Dürers Kunsttheorie: vornehmlich in ihrem Verhältnis zur Kunsttheorie der Italiener [Reprint 2011 ed.] 9783111502960, 9783111136455


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German Pages 220 [228] Year 1915

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Table of contents :
Einleitung
Erster Hauptteil: Die praktische Kunstlehre
Erster Teil: Die Versuche zur Lösung des Richtigkeits problems
Einleitung: Die zwei Arten der Richtigkeit
Erster Abschnitt: Das Problem der formalen Richtigkeit
Einleitung: Allgemeines vom Sehen
Erstes Kapitel: Die Perspektive
Zweites Kapitel: Die parallelprojektiven Hilfskonstruktionen
Zweiter Abschnitt: Das Problem der objektiven Richtigkeit
I. Anatomie
A. In Italien
B. Bei Dürern: Kopien 1. nach Lionardo, 2. nach Pollaiuolo
II. Bewegungslehre
A. Die mechanische Bewegungslehre (Fig. des vierten Buches)
B. Die psychologische Bewegungslehre oder Mimik
III. Physiognomik. Ihre Erörterung führt zum
Zweiten Teil: Die Versuche zur Lösung des Schönheitsproblems (die Proportionsstudien)
Einleitung: Die Symmetria
Erstes Kapitel: Die Epoche vor der Reise
Zweites Kapitel: Tatsächliche Übernahmen
Drittes Kapitel: Die Epoche nach der Reise
Zweiter Hauptteil: Die theoretische Kunstlehre (Dürers Ästhetik)
Einleitung: Das Material
Erster Teil: Das Problem der Richtigkeit
Zweiter Teil: Das Problem der Schönheit
Erstes Kapitel: Dürers Gedanken über die Stellung des Schönheitsproblems
Zweites Kapitel: Dürers Gedanken über die Lösung des Schönheitsproblems
Dritter Teil: Das Problem der künstlerischen Qualität
Erstes Kapitel: Künstlerische Qualität und Naturschönheit. (Objekt und Persönlichkeit)
Zweites Kapitel: »Kunst« und Brauch, »Kunst« und Natur
Schluß: Dürer, Raffael, Lionardo
Exkurs I: Die Proportion des Pferdes
Exkurs II: »Ideale« und »charakteristische« Schönheit
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Dürers Kunsttheorie: vornehmlich in ihrem Verhältnis zur Kunsttheorie der Italiener [Reprint 2011 ed.]
 9783111502960, 9783111136455

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DÜRERS KUNSTTHEORIE

DER VORLIEGENDEN ARBEIT WURDE IM JAHRE 19x3 DER PREIS DER GRIMM-STIFTUNG ZUERKANNT

DURERS KUNSTTHEORIE VORNEHMLICH IN IHREM VERHÄLTNIS ZUR KUNSTTHEORIE DER ITALIENER VON

ERWIN PANOFSKY „ERAT AUTEM SI QUID OMNIUM IN ILLO VIRO OUOD VITII SIMILE VIDERETUR. UNICA INFINITA DILIGENTIA, ET [IN SE QUOQUE INQUISITRIX SAEPE PARUM AEQUA" (J. CAMERARIUS ÜBER DÜRER)

BERLIN 1915 DRUCK UND VERLAG VON GEORG REIMER

Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten

DEM ANDENKEN MEINES VATERS

Vorwort Das Thema der vorliegenden Arbeit war ursprünglich durch eine Aufgabe bestimmt, die im Jahre 1911 von der Berliner philosophischen Fakultät für den Preis der GrimmStiftung gestellt wurde und folgenden Wortlaut hatte: Es soll das Verhältnis Dürers zu den italienischen Kunsttheoretikern, vornehmlich zu Lionardo, erörtert werden. Bei der Behandlung dieser Aufgabe konnte es von vornherein zweifelhaft erscheinen, ob nur das, was man heute Kunsttheorie zu nennen gewohnt ist, d. h. die Ästhetik, in Betracht zu ziehen sei, oder ob der ganze Komplex dessen, was die Renaissance unter diesem Begriffe verstand (d. h. außer der Ästhetik auch noch Perspektive, Proportionslehre usw.) in die Erörterung eingeschlossen werden müsse; schien es auch zuerst aussichtsreicher und bequemer, den ersten Weg zu wählen, so stellte sich doch bald heraus, daß Dürers ästhetische Äußerungen kaum ganz verstanden werden können, wenn man sie aus ihrer Verbindung mit seinen übrigen theoretischen Studien herauslöst: so gewiß Dürer seine Ansichten über die Kunst nur in Sätzen niedergelegt hat, die in den Zusammenhang seiner beiden großen Bücher eingestellt werden sollten oder eingestellt worden sind, so gewiß bestehen wechselseitige und schwer lösliche Beziehungen zwischen diesen Ansichten und den Dingen, mit denen sich jene Bücher beschäftigen. Und mit dieser weiteren Auffassung des gestellten Themas mußte nun die ganze Darstellung eine allgemeinere werden, als sie durch den Wortlaut der Aufgabe gefordert zu sein schien: da man die Frage des »Woher« nicht ins Auge fassen

VIII

Vorwort.

kann, ehe man sich über das »Was« der Dinge im klaren ist, und da — denn das Gebiet ist recht unpopulär und ermangelt jeder zusammenfassenden Darstellung — in unserem Falle die Kenntnis dieses »Was« bei den wenigsten Lesern vorausgesetzt werden konnte, so hatte eine Abhandlung, die das Verhältnis Dürers zu den italienischen Kunsttheoretikern erörtern wollte, zugleich das Wesen und die Tendenz der ganzen renaissancistischen Kunstlehre darzulegen; das aber konnte nur dadurch geschehen, daß sie diese Lehre in systematischer, ja systematisierender Weise zu analysieren versuchte. Denn die Theorie der bildenden Kunst ist in der Renaissance im allgemeinen und bei Dürern im besonderen ein nach Ziel und Methode so heterogenes Gebilde, daß eine Untersuchung, die diesen Komplex vieler, später ganz voneinander losgelöster Wissenschaften in seiner noch ungeschiedenen Gesamtheit zu begreifen hat, nur dann klar und zusammenhängend werden kann, wenn sie die der Epoche fehlende Systematik von sich aus einführt: sie muß es unternehmen, durch die damalige Kunsttheorie gleichsam einen Querschnitt zu legen, der ihre einzelnen Teilgebiete erkennen läßt, und kann erst dadurch feststellen, wo und wie Dürer sich als Kunsttheoretiker betätigte und wo und wie er sich dabei mit den Bestrebungen seiner italienischen Vorgänger und Zeitgenossen berührte.

Disposition Seite

Einleitung

ϊ

Erster Hauptteil: Die praktische Kunstlehre

7

Erster Teil: Die Versuche zur Lösung des Richtigkeitsproblems

7

Einleitung: Die iwei Arten der Richtigkeit

7

Erster Abschnitt: Das Problem der formalen Richtigkeit

11

Einleitung: Allgemeines vom Sehen

11

Erstes Kapitel: Die Perspektive A. Die »perspectiva communis« B. Die »perspectiva artificialis« A A . Die exakten Verfahren I. Dürers Verfahren 1. Das umständlichere Verfahren 2. Der »nähere Weg«

14 14 20 26 26 26 30

II. Die Herkunft dieser Verfahren

32

1. Des umständlicheren Verfahrens 2. Des »näheren Weges« III. Weitere Übernahmen

36

BB. Die approximativen Verfahren

39

I. Dürers Verfahren

39

II. Die Herkunft von Dürers Verfahren C C . Allgemeines.

32 33

40

Schluß

42

Zweites Kapitel: Die parallelprojektiven Hilfskonstruktionen..

45

A. Die Konstruktion des dritten Risses als solche

45

I. Das unverbesserte Verfahren (D 117)

46

II. Der »Übertrag«

48

B. Die Konstruktion des dritten Risses bei B e w e g u n g e n . . I. Das einfache Parallelenverfahren 1. Der Kopi

52

2. Der Körper

55

II. Das Kuben verfahren... P a n o f s k y , Dürer.

51 52

56 b

X

Disposition. Seite Zweiter Abschnitt: Das Problem der objektiven Richtigkeit

63

I. Anatomie

64

A . In Italien

64

B. Bei Dürern: Kopien 1. nach Lionardo, 2. nach Pollaiuolo II. Bewegungslehre

66 69

A . Die mechanische Bewegungslehre (Fig. des vierten Buches)

69

B. Die psychologische Bewegungslehre oder Mimik

72

III. Physiognomik.

Ihre Erörterung führt zum

Zweiten Teil: Die Versuche zur Lösung des Schönheitsproblems (die Proportionsstudien)

78

Einleitung: Die Symmetria

78

Erstes K a p i t e l : Die Epoche vor der Reise

81

A . Die Beispiele

81

I. Die männlichen Figuren

81

II. Die weiblichen Figuren

84

III. Ergebnis

89

B. Die Herkunft des Schemas

91

Zweites Kapitel: Tatsächliche Übernahmen

96

A . Ganze Figuren

96

I. D 19, D i , D 18

96

II. Sonstiges

100

B. Köpfe

101

Drittes Kapitel: Die Epoche nach der Reise

102

A . Die neue Methode

102

I. Beispiele und Wesen der neuen Methode

102

II. Herkunft der neuen Methode

105

B. Das neue Ziel

111

C . Weiterbildung und Resultate

114

I. Das erste Buch (Empirisches und Anempirisches) . II. Das zweite Buch (Die Exempeda)

115 119

Zweiter Hauptteil: Die theoretische Kunstlehre (Dürers Ästhetik)

122

E i n l e i t u n g : Das Material

122

Erster Teil: Das Problem der Richtigkeit

123

Zweiter Teil: Das Problem der Schönheit

127

Erstes Kapitel: Dürers Gedanken über die Stellung des Schönheitsproblems

127

A . Dürers Auffassung des Schönheitsproblems (Das Problem der bedingten Schönheit) B. Dürers

Auffassung des Schönheitsproblems in

Verhältnis zu der der Italiener

127 ihrem 131

Disposition.

XI Seite

Zweites Kapitel: Dürers Gedanken über die Lösung des Schönheitsproblems 136 A. Kriterien der Schönheit 138 I. Wohlgefallen 138 I L Mittelmaß 140 III. Harmonie 142 B. Gestaltungsprinzipen 148 I. Die Aufstellung der Maße 149 II. Die bildliche Gestaltung des Schönen 153

Dritter Teil: Das Problem der künstlerischen Qualität. 157 Erstes Kapitel: Künstlerische Qualität und (Objekt und Persönlichkeit)

Naturschönheit.

Zweites Kapitel: »Kunst« und Brauch, »Kunst« und N a t u r . . . A. »Kunst« und Brauch B. »Kunst« und Natur

157 166 166 174

Schluß: Dürer, Raffael, Lionardo

181

Exkurs I : Die Proportion des Pferdes Exkurs I I : »Ideale« und »charakteristische« Schönheit

200 205

Abgekürzte Literaturangaben Α. bedeutet: L . B . Alberti's kleinere kunsttheoretische Schriften, ed. Janitschek. Wien, 1877. (Q XI.) B. bedeutet: Bartsch, le peintre graveur, 1 8 0 3 — 2 1 , vol. VII. (bzw. XIII). D. bedeutet: Dürers Dresdner Skizzenbuch, ed. Bruck. Straßburg, 1905. L . bedeutet: Lippmann, Handzeichnungen von A. Dürer. Berlin, 1883. ff. L . F. bedeutet: Lange und Fuhse, Dürers schriftlicher Nachlaß. Halle, 1893. P. L . (Proportionslehre) bedeutet: »Vier Bücher von menschlicher Proportion« . . von A. Dürer. Nürnberg, 1528. Q. bedeutet: Quellenschriften zur Kunstgeschichte, Wien. Q. N. F. bedeutet: Quellenschriften zur Kunstgeschichte. Neue Folge. R . bedeutet: Richter, the litt, works of Lionardo da Vinci. London, 1883. R. 12 bedeutet: Richter, Artikel 12. R. X I I bedeutet: Richter, Tafel XII. Rav-Moll. bedeutet: Les Manuscrits de Lέonard de Vinci, ed. Charles Ravaisson-Mollien. Paris, 1 8 8 1 — 1 8 9 1 . Tr. (Trattato) bedeutet: Lionardo da Vinci, das Buch von der Malerei, ed. H.Ludwig. Wien, 1 8 8 1 . (Q X V ff.) Tr. 1 2 bedeutet: Trattato, Artikel 12. Unterweisung bedeutet: »Underweysung der Messung mit dem zirckel un richtscheyt.« von A. Dürer. Nürnberg, 1525.

Die arabischen Zahlen hinter diesen Abkürzungen beziehen sich außer bei B., R, und Tr. auf die Seiten- bzw. Tafelzahlen der betreffenden Werke. Die Texte sind, ausgenommen den Fall, daß das zitierte Werk in den »Quellenschriften« erschien, dort aber nur in deutscher Übersetzung gedruckt ist, in der Ursprache zitiert. Die Schreibung Dürerischer Texte richtet sich aus praktischen Gründen nach der von Lange und Fuhse eingeführten Orthographie; bei den Stellen jedoch, die in ihrer Publikation noch nicht enthalten sind, ist eine getreue Wiedergabe angestrebt worden.

Einleitung. »Idoch so ich Keinen find, der do Etwas beschrieben hätt van menschlicher Maß zu machen, dann einen Mann, Jakobus genennt, van Venedig geborn, ein lieblicher Moler. Der wies mir Mann und Weib, die er aus der Maß gemacht hätt, und daß ich auf diese Zeit liebr sehen wollt, was sein Meinung wär gewest, dann ein neu Kunigreich, und wenn ichs hätt, so wollt ich ihms zu Ehren in Druck bringen, gemeinen Nutz zu gut. Aber ich was zu derselben Zeit noch jung und hätt nie van solchem Ding gehört. Und die Kunst ward mir fast lieben und nahm die Ding zu Sinn, wie man solche Ding möcht zu Wegen bringen.« — Die »Vier Bücher von menschlicher Proportion«, in deren Einleitung diese Worte x) stehen sollten, sind an das Licht gekommen, als Albrecht Dürer schon gestorben war: sie sind das Resultat einer fast dreißigjährigen Arbeit gewesen. Daß die Mitteilungen eines Italieners Dürern den ersten Anstoß zu dieser Arbeit gegeben haben, ist eine sehr wichtige Tatsache innerhalb seiner Beziehungen zur italienischen Kunst theorie; und es ist ebenso wichtig, daß jahrelang die durch diese Mitteilungen veranlaßten Proportionsstudien auf sein künstlerisches Schaffen in stärkstem Maße zurückwirkten 3 ).— Gleichwohl ist hiermit immer noch nicht vollkommen bezeichnet, was die spärlichen Hinweise des persönlich wohl L . F . 342, 19. a)

Cf. Ludwig Justis grundlegendes Buch: Konstruierte Figuren und Köpfe

. . Dürers.

Leipzig, 1902, passim.

P a n o f s k y , Dürer.

I

Einleitung.

2

recht indifferenten Barbari*) für Dürer bedeuten mußten: indem sie ihm kundtaten, daß jenseits der Alpen Menschen »aus der Maß« gemacht würden, wiesen sie über sich hinaus auf die Existenz einer allgemeinen Kunsttheorie, durch deren Forderungen und Errungenschaften das Bestehen einer Proportionslehre allein verständlich wurde; und damit war Dürern wirklich — vorläufig nur von weitem — ein neues Königreich gezeigt worden, innerhalb dessen die Wissenschaft von der Maß nur eine einzelne Provinz bedeutete. Lange mußte Dürer, ohne etwas Neues erfahren zu können, auf dem beschränkten Gebiete dieser Proportionslehre aus Eignem weiterarbeiten. Als er aber in den Jahren 1505—1507 in Venedig war, drängten sich die Anregungen von allen Seiten an ihn heran: In Italien hatte sich ein Künstlergeschlecht herangebildet, das, seit langem aus der gildenmäßigen Abgeschlossenheit emanzipiert, auf die von der Zunfttradition unabhängigen Grundlagen der Kunst sich besonnen hatte, und den Blick zugleich auf die Theorie der Antike und die empirisch zu ergreifende Wirklichkeit gerichtet hielt. Die Künstler waren nicht selten vielseitig oder allseitig befähigte Leute, die von ihrer — natürlich vorwiegend anschaulichen — Begabung heute vielleicht ebensogut zur Mathematik oder Naturwissenschaft geführt worden wären und einen an diesen Disziplinen stark interessierten Kreis bildeten. Schon seit Ghibertis 2 ) Tagen strebten sie danach, dieselben für die Kunst nutzbar zu machen, daneben aber auch die humanistische Erudition der Epoche sich anzueignen. Und so hatte das italienische Quattrocento außer einer auf antiken Begriffen aufgebauten Ästhetik eine von den exakten Wissenschaften ausgehende, sehr praktisch gerichtete Kunstlehre hervorgebracht es gab eine ganze Reihe von Künstlern, die mit dem Proportionszirkel und dem Seziermesser den Bau des Menschen zu ergründen trachteten oder die zeichnen*) Dieser Name ist seit Harzen (Naumann-Weigels Archiv f. d. zeichn. Künste, 1 8 5 5 , p. 2 1 0 ) wohl allgemein für jenen Jakobus akzeptiert. 2

) Cf. seine 1 9 1 2 von J . v . Schlosser edierten

»Denkwürdigkeiten«.

Einleitung,

3

den Künste durch geometrische und perspektivische Studien mathematisch zu fundieren suchten. Ist Dürer auch in Venedig mit diesen charakteristischen Renaissanceerscheinungen, in denen sich Kunst mit Theorie vereinigte, nicht persönlich zusammengekommen—sonst hätte er nicht, um Perspektive zu lernen, nach Bologna zu reisen brauchen— x ), so war doch ihr Ruhm und die Kenntnis ihrer Bestrebungen zu weit verbreitet, als daß er nicht hätte von ihrem Wesen irgendwie berührt werden sollen: daß ihm von seiten Lionardos ganz konkrete Anregungen in diesen Tagen zuteil geworden sind, wissen wir mit völliger Bestimmtheit. Und wenn Dürern an den venezianischen Malern, über die er sich 3 ) nicht gerade verehrungsvoll äußert, nur das Adhärente, die soziale Stellung des italienischen Künstlers, Eindruck machte 3), so mußte ihm bei jenen Künstlertheoretikern gerade das Essentiale, die für den Norden grundsätzlich neuartige, seiner eignen Natur aber im Innersten verwandte Geisteshaltung ungeheuer anziehen: daß in Italien (von universellen, aber endgültig doch mehr literarisch zu wertenden Persönlichkeiten wie Alberti ganz abgesehen) ausübende Künstler existierten, die in der Kunst nicht mehr das im beschränkten Kreise tüchtige Handwerk, sondern eine wissenschaftlich begründete und gewissermaßen mit der Geistes kultur der Zeit sich berührende Begreifung der sichtbaren Welt erblickten. Und nun empfindet es Dürer geradezu als seine Mission, diese neue Kunstauffassung dem Norden nicht nur zu vermitteln, sondern auch durch ein eignes großes Werk sie durchzusetzen. In den Einleitungen der beiden wesentlich mathematisch orientierten Schriften, die er, seine eigentliche Begabung erkennend, 1525 und 1528 an Stelle eines anfänglich projektierten allgemeinen Malerbuches herausgab, spricht er seine Absicht deutlich aus 4): Den deutschen Künstlern, die *) *) 3) 4)

L. F. L. F. Cf. L. L. F.

40, 28 ff.; cf. auch p. 20 ff. 22. F. 41, 4. 180, 9 ff. und 207, 35 ff.; beides zitiert unten pp. 166/167.

Einleitung.

4

bis dahin nur im unbewiesenen und unbeweisbaren Atelierbrauch auf gewachsen wären, den »rechten Grund aller Malerei« zu vermitteln, damit sie nicht mehr, auf Tradition und eignes Gefallen angewiesen, zwar hie und da »gewaltigliche«, aber meist fehlerhafte Werke schaffen sollten, sondern sich selbständig und auf beweisbare Regeln gestützt mit der Wirklichkeit auseinandersetzen könnten. Wenn Dürer sich mit diesem Bestreben als der Träger einer neuen, ja epochalen Idee fühlte und fühlen durfte — es klingt fast pathetisch, wenn er sagt: »Dann ob ich etwas anzünd und ihr all Mehrung mit künstlicher Bessrung darzu thüt, so mag mit der Zeit ein Feuer doraus geschürt werden, das durch die ganzen Welt leuchtt 1 )«—, so war doch diese Idee eben nur für Deutschland neu: Das umfängliche Programm des beabsichtigten Malerbuchs (L. F. 280, 1) war ohne Bekanntschaft mit Lionardos Projekten unmöglich 2 ), und Dürer wußte selbst am besten, daß er im eignen Land eine Saat säen wollte, die jenseits der Alpen schon Früchte getragen hatte; das ist klarer als in den — immerhin deutlich genug auf Italien anspielenden — Sätzen der endgültig gedruckten Einleitungen in einem ursprünglicheren Entwürfe ausgesprochen 3): »Das fünft, dass ich allein unsern tewtzschen Jünglingn fürschreib. Das sechst, dass ich die Walchen fast lob in ihren nacketn Bildern und zuvor in der Perspettiva.« *) L . F . 299, 1 3 ff. und öfter. *) Überhaupt tauchen in den Einleitungsentwürfen zu diesem Malerbuch ( L . F . 280—295), den frühesten Mss., die wir von Dürer besitzen, ziemlich viele Gedanken (nicht speziell kunsttheoretischer, sondern allgemeiner N a t u r ) auf, deren Ursprung meist nicht exakt bestimmbar, aber sicher italienisch ist, Gedanken, die sozusagen im italienischen Milieu liegen: Daß die Malerei den Anblick Verstorbener bewahre (L. F . 295, 3 ; cf. A . 89), daß sie der Religion diene und Ruhm sowie Geld einbringe ( L . F . 295, 1 ; 284, 2 9 ; 285, 5 ; cf. eben dort und ff.; dagegen Dürers eigene Klagen über die geringe Stellung der Maler in Deutschland!), daß die jungen Maler zuerst nach guten Originalen zeichnen sollen ( L . F . 287, 1 2 ; cf. Lionardo Tr. 47). — Daß manche der anderen an dieser Stelle gegebenen Vorschriften für den Malerlehrling aus Marsiglio Fieinos Buch vom gesunden Leben stammen, konnte Giehlow (Mitteil. d. Gesellsch. f. vervielfält. Kunst, 1904, p, 63 ff.) überzeugend nachweisen. 3) L . F . 254, 1 7 — 2 0 .

Einleitung.

5

Es ist kein Zweifel: nur die Berührung mit der italienischen Kunsttheorie hat ihm die Möglichkeit und Notwendigkeit einer exakten Fundierung der Kunst vor Augen gestellt und ihm damit seine wissenschaftliche Sendung zum Bewußtsein gebracht. Und das ist der ungemein bedeutsame Etnfluß, der ihm aus seinem Verhältnis zu jener erwuchs. Für die anderen deutschen Künstler haben seine theoretischen Werke nicht den Erfolg gehabt, den er sich versprach: Da sie — im äußersten Gegensatz zu den analogen Schriften in Italien — kein vorhandenes Bedürfnis nach Theorie befriedigen, sondern dieses Bedürfnis erst schaffen wollten, hatten sie kein neues und großartiges Aufblühen der Kunst im Gefolge, sondern nur eine Menge anderer Traktate und eine allzu hohe Schätzung perspektivisch-technischer Bravour. E r aber hat bei der Aufrichtung jenes Lehrgebäudes seine intellektuellen Fähigkeiten zu einer für den Nürnberger Handwerkerssohn bewundernswerten und — Lionardo ausgenommen — von einem italienischen Künstler kaum je erreichten Entfaltung gebracht, und dadurch sein Wesen nach einer völlig neuen Seite hin ausgestaltet. Wie man über die Rückwirkungen seiner theoretischen Beschäftigung auf die Praxis seiner Kunst auch denken mag (uns steht es nicht zu, darüber zu urteilen): als Menschen hat die strebende und entsagende, eindringende und aufbauende Tätigkeit seines Geistes ihn größer gemacht; er ist an seiner Arbeit zu dem neuen, über die Grenzen der Werkstatt weit hinausblickenden Künstlertypus, den er hatte inaugurieren wollen, in beispielloser Weise herangewachsen. — Damit wäre ungefähr das gesagt, was Dürers Verhältnis zur italienischen Kunsttheorie, ohne deren Beispiel er nie an eine eigne wissenschaftliche Tätigkeit hätte denken können, für die Entwicklung seiner Persönlichkeit bedeutete. Wir aber haben nunmehr im einzelnen zu untersuchen, wie seine Lehre sich sachlich zu der Kunsttheorie der Italiener verhielt, wobei wir uns jedoch auf die Kunsttheorie im engeren Sinn, d. h. auf die Theorie der bildenden Kunst beschränken zu dürfen glauben; denn Dürers architektonische und kunst-

6

Einleitung.

gewerbliche Konstruktionsanweisungen stehen einmal mit einer wirklich künstlerischen Betätigung nur in sehr lockerem Zusammenhang, sodann möchten sie — abgesehen von der bekannten Beziehung der in der Unterweisung (K 2 r ff.) angegebenen Antiquabuchstaben zu dem Alphabete P a c i o l i s — als von allem Italienischen völlig verschieden und unabhängig anzusehen sein. — *

*

*

Das gesamte Gebiet der renaissancistischen Kunsttheorie läßt sich zunächst in zwei große Bezirke trennen, die sich nicht durch eine Verschiedenheit der betrachteten Objekte, sondern durch eine Verschiedenheit der Betrachtungsweise gegeneinander abgrenzen. Diese beiden Bezirke sind die der theoretischen und praktischen Kunstlehre, von denen die eine als Theorie über die Kunst, die andere als Theorie für die Kunst bezeichnet werden kann. Der ohne weiteres einleuchtende Unterschied zwischen beiden läßt sich dahin präzisieren, daß jene der Kunst die Probleme stellt, diese der Kunst die Probleme löst: die theoretische Kunstlehre läuft auf das hinaus, was man »Ästhetik« nennt, während die praktische die unterschiedlichen Hilfsdisziplinen zur bildnerischen Gestaltung in sich begreift. Wir wenden uns zunächst der Betrachtung der praktischen Kunsttheorie zu, also derjenigen, die die zwei Hauptprobleme, welche die Renaissanceästhetik der Kunst zu stellen hat, zu lösen unternimmt: Das Problem der Richtigkeit und das Problem der Schönheit. ' ) »Diuina proportioned Venedig, 1509, Q. N. F. II, p. 3 5 2 — 3 6 1 .

Die

Beziehung wurde entdeckt von Passavant (Le peintre graveur i860, I, p. 146), und aus der Benutzung einer gemeinsamen (lionardesken?) Quelle erklärt von Dehio (Rep. I V , p. 269 fi.).

Erster H a u p t t e i l .

Die praktische Kunstlehre. Erster Teil.

Die Versuche zur Lösung des Richtigkeitsproblems. Das Problem der Richtigkeit ist, kurz gesagt, das Problem, die Dinge so darzustellen, wie sie sind J ). Dieses in der Ästhetik der Renaissance sehr bedeutsame Problem ist nun aber — und das offenbart sich bereits in dem Wortlaut unserer Fassung — kein einfaches, sondern trägt in sich eine eigentümliche Zwiespältigkeit, infolge deren die praktische Kunsttheorie bei seiner Lösung zwei parallele, aber methodisch völlig verschiedene Wege zu gehen genötigt ist. Wenn der Künstler die Dinge so darstellen soll, wie sie sind, so ist die erste Voraussetzung hierzu, daß er weiß, wie sie sind. Und dieses Wissen dem Künstler zu verschaffen, ist nun die eine Aufgabe, die die Kunsttheorie erfüllen muß, wenn sie das Richtigkeitsproblem zu lösen unternimmt; sie wird sich also zunächst an alle darzustellenden Dinge der Welt mit der Frage nach ihrem objektiven und individuellen Wesen zu wenden haben. Da aber diese Frage keine andere *) E s sei betont, daß die ganze Erörterung der praktischen Kunsttheorie sich auf den Standpunkt der Epoche stellt und stellen muß, der die heute fast zum Hauptproblem der ganzen Ästhetik gewordene Frage, ob und inwieweit von einer »Richtigkeit« im bezeichneten Sinn überhaupt gesprochen werden könne, vollkommen fernlag, und die (vgl. unten p. 123 ff.) durchaus der Überzeugung war, daß die Kunst »die Dinge in wahrhafter Art nachahme«.

8

Die praktische Kunstlehre.

ist, als die der empirischen Naturwissenschaft, und allein diese sie zu beantworten vermag, so folgt daraus, daß die Kunsttheorie, wenn anders sie der ersten Teilaufgabe des Richtigkeitsproblemes, die wir wegen der ihr eigentümlichen Fragestellung das Problem der realen oder besser »objektiven« Richtigkeit nennen müssen, gerecht werden will, die in Betracht kommenden Resultate der empirischen Naturwissenschaft, je nachdem der Anatomie, Physiologie, Physik oder Botanik, in sich aufgenommen haben muß; in einer Epoche aber — und eine solche ist die Renaissance —, in der jene Disziplinen noch nicht viel übernehmbare Ergebnisse gezeitigt haben, muß die praktische Kunsttheorie Naturwissenschaft in ausgedehntestem Maße s e i n . Dies ist natürlich eine Forderung, auf die von allen Renaissancetheoretikern nur Lionardo ernsthaft eingehen konnte, während alle andern — Dürer nicht ausgenommen — nur kleine Teilgebiete der Naturwissenschaft, und auch diese oft in unzureichender Weise, zu bearbeiten versuchten. Dafür ist aber gerade bei Lionardo die Einordnung der empirisch naturwissenschaftlichen Resultate in den Zusammenhang der Kunsttheorie in besonders deutlicher und interessanter Weise zu erkennen. Wir sehen, wie entweder seine Naturbeobachtungen ausgehen von der Frage, wie der Maler es machen m ü s s e o d e r , wohl häufiger, wie die Resultate seines an und für sich selbständigen Naturforschens, sobald sie sich als dem Maler eventuell nützliche erweisen, in die Kunsttheorie hineingezogen erscheinen; was sich dadurch dokumentiert, daß anatomische (Tr. 271, ein Beispiel immer für mehrere), mimische (R. 583) oder physikalische (Tr. 766) Erfahrungssätze mit einem »necescita constringie il pittore ad hauere notitia« oder »Come debono essere fatti« oder ein »0 pittore« eingeleitet, meist aber nur durch die Überschrift »pictura« als in den Komplex der Kunsttheorie aufgenommen gekennzeichnet werden. — Daher möchte der Kompilator des *) Bzw. wie er es nicht machen dürfe; so knüpft zum Beispiel in Tr. 2 3 4 ein physikalischer Lehrsatz an den Fehler derjenigen an, die in ihren Bildern sich gegen ihn versündigen.

Die Versuche zur Lösung des Richtigkeitsproblems.

9

»Trattato della pittura« durchaus im Sinne des Meisters und der ganzen Epoche gehandelt haben, wenn er auch da, wo solche Zusätze fehlen, alle die Sätze von der Statik des menschlichen Körpers, von den Eigenschaften der Luft als Medium des Lichts, vom Schattenwurf, von der Bestrahlung der Wolken und vom Wachstum der Bäume in ein Malerbuch rezipiert hat *), da dergleichen nach Objekt und Methode durchaus naturwissenschaftliche Sätze als solche betrachtet werden können, die einer eventuellen bildlichen Darstellung die objektive Richtigkeit garantieren und damit zu den kunsttheoretischen gehören. — Nun ist aber mit der objektiven Erkenntnis der Dinge, selbst wenn sie in umfassendster Weise erreicht worden ist, das Problem der Richtigkeit nur erst zur Hälfte gelöst. Denn da der Künstler die Dinge nicht nur so, wie sie sind, kennen, sondern auch darstellen soll, so hat die Kunsttheorie, nachdem sie ihm jene Kenntnis verschafft hat, nun auch noch Regeln anzugeben, die festsetzen, wann die Darstellung als solche »richtig« sei, d. h. wann sie das — nunmehr seinem Wesen nach bekannte — Ding objektiv wiedergegeben habe. Damit gewinnt das Problem der objektiven Richtigkeit sein Gegenstück in einem Problem der formalen Richtigkeit: während jenes es mit den objektiven Eigenschaften der Dinge zu tun hatte und davon, daß diese künstlerisch dargestellt werden sollten, gar nicht berührt wurde, muß umgekehrt die Frage nach den Gesetzen der Darstellung an den objektiven Eigenschaften der Dinge vorbeigehen und nach Prinzipien suchen, die für alle Objekte, ohne Rücksicht auf ihre individuelle Beschaffenheit, die Form feststellen, in die sie innerhalb der Darstellung eingehen müssen, damit diese eine »richtige« sei. Dies formale Problem löst sich sofort und ohne Schwierigkeit für die Freiplastik: da sie ihren Produkten eine mit der des Gegenstandes identische, d. h. dreidimensionale Es kann jedoch nicht geleugnet werden, daß er manchmal in der Aufnahme der (ζ. B. botanischen) Sätze zu weit, d. h. über die Möglichkeit darstellerischer Ausnutzung hinaus, gegangen ist.

10

Die praktische Kunstlehre.

Form gibt, so ist diese ohne weiteres und ausschließlich vom Gegenstand aus bestimmbar. Der Freiplastiker hat sein Objekt dann richtig dargestellt, wenn sein Werk dem Objekt in allen Abmessungen kongruent oder (im mathematischen Sinn) ähnlich ist J ). Die Flächenbildkunst hingegen, für uns im wesentlichen die Malerei — sonst käme höchstens noch das »malerische Relief« 2 ) in Frage—, gibt ihren Produkten eine der des Objekts fremde, weil zweidimensionale Form, die deshalb nicht allein von diesem aus bestimmt sein kann. Da nun aber die bildende Kunst ihren Gegenstand nur gestaltet, insofern er gesehen wird, so kann die zweite Bestimmung für die formale Gestaltung des flächenbildlichen Kunstwerks nur im Sehen liegen. Und so ist es in der Tat: Wenn die Freiplastik das Objekt wiedergibt, so ist es die spezifische Aufgabe der Malerei, unser Sehbild vom Objekt wiederzugeben, wobei natürlich die ebenfalls flächenhafte Natur dieses Sehbildes die stillschweigende, aber richtige Voraussetzung bildet 3). Und damit ist ohne weiteres das Formungsprinzip der Flächenbildkunst gegeben: Ihre Darstellung ist dann »richtig«, wenn sie dem Sehbild adäquat ist. Damit ist das Problem der formalen Richtigkeit für sie, d. h. speziell für die Malerei, identisch geworden mit der Aufgabe, Gesetze zu finden, die eine Kongruenz oder Ähnlichkeit zwischen Sehbild und Darstellung gewährleisten können: das Problem der Perspektive; worunter jedoch nur die sogenannte Linearperspektive zu verstehen ist, da die »Deutlichkeits«- und »Farben«perspektive es nicht mit dem Sehen, sondern mit der physikalischen Beschaffenheit der Luft zu tun hat 4) und ihre Behandlung *) Cf. Albertis Operationen zur Erreichung dieses Zieles in seinem Buch »de statua« (A. 164 ff. passim, zumal 193 ft.), besonders beachte man aber Lionardos Bemerkung Tr. 37, 2. Abschnitt: »Ma il basso rileno . . 2 ) Bestimmung dieses Begriffs am besten bei Th. Lipps, »Ästhetik« II (1906), p. 222 ff, 3) Das Verdienst, dies Axiom der Malerei zuerst formuliert zu haben, gehört Lionardo: Tr. 4. 4) Cf. Lionardo R. 17.

Das Problem der formalen Richtigkeit.

deswegen unter die Rubrik »Problem der objektiven Richtigkeit« fallen müßte. Hiermit sind den Lösungsversuchen des Richtigkeitsproblems ihre zwei Wege gewiesen: Sie haben einmal — mit naturwissenschaftlicher Methode — das Wesen der darzustellenden Dinge zu ergründen, sie haben sodann — mit, je nach dem Stande der Wissenschaft, mathematischer oder psychophysiologischer Methode — die Gesetze des Sehens und aus ihnen die der flächenbildlichen Darstellung zu entwickeln. Erster Abschnitt.

Das Problem der formalen Richtigkeit. Einleitung.

Allgemeines vom Sehen.

Bevor wir die eigentlich perspektivischen Lehrsätze und Konstruktionen, die sich in Dürers Kunsttheorie finden, auf ihre Art und Herkunft hin ansehen, sollen die wenigen Bemerkungen erwähnt werden, die er über das Sehen im allgemeinen macht (L. F. 240, 14 ff. und öfter), da sie mit den Äußerungen italienischer Theoretiker, speziell desLionardo, in Verbindung gebracht worden sind. a) Dürer behauptet zunächst: »Dann der alleredelst Sinn der Menschen ist Sehen. Dorum ein idlich Ding, das do gesehen würd, ist uns glaublicher und beständiger weder die Ding, die wir allein hören.« Von diesen beiden Sätzen stellt H. K l a i b e r l ) den ersten mit einer Bemerkung des Pacioli zusammen, die folgendermaßen lautet: »E de Ii nostri sensi per Ii sauii el vedere piu nobile se conclude« 3 ), beide aber mit einigen Stellen aus Lionardos Malerbuch (Tr. 2, 7, 24), die ähnliche Gedanken ausdrücken 3). Klaiber selbst weist jedoch mit Recht schon darauf hin, daß aus dieser Parallelität *) Beiträge zu Dürers Kunsttheorie (Diss. Tüb. 1905) pp. 19 und 21. 3)

A. a. 0 . p. 35 (wo irrtümlicherweise »etc. Ii n o s t r i . . . « steht). 3) Die der Dürerschen Form am besten entsprechende Fassung im »Codex Atlanticus« (Mailand, 1894—1903) 90 r: »il quale s e n s o . . . e l'occhio superiore e principe de Ii altri«.

Die praktische Kunstlehre.

12

in beiden Fällen kaum auf einen wirklichen Konnex geschlossen werden dürfe, da die Hochschätzung der Sehkraft den anderen Sinnen gegenüber — als ein platonischer Gedanke — der ganzen Renaissance vertraut gewesen sei. Und da er in der Tat nicht nur bei Plato sich findet, sondern sogar bis auf Heraklit zurückgeführt wird (wie denn auch Pacioli in Ansehung seiner auf nicht nur eine, sondern mehrere Autoritäten sich berief), so ist diese Zurückhaltung durchaus zu billigen: Es liegt kein Grund vor, für einen verbreiteten antiken Gedanken italienische Vermittlung in Anspruch zu nehmen. b) Ohne Einschränkung hingegen behauptet Klaiber einen Zusammenhang zwischen einem Passus des Malerbuches und der an die eben erwähnten Sätze anschließenden zweiten Bemerkung Dürers über das Sehen, die da lautet: »Das Gesicht der Menschen ist etlicher Maß geleich eim Spiegel. Dann es faßt allerlei Gestalt, die man ihm fürträgt.« Dieser Ausspruch stellte nach Klaiber 2 ) eine Reminiszenz dar an ein Diktum Lionardos, welches besagt: »L' ingegno del pittore uol esser' ä similitudine dello specchio, il quale sempre si trasmuta nel colore di quella cosa, ch'egli ha per obbietto, e di tante similitudini s' empie, quante sono le cose, che Ii sono contraposte« 3). — Auch hier jedoch ist Skepsis am Platze. Vor der Annahme eines, wenn auch noch so lockeren, Konnexes zwischen diesen beiden Stellen muß schon die völlige Unvergleichbarkeit ihres Sinnes warnen. Lionardos Bemerkung verlangt vom Maler eine bestimmte Geisteshaltung, und zwar ist seine Forderung eine für seine Kunstauffassung, ja Weltanschauung überaus charakteristische: Schlechthin allumfassende reproduktive Potenz bei absoluter Unbeeinflußbarkeit des reprodu!) Plato: Timaios 47, Politeia V I 507 (Kap. X V I I I ) , Phaidros X X X I , Über Heraklit schreibt Polybios ( X I I , 27): ». . . ά λ η θ ι ν ω τ φ α ς δέ οδσης ού μικρψ της όράσεως κατά τ ο ν Ήράκλειτον — όφθαλμοΐ γαρ τιϊιν üjtujv άκριβέστεροι μάρτυρες . . .«. *) Α . a. Ο. 3) Tr. 56, cf. Tr. 58 a.

Allgemeines vom Sehen.

13

zierenden Ich durch das reproduzierte Objekt Dürers Worte sind eine einfache Aussage über die Sehfunktion; und das tertium comparationis ist lediglich dieses, daß beide, der eine für den Geist, der andere für das Gesicht, sich des gleichen Bildes — »Spiegel« — bedienen. Wie aber Dürer dazu kam, diesen Vergleich zu gebrauchen, erklärt sich nun viel einfacher als aus der Bekanntschaft mit einer — gründlich mißverstandenen — lionardesken Maxime aus dem Einfluß einer verbreiteten und durchaus richtig wiedergegebenen antiken Sehtheorie: denn daß der Sehvorgang durch eine Ablösung kleiner Scheinbilder und deren Abspiegelung im Auge (ίίμφασις τών ειδώλων) zustandekomme, ist nichts anderes als die in der spätantiken Literatur sehr oft begegnende a ) Sehtheorie des Demokrit, die in beinahe derselben populären Fassung, die Dürer ihr gibt, auch bei zeitgenössischen Schriftstellern vorkommt: Viator schreibt in seinem bekannten Werk »De artificiali perspectiva« 3): » ex lucis exterioris splendore in oculum cadete/fit reflexio quasi a speculo ignito: per qua forme rerü concipiütur.« Daraus folgt: Wenn überhaupt für Dürers Ausspruch eine Ableitung gesucht werden soll, so scheint es annehmbarer, ihn auf einen, wie man sieht, der Zeit geläufigen (denn Viators Traktat ist kein gelehrtes Buch) Gedanken zurückzuführen, mit dem er sachlich zusammengeht, als auf eine Äußerung des Italieners, mit der er, bei völlig anderem Sinn, nur durch das Vorkommen des Wortes »Spiegel« äußerlich verknüpft erscheint. — Weitere Äußerungen Dürers über das Sehen im allgemeinen sind uns nicht überliefert. x

) Wie anders fährt Dürer gleich fort: »Aus Natur ist unserem Gesicht ein Gestalt und Bildnuß viel lieblicher und angenehmer dann die ander«. 2 ) Aristoteles, περί αίσθήσειυς . . . Cap. II (Teubner 438a, Zeile 5 ff.); Cicero, epp. ad Fam. XV, 16; Lucrez IV, IOO ff.; Plutarch, Plac. phil. IV 13; Macrobius, Saturnal. VII 14; Theophrast, περί αίσθήσειυς... X, 49· 3) Tulli, 1505 und 1509, Fol. A 2 τ der Ausgabe von 1509; demgemäß hat auch der ihm ganz entlehnte Anhang der »Margharita philosophica« des Gregor Reisch (1512, 1515 bei Grüninger in Straßburg) diesen Satz.

Die praktische Kunstlehre.

14

Erstes Kapitel.

Die Perspektive.

A. Die „Perspectiva communis". Wenn die Perspektive dem Maler diejenige Form vorschreiben soll, in die die flächenbildlich darzustellenden Dinge eingehen müssen, > damit diese Darstellung dem Seheindruck konform sei, so ist ohne weiteres klar, daß sie einer theoretischen Grundlage bedarf, die zunächst den Seheindruck, dem nachgekommen werden soll, selbst gesetzmäßig bestimmt, d. h. das natürliche Sehen der wirklichen Dinge mathematisch zu ergründen sucht. Diese Lehre ist bereits im Altertum, zuerst und vornehmlich von Euklid, soweit ausgebildet worden, daß sie als eine nur noch der Anwendung harrende der Renaissance zur Verfügung stand, die sie denn auch — gestützt auf die antike Überlieferung und deren mittelalterliche Kodifizierungen *) •— eiligst sich zu eigen machte: die bekanntesten Werke dieser Richtung aus dem italienischen Quattrocento sind Albertis »Prospettiva« a) und Ghibertis dritter Kommentar 3). Diese Wissenschaft von der Form, welche die Dinge dadurch gewinnen, daß sie gesehen werden (deswegen »de aspectuum diversitate« genannt, sonst zum Unterschied von der bildnerischen Perspektive, der »perspectiva pingendi« oder »perspectiva artificialis« meist als »perspectiva naturalis« oder »perspectiva communis« bezeichnet), gründete sich nun natürlich nicht auf psychophysiologische Untersuchungen des 1

) Die Optiken Euklids und seiner Nachfolger Heliodor v. Larissa, Ptolemaios, Pappus, Heron v. Alexandria waren durch die arabische Gelehrsamkeit (Alhazenus, auch Al-Chindi) nach dem Westen gedrungen und im 13. Jahrhundert durch den »Episcopus Cantuariensis« J. Peckham, im 14. durch den (Lionardo bekannten, cf. Rav-Moll. Ms. B. Fol. 58 r) »Polen« Vitellio (Witelo) zu Kompendien ausgearbeitet worden, die im 15. Jahrhundert recht bekannt waren und neben den eigentlichen Euklidausgaben öfters gedruckt wurden. 2 ) A. Bonucci, Opere volgari di L. B. Alberti, Florenz, 1843—1849, tomo IV, p. 95 ff. 3) Lorenzo Ghibertis Denkwürdigkeiten, ed. Schlosser, 1912, p. 55 ff,

Die Perspektive.

Die »perspectiva communis«.

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Sehvorganges *), sondern verfuhr rein geometrisch, weshalb sie auch — als »optica« — unter den mathematischen Fächern figurierte und einem exakten zeichnerischen Verfahren zur Grundlage dienen konnte. Hierbei ging Euklid aus von zwei Axiomen, in denen die im übrigen sehr diskrepanten antiken Sehtheorien 3 ) übereinkamen: daß das Sehen durch Strahlen geschehe, die in gerader Linie die Punkte des Objekts mit dem Auge verbänden, und daß die Lage dieser Sehstrahlen zueinander bestimmend sei für die Lage der ihnen jeweils entsprechenden Punkte des Objekts im Gesichtsbilde. Aus diesen zwei Axiomen konnte er seine ganze Optica auf rein mathematischem Wege entwickeln. — Albrecht Dürer hat, wiewohl er sich natürlich in der Hauptsache für die praktisch-bildnerische Perspektive interessierte, auch einen ziemlich vollständigen Abriß der »perspectiva communis« angefertigt; der (leider undatiert) in London sich befindet und L. F. 319, 1 1 ff. abgedruckt ist. Nach 8 einleitenden Sätzen kommen 10 »Furnehmungen«, die sachlich mit den ersten 10 der an sie anschließenden 1 1 »Supposizen« identisch sind; dann folgen 36 »Theoremata« (die Theoreme 37, 38, 39 sind nicht mit abgedruckt), und endlich (L. F. 326, 15 ff.) ein kleiner, besonders gedruckter Abschnitt, der aber dazugehört. — Mit Ausnahme der Einleitungssätze 3) ist nun diese ganze recht umfangreiche Darstellung weder ein eignes Produkt Dürerischen Geistes, noch von einem italienischen Theoretiker entlehnt, sondern sie ist eine sachlich (bis auf das ein wenig ungenaue Theorem 16) und meist auch wörtlich vollkommen identische Wiedergabe der Perspektive des Euklid, genau so, wie sie auf Folio A A 6 r ff. der 1505 erschienenen lateinischen J

) Diese gelangen erst heute ganz allmählich zur Klärung. Noch Lionardo (ζ. B. Rav-Moll. Mss. J 20 r, D passim, oder Codex atlanticus 345 v) hat oft geradezu falsche Ansichten in dieser Beziehung. a ) Über diese cf. v. Baumhauers Dissertation: Sententiae veterum philosoph. graec. de visu, lumine, et coloribus. Trajecti ad Rhenum, 1843, passim. 3) Über deren mutmaßliche Herkunft cf. p. 42 ff.

Die praktische Kunstlehre.

ι6

Ausgabe des Zamberto, die Dürer bekanntlich an ihrem Erscheinungsort Venedig erworben hat*), zu lesen steht. Wenngleich diese Tatsache vielleicht nur der Selbstverständlichkeit wegen — denn daß Dürer den Euklid sehr gut kannte, ist ja jedem geläufig — in der Literatur unerwähnt geblieben ist, muß doch in unserem Zusammenhang darauf hingewiesen werden a), ja es dürfte sich sogar empfehlen, den von Dürern benutzten Abschnitt des Euklid in extenso wiederzugeben; denn einmal ist die fragliche Ausgabe nicht immer zum Vergleich bei der Hand 3), sodann ist es erwünscht, daß diese Fundamentalsätze, auf denen die ganze renaissancistische Künstlerperspektive sich aufbaute, in einer Arbeit, die sogleich auf diese letztere einzugehen hat, ihre Stelle haben. Sie lauten (Abkürzungen aufgelöst): Suppositio

,, ,, „ ,, ,,

I: Supponatur ab oculo uisus emissos in rectas lineas ferri: interuallumque quoddam inuicem efficientes: et sub uisibus figuram comprehensam esse conum uerticem habentem ad oculum: basim uero ad fines rerum uisarum. II: Ea uidentur ad quae uisus perueniunt. III: Ad quae uisus non perueniunt: ea non spectantur. IV: Sub maiori angulo spectata: maiora apparent. V : Sub minori angulo minora uidentur. V I : Aequalia uero uidentur quae aequalibus angulis spectantur.

«) L . F . 390, 3. *) A u c h L . F . hätten besser getan, den scheinbar selbständigen kleinen A b s c h n i t t 326, I 5 f f . als Theorem 40 kenntlich zu machen.

Überhaupt machen

manche Autoren

auf Dürers

(ζ. B .

Rapke,

Perspektive und Archit.

Hand-

zeichnungen usw., Straßburg, 1902, pp. 8/9, oder M. C o n w a y , T h e litt, remains of Α . Dürer, Cambridge, 1889, p. 210) zu Dürers Sätzen Bemerkungen, die es immerbin geraten erscheinen lassen, einmal zu betonen, daß sie nicht Dürers geistiges E i g e n t u m sind. 3) Andere weichen im W o r t l a u t , manche auch in der Anordnung

von

ihr und damit v o n Dürern a b ; vgl. z . B . die 1573 erschienene Übersetzung des Egnatio Danti

(Florenz).

Die Perspektive.

Die »perspectiva communis«.

j 'j

SuppositioVII: Quae sub sublimioribus radiis spectantur: sublimiora apparent. ,, V I I I : Quae uero sub humilioribus radiis uidentur: humiliora apparent. ,, I X : E t similiter quae sub dexterioribus spectantur radiis dexteriora apparent. „ X : Quae uero sub sinisterioribus radiis spectantur: sinisteriora uidentur. ,, X I : Quae sub pluribus angulis spectantur: expedit e s uidentur *

* *

Theorema „ ,,

,,



„ „ „ „ „ x

I: Eorum quae sub aspectum cadunt quicquam simul totum aspici minime potest. II: Aequalibus magnitudinibus interuallo positis: propius positae euidentius spectantur. III: Eorum quae spectantur unumquodque longitudinem interualli habet aliquam: qua aduentante: non amplius spectatur. IV: Aequalibus interuallis in eadem recta linea existentibus: quae ex pluri distantia spectantur minora apparent. V : Aequales magnitudines inaequaliter expositae inaequales apparent: et maior semper ea, quae propius oculum adiacet. V I : Parallela interuallo in distantia spectata: inaequalis latitudinis apparent. V I I : In eadem recta linea aequales magnitudines remotius inuicem positae inaequales apparent. V I I I : Aequales magnitudines inaequaliter expositae interuallis proportionaliter minime spectantur. I X : Rectangulae magnitudines ex interuallo spectatae circumductae apparent. X : Sub oculo positorum planorum quae remotiora sublimiora apparent.

) Man sieht, daß diese I i Voraussetzungen auf die oben, p. 1 5 , formu-

lierten zwei Axiome herauslaufen, P a n o f s k y , Dürer.

2

ι8

Die praktische Kunstlehre.

Theorema X I : Planorum super oculo positorum quae remotiora humiliora apparent. ,, X I I : Quae obiiciuntur longitudinem habentium: quae sunt in dextris: in sinistra procedere uidentur, quae uero in sinistris in dextra. „ X I I I : Aequalium magnitudinum sub oculum positorum quae longe positae sunt sublimiores apparent. ,, XIV: Aequalium magnitudinum supra oculum positorum quae longe positae sunt humiliores apparent. ,, XV: Eorum quae sub oculo posita sunt: quae sese inuicem excedunt adherente oculo maiore supra spectatum maius apparet: recedente uero minore minus. „ XVI: Quae sese inuicem excedunt inferius oculo posito: adherente oculo minore minus super spec tatum apparet: recedente uero maius maiore. ,, XVII: Quaecunque sese inuicem excedunt: oculo posito in recta linea minori magnitudine existente: adherente et recedente oculo 1 ) aequali semper superius spectatum minus uidebitur excedere. ,, XVIII: Datam altitudinem cognoscere quanta sit. „ X I X : Sole non apparente datam altitudinem quanta sit cognoscere. ,, X X : Datam profunditatem quanta sit cognoscere. ,, X X I : Datam longitudinem quanta sit cognoscere. ,, X X I I : Si in eodem piano, in quo et oculus: circuli ambitus positus fuerit: recta linea ipsius circuli ambitus apparebit. ,, X X I I I : Sphaera utcunque inspecta ab uno oculo minus semper hemisphaerio cernetur: ipsum uero spectatum sub sphaerae circulo comprehensum apparet. *) lm Text: oculi.

Die Perspektive.

Die »perspectiva communis«.

ιρ

TheoremaXXIV: Oculo ad sphaeram propius accedente: spectatum minus erit: putabitur autem maius uideri. ,, XXV: Sphaera binis spectata oculis: dimetiens sphaerae aequus fuerit rectae lineae distanti ab oculis: ipsius hemisphaerium spectabitur. „ XXVI: Cum oculorum distantia sphaerae diametro maior fuerit hemisphaerio maius id quod ipsius sphaerae spectabitur apparebit. ,, XXVII: Si oculorum interuallum minus fuerit sphaerae diametro: id sphaerae quod spectatur hemisphaerio minus spectabitur. ,, XXVIII: Cylindro utcunque inspecto ab oculo uno: minus hemicylindro spectabitur. „ X X I X : Oculo propius ad cylindrum posito: minus quidem erit assumptum cylindri sub ipsis aspectibus: uidebitur autem maius aspici. „ X X X : Cono circulum basim habente sub uno oculo perspecto: minus hemiconio spectabitur. ,, X X X I : Oculo propius posito in eodem piano: minor inquam erit uisibus assumpta pars at maior perspici 1 ) uidebitur. ,,XXXII: Cono circulum basim habente: si a contactibus in coni basim procidentibus radiis rectae lineae diducantur per superficiem coni ad uerticem eius: perque deductas et eas 2 ) quae ab oculo in basim coni procidentibus plana educta fuerint: in communique planorum sectione oculus positus fuerit: id quod spectatur coni omnifariam aequum spectabitur uisu in piano proposito existenti. „ X X X I I I : Aequaliter autem semper oculo a cono distante: sublimius quidem oculo posito minus apparet coni spectatum: humilius uero maius. *) Im Text: perspicii. 3) In diesem etwas komplizierten Satz wird die Interpunktion hinter: »uerticem eius« anstatt hinter: »deductas« zu setzen sein; anstatt des im Text stehenden: »eis quae ab oculo« muß es offenbar: »eas« heißen.

20

Die praktische Kunstlehre.

Theorema X X X I V : In circulo si a centro ad angulos rectos quaedam agatur recta linea ipsius circuli piano: et in ipsa ponatur oculus circuli dimetientes aequales apparent. „ X X X V : Etsi quae ex centro excitatur non fuerit ad angulos rectos ipsi piano: aequalis autem fuerit ei quae ex centro: dimetientes ipsi aequales apparent. „ X X X V I : Si uero quae ab oculo ad centrum procidens circuli neque ad angulos fuerit rectos ipsius circuli piano: neque etiam ei quae *) ex centro fuerit aequalis: neque aequos cum iis 2 ) comprehendet angulos: sed aut maior aut minor ea quae ex centro fuerit: diametri ipsae inaequales apparebunt. *

*

„ X L ( = L. F. 326, 15 ff.): Non sit autem maior quae ab oculo in centrum annexa est ea quae ex centro: sed minor: erit iam circa diametros contrarium nam ipsorum dimetientium maior minor et minor maior apparebit. B.

Die „Perspectiva artificialis".

»Ich bin in 10 Tagen noch hie fertig. Dornoch wurd ich gen Polonia reiten um Kunst willen in heimlicher Perspectiva, die mich einer lehren will« 3). So schreibt Dürer am 13. Oktober 1506 an Pirkheimer und noch in späteren Jahren will er den »Walchen« große Tüchtigkeit in der Darstellung des Nackten und in der Perspektive nachgerühmt wissen 4). Es ist selbstverständlich und wird durch die Zusammen*) Im Text: eique. *) Im Text: hiis.

3) L. F. 40, 28 ff. 4) L. F. 254, 19 ff.

Die Perspektive.

Die »perspective artificialis«.

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Stellung von »Perspectiva« und »nacketn Bildern« nur noch bestätigt, daß die Perspektive, deren hohe Ausbildung Dürer hier preist und die er in jüngeren Jahren von einem Italiener hat lernen wollen, nicht die bisher besprochene theoretische »perspectiva communis« war (deren Gesetze er ja aus der direkten Quelle beziehen konnte und, wie wir sahen, bezog), sondern die auf diese aufgebaute praktische, bildnerische, »artifiziale« Perspektive. Waren auch in den Sätzen des Euklid alle Erscheinungen des Sehens (Überschneidung, Verkürzung, Konvergenz der Tiefenlinien, Emporsteigen der wagerechten Ebene usw.) durch die Vorstellung der Sehpyramide durchaus erklärt und geregelt, so lag es der Antike doch völlig fern, diese Wissenschaft zur Erzielung eines jenen Seherscheinungen gerecht werdenden Flächenbildes praktisch auszunutzen. Diesen Schritt tat erst das italienische Quattrocento, dem es, anders als dem Altertum, auf die kunsttheoretische Fundierung gerade der Flächenbildkunst ankam. Er war nicht schwer: Um das Gesichtsbild mit allen seinen Eigentümlichkeiten auf eine Ebene zu bannen, brauchte man sich nur vorzustellen, daß die Euklidische Sehpyramide von dieser Ebene irgendwo geschnitten wird; dann muß das Objekt, da die Lage, die seine einzelnen Punkte im Gesichtsbilde einnehmen müssen, durch die der Sehstrahlen bestimmt wird, genau so auf diese »Bildebene« projiziert werden, wie es im Gesichtsbilde erscheint 1 ): Das perspektivisch richtige Bild ist — und diese x

) d. h. erscheinen müßte, wenn das Sehen nicht auch ein psychophysiologisch bedingter Vorgang wäre. Neuere Forschungen (Hillebrand usw.) haben gezeigt, daß auch das einzelne und unbewegte Auge nicht im Sinne der Euklidischen Optik sieht. Diese ist maßgebend für den photographischen Apparat, und demgemäß auch für das rein optische Netzhautbild; allein es hat sich herausgestellt, daß der Geist mit diesem eine sehr interessante Korrektur vornimmt, dahingehend, daß der Größenunterschied gleicher, aber verschieden weit vom Auge entfernter Gegenstände im Eindruck nicht so groß erscheint, wie er nach den optischen Gesetzen erscheinen müßte: Fluchtlinien erscheinen keineswegs so rapide auseinanderlaufend, vorgestreckte Glieder lange nicht so vergrößert, wie dies auf der Photographie und auch beim Netzhautbilde der Fall ist. So kann eine im Sinn der strengen Perspektive richtige Darstellung oft unnatür-

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Die praktische Kunstlehre.

Definition ist allen Renaissancetheoretikern gemeinsam — eine »intersegatione della piramide visiva 1 )«, wie Dürer es faßt z ): »ein ebne durchsichtige abschneydung aller der streym linien die ausz dem aug fallen auf die ding die es sieht« 3.). Und die Aufgabe der artifizialen Perspektive ist es nun lediglich, eine praktikable geometrische Konstruktion ausfindig zu machen, vermöge welcher die zentrale Projektion eines beliebigen dreidimensionalen Objekts nunmehr auf dem Zeichenpapier oder dem Malbrett ausgeführt werden kann, durch das jetzt die vorgestellte »durchsichtige Abschneydung« ersetzt werden muß. Dieser Aufgabe also widmete sich das italienische Quattrocento, und zwar mit großem Eifer: vermochte es doch eine auf Euklids Optik gegründete Perspektive, lehr- und lernbar wie sie war, jedem Bilde die so erwünschte formale (und das ist ja die eigentlich artistische) Richtigkeit schlechthin zu garantieren, und damit die Sehnsucht der Epoche nach Uberwindung des Traditionellen durch das Rationelle wenigstens zum großen Teil zu erfüllen. — Wer der erste war, der die Vorstellung der geschnittenen Sehpyramide erfaßte und zum Ausbau eines praktisch anwendbaren Verfahrens verwertete, wissen wir nicht genau 4); was jedoch die schriftlich niedergelegte und uns erhaltene licher erscheinen, als eine inkorrekte. Wir jedoch wollen, wenn wir die Ausdrücke »richtig« und »falsch« von perspektivischen Darstellungen oder Konstruktionen gebrauchen, darunter die Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung mit der geometrischen Perspektive verstehen, nicht mit dem Natureindruck. 0 A. 69. *) Unterweisung Fol. Ρ 1 r. 3) Lionardo spricht (R. 83) geradezu von einer »pariete di vetro«, als die man sich die Bildebene vorzustellen habe. 4) Vasari (ed. Milanesi, Florenz, 1878 ff.) schreibt, sich widersprechend, sowohl dem Paolo Uccello diese Ehre zu (Bd. II, p. 204/205), dessen nach V.s Erzählung sehr stürmische Bemühungen um die Perspektive wir wenigstens an seinen Bildern kontrollieren können, als dem Brunellesco (Bd. II, p. 332), über dessen Tätigkeit als Perspektiviker nichts Positives mehr feststeht. (Jedoch hat G. J. Kern — Jahrb. d. kgl. preuß. Kunstsamml. X X X I V , p. 36 ff. — mit einiger Wahrscheinlichkeit dargetan, daß die perspektivische Konstruktion des Dreieinigkeitsfreskos in S. M. Novella von Brunellesco stamme.)

Die Perspektive.

Die »perspectiva artificialis«.

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Kunsttheorie angeht, so wird man bis auf weiteres die von Alberti 1 ) angegebene Konstruktion als die erste Beschreibung eines artifiziell-perspektivischen Verfahrens anzusehen haben, eines Verfahrens jedoch, das schon nicht mehr die ursprünglichste, unmittelbar aus der Vorstellung der »intercisione della piramide visiva« sich ergebene Konstruktion, die sogenannte »costruzione legitima«, darstellt, sondern ein mit ihr der Sache nach zwar identisches a ), aber in der Ausführung bereits etwas vereinfachtes Verfahren. Ihre wirkliche Kodifizierung und Systematisierung aber erfuhr die bildnerische Perspektive erst durch den großen, zwischen 1470 und 1490 entstandenen 3) Traktat des Piero della Francesca »de prospectiva pingendi«4), ein Werk, dessen Methodik bis heute nicht übertreffen ist, und das auf die nachfolgende Perspektivliteratur von größtem Einfluß gewesen sein muß 5). Von wem Dürer sich in Bologna unterrichten lassen wollte, wissen wir noch weniger als früher, seit die ehemals gehegte Vermutung, es handle sich um den Mathematiker Luca Pacioli, einen Schüler Pieros, der auch mit Lionardo bekannt war, viel an Wahrscheinlichkeit verloren hat: Luca hielt sich nämlich, wie Staigmüller 6) nachwies, 1506 in Florenz auf 7). Und daß Lionardo selbst als Lehrer Dürers in Frage kommt, wie Ephrussi 8 ) vermutet, ist doch wohl nicht anzul

) A. 79 ff. *) Dies hat gegen die Behauptung, Alberti habe die erst sehr viel später aufkommende Distanzpunktkonstruktion (cf. p. 30 und 33ff.) gekannt, nachgewiesen: Staigmüller in Rep. XIV, p. 301 ff. 3) Dies erweist G. Pittarelli in »Atti del congresso internazionale di scienze storiche«, Roma, 1904, vol. XII, p. 257. 4) Ed. C. Winterberg 1899 (Straßburg) nach dem Parmenser Codex. 5) In Padua gab es jedoch eine besondere perspektivische Schule, deren wissenschaftlich unvollkommenes Verfahren (das auch Mantegna benutzte) von Pomponius Gauricus (de sculptura, ed. H. Brockhaus, Leipzig, 1886, p. 192) beschrieben wird. Cf. hierzu die trefflichen Bemerkungen des Herausgebers (p. 45 ff·) und die weniger richtigen Angaben Winterbergs (a. a. 0 . Einl. p. 44).

Zeitschrift für Mathematik und Physik, hist. -lit. Abteilung X X X I V , p. 94. 7) Ganz unhaltbar ist die Pacioli-Hypothese jedoch nicht; vgl. Rep. X V , p. 261 (siehe auch unten p. 44). 8 ) Albert Durer et ses dessins, Paris, 1882, p. 131. 6)

Die praktische Kunstlehre.

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nehmen: Gerade die Anwesenheit Julius II., die nach Ephrussis Meinung Lionardo nach Bologna hätte ziehen können, mußte ihn von einem Aufenthalte dortselbst eher abschrecken: befand sich doch Michelangelo in hochbegünstigter Stellung bei seiner Heiligkeit! — Allein unserer Arbeit liegt es auch weit näher, nach dem Inhalt der in Bologna und überhaupt in Italien empfangenen perspektivischen Belehrungen zu fragen, als nach der Person ihres Vermittlers. Was aber konnte Dürer dort lernen wollen? Während seine frühesten Arbeiten (ζ. B. die vier Hexen Β y6 oder das Ecce homo der großen Passion Β 9) in der Perspektive völlige Unsicherheit verraten *), zeigen bereits die vor der Reise entstandenen Blätter des Marienlebens ein derartiges perspektivisches Können, daß ζ. B. die Räumlichkeit des Blattes der Darstellung im Tempel (B 88) als Musterbeispiel in die zweite Auflage des schon erwähnten Viatorschen Lehrbuches aufgenommen werden konnte 2 ), ein perspektivisches Können, das für alle Fälle der künstlerischen Praxis vollauf genügen mußte. Allein aus der Richtigkeit dieser voritalienischen Blätter darf keineswegs geschlossen werden, daß Dürer schon vor der Reise im Besitze der auf der Albertischen Definition beruhenden »legitimen« Konstruktion gewesen wäre: Auch in den Niederlanden hat sich im Verlauf des 15. Jahrhunderts die Perspektive bis zu ausreichender Richtigkeit entwickelt, ohne daß die Künstler eine auf Euklids Optik gegründetes theoretisch einwandfreies Verfahren gekannt oder benutzt hätten 3), wie über*) Cf. Rapke, a. a. 0 . passim. ) Daß nicht umgekehrt Dürer von Viator abhängt, erhellt daraus, daß das fragliche Blatt (C i ) der Ausgabe von 1509 in der von 1505, die Dürer allein gekannt haben könnte, nicht vorhanden ist (ebensowenig in dem 1509 in Nürnberg erschienenen Nachdruck von J. Glockendon); dasselbe gilt von der Tafel C 8, deren Figurenanordnung mit der der Wiener »Marter der 10 000« von 1508 übereinstimmt. Cf. hierzu: de Montaiglon, Notice historique et bibliographique Sur J. Pelerin, Paris, 1861, pp. 45, 51. 3) Cf. Kern, Perspektive und Bildarchitektur bei J. v. Eyck, Rep. X X X V , p. 27 fl., auch Doehlemann, Entwicklung der Perspektive in der altniederländischen Kunst, Rep. X X X I V , besonders pp. 521 und 535. 2

Die Perspektive.

Die »perspectiva artificialis«.

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haupt wohl nie ein Kunstwerk wirklich mit Hilfe der strengen costruzione legitima hergestellt worden ist; vielmehr pflegte die Befolgung weniger, einmal gefundener und dann traditionell werdender Regeln auch hohen Ansprüchen an perspektivische Korrektheit zu genügen. — Da nun das einzige, kurz vor Dürers Reise gedruckte Lehrbuch, das des Viator, von dem übrigens nicht einmal wahrscheinlich ist, daß Dürer es gekannt hat, auch nur ein praktisches Verfahren angibt, die mathematisch begründete Konstruktion aber ausschließlich in handschriftlichen italienischen Traktaten nachweisbar ist, so muß behauptet werden, daß auch Dürer seine perspektivischen Kenntnisse bis zur Reise entweder der Erfahrung, wahrscheinlicher aber den Mitteilungen eines Kunstgenossen verdankte und nicht imstande war, die von ihm befolgten Regeln durch lückenlose mathematische Deduktion zu begründen I ). Und damit möchte das bezeichnet sein, was er sich von Italien und speziell von der Reise nach Bologna in dieser Beziehung erhoffte: Er, dessen Sinn von Anfang an darauf gerichtet war, den »Brauch« zur »Kunst« zu erheben 2), er konnte sich — ganz abgesehen von seinem Vorhaben, andere zu lehren — unmöglich dabei beruhigen, die wichtigste praktisch-kunsttheoretische Disziplin selber nur brauchmäßig zu kennen, mochte auch diese Kenntnis für die Praxis noch so gut genügen. Weder in Venedig noch in Bologna hatte er es — nach Blättern wie Β 88 oder Β 83 — nötig, sich zeigen zu lassen, »wie man es macht«; er wird sich vielmehr nur haben zeigen lassen wollen, warum es so gemacht wird: er wollte das geometrisch exakte und deshalb »legitime« Verfahren kennen lernen, das, für die Praxis zu umständlich 3), allein imstande war, diese zu begründen 4). Dürer kannte damals auch den Euklid wohl noch nicht, und wäre, selbst wenn er ihn gekannt hätte, kaum imstande gewesen, seine Praxis mit dessen ganz abstrakter Theorie zu begründen, solange ihm das Zwischenglied, die Regeln der perspectiva artificalis, fehlte. 2) Ζ. B. L. F. 208, 4. 3) So auch Winterberg, a. a. 0 . p. 66. 4) Hiermit stimmt auch das Philologische überein: D a Dürer das W o r t »Kunst« nicht im Sinn des bloßen Auszuüben-fähig-Seins, sondern gerade

26

Die praktische Kunstlehre.

Wir werden daher einerseits nicht darüber erstaunt sein, sondern es nur als eine Bestätigung empfinden, wenn die in Italien empfangenen Lehren auf seine perspektivische Praxis von gar keinem Einfluß gewesen sind I ), anderseits mit um so größerem Recht die Spuren der italienischen und zumal der Bologneser Mitteilungen in den theoretischen Erörterungen und Konstruktionsanweisungen suchen dürfen, die Dürer — im vierten Buch der »Unterweisung« und an einigen anderen Stellen — der Perspectiva artificialis gewidmet hat. — AA.

Die exakten Verfahren.

I.

Dürers Verfahren.

Dürer teilt in der »Unterweisung« zwei perspektivische Konstruktionen mit, eine umständlichere (Folio Ρ ι ν bis Ρ 3 r), und einen von ihm so genannten »näheren Weg« (Folio Ρ 4 r/v). Er bedient sich dabei als Beispiels eines von einer Lichtquelle beleuchteten Würfels, der auf einer quadratischen Ebene steht. Wir werden uns zunächst — wie alle perspektivischen Abhandlungen der Zeit — nur mit der Konstruktion dieses wagerechten und mit seiner Vorderkante der Bildebene parallelen »Grundquadrates« beschäftigen, da die Herstellung eines solchen das Elementarproblem der bildnerischen Perspektive ist, an dessen Behandlung sich die unterschiedlichen Konstruktionsweisen bereits hinreichend dokumentieren. 1. D a s e r s t e , u m s t ä n d l i c h e r e

Verfahren.

Die zweidimensionale perspektivische Darstellung bedarf natürlicherweise (wofern das Objekt, was praktisch gar nicht in Betracht kommt, nicht etwa eindimensional ist) zweier umgekehrt als Gegensatz gegen »Brauch«, d. h. als Ausdruck für das Beherrschen begründeter Darstellungsgesetze v e r w e n d e t (cf. p. 169, vorläufig diene L. F . 208,4 als Beleg), so bedeutet der Ausdruck, erwolle »um Kunst willen in (1) heimlicher Perspectiva« nach Bologna reisen, daß er dabei weniger die Kenntnis praktischer

Manipulationen,

als mathematisch

versprach. r)

So auch Rapke, a. a. 0 . p. 49.

begründete

Unterweisungen

sich

Die Perspektive.

Die »perspectiva artificialis«.

27

Bestimmungen: der Höhen- und der Breitenwerte. Die ersteren hängen ab von der Stellung des Auges zum Objekt in der Vertikalen, die anderen von der Stellung des Auges zum Objekt in der Horizontalen. Daraus ergibt sich f ü r die einfach die Vorstellung des inters ezierten Sehkegels benutzende Konstruktion die Notwendigkeit, vor der definitiven Zeichnung zwei vorbereitende Blätter zu verfassen, deren eines eben die Höhen-, deren anderes die Breitenwerte zu ermitteln bestimmt ist. Da, wie gesagt, jene von der Lage des Auges in der Vertikalen, diese von der Lage des Auges in der Horizontalen abhängen, so muß das die Höhenwerte ermittelnde Blatt ein Aufriß, das andere ein Grundriß des ganzen Projektionssystems sein. a) Dementsprechend gibt Dürer auf einer ersten Zeichnung (Abbildung I) den Aufriß des Quadrates a b c d (der natürlich als eine Gerade ad—bc sich darstellt) und das Auge Α in einem gewissen Abstand in einer gewissen Höhe. Die Bildebene präsentiert sich als eine Vertikale, die das Dreieck A—ad—bc (den Aufriß der Sehpyramide) irgendwo schneidet. — Dann ist a'd'—b'c' der Höhenwert der perspektivischen Darstellung, das heißt für unseren Fall die Entfernung, um welche in dieser Darstellung die hintere Kante des Quadrates über die vordere emporsteigen muß. b) Auf einer zweiten Zeichnung, die praktischerweise mit der ersten auf einem Blatte vereinigt ist, folgt dann der Grundriß, der, da er nur eine rechtwinklig gedrehte Ansicht desselben Systems darstellt, zwei Bestimmtheiten der ersten Zeichnung, nämlich den Abstand des Auges vom Objekt und von der Bildebene, beibehalten muß, die horizontale Stellung des Auges aber frei bestimmen kann (Abb. II). Aus diesem Grundriß ergeben sich die Breitenwerte: a'd' (die Projektion von ad) zeigt an, wie lang in der perspektivischen Darstellung die vordere, b'c' (die Projektion von bc), wie lang die hintere Seite des Quadrates werden muß. c) Es sind nun diejenigen Werte beisammen, die zur perspektivischen Darstellung genügen; sie werden auf einer dritten Zeichnung, dem definitiven Bilde, zusammengefügt,

28

Die praktische Kunstlehre. Abb. I.

Abb. II.

Die Perspektive.

b'c ad (/ υ

Die »perspective artificialis«.

1 ! ζ/



a'\

29

c\ \!

Ν\d'

1

j

1

ι 1 1 1 t

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I i 1 !

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I !

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Abb. III a.

a'b' A

& d'

1 \ ' 1 / 1 ' \ \ 11 1' \ 1 1/ \l

A

α'

d'

Abb. III b.

was bei einfachen Verhältnissen ohne weiteres durch Parallelprojektion tunlich ist, bei komplizierteren — wie bei Dürers Würfel — durch die Annahme eines Koordinaten-

Die praktische Kunstlehre.

30

anfangspunktes vereinfacht wird, als welchen sich die rechtwinklige Projektion des Auges auf die Bildebene, der »Augenpunkt«, darbietet Ob man ihn so benutzt oder nicht, ist natürlich eine rein technische Frage, die die Sache keineswegs berührt. (Abb. III a und III b.) 2. D e r „ n ä h e r e

Weg".

Nicht ganz so einfach wie diese Konstruktion erklärt sich das zweite in der Unterweisung angegebene Verfahren, der »nähere Weg«. Dieses hat lange (wohl nicht ohne Verschulden des nicht eben klaren und keine Begründung gebenden Textes und des gerade hier unexakten Holzschnittes) als eine dem Buche Viators entstammende Wiedergabe des Distanzpunktverfahrens gegolten 2 ), dessen Kenntnis ja auch τ)

Den man in diesem Falle sogleich in den beiden vorbereitenden Blättern eingetragen hat (wie Dürer auf Fol. Ρ 2 ν / 3 r). Man erhält dann zusammen vier »Augen«, aber »dise vier äugen bedeuten nun ein gesicht / aber dise zerspaltung pringt leychtickeit in der arbeyt«. l)

So sogar Poudra, dessen 1864 zu Paris erschienene »Histoire de la perspective« noch heute wertvoll ist, p. 139. — Das Distanzpunktverfahren muß hier ganz kurz beschrieben werden: E s wird, sogleich auf dem definitiven Bilde, der Augenpunkt Α und die vordere Quadratseite a d' angenommen, dann von Α seitlich wagerecht die »Distanz« des Auges von der Bildebene bis D und D' abgetragen. Dann muß 1. bekanntlich jede senkrecht zur Bildebene verlaufende Linie (Tiefenlinie), also auch die beiden seitlichen Quadratseiten, durch Α gehen, 2. jede Diagonale jedes Quadrates, dessen Vorderseite parallel a d' ist, durch D oder D' gehen. Es kann also durch eine Verbindungslinie a D' oder d! D, die A d' oder Α α! schneidet, ohne weiteres der Ort der hinteren Seite des Grundquadrates (und damit die Punkte b' und c) gefunden werden. Diese Konstruktion hat den Vorteil, daß sie eine Hauptschwierigkeit der Perspektive einfach löst, nämlich gleiche Raumabschnitte nach hinten rhythmisch zu verkürzen: wird a d' in beliebig viel gleiche Teile geteilt, so ergeben die Schnitt-

D

I

a

/

Abb. IV.

d '

Die Perspektive.

Die »perspectiva artificialis«.

31

Alberti ohne Grund zugeschrieben wurde, bis Staigmüller (a. a. O.) das Gegenteil dartat. Auch hier hat Staigmüller Licht geschaffen: In seiner Schrift »Dürer als Mathematiker« τ ) beweist er, daß Dürers »näherer Weg« nichts ist als eine vereinfachte, jedoch nur beschränkt verwendbare Version des ersten, umständlicheren Verfahrens a ). Dürer verfährt hier so — dies die eine, irreführende Ähnlichkeit mit dem Distanz punktverfahren — , daß er zuerst den Augenpunkt Α und die

Abb. v .

Grundseite a! d' annimmt, wodurch die Lage des Auges in der Horizontalen und Vertikalen vorweg bestimmt ist, während punkte der Linien a D' oder d' D mit den Linien, die die Teilungspunkte mit A verbinden, sogleich die Orte der Transversalen. Auch lassen sich beliebig viele Quadrate hintereinanderreihen. (Abb. IV). Ein Beweis kann der Kürze wegen hier nicht gegeben werden; derselbe ist in jedem perspektivischen Lehrbuch zu finden, auch mit Leichtigkeit selbst abzuleiten. *) Im Programm des Stuttgarter Kgl. Realgymnasiums, 1891. J)

Ob Dürer das Distanzpunktverfahren überhaupt gekannt hat, läßt sich nicht entscheiden; in seinem gedruckten und handschriftlichen Nachlaß ist es jedenfalls nicht aufzufinden gewesen. Sicher dagegen war ihm die Regel bekannt, daß die Konvergenzpunkte aller parallelen Linien auf dem Horizont liegen müssen: siehe die Zeichnungen D 139 (rechts, die zweite von unten), D 126 (oben) und Lond. Ms. II, Fol. 128 v. — Die Londoner Handschriften tragen die Signaturen: Sloane 5228, 5229, 5230 und 5231; sie werden dementsprechend mit I, II, III, IV bezeichnet.

Die praktische Kunstlehre.

32

beim anderen Verfahren zuerst die Distanz und die vertikale Stellung desselben festgelegt wurde, und die Konvergenz richtung der seitlichen Seiten durch Verbindung von Α mit a' und d' gewonnen werden kann (Abb. V). Jetzt muß er den Höhenwert feststellen, und tut dies, indem er in d' (es könnte auch anderswo sein) ein Lot errichtet und nunmehr nicht von Α aus, sondern von dem auf diesem Lote liegenden Punkte Β aus (der über a' d' in derselben Höhe liegt wie A) die Distanz seitlich wagerecht abträgt; dies die zweite Ähnlichkeit mit dem Distanzpunktverfahren. Dann schneidet D a! das Lot in X, und dieser Punkt ist der Ort für die hintere Quadratseite b' c'. Staigmüller führt mit vollem Recht aus, daß diese den Höhenwert ermittelnde Konstruktion nichts anderes sei, als die Aufrißkonstruktion des umständlicheren Verfahrens (Abb. I), indem a' d', da es sich um ein Quadrat handelt, auch als der in jener Zeichnung figurierende Aufriß des Quadrates angesehen werden kann, nur daß diese Zeichnung hier auf dem definitiven Blatt ausgeführt wird; sie ist also der anderen gegenüber als um 900 gedreht zu denken. — II.

Die Herkunft der Dürerischen Verfahren.

I. Das erste Verfahren offenbarte sich als die unmittelbare Konsequenz der Definition: Bild = Schnitt der Sehpyramide, d. h. als die oft genannte »costruzione legitima«. Da Definition wie Verfahren in Italien entdeckt worden waren und anderswo bis jetzt nicht zu der in Betracht kommenden Zeit nachgewiesen sind, dürfte kaum bestritten werden, daß auch Dürern beides aus Italien zugekommen sei. Es fragt sich nur, wann das geschah. Da gegen Staigmüller, der von dieser Konstruktion als von einer Dürern vor der Reise bekannten s p r i c h t a b e r nichts Näheres sagt, darauf bestanden werden mußte, daß Dürer vor 1506 überhaupt kein euklidisch begründetes Verfahren gekannt habe, so meinen wir, daß gerade auch diese mit der costruzione legitima l)

A. a. 0. p. 47.

Die Perspektive.

Die »perspectiva artificialis«.

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identische Konstruktion als eine Frucht der Bologneser, mindestens der italienischen Reise anzusehen ist. Nun aber ist diese costruzione legitima, so bekannt sie auch, als das ursprünglichste exakt-perspektivische Verfahren, gewesen sein muß, gar nicht oft in den Quellen zu finden, weil sie zwar die einzige wirklich für jedes Objekt anwendbare, aber zugleich die allerumständlichste ist, die drei getrennte Zeichnungen nötig macht. Da nun ihre allgemeine Anwendbarkeit für die Praxis doch nicht in Betracht kam (denn wer würde wohl kompliziertere Körper streng konstruieren?), so geben die für den praktischen Gebrauch berechneten Quellen — Alberti, Lionardo, und fast alle späteren Autoren — vereinfachte Versionen an. Nur bei jenem Piero della Francesca, dessen Absicht — darin ist er Dürern ganz verwandt — eine systematische und vor allem pädagogische war und der exempli causa wirklich Menschenköpfe und dergleichen exakt-perspektivisch aufnimmt, wüßte ich sie damals nachzuweisen (Figur 45, Text pp. X X X I I , X X X I I I ) . Pieros Figuren und Worte sind also sachlich mit den Dürerischen identisch 3 ), was deswegen zur Kenntnis zu nehmen ist, weil dies Verfahren, wie gesagt, sonst in den kunsttheoretischen Traktaten nicht geläufig war. — 2. D a s a n d e r e V e r f a h r e n . Während Staigmüller sich über die Herkunft des umständlicheren Verfahrens ebensowenig äußert wie Rapke, führt er 3) den »näheren Weg«, gewiß mit Recht, auf die Bologneser Mitteilungen zurück. Nur seine Ansicht über den Inhalt dieser Mitteilungen scheint der Berichtigung zu bedürfen: »Diese Kunst der geheimen Perspektive (die Dürer dort lernen wollte; s. o.) war nun nach meiner Uberzeugung x

) Cf, Winterberg, a. a. O., passim. ) Ein (rein technischer) Unterschied ist nur der, daß Piero die Werte durch Fäden auf zwei an das definitive Bild leicht anlegbare Streifen reihenweise überträgt, während Dürer vermittels des Zirkels immer nur einen Wert aus den zwei vorbereitenden Rissen in das definitive Bild transportiert. 3) A. a. 0 . p. 47/48. 2

P a n o f s k y , Dürer.

3

Die praktische Kunstlehre.

34

nichts anderes, als die praktische Verwendung des Distanzpunkts bei perspektivischen Konstruktionen. Wurde aber diese Verwendung Dürer ohne mathematische Begründung mitgeteilt, . . . so suchte ein Mann wie Dürer die neugelernte Art der Konstruktion mit der von ihm früher geübten und in ihrer mathematischen Begründung klar erkannten in Einklang zu bringen. So entstand das von ihm als »näherer Weg« bezeichnete Verfahren....« — Diese Ansicht will nicht recht einleuchten. Abgesehen davon, daß es fraglich, ja in hohem Grade unwahrscheinlich ist, daß Dürern vor Italien die legitime Konstruktion so geläufig war, scheint es undenkbar, daß jemand, der aus

Dislanx, Abb. VI.

einem ungenügend erklärten, aber richtigen Verfahren ein anderes, ebenso richtiges zu entwickeln fähig ist (was doch ein Verständnis für das Wesen beider Verfahren voraussetzt), nicht durchschaut haben sollte, daß das Resultat mit dem, was das eigentlich Neue und Wichtige daran sein mußte, gar nichts mehr zu tun hat, sondern, mit Staigmüllers eignen Worten, »seiner tatsächlichen Berechtigung nach nichts anderes darstellt, als die alte Konstruktion des Schnitts der Sehpyramide durch die Bildebene«. — Vor allem aber lassen äußere Gründe Staigmüllers Ansicht anfechtbar erscheinen und legen zugleich eine einfachere und daher wahrscheinlichere Filiation nahe. Voraussetzung für die Richtigkeit der Staigmüllersehen Annahme wäre doch zunächst, daß die Distanzpunktkonstruktion anno 1506 in Oberitalien wirklich geläufig war.

Die Perspektive.

Die »perspectiva artificialis«.

35

Allein das ist nicht zu erweisen, ja nicht einmal wahrscheinlich: Noch nach 1537 ist eine ihr täuschend ähnlich sehende Konstruktion, die Seb. Serlio im zweiten Buch seiner Architettura (ρ. 1 ν ff.) angibt, völlig falsch, da die Distanz nicht vom Augenpunkt, sondern von einem Endpunkt der Grundlinie seitlich abgetragen wird (Abb. VI). Das beweist natürlich eine selbst damals noch mangelnde Vertrautheit mit der richtigen Version, die erst 1563 in Vignolas »due regole di prospettiva«, in einem italienischen Traktate zum ersten Male gelehrt wird und auch bei Lionardo niemals vorkommt l ). Gegenüber dieser negativen Feststellung ist nun aber positiv zu sagen, daß jedes Suchen nach einem dem näheren Weg nur ähnlichen Verfahren, aus dem dieser hätte entwickelt werden können, sich überhaupt erübrigt, da um 1500, und zwar gerade in der in Betracht kommenden Gegend, ein mit Dürers Konstruktion völlig identisches Verfahren mehrfach nachweisbar ist: Einmal wiederum bei Piero della Francesca (a. a. 0. Fig. 13, Text p. V I ff.), dann bei Lionardo auf einem R. 55 abgedruckten Blatte des Ms. Α der bibliotheque nationale, das 1492 entstanden ist 2 ), und dessen Text noch klarer als die etwas unbeholfenen Sätze Pieros den Sinn dieser Konstruktion (als Kombination der Aufrißzeichnung mit der definitiven) und ihre genaue Übereinstimmung mit Dürers näherem Weg erkennen läßt. *) Besonders betont von Ludwig »L. d. V., das Malerbuch, neues Material«, 1885, p. 243 und Q. X V I I , p. 177. — Was Pieros Kenntnis des Distanzpunktverfahrens angeht, cf. die Anmerkung 1 zur folgenden Seite. Woher es Viator schon 1505 kennt, ist ein ungelöstes Rätsel, da er selbst, nach der Dürftigkeit seines Textes, kaum sein selbständiger Entdecker ist. Trotzdem J. Glockendon 1509 sein Plagiat Viators (»die Kunst Perspectiva«) drucken ließ und trotz der Verbreitung der Margharita philos. (cf, p. 13, Anm. 3) ist sie auch im Norden in der Folgezeit nicht nachweisbar: ebensowenig wie von Dürern wird sie von seinen zahlreichen deutschen Epigonen erwähnt. 2 ) Cf. R. Seite 5. — Lionardo hat die Konstruktion übrigens auch praktisch zur Herstellung und Aufteilung des Grundquadrates verwendet: Rav-Moll, Ms. A, 39 r/v; 40 r/v; 41 r; 42 r. — Sie kommt auch in der nächstfolgenden Zeit vor, ζ. B. bei Serlio, von wo sie in des Rivius »bericht aller . . .mathematischen künst« (Nürnberg, 1547) übergeht. 3*

Die praktische Kunstlehre.

36

Daraus folgt, daß wir Staigmüller durchaus beistimmen können, wenn er in dem letzteren eine Errungenschaft der italienischen Reise erblickt, jedoch behaupten müssen, daß er bei Dürern ebensowenig wie bei Lionardo und Francesca x) etwas mit der Distanzpunktkonstruktion zu tun hat, sondern genau so, wie er in der Unterweisung angegeben ist, von Dürern vorgefunden und übernommen wurde. III.

Weitere Übernahmen.

Auch in den wenigen spezielleren perspektivischen Aufgaben, die Dürer sich stellt, weist vieles auf Italien hin. a) Es könnte zunächst erwähnt werden, daß er den Würfel, den er, wie erwähnt, als Exempel benutzt, innerhalb A

seines »näheren Weges« in eben der Weise errichtet wie Piero (Fig. 31, Text p. X V I I I ) : allein diese Weise ist, wenn man einmal das Grundquadrat nach jenem Verfahren konstruiert, r)

Wenn Pieros Figur 23 (Text p. X I ) mit der Distanzpunktkonstruktion operiert, so muß hier unbedingt eine Korruption vorliegen: erstens ist es unmöglich, daß Piero, der methodische, eine nicht bewiesene Konstruktion plötzlich einführt und dann nie wieder erwähnt; zweitens verweist der Schluß des Textes (es handelt sich darum, von einer perspektivisch verkürzten oblongen Fläche soviel abzuschneiden, als einem Quadrate entspricht) ausdrücklich auf die Figur 13, d. h. die des »näheren Weges«. Dadurch ist bewiesen, daß die Beschreibung der anderen Konstruktion nur durch ein Versehen des Schreibers hier gegeben worden sein kann; die Illustration richtete sich dann auch nach diesem irrtümlichen Text.

Die Perspektive.

Die »perspectiva artificialis«.

37

d. h. einen Augenpunkt im Bilde liegen hat, so selbstverständlich, daß niemand an einen anderen Modus denken würde. Ein immerhin beachtenswertes Ähnlichkeitsmoment ist es jedoch, daß Dürer ebenso wie Piero sich die Annahme erlaubt, daß das Bodenquadrat des Würfels mit dem Grundquadrat, auf dem er steht, die Diagonale gemeinsam hat (Abb. VII). b) Ganz unzweifelhaft ist aber die Abhängigkeit von Italien in einer kleinen Reihe von perspektivischen Zeichnungen, bei denen sowohl die A Stellung des Problems als seine Lösung dem Piero - Kreis zu eigentümlich ist, als daß man an eine zufällige Ubereinstimmung glauben könnte: Piero stellt und löst — als erster und, wie es scheint, als einziger — die Aufgabe, geradlinige, in einem unverkürzt gezeichneten Quadrat e f g h befindliche Figuren in seine Verkürzung a! b' c' d' richtig mitverkürzt einzutragen Hierbei wird zunächst das Quadrat e f g h — nach dem »näheren W e g e « — Abb. VIII. verkürzt, und zwar so, daß / g als Vorderseite des verkürzten Quadrates dient. Nun werden die einzelnen Punkte der in e f g h liegenden Figur Μ Ν Ο folgendermaßen in das verkürzte Quadrat gebracht: jeder Punkt (ζ. Β. N ) wird erstens wagrecht mit der Diagonalen seines Quadrats verbunden pT); dann wird von X aus eine Senkrechte gezogen, die / g in y trifft, y wird mit Α verbunden. Durch den Schnittpunkt dieser Verbindung mit der Diagonalen des verkürzten Quadrates, X', legen wir die horizontale Koordinate des Punktes, der

A. a. 0. Figur 18 bis 20 inkl. und 25 bis 29 inkl., Text p. I X S.

Die praktische Kunstlehre.

38

im verkürzten Quadrat dem Punkte Ν entspricht. Zweitens wird von Ν direkt auf f g das Lot gefällt und der Schnittpunkt ζ mit Α verbunden; wo diese Verbindung die soeben erhaltene Horizontalkoordinate schneidet, ist der Punkt, den Ν in dem verkürzten Quadrat einnehmen muß, und der deshalb N ' genannt wird. Auf diese Weise wird die ganze Figur punktweise in das verkürzte Quadrat transportiert (Abb. VIII). Und nun finden wir hiermit völlig übereinstimmende Lösungen eben dieser Aufgabe in einigen Blättern des sogenannten »Dresdner Skizzenbuches«: zunächst wird auf dem Blatt D 138 *) — das Buch muß auf den Kopf gestellt werden — ein einzelnes Dreieck in das verkürzte Quadrat gebracht (so bei Piero Figur 18), dann ein Dreieck neben einem unregelmäßigen Achteck (auch solche Doppelfiguren finden sich bei Piero, ζ. B. Figur 27). Weiter auf D 148 rechts oben die analoge Konstruktion für das Fünfeck, die bei Piero ihr Seitenstück in Figur 20 hat a ). Die Identität dieser, wie gesagt, sonst in Italien kaum begegnenden Konstruktionen mit denen des Piero ist so einleuchtend, daß sich jeder weitere Zusatz erübrigt. c) Einer italienischen Anregung möchte endlich eine Zeichnung ihr Dasein verdanken, die sich in den Londoner Handschriften (Ms. IV, Fol. 149) findet und eine quadratische Halle mit Kreuzgewölbe und vier im Halbkreisbogen sich öffnenden Fronten darstellt. Eine solche Halle ist in ganz derselben Weise (d. h. mit dem Augenpunkt und unter Benutzung der die oberen Ecken verbindenden Diagonalen) von Piero konstruiert worden — Figur 43, Text p. X X I X ff. — , *) Vom Herausgeber (p. 24 der Einleitung) nicht eben sinnvoll erklärt. Alle diese Zeichnungen sind nicht in die Unterweisung aufgenommen. Doch ist in die bei Formschneyder erschienene Ausgabe von 1538, Folio Ρ 6 v / Q 1 r, eine Figur eingefügt worden, die als ihr zusammenfassendes Ergebnis zu betrachten ist: einen innerhalb des unverkürzten Quadrates beliebig angenommenen Punkt in die Verkürzung dieses Quadrates richtig einzutragen. Die Lösung dieser Aufgabe (in der oben erörterten Weise vollzogen) löst natürlich implizite alle Aufgaben, irgendwelche Figuren zu verkürzen. 3)

Die Perspektive.

Die »perspectiva artificialis«.

39

nur daß er, nach seiner Weise*), die Halbkreise in halbe Sechzehnecke auflöst und dadurch für die Verkürzung der zwei Seitenbögen und der Gewölbegrate einen exakteren Maßstab gewinnt als Dürer 2 ).

BB. Die approximativen Verfahren. I. Dürers Verfahren. Neben den geometrisch genauen Konstruktionen des perspektivischen Bildes sind in der Unterweisung mehrere (in der Ausgabe von 1525 zwei, in der erwähnten von 1538 vier) Hilfsmittel beschrieben und abgebildet 3), die auf mechanischem Wege zu einer perspektivisch richtigen Darstellung beliebiger Objekte verhelfen wollen. Allen diesen Apparaten — die natürlich, verglichen mit der exakten Konstruktion, nur eine annähernde Korrektheit garantieren, dafür aber in höherem Maße für die Praxis in Betracht kommen konnten — liegt dasselbe Prinzip zugrunde: Die Sehpyramide wird von einer durchsichtigen Ebene realiter durchschnitten und das auf dieser sich darstellende Bild zeichnerisch irgendwie festgehalten. Hierzu hat Dürer folgende Instrumente angegeben: 1. Es wird eine Glasplatte zwischen das Objekt und das (durch ein verstellbares Visier fixierte) Auge eingestellt, und auf dieser das Bild des Objektes mit Schwarzlot aufgemalt, um dann auf die definitive Zeichenfläche übertragen zu werden (Holzschnitt Β 146, Skizzen dazu auf D 135, datiert 1514, und im Londoner Ms. II, 131 r, mit dem Datum 1515). 2. Es wird ein Nagel in die Wand geschlagen, durch dessen Öhr ein Faden läuft; dieser ist auf der freien Seite in einer spitzen Nadel befestigt und wird auf der Wandseite durch ein Gewicht stets straff gespannt. Zwischen Nagelöhr und Objekt steht ein die Bildebene vertretender Holzrahmen, in dem jeder Punkt durch zwei bewegliche, rechtwinklig sich J)

Cf. seine Figur 17.

z)

Cf. auch Serlio a. a. 0 . (libro secondo, p. 14 r).

3) In der Ausgabe von 1525: Folio Q 1 verso ff., in der von 1538: Q I recto fl.

Die praktische Kunstlehre.

40

kreuzende Fäden fixierbar ist. Jetzt wird die Nadel auf einen Punkt des Objektes aufgesetzt: Das Öhr vertritt das Auge, der Faden den Sehstrahl, und die Stelle, an der er durch den Rahmen hindurchgeht, ist der Ort, den der betreffende Punkt des Objekts im Bilde einnehmen muß. Er wird durch die als Koordinaten wirkenden Fäden fixiert und auf dem (aufklappbar befestigten) Zeichenblatt eingetragen. So wird das ganze Objekt sozusagen sukzessive abgetastet (B 147). 3. Eine nach Dürers Angabe von Jakob Keser erfundene Verbesserung des ersten Verfahrens, bei dem — da die Distanz des Auges von der Bildebene nie größer sein kann, als die Armlänge — das Objekt entweder zu klein oder in unnatürlich starker Verkürzung erscheinen muß. Deswegen wird das menschliche Auge wieder durch ein Nagelöhr ersetzt, das hinter dem Zeichner liegt, und durch ein besonderes Visier, das an dem diesmal unverschieblich an diesem Öhr befestigten Faden sich befindet, kann der Zeichner jeden Punkt des Objekts aufs Korn nehmen und auf der Glasplatte anmerken (B 148, Skizze D 136, 137). 4. Zwischen dem Objekt und dem — wie beim ersten Verfahren durch ein »Absehen« fixierten — Auge steht ein Rahmen mit einem Fadengitter; die Zeichenfläche ist mit einem ähnlichen (nicht notwendig kongruenten) Netze ausquadriert und ermöglicht dadurch, das im Gitter erscheinende Bild quadratweise auf ihr zu verzeichnen (B 149). II.

Die Herkunft dieser Verfahren.

Man wird sehr leicht auf den Gedanken kommen, daß, wo nicht die praktische Ausgestaltung so doch die Idee dieser Instrumente italienischer Herkunft sei, da der vierte der Dürerischen Apparate ganz identisch ist mit dem von Alberti 1 ) angegebenen und ausdrücklich als eigene Erfindung in Anspruch genommenen »velo« (auch »graticola« genannt) *). In der *) A. 101 ff. 2)

So ζ. B . : Cantor, Geschichte der Mathematik, II, p. 467 (Auflage von 1899); v. Zahn, Dürers Kunstlehre und sein Verhältnis zur Renaissance, 1866, ρ. 110; Rapke, a. a. 0. p. 52. — D e r Schleier war der späteren Kunsttheorie

Die Perspektive.

41

Die »perspectiva artificialis«.

Tat möchte es sich so verhalten; ja wir können nicht nur diesen »Schleier«, sondern auch die Glasplatte nachweisen, und zwar gerade in der Lombardei und gerade um 1500: Erstens nämlich hat der bekannte Maler Bartolommeo Suardi, genannt Bramantino, der mit Unterbrechungen bis 1536 in Mailand gelebt hat, nach dem Bericht des G. P. Lomazzo *) als Hilfsmittel zu einer annähernd richtigen — wie er sagt: aus »pratica« und »ragione« gemischten — perspektivischen Darstellung nicht nur Albertis graticola, sondern auch Dürers Glasplatte empfohlen; zweitens werden beide Verfahren von Lionardo (und zwar, womit die Wahrscheinlichkeit der Lomazzoschen Angabe erheblich steigt, auf einen R. 523 abgedruckten Blatt des in Mailand entstandenen a ) Ms. Ash. I) höchst ausführlich beschrieben: Das Auge sei durch ein besonderes Instrument zu fixieren; die Glasplatte 3) etwa a/3 Armlängen davon entfernt aufzustellen und mit Kreide oder Pinsel zu bemalen (was zufällig mit Dürers Beschreibung besser übereinstimmt, als die Anweisung Bramantinos), das — in üblicher Weise angewandte — Gitterverfahren sei besonders zum Zeichnen nach dem nackten Modell zu empfehlen, wie es durch Zufall auch Dürer in dem gerade dieses Instrument abbildenden prächtigen Holzschnitt Β 149 dargestellt hat. — Da hiernach feststeht, daß zu Dürers venezianischer Zeit nicht nur der Albertische Schleier, sondern auch der Glasplattenapparat gerade in Oberitalien benutzt wurde oder mindestens der Kunsttheorie geläufig war, so wird man die Kenntnis beider Verfahren, d. h. des ersten und des vierten dann sehr geläufig, ζ. Β. M.-A. Biondo: »von der hochedlen Malerei«, 1 5 4 9 (Q. V , p. 25 ff.) und viele andere, ζ. B. auch Pacioli p. 1 3 4 , 1

) Trattato dell' arte de la pittvra, Milano, 1 5 8 4 , Buch V , capit. 2 1 bis 24

(p. 274 ff.)· 2

) Siehe Richter, p. 5.

3) Richter verweist in einer Anmerkung auf E . Brücke

(Bruchstücke

aus der Theorie der bildenden Künste, 1 8 7 7 , p. 3), der aber an dieser Stelle keineswegs eine Beschreibung des Glastafelapparates im Sinne hat, sondern nur eine Veranschaulichung des perspektivischen Vorganges geben will, wir sie in R. 83 (zit. p. 22, Anm. 3 ) gefunden haben.

wie

42

Die praktische Kunstlehre.

der in Dürers Unterweisung angegebenen, auf Rechnung der italienischen Reise zu setzen haben. Für das dritte verbietet sich durch Dürers eigne Angabe, die seine Erfindung dem Herrn J. Keser zuschreibt, das Suchen nach einem Vorbilde von selbst; aber auch das zweite ist in italienischen Quellen *) nicht nachzuweisen gewesen: man wird jene recht sinnreiche Variation des italienischen Prinzips, die Idee, das nie ganz still zu haltende und leicht ermüdete menschliche Auge durch ein Nagelöhr zu ersetzen, ruhig für Dürers eigene Errungenschaft halten dürfen. Auch die kleinen praktischen Vervollkommnungen der übernommenen Methoden (das verstellbare Visier bei dem ersten Verfahren, beim vierten der Gedanke, bei sehr großen Bildern nicht auf den ganzen Karton zu zeichnen, sondern für jedes Quadrat des Schleiers einen besonderen Bogen zu nehmen und dann alle zusammenzukleben) sind dem erfinderischen Geist des Nürnbergers wohl zuzutrauen. CC.

Allgemeines.

Schluß.

Nach der Aufzählung dieser mehr oder weniger speziellen Entlehnungen perspektivischer Konstruktionen und Instrumente ist endlich noch zu erwähnen, daß Dürer den Italienern auch die Kenntnis einiger allgemeinen Sätze über das Wesen und die Grundlagen der bildnerischen Perspektive zu verdanken scheint: Dürers nicht auf Euklid zurückführbare Einleitungssätze auf L. F. 319 decken sich fast völlig mit Piero della Francescas 2 ), ebenfalls fünf »Teile« der Perspektive unterscheidenden Vorbemerkungen: Dürer »Item zu derselben Durchsehung ( = Perspectiva) gehören fünf Ding: x)

Piero »La quale parte (sc. der Malerei = Perspektive) contiene inse cinque parti:

Aus dem 1912 erschienenen Buch von K . Birch-Hirschfeld (die Lehre von der Malerei im Cinquecento, Rom) ist in betreff der approximativen Perspektive fast nichts zu entnehmen. Es enthält auch in der Darstellung der quattrocentistischen exakten Perspektive manches Anfechtbare. 9)

A. a. Ο. p. I.

D i e Perspektive.

D i e »perspectiva artificialis«.

Dürer Das erst ist das Aug, das do sieht. Das ander ist der Gegenwürf, der gesehen wird. Das Dritt ist die Weiten dozwischen. Das Viert: all Ding sieht man durch gerad Lini, das sind die kürzesten Lini. Item das fünft ist die Theilung voneinander der Ding, die du siehst« l ).

43

Piero la prima e il uedere cio e locchio. Seconda e la forma dela cosa veduta, laterza e la distantia da locchio ala cosa ueduta. La quarta e le linee che separtano da lestremita dela cosa euanno alocchio. La quinta e il termine (Bildebene) che e intra lochio e la cosa ueduta doue se intende ponere le cose.«

Möglicherweise erschiene die zahlenmäßige und inhaltliche Ubereinstimmung dieser Sätze nicht so zwingend, wenn wir mehr artifiziell-perspektivische Traktate des 15. Jahrhunderts zum Vergleich heranziehen könnten, in denen vielleicht eine gleiche oder ähnliche Einleitung zu finden wäre; die Analoga aber, die wir jetzt zur Verfügung haben (etwa Albertis 2 ) oder Lionardos 3) Einteilungen der Perspektive) sind von Dürern und Piero so völlig verschieden, daß ein Zusammenhang irgend welcher Art zwischen diesen beiden mehr als wahrscheinlich ist. Mindestens jedoch geht aus Pieros Sätzen mit Sicherheit hervor, daß auch dieser nicht Euklidische Einleitungspassus Dürers als italienische Reminiszenz betrachtet werden darf 4). — Sollen wir nun auf Grund dieser *) Bei diesem Satz, dem einzigen von Piero etwas abweichenden,

ist es

nicht unmöglich, daß Dürern ein Irrtum untergelaufen ist, da der Sinn nicht recht einleuchtet. a)

Theilung = Termine ?

Bonucci a. a. O.

3) R . 107 zum

Beispiel.

4) Möglicherweise gemeineren

ist Dürer

theoretischen

auch

Grundlagen

in an

Bologna zur E r l a n g u n g Euklid

verwiesen

von

worden,

all-

dessen

Elemente er sich j a bald nach der R ü c k k e h r von dort in Venedig erstand. D a ß Piero selbst ein guter Euklidkenner war, wäre auch ohne Vasaris drückliche Versicherung (a. a. Ο. I I , 498) anzunehmen gewesen.





aus-

44

Die praktische Kunstlehre.

italienischen Bestandteile der Dürerischen Perspektivlehre etwas über die Persönlichkeit des Bologneser Unbekannten aussagen, auf dessen Mitteilungen sie doch wohl zum allergrößten Teil zurückgehen, so müssen wir eingestehen, daß auch das von uns Beigebrachte kein Licht bringen kann: Die meisten Indizien scheinen auf einen Schüler Pieros zu weisen, da das umständlichere Verfahren, die Vielecks konstruktionen und die Einleitungssätze nur in seiner »prospectiva pingendi« aufzufinden waren; anderseits waren die Instrumente, Schleier und Glasplatte — letzteres ist bedeutsamer, da die »graticola« ja schon aus Albertis Malerbuch stammt — vornehmlich in Mailand im Kreise Lionardos nachweisbar, während die mit Dürers »näherem Wege« identische Konstruktion in ganz Oberitalien verbreitet gewesen zu sein scheint. Mithin kann nur das behauptet werden, daß der Bologneser Meister wahrscheinlich ein Mann gewesen ist, der, an Pieros Lehre gebildet, zugleich mit den Bestrebungen der Mailänder Schule nicht unbekannt war. Da dies die Stellung ist, in der sich gerade Pacioli befand, könnte man versucht sein, die von Staigmüllers Kritiker offengelassene Möglichkeit, Pacioli könne auf dem Wege von Florenz nach Venedig, wo er 1508 auftaucht, mit Dürern in Bologna zusammengetroffen sein, zu akzeptieren. Nötig ist das freilich nicht, da — abgesehen davon, daß auch andere Perspektiviker eine ähnliche Doppelstellung eingenommen haben werden — Pieros Lehren ebenso wie die Mailänder Experimente über die Grenzen ihres Entstehungsortes hinausgedrungen sein können. — Innerhalb unseres Themas genügt jedoch das, was mit positiver Sicherheit festzustellen war: Dürer ist in Italien sowohl mit Pieros Doktrin als auch mit den Mailänder Versuchen irgendwie in Berührung gekommen und hat aus dieser Berührung soviel an tatsächlicher Kenntnis profitiert, daß er — im Gegensatz zu seiner sonstigen Art, fremde Anregungen sehr selbständig auszubauen — in der Angelegenheit der Perspektive dem Übernommenen nur wenig Eignes hinzuzufügen brauchte. —

Die parallelprojektiven Hilfskonstruktionen.

Zweites Kapitel.

45

Die parallelprojektiven Hilfskonstruktionen.

Nun aber stellt sich Dürer die Aufgabe, auch beliebig komplizierte Objekte — und das heißt in der Zeit, in der die bildende Kunst fast ausschließlich eine menschenbildende Kunst war, vor allem beliebig bewegte menschliche Körper — nicht vermittelst eines nur approximativen Verfahrens, sondern vermittelst der exakten Konstruktion perspektivisch darzustellen; eine Aufgabe, die in der Praxis wohl nie an den Künstler herantritt, deren Lösung aber aus prinzipiellen und pädagogischen Gründen von Dürern (übrigens auch von Piero) ausführlich behandelt wird. — Um einen Gegenstand mit Hilfe der costruzione legitima — der »nähere Weg« kommt hier der Natur der Sache nach nicht in Frage — in jeder Position perspektivisch aufnehmen zu können, muß man, wie wir wissen, drei Risse des Gegenstandes besitzen, die in drei rechtwinklig zueinander gelegenen Ebenen geführt worden sind — Grundriß, »nebensichtiger« (Profil-) Aufriß und »fürsichtiger« (Face-)Aufriß — und von denen jeweils einer aus den zwei anderen entwickelt werden kann. Diesen dritten R i ß τ ) aus den zwei rechtwinklig zu ihm und zueinander gelegenen anderen, die immer gegeben sein müssen, um ein dreidimensionales Objekt überhaupt ausreichend zu bestimmen, herzustellen, ist die Aufgabe der parallel -proj ektiven Hilfskonstruktionen. A. Die Konstruktion des dritten Risses als solche. Dürer exemplifiziert diese Konstruktion (wie übrigens auch Piero) zuerst am Kopf; und da stillschweigend angenommen wird, daß beim menschlichen Kopfe die Aufrisse — Profil- und Faceansicht — eher bekannt sind, als der Grundriß, *) Dieser ist bei dem Würfel nicht nur, sondern überhaupt bei regelmäßigen stereometrischen Körpern, die eben diesem Umstand ihre Beliebtheit in der damaligen perspektivischen Literatur verdanken, ohne weiteres aus den zwei anderen abzulesen. —

Die praktische Kunstlehre.

46

so stellt er sich seine Aufgabe dahin, aus Profil- und Faceriß diesen Grundriß zu gewinnen. Und zwar kann es, da der menschliche Kopf in verschiedener Höhe außerordentlich verschiedene Querschnitte abgibt, hierbei keineswegs bei einem einfachen Grundriß sein Bewenden haben, sondern dieser muß sich als eine Kombination mehrerer, in verschiedener Höhe gelegter Einzelschnitte darstellen. I.

Das unverbesserte Verfahren.

Bei der Herstellung eines solchen Grundrisses aus den zwei Aufrissen werde ich am einfachsten folgendermaßen verfahren: ich stelle die beiden gegebenen Risse nebeneinander und verbinde sie — ihre Höhenwerte sind ja gleich — durch so viele Parallelen (a), als ich Schnitte in dem Grundriß vereinigen will. Dann führe ich von denjenigen Punkten, in denen diese Parallelen die Konturen des Profilrisses schneiden, einen zweiten Parallelenzug (b) in senkrechter Richtung aufwärts oder abwärts, der also überall die Breiten des Profil risses zwischen sich hat; um nun mit diesen die Breiten des Facerisses zu kombinieren — denn eine solche Kombination bildet den Grundriß — , nehme ich sie von dessen Symmetraler Μ Ν aus auf den Parallelen α in den Zirkel und trage sie von zwei auf den Parallelen b senkrechtstehenden Symmetralen M'N' und M2NZ aus auf den letzteren ab. Durch die Verbindung der hierdurch gewonnenen Punkte entsteht der gewünschte Grundriß (Abb. IX). Eine solche Konstruktion hat Dürer auf dem Blatt D 117 ausgeführt, und zwar, wie zuerst A. Weixlgärtner mit Recht betont hat *), an Köpfen von völlig italienischem Typus, der auch auf unserer Abbildung durchaus erkennbar ist: es ist kein Zweifel, daß dieses Blatt nach einem italienischen Vorbild kopiert, wahrscheinlich sogar gepaust ist. Weixlgärtner weist auch sogleich auf das italienische Analogon hin: wiederum eine Darstellung aus Pieros Traktat (Fig. 63/64, Text p. L V f f . ) , die sogar darin mit der Dürerischen überein*) Kunstgeschichtliche Anzeigen 1906 (in der uns auch sonst sehr wichtigen Rezension der Bruckschen Ausgabe des Dresdner Skizzenbuches), p, 20,

Die parallel projektiven Hilfskonstruktionen.

47

stimmt, daß der Klarheit wegen die oberhalb und unterhalb der Nase geführten Querschnitte in je einem Grundriß besonders zusammengestellt worden sind; daß Dürer diese Anordnung mitübernimmt, obzwar er ganz wenige Schnitte zeichnet, die in einem einzigen Riß sehr wohl hätten unter-

gebracht werden können, deutet auf ziemlich sklavische Nachbildung der Vorlage. Diese kann jedoch nicht in der Pieroschen Zeichnung selbst bestanden haben: auf D 1 1 7 befinden sich nämlich neben der Grundrißkonstruktion einige perspektivisch gesehene Köpfe, die die Schnittlegung und die sich dabei ergebenden Konturen der einzelnen Schnitte verdeutlichen sollen; da derartige Köpfe bei Piero nicht vorkommen, ihr Typus aber durchaus italienisch und mit dem

Die praktische Kunstlehre.

48

der bei der Grundrißkonstruktion verwandten Köpfe identisch ist, so muß für Dürers Blatt ein anderes Vorbild vorausgesetzt werden, daß noch unbekannt, sicher aber italienisch ist Es steht dahin, was Dürer bei dieser Kopie hat lernen wollen: Die Parallelprojektion als solche war ihm nämlich laut eigener Aussage 2) aus der Reißkunst der Steinmetzen bekannt, in deren erhaltenen Lehrbüchern sie denn auch in der Tat nachweisbar ist 3). Das Wahrscheinlichste ist, daß ihn hauptsächlich der Gedanke, diese Projektion auf Köpfe anzuwenden, angezogen und zum Nachzeichnen des italienischen Blattes veranlaßt hat, ein Gedanke, der nur durch die Ausführung mehrerer Schnitte und ihre Zusammenfügung zu einem Generalgrundriß realisiert werden konnte. Gerade dieser Schnittlegung scheint ja auch, wie die sie verdeutlichenden Köpfe anzeigen, das Hauptinteresse des italienischen Zeichners gegolten zu haben. II. Der „Übertrag". Immer aber wird die Frage sein, ob Dürern das, was ihn an diesem Vorbilde interessierte, vorher neu war, oder ob ihn das Blatt, nur weil es italienisch war, zum Kopieren reizte. Will man jenes annehmen, so muß man die — leider undatierte — Zeichnung D 1 1 7 vor 1508 ansetzen (dafür spricht vielleicht die Erwägung, daß Dürer gerade während der Reise am ehesten Gelegenheit gehabt haben wird, sein italienisches *) Aller

Wahrscheinlichkeit

nach

oberitalienisch:

Der Charakter

K ö p f e hält zwischen denen des Parmenser Francesca-Codex und T y p e n etwa die Mitte.

der

Lionardos

Besonders die Augen mit ihren v o n Dürern sonst nie

mitgezeichneten Thränensäcken (ihre sehr ungenau gezeichneten E c k e n deuten übrigens ebenfalls auf Pausen) erinnern an lionardeske Bildungen: etwa R . X I I . A u c h treffen die Bestimmungen der §§ R . 3 1 0 , 3 1 1 , 3 1 2 zu. Unterweisung Ο 4 recto: »Darnach must du disz gefiert feit v n d den würffei der darauf stet auf zihen / wie ein Steinmetz seynen grund im aufreyssen aufzeucht.« 3) ζ. Β . M. Roriczer, »Büchlein v o n der Fialen Gerechtigkeit« (ed. Reichensperger 1 8 4 5 ) , p. 1 7

ff.

D a s Verfahren ist j a auch den Architekten

beinahe

unentbehrlich, und seine Erfindung geschah sicherlich in ihren Bauhütten.

Die parallelprojektiven Hilfskonstruktionen.

49

Vorbild in die Hand zu bekommen); denn schon in diesem Jahre begegnet auf Folio 6 r — 1 2 ν des IV. Londoner Manuskripts die auf demselben Prinzip gegründete, aber an spezifisch Dürerischen Kopftypen exemplifizierte und mit einer ihm eigentümlichen Verbesserung versehene Konstruktion des Grundrisses, so wie sie dann definitiv in die Proportionslehre (Folio Ε ι ν ff.) übergegangen ist. Diese ver-

rfH

143-

Abb. X (nach P. L . Fol. F ι r).

besserte Konstruktion, von Dürern »Übertrag« genannt, geschieht folgendermaßen: Es werden von beiden gegebenen Rissen aus in bekannter Weise senkrechte Parallelen gezogen; dann wird in den aus dem Facekopf kommenden Parallelenzug eine Gerade im Winkel von 450 eingestellt, die ihn — wie ein Spiegel wirkend — so herumbricht, daß er den anderen recht*) Die den Kopf der dicken und mittelmäßigen F r a u darstellenden Blätter sind undatiert, müssen aber spätestens 1508 entstanden sein, da der Text zu der zweifelsfrei auf 1508 datierten dicken Frau (ebendort Fol. 5 r/v) deutlich auf sie Bezug nimmt. P a n o f s k y , Dürer.

4

Die praktische Kunstlehre.

50

winklig schneidet. Hierdurch erübrigt sich die Übertragung der En-face-Breitenwerte mit dem Zirkel, da immer zwei von gleichen Punkten der beiden Risse (ζ. B. vom Auge) ausgehende, sogenannte »korrespondierende« Parallelen durch ihren Schnittpunkt ohne weiteres die Stelle bestimmen, die der Punkt, aus dem sie kommen, im Grundriß einzunehmen hat (Abb. X). — Diese Konstruktion ist, wofern sie sich nicht auch als Kunstgriff der Steinmetzen herausstellt, von Dürern erfunden worden, jedenfalls in italienischen Quellen nicht nachzuweisen J). — Auch eine andere, meist als italienisch angesehene Eigentümlichkeit Dürerischer Kopfaufnahmen, die auf den erwähnten Londoner Blättern zum erstenmal begegnet, braucht in der Tat nicht transalpinischen Ursprungs zu sein: Daß sich nämlich Dürer dabei eines quadratischen Netzes bedient, dessen Koordinatensystem mit Buchstaben bezeichnet ist. Wenngleich Pacioli bei einem seiner Profilköpfe z ) von ebenderselben Einrichtung Gebrauch macht, so braucht man doch nicht mit Brockhaus 3) anzunehmen, daß Dürer das System dieser rechtwinkligen Einteilung von den Italienern übernommen habe: Auch die »Geometria deutsch«, ein vor 1490 erschienener Druck der Nürnberger Stadtbibliothek, konstruiert die Profilansicht eines Stechhelmes in genau derselben Weise wie Dürer seine Köpfe, nämlich ebenfalls aus dem Quadrat und ebenfalls mit Hilfe von buchstabenbezeichneten Horizontalen und Vertikalen (Abb. X I ) 4). x)

E s ist selbstverständlich, daß, wenn der Grundriß und ein Aufriß ge-

geben sind, die angegebenen Verfahren genau so, nur in umgekehrter Reihenfolge, den fehlenden anderen Aufriß ermitteln können. l)

D i v . prop, pars prima, p. 25 v .

In Q nicht reproduziert.

3) Einl. zur Ausgabe des Gauricus, p. 28. 4) Nach der Illustration bei S. Günther, Geschichte des mathematischen Unterrichts im deutschen Mittelalter, 1887, p. 353.

Dortselbst ist auch der

D i e parallelprojektiven Hilfskonstruktionen.

51

Die hier an dem Beispiel des Kopfes demonstrierte Methode, aus zwei gegebenen, rechtwinklig zueinander geführten Rissen den dritten, rechtwinklig zu beiden liegenden zu entwickeln, ist nun natürlich wie für alle anderen Objekte, so auch für den bewegten Körper, freilich nicht ohne weiteres, anwendbar. — B.

Die Konstruktion des dritten Risses bei Bewegungen.

Da die einzelnen Glieder des bewegten menschlichen Körpers, eben weil er bewegt ist, zu den drei Ebenen der Schnitte nicht immer senkrecht bzw. parallel, sondern in beliebigem Winkel schräg liegen, so müssen sie sich in den Rissen nicht — wie wir das bisher stets gesehen haben — mit unveränderten Dimensionen, sondern in einer verkürzten 1 ) Projektion darstellen. Und wie diese Projektionen der einzelnen Körperteile herzustellen und zu den Rissen des ganzen, bewegten Körpers zusammenzufügen sind, ist das Thema des vierten Buches der Dürerischen Proportionslehre. Dürer gibt hierfür zwei Verfahren an, die notwendigerweise darin übereinstimmen müssen, daß sie beide auf der Methode der orthogonalen Parallelprojektion beruhen, sich jedoch insofern unterscheiden, als das erste von ihnen diese Methode ohne weitere Vorbereitungen anwendet, das andere aber die einzelnen Glieder vorher in entsprechend geformte, stereometrische Körper einschließt.

dazugehörige T e x t der »Geom. deutsch« abgedruckt. —

A u f einigen

Blättern

der Londoner Mss. ( I I , Fol. 10 r — 1 1 v , dazugehörig 12 r und 13 r) m a c h t Dürer auch den Versuch, die Linien des Netzes, in das die — nahme von Parallelen hergestellten —

hier noch ohne Zuhilfe-

Kopfrisse eingetragen werden,

verschiedenfarbige Tusche kenntlich zu machen.

durch

D a , abgesehen v o n der Primi-

t i v i t ä t des ganzen Verfahrens, der dabei verwendete männliche Profilkopf in wesentlichen Bestimmungen mit den K ö p f e n des A d a m v o n 1504 und des A p o l l o L 233 übereinstimmt, so darf m a n diese Blätter wohl in die Zeit v o r der Reise setzen. x)

Natürlich nicht perspektivisch verkürzt, cf. unten p. 53, A n m . 2.

4*

Die praktische Kunstlehre.

52 I.

Das einfache Parallelenverfahren. 1.

Der Kopf.

Als Paradigma dafür, wie das einzelne Glied in seiner Bewegung parallelprojektiv J) aufzunehmen ist, wählt Dürer wiederum den Kopf 2 ), wobei er nur zwei Arten der Bewegung in Betracht zieht: die Beugung, d. h. die Drehung um die Horizontalachse, und die Wendung, d. h. die Drehung um die Vertikalachse, nicht aber die seitliche Neigung gegen eine Schulter und kombinierte Bewegungen. Da er nicht zentral-, sondern parallelprojektive A u f nahmen geben will, kann er davon ausgehen, daß immer die

Abb. XII (nach P. L . Fol. V 4 v).

Achse, um welche die Drehung sich vollzieht, ihre Länge behält, daß also beim Beugen die Breitenwerte, beim Wenden die Höhenwerte konstant bleiben. Demnach gibt er sich in beiden Fällen zunächst den Facekopf; will er nun I. beugen (über sich oder unter sich), so zieht er von diesem einen Parallelenzug senkrecht herauf oder herunter, zeichnet dann das im Betrage des Winkels R — β gebeugte Profil daneben, zieht von diesem aus einen wagerechten Parallelenzug, der den anderen trifft, und stellt durch die Verbindung τ)

Anders Piero, der nach Gewinnung der drei Risse nun sogleich mit Hilfe der costr. leg. eine richtig perspektivische Darstellung des bewegten Kopfes unternimmt (Fig. 65—72 inkl.), die ins definitive Bild eingehen könnte. Dürer aber will ja zunächst nur Risse des ganzen Körpers. 3) V 3 r ff. (abgedruckt bei D. Barbaro, >)la pratica della perspettiva«, Venedig, 1568 und 1569, p. 185/186).

Die parallelprojektiven Hilfskonstruktionen.

53

der Schnittpunkte »korrespondierender« Parallelen die Aufnahme des gebeugten Kopfes her; in ihr sind die Breiten des Facekopfes, wie gesagt, unverändert, die Höhen aber so verkürzt, daß jeweils y = b sin β wird (Abb. X I I ) 1 ) ; 2. beim Wenden geht vom Facekopf ein wagerechter Parallelenzug aus; darunter oder darüber wird der im Betrage des Winkels R — α gewendete Grundriß gezeichnet und von diesem aus ein Parallelenzug geführt, der den anderen unter rechtem Winkel schneidet. Durch »Zusammenziehen« der Schnittχ «im S

3 —

~ — ττ

t w

_ÜL

ii—j1

Ί

Abb. XIII (nach P. L . Fol. V 3 v).

punkte korrespondierender Parallelen entsteht die Aufnahme des gewendeten Kopfes, in der die Höhen des Facekopfes unverändert, die Breiten aber so verkürzt sind, daß jeweils χ = α sin α wird (Abb. X I I I ) »). r)

Wenn, wie auf V 4, und demgemäß auf unserer Abbildung X I I , der Facekopf nicht mitgezeichnet wurde, so ist er natürlich als Index der (hier konstanten) Breitenwerte stillschweigend vorausgesetzt. *) Obzwar es ganz klar ist, daß diese Projektionen keine »Verkürzungen« (welcher Ausdruck doch nur von zentralperspektivischen Ansichten gebraucht zu werden pflegt) sein wollen, so werden sie doch häufig (sogar von Justi, Rep. X X V I I I , p. 367) damit vermengt. Natürlich sind auch in ihnen die Stücke kürzer als in den reinen Face- oder Profilrissen (χ = a sin α!), allein in ganz anderem Verhältnis als dies der Fall sein müßte, wenn das Verfahren wirklich

54

Die praktische Kunstlehre.

Diese auf Folio V 3 ff. der gedruckten Proportionslehre veröffentlichten Konstruktionen nun, die die Projektion des bewegten Körpers aus zwei rechtwinklig zueinander geführten Rissen entwickeln, sind es, die Dürer nach Lomazzo von Vincenzo Foppa entlehnt haben soll. Lomazzo schreibt nach der ganz vagen Behauptung, Dürer habe so ziemlich alles aus einem »gewissen alten Werk« des Foppa gestohlen: » . . . che oltre le altre belle cose vi si veggono anco quelle teste che scortano a ) l'una per l'altra cioe sono trasportate in quantitä, le quali mede(si)mamente hä poi anco trasportato di peso Monsignor Daniel Barbaro«. Uns ist nicht das kleinste Blatt von den hierhergehörigen Studien des Foppa erhalten geblieben, und wir hätten daher ohne weiteres keinen Grund, dem Lomazzo unbesehen Glauben zu schenken 3); wir besitzen jedoch eine Zeichnung Lionardos (leider ohne Text, so daß man nicht sagen kann, ob und wie er sie weiter zu verwenden gedachte), die mit Dürers Darstellung des gebeugten Kopfes völlig identisch ist, indem sie diesen ebenfalls aus dem Facekopf und dem geneigten Profil köpf entwickelt 4). Und diese Identität ist Grund genug, Lomazzos Behauptung wenigstens zu einem Teil als wahr zu unterstellen: da das Verfahren sonst nirgends vorzukommen

»der Verkürzung beikommen wollte«. Wir schlagen für diese Projektion den Ausdruck »digradiert« vor, den Lomazzo (Idea del Tempio della pittura, Milano, I 59°> P·93/94) gebraucht, » . . .che Alberto Durero non mostra nell'ultimo libro della sua simmetria altro che trasportatione di quatitä. L a quale da molti benche dotti, & esperti Pittori, e tenuta via di scortare (der Fehler ist also schon alt), mä veramente non e altro che ragioneuolmente far perdere, & digradare dal perfetto qualunque cosa«. Lomazzo hat also die Sache ganz richtig aufgefaßt, ohne sich jedoch näher zu erklären. *) Trattato V (nicht VII), Cap. X X I (p. 275). *) Hier gebraucht er also selbst den falschen Ausdruck, korrigiert sich aber sogleich mit dem »cioe..«. 3) Wie ζ. B . Ludwig, Q. X V I I I , p. 180/181. 4) Sie ist R. X L , 1, abgebildet und wurde, weniger passend, von Weixlgärtner (a. a. 0 . p. 20 Anm.) mit D 117 zusammengebracht, während Brockhaus (a. a. 0 . p. 45 Anm. 4) sie mit Recht mit unseren Darstellungen in Verbindung bringt.

Die parallelprojektiven Hilfskonstruktionen.

55

scheint*) und es natürlich ausgeschlossen ist, etwa Lionardo als von Dürern abhängig zu erklären, so wird Dürer diese Konstruktion des bewegten Kopfes in der T a t der Mailänder Kunsttheorie zu verdanken haben; man hat nur noch die Wahl, ob man ihn von Lionardo direkt abhängen lassen will, oder ob man — was, da Foppa bis zu seinem Tode in Mailand gelebt hat, gar nicht unmöglich ist — Dürer und Lionardo aus Foppa als aus einer gemeinsamen Quelle schöpfen läßt und damit Lomazzos Versicherung in ihrem ganzen Umfange akzeptiert. Wiederum aber kann Dürer seinem italienischen Vorbild nicht die Kenntnis der Parallelprojektion als solcher verdanken, sondern nur die Idee, sie auf den speziellen Fall bewegter Körperteile anzuwenden; diese Idee bedeutet aber diesmal insofern etwas wirklich Neues, als die darstellende Geometrie der Bauhütte für die Aufnahme solcher bewegter Dinge keine Analoga bot, und ist insofern wichtig, als sie Dürer zu den mit dem Jahre 1 5 1 9 einsetzenden gleichartigen Konstruktionen ganzer Körper erst hingeführt haben könnte.

2. Der Körper. Diese Aufnahme des vollständigen Körpers wird auf den anschließenden Blättern der Proportionslehre vorgeführt (der T e x t beginnt Folio V 4 verso, die Figuren V 5 verso 2 ) ) und geschieht dadurch, daß man zunächst den einen Aufriß ' ) E t w a s Ähnliches könnte man höchstens in dem Verfahren des Gauricus erblicken wollen, der (p. 206 1Ϊ.) einen Homer-Band und eine Cicerobüste mit Parallelen in die Verkürzung zu bringen sucht. Allein während es sich bei Dürer und Lionardo um ein abstrakt geometrisches und als solches vollkommen begründetes Verfahren handelt, will Gauricus wirkliche perspektivische

Ver-

kürzungen erzielen und verwendet die Parallelen nur aus Unkenntnis der elementarsten perspektivischen Gesetze.

Seine — natürlich als durchaus unhaltbar

zu bezeichnende — Konstruktion hat also sachlich mit den in Rede stehenden Aufnahmen nichts gemein. *) Skizzen dazu finden wir (außer auf Folio 108 r, 109 r, 190 r des Londoner Ms. I) in den Blättern D 3 0 / 3 1 ; D 3 4 / 3 5 ; D 95/96; D 97/98, von denen D 3 1 und D 35 auf 1 5 1 9 datiert sind. Früher sind solche Projektionen ganzer Körper m. W . nicht nachweisbar.

Die praktische Kunstlehre.

56

der ganzen Figur aus seinen einzelnen Stücken zusammenbaut — ζ. B. beim ersten Mann die (vom Beschauer) linke Figur aus dem Profilriß des gebeugten Hauptes, dem Faceriß des seitlich geneigten Rumpfes, dem Faceriß der Beine, deren eines nach hinten gebeugt ist — und dann durch Parallelen züge festlegt, welche Dimensionen diesen Stücken in dem nunmehr ζμ zeichnenden, um 90° gedrehten zweiten Riß zukommen, und zwar muß hierbei nach Analogie von Abb. X I I immer dasjenige Stück, das im ersten Riß digradiert erschien, im anderen undigradiert erscheinen und v. v. — Auf diese Weise werden 7 Figuren*) in mannigfachen Stellungen in Face- und Profilrissen vorgeführt, wobei jedoch aus Gründen der systematischen Klarheit keine schiefwinkligen Wendungen (wie in Abb. X I I I ) vorkommen 2 ). Da alle diese Figuren de facto ganz nach demselben Prinzip konstruiert sind wie die Köpfe, dieses Prinzip aber als ein ursprünglich italienisches anzusehen war, so ist man versucht, auch für diese ganzfigurigen Zeichnungen nach welschen Vorbildern zu forschen. Allein solche werden weder von Lomazzo noch von anderen Schriftstellern erwähnt und haben sich auch nicht erhalten; es ist daher höchst wahrscheinlich, daß Dürer selbständig das Konstruktionsprinzip der bewegten Köpfe auf ganze bewegte Figuren ausgedehnt hat; ihm gehört vor allem die ungemein liebevolle und umfangreiche Ausgestaltung, die er diesem Prinzip hat zuteil werden lassen. II.

Das Kuben-Verfahren.

Dagegen ist ziemlich allgemein 3) anerkannt, daß ein zweites, ebenfalls der parallelprojektiven Aufnahme ganzer τ)

Über das Interesse, das diese 7 Figuren in objektiver Hinsicht, d.h. als Beispiele der Bewegungslehre des menschlichen Körpers, bieten, vgl. unten p. 69£E. a)

Solche Wendungen würden stets auch senkrechte Parallelen nötig machen. — Welchen der beiden Risse man zuerst zeichnet, ist im allgemeinen gleichgültig. Nur wenn, wie ζ. B. bei der dritten Figur, der Profilriß durchweg aus undigradierten Projektionen sich zusammensetzt, soll (V 5 r) man »erstlich nach der seyten (d. h. eben den Profilriß) zu machen fürnehmen«. 3) Klaiber, a. a. 0 . p. 15; Wölfflin »Die Kunst Albrecht Dürers«, 2. A u f lage, 1908, p. 345.

Die parallelprojektiven Hilfskonstruktionen.

57

bewegter Körper dienendes Verfahren italienischen Ursprungs sei: das Kubenverfahren. Seine Beschreibung beginnt auf Folio X 6 ν mit der Illustrierung der Begriffe: Wenden, Krümmen, Biegen, Winden (bis Y 2 r) und geht dann zur Darstellung des eigentlichen Verfahrens über, dessen Charakteristikum die Einschließung der einzelnen Glieder in stereometrische Körper ist: Quadern, Obelisken, Doppelobelisken (Y 3 r ) D i e Gestalt der horizontalen Grundflächen (»Plani«) jedes Körpers wird durch den »Übertrag« gewonnen (Y 3 v / al

2 /

b

3

Abb. X I V , entsprechend P. L . Ζ ι r.

Y 4 v). Diese Plani, stets oblong oder quadratisch, durchschneiden den Körper an 10 bestimmten Stellen, und die an diesen verschiedenen Schnittstellen sich ergebende Konturlinie wird in die rechteckigen Flächen eingezeichnet, nachdem diese »von merckung wegen« zu Netzen ausgebildet worden sind; die einzelnen Schnitte werden (Y 5 r) zu einem Generalgrundriß zusammengezeichnet. Nun werden die stereometrischen Körper, auf den folgenden Seiten, mit dem bekannten Mittel der korrespondierenden Parallelen in bex

) Skizzen dazu D 56 bis D 66 inkl. und im Londoner Ms. I V , passim.

58

Die praktische Kunstlehre.

liebigen Bewegungen aufgenommen (Abb. X I V ) * ) , und sollen endlich, was Dürer in der Proportionslehre nicht ausgeführt hat 2 ), zu ganzen Figuren zusammengesetzt werden, die dann, je nachdem die einzelnen Corpora vorher verschoben worden sind, beliebige Stellungen einnehmen können. Hat man dann in jedes einzelne Corpus die ihm entsprechenden Körperkonturen mit der freien Hand eingetragen, so ergibt sich ein — nach Art und Zweck den mit Hilfe des ersten Verfahrens erhaltenen ganz analoger — Riß der bewegten Gesamtgestalt. Die Ansicht, daß dieses Kubenverfahren italienischen Ursprungs sei, gründet sich wiederum auf Angaben desLomazzo, der Dürer diesmal zwar nicht direkt des Plagiates zeiht, wohl aber die Erfindung und Ausbildung der von ihm sogenannten »quadrature« für die Mailänder Schule in Anspruch nimmt: »Da lui (Bramante) furono ritrouate le quadrature del corpo humano . . . . Vincenzo Foppa, che scrisse delle quadrature de membri del corpo humano & del cauallo, della quale ne fü anco inuentore« 3). Dazu kommt noch eine weniger bekannte Stelle des Gauricus, die aber vielleicht, da sein schon genanntes Buch 1504 im Druck erschien, die Tatsache, daß die Idee der »Quadrature« um 1500 in Oberitalien umging, zwingender beweist, als die Mitteilungen des später schreibenden Lomazzo. Gauricus sagt 4): »Possem ego totum hunc aestiuum quantus est, diem consumere demostrando uti isti arridiorem ex triangulo, pleniorem ex quadrangulo faciem constare doceant, uti intra

r)

Natürlich darf man auch hier nicht (wie Justi, Rep. X X V I I I , p. 366) von einem »die ganzen Körper in Verkürzung zeichnen« sprechen. 2)

Wohl aber im Dresdner Skizzenbuch D 61 bis D 66 inkl. 3) Idea del Tempio, p. 16 unten. Die andere Stelle (Trattato V I , 14, p. 320) lautet: »Or quanto alle figure quadrate ne disegnö assai Vincenzo Foppa E t seguendo lui ne disegnö poi Bramante vn libro, da cui Raffaello, Polidoro, & Gaudentio ne cauarono grandissimo giouamento; & secondo che si dice e peruenuto poi nelle mani di LucaCangiaso Pozzeuerasco, il quale perciö e riuscito nelle inuentioni, & bizarrie rarissimo al mondo.« 4) A. a. Ο. p. 152.

Die parallelprojektiven Hilfskonstruktionen.

59

horum fines, reliquum omne corpus, Sic *), intercludi oportere disputent, Recte quidem ut qui Platonis Timaeum perdidicerint«. Nun weiß man jedoch nicht, wie die »quadrature«, von denen Lomazzo redet, eigentlich ausgesehen haben. Da es Zeichnungen dieser Art aus dem in Frage kommenden oberitalienischen Kreise nicht mehr gibt, so ist es unklar, ob man dabei wirklich an eine dem Dürerischen Kubenverfahren analoge Methode, durch Einschreibung der Glieder in stereometrische Gebilde Bewegung aufzunehmen, denken darf, oder an eine in der Fläche sich haltende Eintragung der Körperkonturen in planimetrische Figuren, wie es Gauricus im Sinn hat, oder gar nur an ein auf Längen und Breiten gestelltes Rationalisierungssystem, wie etwa bei Paciolis Profilkopf, der schließlich auch als »quadratura« bezeichnet werden könnte; jedenfalls haben wir keinen Grund, mit K l a i b e r a ) Lomazzos Äußerung ohne weiteres auf parallelprojektive und mit Körpern arbeitende Bewegungsaufnahmen zu deuten, und können nur dies mit Sicherheit behaupten: Die eine Grundidee des Dürerischen Kubenverfahrens, nämlich die, daß die Gliedmaßen in geradlinige Figuren eingeschlossen gedacht werden, in die der Kontur freihändig eingezogen wird, war zu Anfang des 16. Jahrhunderts in Italien verbreitet; da nun Lomazzos Behauptung, Dürer habe die Konstruktion seiner bewegten Köpfe von Foppa, durch die Existenz der Zeichnung R. X L mindestens zum Teil als wahr erwiesen wurde, so werden wir ihm auch glauben dürfen, daß solche »quadrierte« Zeichnungen in Mailand erfunden worden waren und kursierten; und da Dürer in der T a t zu Mailand in Beziehung stand und sich der Gedanke, die Glieder geradlinig zu umschreiben, sonst bei ihm nicht findet, ja dem Sinn seiner *) Diesem »Sic« ist einige Beachtung zu schenken. Jemand, der ein »Hier, so sieht's aus« in die Unterhaltung einflicht, muß dabei dem Unterredner etwas zeigen. Gauricus fingiert also, daß er eine »quadratura« entweder vorlegt oder dem andern vorskizziert, und läßt dadurch keinen Zweifel, daß solche Dinge jedenfalls wirklich praktisch müssen versucht worden sein. 2)

A. a. 0 . p. 15.

Dortselbst auch Zitat der Lomazzo-Stellen.

Die praktische Kunstlehre.

6o

eigenen körper-konstruktiven Versuche 1 ) eher entgegengesetzt ist, so ist durchaus anzunehmen, daß er eben diese Idee aus Oberitalien übernommen habe. Italienisch muten auch die Schnittlegungen an, die zum Kubenverfahren unentbehrlich sind und die Wölfflin 2 ) am meisten ins Auge fielen: Erinnern

Abb. X V .

Zeichnung Lionardos in Windsor.

wir uns doch, daß gerade die Herstellung solcher eine architektonisch klare Vorstellung des Körpers vermittelnder Schnitte und ihr Zusammenzeichnen Dürer an italienischen Vgl. unten, p. 82 ff. *) A . a . O . p.345: »(er zeichnet)., nach italienischem Muster alle Querschnitte eines Körpers übereinander, wie man einen Turm aufnimmt«.

Die parallelprojektiven Hilfskonstruktionen.

61

Zeichnungen besonders zu interessieren schien (D 1 1 7 ! ) und — wenigstens für den Kopf — in Pieros Traktat gelehrt wurde. Auch Lionardo kennt das Prinzip, den Körper durch viele Horizontalen in lauter einzelne Stücke zu zerlegen, und in deren oberen Begrenzungsflächen die Formen der entstandenen Querschnitte erkennen zu lassen; und zwar hat er einmal dies Prinzip in einer dem Dürerischen Verfahren so analogen Weise zur Anwendung gebracht (nur zieht er, vorwiegend anatomisch interessiert, auch die Binnenkonturen der Querschnitte in Betracht), daß wir das betreffende Blatt*) abbilden zu sollen glauben (Abb. XV). — Darüber jedoch, ob der Gedanke, die formumschließenden geradlinigen Figuren als stereometrische auszugestalten, und ihre Ecken als bequemere Ansatzpunkte von Projektionsparallelen zu verwerten, italienischen Ursprungs sei, ja ob er überhaupt in Italien damals bekannt war, vermögen wir schlechterdings nichts auszusagen. *

*

*

Um die von Dürern behauptete Tatsache, daß solche parallelprojektiven Aufnahmen zur zentralperspektivischen Darstellung eines bewegten Körpers notwendig sind — »Dann es ist not so man nachmals das bild wie es verruckt worden ist in ein verkürtzt vnd ab gestolln gemel will bringe das man solchs zu for hab darauß man das machen kün« 2 ) — zu illustrieren, sei die schematische Durchführung einer solchen Konstruktion angefügt: ich ersetze Kopf und Rumpf des Mannes V 5 ν durch zwei Quadrate ( 1 2 3 4 der Rumpf, 5 6 7 8 der Kopf, der gegen ihn um 900 gedreht und in beliebigem Winkel gebeugt ist). Will ich nun diesen Bau a so darstellen, daß 1 2 3 4 en face erscheint, so muß ich unbedingt die »Transportation« b haben (Abb. XVI). Nun erst kann ich die costruzione legitima anwenden, mit deren Hilfe ich aus dieser Trans«) P. L . Y a

5 v.

) Leonard de Vinci, Fragments, Etudes anatomiques, bei E d . Rouveyre,

Paris, 1 9 0 1 , Recueil B , Feuillet 4 v.

62

Die praktische Kunstlehre.

Abb. XVI.

Das Problem der objektiven Richtigkeit.

63

1

y 5.

4

h

t

K, ή

0.

3.1.

δ.7. 2.4.0. 7.

Abb. XVIII.

portation und dem Grundriß c diejenigen Werte erhalte (Abb. X V I I ) , die ich (Abb. X V I I I ) zum endgültigen perspektivischen Bild zusammenfügen kann.

Zweiter Abschnitt.

Das Problem der objektiven Richtigkeit. Da der Mensch das hauptsächlichste Darstellungsobjekt aller Renaissancekunst ist, so kann es nicht verwundern, wenn die gleichzeitige Kunsttheorie das Problem der objektiven Richtigkeit, dessen Lösungsversuche nunmehr zu besprechen sind, meist nicht als das Problem auffaßt, die ganze sichtbare Welt empirisch-naturwissenschaftlich zu begreifen, sondern sich auf die Erforschung desjenigen Naturobjekts beschränkt, auf das sich das Interesse der Künstler fast ausschließlich konzentriert: alle Kunsttheoretiker mit Ausnahme des einen Lionardo, der die Fähigkeit hatte, von der Welt als Ganzem berührt zu werden, erblicken in dem Problem der objektiven Richtigkeit nur das Problem einer — allerdings in weitem Sinn gefaßten — Anthropologie. Selbst dieses Teilgebiet der Naturwissenschaft erscheint aber noch zu groß, als daß der einzelne es ganz bewältigen könnte; und so sehen wir denn zum Beispiel Antonio Pollaiuolo als

64

D i e praktische Kunstlehre.

Anatomen*), Pomponius Gauricus als Physiognomiker a ), L. B. Alberti als Mimiker und Statiker 3) beschäftigt, niemanden aber außer Lionardo — der auch hier wieder seiner Zeit so sehr voraus ist, daß die Wissenschaft heute, mit Überspringung mehrerer Jahrhunderte, an ihn in mancher Beziehung anknüpft — die »Lehre vom Menschen« im ganzen bearbeiten. Auch Dürer hat — endgültig — nur den Menschen in den Kreis seiner Betrachtung gezogen und auch bei ihm ist diese Betrachtung nur fragmentarisch: da ihn der Mensch nicht so sehr als Objekt empirischer Erkenntnis wie als Objekt ästhetischen Wertens interessierte, sind seine hierhergehörigen, d. h. auf die Lösung des Richtigkeitsproblems hinzielenden Versuche (zu denen also die ganze Proportionslehre der Natur der Sache nach nicht zählen kann) an Ausdehnung besonders gering. I. Anatomie« A.

In Italien.

Seit langem hat man sich gewöhnt, die Anatomie, die erste und hauptsächlichste Disziplin einer allgemeinen Lehre vom menschlichen Körper, aus dem Gebiet der Kunsttheorie völlig auszuscheiden und, wie es bei einer empirischen Naturwissenschaft uns ganz natürlich vorkommt, dem Künstler ihre für ihn allenfalls wichtigen Resultate in Kompendienform zu übermitteln, ihm irgendwelche eigne Beschäftigung mit ihr jedoch nicht zuzumuten. Völlig anders war dies in der italienischen Renaissance, zumal in Florenz. Aus eigner Neigung und unter dem mächtigen Einfluß der antiken Skulptur und Mythologie hatte man dort im Quattrocento den nackten Menschen für die Kunst geradezu neu entdeckt. Und bald genügte es dieser J)

Cf. sogleich p. 65.

2)

A . a. 0 . 152 ff. E r betreibt die Sache jedoch nicht in Lionardos Sinn,

der aus Tr. 292 zu erkennen ist und mit der heutigen Auffassung völlig übereinkommt, sondern ganz im Sinne des

3) A. 121 ff. und 125 ff.

Symbolismus.

Anatomie.

65

wachen und stets nach exaktem Wissen verlangenden Künstlergeneration nicht mehr, ihren Hauptgegenstand nur aus den Werken anderer Meister, und wären es selbst antike, oder bestenfalls aus dem doch nur von der Oberfläche her zu begreifenden lebendigen Modell kennen zu lernen. Man wollte den menschlichen Körper funktionell und von innen heraus verstehen, und solches Verständnis konnte nur die Anatomie vermitteln. Da nun brauchbare, d. h. gut illustrierte anatomische Lehrbücher nicht existierten, da außerdem die Kunst über einen sowieso naturwissenschaftlich angeregten und fähigen Nachwuchs verfügte und da endlich in dem vorurteilsfreieren Lande der Ausführung von Sektionen wenig im Wege stand, so finden wir im 15. und im beginnenden 16. Jahrhundert die italienischen Künstler in lebhafter anatomischer Tätigkeit und die Anatomie sogar zum großen Teil in ihren Händen: die Bezeichnung »pictore anatomista« *) konnte geprägt werden. Diese anatomischen Studien — A. Pollaiuolo soll damit angefangen haben 2 ) und hat sicher viel seziert, andere folgten, so bekanntlich auch Michelangelo schon in seiner ersten Florentiner Zeit — wurden nun so betrieben, daß man nur auf das sein Augenmerk richtete, was mit der Kunst in unmittelbarem Zusammenhang stand, d. h. ausschließlich Muskel-, Bänder- und Knochenanatomie trieb, und die Ergebnisse dieser Forschungen nicht als wissenschaftliche Resultate buchte, sondern in Zeichnungen niederlegte, die fast ohne weiteres zu künstlerischen Darstellungen nackter Bewegungsfiguren Verwendung finden konnten. Erst Lionardo betätigt dann ein reines, nicht direkt auf die Möglichkeit praktischer Verwertung orientiertes, anatomisches Interesse, das natürlich indirekt der Kunst dennoch zugute kam 3). — 0 R· 363· *) Vasari, a. a. 0. III, p. 295. 3) Bezeichnend hierfür ist sein Zusammenarbeiten mit M. A. della Torre (die bewunderungswürdigen Windsorzeichnungen rühren größtenteils davon her). Cf. Marx, in Abhandl. d. kgl. Ges. d. Wiss. Göttingen, 1849. Über Leonardos Stellung als erster rein wissenschaftlich interessierter Künstleranatom: Perrod, »L. d. V. anatomista« in »Riv. politica e letteraria« vom 1. I. 1899. P a n o f s k y , Dürer.

c

66

D i e praktische Kunstlehre.

Β.

Bei Dürern.

Dürer hat, wie er selber zugibt — »Aber wie man wol sol reden von den glidernn wie sie wunderbarlich inn einander geent/Diß wissenn die da mit der Anatomia vmb g e n t . . . et1) — nicht viel von Anatomie verstanden, und es ist ganz ausgeschlossen, daß er sich jemals praktisch mit ihr beschäftigt hat 2 ). Er hat sich jedoch von dieser Wissenschaft, in der seine welschen Kunstgenossen so viele und — relativ — bequeme Erfolge hatten, offenbar sehr angezogen gefühlt und stets versucht, sich mit ihren Ergebnissen wenigstens indirekt bekannt zu machen: es ist immer sein Bestreben gewesen, italienische Anatomiezeichnungen oder mindestens solche Aktdarstellungen, die auf gründlicher anatomischer Kenntnis beruhten und deshalb zu deren Vermittlung geeignet erschienen, aufzutreiben und zu kopieren. Solche Kopien 3), gering an Zahl und ohne positive Nachwirkungen innerhalb seiner eigenen Forschung, sind gleichwohl als Zeugnisse für sein wissenschaftliches Wollen von großem Interesse. 1.

Kopien nach Lionardo.

Die einzigen anatomischen Zeichnungen Dürers, die keinerlei praktisch-künstlerischen Zwecken dienen sollten, sind Entlehnungen von Lionardo: Weixlgärtner hat nachgewiesen 4), daß die Skizzen auf den Blättern D 107 und D 108 (auf D 107: Muskulatur der Beine, Skelett des rechten Beines mit schematischer Muskelangabe 5), Muskulatur des linken Armes, Skelett des linken Armes mit schematischer Muskel*) P . L . V 1 recto. äußeren Linien . . . . 3 ) Bruck

Cf. auch L . F . 208, 32 »Ich will

schreiben

behauptet

...

allein von den

aber v o n den innerlichen Dingen gar nit.«

(Einl. p. 33) irrigerweise

das

Gegenteil.

3) D a s wenige, was in Dürers Zeichnungen sonst noch in einem — sehr lockeren — gärtner

a.

a.

meist

Zusammenhang mit der Anatomie zu stehen schien, hat W e i x l 0.

p.

20/21

zusammengestellt.

4) In Mitteil. d. Gesellsch. f. vervielfält. Kunst, 1906, p. 26. 5) Über Prinzip und Zweck dieser Manier, die Muskeln zu geben (es sind nicht, wie Bruck meint, »Nervenstränge«), hat sich Lionardo selber geäußert: R. 804, A b s a t z 2 (»Notando«).

Anatomie.

V4 in einer von unserem Zahlensystem durchaus verschiedenen Weise gestaffelt sind, die nur der geometrischen Längen division entspricht, und daher stets die Vorstellung einer solchen voraussetzt und wachruft: siehe den »Teiler« (P. L. A. 3 r, besser noch D 86); beim Modulverfahren hingegen werden die einzelnen Stücke auf eine in allen enthaltene Einheit bezogen, so daß die sie ausdrückenden Werte 1, 2, 3, 4 in einer dem natürlichen Zahlensystem durchaus entsprechenden Weise gestaffelt sind und keinerlei Raumvorstellung involvieren : daher die Additionen und Subtraktionen ohne weiteres gestattenden, aber räumlich ganz unanschaulichen Zahlenkolonnen, in denen die Resultate des Modulverfahrens sich darstellen. Wenn Dürer also zum Schluß seiner Tätigkeit neben der vorher geübten Methode auch die Exempeda einführte, so zeigt sich daran einerseits aufs neue, daß italienische Beeinflussungen für ihn immer ein Zurückdrängen des geometrischen Prinzips bedeuteten; zugleich erhellt noch einmal, wie un-

Die Proportionsstudien.

Die Epoche nach der Reise.

121

richtig es gewesen wäre, gerade das geometrisierende frühere Schema aus Italien herzuleiten. Und außerdem wird aus dieser letzten Übernahme die große Suggestionskraft jener Einflüsse deutlich, die Dürer vermochten, nicht nur die ihm von Haus aus natürliche geometrische Methode zugunsten der messenden aufzugeben, sondern auch noch von den innerhalb dieser bestehenden zwei Möglichkeiten endgültig die arithmetischere zu wählen. Und dennoch: Wenngleich das Gebäude der Proportions lehre auf die Anregung eines Italieners hin begonnen wurde und in seiner Physiognomie von italienischen Einflüssen sehr entscheidend bestimmt ist — das Gebäude selbst ist Albrecht Dürers. Nur er konnte die übernommenen Methoden so anwenden, daß das Resultat alles Vorbild übertraf und über Albertis eine Kombinationstabelle ebenso hinausging wie über die im einzelnen gewiß prächtigen Untersuchungen Lionardos, die aber so, wie sie dastehen, widerspruchsvolles Stückwerk sind. Mit der Gründlichkeit, die Alberti fehlte, ging Dürer in die Breite und vermehrte das Material von einem Typus auf deren 26, von den Angaben für den Kopf, die Hand, den Fuß, den Kinderkörper sowie die Anweisungen zur Veränderung ganz zu geschweigen; mit dem beinahe fanatischen Willen zum System, der Lionardo fehlte, ging er in die Tiefe und organisierte dies Material zum Ganzen. Gerade dem, der weiß, daß die Proportionslehre auf den Methoden der Italiener beruht, wird der ungeheure Erfolg dieses in alle Kultursprachen übersetzten Werkes begreiflich, da er sieht, was hier und was dort mit diesen selben Methoden geleistet worden ist.

Zweiter Hauptteil.

Die theoretische Kunstlehre (Dürers ·· Ästhetik). Einleitung.

Das Material.

Die ästhetischen Gedanken Albrecht Dürers haben ihre abschließende Formulierung in der gedruckten Proportions lehre gefunden: in der Einleitung (L. F. 206—209, 17), und vor allem im dritten Buch, dessen Schlußkapitel (L. F. 211, 13 bis 231, 27) geradezu als »ästhetischer Exkurs« bezeichnet zu werden pflegt; daneben darf auch die Einleitung der Unterweisung (L. F. 180—182, 17) als Dokument seiner endgültigen Anschauungen gelten. Uber die Entwicklung, die dieser definitiven Zusammenfassung vorangeht, sind wir durch eine Reihe von handschriftlichen Entwürfen unterrichtet (L. F. 239—262 und L. F. 280—378), die sich im wesentlichen um die Jahre 1512/13 einerseits und 1523 andrerseits gruppieren *), und deren früheste bis zur Wende des ersten Jahrzehnts zurückreichen können; der terminus post quem ist natürlich die Rückkehr aus Venedig. Wo im folgenden die Entstehungszeit nicht besonders angegeben ist, sind die Zitate der Proportionslehre entnommen. Dieses Material gibt uns einen ziemlich klaren Begriff vom Wesen und Werden der Dürerischen Ästhetik, einen Begriff, der durch eine vergleichende Heranziehung der praktisch-kunstr)

Zur Chronologie der nicht datierten Mss. cf. Lange-Fuhses einleuchtende Ausführungen auf p. 278 ff. ihrer Ausgabe, sowie ihre Anmerkungen zu den einzelnen Stücken.

Das Problem der Richtigkeit.

123

theoretischen Studien noch illustriert werden kann; denn natürlich bestehen vielfältige und reziproke Zusammenhänge zwischen der Ästhetik und der praktischen Kunstlehre: sind es doch dieselben Probleme, die diese zu lösen, jene zu stellen und zu erörtern unternimmt; nur darf dabei, eine eigentlich selbstverständliche Forderung, ausschließlich Gleichzeitiges miteinander konfrontiert werden, wie überhaupt bei der Bewertung der einzelnen Gedanken stets die Zeit ihrer Entstehung zu berücksichtigen ist *).

Erster Teil.

Das Problem der Richtigkeit. In der Schrift »de civitate Florentiae et eiusdem famosis civibus« des zu Anfang des 14. Jahrhunderts verstorbenen Filippo Villani lesen wir folgende W o r t e 2 ) : »...primus Johannes, cui cognomento Cimabue nomen fuit, antiquatam picturam et a nature similitudine pictorum inscicia pueriliter discrepantem cepit ad nature similitudinem quasi lasciuam et vagantem longius arte et ingenio reuocare.« Daß dieser Filippo Villani von der Malerei in erster Linie Naturwahrheit fordert, erscheint — man erinnere sich der mehr als berühmten Trauben des Zeuxis — noch nicht als etwas Außergewöhnliches; außergewöhnlich aber und neuartig ist es, wenn er die Kunst verschiedener Epochen daraufhin ansieht, inwieweit sie dieser Forderung gerecht geworden ist, und wenn er dabei findet, daß der mittelalterlichen Kunst, deren Produkte er deshalb durchaus mißbilligt, die Naturwahrheit strikte abzusprechen sei und daß es die eigentümliche und die vergangene Epoche überwindende Leistung einer spezifisch »mox)

Das neueste Werk über das Thema (Franz. L. Müller, Die Ästhetik

Albrecht Dürers, Straßburg 1910) kommt trotz vorzüglicher Beobachtungen im einzelnen und sehr zu billigender Stellungnahme gegen K . Langes Äußerungen (in der Zeitschrift f. bild. Kunst) gerade wegen der Vernachlässigung von Zeitunterschieden zu vielen anfechtbaren Resultaten. 2 ) Abgedruckt bei K . Frey, II Iibro di Ant. Billi, Berlin, 1892, p. 73, Zeile 14 ff.

Die theoretische Kunstlehre.

124

dernen« Malerei bedeute, die Dinge der Welt so darzustellen, »wie sie sind«. Und damit hat dieser Schriftsteller einen Gedanken formuliert, der für das, was wir Renaissance-Ästhetik nennen, geradezu programmatisch geworden ist: So lange im 15. und 16. Jahrhundert über die Kunst nachgedacht worden ist, galt alles Streben des Mittelalters als »kindisch«, »blind«, j a lachenswert, weil die »Richtigkeit« der Darstellung die selbstverständliche und unerläßliche, mit zunehmender Verfeinerung der Begriffe freilich nicht mehr alleinige, Bedingung der Qualität bedeutete So hat sich die praktische Kunsttheorie während der ganzen Epoche in starkem Maße um die Lösung dieses Problems bemüht, das sich einer zur Selbst-Besinnung gelangenden Kunst als elementarstes aufdrängen mußte. Die Ausbildung der darstellenden Geometrie einerseits, der Fülle naturwissenschaftlicher Disziplinen andererseits war, wie wir sahen, das sehr ansehnliche Resultat dieser Bemühung. Demgegenüber nimmt aber die Erörterung des Richtigkeitsproblems in den ästhetischen Schriften dieser Zeit einen sehr geringen Raum ein, aus leicht verständlichen Gründen: für jeden Renaissancedenker — auch für das Genie, soweit es eben zu denken begann — stand es unbezweifelbar fest, daß von jedem Kunstwerk Richtigkeit gefordert werden müsse; ebenso fest aber stand es auch, daß diese Forderung erfüllbar sei: indem damals weder erkenntnistheoretische noch sehphysiologische Bedenken dagegen vorlagen, eine »wahre«, das heißt für jeden Menschen in schlechthin gleicher Weise gültige Erkenntnis der Naturdinge und ihrer sichtbaren Erscheinung für möglich zu halten, so durfte die verlangte Richtigkeit durch den Besitz eines genügenden geometrisch-perspektivischen und ' ) Einzelne Zitate zu geben, ist zwecklos, da kaum ein Kunst-Theoretiker der Renaissance gefunden werden dürfte, bei dem nicht Sätze stünden wie: »daß die Kunst die Natur »nachahme«, »in wahrhafter A r t darstelle«, »daß das gute Kunstwerk mit dem dargestellten Gegenstand »genau übereinstimmen« müsse etc.

W a s Lionardo angeht, siehe die p. 152, Anm. 2 zitierten Anfangs-

sätze von Tr. 4 1 1 . — Zu der betreffenden Stelle des Dolce (a. a. Ο. p. 20) gibt der Herausgeber auch die antiken Analoga.

Das Problem der Richtigkeit.

125

empirisch-naturwissenschaftlichen Wissens ohne weiteres garantiert erscheinen. Wenn aber somit das Bestehen dieses — heute so odiösen — Problems ebensowenig zu Zweifeln Anlaß gab, wie die Möglichkeit und Methode seiner Lösung, so brauchte in der Ästhetik das eine ebensowenig wie das andere überhaupt noch weiter diskutiert zu werden. So verhält es sich auch bei Dürern. Wenn er — völlig im Einklang mit der italienischen Kunsttheorie — das Wesen der malerischen Darstellung dahin definiert, »daß Einer van allen sichtigen Dingen eins, welches er will, wiß auf ein eben Ding zu machen, sie seien wie sie wollen«1), so ist es ihm auch durchaus selbstverständlich, ganz wie jene die Richtigkeit dieser Darstellung zu verlangen: seine praktisch-kunsttheoretischen Bestrebungen beweisen das ebenso wie die in seinen Schriften mehrfach wiederkehrende Forderung der formalen geometrischen Korrektheit einerseits — » . . . dieweil einem rechten Verstand nichts unangenehmer zu sehen ist dann Falschheit im Gemäl.. 2 ) —, der völligen Naturgemäßheit anderseits: »Doch hüt sich ein Jedlicher, daß er nichts Unmüglichs mach, das die Natur nit leiden künn«.. .3); »Dann so es der Natur entgegen ist, so ist es bös«...4), »Daraus kummt, wer etwas Rechts will machen, daß er der Natur nichts abbrech und leg ihr nichts Unträglichs auf« 5). Aber diese doppelte Forderung hat auch für Dürer — er, der sonst gerne Probleme sieht, wo andere keine erblicken, geht in dieser Angelegenheit völlig mit der allgemein-renais*) L. F. 287, 15 ft. (um 1512). Ein gutes italienisches Analogon u. a. bei Alberti A 143: »Dico l'uficio del pictore essere cosl: descrivere con linea et tigniere con colori, in qual sia datoli tavola ο parete simile vedute superficie di qualunque corpo...« 2 ) L. F. 180, 20 (Einleitung der Unterweisung). 3) L. F. 219, 22. 4) L. F. 224, 22. 5) L. F. 217, 32. In der schönen, 1532 bis 1534 zu Nürnberg erschienenen Übersetzung des J. Camerarius, die man immer, namentlich bei nicht ganz klarem Wortlaut, mit Dürers Text vergleichen sollte, heißt es Fol. f 3r: »Ne quid naturali veritati vel detrahatur vel apponatur intolerabile«, was besser erscheint als Müllers etwas spitze Auslegung (a. a. 0 . p. 30).

126

D i e theoretische Kunstlehre.

sancistischen Anschauung mit — so wenig Problematisches, daß er sie weder auf ihre Berechtigung noch auf ihre Lösbarkeit hin zu prüfen für nötig hält; auch ihm ist das Richtigkeitsproblem einfach selbstverständlich und kommt deswegen von vornherein gar nicht als Gegenstand irgendwelcher kunstphilosophischer Überlegung in Betracht. Diese Überlegung setzt vielmehr erst an dem Punkte ein, wo ihm die Probleme nicht mehr selbstverständlich waren, sondern schon als solche der Besinnung bedurften: Dürers Ästhetik bewegt sich im wesentlichen in einer Erörterung des Schönheitsproblems, um dann das letzte Rätsel des kunsttheoretischen Denkens, das Problem der künstlerischen Qualität ins Auge zu fassen.

Z w e i t e r Teil.

Das Problem der Schönheit. Erstes Kapitel. Dürers Gedanken über die Stellung des Problems. A . Dürers Auffassung des Schönheitsproblems (das Problem der bedingten Schönheit). Während die uns erhaltenen Versuche Dürers, dem Problem der Schönheit praktisch beizukommen, d. h. seine Proportionszeichnungen, bis zum Ende des 15. Jahrhunderts zurückreichen, sind wir über die Art, wie er sich gedanklich mit demselben auseinandersetzte, nur durch Aufzeichnungen aus sehr viel späterer Zeit unterrichtet: durch jene in den Jahren nach der großen Reise entstandenen Londoner und Nürnberger Vorredenentwürfe *). Trotz dieses Mangels an schriftlichen Dokumenten können wir aus der Art, wie Dürer in seiner vorvenezianischen Epoche das Schönheitsproblem zu lösen versuchte, mit einiger Sicherheit erschließen, wie er es sich damals stellte: aus dem genugsam bekannten Charakter seiner frühen Proportionsfiguren geht unzweifelhaft hervor, daß er in diesen Jahren das Problem ' ) L . F. 239—241, 9 und L. F. 287—313, 22. Es werden übrigens kaum Mss. ästhetischen Inhalts existiert haben, die den erhalten gebliebenen zeitlich vorausgingen: Abgesehen davon, daß es großer Zufall wäre, wenn die voritalienischen Proportionszeichnungen sich in fast lückenloser Folge erhalten hätten, alles Textliche aber verloren gegangen wäre, erscheint es auch psychologisch ganz verständlich, daß Dürer zunächst eine ganze Zeit dem rein praktisch das Problem anfassenden Barbari nachfolgte, und erst durch die 1506 erfolgende ausgiebigere Berührung mit der auch ästhetisch gerichteten italienischen Kunsttheorie dazu bewogen wurde, seine Gedanken über das Problem schriftlich niederzulegen.

128

Die theoretische Kunstlehre.

der Schönheit als das Problem der unbedingten Schönheit verstand, d. h. als die Aufgabe, für Mann und Weib je einen konstruktiv herstellbaren Idealtypus herauszubringen, der immer und für jeden Beurteiler die schlechthin vollkommene, Göttern und Heroen angemessene Bildung der menschlichen Gestalt darstellen, und den der Schönheit zuzubilligenden Anspruch auf allgemeine Anerkennung τ ) restlos realisieren sollte. Nun aber erlebten mit der Rückkehr aus Venedig die Wege und Ziele seiner Proportionsbestrebungen ihre große Wandlung, und in derselben Zeit beginnt auch eine völlig veränderte Auffassung des Problems sich durchzusetzen, die — jetzt nicht mehr nur aus dem Charakter der Figuren erschließbar, sondern ausdrücklich formuliert — durchaus als das theoretische Korrelat der neuen praktischen Prinzipien gelten kann: Wie Dürers Praxis seit 1507 die Konstruktion der Gestalten nach einem einheitlichen Idealschema aufgab (man darf also die voritalienischen Konstruktionsfiguren niemals mit den ausnahmslos nach der Reise entstandenen schriftlichen Aufzeichnungen zusammenhalten!) und für alle Zukunft durch die Ausarbeitung mehrerer, charakteristisch, zum Teil extrem, verschiedener Typen ersetzte — so viele, daß sie schon 1513 ein ganzes Buch füllen zu können schienen — , so entschließt sich seine Ästhetik, das Schönheitsproblem in der Weise zu wenden, daß es in der Folge nicht mehr als das Problem der unbedingten, sondern als das Problem der bedingten und deshalb nicht mehr einheitlich fixierbaren Schönheit sich darstellt. War als unbedingte Schönheit diejenige zu bezeichnen, die von allen anderen Gegebenheiten unabhängig ist — ein unbedingt schönes Objekt würde, gleichviel wer es beurteilt, und gleichviel in welcher Verknüpfung mit andern Dingen es sich präsentiert, zu jeder Zeit als schön bezeichnet werden müssen — , so ist umgekehrt die bedingte Schönheit von solchen subjektiven und objektiven Verhältnissen abhängig: ein bedingt ' ) Siehe Kant, Kritik der Urteilskraft, I, § 6 fi.

Dürers Gedanken über die Stellung des Schönheitsproblems.

schönes Objekt braucht einerseits nicht allen Menschen wohlzugefallen, denen es gleichzeitig vorgelegt wird — ebensowenig dem einzelnen zu verschiedenen Zeiten —, andererseits nicht in jeder Wirklichkeits-Konstellation schön zu erscheinen daher muß jeder, der die bedingte Natur der Schönheit behauptet, zugleich nicht nur anerkennen, daß niemals ein Objekt als das schönste in seiner Art mögliche bezeichnet werden darf, sondern auch zugeben, daß oft nicht einmal in allgemeingültiger Weise bestimmt werden kann, welches von zwei gegebenen Objekten das schönere sei. Diese Bedingtheit des Irdisch-Schönen hat Dürer — und damit hat er sich von den Bemühungen seiner eigenen Jugend ebenso losgesagt wie von der landläufigen italienischen Ästhetik — bereits in seinen frühesten Aufzeichnungen a ) behauptet: »Es lebt auch kein Mensch auf Erden, der beschließlich sprechen möcht, wie die allerschönest Gestalt des Menschen möcht sein. Niemands weiß das dann Gott allein 3). Die ') Die Unterscheidung zwischen »bedingter« und »unbedingter« Schönheit kommt der von Plato einmal (im Philebos 51, c, Teubner II, p. 128; cf. etwa auch Symposion XXIX Α [bei Teubner p. 185, Zeile i8ff. ]) gegebnen gleich: πρός τι oder προς έτερον καλά und del καλά κατ' αύτοί. Die Ausdrücke »bedingt« und »unbedingt« scheinen mir hierfür weniger mißverständlich als »relativ« und »absolut«. — Derartige Stellen waren in der KunstTheorie der Renaissance übrigens ganz unbeachtet und haben auch mit den noch zu zitierenden Aussprüchen Dürers und Lionardos nichts zu tun. *) L. F. 300, 9, und öfter, wie überhaupt fast jeder Satz in den frühesten Mss. mehrere Male vorkommt. 3) Daß dieser Gedanke, sozusagen die metaphysische Begründung für die Annahme einer bedingten Schönheit, platonisch und von Pacioli übernommen sei (Wölfflin, p. 349; cf. auch Lange, a. a. Ο. IX, 136), ist durchaus nicht beweisbar: Ist er nämlich platonisch, so kann er Dürern aus vielen andern Quellen zugeflossen sein; daß er es aber ist, steht gar nicht ganz fest. Im Gegenteil: gerade die charakteristische und eigentümlich unchristliche Wendung, die Plato, am Anfang des Timaios, diesem Gedanken gibt — daß Gott als δημιουργός nur die Mittlerrolle zwischen der Idee der Schönheit und der Welt spielt — fehlt bei Dürern durchaus. So wie er den Gedanken faßt, geht er weit eher mit neoplatonischen Philosophemen zusammen. So schreiben die »lauteren Brüder« (Dieterici, Propädeutik der Araber, 1865, p. 165. Über ihre Abhängigkeit vom Neoplatonismus ebendort, Einl. p. V): »Recht eigentlich kennt dies (die Entsprechung der Glieder mit dem Ganzen und den anderen Gliedern) P a n o f s k y , Dürer.

9

130

Die theoretische Kunstlehre.

Schön zu urtheilen, dovan ist zu ratschlagen. Nach Geschicklichkeit muß man sie in ein idlich Ding bringen. Dann (eine vollkommen logische Begründung der vorangehenden Behauptung!) wir sehen in etlichen Dingen ein Ding für schön an, in eim anderen war es nit schön. Schön und schöner ist uns nit leicht zu erkennen. Dann es ist wol müglich, daß zwei unterschiedliche Bild gemacht werden, keins dem anderen gemäß, dicker und dünner, daß wir nit wol urtheilen künnen, welches schöner sei.« Diesen 1 5 1 2 fixierten Standpunkt aber hat Dürer bis zu seinem Tode mit großer Konsequenz festgehalten. 1528 heißt es: »Das gib ich nach, daß Einer ein hübschers Bild betracht und mach und des gut natürlich Ursach anzeigen der Vernunft einfältig dann der Ander. Aber nit bis zu dem Ende, daß es nit noch hübscher möcht sein. Dann Solchs steigt nit in des Menschen Gemüt. Aber Gott weiß Solichs allein, wem ers offenbarte, der weßt es auch (Irrealis!). Die Wahrheit hält allein innen, welch der Menschen schönste Gestalt und Maß kinnte sein und kein andre.« 1 ) Und nur in der Begründung dieses Standpunkts weicht der alte Dürer vom jüngeren etwas ab, insofern er in den früheren Entwürfen den bedingten Charakter der Schönheit auch mit ihrer Abhängigkeit von objektiven Gegebenheiten (»Dann wir sehen in etlichen Dingen ein Ding für schön an, in eim anderen wär es nit schön!«), im ästhetischen Exkurs aber ausschließlich — dafür um so energischer — mit ihrer Abhängigkeit von subjektiven Gegebenheiten motiviert hat: »Nun kummen wir wie vorgemeldt wieder zu der Menschen Urtheil. Die achten etwan zu einer Zeit ein Gestalt hübsch, zu der andern Zeit erwählen sie ein andre darfür« 2 ); wie denn überhaupt Dürers nur der erhabene Gott, der schuf und bildete, wie und von welcher Beschaffenheit er wollte.«

Man sieht, daß dieser Ausspruch, der Gott als autonomen

Schöpfer hinstellt, der christlichen Auffassung weit näher steht, wie denn überhaupt der Gedanke, daß das, was wir nur dunkel und vielfältig gebrochen erblicken, für Gott eine klare Einheit ist, auch der christlichen Mystik keineswegs fremd war. ' ) L . F . 2 2 1 , 30. L. F. 2 2 2 , 1 3 .

Cf.

auc

h L . F . 2 1 9 , 1 4 ; 2 2 1 , 2 2 ; 2 2 2 , 4 ; 2 2 2 , 2 5 ; 228,9.

Dürers Gedanken über die Stellung des Schönheitsproblems.

131

Skepsis gegen die Leistungen der menschlichen Urteilskraft mit der Zeit immer mehr, fast bis zur Bitterkeit, gewachsen ist. Dürer hat also, solange er überhaupt über die Kunst gedacht hat, niemals geleugnet, daß es — für ein absolut rein erkennendes Wesen — eine einheitliche und unbedingte Schönheit gebe; aber er hat sich gerade deswegen seit 1507 nie mehr von der Ansicht entfernt, daß diese Schönheit für die irdischen Bemühungen und Erörterungen gar nicht in Betracht komme, und daß sie, soweit sie den Sterblichen erreichbar und von ihm selber erforschbar sei, stets eine bedingte und in viele Formen auseinandergelegte sein müsse. So sehr ihm bis zum Ende seiner Tage die Erkenntnis der Einen großen Schönheit als das höchste Glück erschien, so vollkommen hat er für sich und alle Erdenkinder auf dieses Glück verzichtet: er hatte ein für allemal erkannt, daß sitf in einer Sphäre sich befinde, die bei Plato einmal ό ύπερουράνιος τόπος heißt und in der sie dem Bereich menschlichen Denkens und Suchens völlig entzogen ist. B.

D ü r e r s Auffassung des Schönheitsproblems im Verhältnis zu der der Italiener.

Wie schon gesagt, steht diese starke Wandlung, die Dürers Auffassung des Schönheitsproblems nach der Reise erfuhr, in engem Zusammenhang mit der Entwicklung seiner praktischen Proportionsstudien, die — infolge der um diese Zeit angenommenen arithmetischen Methode — nicht mehr eine einzige Idealgestalt, sondern mehrere unterschiedliche Typen hervorbrachten: Erst mit der Einführung des Begriffes der bedingten Schönheit war zwischen diesen Ergebnissen der Praxis und den Postulaten der ästhetischen Theorie eine endgültige Einhelligkeit hergestellt, indem dieser Begriff das neue, bescheidenere Ziel der Proportionsforschung ausdrücklich sanktionierte. Es läßt sich nur darüber streiten, was bei diesem Zusammenhang das Primäre, was das Sekundäre gewesen ist, d. h. ob der Begriff der bedingten Schönheit deswegen gefunden und anerkannt wurde, weil die praktische Bemühung, je mehr sie fortschritt, um so weniger zu einem einheitlichen 9*

Die theoretische Kunstlehre.

132

Resultat gelangte, oder ob die praktische Bemühung deswegen nicht mehr auf ein einheitliches Resultat hinarbeitete, weil der Begriff der Schönheit sich inzwischen zum Begriff der bedingten Schönheit entwickelt hatte. Man wird der Wahrheit am nächsten kommen, wenn man das Verhältnis als ein wechselseitiges auffaßt, bei dem jeder Faktor sowohl bedingt als bedingend ist; und es ist darnach wohl zweifellos, daß auch die Umwandlung des Dürerischen Schönheitsbegriffes — mindestens zum Teil — als eine indirekte Folge jener Berührung mit Lionardo aufzufassen ist, die ihn zur Annahme des messenden Verfahrens veranlaßt hatte. Allein es scheinen auch direktere Beziehungen vorzuliegen; denn der für Dürers Ästhetik so bedeutsame Gedanke der bedingten Schönheit hat auch als solcher bei Lionardo — und zwar früher als bei Dürern — seinen deutlichen Ausdruck gefunden: Im Trattato della pittura *) finden wir zwei Sätze, deren einer feststellt, daß die unterschiedlichsten Bildungen ästhetisch gleich wertvoll sein können (»Le bellezze de uolti possono essere in diuerse persone di pari bontä, ma non mai simili in figura, anzi fieno di tante uarietä, quante il numero, ä chi quelle sono congionte«), während der andere die tiefer gehende Einsicht ausspricht, daß das Urteil, »dies ist schön« nicht sowohl von den Eigenschaften des Objekts, als vielmehr von der individuellen Reaktion des betrachtenden Subjekts bedingt werde: »Anchora che in uari corpi sia uarie bellezze et di gratia equali, Ii uari giudici di pari inteligentia le giudicherano di gran uarietä infra loro esserui tra l'un l'altro delle loro ellettioni.« Wenngleich der von mehreren Autoren a) vermutete Zusammenhang zwischen solchen Ansichten Lionardos und den entsprechenden Äußerungen Dürers sich nicht mit voller Sicherheit erweisen läßt 3), so ist er doch in hohem Maße *) Tr. 140 und 141. ) James Wolff, L. d. V. als Ästhetiker, Straßburg, 1901, p. 103; Klaiber, a. a. 0 . p. 23. 3) Auch der hierhergehörige, weil ebenfalls der Skepsis gegen die Zuverlässigkeit des Urteilsvermögens Ausdruck gebende Satz Dürers »daß viel a

Dürers Gedanken über die Stellung des Schönheitsproblems.

133

wahrscheinlich. Denn abgesehen davon, daß Dürer gerade damals und gerade in der Angelegenheit des Schönheitsproblemes im Wirkungsbereich lionardesker Gedanken gestanden haben muß, ist die Stellung, die die beiden Großen diesem Problem gegenüber gefunden haben, eine in der ganzen Renaissance exzeptionelle. Alle andern Theoretiker, vornehmlich Alberti, hielten es nämlich — im Gegensatz zu jenen beiden — keineswegs für nötig, die Aufgabe, die Schönheit zu bestimmen, irgendwie auf ihre Berechtigung hin nachzuprüfen, d. h. auszumachen, ob und inwieweit die Schönheit überhaupt bestimmt werden könne. Indem man sie für eine objektive und für jeden Beurteiler in schlechthin gleicher Weise bestehende Eigenschaft der Dinge hielt, deutete man das Problem ohne weiteres als die Aufgabe, diese »absoluta pulchritudo« zu finden, d. h. (gemäß der allgemein akzeptierten Definition: Schönheit = συμμετρία) diejenigen Bedingungen anzugeben, unter denen ein menschlicher Körper als schlechthin σύμμετρος bezeichnet werden könne oder besser bezeichnet werden müsse. Wir sahen an einigen Beispielen, wie die Kunsttheorie der Epoche durch die Aufstellung zahlenmäßiger, irgendwie begründeter Canones diese Bedingungen festzustellen versuchte. Wenn also Dürer und Lionardo unter den Kunsttheoretikern der ganzen Epoche die einzigen sind, die das Schönheitsproblem nicht ohne Vorfragen akzeptierten, sondern zuerst erwogen, welche Bedeutung der Aussage, etwas sei schön, eigentlich zukomme, und wenn sie dabei auf dem gleichen, für ihre Zeit höchst merkwürdigen Begriff der bedingten Schönheit gelangten, so fällt es schwer, an Dürers Unabhängigkeit Moler machen das ihn geleich ist« (L. F. 304, 24. u. ö. Cf. auch L. F. 229, 12), der von Klaiber (p. 24) mit den sehr häufigen, ein gleiches behauptenden AusspTüchen

Lionardos (Tr. 105, 108, 109, 137, 282, 499) zusammengebracht wird,

konnte eventuell unabhängig von Lionardo geschrieben werden: der weder mit D. noch mit L. bekannte K a n t hat ganz von selbst die gleiche Beobachtung gemacht; Jachmann schreibt in seiner Biographie (Neudruck 1912, p. 167): »Er war über den Stich des jüdischen Kupferstechers L . wirklich böse, weil dieser demselben nach Kants Meinung einen Nationalzug von sich selbst mitgeteilt und ihn dadurch unkenntlich gemacht hätte.«

Die theoretische Kunstlehre.

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zu glauben, zumal ihm vor der Reise dieser Begriff, der das Suchen nach einem einheitlichen Idealschema völlig ausgeschlossen hätte, ganz fremd gewesen sein muß Zum mindesten aber besteht in diesem Punkte eine — sonst keineswegs häufige — beachtenswerte Ubereinstimmung zwischen Dürern und Lionardo, die um so wichtiger ist, als der Begriff der Schönheit, in dessen Auffassung sie sich begegnen, einen der Grundbegriffe der Renaissance-Ästhetik darstellt. Nun aber haben die beiden Denker das gemeinsame Motiv in völlig verschiedener Weise verwertet. Die Erkenntis, daß das Schöne etwas in doppelter Beziehung Abhängiges sei, hat für Lionardo so wenig Aufregendes gehabt, daß er mit keinem Gedanken darüber hinausgeht. So gewiß seine Überzeugung von der beständigen und unvermeidlichen Divergenz der ästhetischen Werturteile ihn dazu zwingen mußte, statt der von anderen Theoretikern gesuchten Einen Schönheit deren mehrere als gleichberechtigt anzuerkennen, so gewiß hätte sie erlaubt —vielleicht sogar nahelegen können — die Gesamtheit der unterschiedlichen Schönheitsmöglichkeiten in ihrer Abgrenzung gegen das schlechthin Häßliche zu bestimmen; diesen Schritt aber tut Lionardo nicht: seine Skepsis gegen die Zuverlässigkeit des menschlichen Schönheitsurteils bestimmt ihn nicht nur dazu, die übliche Auffassung des Schönheitsproblemes als Problem der unbedingten Schönheit zu verwerfen und den Künstlern aus neue die Forderung der »uarietä« zuzurufen, sondern überhaupt auf jede weitere Behandlung des ganzen Problems zu verzichten, das — abgesehen von einigen kurzen Verweisungen auf das immerhin noch zuverlässigere Urteil der Allgemeinheit 2 ) — nicht wieder erwähnt wird und nach jenen Feststellungen für Lionardos Denken einfach zu bestehen aufhörte. Man kann wohl begreifen, daß es diesen Geist nicht ernstlich und innerr)

Dies gegen Müller, der — eben weil er den Entwicklungsgang der prak-

tischen Proportionsforschung Dürers nicht beachtet —

a. a. 0 . p. 63 Anm.

schreibt: ». .daß die Urteile über die Schönheit s c h w a n k e n . . . , das sind Dinge, die Dürer wußte, als er mit Pacioli zusammenkam«. *) Tr. 109 und Tr. 137, zitiert unten, p. 138, Anm. 2.

Dürers Gedanken über die Stellung des Schönheitsproblems.

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lieh beschäftigen konnte; der Stil seiner immer auf das Finden von internen Beziehungen und Zusammenhängen gerichteten Proportionsstudien zeigt am besten, worauf es ihm in Ansehung der Naturerscheinungen ankam: nicht, sie nach irgendwelchen, stets von außen herangebrachten und endgültig doch immer subjektiven Maßstäben zu bewerten, sondern sie zu verstehen. Für Dürer aber, den das Schönheitsproblem gerade von der urteilskritischen Seite her, als Problem des Wertes, besonders fesselte, war es mit der Erkenntnis der Bedingtheit des Schönen keineswegs erledigt; nichts zeigt die grundsätzliche Verschiedenheit seines Denkens von dem Lionardos besser, als daß Dürer gerade aus der Tatsache der stets voneinander abweichenden und oft irrigen Urteile die Notwendigkeit folgert, die Lösung des Schönheitsproblems nun erst recht und unter der erschwerenden Bedingung, daß es sich nicht mehr um Eine Schönheit handeln kann, in Angriff zu nehmen: »In solichem Irrthum, den wir jetz zumal bei uns haben, weiß ich nit statthaft zu beschreiben endlich, was Maß sich zu der rechten Hübsche nachnen möcht. Aber gern wollt ich helfen, so viel ich künnt, daß die grobe Ungestalt unsers Werks abgeschnitten und vermieden blieb. Es wär dann Sach, daß Einer mit sunderm Fleiß ungestalt Ding wollt machen« *). und: »So wir nun zu dem Allerbesten nit kummen mögen, soll wir nun gar von unser Lernung lassen? Den viehischen Ge*) L . F. 222, 7. In den frühen Mss. böte sich L. F . 301, 20 ff. als Analogon: Nach einer Klage über die Unzuverlässigkeit des Einzelurteils: »Es ist mancherlei Unterschied und Ursach der Schöne; wer die bewährn kann, dem ist dest mehr zu gelauben. So viel der Gebrechlichkeit ausgeschlossen würd, soviel beleibt der Schöne dest mehr im Werk.« Zum Anfang dieses Passus cf. auch die p. 80, Anm. ι zitierte Stelle, zur zweiten Hälfte eine Bemerkung: Dürer h a t stets ein deutliches Gefühl dafür gehabt, daß der bedingten Schönheit eine unbedigte Häßlichkeit entspreche, und deshalb oft gemeint, daß das Problem der Schönheit eigentlich in der Weise anzufassen sei, daß man zuerst diese unbedingt feststellbare Häßlichkeit bestimmt und sie dann »ausschließt«. Außer den eben erwähnten Stellen cf. etwa die p. 76 zitierten Passus L . F . 212, 28 ff. und 213, 22 ff. Sonst vielleicht noch 228, 5 ff.: »Aber je mehr man die H ä ß lichkeit der obgemeldten Ding (Mangel und Überfluß) ausläßt, . . . so besser wirdet dasselb Werk.«

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Die theoretische Kunstlehre.

danken nehm wir nit an. Dann die Menschen haben Args und Guts vor ihn, darum ziemt sich eim vernünftigen Menschen, das Besser fürzunehmen!« Σ) Indem Dürer also bei aller vorurteilsfreien und vielfach ins Skeptische fallenden Untersuchung des Schönheitsproblems gleichwohl nie aufgehört hat, es als ein Problem zu empfinden, als ein Problem, das durch »Bewährung der Ursachen« der Schönheit gelöst werden müsse und um dessen Lösung er unaufhörlich rang, hat er zu ihm einen Standpunkt gefunden, der endgültig von dem Standpunkt Lionardos nicht minder verschieden ist als von dem Albertis: wenn Dürer zu diesem dadurch in Gegensatz tritt, daß er sich der Frage durchaus als ein unbefangen Prüfender gegenüberstellt, so tritt er in ebenso scharfen Gegensatz zu jenem, indem er — trotz der Parallelität wichtiger Gedanken — nicht dazu gelangt, das ganze Problem ohne weiteres von sich abzulehnen, sondern nur dazu, es auf die Grenzen möglicher empirischer Lösbarkeit zu beschränken. Damit aber ist der deutsche Denker der einzige seiner Epoche, der das Problem der Schönheit in einer Weise betrachtet hat, die wir kritisch nennen dürfen. Man kann sich vorstellen, daß es einem philosophisch ungeschulten Manne, der noch dazu einer jedes antike Credo respektvoll verehrenden Zeit angehörte, sehr schwer werden mußte, ganz ohne Verstöße gegen die Logik und ohne gelegentliche Kompromisse von einem so hohen Standpunkt aus weiterzudenken; allein um so mehr wird man die gedankliche Leistung dieses Dürer bewundern müssen, der als Einziger die kritische Stellung zu einem Problem gefunden hat, dem ein Alberti als Dogmatiker und ein Lionardo als undogmatischer, aber ebenso unkritischer Skeptiker gegenüberstand.

Zweites Kapitel. Dürers Gedanken über die Lösung des Schönheitsproblems. Wenn Dürer demnach seit 1507 unter dem mittelbaren und unmittelbaren Einfluß Lionardos, sicherlich auch bestärkt ') L. F. 222, 33.

Dürers Gedanken Uber die Lösung des Schönheitsproblems.

durch die Gewißheit, daß nicht einmal die Antike das Geheimnis der großen, einheitlichen Schönheit besessen habe — »Dann sie (die antiken Kunstbücher) haben gesagt: der Jupiter soll ein solche Proportz haben, der Abbollo ein andre, die Fenus soll also sein, der Ercules also, desgleichen mit den anderen allen« τ ) — das Problem der Schönheit auf ein Problem der bedingten Schönheit einschränkte, es in dieser Einschränkung jedoch gelöst wissen wollte und selbst zu lösen unternahm, so mußte er auch etwas über die Richtung sagen, in der solche Lösungsversuche sich zu bewegen hätten: Wollte er in seiner praktisch-kunsttheoretischen Proportionslehre eine große Reihe von Typen gewinnen, die — jeder an seinem Orte — mit Sicherheit als schön gelten durften, so mußte er in seiner Ästhetik Forderungen aufstellen, von deren Erfüllung diese Eigenschaft abhing, Forderungen also, welche diejenigen Kriterien formulierten, die nach Dürers Meinung x)

L. F . 315,20 ff. (ein von den Herausgebern mit Grund unter die frühesten schriftl. Aufzeichnungen versetztes Blatt). Der Passus ist insofern problematisch, als Dürer nach seinem eignen Geständnis den Inhalt der antiken Kunstbücher ebensowenig gekannt hat, wie wir ihn heute kennen, andererseits aber die so positiv behauptete Tatsache, daß die antike Kunsttheorie für die Götter unterschiedliche Maße aufgestellt habe, unmöglich aus der L u f t gegriffen haben kann. Die einzige Erklärung scheint mir diese: die in Italien vielfach ausgeführten Messungen an antiken Skulpturen, die zuerst nur den Kanon des Vitruv legitimieren sollten und legitimierten (ζ. B. Pacioli, a. a. O. p. 135 unten /136 oben), hatten doch bereits zu Anfang des 16. Jahrhunderts gezeigt, daß die alten Künstler ihre Göttergestalten doch nicht durchweg nach Vitruvs Angaben proportioniert hätten; das zeigt wohl am klarsten eine Stelle aus der 1521 zu Como erschienenen, aber noch früher verfaßten kommentierten Vitruv-Übersetzung des C. Cesariano (Folio X L V I I I v . ) : (die K ü n s t l e r ) . . . »si sono sforzati non solum perlegere le Plyniane & di Philostrato graeco & di molti auctori si como di V i t r u u i o le loro lectione...: M a i r e & c o m m o r a r e i n R o m a : & iui adoctorarsi perfectamete inspeculando & s y m m e t r i ä d o a d m i n u s le statue da quilli sollertissimi: Quali trouando da epse statue a l t r e piu subtile & electe Symmetrie... ritornauano..« (für die spätere Zeit siehe Lomazzo, Trattato, V I , 3, p. 286 ff.). Hiervon kann Dürer also gehört haben und hätte dann, in der festen Überzeugung, daß die Praxis der antiken Künstler mit den Vorschriften ihrer Bücher übereinstimmen müsse, ohne weiteres angenommen, daß die letzteren die unterschiedlichen Maße der Göttergestalten angegeben hätten.

Die theoretische Kunstlehre.

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einen bedingt schönen Körper von einem unbedingt häßlichen unterscheiden konnten. A.

D i e Kriterien der Schönheit. I.

Die Wohlgefälligkeit.

Das natürlichste und, wie es scheint, wichtigste Kennzeichen für die Schönheit eines Objekts ist seine Wohlgefälligkeit. Allein in Dürers Augen kann — erinnern wir uns an seine in dieser Hinsicht sehr skeptischen Äußerungen — das Wohlgefallen, das der einzelne an einem Dinge findet, keineswegs ausreichen, um dasselbe auch nur für bedingt schön zu erklären; da Dürer überzeugt war, daß derselbe Gegenstand dem einen schön, dem andern häßlich sei, ja von demselben Beurteiler zu verschiedenen Zeiten verschieden gewertet werde, konnte er dem einzelnen niemals die Fähigkeit zugestehen, das Schöne vom Häßlichen zu sondern: »Ihr Viel gehn allein ihrem Wohlgefallen nach, die irren sich« I ). Nicht so ohne weiteres wird auch der, der die Unzulänglichkeit des Einzelurteils begriffen hat, bestreiten können, daß das Wohlgefallen der Allgemeinheit als gültiges Kriterium der Schönheit anzusehen sei, da, wenn wirklich alle Menschen ihr Votum abgeben könnten, individuelle Fehler sich gegenseitig aufheben müßten. Dürer ist denn auch in der Bewertung des commune arbitrium nicht ganz konsequent gewesen: Während er in den frühen Entwürfen, in vollständiger und kaum ganz zufälliger Übereinstimmung mit den Ansichten Lionardos 2 ), die allgemeine Wohlgefälligkeit als entscheidendes Kriterium der Schönheit gelten l ä ß t — » A l s o was alle Welt für recht schätz, das halten wir für recht. Also do auch, was alle Welt für schön achtt, das wollen wir auch für schön T)

L . F . 301, 16, u. öfter. Für die Spätzeit etwa L . F. 352, 9 (um 1523):

»..und der meinste Teil, die ihrem Wolgefallen allein folgen, die irren gewohnlich«. J)

Tr. 109: »Debbe il pittore fare la sua figura sopra la regola d'un corpo

naturale, il quale comunemente sia di proportione laudabile,...« cf. Tr. 137: »guarda ä torre le parti bone di molti uisi belli, le quali belle parti sieno conforme piü per publica fama, che per tuo giuditio;«.

Die Kriterien der Schönheit.

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halten und uns des fleißen zu machen«— J ), kommt er später durchaus von dieser Ansicht ab und verweigert im ästhetischen Exkurs auch dem Urteil der Menschen in ihrer Mehrzahl seine Anerkennung: »So wir aber fragen, wie wir ein schön Bild sollen machen, werden Etlich sprechen: nach der Menschen Urtheil. So Werdens dann die Andern nit nachgeben und ich auch nit« 2 ). Diese interessante Wandlung, die hauptsächlich in Dürers zuletzt sehr stark gewordener Überzeugung von der Bedeutung der künstlerischen Persönlichkeit begründet sein möchte, scheint sehr gut zu der Annahme zu stimmen, daß Dürers neuer Schönheitsbegriff sich unter Lionardos Einfluß gebildet habe. Denn wiederum wäre dann die bei Beeinflussungen so häufige Erscheinung zu konstatieren, daß zuerst mehr Fremdes angenommen wird, als endgültig beibehalten werden kann: Um 1 5 1 2 bringt der Einfluß der lionardesken Kunstanschauung Dürer zu der Einsicht, daß die Schönheit etwas Bedingtes sei, veranlaßt ihn aber zugleich auch zu der Behauptung, daß sie durch das Wohlgefallen der Allgemeinheit ausreichend bestimmt werden könne; 1528 hat er von diesen beiden Gedanken den einen so vollkommen erfaßt und so innig seinem eignen Denken verwoben, daß er fast mehr ihm als dem Lionardo zu gehören scheint, den andern aber, als einen mit seinen inzwischen nach einer andern und völlig unitalienischen Richtung hin entwickelten Anschauungen unvereinbaren, aus seinem Gedankengebäude ausgestoßen. Diese Verachtung des menschlichen Urteils, zuerst nur des individuellen, dann auch des allgemeinen, mußte nun aber damit Hand in Hand gehen, daß Dürer sich in immer steigendem Maße nach Kriterien der Schönheit umsah, die ihm überhaupt vom Wohlgefallen unabhängig zu sein schienen. z l

) L. F . 301, 2, u. öfter.

) L. F. 221, 22; cf. auch die oben, p. 130, erwähnten Sätze des ästheti

sehen Exkurses.

Die theoretische Kunstlehre.

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II. Das Mittelmaß. Wir sahen bereits daß die Schönheit für Dürer in gewissen Fällen von der Vermeidung der Extreme abhing: die Gebärde mußte sich von den zwei Möglichkeiten »grimm« und »faul«, die Gesichtsbildung von den zwei Möglichkeiten »spitz« und »flach«, »murret« und »überhanget« in gleicher Weise fernhalten, um »lieblich« zu sein; wir sahen auch, daß er — was die Physiognomien anlangte — diese »abgeschiednen« Fälle der Natur durch die Aufstellung zahlreicher Gegensatzpaare in Wort und Bild festlegte, um dadurch ihre Vermeidung zu ermöglichen und auf indirektem oder negativem Wege die mitten zwischen ihnen liegende Schönheit zu bestimmen. Dürer hat also zweifellos in der Einhaltung des Mittelmaßes ein Kriterium der Schönheit erblickt, ja er hat sogar den Satz »daß ein jedlich Mittel zwischen allen Dingen das Best sei«, den er 1528 — wie wir wissen — in diesem Umfange ausdrücklich nicht mehr anerkannte, ursprünglich, d. h. 1512, zu einem ganz allgemeinen ästhetischen Prinzip erheben wollen: »Zwischen zu viel und zu wenig ist ein recht Mittel, das fleiß dich zu treffen in all dein Werken« 2 ). Dadurch, daß Dürer, soweit wir unterrichtet sind, in seiner Epoche der einzige war, der dieses antike Prinzip 3) aufgriff und auf eine ausdrückliche Formel brachte, scheint er sich bis zu einem gewissen Grade von der italienischen Theorie entfernt zu haben. Allein dieser Unterschied ist nur ein ganz äußerlicher. So wenig die Italiener die Forderung des Mittelmaßes gleich Dürern zu einem besonderen ästhetischen *) Oben, p. 72, Anm. 2 undp. 75, wo die in Frage kommenden Sätze zitiert sind. 2)

L. F. 300, 32, u. öfter. 3) Daß es ein solches sei, zeigte Brunn (Gesch. d. griech. Künstler 1853, I, p. 219). Charakteristisch erscheint eine dort erwähnte Galen-Stelle (περί κράσεων, 1,9; Teubner p. 36): »ουται γουν και πλάσται και γραφείς . . . τά κάλλιστα πλάττουσιν και γράφουσιν καθ' £καστον είδος, οΐον άνθρωπον ίύμορφότατον ή ϊππον ή βοϋν ή λέοντα, τό μέσον έν έκείνψ τ ώ γένει σκοποΟντες«. Cf. daneben die Bemerkungen Lukians über den Polykletischen Kanon (περί όρχήσεως 75, bei Teubner Bd. IT, p. 166).

Die Kriterien der Schönheit.

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Gesetz erhoben, so sehr mußte das, worauf dieses Gesetz abzielt, nämlich die Vermeidung alles irgendwie Übertriebenen, auch ihnen wünschenswert erscheinen: Lionardo ist keineswegs der einzige, der allzu heftige oder allzu schlaffe Bewegungen verurteilt—sondern ζ. B. auchAlberti und mit ihm, wie fast immer, die ganze Schar der Späteren r ), — nur daß diese Warnung bei den Italienern aus dem Prinzip der Harmonie abgeleitet wird, aus der Forderung, daß die Bewegungen der psychischen Zuständlichkeit des sie Ausführenden, der Gesamthandlung des Bildes, dem Anstand usw. »entsprechen« müßten. Diese Identität der aus dem Gesetz des »rechten Mittels« folgenden Vorschriften und den aus dem Gesetz der »conuenienza« resultierenden ist nun aber eine allgemeine und notwendige: Wenn schon das Altertum selbst zwischen Mittelmaß und Ebenmaß schließlich keinen Unterschied mehr machte und (»ουτω γαρ έΗευρήσομεν τη νοήσει σύμμετρο ν, δπερ έκατέρου τών άκρων ίσον απέχει2)« das σύμμετρον mit dem μέσον einfach identifizierte, wenn auch für Dürer die extremen Bildungen »zu« kurz, »zu« lang usw., das heißt in bezug auf die andern Glieder ασύμμετρα waren, so muß offenbar zwischen dem Prinzip des Mittelmaßes und dem der Harmonie irgendein innerer Zusammenhang bestehen. Und der besteht in der Tat. Denn ebenso wie gleichgültige oder aufgeregte, und deshalb der Forderung des Mittelmaßes widerstreitende Bewegungen einer Maria Annunziata zugleich auch dem Gehalt der Szene und dem Wesen der »vergine madre« nicht entsprechen, d. h. auch der Forderung der Harmonie zuwiderlaufen würden, so steht auch eine das Mittelmaß nach oben oder unten überschreitende Stirn zugleich auch in einem schlechten Verhältnis zu den übrigen Teilen des Gesichts: das Mittelmaß des Einzelnen ist Bedingung für die Harmonie des Ganzen; anders gewendet: wird vom Ganzen gefordert, daß es harmonisch sei, so wird damit implizite von seinen Teilen gefordert, daß sie das Mittelmaß einhalten. *) A. 127, von Späteren etwa Dolce (a. a. Ο. p. 61). Galen, a. a. Ο. I, 9 (Teubner p. 33).

J)

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Die theoretische Kunstlehre.

Dürer hat sich also in Wahrheit mit der Aufstellung seines Mittelmaß-Postulates von der stets und ausschließlich auf die Forderung der Harmonie gestellten Renaissancetheorie nicht nur nicht entfernt, sondern ist ihr damit sogar insofern sehr nahe gekommen, als jenes Prinzip von diesem ohne weiteres mitbegriffen wird.

III. Die Harmonie. Damit sind wir unvermerkt auf das Universalprinzip der italienischen Ästhetik geführt worden, das auch in seiner eigentlichen Gestalt in Dürers Lehre eine — im Laufe der Entwicklung immer bedeutsamer werdende — Rolle spielt: die Harmonie, die η ώ ν μερών προς τό δλον ισότης«, mit Dürerischem Ausdruck die »Vergleichlichkeit der Teile«. Während dieses Prinzip in den ja überhaupt noch nicht vollkommen durchgedachten frühen Entwürfen nur ganz kurz, in Sätzen wie »die Vergleichung Eins gegen dem Anderen das ist schön« I ), zum Ausdruck kommt und von dem damals noch prävalierenden Mittelmaßgesetz fast ganz beiseite geschoben wird, hat es sich später zu einem Hauptmotiv der ganzen Dürerischen Ästhetik entwickelt: »Vergleichlich« ist die Antwort gewesen, die er endgültig, d. h. im ästhetischen Exkurs, auf die große Frage »wie wir ein schön Bild sollen machen«, zu geben gewußt hat und die er, in engstem Anschluß an die italienische Kunsttheorie — als Beispiele mögen Aussprüche Lionardos und Albertis 2 ) dienen — folgendermaßen formulierte. τ)

L . F. 301, 29, u. öfter. Die von den Herausgebern vorgeschlagene Deutung als »Symmetrie« im heutigen Sinn, Gleichheit der zwei Seiten, hat nichts für sich. »Vergleichung Eins gegen dem Anderen« weist durchaus auf ein Zueinanderpassen, in welchem Sinn Dürer das Wort auch sonst stets gebraucht. 2 ) Von Lionardo die Sätze Tr. 113, 284, 383 (nicht 283!), die schon Klaiber (p. 21) mit Dürers Aussprüchen zusammengebracht hat; sowie Tr. 270. Von Alberti A. i n , 115,149. Von Dürer L. F. 2 2 3 , 4 — L , F . 224,30; der zweimal (L. F. 223, 7—26 und 223, 33—224, 6) auftretende Zwischengedanke, man müsse genau und richtig in den Einzelheiten sein, ist wenigstens einmal (in Klammern) wiedergegeben, da ganz zuletzt (p. 182 ff.) darauf zurückgekommen werden muß.

Die Kriterien der Schönheit.

Dürer.

Lionardo.

»Und daß wir wieder kummen, wie ein besser*) Bild gemacht werd, so muß wir erstlich das ganz Bild wol und herrlich ordnen mit allen Gliedmaßen...« (Folgt zunächst die Mahnung, die einzelnen Stücke gut and genau zu zeichnen.) Dann: . . . >Und so ein Jedlichs für sich selbs wolgeschickt gut soll sein, also soll es sich in seiner ganzen Versammlung wol zusammen vergleichen. Darnach soll der Hals sich wol zum Haupt reimen, weder zu kurz noch zu lang noch zu dick oder dünn sein. (Also hab man weiter Acht, daß man fleißig einziech die Brust, Bauch, den Rucken und Hintern, die Bein, Füß, Arm und Händ mit allem ihrem Inhalt, auf daß die al-

143 Alberti.

»Conviensi inprima dare opera che tutti i membri bene convengano. Converrano, quando et di grandezza et d'offitio et di spetie et di colore et d'altre simili cose corresponderanno ad una bellezza.«

. . »piacemi bene, che tu fuggi le cose mostruose, com' b 1 di gambe lunghe e busti corti, e petti stretti e braccia l u n g h e . . . «

»Chfe se fusse in una dipintura il capo grandissimo et il pecto picciolo, la mano ampia et il ρίέ enfiato, il corpo ghonfiato, questa compositione certo sarebbe brutta a vederla.«

Dieses »Besser« ist ein schönes Beispiel für Dürers wahrhaft kritische A r t zu denken: E r fragt zuerst (L. F . 221,22) wie wir ein schön Bild sollen machen, zeigt dann (in den p. 130 und 135 zitierten Sätzen), daß in dieser Form die Frage eigentlich falsch gestellt sei, da wir gar nicht von »schön«, sondern höchstens von »schöner«

besser) reden dürfen, und beginnt nun hier von neuem

mit der korrekteren Frage: »Wie ein besser Bild gemacht werd.«

Die theoretische Kunstlehre.

144 Dürer.

Lionardo.

Alberti

»in qualitä s'intende, oltre alle misure corrispondenti al tutto, che tu non missti le membra de giouani con quelle delli uechi, ηb quelle de grassi con quelle de magri, e oltre di questo, che tu non facci alli maschi membra feminili e le membra legiadre cö le inette. Oder: Sia fatto le mem·

»Dicemmo ancora alla compositione de' membri doversi certa spetie; et sarebbe cosa assurda, se le mani di Helena ο di Efigenia fussero vecchizze et gotiche; ο se in Nestor fusse il petto tenero et il collo dilicato; ο se a Ganimede fusse la fronte crespa ο le coscie d'un fachino; ο se a Milone, f ralli altri ghalliardissimo,

lerkleinsten Dinglein wolgeschickt und auf das Best gemacht werden. Und diese Ding sollen auch im Werk auf das Allerreinest und Fleißigst ausgemacht werden, und die allerkleinstenRunzelein und Ertlein nit ausgelassen, so viel das müglich ist. Dann es gilt nit, daß man obenhin lauf und uberrumpel ein Ding. Es war dann Sach, daß man ein Bild ganz behend mußt haben, so müßt man sich begnügen lassen.) Aber doch daß man darin Anzeigung geb eins rechten Verstands, und daß bei der Eil erkannt werde ein rechte Meinung, und daß die Art durch den ganzen Leib gleichformig war, auch in allen Bilden, es sei in härter oder linder Art, fleischechtig oder mager. Nit daß ein Theil feist, der ander dürr sei, als ob du machtest feiste Bein und mager Arm und Widersinns, oder vorn feist, hinten mager

Die Kriterien der Schönheit.

145

Dürer.

Lionardo.

Alberti.

und wiederum; auf daß sich all Ding vergleichlich reimen und nit fälschlich zusammen versammelt werden. Dann vergleichliche Ding achtt man hübsch. Deshalb soll auch in einem jedlichen Bild in all seinen Theiln der Glieder ein gleichmäßig Alter angezeigt werden. Und nit daß das Haupt von eim Jungen, die Brust von eim Alten, und Händ und Füß von eim mittelmäßigen Alten abgemacht werde. Und daß das Bild nicht vorn jung, hinten alt und auch dem Widersinns gemacht wirdet. Dann so es der Natur entgegen ist, so ist es bös. Darum gebührt sich, daß ein jedlich Bild durchaus von einer gleichen Art sei, eint-

bra alii animali conuenienti alle loro qualita. Dico, che tu nö ritraghi una gamba d'ungentile,o'braccio, o' altre membra, e l'apichi k d'un grosso di petto o' di collo, e che tu nö mischi membra di giouani con quelle di uecchi, et nö membra prosperose e muscolose con le gentili e fieuoli, e nö quelle de maschi cö quelle delle femine.

fussero i fianchi magrolini et sottiluzzi et ancora in quella figura in quale fusse il viso fresco et lattoso sarebbe sozzo s' obgiugniervi le braccia et le mani seche per magrezza.«

weders jung, alt oder mittelmäßig, mager oder feist, lind oder hört. »Also findst du die erwachsen Jugend glatt, eben und volls Leibs, aber das Alter ist uneben, knorret,

».. .concordanti alla grandezza del corpo anchor similmente all' että; ciofc i giouani con pochi muscoli nelle membra e uene et di delicata superficie, et membra rotonde, »Et noti ancora di grato colore; alli quanto veggiamo che

Panofsky, Dürer.

IO

146

Die theoretische Kunstlehre.

Dürer. gerumpfen, und das Fleisch verzehrt. Solichs erstlich anzuzeigen dient wol, ehe man in das Werk greifet...«

Lionardo. huomini sieno nerbose, e piene di muscoli; ä i uecchi sieno con superficie grinze, ruide et uenose, e nerui molt' euidenti.«

Alberti. i nostri membri fanciulleschi sono ritondi quasi fatti a tornio et dilicati; nella hetä piü provetta sono aspri et canteruti.«

Es ist kaum zweifelhaft, daß Dürer diesen erst von der italienischen Renaissance wiederentdeckten und erst von ihr mit solcher Ausführlichkeit illustrierten, erst von ihr zu solcher Bedeutung erhobenen Begriff der Harmonie einem Italiener verdankt, um so weniger zweifelhaft, als die zitierten Sätze, in denen er den Gedanken von dem Zusammengehen aller Teile zu einem einheitlich notwendigen, weil in allen sich selbst ausprägenden Ganzen (wie prinzipiell dieser Gedanke von allem mittelalterlichen Philosophieren verschieden war, hat Wölfflin *) besonders betont) auszudrücken versucht, auch formell sehr stark an die Äußerungen der Italiener anzuklingen scheinen. Wer aber der Vermittler war, vermögen wir beim Stande unserer Kenntnis nicht mit Sicherheit anzugeben: Der Gedanke der Harmonie ist seit Alberti — dessen Einfluß auch Lionardos Äußerungen nicht verleugnen können — der ganzen Renaissancetheorie, bis ins späteste Cinquecento hinein, so geläufig 3 ), daß er Dürern eigentlich durch jeden gebildeten Italiener zugänglich gemacht werden konnte und ihm nicht unbedingt, wenngleich das wegen der besonders großen textlichen Ubereinstimmung das relativ Wahrscheinlichste ist, von Seiten Lionardos zugekommen zu sein braucht3). a . a. 0 . p. 3 5 2 . 2

) Stichproben: Biondo, p. 3 1 , wörtlich an Alberti sich anlehnend, Dolce,

p. 5 7 : »damit nicht vielleicht ein Körperteil fleischig, der andre mager, ein Körperteil muskulös, der andere zart ausfalle.«

Armenini p. 67.

3) Wie Klaiber, auch Müller (p. 65 Anm.) meinen.

Ganz unnötig ist es,

immer an Pacioli als Mittelsmann zu denken: die Anatomien von 1 5 1 7 und die erst nach 1 5 2 3 auftretende Exempeda deuten darauf hin, daß auch lange nach der Reise, als P. wahrscheinlich schon tot war, zwischen Dürer und beiden großen Italienern Verbindungsmöglichkeiten bestanden.

Die Kriterien der Schönheit.

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Allein von der Beantwortung dieser Frage, die um so weniger aufregend ist, als alles, was die italienischen Theoretiker über die Harmonie sagen, endgültig doch auf Albertis Äußerungen zurückgeht, hängt im Grunde gar nicht viel ab; am wichtigsten erscheint vielmehr die Sache selbst: Dürers Ästhetik, so wie sie definitiv gefaßt worden ist, hat die Harmonie als das wesentliche, ja wir dürfen jetzt sagen als das einzige Kriterium der Schönheit anerkannt — denn wenn sich das Postulat des Mittelmaßes bereits als Teilforderung des Harmonieprinzips erwies, so gilt das in womöglich noch höherem Maße von dem Postulat des »Nutzes«: daß überflüssige Glied maßen nicht angebracht, nötige nicht fortgelassen werden sollen 1 )—und sich damit der renaissancistischen Kunsttheorie in einer überaus bedeutsamen Frage innerlich und äußerlich angeschlossen. Auch für Dürer ist letzten Endes diejenige Bildung — und nur diejenige Bildung — schön, bei der sich die »Notwendigkeit organischer Fügung« zugleich durch die Einheitlichkeit der Art (des Alters, des Geschlechts, der Konstitution) und durch die Verhältnismäßigkeit der Proportionen dokumentiert: »Danach soll sich der Hals wohl zum Haupt reimen, weder zu lang noch zu kurz noch zu dick oder dünn sein«. — Es ist neuerdings die uns natürlich sehr interessante Ansicht vertreten worden 3), daß Dürer gerade auf diesem durchaus italienisch-antiken Begriff der Harmonie den durchaus unitalienischen Begriff einer »charakteristischen« Schönheit aufgebaut habe, die nur das Bestehen einer qualitativen Harmonie voraussetze und in seiner Ästhetik einer anderen, »idealen«, auch auf Proportion gestellten Schönheit gegenübertrete. Demgegenüber ist zu erklären, daß diese Trennung durch nichts gerechtfertigt erscheint. Dürers Schönheitsbegriff ist völlig einheitlich und — wie es bei der Anerkennung der Harmonie als des endgültig einzigen Schönheitskriteriums nur ' ) L. F. 301, 27, von 1 5 1 2 , u. ö., dann L. F . 227, 34.

Cf. dazu Müller

(p. 49), der mit Recht bemerkt, daß das »Unnütze« nichts anderes bedeute als Störung der Harmonie. ») Von F. L . Müller, a. a. O. p. 43 ff.

10*

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Die theoretische Kunstlehre.

natürlich ist — dem italienischen völlig konform, nur daß es sich, wie wir feststellten, bei Dürern im Gegensatz zum Gros der italienischen Theoretiker stets um die b e d i n g t e Schönheit handelt. Da der Nachweis hierfür, d. h. die Widerlegung jener Behauptung, zuviel Raum beansprucht, als daß er hier gegeben werden könnte, aber andererseits nicht unterdrückt werden durfte, so ist er in einen zweiten Exkurs verwiesen worden B.

Gestaltungs-Prinzipien.

Die Frage, wie diese, die Harmonie aller Teile voraussetzende Schönheit im Kunstwerk zu gestalten sei, erschöpft sich für Dürer in dem Problem der Auseinandersetzung zwischen mathematisch-rationalem Gesetz und empirisch-irrationaler Naturgegebenheit. Dieser Dualismus —- auf ihn wurde oben angespielt, als wir Dürer in Zeiten angestrengtester geometrischer Studien italienische Anatomieblätter kopieren sahen —, der Dürern auf allen Wegen zu begegnen scheint und seine ganze Ästhetik charakterisiert, mußte ihm hier sogar in doppelter Gestalt sich aufdrängen: Die Darstellung des Schönen kann sich nach Dürers Vorstellung nur in zwei Stadien vollenden — es sind zunächst die zur Erzielung der Harmonie unbedingt nötigen guten Maße zu »beschreiben«, d.h. zu gewinnen*), und sodann »ins Werk zu ziehen«, d. h. zur Gestaltung des wirklichen Gebildes anzuwenden 3) — und in beiden Stadien setzt sich die Ratio mit der Wirklichkeit auseinander. Diese Auseinandersetzung aber hat sich Dürern immer deutlicher als Symptom eines Dualismus offenbart, der nie geleugnet und nicht immer überbrückt werden konnte, und den er in den verschiedenen Zeiten seines Lebens sehr verschieden auffaßte. p. 205 ff. 2

) Cf. den p. 1 1 4 zit. Satz »Und daß wir aber zu einer guten Maß möchten

kummen« oder Redewendungen wie L . F . 224, 3 4 : »Und ob Einer gleich ein gute Maß vor ihm beschrieben h a t « . . . u s w . 3) L . F . 2 3 1 , 1 1 : »Nun mag sich begeben, so Etlich diese vorbeschriebne Maß der Bilder in ein groß Werk werden ziehen, das ihn mißrät durch ihr Unschicklichkeit, mir dann die Schuld a u f l e g e n . . . «

Die Gewinnung der Maße.

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I. Die Gewinnung der Maße. Hatte sich Dürer — wir fragen zunächst, wie er sich bei der Gewinnung oder Aufstellung der Maße mit diesem Dualismus abfinden zu können glaubte — zuerst bestrebt, die irdische Natur möglichst vollständig der anempirischen oder fast anempirischen Regel unterzuordnen, indem er die Irrationalität ihrer Daten durch die Heranziehung antik-überlieferter Angaben und abstrakt-geometrischer Gesetzlichkeiten aus der Welt zu schaffen suchte, so lernte er nach der Reise, — und er lernte es gewiß hauptsächlich durch die Anwendung der arithmetischen Methode, die immerwährend zum Durchsuchen, Betasten, mindestens aber zum Ansehen der Wirklichkeit zwang 1 ) — die »Bescheidenheit« der Natur gegenüber, die er vom Künstler immer dringender forderte, auch vom Kunsttheoretiker, der seine Maße aufstellen will, zu verlangen: »Um daß die Linien seiner Form weder mit Zirkeln noch Richtscheit gemacht mügen werden, sünder van Punkt zu Punkten mit der Hand gezogen, dorum würdet gar leichtlich dorinnen gefehlet. Also würdet nütz sein, daß man zu solchen Bildern (Bild wie immer = Figur) der menschlichen Maß gar fleißig Acht hab und alle ihre Arten dürchsüch. Und ich halts darfür, je genäuer und geleicher ein Bild den Menschen ähnlich gemacht würdet, je besser dasselb Werk sei. Dann so man aus vielen wolgestaltter Menschen an einem idlichen sein hübschtes Theil in ein Bild ordenlich zusammenbringet, daß ein solch Werk wol zu loben sei. Aber Etlich sind einer andern Meinung, reden darvan, wie die Menschen sollten sein. Solchs will ich mit ihnen nit kriegen. Ich halt aber in Solchem die Natur für Meister und der Menschen Wahn für Irrsal. Einmal hat der Schöpfer die Menschen gemacht, wie sie müssen sein, und ich halt, daß die recht Wolgestalt und Hübschheit unter dem Haufen aller Menschen begriffen sei. Welcher das recht herausziehen kann, dem will ich mehr folgen dann dem, der ein T)

Gesagte.

Cf. hierzu und überhaupt zu dem ganzen Abschnitt das oben, p. 112 ff.,

Die theoretische Kunstlehre.

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neu erdichtte Maß, der die Menschen kein Theil gehabt haben, machen will.« Diese Sätze in denen die immer stärkere Annäherung der Dürerischen Proportionsforschung an die Realität wohl ihren stärksten theoretischen Ausdruck gefunden hat, verwerfen die landläufige und von ihm selbst zuerst bis zu einem gewissen Grade geteilte Meinung, daß die Natur sich einem außernatürlichen, d. h. mathematisch oder traditionell begründeten Gesetze beugen müsse, um schön zu sein; sie verwerfen aber ebensosehr — denn wozu würde Dürer ein »Herausziehen« der unter dem Haufen begriffenen Schönheit zu fordern brauchen, wenn sie durch die bloße »Nachahmung« eines beliebigen aus diesem Haufen herausgegriffenen »einzelnen Schönen« bereits einzufangen wäre? — das Axiom der »naturalistischen« Ästhetik, daß die Natur überhaupt kein Gesetz der Schönheit anerkenne 3 ). In Wahrheit vertreten diese Sätze, ebenso wie der schon zitierte Passus »Und daß wir aber zu einer guten Maß möchten kummen...«, in dem sie ihre weniger temperamentvolle aber vollendet klare 3) Fassung gefunden haben, eine Auffassung des Problems, die sich über das Credo des reinen Idealismus ebenso hoch erhebt wie über das des reinen Realismus: wenn die Leute von der »erdichtten Maß« den Einfluß des Natürlich-Gegebenen, und wenn die Leute von Realismus den Einfluß irgendeiner Gesetzlichkeit auf das Zustandekommen der schönen Maße be») L. F. 351, 4 ff- von 1523. ) Es kann auf Müller verwiesen werden, der (a. a. 0 . p. 34/35) die Stelle sehr mit Recht gegen Langes Interpretation (a. a. Ο. X, 256 und L. F. 351 Anmerkung) in Schutz nimmt. 3) Die Unklarheit unserer Stelle besteht darin, daß sie — wie Anfang und Schluß aufs deutlichste zeigen — zwar nur von der Aufstellung der Maße, der Gewinnung der Schönheit in abstracto reden will, dabei aber (in dem Zwischensatz »Dann so man aus viel wolgestaltter...«) die antike Elektionstheorie, die die schöne Figur wirklich aus Einzelteilen zusammenzusetzen rät, noch nicht ganz überwunden hat. Der p. 114 zit. Passus des ästhet. Exk. hat diesen Satz dann ebenso ausgemerzt wie die auch nicht ganz hineinpassende, jedoch als Protest gegen die »erdichtte Maß« verständliche These »Und ich halts dafür, je genäuer «. 2

Die Gewinnung der Maße.

streiten, so brechen sie damit beide dem eigentlichen Problem die Spitze ab, indem sie von den zwei Elementen, deren Vereinigung gefordert werden muß, wenn eine mehr als subjektiv gültige Bestimmung des Schönen angestrebt wird, das eine ohne weiteres in seiner Bedeutung negieren. Dürer aber anerkennt, daß wirklich beide Elemente, daß Natur u n d Gesetz bedingende Faktoren der Schönheit sind, er (leugnet oder übersieht nicht das Bestehen eines Gegensatzes zwischen ihnen, sondern er versucht ihn zu überwinden. Und er überwindet ihn durch einen wunderschönen Gedanken: wohl muß die Wirklichkeit, wenn sie sich zur Schönheit steigern will, einem Gesetze gehorchen; aber dieses Gesetz ist kein ihr fremdes, das der Mensch aus einer ganz andern Sphäre, gleichsam vom Himmel, herabgeholt — »erdichtet« —hat, und der Natur mit der Forderung, sich ihm zu unterwerfen, gegenüberstellt, sondern es ist ihr eignes, in ihren Einzelerscheinungen schon latent vorhandenes Gesetz, dem sie gern gehorcht, weil es der Mensch, auswählend und individuelle Fehler eliminierend, aus ihr selbst entwickelt hat und ihr, da es in keinem einzelnen Fall vollkommen realisiert ist, sozusagen nur erst zum Bewußtsein bringt J ). Dieser Gedanke, der übrigens trotz seiner scheinbaren Verwandtschaft mit der Elektionstheorie einerseits, mit Platonischen Philosophemen andererseits recht originell ist a ), beruht ') Zwar sahen wir, daß Dürer auch zuletzt — in einem gewissen Widerspruch mit seinen eignen Worten — bei der Aufstellung seiner Maße die anempirischen Faktoren des Vitruv-Kanons und der »Regell« nicht ganz ausschaltete; er ließ jedoch diese beiden Momente — abgesehen davon, daß die »Regell« mehr praktisch-konstruktives Interesse für ihn zu haben schien — nur im Rahmen des Empirischen, d. h. nur für gewisse Proportions typen, mit Modifikationen und unter vollständiger Einordnung in die Gesamtheit der empirisch gefundenen übrigen Werte mitsprechen. 2)

Über den Unterschied zwischen Dürers Gedanken und der Elektionstheorie siehe p. 114 Anm. Piatos Lehre berührt sich mit ihm darin, daß auch sie die Schönheit als in der Natur nie ganz zum Ausdruck gekommene, immanente »Idee« betrachtet, entfernt sich aber vollkommen von ihm, wenn sie die bildende Kunst als Kopie der Kopie dieser Idee geringschätzt (cf. etwa die p. 193 Anm. zit. Stelle Politeia6o2, C), während Dürer gerade sie für berufen

Die theoretische Kunstlehre.

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nun zwar gewissermaßen auf einer Selbsttäuschung, die gerade Dürer, wäre er sich ihrer bewußt geworden, sich selber kaum verziehen hätte: A n dem Gesetz, das die Natur sich selbst zu geben schien, baut heimlich (»Aber such Leut dazu« — zum Gewinnen der Maße — »die da hübsch geachtt sind!«) eben dasselbe menschliche Wohlgefallen mit, das bei der Bestimmung der Schönheit um jeden Preis ausgeschaltet werden sollte, auf dessen Ausschaltung das ganze Bemühen um eine rationelle, wenn möglich zahlenmäßige Festsetzung dessen, was schön sei, geradezu abgezweckt erschien *); allein das schließt keineswegs aus, daß der Gedanke der »unter dem Haufen begriffenen«, in der Natur präformierten, aber erst durch die Kunst realisierbaren Schönheit einer der sinnvollsten ist, der in jener Zeit über das Wesen des Naturschönen geäußert worden ist. Denn über das Denken der anderen Theoretiker geht Dürer mit dieser Idee schon deswegen weit hinaus, weil keiner unter ihnen war, der hier überhaupt ein Problem gesehen hätte: sie haben sich entweder, wie Lionardo, als unbekümmerte Empiriker mit der Forderung begnügt, daß man die Maße nicht in einer der Natur direkt zuwiderlaufenden Weise wähle und anwende 2 ), oder sie haben, wie die Mehrzahl der italienischen Theoretiker, irgendein Maßgesetz akzeptiert, aber als reine

und fähig hält, die Idee der Schönheit — soweit sie in ihrer Auseinandergelegtheit überhaupt noch faßbar ist — zu verwirklichen. *) Cf. die Bemerkungen und Zitate auf p. 79/80, sowie p. 138 ff. Die erstere Forderung, für Lionardo natürlich, besonders deutlich ausgedrückt in Tr. 4x1: »Quella pittura e piu laudabile, la quale ha piu conformita co' la cosa imitata. Questo propongo ä confusione di quelli pittori, Ii quali uogliano raconciare le cose di natura, com' e quelli, ch' imitano un figliolino d'un anno, la testa del quale entra cinque uolta nella su' alteza, et loro ue la fano entrare o t t o . . . « ; die andere ζ. B. in Tr. 270 formuliert: »E se tu pure uorai sopra una medesima misura fare le tue figure, sapi che nö si cognoscerano l'una dalT altra, il che nö si uede nella natura«. Lionardo hat sich also auch über diese Teilfrage des Schönheitsproblems wenig Kopfzerbrechen gemacht. — Bezeichnend ist, daß er die Notwendigkeit unterschiedlicher Proportionen, die Dürer aus der leider bestehenden Unmöglichkeit, die unbedingte Schönheit zu finden, herleitet, ohne weiteres aus der Natur begründet, deren Vielfältigkeit — für Dürer ein Stein des Anstoßes — ihm unbedingt berechtigt erscheint z)

Die bildliche Gestaltung des Schönen.

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Dogmatiker die Überlegung, wie dieses sich zur Natur verhalte, gar nicht angestellt.

II. Die bildliche Gestaltung des Schönen. In der Frage, wie bei der endgültigen Bildgestaltung die Vereinigung des — nunmehr als gefunden angenommenen — Proportionsgesetzes mit der Natur erreicht werden könne, hat Dürer seinen Standpunkt in ganz ähnlicher Weise geändert: Während er vor der Reise die individuellen Gegebenheiten der Realität fast ganz vernachlässigen zu können glaubte und nicht nur das Maß, sondern ?uch den Kontur des schönen Körpers auf mathematischem Wege zu gewinnen suchte, — bei seinen allerfrühesten Konstruktionsfiguren ist der frei oder nach dem Modell arbeitenden Hand kaum mehr als die Schattierung überlassen — kommt er später zu dem uns schon bekannten Resultat, daß die formgebende Linie, deren Gestaltung doch ihm und seiner Zeit die eigentliche künstlerische T a t bedeuten mußte, keiner Regel unterliegen könne und mit den Hilfsmitteln der Geometrie schon gar nicht darstellbar sei *). Darum kann der Künstler, so gewiß er die Ratio, das gute Maß, kennen und anwenden muß — »Aber ahn rechte Proportion kann je kein Bild vollkommen sein« — 2 ) , doch niemals der Naturanschauung irgendwie entraten: es bleibt ihm nichts anderes übrig, als die Konturen der Gestalt aus freier Hand, und zwar e n t w e d e r — » S o ich nun alle lenge dicke vnd preiten ordenlich bey den dreyen auffrechten linien beschriben vnd bezeichnet hab / alßdan zeuch ich die gestalt mit linien nach meinem gutbeduncken darein«3) — a u s der im Studium der Wirklichkeit erwachsenen inneren Vorstellung heraus, oder — »oder so ich das haben mag / stell ich einen gleichmessigen menschen für mich / v n zeuch die linien nach *) L. F. 346, 13, zit. oben, p. 84, L. F. 351, 4, zit. oben, p. 149; beide von 1523.

(Ähnlich L. F. 260, 5.)

Im ästhet. Exkurs dieselbe Feststellung

in dem p. 169, Anm. 2 zitierten Satz L. F. 231, 6. *) L. F . 208, 6 (Einl. der P. L.)·

Cf. auch L. F. 231, 9: »Und außerhalb

rechter Maß werde Keiner nichts Guts machen.« 3) P. L. A 5 ν.

Die theoretische Kunstlehre.

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j m « — n a c h dem lebenden Modell in das Netz von Horizontalen und Vertikalen hineinzuziehen; hierbei verdient jedoch das Arbeiten nach dem Konkreten auf jeden Fall den Vorzug, ist sogar manchmal notwendig: wenn Dürer seinen Satz, der seine eigene Praxis beschreibt, mit der Bemerkung schließt, daß die Zeichnung nach dem Leben »allweg pesser wirdet weder nach eigne sin gemacht«, so ist für den Anfänger ein Modell, und zwar möglichst ein schönes Modell, schlechthin unerläßlich: »Aber zwischen den Zwerchlinien fehlt man leichtl i e h . . . . Deshalb gedenk ich mir, es wirdet noch Mancher, der im Aufreißen ungeschickt ist, so er nach meinem Fürschreiben macht und verderbts, mir die Schuld auflegen und sagen, ich hab Solichs ubel beschrieben. Darum welicher nach diesen Büchlein Bilder wirdet aufreißen und der Sachen nit wol berichtt ist, den wirdet erstlich die Sach schwer ankummen. Aber derselb stell alsdann ein Menschen für sich, der zu derselben Maß beiläuftig tüglich sei. Darnach zieh er dann die äußern Linien, soviel er kann und versteht. Dann das ist gut geachtt: so Einer genau dem Leben mit Abmachen nachkummt, dass es ihm gleich sech und der Natur ähnlich wirdet, und sunderlich wenn, das abgemacht wirdet, hübsch ist, so wirdet es kunstlich gehalten und, als es wert ist, wol gelobt Σ ).« Eine solche Kapitulation vor der Nicht-Rationalisierbar keit des Wirklichen — eine Kapitulation übrigens, die sich schon in der Entwicklung der Apollogruppe ankündigte und mit dem Bekenntnis zur arithmetischen Methode besiegelt war — bedeutete für Dürer einen Verzicht; für die Italiener bedeutete sie eine Selbstverständlichkeit. Alle italienischen Kunsttheoretiker waren ebenso fest wie der reife Dürer von der Unmöglichkeit überzeugt, die Linie einer Menschengestalt mit Hilfe von mathematischen Operationen zu ermitteln, aber sie brauchten diese Überzeugung gar nicht erst ausdrücklich in Worte zu kleiden, weil sie nach der Möglichkeit solcher Konstruktion niemals gefragt hatten. Daher bleibt ihnen auch hier das ganze Problem, mit dem Dürer sich auseinr)

L. F. 217, ι ff. Cf. auch L . F . 224, 34 (zitiert auf folgender Seite) und die p. 178 zitierte Stelle L. F. 227, 10 ff.

Die bildliche Gestaltung des Schönen.

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andersetzt, eigentlich erspart: das Resultat, zu dem er nur durch vergebliche Versuche und langes Nachdenken gelangt ist, stand für sie von vornhereien ganz fest, weil sie — vermöge eines instinktiven Gefühls für das Wesen der Kunst, ihrer Kunst — das Gegenteil gar nicht in Betracht ziehen konnten. Indem nun aber Dürer der einzige ist, der sich jene unitalienische Frage, ob und inwieweit die Form der Natur rationalisierbar sei, überhaupt vorlegt, hat sich ihm auch hier wieder die tiefe Einsicht eröffnet, die den andern nicht aufging: die Einsicht in den großen Dualismus zwischen Gesetz und Wirklichkeit, den er diesmal nicht nur gesehen hat, sondern auch als einen unüberwindbaren anerkennen mußte; während er, was die Gewinnung der Maße anlangte, die verstandesmäßige Ratio und die anschauliche Natur dadurch, daß er jene aus dieser »herauszuziehen« für möglich hielt, ein für allemal zusammengebracht zu haben glaubte, mußte er in der Frage, wie das Schöne nun wirklich zu gestalten sei, die Unmöglichkeit einer solchen endgültigen Vereinigung eingestehen. Da er den Künstler, der einen schönen Körper bildnerisch darstellen möchte, auch dann, wenn er die schönen Maße kennt, an das Modell oder die Erinnerungsvorstellung des Modells v e r w e i s t s o gibt er zu, daß jetzt niemand mehr die beiden Elemente des Natürlich-Anschaulichen und des Rationalen von sich aus definitiv zusammenfügen kann, sondern daß sie von Fall zu Fall einer Synthese bedürfen, deren Gelingen letzten Endes von den Imponderabilien der Künstlerpersönlichkeit abhängt: »Und ob Einer gleich ein gute Maß vor ihm beschrieben hat und macht sie Einer ab, der nit reißen kann, und fährt daher mit seiner ungeschickten Hand durch die Läng, Dicke und Breiten des Bildes, der hat gar bald verderbt, was er machen soll 2).« — *) Schon 1 5 1 2 / 1 3 wird anerkannt, wie wichtig auch das Modell bei der Gestaltung des Schönen sei: L . F . 3 0 1 , 1 3 heißt es: »Dann Einer fährt der Wahrheit näher dann der ander, darnoch der Verstand höher in ihm ist, und schön Perschan vor ihm hat, darnach er kunterfet.« Schon hier ist die Zweiheit, auf die es ankommt (Verstand und Modell), deutlich ausgeprägt. *) L . F . 224, 34.

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Die theoretische Kunstlehre.

Je selbständiger Dürer sich, wie wir sahen, in manchen Dingen mit dem Problem der Schönheit auseinandergesetzt hat, um so bedeutsamer erscheint die Tatsache, daß ihm das Problem als solches erst durch einen Italiener zum Bewußtsein gebracht worden ist und nur durch einen Italiener zum Bewußtsein gebracht werden konnte. Die Kunst des Nordens, der es vor allem andern auf die Intensität der seelischen Wirkung ankam, hat das Empfinden für die Schönheit des Körpers kaum recht gekannt, noch weniger sich um den Besitz ihres Gesetzes bemüht: So weit sich hier und da die Wege der Dürerischen Gedanken von denen des italienischen Denkens entfernen, so durchaus renaissancistisch ist ihr Ziel.

D r i t t e r Teil.

Das Problem der künstlerischen Erstes Kapitel.

Qualität.

Künstlerische Qualität und Naturschönheit (Objekt und Persönlichkeit).

Die Schönheit des menschlichen Körpers, die das Problem der bisher betrachteten Überlegungen bildete, ist an und für sich eine rein gegenständliche Schönheit, die nichts weiter bedeuten zu können scheint, als daß der Mensch, dem sie zukommt, eben — mag er uns nun in Wirklichkeit oder als Vorwurf eines Kunstwerks entgegentreten — ein schöner Mensch sei. Allein wenn die gesamte Renaissance-Ästhetik in der Erörterung dieser objektiven Schönheit ihre hauptsächlichste Aufgabe erblickte, wenn Dürer auch seine praktisch-kunsttheoretischen Studien zum allergrößten Teil ihrer Ermittelung widmete, so muß ihr die Epoche offenbar eine erheblich größere Bedeutung für die Kunst beigemessen haben, als man das heute zu tun gewohnt ist. Und so verhält es sich in der Tat; der Renaissancetheorie war die Darstellung eines schönen Körpers zugleich ein gutes Kunstwerk, denn unauflöslich schien ihr die künstlerische Qualität mit dem ästhetischen Wert des Gegenstandes verknüpft zu sein; sie hat Albertis Credo: »Et di tutte le parti Ii piacerä non solo renderne similitudine, ma piü adgiugniervi bellezza; pero che nella pictura la vaghezza non meno e grata che richiesta. Ad Demetrio, antiquo pictore mancho ad acquistare l'ultima lode, che fu curioso di fare cose adsimilliate al naturale

158

Die theoretische Kunstlehre.

molto piü che vaghe 1 )« im allgemeinen in vollem Maße akzeptiert 3 ). Dürer selbst jedoch hat sich zu diesem Credo in einen prinzipiellen und wahrscheinlich sogar bewußten Gegensatz gestellt: er bekennt sich entschieden zu der Auffassung, daß der Wert des Kunstwerks von der Schönheit seines Objekts durchaus unabhängig sei und daß der Künstler keineswegs auf die Darstellung des Häßlichen zu verzichten brauche: »Etlich haben krumme, der Andern schlechte Bein. Dorum gib ichs eim Idlichen zu treffen, ob er hübsch oder häßlich Ding wöll machen. Dann ein Idlicher Werkmann soll künnen machen ein adelig oder bäurisch Bild. Dann es ist ein große Kunst, welcher in groben bäurischen Dingen ein rechten Gewalt und Kunst kann anzeigen im Gebrauch« 3). Allein obgleich Dürer sich von der italienischen Vorstellung, daß die Güte des Kunstwerks nicht nur vom artistischen Wert der Darstellung, sondern auch von dem — wenn man so sagen darf — vorartistischen Wert des Dargestellten bedingt werde, so energisch losgesagt hat, und diesen seinen ') A. 151. Cf. auch A. 153: »Per questo sempre cio, che vorremo dipigniere, piglieremo dalla natura, et sempre torremo le cose piu belle.« — Auch die Aufzählung der Gesichtsvarietäten (A. 149) erfolgt bezeichnenderweise nur, weil die Naturerkenntnis die notwendige Durchgangsstation zur Erlangung der Schönheitsidee ist: »Fuggie l'ingegni non periti quella idea delle bellezze, quale i beni exercitatissimi appenadiscernono.« (A. 151.) *) Lionardo scheint auch hier wieder abseits zu stehen: gewiß hat Müller (a. a. 0 . p. 61) recht, wenn er feststellt, daß auch er die Lieblichkeit der Form — Tr. 291 warnt vor hartgeschnittenen Muskeln —, die Anmut der Bewegungen — Tr. 319 — und ähnliches — ζ. B. weiche Beleuchtung, Tr. 87 — als Momente der Qualität empfunden habe. Allein es ist doch zu bemerken, daß er solche Forderungen keineswegs als unumgängliche verstanden haben möchte: er schreibt (in Tr. 319 selbst) »et se tu uoi fare Figura, che dimostri in se leggiadria, debbi fare membra gentili e distese, senza dimostratione di tropo muscoli...« und redet also nur für den Fall, daß man »figure leggiadre« machen w o l l e . Die eigentliche, von Alberti und den übrigen italienischen Theoretikern (ζ. B. Biondo, p. 30, Dolce, pp. 51 und 56, Armenini, p. 41) ohne Bedenken bejahte Frage aber ist die, ob man das immer wollen m ü s s e , wenn das Kunstwerk gut sein soll; und diese Frage hat Lionardo m. W. weder beantwortet noch gestellt. 3) L. F. 349, 8, wohl um 1523 abgefaßt.

Künstlerische Qualität und Naturscliönheit.

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ablehnenden Standpunkt bei gegebener Gelegenheit des öfteren deutlich zum Ausdruck bringt (indem er da, wo er Regeln über die Gestaltung des Schönen geben will, besonders betont, daß man es nicht i m m e r zu gestalten brauche, ζ. B. »Deshalb soll wir die unnützen Ding in Bildern zu machen, was änderst hübsch soll sein, vermeiden« 1 ), noch deutlicher: »Aber gern wollt ich helfen, so viel ich künnt, daß die grobe Ungestalt unsers Werks abgeschnitten und vermieden blieb. Es wär dann Sach, daß Einer mit sunderm Fleiß ungestalt Ding wollt machen« 2 ), am deutlichsten: »Aber geren wollt ich helfen, soviel ich künnt, daß die grobe Ungestalt vermieden blieb, wo man ihr nit sunderlich begehrt« 3) — so hat er doch diese die ganze renaissancistische Kunsttheorie beherrschende Anschauung wohl nicht völlig aus seinem Denken auszuschalten vermocht; sie lebt in einer gleichsam unterirdischen Existenz in seiner Ästhetik weiter, und nur aus ihrer, Dürern selbst unbewußten, Wirksamkeit ist es erklärlich, wenn er — ein Beispiel für mehrere — noch 1528 die Aufzählung der »Mängel«, die die Schönheit ausschließen, mit den Worten endigt: »Aber je mehr man alle Häßlichkeit der obgemeldten Ding ausläßt, und macht dargegen gerade starke helle notdurftige Ding, die alle Menschen gewohnlichen lieben, so besser wirdet dasselb Werk, dann Solchs achtt man nun hübsch« 4). Diese heimliche Wirksamkeit des italienischen Axioms äußert sich nun aber nicht allein in solchen nur bei anderweitiger Inanspruchnahme des Interesses auftretenden sprachlichen Inkonsequenzen, sondern ist als eine doch auch sachlich recht wesentliche zu bezeichnen: K a u m hätte das Schönheitsproblem eine so eminente Bedeutung für Dürer gewinnen können, wenn nicht der Renaissanceglaube, daß die Gestaltung des Schönen wo nicht die einzige so doch die höchste Aufgabe der Kunst sei, ihm selber nicht klar bewußt, L. F. 227, 34. J)

L . F. 222, 10. 3) L. F. 359, 17, frühere Fassung der vorigen Stelle, von 1523. 4) L. F. 228, 5. Camerarius übersetzt den Satz (Fol. f 5 v . ) : »Quo magis igitur huiusmodi vitaris eo maiorem laudem conciliaris operi tuo«.

ι6ο

Die theoretische Kunstlehre.

aber vielleicht darum um so kräftiger, in seinem Geiste lebendig gewesen wäre; wenn er seinen Entschluß, die Proportions lehre an erster Stelle, vor allen andern Zweigen der Kunst theorie, auszuarbeiten, damit begründet, daß eine schöne Menschengestalt der lieblichste Anblick auf Erden sei —»Item vor allen andern Dingen ist uns lieblich zu sehen ein schön menschlich Bild. Dorum will ich an der menschlichen Maß anfahen zu machen. Dornoch so mir Gott Zeit verleicht, van anderen Dingen mehr schreiben und machen« 1 ),—so kann er das nur unter dem Einfluß der Vorstellung getan haben, daß die Schönheit des Objekts auch für den künstlerischen Wert des Werkes sehr wichtig sei: eine Disziplin deswegen, weil sie die rein gegenständliche Schönheit des Körpers zu ermitteln verspricht, als den wichtigsten Abschnitt der Kunsttheorie zu bezeichnen, hätte ja gar keinen Sinn, wenn man nicht glaubte, daß für die Kunst besonders viel davon abhänge, diese Schönheit gestalten zu können. — Allein: J e weniger sich Dürer den sozusagen gefühlsmäßigen Wirkungen dieses tief in der renaissancistischen Weltanschauung wurzelnden Glaubens zu entziehen vermochte, um so bewundernswerter erscheint die Klarheit und K r a f t seines Geistes, der dennoch jenen sehr fortschrittlichen Gedanken faßte, der von den großen Künstlern der Zeit, wie von Lionardo, sicherlich in ihrem Schaffen verwirklicht werden mochte, den aber kein L . F . 299, 16, von 1 5 1 2 .

Die Stelle beweist übrigens, daß Müller un-

recht hat, wenn er aus der Stelle L . F . 3 x 6 , 9 — »Dann zu gleicher Weis, wie sie (die Alten) die schönsten Gestalt . . haben zugemessen ihrem Abgott Abblo, also wolln wir dieselb Moß brauchen zu Crysto dem Herren, der der schönste aller Welt ist« usw.—schließt, Dürer Jiabe nur Proportionsforschung getrieben, weil das Stoffgebiet der (kirchlichen!) Kunst »Bedarf« an schönen Körpern mit sich gebracht habe, und daß Wölfflin (Rep. X X X I I I , p. 5 5 2 ) weit eher das Richtige trifft, wenn er die Sehnsucht, das Schöne als Selbstzweck zu gestalten, für das Primäre hält.

Die von M. angezogenen Sätze können schon

deswegen nichts beweisen, weil sie gar kein ästhetisches Glaubensbekenntnis darstellen, sondern nur eine neue, dialektische Verteidigung gegen solche, die (cf. etwa L . F . 298, 1 3 , u. ö.) einem Christen die Beschäftigung mit der Kunstlehre verargen wollten: Brauchten die Heiden die Kenntnis der schönen Maße zur Darstellung ihrer Abgötter, so braucht sie der Christ erst recht zur D a r stellung seines wahren Gottes und seiner wahren Heiligen.

Künstlerische Qualität und Naturschönheit.

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andrer damals gedacht und ausgesprochen hat: die ästhetische Qualität des Kunstwerks hat mit der ästhetischen Qualität seines Gegenstandes nichts zu tun. Dieser Gedanke — der dem Deutschen vielleicht näher liegen mochte, weil es die nordische Kunst gerade der jüngstvergangenen Epoche in ihrem Streben nach Ausdruck keineswegs verschmäht hatte, die Wirkung der Passions- oder Martyrienszenen durch eine absichtsvolle Verwendung des Häßlichen, der Roheit, Stumpfheit und Bösartigkeit, zu erhöhen — hat im Jahre 1528 folgende Fassung erhalten: »Darum ist Not, . . . daß er dann das Best fürwend, . . . . das zu demselben Werk tüglich ist. Aber darbei ist zu melden, daß ein verständiger geübter Künstner in grober bäurischer Gestalt sein großen Gwalt und Kunst mehr erzeigen kann etwan in geringen Dingen dann Mancher in seinem großen Werk. Diese seltsame Red werden allein die gwaltsamen Künstner mögen vernehmen, daß ich wahr red. Daraus kummt, daß Manicher etwas mit der Federn in eim Tag auf ein halben Bogen Papiers reißt oder mit seim Eiselein etwas in ein klein Hölzlein versticht, das würd künstlicher und besser dann eins Andern großes Werk, daran derselb ein ganz Jahr mit höchstem Fleiß macht« 1 ). Es ist nicht zu leugnen, daß die begriffliche Klarheit durch diese neue Formulierung nicht gewonnen hat: durch die — auch auf den Wortlaut des entscheidenden Satzes »Aber darbei ist zu melden...« zurückwirkende — Verquickung des Gegensatzes Hübsch—Häßlich mit dem andern Gegensatz Groß—Klein ist der Gedanke, daß der Künstler auch unschöne Modelle wiedergeben dürfe, ja manchmal (»Dann ein Idlicher Werkmann soll künnen machen...«) geradezu wiedergeben können m ü s s e, hier nicht ganz klar zum Ausdruck gekommen*). Allein dafür offenbart sich der tiefere psychologische Sinn der ') L. F. 221, ι ff. J)

Daß er dennoch darinsteckt, erhellt—außer aus den gleichgebliebenen

Ausdrücken »grob« und »bäurisch« — aus der Tatsache, daß der Passus immer noch hinter der (L. F. 220, 25 ff. ausgesprochnen) Feststellung, daß man durch Messung hübsch und häßlich machen könne, als erklärender Zusatz eingefügt ist. P a n o f s k y , Dürer.

II

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Die theoretische Kunstlehre.

ganzen Überlegung, die dann noch erheblicher mit der Auffassung der Italiener zu kontrastieren scheint. Während der Passus in seiner 1523 geschriebenen Fassung mit einigem Recht als das bloße Dokument einer »naturalistischen Kunstauffassung« gedeutet werden konnte die dem Kunstwerk die Häßlichkeit deswegen darzustellen erlaubt, weil sie nun doch einmal im Reiche der Natur existiert, ist der Gedanke jetzt ebenso durch den eigentümlichen Vergleich mit der Federzeichnung und dem Holzschnitt wie durch das Hineinziehen des persönlichen Momentes nach einer ganz neuen Seite hin gewendet worden: es wird nicht mehr einfach mitgeteilt, daß die Häßlichkeit des Gegenstandes der Güte des Kunstwerks keinen Abbruch tue, sondern es heißt, daß der eine aus einem häßlichen Vorwurf ein »künstlicheres und besseres« Bild zu gestalten vermöge als der andere aus einem schönen, daß des einen in jahrelanger Bemühung entstandenes Gemälde schlechter werden kann als des andern kleine und rasch vollendete Federzeichnung. Worin aber liegt nun das tertium comparationis zwischen dieser Tatsache und jener? Das tertium comparationis liegt darin, daß in beiden Fällen gewisse objektive Gegebenheiten sich als bedeutungslos für die künstlerische Qualität erweisen gegenüber der Individualität des Künstlers selbst: man sollte glauben, eine hohe Sorgfalt sei die bessere Garantie für das Gelingen, eine große Tafel das würdigere Betätigungsfeld, ein schönes Modell der geeignetere Gegenstand — und dennoch kann mancher die scheinbar ungünstigen Bedingungen ohne weiteres überwinden, ein andrer aus den scheinbar günstigen keinen Nutzen ziehen. Gerade in der wie es scheint so inkonzinnen Vergleichung zwischen Modell und Material scheint sich also der Sinn des Dürerischen Gedankens am reinsten auszusprechen: Die Qualität des Kunstwerks wird von der Beschaffenheit seines Objekts nicht stärker beeinflußt, als von der Größe der aufgewendeten Mühe und dem Umfang der Malfläche, sondern — und das ist *) So zum Beispiel Lange und Fuhse, in ihrer Anmerkung zu L . F . 349,

Künstlerische Qualität und Naturschönheit.

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das Neue — bestimmt sich einzig nach der individuellen Fähigkeit des Künstlers, darin seine Gestaltungskraft zu offenbaren. Mit dieser außerordentlichen Wendung des Gedankens — der sich jetzt von dem naturalistischen Grundsatz, daß die bloße »getreue Nachahmung« des Naturobjekts den Wert eines Kunstwerks ausmache, ebensoweit entfernt wie von dem Grundsatz der Italiener, daß dieser Wert von der Schönheit des Naturobjekts abhänge — tritt nun ein weiteres, neues Motiv auf: Jenes im höchsten Grade subjektive Vermögen des Künstlers, der zwar den Gegenstand, gleichsam als materielles Substrat seines Schaffensprozesses, nötig hat, um seine »Gwalt und Kunst« daran zu erweisen, der aber das, was das Kunstwerk wertvoll macht, völlig von sich aus dazutut, bekommt etwas Geheimnisvolles, kann dem Verstände nur als eine göttliche Begnadung begreiflich gemacht werden: »Und diese Gab ist wunderlich. Dann Gott giebt oft Einem zu lernen und Verstand, etwas Guts zu machen, desgleichen ihm zu seinen Zeiten Keiner gleich erfunden wirdet und etwan lang Keiner vor ihm gewest und nach ihm nit bald Einer kummt« Zugleich faßt sich in diesem Satz noch einmal der ganze, seit 1523 sehr vertiefte Sinn zusammen: die Inthronisierung der künstlerischen Persönlichkeit. — Es ist kein Zufall, daß Dürer gerade diese Gedankenfolge eine »seltsame Red«—»inusitata novaque« lautet des Camera rius Übersetzung — genannt hat, und es ist kein Zufall, daß er hinzufügt, nur gewaltige Künstler würden sie verstehen. Denn indem er mit diesen Ideen dem Autonomismus der großen Schaffenden (wie Michelangelo) näher kommt als je, hat er r

) Gleich an das vorige anschließend (L. F . 2 2 1 , 14). Cf. auch Äußerungen

wie L . F . 2 1 8 , 1 6 — 2 3 : » . . . die Kraft, die Gott dem Menschen geben h a t . . . « und »Darum giebt Gott den künstreichen Menschen in Solchem ( = der Hervorbringung vieler neuer Gestalten) und Andern viel G e w a l t s . . . «

Schon 1 5 1 2

schreibt Dürer (L. F . 297, 1 8 ) »Dorum wer sich dorzu ( = zu der Malkunst) nit geschickt findt, der untersteh sich der nicht.

Dann es will kummen van

den oberen Eingießungen.«

u*

Die theoretische Kunstlehre.

164

zugleich weiter als sonst über diejenige Kunstanschauung hinausgegriffen, die die D e η k e r seiner Zeit formuliert hatten. Da die Renaissancetheorie einerseits die Malerei als die vernunftmäßig begründete Wissenschaft von der Darstellung der sichtbaren Dinge erkannt zu haben glaubte, anderseits daran festhielt, daß die Güte eines Kunstwerks von der Schönheit seines Objektes bedingt werde, so mußten ihre Qualitätsbegriffe ganz und gar mit dem Gegenständlichen verkettet sein: Was italienische Denker vom Kunstwerk verlangten, war einmal — gemäß dem ersten jener beiden Grundsätze — die am Gegenstand sozusagen kontrollierbare Leistung, ihn bis zur Illusion »richtig« wiederzugeben: die Korrektheit der Perspektive, die Naturwahrheit der Bewegungen vor allem jenes »rileuo«, das Lionardo als »l'importantia e l'anima della pittura« bezeichnet 3 ), sodann — ihrem andern Axiom entsprechend — die den Gegenstand geradezu selbst betreffende Leistung, ihn in befriedigender Weise zu konstruieren: die Schönheit der Proportionen, die Angemessenheit innerhalb der dargestellten Historie 3), die »gratia et amenitä« des Allegorischen 4). Und es scheint in der Tat fast unmöglich, daß ein Ästhetiker der italienischen Renaissance — es sei denn eben einer, der zugleich ein großer Künstler gewesen wäre — zu verstehen vermocht hätte, wie Dürer in etwas zugleich Subjektivem und Abstraktem, sozusagen in der künstlerischen Potenz als solcher, das eigentliche Wertmoment habe erblicken können. Nun aber mußte sich in Dürers Denken diese aus eigener innerer Erfahrung erwachsene, für die unfaßliche Vielgestaltigkeit der Natur und für die Bedeutung des rein Persönlichen gleich empfindliche Kunstanschauung mit dem rationalistischen Zeitgedanken kreuzen, der umgekehrt die wissenschaftliche und allgemeine Natur des Kunstschaffens r

) Unter vielen andern Äußerungen etwa Tr. 115, oder Tr. 122. ) Tr. 124. 3) Dolce p. 43: der bei der Opferung der Iphigenie das Haupt verhüllende Agamemnon des Timanthes. 4) Die von Alberti, A. 145/147 geschilderte »Verleumdung« des Apelles. 2

Künstlerische Qualität und Naturschönheit.

165

hervorkehrte und den gerade Dürer am allerbegierigsten in sich aufgenommen hatte. Die Folge war, daß er seine vielleicht eigentümlichste Idee von dem gottbegnadeten Künstlertum, das, von allem Stofflichen unabhängig, gleichsam aus sich heraus das Wertvolle schafft, nicht bis zu ihren letzten Konsequenzen hat verfolgen können: sie hätte ihn schließlich auf eine romantisch -subjektivistische Ästhetik führen müssen, für die die Wege und Ziele der renaissancistischen Kunsttheorie, namentlich der praktischen, keinen Sinn mehr gehabt hätten; und so hat denn Dürer—er geht ja auch nach der Bemerkung, daß die Römer solche gottbegnadeten Künstler gewesen seien, zu einem neuen Thema über—in seiner weiteren Überlegung von dem überragenden Einfluß des Subjektiven, vor allem aber von der überirdischen Herkunft des künstlerischen Vermögens ganz abzusehen versucht, und sich gefragt, was dieses Vermögen in praxi bedeute, d. h. er hat in rationalerer Weise zu bestimmen unternommen, unter welchen Bedingungen ein Kunstwerk wertvoll sei und was zur Erfüllung dieser Bedingungen gehöre J). ' ) E s ist hier anzumerken, daß Dürer hinsichtlich der Beurteilung der artistischen Qualität dem Urteil des gemeinen Mannes relativ mehr Geltung gelassen hat, als hinsichtlich der Beurteilung der Schönheit: wenigstens sein Tadel soll gehört werden. Schon 1512 sagt er (L. F. 302, 10, u. ö.): »So du ein Werk deines Gefallens gemacht hast, so stell das für grob unverständig Leut, laß sie darüber urtheilen. Dann sie ersehen gewahnlich das Allerungeschicktest, wiewöl sie das Gut nit verstehn. Findst du dann, daß sie ein Wahrheit sagen, so magst du dein Werk besseren« und hat bis zum Schluß (L. F. 229, 27) an dieser Ansicht festgehalten. Auch hier behauptet Klaiber (p. 24), freilich nicht ohne Zurückhaltung, einen Zusammenhang mit Lionardo, der (ζ. B . Tr. 75) ebenfalls den R a t gibt, jedermanns Urteil zu hören; denn » . . . l'omo, benche non sia pittore, hauera nottitia della forma del'altro homo e ben giudicherä, s'egli e gobbo e t c . . . . « Allein wenn man wirklich für Dürers Ausspruch eine Quelle haben will, so wird sie natürlich viel eher in der damals sehr populären Anekdote von Apelles zu suchen sein, der seine Werke den Passanten zur Kritik hingestellt haben soll. Auf diese Anekdote, die in der 1509/1510 geführten poetischen Fehde zwischen Dürer und Lazarus Spengler (L. F. 77/78) eine große Rolle spielt und deren Wiedergabe bei Plinius (Hist. nat. X X X V , 84, bei Teubner Bd. V, p. 260) u. a. den Satz enthält: » . . . v u l g u m diligentiorem iudicem quam se praeferens...«, beruft sich auch Alberti, der — schon

D i e theoretische Kunstlehre.

Zweites Kapitel

„Kunst" und Braach.

„Kunst" und Natur.

A. „Kunst" und Brauch. I. Wenn Dürer in den zuletzt betrachteten Sätzen von einem »verständigen und geübten« Künstler redet, der seine große »Gwalt und Kunst« auch an unscheinbaren Dingen zu erweisen vermöge, wenn er die Gabe eines solchen Meisters damit erklärt, daß Gott ihm »zu lernen und Verstand« verliehen habe, so bedeutet dieses wiederholte Verkoppeln zweier Ausdrücke nicht, wie das lateinische »oro et obsecro« eine bloße rhetorisch-verstärkende Umschreibung einer und derselben Sache, sondern es ist das sprachliche Symptom für einen wirklichen begrifflichen Dualismus: auch sonst hat Dürer da, wo er vom Wesen des erfolgreichen Schaffensprozesses spricht, die beiden Begriffe gegeneinander gesetzt, die hier durch die Worte »geübt, Gwalt, glernt« einerseits, »verständig, Kunst, Verstand« anderseits bezeichnet werden. Denn er hat sich unter künstlerischer Potenz nie etwas andres vorstellen können, als das gleichzeitige Vorhandensein z w ei er Fähigkeiten, unter künstlerischer Leistung nie etwas andres als ihre gleichzeitige Betätigung. Diese beiden Fähigkeiten sind praktisches Können und theoretisches Wissen. »Man hat bisher in unsern deutzschen Landen viel geschickter Jungen zu der Kunst der Malerei gethon, die man ahn allen Grund und allein aus einem täglichen Brauch gelehrt hat. Sind dieselben also im Unverstand wie ein wilder unbeschnittener Baum auferwachsen. Wiewol Etlich aus ihnen durch stetig Übung ein freie Hand erlangt, also daß sie ihre deswegen brauchte man nicht gleich an Lionardo zu denken —

A . 161

eben-

falls den R a t gibt, den gemeinen Mann zu hören und Dürern sogar insofern noch näher kommt, als er (A. 163) hinzufügt: »et quando arä udito ciascuno, creda ai piü periti«,

durchaus

in Dürers Sinn, der ebenfalls (L. F . 230, 8)

schließt: »Nochdann versteht Niemand vollkummlicher ein W e r k zu urtheiln dann ein verständiger Künstner, der da Solchs durch sein Werk o f t bewiesen hat«.

»Kunst« und Brauch.

167

Werk gewaltiglich aber unbedächtlich und allein nach ihrem Wolgefallen gemacht haben. So aber die verständigen Maler und rechte Künstner solchs unbesunnen Werk gesehen, haben sie, und nit unbillig, dieser Leut Blindheit gelacht, dieweil einem rechten Verstand nichts unangenehmer zu sehen ist dann Falschheit im Gemäl, unangesehen ob auch das mit allem Fleiß gemalt wirdet« *). So hat Dürer 1525 das Erscheinen seiner Unterweisung motiviert; und wenn er drei Jahre später sein neues Unternehmen, die durch jene nur vorbereitete Proportionslehre, mit den Worten rechtfertigt: »Dann offenbar ist, daß die teutschen Maler mit ihr Hand und Brauch der Farben nit wenig geschickt sind, wiewol sie bisher an der Kunst der Messung, auch Perspectiva und Anderem dergleichen Mangel gehabt haben. Darum wol zu hoffen, wo sie die auch erlangen und also den Brauch und Kunst miteinander uberkommen, sie werden mit der Zeit keiner anderen Nation den Preis vor ihnen lassen« 2 ), so ist es ganz derselbe Gedanke, der hier seinen Ausdruck gefunden hat: die Notwendigkeit einer Vergesetzlichung der Kunst. Dieser Gedanke aber, für dessen Verwirklichung Dürer sein halbes Leben hingegeben hat, ist nicht sein Gedanke gewesen; er war — wir sprachen schon am Anfang unsrer ganzen Besinnung davon, aber es muß noch einmal gesagt werden — er war der Gedanke der Renaissance. Indem Dürer in der durch stetige Übung erlangten Freiheit der Hand, im »Brauch der Farben«, ja sogar in der »Gwalt«, d. h. in der anschaulichen Kraft, dem Phantasiereichtum der Darstellung 3), nur die Hälfte des wahren Künstlertums erblicken will, hat er sich von dem Kunstideal des Nordens losgesagt, der bisher an seinen Kunstwerken nur die Intensität des Eindrucks und die Meisterlichkeit des Handwerks zu bewundern pflegte, aber die Klarheit eines wissenschaftlichen Geistes bei seinen Künstlern weder gesucht noch gefunden ») L. F. 180, 9. L. F. 207, 35. 3) Cf. zur Deutung des Begriffes »Gwalt« die p. 163 Anm. erwähnten Zeilen L. F. 218, 16—23.

ι68

Die theoretische Kunstlehre.

hatte: Das neue Ideal, das Dürer jetzt aufrichtet und, wie er an beiden Stellen mit besonderer Absicht betont, gerade den deutschen Künstlern vor Augen stellt, das Ideal einer »besonnenen« Kunst, die — mindestens zur Hälfte — ein Produkt des erkennenden Verstandes ist, die festen Gesetzen gehorcht und vielfach durch Mathematik bewiesen werden kann, ist nicht das ursprüngliche Ideal des Mannes, der die Apokalypse gezeichnet hat. Es war das Ideal jener klaren Menschen der italienischen Renaissance, die lächelnd das Gefühl einer neuen Geistigkeit genossen und deren unglaublich bewußte und dabei in einer bisher ungeahnten Weise an der Wirklichkeit sich bestätigende Kunst alles phantastisch Verworrene und alle Unsicherheit des bloß Traditionellen so völlig überwunden hatte, daß auch sie nichts anderes mehr zu sein schien, als eine ihrer Methoden und ihres Erfolges gewisse »scienza«: »Quelli, che s'inamorano di praticha sanza scientia, sono com' e Ii nochieri, ch'entran in nauiglio sanza timone o'bussola, che mai hanno certezza, doue si uadano. Sempre la praticha debb' esser' edifficata sopra la bona theoricha; della quale la prespettiua e guida e porta, e sanza questa nulla si fa bene ne' casi di pittura« Dürer, der sich ja im Grunde stets ein äußerst starkes Gefühl für das mystische und von allen andern, auch geistigen, Produktionsvorgängen grundsätzlich verschiedene Wesen des künstlerischen Schaffens bewahrt hat, ist wohl niemals dem Geist der Renaissance so nahe gewesen, als in dem Augenblick, da er die in der Wortwahl so persönlichen Sätze konzipierte, in denen der Sinn des ästhetischen Exkurses gipfelt: »Aber so du kein rechten Grund hast, so ist es nit müglich, *) Tr. 80; cf. dazu Lionardos große und in bejahendem Sinn entschiedene Erörterung »ob die Malerei eine Wissenschaft sei« (Tr. I ff.), sowie seinen ständigen Sprachgebrauch »scientia della pittura« (ζ. B. Tr. 3 und 6).

Sehr inter-

essant auch Tr. 31, c : »Se tu dirai le seien tie non meccaniche sono le mentali, io diro che la pittura e mentale, e ch'ella, siccome la musica e Geometria considera le proportioni delle quantity continue, e I'Aritmetica delle discontinue, questa considera tutte le quantitä continue e le qualitä. delle proportioni d'ombre e lumi e distantie nella sua prospettiva.«

»Kunst« und Brauch.

169

dass du etwas Gerechts und Guts machst, und ob du gleich den größten Gebrauch der Welt hättest in Freiheit der Hand. Dann es ist mehr ein Gefängnuß, so sie dich verführt. Darum soll kein Freiheit ohn Kunst, so ist die Kunst verborgen ohn den Gebrauch. Darum muß es bei einander sein, wie oben gesagt*). Darum ist von Nöten, daß man recht künstlich messen lern. Wer das wol kann, der macht wunderbärlich Ding« a ). II. Alle diese Sätze vermögen uns nun, abgesehen von der Wichtigkeit ihres Inhalts, eine mehr philologische Aufklärung zu geben, die für alles Weitere von Belang ist, nämlich eine unzweideutige Antwort auf die Frage, welchen Begriff Dürer mit der Vokabel »Kunst« verband. Da Dürer, um das vollkommene Künstlertum zu bezeichnen, dem Worte »Kunst« stets einen zweiten Ausdruck gegenüberstellt (Gwalt und Kunst, Kunst und Brauch), so kann er unter »Kunst« nur die eine der beiden Fähigkeiten verstanden haben, deren Zusammenwirken ihm erst dieses vollkommene Künstlertum bedeutet. Und da er den Ausdruck einerseits in deutlichem Kontrast gegen »Brauch« und »Freiheit der Hand«, anderseits in deutlicher Synonymität mit »Grund« und »Verstand« und mit Beziehung auf »Messung, auch Perspectiva und anderem dergleichen« gebraucht, so kann nicht zweifelhaft sein, welche Seite des künstlerischen Vermögens er damit bezeichnen will: »Kunst« heißt beiDürern die Theorie im Gegensatz zur Praxis, das Gesetzliche im Gegensatz zum Zufälligen, die wissenschaftliche Beherrschung einer Sache im Gegensatz zum bloßen *) Bezieht sich auf den p. 172 zitierten Satz L . F. 230, 5: »Dann diese zwei

« 2)

L. F . 230, 33. — Lehrreich ist die Fortsetzung: »Dann die mensch-

lich Gestalt kann nit mit Richtscheiten oder Zirkelen umzogen werden, aber von Punkten zu Punkten werde die gezogen wie vorgemeldt«. Dies begründende »Dann« hat logisch nur Sinn bei der Prämisse, daß ein Gesetz bestehen m u ß : da ich die Gestalt nicht mit geometrischen Hilfsmitteln umschreiben kann, da ich aber andererseits auf »Ratio« in irgendeiner Form auf keinen Fall verzichten darf (sonst könnte ich j a nach der Wirklichkeit darauf los kopieren), so muß ich mir die Kunde der Proportionen aneignen.

170

Die theoretische Kunstlehre.

Savoirfaire, kurzum jene in die Tiefe dringende Kenntnis, in der nach Goethe »die Vollendung des Anschauens liegt« J ). Und diese Bedeutung des Wortes, das sich mit dem griechischen »τέχνη« berührt und im Lateinischen entweder auch durch ars, meist aber, und deutlicher, durch doctrina, disciplina, scientia wiedergegeben wird, ist vom Mittelalter bis ins 17. Jahrhundert hinein eine durchaus geläufige: indem man noch eine klare Empfindung für die ursprüngliche Identität von »künnen« und »kennen« besaß 2 ), setzte man ganz allgemein »Kunst« für Kenntnis (»lignum scientiae boni et mali« heißt bei Reuchlin »bäum der kunst des guten und bösen«), und zwar dann meist mit der besonderen Note, daß man damit eine gründliche, aufs Gesetzmäßige zielende, d. h. wissenschaftliche Kenntnis oder Erkenntnis meinte; denn das Wort »Wissenschaft« kommt überhaupt erst längere Zeit nach 1600 auf: »ad artem et praecepta revocare« heißt »in ein kunst und regel bringen«, »astrologia« ist »Kunst der stern«, und ein Freund Dürers, wohl Pirkheimer, nennt Theologie, Metaphysik und Philosophie »die gottlichen Kunst« 3). So wird man also auch Dürer selbst, so oft er in seinen theoretischen Erörterungen die Worte »Kunst« und »künstlich« 4) in prägnantem Sinne braucht, stets richtig verstehen, wenn man Ausdrücke dafür einsetzt, die sich auf die Kräfte und Einsichten des wissenschaftlich denkenden Verstandes beziehen. »Künstlich fechten« heißt so fechten, wie es die Regel will; ein »künstlicher Maler« ist ein kenntnisreicher Maler, der die Gesetze der Darstellung beherrscht; »Kunst und Brauch mit einander überkummen haben« bedeutet: etwas nicht nur ' ) Weimarer Ausgabe, Bd. 47, p. 14, in der »Einleitung in die Propyläen«, die (p. I I — 1 6 ) eine überaus interessante, noch ganz vom klassischen Geiste der Renaissance getragene Würdigung der Kunsttheorie enthält. a

) Siehe hierüber Grimm, Deutsches Wörterbuch,

Bd. V

(1873),

c

°l·

2666 fL, woher auch die meisten der im folgenden erwähnten Beispiele stammen. 3) L . F . 285, 1 3 . 4) Für die Bedeutung von

»künstlich« cf. Grimm, a. a. 0 . , col. 2 7 1 1 ff.

Dafür, daß es oft geradezu wissenschaftlich hieß, hat Luther ein markantes Beispiel: »lerer der teütschen s p r a c h . . . , da nit allain lesen, schreiben und rechen zugehört, sonder ain künstlicher verstand aller teütschen wörter«.

»Kunst« und Brauch.

171

machen k ö n n e n , sondern auch wissen, wie es gemacht werden muß. Für Dürer deckt sich demnach der Begriff »Kunst« weder mit dem mittelalterlichen Begriff einer bloßen handwerklichen Fertigkeit, noch mit dem modernen Begriff eines in den Dingen der Außenwelt sich objektivierenden Schöpfertums, noch auch fließen ihm diese beiden Bedeutungen zu einer ungeklärten Zwischenvorstellung zusammen sondern Dürer versteht — in bemerkenswerter Weise von unserem Sprachgebrauch abweichend, der »wissenschaftlich« und »künstlerisch« geradezu als polare Gegensätze« verwendet—darunter weder eine handwerksmäßige noch eine seelische Fähigkeit, sondern eine intellektuale: die Beherrschung jener Theorie, ohne die für ihn, der hier ganz Renaissance-Denker ist, kein Künstler Befriedigendes zu leisten vermag 2 ). Daß aber eine solche Leistung wirklich zustande kommt, dafür ist — da das, was Dürer, »Kunst« nennt, eben nur die Hälfte dessen ist, was er vom Künstler verlangt — die Voraussetzung, daß jene Kenntnis der verstandesmäßig faßbaren, womöglich mathematischen Regeln sich mit dem schlechthin irrationalen, nur durch Anschauung und Übung zu erreichenden »Brauch« vereinige. III. Die Möglichkeit dieser Vereinigung ist für Dürer dadurch gegeben, daß Kunst und Brauch nach seiner Vorstellung zwei Fähigkeiten sind, die nicht völlig getrennt voneinander erworben und ausgebildet werden, sondern in einer Art von — mathematisch gesprochen — funktionalem Abhängigkeitsverhältnis zueinander stehen: Wenn einerseits der »Brauch« ohne »Kunst« ein »Gefängnis«, eine »Verführung« bedeutet, wenn, wie Dürer es ein andermal ausdrückt, ein guter Gebrauch nur »aus rechtem Verstand« erlangt werden kann 3), ') So will es Müller (a. a. 0. p. 70 ff.) erklären. *) Eine der unsrigen schon ganz entsprechende Interpretation »Kunst«-Begriffs finden wir in Justis Buch, p. 2, Anm. 3. 3) L. F. 227, 15, zit. sogleich, p. 178.

des

Die theoretische Kunstlehre.

172

so kann auf der andern Seite eine Beherrschung der theoretischen Grundlagen des künstlerischen Schaffens nur durch fortgesetzte, schrittweise die bisher gelernten Regeln zur Anwendung bringende und erst dadurch den Weg zum Weiterlernen eröffnende Übung erreicht werden: »Ein Jedlicher, der in dieser Kunst vor nie nichts gelernt hat, und will aus diesen Büchlein ein Anfang schöpfen, der muß dies mit Fleiß lesen und lernen verstehn, was er liest, und dest weniger für sich nehmen, und sich in denselbigen wol üben, auf daß ers künn machen, und alsdann erst ein Anders anfahen zu machen. Dann der Verstand muß mit dem Gebrauch anfahen zu wachsen, also daß die Hand künn thon, was der Will im Verstand haben will. Aus Solchem wächst mit der Zeit die Gewißheit der Kunst und des Gebrauchs. Dann diese zwei müssen beieinander sein, dann Eins ohn das Ander soll nichts«1). Und auf diese Weise kann endlich die »Kunst« mit dem »Brauch« zur völligen Einheit verschmelzen: Wie jemand, der irgendeine körperliche Übung erlernt, sich zwar zuerst immerwährend klar machen muß, wie jede einzelne Bewegung auszuführen sei, später aber, wenn er »Brauch und Kunst mit einander überkummen« hat, sozusagen automatisch das Richtige tut, so steht auch in der Kunst die Theorie, wenn sie ganz gefaßt worden ist, der Praxis schließlich nicht mehr als ein von außen herankommendes Korrektiv gegenüber, sondern sie wird — und das gilt nach Dürers Meinung namentlich von der Kenntnis der Proportionen — zu einer unbewußten Gesetzlichkeit, die selbstverständlich und wie von innen heraus die Tätigkeit der schaffenden Hand reguliert, und die zum Schluß das anschauliche Vorstellen bis zu so vollkommener Klarheit zu läutern vermag, daß die exakte Anwendung der gelernten Regel gar nicht mehr nötig ist: »In Solchem ist mein Meinung nit, daß Einer zu allen Zeiten all sein Ding soll messen. Aber so du wol messen hast gelernt, und den Verstand mitsammt dem Brauch uberkummen, also daß du ein Ding aus freier Gwißheit kannst machen und weißt einem jedlichen Ding *) L. F. 229, 33.

»Kunst« und Brauch.

173

recht zu thon, alsdann ist nit allweg Not, ein jedlich Ding allweg zu messen, dann dein uberkummne Kunst macht dir ein gute Augenmaß, alsdann ist die geübt Hand gehorsam. Dann so vertreibt der Gewalt der Kunst den Irrthum von deinem Werk und wehret dir die Falschheit zu machen. Dann du kannst sie und würdest durch dein Wissen unverzagt und ganz fertig deines Werks, also daß du keinen vergeben Strich oder Schlag thust. Und diese Behendigkeit macht, daß du dich nit lang bedenken darfst, so dir der Kopf voll Kunst steckt« *). Auch die Erkenntnis dieser eigentümlichen Wechselbeziehung zwischen »Kunst« und »Brauch« ist ein spezifisch renaissancistischer Gedanke: das Mittelalter, dem es ja überhaupt ganz fernlag, seinen Kunstbegriff in die zwei Momente eines verstandesmäßig-wissenschaftlichen Kennens und eines praktisch-brauchmäßigen Könnens zu zerlegen, konnte auch kein Gefühl dafür haben, wie diese beiden sich ergänzenden Fähigkeiten gleichsam aneinander emporwachsen können, bis sie zu derjenigen Vollendung und gegenseitigen Durchdringung gelangt sind, durch die das Werk »künstlich, lieblich, gewaltig, frei und gut« erscheint, weil »die Gerechtigkeit mit eingemischt« ist a ). Die Kunstauffassung der Renaissance aber wird geradezu gekennzeichnet durch die Anerkennung dieses reziproken Verhältnisses zwischen »ragione« und »exercitatione«, eine Ein*) L . F . 230, 16.

Camerarius übersetzt den Satz von

der Augenmaß

(Fol. g l r ) sehr schön mit: »Quin etiä de arte oculi instruct! pro regula esse incipiunt«, den Satz »so dir der Kopf voll Kunst steckt« mit »scientia plenus«, wie denn überhaupt gerade der hier zit. Passus des ästh. E x k . die oben erwähnte Bedeutung des Wortes »Kunst« besonders gut illustriert. — Wie weit es Dürer selbst in diesem »Augenmaß«, der Geometrisierung des Anschaulichen, gebracht hat, zeigen wohl am besten die äußerst komplizierten, meist symmetrischen, mit einem einzigen, hin und herfahrenden Ductus hergestellten Federspiele (die schönsten im »Gebetbuch«, ed. Giehlow, Wien 1907), die eine den Psychologen rätselhafte und von Dürers Mitarbeitern (siehe etwa die mißglückten Versuche auf Seite 72 oder 1 0 4 ! ) niemals erreichte Vollständigkeit und fast mathematische Exaktheit des Vorstellungsbildes voraussetzen. *) L . F . 230, 33, sogleich an das Vorige anschließend.

Die theoretische Kunstlehre.

174

sieht, aus der die Bemühung der damaligen Kunsttheorie überhaupt erst verständlich wird und die deren erster und größter Vertreter in einem manchmal wörtlich an Dürer erinnernden Satze so formuliert hat: »Et l'ingegnio mosso et riscaldato per exercitatione, molto si rende pronto et expedito al lavoro; (»und diese Behendigkeit macht, daß du dich nit lang bedenken darfst«) et quella mano seguita velocissimo (»alsdann ist die geübt Hand gehorsam«) quale sia da certa ragione d'ingegnio ben guidata« 1 ). B. „Kunst" und Natur. Wenn sich Dürer mit seinem Gedanken von der Notwendigkeit einer Synthese zwischen »Kunst« und Brauch, und von der Möglichkeit ihres Gelingens durchaus in den Bahnen des renaissancistischen Denkens bewegt, so ist er doch auch hier wieder einen Schritt weiter gegangen als die Italiener: erst ihm hat sich die Frage aufgedrängt, wann und weswegen jenen Gesetzen des bildnerischen Schaffens, deren Kenntnis nach der Meinung Dürers und seiner Zeit den Künstler zur Erzeugung wertvoller Werke befähigt, selbst eine innere Berechtigung zuzusprechen sei. Ganz unbestreitbar ist in Dürers Augen die Berechtigung derjenigen Darstellungsvorschriften, die — wie die Regeln der Perspektive — durch die Geometrie, d. h. deduktiv, beweisbar sind; sie haben dann einen gar nicht weiter nachzuprüfenden, geradezu absoluten, Anspruch auf Anerkennung, vor dem man einfach »gefangen« steht 2 ); unangenehmer aber ist die Frage, wann diejenigen Darstellungsvorschriften als hinreichend begründete gelten dürfen, denen — und das ist ja zu Dürers Leidwesen gerade bei den Gesetzlichkeiten des Schönen, den Proportionsnormen, der Fall — die geometrische Notwendigkeit abgeht 3). Diese Frage beantwortet Dürer in einigen ') A. 157. *) L. F. 222, 29, zit. sogleich in der folgenden Anmerkung. 3) Der Gedanke, daß die Schönheit nicht geometrisch bewiesen werden kann, prägt sich besonders deutlich aus in dem Passus L. F. 222, 23: »Aber

»Kunst« und Natur,

175

Sätzen des ästhetischen Exkurses, die sich an die Forderung anschließen, man solle die unendlich mannigfaltigen Erscheinungen der Wirklichkeit (Weiße und Mohren, starke und schwache, magere und feiste, linde und harte Körperbildungen) nur in harmonischer, »ziemlicher«, d. h. naturgemäßer Art verwenden, und die von jeher das allgemeine Interesse in hohem Maße auf sich gezogen haben: »Aber das Leben in der Natur gibt zu erkennen die Wahrheit dieser Ding. Darum sich sie fleißig an, rieht dich darnach und geh nit von der Natur in dein Gutgedunken, daß du wollest meinen das Besser von dir selbs zu finden; dann du wirdest verführt. Dann wahrhaftig steckt die Kunst in der Natur, wer sie heraus kann reißen ( = h e r a u s z i e h e n ) , der hat sie. Uberkummst du sie (die Kunst), so wirdet sie dir viel Fehls nehmen in deinem Werk. Und durch die Geometria magst du deins Werks viel beweisen. Was wir aber nit beweisen künnen, das müssen wir bei guter Meinung und der Menschen Urtheil bleiben lassen. Doch thut die Erfahrung viel in diesen Dingen. Aber je genauer dein Werk dem Leben gemäß ist in seiner Gestalt, je besser dein Werk erscheint. Und dies ist wahr. Darum nimm dir nimmermehr für, daß du Etwas besser mügest oder wellest machen, dann es Gott seiner erschaffnen Natur zu würken K r a f t geben hat. Dann dein Vermügen ist kraftlas gegen Gottes Geschöff« *). unmöglich bedunkt mich, so Einer spricht, er wisse die beste Maß in menschlicher Gestalt anzuzeigen.

Dann die Lügen ist in unsrer Erkanntnuß,

und

steckt die Finsternuß so hart in uns, daß auch unser Nachtappen fehlt. Welches aber durch die Geometria sein Ding beweist und die gründlichen Wahrheit anzeigt, dem soll alle Welt glauben.

Dann da ist man gefangen, und ist billig

ein Solicher als von Gott begabt für ein Meister in Solchem zu halten.

Und

derselben Ursachen ihrer Beweisung sind mit Begierden zu hören, und noch fröhlicher ihre Werk zu sehen.

So wir nun zu dem Allerbesten nit kummen

m ö g e n . . . « (usw., zit. p. 1 3 5 f.). Cf. auch die schon oft erwähnte Verzichtleistung Dürers auf die geometrische Konstruktion der menschlichen Gestalt. *) L . F . 226, 20. Gegenüber dem Vorschlage Müllers, das »herausreißen« als heraus z e i c h n e n zu interpretieren, und das »sie« in dem Satze »überkummst du s i e . . . . « auf die Natur zu ziehen (a. a. 0 . p. 32 und p. 36), muß durchaus darauf bestanden werden, daß allein die im T e x t gegebene Deutung die wahre sein kann: Camerarius, der (als Zeitgenosse und E x p e r t ) Dürers Worte unbe-

Die theoretische Kunstlehre.

176

Auch in dem Satze »Dann wahrhaftig steckt die Kunst in der Natur« kann das Wort »Kunst« nicht, wie der unbefangene, von der heutigen umfassenden Bedeutung dieses Begriffes ausgehende Leser zunächst zu denken geneigt ist, die Summe alles dessen bezeichnen, was überhaupt ein Künstler können muß; wäre dafür noch ein anderer Beleg nötig, als der Hinweis auf den Sprachgebrauch des 16. Jahrhunderts, so bestünde er darin, daß Dürer das, was er hier »Kunst« nennt, sogleich als eine Teilbedingung des künstlerischen Wertes hinstellt, als ein Gut, dessen Besitz allein noch nicht die Garantie für das Gelingen, sondern nur die Sicherheit vor vielen Fehlern bedeutet. Ebensowenig aber kann er hier mit dem Worte »Kunst« das gemeint haben, was zurzeit die meisten Gelehrten darunter verstehen: das ganz konkrete Bild der Schönheit, das — durch eine Zusammenstellung einzelner schöner Gliedmaßen — aus der Natur »herausgerissen«, d. h. geradezu herausgezeichnet werden kann *); denn erstens hat Dürer die antike Elektionstheorie in dieser ursprünglichen, etwas grobschlächtigen Form endgültig gar nicht mehr anerkannt, sondern nur die schönen Maße, nicht aber eine wirkliche schöne Gestalt aus den Einzelerscheinungen der Natur herauszudestillieren versucht und empfohlen 2 ), zweitens aber ist das Wort »Kunst« weder von Dürern noch von einem seiner Zeitgenossen jemals als Synonym für »Hübschheit« oder dergleichen gebraucht worden, sondern bedeutete, wie uns aus vielen, speziell auch Dürerischen Beispielen jetzt bekannt ist, eine wissenschaftliche Kenntnis. So bezeichnet es denn auch hier nicht das Schöne selbst, sondern die wissenschaftliche, d. h. aufs Gesetzmäßige sich richtende K e n n t n i s des Schönen, und Dürers Meinung ist diese: die Gedingt richtig verstanden haben muß, übersetzt nämlich (Fol. f 5 r.) »Prorsus enim in natura demersa est a r s ,

quamsi

extrahere

potueris,

iam

adeptus errores multos vitaueris in opere tuo