlon, Collective Security as Myth,98. 77 Frei, Kriegsverhütung, 118. 78 Vgl. etwa Singer, Deterrence, 35 ff.; Rapoport, Fights, Games and Debates, 88; Schelling, Strategy of Conflict, 53 ff. 79 Vgl. Frei, Kriegsverhütung, 118. 3 Bauer
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bots muß automatisch eine "strafende" Reaktion der Völkergemeinschaft nach sich ziehen. 80 Das System muß also, um seine präventive Funktion erfullen zu können, ein Höchstmaß an Effektivität vermitteln. Dies ist nur dann möglich, wenn die Mitgliedsstaaten sich im voraus zu klar umrissenen Reaktionen auf die Verletzung der Primärnormen verpflichten oder einem Zentralorgan die Möglichkeit übertragen wird, das Vorliegen des casus foederis fllr alle Mitgliedsstaaten bindend festzustellen und mit eigenen Mitteln auf die Verletzung der Primärnormen zu reagieren oder alle bzw. einzelne Mitgliedsstaaten zur Durchfllhrung der Zwangsmaßnahmen im Namen der Staatengemeinschaft zu verpflichten.
2. Die Bedeutung der Kollektivität Mit der "Vergemeinschaftung" der Entscheidungen über und der Ausfllhrung von Zwangsmaßnahmen verfolgt das System der kollektiven Sicherheit verschiedene Zwecke: Auf der Ebene der Exekution sorgt sie fllr eine Maximierung des Abschrekkungspotentials und fur die Verteilung der von den einzelnen Mitgliedsstaaten zu tragenden Lasten einer eventuell zu ergreifenden Sanktionsmaßnahme. Die Kollektivität der Exekution stellt sicher, daß die einzelne Aktion nicht den Charakter eines Krieges annimmt, sondern den einer Polizeiaktion behält. 81 In der Literatur wird zu Recht daraufhingewiesen, daß eine solche Polizeiaktion im innerstaatlichen Bereich von der "unendlichen Überlegenheit der Gesamtheit gegenüber dem Einzelnen" profitiert, was in der Regel eine Auseinandersetzung mit Rechtsbrechern in einer Weise möglich macht, die keine schwerwiegenden Auswirkungen auf die Lebensumstände der Gemeinschaft hat. 82 Im zwischenstaatlichen Bereich ist die Situation allein schon wegen der relativ geringen Anzahl von Staaten und das durch jedes einzelne Rechtssubjekt verkörperte Machtpotential sehr viel schwieriger. Die Kollektivität der Exekution dient also der Herstellung jenes erdrückenden Maßes an Übermacht, welches es der Gemeinschaft erlaubt, jeden Rechtsbrecher abzuschrecken oder wenigstens ohne große Anstrengungen in die Schranken zu weisen. 83 Sie dient also der "Maximierung des Abschreckungspotentials".84 Für diese Funktion spielt die Kollektivität auf der Ebene der Exekution eine größere Rolle als auf der Ebene von Determination und Autorisierung.
Vgl. Claude, Plowshares, 23l. Claude, Plowshares, 235. 82 Bindschedler, Grundfragen, 77; ihm folgend RandelzhoJer, Kriegsverhütung durch Völkerrecht, 759. 83 Claude, Plowshares, 235; RandelzhoJer, Kriegsverhütung durch Völkerrecht, 759. 84 Neuhold, Internationale Konflikte, 114. 80 81
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Zum anderen soll die kollektive AusfUhrung, vor allem aber die kollektive Entscheidung über "Ob" und "Wie" der Zwangsmaßnahmen deren unparteiische und objektive DurchfUhrung garantieren. 85 Sie soll die Gewähr dafür bieten, daß die Aktionen auch wirklich dem Gemeinschaftsinteresse an der Bewahrung oder Wiederherstellung des Weltfriedens dienen und nicht der Durchsetzung eigennütziger, nationalstaatlicher Interessen. Sie soll also Diskriminierungen unter den Mitgliedsstaaten verhindern. 86 Die Kollektivität soll somit zur Lösung des jedem System der kollektiven Sicherheit immanenten Legitimitätsproblems beitragen. 87 Die Legitimität der ergriffenen Zwangsmaßnahme nimmt auf völkerrechtlicher Ebene einen größeren Stellenwert ein als in der innerstaatlichen Rechtsordnung. Im innerstaatlichen Recht verfUgt die die Zwangsmaßnahme ergreifende Instanz angesichts des staatlichen Machtapparats und der relativen Machtlosigkeit des einzelnen Rechtssubjekts über einen "Legitimitätsvorsprung".88 Ein solcher Vorsprung der Gemeinschaft gegenüber dem Einzelnen fehlt im Völkerrecht oder ist jedenfalls in sehr viel geringerem Maße vorhanden, weil jedem Staat, seinen Interessen und seinem Willen in der Völkerrechts gemeinschaft ein ganz besonderer Wert zukommt. Der vom Völkerrecht anerkannte Grundsatz der souveränen Gleichheit der Staaten ist Ausdruck der Überzeugung, daß jeder Staat einen Komplex lebenswichtiger Interessen der in ihm zusammengeschlossenen Menschen verkörpert, denen keine übergeordnete organisierte Gemeinschaft mit höherer Legitimität gegenübersteht. 89 Zwangsweise Eingriffe in die Rechte von Staaten haben daher ganz andere, weitreichendere Konsequenzen als das Eingreifen der Polizei im Staate gegenüber einem Individuum. Sie werfen folglich auch die Frage nach der Legitimität eines solchen Eingriffs mit größerer Dringlichkeit auf. 90 Im Völkerrecht lassen sich schon wegen der stärkeren Notwendigkeit der Berücksichtigung der Besonderheiten des Einzelfalls und wegen des durch seinen politischen Charakter bedingten, oft vagen Inhalts seiner Regelungen Recht und Unrecht nicht immer mit letzter Sicherheit feststellen. Eine kollektive Zwangsaktion auf internationaler Ebene ist daher kaum einmal eindeutig nur Rechtsvollzug, sondern hat stets eine starke Beimischung an politischem Gehalt. Deshalb ist sie fast immer der Gefahr ausgesetzt, nicht als eine Aktion der Völkergemeinschaft zu erscheinen, sondern als die einer Mehrheit gegen eine Minderheit, mit der zumindest auch individuelle Interessen verfolgt werden. 91 Morgenthau, International Police, 213. Delbrück, Collective Measures, 101. RandelzhoJer, Kriegsverhütung durch Völkerrecht, 764. RandelzhoJer, Kriegsverhütung durch Völkerrecht, 754. Bindschedler, Grundfragen, 77; RandelzhoJer, Kriegsverhütung durch Völkerrecht, 764. 90 RandelzhoJer, Kriegsverhütung durch Völkerrecht, 764. 91 RandelzhoJer, Kriegsverhütung durch Völkerrecht, 765; Claude, Plowshares, 256; Bindschedler, Grundfragen, 79. 85 86 87 88 89
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Diese "Legitimitätslücke" soll durch die Schaffung eines pouvoir neutre zur Friedenssicherung geschlossen oder zumindest verkleinert werden. 92 Die durch eine gemeinsame Entscheidungsfindung der Mitglieder der Staatengemeinschaft erhöhte Gewährleistung der Unparteilichkeit und Objektivität soll den Schritt "vom genossenschaftlichen zum herrschaftlichen Aufbau, von der koordinationsrechtlichen zur subordinationsrechtlichen Konstruktion des Völkerrechts" erleichtern und gleichzeitig fiir die Mitgliedsstaaten erträglich gestalten. 93 3. Die Bedeutung der Zentra/isierung Je nach Grad der Kollektivität sind dabei unterschiedliche Stufen des kollektiven Sicherheitssystems vorstellbar. Theoretisch können in einem System der kollektiven Sicherheit alle drei Entscheidungen (Determination, Autorisierung, Exekution) entweder einem zentralen Organ übertragen oder den einzelnen Mitgliedsstaaten überlassen werden. 94 Je nach Kombination der einzelstaatlichen mit der zentralistischen Lösung lassen sich so verschiedene Entwicklungsstufen der kollektiven Sicherheit denken, angefangen von der primitiven Stufe, in der Feststellung, Beschlußfassung und Durchfiihrung den Einzelstaaten obliegen, bis hin zur höchstentwickelten Stufe, bei der ein Zentralorgan die Rechtswidrigkeit feststellt, über die zu treffenden Zwangsmaßnahmen entscheidet und diese auch mit eigenen Mitteln durchfiihrt. 95 Schon Kelsen hat daraufhingewiesen, daß der Unterschied zwischen der primitiven Stufe der'kollektiven Sicherheit, bei der alle drei Entscheidungen dezentral getroffen werden, und einer Lösung, bei der die Staaten im Wege der Selbsthilfe ihre Interessen durchsetzen und sich gegen Rechtsverletzungen wehren, relativ gering ist. 96 Der Unterschied zur einzelstaatlichen Selbsthilfe Menk, Gewalt fIlr den Frieden, Vorwort. Berber, Sicherheit und Gerechtigkeit, 125; vgl. auch Menk, Gewalt fIlr den Frieden, 108 und 351, der zu Recht feststellt, daß der "Legitimitätsboden der Gewaltanwendung" in zwischen- oder überstaatlichen System der kollektiven Sicherheit "unvergleichlich dünner" sei als im innerstaatlichen Bereich, weil der völkerrechtlichen Sanktion das typische Merkmal der staatlichen Sanktion, nämlich deren "Ableitung aus einer der juristischen Person 'Staat' originär eigenen Rechtsmacht" fehle. 94 Dies ist in der Literatur nicht unumstritten; verschiedene Autoren verlangen ein Mindestmaß an Zentralisierung des Entscheidungsprozesses, vgl. etwa Scheuner, Kollektive Sicherheit, 243; Kimminich, Kollektive Sicherheit, 238, und Claude, Plowshares, 238; dieser allzusehr durch die negative Erfahrung mit der dezentralisierten Variante der kollektiven Sicherheit des Völkerbundes beeinflußten Meinung ist jedoch entgegenzuhalten, daß theoretisch bei maximaler Homogenität der Werte der Mitgliedsstaaten ein System der kollektiven Sicherheit ohne permanente Institutionen auskommen könnte; wie hier Kelsen, Collective Security, 783 ff.; Bindschedler, Grundfragen, 73; vgl. auch Gordenker/Weiss, Collective Security Idea, 10. 95 Bindschedler, Grundfragen, 72-73; Ke/sen, Collective Security, 783, spricht von "different degrees of collective security". 96 Vgl. Kelsen, Collective Security, 783: "It [Le. collective security, d. Verf.] may consistonly in thatthe members of a particular international community, established for this purpose, are obliged by the constitution ofthe community to ass ist the member, whose right has been violated, in its reaction against certain or all violations ofits rights, to resort to reprisals or war againstthe violator. " 92
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bestehe in einem solchen Fall zum einen darin, daß die Staatengemeinschaft noch insofern über das Gewaltmonopol verfüge, als sie die genauen Voraussetzungen für den Einsatz der einzelstaatlichen Gewalt im Namen der Gemeinschaft festlege. 97 Zum anderen sei bei der kollektiven Sicherheit auch ein nicht unmittelbar in seinen Rechten verletzter Mitgliedsstaat zur Hilfeleistung für den betroffenen Staat verpflichtet, im Fall der Selbstverteidigung jedoch nur dazu berechtigt. 98 Dagegen ist das Gewaltmonopol der Staatengemeinschaft auf der zweiten Stufe der kollektiven Sicherheit sehr viel stärker ausgeprägt: Sie ist erreicht, wenn die kollektiven Zwangsmaßnahmen durch ein Zentralorgan eingeleitet und dirigiert werden. 99 Kelsen spricht in einem solchen Fall von einer "ZentraIisierung des Gewaltmonopols" .100 Dieses höher entwickelte System der kollektiven Sicherheit zeichnet sich also dadurch aus, daß die Entscheidung über und die Anwendung von zwischenstaatlicher Gewalt weitgehend "vergemeinschaftet" ist, d.h. in den Händen der Staatengemeinschaft liegt, die es durch ein zentrales Organ ausübt. 101 Zentralisierung wird im Schrifttum weitgehend gleichgesetzt mit Kollektivität. 102 Dabei ist jedoch zu beachten, daß mit der formellen Einrichtung zentraler Organe, die sich aus weisungsgebundenen Delegierten der Mitgliedsstaaten zusammensetzen, gegenüber einer dezentralisierten Organisation kein nennenswerter Fortschritt erzielt wird. 103 Ein entscheidender Schritt in Richtung der Organisation und Monopolisierung der Zwangsvollstreckung durch die Staatengemeinschaft ist erst getan, wenn eine alle Mitglieder bindende Zentralinstanz geschaffen wird, die den Sicherheitsmechanismus in Gang setzen kann, ohne dabei dem Einfluß der Mitgliedsstaaten unterworfen zu sein. 104 Es ist folglich die Effektivität, die mit zunehmender Zentralisierung wächst, nicht notwendigerweise die Legitimität. Letztere nimmt in der Regel mit steigender Kollektivität zu. 4. Der Ausgleich zwischen Effektivität und Legitimität Die Zwangsmaßnahmen eines kollektiven Sicherheitssystems bewegen sich in einem Spannungs/eid zwischen Effektivität und Legitimität, welches sich auf allen drei Ebenen (Determination, Autorisierung und Exekution) in unterschiedlicher Intensität bemerkbar macht und folglich unterschiedliche Lösungen verlangt. Kelsen, Collective Security, 784. Ebd. Ebd. 100 Kelsen, Droit international public, 25. 101 Ähnlich auch Menk, Gewalt für den Frieden, 16, der aus dem Begriff der Kollektivität eine "Amtsgenossenschaft" aller Mitglieder der Staatengemeinschaft zur Friedenssicherung ableitet. 102 Vgl. statt aller GordenkeriWeiss, Whither Collective Security, 215. 103 Bindschedler, Grundfragen, 73. 104 Claude, Plowshares, 238. 97
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Auf der Entscheidungsebene (Determination und Autorisierung) kann eine hohe Effektivität nur durch eine Zentralisierung der Entscheidungskompetenz in einem supra-nationalen Organ mit eigenen Befugnissen erreicht werden, das seine Entscheidungen nach dem Mehrheitsprinzip trifft. 105 Ein solcher Prozeß schafft jedoch zwangsläufig eine Entscheidungshierarchie und verringert dadurch die angestrebte Gleichheit zwischen den einzelnen Mitgliedern des Systems. 106 Er verringert die Legitimität der von dem Zentralorgan getroffenen Entscheidungen. Ein Maximum an Legitimität wäre dagegen gewährleistet, wenn die gesamte Staatengemeinschaft nach dem Prinzip der Einstimmigkeit über "Ob" und" Wie" der Sanktionen entscheiden würde. Gleichzeitig darf dem zur Entscheidung berufenen Organ kein zu großes Ermessen eingeräumt werden. Ansonsten besteht die Gefahr, daß die Entscheidung über das Vorliegen des casusfoederis nicht aufgrund rechtlicher, sondern aufgrund machtpolitischer Gesichtspunkte getroffen wird. 107 Dies wäre mit der egalitären Natur des Konzepts der kollektiven Sicherheit unvereinbar und würde einem solchen System den Vorwurf der Willkürlichkeit eintragen. Dabei besteht ein enger Zusammenhang zwischen der Wahl der Organisationsform (dezentral oder zentral) und der Klarheit und der Eindeutigkeit der von ihr zu vollziehenden Primärnorm. 108 Je klarer und eindeutiger das Kriegs- oder Gewaltverbot gestaltet ist, desto geringer die Bedeutung des feststellenden Organs und desto höher die Rechtssicherheit und Vorhersehbarkeit und damit die Effektivität des kollektiven Sicherheitssystems. 109 Auf der Exekutionsebene wäre eine Ausfiihrung der Zwangsmaßnahmen durch eine ständige, überstaatliche Polizeitruppe eine ideale Kombination zwischen Legitimität und Effektivität. Unterhalb dieser Ideallösung ist dagegen eine Verpflichtung zur automatischen Bereitstellung sinnvoll, die ein Mindestmaß an kollektiver Ausführung bei gleichzeitiger Effektivität gewährleistet. Eine Ausführung durch ad-hoc zusammengestellte Kräfte einsatzwilliger Mitgliedsstaaten ist dagegen die am wenigsten effektive Lösung, selbst wenn sie noch als legitim empfunden werden kann, solange das ermächtigende Zentralorgan, wenn schon nicht die operative Einsatzgewalt, so doch die Kontrolle über die eingesetzten Truppen behält. Ihre entscheidende Schwäche liegt in der mangelnden Vermittlung von Rechtssicherheit und Vorhersehbarkeit, mit der Folge, daß die entscheidende Funktion der Abschreckung nicht erfüllt werden kann. 110 Auch auf der Exekutionsebene gilt: Je genauer die Anweisungen in der Rechtsgrundlage, desto geringer der Ermessensspielraum und desto höher Schücking/Rühland/Böhmer/, Völkerbundsexekution, 556. Gordenker/Weiss, Collective Security Idea, 6-7. 107 Vgl. Morgen/hau, International Police, 221: "The more discretion an actor has, the greater are his chances to substitute his own standards ofaction for those required by law." 108 Bindschedler, Grundfragen, 71 u. 73. 109 Bindschedler, Grundfragen, 71. 110 Morgen/hau, International Police, 221. 105
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folglich die Wahrscheinlichkeit von Unparteilichkeit und damit Legitimität. 111 Je konkreter die Pflichten der Mitgliedsstaaten zur Teilnahme an den Sanktionen, desto größer die auf dem Abschreckungseffekt beruhende Effektivität.
5. Garantie der einzelstaatlichen Souveränität durch Begrenzung der Eingriffsbefugnisse Der möglichst geringe Ermessensspielraum flir das im Namen der Staatengemeinschaft handelnde Zentralorgan ist noch aus anderen Gründen flir ein System der kollektiven Sicherheit von entscheidender Bedeutung: Nicht nur läßt sich so, wie oben gezeigt, sicherstellen, daß das Zentralorgan die ihm übertragenen Befugnisse nicht willkürlich gebraucht - was dem egalitären Charakter des Systems zuwiderlaufen würde l12 -, sondern es wird darüber hinaus garantiert, daß die Eingriffsbefugnisse nicht zu Lasten der Mitgliedsstaaten überschritten werden, was im Extremfall das Fortbestehen der Einzelstaatlichkeit gefahrden könnte. 113 Wie oben bereits erwähnt, geht es dem System der kollektiven Sicherheit ausschließlich um die Herausnahme der internationalen Sicherheit aus dem Bereich der exklusiven Zuständigkeit der Mitgliedsstaaten; dabei soll jedoch deren Souveränität im übrigen unangetastet bleiben. 114 Die Übertragung einzelstaatlicher Befugnisse im Bereich der internationalen Sicherheit ist flir die Mitglieder eines solchen Systems nur dann akzeptabel, wenn der rechtliche Rahmen sicherstellt, daß die Eingriffe in diesem Bereich anhand klarer, vorab definierter Kriterien erfolgen. Auch muß der rechtliche Rahmen daflir sorgen, daß die Eingriffe durch das Zentralorgan nicht so schwerwiegend sind, daß sie die einzelstaatliche Souveränität des betroffenen Mitgliedsstaats in ihrem Kernbereich verletzen. Die Bereitschaft der Mitgliedsstaaten zur Übertragung einzelstaatlicher Rechte auf ein Zentralorgan steht in einem System der kollektiven Sicherheit unter der Bedingung, daß das Zentralorgan selbst den jeweiligen rechtlichen Rahmen nicht überschreitet. 115 Der rechtliche Rahmen muß also so ausgestaltet sein, daß er den Mitgliedsstaaten ein Mindestmaß an einzelstaatlicher Souveränität garantiert. Dies geschieht idealiter durch eine genaue Festlegung der Eingriffsbefugnisse bei gleichzeitiger Kontrolle der Einhaltung durch unparteiische Dritte.
111 Vgl. wiederum Morgenthau, International Police, 221: "It is obvious that the opportunities for partiality are proportionate to the freedom of action the actor possesses. " 112 Vgl. oben 1. Teil A. IV. 1. 113 Vgl. oben I. Teil A. IV. 2. 114 Vgl. oben 1. Teil A. III. 2. 115 Richter Bustamante hat diesen Gedanken in seinem Sondervotum zum Certain-ExpensesGutachten zum Ausdruck gebracht: "Only because of their acceptance of the purposes of the Charter and the guarantees therein laid down have the States Members partially limited the scope of their sovereign powers [.. .]. It goes without saying, therefore, that the real reason for the obedience of States Members to the authorities of the Organization is the conformity of the mandates of its competent organs with the text ofthe Charter." Vgl. ICJ Reports 1962,304.
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VI. Funktionsvoraussetzungen der kollektiven Sicherheit
Das Vorhandensein eines rechtlichen Rahmens, der das oben beschriebene Spannungsverhältnis zwischen Effektivität und Legitimität aufzulösen vermag, reicht fUr das Funktionieren eines Systems der kollektiven Sicherheit allein nicht aus. Dieses setzt vielmehr über Schaffung eines adäquaten rechtlichen Rahmens hinaus die ErfUllung einer ganzen Reihe von subjektiven und objektiven Voraussetzungen voraus. 116 Erstere beziehen sich auf die allgemeine Bereitschaft zur Übernahme der mit der kollektiven Sicherheit verbundenen Verantwortung. Letztere beschäftigen sich mit der Frage, inwieweit sich die weltpolitische Lage fUr die Umsetzung des Konzepts eignet. ll7
1. Subjektive Voraussetzungen Kollektive Sicherheit setzt voraus, daß die große Mehrheit der Staaten bereit ist, den Weltfrieden zu verteidigen, d.h. die Prämisse der Unteilbarkeit des Friedens zu akzeptieren und sich gegenjede Art von Friedensbruch zu wehren, egal ob er die eigenen Interessen verletzt oder nicht: Sie muß, wie Neuhold es formuliert hat, "eine wirkliche Loyalität gegenüber der internationalen Gemeinschaft entwikkein", weil von ihr fühlbare Opfer verlangt werden können, "auch wenn ihre unmittelbaren Interessen nicht auf dem Spiel stehen".118 Die "Akzeptierung der Unparteilichkeit und Anonymität in der Anwendung des Systems" 119 ist eine weitere grundlegende Voraussetzung fUr das Gelingen der kollektiven Sicherheit. Weil seine Konzeption, wie oben bereits angesprochen, egalitär ist, muß sie sich gegen jede Art von aggressiver Politik wenden. 120 Damit verlangt das System der kollektiven Sicherheit gleichzeitig ein hohes Maß an Flexibilität: Der Rechtsbrecher steht ja nicht von vornherein fest, vielmehr müssen die Mitglieder des Systems, unabhängig von traditionellen Allianzen und Freundschaften zwischen den Völkern, bereit sein, gegen jedes Mitglied unverzüglich die notwendigen Zwangsmaßnahmen zu ergreifen, nach dem Prinzip: "Whoever commits aggression is everybody's enemy, whoever resists aggression is everybody' s friend" .121
116 VerdrosslSimma, Völkerrecht, 141; Claude, Plowshares, 229, spricht von einem "extraordinarily complex network ofrequirements". 117 Claude, Plowshares, 229. 118 Neuhold, Internationale Konflikte, 115. 119 VerdrosslSimma, Völkerrecht, 141. 120 Vgl. Claude, Plowshares, 233; in diesem Sinne auch TuckerlHendrickson, Imperial Temptation, 48: "In this conception, the condemnation and repression of aggression cannot be qualified by the identity of the aggressor. Aggression is aggression whether it is committed by a small or a great power." 121 Claude, Plowshares, 233.
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Gleichzeitig verlangt die Idee der kollektiven Sicherheit die Bereitschaft zum Verzicht au/nationale Handlungsfreiheit, gerade in kritischen Situationen und auf dem zentralen Sektor der Sicherheitspolitik. 122 Kollektive Sicherheit bedeutet Unterordnung der nationalen Interessen unter das kollektive Interesse der Staatengemeinschaft, denn in einem System kollektiver Sicherheit können die Staaten nicht auf appeasement oder Krieg als Mittel internationaler Politik zurückgreifen, sondern müssen bereit sein, Gewalt anzuwenden, um ihre völkerrechtlichen Verpflichtungen zu erfUllen. 123 2. Objektive Voraussetzungen Zu den objektiven Voraussetzungen zählen zunächst die ausgewogene Verteilung politisch-militärischer Macht und die Universalität der Mitgliedschaft, insbesondere die Beteiligung der Großmächte. 124 Beide Voraussetzungen sind deshalb von elementarer Wichtigkeit, weil die Konzeption der kollektiven Sicherheit - wie oben bereits erörtert - maßgeblich darauf beruht, daß ein solches Machtübergewicht zugunsten der Aufrechterhaltung des Gewaltverbots geschaffen wird, daß jeder potentielle Rechtsbrecher durch die Gewißheit seiner Niederlage abgeschreckt und daß jeder tatsächliche Aggressor durch die Macht der Gesamtheit besiegt wird. 125 Die kollektive Aktion soll nicht den Charakter eines regelrechten Krieges haben, sondern den einer Polizeiaktion behalten. Um ein hinreichendes Machtübergewicht zugunsten der Gemeinschaft herzustellen, wäre es theoretisch notwendig, daß die Staatengemeinschaft zumindest aus etwa gleich mächtigen Staaten bestünde, die einzeln nicht über zuviel Macht verfugen dürfen. 126 Natürlich ist ein kollektives Sanktionssystem auch dann noch funktionsfähig, wenn nicht gerade der Idealfall einer Vielzahl militärisch gleich starker Staaten gegeben ist. Zum Scheitern ist ein solches System allerdings dann verurteilt, wenn die Staatengemeinschaft einzelne Mitglieder von solcher Mächtigkeit hat, daß ihnen gegenüber auch die Gesamtheit der übrigen Staaten nicht mehr jenes Machtübergewicht aufbringen kann, das eine militärische Niederwerfung leicht möglich macht, oder wenn gar ein Machtübergewicht gegen sie nicht oder kaum mehr gebildet werden könnte. 127 VerdrosslSimma, Völkerrecht, 141. Zu Recht hat Frei, Kriegsverhütung, 76, daraufhingewiesen, daß zwischen dem Primat der internationalen Loyalität und dem Hauptziel kollektiver Sicherheit, der Garantie der Souveränität und Integrität der Mitgliedsstaaten, ein systemimmanenter Widerspruch besteht; so im übrigen auch Doehring, Kollektive Sicherheit, 405, der von einem "Spannungsverhältnis zwischen dem Recht zur eigenen Letztentscheidung und der Forderung nach Bewahrung des Rechtsfriedens" spricht. 124 VerdrosslSimma, Völkerrecht, 140-141; zum Begriff der Großmächte vgl. Randelzhojer, Great Powers, 142 ff. 125 Claude, Plowshares, 235, weist im übrigen auch zutreffend darauf hin, daß gerade auch wirtschaftliche Sanktionen nur dann wirksam sind, wenn dem betroffenen Staat kein oder doch so gut wie kein Staat verbleibt, der mit ihm weiterhin Wirtschaftsbeziehungen unterhält. 126 Claude, Plowshares, 236; Randelzhojer, Kriegsverhütung durch Völkerrecht, 759. 127 Randelzhojer, Kriegsverhutung durch Völkerrecht, 759. 122
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I. Teil: Die Grundlagen des VN-Sicherheitsmechanismus
Wie oben bereits erwähnt, kann ein kollektives Sanktionssystem nur dann funktionieren, wenn die Sanktionen ohne bedeutende militärische Anstrengungen zum Erfolg führen. 128 Nur dann wird auch die Bereitschaft vorhanden sein, bei jedem, auch einem ihre unmittelbaren Interessen nicht beeinträchtigenden Verstoß gegen das Gewaltverbot an Sanktionsmaßnahmen teilzunehmen. Bedeutet die Ergreifung von Sanktionen die Führung eines regelrechten Krieges, dann werden nur die Staaten dazu bereit sein, deren Interessen durch den Verstoß gegen das Gewaltverbot unmittelbar betroffen werden. 129 Deshalb ist auch die Abrüstung eine Vorbedingung für das Funktionieren eines Systems der kollektiven Sicherheit. Ein kollektives Sanktionssystem kann nur funktionieren, wenn jeder Staat nur über relativ begrenzte militärische Macht verfügt. 130 Militärische Sanktionen müssen möglich sein, ohne daß dadurch eine für alle Seiten verheerende militärische Konfrontation entsteht. Die Verbindung zwischen Abrüstung und kollektiver Sicherheit kommt in Art. 8 der Völkerbundsatzung deutlich zum Ausdruck, in dem sich die Mitglieder zu dem Grundsatz bekennen, "daß die Aufrechterhaltung des Friedens eine Herabsetzung der nationalen Rüstungen auf das Mindestmaß erfordert, das mit der nationalen Sicherheit und mit der Erzwingung internationaler Verpflichtungen durch gemeinsames Vorgehen vereinbar ist". 131 VII. Zusammenfassung
Das System der kollektiven Sicherheit bildet einen Kompromiß zwischen der Idee des Weltstaats und den objektiven Gegebenheiten des internationalen Systems. Es beschränkt das Gemeinsame der Weltorganisation auf eine freiwillige Assoziation zum Zwecke der Friedenssicherung und erklärt die Garantie der Souveränität und Unantastbarkeit der Mitgliedsstaaten zum obersten Ziel der Friedenssicherung. In einem solchen System der Einzelstaaten tritt die rule 0/ law an die Stelle der primitiven Gewaltanwendung, die einzelstaatliche Gewalt wird zur Ausnahme erklärt und dieses Gewaltverbot durch eine Institution der Völkergemeinschaft kontrolliert: Es besteht ein Gewaltmonopol der Staatengemeinschaft, verbunden mit einer echten Beistandspflicht der Mitgliedsstaaten untereinander. Je nach Ausprägung des Gewaltmonopols kann das Konzept der kollektiven Sicherheit in unterschiedlichen Entwicklungsstufen verwirklicht werden. Es Claude, Plowshares, 236. Bindschedler, Grundfragen, 78; RandelzhoJer, Kriegsverhütung durch Völkerrecht, 761. 130 Claude, Plowshares, 236. 131 Vgl. die deutsche Übersetzung, abgedruckt bei Berber, Dokumentensammlung I, 3-4; Barandon, Vereinte Nationen und Völkerbund, 188, hat zutreffend festgestellt, daß die Abrüstung im System der Vereinten Nationen nicht dieselbe zentrale Stellung einnimmt wie in der Völkerbundsatzung, in der sie als "selbständiges Element der Kriegsverhütung neben die friedliche Streitschlichtung und die Sicherheit trat". 128
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A. Das Konzept der kollektiven Sicherheit in der Theorie
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setzt keineswegs voraus, daß sämtliche Entscheidungsprozesse und Maßnahmen kollektiv, d.h. durch die Völkergemeinschaft insgesamt, erfolgen. Die militärischen Sanktionen haben in einem solchen System vor allem die präventive Funktion, auf mögliche Aggressoren abschreckend zu wirken. Damit dieser Abschreckungsmechanismus funktioniert, muß er möglichst effektiv sein, d.h., die Reaktion auf eine Verletzung des Gewaltverbots muß automatisch eine Reaktion der Staatengemeinschaft zur Folge haben. Der rechtliche Rahmen kann die angestrebte Effektivität auf zwei Wegen erreichen: Zum einen können sich die Mitgliedsstaaten des Systems in einem völkerrechtlichen Vertrag vorab zu bestimmten Sanktionsmaßnahmen verpflichten; zum anderen kann die Entscheidung über das "Ob" und "Wie" der Zwangsmaßnahmen einem Zentralorgan übertragen werden. Die bloße Schaffung eines solchen Organs allein bedeutet keine Weiterentwicklung des Sicherheitsmechanismus in Richtung Effektivität und Rechtssicherheit. Dieses Ziel wird vielmehr erst durch die Einrichtung einer von den einzelnen Mitgliedsstaaten unabhängigen Zentralinstanz erreicht. Diese Zentralinstanz muß über eigene Kompetenzen und Durchsetzungsmittel verfügen und die Möglichkeit haben, für die Mitgliedsstaaten bindende Entscheidungen zu treffen. Die Anforderungen der Glaubwürdigkeit und Rechtssicherheit sind nur erfüllt, wenn das Zentralorgan seine Entscheidungen anhand klarer, vorab von den Mitgliedsstaaten verbindlich festgelegter Kriterien trifft, die einen möglichst geringen Ermessenspielraum beinhalten. Falls dem Zentralorgan keine eigenen Zwangsmittel zur Verfügung gestellt werden sollten, müssen sich die Mitgliedsstaaten jedenfalls vorab verpflichten, dem Zentralorgan auf dessen Entscheidung hin solche Mittel zur Verfügung zu stellen. Eine Praxis, wonach sich die Mitgliedsstaaten jeweils im Einzelfall entscheiden, ob sie dem Zentralorgan solche Mittel zur Verfügung stellen oder nicht, kann das für die kollektive Sicherheit grundlegende Erfordernis der Rechtssicherheit und der Glaubwürdigkeit nicht erfüllen. Auf der anderen Seite muß der Sanktionsmechanismus auch die Gebote der Legitimität beachten, was idealiter durch eine möglichst große Kollektivität im Entscheidungs- und Exekutionsprozeß geschieht. Die Kollektivität der Entscheidung über "Ob" und "Wie" der Zwangsmaßnahmen besitzt einen größeren Stellenwertfür die Legitimität der Zwangsmaßnahmen als die der Ausführung. Der Gefahr einer Überschreitung seiner Befugnisse durch das Zentralorgan muß der rechtliche Rahmen durch präzise Normierung der Befugnisse und der Garantie eines Mindestbestandes an einzelstaatlichen Rechten entgegenwirken. Das Funktionieren eines solchen Systems ist abhängig von einer Reihe von objektiven und subjektiven Voraussetzungen: Unter den objektiven Voraussetzungen spielen eine gewisse Ausgewogenheit in der Verteilung politischmilitärischer Macht und die Universalität der Mitgliedschaft eine entscheidende
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1. Teil: Die Grundlagen des VN-Sicherheitsmechanismus
Rolle. Zu den unerläßlichen subjektiven Voraussetzungen zählen ein hoher Grad an internationaler Solidarität, der Verzicht auf nationale Handlungsfreiheit und die Akzeptierung der Unparteilichkeit und Anonymität.
B. Das Friedenssicherungssystem des Völkerbundes Die den Gegenstand dieser Untersuchung bildenden neueren Entwicklungen auf dem Gebiet der kollektiven Sicherheit werden oft als "ad hoc-Koalitionen" bezeichnet und mit dem Friedenserhaltungsmechanismus des Völkerbundes verglichen. 132 Der Gedanke, daß die VN-Aktionen im Golf, in Somalia, dem ehemaligen Jugoslawien, Ruanda und zuletzt Haiti das in der VN-Charta vorgesehene System der durch ein Zentralorgan mit Kontingentstreitkräften der Organisation durchgefllhrten militärischen Zwangsmaßnahmen nicht verwirklicht haben und deshalb als eine weniger hoch entwickelte Form der Sicherheitspartnerschaft dem Modell des Völkerbundes ähneln, macht eine Beschäftigung mit eben diesem Mechanismus nötig. I. Kooperation als Organisationsprinzip
Obwohl der Begriff der kollektiven Sicherheit in der Völkerbundsatzung überhaupt nicht vorkommt und erst in den Jahren 1932-1933 weite Verbreitung fand l33 , besteht doch kein Zweifel, daß die Satzung des Völkerbundes als erster Versuch der Verwirklichung der Idee der kollektiven Sicherheit gewertet werden kann. 134 Der Grundgedanke der Idee der kollektiven Sicherheit lief wie ein roter Faden durch die inoffiziellen wie auch die offiziellen Entwürfe fllr die Satzung der zu gründenden Organisation: Anstatt des bestehenden Systems der Allianzen aus Nationalstaaten, das die Welt nicht vor einem Krieg bisher unbe-
132 Vgl. stellvertretend die Ausfilhrungen von Brunner, Kapitel VII, 9-10, der davon spricht, daß der Sicherheitsrat mit der Verfahrensweise, Zwangsmaßnahmen zur Aufrechterhaltung des Friedens und zur Durchsetzung von Bundespflichten zu empfehlen, an die Rechtsgrundlagen unter der Satzung des Völkerbundes angeknüpft habe. 133 Es wurde oben (I. Teil A. Ir.) bereits darauf hingewiesen, daß der Begriff der kollektiven Sicherheit in der Literatur erst ab 1930 in der Literatur auftaucht. Maßgeblichen Anteil an der Verbreitung des Begriffs hatte die International Studies Coriference, die die kollektive Sicherheit zum Thema ihrer nächsten Konferenz erklärte; vgl. zu dieser Konferenz, die vom 2. bis 8. Juni 1935 in London stattfand, die Memoranda der Tagung bei Bourquin (Hrsg.), Collective Security, sowie den Beitrag von Berber, Internationale Studienkonferenz, 803 ff. 134 Virally, L'organisation mondiale, 457; Kimminich, Sicherheit und Zusammenarbeit, 71; Claude, Power and International Realtions, 152; Egerton, Collective Security as Myth, 95, hat zu Recht darauf hingewiesen, daß die dem Konzept zugrundeliegenden Ideen unter Schlagworten wie Friedenssicherung durch Zwang ("enforcedpeace") und gegenseitige Verteidigung ("mutual defence ") schon die Diskussion der Friedensbewegung in aller Welt seit 1919 beherrschten.
B. Das Friedenssicherungssystem des Völkerbundes
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kannten Ausmaßes bewahrt hatte, sollte eine Union möglichst vieler Staaten zur Erhaltung des Friedens geschaffen werden. 135 Während der Verhandlungen über die zukünftigen rechtlichen Grundlagen eines solchen "concert of power for peace"136 wurde das Ziel der Schaffung eines Systems der kollektiven Sicherheit mit ungeteilter Zustimmung aufgenommen. Die heftigsten Debatten während der Pariser Konferenz kreisten folglich auch nicht um die Frage des "Ob" der Umsetzung des Konzepts, sondern um den Umfang der zu seiner Umsetzung notwendigen Maßnahmen. Die französische Delegation, die sich mit dem Ergebnis der Beratungen über die Völkerbundsatzung am wenigsten zufrieden zeigte, wandte sich nicht etwa gegen die Idee der kollektiven Sicherheit an sich, sondern monierte vielmehr die höchst unzureichende Implementierung des Konzepts in der Satzung des Völkerbundes. 137 Die Präambel der Völkerbundsatzung nennt als Ziele der Organisation die Förderung der Zusammenarbeit unter den Nationen und die Gewährleistung des internationalen Friedens und der internationalen Sicherheit. 138 Zu diesem Zweck sollte ein Zusammen schluß unabhängiger, aber kooperierender Staaten gebildet werden, die ihre Souveränität bewahren, deren Ausübung indes gewissen Regeln unterwerfen. 139 Die Völkerbundsatzung löst den Zielkonflikt zwischen den Erwartungen der Mehrheit der Bundesmitglieder hinsichtlich politischer Gleichberechtigung und dem Erfordernis größtmöglicher Effizienz, das eine Übertragung besonderer Verantwortlichkeiten auf die Großmächte erforderlich machte, durch eine Konstruktion, die treffend als eine Kombination des "Konzerts der Großmächte" und den im 19. Jahrhundert üblichen großen internationalen Konferenzen bezeichnet worden ist. 140 Dem Rat, gemäß Art. 4 Abs. 1 bestehend aus vier ständigen Mitgliedern, nämlich den Alliierten und Assoziierten Hauptmächten l41 , und aus ursprünglich vier, 135 Vgl. Claude, Power and International Relations, 152. 136
Link, Wilson the Diplomatist, 92.
137 Vgl. die Rede von Uon Bourgeois, gehalten auf der Vollversammlung der Friedenskonfe-
renz am 28. April 1928, abgedruckt bei Miller, Drafting ofthe Covenant 11,706-713. 138 Die hier verwendete deutsche Übersetzung der Völkerbundsatzung ist die in RGBI. 1919, 717 ff. abgedruckte; sie findet sich auch bei Berber, Dokumentensammlung Bd. I, I ff.; der englische und französische Text der Völkerbundsatzung findet sich ebenfalls in RGBI. 1919,716 ff. 139 Brierly, Covenant and Charter, 85. Es ist durchaus bezeichnend, daß die Satzung einzig in Art. 11 vom Völkerbund als Verpflichteten spricht, im übrigen nur von den Bundesmitgliedern. 140 Schaefer, Friedenssicherungsmechanismus, 8; dieser Zielkonflikt hatte insbesondere bei der Haager Friedenskonferenz von 1907 eine Institutionalisierung internationaler Gremien zur Friedenssicherung verhindert, vgl. Virally, L'organisation mondiale, 42. 141 Dies waren, nach dem Fernbleiben der Vereinigten Staaten, Großbritannien, Frankreich, Italien und Japan, vgl. dazu Wallers, League of Nations, 45, der darauf hinweist, daß der ursprüngliche Formulierungsvorschlag (..The Council shall consist of Representatives of the United States, the British Empire, France, Italy and Japan.") in letzter Minute geändert wurde, weil Italien unter Protest die Friedenskonferenz verlassen hatte und sein Beitritt deshalb ungewiß erschien.
I. Teil: Die Grundlagen des VN-Sicherheitsmechanismus
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zuletzt sechs von der Bundesversammlung zu wählenden nicht-ständigen Mitgliedern, steht die Versammlung als allgemeines Repräsentationsorgan gegenüber. In ihr sind gemäß Art. 3 Abs. 1 alle Bundesmitglieder vertreten. Anders als die Charta der Vereinten Nationen sah die Satzung des Völkerbundes keine Kompetenzverteilung zwischen den bei den Hauptorganen vor. Gemäß Art. 3 Abs. 3 und Art. 4 Abs. 4 konnten sowohl die Bundesversammlung als auch der Rat "über jede Frage, die in den Tätigkeitsbereich des Bundes fällt oder die den Weltfrieden berührt," befinden. Als kleineres, regelmäßig tagendes Organ entwickelte sich der Rat im Laufe der Jahre immer mehr zum Exekutivorgan, das die generell getroffenen Entscheidungen der Versammlung ausarbeitete und deren Ausführung überwachte, doch waren zumindest formal beide Organe gleichgestellt. 142 Die notwendige Folge des kooperativen Organisationsprinzips des Völkerbundes war der sog. Einstimmigkeitsgrundsatz ("rule of unanimity") des Art. 5 der Satzung. 143 Nach Absatz 1 dieser Bestimmung mußten alle Entscheidungen (französisch: "decisions", englisch: "decisions") des Rates und der Versammlung grundsätzlich einstimmig gefaßt werden. 144 Lediglich Verfahrensfragen konnten durch Mehrheitsbeschluß entschieden werden. 145 Der Einstimmigkeitsgrundsatz führte indes nicht, wie zu erwarten gewesen wäre, zur Lähmung der Arbeit der Organe des Völkerbundes. 146 Dies lag vor allem daran, daß - wie unten noch zu zeigen sein wird - die Funktionsfähigkeit des Sicherheitsmechanimus des Völkerbundes weniger von der Fähigkeit seiner Organe abhing, Entscheidungen zu treffen, als von dem politischen Willen des einzelnen Bundesmitglieds, seinen sich aus der Satzung ergebenden Verpflichtungen nachzukommen. 147 Die tatsächliche Wirkung des Prinzips der Einstimmigkeit beschränkte sich darauf, es einer Mehrheit von Staaten unmöglich zu machen, die sich aus der Satzung ergebenden Verpflichtungen des einzelnen Bundesmitglieds gegen dessen Willen abzuändern oder einseitig zu erweitern. Dagegen räumte die Einstimmigkeitsregel dem einzelnen Mitglied kein "Vetorecht" bezüglich der Maßnahmen der anderen Bundesmitglieder bzw. des Bundes ein. Die übrigen Mitglieder konnten vielmehr auch ohne das dissentierende Mitglied die Schritte einleiten, die sie für die Erhaltung bzw. Wiederherstellung der internationalen Sicherheit für notwendig erachteten. 148 Brierly, Law ofNations, 107. Brierly, Covenant and Charter, 87; Schaefer, Friedenssicherungsmechanismus, 8. 144 Art. 5 Abs. I lautet: "Beschlüsse der Bundesversammlung oder des Rates erfordern Einstimmigkeit der auf der Tagung vertretenen Bundesmitglieder, es sei denn, daß in den Vorschriften dieser Satzung etwas anderes vorgesehen ist." Vgl. die deutsche Übersetzung bei Berber, 00kumentensammlung I, 5. 145 Wie hier auch Verdross/Simma, Völkerrecht, 66. 146 Brierly, Covenant and Charter, 88; Schaefer, Friedenssicherungsmechanismus, 9. 147 Brierly, Covenant and Charter, 88. 148 Ebd. 142
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B. Das Friedenssicherungssystem des Völkerbundes
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11. Die Primärnormen: Arbitrage - Securite - Desarmement
Die Idee der kollektiven Sicherheit kam außer in den unten noch näher zu erläuternden Sanktionsnormen vor allem in Art. 11 Abs. 1 der Satzung zum Ausdruck. Dieser erklärte jeden Krieg zur Angelegenheit der gesamten Staatengemeinschaft und enthielt damit, vom Standpunkt des klassischen Völkerrechts und seinem jus ad bellum betrachtet, ein gänzlich neuartiges Prinzip.149 Den Unterschied zwischen diesem neuen Konzept und dem klassischen Völkerrecht hat Präsident Wilson in seiner unnachahmlichen Art in einer Rede vor amerikanischen Senatoren im Weißen Haus im August 1919 zum Ausdruck gebracht: "In other words, at present, we have to mind our own business. Under the Covenant of the League of Nations we can mind other people's business and everything that affects the peace of the world, whether we are parties to it or not, can by our delegates be brought to the attention ofmankind."150 Mangels vollstreckungsfähigen Inhalts und wegen fehlender Regelungen über die zu ergreifenden Maßnahmen ist Art. 11 ebenso wie der eine Verpflichtung der Bundesmitglieder zur Achtung und Wahrung der mitgliedsstaatlichen Integrität enthaltende Art 10 der Satzung als allgemeiner Programmsatz interpretiert worden. 151 Den Kern des Sicherheitsmechanismus der Völkerbundsatzung bildeten die in den Artt. 12, 13 und 15 der Satzung enthaltenen Regelungen, nach denen sich die Mitglieder des Völkerbundes verpflichten, alle Streitigkeiten, die zu einem Bruch führen konnten, entweder einem schiedsgerichtlichen oder gerichtlichen Verfahren oder der Prüfung durch den Rat zu unterbreiten. 152 Dieser konnte eine Streitfrage auch der Bundesversammlung vorlegen. Gelang es dem Rat, einen einstimmigen 153 Vermittlungsvorschlag zu beschließen, und wurde dieser von einer Streitpartei angenommen, so verpflichteten sich die Bundesrnitglieder, gegen diese Streitpartei nicht zum Krieg zu schreiten (Art. 15 Abs. 6). Einem einhelligen Ratsbeschluß stand gemäß Art. 15 Abs. 10 ein Mehrheitsbeschluß der Bundesversammlung mit Zustimmung der im Rat vertretenen Mitglieder gleich. 154
149 Satz 1 des Art. 11 Abs. 1 lautet: "Ausdrücklich wird festgestellt, daß jeder Krieg und jede Bedrohung mit Krieg, gleichviel, ob dadurch ein Bundesmitglied unmittelbar betroffen wird oder nicht, eine Angelegenheit des ganzen Bundes ist und daß dieser die zum wirksamen Schutz des Völkerfriedens geeigneten Maßnahmen zu ergreifen hat." Vgl. die deutsche Übersetzung bei Berber, Dokumentensammlung I, 4. 150 Zitiert bei Foley, Wilson's League ofNations, 104 151 Vgl. Guggenheim, Völkerbund, 146, der davon spricht, Art. 10 habe den "Sekuritätsgedanken in allgemeiner Weise als politisches Prinzip" in den Pakt eingeführt. 152 Waldock, Regulation ofthe Use ofForce, 469. 153 Wie oben bereits angesprochen, zählten die Stimmen der Streitparteien bei der Abstimmung über die Ratsempfehlung nicht mit. 154 Vgl. zum ganzen Verfahren Verdross/Simma, Völkerrecht, 67.
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I. Teil: Die Grundlagen des VN-Sicherheitsmechanismus
Kam es hingegen zu keinem oder bloß zu einem mehrheitlichen Ratsbeschluß oder fand der Vorschlag in der Versammlung nicht die notwendige qualifizierte Mehrheit, so konnte jede der Streitparteien gemäß Art. 15 Abs. 7 die Maßnahmen ergreifen, die es "zur Aufrechterhaltung von Recht und Gerechtigkeit fur notwendig" erachtete; dies war allerdings fur den Fall der militärischen Maßnahmen erst nach Ablauf einer "cool-off period" von drei Monaten erlaubt (Art. 12 Abs. 1 S. 2). Nicht jede Form der kriegerischen Auseinandersetzung war verboten, sondern nur diejenige, die unter Mißachtung eines in der Satzung genau vorgeschriebenen Verfahrens zur friedlichen Streitbeilegung angewandt wurde. 155 Die Völkerbundsatzung verbot also nicht jeden Krieg, sondern nur den" Überfallkrieg" .156 Im Gegensatz zur Charta der Vereinten Nationen enthielt die Völkerbundsatzung zudem ein Bekenntnis der Bundesmitglieder "zu dem Grundsatz, daß die Aufrechterhaltung des Friedens eine Herabsetzung der nationalen Rüstungen auf das Mindestmaß erfordert, das mit der nationalen Sicherheit und mit der Erzwingung internationaler Verpflichtungen durch gemeinsames Vorgehen vereinbar ist"}57 111. Die Sanktionsnormen: Dezentraler Automatismus und Organisation der völkerrechtlichen Notwehr
Die Sanktionsbestimmungen des Art. 16 der Satzung stellen gegenüber den weitgehend unverbindlichen Bestimmungen des Haager Abkommens über die friedliche Beilegung internationaler Streitigkeiten einen wichtigen Fortschritt in Richtung auf ein globales System der Friedenssicherung dar. 158 Auch auf der Ebene der Sanktionsnormen setzte sich allerdings das kooperative Organisationsprinzip durch. Zwar sprach der oben bereits erwähnte Art. 11 der Charta davon, daß der Bund im Kriegsfalle die zum wirksamen Schutz des Völkerfriedens geeigneten Maßnahmen zu ergreifen habe, die Determination, also die Entscheidung über das Vorliegen des casus foederis, oblag jedoch ebenso dem einzelnen Bundesmitglied wie die spätere Exekution. Das Sanktionssystem der Völkerbundsatzung war also in hohem Maße dezentralisiert. Das völlige Fehlen von zentralisierter Entscheidungsmacht sollte nach dem Willen der Verfasser durch die automatische Anwendung von Sanktionen im Fall der Verletzung
155 Schücking/Wehberg, Völkerbund, 617; Guggenheim, Völkerbund, 146; GordenkeriWeiss, Collective Security Idea, 5; nach Brierly, Charter and Covenant, 87, zielt dieser Ansatz darauf ab, "to make adefinition [of aggression, d. Verf.] unnecessary by making the question turn simply upon the acceptance or the refusal of a prescribed procedure of peaceful settlement." 156 Schücking/Wehberg, Völkerbund, 618. 157 Vgl. Art. 8 Abs. I, deutsche Übersetzung bei Berber, Dokumentensammlung I, 4. 158 Schaefer, Friedenssicherungsmechanismus, 7; In diesem sog. I. Haager Abkommen verpflichteten sich die Signatarstaaten, im wesentlichen zum häufigeren Gebrauch von Vermittlung und guten Diensten, vgl. Berber, Dokumentensammlung 11, 1683.
B. Das Friedenssicherungssystem des Völkerbundes
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der Verpflichtung zur friedlichen Streitbeilegung ausgeglichen werden, von dem man sich eine unverzügliche und einmütige Reaktion gegen einen potentiellen Aggressor erhoffte. 159 Dieser Automatismus war allerdings auf den Bereich der wirtschaftlichen Zwangsmaßnahmen beschränkt; militärische Zwangsmaßnahmen waren dagegen in der Satzung nur in rudimentärer Weise geregelt.
1. Dichotomie der Zwangsmaßnahmen in Art. 16 Schritt ein Mitgliedsstaat unter Verletzung des oben dargestellten Verfahrens zum Krieg, so wurde es "ohne weiteres so angesehen, als hätte es eine Kriegshandlung gegen alle anderen Bundesmitglieder begangen" (Art. 16 Abs. I S. I). Die nichtmilitärische Reaktion auf eine solche Verletzung der Verfahrensvorschriften enthält Art. 16 Abs. I S. 2, in dem sich die Bundesmitglieder zum unverzüglichen Abbruch der wirtschaftlichen und finanziellen Beziehungen zu dem Friedensbrecher verpflichten. Außerdem war der Rat in einem solchen Fall gemäß Art. 16 Abs. 2 verpflichtet, "den verschiedenen beteiligten Regierungen anzuempfehlen, mit welchen Land-, See- oder Luftstreitkräften jedes Bundesmitglied für sein Teil zu der bewaffneten Macht beizutragen hat, die den Bundesverpflichtungen Achtung zu verschaffen bestimmt ist".I60 Weiterhin sieht Art. 16 Abs. 3 S.3 vor, daß die Bundesmitglieder alles Erforderliche veranlassen, "um den Streitkräften eines jeden Bundesmitglieds, das an einem gemeinsamen Vorgehen zur Wahrung der Bundesverpflichtung teilnimmt, den Durchzug durch ihr Gebiet zu ermöglichen". 161 Die Durchführung nicht-militärischer und militärischer Zwangsmaßnahmen war keinem einheitlichen Verfahren unterworfen. 162 Unterschiede ergaben sich sowohl bei der Frage der Pflicht zur Teilnahme als auch bei der Frage der Exekution. Während die Wirtschaftssanktionen im Wege des dezentralen Automatismus funktionieren sollten, beschränkte sich das System der militärischen Zwangsmaßnahmen auf eine Organisation der völkerrechtlichen Notwehr im Wege einer "Kollektivaktion der Willigen"163.
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Delbrück, Collective Security, 108.
160 Der authentische englische Text, RGBI. 1919, 732 lautet:
"It shall be the duty of the Council in such case to recommend to the several governments concerned what effective military, naval or air force the Members of the League shall severally contribute to the armed forces to be used to protect the covenants of the League." 161 Vgl. Berber, Dokumentensammlung I, 7. 162 Jimenez de Arechaga, Derecho Constitucional, 372-373; nur am Rande sei vermerkt, daß die Satzung die Frage des Verhältnisses der beiden Arten der Zwangsmaßnahmen zueinander nicht ausdrücklich geregelt hat, auch wenn die wohl herrschende Auffassung aus den Bestimmungen des Art. 16 eine faktische Subsidiarität der militärischen gegenüber den nicht-militärischen Zwangsmaßnahmen herausgelesen hat; Doxey, Economic Sanctions, 5. 163 Vgl. Lincoln Bloomf/eld, V.S. Interests, 205. 4 Bauer
1. Teil: Die Grundlagen des VN-Sicherheitsmechanismus
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2. Die nicht-militärischen Zwangsmaßnahmen: Dezentraler Automatismus und "action iso lee" Art. 16 Abs. 1 S.2 verpflichtet die Mitglieder unmittelbar - "immediatement" heißt es im französischen Text-, wirtschaftliche und finanzielle Maßnahmen gegen einen rechtsbrüchigen Staat zu ergreifen, sobald sie einen Überfallkrieg für vorliegend erachten. Bei den wirtschaftlichen Sanktionen geht die Satzung folglich davon aus, daß jeder Staat ohne vorherige Anordnung einer internationalen Instanz selbständig gegen den Rechtsbrecher vorgeht. 164 Zwar versprechen sich die Bundesmitglieder in Art. 16 Abs. 3 S. 1 weiterhin, sich bei der Anwendung der in Abs. 1 vorgesehenen Zwangsmaßnahmen gegenseitigen Beistand zu leisten und gemeinsam den gegen einzelne von ihnen gerichteten Repressalien entgegenzutreten. Durch dieses Versprechen eines Zusammenwirkens wird jedoch keine Kompetenz der Bundesorgane zu einer einheitlichen Leitung der im Abs. 1 vorgesehenen Aktionen der Einzelmitglieder begründet. 165 3. Die militärischen Zwangsmaßnahmen: Organisation der völkerrechtlichen Notwehr statt System der kollektiven Sicherheit Im Gegensatz zu den relativ ausführlich geregelten gewaltlosen Zwangsmaßnahmen enthält die Völkerbundsatzung nur an drei Stellen Hinweise auf militärische Zwangsmaßnahmen. l66 Für diese bemerkenswerte Zurückhaltung gibt es zwei Hauptgründe, zum einen eine auf die historische Erfahrung während des Ersten Weltkriegs zurückzuführende Überschätzung der Wirksamkeit einer reinen Wirtschaftsblockade, zum anderen die Abneigung der Mitgliedsstaaten gegen die mit der Einführung von militärischen Zwangsmaßnahmen verbundene, bis dahin im Völkerrecht unbekannte "physische" Zwangsvollstreckung gegenüber souveränen Staaten. Im Gesamtkonzept des Sicherheitssystems der Völkerbundsatzung spielten die militärischen Zwangsmaßnahmen nur eine untergeordnete Rolle. 167 Statt auf die physische Durchsetzung von völkerrechtlichen Verpflichtungen setzten der amerikanische Präsident Woodrow Wilson und die meisten Redaktoren der Völkerbundsatzung auf die Macht der öffentlichen Meinung und die Wirksamkeit von Wirtschaftsanktionen: Publizität, öffentliche Diskussion und Schiedsgerichtsverfahren sollten an die Stelle des Krieges als Mittel der Durchsetzung
Verdross/Simma, Völkerrecht, 67; Jimenez de Arechaga, Derecho Constitucional, 372. Schücking/RühlandlBöhmert, Völkerbundsexekution, 551. 166 Neben den oben schon zitierten Art. 16 Abs. 2 S. 1 und Art. 16 Abs. 3 S. 3 ist dies noch Art. 8 Abs. 1, in dem die Bundesmitglieder sich zu dem Grundsatz bekennen, daß die Aufrechterhaltung des Friedens eine Herabsetzung der nationalen Rüstungen auf das Mindestmaß erfordert, das mit der nationalen Sicherheit und mit der Erzwingung internationaler Verpflichtungen durch gemeinsames Vorgehen vereinbar ist. 167 Ray, Commentaire, 529; Göppert, Völkerbund, 493. 164
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B. Das Friedenssicherungssystem des Völkerbundes
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einzelstaatlicher Interessen treten. 168 Sollte der Friedensbrecher während der in Art. 12 Abs. I S. 2 vorgeschriebenen "cool-off-period" von bis zu neun Monaten nicht zur Räson gebracht werden können, so hielt man -die Erinnerungen an die wirkungsvolle britische Seeblockade gegenüber Deutschland von 1915 bis 1918 waren noch frisch 169 - den Wirtschaftsboykott für ein ausreichendes Mittel. Vor allem aus den Äußerungen Woodrow Wilsons spricht deutlich die Überzeugung, daß es zur Disziplinierung eines Friedensbrechers ausreiche, diesen wirtschaftlich von der Außenwelt zu isolieren. 17o Nicht kollektive militärische Zwangsmaßnahmen, sondern die "Wirtschaftswaffe" sollte einen Aggressor zur Räson bringen. 171 Im Schrifttum wird zu Recht darauf hingewiesen, daß das klassische Völkerrecht eine zwangsweise Durchsetzung der internationalen Verpflichtungen durch die Staatengemeinschaft nicht kannte. 172 Im Verständnis des auf dem Prinzip der Reziprozität aufbauenden klassischen europäischen Völkerrechts 173 tastete die physische Durchsetzung völkerrechtlicher Verpflichtungen den Grundsatz der souveränen Gleichheit der Staaten in seinem Wesenskern an. 174 Weitverbreitet war die Überzeugung, ein System der Friedenssicherung durch Zwang sei gleichzusetzen mit der Schaffung einer internationalen Wehrmacht und überstaatlicher Instanzen. Sie stehe damit in unlösbarem Widerspruch mit der koordinationsrechtlichen Gestaltung des Völkerrechts. 175 So gesehen, ist es lediglich konsequent, wenn in der Literatur zum Sicherheitssystem des Völkerbundes die Normen über die militärischen Zwangsmaßnahmen nicht zu den essentialia eines solchen Systems gezählt wurden: "Essentialia sind Kriegs- und Angriffsverbote, die stets den Kern der Sicherheitsverträge zwischen zwei oder mehreren Staaten bilden."176 Zwar gehörten auch die Exekutions- und Sanktionsmaßnahmen zum Kriegsverhütungsrecht, aber doch nicht in demselben Sinne, wie etwa das Vollstreckungsrecht zum Zivilprozeß gehöre: "Denn wenn die Subjekte des innerstaatlichen Rechts im Wege der Zwangsvollstrekkung zur Ausführung gerichtlicher Urteile genötigt werden, so gefährdet dies im allgemeinen nicht den Bestand der Rechtsordnung, es sind alltägliche Vorkommnisse 168 Göppert, Völkerbund, 492-493; Hoijer, Pacte, 305; vgl. auch Wilsons Äußerungen, zitiert bei Foley, Wilson's League of Nations, 129: ,,[The Covenant] provides for the substitution of publicity, discussion and arbitration for war." 169 Vgl. zu den Auswirkungen der Seeblockade Doxey, Economic Sanctions, 17-19; Göppert, Völkerbund, 492-493. 170 Vgl. Wilsons Äußerungen zum Wirtschaftsboykott, zitiert bei Foley, Wilson's League of Nations, 71: "A nation that is boycotted is a nation that is in sight of surrender." 171 Göppert, Völkerbund, 492-493; vgl. auch hier Wilsons Äußerung, zitiert bei Foley, Wilson's League ofNations, 72: "The boycott is what is substituted for war." 172 Schücking/Wehberg, Völkerbund, 616-617 m.w.N. zur Entwicklung der "internationalen Exekution" in den ersten bei den Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts. 173 Vgl. dazu allgemein Simma, Reziprozität, 19 ff. 174 Menk, Gewalt für den Frieden, 350. 175 Berber, Sicherheit und Gerechtigkeit, 132; Hoijer, Pacte, 315. 176 Barandon, Kriegsverhütungsrecht, 283.
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1. Teil: Die Grundlagen des YN-Sicherheitsmechanismus des täglichen Lebens. Die internationale Rechtsordnung ist labiler, hier gefährdet jede, auch kollektive Zwangsmaßnahme gegen einen Staat den Frieden."177
Trotz der spärlichen Regelung über militärische Zwangsmaßnahmen lassen sich dennoch die Umrisse der Organisation einer eventuellen militärischen Sanktion gegenüber einem Friedensbrecher erkennen: Dabei war offensichtlich nicht an einen Sanktionsfeldzug des ganzen Bundes gedacht, sondern an eine konzertierte Aktion einzelner "interessierter" Mitglieder. 178 Als interessiert wird man dabei diejenigen Bundesmitglieder zu betrachten haben, die nach ihrer geographischen Lage und ihren militärisch-politischen Möglichkeiten für eine militärische Aktion in Betracht kommen, aber auch solche Staaten, die durch den Konflikt in ihren Interessen betroffen sind. 179 Die Frage der Teilnahmeverpflichtung - also das Problem des rechtlichen Müssens - der einzelnen Bundesmitglieder ist relativ eindeutig zu beantworten: Aus der Regelung des Art. 16 Abs.2 ergibt sich, daß die einzelnen Staaten nicht rechtlich verpflichtet, sondern nur moralisch gehalten sind, im Notfall an einer kriegerischen Aktion zur Aufrechterhaltung der Satzung nach ihren Kräften teilzunehmen. 18o Der Verpflichtung des Rates, den interessierten Mitgliedern Vorschläge fur die Aufstellung einer Sanktions streitmacht zu machen, steht keine Verpflichtung der Mitglieder gegenüber, solche Vorschläge auszuführen: Empfehlungen haben schon nach ihrem Wortsinn keine Bindungswirkung für die Bundesmitglieder, ihre Befolgung ist "fakultativ". 181 Schwieriger zu beantworten ist die Frage des rechtlichen Dürfens. Problematisch ist, ob die einzelnen Bundesmitglieder im Falle eines Friedensbruches im Wege einer einzelstaatlichen Militäraktion ("action isolee") gegen den Frie177 Barandon, Kriegsverhütungsrecht, 283; treffend hat Stanley Hoffmann, Organisations internationales, 266, festgestellt, "que dans la pratique des la S.D.N. I'article 16 ne fut considere que comme I' aboutissement eventue1 et regrettab1e de la procedure due reglement pacifique de I' article 15". 178 Die deutsche Übersetzung von "interesses" (französisch) bzw. "concerned" (englisch) als "beteil igt" ist ungenau und verleitet zu der Annahme, es seien nur an der jeweil igen Streitigkeit Beteiligte gemeint, was jedoch den oben herausgearbeiteten Zweck des Art. 16 verkennen würde; wie hier Göppert, Völkerbund, 497, der allerdings irrigerweise davon ausgeht, auch im englischen Text werde der Ausdruck "interested" verwendet. Vgl. auch Wehberg, Police internationale, 108: "Dans tous les cas, I'exercise d'une action commune conforme ä I'article 16 du Pacte a pour condition la reunion de contingents nationaux. Une force de Police internationale vraiment permanente n'est pas prevue dans le pacte de la Societe des Nations." 179 Göppert, Völkerbund, 497; Jimenez de Arechaga, Derecho Constitucional, 373. 180 Göppert, Völkerbund, 497; Jimenez de Arechaga, Derecho Constitucional, 373; vgl. auch die Äußerung des französischen Delegierten Leon Bourgeois auf der Pariser Friedenskonferenz, zitiert bei Miller, Drafting ofthe Covenant 11,708, im Sanktionsfall gebe es keine wirkliche Verpflichtung der Bundesmitglieder: ,,[1]1 ne s'agit que d'un engagement moral qui, lui, n'est pas sanctionne." 181 So Cavare, Sanctions, 667; Hoijer, Pacte, 308; Barandon, Kriegsverhütung, 281; Göppert, Völkerbund, 497; a.A. Schücking/Rühland/Böhmert, Völkerbundsexekution, 553, sowie Schücking/Wehberg, Völkerbund, 632 m.w.N., die von einer wirklichen Verpflichtung der Bundesmitglieder ausgehen, jedoch gleichzeitig einräumen müssen, daß sich nach dem Wortlaut des Art. 16 Abs. 2 jedes Bundesmitglied auf den Standpunkt stellen kann, daß die wirtschaftlichen Zwangsmaßnahmen genügen.
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densbrecher vorgehen dürfen oder ob sie zunächst eine Empfehlung des Rates nach Art. 16 Abs. 2 abwarten müssen, um dann im Rahmen der empfohlenen gemeinsamen Aktion ("action commune") vorzugehen. Die Formulierung des Art. 16 Abs. 1 S. 1, wonach ein unter Verletzung der Verpflichtungen aus der Satzung zum Krieg schreitendes Mitglied ipso facto so angesehen wird, als hätte es eine Kriegshandlung gegen alle anderen Bundesmitglieder begangen l82 , spricht zunächst für die erstere Lösung: Aus ihr läßt sich nämlich folgern, daß alle Mitglieder nach eigener Wahl alle Rechte eines Kriegsführenden ausüben können. 183 Andererseits kann diese Bestimmung jedoch auch so ausgelegt werden, daß sie lediglich den Zweck hat, die materiellen und formellen Voraussetzungen für die Anwendung der nun folgenden Sanktionsbestimmungen zu schaffen und eine formelle Kriegserklärung überflüssig zu machen: Nach dieser Auslegung befreit Art. 16 Abs. 1 S. 1 die nicht unmittelbar an der Auseinandersetzung beteiligten Mitglieder - die sich nicht auf das Recht auf Selbstverteidigung berufen können - von dem aufschiebenden Kriegsverbot des Art. 12, indem sie sie durch eine rechtliche Fiktion in die Position des Angegriffenen versetzt, der sein Selbstverteidigungsrecht ausüben darf: Sie hätte also nach dieser Interpretation den Zweck einer Autorisierung, die jedoch an die Bedingung der gemeinsamen Durchführung geknüpft wäre. 184 Für diese Meinung spricht zudem, daß die Satzung, wann immer von der Erzwingung der Bundesverpflichtungen die Rede ist, von "gemeinsamem" Vorgehen spricht. 185 Wenn neben den mehrmals erwähnten gemeinsamen Maßnahmen ein isoliertes Vorgehen zulässig sein sollte, hätten die Redaktoren dies wohl ausdrücklich gesagt. 186 Zudem wäre es wohl kaum mit Sinn und Zweck der Satzung vereinbar, wenn einzelne Mitglieder zu den Waffen griffen, solange nichtmilitärische Zwangsmaßnahmen Aussicht auf Erfolg haben. 187 Die Mitgliedsstaaten hätten nach dieser Auffassung folglich zunächst eine Empfehlung des Rates hinsichtlich der militärischen Sanktionen abzuwarten. Kommt diese nicht zustande, so sind die Staaten allerdings in ihrer Reaktion nicht mehr gebunden. Dagegen wäre ein individuelles Vorgehen im Falle eines positiven oder negativen Beschlusses des Rates nicht mehr möglich. 188
182
So die Formulierung sowohl im französischen als auch englischen Text der Satzung, vgl.
RGBI. 1919,732.
Göpperl, Völkerbund, 497. Wie hier auch Göpperl, Völkerbund, 497-498; a.A. Hoijer, Pacte, 31 0; Redslob, Theorie, 92. Vgl. den oben 1. Teil B. zitierten Wortlaut von Art. 8 Abs. 1 S. 1 und Art. 16 Abs. 3 S. 3. 186 Göpperl, Völkerbund, 498. 187 Hoijer, Pacte, 307. 188 In diesem Sinne auch der bei Göpperl, Völkerbund, 498-499, zitierte Generalbericht zum Genfer Protokoll von 1924. 183 184 185
1. Teil: Die Grundlagen des VN-Sicherheitsmechanismus
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Die Beantwortung dieses Streits kann letztlich dahinstehen, da weder die eine noch die andere Lösung die Anforderungen an ein funktionierendes System der kollektiven Sicherheit erfüllen. Nach beiden Meinungen waren die Bundesmitglieder jedenfalls nicht zur Teilnahme an militärischen Zwangsmaßnahmen verpflichtet, weshalb keine echte Beistandspflicht bestand. 189 Kimminich hat das System der Zwangsmaßnahmen der Völkerbundsatzung deshalb zu Recht als eine "Organisation der völkerrechtlichen Notwehr und Nothilfe auf Bundesebene" bezeichnet. l90 IV. Die (fehlende) Praxis des Völkerbundes auf dem Gebiet der Zwangsmaßnahmen
Auch die Praxis der Organe des Völkerbundes war wenig geeignet, die spärlichen Regelungen der Satzung zu konkretisieren: Die Bestimmungen über militärische Zwangsmaßnahmen sind in der Geschichte des Völkerbundes völlig bedeutungslos geblieben. 191 Obwohl es nicht an kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Bundesmitgliedem mangelte, kam es zu keiner einzigen Empfehlung militärischer Maßnahmen gegen einen Aggressor. 192 Die vom Völkerbund ergriffenen Militäraktionen hatten sämtlich mehr allgemein-polizeilichen denn repressiven Charakter. 193 Die ablehnenden Reaktionen vieler Bundesmitglieder auf diese einfachen Maßnahmen ohne Zwangscharakter zeigen, daß die Bereitschaft zur Ergreifung von militärischen Aktionen, geschweige denn zur Teilnahme an deren Ausführung, während der zwanziger und dreißiger Jahre eher ab- statt zunahm. 194 Selbst in Fällen eindeutiger Aggression, wie der Besetzung der Mandschurei durch Japan 1931 195 und/oder dem Überfall
Kimminich, Sicherheit und Zusammenarbeit, 70; Menk, Gewalt ftlr den Frieden, 40. Kimminich, Sicherheit und Zusammenarbeit, 70-71; vgl. auch Menk, Gewalt für den Frieden, 40, der die Bestandspflicht im Völkerbundsystem als "unvollkommen-abstrakt" bezeichnet. 191 FOr die militärischen Zwangsmaßnahmen gilt im ROckblick, was von FreytagLoringhoven, Völkerbund, 196, schon 1926 ftlr den gesamten Art. 16 festgestellt, nämlich daß von einer Praxis des Art. 16 kann nicht gut gesprochen werden kann; vgl. auch Göppert, Völkerbund, 528-529; Frowein, in: Simma (Hrsg.), ChVN, Art. 42 Rn. 2. 192 Skubisziewski, Use ofForce, 784; Göppert, Völkerbund, 528-529, nennt neben den bei den unten besonders erwähnten Konflikten die Besetzung Wilnas durch General Zeligowski (1920), den Korfu-Zwischenfall (1923), den griechisch-bulgarischen Grenzzusammenstoß (1925), den peruanisch-kolumbianischen Streit um Leticia (1932) sowie den Gran-Chaco-Konflikt zwischen Bolivien und Paraguay (1932 bis 1934). 193 Vgl. die Übersicht ober die drei in der Praxis geschaffenen und geplanten Streitkräfte des Völkerbundes in den Konflikten um Wilna, Leticia und die Saar bei Karaosmanoglu, Actions militaires, 27 ff., sowie Bothe, Streitkräfte Internationaler Organisationen, 71 ff. 194 Doxey, Economic Sanctions, 7; vgl. auch Schücking/Rühland/Böhmert, Völkerbundsexekution, 532, die feststellen, daß von 1925 bis jetzt 1932 nichts mehr für den Ausbau des Art. 16 selbst geschehen sei. 195 Vgl. die Darstellung des Konflikts bei Kunz, Völkerbundkrise, 714 f., sowie die ausführliche Darstellung bei Walters, League ofNations 11, 465-499. 189 190
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Italiens auf Abessinien 1935 196, konnten sich die Mitgliedsstaaten nicht zu einer kollektiven Reaktion gegen den Angreifer durchringen. Zu keiner anderen Bestimmung der Völkerbundsatzung sind, vor allem von Seiten Frankreichs, so viele Änderungsvorschläge eingebracht und von der Versammlung angenommen worden, wie zu Art. 16. Doch traten diese in Ermangelung der erforderlichen Zahl von Ratifikationen nie in Kraft. 197 Schon 1921 wurden erste Verbesserungsvorschläge eingebracht, die das Ziel hatten, zumindest die Entscheidung über das Vorliegen einer Aggression der Artt. 12 bis 15 dem Rat zu übertragen. Dieses Vorhaben scheiterte jedoch ebenso wie das Genfer Protokoll von 1924, das ähnliche Vorschläge enthielt. 198 Ab 1925 rückten die Bemühungen um eine Verbesserung des Sanktionsmechanismus zusehends zugunsten einer Ausweitung des Kriegsverbots in den Hintergrund. 199 Zwar brachte der am 27. August 1928 unterzeichnete Briand-KelloggPakt, dem fast alle damaligen Staaten beitraten, erstmals ein Verbot des Angriffskriegs schlechthin, doch fehlten auch hier wirksame Sanktionen für den Fall der Verletzung des Kriegsverbots. 2°O Zur einzigen Anwendung der in Art. 16 enthaltenen Regelungen über die nicht-militärischen Zwangsmaßnahmen kam es nach dem Überfall Italiens auf Abessinien. 201 Bereits im Dezember 1932 war es an der Grenze zwischen Abessinien und Italienisch-Somalia zu Grenzzwischenfällen zwischen den Truppen beider Länder gekommen. Abessinien hatte daraufhin den Völkerbund angerufen und Maßnahmen nach Art. 16 der Satzung verlangt, wurde jedoch auf den Weg der Schiedsgerichtsbarkeit verwiesen. Am 3. Oktober 1935 kam es schließlich zur italienischen Invasion. Das Hilfegesuch des abessinischen Kaisers beantwortete der Rat mit der Einsetzung einer sechsköpfigen Kommission, die das italienische Verhalten untersuchen und dem Rat Bericht erstatten sollte. 16 Tage nach der Invasion legte die Kommission ihren Bericht vor, in dem
196 Vgl. die Darstellung bei Göppert, Völkerbund, 527-547, sowie Walters, League of Nations, 623-691; zur Bedeutung des Versagens des Völkerbundes im italienisch-abessinischen Konflikt vgl. stellvertretend flir eine Vielzahl von Kommentatoren Egerton, Collective Security as Myth, 106, der davon spricht, daß das Versagen des Völkerbundes im Abessinienkonflikt das Ende des Völkerbundes als einem möglichen System der kollektiven Sicherheit bedeutet habe; ähnlich auch Scheuner, Kollektive Sicherung, 5. 197 von Freytag-Loringhoven, Völkerbundsatzung, 184, Guggenheim, Völkerbund, 149. 198 Ebd. 199 Schücking/Rühland/Böhmert, Völkerbundsexekution, 530-532; Barandon, Vereinte Nationen und Völkerbund, 107-108. 200 Die Präambel stellte lediglich fest, daß eine Signatarmacht, die den Pakt verletzte, der Vorteile, die der Vertrag gewährte, verlustig gehen sollte; der deutsche Text des Abkommens findet sich in RGBI. 192911,97 ff. sowie bei Berber, Dokumentensammlung 11, 1674 ff.; zum Briand-Kellogg-Pakt allgemein vgl. RandelzhoJer, in: Simma (Hrsg.), ChYN, Art. 2 Ziff. 4 Rn. 9 ff. und Wehberg, Briand-Kellogg-Pakt, 249, die übereinstimmend als weitere Schwäche des Vertrages herausstellen, daß dieser militärische Repressalien noch nicht verbot. 201 Göppert, Völkerbund, 529; vgl. allgemein zur Problematik wirtschaftlicher Sanktionen und ihrer Durchsetzung Doxey, Economic Sanctions, 89 ff.
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1. Teil: Die Grundlagen des VN-Sicherheitsmechanismus
festgestellt wurde, daß Italien unter Verletzung seiner Verpflichtung zur friedlichen Streiterledigung einen Krieg begonnen hatte und in dem weitreichende Sanktionen gegen den Angreifer empfohlen wurden, darunter vor allem ein Ölembargo und die Schließung des Suezkanals. 202 Da in jenem Zeitpunkt die Generalversammlung turnusgemäß zusammentrat, konnten die weiteren Maßnahmen auf sie übergeleitet werden. Der Feststellung der Bundesversammlung, daß eine Angriffshandlung vorlag, schlossen sich drei Staaten nicht an: Österreich und Albanien erklärten, daß sie besondere vertragliche Bindungen mit Italien verknüpften, während Ungarn den Standpunkt vertrat, es könne die Prüfung des Falles noch nicht für abgeschlossen halten. Folgerichtig nahmen diese drei Staaten dann auch nicht an den Wirtschaftssanktionen gegen Italien teil. Die übrigen Mitglieder des Völkerbundes konnten sich aus politischen Gründen nicht zur gemeinsamen Durchführung der wirksamsten Sanktionen, des Ölembargos und der Schließung des Suezkanals, durchringen. Sowohl Frankreich als auch Großbritannien wollten einen Bruch mit Italien unter allen Umständen vermeiden. 203 Als der Rat im Jahre 1936 den Abbruch der wirtschaftlichen Embargo-Maßnahmen empfahl, war der erste Versuch der Errichtung eines Systems der kollektiven Sicherheit endgültig gescheitert. Viele Mitgliedsstaaten kehrten in der Folgezeit zur den althergebrachten Form der Verteidigungsbündnisse zurück, die jedoch den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs nicht verhindern konnten. 204 V. Zusammenfassung
Das einleitend dargestellte, jedem System der kollektiven Sicherheit immanente Spannungsverhältnis zwischen Legitimität und Effektivität löste die Völkerbundsatzung dadurch, daß sie einerseits darauf verzichtete, eine Pflicht der Bundesmitglieder zum gegenseitigen militärischen Beistand zu statuieren, andererseits dem einzelnen Mitglied im Falle eines Dissenses nicht die Möglichkeit gab, die Maßnahmen der anderen Bundesmitglieder zu verhindern. Auf diese Weise wurde sichergestellt, daß das einzelne Bundesmitglied nicht gegen seinen Willen zur Teilnahme an Sanktionen gegen einen Rechtsbrecher gezwungen werden konnte, daß aber andererseits kollektive Zwangsmaßnahmen auch ohne Beteiligung sämtlicher Mitglieder stattfinden konnten. Daß es trotz dieser Möglichkeit nie zu Zwangsmaßnahmen gegen einen Friedensbrecher gekommen ist, zeigt, daß für den Mißerfolg des Friedenssicherungssystems des Völkerbundes nur zum Teil der unzureichende rechtliche 202 Zum Umfang der gegen Italien ergriffenen Sanktionen und ihren Auswirkungen vgl. Doxey, Economic Sanctions, 46-58. 203 Doxey, Economic Sanctions, 51; Egerton, Collective Security as Myth, 106; Scheuner, Kollektive Sicherung, 6. 204 Doehring, Kollektive Sicherheit, 408.
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Rahmen verantwortlich war. Die Völkerbundsatzung entwarf ein Friedenssicherungssystem, "wh ich might or might not have worked".20s Daß das System letztlich scheiterte, war weniger der Unzulänglichkeit der Satzungsbestimmungen über die Sanktionen gegen Friedensbrecher zuzuschreiben als der Halbherzigkeit der Bundesmitglieder bei der Umsetzung der sich direkt aus der Charta ergebenden Verpflichtungen. Trotz ihrer ursprünglichen Zustimmung zur Schaffung eines Systems der kollektiven Sicherheit waren die meisten der an der Entstehung der Charta beteiligten Staaten nicht wirklich an der Schaffung eines solchen Systems interessiert oder scheuten zumindest die damit verbundenen Anstrengungen. 206 In seiner ebenso brillanten wie bitteren Rückschau auf die Geschichte des Völkerbundes hat der britische Völkerrechtler 1. L. Brierly mit Blick auf das Verhalten der Mitgliedsstaaten gegenüber dem Völkerbund angemerkt, als Erklärung flir dessen Scheitern genüge der Hinweis, "that of the seven Great Powers upon whose support the League necessarily depended for success one stood aside from the first, one was in astate of chaos and left out in the cold, three repudiated everything for which the League stood, and the other two, whose burdon had thus been made unexpectedly heavy, were, not without some ex cu se, never more than half-hearted in the support which they gave to it".207
Auch wenn diese Schlußfolgerung etwas übertrieben erscheint, trug die Haltung der meisten Mitgliedsstaaten maßgeblich dazu bei, die vorhandenen Defizite des Friedenssicherungssystems noch zu vergrößern, anstatt sie zu reduzieren. 208 Trotzdem hat auch die einleitend bereits erwähnte Kritik am Sicherheitssystem des Völkerbundes ihre Berechtigung: Die Satzung des Völkerbundes stellt ohne Zweifel einen höchst unzureichenden Versuch der Umsetzung eines Systems der kollektiven Sicherheit dar. 209 Sie vermag die oben herausgearbeiteten Anforderungen an den rechtlichen Rahmen eines kollektiven Sicherheitssystems nur teilweise zu erflillen. 210 Dies hängt vor allem mit der mangelnden Effektivität des Konzepts zusammen. Das Scheitern der in der Satzung ausführlich geregelten Wirtschaftssanktionen demonstriert die Unzulänglichkeiten eines dezentralen Systems der kollektiven Sicherheit. Selbst eine unmittelbare völkerrechtliche Verpflichtung der Brierly, Covenant and Charter, 92. Claude, Power and International Relations, 153. Brierly, Covenant and Charter, 84; gemeint sind in der von Brierly genannten Reihenfolge: die USA, die UdSSR, Japan, Italien und Deutschland sowie als einzige "Stützen", Großbritannien und Frankreich. 208 Claude, Power and International Relations, 153. 209 Claude, Power and International Relations, 153. 210 Vgl. Claude, Power and International Relations, 152, der von einem "very deficient design tor collective security" spricht; wie hier auch Menk, Gewalt fur den Frieden, 40, der den Völkerbund unter Verweis auf die Entwicklung "allenfalls rudimentärer Strukturen" zur Feststellung der gegenseitigen Beistandspflicht als bloßen "Allgemeinpakt" bezeichnet. 205 206 207
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1. Teil: Die Grundlagen des VN-Sicherheitsmechanismus
Mitgliedsstaaten zur Ergreifung von Sanktionen kann einem solchen System nicht die notwendige Effektivität verschaffen, weil der satzungsrechtlich vorgesehene Automatismus ausgehöhlt werden kann, solange den Bundesmitgliedem die Aufgabe der Detennination obliegt. Die detailIierte Beschreibung des Verfahrens nütze nichts, so die schon unter den Kommentatoren der Völkerbundzeit vorherrschende Erkenntnis211 , wenn kein zentrales Organ über das Vorliegen einer Aggression entscheide. 212 Die Existenz eines Organs, das gleichsam als eine Art pouvoir neutre den casus foederis und die damit verbundene Beistandspflicht der Bundesmitglieder feststellt, sei folglich unabdingbare Voraussetzung fur ein Funktionieren eines Systems der kollektiven Sicherheit in einer Welt der Nationalstaaten. 213 Im Bereich der militärischen Zwangsmaßnahmen fehlte es der Völkerbundsatzung an einer eindeutigen Verpflichtung der Bundesmitglieder zum gegenseitigen militärischen Beistand. 214 Eine bloße Koordination der völkerrechtlichen Notwehr und Nothilfe auf Bundesebene erftillt weder die Anforderungen der Effektivität noch der Legitimität an ein System der kollektiven Sicherheit. 215 Zwar mag, wie oben bereits dargestellt, der Unterschied zwischen einem auf Organisierung von Notwehr und Nothilfe gegründeten System und einem primitiven System der kollektiven Sicherheit faktisch oft ein marginaler sein. 216 Rechtstheoretisch aber macht es einen großen Unterschied, ob die Mitglieder der Rechtsgemeinschaft nur berechtigt oder verpflichtet sind, dem Opfer einer Aggression auch militärische Hilfe zu leisten. 217 Andererseits kann die rudimentäre Umsetzung der Idee der kollektiven Sicherheit auch als ein Zeichen ftir die realistische Einschätzung der Delegierten auf der Pariser Friedenskonferenz gesehen werden, daß die Zeit ftir die Schaffung eines echten Systems der kollektiven Sicherheit noch nicht gekommen war. Selbst ein Mann wie Hans Wehberg, der durch sein wissenschaftliches Werk über den Verdacht erhaben ist, den Staaten das jus ad bellum bewahren zu wollen, hat das nur begrenzte Kriegsverbot der Völkerbundsatzung als einen klugen Gedanken bezeichnet, weil eine solche begrenzte Regelung der gleichfalls nur begrenzten Wirksamkeit der anderen Mittel der völkerrechtlichen Kriegsverhütung entsprach. 218 Gleiches läßt sich auch von der dezentralen Organisation des Friedenssicherungssystems des Völkerbundes und von seinem 211 Schücking/Rüh/and/Böhmerl, Völkerbundsexekution, 545 ff.; von FreYlag-Loringhoven, Völkerbund,I88. 212 von Freylag-Loringhoven, Völkerbund, 188. 213 Ke/sen, Droit international public, 25; Kimminich, Sicherheit und Zusammenarbeit, 71 m.w.N. 214 Schücking/Rüh/and/Böhmerl, Völkerbundsexekution, 554; Kimminich, Sicherheit und Zusammenarbeit, 70-71; Menk, Gewalt für den Frieden, 40. 215 Kimminich, Sicherheit und Zusammenarbeit, 71. 216 Vgl. die Ausführungen oben I. Teil A. V. 3. und das dort zitierte Schrifttum. 217 Kimminich, Sicherheit und Zusamrnenarbeit, 71. 218 Wehberg, Das Kriegsproblem, 133 ff.
C. Das Sicherheitssystem der Charta der Vereinten Nationen
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Verzicht auf die ausdrückliche Statuierung einer militärischen Beistandspflicht sagen: Sie waren Ausdruck der Überzeugung, daß die Mehrheit der Staaten eine weitergehende Einschränkung ihrer Souveränität durch Übertragung von Entscheidungsbefugnissen auf ein Zentralgremium der Weltorganisation nicht geduldet hätte.
C. Das Sicherheitssystem der Charta der Vereinten Nationen219 Im Gegensatz zur Satzung des Völkerbundes beschränkt sich die Charta der Vereinten Nationen nicht auf die bloße Organisation der völkerrechtlichen Notwehr. Sie verfolgt sehr viel ehrgeizigere Ziele, wie bereits der erste Absatz des am 26. Juni 1945 in San Francisco unterzeichneten Vertrages zeigt. Danach setzt sich die neu gegründete Organisation das Hauptziel, "den Weltfrieden und die internationale Sicherheit zu wahren und zu diesem Zweck wirksame Kollektivmaßnahmen zu treffen, um Bedrohungen des Friedens zu verhüten und zu beseitigen, Angriffshandlungen und andere Friedensbrüche zu unterdrükken und internationale Streitigkeiten [... ] durch friedliche Mittel nach den Grundsätzen der Gerechtigkeit und des Völkerrechts zu bereinigen oder beizulegen".220
Zwar hatte - wie oben erläutert - schon Art. 11 der Satzung des Völkerbundes den Krieg und jede Bedrohung mit Krieg zur Bundesangelegenheit erklärt und den Bund verpflichtet, die zum Schutz des Völkerfriedens geeigneten Maßnahmen zu ergreifen. Zur Erfüllung dieser Verpflichtung hatte die Satzung dem Bund dannjedoch keine oder nur völlig unzureichende Mittel an die Hand gegeben. Im Gegensatz zur rudimentären Regelung der Sanktionen in der Völkerbundsatzung widmet die Charta den "Maßnahmen bei Bedrohung des Friedens und bei Angriffshandlungen" ein ganzes Kapitel. 22J Anders als die Zwangsmaßnahmen der Völkerbundsatzung sollen die in der Charta vorgesehenen Sanktionen von der neugegründeten Organisation selbst ergriffen werden und nicht, wie im Völkerbundsystem, den einzelnen Mitgliedsstaaten überlassen bleiben. Die Verfasser der Charta hatten aus dem Scheitern des Völkerbundes den Schluß gezogen, daß ein funktionierendes
219 Kimminich, Sicherheit und Zusammenarbeit, 77, nennt das Charta-System ein "nahezu perfektes System der kollektiven Sicherheit", räumt allerdings ein, daß dieses schöne Bild durch die Regelung des Art. 27 Abs. 3 getrübt wird. 220 Vgl. Art. Ziff. I der Charta der Vereinten Nationen vom 26. Juni 1945 (Text in U.N.C.1.0. XV, 335 ff.); die hier verwendete deutsche Übersetzung des Textes der Charta der Vereinten Nationen ist abgedruckt in BGBI. 1973 11. 431 ff.; alle folgenden Zitate ohne Gesetzesangaben sind solche aus der YN-Charta. 221 Vgl. die Überschrift von Kapitel VII bei Berber, Dokumentensammlung I, 23.
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I. Teil: Die Grundlagen des VN-Sicherheitsmechanismus
universelles Friedenssicherungssystem einer starken Zentralinstanz bedurfte. 222 Deshalb sollte die neue Organisation mit einem starken Exekutivorgan ausgestattet werden, um die Durchsetzung der kollektiven Zwangsmaßnahmen zu sichern. Prämisse für einen Erfolg der neugegründeten Organisation war nach Überzeugung aller an der Konferenz von San Francisco teilnehmenden Staaten die aktive Beteiligung sämtlicher Großmächte, insbesondere der Vereinigten Staaten und der Sowjetunion. Die Großmächte sollten als Garanten des Weltfriedens nicht nur die dieser Verantwortung immanenten Pflichten übernehmen, sondern auch mit besonderen Rechten ausgestattet sein. Die Stellung der Großmächte als "primi inter pares" fand ihren Ausdruck in der Schaffung einer Art "Mitgliedschaft erster Klasse" in Form eines ständigen Sitzes im Sicherheitsrat. Gleichzeitig ermöglichte es der Abstimmungsmechanismus des Art. 27 Abs. 3 jeder Großmacht, ihre vitalen nationalen Interessen wirksam zu schützen. 223 I. Die wesentlichen Verbesserungen gegenüber dem Völkerbund
Außer in der neugeschaffenen organischen Struktur kommt der Wunsch nach einer effektiven Organisation der globalen Friedenssicherung besonders in der eigentlichen Regelung des Friedenssicherungssystemszum Ausdruck. Gegenüber der Satzung des Völkerbundes weist die Charta hier zunächst eine deutliche Gewichtsverschiebung innerhalb der klassischen Trias "Arbitrage - Securite - Desarmement" auf. Die Regelungen über die friedliche Streiterledigung verlieren an Bedeutung zugunsten der Sanktionsnormen. Michel Virally hat der Charta deshalb "une priorite de ce qu'on pourrait appeler la paix 'physique', c'est-a-dire le silence des armes" attestiert. 224 Von dem Sanktionsmechanismus der Völkerbundsatzung unterscheidet sich derjenige der Charta vor allem in sechs wesentlichen Aspekten, die im folgenden kurz skizziert werden sollen225 ; Im Gegensatz zur Völkerbundsatzung mit ihrem lediglich partiellen Kriegsverbot enthält die Charta der Vereinten Nationen in Art. 2 Ziff. 4 ein generelles Gewaltverbot: "Alle Mitglieder unterlassen in ihren internationalen Beziehungen jede gegen die territoriale Unversehrtheit oder die poJitische Unabhängigkeit gerichtete oder sonst mit den Zielen der Vereinten Nationen unvereinbare 222 Brierly, Covenant and Charter, 85, spricht davon, daß die kooperative Basis des Völkerbundsystems durch die organische Struktur der Charta abgelöst worden sei. 223 Schaefer, Sicherheitsmechanismus, 12-13, der betont, daß das Versagen des Sanktionsmechanismus des Art. 16 der Völkerbundsatzung die Notwendigkeit verdeutlicht habe, die Verhältnismäßigkeit von Macht und Verantwortung zu institutionalisieren. Zu den Auswirkungen dieses realistischen Ansatzes vgl. die Ausführungen unten I. Teil C. III. 2. 224 Michel Virally, L'organisation mondiale, 464; ähnlich auch Cavare, Sanctions, 649; zu den einzelnen Regelungen des Kapitels VII vgl. unten I. Teil C. 11. 225 Ähnlich wie hier auch Jimenez de Arechaga, Derecho Constitucional, 371 ff.; ihm folgend Neuhold, Internationale Konflikte, 111 ff.
C. Das Sicherheitssystern der Charta der Vereinten Nationen
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Androhung oder Anwendung von Gewalt."226 Diese Regelung bedeutet in dreifacher Hinsicht einen Fortschritt gegenüber den Regelungen der Völkerbundsatzung und des Kel/ogg-Briand-Paktes. 227 Erstens ächtet die Bestimmung nicht nur das Führen von Kriegen, sondern die Gewaltanwendung schlechthin, womit sich der Aggressor nicht mehr, wie noch zu Zeiten der Völkerbundsatzung, auf das Fehlen einer formellen Kriegserklärung oder eines subjektiven Kriegsführungswillens berufen kann. Zweitens untersagt die Charta auch die Drohung mit Gewalt, die sich in den zwischenstaatlichen Beziehungen mit deutlichem Machtgenille oft als genauso wirkungsvolles Mittel der Durchsetzung der eigenen Interessen erweist wie die tatsächliche Anwendung von Gewalt. Drittens ist der Geltungsbereich des Gewaltverbots des Art. 2 Ziff. 4 nicht auf die Mitglieder der Organisation beschränkt, sondern erstreckt sich auf ihre internationalen Beziehungen in toto, also auch auf diejenigen zu Nichtmitgliedern der Organisation. 228 Die Statuierung eines Gewaltverbots geht einher mit der Einführung eines ausgeprägten Gewa/tmonopo/s.229 Dieses kommt zum einen in dem gegenüber der Völkerbundsatzung stark erweiterten Anwendungsbereich der Sanktionsnormen zum Ausdruck. Während das Völkerbundsystem lediglich die Nichteinhaltung der prozeduralen Erfordernisse der Artt. 12 bis 15 mit Sanktionen bewehrte 230 und das Sanktionssystem lediglich im Fall der "aggression declaree" zum Einsatz kam 231 , können gemäß Art. 39 der Charta nicht nur Angriffshandlungen und Friedensbruche, sondern auch bloße Bedrohungen des Friedens die in Kapitel VII vorgesehenen Zwangsmaßnahmen auslösen. 232 Wie Neuhold zutreffend festgestellt hat, ist dadurch die Problematik der Definition des Krieges und der Umgehung des Kriegsverbots durch Bestreiten des Kriegsftihrungswillens (animus be/ligerendf233 ) für die Ergreifung von kollektiven Sanktionen irrelevant geworden. 234 Gleichzeitig gibt der Begriff der Friedensbedrohung dem Sicherheitsrat die Möglichkeit, sich nicht nur bei Vorliegen einer Völkerrechtsverietzung einzuschalten, sondern auch bei an sich rechtmäßi-
226 Vgl. die deutsche Übersetzung bei Berber, Dokumentensammlung I, 14. 227 Vgl. zum folgenden Jimenez de Arechaga, Derecho Constitucional, 83 ff.; Karaosmano-
glu, Actions militaires, 31; Neuhold, Internationale Konflikte, 71; Randelzhojer, in: Simma (Hrsg.), ChVN, Art. 2 Ziff. 4 Rn. \3 ff. 228 Ergänzt wird Art. 2 Ziff. 4 der Charta insoweit durch Art. 2 Ziff. 6, wonach die Organisation dafür Sorge trägt, "daß Staaten, die nicht Mitglieder der Vereinten Nationen sind, insoweit nach diesen Grundsätzen handeln, als dies zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit erforderlich ist". 229 Vgl. zu diesem Zusammenhang besonders Randelzhojer, in: Simma (Hrsg.), ChVN, Art. 2 Ziff. 4 Rn. 14. 230 Vgl. oben 1. Teil 8. 11. und III.; wie hier auch Karaosmanoglu, Actions militaires, 31. 231 Vgl. Cavare, Sanctions, 656: ,,[L]e Pacte de la S.D.N. (Art. 16) n'envisageait comme point de depart de I'action du Conseil que I'aggression declaree." 232 Cohen Jonathan, in: CotlPellet (Hrsg.), Charte, Art. 39, 655. 233 Zum Begriffvgl. Dinstein, War, 14-15. 234 Neuhold, Internationale Konflikte, 111.
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1. Teil: Die Grundlagen des VN-Sicherheitsmechanismus
gen Handlungen, die ein präventives Eingreifen zur Wahrung des Weltfriedens erfordern. 235 Außerdem schafft die Charta mit dem Sicherheitsrat ein zentrales Organ, dem die Hauptverantwortung für die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit übertragen wird, das bei der Wahrnehmung seiner sich aus dieser Verantwortung ergebenden Pflichten im Namen der Mitglieder handelt und dessen Kontrolle jede Art von Gewaltanwendung im zwischenstaatlichen Verkehr unterliegt. Der Sicherheitsrat kann nicht nur gemäß Art. 42 kollektive militärische Zwangsmaßnahmen zur Wahrung oder Wiederherstellung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit durchführen, er kontrolliert gemäß Art. 51 auch die einzelstaatliche Ausübung des Rechts auf Selbstverteidigung und gemäß Art. 53 die Ergreifung von Zwangsmaßnahmen durch regionale Abmachungen oder Einrichtungen. Die Charta überträgt in Art. 39 die Entscheidung über das Vorliegen des casus foederis einem Zentralorgan, dem Sicherheitsrat, die Determination erfolgt also nicht mehr individuell durch jedes einzelne Mitglied, wie dies bei Art. 16 der Völkerbundsatzung der Fall war, sondern wird kollektiviert. 236 Die Feststellungen des Sicherheitsrats über das Vorliegen eines der drei Tatbestände des Art. 39 sind für alle Mitgliedsstaaten gemäß Art. 25 verbindlich. 237 Damit sollten die Schwierigkeiten, die durch die unterschiedliche Interpretation der Satzungsbestimmungen über die Verletzung der Vorschriften der Artt.12 bis 15 der Völkerbundsatzung entstanden waren, überwunden und die für das Funktionieren eines Systems der kollektiven Sicherheit notwendige Klarheit über das Vorliegen einer Aggression und die Identität des Aggressors geschaffen werden. 238 Gleichzeitig überwindet die Charta die von vielen Beobachtern des Völkerbundes als schwere Beeinträchtigung der Effektivität angesehene Einstimmigkeitsregel im Rat. Während Art. 5 der Völkerbundsatzung für alle nichtverfahrensrechtlichen Fragen Einstimmigkeit vorschrieb, bedürfen die Beschlüsse des Sicherheitsrats gemäß Art. 27 Abs. 3 der Zustimmung von neun Mitgliedern einschließlich sämtlicher ständigen Mitglieder. Damit schien auf den ersten Blick eine Sicherstellung der "action commune" gegen einen Aggressor auch gegen den Willen einzelner Mitglieder des Sicherheitsrats sicher-
235 Kelsen, UN Law, 294; Randelzhojer, Kriegsverhütung durch Völkerrecht, 765; GowllandDebbas, Security Council Enforcement Actions, 61. 236 Vgl. die Ausfiihrungen oben I. Teil B. III. 237 Delbrück, in: Simma (Hrsg.), ChVN, Art. 25 Rn. 9; Frowein, in: Simma (Hrsg.), ChVN, Art. 39 Rn. 27; Jimenez de Arechaga, Derecho Constitucional, 376. 238 Freylag-Loringhoven, Völkerbund, 188; Schücking/Rühland/Böhmerl, Völkerbundsexekution, 547-548; zu den Problemen, die der weite Anwendungsbereich des Art. 39 seinerseits mit sich bringt, vgl. unten I. Teil C. III. 2. c) und 3. sowie fur die neuere Praxis 2. Teil C. und D.
C. Das Sicherheitssystem der Charta der Vereinten Nationen
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gestellt und eine wichtige Voraussetzung für die Verwirklichung eines echten Systems der kollektiven Sicherheit geschaffen. 239 Darüber hinaus übernimmt der Sicherheitsrat nach der Konzeption des Kapitels VII auch die Aufgabe eines Koordinationsorgans für die nichtmilitärischen Zwangsmaßnahmen. 24o Das Sicherheitssystem des Völkerbundes scheiterte nicht zuletzt daran, daß Art. 16 Abs. 1 S. 2 zwar die Verpflichtung der Bundesmitglieder zu automatischen wirtschaftlichen und finanziellen Boykottmaßnahmen enthielt, diese jedoch im Wege der "action isolee" ergriffen werden sollten, was ihre Effizienz von vornherein stark einschränkte. 241 Zwar sieht die Charta im Gegensatz dazu keine automatischen nicht-militärischen Zwangsmaßnahmen vor, jedoch kann der Sicherheitsrat die Mitglieder einzeln oder in ihrer Gesamtheit dazu verpflichten, die in Art. 41 vorgesehenen gewaltlosen Sanktionen zu ergreifen und diese auch entsprechend wirkungsvoll koordinieren. 242 Schließlich ist der Sicherheitsrat nach Kapitel VII in Verbindung mit Art. 25 grundsätzlich in der Lage, die Mitgliedsstaaten zur Teilnahme an militärischen Maßnahmen zu verpflichten. 243 Die Tatsache, daß die neue Weltorganisation anders als ihre Vorgängerin mit entsprechenden Machtmitteln zur Repression bei Verletzungen des Gewaltverbots ausgestattet sein sollte, wurde auf der Konferenz von San Francisco als historischer Schritt gefeiert. 244 Die Verpflichtung zum militärischen Beistand ist jedoch, wie die nun folgende Dar239 Allerdings wurde bereits oben I. Teil B. I. daraufhingewiesen, daß die Einstimmigkeitsregel das Sicherheitssystem des Völkerbundes keineswegs zu einer Lähmung der Arbeit der Völkerbundorgane gefuhrt hatte, da aufgrund dessen dezentralen Natur eine Aktion der übrigen Bundesmitglieder nicht blockiert werden konnte. 240 Am deutlichsten wird diese Koordinationsfunktion in den Regelungen des Art. 41 über nichtmilitärische Zwangsmaßnahmen, zu denen der Sicherheitsrat die Mitgliedsstaaten auffordern kann, und des Art. 48, wonach die Zwangsmaßnahmen je nach dem Ermessen des Sicherheitsrats von allen oder von einigen Mitgliedern der Vereinten Nationen getroffen werden. 241 Vgl. die Ausfuhrungen oben I. Teil B. III. 2. So hat sich im Fall der Wirtschaftssanktionen gegen Italien 1935 die auf Empfehlung der Bundesversammlung erfolgte Einsetzung eines Ausschusses zur Koordinierung der Sanktionen als wenig effektiv erweisen, vgl. Doxey, Economic Sanctions, 46 ff. 242 Neuhold, Internationale Konflikte, 112. 243 Karaosmanoglu, Actions militaires, 34; Jimenez de Arechaga, Derecho Constitucional, 377; Dinstein, War, 280: "A far-reaching leap forward was made in Article 42, which represents the fulcrum ofthe UN collective security system."; vgl. auch die Feststellung des Berichterstatters zu Kapitel VII bei der Konferenz von San Francisco, Paul-Boncour, zitiert bei Cavare, Sanctions, 660: "L'assistance, meme militaire, cesse d'etre une recommendation: elle est po ur les membres une obi igation." 244 Vgl. die Äußerung von Joseph Paul-Boncour, zitiert in V.N.C.I.D. I, 668: ,,[T]he international organization will no longer be unarmed against violence. [... ] That is the great thing, the great historie act accomplished by the San Francisco Conference [... ]." Der südafrikanische Vertreter und damalige Premier Jan C. Smuts, der schon zu den maßgeblichen Redaktoren der Völkerbundsatzung gehört hatte, sagte von der Charta: "It provides for a peace with teeth; for a united front of peace-Ioving peoples against future aggressors; [... ] And it provides for central organization and direction ofthe joint forces for peace." (vgl. V.N.C.I.D. I, 678)
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1. Teil: Die Grundlagen des VN-Sicherheitsmechanismus
stellung der Regelungen des Kapitels VII zeigen wird, in mehrfacher Hinsicht modifiziert und eingeschränkt. 11. Die Regelungen des Kapitels VII über militärische Zwangsmaßnahmen 245
1. Die Organisation kollektiven Zwanges
Gemäß Art. 42 kann der Sicherheitsrat "mit Luft-, See- oder Landstreitkräften die zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit erforderlichen Maßnahmen durchführen". Diese können "Demonstrationen, Blockaden und sonstige Einsätze der Luft-, See- oder Landstreitkräfte von Mitgliedern der Vereinten Nationen einschließen". Zur Organisation der in Art. 42 erwähnten militärischen Zwangsmaßnahmen verpflichten sich alle Mitglieder der Vereinten Nationen in Art. 43, nach Maßgabe eines oder mehrerer Sonderabkommen dem Sicherheitsrat auf sein Ersuchen Streitkräfte zur Verfügung zu stellen, Beistand zu leisten und Erleichterungen einschließlich des Durchmarschrechts zu gewähren. Außerdem haben die Mitgliedsstaaten nach Art. 45 zum Zwecke der Durchführung dringender militärischer Operationen Verbände ihrer Luftstreitkräfte zur Verfügung zu halten, deren Stärke und Bereitschaftsgrad sowie deren Einsatzpläne ebenfalls im Rahmen der Sonderabkommen festgelegt werden sollen. Bei der Wahl zwischen den möglichen Organisationsformen kollektiven Zwanges entschieden sich die Redaktoren der Charta also für die Schaffung einer aus nationalen Kontingenten zusammengesetzten Exekutionsstreitmacht, die jedoch unter internationalem Kommando steht. 246 Als Ausgleich für das Fehlen einer ständigen internationalen Streitmacht sieht die Charta mehrere Vorbereitungsmaßnahmen für die Aktivierung der Streitkräfte vor. Der Sicherheitsrat wird bei der Leitung der militärischen Zwangsmaßnahmen von einem aus den Generalstabschefs der ständigen Mitglieder bestehenden Generalstabsausschuß unterstützt (Art. 47). Dieser soll den Sicherheitsrat in allen Fragen beraten, die dessen militärische Bedürfnisse, den Einsatz und das Kommando der ihm zur Verfügung gestellten Streitkräfte zum Gegenstand haben. Gemäß Art. 47 Abs. 3 ist der Generalstabsausschuß unter der Autorität des Sicherheitsrats für die strategische Leitung aller dem Sicherheitsrat zur Verfügung gestellten Streitkräfte verantwortlich. Außerdem sollte der vorab erfolgte Abschluß von Sonderabkommen nach Art. 43 dem Sicherheit Klarheit über die zur Verfügung stehenden Truppen verschaffen. 247 245 Vgl. zu den folgenden Ausfllhrungen die deutsche Übersetzung der Bestimmungen des Kapitels VII, abgedruckt bei Berber, Dokumentensammlung I, 23 ff. 246 Cavare, Sanctions, 669-670; Karaosmanoglu, Actions militaires, 35. 247 Virally, L'organisation mondiale, 464.
C. Das Sicherheitssystem der Charta der Vereinten Nationen
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2. Begrenzung der militärischen Beistandspflicht apriori Für die Mitgliedsstaaten bedeutet die Regelung des Art. 43 eine Begrenzung ihrer Pflicht zur Teilnahme an militärischen Zwangsmaßnahmen. 248 Jeder Mitgliedsstaat kann seine Beistandspflicht nicht nur hinsichtlich der von ihm bereitzustellenden Truppen, sondern auch der Bereitstellung von Logistik und der Gewährung von Durchmarschrechten genau bestimmen und begrenzen. Art. 43 Abs.3 enthält diesbezüglich nur eine Verhandlungspflicht, so daß kein Staat gezwungen werden kann, ein bestimmtes Abkommen zu akzeptieren. 249 Wie besonders auch durch den Wortlaut des Art. 106 klargestellt wird250 , ist die Verpflichtung der Mitglieder zur Bereitstellung von Truppen nach Artt. 43 und 45 - um eine Formulierung von Georg Dahm zu gebrauchen - "noch nicht aktuell", weil sie durch den Abschluß der Abkommen bedingt ist. 251 Weiterhin sind die Mitglieder nicht verpflichtet, alle den gleichen Beitrag zur Ausführung der militärischen Zwangsmaßnahmen zu leisten: Vielmehr werden, wie sich aus Art. 48 Abs. I ergibt, die Maßnahmen nach dem Ermessen des Sicherheitsrats von allen oder von einigen Mitgliedern der Vereinten Nationen getrofffen. Selbst nach Abschluß der Sonderabkommen muß der Sicherheitsrat, wenn er den Einsatz militärischer Kräfte anordnet, einen nicht im Sicherheitsrat vertretenen Mitgliedsstaat auf dessen Verlangen zur Teilnahme an den Entscheidungen über den Einsatz seiner Verbände einladen, bevor er ihn zur Bereitstellung seiner Streitkräfte auffordert (Art. 44).252 Außerdem sieht Art. 49 vor, daß die Mitglieder einander bei der Durchführung der vom Sicherheitsrat beschlossenen Maßnahmen gemeinsam handelnd Bestand leisten. Zudem können Staaten, die die Durchführung von gegenüber einem Aggressor ergriffenen Zwangsmaßnahmen vor besondere wirtschaftliche Probleme stellt, den Sicherheitsrat zwecks Lösung dieser Probleme konsultieren (Art. 50).
Frowein, in: Simma (Hrsg.), ChVN, Art. 43 Rn. 9; Virally, L'organisation mondiale, 462. Frowein, in: Simma (Hrsg.), ChVN, Art. 43 Rn. 9; Dahm, Völkerrecht 11, 399. 250 Art. 106 lautet: "Bis das Inkrafttreten von Sonderabkommen der in Artikel 43 bezeichneten Art den Sicherheitsrat nach seiner Auffassung beflihigt, mit der Ausübung der ihm in Artikel 42 zugewiesenen Verantwortlichkeiten zu beginnen, konsultieren die Parteien der am 30. Oktober 1943 in Moskau unterzeichneten Viermächte-Erklärung und Frankreich gemäß Absatz 5 dieser Erklärung einander und gegebenenfalls andere Mitglieder der Vereinten Nationen, um gemeinsam alle etwa erforderlichen Maßnahmen zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit im Namen der Organisation zu treffen." 251 Dahm, Völkerrecht 11, 399 m.w.N.; a.A. Kelsen, United Nations, 756, der dies mit dem offenen Wortlaut des Art. 42 begründet; mißverständlich insoweit Kimminich, Sicherheit und Zusammenarbeit, 74, der von einer "prinzipiellen Hilfeleistungspflicht gegenüber den Opfern einer Aggression" spricht. 252 Diese Bestimmung, die in den Vorschlägen von Dumbarton Oaks nicht enthalten war, wurde auf Initiative der Niederlande während der Konferenz von San Francisco aufgenommen und sollte für mehr Partizipation der kleineren Mitgliedsstaaten sorgen, vgl. Dahm, Völkerrecht 11, 398. 248
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1. Teil: Die Grundlagen des VN-Sicherheitsmechanismus 111. Die Schwächen des Sicherheitsmechanismus der Charta
Trotz zahlreicher Verbesserungen gegenüber dem System der Völkerbundsatzung ist auch die Charta der Vereinten Nationen noch bei weitem keine gelungene Umsetzung eines Systems der kollektiven Sicherheit: Neben grundlegenden strukturellen Mängeln weist das Charta-Sicherheitssystem sowohl unter Effektivitäts- als auch unter Legitimitätsgesichtspunkten zahlreiche Schwächen auf.
1. Die mangelnde Flankierung des Sanktionsmechanismus durch friedliche Streiterledigung und Abrüstung Das Gewaltverbot des Art. 2 Abs. 4 der Charta untersagt den VN-Mitgliedsstaaten die Anwendung militärischer Gewalt in ihren internationalen Beziehungen in einem kaum noch zu überbietendem Maße. 253 Verboten ist nicht nur die direkte Anwendung von Waffengewalt, sondern auch die indirekte. 254 Weder die Durchsetzung eines berechtigten völkerrechtlichen Anspruchs noch das Unterbinden eines völkerrechtswidrigen Verhaltens eines anderen Staates vermögen nach den eindeutigen Regelungen der Charta die Anwendung militärischer Gewalt durch einen Mitgliedsstaat zu rechtfertigen. Erlaubt ist die Anwendung militärischer Gewalt einzig zur Verteidigung gegen einen bewaffneten Angriff und auch das nur solange, bis der Sicherheitsrat die zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit erforderlichen Maßnahmen getroffen hat. 255 Dieses umfassende Gewaltverbot wirdjedoch in der Charta nicht durch ein entsprechend wirksames System der friedlichen Streiterledigung ergänzt. Ohne im Rahmen dieser Untersuchung auf die Einzelheiten der Regelungen des Kapitels VI eingehen zu können, läßt sich doch feststellen, daß die Charta-Vorschriften über die friedliche Beilegung von Streitigkeiten keine hinreichende Alternative zur gewaltsamen Austragung von zwischenstaatlichen Konflikten darstellen. 256 253 254
Randelzhojer, Kriegsverhtitung durch Völkerrecht, 747.
lum Umfang des Gewaltverbots und zum Begriff der indirekten Gewalt vgl. grundlegend
Randelzhojer, in: Simma (Hrsg.), ChVN, Art. 2 liff. 4 Rn. 13 ff. 255 So die herrschende Meinung in der Literatur; vgl. dazu statt vieler Randelzhojer, in: Simma (Hrsg.), ChVN, Art. 51; Brown/ie, Use of Force, 272 ff.; eine vor allem von anglo-amerikanischen Autoren vertretene Mindermeinung in der Literatur geht demgegenUber davon aus, daß Art. 51 das traditionelle, gewohnheitsrechtlich verankerte Selbstverteidigungsrecht der Staaten in keiner Weise eingeschränkt habe, es vielmehr fur den Fall des bewaffneten Angriffs nur besonders hervorhebe; vgl. stellvertretend fur diese Meinung Bowelt, Self-Defence, 187 ff.; diese Meinung ist jedoch vom IGH in seiner Nicaragua-Entscheidung vom 27. Juni 1986 nicht bestätigt worden; vielmehr geht der Gerichtshof wie die herrschende Meinung davon aus, daß das Vorliegen eines bewaftneten Angriffs conditio sine qua non fur das Selbstverteidigungsrecht ist, vgl. ICJ Reports 1986,122,103 und 110. 256 Randelzhojer, KriegsverhUtung durch Völkerrecht, 748; vgl. zu den Regelungen in Kapitel VI die Kommentierungen in: Simma (Hrsg.), ChVN, Art. 33 bis 38 und Tomuschat, in: Simma (Hrsg.), ChVN, Art. 2 litT. 3.
C. Das Sicherheitssystem der Charta der Vereinten Nationen
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Art. 33 verpflichtet die Streitparteien lediglich, sich um die Lösung eines Streites durch Einsatz eines der dort genannten Mittel der friedlichen Streiterledigung zu bemühen. 257 Bleiben dementsprechende Bemühungen der Parteien erfolglos, kann jede der Parteien den Sicherheitsrat anrufen. 258 Dieser kann allerdings gemäß Art. 36 nur Empfehlungen abgeben, die keine Bindungswirkung für die Parteien haben. 259 Zwar eröffnet Art. 34 dem Sicherheitsrat darüber hinaus die Möglichkeit, aus eigener Initiative jede Streitigkeit und jede Situation, die zu internationalen Reibungen führen und eine Streitigkeit hervorrufen könnte, zum Gegenstand einer Untersuchung zu machen, doch setzt die Durchführung einer solchen Untersuchung voraus, daß die Mehrheit der Mitglieder des Sicherheitsrats unter Einschluß aller ständigen Mitglieder zuvor einen entsprechenden Beschluß faßt. 260 Vor allem aber enthält die Charta keine Norm, die den Staaten die Verpflichtung auferlegt, einen Streit auf friedlichem Wege, auf welchem Wege auch immer, tatsächlich beizulegen. Art. 2 Ziff. 3 verpflichtet die Streitparteien lediglich, auf eine Lösung mit friedlichen Mitteln hinzuarbeiten. Eine Verpflichtung, ein bestimmtes Ergebnis zu erzielen, besteht dagegen nicht. 261 Insbesondere enthält die Charta keine Verpflichtung für die Streitparteien, sich der Gerichtsbarkeit des Internationalen Gerichtshofs (IGH) zu unterwerfen. 262 Unbefriedigend geregelt ist in der Charta auch die Institutionalisierung des peaceful change. In diesem Zusammenhang enthält die Charta einzig die völlig ungenügende Regelung des Art. 14. 263 Überhaupt nicht vorgesehen ist in der Charta eine Pflicht zur Abrüstung. AIbrecht Randelzhofer ist zwar zuzustimmen, wenn er unterstreicht, daß kein Krieg allein durch die bloße Existenz von Rüstung entstehe und daß die Abrüstung deshalb im Gegensatz zur friedlichen Streiterledigung und zur Institutionalisierung des peaceful change kein primäres Anliegen der Kriegsverhütung sein müsse. 264 Wie bereits einleitend dargestellt, stellt Abrüstung jedoch eine Vgl. Art. 33 Abs. I, deutscher Text bei Berber, Dokumentensammlung I, 22. Vgl. Art. 35 Abs. I, deutscher Text bei Berber, Dokumentensammlung I, 22. 259 Stein/Richter, in: Simma (Hrsg.), ChVN, Art. 36 Rn. 45 m.w.N. 260 Trotz seiner an sich verfahrensrechtlichen Natur wird der Untersuchungsbeschluß nach Art. 34 als substantieller Beschluß nach Art. 27 Abs. 3 und nicht als Verfahrensbeschluß i.S.d. Art. 27 Abs. 2 angesehen, vgl. SchweisJurth, in: Simma (Hrsg.), ChVN, Art. 34 Rn. 27. 261 Tomuschat, in: Simma (Hrsg.), ChVN, Art. 2 Ziff. 3 Rn. 13, spricht dementsprechend zutreffend von einer bloßen Verhaltenspflicht der Streitparteien. 262 RandelzhoJer, Kriegsverhütung durch Völkerrecht, 748. 263 Art. 14 der Charta lautet in der deutschen Übersetzung: "Vorbehaltlich des Artikels 12 kann die Generalversammlung Maßnahmen zur friedlichen Bereinigung jeder Situation empfehlen, gleichviel wie sie entstanden ist, wenn diese Situation nach ihrer Auffassung geeignet ist, das allgemeine Wohl oder die freundschaftlichen Beziehungen zwischen Nationen zu beeinträchtigen; dies gilt auch fur Situationen, die aus einer Verletzung der Bestimmungen dieser Charta über die Ziele und Grundsätze der Vereinten Nationen entstehen." Vgl. Berber, Dokumentensammlung 1,17-18. 264 RandelzhoJer, Kriegsverhütung durch Völkerrecht, 748. 257 258
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1. Teil: Die Grundlagen des VN-Sicherheitsmechanismus
der Funktionsvoraussetzungen eines Systems der kollektiven Sicherheit dar, weil nur in einer Welt von Staaten mit relativ begrenzter militärischer Macht eine kollektive Polizeiaktion Erfolg haben kann. 265 Die in der fehlenden Regelung in der Charta zum Ausdruck kommende mangelnde Bereitschaft der Mitgliedsstaaten zur Abrüstung ist deshalb durchaus bezeichnend.
2. Die mangelnde Effektivität des Charta-Sicherheitssystems Die Charta sichert das Gewaltverbot also weder durch ein ergänzendes System der friedlichen Streiterledigung noch durch eine spezielles Verfahren des peaceful change. Statt dessen stützt sie sich fast ausschließlich auf das Sanktionssystem des Kapitels VII. Auch dieses Sanktionssystem weist jedoch gravierende Schwächen auf. Unter Effektivitätsgesichtspunkten fehlen dem Charta-Sicherheitssystem insbesondere entscheidende Elemente eines echten Systems der kollektiven Sicherheit. In einigen Bestimmungen der Charta kommt gar eine explizite Ablehnung des Konzepts der kollektiven Sicherheit zum Ausdruck. 266 Stark vereinfacht lassen sich die diesbezüglichen Schwächen des Charta-Systems auf drei maßgebliche Punkte reduzieren: Der begrenzte Anwendungsbereich des kollektiven Sicherheitssystems der Vereinten Nationen 267 , die unvollkommene Pflicht zum militärischen Beistand268 und - ein Punkt, der in der Literatur wenig Beachtung gefunden hat - die mangelnde Verpflichtung des Sicherheitsrats zum Eingreifen bei Vorliegen des casusfoederis. a) Oie begrenzte Anwendbarkeit des Sicherheitssystems der Charta Eine Schwäche des Sicherheitssystems der Charta liegt in seiner apriori auf Aggressionen kleinerer und mittlerer Mächte begrenzten Anwendbarkeit. 269 Durch die Regelung des Art. 27 Abs. 3, wonach Beschlüsse des Sicherheitsrats über alle nicht-verfahrensrechtlichen Fragen der Zustimmung von neun Mitgliedern einschließlich sämtlicher ständiger Mitglieder bedürfen, werden die Großmächte de facto gegen kollektive Zwangsmaßnahmen immunisiertYo In der Literatur wird oft die Meinung vertreten, daß es den Redaktoren der Charta der Vereinten Nationen darum gegangen sei, ein System der kollektiven Sicherheit zu errichten, welches in der Lage sei, militärischen Zwang gegenVgl. dazu oben I. Teil A. VI. 2. Schwarzenberger, Machtpolitik, 295; Claude, Plowshares, 242. 267 Daraufweisen besonders deutlich Claude, ManagementofPower, 224 11, und Skubisziewski, Usc 01' Force, 784-785 hin. 268 Claude, Plowshares, 242. 269 Skubisziewski, Use 01' Force, 784-785. 270 Schwarzenberger, Machtpolitik, 295; Kimminich, Sicherheit und Zusammenarbeit, 77. 265
266
C. Das Sicherheitssystem der Charta der Vereinten Nationen
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über jedem potentiellen Aggressor anzuwenden. 271 Die Existenz des Vetorechts, so diese Meinung, sei eine hypothetische Gefahr für das Funktionieren des Sicherheitsmechanismus der Charta und seine Aufnahme sei Beweis für die Annahme der Großmächte, daß die Weltkriegsallianz zwischen den Großmächten auch weiterhin funktionieren werde. Leider habe sich diese Erwartung als falsch herausgestellt, mit der Folge, daß das Veto die Ergreifung von kollektiven Zwangsmaßahmen unmöglich gemacht habe. 272 Diese Argumentation ist jedoch unzutreffend: Richtig ist vielmehr, daß die Großmächte von Anfang an nur an einem System der kollektiven Sicherheit von begrenzter Anwendbarkeit interessiert waren. 273 Seit der Konferenz von Dumbarton Oaks im Jahre 1944 waren sich die großen Drei grundsätzlich darüber einig, daß unter allen Umständen die Anwendung von Zwangsmaßnahmen gegen sie selbst unmöglich gemacht werden sollte. 274 Auch auf der Konferenz von San Francisco war den meisten Delegierten trotz ihrer öffentlichen Bekenntnisse zur Idee der kollektiven Sicherheit275 bewußt, daß die Aufnahme des Vetos die Aufgabe der Idee der Errichtung eines universell anwendbaren kollektiven Sicherheitssystems bedeutete. 276 Das Veto wurde vor allem von den kleineren und mittleren Mächten als Preis für die Teilnahme der Großmächte an der Weltorganisation betrachtet. Unmittelbar folgt aus der Veto-Regelung, daß das Sicherheitssystem der Charta nicht auf China, Frankreich, die Sowjetunion Getzt Rußland), Großbritannien und die Vereinigten Staaten als ständige Mitglieder des Sicherheitsrats anwendbar ist. 277 Kollektive Sicherheit, wie sie die Satzung der Vereinten Nationen vorsieht, heißt also kollektive Sicherheit im Fall einer Bedrohung durch
Goodrich/Hambro/Simons, Charter, 323; Claude, Power and International Relations, 158. Claude, Power and International Relations, 158-159. 273 Darauf hat vor allem Inis L. Claude immer wieder hingewiesen, vgl. etwa sein Management of Power, 225 ff., und Power and International Relations, 158 ff.; aus dem deutschsprachigen Schrifttum vgl. etwa Eichen, Gewaltverbot, 8. 274 Schwarzenberger, Power Politics, 392; Hi/derbrand, Dumbarton Oaks, 217-228 beschreibt detailliert, wie die amerikanische Seite auf der Konferenz von Dumbarton Oaks im Spätsommer 1944 dem sowjetischen Druck in dieser Frage nachgegeben hatte, nachdem die Sowjets mit ihrem Fernbleiben von der Weltorganisation gedroht hatten, sollte diese Zwangsmaßnahmen gegenüber einer Großmacht ergreifen können. 275 Vgl. neben den oben (I. Teil C.L Fn.244) schon zitierten Äußerungen vonJan C. Smuls und Joseph Paul-Boncour auch die Aussage des luxemburgischen Delegierten Joseph Bech, in U.N.C.LO. 1,502: ,,[The people ofthe world] would not forgive their leaders ifthey returned to a policy of balance of power, which would inevitably result in a race tor armaments heading straight tor another war. The protection of peace can only be insured on the basis of collective security." 276 Vgl. etwa die in U.N.C.LO. XI, 474, wiedergegebene Äußerung eines mexikanischen Delegierten, er habe das Gefiihl, die Konferenz sei "engaged in establishing a world order in which the mice could be stamped out but in which the Iions would not be restrained"; ein neuseeländischer Delegierter stellte gar ausdrücklich fest, daß die Einfiihrung des Vetos die kollektiven Sicherheit insgesamt unmöglich mache, vgl. U.N.C.I.O. XII, 296. 277 Skubisziewski, Use of Force, 784; RandelzhoJer, Great Powers, 144, spricht von einer "kollektiven Hegemonie" der tunf ständigen Mitglieder. 271
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I. Teil: Die Grundlagen des VN-Sicherheitsmechanismus
Mittel- oder Kleinstaaten, nicht jedoch durch eine der Großmächte. 278 Auf den Schutz gegen eine Aggression einer Großmacht ist das detaillierte System des Kapitels VII nicht angelegt, vielmehr ist für einen solchen Fall eine Rückkehr zum System des Gleichgewichts der Mächte mit seinen Verteidigungsallianzen vorgesehen, normiert in Form des Art. 51, der den Mitgliedsstaaten das Recht auf Selbstverteidigung gibt. 279 Mittelbar - und das hatten die Verfasser der Charta wohl weniger bedacht nötigt die Veto-Regelung die kleineren und mittleren Mächte dazu, sich um die Großmächte herumzugruppieren. Nur durch diese "Anlehnung an die ständigen Mitglieder" war es ihnen möglich, sich unerwünschter Entscheidungen des Sicherheitsrats zu erwehren. 28o Das Vetorecht fördert also auch in dem Bereich, wo das System des Kapitels VII an sich Anwendung finden sollte, die Blockbildung und verstärkt dadurch die ohnehin vorhandene Tendenz zur Aufteilung der Welt in von den rivalisierenden Großmächten geflihrte Bündnissysteme. 281 Die in der Praxis eingetretene überragende Bedeutung des nach seiner Stellung in Kapitel VII als Ausnahme gedachten Rechtes auf kollektive Selbstverteidigung ist also schon in der Charta selbst angelegt.
Eine Regelung wie die des Art. 27 Abs. 3 mag berechtigter Ausdruck der verständlichen Abneigung der Großmächte sein, sich durch Mehrheitsentscheidungen anderer, an eventuellen Opfern nicht beteiligter Staaten zu militärischem und finanziellem Einsatz zwingen zu lassen. 282 Auch ist gegen die hinter der Vetoregelung steckende realistische Überlegung, daß im Fall der Aggression einer Weltmacht ihr nur eine andere entgegentreten kann, grundsätzlich nichts einzuwenden. 283 Die in der Literatur häufig geäußerte Ansicht, das Scheitern des Völkerbundes zeige, daß die Nichtbeachtung der realen Machtverhältnisse jedem Sicherheitssystem zum Verhängnis werden könnten 28 4, ist ebenso zutreffend wie die Beobachtung Kimminichs, ein "Kampf der Giganten" zerstöre das Weltfriedenssystem der Vereinten Nationen so gründlich, daß 278 Schwarzenberger, Machtpolitik, 295; Dinstein, War, 288; treffend auch Kaeckenbeeck, Charte, 179-180: "Le vice de la Societe des Nations etait de ne pas defendre toutes les guerres et de n'avoir pas su organiser de contrainte. Le vice des Nations Unies parait etre de n'organiser la securite et la contrainte que contre les petits et les moyens." 279 Wie hier Skubisziewski, Use ofForce, 784; Dinstein, Aggression and Self-Defence, 83; Claude, Management ofPower, 228: "The key prescription ofthe Charter for dealing with the potential crisis of greatest importance - those involving antgonism among the great powers or aggressive action untertaken orsponsored by oneormore ofthe great powers - is to be found in Article 51." 280 So Dahm, Völkerrecht 11, 224. 281 Dahm, Völkerrecht 11, 225. 282 Dahm, Völkerrecht 11, 224. 283 Kimminich, Sicherheit und Zusammenarbeit, 77; de Lacharriere, L'action des Nations Unies, 334; in diesem Sinne auch Simma/Brunner, in: Simma (Hrsg.), ChYN, Art. 27 Rn. 111: "Eine Weltorganisation, die nicht mehr die internationalen Machtverhältnisse widerspiegelte, sondern sie entgegen den tatsächlichen Gegebenheiten umgestalten wollte, würde sich zu viel zumuten und wäre angesichts des Widerstandes einer Großmacht zum Scheitern verurteilt." 284 Vgl. etwa Stein, UN Peace Enforcement, 305; Harper, Preemption and Intervention, 27.
C. Das Sicherheitssystem der Charta der Vereinten Nationen
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jede Berufung auf Satzungsbestimmungen in einer solchen Situation nutzlos wäre. 285 Selbst Inis Claude, einer der schärfsten Kritiker der Veto-Regelung, hat denn auch zugestanden, daß die Regelung des Art. 27 Abs. 3 durchaus ihre Berechtigung als "Sicherung im Entscheidungskreislauf des Sicherheitsrates" habe: Ihr liege die vernünftige Überlegung zugrunde, daß es besser sei, im ganzen Haus das Licht ausgehen zu lassen, bevor das Haus in Flammen aufgehe. 286 Dennoch bleibt festzuhalten, daß eine solche Regelung, die ein ZweiKlassen-System zwischen den einzelnen Mitgliedern des Systems schafft, mit den Anforderungen eines echten Systems der kollektiven Sicherheit unvereinbar ist: Die Prämissen der kollektiven Sicherheit, wonach die Mitglieder eines solchen Systems sich das Aggressionsopfer ohne Rücksicht auf die Umstände und auf die Identität des Aggressors verlassen können sollte, sind in einem solchen System nicht verwirklicht. 287 Die Veto-Regelung steht somit im eklatanten Widerspruch zum egalitären Grundprinzip des Konzepts der kollektiven Sicherheit und ist der Förderung der Akzeptanz der Prämisse von der Unteilbarkeit des Friedens abträglich. 288 Ein solches System, das von seinen Mitgliedsstaaten die Einhaltung eines Gewaltverbots verlangt, gleichzeitig jedoch den Großmächten die Möglichkeit gibt, selbst im Falle eines klaren Bruches seiner völkerrechtlichen Verpflichtungen jede Zwangsmaßnahme gegen sich zu verhindern, beraubt die kleineren und mittleren Staaten des kollektiven Schutzes gegen die Großmächte und vermag deshalb die flir das Funktionieren des Systems unerläßliche Rechtssicherheit nicht zu gewährleisten. 289 Außerdem verhindert die Vetoregelung die flir ein Funktionieren eines Systems der kollektiven Sicherheit notwendige Universalität, indem es gerade die Mächte, die durch ihr militärisches Potential und ihre weltweiten Interessen am ehesten in der Lage und geneigt sein werden, Gewalt anzuwenden. 290 Das Vetorecht ist deshalb Ausdruck einer bewußten Ablehnung elementarer Voraussetzungen des Konzepts der kollektiven Sicherheit. 291 b) Die unvollkommene Pflicht zum militärischen Beistand und das Nichtzustandekommen der Sonderabkommen Eine weitere Schwäche des Sicherheitssystems der Charta liegt in der Unvollkommenheit der Pflicht zum militärischen Beistand. Treffend hat Louis Cavare schon 1950 angemerkt, die Charta-Regelungen über die militärischen
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289 290
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Kimminich, Sicherheit und Zusammenarbeit, 77. Claude, Power and International Relations, 160. Claude, Plowshares, 243. Vgl. oben 1. Teil A. IV. 1., VI.\. Kaeckenbeeck, Charte, 179; Claude, Plowshares, 231. Brierly, Covenant and Charter, 90; Randelzhojer, Kriegsverhütung durch Völkerrecht, 758. Claude, Management of Power, 227.
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I. Teil: Die Grundlagen des VN-Sicherheitsmechanismus
Zwangsmaßnahmen in Kapitel VII hätten zwar gegenüber den rudimentären Regelungen des Art. 16 der Völkerbundsatzung die wünschenswerte Präzisierung über Organisation und Verlauf der Aktionen gebracht, das entscheidende Problem der Teilnahmepflicht der Mitgliedsstaaten jedoch nicht zu lösen verstanden bzw. dessen Lösung auf später verschoben. 292 Das in Art. 43 enthaltene "agreement to agree" wurde jedoch bis heute nicht in eine vertragliche Verpflichtung zur Bereitstellung der vorgesehenen Truppen umgesetzt. Die Verhandlungen über die Prinzipien, die den Sonderabkommen zugrundeliegen sollten und mit deren Ausarbeitung der Sicherheitsrat den Generalstabsausschuß schon in seiner 23. Sitzung am 16. Februar 1946 beauftragt hatte, sind insofern von mehr als bloß historischem Interesse, als sie helfen, die Schwierigkeiten bei der Umsetzung eines Systems der kollektiven Sicherheit zu verstehen. 293 Nach dem bis heute geltenden offiziellen westlichen Sprachgebrauch war es allein die unnachgiebige sowjetische Haltung, die die Bemühungen um eine Festlegung der Grundprinzipien scheitern ließ.294 Schon eine rein quantitative Analyse der Verhandlungen im Generalstabsausschuß und der Diskussionen im Sicherheitsrat zeigt jedoch, daß diese Interpretation unrichtig ist. Der dem Sicherheitsrat vorgelegte Bericht des Ausschusses vom 30. April 1947 zeigt, daß bei insgesamt 41 ausgearbeiteten Artikeln über immerhin 25 allgemeine Einigkeit erzielt wurde. 295 Von den verbleibenden strittigen Punkten konnten die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion sich über 14 Punkte nicht einigen; gleichzeitig gab es jedoch Divergenzen der amerikanischen Haltung zur französischen Auffassung in fünf Punkten, zur britischen und chinesischen Position in je einer Frage. Außerdem vertrat die Sowjetunion in zwei strittigen Fällen die gleiche Position wie die USA.296 Klarer noch als diese Zahlen des Abschlußberichts zeigen jedoch die Protokolle der Diskussionen der strittigen Punkte, daß es keineswegs die sowjetische
292 Cavare, Sanctions, 669; ähnlich Claude, Plowshares, 242, der die Charta als "unvollständiges Dokument" bezeichnet hat, "in the sense that it postpones to the future - a future that shows no signs of arriving - the agreed allocation by states of military contingents to function as coercive instruments ofthe United Nations". 293 Vgl. S.C.O.R, Ist year, Ist ser. No. I, 23rd meeting, 369. 294 Vgl. etwa die Äußerungen des amerikanischen Außenministers Jahn Faster Dul/es, zitiert bei Claude, Power and International Relations, 177, die Sowjetunion habe durch ihr Veto die Umsetzung von Art. 43 unmöglich gemacht; vgl. auch Munra, Standing U.N. Army, 27: "Because of the opposition of the Soviet Union and its power of veto in the Council, that body has been unable to create an international force disposable at its direction." 295 General Principles Governing the Organization ofthe Anned Forces Made Available to the Security Council by Member Nations of the United Nations - Report of the Military Staff Committee (der "MSC-Report"), abgedruckt in UNYbk. 1946/47,424 ff. 296 Vgl. den MSC-Report, UNYbk. 1946/47,424 ff. sowie die Analyse bei Claude, Power and International Relations, 183.
C. Das Sicherheitssystem der Charta der Vereinten Nationen
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Haltung allein war, die die Verhandlungen zum Scheitern brachte. 297 Uneinigkeit bestand vor allem darüber, nach welchem Prinzip die Beteiligung der ständigen Sicherheitsratsmitglieder an der Truppe bestimmt werden sollte298 , wo die Streitkräfte vor und nach ihrem Einsatz zu stationieren seien299, innerhalb welcher Frist die Truppen nach Abschluß ihrer Mission wieder abgezogen werden sollten3°O und welche Gesamtstärke die Truppe haben sollte. 301 Vor allem bei der Diskussion des letztgenannten Problems legte die amerikanisehe Seite eine Haltung an den Tag, die Inis Claude später als "seltsame Weigerung der Anerkennung der impliziten Prämisse, daß das Sicherheitssystem der Charta nur gegen kleine und mittlere Aggressoren, nicht jedoch gegen eine der Großmächte zur Anwendung kommen sollte", bezeichnet hat,302 Während nämlich die anderen vier Großmächte angesichts dieser Vorgabe die Truppenstärke relativ niedrig veranschlagten, sollte nach Ansicht der Vereinigten Staaten die aufzustellende Truppe so umfangreich und gut ausgerüstet sein, "to bring to bear, against any breach of the peace anywhere in the world, balanced striking forces drawn from the most powerful and best equipped forces that could be provided by the Members".303 Dementsprechend sah der amerikanische Vorschlag 3800 Flugzeuge vor, während die übrigen vier Mächte nicht über 1275 hinausgingen; weiter verlangten die USA die Aufstellung von 20 Infanteriedivisionen im Vergleich zu acht (Großbritannien), zwölf (Sowjetunion) und 16 (Frankreich); zur See wollten die USA der VN-Truppe 90 U-Boote und 84 Zerstörer zur Verfugung stellen, während die übrigen ständigen Mitglieder sich im ersten Fall einvernehmlich mit zwölf U-Booten begnügen wollten und ihre Vorschläge für die Anzahl der Zerstörer zwischen 18 und 24 schwankten. 304
297 Vgl. die ausfuhrliehe Darstellungen von Goodrich/Hambro/Simons, Charter, 319 ff., Bowett, United Nations Forces, 14 ff. sowie Claude, Power and International Relations, 177 ff. 298 Während ~ie UdSSR auf strikter Proportionalität bestand, wollten die vier übrigen ständigen Mitglieder einen vergleichbaren Beitrag genügen lassen, vgl. die unterschiedliche Formulierungen des Art. 11 im MSC-Report, UNYbk. 1946/47,425. 299 Die UdSSR plädierte fur eine Stationierung auf dem Gebiet des Herkunftslandes, während die übrigen vier ständigen Mitglieder sich für in den Abkommen festzulegende zentrale Standorte aussprachen, vgl. Art. 20 und 32 des MSC-Reports, UNYbk. 1946/47,426-427. 300 Die USA, Frankreich, Großbritannien und China sprachen sich bei der Formulierung des Art. 20 fur "innerhalb von 30 bis 90 Tagen" aus, während die UdSSR auf "so schnell wie möglich" beharrte, vgl. UNYbk. 1946/47,426. 301 Während die sowjetische Seite eine Gesamtstärke von 125.000 Mann anstrebte, ging die westliche Seite von einer Truppe von 300.000 Mann aus, Zahlen aus UNYbk. 1947-48,495. 302 Claude, Power and International Relations, 180 (Übersetzung d. Verf.); vorsichtiger formulieren Goodrich/Hambro/Simons, Charter, 323-324 mit dem Hinweis, daß die Vorschläge der anderen ständigen Mitglieder in bezug auf die Truppenstärke sehr viel näher an denen der Sowjetunion lagen als an denen der USA. 303 So der amerikanische Vertreter im Sicherheitsrat, S.C.O.R., 2nd year 138th meeting, June 4,1947,954-955,956. 304 Vgl. die Übersicht in: UNYbk. 1947-1948,495.
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1. Teil: Die Grundlagen des VN-Sicherheitsmechanismus
Auch wenn die USA die Verhandlungen mit ihrer Forderung nach universeller Anwendbarkeit des Sicherheitssystems der Charta behindert haben mögen, so ist nach Ansicht des einschlägigen Schrifttums der wahre Grund fur deren Scheitern doch im mangelnden Vertrauen der Großmächte zueinander zu suchen: Die verschiedenen strittigen Punkte zeigten, daß sowohl die westlichen Großmächte als auch die Sowjetunion befürchteten, die andere Seite strebe bei zukünftigen Zwangsmaßnahmen eine Vormachtstellung an, um auf diese Weise unter dem Vorwand der Kollektivaktion im Namen der Vereinten Nationen eigene Ziele zu fdrdern. Nicht unüberwindbare strategisch-militärische Hindernisse standen dem Abschluß der Sonderabkommen im Wege, sondern das gegenseitige Mißtrauen der beiden politischen Lager. 30s Nachdem auch der Sicherheitsrat selbst die aufgetretenen Differenzen nicht ausräumen konnte, wurde das Projekt der Formulierung der Grundprinzipien für die Sonderabkommen des Art. 43 im August 1948 gänzlich aufgegeben. 306 Während des Kalten Krieges fehlte es nicht an vereinzelten Versuchen, den Sicherheitsrat doch noch zu einem Abschluß der Sonderabkommen zu bewegen, doch blieben diese allesamt erfolglos. 30? Bis heute bleibt die ursprüngliche Situation unverändert: Der Sicherheitsrat ist zu einem militärischen Vorgehen nur dann in der Lage, wenn ihm von den Mitgliedsstaaten freiwillig Verbände zur Verfügung gestellt werden. Die Folgen des Scheiterns sind bis heute von kaum zu überschätzender Bedeutung fur das Sicherheitssystem der Vereinten Nationen. Ausgerechnet die Eigenschaft, die auf der Konferenz von San Francisco als herausragende Neuerung des Systems begrüßt worden war, nämlich daß die neue Weltfriedensorganisation mit adäquaten Mitteln zur Friedensdurchsetzung ausgestattet werden sollte, wurde auf diese Weise nicht erreicht. 308 Während die Redaktoren der Völkerbundsatzung von Anfang an eine Organisation ohne echte Pflicht zum militärischen Beistand geplant hatten, waren die militärischen Mittel zur Friedenssicherung durch Zwang im System der Charta zumindest vorgesehen. Das Völkerbundssicherheitssystem war unvollständig, das Charta-System blieb un-
Vgl. statt aller Bowelt, United Nations Forces, 18. Bowelt, United Nations Forces, 13. Besonders zu erwähnen sind hier neben der schon genannten "Agenda for Peace": die Forderung des damaligen VN-Generalsekretärs Trygve Lie in seinem "Twenty-Year Program for Achieving Peace", abgedruckt in: American Foreign Policy 1950-1955, 164, nach einem "renewal of serious efforts to reach agreement on the armed forces to be made available under the Charter to the Security Council for the enforcement of its decisions", eine Forderung, die übrigens auch von der Generalversammlung in ihrer "Uniting for Peace"-Resolution 1950 aufgenommen und unterstützt wurde; die Generalversammlungs-Resolution 2734 (XXV) vom 16. Dezember 1970 "Declaration on the Strengthening ofinternational Security", G.A.O.R. Supp. No. 28, 22 ff., in der dem Sicherheitsrat empfohlen wird, den Abschluß von Abkommen nach Art. 43 zu erleichtern, "in order to fully develop its capacity for enforcement actions as proved for under chapter VII of the Charter" (vgl. op. para. 9). 308 Vgl. oben I. Teil C. I. 305 306 30?
C. Das Sicherheitssystern der Charta der Vereinten Nationen
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vollständig. 309 Das Resultat ist in beiden Fällen das gleiche: ein System mit unvollkommen-abstrakter Bündnispflicht, eine Organisation "ohne Zähne".310 c) Die mangelnde Verpflichtung des Sicherheitsrats zum Eingreifen bei Vorliegen des casus foederis Eine weitere, im Schrifttum oft kaum beachtete Schwäche des Sicherheitssystems der Charta ist die mangelnde rechtliche Verpflichtung des Sicherheitsrats zum Eingreifen bei Vorliegen des casus foederis. Dabei spielen vor allen die Unbestimmtheit der drei Tatbestandsalternativen des Art. 39 und die damit verbundene Abstraktheit der Beistandsverpflichtung des Sicherheitsrats gegenüber dem Aggressionsopfer eine Rolle. Art. 39 umschreibt mit den drei Begriffen Angriffshandlung, Friedensbruch und Friedensbedrohung den Anwendungsbereich des Art. 39 und damit auch das Vorliegen des casus foederis, ohne daß diese Begriffe in der Charta näher definiert würden. Es ist im Schrifttum umstritten, ob sich anhand der Praxis des Sicherheitsrats eine gen aue Bestimmung der drei Tatbestandsalternativen des Art. 39 vornehmen läßt oder genauer, ob eine solche Unterscheidung angesichts der für alle drei Fälle gleichen Rechtsfolgen überhaupt sinnvoll ist. 311 Ohne späteren Ausführungen über die Entwicklung der drei Tatbestandsalternativen vorzugreifen, läßt sich doch schon an dieser Stelle festhalten, daß auch die Praxis des Sicherheitsrats nicht für klare Konturen der drei vagen Begriffe der Angriffshandlung, des Friedensbruchs und der Friedensbedrohung gesorgt hat. Treffend hat deshalb ein langjähriger Beobachter der Praxis des Sicherheitsrats festgestellt, es stehe völlig im Belieben des Sicherheitsrats, konkret festzustellen, welcher Tatbestand einen Friedensbruch oder einen Angriff darstellt und welcher Staat sich dieser Handlungen schuldig gemacht habe 3l2 , während ein britischer Völkerrechtler lakonisch konstatierte: "A threat to the peace is whatever the Security Council says is a threat to the peace."313 309 So auch Virally, L'organisation mondiale, 470: "La pierre de falte n'ayant pas ete apportee, tout I'edifice etait condamne ä s'effondrer." 310 Es bedarfkaum der erneuten Erwähnung, daß ein Sicherheitssystem ohne Pflicht zum militärischen Beistand kein echtes System der kollektiven Sicherheit ist, vgl. dazu oben 1. Teil A. VII.; wie hier Dinstein, War, 278; Menk, Gewalt filr den Frieden, 40; Claude, UN and Collective Security, 116: ,,[T]he key word is system, wh ich implies a general assurance that collective measures will operate against all aggressors and on behalf of all victims of aggression, not a vague possibility that collective action may be organized ad hoc when appropiate villains and heroes are in conflict." 311 Dinstein, War, 283 etwa lehnt eine solche Unterscheidung ab: "In pragmatic terms, as long as the authority of the Council to act in a given context is unassailable under the Charter, it is of little consequence whether one stamp or the other is affixed to the measures taken." Anders etwa Cohen Jonathan, in: CotiPellet, Charte, Art. 39, 655 ff. 312 Bindschedler, Grundfragen, 73. 313 Akehurst, International Law, 219; ebenso deutlich Dinstein, War, 282 und Tomuschat, Hague Lecture, 38, die von "carte blanche" (Dinstein) bzw. "bi anket power" (Tomuschat) fur den Sicherheitsrat sprechen.
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I. Teil: Die Grundlagen des VN-Sicherheitsmechanismus
Der durch die Unbestimmtheit der Begriffe eröffnete weite Ermessensspielraum ist nicht nur wegen möglicher Kompetenzüberschreitungen durch den Sicherheitsrat bedenklich, sondern birgt auch die Gefahr, daß der Sicherheitsrat trotz Vorliegens der Voraussetzungen keine Zwangsmaßnahmen ergreift. Zwar spricht der Wortlaut des Art. 39 daftlr, daß der Sicherheitsrat verpflichtet ist, im Falle des Vorliegens eines der drei Tatbestände eine Feststellung zu treffen und entweder eine Empfehlung abzugeben oder einen Beschluß über Maßnahmen nach Art. 41 oder 42 zu treffen. 314 Die Regelung des Art. 39 eröffnet dem Sicherheitsrat jedoch zwei Möglichkeiten, sich dieser Pflicht zu entziehen: Zum einen ermöglicht der weite Ermessensspielraum dem Sicherheitsrat, schon auf Tatbestandsebene die Feststellung generell zu vermeiden. In einem solchen Fall besitzt der einzelne, von einer Aggression betroffene Staat keine Möglichkeit, seinen an sich vorhandenen Anspruch auf Einschreiten des Sicherheitsrats durchzusetzen. Die Charta kennt keine Überprüfung des Ermessensspielraums durch die Judikative des IGH, geschweige denn ein der Untätigkeitsklage im innerstaatlichen Verwaltungsrecht vergleichbares Rechtsinstitut, mit dem der Mitgliedsstaat seinen Anspruch durchsetzen könnte. Zum anderen hat der Sicherheitsrat aber auch die Möglichkeit, das Vorliegen einer der Tatbestandsalternativen des Art. 39 festzustellen, ohne dann jedoch Empfehlungen oder Maßnahmen gemäß Art. 392. Hs. zu beschließen. 31S In der Literatur findet die Frage, ob den Sicherheitsrat bei Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen des Art. 39 eine Rechtspflicht zum Eingreifen trifft, allerdings entweder überhaupt keine Erwähnung 316, oder die Entscheidung wird unter Hinweis auf den dem Sicherheitsrat eingeräumten weiten Ermessensspielraum als "grundsätzlich politischer Natur" bezeichnet und damit jeder juristischen Einordnung entzogen. 3I7 Angesichts der Tatsache, daß der Ermessensspielraum des Sicherheitsrats bei der Feststellung nach Art. 39 praktisch unbegrenzt ist, erscheint die Frage, ob der Sicherheitsrat einschreiten muß oder nicht, zugegebenermaßen zunächst rein akademischer Natur. Für die Frage, ob die Charta 314 Besonders deutlich wird dies im englischen Text, abgedruckt in U.N.C.1.0. XV, 343: "The Security Council shall determine the existence of any threat to the peace, breach ofthe peace, or act of aggression and shall make recommendations, or decide what measures shall be taken in accordance with Articles 41 and 42, to maintain or restore international peace and security." (Hervorhebung v. Verf.); wie hier auch Dinstein, War, 287; Dahm, Völkerrecht 11, 389; Goodrich/Hambro/Simons, Charter, 293. 315 Als Beispiel aus der Sicherheitsratspraxis sei hier die Sicherheitsratsresolution 502 (1982) vom 3. April 1982 zitiert, wo der Sicherheitsrat vor der Ergreifung von Zwangsmaßnahmen zurückschreckte, obwohl er das Vorliegen eines Friedensbruchs zuvor ausdrücklich festgestellt hatte. 316 Vgl. etwa Frowein, in: Simma (Hrsg.), ChVN, Art. 39; Jimenez de Arechaga, Derecho Constitucional, 371 ff. 317 In diesem Sinne vor allem Cohen Jonathan, in: CotlPellet (Hrsg.), Charte, Art. 39, 648: "Cette lormule tres large recouvre un imperatif essentiellement politique et ne fait mention ni de lajustice, ni du droit international."
C. Das Sicherheitssystem der Charta der Vereinten Nationen
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die Effektivitätsanforderungen eines echten kollektiven Sicherheitssystems erfüllt, ist sie jedoch sehr wohl von Bedeutung, denn sie entscheidet letztlich darüber, ob eine echte Bündnispflicht besteht. 318 Hier zeigt sich deutlich die Inkonsequenz jener Meinung in der Literatur, die zwar die Pflicht eines jeden Mitglieds, sich gegen den Aggressor zu wenden, als Voraussetzung für ein echtes System der kollektiven Sicherheit anerkennt, jedoch mit der zentralen Lenkung der gegen den Aggressor gerichteten Abwehrmaßnahmen diese Forderung bereits erfüllt sieht. 319 Dabei übersieht sie jedoch völlig, daß es für das Bestehen einer echten Bündnispflicht in einem zentralisierten System der kollektiven Sicherheit nicht ausreicht, daß die Mitglieder eines solchen Systems gegenüber dem Zentralorgan zur Teilnahme an militärischen Zwangsmaßnahmen gegen einen Aggressor verpflichtet werden können, sondern daß zusätzlich auch das Zentralorgan gegenüber dem Opfer der Aggression eine Verpflichtung zur Initiierung einer kollektiven Beistandsaktion treffen muß. Wie oben bereits angesprochen, darf deshalb in einem zentralisierten System der kollektiven Sicherheit dem mit Determination und Autorisierung betrauten Zentralorgan kein zu großer Ermessenspielraum eingeräumt werdenYo Genau dies ist jedoch bei Art. 39 der Fall: Der Sicherheitsrat hat einen nahezu unbegrenzten Entscheidungsspielraum und kann seine Entscheidungen nicht unparteiisch feillen, weil er mit Vertretern der Mitgliedsstaaten besetzt ist. Die Regelung des Art. 39 erfüllt somit nicht die Voraussetzungen, die im Rahmen eines echten kollektiven Sicherheitssystems an die Definition des casus foederis und die Statuierung des Beistandspflicht gestellt werden müssen. 321 3. Die mangelnde Legitimität des Charta-Systems Weit weniger Beachtung als die Problematik mangelnder Effektivität hat in der wissenschaftlichen Diskussion bisher die Frage der mangelnden Legitimität des Charta-Sicherheitssystems gefunden. 322 Dabei wird gerade das jedem kollektiven Sanktionssystem immanente Legitimitätsproblem durch die Regelungen in Kapitel VII noch verstärkt.
Vgl. dazu oben I. Teil A. VII. Vgl. GordenkeriWeiss, Whither Collective Security, 215; Kimminich, Sicherheit und Zusammenarbeit,73. 320 Vgl. dazu oben I. Teil A. V. 4. 321 Ebd. 322 RandelzhoJer, Kriegsverhütung durch Völkerrecht, 764; zwar hat sich die Völkerrechtswissenschaft seit Ende des Kalten Krieges intensiver mit dem Problem beschäftigt, ohne jedoch auf die speziellen Probleme des Sicherheitssystems der Charta einzugehen, vgl. etwa Franck, Legitimacy among Nations; einzig David Caron hat sich intensiv mit dem Problem der Legitimität der kollektiven Autorität des Sicherheitsrats beschäftigt, sich dabei jedoch weitgehend auf verfahrensrechtliche Aspekte der Legitimität beschränkt, vgl. Caron, Legitimacy, 552 ff. 318
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1. Teil: Die Grundlagen des VN-Sicherheitsmechanismus
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Bereits einleitend wurde darauf hingewiesen, daß die Legitimität kollektiver Zwangsaktionen auf internationaler Ebene eine größere Rolle spielt als in der innerstaatlichen Rechtsordnung. Wie bereits dargestellt, ist die Unterscheidung zwischen Recht und Unrecht auf internationaler Ebene aufgrund der größeren Notwendigkeit zur Berücksichtigung der Besonderheiten des Einzelfalls wegen des durch den politischen Charakter des Völkerrechts bedingten, oft vagen Inhalts seiner Regelungen schwieriger. Kollektive Zwangsmaßnahmen sind deshalb nur schwer als reiner Rechtsvollzug zu qualifizieren. Wegen der starken Beimischung an politischem Gehalt sind sie regelmäßig der Gefahr ausgesetzt, nicht als eine Aktion der gesamten Völkergemeinschaft zu erscheinen, sondern als die einer Mehrheit gegen eine Minderheit, mit der zumindest auch individuelle nationale Interessen verfolgt werden. 323 Diese grundsätzlich bei jedem System der kollektiven Sicherheit auftretende Problematik kann, wenn überhaupt, nur durch die Schaffung eines von den Einzelstaaten weitgehend unabhängigen "pouvoir neutre" gelöst werden, der anhand genau vorgegebener rechtlicher Kriterien unparteiisch und objektiv über die Einleitung solcher Maßnahmen entscheidet. 324 Zur Schließung dieser "Legitimitätslücke" muß die Zentralinstanz bei der Entscheidung über kollektive Zwangsmaßnahmen an präzise rechtliche Vorgaben gebunden sein, deren Einhaltung überprütbar sein muß.325 Genau diese Anforderungen vermag der Sanktionsmechanismus der Charta nicht zu erfüllen: Statt dessen vergrößert er die ohnehin vorhandene Legitimitätslücke noch, indem er den fünf ständigen Mitgliedern, die selbst als Adressaten von Zwangsmaßnahmen nicht in Betracht kommen, bei der Entscheidung über die Sanktionen besonderes Gewicht einräumt. Zwar ist es den fünf Großmächten verwehrt, im Alleingang Zwangsmaßnahmen zu beschließen. 326 Die zur Erreichung des in Art. 27 Abs. 3 vorgesehenen Quorums nötige Zustimmung von vier weiteren Sicherheitsratsmitgliedern ist in der Regel wegen des Einflusses der fünf Großmächte leicht zu erreichen. Weil zudem jede einzelne der fünf Großmächte die Einleitung von Zwangsmaßnahmen verhindern kann, werden die kollektiven Zwangsmaßnahmen im Sanktionssystem der Charta in hohem Maße zu einem Instrument in den Händen der Mächte, die ihm nicht unterliegen. 327
323 324 325 326
Vgl. dazu oben I. Teil A. V. 2. Vgl. dazu oben I. Teil A. V. 4. Vgl. dazu oben 1. Teil A. V. 5. Eine Ausnahme stellt insoweit die oben 1. Teil C. 11. 2. bereits zitierte Regelung des Art. 106. Auf die Bedeutung von Art. 106 wird unten 2. Teil B. 11. noch näher einzugehen sein; schon an dieser Stelle läßt sich feststellen, daß die Vorschrift bislang überhaupt nicht angewandt wurde, vgl. Geiger, in: Simma (Hrsg.), ChVN, Art. 106 Rn. 10 ff. 327 Randelzhojer, Kriegsverhütung durch Völkerrecht, 765.
C. Das Sicherheitssystem der Charta der Vereinten Nationen
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Die mangelhafte Legitimationswirkung des Sanktionsmechanismus der Charta wird noch verstärkt durch die Unbestimmtheit der materiellrechtlichen Grundlagen, aufgrund derer die kollektiven Sanktionen beschlossen werden können. Zwar sind die Mitglieder des Sicherheitsrats in ihrer Entscheidung über das Vorliegen der Voraussetzungen des Art. 39 nicht völlig frei, doch räumt die Unbestimmtheit dieser Begriffe ihnen einen großen Spielraum politischen Ermessens ein. 328 Die mit der Weite dieser Begriffe einhergehende Unsicherheit wird noch dadurch verstärkt, daß der Tatbestand der Friedensbedrohung ganz offensichtlich nicht nur bei Vorliegen einer Völkerrechtsverletzung erfüllt ist, sondern auch Situationen erfaßt, die nach allgemeinem Völkerrecht durchaus rechtmäßig sind. 329 Aus der Zielsetzung von Kapitel VII, nicht nur für die Einhaltung des Völkerrechts zu sorgen, sondern darüber hinaus den Weltfrieden und die internationale Sicherheit zu gewährleisten und wiederherzustellen, folgt auf diese Weise, daß der Sicherheitsrat Zwang auch zur Vornahme oder Unterlassung von Handlungen einsetzen kann, deren Unterlassung bzw. Vornahme keine Rechtsverletzung darstellt. 330 Da die Charta es darüber hinaus verabsäumt hat, eine objektive Instanz, wie etwa den IGH, mit der Überprüfung der zutreffenden Anwendung der Begriffe "Friedensbedrohung" , "Friedensbruch" und "Friedensbedrohung" zu betrauen, kann der Sicherheitsrat mit dem Hinweis auf eine angebliche Friedensbedrohung die Mitgliedsstaaten zu etwas zwingen, wozu sie nach materiellem Völkerrecht nicht verpflichtet sind. 331 Der Sicherheitsrat verfügt also nach der Charta der Vereinten Nationen über (quasi-)legislatorische Befugnisse, ohne gleichzeitig einer adäquaten demokratischen Kontrolle unterworfen zu sein. 332 Die Regelungen des Kapitels VII gehen also über ein reines Sanktionssystem weit hinaus und sind deshalb zusätzlichen Legitimitätsproblemen ausgesetzt. IV. Zusammenfassung
Im Vergleich zur Satzung des Völkerbundes stellt die Charta der Vereinten Nationen einen sehr viel ehrgeizigeren Versuch der Kriegsverhütung durch Schaffung einer Weltfriedensorganisation dar. Statt eines losen Staatenbundes wurde eine Weltorganisation mit organischer Struktur geschaffen, deren Exekutivorgan zur Erhaltung des Weltfriedens mit weitreichenden Befugnissen ausgestatRandelzhoJer, Kriegsverhütung durch Völkerrecht, 765. Gowlland-Debbas, Security Council Enforcement Action, 61. RandelzhoJer, Kriegsverhütung durch Völkerrecht, 765. 331 RandelzhoJer, Kriegsverhütung durch Völkerrecht, 766 bezeichnet diese Machtflille des Sicherheitsrats zutreffend als beunruhigenden Aspekt der Charta der Vereinten Nationen, der zeige, daß die Einigkeit zwischen den flInf Großmächten "nicht in jedem Fall wünschenswert" sei. 332 Vgl. die Diskussion dieses Problems im Zusammenhang mit den Resolutionen 731 (1992) und 748 (1992) unten 2. Teil C. 11. 2. 328 329 330
1. Teil: Die Grundlagen des VN-Sicherheitsmechanismus
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tet wurde. Die individuelle Verpflichtung der Bundesmitglieder zu einer bestimmten Handlung unter der Völkerbundsatzung wurde ersetzt durch diti Verpflichtung der Mitgliedsstaaten, die Beschlüsse eines Zentralgremiums anzunehmen und auszuführen, um auf diese Weise ein schnelles und wirksames Handeln der neuen Weltorganisation zu gewährleisten. Vom Standpunkt der politischen Organisation stellt diese Neuerung sicherlich einen ersten und notwendigen Schritt zur Verwirklichung eines funktionierendes Systems der kollektiven Sicherheit dar. Dieser Schritt von der kooperativen Struktur des Völkerbundes hin zur organischen Struktur der Vereinten Nationen war jedoch nur um den Preis von Zugeständnissen an die Großmächte zu verwirklichen. 333 Diese Zugeständnisse, vor allem das Vetorecht, machten allerdings die durch die Zentralisierung erreichten Effektivitätsgewinne nicht nur weitgehend wieder zunichte, sondern sorgten sogar dafür, daß ein einzelnes Mitglied der Völkergemeinschaft durch sein negatives Votum eine Gemeinschaftsaktion aller anderen Nationen verhindern kann, was im System der Völkerbundsatzung nicht möglich gewesen war. Gleichzeitig setzt die Vormachtstellung der ständigen Sicherheitsratsmitglieder im Sanktionsverfahren das gesamte System dem Vorwurf der Illegitimität aus. Der kollektive Sanktionsmechanismus gerät durch den überproportionalen Einfluß der Großmächte beständig in den Verdacht, ein dem Mißbrauch offenstehendes Instrument in deren Händen zu sein. Diese Kombination aus Effektivitäts- und Legitimitätsmängeln - und nicht allein die frühzeitige Spaltung der Mitgliedsstaaten in zwei große, miteinander konkurrierende Machtblöcke führte letztlich zur völligen Paralysierung des in Kapitel VII vorgesehenen Sicherheitsmechanismus. Allerdings ist zu bedenken, daß ein System der Friedenserhaltung durch Zwang nur dann praktikabel ist, wenn die großen Militärmächte sich daran beteiligen und keine dieser Mächte sich den Maßnahmen widersetzt. So gesehen, ist das in der Charta vorgesehene Sicherheitssystem durchaus realistisch, weil es nur für den Fall des Konsenses zwischen den ständigen Mitgliedern überhaupt funktionieren kann. 334 Dieser realistische Ansatz führte allerdings auch zu seinem schnellen Scheitern, weil die grundlegende Annahme, daß diese Art von Konsens möglich sei, falsch war, wie sich schon wenige Jahre nach Gründung der Vereinten Nationen herausstellte, als der Kalte Krieg ausbrach. 335 In der rund 50jährigen Geschichte der Vereinten Nationen gibt es nur zwei ernsthafte Versuche, daß ursprüngliche System der Friedenssicherung durch Zwang durch Änderungen zu erhalten bzw. umzusetzen. Diese beiden Versuche, die "Uniting-for-Peace"-Resolution von 1950 und die 1992 von General333 334 335
Brierly, Covenant and Charter, 89. So zutreffend Bothe, in: Simma (Hrsg.), ChVN, nach Art. 38 Rn. 2. Bothe, in: Simma (Hrsg.), ChVN, nach Art. 38 Rn. 2.
D. Die "Uniting-for-Peace"-Resolution als Alternativkonzept
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sekretär Boutros-Ghali vorgelegte Agenda for Peace sollen in den folgenden Kapiteln dargestellt werden.
D. Die "Uniting-for-Peace"-Resolution als Alternativkonzept Die Verabschiedung der Resolution 377 (V) durch die Generalversammlung am 3. November 1950 wurde von vielen Beobachtern als ein Meilenstein in der Entwicklung der Charta der Vereinten Nationen bezeichnet, die flir eine "Kehrtwendung" in Richtung auf eine effektive Bekämpfung der Aggression durch die Vereinten Nationen sorgen sollte. 336 Der Enthusiasmus, mit dem die Verabschiedung der drei unter dem gemeinsamen Oberbegriff "Uniting-forPeace" zusammengefaßten Resolutionen337 vor allem im westlichen Lager aufgenommen wurde, lassen sich nur vor dem Hintergrund des ein halbes Jahr vorher begonnenen Koreakriegs vollständig verstehen. I. Die Vorgeschichte
Nachdem Nordkorea am 25. Juni 1950 die Republik Korea angegriffen hatte, bezeichnete der Sicherheitsrat diese Invasion noch am selben Tag als Friedensbruch und verlangte die umgehende Einstellung der Kampfhandlungen sowie den sofortigen Rückzug dernordkoreanischen Truppen hinter den 38. Breitengrad. 338 Da Nordkorea dieser Aufforderung nicht nachkam, empfahl der Sicherheitsrat den Mitgliedsstaaten zwei Tage später, ,,[to] furnish such assistance to the Republic of Korea as may be necessary to repel the armed attack and restore international peace and security in the area". 339 15 Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen entschlossen sich daraufhin, nationale Kontingente zur militärischen Unterstützung nach Südkorea zu entsenden. 340 In einer weiteren Resolution vom 7. Juli 1950 empfahl der Sicherheitsrat allen Mitgliedsstaaten, die zur Verfligung gestellten Truppen einem gemeinsamen Oberkommando unter amerikanischer Führung zu unterstellen. Auch ermächtigte der Sicherheitsrat den gemeinsamen Oberbefehlshaber, die Flagge der Vereinten Nationen zu verwenden. 341 336 Vgl. den bei Franck, Nation against Nation, 41, zitierten Artikel aus der New York Times vom 20. Oktober 1950, 26. 337 Nach ihrem geistigen Vater auch "Acheson-Plan" bzw. "Acheson-Resolution" genannt, U.N. G.A.O.R. 5th session, Supp. (No. 20), 10 ff., U.N. Doc. AlI775 (1950); abgedruckt in: AJIL Bd. 45 (1951), Suppl., I; deutsche Übersetzung bei Berber, Dokumentensammlung I, 63 ff. 338 S.C. Res. 82 (1950), 25 June 1950, preamb .. para. 4 bzw. op. para I und 2. 339 S.C. Res. 83 (1950),27 June 1950, op. para. I. 340 Vgl. Bindschedler-Robert, Korea, 202. 341 S.C. Res. 84 (1950), 7 July 1950, op. para. 3, 5. 6 Bauer
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I. Teil: Die Grundlagen des VN-Sicherheitsmechanismus
Obwohl die in Südkorea eingesetzten Truppen offiziell unter der Flagge der Vereinten Nationen kämpften, handelte es sich bei den Aktionen offensichtlich nicht um militärische Zwangsmaßnahmen LS.d. Artt. 42 und 43 der Charta: Die von ihren Heimatstaaten ausgerüsteten und bezahlten Truppen wurden nicht dem Sicherheitsrat unterstellt, sondern einem gemeinsamen Oberbefehl unter amerikanischer Führung. Dieser traf allein alle Entscheidungen über den Ablauf der militärischen Operationen. Der Sicherheitsrat war ihm gegenüber weder weisungsbefugt noch konnte er den Ablauf der Aktion wirksam kontrollieren. 342 Die Vereinigten Staaten waren lediglich gehalten, dem Sicherheitsrat regelmäßig über den Ablauf der Aktion Bericht zu erstatten. 343 Auch wenn nicht zuletzt aufgrund dieser in der Charta nicht vorgesehenen Ermächtigungskonstruktion die rechtliche Basis für den Einsatz der im Namen der Vereinten Nationen auftretenden Truppen bis heute umstritten ist344, herrscht doch weitgehend Einigkeit darüber, daß der Sicherheitsrat mit der Verabschiedung der oben zitierten drei Resolutionen erstmals kollektive Gegenmaßnahmen als Reaktion auf eine Aggression gegen ein Mitgliedsland eingeleitet hatte. 345 Zu einem solch entschiedenen Vorgehen war der Sicherheitsrat nur deshalb imstande gewesen, weil die Sowjetunion aus Protest gegen die Nichtanerkennung des Vertretungsanspruchs der rotchinesischen Regierung in den Vereinten Nationen nach der Machtübernahme auf dem gesamten chinesischen Festland schon seit Beginn des Jahres nicht mehr an der Sitzungen des Rates teilnahm und daher kein Veto einlegen konnte. 346 Als der Vertreter der UdSSR am I. August in den Sicherheitsrat zurückkehrte und sogleich turnusgemäß den Vorsitz des Gremiums übernahm, war klar, daß der Sicherheitsrat auf absehbare Zeit nicht in der Lage sein würde, seine Verantwortung für die Erhaltung der internationalen Sicherheit zu erfullen. 347 Obwohl die Reaktion der Vereinten Nationen auf die nordkoreanische Aggression von Anfang an rechtlich umstritten war, hatte zumindest die erste Phase des Koreakriegs unter den teilnehmenden Staaten und deren Sympathisanten eine Atmosphäre entstehen lassen, die ein Beobachter als "erhebendes Gefuhl
Seyersted, UN Forces, 35-36. Vgl. die Aufforderung in S.C. Res. 84 (1950), 7 July 1950, op. para. 6. 344 Vgl. dazu die Ausflihrungen unten 2. Teil B. 11. 345 Zur genauen rechtlichen Einordnung der beiden Resolutionen vgl. unten 2. Teil B. 11.; einen Überblick über den Konflikt in Korea gibt Bindschedler-Robert, Korea, 202-204; ausführliche Dokumentation findet sich bei Bowett, UN Forces, 29-60 und Higgins, UN Peacekeeping 11, 151 tI 346 Vgl. zum Ganzen Verdross/Simma, Völkerrecht, 150-151; zu der im Rahmen dieser Arbeit nicht näher zu erörternden Frage, ob diese Beschlüsse in Abwesenheit des ständigen Mitglieds Sowjetunion rechtmäßig waren vgl. Schaefer, YN-Sicherheitsmechanismus, 127 ff., sowie für die die Rechtmäßigkeit bejahende h.M. Simma/Brunner, in: Simma (Hrsg.), ChVN, Art. 27 Rn. 68 tT. 347 Rosalyn Higgins, UN Peacekeeping I, 164, berichtet, daß allein in der Zeit vom I. August bis zum 7. September drei Resolutionsentwürfe zum Konflikt in Korea am Widerstand des jeweils anderen Lagers scheiterten. 342
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D. Die "Uniting-for-Peace"-Resolution als Altemativkonzept
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der Teilnahme an einer beispiellosen Anstrengung zur Umsetzung des Konzepts der kollektiven Sicherheit" bezeichnet hat. 348 Unter Ausnützung dieser Stimmung und gestützt auf die damals noch bestehende solide Stimmenmehrheit der westlichen Staaten in der Generalversammlung brachten die Vereinigten Staaten, unterstützt durch den damaligen Generalsekretär Trygve Lie, die drei Resolutionen ein, die mit einer Mehrheit von 52 zu fünf Stimmen bei zwei Enthaltungen verabschiedet wurden. Nach dem erklärten Willen ihrer Verfasser sollte sie dafür sorgen, "daß der Koreakrieg kein Einzelfall bliebe ".349 11. Die Regelungen im einzelnen
Wie oben schon erwähnt, besteht die "Uniting for Peace"-Resolution aus drei Einzelentschließungen (A-C), deren wichtigste Resolution A ist. 350 Diese wiederum setzt sich zusammen aus einer umfangreichen Präambel und den fünf Hauptabschnitten Abis E.351 Die Präambel unterstreicht, daß dem Sicherheitsrat die Hauptverantwortung für die Erhaltung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit obliegt. Gleichzeitig erinnert sie jedoch auch an die Pflicht der ständigen Ratsmitglieder, Einigkeit herzustellen und ihr Vetorecht zurückhaltend zu gebrauchen. Zudem wird dort bestätigt, daß die Initiative zur Aushandlung der in Art. 43 vorgesehenen Abkommen über die dem Sicherheitsrat zur Verfügung zu stellenden Militärkontingente dem Sicherheitsrat zustehe. Dann jedoch wird darauf verwiesen, daß ein Versagen des Sicherheitsrats in dem Bemühen, seine Aufgaben zu erfüllen, die Mitgliedsstaaten nicht ihrer Verpflichtung zur Wahrung des Weltfriedens enthebe; insbesondere könne ein solches Scheitern die Generalversammlung nicht ihrer Rechte und Pflichten aus der Charta zur Wahrung der internationalen Sicherheit berauben. 352
Vgl. Claude, Management of Power, 231 (Übersetzung d. Verf.). So Franck, Nation againstNation, 39 (Übersetzung d. Verf.); ähnlich auch Verdross/Simma, Völkerrecht, 150. 350 Resolution Bund C beschränken sich darauf, dem Sicherheitsrat die Ergreifung von Maßnahmen zur möglichst schnellen Umsetzung bzw. Anwendung von Artt. 43, 45, 46 und 47 zu empfehlen bzw. den schon in der Res. 190 (111) vom 14. Dezember 1948 an die ständigen Sicherheitsratsmitglieder gerichteten Appell zur umgehenden Aufnahme von Konsultationen über sämtliche den Weltfrieden bedrohenden Probleme mit allen betroffenen Staaten zu erneuern, vgl. Text der Resolutionen Bund C in: AJIL Bd. 45 (1951), Suppl., 5 ff. 351 Vgl. die deutsche Übersetzung bei Berber, Dokumentensammlung I, 63 ff. 352 Diese Feststellung ist im Schrifttum zu Recht als unzutreffend kritisiert worden: Die Charta enthält keine unmittelbare, d.h. von den Maßnahmen des Sicherheitsrats unabhängige Pflicht des einzelnen Mitgliedsstaats zur Erhaltung und Wiederherstellung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit, vgl. Kelsen, UN Law, 970-971; Stone, Legal Controls, 271 (Fn. 24). 348
349
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1. Teil: Die Grundlagen des VN-Sicherheitsmechanismus
Abschnitt A ist das operative Kernstück der Resolution, weil in ihm die Befugnisse der Generalversammlung im System der Friedenssicherung neu definiert werden. 353 Dort heißt es wörtlich: "Falls der Sicherheitsrat mangels Einstimmigkeit seiner ständigen Mitglieder es in einem Fall einer Friedensbedrohung, eines Friedensbruchs oder einer Angriffshandlung unterIäßt, seine Hauptverantwortung flir die Aufrechterhaltung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit auszuüben, (soll) die Generalversammlung die Angelegenheit unverzüglich zu dem Zweck beraten, den Mitgliedsstaaten geeignete Kollektivmaßnahmen zu empfehlen, die im Falle des Friedensbruchs oder einer Angriffshandlung auch Empfehlungen flir den Einsatz bewaffneter Kräfte umfassen, wenn dies notwendig ist, um den Weltfrieden und die internationale Sicherheit aufrechtzuerhalten oder wiederherzustellen. "354 Bevor die Generalversammlung überhaupt tätig werden kann, müssen also vier Voraussetzungen kumulativ erfullt sein: Erstens muß der Sicherheitsrat es unterlassen haben, seine Hauptverantwortung fur die Sicherung des internationalen Friedens wahrzunehmen. Zweitens muß dieses Versäumnis des Sicherheitsrats gerade durch mangelnde Einstimmigkeit unter den ständigen Mitgliedern entstanden sein. Drittens muß eine Bedrohung des Friedens, ein Friedensbruch oder eine Angriffshandlung vorliegen. 355 Schließlich muß viertens die fragliche Angelegenheit im Sicherheitsrat zumindest diskutiert worden sein, da sonst nicht von einem Unterlassen des Sicherheitsrats gesprochen werden kann. 356 Gemäß Abschnitt A hat der Sicherheitsrat außerdem die Pflicht, bei Vorliegen einer Friedensbedrohung, eines Friedensbruchs oder einer Angriffshandlung innerhalb von 24 Stunden eine Notstandssondertagung der Generalversammlung einzuberufen, wenn sieben, bzw. nach der Erweiterung des Sicherheitsrats, neun Mitglieder oder die Mehrheit der Mitgliedsstaaten es verlangen. Ein solcher Beschluß kann im Sicherheitsrat nicht durch das Veto eines ständigen Mitglieds verhindert werden, da es sich um eine verfahrensrechtliche Entscheidung i.S.d. Art. 27 Abs. 2 handelt. 357
353 Neuho/d, Internationale Konflikte, 117; B. No/te, Uniting for Peace, 951; Schäfer, VNSicherheitsmechanismus, 45, sieht darin gar "eine dramatische Neubestimmung des Verhältnisses von Rat und Versammlung im Bereich der konkreten Friedenssicherung"; a.A. Reicher, Uniting tor Peace, 48, der zu dem Schluß gelangt, die Resolution habe keine neuen Befugnisse der Generalversammlung geschaffen, sondern lediglich schon in der Charta vorhandene Kompetenzen "freigelegt" und auf ein festes Fundament gestellt; in diesem Sinne auch Hailbronner/K/ein, in: Simma (Hrsg.), ChVN, Art. 10 Rn. 33, die bemerken, die Befugnis zur Empfehlung von Zwangsmaßnahmen sei der Generalversammlung nicht erst durch die "Uniting for Peace"-Resolution verliehen worden, sondern sei implizit im Geist der Charta enthalten. 354 Übersetzung d. Verf., auf der Grundlage der bei Berber, Dokumentensammlung I, 64, abgedruckten Übersetzung. 355 Den Einsatz von Waffengewalt darf die Generalversammlung sogar nur im Falle des VorIiegens eines Friedensbruchs oder einer AngritTshandlung empfehlen, eine bloße Bedrohung des Friedens genügt also nicht. 356 Wie hier Reicher, Uniting for Peace, 9-17. 357 Kelsen, UN Law, 984; B. No/te, Uniting for Peace, 951.
D. Die "Uniting-for-Peace"-Resolution als AItemativkonzept
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Teil B der Resolution A setzte eine Friedensbeobachtungskommission ein, die Gefährdungen des Friedens frühzeitig melden sollte. Teil C empfahl den Mitgliedsstaaten, auf freiwilliger Basis dauernd Kontingente zum VN-Einsatz bereithalten, wobei sie auf Wunsch von einem Team von Militärexperten beraten werden sollten. Teil D etablierte einen Ausschuß fur kollektive Maßnahmen, das sog. "Collective Measures Committee", dessen Aufgabe es sein sollte, in Zusammenarbeit mit dem Generalsekretär und "geeigneten" Mitgliedsstaaten einen Bericht für Sicherheitsrat und Generalversammlung über Möglichkeiten zur effektiveren Gestaltung des VN-Sicherheitsmechanismus zu erarbeiten. In Teil E wird betont, daß ein dauerhafter Friede nur erreicht werden kann, wenn die Ziele und Grundsätze der Vereinten Nationen und die Entschließungen von VN-Organen von den Mitgliedsstaaten beachtet und umgesetzt würden, wobei der Respektierung der Menschenrechte eine besondere Bedeutung zukomme. 111. Die Vereinbarkeit der Resolution 377 A (V) mit der Charta
Bereits bei den Vorverhandlungen über die Entschließung im Ersten Ausschuß sowie während der Abschlußdebatte in der Generalversammlung traten gegensätzliche Ansichten darüber zutage, ob die der Generalversammlung durch die Entschließung zugeschriebenen Befugnisse mit den Bestimmungen der Charta vereinbar seien oder nicht. 358 Die Gegner der "Uniting-for-Peace"-Resolution standen und stehen auf dem Standpunkt, diese widerspreche dem Wortlaut wie auch der Struktur der Charta. 359 Dabei verweisen die Kritiker der Resolution vor allem auf den Wortlaut des Art. 11 Abs.2, der für den Fall, daß eine die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit betreffende Frage Maßnahmen (eng\. "actions") erfordert, vorsieht, daß die Generalversammlung diese Frage vor oder nach ihrer Erörterung an den Sicherheitsrat überweist. Nach Meinung der Resolutionsgegner umfaßt der Begriff der "Maßnahme" in Art. 11 Abs. 2 alle Maßnahmen des Sicherheitsrats gemäß Kapitel VII, so daß die Generalversammlung auch keine Empfehlungen auf diesem Gebiet verabschieden dürfe. 36O Weiterhin berufen sich die Kritiker der Resolution darauf, daß Art. 24 der Charta dem Sicherheitsrat ein Monopol bei der Erhaltung des Weltfriedens einräume. Das Grundkonzept des Charta-Sicherheitssystems verlange dabei das einstimmige Vorgehen der ständigen Mitglieder des Rates. 361 358 Für die Satzungsmäßigkeit sprachen sich neben den Initiatoren der Resolution (Großbritannien, USA, Frankreich, Kanada, Philippinen, Türkei und Uruguay) u.a. auch die Vertreter Australiens, Belgiens, Boliviens, Dänemarks, Griechenlands und Norwegens aus; ablehnend äußerten sich die Vertreter Polens, der CSSR und der UdSSR, vgl. dazu UNYbk. 1950, 183 ff. 359 Vgl. aus der umfangreichen älteren Literatur nur Kelsen, UN Law, 953 ff. und Castafieda, Legal Etlects, 81 ff., sowie aus dem neueren Schrifttum Menk, Gewalt für den Frieden, 117 ff.; Conforti, Nazioni Unite, 214 ff. 360 Vgl. Kelsen, UN Law, 962. 361 Kelsen, UN Law, 970 ff.
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I. Teil: Die Grundlagen des VN-Sicherheitsmechanismus
Für die Befürworter der "Uniting-for-Peace"-Resolution stellt diese keinen Verstoß gegen die Charta dar. 362 Allerdings gestehen sie ein, daß die Mehrheit der in San Francisco vertretenen Staaten, insbesondere die Großmächte, möglicherweise die mit der Resolution einhergehende Gewichtsverschiebung zugunsten der Generalversammlung auf dem Gebiet der Friedenssicherung ursprünglich nicht vorgesehen hatten. 363 Zur Begründung ihrer Auffassung verweisen sie zum einen darauf, daß nach Art. 24 Abs. 1 der Charta die Mitglieder der Vereinten Nationen dem Sicherheitsrat die Hauptverantwortung (eng!. "primary responsibility") fiir die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit übertragen hätten. Diese Formulierung zeige, daß die Charta auch eine sekundäre Verantwortung kenne, die logischerweise nur der Generalversammlung zustehen könne und die zur Anwendung komme, falls der Sicherheitsrat seine Aufgabe nicht erfiille. 364 Außerdem seien die der Generalversammlung in Art. 10 zugewiesenen Befugnisse 365 unter Berücksichtigung von Art. 11 Abs. 4 366 ausreichend weit gefaßt, um sich mit die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit betreffenden Angelegenheiten zu beschäftigen und entsprechende Empfehlungen abzugeben. Ihrer Meinung nach ist der Begriff der "Maßnahme" in Art. 11 Abs. 2 so auszulegen, daß er nur verbindliche Anordnungen des Sicherheitsrats nach Kapitel VII umfasse, was der Generalversammlung die Befugnis zur Empfehlung von Zwangsmaßnahmen offenlasse. 367 Nach dieser Meinung besteht der Unterschied in den Befugnissen zwischen dem nach Art. 24 primär verantwortlichen Sicherheitsrat und der subsidiär zuständigen Generalversammlung lediglich darin, daß nur der Sicherheitsrat die Mitgliedsstaaten zu Zwangsmaßnahmen verpflichten kann, während eine Durchführung der durch die Generalversammlung empfohlenen Maßnahmen auf gleichem Gebiet fiir die Mitglieder
362 Vgl. u.a. Andrassy, Uniting for Peace, 563 ff.; Jimenez de Arechaga, Derecho Constitucional, 197 ff.; PrößdorJ, Uniting for Peace, 32; Schaefer, VN-Sicherheitsmechanismus, 45 ff.; Reicher, Uniting for peace, 1 ff.; HailbronneriKlein, in: Simma (Hrsg.), ChVN, Art. 10 Rn. 19-35. 363 Schaefer, VN-Sicherheitsmechanismus, 50. 364 Vgl. etwa die Rede des amerikanischen Außenministers Dean Acheson vor der Generalversammlung am 20. September 1950, U.N. Doc. NPV. 279 (1950); ähnlich auch die Äußerungen des amerikanischen Delegierten und späteren Außenministers John Foster Dulles bei den Beratungen des Ersten Ausschusses, UN Doc. NC.1I354 (1950). 365 Art. 10 lautet: "Die Generalversammlung kann alle Fragen und Angelegenheiten erörtern, die in den Rahmen dieser Charta fallen oder Befugnisse und Aufgaben eines in dieser Charta vorgesehenen Organs betreffen; vorbehaltlich des Artikels 12 kann sie zu diesen Fragen und Angelegenheiten Empfehlungen an die Mitglieder der Vereinten Nationen oder den Sicherheitsrat oder an beide richten." Vgl. die deutsche Übersetzung bei Berber, Dokumentensammlung 1, 16. 366 Art. 11 Abs. 4 lautet: "Die in diesem Artikel aufgeführten Befugnisse der Generalversammlung schränken die allgemeine Tragweite des Artikels 10 nicht ein." Vgl. die deutsche Übersetzung bei Berber, Dokumentensammlung I, 17. 367 Vgl. Prößdorf, Uniting for Peace, 32; Delbrück, Sicherheitsrat und Generalversammlung, 92; HailbronneriKlein, in: Simma (Hrsg.), ChVN, Art. 10 Rn. 31.
D. Die "Uniting-for-Peace"-Resolution als Altemativkonzept
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nicht verbindlich ist. Ein Unterschied in den Befugnissen ergibt sich also nicht ratione materiae, sondern aus der Existenz einer Durchruhrungsverpflichtung für die Mitgliedsstaaten. 368 Schließlich verweisen die Befürworter der Resolution darauf, daß die Hauptverantwortung rur die Friedenssicherung dem Sicherheitsrat in der Erwartung übertragen wurde, dieser werde seine Funktionen effektiv errullen, indem er "wirksame Kollektivmaßnahmen"369 treffe. Für den Fall einer vetobedingten objektiven Unfähigkeit des Sicherheitsrats müsse dagegen zur Vermeidung einer Lähmung der Gesamtorganisation die Zuständigkeit an die Generalversammlung zurückfallen. 370 Nach zutreffender Ansicht sind bei der Diskussion der Rechtrnäßigkeit der "Uniting-for-Peace"-Resolution zwei Fragen zu unterscheiden: Zum einen ist zu klären, ob die Generalversammlung die Möglichkeit hat, den Mitgliedsstaaten Kollektivmaßnahmen unter Einbeziehung der Anwendung von Waffengewalt zu empfehlen, falls ein bewaffneter Angriff i.S.d. Art. 51 der Charta vorliegt. Zum anderen ist die Frage zu beantworten, ob der Generalversammlung das Recht zusteht, den Mitgliedsstaaten auf der Grundlage der "Uniting-forPeace"-Resolution mit rechtfertigender Wirkung Zwangsmaßnahmen zu empfehlen und dadurch eine zusätzliche, in der Charta nicht vorgesehene Ausnahme zum Gewaltverbot des Art. 2 Ziff. 4 zu schaffen. 371
1. Die Kompetenz zur Empfehlung ohne rechtfertigende Wirkung Eine Empfehlung der Generalversammlung an die Mitgliedsstaaten, gemeinsam von dem ihnen nach der Charta ohnehin zustehenden Recht zur kollektiven Selbstverteidigung Gebrauch zu machen, ist durchaus mit dem Grundkonzept des Sicherheitssystems der Charta vereinbar. 372 Für die Zulässigkeit einer solchen Empfehlung spricht schon, daß der Generalversammlung wohl nicht verwehrt sein kann, den Mitgliedsstaaten Maßnahmen zu empfehlen, die diesen einzeln ohnehin erlaubt sind. 373
368
Neuhold, Internationale Konfl ikte, 119.
369 So der Wortlaut des Art. I liff. I, der sich allerdings auf die gesamte Organisation bezieht,
vgl. die deutsche Übersetzung bei Berber, Ookumentensammlung I, 14. 370 In diesem Sinne äußerte sich etwa Dean Acheson in seiner oben bereits zitierten Rede vor der Generalversammlung am 20. September 1950, V.N. Ooc. AlPV. 279 (1950); aus dem Schrifttum vgl. Jimenez de Arechaga, Oerecho Constitucional, 197 ff.; Schaefer, VN-Sicherheitsmechanismus, 50-51. 371 Wie hier auch Kelsen, UN Law, 953f; Caslafzeda, Legal Effects, 85-86; Conforli, Nazioni Vnite, 211-217; Menk, Gewalt fllr den Frieden, 120. 372 Wie hier VerdrosslSimma, Völkerrecht, 151 und 292; Stone, Legal Controls, 292-294. 373 Vgl. die Feststellung von Stone, Legal Controls, 272-273: "Even though Resolution A does not expressly invoke Article 51, it may still be weil based on Article 51 if it does no more that what that Article any case permits. And it is here submitted that there is nothing of a legally operative nature [... ] in Resolution A, which is not legally justified in terms of self-defence of
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I. Teil: Die Grundlagen des VN-Sicherheitsmechanismus
Die Ablehnung eines solchen Empfehlungsrechts der Generalversammlung mit dem Argument, es fUhre die Qualität des Friedenssicherungsmechanismus auf das Niveau des Völkerbundes zurück, in dem die Mitglieder autonom über das Vorliegen des casus foederis und die Anwendung der Sanktionen zu entscheiden hatten, erscheint demgegenüber wenig stichhaltig. Diese Meinung übersieht die wichtige Funktion, die Art. 51 im Rahmen des VN-Sicherheitssystems spielt, und läßt damit einen wichtigen Aspekt des Sicherheitskonzepts der Charta zugunsten einer rein zentralistischen Auffassung außer Betracht. 374 Auch ist zu bedenken, daß eine solche Empfehlung der Generalversammlung wenn schon keine rechtliche, so doch eine wichtige praktische Bedeutung erlangen kann. 37S Diese liegt vor allem darin, daß sie einem Vorgehen in Ausübung des kollektiven Selbstverteidigungsrechts, wenn schon keine juristische Rechtfertigung, so doch zumindest politische Legitimität verleiht. 376 2. Die Kompetenz zur Empfehlung mit rechtfertigender Wirkung Daß die "Uniting-for-Peace"-Resolution der Generalversammlung nach ihrer ursprünglichen Konzeption durchaus eine Kompetenz zur rechtfertigenden Empfehlung verschaffen sollte, läßt sich ihrem Wortlaut an zwei Stellen entnehmen. Einmal kann nach dem oben zitierten Abschnitt A die Generalversammlung im Fall des Friedensbruchs oder einer Angriffthandlung Empfehlungen fUr den Gebrauch bewaffneter Kräfte geben. Damit sieht die Resolution eine Empfehlungskompetenz auch für Fälle vor, in denen kein bewaffneter Angriff i.S.d. Art. 51 der Charta vorliegt. Trotz aller Unsicherheiten über Inhalt und Umfang der beiden Begriffe stellt nach richtiger Ansicht der bewaffnete Angriff gegenüber der Angriffshandlung und damit auch gegenüber dem Friedensbruch den engeren Begriff dar. 377 Außerdem empfiehlt Teil C der Resolution A den Mitgliedsstaaten, innerhalb ihrer nationalen Streitkräfte Kontingente zu unterhalten, die sofort den Vereinten Nationen zur Verfügung gestellt werden könnten, wenn eine entsprechende Empfehlung des Sicherheitsrats ergehe. Dabei sollte es den Mitgliedsstaaten unbenommen bleiben, diese Kontingente "zum Zwecke des in Art. 51 der Charta anerkannten Rechtes auf individuelle oder kollektive Selbstverteidigung zu benutzen".378 Dieser Verweis auf Art. 51 zeigt, daß die Redaktoren einen strukturellen Unterschied zwischen den auf der
Members under Article 51 [00']." Daß die Richtigkeit des zweiten Teils dieser Feststellung angesichts des Wortlauts zumindest anfechtbar ist, dazu unten 1. Teil D. III. 2. 374 Stone, Legal Controls, 275. 375 Darauf haben vor allem Verdross/Simma, Völkerrecht, 292, zu Recht hingewiesen. 376 Vgl. dazu Claude, Collective Legitimization, 367 ff., der darin die Hauptaufgabe der Gremien der Vereinten Nationen sieht. 377 Vgl. Randelzhojer, in: Simma (Hrsg.), ChVN, Art. 51 Rn. 16. 378 Vgl. die deutsche Übersetzung bei Berber, Dokumentensammlung I, 66.
D. Die "Uniting-for-Peace"-Resolution als Alternativkonzept
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Grundlage der "Uniting-for-Peace"-Resolution stattfindenden Aktionen und solchen der kollektiven Selbstverteidigung sahen. Eine solche Befugnis ist jedoch aus mehreren Gründen mit der Grundkonzeption des Charta-Sicherheitssystems unvereinbar und wird deshalb in der Literatur zu Recht mehrheitlich abgelehnt. 379 Bei genauerer Betrachtung vermögen auch die diesbezüglich von den Befürwortern einer solchen Befugnis vorgebrachten Argumente nicht zu überzeugen. Das gilt zunächst für das aus Art. 24 Abs. 1 abgeleitete Argument, nachdem dort von der "primären" Verantwortung des Sicherheitsrats für die Wahrung des Weltfriedens die Rede sei, müsse es auch eine "sekundäre" Kompetenz geben, die logischerweise der Generalversammlung zukomme. Obwohl eine solche Auslegung durchaus mit dem Wortlaut der Bestimmung vereinbar ist, führt eine Gesamtbetrachtung der Befugnisverteilung im Sicherheitssystem der Charta zu dem Schluß, daß die Kompetenz des Sicherheitsrats eben gerade deshalb eine primäre ist, weil dieser allein die Befugnis haben sollte, Zwangsmaßnahmen zu ergreifen. Der Grund dafür, daß die Charter nicht von einer ausschließlichen Verantwortung (engl. "exclusive responsibility") des Sicherheitsrats spricht, liegt somit darin, daß die Charta der Generalversammlung andere Kompetenzen zuweist, die zwar auch zum Bereich der Sicherung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit gehören, jedoch den Bereich der kollektiven Zwangsmaßnahmen nicht betreffen sollten. 38o Dafür spricht zunächst, daß eine ganze Reihe von Chartabestimmungen nur dann einen Sinn geben, wenn der Sicherheitsrat allein über das Gewaltmonopol verfügt, d.h. über die Rechtmäßigkeit des Einsatzes von Gewalt in den zwischenstaatlichen Beziehungen entscheidet. 381 Außerdem ist die Annahme einer sekundären Befugnis der Generalversammlung zur Ergreifung von Zwangsmaßnahmen nur schwer mit der Regelung des Art. 106 in Einklang zu bringen, wonach die fünf ständigen Sicherheitsratsmitglieder solange, bis das Inkrafttreten der in Art. 43 vorgesehenen Sonderabkommen den Sicherheitsrat befähigt, die ihm in Art. 42 zugewiesenen Aufgaben auszuüben, gemeinsam alle etwa erforderlichen Maßnahmen zur Wahrung des Weltfriedens und der inter-
379 Kelsen, UN Law, 970-971; Castafieda, Legal Effects, 82-86; Menk, Gewalt für den Frieden, 119-124. 380 Castafieda, Legal Effects, 83; Kelsen, UN Law, 96l. 381 Vgl. dazu die Ausführungen oben l. Teil C. 1.; Hans Kelsen verdanken wir den Hinweis, daß das Gewaltmonopol des Sicherheitsrats nicht allein in Art!. 39 und 51 zum Ausdruck kommt, sondern auch in Art. 5 (der im Zusammenhang mit der Suspension von Mitgliedsschaftsrechten davon ausgeht, daß Vorbeugungs- und Zwangsmaßnahmen nur vom Sicherheitsrat getroffen werden können), in Art. 50 (der eine Konsultationspflicht im Zusammenhang mit vom Sicherheitsrat ergriffenen Zwangsmaßnahmen statuiert), in Art. 53 (der eine Ermächtigung von Regionalorganisationen nur durch den Sicherheitsrat erwähnt) sowie in Art. 99 (der nur den Sicherheitsrat als Ansprechpartner des Generalsekretärs in Angelegenheiten, die nach dessen Dafürhalten die internationale Sicherheit gefährden, nennt).
I. Teil: Die Grundlagen des VN-Sicherheitsmechanismus
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nationalen Sicherheit im Namen der Organisation treffen. 382 Auch wenn Art. 106 im Jahre 1945 nur als vorübergehende Regelung angesehen wurde und erkennbar eine sekundäre Kompetenz der Großmächte fiir einen anderen Fall - nämlich den der mangelnden Gestellung von Truppen nach Art. 43 - begründen will, macht er doch zumindest deutlich, daß im Bereich der Friedenssicherung durch Zwang nicht automatisch von einer hilfsweisen Befugnis der Generalversammlung ausgegangen werden kann. 383 Zwar ist den Befiirwortern der Resolution zuzugeben, daß Artt. 10 und 11 Abs.2 einander widersprechende Regelungen enthalten und daß eine strikt am Wortlaut orientierte Auslegung durchaus zu dem Ergebnis kommen kann, daß jede der beiden Bestimmungen die Anwendung der anderen ausschließen bzw. einschränken könnte. 384 Bei logischer Betrachtung besteht jedoch kein Zweifel, daß Art. 11 Abs.2 lex specialis gegenüber der allgemeinen Grundregel des Art. 10 ist. 385 Eine andere Auslegung würde Art. 11 Abs. 2 überflüssig machen. 386 Ähnliches kann auch zu der ebenfalls entscheidenden Frage der Interpretation des Begriffs der "Maßnahme" in Art. 11 Abs. 2 S. 2 gesagt werden: Auch hier läßt sich nach dem Wortlaut der Bestimmung die restriktive Interpretation vertreten, daß mit "Maßnahmen" nur solche gemeint sein sollten, die der Sicherheitsrat fiir alle Mitgliedsstaaten verpflichtend nach Art. 41 oder 42 der Charta anordnet bzw. durchfiihrt. Dagegen spricht jedoch, daß man wohl davon ausgehen kann, daß die Verfasser der Charta, hätten sie eine solch weitgehende und genaue Begrenzung gewollt, diesen Willen, wenn schon nicht ausdrücklich zum Ausdruck gebracht, so doch zumindest durch die Wahl eines weniger allgemeinen Begriffs als dem der Maßnahme manifestiert hätten. 387 Schließlich müßte die Generalversammlung, bevor sie den Mitgliedsstaaten mit rechtfertigender Wirkung kollektive Zwangsmaßnahmen empfehlen könnte, notwendigerweise die Feststellung treffen, daß eine Bedrohung oder ein Bruch des Friedens oder eine Angriffshandlung vorliegt. Diese in einem kollektiven Sicherheitssystem nötige Determination388 wird in Art. 39 ausdrücklich nur dem Sicherheitsrat übertragen. In der Charta findet sich keine entsprechende Befugnisnorm fiir die Generalversammlung. Auch hier greift das sich an den Wortlaut klammernde Argument, Art. 39 verbiete der Generalversammlung eine solche Feststellung jedenfalls nicht, zu kurz: Es handelt sich eben nicht um eine Regelungslücke, die der Ausflillung bedarf: "From a legal point of view, the specific and singular attribution of a function to one of the two organs
Vgl. den genauen Wortlaut des Art. 106 oben I. Teil C. 11.2. Fn. 250. Sione, Legal Controls, 271-272; Menk, Gewalt fur den Frieden, 120-121. Kelsen, UN Law, 967. Ebd. 386 So zutreffend Arnlz, Friedensbedrohung, 114; Menk, Gewalt fur den Frieden, 119. 387 Kelsen, UN Law, 964. 388 Vgl. dazu die AusfLihrungen oben I. Teil A. V. 382 383 384 385
D. Die "Uniting-for-Peace"-Resolution als Alternativkonzept
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means its denial to the other: 'espressio unius, exclusio alterius.' The prohibition is in the Charter. "389 Das stärkste Argument zugunsten einer solchen Befugnis der Generalversammlung, nämlich, daß aufgrund des ständigen Gebrauchs des Vetos im Sicherheitsrat objektiv eine Situation entstanden war, in der dieser seine in der Charta vorgesehene Aufgabe der Friedenssicherung nicht erflillen konnte, mag politisch zutreffend sein, ist jedoch von geringem juristischen Wert. Wie oben schon ausflihrlich dargestellt, haben die Redaktoren der Charta sich bewußt flir die Regelung des Art. 27 Abs. 3 entschieden. 39O Damit haben sie der Untätigkeit bei fehlender Übereinstimmung zwischen den ständigen Sicherheitsratsmitgliedem den Vorzug gegeben gegenüber Maßnahmen, die zwar von einer Mehrheit der Mitgliedsstaaten, nicht aber von allen Großmächten getragen werden. Dahinter steht der Gedanke, daß realistischerweise im Fall der Aggression einer Großmacht das gesamte VN-Sicherheitssystem nicht funktionieren kann und soll. Diese in Form des Art. 27 Abs. 3 bewußt eingebaute "Sicherung" könnte jedoch durch den Mechanismus der "Uniting for Peace"-Resolution außer Kraft gesetzt werden. 391 Deshalb kann auch von einer Nichterflillung seiner Aufgaben keine Rede sein, wenn der Sicherheitsrat nach Erörterung einer Angelegenheit zur Untätigkeit verurteilt ist: "Nonaction because of the veto is one of the normal ways provided by the Charter for the Council to perform its institutional function".392 Soweit sich die Beflirworter einer Kompetenz zur rechtfertigenden Empfehlung schließlich auf das Certain-Expenses-Gutachten des IGH393 berufen, ist dazu zunächst anzumerken, daß dieses lediglich als Argument flir eine Kompetenz der Generalversammlung zur Aufstellung von Peace-keeping- Truppen, nicht jedoch von Einheiten zur Durchflihrung von Zwangsmaßnahmen verwendet werden kann. 394 Allein die Tatsache, daß der Gerichtshof den Begriff der Maß389 Castaneda, Legal Effects, 84; LE. ähnlich Kelsen, ON Law, 973-974; Stone, Legal Controls, 271; VerdrosslSimma, Völkerrecht, 292. 390 Vgl. die Ausfilhrungen oben I. Teil C. III. 2. 391 Wie hier auch de Lacharriere, L'action des Nations Uni es, 317 ff.; Castaneda, Legal Effects, 86, der zutreffend anmerkt, eine solch fundamentale Änderung des Charta-Systems sei redlicherweise nur durch eine Änderung der Charta zu erreichen. 392 Castaneda, Legal Effects, 85, der zutreffend auf den rechtlichen Unterschied zwischen einer negativen Entscheidung des Sicherheitsrats aufgrund eines Vetos einerseits und der Nichtbehandlung andererseits hinweist: ,,[I]f this organ [Le., der Sicherheitsrat, d. Verf.], after deliberation, arrives at a negative conclusion owing either to the veto or to the lack of the necessary majority, the nonaction ofthe Council must be considered the legally proper solution for carryng out the aim of the Charter - maintenance of the peace." Als jüngstes Beispiel ließe sich hier die oben schon erwähnte mehrmonatige Inaktivität des Sicherheitsrats im Irak-Kuwait-Konflikt zwischen Ende Oktober 1990 und Anfang April 1991 nennen, vgl. dazu unten 2. Teil A.1. 393 IC] Reports, 1962, 162 ff. 394 IC] Reports 1962, 164; dies gestehen auch HailbronneriKlein, in: Simma (Hrsg.), ChVN, Art. 10 Rn. 27-31, ein: Aus den Formulierungen des IGH gehe nicht eindeutig hervor, ob Empfehlungen der Generalversammlung auch die Ergreifung von Zwangsmaßnahmen beinhalten könnten.
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1. Teil: Die Grundlagen des VN-Sicherheitsmechanismus
nahme in Art. 11 Abs. 2 eng als "Zwangsmaßnahme" auslegt, reicht nicht aus, um daraus auf eine Kompetenz der Generalversammlung zur Empfehlung von Zwangsmaßnahmen zu schließen. Weiter ist zu bedenken, daß einige Passagen des Gutachtens auch so ausgelegt werden können, daß der IGH ein Initiativrecht der Generalversammlung für alle Arten von Zwangsmaßnahmen, auch die aufgrund einer Empfehlung durchgeftihrten, ausschließen wollte. 395
3. Schaffung einer rechtlichen Basis durch nachfolgende konsensuale Praxis und universelle Anerkennung? Mit Blick auf die bisherige Praxis der Generalversammlung glaubt ein Teil der Literatur allerdings, im Verhalten der Generalversammlung eine universelle Zustimmung der Mitgliedsstaaten zu den in der Resolution enthaltenen Kompetenzverschiebungen zugunsten der Generalversammlung festgestellt zu haben. 396 Diese Auffassung scheint zumindest bezüglich der hier speziell interessierenden Befugnis der Generalversammlung zur rechtfertigenden Empfehlung von Zwangsmaßnahmen unhaltbar. Auf diesem Feld kann nämlich kaum von einer Praxis der Generalversammlung gesprochen werden. Die Generalversammlung hatte zwar noch während der Koreakrise von den ihr in der Resolution zugestandenen Kompetenzen Gebrauch gemacht. 397 Wie Hailbronner/Klein zutreffend festgestellt haben, hat sich jedoch die während der Koreakrise praktizierte Form der kollektiven Sicherheit in späteren Konfliktsituationen nicht durchgesetzt. 398 So wurde die "Uniting for Peace"-Resolution seit 1950 weder für Zwangsmaßnahmen gegen einen Aggressorstaat herangezogen, noch hat die Generalversammlung eine Empfehlung zur Aufstellung von Truppen gegen einen Aggressor ausgesprochen. 399 Statt dessen diente die Resolution als Ermächtigung für die Einberufung von Notstandssondertagungen, von der die Generalversammlung seitdem
395 Vgl. nur die Formulierung ICI Reports 1962, 165, Zwangsmaßnahmen seien "solely within the province of the Security Council"; wie hier auch Bowetl, UN Forces, 291; Menk, Gewalt tUr den Frieden, 119 (Fn. 184). 396 Vgl. jeweils m.w.N. Castaiieda, Legal Effects, 86 ff.; Conforti, Nazioni Unite, 216-217. 39'/ Nachdem aufgrund der oben schon erwähnten Rückkehr des sowjetischen Vertreters erneut eine vetobedingte Handlungsunfllhigkeit des Sicherheitsrats eingetreten war, stellte sie in Res. 498 (V) vom I. Februar 1951 test, daß die Regierung der Volksrepublik China eine Angritl'shandlung begangen habe, und forderte die Mitgliedsstaaten auf, die Vereinten Nationen zu unterstützen und ihre Streitkräfte dem YN-Oberkommando zu unterstellen. In Res. 500 (V) vom 18. Mai 1951 empfahl die Generalversammlung die Verhängung eines Waften- und Kriegsmaterialembargos über die Gebiete, die der Gewalt der chinesischen Volksregierung und der nordkoreanischen Behörden unterstanden. 398 Hailbronner/K/ein, in: Simma (Hrsg.), ChVN, Art. 10 Rn. 34. 399 B. Nolte, Uniting tor Peace, 955; Hailbronner/Klein, in: Simma (Hrsg.), ChYN, Art. 10 Rn. 34; Stein/Morissey, Uniting tor Peace Resolution, 381-382.
D. Die "Uniting-for-Peace"-Resolution als Alternativkonzept
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mehnnals Gebrauch gemacht hat. 4°O Eine konsensuale Weiterbildung des Charta-Systems läßt sich angesichts der Haltung der meisten Mitgliedsstaaten deshalb höchstens insoweit erblicken, als es um den in der Resolution vorgesehenen Verfahrensablauf geht. 401 Soweit es um die Befugnis der Generalversammlung zur Empfehlung von Zwangsmaßnahmen geht, kann deshalb nicht davon ausgegangen werden, daß sich eine einheitliche Übung der Praxis herausgebildet hat, die es rechtfertigen würde, einer solchen Empfehlung eigenständigen Rechtfertigungscharakter zuzuschreiben. 402 IV. Zusammenfassung
In der Literatur ist wiederholt darauf hingewiesen worden, daß sich die Bedeutung der "Uniting for Peace"-Resolution in der juristischen Beurteilung nicht voll erschöpft. 403 Der wahre Grund rur die Resolution sei mehr politischer als rechtlicher Natur gewesen, "in the sense that political necessity should be a reason to modify the existing law rather than to attempt to establish its legality within the juridical system in force at the time of its adoption" .404 Allerdings tut man den Initiatoren der Resolution Unrecht, wenn man in ihr nichts weiter sieht als den Versuch, die Vereinten Nationen zum eigenen Vorteil und zum Nachteil des politischen Gegners Sowjetunion zu instrumentalisieren. 405 Dabei wird übersehen, daß es den Vereinigten Staaten und ihren Verbündeten auch darum ging, den Vereinten Nationen ein wirksames Instrument der universellen kollektiven Sicherheit an die Hand zu geben. 400 Schaefer, Notstandssondertagungen, 78 ff., hat insgesamt neun solcher Tagungen gezählt: zur Suezkrise (1.-10. November 1956), zur Ungarnkrise (4.-10. November 1956), zur Situation im Libanon (8.-21. August 1958), zur Situation im Kongo (17.-19. September 1960), zum Nahostkonflikt (17. Juni-18. September 1967), zur sowjetischen Invasion in Afghanistan (10.-14. Januar 1980), zur Lage des palästinensischen Volkes (22.-29. Juli 1980), zur Situation in Namibia (3.-14. September 1981) sowie zur Situation in den von Israel besetzten arabischen Gebieten (29. Januar5. Februar 1982); Reicher, Uniting for Peace, 13 ff., und Hailbronner/Klein, in: Simma (Hrsg.), ChVN, Art. 10 Rn. 34, erwähnen darüber hinaus noch den Fall des indisch-pakistanischen Kont1ikts um Bangladesch, in dem der Sicherheitsrat in Res. 303 (1971) ausdrücklich auf die "Uniting tor Peace"-Resolution Bezug genommen und die Angelegenheit an die Generalversammlung verwiesen hatte, die daraufhin in Res. 2793 (XXVI) vom 7. Dezember 1971 Indien und Pakistan zur FeuereinsteIlung aufgefordert hatte, ohne jedoch Zwangsmaßnahmen zu empfehlen. 401 Vgl. B. Nolte, Uniting for Peace, 955, die aus der Praxis der Generalversammlung bei der Einberufung der Notstandssondertagung mißverständlich folgert, die Rechtmäßigkeit der Resolution werde mehr als 30 Jahre nach ihrer Verabschiedung kaum mehr angezweifelt, zuvor jedoch festgestellt hat, eine solche Empfehlung rur sich genommen sei kein Rechtfertigungsgrund rur einen Verstoß gegen das Gewaltverbot. 402 Wie hier i.E. auch Verdross/Simma, Völkerrecht, 151-152; B. No/te, Uniting for pe ace, 955. 403 Vgl. etwa Stone, Legal Controls, 272 ff.; Castaneda, Legal Effects, 86 ff.; sowie zuletzt Menk, Gewalt fur den Frieden, 122 ff. 404 Castaneda, Legal Effects, 86. 405 So aber Menk, Gewalt fur den Frieden, 122.
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1. Teil: Die Grundlagen des VN-Sicherheitsmechanismus
Die Konzeption der "Uniting-for-Peace"-Resolution war dabei einseitig darauf ausgerichtet, die durch das Vetorecht der Großmächte bedingte Blockade des Sicherheitsrats zu überwinden. Nicht gelöst bzw. erst gar nicht angegangen wurden dabei die übrigen Schwächen des Sicherheitsmechanismus der Charta: Die unvollkommene Pflicht zum militärischen Beistand und die mangelnde Ausstattung der Vereinten Nationen mit einsatzfähigen Truppen zur Ausführung wurden ebensowenig beseitigt wie die durch den weiten Anwendungsbereich des Art. 39 bedingte Unklarheit über das Vorliegen der Bündnisverpflichtung. Auch die Legitimitätsproblematik wurde durch die Einführung des Mehrheitsprinzips zumindest nicht entschärft. Auch nach der Konzeption der "Uniting-for-Peace"-Resolution erscheint eine Instrumentalisierung des VN-Sicherheitsmechanismus durch eine Großmacht nach wie vor möglich, solange die rechtlichen Voraussetzungen für ein Eingreifen der Vereinten Nationen nicht genauer als in Art. 39 geklärt sind. Das Konzept der Resolution vermag folglich die Voraussetzungen eines echten Systems der kollektiven Sicherheit ebensowenig zu erfullen wie das ursprüngliche Charta-Sicherheitssystem. Die in der Resolution zum Ausdruck kommende Vorstellung von kollektiver Sicherheit gleicht aufgrund ihres dezentralisiert-individualistischen Ansatzes eher dem Sanktionssystem der Völkerbundsatzung. 406 Dies ist insofern fatal, als ein solcher Ansatz - wie oben gezeigt - nur schwer in das auf den Sicherheitsrat zugeschnittene Charta-Sicherheitssystem einzupassen ist. Die ihm zugedachte Rolle einer "Auffanglösung" sollte nach dem ursprünglichen Konzept der Charta der Bestimmung des Art. 51 zukommen: Bei Versagen des in Kapitel VII vorgesehenen Sicherheitsmechanismus sollte sich das zentralisierte kollektive Sicherheitssystem der Charta in ein dezentralisiertes System umwandeln, in dem die einzelnen Mitgliedsstaaten in Ausübung ihres Selbstverteidigungsrechts selbst fur ihre Sicherheit sorgen. Eine Zwischenstufe dergestalt, daß in einem solchen Fall die Kompetenzen des Sicherheitsrats hilfsweise in vollem Umfang von der Generalversammlung wahrgenommen werden, ist in der Charta nicht vorgesehen. So gesehen, läßt sich das Scheitern der "Uniting-for-Peace"-Resolution mit ihrem unrealistischen Anspruch auf universelle und gleichberechtigte Anwendbarkeit des VN-Sicherheitsmechanismus erklären. Dieser Anspruch hatte mit dem realistischen "Geist von San Francisco" wenig gemein. Folgerichtig hat dieser Anspruch nicht einmal die Anfangsjahre des Kalten Krieges überdauert: Schon am Ende des Koreakriegs, so hat Inis Claude zutreffend festgestellt, hätten die Mitgliedsstaaten die Umsicht der Verfasser der Charta wieder zu schätzen gelernt, die sich fur ein Friedenssicherungssystem entschieden hatten, 406 Vgl. dazu oben I. Teil B. IIJ. 3.; darauf hat besonders Slone, Legal Controls, 275-276, hingewiesen.
D. Die "Uniting-for-Peace"-Resolution als Alternativkonzept
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in dem kollektive Zwangsmaßnahmen nicht gegen den ausdrücklichen Willen einer Großmacht ergriffen werden konnten. 407 Die Suez- und Ungarnkrise des Jahres 1956 mit jeweils direkter Beteiligung eines oder mehrerer ständiger Sicherheitsratsmitglieder schließlich taten ein übriges, um den aus den Anfangszeiten des Koreakrieges stammenden Enthusiasmus fiir ein neues, universelles System der kollektiven Sicherheit vollends verfliegen zu lassen. 408 Die in den folgenden vier Jahrzehnten auftretenden zwischenstaatlichen Konflikte wurden nicht auf der Grundlage des in Kapitel VII der Charta vorgesehenen Mechanismus gelöst, sondern nach traditionellem Muster durch Schaffung von Militärbündnissen zur kollektiven Verteidigung. Die Regelung des Art. 51 ermöglichte es den bei den politischen Blöcken, eine modeme Variante des Gleichgewichts der Mächte zu praktizieren. Die Regelung des Art. 51 hat sich als die einzig praktisch bedeutsame Ausnahme vom Gewaltverbot zu einem juristischen Angelpunkt entwickelt, um den die Diskussionen über die Rechtmäßigkeit des Einsatzes von Gewalt in den gegenseitigen Beziehungen der Staaten regelmäßig kreisen. 409 Die Geschichte des Rechts auf Selbstverteidigung nach dem Zweiten Weltkrieg, bemerkte Stanley Hoffmann schon 1968, sei durch die immer expansivere Interpretation des Art. 51 geprägt: "Was als Ausnahme von der Größe eines Nadelöhrs gedacht war, wurde zu einer Bresche, durch die ganze Armeen marschiert sind."410 Auch wenn die Bezeichnung als Nadelöhr angesichts der oben aufgezeigten begrenzten Anwendbarkeit des Sicherheitsmechanismus der VN-Charta leicht übertrieben erscheint, ist an dieser Feststellung doch richtig, daß während des Kalten Krieges bei nahezu jeder militärische Gewaltanwendung das Recht auf individuelle oder kollektive Selbstverteidigung bemüht wurde. 411 Bereits im ersten Kapitel dieser Arbeit wurde eingehend darauf hingewiesen, daß die Konzeptionen der kollektiven Sicherheit und der kollektiven Selbstverteidigung einander grundsätzlich ausschließen. 412 Die Entscheidung der meisten VN-Mitgliedsstaaten fiir den Beitritt zu einem System der kollektiven Selbstverteidigung kann deshalb auch als Absage an eine Verwirklichung des in der Charta ursprünglich vorgesehenen Sicherheitssystems verstanden wer-
407
Claude, Management of Power, 231.
408 Vgl. Claude, Management ofPower, 232.
RandelzhoJer, in: Simma (Hrsg.), ChYN, Art. 51 Rn. 3. Hoffmann, Use ofForce, 29. RandelzhoJer, in: Simma (Hrsg.), ChYN, Art. 51 Rn. 2; Schachter, Uses of Force, 77, der gleichzeitig anmerkt, daß in fast allen diesen Fällen die Staatengemeinschaft in ihrer überwiegenden Mehrheit die Berufung auf das Selbstverteidigungsrecht in fast allen diesen Fällen zurückgewiesen hat; seltsam mutet in diesem Zusammenhang die auf diese Beobachtung aufbauende Folgerung von Michael Reisman, Allocating Competences, 28, an, die Praxis habe die Regelung des Art. 51 zwar nicht befolgt, dieser jedoch zumindest insoweit Tribut gezollt, als sie zumindest ihre Rechtfertigungen für gewaltsame Übergriffe nach den Vorgaben der Charta modelliert habe. 412 Vgl. die Ausführungen oben I. Teil A. 111. 409
410 411
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1. Teil: Die Grundlagen des VN-Sicherheitsmechanismus
den. Die meisten Staaten suchten ihr legitimes Bedürfnis nach Sicherheit außerhalb des rechtlichen Rahmens der Charta zu befriedigen.
In Fällen, in denen die Großmachtinteressen es zuließen, entwickelte sich zur Lösung von zwischenstaatlichen Konflikten ein Mechanismus, der zwar innerhalb des institutionellen Rahmens der Vereinten Nationen angesiedelt, jedoch in der Charta selbst nicht vorgesehen war. Statt der in Kapitel VII vorgesehenen Friedensschaffung durch Zwang setzte man im Rahmen der friedenserhaltenden Operationen ("peace-keeping operations") auf Friedenserhaltung durch Konsens und Kooperation. 413 Die Charakteristika friedenserhaltender Operationen lassen sich nach einer weithin anerkannten Definition des ehemaligen VN-Untergeneralsekretärs für friedenserhaltende Operationen, Marrack Goulding, wie folgt zusammenfassen: "Field operations established by the United Nations, with the consent of the parties concemed, to help control and resolve conflicts between them, under United Nations command and control, at the expense collectively of the member states, and with military and other personnnel and equipment provided voluntarily by them, acting impartially between the parties and using force to the minimum extent necessary."414 Die VN-Einheiten, die sich entweder aus unbewaffneten Militärbeobachtern oder aus leicht bewaffneten Infanterieeinheiten zusammensetzen, erfullen im Rahmen des klassischen Peace-keeping vor allem drei Arten von Aufgaben: Erstens werden sie zur Beobachtung der Einhaltung von Waffenstillstands-, Entflechtungs- oder Rückzugsabkommen eingesetzt. Zweitens obliegt ihnen die Bildung von Pufferzonen zwischen den Konfliktparteien (sog. "Interposition"). Schließlich werden sie bisweilen zur Aufrechterhaltung von Recht und Ordnung eingesetzt, um so die Intervention ausländischer Staaten zu verhindern oder zu beenden. 4J5 Schon dieser kursorische Überblick macht den fundamentalen Unterschied zwischen friedenserhaltenden Operationen und militärischen Zwangsmaßnahmen nach Kapitel VII deutlich: Während erstere die Zustimmung der Konfliktparteien voraussetzen, kommen letztere per Definition nur in Betracht, wenn Zwang gegenüber einem nicht kooperationsbereiten Friedensbrecher angewandt wird. 416 Unterschiedlich ist auch die Rolle, die die eingesetzten Militäreinheiten im jeweiligen Konflikt spielen und das Maß der ihnen erlaubten Gewalt: Blauhelmsoldaten sind in der Regel zur strikten Neutralität verpflichtet,
413 Vgl. zu friedenserhaltenden Maßnahmen die grundlegende Darstellung von Bothe, in: Simma (Hrsg.), ChVN, nach Art. 38; eine ausgezeichnete kurze Übersicht über Grundlagen und neuere Entwicklungen auf diesem Gebiet geben Simma/Graf, Einsatzmöglichkeiten, 7 ff. 414 Vgl. Gou/ding, Evolution ofPeacekeeping, 455. 415 Ich folge hier der von SimmalGraf, Einsatzmöglichkeiten, 8, vorgeschlagenen Unterteilung der Aufgabenbereiche. 416 Auf diesen Unterschied hat im übrigen auch der IGH seine Unterscheidung zwischen den bei den Kategorien im Certain-Expenses-Gutachten gestützt, vgl. ICI Reports 1962, 163-172.
E. Die Agenda für Peace: Mißglückter Start in eine neue Ära
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ihnen ist der Waffengebrauch nur zur Selbstverteidigung gestattet. 417 Dagegen sind militärische Zwangsmaßnahmen notwendigerweise gegen einen bestimmten Staat gerichtet und die dabei angewandte Gewalt ist, wenn überhauptl18 , nur durch allgemeine völkerrechtliche Regeln begrenzt. Peace-keeping Operations stellen also gegenüber militärischen Zwangsmaßnahmen nicht nur ein rechtliches minus dar, sondern ein aliud. 419 Friedenserhaltende Maßnahmen in ihrer klassischen Ausprägung sind deshalb auch kein vollwertiger Ersatz für einen System der kollektiven Sicherheit.
E. Die Agendajor Peace: Mißglückter Start in eine neue Ära I. Die Vorgeschichte
Neben der "Uniting-for-Peace"-Resolution stellt die Agenda for Peace aus dem Jahre 1992 sicherlich den bedeutendsten Versuch zur Verbesserung des Charta-Sicherheitssystems dar. 420 Wie schon bei der "Uniting-for-Peace"Resolution war auch hier wieder eine erfolgreiche Kollektivaktion gegen einen Aggressor der Wegbereiter für die Reformanstrengungen. Die erfolgreiche Militäraktion zur Befreiung Kuwaits hatte allenthalben große Hoffnungen auf eine grundlegende Stärkung der Rolle der Vereinten Nationen im Bereich der Friedenssicherung geweckt. Trotzdem war die Ausgangslage nach dem Ende des Golfkrieges gegen den Irak im Jahre 1991 nicht mit der im Jahre 1950 vergleichbar: Nach dem Ende des Kalten Krieges und angesichts der dadurch bedingten neuen Einigkeit unter den ständigen Mitgliedern schien Ende 1991 die Verwirklichung des ursprünglichen Sicherheitssystems zum ersten Mal möglich. Das erfolgreiche Vorgehen gegen den Irak wurde von einigen gar als der Beginn einer "Neuen Weltordnung" gefeiert. 421 417 Auch wenn in der Literatur zu Recht darauf hingewiesen wird, daß dabei ein weiter Begriff der Selbstverteidigung zugrundegelegt wird, der die Voraussetzungen der Selbstverteidigung auch dann für gegeben ansieht, wenn die Truppe gewaltsam an der Erfüllung ihres Mandats gehindert wird; vgl. etwa Gou/ding, Evolution ofPeacekeeping, 455; Simma/Graj, Einsatzmöglichkeiten, 8. 418 Vgl. dazu die ausfiIhrliehe Diskussion unten 2. Teil D. III. 419 Die in der Literatur wiederholt geäußerte Ansicht, das Instrumentarium der friedenserhaltenden Operationen sei gleichsam als Ersatz filr die undurchfilhrbare Friedenserhaltung durch Zwang entwickelt worden, ist somit zumindest ungenau; vgl. stellvertretend Simma/Graj, Einsatzmöglichkeiten, 7. 420 Kühne, Friedenssicherung, 14. 421 In einer Ansprache vor bei den Häusern des amerikanischen Kongresses am 11. September 1990, also gut einen Monat nach dem Einmarsch irakiseher Truppen in Kuwait, sprach der amerikanisehe Präsident George Bush erstmals von dieser Idee der neuen Weltordnung. In einer Reihe von Reden nach Abschluß des Golfkrieges hat er dieses Konzept dann näher erläutertet, vgl. dazu Freedman, GulfWar, 195 ff. Dabei definierte er diese Idee wie folgt: "The New World Order does not mean surrendering our national sovereignty or forfeiting our interests. It really describes a re7 Bauer
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I. Teil: Die Grundlagen des VN-Sicherheitsmechanismus
Dazu kam noch, daß die Vereinten Nationen schon seit Ende der 80er Jahre bei Einsätzen in Namibia, Zentralamerika, Kambodscha und Angola das Peacekeeping von einem statischen, relativ einfachen Modell der Kontliktberuhigung zu einem dynamischen und multidimensionalen Konzept der Konflikt/ösung weiterentwickelt hatten und dabei beachtliche Erfolge erzielt hatten. 422 Konflikte sollten nicht, wie bisher, nur "ruhiggestellt", sondern durch ein breites Spektrum von militärischen und nicht-militärischen Maßnahmen einer Lösung zugeführt werden. Die im Rahmen dieser auch als "Peace-keeping der zweiten Generation" bezeichneten Missionen von den VN-Truppen zu erledigenden Aufgaben gingen dabei sowohl qualitativ als auch quantitativ deutlich über das hinaus, was klassische Blauhelmmissionen zu leisten hatten. 423 Die friedenserhaltenden Operationen der zweiten Generation brachten den Vereinten Nationen jedoch nicht nur neues Ansehen und Anerkennung ein, sondern stellten sie auch vor neue Herausforderungen vor allem auch organisatorischer und finanzieller Art. 424 Vor diesem Hintergrund hielt der Sicherheitsrat erstmals in seiner Geschichte ein Treffen seiner Mitglieder auf Ebene der Staats- und Regierungschefs ab, das am 31. Januar 1992 in New York stattfand. 42S Auf diesem Treffen wurde der gerade neu in das Amt des VN-Generalsekretärs berufene Ägypter Bautras Bautras-Ghali beauftragt, eine "Analyse sowie Empfehlungen zu der Frage auszuarbeiten, wie die Kapazität der Vereinten Nationen zur vorbeugenden Diplomatie, zur Friedensschaffung und zur Friedenssicherung im Rahmen der Charta gestärkt und effizienter gestaltet werden kann".426
sponsibility imposed by our successes. It refers to new ways ofworking with othernations to deter aggression and to achieve stability, to achieve prosperity and, above all, to achieve peace. Itsprings from hopes for a world based on a shared commitment among nations large and small to a set of principles that undergird our relations peaceful settlementof disputes, solidarity against aggression, reduced and controlled arsenals, and just treatment of all peoples." (Aus einer Rede gehalten am 13. April 1991 vor der Air University, Maxwell Air Force Base, zitiert nach Freedman, a.a.O., 7-8) 422 Vgl. Kühne, VN-Friedenssicherung, 40. 423 Vgl. dazu die Übersicht bei SimmaiGraf, Einsatzmöglichkeiten, 10-21. Zu diesen neuen Aufgaben gehören insbesondere die Entwaffnung und Demobilisierung der Truppen der Streitparteien, die Räumung von Minen, der Aufbau neuer Streit- und Ordnungs kräfte, die Rückfllhrung und Reintegration von Flüchtlingen, die Organisation und Durchfllhrung von humanitärer Hilfe, die Wiederherstellung und Überwachung der öffentlichen Ordnung bis hin zur teilweisen oder völligen Übernahme der Aufgaben einer öffentlichen Ordnungsmacht, die Überwachung der Einhaltung von Menschenrechten und schließlich die Organisation, Durchfllhrung und Beobachtung von Wahlen und Referenden. 424 Zur Verdeutlichung des Umfangs der neuen Aufgaben mag hier der Hinweis genügen, daß in der Zeit von 1945 bis 1987 genauso viele - nämlich 13 - friedenserhaltende Operationen eingerichtet wurden wie in den Jahren 1988 bis 1992, vgl. die Angaben des Generalsekretärs in der Agenda/ar Peace, Tz. 47, V.N. Doc. AJ47/277 - S/24111, 17 June 1992. 425 Vgl. UN Doc. S/PV.3046, 31 January 1992. 426 Vgl. das als Sicherheitsratsdokument S123500, 31 January 1992 veröffentlichte Abschlußkommunique des Treffens, Abschnitt "Peacemaking and Peacekeeping".
E. Die Agenda für Peace: Mißglückter Start in eine neue Ära
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Im Juni 1992 legte der Generalsekretär das Ergebnis seiner Überlegungen unter dem Titel Agenda/ar Peace vor. 427 11. Die Gesamtkonzeption
Der Bericht enthält rund 60 konkrete Vorschläge an die Mitgliedsstaaten, wie die Vereinten Nationen gestärkt werden können, um den neuen Herausforderungen nach dem Ende des Kalten Krieges besser gewachsen zu sein und die sich bietenden Chancen besser wahrnehmen zu können. Der Text liefert einen Grundriß eines umfassenden Programms zur Wahrung des Friedens und der Sicherheit zwischen den Staaten sowie eines weitreichenden Sicherheitskonzepts mit politischen, militärischen, sozio-ökonomischen und humanitären Komponenten sowie zu Menschenrechtsbelangen. Er ist in vier große, eng miteinander zusammenhängenden Aufgabenbereiche der Friedenssicherung gegliedert: Erstens die Konfliktverhütung durch vorbeugende Diplomatie ("preventive diplomacy")428; zweitens die Konfliktlösung durch Friedensschaffung ("peacemaking"), die sowohl friedliche Mittel der Streiterledigung als auch Zwangsmaßnahmen umfaßt429 ; drittens die Friedenssicherung ("peace-keeping")430 und viertens die Herstellung und Festigung des Friedens durch Friedenskonsolidierung ("post-conflict peace-building")431. Der Generalsekretär unterscheidet dabei nicht nach militärischen und nichtmilitärischen Instrumenten, sondern stellt für die Einordnung der jeweiligen Mittel statt dessen auf den von den Vereinten Nationen im konkreten Einzelfall verfolgten Zweck der jeweiligen Operation ab. Zu dessen Erreichung kann dann militärisches und/oder ziviles Personal eingesetzt werden. 432 Diese dem gesamten Bericht eigentümliche enge Verzahnung zwischen Friedenssicherung durch Konsens und Kooperation und Friedenssicherung durch Zwang macht es notwendig, im folgenden zunächst die Gesamtkonzeption der Agenda/ar Peace darzustellen, obwohl große Teile des Berichts sich nicht mit dem Thema dieser Arbeit decken. Sodann soll auf die einzelnen, Kapitel VII betreffenden Vorschläge und die Reaktionen der Mitgliedsstaaten eingegangen werden.
427 U.N. Doc. A/47/277 - S/24111, 17 June 1992; deutsche Übersetzung herausgegeben in der Schriftenreihe der Deutschen Gesellschaft für die Vereinten Nationen, Nr. 43, 1992. 428 Ebd., Tz. 23 ff. 429 Ebd., Tz. 34 ff. 430 Ebd., Tz. 46 ff. 431 Ebd., Tz. 55 ff.; während die drei ersten Themenkomplexe durch den oben zitierten Auftrag des Sicherheitsrats vorgegeben waren, hatte der Generalsekretär die Friedenskonsolidierung als mit den anderen Aufgabenbereichen eng zusammenhängendes Konzept selbst angeftigt; vgl. ebd., Tz. 5. 432 Simma/Graj, Einsatzmöglichkeiten, I.
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1. Teil: Die Grundlagen des VN-Sicherheitsmechanismus
1. Vorbeugende Diplomatie ("preventive diplomacy") Vorbeugende Diplomatie definiert die Agenda als "action to prevent disputes from arising between parties, to prevent existing disputes from escalating into conflicts and to limit the spread of the latter when they occur". 433 Vorbeugende Diplomatie setzt nach Ansicht des Generalsekretärs die Fähigkeit voraus, konfliktträchtige Situationen zu erkennen und durch frühzeitiges Eingreifen eine eventuelle Gewalteskalation zu verhindern. 434 Konkret empfiehlt er, die Kapazitäten der Vereinten Nationen bezüglich der von ihm identifizierten fünf Haupterscheinungsformen zu stärken: Vor allem auf regionaler Ebene sollten verstärkt vertrauensbildende Maßnahmen ("measures to build confidence") zum Abbau zwischenstaatlicher Spannungen ergriffen werden. 435 Auch plädiert Boutros-Ghali für eine Stärkung der Tatsachenermittlung ("fact-finding") und der Vorkehrungen innerhalb des VNFrühwarnsystems ("early warning").436 Neuland betritt der Generalsekretär mit seinem Vorschlag, in Zukunft auch vorbeugende Einsätze von VN-Kräften in Fällen von innerstaatlichen oder auch zwischenstaatlichen Konflikten zuzulassen ("preventive deployment"). Im Falle einer innerstaatlichen Streitigkeit sollte ein Einsatz auf Antrag oder mit Zustimmung der Regierung des betroffenen Staates erfolgen; bei zwischenstaatlichen Konflikten sollte es nach Vorstellung des Generalsekretärs dagegen nur des Antrages bzw. der Zustimmungen eines der beiden beteiligten Staaten bedürfen, um VN-Truppen auf dessen Territorium entlang der Grenze zum Gebiet des potentiellen Angreifers zu stationieren. 437 Vor allem bei einem internen Konflikt müßten die Vereinten Nationen die Souveränität des betroffenen Staates sorgfaltig beachten. 438 Neu ist schließlich auch der Gedanke der vorsorglichen Einrichtung entmilitarisierter Zonen auf beiden Seiten einer Grenze, um so potentielle Gegner auseinanderzuhalten ("demilitarized zones").439
2. Friedensschaffung ("peacemaking") Unter Friedensschaffung versteht die Agenda "action to bring ho stile parties to agreement, essentially through such peaceful means as those fore seen in Chapter VI of the Charter of the United Nations".440 In diesem Bereich sollen 433
434 435 436 437 438 439 440
V.N. Doc. N471277 - S/24 111, Tz. 20. Ebd., Tz. 23. Ebd., Tz. 24. Ebd., Tz. 25 bzw. 26. Ebd., Tz. 28 und 29. Ebd., Tz. 30. Ebd., Tz. 33. Ebd., Tz. 20.
E. Die Agenda for Peace: Mißglückter Start in eine neue Ära
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sich die Bemühungen zunächst auf den Einsatz friedlicher Mittel zur Konfliktlösung konzentrieren. Insoweit unterstreicht der Generalsekretär die besondere Bedeutung der in Kapitel VI enthaltenden Handlungsmöglichkeiten von Sicherheitsrat und Generalversammlung, die Parteien zur friedlichen Beilegung ihrer Streitigkeit zu bewegen. 441 Auch stellt die Agenda die Bedeutung von Missionen heraus, bei denen der Generalsekretär selbst oder von den Vereinten Nationen benannte Persönlichkeiten als Vermittler auftreten oder durch Erbringung guter Dienste zur Lösung des Konflikts beitragen. 442 Weiter regt der Generalsekretär eine stärkere Inanspruchnahme des IGH an443 und hebt die Wichtigkeit des in Art. 50 vorgesehenen Lastenausgleichs bei Wirtschaftssanktionen hervor. 444 Für den Fall, daß alle friedlichen Mittel zur Konfliktlösung nicht ausreichen, sollten die Vereinten Nationen nach Ansicht des Generalsekretärs über wirksame Durchsetzungsmechanismen verfügen. 445 Die in diesem Zusammenhang vom Generalsekretär gemachten Vorschläge eines Abschlusses von Abkommen nach Art. 43 und der Aufstellung von Einheiten zur Friedensdurchsetzung ("peaceenforcement units") werden im nächsten Abschnitt ausführlich behandelt. 446
3. Friedenserhaltung ("peace-keeping'') Friedenserhaltung definiert die Agenda als "deployment of a United Nations presence in the field, hitherto with the consent of all the parties concemed, normally involving United Nations military andlor police personnel and frequently civilians as well".447 Dabei gibt es nach Ansicht des Generalsekretärs zwei mögliche Anwendungsbereiche der Friedenserhaltung: "Peace-keeping is a technique that expands the possibilities for both the prevention of conflict and the making ofpeace."448 Angesichts der in den vorangegangenen Jahren ständig wachsenden quantitativen wie auch qualitativen Anforderungen an die Vereinten Nationen in diesem Bereich machte der Generalsekretär mehrere Vorschläge zur Lösung aufgetretener Finanz-, Personal- und Logistikprobleme. 449 Unter den Empfehlungen des Generalsekretärs auf diesem Gebiet seien besonders erwähnt: die Finanzierung des Beitrages des jeweiligen Mitgliedslandes zu friedenserhalten441 U.N. Doe. A/47/277 - 8/24111, Tz. 35-36. 442 Ebd., Tz. 37. 443 Ebd., Tz. 38-39.
Ebd., Tz. 41. Ebd., Tz. 42 ff. 446 Ebd., Tz. 42 bzw. 43; vgl. dazu unten I. Teil E. III. 447 Ebd., Tz. 20. 448 Ebd. 449 Ebd., Tz. 47-54; vgl. zu den neuen Aufgaben friedenserhaltende Operationen der Vereinten Nationen Simma/Graj, Einsatzmögliehkeiten, 11 ff. 444 445
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1. Teil: Die Grundlagen des VN-Sicherheitsmechanismus
den Operationen aus dem Verteidigungs- statt aus dem Haushalt des Außenministeriums 450 ; die Überprüfung der Ausbildungsmaßnahmen rür die Teilnehmer an friedenserhaltenden Operationen 451 ; die Verstärkung des militärischen Beraterstabs im VN-Sekretariat452 sowie logistische Vorkehrungen zur Schaffung eines ständigen Vorrats an dringend rür die Friedenssicherung benötigten Geräten. 4S3 Besondere Bedeutung hat schließlich noch die Aufforderung an die Mitgliedsstaaten, "Stand-by Arrangements" abzuschließen, in denen Art und Zahl des von dem betreffenden Mitgliedsstaat für neue Operationen zur Verfügung zu stellenden Personals festzulegen sind. 454
4. Friedenskonsolidierung ("post-conflict peace-building") Unter Friedenskonsolidierung versteht die Agenda "action to identify and support structures wh ich will tend to strengthen and solidify peace in order to avoid a relapse into conflict".4SS Diesem neuen Konzept liegt die Erkenntnis zugrunde, daß alle Bemühungen auf den Feldern der vorbeugenden Diplomatie, der Friedensschaffung und der Friedenssicherung sinnlos sind, wenn die Konfliktursachen nicht beseitigt und die Voraussetzungen für eine friedliches Zusammenleben nicht geschaffen werden. 456 Als praktische Beispiele verweist der Generalsekretär insbesondere auf die Entwaffnung der verfeindeten Parteien, die Einlagerung und Zerstörung von Waffen, die Beratung und Ausbildung von nationalen Sicherheits- und Polizeieinheiten und die Beseitigung von Landminen. 4S7 Außerdem fallen in diese Kategorie auch Aufgaben wie Wahlüberwachung, Flüchtlingsrepatriierung und Projekte zum Schutz der Menschenrechte und zur Förderung demokratischer Institutionen. 4S8 III. Die Vorschläge zur Friedenserhaltung durch Zwang
Wie oben bereits erwähnt, nehmen die Anwendung militärischen Zwanges betreffenden Vorschläge in der Agenda/or Peace relativ geringen Raum ein. 4S9 U.N. Doc. N47/277 - S/24111, Tz. 48. Ebd., Tz. 52. 452 Ebd., Tz. 50. 453 Ebd., Tz. 53. 454 Ebd., Tz. 51; bereits 1990 hatten die Vereinten Nationen sich mit der Bitte an die Mit· gliedsstaaten gewandt, Angaben über Zahl und Ausbildung von militärischem Personal zu ma· chen, das für friedenserhaltende Operationen zur Verfügung stehe; diesem Ersuchen waren jedoch nur wenige Staaten gefolgt. 455 Ebd., Tz. 20. 456 SimmalGraj, Einsatzmöglichkeiten, 4. 457 U.N. Doc. N471277 - S/24111, Tz. 55. 458 Ebd. 459 Kühne, Friedenssicherung, 14. 450 451
E. Die Agenda for Peace: Mißglückter Start in eine neue Ära
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Der Bericht enthält gerade zwei konkrete Vorschläge zur Verbesserung des Friedenssicherungssystems der Vereinten Nationen durch Zwang: zum einen den Vorschlag, Verhandlungen über den Abschluß von Sonderabkommen nach Art. 43 der Charta aufzunehmen460, zum anderen die vom Generalsekretär vorgeschlagene Aufstellung von Einheiten zur Friedensdurchsetzung ("peaceenforcement units")461. Mit dem ersten dieser beiden Vorschläge zielt der Generalsekretär auf eine Verwirklichung des ursprünglichen, in Kapitel VII vorgesehenen Systems der militärischen Zwangsmaßnahmen ab: Aufgrund der günstigen Entwicklung der weltpolitischen Lage sei zum ersten Mal seit Gründung der Vereinten Nationen die Umsetzung von Art. 43 möglich. 462 Die Möglichkeit, im Falle eines Friedensbruchs gewaltsame Sanktionen zu ergreifen, sei ein Kernpunkt des Konzepts der kollektiven Sicherheit und unerläßlich für dessen Glaubwürdigkeit; schon die bloße Verfügbarkeit von Truppen i.S.d. Art. 43 schrecke potentielle Aggressoren ab. Der Generalsekretär fordert deshalb den Sicherheitsrat auf, in Zusammenarbeit mit dem Generalstabsausschuß Verhandlungen über den Abschluß von Sonderabkommen nach Art. 43 aufzunehmen. Hauptaufgabe der nach Art. 43 zur Verfügung gestellten Truppen sollte nach Ansicht des Generalsekretärs die Abwehr von bereits erfolgten oder drohenden bewaffneten Angriffen sein. Allerdings werden diese Truppen nach Ansicht des Generalsekretärs wohl nie ausreichen, um es mit einer gutausgerüsteten Armee einer größeren Militärmacht aufzunehmen, doch könnten sie zumindest bei Friedensbedrohungen durch kleinere Staaten mit Aussicht auf Erfolg eingesetzt werden. 463 Neuland betritt der Generalsekretär mit seinem zweiten konkreten Vorschlag: Da die Bereitstellung von Truppen gemäß Art.43 für die unmittelbare Zukunft nicht zu erwarten sei, rät der Generalsekretär - gewissermaßen als Übergangsmaßnahme - zur Aufstellung von Einheiten zur Friedensdurchsetzung. Ihre von der der Truppen nach Art.43 klar zu unterscheidende Aufgabe sollte nach Ansicht des Generalsekretärs die Wiederherstellung und Überwachung von Waffenstillständen sein. 464 Diese von den Mitgliedsstaaten zur Verfügung gestellten Truppen sollten nach Ansicht des Generalsekretärs aus Freiwilligen zusammengesetzt sein; sie müßten schwerer bewaffnet sein als herkömmliche Friedenstruppen, die mit dieser Aufgabe oftmals überfordert seien. Nach Ansicht des Generalsekretärs sollten diese Einheiten nur in klar definierten Situationen und auf der Grundlage von vorab festgelegten Einsatzbedingungen eingesetzt werden; ebenso wie tra460 461 462 463 464
U.N. Ooc. N47/277 - S/24111, Tz. 43 Ebd., Tz. 44. Ebd. Ebd., Tz. 43. Ebd., Tz. 44; insoweit verfehlt Kühne, Friedenssicherung, 16, der die beiden Typen miteinander vermischt.
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1. Teil: Die Grundlagen des VN-Sicherheitsmechanismus
ditionelle Blauhelme würde ihr Einsatz aufgrund einer Ennächtigung des Sicherheitsrats und unter dem Oberbefehl des Generalsekretärs stattfinden. 465 Aufgrund ihres vorläufigen Charakters sieht der Generalsekretär die Aufstellung solcher Einheiten durch Art. 40 der Charta gedeckt. 466 Über diese beiden konkreten Vorschläge hinaus enthält der Bericht noch zwei weitere Hinweise auf Verbesserungsmöglichkeiten des Sicherheitsmechanismus der Vereinten Nationen durch Anwendung militärischen Zwanges. Diese wurden, vennutlich aufgrund ihrer Brisanz, in der Agenda nur angedeutet, jedoch nicht konkret ausgeführt. Es handelt sich dabei zum einen um die verstärkte Einbindung von Regionalorganisationen nach Kapitel VIII der Charta bei der Lösung friedensbedrohender Konflikte, was implizit auch eine Ennächtigung bzw. Inanspruchnahme solcher Organisationen zur Ausflihrung militärischer Zwangsmaßnahmen beinhaltet; zum anderen geht es um die vom Generalsekretär vertretene Fortentwicklung des traditionellen "Peace-keeping" zu einem neuen Typ friedenserhaltender Operationen, der in der Literatur mitunter als "robustes Peace-keeping" bezeichnet wird. 467 Der Vorschlag des Generalsekretärs zur Einbindung von Regionalorganisationen ist bewußt vage gehalten. Es sei nicht Aufgabe seines Berichts, so der Generalsekretär, Vorschläge für die fonnale Institutionalisierung der Beziehungen zwischen den VN und den Regionalorganisationen zu machen oder Möglichkeiten einer Arbeitsteilung aufzuzeigen. 468 Statt dessen plädiert der Generalsekretär allgemein für einen verstärkten Einsatz von regionalen Abmachungen und Vereinbarungen im Sinne des Kapitels VIII der Charta im Bereich der Friedenssicherung. 469 Solche Regionalorganisationen seien während des Kalten Krieges oft als Ausgleich für ein fehlendes globales Sicherheitssystem geschaffen worden; ihre Existenz habe sich gelegentlich als Hemmschuh für die Schaffung eines universalen Systems der kollektiven Sicherheit erwiesen, weil sie die Entstehung eines Gefühls der weltweiten Solidarität und Verantwortung verhindert hätten. Eine Dezentralisierung von Aufgaben der Friedenssicherung könnte nach Einschätzung des Generalsekretärs nicht nur eine Entlastung des Friedenssicherungssystems der Vereinten Nationen bewirken, sondern auch zu einer StärV.N. Doc. N47/277 - S/24111, Tz. 44. Ebd. 467 Vgl. Kühne, Friedenssicherung, 15. 468 Vgl. V.N. Doc. N47/277 - S/24111, Tz. 64 469 Ebd., Tz. 60-65; dabei geht der Generalsekretär von einer extrem weiten Definition von Regionalabmachungen aus: In Tz. 61 der Agenda heißt es: "Such associations or entities could include treaty-based organizations, whcther created before or after the founding of the Vnited Nations, regional organizations for mutual security and defence, organizations for general developme nt or for cooperation on a particular economic topic or function, and groups created to deal with a specific political, economic or issue of current concern." Vgl. zum Ganzen die Ausführungen im 2. Teil unter F. dieser Arbeit. 465 466
E. Die Agenda for Peace: Mißglückter Start in eine neue Ära
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kung des Verantwortungsgefühls unter den Mitgliedsstaaten fuhren. 47o Die Zusammenarbeit zwischen den Vereinten Nationen und den einzelnen Regionalorganisationen sei dabei sowohl in Form gemeinsamer Maßnahmen und Operationen denkbar als auch durch Delegation von Befugnissen: Im ersteren Fall würde nach Ansicht des Generalsekretärs die Teilnahme von Staaten aus der Region die weltweite Unterstützung der Operation fördern; im zweiten Fall verleihe eine Ermächtigung durch den Sicherheitsrat den regionalen Bemühungen um eine Konfliktlösung zusätzlich Autorität. 471 Bei allen Versuchen der Dezentralisierung und Delegation müsse freilich die Hauptverantwortung des VN-Sicherheitsrats für die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit unangetastet bleiben. 472 Noch schwerer faßbar ist das in der Agenda an verschiedenen Stellen enthaltene Bekenntnis zur Entwicklung eines neuen Typs von VN-Militäreinsätzen, die im Gegensatz des traditionellen Konzepts friedenserhaltender Operationen nicht die Zustimmung sämtlicher, an dem jeweiligen Konflikt beteiligten Parteien voraussetzt. 473 Am deutlichsten wird dieses neue Konzept in der oben bereits zitierten Definition friedenserhaltender Maßnahmen, die offensichtlich davon ausgeht, daß die bisher als Grundprinzip friedenserhaltender Operationen angesehene strikte Einhaltung des Konsensprinzips in Zukunft nicht mehr möglich sein würde. 474 Als weiteres Anzeichen fur die Aufweichung des strikten Konsensprinzips in diesem Bereich ist im übrigen auch der oben schon erwähnte Vorschlag des Generalsekretärs zu sehen, die vorbeugende Stationierung von VN-Kräften bei zwischenstaatlichen Konflikten schon auf Antrag einer Streitpartei vorzunehmen. 47S Die Vorschläge des Generalsekretärs im Bereich der Friedensschaffung durch militärischen Zwang sind nicht ganz zu Unrecht als "gewagt" bezeichnet worden, weil sie - wie die Vorschläge zur Umsetzung von Art. 43 und von Kapitel VIII der Charta - die Mitgliedsstaaten auffordern, das Potential der Charta zu nützen und endlich das in Kapitel VII vorgesehene Konzept der Friedenssicherung durch Zwang zu verwirklichen, und damit gleichzeitig an dem bis dahin gültigen, für viele auf ihre Unabhängigkeit bedachte Staaten bequemen Konzept einer ausschließlichen Friedenssicherung durch Konsens und Koope-
Vgl. V.N. Doc. A/47/277 - S/24111, Tz. 64. Ebd., Tz. 65. 472 Ebd. 473 Tatsächlich ist dem Generalsekretär in der wissenschaftlichen Diskussion mitunter vorgeworfen worden, er habe in der Agenda die Notwendigkeitzur Schaffung von VN-Truppen zum "robusten" Peace-keeping nicht hinreichend deutlich angesprochen, vgl. Weiss, Agenda for Peace, 85. 474 Vgl. Tz. 20 der Agenda, wonach unter friedenserhaltenden Operationen die Errichtung einer Präsenz der VN vor Ort zu verstehen ist, bisher mit Zustimmung aller Parteien, im Regelfall unter Beteiligung von Militär- und/oder Polizeikräften und häufig auch von Zivilpersonal. 475 Vgl. dazu oben I. Teil E. 11. I. sowie Tz. 28 und 29 der Agenda. 470 471
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1. Teil: Die Grundlagen des VN-Sicherheitsmechanismus
ration rütteln. 476 Die folgende Schilderung der Reaktionen in den Gremien der Vereinten Nationen wird zeigen, daß die in der Agenda gemachten Vorschläge letztlich ftir die Mehrheit der Mitgliedsstaaten zu gewagt waren. IV. Die Reaktionen in den Gremien der Vereinten Nationen
Insgesamt wurde die Agenda for Peace von den Mitgliedsstaaten mit großem Wohlwollen aufgenommen. Vor allem während der Generaldebatte der 47. Generalversammlung begrüßten die Mitgliedsstaaten fast durchweg den in dem Bericht des Generalsekretärs zum Ausdruck kommenden Willen zur Erneuerung des VN-Sicherheitssystems. 477 Die Repräsentanten der ständigen Mitglieder des Sicherheitsrats unterstützten in ihren ersten öffentlichen Stellungnahmen die Vorschläge die Reformvorschläge des Sicherheitsrats. So unterstrich der damalige amerikanische Präsident George Bush in seiner Ansprache vor der Generalversammlung am 21. September 1992, daß der Bedarf für eine Verbesserung der Fähigkeiten der Vereinten Nationen zur Friedenssicherung "nie größer war als heute".478 Er habe deshalb seinen Verteidigungsminister angewiesen, bei der Ausbildung der Streitkräfte mögliche Einsätze bei friedenserhaltenden Operationen zu berücksichtigen und außerdem nach Möglichkeiten zu suchen, die VN-Friedenstruppen mit Transport- und Logistikkapazitäten zu unterstützen. Auch bot Bush an, US-Militärstützpunkte ftir gemeinsame Ausbildung von Friedenstruppen zur Verftigung zustellen. 479 Die Empfehlungen des Generalsekretärs zur Umsetzung von Art. 43 und zur Aufstellung von Einheiten zur Friedensdurchsetzung wurden dagegen von vielen Mitgliedsstaaten mit merklicher Zurückhaltung, teilweise sogar mit offener Ablehnung aufgenommen. 48o Der folgende kurze Überblick über die Diskussionen der diesbezüglichen Empfehlungen des Berichts in der Generalversammlung und im Sicherheitsrat zeigt, daß dabei die Friedensschaffung durch Zwang betreffenden Vorschläge fast völlig ausgeklammert wurden. 481
476 Dies wird auch im engsten Mitarbeiterkreis des Generalsekretärs nicht bestritten, vgl. den bereits mehrmals zitierten Artikel des Finnen Tapio Kanninen aus der Abteilung tUr Politische Angelegenheiten der Vereinten Nationen, der Sekretär der Arbeitsgruppe war, die den Generalsekretär bei der Erstellung der Agenda for Peace unterstützte. Kanninen bezeichnet vor allem die Forderung nach Abschluß von Sonderabkommen als "recht kühn", vgl. Kanninen, Agenda, 15. 477 Vgl. Kanninen, Agenda, 16; Schricke, Agenda, 23. 478 Vgl. die deutsche Übersetzung der Rede Bushs in: Der Überblick 4/1992, 17. 479 Schricke, Agenda, 23. 480 Schricke, Agenda, 23; Kanninen, Agenda, 17. 481 Freudenschuß, Changing Role, 53.
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1. Die Reaktionen in der Generalversammlung und im Sonderausschuß für friedenserhaltende Operationen Bereits in einer eigens für eine Diskussion über die Agenda for Peace anberaumten Sitzung des Sonderausschusses für friedenserhaltende Operationen im August 1992 zeichnete sich ab, daß die Vorschläge des Generalsekretärs zur Stärkung der Kapazitäten der Vereinten Nationen auf dem Gebiet der Friedensdurchsetzung und der militärischen Zwangsmaßnahmen auf absehbare Zeit keine Chance auf Verwirklichung haben würden. Auf der Sitzung einer Arbeitsgruppe des Ausschusses am 18. August 1992, an der neben den sechs regulären Mitgliedern des Special Committee482 auch Vertreter von weiteren 28 Ländern als Beobachter teilnahmen 483 , begrüßten die Teilnehmer die Agenda zwar als umfassenden Versuch des Generalsekretärs, die Praxis der Vereinten Nationen auf dem Gebiet der vorbeugenden Diplomatie, der Friedensschaffung und der Friedenserhaltung an die neuen weltpolitischen Gegebenheiten und Herausforderungen anzupassen. 484 Schon bei der Diskussion über die vom Generalsekretär vorgeschlagene vorbeugende grenznahe Stationierung von Friedenstruppen ohne die Zustimmung aller Konfliktparteien zeigte sich jedoch deutlich, daß viele der an der Diskussion beteiligten kleineren und mittleren Staaten, die bisher den Hauptbeitrag zu den friedenserhaltenden VN-Operationen geleistet hatten, nicht bereit waren, etablierte Prinzipien des Peace-keeping zu überdenken: Viele Diskussionsteilnehmer äußerten in diesem Zusammenhang die Befürchtung, die Vorschläge des Generalsekretärs im Bereich des "preventive deployment" würden die Neutralität der Vereinten Nationen gefährden; auch stellten sie sich auf den Standpunkt, die Grundsätze des klassischen Peace-keeping, darunter die Zustimmung aller Konfliktparteien zur Stationierung, müßten auch bei zukünftige Operationen beachtet werden. 485 Die in der Agenda vorgeschlagene Aufstellung von Einheiten zur Friedensdurchsetzung würde nach Ansicht vieler Teilnehmer auf eine ganze Reihe von Problemen stoßen: Auch hier werde die Neutralität der Vereinten Nationen im jeweiligen Konflikt nicht durchzuhalten sein; auch sei zweifelhaft, ob angesichts der hohen Anforderungen an die teilnehmenden Einheiten innerhalb kurzer Zeit eine Aufstellung wirklich zu bewerkstelligen sei; außerdem wurde bezweifelt, daß die Mitgliedsstaaten wirklich bereit wären, nationale Verbände 482 Zur damaligen Zeit waren in dem Sonderausschuß die Vertreter Nigerias, Argentiniens, Kanadas, Japans, Polens und Ägyptens vertreten; vgl. U.N. Ooc. N47/386, 31 August 1992, Tz 5. 483 Oer Ausschuß hatte Vertreter Belgiens, Brasiliens, Bulgariens, Kolumbiens, Zyperns, Fidschis, Finnlands, Griechenlands, des Iran, Irlands, Libyens, Malaysias, Nepals, Neuseelands, Norwegens, Perus, Portugals, der Republik Korea, Senegals, Schwedens, Tunesiens, der Türkei, der Ukraine und Uruguays sowie den ständigen Beobachter der Schweiz und den Vertretern von Aserbeidschan, Chile und Kuba Beobachterstatus gewährt, vgl. U.N. Ooc. N47/386, 31 August 1992, Tz. 6. 484 U.N. Ooc. A/47/386, 31 August 1992, Tz. 9. 485 Ebd., Tz. 17-21.
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I. Teil: Die Grundlagen des VN-Sicherheitsmechanismus
für derart ungewisse und risikoreiche Einsätze auf Abruf bereitzuhalten und ob der Generalsekretär und seine Mitarbeiter in der Lage seien, solche Truppen beim Einsatz vor Ort zu kommandieren und zu kontrollieren. 486 Die Empfehlung des Generalsekretärs an den Sicherheitsrat, Verhandlungen über den Abschluß von Sonderabkommen nach Art. 43 aufzunehmen, fand ein geteiltes Echo: Während einige Delegationen den Vorschlag guthießen und den Sicherheitsrat aufforderten, sich klar und eindeutig für diese Empfehlung auszusprechen, machten andere grundsätzliche Bedenken geltend: Die Mitgliedsstaaten sollten sich davor hüten, die Möglichkeiten einer militärischen Lösung eines Konflikts ohne Rücksicht auf die politischen Hintergründe überzubetonen. Ein Staatenvertreter äußerte gar die Auffassung, der Vorschlag des Generalsekretärs zur Aufstellung eines stehenden VN-Heers widerspreche dem Sinn und Zweck von Kapitel VII.487 Ähnlich verlief auch die Diskussion über die Agenda for Peace während der Debatte der 47. Generalversammlung. Auch dort wurden die Vorschläge im Bereich der vorbeugenden Diplomatie besonders positiv bewertet. Wie schon im Sonderausschuß wurden jedoch vor allem von Staaten aus der Dritten Welt Vorbehalte gegenüber dem vom Generalsekretär vorgeschlagenen "preventive deployment" geäußert. Spürbare Zurückhaltung war auch gegen die übrigen Vorschläge im Zusammenhang mit dem möglichen Einsatz militärischer Gewalt erkennbar. 488 Immer wieder wurden Bedenken geäußert, daß eine Verwirklichung der Vorschläge der Agenda die einzelstaatliche Souveränität in Frage stellen könne. 489 Folgerichtig beschränkte sich die Generalversammlung dann auch darauf, mehrere Resolutionen zu einzelnen Themenbereichen der Agenda zu verabschieden, ohne sich jedoch zu den Vorschlägen des Generalsekretärs im Bereich von Kapitel VII zu äußem. 490 2. Die Reaktionen im Sicherheitsrat
Wer geglaubt hatte, der Sicherheitsrat als "Auftraggeber" der Agenda und eigentlicher Adressat der darin zu Kapitel VII enthaltenen Empfehlungen werde die diesbezüglichen Vorschläge des Generalsekretärs aufgreifen oder zu-
V.N. Doc. Al47/386, Tz. 17-21. Ebd., Tz. 42 und 43. Kanninen, Agenda, 16. Kanninen, Agenda, 16. Vgl. die Resolutionen zur vorbeugenden Diplomatie und damit zusammenhängenden Fragen (AIRES/47/120, 10 February 1993), zu friedenserhaltenden Operationen (AIRES/47171, 14 December 1992) und zum Schutz des bei friedenserhaltenden Operationen eingesetzten Personals (AIRES/47/72, 14 December 1992) und zur Schaffung eines "Peace-keeping Reserve Funds" in Höhe von 150 Millionen VS-Dollar (AIRES/47/217). 486 487 488 489 490
E. Die Agenda for Peace: Mißglückter Start in eine neue Ära
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mindest diskutieren, sah sich getäuscht. Eine "unheilige Allianz"491 unter Beteiligung der Vereinigten Staaten, des Vereinigten Königreichs, Chinas und einer Reihe von blockfreien Staaten verstand es, jegliche Diskussion über dieses Thema zu verhindern. Dabei waren die Beweggründe, die die einzelnen Mitglieder des Sicherheitsrats zu einer solchen Verhinderungstaktik bewogen, durchaus verschieden: Die USA und Großbritannien war vor allem daran gelegen, zu verhindern, daß ihre im Golfkrieg noch so erfolgreichen Truppen in irgendeiner Form ausländischer oder internationaler Kontrolle unterstellt würden. 492 Andererseits wollten sie auch nicht in die Verlegenheit geraten, die ihnen nicht genehmen Teile des Berichts ablehnen zu müssen, den sie selbst mit in Auftrag gegeben hatten. 493 China dagegen wäre bei einer Diskussion über die Vorschläge Gefahr gelaufen, seine langjährige Ablehnung der Lösung internationaler Konflikte durch Waffengewalt in Frage stellen zu müssen und sich einer Diskussion über die Relativität einzelstaatlicher Souveränität ausgesetzt zu sehen, zweier Eckpfeiler chinesischer Außenpolitik, die es erst auf dem Gipfeltreffen Ende Januar 1992 erneut bekräftigt hatte. 494 Die Länder der Dritten Welt schließlich hüteten sich vor einer Unterstützung von Vorschlägen, die - wie es die oben diskutierten Anregungen des Generalsekretärs zur Friedensschaffung offensichtlich taten - ihre erst vor kurzem gewonnene Unabhängigkeit und nationale Souveränität in irgendeiner Form in Frage gestellt hätten. 495 Wenig Interesse an einer Umsetzung dieser Vorschläge hatten auch viele kleinere Staaten, vor allem in Europa, die bis dahin den Großteil der VN-Blauhelme entsandt hatten: Sie sahen ihren Einfluß auf das Friedenssicherungssystem der Vereinten Nationen schwinden. Statt an einer Entwicklung eines neuen Typs friedenserhaltender Operationen war ihnen vor allem an einer Verbesserung der finanziellen und logistischen Grundlagen für traditionelle Operationen gelegen. 496 Angesichts dieser Übermacht mußten auch Frankreich und die UdSSR bzw. Rußland ihre hochfliegenden Pläne zur Verbesserung der militärischen Kapazitäten der Vereinten Nationen zurückschrauben. 497 Die Front der Reformgegner hatte sich durchgesetzt. 491 So Freudenschuß, Changing Role, 53.
Vgl. Weiss, Agenda for Peace, 87. Freudenschuß, Changing Role, 53. 494 Vgl. die Äußerungen des damaligen Ministerpräsidenten Li Peng, U.N. Doc. S/PV .3046,92. 495 Weiss, Agenda for Peace, 86. 496 Weiss, Agenda for Peace, 86. 497 Freudenschuß, Changing Role, 53; der französische Präsident Fran,