Denkende Körper Formende Hände: Handeling in Kunst und Kunsttheorie der "Rembrandtisten" (Actus Et Imago) 3110438852, 9783110438857

Handeling bedeutet im Niederländischen nicht nur die Handhabung des Instruments (Manier), sondern auch Aktion und ist un

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German Pages 418 [420] Year 2016

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Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
Vorwort von Werner Busch
Einführung
I. Das Handeling der Rembrandt isten zwischen formaler und stilistischer Diversität
Handeling: Annäherung an einen Begriff
Formale Diversität
Stilistische Diversität
II. Das Primat der Hand
Die denkende Hand
„Handwerker“ aus Überzeugung
Handeling als Habitus
III. Material
Farbe als Material
Farbe als pastoses Relief
Natur/Kunst-Prozesse des Materials
IV. Aspekte des Farbauf trags
Das Unvollendete als Prinzip
Zufallsspiele
Widersprüchliche Lebendigkeit
V. Ikonik der Bewegung
Bewegung
Aktion
Affekt als Körpertechnik zwischen Einfühlung und Distanz
VI. Nah und fern
Vom Amorphismus zur Formwerdung
Das Verhältnis zwischen haptisch und optisch
Die Aufhebung von Nähe und Ferne
Schlussbetrachtung
Dank
Quellen- und Literaturverzeichnis
Personenregister
Bildnachweise
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Denkende Körper Formende Hände: Handeling in Kunst und Kunsttheorie der "Rembrandtisten" (Actus Et Imago)
 3110438852, 9783110438857

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Denkende Körper – Formende Hände

Band XVIII

Actus et I mago Berliner Schriften für Bildaktforschung und Verkörperungsphilosophie Herausgegeben von Horst Bredekamp und Jürgen Trabant Schriftleitung: Marion Lauschke

Yannis Hadjinicolaou

Denkende Körper – Formende Hände Handeling in Kunst und Kunsttheorie der Rembrandtisten

Publiziert mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft im Rahmen des Exzellenzclusters "Bild Wissen Gestaltung. Ein Interdisziplinäres Labor" der Humboldt-Universität zu Berlin.

Einbandgestaltung unter Verwendung von Francesco Colonna: „Hypnerotomachia Poliphili“, 1499 (Vorderseite). Detail aus Arent de Gelder: Edna segnet Tobias und Sarah, signiert, um 1700, Öl auf Leinwand, 87,5 × 111 cm, Instituut Collectie Nederland, Foto des Verfassers (Rückseite).

ISBN 978-3-11-043885-7 e-ISBN (PDF) 978-3-11-043056-1 e-ISBN (EPUB) 978-3-11043069-1 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. © 2016 Walter De Gruyter GmbH, Berlin/Boston Reihengestaltung: Petra Florath, Berlin Druck und Bindung: DZA Druckerei zu Altenburg GmbH, Altenburg Printed in Germany Dieses Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706 www.degruyter.com

Inhaltsverzeichnis

Vorwort von Werner Busch Einführung

I.

Das Handeling der Rembrandt isten zw ischen for ma ler und st i l ist ischer Diversität



Handeling: Annäherung an einen Begriff Formale Diversität Stilistische Diversität

II.

Das Pr imat der Hand



Die denkende Hand „Handwerker“ aus Überzeugung Handeling als Habitus

VII 1

15 28 56

77 95 114

III. Mater ia l

Farbe als Material Farbe als pastoses Relief Natur/Kunst-Prozesse des Materials

133 156 172

IV. Aspekte des Farbauf trags

Das Unvollendete als Prinzip Zufallsspiele Widersprüchliche Lebendigkeit

181 203 230

V.

Ikoni k der Beweg ung



Bewegung Aktion Affekt als Körpertechnik zwischen Einfühlung und Distanz

255 277 291

VI. Nah und fern

Vom Amorphismus zur Formwerdung Das Verhältnis zwischen haptisch und optisch Die Aufhebung von Nähe und Ferne

313 330 345

Schlussbetrachtung

355

Dank

363

Quellen- und Literaturverzeichnis

365

Personenregister

401

Bildnachweise

407

Vorwort

Die Rembrandtschüler haben es in der Forschung nicht ganz leicht, obwohl schrittweise kennerschaftlich eine Vorstellung von der Eigenart ihres jeweiligen Œuvres erzielt wird. Entweder müssen sie sich an ihrem Meister messen lassen und schneiden dann nicht nur gut ab oder sie haben sich nach dem Friedensschluss von 1648 ostentativ von ihrem Lehrer abgewandt und sind in einen eher staatsoffiziellen Klassizismus verfallen. Auch das pflegt man ihnen eher übel zu nehmen. Wenige spätere Schüler folgen Rembrandt in seinem ausgeprägt malerischen Spätstil. Zu ihnen gehört Arent de Gelder. Er scheint das bloß Andeutende der Skizzenhaftigkeit noch gesteigert zu haben – auch dies hat die Forschung gemeinhin als zu viel des Guten angesehen. Durch dieses permanente Messen am scheinbar unerreichbaren Vorbild blieb für diese Künstler nur die Klassifizierung als Epigonen übrig. Dass es sich bei einer solchen Einschätzung um kunsthistorische Topik handelt, die verhindert, dass dem individuellen Künstler Gerechtigkeit widerfährt, er seinen eigenen historischen Ort findet, diese Beobachtung ist der Ausgangspunkt der Überlegungen der Arbeit von Yannis Hadjinicolaou. Er geht das Problem grundsätzlich an, sucht Theorie und Praxis angemessen zu verschränken. Voraussetzung ist eine nahsichtige Untersuchung der Bilder de Gelders und schnell wird deutlich, dass hier nicht ein bloßer Stil angenommen oder übernommen wird, sondern vorsätzlich ein reflexiver, experimenteller Modus gewählt wird, der die Möglichkeiten einer besonderen Handhabung von Farbe und Pinsel auslotet und damit anschaulich die Möglichkeiten und Register von Malerei vorführt. Das ist nicht ohne demonstrativen Charakter, der verhindert, dass wir die andeutende Malerei bloß als illusionserzeugend lesen. Vielmehr sehen wir den Übergang von Materie in Gestaltung, wir sehen Formentstehung, wir sehen, wo die Gestaltung der Materie vorangetrieben ist und wo nicht. Insofern handelt es sich um ein intellektuelles Spiel, das auch auf die theoretische Rechtfertigung und Tradition eines solchen Verfahrens rekurriert,

VIII  

Vorwort

in der Praxis von Tizian bis Rembrandt, aber auch darüber hinaus bis zu Cozens und Gainsborough, in der Theorie von Castiglione über Boschini bis zu van Hoogstraten und de Lairesse. Zudem wird überzeugend nachgewiesen, dass de Gelder sich diesen experimentellen Charakter seiner Bilder leisten konnte, er war nicht auf den Verkauf seiner Bilder angewiesen. Über die Charakterisierung des Modus und seine theoretische Rechtfertigung hinaus dringt die Arbeit von Yannis Hadjinicolaou bis zu einer Dimension vor, die verständlich macht, wie der körpermotorische Vorgang dieser Art von Malerei die Sinnstiftung des Vorgeführten bedingt. Im Prozess des Machens wird Bedeutung generiert. Bedeutung ist nicht etwas vollständig Vorgewusstes, sondern jeweils neu Entstehendes, das den Charakter von Vorläufigkeit nicht ablegt und somit dem Rezipienten Raum für eigene Erfahrung und Sinnbeimessung lässt. Das Bild löst nicht einen Text ein, sondern schreibt sich nachvollziehbar selbst. Arbeiten wie diejenige von Yannis Hadjinicolaou können unsere Vorstellung von Kunst und ihren Produktionsbedingungen und -verfahren auf der einen Seite und von ihren Ausdrucks- und Aussagemöglichkeiten auf der anderen Seite grundlegend verändern. Werner Busch

E inführung

Farbe ist der Stimulus des Auges, die Musik der Taubstummen, ein Wort in der Dunkelheit. […] Und wie glücklich bin ich, Rot zu sein! Mein Inneres brennt. […] Wo ich mich verbreite, glänzen die Augen, erstarken die Leidenschaften, heben sich die Brauen, schlagen die Herzen schneller. Seht mich an, wie schön ist es zu leben! Betrachtet mich, wie schön ist es zu sehen! Orhan Pamuk, Rot ist mein Name

Die halbfigürliche Darstellung eines alten, bärtigen Mannes mit Harnisch und Schild hebt sich von einem neutral gehaltenen dunklen Hintergrund ab (Bild 1). Mit ermüdetem und zugleich ernstem, beinahe melancholischem Gesichtsausdruck schaut er aus dem Bild und stützt in aufrechter Haltung seine rechte Hand in die Taille. Die Lanze ist am Rücken befestigt. Sein vom Helm halb verschattetes Gesicht ist leicht nach links gedreht.1 Was hervorsticht, sind die Glanzlichter auf Harnisch, Bart und Nase, die aus pastosen Farbflecken bestehen. Im Schulter- und Brustbereich sowie auf dem Helm wird das Licht besonders stark reflektiert. Dort konzentrieren sich sichtbar hervortretende Pinselstriche in Weiß, Rot und Goldgelb. Die Farbe ent­ faltet sich autonom, spielt ihr eigenes vitales Spiel als Kontrapunkt zur ruhigen Gestalt des Mannes (Bild 2). Das Aufleuchten der Farben erscheint als Spiel des Zufalls, da sich ihre Anordnung mit jeder möglichen Bewegung der Figur oder

1

Die ovale Form des Gemäldes, das sich heute in der Sammlung des Palais Liechtenstein in Wien befindet, scheint im Nachhinein entstanden zu sein. Mein herzlicher Dank gilt Robert Wald und Björn Blauensteiner, die mir die Betrachtung des Bildes ermöglichten.

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Einführung

Bild 1  Karel van der Pluym (?): Mann mit Harnisch, Öl auf Leinwand, ovales Bildfeld im Viereck, 123 × 109 cm, Palais Liechtenstein, Wien.

Veränderung der Lichtverhältnisse wandeln könnte, sodass ihre Erscheinung einem momenthaften und zugleich prozessualen Charakter unterliegt. Wenn in diesem Bild überhaupt von Handlung die Rede sein kann, wird sie durch die Farbe selbst und die Helldunkeltonalitäten des Lichtes in Gang gesetzt. Dass in diesem weder datierten noch signierten Bild eine Rembrandt’sche Hand am Werk war, scheint auf den ersten Blick gesichert. Dafür sprechen die Präsenz der Figur, die eine kriegerische Gestalt verkörpert und sich gleichzeitig von ihr distanziert, die Verteilung von Licht und Schatten sowie die Behandlung der Farbe, die sichtbar breit und pastos aufgetragen wurde. Aus diesen Gründen

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Einführung

wurde das tronjeartige Gemälde (eine Besonderheit der Œuvres von Lievens sowie von Rembrandt) verschiedenen Rembrandtschülern zugeschrieben. Bereits 1767 hat Vincenzo Fanti mit Begeisterung Christopher Paudiß als Urheber der Darstellung identifiziert: „[…] das genialisch rembrandteske Idealbildnis eines gerüsteten Kriegers von Christof Paudiss, dem aus Norddeutschland stammenden Mitglied der Rembrandt-Werkstatt.“2 Doch nicht nur dem norddeutschen Paudiß, sondern auch dem aus Holland stammenden Arent de Gelder wurde das Bild zugeschrieben.3 Außerdem machte die Ähnlichkeit der

Bild 2  Detail aus Bild 1.

2

3

Werner Sumowski: Gemälde der Rembrandt-Schüler, Band 4, Landau 1983, S. 2364; Vincenzo Fanti: Descrizione completa di tutto ciò che ritrovasi nella Galleria di pittura e scultura di sua Altezza Giuseppe Wenceslao del S. R. I. principe Regnate della Casa di Liechtenstein […], Wien 1767, Nr. 502. Zitiert nach Reinhold Baumstark: Ein fürstlicher Rahmen um bürgerliche Kunst. Holländische Malerei des 17. Jahrhunderts in der Sammlung Liechtenstein, in: Ausst. Kat.: Im Lichte Hollands. Holländische Malerei des 17. Jahrhunderts aus den Sammlungen des Fürsten von Liechtenstein und aus Schweizer Besitz, hg. v. Petra ten-Doesschate Chu, Zürich 1987, S. 32. Walter Liedtke, in: Ausst. Kat.: Rembrandt/Not Rembrandt in The Metropolitan Museum of Art. Aspects of Connoisseurship, hg. v. Walter Liedtke/Hubertus von Sonnenburg/Carolyn Logan/Nadine Orenshein/Stephanie Dickey, Band 2, New York 1995, S. 114.

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Einführung

Figur mit einem Gemälde Karel van der Pluyms (Demokrit und Heraklit), einem entfernten Verwandten und zeitweisen Schüler Rembrandts aus Leiden, diesen ebenfalls zu einem wahrscheinlichen Kandidaten als Schöpfer des Bildes.4 Das Modell war vermutlich Adriaen van Rijn, ebenfalls ein Verwandter Rembrandts, den van der Pluym allerdings erst in den 1650er Jahren in Amsterdam hätte malen können. Damit wird in Verbindung mit der Malweise ein wichtiges Indiz zur Datierung des Bildes geliefert, die als sehr wahrscheinlich gelten darf.5 Durch die Problematik der Zuschreibung rückt die ähnliche Arbeitsweise von Rembrandt, Paudiß, de Gelder und van der Pluym in den Vordergrund, die gemeinsame Prinzipien der Formgestaltung erkennen lässt. Ist es überhaupt von Bedeutung, wem das Gemälde zugeschrieben wird, geht es nicht vielmehr darum, dass es im Umfeld Rembrandts entstanden ist? Kann es nicht auch ohne sichere Zuschreibung etwas über Rembrandt, seine Schüler und deren Bildpraxis verraten? Obwohl der Impuls für diese Malweise offensichtlich von Rembrandt ausgeht, ist seine Rolle im Kontext dieser Fragen eher untergeordnet. Im Zentrum der vorliegenden Arbeit stehen jene Schüler, die nach und nach zu unabhängigen Persönlichkeiten reiften, aber dem Malhabitus ihres Meisters verpflichtet blieben. Deswegen soll nicht die anonyme Zeit der Schüler während des Studiums, sondern vor allem die darauf folgende in den Blick genommen werden. Nur durch den zeitlichen und persönlichen Abstand können die grundlegenden Gemeinsamkeiten stärker ins Licht treten. Eine erweiterte Kunstgeschichte ohne Namen wird in diesem Kontext relevant, weil die Individuen als Gemeinschaft auftreten. Dadurch wird ihre persönliche Auseinandersetzung mit dem Rembrandtismus einerseits Bedingung für das Verständnis ihrer Bildpraxis, andererseits tritt der spezifische Bezug hinter dem allgemeinen zurück. Das heißt, sobald ein Schüler sein Bild selbst signiert, lässt sich durch eine vergleichende Analyse zeigen, was er von Rembrandt produktiv übernommen hat und was nicht. Mit dem Begriff „Rembrandtisten“6 sollen nicht so sehr Kopisten und Nachfolger Rembrandts bezeichnet werden, sondern vielmehr Anhänger eines 4 5

6

Vgl. Sumowski: Gemälde der Rembrandt-Schüler, Band 4, S. 2364. Ebd., S. 2362. Adriaen van Rijn ist wahrscheinlich auch das Modell des Mannes mit dem Goldhelm in Berlin, das deshalb zeitweise auch Karel van der Pluym zugeschrieben wurde. Siehe: Henry Adams: If not Rembrandt, then his Cousin?, in: The Art Bulletin, 66/3 (1984), S. 427–441. Horst Gerson spricht von den „Rembrandtianern“. Horst Gerson: Ausbreitung und Nachwirkung der holländischen Malerei des 17. Jahrhunderts, Amsterdam ²1983, S. 340. Gleichzeitig wird an anderer Stelle derselbe Begriff verwendet: „In Deutschland entstand die Mode des sogenannten Rembrandtisierens, die um die Mitte des 18. Jahrhunderts ihren Höhepunkt erreichte. Einer der wichtigsten Rembrandtisten

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Einführung

Malhabitus, der eine fruchtbare, nicht bloß epigonenhafte Beziehung zu Rembrandts Werk aufweist. So gibt es auch Schüler, die nie Rembrandtisten wurden, da sie die modische Manier ihres Lehrers sofort verleugneten, sobald eine andere sich als (ökonomisch und sozial) gewinnbringender erwies und dem veränderten Geschmack in den Niederlanden entsprach. Andere wie Nicolaes Maes oder Jacobus Leveck haben nach ihrer Lehre bei Rembrandt eine Zeit lang in seinem Sinne gearbeitet und sich danach die feine Manier angeeignet. Schüler, die nicht blind, sondern auf eine produktive Art und Weise dem Rembrandtismus treu blieben, also dessen Erhalt und Erneuerung durch Bewahrung der Tradition pflegten, entsprechen am ehesten dem, was mit dieser Bezeichnung gemeint ist. Die vorliegende Abhandlung beginnt mit den um 1650 entstandenen Werken, konzentriert sich jedoch besonders auf die Zeit seit den 1660er Jahren bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts. Die prominente Stellung Arent de Gelders erklärt sich aus dem Umstand, dass der Dordrechter für damalige Verhältnisse ungewöhnlich lang lebte, nämlich von 1645 bis 1727. Sein Werk stellt ein besonderes Zeugnis für jene Zeitspanne mit all ihren Umwälzungen und Änderungen der Geschmacksrichtung hinsichtlich der Kunst Rembrandts dar. Sein recht gut dokumentiertes Leben und die Quellen zum Dordrechter Kreis, in dem er sich bewegte, schaffen eine solide historische Basis für die Ausführungen und ermöglichen einen Vergleich mit den Tendenzen des erstarkenden Klassizismus. Zugleich vereinigen sich in der Person dieses Künstlers alle Prinzipien des idealen Rembrandtisten, was seine starke Präsenz in dieser Arbeit rechtfertigt. Dagegen lässt sich über das recht kurze Leben von Willem Drost (1633– 1659) weniger sagen. Er hat Amsterdam sehr früh verlassen, Quellen zu seinen Beweggründen dafür existieren kaum. Durch seinen Aufenthalt in Venedig, die Begegnung mit der venezianischen Tradition sowie die Tizian-Rezeption erhielt er neue Impulse. Mehr Hinweise sind über Christopher Paudiß (1630–1666) erhalten, obwohl er nach einer langen Wanderschaft, die ihn unter anderem nach Dresden, Wien und Ungarn führte, erst in Freising richtig Fuß fasste. Auch Barent Fabritius (1624 – um 1673), der Bruder des früh verstorbenen Carel, in dessen Schatten er stets stand, findet in dieser Arbeit Erwähnung, jedoch seltener als andere Künstler, da es sich nicht mit Sicherheit dokumentarisch belegen lässt, dass er ein Schüler Rembrandts war. In seiner Malweise war er jedoch nicht weniger Rembrandtist als seine Mitstreiter.

war Januarius Zick.“ Siehe: Susanne Heiland/Heinz Lüdecke (Hg.): Rembrandt und die Nachwelt, Leipzig 1960, S. 11 f. Jedoch wird hier das „Rembrandtisieren“ als Rezeption verstanden, die erst spät nach dem Tod Rembrandts stattfand, und auch den Begriff „Rembrandtist“ entsprechend gebraucht hat.

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Einführung

Was die Rembrandtisten verbindet, ist, dass sie in der erfolgreichsten Zeit ihres Lehrers, nämlich in den 1640er Jahren, in dessen Werkstatt tätig waren, abgesehen von Drost (um 1645–1652) und de Gelder. Letzterer wurde erst zwischen 1661 und 1663, nach seiner Ausbildung bei Samuel van Hoogstraten, Schüler Rembrandts. Seine erste Begegnung mit dem Rembrandtismus hatte er über van Hoogstraten, der in den 1640er Jahren bei Rembrandt gewesen war und sich danach allmählich von ihm distanzierte. In den 1660er Jahren erhielt de Gelder einen neuen Impuls durch den späten Rembrandt. In dieser Zeit wurde er Zeuge der Entstehung von Werken wie der Jüdischen Braut oder Claudius Civilis. Er lernte mehrere Facetten Rembrandts kennen und gilt nicht nur als einer der treuesten Rembrandtisten (so die allgemein verbreitete These), sondern ist in seinem Handeling seiner Zeit voraus und nimmt das späte 18. Jahrhundert vorweg. Weitere Schüler, die teilweise die Rembrandt’sche Tradition nach energischer Auseinandersetzung mit ihr hinter sich ließen, sind der bereits erwähnte Leveck (1634–1675) aus Dordrecht, Stadtgenosse und Bekannter de Gelders aus derselben Bürgerwache, Johann Ulrich Mayr (1629–1704), als Antipode von Paudiß, und Nicolaes Maes (1634 – um 1693), ebenfalls tätig in der Bürgerwache in Dordrecht, bevor er nach Amsterdam ging. Die allmähliche Distanzierung der holländischen Gesellschaft von der Kunst Rembrandts (etwa seit der Errichtung des Amsterdamer Rathauses 1648) ließ die Rembrandtisten umso stärker auftreten, um sich als Gegenbewegung zur idealisierenden Feinmalerei weiterhin behaupten zu können. Als nach 1672, von holländischer Seite als Katastrophenjahr (Rampjaar) bezeichnet, die Wirtschaft zusammenbrach und im Bereich der Künste die klassizistisch geprägte Malerei aus Frankreich oder Flandern die Oberhand gewann, traten die Rembrandtisten weiterhin tatkräftig in Erscheinung.7 Gegen Ende des 17. Jahrhunderts hatte das Aufgreifen verschiedener charakteristischer Malweisen ihres Lehrers, vor allem aus seiner früheren, erfolgreichen Zeit, stark zugenommen. Beinahe eklektizistisch schufen die Schüler ihre eigenen Bildrealitäten, und zwar in einer Radikalität, die das vermeintlich Vergangene, Altbackene geradezu avantgardistisch modernisierte. Dieses Phänomen wurde zusammen mit dem produktiven Nachleben des Rembrandtismus in der Kunstgeschichte bisher nicht genügend ins Visier genommen, obwohl die Lehre der Rembrandtschüler, in der Zeit, in der sie ihre Werke noch nicht signierten, die Forschung seit Langem beschäftigt. 7

Vgl. hierzu grundlegend Michael North: Das Goldene Zeitalter. Kunst und Kommerz in der niederländischen Malerei des 17. Jahrhunderts, Köln/Weimar/Wien ²2001; ders.: Die niederländische Republik im 18. Jahrhundert, in: Ausst. Kat.: Vom Adel der Malerei. Holland um 1700, hg. v. Ekkerhard Mai/Sander Paarlberg/Gregor J. M. Weber, Dordrecht/Kassel/Köln 2006, S. 86–98.

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Einführung

Über die Rembrandtschüler existieren nur wenige Monografien. In der Vergangenheit waren ihnen jedoch mehrere Ausstellungen gewidmet, die sich in ihrer Konzeption ähnelten, indem sie vor allem das Lehrer-Schüler-Verhältnis beleuchteten. Durch den einseitigen Fokus auf den Einfluss des Lehrers auf die Schüler werden jedoch die strukturellen Prinzipien, die aus diesem eigentlich sich wechselseitig befruchtenden Verhältnis entstehen, schlechthin unterschlagen.8 Die Konzentration auf die allzu starke Ausstrahlung einer einzigen Persönlichkeit soll dagegen in dieser Arbeit vermieden werden, ohne zugleich ihre impulsgebende Funktion zu leugnen. In seinem fünfbändigen Opus magnum nähert sich Werner Sumowski, der für die wichtigsten Forschungen auf diesem Gebiet verantwortlich ist, monografisch den verschiedenen Lehrlingen Rembrandts an. Dabei versäumt er es, sie in eine fruchtbare Beziehung zueinander zu setzen.9 Nur wo es sich um die anonyme Rembrandtschule, also um nicht fest zugeschriebene Werke handelt, sieht er sich zu einer Äußerung aus dem Instrumentarium der Kennerschaft gezwungen. Die Folge ist, dass die Schüler dann einerseits in ein Zwangsverhältnis zu Rembrandt gesetzt werden und andererseits zusammen mit 8

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Dafür sind exemplarisch folgende Ausstellungen zu nennen: Ausst. Kat.: Rembrandt’s Influence in the 17th Century, hg. v. Horst Gerson, London 1953; Ausst. Kat.: Rembrandt als leermeester, hg. v. Stedelijk Museum de Lakenhal, Leiden 1956; Ausst. Kat.: Rembrandt and His Pupils. A Loan Exhibition of Paintings Commemorating the 300th Anniversary of Rembrandt, London 1969; Ausst. Kat.: Rembrandt. The Impact of a Genius, hg. v. Ben Broos u. a., Amsterdam 1983; Ausst. Kat.: Rembrandt. Der Meister und seine Werkstatt. Gemälde, hg. v. Christopher Brown/Jan Kelch/Pieter van Thiel, London/Berlin/Amsterdam 1991; Ausst. Kat.: Rembrandt, His Teachers and His Pupils, hg. v. Christopher Brown, Tokyo 1992; Ausst. Kat.: The Hoogsteder Exhibition of Rembrandts Academy, hg. v. Paul Huys Janssen u. a., Den Haag 1992; Ausst. Kat.: Rembrandt/Not Rembrandt in The Metropolitan Museum of Art: Aspects of Connoisseurship, hg. v. Walter Liedtke/Hubertus von Sonnenburg/Carolyn Logan/Nadine Orenstein/Stephanie Dickey, 2 Bände, New York 1995; Ausst. Kat.: Rembrandt. A Genius and His Impact, hg. v. Albert Blankert, Melbourne 1997; Ausst. Kat.: Rembrandt, oder nicht? Hamburger Kunsthalle – Die Gemälde, hg. v. Thomas Ketelsen, Ostfildern 2000; Marleen Dominicus-van Soest: Rembrandtleerlingen en Houbraken in het nieuwe Dordrechts Museum, in: Dordrechts Museum Bulletin, 1 (2009), S. 8–11; Ausst. Kat.: Rembrandt and His School. Masterworks from the Frick and Lugt Collections, hg. v. Colin B. Bailey, New York 2011. Sumowski: Gemälde der Rembrandt-Schüler; ders.: Nachträge/Ortsregister/Ikonographisches Register/Bibliographie, Band 5, Landau 1989; ders.: Einleitung und Schlußwort, Corrigenda, Addenda, Nachträge 2, Ortsregister, ikonographisches Register, Bibliographie, Künstlerverzeichnis, Landau 1994. Siehe außerdem: John van Dyke: Rembrandt and His School. A Critical Study of the Master and his Pupils with New Assignment of Their Pictures, New York 1923; Arthur Pillans Laurie: The Brush-work of Rembrandt and His School, London 1932; Jan Białostocki: Rembrandt et ses élèves: trois problèmes, in: Biuletyn historii sztuki, 18 (1956), S. 349– 369; Görel Cavalli-Björkman (Hg.): Rembrandt and His Pupils, Stockholm 1993.

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Einführung

Informationen zu ihrer Vita in eine enzyklopädische Reihe gebracht werden, wenn der Künstlername bekannt ist und eine Zuschreibung erfolgen kann. Sumowski pflegt eine Kunstgeschichte, die sich mit großen Namen bzw. Meistern und Meister­werken beschäftigt. Wenn es jedoch um die „kleineren“ Künstler geht, dann werden vor allem ihre Defizite gegenüber Rembrandt in den Vordergrund gerückt. Dieses Verständnis erinnert an die Kritik der Schule der Annales, die der traditionellen Geschichtsschreibung vorwarf, dass sie sich ausschließlich mit der Ereignisgeschichte großer Gestalten beschäftige. Dennoch hat Sumowskis Inventarisierung der Rembrandtschüler, die zum Zeitpunkt ihres Erscheinens die erste war, der vorliegenden Dissertation wichtige Impulse gegeben. Albert Blankert konstatiert im Katalog der von ihm konzipierten Ausstellung mit dem bezeichnenden Titel Rembrandt. A Genius and His Impact (1997), die die eben besprochene Haltung der Forschung gegenüber dieser Frage offenbart, dass „in 1915 de Groot described Rembrandt’s teaching as the way in which ‚he made his own ideas on art live on‘. Later, it became customary to maintain that Rembrandt aimed above all to have his students develop their own per­sonalities.“10 Diese Feststellung weist Parallelen zu folgender Bemerkung von Sumowski auf: „In letzter Zeit ist gegen den Begriff Rembrandt-Schule opponiert worden. Das Wort Schule, so heißt es, könne strenggenommen nur auf eine Künstlergruppe mit einheitlichem, von ihrem Lehrer bestimmten Stil angewandt werden, und Einheitlichkeit herrsche hier nicht. Der Logik nach ist dieser Einwand berechtigt. Denn die Mehrzahl der Meister, die bei Rembrandt gelernt haben, richtet sich nur zeitweilig nach seinem Vorbild, gelangt im Verlauf des Schaffens zu Formen, die nichts mehr von ihrer Schulung verraten. Auch wird gelegentlich simultan rembrandtesk und individuell gearbeitet.“11 Die primär negative Haltung der Kunsttheorie im 17. und 18. Jahrhundert gegenüber Rembrandt wurde in paradigmatischer Weise durch die Arbeiten von Jan Emmeling Emmens und Seymour Slive aufgezeigt, die sich aber, wie Ernst van de Wetering unterstrich, stets aus einer ablehnenden Haltung heraus annäherten und somit die akademische Kunsttheorie lediglich bestätigten und kommentierten.12 10 11 12

Ausst. Kat.: Rembrandt. A Genius and His Impact, S. 212. Werner Sumowski: Rembrandts Einfluss in Holland, in: ders.: Gemälde der Rembrandt-Schüler, Band 1, S. 82. Ernst van de Wetering: Towards a Reconstruction of Rembrandt’s Art Theory, in: ders. (Hg.): A Corpus of Rembrandt Paintings V. The Small-Scale History Paint­ ings, Dordrecht 2010, S. 130: „The problem with Slive’s and Emmens’ account is that it places Rembrandt in a void as far as any structured way of thinking about art is concerned – in Emmens’ words – the ‚Tuscan Roman negative‘. But what is needed is a ‚positive‘ understanding of Rembrandt’s way of thinking, an understanding of how and why his ideas deviated so radically from the norms of classicism.“ Diese Beobachtung ist für diese Arbeit von zentraler Bedeutung.

9  

Einführung

Van de Wetering hat genau von dieser Tradition ausgehend über van Mander und van Hoogstraten die Theorie Rembrandts rekonstruiert, während ihn die Rembrandtschüler im Allgemeinen weniger beschäftigt haben. Anders als bei Emmens oder Slive ist die negative Befangenheit bei ihm nicht vorhanden. Seine Forschungen sind bahnbrechend, weil er als Erster Rembrandts Malprinzipien, die er aus der Bildpraxis abzuleiten vermochte, in Verbindung mit den kunsttheoretischen Schriften brachte. Sein Versuch bleibt aber Gombrichs Art and Illusion (das heißt einer Theorie der Repräsentation im Sinne einer Illusion von Wirklichkeit) sowie neurophysiologischen Annäherungen (sprich der besonderen Herausstellung der Rolle des Gehirns bei der Ausbildung von motorischen Fähigkeiten) verhaftet, die dann die theoretischen Möglichkeiten, die aus der Beschreibung der Praxis entspringen, nicht hinreichend ausloten. Zuletzt lieferte das Werk von Thijs Weststeijn über Samuel van Hoogstraten einen grundlegenden Beitrag zu dieser Problematik. Es wendet sich den rhetorischen Topoi zu und schenkt somit seine Aufmerksamkeit mehr dem Wort als dem Bild. Gewinnbringend für die Forschung ist, dass Samuel van Hoogstraten durch die essenziellen Beobachtungen Weststeijns, die dieser beinahe ausschließlich dem schriftlichen Werk des Malers entnommen hat, in einen neuen humanistisch geprägten Kontext gestellt wird.13 Slive hat bereits 1958 in seinem Buch eine der Herausforderungen für die künftige Rembrandtforschung erkannt, obwohl er sich ihr selber nicht stellte: „Lairesse admits that even at the beginning of the 18th century there were some who ‚still assert that everything that art and the brush can achieve was possible for Rembrandt and that he was the greatest of his time and is still unsurpassed‘. This indicates that the judgements which the academic critics pronounced were not universally accepted in the Netherlands around 1700.“14 Die Rembrandtisten und ihre Rezipienten überdauerten bis ins 18. Jahrhundert. Die Behauptung, dass der Rembrandt’sche Malhabitus überhaupt nicht mehr dem Geschmack entsprochen habe und die Wertschätzung Rembrandts und der Rembrandtisten vollkommen abgeklungen sei, lässt sich demnach nicht halten.

13 14

Thijs Weststeijn: The Visible World. Samuel van Hoogstraten’s Legitimation of Painting in the Dutch Golden Age, Amsterdam 2008. Die Passage bei Gerard de Lairesse: Groot Schilderboek, 2 Bände, Haarlem ²1740, Band 1, S. 325 lautet folgendermaßen: „[…] niettegenstaande dat men ’er vond, en noch vind, welke vast stellen dat het in zyn [Rembrandts] vermogen was alles ’t welk de konst en ’t penceel kon uitvoeren, hebbende hy alle de beroemdsten van zynen tyd tot heden toe overtroffen.“ Seymour Slive: Rembrandt and His Critics. 1630–1730, New York 1988, S. 165. Slive stellte auf Seite 199 die Frage: „How large was the inarticulate audience which had an appreciation of Rembrandt’s work?“ In der vorliegenden Arbeit wird versucht eine Antwort darauf zu geben.

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Einführung

Es ist bezeichnend, dass das eingangs erwähnte Bild sowohl Paudiß als auch de Gelder zugeschrieben wurde, bis der Vorschlag, Karel van der Pluym als dessen Urheber anzusehen, mehr Zustimmung fand. Die Kennerschaft hatte unwissentlich Gemeinsamkeiten der beiden Künstler entdeckt. Deshalb wurden von unterschiedlichen Seiten verschiedene Zuschreibungen vorgenommen, die aber abschließend auf eine Person beschränkt werden mussten, da es der Forschung um das künstlerische Individuum und Rembrandts Hand ging. Das ist ein Indiz dafür, dass das Rembrandt’sche aus bestimmten Prinzipien besteht, die die Kennerschaft aber ausblendet oder eben nur aus der Perspektive des genialen Meisters betrachtet. Ziel dieser Arbeit ist es, weder die Individualität noch das Rembrandt’sche zu negieren, oder auch überzubewerten, sondern die produktive Spannung beider Bereiche zu verfolgen und sie miteinander zu verbinden. Kurz gesagt: Das Gemeinsame wird durch das Individuelle geschärft und umgekehrt. Es würde den Rahmen der Arbeit sprengen, die Rembrandtisten in ihrer Zeit und Bedeutung für die holländische Gesellschaft, vor allem nach dem Tode Rembrandts, darzustellen, weshalb dies nur implizit reflektiert wird, ohne künstlerische Prozesse mit geschichtlichen Ereignissen und Strukturen gleichzusetzen. Die intensive Nähe zu den Bildern und Quellen der Rembrandtisten, die beim Lesen der Arbeit den Eindruck von hermetischer Geschlossenheit und unzureichender Distanz hinterlassen könnte, dient der Veranschaulichung der beispiellosen Bildpraxis der Rembrandtisten, aus der die hier rekonstruierte Bild­­ theorie hervorgeht. Die strukturell ähnliche Praxis der Künstler soll hervorgehoben werden, um die Bezüge aus der Kunstliteratur kritisch zu hinterfragen. Der Versuch einer Synthese von Bild und Sprache (rund um den Begriff Handeling) ist in dieser Weise bislang noch nicht unternommen worden. Die strukturellen Eigenschaften des Farbauftrags Rembrandt’scher Prägung werden im Folgenden auch als Malideologie bezeichnet. Die Pinselführung kann sowohl bewusst erlernt und weitergereicht werden als auch eine unbewusste Instanz sein, die der Hand mnemotechnisch eingeschrieben ist und automatisiert abläuft. Aus der Distanz betrachtet haften diesem Unbewussten aber dennoch ideologische Prinzipien an. Gemeint sind die Überlegungen, die in der Bildpraxis Rembrandt’scher Prägung verfolgt und aktualisiert werden und die nicht nur bloße Rezepte des Meisters sind, sondern symbolische Handlungen, die einen bestimmten Habitus miteinschließen und ein abstrakteres Theorem in der Interaktion mit der Welt und deren Auslegung beinhalten. Mit dem Wissen, das sie während der Arbeit erwerben, tragen die Rembrandtisten aktiv zur Erweiterung der künstlerischen Welterzeugung bei. Um das Problem der Körperlichkeit der Form bzw. des Denkens im Umgang mit dem Pinsel bei den Rembrandtisten zu beschreiben, nimmt der

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Einführung

historische Begriff des Handeling eine Schlüsselposition ein. Bildpraxis und Farbauftrag werden der fixierten Idea der akademischen (neoplatonischen) Kunsttheorie entgegengestellt, obwohl diese auch ein Handeling kennt, das sich allerdings in sauberen, fein aufgetragenen Pinselstrichen äußert, die keine Arbeitsspuren hinterlassen. Dieses Handeling lässt sich als passiv charakterisieren, da der Pinsel vollkommen beherrscht und nicht im ­Sinne des Zufalls oder des bewussten Spiels mit den Möglichkeiten verwendet wird. Das Denken der Rembrandtisten leitet sich genauso wie ihr Handeln von der Form ab, nicht umgekehrt, und zwar im Sinne des Zusammenspiels von Körper (Auge, Hand) und Kopf. Der Pinsel wird dadurch zum Akteur. Das Handeling Rembrandt’scher Prägung vereint zwei Richtungen: von der Pinselführung zur Handlung, die im Umkehrschluss dem Betrachter entgegenkommt. Die Verbindung von Körper, Pinselführung und Aktion ist zentral. Die Fokussierung auf den Körper erhält seit geraumer Zeit Impulse durch Theorien der Verkörperung, die bisher im Bereich der niederländischen Kunstgeschichte eine untergeordnete Rolle gespielt haben.15 Das Handeling der Rembrandtisten bezieht sich, abgesehen von der Rolle der Linie, auf das Coloris als Farbauftrag und Farbhandlung und nicht so stark auf die Couleur.16 Weniger die Licht- oder Farbtheorien, die die Farbe als neutrale Instanz verstehen, sondern vielmehr der Prozess und das Resultat der Bildwerdung anhand des Handeling sowie dessen Macht und Wirkung werden in dieser Arbeit verfolgt. Damit wird auf Topoi und ihre Aktualisierungen in der europäischen Kunsttheorie der Frühen Neuzeit einzugehen sein, die abgesehen von ihrem Wahrheitsgehalt auf ihre fruchtbare, geschichtlich variierende Verwendung von Malweisen und dabei Bildtraditionen untersucht werden. Bereits im frühen 17. Jahrhundert wurde in Holland der Farbe Dynamis zugesprochen, wie Karel van Mander in seinem Den grondt der edel vry schilder-const (1604), den Grundlagen der Malerei, verdeutlicht und somit den Rahmen für die vorliegende Untersuchung definiert: „Verw in der natuer werct wonderbaer crachten/ Waer van oock Exempelen zijn te speuren/ Van ontfanghende Vrouwen/ wiens gedachten Yet so imaginerend/ oock voort brachten/ Sulcke vrucht/ ’t zy swart/ oft ander coleuren Maer dit weten wy/ en sien het 15

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Eine der Ausnahmen (bezeichnenderweise primär aus einer kulturgeschichtlichen Perspektive) ist Herman Roodenburg: The Eloquence of the Body. Perspectives on Gesture in the Dutch Republic, Zwolle 2004. So spricht Roger de Piles von couleur naturelle und couleur artificielle. Vgl. Max Imdahl: Farbe. Kunsttheoretische Reflexionen in Frankreich, München 2003, S. 27. Dies betont auch Jacqueline Lichtenstein: „Roger de Piles distinguishes color as matter‚ ‚which makes objects visible‘ from coloris as form, the ‚essential part of painting‘, by which the painter imitates the appearance of colors and which includes the use of chiaroscuro.“ Jacqueline Lichtenstein: The Eloquence of Color. Rhetoric and Painting in the French Classical Age, Berkeley/Los Angeles/Oxford 1993, S. 153.

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Einführung

ghebeuren/ Dat de Kinderlijven vlecken ghenieten/ Van ’t ghene / daer de Moeders in verschieten. Ghelijck wanneer sy somtijts onverhoedich/ In bloedstortinghen/ schrickelijck verschrommen/ Brengen haer kinders litteeckenen bloedich/ Oft ander verwe vlecken overvloedich/ […] Dus blijct der verwen cracht/ […].“17 Abgesehen von der Aktivität der Farbe wird auch das Instrument, das sie ermöglicht, hervorgehoben: Niemand anders als Rembrandt wird 1667, zwei Jahre vor seinem Tod, im Gedicht seines Freundes Jeremias de Decker trotz der allgemeinen Distanzierung von seiner Kunst in den Niederlanden mit folgenden rühmenden Worten beschrieben: „Dat braef penceel en hoeft na niemands lof te vragen; ’t Is door sich self vermaard […].“18 Die Autonomie des Instruments wird hiermit bezeugt und macht den Schöpfer zwar sekundär, aber gewiss nicht unwichtig. Das „autonome Selbstporträt“ aus seiner Hand emanzipiert sich von seinem Autor und führt ein eigenes Leben. Kennzeichen des Handeling der Rembrandtisten ist die als „rau“ be­zeich­ nete, also unebene, pastose Fläche des Bildes – ein Charakteristikum, das über Venedig in den Niederlanden schon für Frans Hals, aber auch für den frühen Rembrandt eine wichtige Rolle gespielt hat und unter anderem durch van Manders Schriften verbreitet wurde.19 Diese feinstrukturierte, raue Malerei lässt sich bei mehreren Rembrandtisten wiederfinden.20 Bei Paudiß, de Gelder, Fabritius und sogar Drost ist dies

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Das Lehrgedicht des Karel van Mander, hg. v. Rudolf Hoecker, Den Haag 1916, S. 288: „Die Farbe übt in der Natur eine wundersame Gewalt aus, wovon auch Beispiele zu finden sind, so gebären die schwangeren Frauen ihre Kinder in der Farbe, sei es nun schwarz oder eine andere Farbe, die sie sich [beim Geschlechtsakt, Anm. d. V.] vorgestellt haben. Auch das wissen wir und sehen es sich oft ereignen, dass die Kinderkörper Flecken erhalten in derjenigen Farbe, über die die Mütter erschre­cken. Ebenso wenn sie zuweilen bei Blutvergiessen heftig und plötzlich erschre­cken, erhalten ihre Kinder blutige Zeichen oder zahlreiche andere farbige Flecken […]. So zeigt sich die Macht der Farbe.“ Sowohl diese als auch alle anderen Übersetzungen, die in dieser Arbeit zitiert werden, sind, wenn nicht anders gekennzeichnet, ohne Kommentare wiedergegeben. Vgl. Herman Roodenburg: The Maternal Imagina­ tion. The Fears of Pregnant Women in Seventeenth-Century Holland, in Journal of Social History, 21/4 (1988), S. 701–716. Zitiert nach Seymour Slive: Rembrandt and His Critics, S. 206. „Dieser vortreffliche Pinsel braucht niemandes Lob zu fragen, er ist durch sich selbst berühmt.“ Übersetzung aus Susanne Heiland/Heinz Lüdecke (Hg.): Rembrandt und die Nachwelt, Leipzig 1960, S. 22. Vgl. Ausst. Kat.: Frans Hals. Eye to Eye with Rembrandt, Rubens and Titian, hg. v. Anna Tummers/Christopher Atkins/Martin Bijl, Rotterdam 2013. Bernhard Schnackenburg: Die „rauhe Manier“ des jungen Rembrandt. Ein Malstil und seine Herkunft, in: Ausst. Kat.: Der junge Rembrandt. Rätsel um seine Anfänge, hg. v. ders./Ernst van de Wetering, Wolfratshausen 2001, S. 99.

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Einführung

ein von ihrem Lehrer weitergegebenes Charakteristikum und somit das Nachleben seines in den frühen Jahren seiner Karriere erfolgreicheren Handeling. Der Begriff „rau“, bezogen auf das Handeling, entstand aus einer ablehnenden Sichtweise heraus. Dennoch ist er im heutigen Vokabular so fest etabliert, dass er nicht problematisierend verwendet wird und seinen negativen Beigeschmack verloren hat. Es ist jedoch wichtig, sich bewusst zu machen, dass stets die Begriffe der Gegner dieser Bildpraxis verwendet werden und es gilt, sich ihren Phänomenen nicht nur vermittels dieses negativen Vokabulars zu nähern. Die Versprachlichung des vor allem ikonisch gedachten, nicht sprachlichen Elements des Rembrandt’schen Formgefühls ist allgemein eine Herausforderung. Die Rolle des Handeling wird nicht nur in der Praxis der Rembrandtisten, sondern auch in der Theorie thematisiert, und zwar nicht als bloßer Kommentar bzw. als Illustration, sondern als eine interaktive, fruchtbare Beziehung. Samuel van Hoogstraten liefert mit seiner Inleyding tot de hooge schoole der schilderkonst. Anders de zichtbaere werelt (1678) aus kritischer Distanz heraus eine ungewöhnliche Versprachlichung der Rembrandt’schen Praxis, der eine zentrale Rolle beim Verständnis der Rembrandtisten zukommt. Wenn das Buch, in dem der ehemalige Assistent Rembrandts wertfrei die Praxis zu beschreiben versucht, aufmerksam gelesen wird, dann kann eine gewinnbringende Sicht auf die Rembrandtisten und ihr Handeling erlangt werden. Obwohl van Hoogstraten Rembrandt kritisierte, eignete er sich als Erster dessen Handeling an. Die erworbenen praktischen Kenntnisse wurden Bestandteil seiner unsystematischen Beschreibung jener Praxis, die er an junge Künstler oder Kunstliebhaber richtete. Van Hoogstratens Inleyding stellt eine Möglichkeit dar, die Malideologie des Rembrandtismus aus der asymmetrischen Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis sowie aus der Kritik, die dort vorherrscht, zu extrahieren. Hier lässt sich erkennen, wie aus der Praxis heraus das Sprechen über dieselbe erzeugt wird. Bild und Sprache ergänzen einander, da sie unterschiedliche Zugänge zu einem Phänomen ermöglichen, das sich dadurch besser beleuchten lässt. Darüber hinaus hat die Bildpraxis der Rembrandtisten einen theoretischen Überbau, der sie erklärt und ihre herausgehobene Stellung als eine andere Theorie gegenüber dem etablierten Akademismus deutlich werden lässt. Trotz der augenscheinlichen Ablehnung dieser Bildpraxis durch die idealistische Kunsttheorie sollen zugleich ihre positiven Aspekte deutlich werden, um einen anderen Zugang zum Kunstverständnis der Zeit zu ermöglichen.

I . Das H and e ling der R embrandtisten zwischen formaler und stilistischer D iversität

Ha n d eli ng : A n nä her u ng a n ei nen Beg r i f f Handeling bedeutet im Niederländischen abgesehen von „Handlung“ auch „Pinselführung“ und „Manier“.1 Der Terminus, da mit ihm ein Akt bezeichnet wird, beinhaltet einen performativen Aspekt, der als ein Mal- beziehungsweise Form­akt beschrieben werden kann. Dadurch, dass die Motorik der Hand im Bedeutungsspektrum des Begriffes mitberücksichtigt ist und diese wiederum als Teil des Körpers mit dem Pinsel oder einem anderen Werzeug als Extension, sogar als Spur des Körpers zu begreifen ist, bekommt Handeling noch eine weitere Dimension. Die agierende Hand schafft Formen, die als Resultat eines performativen, gesamtkörperlichen Prozesses zu verstehen sind. Das Ergebnis dieses Form­ 1

Willem Goeree zum Beispiel verwendet die Begriffe Handeling und „Manier“ synonym in seiner Einleitung zur Kunst der Zeichnung, S. 98: „Handelende van de verscheide manieren en handeling die men in het Teikenen houden moet“ und S. 99: „[…] wat manier of handeling ons best behaagt […] deselve manier en handeling van hun Principaal volgen.“ Vgl. Willem Goeree: Inleyding tot de algemeene Teykenkonst, Middelburgh 1670. Vgl. den Begriff des Handeling in: Woordenboek der Nederlandsche Taal, Band 5, Den Haag/Leiden 1900. Zur Etymologie: mhd. „Handelunge“, nhd. „Handlung“ und mnd. „Handelinge“ (Sp. 1915). Das Wörterbuch liefert auch die unterschiedlichen Bedeutungen des Wortes: a. Het aanvatten of aangrijpen in de hand nehmen, betasten (Das Betasten, was gleichzeitig intuitiv sein kann – op het gevoel – im Sinne der denkenden Hand, siehe Kapitel II), vgl. Sp. 1915. b. Die Geschicklichkeit und das Hantieren mit Instrumenten (siehe Sp. 1916). c. Die Art und Weise, die Manier bzw. die Form einer Sache oder die eines Künstlers (De wyze, op welke de pypen gevormt worden, dat met eene verbaazende vaardigheid en handeling geschied), was im Französischen ‚le faire, la manière, la méthode d’un peintre‘ heißt und anderswo auch als Behandlung (behandeling) auftaucht (Sp. 1917). d. Het bedrijven, doen, verrichten (Das Tun) und (Sp. 1920) e. Die Handlung beispielsweise in einem Theaterstück, was mit dem Inhalt einer Geschichte oder eines Bildes übersetzt werden kann.

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I. Das Handeling der Rembrandtisten

aktes setzt einen erweiterten autonomen Prozess in Gang. Bezeichnenderweise sagt Karel van Mander in seinem Grondt, dass der Maler nicht davor zurückschrecken sollte, mit den Farben zu handeln: „Met de verwe handelen sonder schricken“ („Mit den Farben ohne Schreck handeln“).2 Dieser wenig beachtete Begriff dient als Verbindungselement zwischen alten gegensätzlichen Topoi der Kunstliteratur, etwa zwischen Farbe und Linie. Es handelt sich um unterschiedliche Handelinge, die jeweils einer bestimmten Malideologie dienen, aber nicht im klassischen Sinne gegeneinander ausgespielt werden. So hebt Samuel van Hoogstraten die Interdependenz von Linie und Farbe hervor, obwohl bei Rembrandt, bedingt durch seine Lehre, die Performanz der Farbe im Sinne des Handeling eine besondere Rolle spielte.3 Im umfassenden Katalog des RKD wird unter dem Begriff im Bereich der bildenden Kunst nur ein einziger Titel angezeigt, der eher einen pädagogischen Charakter hat: Nicolaas van der Monde: Wenken ter handeling in de beoefening der schilderkunst, Utrecht 1835. Achtzehn weitere Nennungen beziehen sich auf andere Bedeutungen des Wortes im Holländischen, nämlich einerseits auf die Handlung in einer Geschichte und andererseits auf die Akten eines Kongresses.4 Dies hat mit der Marginalisierung des Begriffs zu tun, mit der Überbetonung seines technischen Aspekts und der Ausblendung des Handlungsaspekts für die Kunstgeschichte. Für van de Wetering nimmt der Terminus Handeling eine zentrale Rolle ein, nicht nur als Zuschreibungsmittel, sondern als Grundlage einer Theorie über Rembrandts Schaffen, die aus der Bildpraxis des Malers entspringt.5 Auf van de 2 3

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Das Lehrgedicht des Karel van Mander, hg. v. Rudolf Hoecker, Den Haag 1916, S. 266. Wayne Franits: Young Women Preferred White to Brown. Some Remarks on Nico­ laes Maes and the Cultural Context of Late Seventeenth-Century Dutch Portraiture, in: Reindert Leonard Falkenburg u. a. (Hg.): Beeld en zelfbeeld in de Nederlandse Kunst 1550–1750, Nederlands Kunsthistorisch Jaarboek, 46 (1995), Anm. 71, S. 415. Dies wird im breiteren Kontext des Barock von James Elkins postuliert: „[…] line and color depend on one another in ways that were not always acknowledged.“ Vgl. James Elkins: „Marks“, „Traces“, „Traits“, „Contours“, „Orli“, and „Splen­­dores“. Nonsemiotic Elements in Pictures, in: Critical Inquiry, 21/4 (1995), S. 846. Vgl. die Webseite des RKD (Rijksbureau voor Kunsthistorische Documentatie): http://www.rkd.nl/rkddb/(S(mxnljx2ok5lxsu0jzh3ybm1d))/brief.aspx [5. 11. 2013]. Es existiert kein Verweis auf eine Studie, die das Handeling und sein Potenzial im Hinblick auf eine produktive Auseinandersetzung zwischen Theorie und Praxis behandelt bzw. darauf, wie die Theorie aus der Bildpraxis des Handeling hervorgeht. Bei van der Mondes Veröffentlichung handelt es sich um einen praktischen Führer zu den Grundlagen der Malerei für Laien/Kunstliebhaber des 19. Jahrhunderts. Vgl. Ernst van de Wetering: Towards a Reconstruction of Rembrandt’s Art Theory, in: ders. (Hg.): A Corpus of Rembrandt Paintings V. The Small-Scale History Paint-

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Handeling: Annäherung an einen Begriff

Wetering aufbauend hat sich Thomas Ketelsen im Katalog Rembrandt, oder nicht? auch mit dem Handeling befasst, wobei er weder die Etymologie noch die Bedeutung des Begriffes wörtlich nahm, sondern sich vielmehr auf dessen technischen Aspekt, nämlich auf Pinselführung und Manier konzentrierte.6 In der vorliegenden Arbeit hingegen gilt es nicht nur den Bereich der Handlung zu betonen, sondern diese mit der Manier und der Pinselführung zu verbinden. Joachim von Sandrart verwendete in der zweiten Auflage seiner Teutschen Akademie 1679 im ersten Kapitel das Wort „Handlung“: „[…] daß man gleich anfangs einer zierlichen saubern Zeichen-Manir und Handlung/ [Herv. d. V.] es sey gleich mit der Feder/ Kreiden oder Pensel/ zu dieser edlen Zeichenkunst/ sich befleisse und gewöhne.“7 Hier zeigt sich, dass im Deutschen und Niederländischen eine ähnliche Bedeutungsrichtung des Wortes vorliegt: einerseits Manier und andererseits Handlung. Hinzu kommt auch im Deutschen, wie im Niederländischen, noch Behandlung. So umschreibt van Hoogstraten selbst das Handeling mit „wijze van doen“.8 Houbraken nennt es „wyze van schilderen“.9 Anderswo kann es schlicht „aert“, Art,10 heißen und unterstreicht dabei die Wichtigkeit der Aneignung durch den Künstler. Deshalb ist Handeling gleichsam auch ein Produkt der „Oefening“, der Übung.11 Wie schon bei van Mander gesehen, handelt der Maler mit seinem Pinsel, und zwar nicht zufälligerweise an der Stelle, an der van Hoogstraten die

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ings, Dordrecht 2010. Das kommende Buch van de Weterings soll deshalb nicht zufälligerweise The Painter Thinking heißen, was als Pendant zum Painter at Work (1997) verstanden werden kann. Thomas Ketelsen: Zur Kritik der Kennerschaft, in: Ausst. Kat.: Rembrandt, oder nicht? Hamburger Kunsthalle – Die Gemälde, hg. v. ders., Ostfildern 2000, S. 15 ff. Vgl. später seine ähnliche Argumentation, ders.: Stil als Erbschaft. Rembrandt und seine Schüler, in: Ausst. Kat.: Rembrandt-Bilder. Die historische Sammlung der Kasseler Gemäldegalerie, München 2006, S. 8–26. Joachim von Sandrart: Teutsche Akademie 1679, III (Malerei), S. 12 unter: http:// ta.sandrart.net/de/text/1001 [6. 2. 2014]. Samuel van Hoogstraten: Inleyding tot de hooge schoole der Schilderkonst: Anders de Zichtbaere Werelt, Rotterdam 1678, S. 233. Auch van Mander formuliert dies ähnlich: „En wat een gheestighe fraey handelinghe en wijze van doen“, zitiert nach Woordenboek der Nederlandsche Taal, Band 5, Sp. 1917. Für Goeree bekommt ein Künstler das charakteristische Handeling durch das fleißige Kopieren von bekannten Meistern. Vgl. Anna Tummers: The Eye of the Connoisseur. Authenticating Paintings by Rembrandt and His Contemporaries, Amsterdam 2011, S. 116. Arnold Houbraken: De Groote Schouburgh der Nederlantsche konstschilders en schilderessen, Band 3, Den Haag ²1753, S. 206. Anna Tummers: By his Hand. The Paradox of Seventeenth Century Connoisseurship, in: dies./Koenraad Jonckheere (Hg.): Art Market and Connoisseurship. A Closer Look at Paintings by Rembrandt, Rubens and Their Contemporaries, Amsterdam 2008, S. 39. Jan A. Emmens: Rembrandt en de regels van de kunst, in: Gesammelte Werke, Band 2, Amsterdam 1979, S. 121.

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I. Das Handeling der Rembrandtisten

zwei unterschiedlichen „Manieren van Schilderen“ verortet.12 Dass dies bei dem Dordrechter Maler und Kunsttheoretiker nicht der einzige Fall ist, bei dem Handeling mit Handlung gleichgesetzt wird, bestätigt ein anderer Satz, in dem er von „in angenehmer Weise/‚Handeling‘ ausgeführt/getan“ („aengenaem ge­ handelt“) spricht.13 Im Englischen ist das bis heute verwendete handling of the brush ähnlich zu verstehen, obwohl dort im Gegensatz zum Holländischen eher der technische Aspekt der Pinselführung gemeint ist als das Handlungspotenzial. Cennino Cennini ist in diesem Zusammenhang von Bedeutung, da er von der „Operazione della mano“ spricht, eine Redewendung, die an den Begriff des Handeling erinnert: „Cenninis Begriff der Operation muss dabei nicht alleine als tätiges Werken, sondern auch als Handeln im moralischen Sinne einer Tugend des Körpers verstanden werden.“14 In ähnlichem Sinne spricht Vasari von i modi dello operare.15 Hier sei angemerkt, dass im Italienischen abgesehen von Maniera der Begriff Maneggio dem Handeling am nächsten kommt und wiederum zusammen mit Maniera dieselbe Wurzel, nämlich Mano, hat.16 Diderot bringt die Manière mit dem Faire zusammen und bezeichnet damit das Tun, das sich den Begriff des Handeling annähert.17 Gleichzeitig – und hierin liegt die Besonderheit – muss Handeling nicht umschrieben werden, wie im Italienischen oder Französischen, weil die Dimension der Handlung schon im Wort selbst enthalten ist. In der niederländischen Theorie der Rhetorik des Gerhard Vossius wird Handeling mit Actio im Sinne des ante oculos ponere beschrieben: „[…] to des12

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Van Hoogstraten: Inleyding tot de hooge schoole der Schilderkonst, S. 307: „[…] dat men ’t geen voorkomt, rul en wakker aensmeere, en ’t geen weg zal wijken, hoe verder en verder netter en zuiverder handele.“ Van Hoogstraten widmet im siebten Buch über das Kolorieren dem Handeling einen gesamten Abschnitt (S. 233–242). Ebd., S. 236. Vgl. Tummers: The Eye of the Connoisseur, S. 143. Wolf-Dietrich Löhr: Handwerk und Denkwerk des Malers. Kontexte für Cenninis Theorie der Praxis, in: Ausst. Kat.: Fantasie und Handwerk. Cennino Cennini und die Tradition der toskanischen Malerei von Giotto bis Lorenzo Monaco, hg. v. ders./ Stefan Weppelmann, München 2008, S. 154. Diese Konnotation existiert auch in den Niederlanden, sie wird im nächsten Kapitel ergründet. Ursula Link-Heer: Maniera. Überlegungen zur Konkurrenz von Manier und Stil, in: Hans Ulrich Gumbrecht/K. Ludwig Pfeiffer (Hg.): Stil. Geschichten und Funktionen eines kulturwissenschaftlichen Diskurselements, Frankfurt am Main 1986, S. 97. Vgl. Philip Sohm: Pittoresco. Marco Boschini, his Critics, and their Critiques of Painterly Brushwork in Seventeenth- and Eighteenth-Century Italy, Cambridge 1991, S. 69. Vgl. ders.: Style in the Art Theory of Early Modern Italy, Cambridge 2001, S. 158 f. Sohm erwähnt abgesehen von maneggio eine italienische Umschreibung des Handeling im Sinne der Art und Weise, wie ein Instrument geführt wird, als „il modo di […] portar la pena“. Link-Heer: Maniera, S. 103.

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Handeling: Annäherung an einen Begriff

cribe the orator’s ability to involve his audience in his argument, appealing to mind and body and all five senses.“18 Handeling hat ein gesamtkörperliches Potenzial, das die Rolle der Evidenz übernimmt. Schon 1650 spricht van Hoogstraten indirekt über die Bedeutung des Handeling für die Darstellung von Leidenschaften: „De Poësie is een suster, ja een lidt, van mijn Godinne Pictura, dieshalven heb ik wel veranderingh in de handelingh [Herv. d. V.], maer niet in ’t verstant begaan, overwegende, besinnende, en beschouwende de affecten en passien der menschen.“19 Ganz im Einklang mit seiner idealistischen Wendung, die zum Zeitpunkt der Verschriftlichung seiner Worte im Vollzug war, versteht van Hoogstraten das Handeling als eine bloße Sichtbarmachung des Verstandes und so des Disegno. Umgekehrt lässt sich vom Standpunkt der Rembrandtisten aus sagen, dass die verschiedenen Ausprägungen des Handeling die Idea selbst erzeugen können. Jacob Campo Weyerman versteht die unterschiedlichen Handelinge eines Künstlers als direkte Sichtbarmachungen des Gemüts im Zusammenhang mit der Hand: „Wy noemen manier, een zekere handeling des Schilders, niet alleen van zyn Hand maar van zyn Gemoed.“20 Weyerman bringt „Manier“ für den Maler und „Stil“ für den Schriftsteller auf einen Nenner.21 Medienspezifisch aber unterscheidet er zwischen den beiden Metiers und fügt dem Begriff Handeling ein inhaltliches Potenzial hinzu. Es ist naheliegend, die Hand und das Auge und darüber den gesamten Organismus zusammen mit dem Gemüt (und damit der Handlung) in ein interagierendes Verhältnis zu setzen. Hagedorn spricht von Handlung im Sinne der 18

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Vossius übersetzt das Wort Actio mit Handeling. Thijs Weststeijn: The Visible World. Samuel van Hoogstraten’s Legitimation of Painting in the Dutch Golden Age, Amsterdam 2008, S. 234; ders.: The gender of colours in Dutch art theory, in: Ann-Sophie Lehmann/Frits Scholten/Perry H. Chapman (Hg.): Meaning in Materials. 1400–1800, Nederlands Kunsthistorisch Jaarboek, 62 (2013), S. 183. Vgl. die Übersetzung in: Weststeijn: The Visible World, S. 171: „Poetry is a sister, indeed a part, of my Goddess Pictura, and consequently I changed my [handeling, Anm. d. V.], but not my mind [when I exchanged the brush for the pen], contemplating, reflecting on, and considering the emotions and passions of men.“ Jacob Campo Weyerman: De levens-beschryvingen der Nederlandsche konst-schilders en konst-schilderessen, Band 1, Den Haag/Dordrecht 1729–1769, S. 27, zitiert nach Weststeijn: The Visible World, S. 179: „We call manner, a certain Handeling of the painter, not only [deriving] from his hand but also from his temper.“ Jacob Campo Weyerman: De levens-beschryvingen der Nederlandsche konst-schilders en konst-schilderessen, Band 1, S. 27: „Het woord Manier betekent in een Schilder het zelve, dat het woord Stijl betekent in een Autheur; want een schilder is bekent by zyn Manier, gelyk als een Autheur is by zyn Stijl, of een Koopmans Hand is by zyn Schrift.“ („Das Wort Manier bedeutet für einen Maler dasselbe wie das Wort Stil für einen Schriftsteller; der Maler ist durch seine Manier bekannt, gleich wie ein Schriftsteller durch seinen Stil oder die Hand eines Kaufmanns durch seine Schrift [bekannt ist].“) [Übers. d. V.].

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I. Das Handeling der Rembrandtisten

spezifischen Art und Weise, in der jeder Künstler den Pinsel und andere Werkzeuge gehalten und betätigt hat, um dem Werk seinen eigenen Charakter zu geben, also der Manier.22 In diesem Zusammenhang wird die Bedeutung der Handlung hervorgehoben, die schon bei Sandrart beobachtet wurde. Poussin hat seine Manier dem Sujet entsprechend angepasst: „Ich habe es, sagte er, deshalb in der Weise (manière) gemalt, die Sie sehen, weil das Sujet an sich sanft ist, im Unterscheid zu demjenigen des Herrn de la Vrilliere, welches von einer ernsteren Art ist. Das ist vernünftig, wenn man bedenkt, daß das Sujet ein heroisches ist.“23 Diese Parallele findet sich demnach auch in Frankreich, ohne dass dabei strikt der Begriff des Handeling verwendet würde, sondern (wie schon gesehen) der Manier, was wiederum seine Wichtigkeit als gesamteuropäisches Phänomen deutlich werden lässt.24 In der vorliegenden Arbeit scheint der Begriff des Handeling geeigneter als der des Modus,25 der für Poussin seine spezifische Berechtigung gefunden hat und auf dem die Varietas beruht. Dieser aber bietet nicht die Nuancen, die das Wort Handeling und seine Rolle als historischer Begriff in der niederländischen Kunsttheorie beinhaltet.26 Die Rolle des Handeling als Handlung im Hinblick auf den Inhalt einer Geschichte ist zwar von besonderer Bedeutung, jedoch nicht als passive Bildhandlung oder Peripeteia zu verstehen, sondern als deren formale Aufladung, die den Inhalt direkt betrifft. Die bewegende Kraft der Farbe im Sinne eines Formaktes avanciert zu einem ikonischen Surplus des Bildes, das eben nicht bloß eine Szene zeigt, die illustriert wird. Es handelt sich vielmehr um die Latenz des Bildes,27 also seine inhärente Kraft, die schon in der formbaren Materie angelegt und mit dem Inhalt vereint ist. 22

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Hans Joachim Dethlefs: Der Wohlstand der Kunst: Ökonomische, sozialethische und eudämonistische Sinnperspektiven im frühneuzeitlichen Umgang mit dem Schönen, Tokyo 2010, S. 218. Bernhard Stumpfhaus: Modus – Affekt – Allegorie bei Nicolas Poussin: Emotionen in der Malerei des 17. Jahrhunderts, Berlin 2007, S. 199. Aber auch sein Gegner Rubens stattete nach Meinung Roger de Piles, zumindest im kunsttheoretischen Kontext der französischen Akademiedebatte, die Objekte und die bildnerischen Mittel mit derselben Emotionslage aus, um eine entsprechende Wirkung zu erzielen. Siehe: Ausst. Kat.: Peter Paul Rubens. Barocke Leidenschaften, hg. v. Nils Büttner/Ulrich Heinen, München 2004, S. 31. Jan Białostocki: Das Modusproblem in den bildenden Künsten. Zur Vorgeschichte und zum Nachleben des „Modusbriefes“ von Nicolaus Poussin, in ders.: Stil und Ikonographie: Studien zur Kunstwissenschaft, Dresden 1966, S. 9–35. Stumpfhaus: Modus – Affekt – Allegorie bei Nicolas Poussin, S. 200. Vgl. Horst Bredekamp: Die Latenz des Objekts als Modus des Bildakts, in: Hans Ulrich Gumbrecht/Florian Klinger (Hg.): Latenz. Blinde Passagiere in den Geisteswissenschaften, Göttingen 2011, S. 277–284.

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Handeling: Annäherung an einen Begriff

Das Handeling wird mit der Manier zusammengeführt. Dabei wird häufig die Natürlichkeit betont, die der Künstler bezüglich der Materialität der Dinge beachten muss, sowie die Vermeidung eines Farbauftrags, der über die bloße Naturbeobachtung hinausgeht.28 Handeling avanciert somit selbst zu einer manierierten Manier, wie es die späteren, aber auch zeitgenössische Kritiker des Manierismus beklagten. Die Verdammung der „Entarteten Kunst“ kann auch in diesem Sinne verstanden werden, da ihre Protagonisten mit ähnlichen Argumenten operierten wie bereits die idealistische Kritik in der Frühen Neuzeit.29 Van Mander spricht im Grondt von „Nae ’t leven/oft handelingh aenghename“.30 Das Nach-dem-Leben-Prinzip entspricht einem angenehmen Handeling bzw. einer Manier. Somit wird wiederum die Frage der Natürlichkeit angesprochen. Ähnliches vertritt Samuel van Hoogstraten, sowohl in Bezug auf die Zeichnung als auch auf die Malerei: „[…] [w]ant men moet zijn handeling nae den aert der dingen somtijts veranderen. De derde Les is, nae den aert van ’t leven, Een yder ding zijn eygenschap te geven, In ’t handelen: men wen zich geen manier, Als die zich strekt tot aller dingen zwier. […] Bekreun u weynich met een handeling of manier van schilderen te leeren, maer wel, om gestadich in de opmerking vaster te worden, en de deelen der konst wel te onderscheyden, en met wakkerheyt nae te volgen. Zoo zal de hand en ’t penseel het oog onderdanich worden, om manierlijk de verscheydenheyt der dingen, elk nae zijn aert, op ’t zwierichst uit te beelden. […] Geen eygen handeling te betrachten, maer alleen de natuerlijkheyt [Rand des Buches, Anm. d. V.]. […] Want daer behoort een andere lossicheit van handeling tot het luchtige hair […] en wederom, een anderen aert van ’t pinseel te roeren in ’t schoone naekt, en het blinkende marber.“31 Auch Joachim von Sandrart fordert Vergleichbares: „Man soll sich an 28 29

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Siehe Kapitel III, S. 144. Vgl. Horst Bredekamp: Der Manierismus. Zur Problematik einer kunsthistorischen Erfindung, in: Wolfgang Braungart (Hg.): Manier und Manierismus, Tübingen 2000, S. 109–129. Das Lehrgedicht des Karel van Mander, S. 212. Van Hoogstraten: Inleyding tot de hooge schoole der Schilderkonst, S. 30 u. 234 f. Vgl. die Übersetzung in: Van de Wetering: Towards a Reconstruction of Rembrandt’s Art Theory, S. 122 f.: „[…] one must sometimes change the handeling according to the nature of the things. The third lesson is, to give everything its own quality in the handeling, after its character in life: acquiring no other manner, than that which extends to giving everything its natural quality. Do not bother much with learning a handeling or manner of painting, but do to become ever more firm in your observation, and to distinguish the parts of the art and to imitate them carefully. Thus, in order to depict most freely and gracefully the diversity of things in a mannerly fashion, each according to its own nature, the hand and the brush must be subservient to the eye. […] Practice no handeling for its own sake but only naturalness. […] For a different kind of looseness of brushwork is needed for fluffy

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I. Das Handeling der Rembrandtisten

keine Manier/ Gewohnheit oder angenommenen Gebrauch binden/ sondern wie die Natur immer alles verändert und anderst gebieret/ also sollen wir immerzu in allem uns verändern und von dem guten zum bässern wenden.“32 Eine solche Forderung wendet sich letztlich auch gegen einen bestimmten Habitus und macht deutlich, dass Manier/Handeling und Habitus eng beieinanderliegen.33 Gleichzeitig werden, wie später noch zu zeigen sein wird, die Rembrandtisten sowohl dem Prinzip der natura naturans untergeordnet als auch der Unnatürlichkeit bezichtigt (wie beispielsweise von Gerard de Lairesse). Dass die „wirkliche Kunst“ eben kein Handeling beinhaltet (als entspringe sie direkt aus der Natur, die keinen sichtbaren Pinselstrich aufweist), betont in einer noch radikaleren Weise Jacques de Ville im Jahre 1628, wenn er meint: „[There are] those for whom true art consists of something entirely different from mere handeling (manner of painting) and those whose discussions of art are without foundation, who spend their whole lives learning a particular handeling.“34 Der Intellektuelle spricht sich gegen das bloß handwerkliche Lernen des Künstlers aus. Aber auch an einer anderen Stelle bestätigt sich die vorherige Passage. Handeling wird als Vernachlässigung des Disegno und damit auch der Idea betrachtet: „[…] de handelingh weynich acht ten aensien vande teecken konst, daer nochtans hedens-daechs meest naer ghesien werdt.“35 Van de Ville wiederholt die Bedeutung des Handeling bezüglich der Natur der Dinge im Sinne des naar het leeven und die Rolle der Beobachtung des Künstlers: „[…] anders niet en doen dan vlack naer het leven te schilderen en die verwen soo handelen dat daer niet boven te komen is aengaende de handelinghe.“36 Bezeich-

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hair […] and yet again, a different kind of brushwork in a beautiful nude, or pol­ ished marble.“ Ähnliche Thesen bezüglich des Handeling vertritt auch Gerard de Lairesse in seinem Schilderboek (Über die Farben, Buch IV, S. 127–137). Vgl. Hans Joachim Dethlefs: Gerard de Lairesse and the Semantic Development of the concept Haltung in German, in: Oud Holland, 122 (2009), S. 217; Lyckle de Vries: How to create beauty. De Lairesse on the Theory and Practice of Making Art, Leiden 2011, S. 30 u. 67 ff. Joachim von Sandrart: Teutsche Akademie 1675, I, Buch 3 (Malerei), S. 102 unter: http://ta.sandrart.net/edition/text/view/193#tapagehead [14.1.2014]. Vgl. Kapitel II (dritter Abschnitt). Zitiert nach Eric Jan Sluijter: Rembrandt and the Female Nude, Amsterdam 2006, S. 209. Vgl. Jacques de Ville: T’samen-spreeckinghe, Betreffende de Architecture, ende schilder-konst. Dienende mede tot waerschouwinge van alle werck-luyden ende liefhebbers der selver konst … [etc.], Gouda 1628. Sluijter: Rembrandt and the Female Nude, Anm. 88, S. 392. Übersetzung ebd., S. 210: „[The painter architect] thinks little of the handeling compared to the drawing whereas nowadays handeling receives the most attention [and painters try particularly hard to do their best in this respect.]“ Ebd., Anm. 89, S. 392. Übersetzung ebd., S. 210: „[…] do nothing but paint closely from life, and handle the colors in such a way that no one could surpass them in manner of painting.“

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Handeling: Annäherung an einen Begriff

nenderweise wird Handeln und Farbe im Sinne des Handeling zusammengebracht, was dem anfangs zitierten Satz van Manders nahe kommt (siehe S. 16). Gleichzeitig setzt sich die Kritik van de Villes gegenüber dem Handeling fort, als wäre dieses ein Tadel gegenüber den Regeln der Kunst, wie bereits am Beispiel des Manierismus beobachtet wurde. Diejenigen, die implizit kritisiert werden, sind höchstwahrscheinlich Rembrandt und Lievens: „[…] lief-hebbers die voor een Tronij 2.3.4. hondert gulden, ende meerder betalen, het welcke nochtans maer het achtste ghedeelte van het lichaem is […] de Luyden alleen op handelinghe sien […] dan voor het gene dat met goede simmetrije gemaeckt is.“37 Hier nimmt de Ville Bezug auf den „wissenden“ (die Perspektive beherrschenden) und den „unwissenden“ (nur dem Handeling zugewandten) Künstler.38 Die Rembrandtisten und jene Künstler, die sich allzu sehr ihrem technischen Können widmen, seien zu verachten,39 mit eingeschlossen die Liebhaber, die bereit sind, hohe Summen für eine derartige Malerei zu investieren. Ähnlich äußerte sich Bernini über die Kunst Tizians, nämlich dass sie nichts außer Technik sei, ein bloßes Effektfeuerwerk.40 Entsprechend wird auch das Handeling von de Ville aufgefasst. So soll das Handeling nicht um seiner selbst Willen angewendet werden, sondern nur im Dienste der Natürlichkeit. Eine unsichtbare Manier sei im Bereich der Pinselführung nicht möglich. Abraham Bosse sprach in Bezug auf das Porträt, bei dem die Ähnlichkeit das zentrale Merkmal ist, von „mannerless manner“.41 Auch de Piles greift mit einer Begrifflichkeit, die an das Vokabular Bosses erinnert, die Künstler an, die einen „schlechten“ Habitus hätten, der „Manier“ hieße („la mauvaise habitude que les Peintres appelent Manière“), und wendet sich gegen die Praxis und das handwerkliche Können eines Malers, insofern er das Naturstudium vernachlässigt.42 Dieser Topos findet sich wieder bei Constable, der bezeichnenderweise auch das Wort „mannerism“ verwendete: „I have endeavoured to draw a line between genuine art and mannerism, but even the greatest painters have never 37

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Ebd., Anm. 90, S. 392: „[…] [indeed, there are even some who pay – oh, the shame of it! –] two, three, four hundred guilders and more for a tronie, which is only oneeighth of the body. [Those people care more about the manner of painting than about ‚good symmetry‘. No wonder, then, that most painters devote all their attention to their handeling.]“ Vgl. auch Tummers: The Eye of the Connoisseur, S. 127. Emmens: Rembrandt en de regels van der kunst, S. 122 f. Hier zeichnet sich erneut der Bezug zum Manierismus ab, wie Bredekamp betont: „Als historiographischer Begriff der Kunstgeschichte existierte der Manierismus aber noch nicht. Er entstand erst als Produkt einer über Jahrhunderte währenden Kritik des ‚zu viel an Handfertigkeit‘.“ Bredekamp: Der Manierismus, S. 111. Vgl. Tummers: The Eye of the Connoisseur, S. 128. Ebd. Thomas Puttfarken: Roger de Piles’ Theory of Art, New Haven 1985, S. 49.

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I. Das Handeling der Rembrandtisten

been wholly untainted by manner.“43 Meisterschaft wurde demjenigen attestiert, der sein Handeling manipulieren konnte, so wurden zum Beispiel Maler wie Rubens von de Piles oder Goltzius von van Mander immer dafür gepriesen.44 Auch wenn das „Natürliche“ dargestellt werden soll, ist die Malerei Interpretation dessen, was mit Bedeutung aufgeladen ist. Die sichtbar hinterlassene Spur auf dem Bild anhand des Handeling bricht mit der Idee einer bloßen Natürlichkeit. Sie konstituiert gleichsam die Handlung des Bildes. Der wahre Künstler ist van Hoogstraten zufolge derjenige, der nicht sehr weit entfernt von Rembrandts Manier ist: „Dat hy niet alleen het doode lichaem der konst beooge, dat is trant te volgen, en te doen als andre, maer dat hy op de ziele der konst als verslingert is: dat is, de natuur in hare eigenschappen te onderzoeken. Hy is nijdich dat een ander iets, hem onbekent, weet, hy schaemt hem van iemant iets indrukkender wijze te leeren, en zoekt alles door eygen arbeit uit te vinden.“45 Diese Aussage entspricht der zitierten Passage Constables. Die Überwindung der Vorbilder und so der bloßen Mode bedeutet die gleichzeitige Erschaffung eines neuen Handeling (zum Beispiel Rembrandts), das dann von anderen fortgeführt wird. Van Hoogstraten zufolge gibt es drei Arten von Künstlern. Diese Einteilung orientiert sich bezeichnenderweise an dem rhetorischen Topos der drei genera dicendi, die zu genera pingendi avancieren. Davon stehen sich vor allem zwei als Gegenpole gegenüber: Auf der einen Seite die Rembrandtisten, die mehr Interesse an der äußerlichen Beschaffenheit der Dinge und deren Materialität

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Zitiert nach Ernst H. Gombrich: Kunst und Illusion. Zur Psychologie der bildlichen Darstellung, Berlin ²2004, S. 150; Johannes Stückelberger: Skying. Wolkenmalerei als Übungsfeld einer autopoietischen Ästhetik nach 1800, in: Friedrich Weltzien (Hg.): Von selbst. Autopoietische Verfahren in der Ästhetik des 19. Jahrhunderts, Berlin 2006, S. 113. Tummers: The Eye of the Connoisseur, S. 161. Zu Goltzius und der Neuigkeit seines damaligen Handeling, das auf gleichzeitiger Diversität beruhte, vgl. Nils Büttner: Een veerdige handelinge op de nieuw manier. Das Neue und die Kategorie des Neuen in Haarlem um 1600, in: Ulrich Pfisterer/Gabriele Wimböck (Hg.): Novità. Neuheitskonzepte in den Bildkünsten um 1600, Zürich 2011, S. 87–109. Van Hoogstraten: Inleyding tot de hooge schoole der Schilderkonst, S. 12. Übersetzung in van de Wetering: Towards a Reconstruction of Rembrandt’s Art Theory, S. 9: „That [after the young painter has finished his training] he should not only contemplate the dead body of art, that is merely to follow the fashion and do as others do, but that he should throw himself into the spirit of art: that is, investigate nature in all her properties. He [the aspiring painter] is envious that someone knows something that he does not, he is ashamed to learn from anyone else anything that would decisively influence him, and tries to discover everything through his own labours.“ Dies ist die Antwort auf eine Frage von Carel Fabritius, die er zu einer Zeit stellte, als beide Maler zusammen in den 1640er Jahren in Rembrandts Werkstatt tätig waren.

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Handeling: Annäherung an einen Begriff

haben, und auf der anderen die Künstler, die sich de Ville zufolge als Gelehrte an den Regeln der Kunst orientieren und sich die Gratia als das höchste Ziel ihrer Kunst gesetzt haben: „Dezen zal ’t lusten, wat stof hy ook voorheeft, de zelve deur aerdige deelen wonder behaeglijk te doen schijnen, als of hy meer vermaeks had in ’t vertoonen van een soorte der medewerkende dingen, als in ’t gros van de zaek; ’t zy in geestige bewegingen, tronien, toetakelingen of teujeringen. […] Maer de derde acht alleen een bloote en onbedwonge vertooning en bralt quansuys op ’t ware groots, volgt de Roomsche zwier van Rafael en Angelo, en houd staende, dat der dingen defticheit door ’t uitbeelden der geringen lijdingen gekreukt wort: dat de Schilderkonst in top is, daerze alleen op heldachtige deugden acht geeft: dat het bedwang der lichten en schaduwen een brosse kruk is: en onrecht datmen, om het eene te verschoonen, het andere verduistere.“46 Van Hoogstraten betont in der unmittelbar folgenden Zeile, dass jeder Künstler frei sei, seinem Weg zu folgen.47 Wie noch zu zeigen sein wird, steht dies auch mit seiner Biografie als ehemaliger Schüler Rembrandts im Einklang, der sich von diesem distanziert hat. Hier finden wir schon den stärkeren Unterschied und die Opposition der zwei Manieren, der feinen und der groben, angedeutet. Dieser Gegensatz, der bezüglich der unterschiedlichen Handelinge herausgestellt wird, zeichnet sich ebenfalls im Leben des Feinmalers Karel de Moor (1655–1738) aus Leiden ab, der, vor allem in seiner Leidener Zeit, die Tradition in der Porträtmalerei Abraham van den Tempels aber auch Godefridus Schalckens fortsetzt und damit dem dritten Typen eines Künstlers bei van Hoogstraten folgt, nämlich dem fein gelehrten Maler. Carel de Moor steht, nach den Worten Jacob Campo Weyermans, Arent de Gelder gegenüber. Houbraken zufolge ist de Gelder wie kein anderer der schon aus der Mode gekommenen Malerei Rembrandts gefolgt.48 Folgende Passage, die Weyerman beschreibt, ist 46

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Van Hoogstraten: Inleyding tot de hooge schoole der Schilderkonst, S. 175 f. Übersetzung in: van de Wetering: Towards a Reconstruction of Rembrandt’s Art Theory, S. 59: „Whatever subject he is dealing with, he enjoys making this appear marvell­ ously attractive as though he found more pleasing in displaying an assortment of things together than [concentrating on] the [narrative and compositional] whole [this type of artist exhausts himself], whether in lively moments, tronies, décor or ornament. […] But the third type [of artist] esteems only a straightforward representation, freely organized [without forced ordonance], and pretends to boast of true splendour, following the Roman gracefulness of Raphael and Michelangelo, and maintaining that the dignity [of the painting] is disrupted by the depiction of minor emotions: they consider that the highest form of painting deals only with heroic virtues; and that the deliberate manipulation of light and shadow is a feeble device, improperly [used] to heighten the beauty of the one by obscuring the other.“ Siehe dazu auch Kapitel II, S. 125. Van Hoogstraten: Inleyding tot de hooge schoole der Schilderkonst, S. 176. Houbraken: De Groote Schouburgh der Nederlantsche konstschilders en schilderessen (S. 206) erwähnt, wie de Gelder nach Amsterdam zu Rembrandt ging:

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I. Das Handeling der Rembrandtisten

von der de Gelder-Forschung noch nicht rezipiert worden: „Echter stremde die keurlyke behandeling geenzins de vrymoedige toetsen van zyn Konstpenseel, zo op de verheevenste lichten, als in de uiterste diepsels, welke behandeling het oog op eene aangenaamer wyze kittelt, als de al te stoute toetsen van Rembrant van Ryn, Arnould de Gelder, en diergelyke ruuwe Konst­schilders.“49 Es überrascht wenig, dass Weyerman beide Formen von Handeling gegenüberstellt, da er bekanntlich auch die Malerei Schalckens kritisiert hat; de Moor hat auch bei Schalcken gelernt, wie Houbraken berichtet. Im Gegensatz zu de Gelders Farbauftrag wird der von Schalcken mit einem flachen Fastnachtspfannkuchen verglichen.50 Bei der Gegenüberstellung von de Moor und de Gelder wird das Argument ins Gegenteil verkehrt: Die Feinmalerei „kitzelt“ auf „angenehme Weise“ („aangenaamer wyze kittelt“) (de Moor), im Gegensatz zu den „ungezogenen Hieben“ („stoute toetsen“) Rembrandts, de Gelders und anderer rauer Maler. Dass die Passage 1729 geschrieben wurde, weist außerdem darauf hin, dass de Gelder und die Spätrembrandtisten keine Ausnahme in Holland waren, sondern, wenn auch in geringerer Zahl, zu den Protagonisten einer bestimmten Auffassung des Handeling zählten. Sie bewegten sich innerhalb gewisser Kreise von Kunstliebhabern, die dieser Manier immer noch positiv gegenüberstanden. Es ist jedoch nicht mehr die Zeit, in der, wie Houbraken erwähnt, Maler wie Govert Flinck zu Rembrandt gingen, um sein in diesen Jahren modisches Handeling zu lernen: „Maar alzoo te dier tyd de handeling van Rembrant in ’t algemeen geprezen wierd, zoo dat alles op die leest moest geschoeit wezen, zou het de Waereld behagen; vond hy [Govert Flinck] zig geraden een jaar bij Rembrandt te gaan leeren; ten einde hy zig die behandeling der verwen en wyze van schilderen gewende, welke hy in dien korten tyd zoodanig heeft weten na te bootsen dat verscheiden van zyne strukken voor egte penceelwerken van Rembrant

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„[…] naar Amsterdam vertrok om Rembrandts wyze van schilderen te leeren, ’t geen hem zoodanig toeviel en gelukte, dat ik tot zynen roem zeggen moet dat geen van alle hem zoo na gekomen is in die wyze van schilderen [Handeling, Anm. d. V.].“ Jacob Campo Weyerman: De levens-beschryvingen der Nederlandsche konst-schilders en konst-schilderessen, Band 4, S. 24. „Allerdings behinderte die feine Behandlung keineswegs die freimütigen Striche seiner Pinselführung, sowohl bei den meist erhabenen Lichtern als auch in den äußersten Tiefen, welche Behandlung das Auge in einer angenehmen Weise kitzelt, wie die allzu kühnen Striche von Rembrandt van Ryn, Arnould de Gelder und dergleichen rauen Maler.“ Übersetzung von Herman Roodenburg. Kurz davor behauptet Weyerman (S. 22): „Het koloriet van Karel de Moor is verwonderlyk […] [is] minder kragtig [kräftig] geweest als Titiaan […] en als Rembrant van Ryn […].“ Vgl. das Kapitel III, S. 162 ff.

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Handeling: Annäherung an einen Begriff

wierden aangezien en verkogt.“51 Als de Gelder die Mode des Rembrandt’schen Handeling für sich in Anspruch nahm, galt diese schon als überholt. Nicht zufälligerweise wird das zitierte Beispiel Flincks bereits in der Vita des Dordrechter Malers erwähnt: „De Konst van Rembrant had als wat nieuws in haar tyd een algemeene goedkeuring; zoo dat de konstoeffenaren (wilden zy hunne werken gangbaar doen zyn) genootzaakt waren zig aan die wyze van schilderen te gewennen; al hadden zy zelf eene veel prysselyker behandelinge. Waarom ook Govert Flink (gelyk wy in zyne levensbeschryving hebben aangemerkt) en anderen meer, zig tot de school van Rembrandt begaven.“52 Die manierlose Manier blieb ein unerfüllbarer Wunsch. De Gelders Entscheidung für die Rembrandt’sche Malweise ist zugleich eine Parteinahme für etwas Vergangenes, das auf einer Konzeption des Handeling basiert, die von den Zeitgenossen als altmodisch betrachtet wurde in einer Zeit, in der andere ehemalige Schüler sich schon dem neuen, modischen Handeling französischer Prägung, der feinen Manier, verschrieben hatten.53

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Houbraken: De Groote Schouburgh der Nederlantsche konstschilders en schilderessen, Band 2, S. 20 f. Vgl. Alfred von Wurzbach: Arnold Houbraken’s Grosse Schouburgh der niederländischen Maler und Malerinnen, Osnabrück ²1970, S. 171: „Da aber zu jener Zeit Rembrant’s Manier allgemein gelobt wurde und Alles in dieser Art gemacht sein musste, damit es der Welt gefalle, fand er es angezeigt, für ein Jahr zu Rembrant lernen zu gehen, damit er sich dessen Behandlung der Farben und Malweise angewöhne, welche er in dieser kurzen Zeit so gut nachzuahmen verstand, dass mehrere seiner Arbeiten für echte Werke Rembrant’s angesehen und verkauft wurden.“ Houbraken: De Groote Schouburgh der Nederlantsche konstschilders en schilderessen, Band 3, S. 206. Vgl. Wurzbach: Arnold Houbraken’s Grosse Schouburgh der niederländischen Maler und Malerinnen, S. 369: „Die Werke Rembrant’s fanden als etwas Neues ihrer Zeit einen allgemeinen Beifall, so dass die Künstler, wenn sie ihre Arbeiten gesucht sehen wollten, genöthigt waren, sich an diese Manier zu halten, auch dann, wenn sie selbst eine weit bessere hatten. Deshalb gingen Govaert Flinck und andere in Rembrandt’s Schule.“ Zwei weitere Künstler werden von Houbraken als Rembrandtschüler benannt, die ihr ganzes Leben lang nach dessen Manier gemalt haben: Franz Wulfhagen (Band 1, S. 273: „Frans Wulfhagen geboren te Bremen, heeft de behandeling van zynen meester met veel roem weten na te bootsen, en zig ook daar aan tot het einde van zyn leven gehouden“) und Gerbrand van den Eeckhout (Band 2, S. 100: „Hy was een leerling van Rembrant van Ryn, en bleef tot het einde van zyn leven by de zelve wyze van schilderen, welke hy van zyn meester geleerd had“). Anders als Wulfhagen, der heute nicht rembrandtistisch anmutet, weil er fein malt, ist van den Eeckhout, der von Houbraken als einer der besten Schüler Rembrandts gerühmt wird, ein viel komplizierterer Fall: „A versatile artist, Eeckhout not only treated different kinds of subject matter […] but also, throughout his career, worked in several styles simultaneously.“ Vgl. Laurinda S. Dixon/Petra ten-Doesschate Chu: An Iconographical Riddle: Gerbrand van den Eeckhout’s Royal Repast in the Liechtenstein Princely Collections, in: The Art Bulletin, 71/4 (1989), S. 610.

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I. Das Handeling der Rembrandtisten

Bild 3  Arent de Gelder: Porträt des Johan van der Burgh, signiert, 1702, Öl auf Leinwand, 68 × 59 cm, Museum Mr. Simon van Gijn, Dordrecht.

For ma le D iver sit ät Die Bildnisse des Ehepaares van Blijenburgh-van der Burgh (Bild 3 und Bild 4) sind mit der gekratzten Signatur Arent de Gelders versehen, die, mit der Griffelspitze des Pinsels in die nasse Farbe eingeritzt, buchstäblich und metaphorisch die Identität des Künstlers beglaubigt. Die beiden Bilder sind auf 1702 datiert, haben dasselbe Format, sind jeweils oben rechts bzw. links mit den Familienwappen versehen und nehmen in der für Ehepaarbildnisse klassischen Weise aufeinander Bezug: Der Mann erscheint links auf der genealogisch wichtigeren, vom Bild aus gesehen rechten Seite seiner Frau, die ihm zugewandt ist.54 Der eine Perücke tragende van der Burgh (Bild 3) fixiert den Betrachter mit seinem Blick. Während er seine geschlossene linke Hand auf eine Fläche 54

Vgl. Berthold Hinz: Studien zur Geschichte der Ehepaarbildnisse, in: Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft, 19 (1974), S. 139–218.

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Formale Diversität

Bild 4  Arent de Gelder: Porträt der Charlotte Elisabeth van Blijenburgh, signiert, 1702, Öl auf Leinwand, 68 × 59 cm, Museum Mr. Simon van Gijn, Dordrecht.

stützt, stemmt er die rechte im schattierten Bereich in die Hüfte. Sein Gesicht wird von links oben beleuchtet, sodass der untere Teil im Schatten liegt. Auch die Frau (Bild 4) blickt den Betrachter an. Sie lässt ihre rechte Hand auf einer Balustrade ruhen und hält mit der linken einen grauen Schal vor der Brust zusammen. Zu ihrer linken Seite ist ein brauner Stoff erkennbar, der farbig im Einklang mit ihrem rötlich braunen Gewand steht. Die linke Schulter ist durch den Lichteinfall und die Position der Frau im Raum hervorgehoben, während die rechte, wie bei ihrem Mann (nur spiegelverkehrt), anatomisch nicht korrekt wiedergegeben ist und mit dem Hintergrund verschmilzt. Die linke Schulter formt sich durch einen pastosen Farbauftrag (dunkles Senfgelb, ein Farbton, der eher für eine Palette des 18. Jahrhunderts spricht), der am Ende des Werkprozesses erfolgt sein mag. Dadurch entsteht ein warmer, farbiger Kontrast. Halskette und Ohrring der Frau werden durch weiße Punkte gebildet, die als Ganzes erst ab einem gewissen Abstand des Betrachters zum Bild richtig

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I. Das Handeling der Rembrandtisten

erfasst werden können. Der Ring an ihrer rechten Hand, der aus gekratzten Linien besteht, ist ebenfalls erst aus der Distanz erkennbar (Bild 180). Im Bereich des Daumens ist die Farbe möglicherweise mit den Fingern aufgetragen worden. Andere Partien sind lasierend gemalt und die Grundfarbe darunter wird sichtbar, beispielsweise im Bereich des Schals auf dem linken Arm. Die Malweise bildet viele Schattierungen, wie zum Beispiel innerhalb der gesamten rechten Hälfte des Körpers. Angesichts des lockigen Haares und der dunklen, faltigen Haut kann von einer Idealisierung der weiblichen Figur nicht die Rede sein. Die Figur offenbart durch ihren Gesichtsausdruck einen starken und entschlossenen Charakter. Die beiden Porträts haben eine ähnliche formale Erscheinung, jedoch finden sich beim Bildnis der Frau weniger sichtbare Pinselstriche als beim Gemälde des Mannes, in dem mehr Kratzer festzustellen sind. Ein zeitnahes Bild aus der Eremitage wurde als Selbstporträt des Malers, aber auch als Bildnis des Sammlers und Freundes de Gelders, Jacob Moelaert, gedeutet (Bild 5).55 Mit verklebtem, langem Haar und den Anzeichen eines sprießenden Bartes macht der Dargestellte einen ungepflegten Eindruck. Er hält ein Blatt mit einer Radierung in den Händen, lehnt sich an einen mit einem kostbaren Teppich bedeckten Tisch, der die typischen de Gelder’schen Muster aufweist, und wendet sich dem Betrachter zu. Sein Mund ist leicht geöffnet, so als spräche er den Betrachter direkt an. Eine Hälfte seines Gesichtes ist verschattet. Der Hut, der auf dem Tisch liegt, scheint fast aus der Leinwand herauszuragen. Die Krempe ist viel zu breit, doch fügt sie sich durch ihre bildfüllende Größe gut in die Komposition ein. Von der Schulter des Mannes fällt der mit Knöpfen besetzte, olivgrüne Mantel herab. Sein Kopf wendet sich über die Schulter, während sein Körper im strengen, statuarischen Profil verharrt, was durch die Andeutung der weißen Spitze an der Brust unterstrichen wird. Die üppigen Falten des braunen Mantels scheinen direkt auf das Blatt mit der Grafik überzugehen. Der Schatten des Mannes fällt auf den Tisch. Anatomische Genauigkeit war offensichtlich kein verpflichtendes Ziel für den Maler, wie an der linken Hand erkennbar ist, die vollkommen im Dunkeln bleibt. Bei näherer Betrachtung stellt sich der Stich in den Händen der Figur als Rembrandts berühmtes Hundertguldenblatt heraus, das auf das Jahr 1649 datiert wird. Sowohl die Haltung des Dargestellten als auch die Komposition des Bildes erinnern an Rembrandt und seine Porträts und Selbstporträts der 1630er und 1640er Jahre. Gleichzeitig ist die farbige Signatur de Gelders unverwechselbar. So wird innerbildlich zwar auf verschiedene formale Eigenschaften Rembrandts verwiesen, das Bekenntnis zum Meister und damit der Chiaroscuro55

John Anthony Loughman: Porträt eines Sammlers, in: Ausst. Kat.: Arent de Gelder [1645–1727]. Rembrandts Meisterschüler und Nachfolger, hg. v. Dordrechts Museum/Wallraf-Richartz-Museum, Gent 1998, S. 220. Das Bild wird auf 1700 datiert.

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Formale Diversität

Bild 5  Arent de Gelder: Porträt eines Mannes, Reste einer Signatur, um 1700/5, Öl auf Leinwand, 80,3 × 65,5 cm, Eremitage, St. Petersburg.

Malerei ist markiert, jedoch keinesfalls in blinder Verehrung, sondern als selbstverständliche Fortsetzung der Tradition des Helldunkels. Die Bilder des Ehepaares van Blijenburgh-van der Burgh und des Mannes aus der Eremitage unterscheiden sich trotz ihrer zeitlichen Nähe voneinander; bei allen dreien ist die Künstlersignatur aber sofort erkennbar. Die vorherrschende Farbe im Eremitage-Porträt ist Olivgrün und der Farbauftrag einheitlicher und gedämpfter im Vergleich zu den Ehepaarbildern, was sich durch die wenigen sichtbar aufgetragenen Pinselstriche zeigt. Während Teile der Bildnisse des Ehepaares aus gekratzten Linien bestehen, wird beim Porträt des Mannes auf das Kratzen verzichtet.56 Im Bereich der Schulter setzen sich einige Pinselstriche deutlich ab. Sie sind jedoch sparsam dosiert und nur um der Kontraste willen 56

Diesen Eindruck vermitteln die Reproduktionen des Bildes. Leider war es dem Verfasser nicht möglich, das Original in St. Petersburg zu betrachten.

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I. Das Handeling der Rembrandtisten

Bild 6  Arent de Gelder: Porträt eines Mannes in seinem Studierzimmer, signiert, 1680, Öl auf Holz, 53 × 43,5 cm, Museum Mr. van Gijn, Dordrecht.

aufgetragen. Der Hut, der aus recht kontrollierten Pinselstrichen besteht, weist eine gelbe Farbigkeit auf. Der Hauptunterschied in der Malweise kann zunächst mit den Stichworten Spontaneität (Dordrecht) versus Einheitlichkeit (Eremitage) beschrieben werden. Die formale Diversität lässt sich jedoch nicht nur beim Vergleich verschiedener, zeitnaher Gemälde des Künstlers beobachten, sondern findet sich auch innerhalb ein und desselben Bildes. Wenn zum Beispiel das auf 1680 signierte Porträt eines Mannes in seinem Studierzimmer herangezogen wird (Bild 6), so ist zu erkennen, dass die Farbe in einigen Partien dünner und in anderen dicker aufgetragen ist.57 Im Innenteil des Japonsche Rock wirken die opaken Pinselstriche, als wollten sie Autonomie von ihrer Darstellungspflicht erkämpfen

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Chris de Bruyn und Sander Paarlberg haben den Zugang zu diesem Bild im Museum Mr. Simon van Gijn in Dordrecht ermöglicht. Beiden sei herzlich dafür gedankt.

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Formale Diversität

Bild 7  Detail aus Bild 6.

(Bild 7).58 Sie sind wohl am Ende des Werkprozesses aufgetragen und bilden so die Farbsignatur des Malers. Auch bei der weißen Spitze hat de Gelder mehr Farbe an den Seiten appliziert und weniger in der Mitte. Es sind verschiedene Grade der Bearbeitung zu sehen, wobei die feine die grobe Malweise quantitativ übertrifft. Die Bildoberfläche schwankt zwischen Transparenz und Opazität, zwischen Offenheit und Geschlossenheit, die Natürlichkeit und Künstlichkeit miteinschließt.

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Siehe Yannis Hadjinicolaou: Malen, Kratzen, Modellieren. Arent de Gelders Farbauftrag zwischen Innovation und Tradition, in: Markus Rath/Jörg Trempler/Iris Wenderholm (Hg.): Das haptische Bild. Körperhafte Bilderfahrung in der Neuzeit, Berlin 2013, S. 243.

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I. Das Handeling der Rembrandtisten

Zunächst lässt sich dies kunsttheoretisch erklären. Samuel van Hoogstraten zum Beispiel nimmt eine praktische Einstellung gegenüber den Unterschieden des Handeling innerhalb eines Gemäldes ein: „Nu zoo moetmen ook zijn handeling voornamentlijk veranderen na de plaets, daer het werk te staen heeft: want het zal u wel dapper berouwen, wanneerge in ’t schilderen van een stuk, dat hoog uit de hand zal hangen, en van verre moet gezien worden, veel tijts met kleinicheden verquist hebt. Neem dan vry borstels, die een hand vullen, en laet yder streek ’er een zijn, en de verwen op veel plaetsen byna onvermengt leggen; want de hoogte en de dikheit der lucht zal veel dingen smeltende vertoonen, die by zich zelven steekende zijn […].“59 Alles sei, um der Lebendigkeit und Natürlichkeit willen, seiner Natur und seinem Material nach in adäquater Weise wiederzugeben, wie im vorigen Abschnitt herausgestellt. Die naturgemäße Verschiedenheit der Dinge muss durch unterschiedliches Handeling ihre Entsprechung finden: „Zoo zal de hand en ’t penseel het oog onderdanich worden, om manierlijk de verscheydenheyt der dingen, elk nae zijn aert, op ’t zwierichst uit te beelden.“60 Über die Funktion und Hängung hinaus spricht van Hoogstraten aber auch über das unterschiedliche Handeling innerhalb eines Gemäldes: „[…] datmen zich tot een wakkere pinseelstreek gewoon maeken, die de plaetsen, die van andere iets verschillen, dapperlijk aenwijze, gevende de teykening zijn behoorlijke toedrukkingen, en de koloreeringen, daer ’t lijden kan, een speelende zwaddering […]“,61 einen Effekt, den er wohl durch Rembrandt gelernt hat. Diese Arbeitsweise scheint van Hoogstraten zum eigenen Prinzip gemacht zu haben, denn sein Schüler Houbraken erwähnt die Versatilität des

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Van Hoogstraten: Inleyding tot de hooge schoole der Schilderkonst, S. 235. Vgl. van de Wetering: Towards a Reconstruction of Rembrandt’s Art Theory, S. 117: „One should also adapt his brushwork [handeling] according to the place where the work has to stand: for you will assuredly regret it if, in painting a piece that has to hang high up, and has to be seen from a distance, you have wasted much time on small things. Don’t hesitate then to take brushes that fill a hand, and let every stroke [of the brush] stand on its own, and [let] the colours remain in many places almost unmixed; for the height and the thickness of the air will show many things merged together which should [seen closer] stand out separately […].“ Van Hoogstraten: Inleyding tot de hooge schoole der Schilderkonst, S. 234 f. Van de Wetering: Towards a Reconstruction of Rembrandt’s Art Theory, S. 123: „Thus in order to depict most freely and gracefully the diversity of things in a mannerly fashion, each according to its own nature the hand and the brush must be subservient to the eye […].“ Van Hoogstraten: Inleyding tot de hooge schoole der Schilderkonst, S. 233. Van de Wetering: Towards a Reconstruction of Rembrandt’s Art Theory, S. 123: „[…] one should become accustomed to a brisk brushwork, which indicates distinctively those passages that differ in some way from other passages [in the painting], giving them their proper character and where appropriate a playful liveliness.“

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Formale Diversität

Lehrers.62 Die formale Diversität im Handeling de Gelders wurde in seiner sonst konstanten Rezeption als treuester Rembrandtschüler nur selten beobachtet.63 Obwohl er ihn zuvor für sein übertriebenes Handeling kritisiert hatte (er verwendet das Wort mannerisms), lobte John van Dyke de Gelder für seine variety im Verhältnis zu den anderen Schülern: „He is easily distinguished from the other Rembrandt followers by his mannerisms, but he is nevertheless a painter of accomplishment and of variety. He does not repeat himself like Bol or Flinck.“64 Die historischen Bedingungen im sozialen und ökonomischen Milieu von Dordrecht, der Stadt, in der de Gelder beinahe sein gesamtes Leben – abgesehen von den Jahren in Amsterdam bei Rembrandt – verbracht hat, und die ent­­sprechende Berücksichtigung seiner sozialen Position sowie die der Auftraggeber bieten die Möglichkeit, die Basis, unter der sich die Polyfokalität der künstlerischen Mittel entfalten konnte, zu untersuchen. Dordrecht war seit dem 13. Jahrhundert ein äußerst wichtiges ökonomisches Zentrum. Dank seines Hafens, der an der Mündung der Flüsse Maas, Merwe und Waal liegt, erblühten besonders der Weinhandel, der Holzhandel und der Fischfang.65 Wegen der Expansion Amsterdams sowie der Übernahme

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Van de Wetering: Towards a Reconstruction of Rembrandt’s Art Theory, S. 123. Ähnliche Beobachtungen in Bezug auf die vielfältige Formsprache van Hoogstratens finden sich sowohl im Band über die Geschichte Dordrechts (Willem Frijhoff/ Hubert Nusteling/Marijk Spies (Hg.): Geschiedenis van Dordrecht van 1572 tot 1813, Hilversum 1998, S.  390), als auch in dem letzten Sammelband über den Künstler als ein zentrales Phänomen, dem eine Ausstellung gewidmet werden sollte (Thijs Weststeijn: Preface. Approaches to a Multifaceted Master, in: ders. (Hg.): The Universal Art of Samuel van Hoogstraten (1627–1678). Painter, Writer, and Courtier, Amsterdam 2013, S. 10). Auf lakonische Weise merkte David de Witt die differenzierte Malweise des Künstlers an: „De Gelder may have adhered to Rembrandt in some aspects, but not in all things. He had a different sensibility, and varied his approach from painting to painting, but this escaped Houbraken.“ David de Witt: Aert de Gelder, Jan Steen and Houbrakens Perfect Picture, in: Akira Kofuku (Hg.): Rembrandt and Dutch History Painting in the 17th Century, Tokyo 2003, S. 86. John van Dyke: Rembrandt and his School. A Critical Study of the Master and His Pupils with a New Assignment of their Pictures, New York 1923, S. 89. Van Dyke macht auch die wunderbare Beobachtung, dass die Reproduktionen nicht hinreichend sind, um das besondere Handeling zu zeigen (S. 90): „De Gelder is to be traced less by his types than by his colour and his handling, of which the photograph gives little or no hint.“ Dass dieses Prinzip schon früher anzusiedeln ist, bestätigt Valeska von Rosen, wenn sie bei Tizian, dem großen Vorbild der Rembrandtisten, die formale Diversität anspricht. Valeska von Rosen: Mimesis und Selbstbezüglichkeit in Werken Tizians. Studien zum venezianischen Malereidiskurs, Emsdetten u. a. 2001, S. 334. John Anthony Loughman: Paintings in the Public and Private Domain. Collecting and Patronage at Dordrecht 1620–1749, unpublizierte Dissertation, London 1993, S. 22.

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I. Das Handeling der Rembrandtisten

des Haupthafens durch Rotterdam erlebte die Stadt, vor allem seit etwa 1620, einen ökonomischen Niedergang, der im 18. Jahrhundert seinen Tiefpunkt erreichte.66 Da die Stadt als älteste der nördlichen Niederlande sowohl das Recht auf eine Münzanstalt sowie auf die Wahl des Raadspensionaris (Staatssekretär von Holland und Zeeland) besaß, war die Bevölkerung von einer lokalpatrio­ tischen Gesinnung und einer Inselmentalität geprägt.67 Dordrecht blieb eine Provinzstadt und erreichte nie den kosmopolitischen Charakter Amsterdams, Rotterdams oder Den Haags.68 Das zeigte sich auch am Festhalten an der Gildenorganisation, die eine besondere politische Rolle spielte, zum Beispiel bei der Ernennung des Rates der Acht.69 Es ist bezeichnend, dass die Regentenklasse nicht spekulierte, sondern von ihrem alten Kapital lebte, was eine vorsichtigere Investitionspolitik mit sich brachte.70 Der Einfluss der Dordrechter Kunst beschränkte sich auf den lokalen Bereich. Ein Charakteristikum der Malerei war die Fixierung auf Rembrandt als Vorbild, was die holländische Kunst überhaupt kennzeichnet und bisher unterschiedlich interpretiert wurde.71 Wenn die Maler finanziell abgesichert sein wollten, mussten sie in die größeren Finanzzentren der Niederlande wie Amsterdam ziehen, wie es zum Beispiel Nicolaes Maes getan hat. Bedeutende Künstler Dordrechts wie Ferdinand Bol, Samuel van Hoogstraten, Arent de Gelder oder Nicolaes Maes, Jacobus Leveck und Benjamin Cuyp folgten der Rembrandt’schen Manier.72 Aus welchem Grund griffen sie mit 66 67 68 69

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Ebd., S. 23–27. Ebd., S. 21. Ebd., S. 21 und S. 26. Ders.: Een stad en haar kunstconsumptie. Openbare en prive-verzamelingen in Dordrecht, 1620–1719, in: Ausst. Kat.: De Zichtbaere Werelt. Schilderkunst uit de Gouden Eeuw in Hollands oudste stad, hg. v. Peter Schoon, Zwolle 1992, S. 36. Alan Chong: Arent de Gelder and the Art Scene in Dordrecht, in: Joachim von Moltke: Arent de Gelder: Dordrecht 1647–1727, Dornspijk 1994, S. 10. Huizinga (Johan Huizinga: Holländische Kultur im 17. Jahrhundert, München 2007 [1941]), hat sich für eine nationale holländische Schule eingesetzt. Auf diese Idee reagierend plädierte Haak (Bob Haak: Das Goldene Zeitalter der holländischen Malerei, Köln 1984) für das Vorhandensein von lokalen Schulen und diese Idee hält sich bis heute (Wayne Franits: Dutch Seventeenth-Century Painting, New Haven/ London ²2008). Eric Jan Sluijter und Marten Jan Bok machen die Resonanz von Künstlerpersönlichkeiten wie zum Beispiel Rembrandt dafür verantwortlich, dass die lokalen Schulen und deren Grenzen keine ausschlaggebende Rolle spielten. Dies würde nicht heißen, dass eine lokale Kunstschule keine Charakteristika hatte, wie die Leidener fijnschilderkunst, die mit den vorherrschenden Vorlieben und Bedürfnissen in jener Stadt zu tun gehabt haben mag. Vgl. Ausst. Kat.: De Zichtbaere Werelt; Loughman: Paintings in the Public and Private Domain, S. 31. Alan Chong/Marjorie E. Wieseman: De figuurschilderkunst in Dordrecht, in: Ausst. Kat.: De Zichtbaere Werelt, S. 13 u. S. 20; Loughman: Paintings in the Public and Private Domain, S. 32; John Anthony Loughman: Arent de Gelder und Dord­ recht, in: Ausst. Kat.: Arent de Gelder [1645–1727], S. 43.

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Formale Diversität

unterschiedlichen Ausprägungen die Malideologie Rembrandts auf? Könnte es sich um eine lokale Vorliebe handeln? Lag es daran, dass die Dordrechter als traditionsbewusste Holländer Rembrandt als den Künstler sahen, der den entsprechenden Idealen am besten malerisch Ausdruck verlieh und den „mittleren Weg“ verkörperte, den der „bürgerlichen“ Kunst, wie es de Lairesse im 18. Jahrhundert ausgedrückt hat? Zugleich muss betont werden, dass es eine andere Entscheidung war, sich an einem Rembrandt der 1640er Jahre zu orientieren als an einem der 1660er Jahre. In den 1640ern war Rembrandts Handeling erfolgreich, wovon auch Houbrakens Erzählung über Flinck handelt, während die allgemeine Beliebtheit des Malers zwei Dekaden später abgeflaut war. Wie das Beispiel de Gelders zeigt, stellte also das Aufgreifen von Rembrandts Handeling eine prinzipielle, ja ideologische Entscheidung dar, was Houbraken in Arents Vita einräumte.73 Das Verhältnis de Gelders zu seinen Auftraggebern, bei denen es sich oft um Freunde handelte, muss berücksichtigt werden, um die Sonderstellung des Künstlers in jener Zeit zu verdeutlichen und die Hypothese zu stützen, dass die Malerei – und in de Gelders Fall besonders die Porträts – eher aus sozialen als aus ökonomischen Gründen entstand. Das gehobene Bürgertum Dordrechts stand zum Teil den Moden der neureichen Eliten anderer Städte (Klassizismus und Französisierung) reserviert gegenüber. So schien es konsequent, Maler wie de Gelder zu unterstützen, die in den Augen der Dordrechter an der RembrandtTradition festhielten und sie fortsetzten. Nur von wenigen Sammlern ist dokumentarisch belegt, dass sie Werke de Gelders besaßen. Simon van Vugt, der ein Werk des Künstlers zu seiner Sammlung zählen konnte, besaß unter anderem auch ein Gemälde Gerbrand van den Eeckhouts und bekräftigt damit die vorhandene Vorliebe für Rembrandt’sche Künstler in Dordrecht.74 Die Orientierung an Dordrechter Malern, sogar an längst verstorbenen, offenbart den schon dargelegten Konservatismus und Lokalpatriotismus der Dordrechter Sammler und ihre Vorliebe für die traditionelle holländische Kunst, die damalige klassische Moderne. Auch die Inventare bestätigen den traditionell orientierten Geschmack der Sammler.75 Es ist daher kein Zufall, dass der erfolgreichste Maler Dordrechts zwischen 1680 und 1719 Aelbert Cuyp war, der 1691 starb.76

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Houbraken: De Groote Schouburgh der Nederlantsche konstschilders en schilderessen, Band 3, S. 206. Loughman: Arent de Gelder und Dordrecht, S. 43. Ders.: Aert Teggers, a Seventeenth Century Dordrecht Collector, in: The Burlington Magazine, 133 (1991), S. 532–537; Loughman: Paintings in the Public and Private Domain, S. 298–305. Loughman: Paintings in the Public and Private Domain, S. 298–305.

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I. Das Handeling der Rembrandtisten

De Gelder war frei von finanziellen Sorgen. Sein Vermögen wurde anhand der von ihm bezahlten Steuern auf 10.000 bis 20.000 Gulden geschätzt. Der als wohlhabend geltende Schalcken verfügte über Geldmittel, die zwischen 1000– 4000 Gulden anzusiedeln waren, während ein durchschnittliches Künstlerkapital in Dordrecht unter 1000 Gulden lag.77 Arents Vermögen belief sich auf das Zehnfache. Bol hingegen hörte auf zu malen, als er nach seiner zweiten Hochzeit zu Reichtum gelangte. In den Quellen taucht de Gelder häufiger als de Heer oder Kapitän und weniger als Maler auf, was darauf hinweist, dass er An­sehen und Respekt genoss. So schildert Houbraken, dass er mehr Zeit im gesellschaftlichen Leben, in der Kirche und mit Freunden verbrachte, als sich der Malerei zu widmen.78 Diese Charakterisierung zeigt die nonchalante Art de Gelders, stilisiert durch seinen Freund, die gewiss als Folge seiner ökonomischen Un­­a­­b­hän­ gig­keit zu betrachten ist. Weyerman betont die „Schilderachtige“ („malerische“) Lebensweise de Gelders, was als Anspielung einmal auf sein Handeling und dann auch auf sein Dasein als Bohemien verstanden werden kann.79 Van Hoogstraten wird überzeugend als ein Künstler bezeichnet, dem es gelungen ist, vom künstlerischen Milieu in das Dordrechter Patriziat aufzusteigen.80 Ähnliches war bereits dem Vater de Gelders gelungen, der innerhalb der Hierarchie der Abteilung der Westindischen Kompanie aufstieg; folglich konnte auch sein Sohn durch Aufträge seine soziale Stellung festigen. Viele seiner bekannten Auftraggeber pflegten bereits soziale Beziehungen zu seinem Vater und der Familie, waren Nachbarn oder dienten in derselben Bürgerwehr. Anhand der Karte Dordrechts (Bild 8, datiert um 1645), die mit der Insignie einer der wichtigsten ökonomischen Triebkräfte der Stadt versehen ist, nämlich dem Wein, auf den die Putti hinweisen, wird deutlich, dass sich das gesamte Netzwerk de Gelders auf einige der vornehmsten Straßen (Voorstraat, Wijnstraat) des Stadtkerns (Gebiet rechts oben in der Karte) beschränkte. Die These, dass de Gelder allein aus Vergnügen für seine Freunde malte, scheint nur zur Hälfte richtig.81 Zwar werden mehrere Bilder in seinem Inventar 77 78

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Gabriel M. C. Pastoor: The Life of Arent de Gelder, in: von Moltke: Arent de Gelder, S. 6. Wurzbach: Arnold Houbraken’s Grosse Schouburgh der niederländischen Maler und Malerinnen, S. 370. Daher zweifelte Houbraken, ob de Gelder die Passionsserie vollenden würde. Weyerman: De levens-beschryvingen der Nederlandsche konst-schilders en konstschilderessen, Band 3, S. 44: „Arent de Gelder, die een Schilder in de ziel was en op schilderachtige manier leefde.“ Celeste Brusati: Artifice and Illusion. The Art and Writing of Samuel van Hoogstraten, Chicago 1995, S. XXII. Ausst. Kat.: Rembrandt/Not Rembrandt in The Metropolitan Museum of Art: Aspects of Connoisseurship, hg. v. Walter Liedtke/Carolyn Logan/Nadine M. Orenstein/Stephanie S. Dickey, Band 2, New York 1995, S. 31 f.

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Formale Diversität

Bild 8  Anonym: Karte von Dordrecht, 1640–1647, kolorierter Kupfer­­stich, Stadsarchief, Dordrecht.

als seine eigenen betrachtet, daraus kann aber nicht geschlossen werden, dass de Gelder Maler ausschließlich aus Leidenschaft war. Loughman zufolge werden in den Quellen viel mehr Bilder erwähnt als heute bekannt sind.82 Das bedeutet weder, dass de Gelder Kapital benötigte, noch dass er ein Amateur war, der nur aus Zeitvertreib malte. Er bewegte sich auf einer Zwischenstufe. Als Künstler konnte er aufgrund seiner ökonomischen Unabhängigkeit mit seiner Malerei experimentieren. Als Herr und Kapitän bewegte er sich in einem elitären Kreis in Dordrecht, als Gleicher gegenüber seinen Freunden und Auftraggebern, und stärkte offenbar durch die Kunst seine sozialen Beziehungen und somit seine gesellschaftliche Position. Ein sehr einflussreicher Freund de Gelders war der Amateurkünstler und Sammler Jacob Moelaert, der bei Maes gelernt hatte. Er hat de Gelder testamentarisch drei Alben mit Drucken und Zeichnungen hinterlassen, eines davon mit Rembrandt-Zeichnungen, was das gemeinsame Interesse und den Geschmack der beiden Männer bestätigt.83 Die zwei Freunde bewegten sich in einem ähn-

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Loughman: Arent de Gelder und Dordrecht, Anm. 9, S. 38: „Von Moltke listet über 300, zumeist Auktionskatalogen entnommene Verweise auf Gemälde de Gelders auf, die keinem der erhaltenen Werke des Künstlers zugeordnet werden können.“ Vgl. Von Moltke: Arent de Gelder, S. 119–168. Peter Schoon: Arent de Gelder (1645–1727), in: Ausst. Kat.: Arent de Gelder [1645– 1727], S. 16.

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I. Das Handeling der Rembrandtisten

Bild 9  Arent de Gelder: Ernst van de Beveren, signiert, 1685, Öl auf Leinwand, 128 × 105 cm, Rijksmuseum, Amsterdam.

lichen gesellschaftlichen Kreis, wie aus Dokumenten deutlich wird.84 Moelaert war der Inbegriff eines Kunstliebhabers: Er besaß eine eindrucksvolle Sammlung sowie eine große Bibliothek mit kunsttheoretischen Schriften, in der sich Werke wie das Schilderboek van Manders und das von de Lairesse ebenso fanden wie De Schilder-konst der Oude von Franciscus Junius und das Buch Inleyding Samuel van Hoogstratens, das wiederum ein besonderes Dokument darstellt, weil es vom ersten Lehrer de Gelders stammt.85 Nicht nur die Gespräche 84

85

Loughman: Arent de Gelder und Dordrecht, S. 42. Im Verfahren über die Zurechnungsfähigkeit des Goldschmiedes Anton von Vos wird deutlich, dass sowohl Moelaert als auch de Gelder zusammen mit anderen Freunden als Bürgen gehaftet haben. Pastoor: The Life of Arent de Gelder, S. 6 f. Vgl. das Inventar von Jacob Moelaert aus dem Archiv in Dordrecht: GAD, ONA 20 854, fol. 261–313, 4 August 1727. Original vom Verfasser zu Rate gezogen. Moelaert besaß Werke unter anderem von Callot, van Hoogstraten, Houbraken, Lairesse, Maes, van Mander, Mignard, Raffael, Rembrandt, Rigaud und Tizian. Vgl. Hans Jörg Czech: Im Geleit der Musen. Studien zu

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Formale Diversität

über Kunst und deren Praxis, sondern auch Moelaerts Sammlung müssen eine wichtige Inspirationsquelle für de Gelder gewesen sein, der selbst eine große Bibliothek besaß, wie aus seinem Inventar deutlich wird, das jedoch deren Inhalt nicht im Detail aufführt.86 Jedenfalls war er ein überaus belesener Maler. Mehrere bekannte Dordrechter Patrizier wurden von de Gelder porträtiert. Das signierte und auf 1685 datierte Porträt Ernst de Beverens (Bild 9) zeigt

Bild 10  Detail aus Bild 9.

den Dargestellten in einem Innenraum. Der aufrecht stehende Mann trägt langes Haar und schaut den Betrachter mit einer Mischung aus Freundlichkeit und Skepsis an. Er gestikuliert mit seiner rechten Hand, die die Grenze zum Betrachter zu durchdringen scheint, während die linke auf dem Tisch ruht. Diese Geste erinnert an die sogenannten sprechenden Bildnisse Rembrandts. Der Mund des hier Dargestellten bleibt jedoch geschlossen. De Beveren trägt einen üppigen, olivgrünen Mantel – der im Gemälde dominante Farbton – und darunter eine

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Samuel van Hoogstratens Malereitraktat Inleyding tot de hooge schoole der Schilderkonst. Anders de Zichtbaere Werelt (Rotterdam 1678), Münster 2002, S. 119 ff. Amy Golahny: Rembrandt’s reading. The artist’s bookshelf of ancient poetry and history, Amsterdam 2003, S. 216. Vgl. das Inventar Arent de Gelders, in: Von Moltke: Arent de Gelder, S. 203: „Boven op de middelkamer: bibliotheecq(u)e, bestaande in twee kasten en een klijndere, met boeken.“

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I. Das Handeling der Rembrandtisten

Tunika.87 Die Bekleidung, die sich besonders an den Ärmeln den Regeln der Schwerkraft zu entziehen scheint, wirkt opulent.88 De Beveren, Herr von West-Ijsselmonde und de Lindt, war der Spross eines alten Dordrechter Adelsgeschlechts, der es später bis zum Bürger- und Postmeister der Stadt brachte.89 Sein aus dem 16. Jahrhundert stammendes Kostüm stimmt nicht mit der Mode der Zeit überein, bekräftigt demnach das ästhetische Empfinden der herrschenden Klassen der Stadt und korrespondiert mit der als überholt betrachteten Malweise de Gelders. Der Hintergrund weist eine starke Affinität zur jüdischen Braut Rembrandts auf. Die Technik des Kratzens und der sichtbaren und wie willkürlich hingeworfen erscheinenden Pinsel­ striche offenbart eine Modernität, die in der Zeit de Gelders wohl eher als rembrandtesk, genauer: antiquiert angesehen wurde (Bild 10). Die Porträts Blijenburghs und van der Burghs (Bild 3 und Bild 4) befanden sich in der Ahnengalerie der Charlotte Elisabeth van Blijenburgh, Vrouwe van Naaldwijk, Vertreterin einer der ältesten und vornehmsten Familien Dordrechts. Ihr Mann, Johan van der Burgh, war Schöffe und Mitglied des Ältestenrates von Dordrecht.90 Die Ahnengalerie ist um 1650 von einem unbekannten Maler begonnen und von weiteren bekannten (wie aus dem Umkreis von Adriaen Hanneman) fortgesetzt worden, die konservative, aber auch idealisierende Porträts der Familie seriell anfertigten (Bild 11). Hanneman verwendete zum Beispiel feine Helldunkelkontraste und vergrößerte die Augen. Die Serie wurde fortgeführt bis zum letzten Auftrag, der an de Gelder ging, da Charlotte Elisabeth van Blijenburgh die letzte Nachfahrin der Familie war.91 Aufschlussreich ist, dass der erste unbekannte Maler der Serie den historischen Stil jeweils eklektisch adaptierte. Wahrscheinlich um die Vorfahren der Familie van Blijenburgh adäquat darzustellen, verweisen die ersten Porträts auf Lucas van Leyden. Die Wappen auf dem Ehepaarbildnis bekräftigen eine überholte und konservative Porträtnorm.92 Die Erklärung, dass de Gelder den Auftrag erhielt, weil sein „etwas altertümlicher Malstil sich gut an die anderen 87 88 89 90 91

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Marieke de Winkel: Porträt Ernst de Beverens, in: Ausst. Kat.: Arent de Gelder [1645–1727], S. 170. Ebd. Ebd. Marieke de Winkel: Johann van der Burgh/Charlotte Elisabeth van Blijenburgh, in: Ausst. Kat.: Arent de Gelder [1645–1727], S. 202. M. R. de Vrij: De portretten van de familie Van Blyenburgh in het Museum Mr. Simon van Gijn in Dordrecht, in: Holland: regionaal-historisch tijdschrift, 26 (1994), S. 113–124; John Anthony Loughman/John Michael Montias: Public and Private Spaces. Works of Art in Seventeenth-Century Dutch Houses, Zwolle 2000, S. 131. Loughman: Arent de Gelder und Dordrecht, S. 40; Loughman/Montias: Public and Private Spaces, S. 131.

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Formale Diversität

Bild 11  Adriaen Hanneman (Umkreis): Porträt der Levina de Vrieze, Öl auf Holz, 69 × 59 cm, Museum Mr. Simon van Gijn, Dordrecht.

Arbeiten der Ahnengalerie anschloß“,93 unterschlägt deren Historisierung auf anderen Ebenen. Die Kleider des Paares entsprechen keiner zeitgenössischen Mode und wirken somit altertümlich, obwohl der Mann einerseits mit seiner Perücke und andererseits dem Gewand aus dem 16. Jahrhundert eine moderne und eine alte Mode zugleich aufweist. De Gelder, der Rembrandtschüler, distanziert sich, zumindest in Bezug auf das Porträt der Frau (das eher an Goya erinnert), vom Vorbild seines Lehrers, obwohl seine Bilder in der ChiaroscuroTradition stehen und daher von seinen Zeitgenossen auch als rembrandtesk betrachtet wurden. Das Element des Privaten kennzeichnet viele Porträts. Einige der Bildnisse können begründet für Geschenke gehalten werden, als eine Bekräftigung

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De Winkel: Johann van der Burgh/Charlotte Elisabeth van Blijenburgh, S. 203.

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I. Das Handeling der Rembrandtisten

der sozialen Beziehungen.94 Wie die Selbstbildnisse Rembrandts, in denen ebenfalls eine gestalterische Diversität feststellbar ist, als Studien für einen bestimmten Kreis von Kunstliebhabern anzusehen sind, so können auch die Porträts de Gelders als Gegenstand einer ausgeprägten Experimentierlust betrachtet werden.95 Sie markieren im hochrangigen Kreis der Freunde des Malers Exklusivität und bestätigen die soziale Position und ökonomische Unabhängigkeit des Künstlers. Wie Plinius berichtet, arbeitete Zeuxis zum eigenen Vergnügen und gab seine Werke als Geschenke weiter, weil er sie für unschätzbar hielt.96 De Gelder stellt sich – wie später eingehend gezeigt wird – selbst als Zeuxis dar (Bild 30). Jedes Porträt des Künstlers ist als Einzelfall, Ausnahme und unkonventionelles Unterfangen zu bezeichnen. Die Werke stammen von ein und demselben Maler, dennoch ist ihre formale Diversität offensichtlich. Selbst das einzelne Porträt weist bewusst eingesetzte, unterschiedliche Malmodi auf, was umso erstaunlicher ist, wenn berücksichtigt wird, dass – wie bereits gesehen – Abraham Bosse noch in den 1640er Jahren „mannerless manner portraits“ forderte. De Gelder schafft innerhalb der Gattung des Porträts unterschiedlich „manierierte Manierporträts“ mithilfe seines diversen Handeling. Die Handhabung des Pinsels und die damit einhergehende Wirkung der Farbe können als indirekter Ausdruck der bereits skizzierten gesellschaftlichen und ökonomischen Stellung des Künstlers in Dordrecht angesehen werden. Was bedeutet aber das Aufgreifen unterschiedlicher Rembrandt’scher Prinzipien (sei es formaler oder motivischer Natur) zu unterschiedlichen Zeiten im Œuvre des Künstlers? Rembrandt verwendete selber alte Motive in neuen Kompositionen, um Neues zu schöpfen: „Der Zusammenhang von Frühwerk und Spätwerk ist auch darin zu sehen, dass Rembrandt nicht selten Themen des Frühwerkes aufgreift, von der damaligen Bildfindung ausgeht, sie in Grenzen aufbewahrt, man könnte sagen, dialektisch aufhebt, den Ausgangspunkt also braucht, um dennoch etwas Neues mit gänzlich gewandelter Ausdrucksdimension daraus zu machen.“97 Dies hatte de Gelder, abgesehen von den schon betrachteten Fällen, auch in seinem Bild Ecce Homo im Sinn, ohne jedoch ein

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Michael Zell: The Gift among Friends: Rembrandt’s Art in the Network of his Patronal and Social Relations, in: ders./Alan Chong (Hg.): Rethinking Rembrandt, Zwolle 2002, S. 181. Ernst van de Wetering: The Multiple Functions of Rembrandt’s Self Portraits, in: Ausst. Kat.: Rembrandt by himself, hg. v. ders./Edwin Buijsen/Christopher White, Zwolle 1999, S. 8–37. Zell: The Gift among Friends, S. 192. Werner Busch: Rembrandts späte Zeichnungen mit der Rohrfeder. Ein für die Veranschaulichung ungeeignetes Mittel?, in: Gyburg Radke Uhlmann/Arbogast Schmitt (Hg.): Anschaulichkeit in Kunst und Literatur. Wege bildlicher Visualisierung in der europäischen Geschichte, Berlin 2011, S. 279.

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Formale Diversität

Bild 12  Arent de Gelder: Ecce Homo, signiert, um 1715, Öl auf Leinwand, 84 × 102 cm, Suermondt-Ludwig-Museum, Aachen.

bloßes Kopieren des Verfahrens seines Meisters anzustreben (Bild 12).98 Vielmehr wollte er wie Rembrandt etwas Neues schaffen, ohne vom Alten Abstand zu nehmen; das bei Rembrandt Angelegte sollte nun radikalisiert werden. Das formale Aufgreifen des späten Rembrandt (Archaismus) und die gleichzeitige Pflege des motivischen Repertoires des Lehrers aus den 1630er und 40er Jahren – seiner erfolgreichsten Zeit – beruht auf den geschilderten Umständen der spezifischen Nachfrage in Dordrecht. De Gelder aktualisierte Rembrandt, als dieser aus der Mode gekommen war, und antwortete auf den modischen Klassizismus mit gleichzeitiger Beibehaltung seines charakteristischen Handeling. Arent war von dem altertümlichen Stil Rembrandts fasziniert und verwandelte ihn in eine aus heutiger Sicht avantgardistische Bildsprache. Je älter seine Formensprache war, desto moderner erscheint sie heute; vom 18. bis ins 20. Jahrhundert eigneten Künstler aus England und Deutschland sie sich produktiv an. Es ist bezeichnend, dass ein anderer Rembrandtist, nämlich Barent Fabritius, in diesem Zusammenhang treffend als ein Künstler beschrieben wurde, der den Archaismus zu einem gestalterischen Prinzip erhoben habe, wodurch er 98

Guus Sluiter: De fascinatie van Arent de Gelder voor Rembrandts etsen, in: Bulletin Dordrechts Museum, 3 (1998), S. 35–45.

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I. Das Handeling der Rembrandtisten

zugleich Originalität aufweisen konnte.99 Seine Formgebung sei außerdem experimentell gewesen,100 was eine weitere Parallele zu de Gelder darstellt. De Gelder ist keinesfalls ein bloßer Außenseiter, als der er oft in der Literatur stilisiert wird,101 der aufgrund seiner ökonomischen Unabhängigkeit um seiner selbst willen allein im abgelegenen Dordrecht gearbeitet habe. Er fand vielmehr seinen Ort in einem Kreis gleichgesinnter Kunstliebhaber, die ihrer eigenen Auffassung nach das Gegenstück zum vorherrschenden sozialen Gefälle bildeten, dessen Existenz das feine gesellschaftliche Dasein der Bürger zu unterstreichen schien. Seine Experimentierfreudigkeit war durch seine besondere ökonomische und gesellschaftliche Stellung möglich, aber die Entscheidung für diese Art von Handeling stand ihm zugleich frei und deshalb bildete er nach Weyermans bereits zitierten Worten das Gegenstück zu de Moor oder Schalcken. Die Länge seiner Vita, verfasst von seinem Freund Houbraken, dem mehr Informationen zur Verfügung standen als uns heute, spricht dennoch für seine Bedeutung in dieser für die Rembrandtisten schwierigen Zeit und seiner Herkunft aus einer geschützten Umgebung. In welcher Gestalt tritt die formale Diversität bei den anderen Spätrembrandtisten hervor? Lässt sie sich als ein eigenes Stilmittel nachweisen, da Rembrandts Bilder selbst eine Variabilität im Hinblick auf die Form aufwiesen? Christopher Paudiß, der bei Houbraken, welcher auf Sandrarts biografische Notiz Bezug nimmt, als Schüler Rembrandts erwähnt wird,102 hat mit de Gelder gemein, dass er einerseits Rembrandt bis zu seinem Tod 1666 stark verpflichtet blieb (allerdings nie im Sinne einer passiven Aufnahme der Rembrandt’schen Malideologie) und andererseits genauso differenziert in seinem   99 100 101

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Werner Sumowski: Barent Fabritius, in ders.: Gemälde der Rembrandt-Schüler, Band 3, Landau 1983, S. 911 f. Daniël Pont: Barent Fabritius. 1624–1673, Utrecht 1958, S. 100. Pont hat die einzige Werkmonografie über den Künstler verfasst. Siehe zum Beispiel: Ekkehard Mai (Hg.): Holland nach Rembrandt. Zur niederländischen Kunst zwischen 1670 und 1750, Köln/Weimar/Wien 2006; Ausst. Kat.: Vom Adel der Malerei. Holland um 1700, hg. v. Ekkehard Mai/Sander Paarlberg/ Gregor J. M. Weber, Dordrecht/Kassel/Köln 2006; Christopher Atkins: The Signature Style of Frans Hals. Painting, Subjectivity, and the Market in Early Modernity, Amsterdam 2012, Anm. 34, S. 270. Vgl. Frederik Schmidt-Degener: Rembrandt und der holländische Barock, Leipzig 1928, S. 41: „Der Kreis, in dem der späte Rembrandt Wohlwollen fand, war äußerst klein. Es war seine nächste Umgebung; Bürgersleute ohne Einfluß, wie de Dekker, oder Ausnahmen wie sein Schüler Aert de Gelder.“ Houbraken: De Groote Schouburgh der Nederlantsche konstschilders en schilderessen, Band 1, S. 273: „Onder de menigvuldige Leerlingen, die hy in de Konst heeft opgekweekt, worden ook deze volgende genoemt, die, om dat wy den tyd van hunnen geboorte niet weten, voeglykst staan agter hun meester geplaatst als PAUDIS, een Nedersakx (ook by Sandrart gemeld) die naderhand geschildert heeft by den Hertog Albert van Beijeren.“

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Formale Diversität

Handeling zu betrachten ist wie de Gelder.103 In der relativ mageren Forschung zum Künstler wird dies immer wieder betont, jedoch anhand von unterschiedlichen Formausprägungen. Es wird allerdings nie als Prinzip oder als etwas Gemeinsames mit anderen Rembrandtschülern angesehen. In einer Rezension der bisher einzigen monografischen Ausstellung zu Paudiß,104 die 2007 in Freising stattfand, wird darauf eingegangen, dass er „das in Amsterdam Gesehene und Erlernte gründlich in ein eigenes Idiom umzusetzen vermochte [und dass] man doch keinerlei unmittelbare RembrandtAnleihen in seinen späteren Werken nachweisen [kann]“105. Dem ersten Teil des Satzes ist zuzustimmen; dem zweiten schon weniger: Das besondere Idiom von Paudiß, von Rembrandt-Zitaten durchzogen, ist bis in die späteren Jahre hinein als ein produktives Verfolgen eines Rembrandtismus sowohl in motivischer als auch in formaler Hinsicht zu verstehen.106 Abgesehen von Rembrandt ist auch Lievens (vor allem in den Tronjes seines Frühwerks) einer der Referenzpunkte für Paudiß.107 Rüdiger Klessmann zeigt, wie das späte Bild der Marter des Heiligen Thiemo Anleihen an den frühen Rembrandt der 1630er Jahre aufweist (Bild 127), eine Tendenz, die schon bei de Gelder in den Blick genommen wurde.108 Dies äußerte Otto Benesch schon 1924, nicht ohne kritischen Unterton: „Um diese Zeit stand Rembrandts Altersklassizismus in letzter Verklärung. Nicht die leiseste Spur davon ist in dem Werk seines Schülers zu spüren, der ganz den Stil der dreißiger Jahre bewahrt, aber ihn zu groteskem Ausdruck gesteigert hat.“109 Benesch bezieht sich auf dasselbe Bild wie Klessmann und fügt bezüglich des Qualitätsunterschieds zwischen dem späten Rembrandt und seinen Schülern hinzu: „Die monumentale Fülle der Gestalten Rembrandts ist in herbe Eckigkeit

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Sein Aufenthalt in Rembrandts Werkstatt wird für die Zeit um 1645–1650 geschätzt. Vgl. Ausst. Kat.: Christopher Paudiß, 1630–1666. Der bayerische Rembrandt?, hg. v. Sylvia Hahn u. a., Regensburg 2007, S. 11. Vgl. im selben Katalog: Volker Manuth: „… ein trefflicher Discipel von Rembrand“. Christopher Paudiß und die niederländische Malerei des 17. Jahrhunderts, S. 95. Der Katalog der Ausstellung ist die erste „Monografie“ über den Künstler überhaupt. Marcus Dekiert: Christopher Paudiß, 1630–1666. Der bayerische Rembrandt?; Freising Diözesanmuseum, 30. März 2007–8. Juli 2007, in: Kunstchronik, 61 (2008), S. 169. Hana Seifertová: Paupertate premor sublevor ingenio. Ein moralisierendes Porträt des Christopher Paudiss, in: Um˘ení, 25 (1977), S. 237. Seifertová spricht von „hartnäckige[r] Treue gegenüber Rembrandt“. Vgl. zum Beispiel die zwei datierten und signierten Bilder Bärtiger alter Mann mit Pelzmütze, 1654, Dresden und Hieronymus mit dem Engel, 1664, Freising. Rüdiger Klessmann: Christopher Paudiß, ein Einzelgänger und Philanthrop, in: Ausst. Kat.: Christopher Paudiß, 1630–1666, S. 92. Otto Benesch: Maulbertsch: zu den Quellen seines malerischen Stils, in: Städel Jahrbuch, 3/4 (1924), S. 161.

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I. Das Handeling der Rembrandtisten

übergangen. Im Winkelrhythmus bewegen sie sich. Man beachte die schroffe Rechtwinkelverkürzung des über den Heiligen gebeugten Alten [siehe Bild 127]. Diese hat nichts mit der stillen Monumentalität der kubischen Formen des späten Rembrandt zu tun.“110 Benesch zufolge deformiert Paudiß seinen Lehrer, wobei seine Beobachtungen einer Verdammung gleichkommen: „Etwas Schrilles, stoßhaft Eckiges, Verkrampftes liegt in den Bewegungen. Ebenso sprunghaft, auseinanderfallend, willkürlich sind die Proportionen und Größenrelationen. […] Das Grauenhafte des Martyriums wird zum krankhaft Gräßlichen gesteigert [vgl. Bild 127]. Die Physiognomien sind in unheimliche, brutale Hysterie versetzt. Hysterisch ist an dieser Malerei alles: Komposition, Relationen, Einzelformen, Farben, Malweise. Die Farben sind dünn aufgetragen, die ganze krankhaft feine Zeichnung des Pinselstrichs, die in seltsamem Gegensatz zur Brutalität der Darstellung steht, deutlich weisend.“111 Anhand dieser Wahrnehmung wird, positiv gewendet, die Besonderheit von Paudiß’ formaler Diversität deutlich. Es ist kein Zufall, dass Peltzer 1937/38 Benesch fortsetzt, indem er den Bruch mit einer formalen Kontinuität in einem Bild auf dieselbe Weise bemängelt: „In größeren Altarbildern bekommt zuweilen ein wilder, derber Realismus die Oberhand und zerstört die einheitliche Form und künstlerische Wirkung.“112 Genau dieser Effekt aber ist es, der als die Besonderheit der Malerei von Paudiß angesehen werden soll. Die Modernität von Paudiß’ Handeling wird von Michael Liebmann 1972 unkritisch benannt. Er stellt Paudiß in eine Reihe mit Malern wie Leibl oder Lenbach und beschreibt sein Formgefühl unter dem Zeichen einer Diversität: „Paudiß’ Malweise zeichnet sich durch einen sehr dünnen Farbauftrag aus; so dünn, daß die Maserung des Holzes stellenweise durchscheint. An manchen Stellen jedoch ist der Farbauftrag pastos.“113 Dies erinnert an Arent de Gelders Umgang mit Farbe, an die fragile und zugleich pastose Materialität seiner Maloberflächen.114 Der Farbauftrag von Paudiß wird im Sinne einer produktiven

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Benesch: Maulbertsch, S. 161. Ebd. Rudolf Arthur Peltzer: Christoph Paudiss und seine Tätigkeit in Freising, in: Münchner Jahrbuch der bildenden Kunst, 12 (1937/8), S. 270. Zugleich erkannte Peltzer die modern wirkenden Abstufungen der Farbigkeit von Paudiß und insbesondere die des Graus an (S. 273): „Ein überfeinertes Farbempfinden läßt ihn, den Meister des Grau, zarteste Tonabstufungen wahrnehmen und wiedergeben, wie sie erst das moderne Auge wieder zu schätzen weiß.“ Michael J. Liebmann: Unbekannte deutsche Bilder des 17. Jahrhunderts in sowjetischen Sammlungen, in: Pantheon, 30 (1972), S. 218. Horst Gerson verglich Paudiß, de Gelder und Fabritius auf folgende Weise: „Von Paudiss gibt es zahlreiche Rembrandtische Studienköpfe und genrehaft aufgefasste Bildnisse, wobei er Rembrandts Helldunkel aber gemildert und ‚verschönert‘ hat. Es wird grauer und verwaschener, sodass seine Bilder oft wie flaue Werke von Aert

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Formale Diversität

Dialektik zwischen Opazität und Transparenz beschrieben, wie sie bereits als Charakteristikum de Gelders festgestellt und erläutert wurde, als „Zustand zwischen Materialität und Entkörperung, Masse und Durchscheinen, Schwere und Leichtigkeit, gleichzeitig Drastik und Verfremdung, Nähe und Distanz kann man sagen, welche eben aufgelöst werden“.115 Die Lebendigkeit evozierende Diversität im selben Bilde wird ebenfalls beschrieben: „Im Gemälde der Tempelreinigung arbeitet Paudiß mit einem Facettenreichtum an transparenten und opaken Farbschichten, die der Gesamtwirkung des Bildes etwas ‚Flackerndes‘ und damit große Lebendigkeit verleiht.“116 Eine Eigenschaft, die vielen seiner Gemälde zuzuschreiben ist.117 Das Licht wird als Mittel der Konkretion und Schärfung von Gegenständen eingesetzt, zum Beispiel im 1664 gemalten Emmausmahl (Bild 13). Es handelt sich um ein relativ breites, schweres Gemälde, in dem die italienische Barockmalerei und vor allem der Caravaggismus, den auch Ulrich Loth vertreten hat,118 durch das Formgefühl von Paudiß mit dem von Rembrandt korrespondiert. Im selben Bild verschwimmen Gegenstände und die Figuren werden diffuser, unkonkreter, ja beinahe unsichtbar. Dies wird bewirkt durch die graubraune, gelegentlich schwarze Farbigkeit, die zuweilen mit dem Hintergrund verschmilzt und als Kontrast zu den helleren Partien des Bildes und so des Lichtes fungiert. Zur gleichen Zeit (1664) malte Paudiß, auf einem anderen Handeling basierend, den für ein Genrebild ungewöhnlich monumental wirkenden Hofmetzger von Freising, ein Bild, das ohne die flämische (Genre-)Malerei des 16.  Jahrhunderts einerseits und Carraccis Schlachterladenbilder (der mit dem

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de Gelder oder Barent Fabritius aussehen.“ Horst Gerson: Ausbreitung und Nachwirkung der holländischen Malerei des 17. Jahrhunderts, Amsterdam ²1983, S. 237. Werner Sumowski: Christopher Paudiß, in: ders.: Gemälde der Rembrandt-Schüler, Band 4, S. 2314. Regina Bauer-Empl: Betrachtungen zur Maltechnik von Christopher Paudiß, in: Ausst. Kat.: Christopher Paudiß, 1630–1666, S. 175. Ebd., S. 189: „Neben locker gemalten Partien stehen kompakte, deckend gemalte Farbflächen, die heute stärker kontrastieren, als es wohl ursprünglich beabsichtigt war.“ Vgl. das entsprechende Gemälde Emmausmahl sowie das Abendmahl, das von einem Rubens-Stich entschieden geprägt wurde, Ausst. Kat.: Ulrich Loth. Zwischen Caravaggio und Rubens, hg. v. Reinhold Baumstark/Frank Büttner/Monika Angermeier, Ostfildern 2008, S. 128 f. u. 215–219. Paudiß hatte im Freisinger Dom außerdem Zugang zu einem anderen Gemälde von Rubens, nämlich Maria Victoria oder Das Apokalyptische Weib, heute Alte Pinakothek München. Michael Thimann spricht allgemeiner von den Einflüssen der italienischen und flämischen Malerei, abgesehen von der Rembrandts und Lievens im Œuvre des Deutschen. Vgl. Michael Thimann: „Ein lieblicher Betrug der Augen.“ Deutsche Malerei zwischen 1600 und 1750, in: Frank Büttner/Meinrad v. Engelberg (Hg.): Geschichte der Bildenden Kunst in Deutschland, Band 5, Barock und Rokoko, Darmstadt 2008, S. 515.

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Lamm tanzende Metzger) andererseits stilistisch nicht zu verstehen ist (Bild 14). Das Gemälde besticht durch sein Sfumato und die Diskrepanz zwischen dünnen und opakeren Partien (Gesichter, Gegenstände). Auch das Licht nimmt in seiner Diffusität eine zentrale Rolle ein und agiert auf ähnliche Weise wie im vorigen Bild. Das stilllebenähnliche Arrangement des Kruges und des Messers erinnert an Nicolaes Maes und auch an Arent de Gelder. Nicht zufällig ist die Signatur an dieser Stelle angebracht.

Bild 13  Christopher Paudiß: Gastmahl in Emmaus, signiert, 1664, Öl auf Leinwand, 155 × 122 cm, Bayerische Staatsgemälde­ sammlungen, Diözesanmuseum, Freising.

Allein durch solche Merkmale sollte deutlich werden, dass sowohl de Gelder wie auch Paudiß strukturell viele Gemeinsamkeiten aufweisen. Gleichzeitig behalten sie ihre persönliche Malweise bei, die entscheidende Impulse durch Rembrandt erhalten hat. Die Interpretation von Paudiß als Exzentriker

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Formale Diversität

Bild 14  Christopher Paudiß: Der Hofmetzger von Freising, signiert, 1664, Öl auf Leinwand, 219 × 159 cm, Bayerische Staatsgemäldesammlungen, Diözesanmuseum, Freising.

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Bild 15  Willem Drost: Merkur und Argus, um 1656, Öl auf Leinwand, 116,5 × 98,5 cm, Staatliche Kunstsammlungen – Gemäldegalerie Alte Meister, Dresden.

greift ebenso zu kurz wie die von de Gelder als Außenseiter.119 Darüber hinaus ist von Bedeutung, dass durch seine ständige Wanderschaft durch unterschiedliche Länder Mobilität zum Charakteristikum der Karriere Paudiß’ geworden ist. Daraus wurde häufig geschlossen, er sei nicht fähig gewesen, irgendwo Fuß zu fassen (abgesehen von den letzten Jahren im katholischen Freising), wohingegen sich de Gelder ausschließlich in seiner Geburtsstadt aufhielt. Paudiß ist zudem finanziell nie unabhängig gewesen, sicherte sich aber durch seine Anstellung als

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Vgl. dazu vor allem folgende psychologisierende Beiträge: Klessmann: Christopher Paudiß, ein Einzelgänger und Philanthrop, S. 83–92 und Peter B. Steiner: „Menschliches Elende“. Annäherung an das Menschenbild, in: Ausst. Kat.: Christopher Paudiß, 1630–1666, S. 110–132. Manuth („… ein trefflicher Discipel von Rembrand“, S. 109) ist viel vorsichtiger und nennt ihn im letzten Satz seines Artikels „hoch­ begabte[n] Exzentriker“.

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Formale Diversität

Hofmaler beim Fürstbischof Albrecht Sigismund von Bayern in Freising ein festes Einkommen.120 Eine Gratwanderung zwischen der formalen und der stilistischen Diversität ist bei Willem Drost nachzuvollziehen, weil er sich im Gegensatz zu den ehemaligen Rembrandtisten, die die raue Manier hinter sich gelassen haben, immer noch innerhalb der Chiaroscuro-Tradition bewegt. Sein Handeling ver-

Bild 16  Detail aus Barent Fabritius: Merkur schläfert Argus durch Flötenspiel ein, signiert, 1662, Öl auf Leinwand, 81 × 111 cm, Gemälde­ galerie Alte Meister, Kassel.

bindet im Vergleich zu Paudiß oder de Gelder noch stärker disparate polyfokale Elemente des Helldunkels von Rembrandt bis zu den Tenebristen (Johann Carl Loth und Ribera) bzw. den Utrechter Caravaggisten (zum Beispiel das Bild der Jungen Frau mit Brokatgewand in der Wallace Collection) sowie Züge der venezianischen Malerei des 16. Jahrhunderts miteinander. Die Beobachtung, dass Drost seinen Stil an den der Künstler anpasste, in deren Zirkel er sich befand,121 erscheint eindimensional, da er ein vielfältiger Maler war, dessen Werk sich 120

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Robert Leutner: Christopher Paudiß in Freising – Quellentexte, in: Ausst. Kat.: Christopher Paudiß, 1630–1666, S. 21–44 sowie ders.: Die Vermessung eines Schwierigen. Ein Porträt von Fürstbischof Albrecht Sigismund von Bayern und seinem Freisinger Hof, in: Ausst. Kat.: Christopher Paudiß, 1630–1666, S. 45–82. Wilhelm Reinhold Valentiner: Willem Drost, Pupil of Rembrandt, in: The Art Quarterly, 2 (1939), S. 322: „[Drost] changed style according to the artists by whom he was surrounded.“

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nicht auf eine stilistische Entwicklung (von Holland nach Italien) festlegen lässt, sondern sich verschiedener formaler Elemente bediente. Die Beziehung zwischen Rembrandt und Drost war kein bloßes LehrerSchüler-Verhältnis, sondern interaktiv und auf beiden Seiten inspirierend.122 Es konnte außerdem gezeigt werden, dass Drost 1659 in Venedig starb (1655 ging er zuerst nach Rom). Sein Formgefühl nahm dort eine neue Wendung und wirkte sich wiederum inspirierend auf Loth und die Tenebristen aus.123 In seinem Merkur und Argus in der Dresdener Gemäldegalerie sind neben der Auseinandersetzung mit Loth Elemente vorhanden, die nicht nur mit den Tenebristen zu vergleichen sind. Durch das zwar teilweise geringe, aber dennoch vorhandene Impasto erinnert die Form an das gleichnamige Bild von Barent Fabritius in Kassel (Bild 15 und Bild 16). So wird das synkretistische Handeling von Drost auch in Italien deutlich. Die Aufnahme des Helldunkels ist nicht unbedingt als ein Bruch mit der Vergangenheit in Holland zu verstehen. Der Schritt zum italienisch inspirierten Chiaroscuro ist weniger gewagt als das Vertreten einer feinmalerischen Posi­ tion, da Ersteres auch Gemeinsamkeiten mit Rembrandt aufweist.124 Aufgrund seines frühen Todes in Venedig und dem daraus resultierenden kleinen Œuvre, aber auch aufgrund seines nur kurzen Aufenthaltes als unabhängiger Künstler in Amsterdam und letztlich Venedig wurde Drost in der Kunstliteratur nicht recht wahrgenommen, weder von venezianischer125 noch von holländischer Seite,126 obwohl er die besondere Verbindung zwischen Amsterdam und Venedig verkörpert. Bereits in Amsterdam rezipierte er die venezianische Kunst äußerst produktiv (Palma Vecchio zum Beispiel).127 Diese Interpretation zweiter Ordnung, das heißt das Rembrandt’sche Handeling im Licht der Tizian-Rezeption, sollte in 122

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Vgl. Deborah Miller: A case of cross-inspiration in Rembrandt and Drost, in: Jahrbuch der Berliner Museen, 28 (1986), S. 75–82; Jonathan Bikker: Willem Drost (1633–1659). A Rembrandt pupil in Amsterdam and Venice, New Haven 2005, S. 1. Vgl. Jonathan Bikker: Drost’s end and Loth’s beginnings in Venice, in: The Burlington Magazine, 144 (2002), S. 156: „Simply absorbed the latest artistic trend in Venice. He was an innovator rather than imitator.“ Vgl. Ausst. Kat.: Rembrandt – Caravaggio, hg. v. Duncan Bull/Taco Dibbits, Zwolle 2006. Bikker: Drost’s end and Loth’s beginnings in Venice, S. 150: „Unlike Loth Drost died before he could build up a reputation in Venice and seventeenth century Venetian writers on art took no notice of him.“ Houbraken nennt Drost lakonisch Rembrandtschüler (Houbraken: De Groote Schouburgh der Nederlantsche konstschilders en schilderessen, Band 3, S. 61): „Nu volgen DROST, VAN TERLEE, en POORTER. Deze schilderden Historien. Van den eersten die een Leerling van Rembrant was, heb ik een Johannes Predicatie gezien, die braaf geschildert en geteekent was.“ Vgl. Bikker: Willem Drost (1633–1659), S. 23.

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Formale Diversität

Bild 17  Willem Drost: Bathseba mit dem Brief Davids, signiert, 1654, Öl auf Leinwand, 101 × 86 cm, Musée du Louvre, Paris.

Bild 18  Willem Drost: Köchin am Fenster, 1654, Öl auf Leinwand, 74,5 × 61,5 cm, Musée des Beaux Arts, Lille.

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Venedig gesteigert werden. Gleichzeitig erzeugte er auf diese Weise einen gewissen Abstand zu den Rembrandt’schen Elementen, ohne seiner Vergangenheit gänzlich abzuschwören.128 Drost könnte für Boschini eine ähnliche Quelle wie Bernhard Keil für Baldinucci gewesen sein, denn auch durch Loth und die Tenebristen wäre sein Wissen über die Malpraxis Rembrandts implizit dem venezianischen Autor verfügbar gewesen, obwohl jegliche Beweise dafür fehlen.129 Jonathan Bikker hat überzeugend gezeigt, wie Drosts Gestaltung der Form im Sinne einer Diversität zu verstehen ist. Als Beispiel dafür hat er zwei signierte und auf das Jahr 1654 datierte Gemälde der Amsterdamer Zeit verglichen, die einen recht unterschiedlichen Umgang mit der Bildoberfläche aufweisen: Die Bathseba im Louvre, die unter anderem auch an Bol erinnert, wird als fein beschrieben, die sogenannte Köchin am Fenster, heute in Lille, als grob (Bild 17 und Bild 18).130 Bikker stellt aber Drost in eine Reihe mit Malern desselben stilistischen Spektrums wie Bol, Flinck und Maes, im Gegensatz zu Malern wie de Gelder oder Victors (obwohl der zweite, in stilistischer Hinsicht, immer gleich blieb und zugleich einen klassischen, von Lastman inspirierten konservativen Rembrandt-Stil vertreten hat).131 Der Unterschied zu Bol, Flinck und Maes besteht darin, dass Drost, wie bereits gesehen, der Chiaroscuro-Tradition treu blieb und sein Handeling sich eben deshalb nicht allein unter der Kategorie der feinen, hellen Manier subsumieren lässt.

St i l ist isc he D iver sit ät Vor einem dunklen Hintergrund tritt plastisch die Gestalt eines sitzenden Mannes hervor (Bild 19). Sein rechter Unterarm ruht lässig auf einer hölzernen Stuhllehne und in seiner Hand hält er locker ein geschlossenes Buch. Der Mann

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Vgl. dazu das Buch von M. Loh zu der Rezeption der venezianischen Malerei des 16. während des 17. Jahrhunderts in Venedig. Maria H. Loh: Titian Remade. Repetition and the Transformation of Early Modern Italian Art, Los Angeles 2007. Boschini erwähnt Loth mehrmals positiv. Vgl. Marco Boschini: La Carta del navegar pitoresco; ed. critica, con la „Breve istruzione“ premessa alle Ricche minere della pittura Veneziana, hg. v. Anna Pallucchini, Venedig/Rom 1966, S. 592 („Un Carlo Loto de nation todesca […]“) u. 594 („Virtuoso xè ’l Loto […]“). Bikker: Willem Drost (1633–1659), S. 14: „Drost’s technique can also vary dramatically from painting to painting“, eine Beobachtung, die als Prinzip schon bei Arent de Gelder festgestellt wurde. Bikker beschreibt, wie sich diese formale Diversität innerhalb eines Gemäldes entfaltet, und zwar nach dem Modell von Rembrandts Porträt des Jan Six, das sowohl eine feine als auch eine grobe Bearbeitung der Farbmaterie aufweist. Ebd., S. 2.

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Stilistische Diversität

Bild 19  Jacobus Leveck: Porträt eines jungen Mannes mit großem Hut, um 1655/60, Öl auf Leinwand, 70,5 ×  54,5 cm, Museum Boymans Van Beuningen, Rotterdam.

schaut aus dem Bild heraus, ist aber gleichzeitig in sich gekehrt, wie sein Blick verrät. Sein dunkler Hut bedeckt einen großen Teil des Kopfes und durch das ebenfalls schwarze Gewand, das nur von den weißen Ärmeln und der Spitze farblich durchbrochen wird, dominieren die dunklen Flächen im Gemälde. Der spezifische Rembrandt’sche Effekt des Lichtes mildert die sonst dunkle Diffu­ sität. Durch die Hautpartien und das Buch erlangt das Bild Opazität und steht im Kontrast zu den dominierenden dunklen Tönen. Licht und Schatten sind in diesem Fall die Körperlichkeit stiftenden Instanzen.132 132

Dies bestätigt auch Sumowski: Jacobus Leveck, in ders.: Gemälde der RembrandtSchüler, S. 1744: „Leveck verzichtet auf die übertriebene pastose Technik.“ Sumowski ordnet Leveck unter den mittelmäßigen Schülern Rembrandts ein.

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Bild 20  Jacobus Leveck: Porträt des Adriaen Braets, signiert, 1664, Öl auf Leinwand, 92,5 × 71,5 cm, Dordrechts Museum, Dordrecht.

Das Gemälde ist von Jacobus Leveck gemalt, wird um 1655 datiert und befindet sich in Rotterdam. Die Haltung des Mannes erinnert an Bilder von Frans Hals, Arent de Gelder (sein Atelierbild in der Sammlung Bader, Bild 53) und Nicolas Maes. Eine ähnliche Pose findet sich auch im Porträt eines Mannes von Leveck in Brüssel. Die Haltung des Dargestellten vermittelt Selbstsicherheit, wobei sein Gesichtsausdruck eher von einer gewissen Labilität zeugt. Trotz allem entspricht seine Gestalt der eines Gelehrten aus dem Bürgertum oder Patriziat. Die hochgezogenen Brauen sowie die Asymmetrie der Augen verleihen der gesamten

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Stilistische Diversität

Darstellung eine Lebendigkeit, die durch die schräge Platzierung des Mannes auf dem Stuhl, in den er beinahe hineingleitet, unterstrichen wird. Im ebenfalls von Jacobus Leveck signierten und datierten Porträt des Andriaen Braets aus dem Jahre 1664 in Dordrecht verwundert zunächst die im Vergleich zum gerade betrachteten Bild vollkommen andere Erscheinung (Bild 20). Die gesamte Bildoberfläche ist ebenmäßig, die Diskrepanz von Hell und Dunkel ist verschwunden, ebenso wie die Unruhe durch die asymmetrische Platzierung der Person im Bild. Dieses Gemälde lässt sich durchaus mit den späteren Arbeiten von Maes vergleichen, in denen er die dunkle Manier Rembrandts hinter sich gelassen hatte, um sich der modischen, hellen Manier zu widmen. Sogar die Signatur ähnelt der von Maes, sodass unter Beachtung der Information, dass der Porträtierte unter anderem der Kapitän der Schutterij war,133 in der sowohl Leveck wie Maes Mitglieder waren, das Argument einer Orientierung des Ersteren am Zweiten zusätzlich an Bedeutung gewinnt. Es dominieren weniger breite Pinselstriche als vielmehr eine flächige Exaktheit (zum Beispiel bei der Wiedergabe der Spitze) mit hell leuchtenden Farben. Die aufrechte Haltung des Oberkörpers sowie die feste Hand auf der Balustrade, wo auch die Signatur angebracht ist, stehen im Gegensatz zum vorigen Bild. Dieses Auftreten wird durch den flatternden roten Vorhang sowie die Sicht auf die offene Landschaft unterstützt. Dort sind Gebäude zu erkennen, die unter der Herrschaft des Porträtierten zu stehen scheinen. Dass diese Art der Darstellung kein Einzelfall im Œuvre des Künstlers ist, bestätigt das signierte Porträt des Mattheus Eliasz. van der Broucke aus dem Jahre 1665, das sich ebenfalls im Dordrechter Museum befindet (Bild 21). Anlage, Haltung, Statur und Malweise, sowie die Anordnung der Person vor dem Vorhang mit der Öffnung in die Landschaft, und die Anbringung der Signatur, sind wie auf dem vorigen Bild dargestellt. Arnold Houbraken liefert in der Biografie Levecks neben dessen Todesdatum (1674), neben Daten zu seiner Aufnahme in die Akademie in Dordrecht (Konstgenootschap 1655) sowie zu seiner Lehrzeit bei Rembrandt134 wichtige Informationen bezüglich seines Handeling: „Hy had de Konst by Rembrant geleert, maar in zyne reize die handeling laten varen en zedert zig geheel tot het schilderen van pourtretten, vry wel zwemende naar die van de Baan, begeven. 133

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Vgl. Rudolf E. O. Ekkart: Jacobus Leveck, leerling van Rembrandt. Naar aanleiding van twee recente aanwinsten, in: Bulletin Dordrechts Museum, 12/3 (1987), S. 11. Der Porträtierte war außerdem Münzmeister von Dordrecht. Leveck ist als Rembrandtschüler auch anhand eines Dokuments nachgewiesen, demzufolge er 1653 als Zeuge zusammen mit seinem Lehrer und einer weiteren Person vor einen Amsterdamer Notar zur Begutachtung eines Bildes trat. Vgl. Sumowski: Jacobus Leveck, S. 1744. Die Bibliografie über Leveck besteht im Grunde aus der kurzen Abhandlung Sumowskis sowie dem Artikel Ekkarts.

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I. Das Handeling der Rembrandtisten

Bild 21  Jacobus Leveck: Porträt des Mattheus Eliasz. van den Broucke, signiert, 1665, Öl auf Leinwand, 89 × 71,5 cm, Dordrechts Museum, Dordrecht.

Hy hadde nog een stuk schildery van zyn eersten tyd in zyn huis, daar de handeling van Rembrant zoo wel in was waargenomen, dat men het voor een stuk van Rembrant zou hebben aangezien.“135 Die Aneignung des Rembrandt’schen Handeling durch den Schüler und die daraus entstehende verblüffende Ähn135

Houbraken: De Groote Schouburgh der Nederlantsche konstschilders en schilderessen, Band 2, S. 153. Vgl. Wurzbach: Arnold Houbraken’s Grosse Schouburgh der niederländischen Maler und Malerinnen, S. 223: „Er war ein Schüler Rembrandts, aber während seiner Reise verwarf er diese Manier und verlegte sich ganz auf die Porträtmalerei in der Weise des van de Baan. Er hatte noch ein Bild aus seiner ersten Zeit im Hause, in welchem er die Manier Rembrandt’s so wol wahrgenommen hatte, dass man es für dessen Arbeit halten konnte.“

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Stilistische Diversität

lichkeit seiner Frühwerke mit den Werken des Lehrers werden als Erfolg für Leveck verbucht. Houbraken beobachtet zudem eine Umorientierung in seiner Malweise von Jan de Baen auf Antonis van Dyck. Levecks finanzielle Lage war gesichert, dennoch beschränkte er sich fast ausschließlich auf die Porträtmalerei. Auch de Gelder malte viele Porträts, obwohl seine finanzielle Unabhängigkeit ihm die Beschäftigung mit anderen, weniger einträglichen Gattungen erlaubt hätte. Houbraken äußert sich konkreter über das Kapital Levecks: „Zyne Ouders hadden hem een fraai kapitaal naargelaten, maar na ’t my toescheen (dewyl hy meer van gezelschap als van schilderen hield) was het met zyn reis in Vrankryk vry wat gesmolten.“136 Auch wenn seine finanziellen Mittel also infolge der Frankreichreise reduziert waren, besaß Leveck immer noch eine wichtige Sammlung von Stichen (unter anderem von Albrecht Dürer und Lucas van Leyden sowie französischer und italienischer Meister). Houbraken teilt diesen Sachverhalt mit sowie sein Bedauern darüber, dass seine Auswahl bei der Hinterlassenschaft des in der Zwischenzeit verstorbenen Leveck (der auch für kurze Zeit sein Lehrer gewesen war) zugunsten der nordischen Meister ausfiel und eben nicht der romanischen, was seinen, Houbrakens, persönlichen Geschmack offenbart.137 Zugleich betont er, dass Leveck, ähnlich wie de Gelder, mehr Lust am gesellschaftlichen Leben als am Malen hatte.138 Jacob Campo Weyerman, der sich bekanntlich stark an Houbraken orientierte, wenn er ihn nicht sogar plagiierte, weicht bei Levecks Vita allerdings an manchen Stellen von Houbrakens Schilderungen ab. So erzählt er, wie Leveck in Dordrecht sehr dem Wein zugesprochen und sich oft in Gesellschaft von

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Houbraken: De Groote Schouburgh der Nederlantsche konstschilders en schilderessen, Band 2, S. 153. Vgl. Wurzbach: Arnold Houbraken’s Grosse Schouburgh der niederländischen Maler und Malerinnen, S. 223: „Seine Eltern hatten ihm ein schönes Vermögen hinterlassen, aber es war, da er ein grösserer Freund von Gesellschaft als vom Malen gewesen, während seiner Reise in Frankreich etwas geschmolzen.“ Wurzbach: Arnold Houbraken’s Grosse Schouburgh der niederländischen Maler und Malerinnen, S. 224: „Ich erhielt den dritten Theil seiner Kupferstiche, aber Unkenntniss liess mich eine schlechte Wahl thun, denn anstatt schöne italienische oder französische Kupferstiche für meinen Theil auszuwählen, fiel mein Auge auf die Stiche von Lucas van Leyden und Albert Dürer, die mir nicht nützen konnten, und es geschah lediglich durch Zufall, dass ich bei der Theilung doch noch einen französischen Kupferstich auswählte, der den ersten Platz in meiner Mappe einnimmt, sowohl als Erinnerung an meinen Meister, als ob seines seltenen eigenen Werthes, denn ich kenne keinen Freund von Kupferstichen, der ihn gesehen hätte, ohne ihn zu loben. Er ist von F. de Poilly nach einer Composition von C. le Brun gestochen.“ Houbraken: De Groote Schouburgh der Nederlantsche konstschilders en schilderessen, Band 2, S. 153 f.

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Frauen befunden habe, worunter seine Malerei gelitten habe.139 Einerseits entfaltete sich das Handeling Levecks und de Gelders unter ähnlichen sozialen und ökonomischen Voraussetzungen, andererseits aber entschieden sie sich für entgegenge­setzte künstlerische Richtungen. Leveck durchlief seit den 1660er Jahren einen Stilwechsel, den schon Houbraken in seiner Darstellung in Flincks Vita unterstreicht und der sich seiner Meinung nach als eine bewusste Entscheidung des Künstlers offenbarte: „Dog hy heeft die wyze van schilderen naderhand met veele moeite en arbeid weer afgewent; naardien de Waereld voor ’t overlyden van Rembrandt, de oogen al geopent wierden, op ’t invoeren der Italiaansche penceelkonst, door ware Konstkenners, wanneer het helder schilderen weer op de baan kwam.“140 Nach dem Tod Rembrandts wurden die Augen der wahren Kunstliebhaber geöffnet; sie entschieden sich für die italienische Handhabung des Pinsels (Houbraken zufolge explizit nicht für die französische oder die flämische), also für die helle (helder), feine Manier. Nicolaes Maes, ein Vorbild Levecks,141 verließ Dordrecht, weil, wie der Maler Arnold Boonen bemerkt, die Stadt zwar ein fruchtbarer Boden zur Hervorbringung von Malern sei, sie aber auf lange Sicht nicht ernähren könne.142 Als er 1673, also nach dem Tod van der Helsts, nach Amsterdam übersiedelte, wo ein Mangel an Porträtisten herrschte, widmete sich Maes vorwiegend der Porträtmalerei.143 Er malte ursprünglich im Stil Rembrandts, stand aber ab etwa 1658 unter dem Einfluss der sogenannten van Dyck’schen Mode.144 Um 1670 gab 139

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Weyerman: De levens-beschryvingen der Nederlandsche konst-schilders en konstschilderessen, Band 2, S. 229: „[…] onmaatig gebruyk van witte en van roode Wijnen, en in al te gestadiglijk vast te kleeven in de Delilas bouten van blanke en van bloozende Vrouwen.“ Houbraken: De Groote Schouburgh der Nederlantsche konstschilders en schilderessen, Band 2, S. 21. Vgl. Wurzbach: Arnold Houbraken’s Grosse Schouburgh der niederländischen Maler und Malerinnen, S. 172: „Aber er hat sich später diese Manier mit viel Mühe und Arbeit wieder abgewöhnt, als der Welt noch vor dem Tode Rembrant’s von wirklichen Kunstkennern und in Folge der Einfuhr italienischer Arbeiten, die Augen geöffnet wurden und die helle Malweise wieder in Uebung kam.“ Sumowski: Jacobus Leveck, S. 1744. „[…] dat Dordrechts vette kleigront wel goet is om kunstenaeren te queeken, doch niet om op den duur te voeden […].“ Jan van Gool: De Nieuwe Schouburgh der Nederlantsche Kunstschilders en Schilderessen, Den Haag 1750–1751, Band 1, S. 299, zitiert nach: Loughman: Arent de Gelder und Dordrecht, S. 37. Übersetzung bei Loughman: Paintings in the Public and Private Domain, S. 28: „Dordrecht is a rich soil to cultivate painters, but not in the long run to nourish them.“ Siehe zu Maes allgemein: León Krempel: Studien zu den datierten Gemälden des Nicolaes Maes (1634–1693), Petersberg 2000. Dafür sprechen zum Beispiel zwei Porträts unbekannter Männer, datiert und signiert auf das Jahr 1658. Das eine davon befindet sich in Köln. Sumowski verzeichnet in seinem Buch das Bild, das sich in unbekanntem Besitz befindet, unter der Nr. 1393. Robinson vertritt die Meinung, dass sich der Maes’sche Stil ab 1661 radikal geändert

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Stilistische Diversität

er seine Rembrandt-Manier zugunsten einer idealisierten Malauffassung auf, wie Houbraken auf unterhaltsame Weise darlegt: „[…] verliet vroeg die wyze van schilderen [Rembrandts], te meer toen hy zig tot het schilderen van pourtretten begaf, en wel zag dat inzonderheid de jonge Juffrouwen meer behagen namen in het wit dan in ’t bruin.“145 Von einer vorwiegend dunklen Malweise wandelte Maes seine Pinselführung und Farbigkeit in eine hellere, an der, wie Houbraken bemerkt, Frauen Gefallen fanden, womit der Maler sich wiederum Porträtaufträge verschaffte. Vom Naturalisten wurde er zum Idealisten und entsprach so diesen neuen Bedürfnissen der höheren niederländischen Gesellschaft, die von der französischen und flämischen Kultur geprägt waren und unter anderem von ehemaligen Rembrandtisten befriedigt wurden.146 Der Tod Levecks, der mehr oder weniger gleichzeitig mit Maes eine starke Affinität zum flämischen Stil Flincks im Sinne van Dycks entwickelt hatte, sowie der Umzug von Maes nach Amsterdam verschafften de Gelder, der in derselben Bürgerwache wie Maes und Leveck war, potenzielle Auftraggeber.147 De Gelder antwortete wiederholt auf Kompositionen von Maes. Der Gegensatz zwischen den beiden Malern wurde vor allem deutlich, als Maes kein Rembrandtist mehr war. Im signierten Gemälde der Sitzenden alten Frau setzt sich de Gelder zum Beispiel stark mit der Kunst von Maes auseinander (Bild  22).148 Es entspricht sowohl in motivischer als auch in formaler Hinsicht dessen Stil. Nach näherer Betrachtung des Farbauftrags lässt es sich eindeutig de Gelder zuschreiben, was an formalen Experimenten des Künstlers deutlich wird. Nicht Rembrandt, sondern Maes wird also in diesem Falle herausgefordert.

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habe. Siehe William W. Robinson: Nicolaes Maes. Some Observations on His Early Portraits, in: Ausst. Kat.: Rembrandt and His Pupils, hg. v. Görel Cavalli-Björkman, Stockholm 1993, S. 112 ff. Houbraken: De Groote Schouburgh der Nederlantsche konstschilders en schilderessen, Band 2, S. 274. Vgl. Wurzbach: Arnold Houbraken’s Grosse Schouburgh der niederländischen Maler und Malerinnen, S. 267: „Er verliess jedoch früh dessen [Rembrandts, Anm. d. V.] Manier, je mehr er sich auf die Porträtmalerei verlegte und sah, dass insbesondere die Frauen an der hellen Farbe mehr Gefallen fanden als an der braunen.“ Vgl. Franits: Young Women Preferred White to Brown, S. 395. Hilbert Lootsma: Tracing a pose: Govert Flinck and the emergence of the van Dyckian mode of portraiture in Amsterdam, in: Simiolus, 4 (2007–8), S. 221–236; Franits: Young Women Preferred White to Brown, S. 409. Franits (S. 406) geht so weit, dass er Malweise und Ideologie zusammenbringt, was ebenfalls im Rahmen dieses Versuches steht: „[…] the new French inspired sociocultural ideology is also expressed semiotically by such formal elements as light line and paint application.“ Chong: Arent de Gelder and the Art Scene in Dordrecht, S. 16; Schoon: Arent de Gelder (1645–1727), S. 14. John Anthony Loughman: Sitzende alte Frau, in: Arent de Gelder [1645–1727], S. 197; Wendela Wagenaar-Burgemeister: Aert de Gelder. Old Woman at Prayer, in: Salomon Lilian. Old Masters 2009, Zwolle 2009, S. 24–27.

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I. Das Handeling der Rembrandtisten

Bild 22  Arent de Gelder: Sitzende alte Frau, signiert, um 1700, Öl auf Leinwand, 90,5 × 78,5 cm, Privatsammlung.

Das Bild zeigt die Dreiviertelfigur einer leicht gebeugten alten Frau, die ärmlich gekleidet ist. Sie sitzt auf einem Lehnstuhl in einem Interieur und hat ihre Hände gefaltet. Neben ihr ist ein Tisch mit einer Karaffe und einem Messer an der Tischkante zu erkennen. Weiterhin befinden sich zwei Gegenstände an der Wand, ein Hut oben links und eine Platte aus Keramik oder Gips rechts.149 Der Stuhl ist diagonal ins Bild gesetzt und die linke Stuhllehne scheint aus dem Bild herauszuragen. Teile der Grundierung werden am Schoß der Frau sichtbar. Wenn die Datierung des Gemäldes auf ca. 1700 korrekt ist, dann würde dies das

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Loughman: Sitzende alte Frau, S. 197.

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Stilistische Diversität

Wiederaufleben der Formensprache des frühen, inzwischen verstorbenen Maes bedeuten.150 Es könnte von einer Aktualisierung der alten Manier von Maes gesprochen werden, die in der Tradition des Chiaroscuro und Rembrandts steht, also der ersten Karriere des ehemaligen Dordrechters. Dies kann historisch und geografisch als programmatische Aussage de Gelders aufgefasst werden. Es lassen sich verschiedene Werke aus Maes’ Œuvre zum Vergleich heranziehen, wie in Bezug auf die Körperhaltung zum Beispiel die Zeichnung Stickende Alte Frau in Frankfurt oder die Pariser Zeichnung einer Betenden Frau sowie die Alte

Bild 23  Nicolaes Maes: Stickende alte Frau, Rötelzeichnung, 18,8 × 15,6 cm, Städelsches Kunstinstitut, Frankfurt am Main. Bild 24  Nicolaes Maes: Alte Frau beim Gebet, Öl auf Leinwand, um 1655, 134 × 113 cm, Rijksmuseum, Amsterdam.

Frau beim Gebet in Amsterdam (Bild 23 und Bild 24).151 Die blasse Farbigkeit beim Amsterdamer Bild, das direkt mit Werken aus der Delfter Schule vergleichbar ist, etwa mit denen von Pieter de Hooch, wird bei de Gelder aufgelöst und von seinen eigenen malerischen Mitteln substituiert.

150 151

Moltke: Arent de Gelder, S. 98; Loughman: Sitzende alte Frau, S. 197. Sumowski: Arent de Gelder, in ders.: Gemälde der Rembrandt-Schüler, S. 4006 f.; Loughman: Sitzende alte Frau, S. 197 f.

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I. Das Handeling der Rembrandtisten

Bild 25  Johann Ulrich Mayr: Selbstbildnis, um 1648–1650, Öl auf Leinwand, 91,8 × 78,9 cm, ehemals Sotheby’s, Amsterdam.

Sogar das Messer wird auf ähnliche Weise wie bei Maes an der Tischkante platziert. Die Wand, die ungemein fein und gleichsam locker in mehreren Farbschichten gemalt ist, rekurriert wiederum auf Maes oder gar Vermeer. Die Karaffe, die rechte Schulter der Frau oder der braune Hintergrund sind blasser und unscharf gemalt; so erinnern sie nicht nur motivisch, sondern auch farblich an Maes. De Gelder betont hier wie auch in seinen anderen Porträtkomposi­ tionen die linke Schulter, die im Verhältnis zur anderen flächig erscheint und so vom bewussten Einsatz Maes’scher Formen innerhalb des gleichen Gemäldes zeugt. Die stilistische Polyfokalität der ehemaligen Rembrandtisten reicht bis nach Deutschland. Drei Selbstbildnisse von Johann Ulrich Mayr, der als das

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Stilistische Diversität

Bild 26  Johann Ulrich Mayr: Selbstbildnis mit antikem Kopf, signiert, 1650, Öl auf Leinwand, 107 × 88,5 cm, Germanisches Nationalmuseum, Nürnberg.

Gegenstück zu Paudiß betrachtet werden kann, machen das deutlich. Sie stellen die verschiedenen Phasen von Mayrs Schaffen dar. Das erste Bild sollte unter dem Genre des Tronje eingeordnet werden, auch wenn Mayr sich selbst als Modell nahm, wie er es bei Rembrandt gelernt hatte (Bild 25).152 Die Tradition 152

Sandrart erwähnt zweimal, dass er Schüler Rembrandts war. Vgl. Joachim von Sandrart: Academie der Bau-, Bild- und Mahlerey Künste von 1675, hg. v. Rudolf Arthur Peltzer, München 1925, S. 206. Sowie in Joachim von Sandrart: Teutsche Akademie 1675, I, Buch 3 (Malerei), S. 240, unter: http://ta.sandrart.net/de/text/ 458?item=auto15403#auto15403 [17. 1. 2014]: „[…] und dergleichen große KunstLiebhaber sind damals sehr viel in Amsterdam gewesen/ wie mich [Joachim von Sandrart] dann auch der Kunst-berühmte Herr Johann Ulrich Mayr versichert/ daß

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I. Das Handeling der Rembrandtisten

des Tronje, geprägt von Lievens und Rembrandt, spielt eine wichtige Rolle im gesamten Œuvre des Künstlers.153 Aus einem unbestimmten, dunklen Innenraum schaut der junge, langhaarige Mann, der einen leichten Oberlippenbart trägt, den Betrachter an. Er hält einen Stock in der Hand, ist frontal beleuchtet und trägt einen Harnisch über seinem blauen Gewand, das an ein Wams erinnert. Sein halbschattierter Kopf befindet sich im Dreiviertelprofil, was dem Bild Bewegung verleiht und im Kontrast zur sonst statuarischen Präsenz steht, die durch die V-Formation des rechten Armes und der Schulter unterstrichen wird. Das Bild wird aufgrund einer Radierung eines weiteren verschollenen Selbstbildnisses aus demselben Jahr154 auf 1648 datiert, also kurz nach Mayrs Lehrzeit bei Rembrandt.155 Das Gemälde ist für einen Rembrandtschüler relativ fein gemalt. Sein Rembrandtismus basiert auf der Chiaroscuro-Malerei beziehungsweise auf dem Eindruck der momentanen Erscheinung der dargestellten Figur. Das zweite Gemälde (Bild 26), etwa zwei Jahre später entstanden, ist im Ge­­gensatz zum Tronje Charakter des ersten Bildes eindeutig als Selbstbildnis ins­ zeniert. Das halbfigurige Bild befindet sich im Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg und wird anhand der an Dürer erinnernden Signatur auf der Rückseite („Wahr ich der Gestalt, Johan Ulrich Mair fecit, Wahr ich 20 Jahr alt“) auf 1650 datiert.156 Außerdem stellt es eine weitere stilistische Stufe im Schaffen des Malers dar, die einerseits Rembrandt verpflichtet ist, andererseits einen ebenmäßigen Farbauftrag aufweist und somit in der klassischen Tradition steht. Dies wird durch die Hand, die auf der antiken Skulptur ruht, sowie das Werkzeug, das eher für die feine Modellierung des Bildes sorgt, unterstrichen.157 Die subtile

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er seinem Lehrmeister/ Herrn Renbrand/ für 14. Stuck von dieses Künstlers saubersten Abdrucken […] in einem offentlichen Ausruff 1400. Gulden bezahlen sehen.“ Zur Rolle des Tronje vgl. Dagmar Hirschfelder: Tronie und Porträt in der niederländischen Malerei des 17. Jahrhunderts, Berlin 2008; Franziska Gottwald: Das Tronie. Muster, Studie und Meisterwerk. Genese einer Gattung der Malerei vom 15. Jahrhundert bis zu Rembrandt, Berlin 2011; Dagmar Hirschfelder/León Krempel (Hg.): Tronies. Das Gesicht in der Frühen Neuzeit, Berlin 2014. Das Bild könnte ebenfalls als Tronje aufgefasst werden. Die Radierung nach dem verlorenen Original ist von J. C. Schnell. Sumowski: Johann Ulrich Mayr, in ders.: Gemälde der Rembrandt Schüler, S. 2175; Reiner Zeeb: Johann Ulrich Mayr (1630–1704) in seinen Augsburger und Nürnberger Selbstbildnissen und Mayrs Bildniskunst unter Berücksichtigung der italie­ nischen Kunsttheorie, in: Zeitschrift des Historischen Vereins für Schwaben, 103 (2011), S. 189. Sumowski: Johann Ulrich Mayr, S. 2182. Vgl. Annette Kanzenbach: Der Bildhauer im Porträt. Darstellungstraditionen im Künstlerbildnis vom 16. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, München/Berlin 2007, S. 31–45. Cesare Ripa spricht in seiner Iconologia (1593) von „con la destra mano sopra al capo di una statua di sasso“, zitiert nach Kanzenbach: Der Bildhauer im Porträt, S. 85.

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Stilistische Diversität

Bild 27  Johann Ulrich Mayr: Selbstbildnis, signiert, 1663, Öl auf Leinwand, 121 × 99,5 cm, Deutsche Barockgalerie, Städtische Kunstsammlungen, Augsburg.

Diffusität des vorigen Bildes wird hier gemildert. Mayr ist zudem in einer selbstsicheren Pose festgehalten. Allerdings wird der handwerkliche Aspekt seiner Arbeit nicht versteckt. Das letzte Gemälde in dieser Reihe von Selbstbildnissen, das die Tendenz des vorigen Beispiels fortsetzt und schließt, indem es die Distanzierung von den Rembrandt’schen Formelementen vollendet, befindet sich heute in Augsburg, ist signiert, und auf das Jahr 1663 datiert (Bild 27). Das Motiv erinnert zwar an Bildnisse Rembrandts und Raffaels, ist aber, in formaler Hinsicht, an Feinmalern wie Frans van Mieris orientiert. Die Palette des Malers ist im Hintergrund abgelegt, denn die Zeichnung ist hier das zentrale Element: Der mit

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I. Das Handeling der Rembrandtisten

einer Kopfbedeckung dargestellte Mayr setzt gerade einen Punkt im Umriss der Darstellung einer jungen Frau. Als anzustrebendes Ideal ist die Linie hervorgehoben. Diese ist Anfang und Ende des künstlerischen Prozesses und eben nicht die Farbe und deren Helldunkeleffekte. Das gesamte Bild ist sehr fein gemalt. Der Fensterrahmen ist das Zitat eines Rembrandt’schen Sujets (van Hoogstraten, der in der Zeit von Mayrs Lehre Assistent im Atelier Rembrandts gewesen sein dürfte, hat es ebenfalls verwendet). Sandrart lobt Mayr als einen zweiten Zeuxis.158 Die zeichnende Hand wird als eine humanistische Hand stilisiert, die sich auf das Fundament des Wissens (Buch) stützt und von diesem gelenkt wird. Sumowski, der sich kritisch über die künstlerische Begabung Mayrs äußerte und sich über dessen Erfolg im 17. Jahrhundert wunderte – er erwähnt, ähnlich wie bei Rembrandt, den anerkennenden Besuch Cosimo de Medicis 1667 –, bemerkt, dass die Form seiner Bilder in den 1660er Jahren idealisiert war. Dies wird mit der Distanzierung von Rembrandt und der Verschlechterung seiner Malqualität in Verbindung gebracht.159 Mayr wird von Sandrart auch als Jordaens-Schüler bezeichnet,160 obwohl der Einfluss des Flamen in der feineren Manier des Schülers weniger sichtbar ist. Vielmehr tritt die flämische Tradition allgemein, nicht zuletzt durch van Dycks Vorbild, in Erscheinung. Sandrart verortet Mayr, was die positiven Eigenschaften seines Farbauftrags angeht, folgendermaßen: „[…] alle Kunstverständige [haben] in seiner Arbeit eine der Natur vollkommene Ähnlichkeit [das ‚Nach dem Leben‘ Prinzip], warhafte Colorit, Universal-harmonie der Farben und derselben gerechte Stärke und Kraft gefunden [im Sinne des Houding, Herv. d. V.].“161 Sandrarts Vita über Mayr ist ähnlich ausführlich wie die über Rembrandt, was dem geografischen Standort ihres Autors geschuldet sein könnte, der für einen Künstler aus seiner eigenen Region (Augsburg, Nürnberg) eine besondere Sympathie hegte. Hiermit wiederholt sich der Fall Vasaris, der be­ stimmte Künstler der Toscana rühmte, die die Interessen der Medici vertraten. Sandrart war von derselben Konfession wie Mayr und dürfte ihm bereits in Holland innerhalb des erweiterten Rembrandtkreises begegnet sein. Er hat ihn als einen – im wahrsten Sinne des Wortes – im Mutterleib der Natur ernährten Künstler dargestellt, da er als Sohn der Künstlerin Susanna 158

159 160 161

Von Sandrart: Academie der Bau-, Bild- und Mahlerey Künste von 1675, S. 206: „Haben die uralte Griechische Mahlere ein unsterbliches Lob verdient, daß sie theils die Vögel, theils andere Thiere durch ihre gemahlte Werke betrogen, so hat unser Künstler wol verdienet, daß er auf den Thron höhster Ehren erhoben werde, weil er mit einer vor etlichen Jahren gemahlten Fensterrahm und daran hangendem Kammfuter, Scheeren, Federn und Briefen viele Anschauere verführet, daß sie die Sachen vor natürlich wahr gehalten.“ Sumowski: Johann Ulrich Mayr, S. 2176. Von Sandrart: Academie der Bau-, Bild- und Mahlerey Künste von 1675, S. 206. Ebd.

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Stilistische Diversität

Mayr zur Welt kam und so seine künstlerische Gabe wahrlich mit der Muttermilch aufgesogen habe, bevor er zu Rembrandt ging: „[…] indem sie sich gleichsam in der Muttermilch jetztgerühmter Künstlerin ihrem Sohn Johann Ulrich Mayr eingeflößet, kraft dern in ihm eine solche Begierde zur Kunst erwachsen […] hat er sich in Niderland zu den berühmten Künstlern Rembrand und Jordans begeben […].“162 Mayr kam anders als Paudiß, aber ähnlich wie Leveck oder de Gelder aus einer höheren bürgerlichen Schicht in Augsburg und hatte aufgrund seiner familiären Herkunft Kapital akkumuliert, was das Malen jenseits von ökonomischen Zwängen ermöglichte.163 In der Forschung wurde die Mobilität des Künstlers, seine Reisen nach England und Italien sowie seine Lehre bei Jordaens und Rembrandt als Erklärung für seinen Eklektizismus mit gleichzeitigem Bezug zur Augsburger Tradition verstanden.164 Das Reisen diente jedoch nicht der Suche nach Anstellung wie bei Paudiß, sondern der Weiterbildung. Seine Machtstellung innerhalb Augsburgs und das Malen für deren Elite (so auch in Nürnberg und vor allem für die Höfe in Wien, München, Heidelberg und Durlach)165 wird mit den Worten Sandrarts folgendermaßen beschrieben: „[…] daß er die meiste Churfüsten gecontrafätet und sonst sehr viel Fürsten, Grafen, Herrn und Frauen, von selbigen beruffen, mit seiner unvergleichlichen Hand gleichsam die Unsterblichkeit gegeben [hat] […].“166 Außerdem wurde Mayr zusammen mit dem Sandrartschüler Sigmund Müller zum Direktor der Augsburger Akademie ernannt. Durch die Verwendung von unterschiedlichem Handeling war es ihm möglich, sich innerhalb eines breiten Klientenkreises zu bewegen. Er bediente sich malerischer Elemente, die den Zeitgenossen (abgesehen von Sandrart) durchaus fremd waren. Zugleich pflegte er die lokale Tradition, was ihm zu einem weit reichenden Netzwerk verhalf. Der Begriff Eklektizismus scheint dennoch für Mayrs Kunst weniger angebracht zu sein als stilistische Diversität, weil er den Beigeschmack des 162 163 164

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Ebd. Ebd., S. 205. Sein Vater, Christoph Georg Mayr, wird von Sandrart als vornehmer Handelsherr charakterisiert. So zum Beispiel Ernst Buchner: Über einige Bilder des Augsburger Malers Johann Ulrich Mair, in: Das Schwäbische Museum 1929, S. 175; Ausst. Kat.: Augsburger Barock. Ausstellung unter dem Patronat von ICOM, hg. v. Christina Thon, Augsburg 1968, S. 221. Kritisch zu dieser Meinung zuletzt Zeeb: Johann Ulrich Mayr (1630–1704), S. 188, obwohl der Autor selbst weiter schreibt (S. 201), dass die klassizistische Malerei, die aber in einem eklektischen Sinne bedient wird, sich doch mit anderen formalen Elementen verbinden lässt. Gerson: Ausbreitung und Nachwirkung der holländischen Malerei des 17. Jahrhunderts, S. 275. Von Sandrart: Academie der Bau-, Bild- und Mahlerey Künste von 1675, S. 206; Sumowski: Johann Ulrich Mayr, S. 2175; Zeeb: Johann Ulrich Mayr (1630–1704), S. 187.

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I. Das Handeling der Rembrandtisten

Bild 28  Johann Ulrich Mayr: Bildnis des Johann Jacob Müller (?), signiert, 1700, Graphit, schwarze Kreide, Rötel, 12,9 × 15,8 cm, Kupferstichkabinett – Herzog Anton Ulrich Museum, Braunschweig.

19. Jahrhunderts hat. Mayr verfolgte ab 1660 beinahe ausschließlich die Feinmalerei und somit einen klassischen Akademismus. Dennoch hatte er seine Rembrandt’sche Vergangenheit nicht gänzlich vergessen, zumindest nicht in einem privaten Rahmen.167 Die stilistische Diversität Mayrs fand – anders als bei Leveck oder Maes – auch innerhalb einer einzelnen Schaffensperiode statt. Leveck und Maes ließen den Rembrandtismus radikaler hinter sich, sodass die unterschiedlichen Phasen ihres Œuvres in sich stilistisch einheitlicher sind. Eine auf das Jahr 1700 datierte und signierte Zeichnung Mayrs, die sich heute in Braunschweig befindet, bezeugt diese Annahme (Bild 28).168 Dargestellt 167

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Dies lässt sich zum Beispiel auch über das Selbstbildnis vor der Staffelei von Juriaen Ovens (heute in St. Petersburg) sagen. Dieser Maler weist viele strukturelle Gemeinsamkeiten mit Mayr auf. Ausst. Kat.: Aus Rembrandts Kreis. Die Zeichnungen des Braunschweiger Kupferstichkabinetts, hg. v. Thomas Döring, Petersberg 2006, S.102 f. Auf dem Blatt Mayrs steht: „Zu freudtlichem angedencken machte dises / Johan Ulrich Mair in Augs-

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Stilistische Diversität

ist die Büste eines bärtigen Mannes, dessen nachdenklicher Blick nicht auf den Betrachter gerichtet ist. Diese Tatsache steigert die Unmittelbarkeit des Blattes, das durch die dezentrale Platzierung des Dargestellten sowie die Drehung seines Kopfes eine enorme Nähe und Frische ausstrahlt. Sie folgt dem Nach-demLeben-Prinzip, das – wie schon gesehen – von Sandrart gepriesen wurde. Im Katalog des Braunschweiger Kupferstichkabinetts wird die Zeichnung unter den Tronjebildern eingeordnet, obwohl es sich um ein Porträt handelt.169 Zeeb beschreibt die „persönliche Naturnähe“ des Blattes, in dem sich ein „fast ins 19.  Jahrhundert vorauseilender Zug der Bildniskunst“ feststellen lasse.170 Wie schon bei Paudiß ist Modernität hier das Stichwort. Anhand dieser Zeichnung wäre das Diktum, dass „Rembrandts Einfluß […] nur während der Lehrzeit festzustellen [sei]“, zu korrigieren, auch wenn Sumowski die entscheidende Beobachtung machte, dass „bereits im Frühwerk […] im Sinn für Klarheit und Ordnung eine klassizistische Tendenz“ deutlich wird; das Kolorit wird mit Bol in Verbindung gebracht.171 Das ist ein Phänomen, das bei vielen Rembrandtschülern zu beobachten ist, die sich schließlich der feinen Manier zuwandten. Sie hatten sich von Anfang an die Rembrandt’schen Elemente in einem bescheidenen, wenn nicht konservativen Maße von ihrem Lehrer angeeignet. Ähnliches lässt sich außer für Mayr auch für Leveck, Bol und Flinck feststellen. Ihnen gegenüber stehen de Gelder oder Paudiß, indem sie die Form Rembrandt’scher Prägung anhand ihres Umgangs mit der Farbmaterie radikalisierten; eine Reaktion in einer Zeit, in der die Rembrandt-Mode bezüglich Nachfrage und Geschmack nicht mehr die Oberhand in der niederländischen Gesellschaft hatte. Daraus lässt sich folgern, dass der Erfolg des Rembrandt’schen Handeling für diese Künstler nicht ausschlaggebend war, sodass sie sich bei ihrem Lehrer vor allem auf die Grundlagen der Malerei konzentrierten. In seiner Monografie über Jacob Backer bezeichnete Kurt Bauch einige von dessen Werken als eine Mischung aus Maltraditionen von Rubens und Rembrandt, aber auch von Künstlern der friesischen Tradition, aus der Backer stammte (zum Beispiel Lambert Jacobsz.).172 Das ist bezeichnend für einen synkretistischen Stil, der gleichsam von zwei Rivalen genährt wird und aus dem er, Backer, Eigenes zu schaffen suchte, was letzten Endes auch für andere Schüler Rembrandts galt, nämlich für die, die die klassizistische Wendung vollzogen

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purg 1700 – 10 Jenner.“ Damit ist die Funktion der Zeichnung markiert. Sie befand sich im Stammbuch von Johann Jacob Müller, der die dargestellte Person sein dürfte. Ausst. Kat.: Aus Rembrandts Kreis, S. 101. Zeeb: Johann Ulrich Mayr (1630–1704), S. 217. Sumowski: Johann Ulrich Mayr, S. 2175. Kurt Bauch: Jacob Adriaensz. Backer. Ein Rembrandtschüler aus Friesland, Berlin 1926, S. 23 u. 36.

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I. Das Handeling der Rembrandtisten

(Bol, Flinck).173 Dies wird nicht zuletzt an der Vita Backers deutlich, da sich dieser, Houbraken zufolge, zwischen den zwei für die Zeit erfolgreichsten Handeling, dem von van Dyck und dem von Rembrandt, entscheiden musste und doch den van Dyck’schen, den klassischen, wählte, weil dieser im Sinne der ökonomischen Sicherung wohl dauerhafter schien: „Nu moest hy zig een wyze van schilderen voorstellen die prysselyk was om zig daar aan te houden. De penceelkonst van Ant. Van Dyk was in groote agting, en die van Rembrant vond ook veel aanhangers. Op dezen tweesprong stond hy lang te dutten, niet wetende wat weg best in te staan, dog verkoos de handeling van den eersten als van een duurzamer aart, tot zyn voorwerp.“174 Houbraken stellt Backer wie einen Herkules am Scheidewege dar, so, als ob er zwischen Tugend und Laster wählen müsste. Auch wenn die Zeit der bewussten Stilkämpfe, wie sie besonders im 19. Jahrhundert ausgefochten wurden, noch nicht gekommen war,175 handelte es sich doch um das Aufeinandertreffen unterschiedlicher Maltraditionen, gepflegt von ehemaligen Rembrandtisten und solchen Anhängern Rembrandts, die radikal unterschiedliche Malideologien vertraten. Schmidt-Degener kritisierte in seiner Studie Rembrandt und der holländische Barock, erstmals auf Holländisch 1919 veröffentlicht, diese Umwandlung der Form durch die ehemaligen Rembrandtschüler scharf: „Aber da man nur selten bis zu seinem Geist durchdrang, lernten seine Nachfolger keinen Stil, sondern nur eine Mode […]. Als Ganzes betrachtet, ist die Rembrandtschule ein Mißerfolg; die Berührung mit dem Genius wird für Talente, scheint es, oft zum Unglück. Obwohl der Meister Maßnahmen ergriff, um die Individualität seiner Schüler zu wahren, konnten sich doch nur wenige halten; die meisten versengten ihr Persönchen elend an

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Dies soll nicht heißen, dass Rembrandt für diese Maler gar keinen Referenzpunkt mehr darstellte. Van der Veen vertritt folgende Meinung: „Govert Flinck must have maintained contact with Rembrandt and his work: for years he continued quite openly to borrow motifs from the work of his former master.“ Jaap van der Veen: Hendrick Uylenburgh’s Art Business. Production and Trade between 1625 and 1655, in: ders./Friso Lammertse: Uylenburgh & Son. Art and Commerce from Rembrandt to De Lairesse, Zwolle 2006, S. 169. Houbraken: De Groote Schouburgh der Nederlantsche konstschilders en schilderessen, Band 2, S. 305. Vgl. Wurzbach: Arnold Houbraken’s Grosse Schouburgh der niederländischen Maler und Malerinnen, S. 281: „Nun musste er sich eine Manier wählen, die bedeutend genug war, um sich daran zu halten. Die Bilder van Dyk’s standen wie jene Rembrant’s in grossem Ansehen. Auf diesem Scheidewege stand er lange im Zweifel, ohne zu wissen, welchen einzuschlagen das Bessere wäre; doch wählte er die Manier des Ersteren, als dauernder, zu seinem Vorbilde.“ Martin Warnke: Zum Kreis um Warburg. Warburg und Wölfflin, in: Horst Bredekamp/Michael Diers/Charlotte Schoell-Glass (Hg.): Aby Warburg. Akten des internationalen Symposiums, Hamburg 1990, Weinheim 1991, S. 84 f.

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Stilistische Diversität

dem großen Feuer.“176 Abgesehen von diesem schematischen Urteil und der eindimensionalen Betrachtung der Rembrandtschule als Misserfolg oder als Produkt eines Genies liegt die zentrale Absicht Schmidt-Degeners darin, in dem Vergleich zwischen Vondel und Rembrandt die Janusköpfigkeit in der holländischen Kultur zu zeigen.177 Die unterschiedlichen Handelinge, die zwischen einer formalen und einer stilistischen Diversität bzw. einer groben und einer feinen Malweise pendelten, markierten die verschiedenen Zugänge zur Formgestaltung, die Ausdruck ideologischer Interaktionen mit der Welt waren und unterschiedlichen Prinzipien zu Grunde lagen.

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Schmidt-Degener: Rembrandt und der holländische Barock, S. 3 f. Auch Valentiner spricht 1939 mit großer Geringschätzung von den ehemaligen Rembrandtisten: „Most of these pupils revealed their lack of individuality after having left Rembrandt’s studio, when they changed their style abruptly and became artists of so little importance that it is often not easy at all to recognize them in their new mode of expression.“ Zitiert nach Bikker: Willem Drost (1633–1659), S. 3. Schmidt-Degener: Rembrandt und der holländische Barock, S. 44. Die Studie Schmidt-Degeners zur Bipolarität der holländischen Kultur war ein wichtiger Referenzpunkt für Aby Warburgs Auseinandersetzung mit Rembrandt. Vgl. Aby Warburg: Italienische Antike im Zeitalter Rembrandts (1926), in: ders.: Nachhall der Antike. Zwei Untersuchungen, Zürich/Berlin 2012, S. 69–102.

I I . Das P rimat der H and

D ie den kende Ha nd 1678 beschreibt Samuel van Hoogstraten, der erste Lehrer de Gelders, in der Inleyding ausführlich den topischen Wettstreit zwischen den Künstlern François Knipbergen, Jan van Goyen und Jan Porcellis.1 Es scheint, als ob diese Anekdote eine Inspiration für Wölfflins Kunstgeschichtliche Grundbegriffe gewesen ist, denn dieser schreibt gleich zu Beginn über die „doppelte Wurzel des Stils“. Es mag kein Zufall sein, dass die erste Seite des Buches ein Bild van Goyens zeigt und damit implizit den Teilnehmer der Wettstreiterzählung van Hoogstratens heranzieht, den Wölfflin als „malerisch“ beschreiben würde, obwohl er sich auf Ludwig Richters Lebenserinnerungen beruft (1885) (Bild 29).2 Die drei Niederländer sollten van Hoogstraten zufolge ein und dieselbe Landschaft malen, wobei aber drei vollkommen unterschiedliche Bilder entstanden sind, die mit den Begriffen Usus, Fortuna und Idea verbunden wurden. Knipbergens Gemälde wurde dem Usus zugeordnet und so der niedrigsten Stufe einer guten, aber künstlerisch nicht befriedigenden Imitatio.3 Im Rahmen der 1 2

3

Samuel van Hoogstraten: Inleyding tot de hooge schoole der Schilderkonst: Anders de Zichtbaere Werelt, Rotterdam 1678, S. 237 f. Heinrich Wölfflin: Kunstgeschichtliche Grundbegriffe. Das Problem der Stilentwicklung in der neueren Kunst, München 1915, S. 13: „Ludwig Richter erzählt in seinen Lebenserinnerungen, wie er in Tivoli einmal als junger Mensch, zusammen mit zwei Kameraden, einen Ausschnitt der Landschaft zu malen unternahm, er und die andern fest entschlossen, von der Natur dabei nicht um Haaresbreite abzuweichen.“ Vgl. David Summers: Heinrich Wölfflin. Kunstgeschichtliche Grundbegriffe. Das Problem der Stilentwicklung in der neueren Kunst, München 1915, in: Richard Stone/John-Paul Stonard (Hg.): The Books that Shaped Art History, London 2013, S. 42–53. Van Hoogstraten: Inleyding tot de hooge schoole der Schilderkonst, S. 237: „[…] Knipbergen genoemt, stelde een tamelijk grooten doek op den Ezel, en, de hand of

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II. Das Primat der Hand

Bild 29  Heinrich Wölfflin: Kunstgeschichtliche Grundbegriffe, S. 13.

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Die denkende Hand

platonisch besetzten Kunsttheorie gewann die Idea und damit Porcellis den Wettstreit.4 Bezeichnend ist, dass Porcellis mit Raffael verglichen wird. Das innere Bild und damit das Disegno (Idea) werden, so van Hoogstraten, vom Künstler „abgebildet“. In diesem Zusammenhang ist ebenfalls von Bedeutung, dass auch Porcellis mit seinem Pinsel „handelt“ („met zijn penseelen handelde“). Seine Handlung aber ist eine vollkommen andere als die van Goyens. Der Pinsel Porcellis’ wird von einem geistigen Bild geleitet. Das Werk van Goyens wird mit Bezug auf den Zufall so zusammengefasst, „als wären Auge und Hirn in seiner Hand platziert“ („zijn oog en verstandt schijnen in zijn hand geplaetst te zijn“)5. An anderer Stelle wird dasselbe Bild folgendermaßen charakterisiert: „[…] want hy zijn geheel paneel in ’t gros overzwadderende, hier licht, daer donker, min noch meer als een veelverwige Agaet […] en in ’t kort zijn oog, als op het uitzien van gedaentens, die in een Chaos van verwen verborgen laegen, afgerecht, stierde zijn hand en verstandt op een vaerdige wijs, zoo datmen een volmaekte Schildery zag, eermen recht merken kon, wat hy voor hadt.“6

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’t penseel tot zijn wil hebbende, begon dapper te schrijven, dat is, op zulk een aengewende wijze te schilderen, dat al wat hy ter needer zette, gedaen was.“ Knipbergen wird nicht zufällig mit einem Schreiber verglichen, der alles aufnimmt, aber doch bloß wiedergibt. Ebd., S. 238: „De derde was onzen Parselles, dien grooten Raphel in ’t zeeschilderen! Maer de liefhebbers gaeven den moedt bynae verlooren, als zy zagen hoe traegelijk hy met zijn penseelen handelde […] om dat hy eerst in zijn inbeelding ’t geheele bewerp van zijn werk formeerde, en in zijn verstandt een schildery maekte, eer hy verw in ’t penseel nam.“ Ebd., S. 237: „[…] of dat het oog in de ruwe schetssen van gevallige voorwerpen eenige vormen uitpikt, gelijk wy aen den haert in het vuer pleegen te doen; of dat de handt, door gewoonte, iets formeert, min noch meer als wanneer wy schrijven; want een goedt schrijver maekt goede letteren, schoon hy ’er niet aen gedenkt, en zijn oog en verstandt schijnen in zijn hand geplaetst te zijn.“ [Herv. d. V.] Vgl. Ernst van de Wetering: Rembrandt. The Painter at Work, Berkeley/Los Angeles/ London ²2004, S. 85 f. Van Hoogstraten: Inleyding tot de hooge schoole der Schilderkonst, S. 237 f. Thijs Weststeijn: The Visible World. Samuel van Hoogstraten’s Legitimation of Painting in the Dutch Golden Age, Amsterdam 2008, S. 251: „[…] having roughly splashed all over his panel, here light, there dark, more or less like a multicoloured Agate […] and in short his eye, trained to see forms that were concealed in a chaos of paint, directed his hand and understanding so skillfully that one saw a complete painting before one could rightly perceive what he had in mind.“ Eine Parallele zur Arbeitsweise van Goyens findet sich bei Luca Giordano. Vgl. Heiko Damm: Tagwerk und Schnelligkeitsprobe. Luca Giordano malt Atalantes Wettlauf, in: Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft, 38 (2011), S. 145–170. Dass dies gewiss mit einem ökonomischen Prinzip der Schnelligkeit zusammenhängt, wird in beiden Fällen deutlich.

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II. Das Primat der Hand

Gemäß des Berichts van Hoogstratens über van Goyen wird der bereits analysierte Begriff des Handeling in seiner Bedeutung im Niederländischen als Handlung verstanden. Anders als bei Porcellis offenbart das Gemälde van Goyens eine vom Körper her entfaltete Kraft, die dem Betrachter als gestaltete Form und somit als unabhängige Dynamis entgegenkommt. Darüber hinaus wird die zentrale Rolle der Hand beschrieben, die eine denkende Funktion hat und als extended mind agiert.7 Der „ausgedehnte Geist“ steht im Gegensatz zur Vorstellung des Disegno interno, der zufolge die Idee der Ausführung vorangeht.8 Ähnliches formulierte F. Snellinx über das Bild Coppenol der Kalligraph von Rembrandt. Diese Aussage unterstreicht das Unvermögen des Porträts, die inneren Eigenschaften des Dargestellten wiederzugeben. Dabei handelt es sich um einen alten Topos der Kunsttheorie:9 „Dit’s Kóppenól na ’t leeven/ Men kan niet meerder geeven/ De schrijfkunst en ’t verstandt/ Behouwdt hij in zyn hand.“10

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Es genügt hier auf den klassischen Artikel von Andy Clark/David Chalmers: The extended mind, in: Analysis, 58/1 (1998), S. 7–19 zu verweisen, sowie Andy Clark: Supersizing the Mind. Embodiment, Action, and Cognitive Extension, Oxford 2008. Einen Überblick auf Deutsch zur Philosophie der Verkörperung bietet folgendes Werk: Joerg Fingerhut/Rebekka Hufendiek/Markus Wild (Hg.): Philosophie der Verkörperung. Grundlagentexte zu einer aktuellen Debatte, Berlin 2013. Wobei der Begriff eines „ausgedehnten Geistes“ auch mit Vorsicht zu betrachten ist. Vielmehr wäre die Verbindung zwischen Hand, Instrument, Denken und Artefakt beziehungsweise Umwelt als der Einheit des Geistes zugehörig zu begreifen und nicht als dessen bloße Extension. Zu einer ähnlichen Rolle der denkenden Hand für die Erzeugung von Ideen in der italienischen Kunsttheorie siehe: Ulrich Pfisterer: Die Entstehung des Kunstwerks. Federico Zuccaris „L’Idea de’ pittori, scultori et architetti“, in: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft, 38 (1993), S. 237–268. Zum Begriff des Disegno: Wolfgang Kemp: Disegno. Beiträge zu einer Geschichte des Begriffs zwischen 1547 und 1607, in: Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft, 19 (1974), S. 219–240; Ausst. Kat.: Disegno. Der Zeichner im Bild der Frühen Neuzeit, hg. v. Hein-Thomas Schulze Altcappenberg, München 2007. Giovanni Battista Paggi leugnet die Wichtigkeit der Hand beim künstlerischen Prozess zugunsten seines idealistischen Programms: „Die Tätigkeit der Hand ist, wenn man auf jene des Geistes achtet, von so geringer Bedeutung, daß man von ihr keinerlei Aufhebens machen darf. […] Im Geist, nicht in der Hand liegt die Kunst.“ Zitiert nach Giovanni Romano: Landschaft und Landleben in der italienischen Malerei, Berlin 1989, S. 97. Vgl. Rudolf Preimesberger: Das Dilemma des Porträts, epigrammatisch (1526), in: ders. (Hg.): Porträt, Geschichte der klassischen Bildgattungen in Quellentexten und Kommentaren, hg. v. Kunsthistorischen Institut der Freien Universität Berlin, Band 2, Darmstadt 2003, S. 220–227. Vgl. Ben Broos: The „O“ of Rembrandt, in: Simiolus, 4/3 (1971), S. 174 f.: „This is Coppenol, to the life. [The artist] could portray no more – [Coppenol keeps his] skill in writing and his very brains in his hand.“

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Die denkende Hand

Anton Francesco Doni erwähnte in seinem Disegno von 1549 das Vermögen der Fiaminghi oder Oltramontani, Stoffe aus Seide auf ganz natürliche Weise („in modo che gli fanno parer naturalissimi“) wiederzugeben, und fügte hinzu: „[…] si dice in proverbio che gl’hanno il cervello nelle mani.“11 Auch Michelangelos lapidare Formulierung ist in diesem Sinn (eines mangelnden Disegno) zu verstehen: „[…] es wird mit dem Kopf und nicht mit den Händen gemalt.“12 Der Humanist Lampsonius aus Brügge hat darauf eine nordländische Antwort formuliert: „[…] der Italiener hat das Hirn in seinem Kopf, der Niederländer hingegen hat Vernunft in seiner Hand.“13 Die Erzählung van Hoogstratens über den Malwettstreit erinnert an die Geschichte Balzacs in seinem Unbekannten Meisterwerk (Chef-d’oeuvre in­ connu), in der der junge Poussin wie ein weiterer Knipbergen (im Sinne des Disegno) einen entsprechenden van Goyen (im Sinne der Fortuna) trifft, der „mit einem so leidenschaftlichen Eifer [arbeitete], daß auf seiner kahlen Stirn der Schweiß perlte; und er kam so rasch voran, mit so ungeduldigen, abgehackten kargen Bewegungen, daß es dem jungen Poussin schien, als befinde sich in dem Körper dieser wunderlichen Person ein Dämon, der durch seine Hände wirkte, indem er sie gegen den Willen des Mannes in phantastischer Weise führte“.14 In der Erzählung van Hoogstratens wird außerdem deutlich, dass die denkende Funktion der schaffenden Hand auch mit Übung zusammenhängt. Um den erwünschten Zufall zu erreichen, wird ein habitueller Umgang mit dem Werkzeug vorausgesetzt. Im Sinne von Marcel Mauss und Pierre Bourdieu wird „bodily memory of habits“ zu „habitual memory“.15 Dem Künstler erschließt sich im Arbeitsprozess sein Bild in einer „präreflektierten“ Weise, bevor der 11

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Vgl. A. F. Doni: Disegno, Venedig 1549, zitiert nach Martin Warnke: Der Kopf in der Hand, in: ders.: Nah und Fern zum Bilde. Beiträge zur Kunst und Kunsttheorie, Köln 1997, S. 113. Zur Formel „denkende Hand“ grundlegend: Horst Bredekamp: Denkende Hände. Überlegungen zur Bildkunst der Naturwissenschaften, in: Angela Lammert/Carolin Meister/Jan-Philipp Frühsorge/Andreas Schalhorn (Hg.): Räume der Zeichnung, Nürnberg 2007, S. 12–24; Juhani Pallasmaa: The Thinking Hand. Existential and Embodied Wisdom in Architecture, West Sussex 2009. Zur Geschichte der Hand vgl. allgemein: Mariacarla Bondio Gadebusch (Hg.): Die Hand. Elemente einer Medizin- und Kulturgeschichte, Münster 2010. Warnke: Der Kopf in der Hand, S. 120. Thijs Weststeijn: Karel van Mander and Francisco Pacheco, in: Anton W. A. Boschloo (Hg.): Aemulatio. Imitation, Emulation and Invention in Netherlandish art from 1500 to 1800. Essays in Honor of Eric Jan Sluijter, Zwolle 2011, S. 209: „[…] the Italian has brains in his head […] the Netherlander has wit in his hand.“ Lampsonius wird von Karel van Mander zitiert: „Want den Italiaen heeft d ’hersens in zijn hooft/ […] de Nederlander/Heeft in zijn handt vernuft.“ Honoré de Balzac: Das unbekannte Meisterwerk, in: Georges Didi-Huberman: Die leibhaftige Malerei, München 2002, S. 153 f. Herman Roodenburg: The Eloquence of the Body. Perspectives on Gesture in the Dutch Republic, Zwolle 2004, S. 12.

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II. Das Primat der Hand

Betrachter überhaupt imstande ist, die dahinterstehenden Ziele oder Ideen zu erkennen. Ähnlich verhält es sich beispielsweise beim gekonnten Lautenspielen, bei dem nicht über das Tun nachgedacht werden muss. Es läuft in Verbindung mit der jeweiligen Technik, die erlernt und angeeignet wurde, „automatisiert“ ab.16 Auch in der Forschung zu den Spiegelneuronen finden sich ähnliche Charakterisierungen: „Durch Veränderungen an ihren Synapsen prägt sich das Klein­­hirn den eingeübten, nunmehr mentalen Absichten entsprechenden Bewegungsablauf ein, so daß der gebildete Bürger nach mehrwöchigem Üben schließlich ohne bewußte Kontrolle der Fingerbewegungen die Goldberg-Variationen von Bach technisch fehlerlos spielen wird.“17 Diese Übung wird allerdings nicht allein durch neuronale Prozesse erlernt, sondern durch die körperliche Interaktion mit der Welt, die auf das Zusammenspiel der Instanzen Körper, Handlung (der Farbauftrag) und Kopf gegründet ist. Im automatisierten Prozess des Malens und der handlungsstiftenden Kraft der Farbe sind die Rembrandtisten einer Tradition zugehörig, die von Tizian und Gainsborough bis hin zu Courbet und Pollock reicht.18 Laurence Sterne, der Verfasser von Tristram Shandy, argumentierte, dass nicht der Autor die Feder, sondern die Feder den Autor führe. Mit dieser Aussage steht Sterne in der Tradition der „denkenden Hand“.19 Nicht zufällig beschreibt van Hoogstraten an anderer Stelle den künstlerischen Vorgang beim Zeichnen so, dass ein suchender Künstler aus amorphen Formen Bilder schafft. Er empfiehlt dem jungen Künstler zuerst die großen, schematischen Formen zu skizzieren und diese dann detailliert zu bearbeiten, in

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Vgl. John Michael Krois: Bildkörper und Körperschema, in: ders.: Bildkörper und Körperschema. Schriften zur Verkörperungstheorie ikonischer Formen (Actus et Imago II), Berlin 2011, S. 253–271. Gerhard Neuweiler: Was unterscheidet Menschen von Primaten? Die motorische Intelligenz, in: ders./György Ligeti: Motorische Intelligenz. Zwischen Musik und Naturwissenschaft, hg. v. Reinhart Meyer-Kalkus, Berlin 2007, S. 17. In einer anderen Publikation hebt Neuweiler die Bewegung der Hände und der Gesten für die Entwicklung der Hirnrinde hervor: Vgl. Gerhard Neuweiler: Und wir sind es doch. Die Krone der Evolution, Berlin 2008. Vgl. Bettina Gockel: Kunst und Politik der Farbe. Gainsboroughs Porträtmalerei, Berlin 1999; Matthias Krüger: Das Relief der Farbe. Pastose Malerei in der französischen Kunstkritik 1850–1890, Berlin 2007. Werner Busch: Great Wits Jump. Laurence Sterne und die bildende Kunst, München 2011, S. 173. Die Rolle des Instruments als Denkorgan und Determinante des künstlerischen Experiments findet eine Analogie zum wissenschaftlichen Instrument bei der Hervorbringung des naturwissenschaftlichen Experiments. Siehe Edgar Wind: Das Experiment und die Metaphysik. Zur Auflösung der kosmologischen Antinomien, hg. v. Bernhard Buschendorf, Frankfurt am Main 2001 [Habilitation 1934]. Zu der Rolle der Arbeitsinstrumente in der Kunst siehe Philippe Cordez/ Matthias Krüger (Hg.): Werkzeuge und Instrumente, Hamburger Forschungen zur Kunstgeschichte VIII, Berlin 2012.

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Die denkende Hand

einer Formsuche der Hand par excellence.20 Van Hoogstraten hebt die verschiedenen Verfahrensweisen der Zeichnung hervor, wie er es später auch in Bezug auf die Malerei machen wird, und unterstreicht dabei die Wichtigkeit des rauen Skizzierens,21 obwohl er dem Lehrling zugleich einräumt, das Handeling (entweder in feiner oder rauer Manier) je nach Geschmack selbst auszuwählen.22 Er bringt bezeichnenderweise das Tronje ins Spiel, das für die Rembrandtisten eine sehr wichtige Rolle im Experimentierfeld der Formsuche spielte.23 Es geht um einen stetigen Prozess, der vom Ungeformt-Chaotischen ins Geformt-Spezifische geht. Hierbei spielen auch die Pentimenti eine besondere Rolle als Spuren des Denkprozesses beim Farbauftrag alla prima. Die Rembrandtisten folgten nicht der fixierenden Kraft der Linie, die etwas Vorgedachtes umreißen oder definieren sollte, sondern den unbegrenzten Möglichkeiten der offenen Linie oder des Farbflecks, ein Phänomen, das auch Tizian beschäftigt hatte. Solch offene Formen entstehen durch die Handmotorik während des künstlerischen Prozesses, oder wie es Rembrandt in einem Roman in den Mund gelegt wird: „[…] nichts ist so intelligent wie die Intelligenz, die während des Arbeitens entsteht.“24 Cozens Blot-Methode aus dem Jahre 1785 klingt auch bei van Hoogstraten an: „To sketch, is to delineate ideas; blotting suggests them.“25

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Van Hoogstraten: Inleyding tot de hooge schoole der Schilderkonst, S. 27: „Overzie in een tronie vry de byzondere leden, ten waer gy alleen met losse streeken de holachtige schaduwkens, van oogen, neus, of mond, die zich voornamentlijk vertoonen, aenweest; doch dat dit niet te vroeg, en buiten haer behoorlijke plaets geschiede. Deeze manier van in ’t gros te schetssen, is by de meeste op een onbedwonge wijze in ’t gebruik, maer sommige hebben zich aengewent, met rechte streekjes, de voornaeme gedeeltens in vierkantachtige, langwerpige, en in hoekachtige formen, doch niet geheel toegehaelt, te begrijpen. Ik laet dit aen de keur des leerlings: maer wat verder het ruw schetsen belangt, het is de eerste grontvest van ’t wel teykenen […].“ Vgl. Bert van de Roemer: Regulating the Arts. Willem Goeree versus Samuel van Hoogstraten, in: Nederlands Kunsthistorisch Jaarboek, 61 (2011), S. 199. In diesem Zusammenhang lässt sich an Leonardos Wandfleck denken. Hier sei wiederum an Karel van Manders Diktum über die zwei „Maniere van Handelinghe“ erinnert, wo er zwar dem jungen Künstler oder Liebhaber empfiehlt, sich der feinen Manier zu bedienen, es aber dessen eigenem Urteil überlässt, wofür er sich entscheidet. Dagmar Hirschfelder: Naevolgen/Imitatie. Imitation und Zitat bei Simon Luttichuys, in: Claudia Fritzsche/Karin Leonhard/Gregor J. M. Weber (Hg.), Ad Fontes! Niederländische Kunst des 17. Jahrhunderts in Quellen, Petersberg 2013, S. 201. Übersetzung d. V. Vgl. Margriet de Moor: De Schilder en het Meisje, Amsterdam 7 2011, S. 58: „[…] niets is so slim als de slimheid die je overvalt tijdens het werk.“ Zitiert nach Johannes Stückelberger: Skying. Wolkenmalerei als Übungsfeld einer autopoietischen Ästhetik nach 1800, in: Friedrich Weltzien (Hg.): Von Selbst. Autopoeitische Verfahren in der Ästhetik des 19. Jahrhunderts, Berlin 2006, S. 117. Siehe: Werner Busch: Alexander Cozens’ ‚blot‘-Methode. Landschaftserfindung als Na­­tur­ wissenschaft, in: Heinke Wunderlich (Hg.): Landschaft und Landschaften im achtzehnten  Jahrhundert, Heidelberg 1995, S. 209–228. Hier vor allem S. 209 u. 220;

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II. Das Primat der Hand

Gleichzeitig wird deutlich, dass das raue Skizzieren besonders beliebt bei Kunstliebhabern war, da es als ein Speicherort für Gedanken galt, die sich im Prozess befanden, sich also ständig ändern konnten.26 Für van Hoogstraten ist die raue Skizze (ruwe schets) Resultat eines kreativen Suchens. Sie ist jedoch auch unvollendet, was wiederum an den Wettstreit der Künstler und an den Gewinner Porcellis erinnert.27 Deshalb hebt van Hoogstraten besonders die ­rauen Maler Antidotus und Tintoretto für ihre Malweise hervor, um ihnen im gleichen Atemzug ungenügendes Finito vorzuwerfen.28 Der Rembrandt-Bewunderer Roger de Piles schätzte besonders das schnelle Skizzieren von Gedanken, da für ihn der Ausdruck von Freiheit und Spontaneität bestimmend war. Er hielt das Skizzieren deshalb für ein Zeichen von Intelligenz. Also wird auch hier deutlich, dass das schematische Zeichnen im Sinne des rauen Skizzierens der Rembrandtisten und der Prozess des Denkens als Einheit zu betrachten sind.29 Dies wird auch anhand der Sammlung von de Piles sichtbar, die viele solche Blätter, aber auch Gemälde beinhaltete.30 Im Verständnis von Delacroix, dem Verehrer Rembrandts, ließ sich die „Gestaltidee nicht von der zu gestaltenden Materie zu trennen […]“.31

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Ausst. Kat.: Turner – Hugo – Moreau: Entdeckung der Abstraktion, hg. v. Raphael Rosenberg, München 2007, S. 73. Rosenberg erinnert daran, dass Cozens 1759 „die Absicht bei der Fleckgewinnung unterstreicht“, wobei er für die Zeit um 1785 mehr den Zufall betont. Vgl. Dario Gamboni: „Fabrication of Accidents.“ Factura and Chance in Nineteenth-Century Art, in: RES 36 (1999), S. 206. Van Hoogstraten: Inleyding tot de hooge schoole der Schilderkonst, S. 27: „En even gelijk men zijn vriend van verre bespeurende, of by schemerlicht ontmoetende, strax als met het verstant zijn gedaente ziet, en bevat, zoo geeft een ruwe schets dikwils aen den kenders zoo grooten indruk, dat zy ’er meer, dan dieze gemaekt heeft, in zien kunnen.“ Christopher Atkins: The Signature Style of Frans Hals. Painting, Subjectivity and the Market in Early Modernity, Amsterdam 2012, S. 92 ff. Zum Problem des „Unvollendeten“ siehe Kapitel IV. Atkins: The Signature Style of Frans Hals, S. 92. Van Hoogstraten: Inleyding tot de hooge schoole der Schilderkonst, S. 240: „Antidotus schilderde ruw, maer miste dikwils in de maetschiklijkheyt. Ten zijn niet al Nikomachen, die een vaerdige handt hebben: nooch Tyntoretten, die stout in ’t penseel zijn, De deugt van ’t werk bestaet in bevallijke natuerlijkheyt, en als men die met haest onmachtich is, zoo behoort men ’er tijdt toe te nemen.“ Seymour Slive: Rembrandt and His Critics. 1630–1730, New York 1988, S. 129. Edgar Wind erwähnt in einem anderen Zusammenhang über die Arbeitsweise Friedrich Schlegels: „Comparing ‚rough drafts of philosophy‘ to the sketches […] he proposed to ‚sketch philosophical worlds with a piece of chalk, or characterize the physiognomy of a thought with a few strokes of the pen‘.“ Edgar Wind: Art and Anarchy, Chicago ³1985, S. 39. Vgl. Everhard Korthals Altes: Félibien, de Piles and Dutch seventeenth-century paintings in France, in: Simiolus, 34/3–4 (2009/10), S. 197. Max Imdahl: Farbe. Kunsttheoretische Reflexionen in Frankreich, München 2003, S. 90.

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Die denkende Hand

Dass eine Zeichnung zwar mit „schwerer“ Hand und dadurch „grob“ geschaffen ist, zugleich aber „Intelligenz“ aufweist, bedeutet für Dezallier d’Argenville etwas Positives.32 Dies steht ganz in der Tradition von Roger de Piles und der vorhin zitierten Passage: „[…] [eine Zeichnung von Rembrandt] wird unkorrekt sein, gezeichnet mit schwerer Hand und grober Feder, aber man wird darin Geist finden.“33 Ähnlich können die Kompositionen der Rembrandtisten verstanden werden. Im Falle de Gelders geschieht diese Formsuche sowohl durch den bewussten Einsatz des Zufallsprinzips der teilweise unkontrollierten Hand und der radikalen Verwendung von Kratzern als auch durch den Farbauftrag, der den modellierenden Aspekt der Farbe miteinschließt, indem der Künstler beim Arbeiten auch seine Finger verwendet. Das Hin und Her der Malhandlung als Pendeln zwischen Erschaffung und Zerstörung (zum Beispiel das Wegkratzen von Farbe) wird so deutlich. Dabei spielen die unterschiedlichen Werkzeuge, wie das Palettmesser, eine entscheidende Rolle bei der Hervorbringung eines vom Zufall bestimmten Resultats.34 Erst während des Zeichnens oder Malens können Ideen hervorgebracht werden.35 Die Fantasie ermöglicht die Bildfindung während des Malprozesses.36 Oder wie Balzac es im Unbekannten Meisterwerk formulierte: „Ein Maler darf nur mit dem Pinsel in der Hand nachdenken.“37 Aufgrund der spontanen Handbewegungen schafft der Maler Formen, die wie vom Zufall erzeugt scheinen und größere Natürlichkeit besitzen als jeder noch so durchdachte und fein applizierte Pinselstrich. Diese Beobachtung macht auch Reynolds (nicht ohne Kritik) im zwölften Diskurs (1784) über die Technik Rembrandts: „Rembrandt, in order to take the advantage of accident, appears often to have used the pallet-knife to lay his colours on the canvass instead of the pencil. Whether it is the knife or any other instrument, it suffices if it is something that does not follow exactly the will. Accident in the hands of 32

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Vgl. Patrick Michel: Dezallier d’Argenville’s „Abrégé de la vie des plus fameux peintres“. A Guide for Contemporary Collectors or a Survey of the Taste for Paintings of the northern schools?, in: Simiolus, 34/3–4 (2009/10), S. 212–225. Hilmar Frank: Helldunkel. Die Malerei eröffnet einen neuen Wissensraum, in: Carolin Bohlmann/Thomas Fink/Philipp Weiss (Hg.): Lichtgefüge des 17. Jahrhunderts. Rembrandt und Vermeer – Spinoza und Leibniz, München 2008, S. 217. Krüger: Das Relief der Farbe, S. 195. Max Liebermann sagte in diesem Zusammenhang: „Nicht in der Idee, sondern in der Ausführung der Idee liegt die Kunst. Rembrandt antwortete seinen Schülern auf die Frage, wie sie malen sollen: Nehmt den Pinsel in die Hand und fanget an.“ Zitiert nach Johannes Stückelberger: Rembrandt und die Moderne. Der Dialog mit Rembrandt in der deutschen Kunst um 1900, München 1996, S. 79. Christiane Kruse: Wozu Menschen malen. Historische Begründungen eines Bildmediums, München 2003, S. 75. Balzac: Das unbekannte Meisterwerk, in: Didi-Huberman: Die Leibhaftige Malerei, S. 160.

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an artist who knows how to take the advantage of its hints, will often produce bold and capricious beauties of handling and facility, such as he would not have thought of, or ventured, with his pencil, under the regular restraint of his hand. However, this is fit only on occasions where no correctness of form is required, such as clouds, stumps of trees, rocks, or broken ground. Works produced in an accidental manner will have the same free unrestrained air as the works of nature, whose particular combinations seem to depend upon accident.“38 Je natürlicher das Ergebnis auf der Leinwand aussehen soll, desto freier und spontaner muss die Hand des Künstlers agieren. Die Freiheit der Natur und die Freiheit des Bilderschaffens sind eins, weil beide ein und demselben Formprozess unterliegen. Die Ideologie einer natura naturans beinhaltet die prozessuale Kraft der Form.39 Hinter den Worten von Reynolds über den Zufall verbirgt sich außerdem auch seine kritische Auseinandersetzung mit Gainsborough.40 Nicht nur die Kunst de Gelders, sondern auch vieler anderer Rembrandtisten ist körperlich und performativ – wie es in der Erzählung van Hoogstratens über die denkende Hand berichtet wird – und wendet sich damit gegen jegliche platonisch inspirierte theoretische Legitimierung. Schon im 19. Jahrhundert beschrieb John Smith die Radierungen Rembrandts als „a confusion of lines […] crossing each other in all directions; out of this seeming chaos, his ready invention conceived, and his dexterous hand embodied, the subject […] came to perfection […]“.41 Er folgt darin van Hoogstraten, erwähnt ihn aber nicht explizit. Die „Perfektion“ wird Smith zufolge mit der Hand, die mit dem Zufall arbeitet, erreicht, obwohl der Zufall nie vollkommen sein kann. Aber gerade dort, im Werden der Form, liegt die Schönheit.42 Baldassare Castiglione beschreibt südlich der Alpen auf ähnliche Weise das Prinzip der denkenden Hand im Sinne des Handeling und dessen Aneignung durch den Maler. Dies geht mit seinem Konzept der Sprezzatura einher, das auch für die holländische bürgerliche Kultur (wenn man etwa an Jan Six oder Constantijn Huygens denkt) eine wichtige Rolle spielte: „Eine einzige 38

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Sir Joshua Reynolds: Discourses on Art, hg. v. Robert R. Wark, New Haven/London 1997, S. 223. Vgl. Ernst van de Wetering: Das Verhältnis von Stil, Technik und Zufall bei Arent de Gelder, in: Ausst. Kat.: Arent de Gelder [1645–1727], Rembrandts Meisterschüler und Nachfolger, hg. v. Dordrechts Museum/WallrafRichartz-Museum, Gent 1998, S. 35. Vgl. Pamela H. Smith: The Body of the Artisan. Art and Experience in the Scientific Revolution, Chicago 2004, S. 54. Siehe Kapitel III, S. 144 u. 177. Gockel: Kunst und Politik der Farbe, S. 166 f. Jeroen Boomgaard/Robert W. Scheller: Empfindliches Gleichgewicht. Die Würdigung Rembrandts im Überblick, in: Ausst. Kat.: Rembrandt. Der Meister und seine Werkstatt. Gemälde, hg. v. Christopher Brown/Jan Kelch/Pieter van Thiel, London/ Berlin/Amsterdam 1991, S. 114. Vgl. hier Kapitel III, S. 179.

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mühelose Linie, ein einziger leicht hingeworfener Pinselstrich, wobei die Hand, ohne von emsigem Fleiß oder irgendeiner Kunst geführt zu werden, aus sich selbst heraus auf ihr Ziel in den Absichten des Malers loszugehen scheint, enthüllen auch in der Malerei deutlich die Vortrefflichkeit des Künstlers, über deren Bedeutung sie dann jeder seinem Urteil gemäß verbreitet.“43 Der Venezianer Marco Boschini beschreibt Bildprozess und Farbauftrag eines Künstlers eher als Denkprozess denn als Idee: „[…] an artist need not preconceive what the hand will execute but instead can conceive simultaneously as he executes.“44 1674 wurde in Italien der Stil (genauso gut könnte von Handeling die Rede sein) als ein handgemachter Fleck (Macchia) verstanden, wodurch die bloße Dienerschaft der Hand gegenüber dem Intellekt in Frage gestellt wurde.45 Dieses präreflexive Selbstbewusstsein spielt eine zentrale Rolle für die Rembrandtisten. 46 Was aber ist das Prinzip der sehenden beziehungsweise denkenden Hand? Schon Lorenzo Ghiberti ging in seinen Denkwürdigkeiten im Hinblick auf besonders gelungene Werke auf diese Frage ein.47 Die denkende Hand wird zu einem Topos der Frühen Neuzeit und erscheint als Motiv in den Emblembüchern: in den Niederlanden schon bei Roemer Visschers Sinnepoppen aus dem

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Baldassare Castiglione: Il Cortegiano, übers. v. F. Baumgart, München ²1986, S. 58. Zitiert nach Valeska von Rosen: Celare Artem. Die Ästhetisierung eines rhetorischen Topos in der Malerei mit sichtbarer Pinselschrift, in: Ulrich Pfisterer/Max Seidel (Hg.): Visuelle Topoi. Erfindung und tradiertes Wissen in den Künsten der italienischen Renaissance, München u. a. 2003, Anm. 86, S. 348. Zur Rezeption Castigliones siehe: Peter Burke: The Fortunes of the Courtier. The European Reception of Castiglione’s Cortegiano, University Park Pennsylvania 1996. Vgl. Friedrich Weltzien: Fleck. Das Bild der Selbsttätigkeit. Justinus Kerner und die Klecksografie als experimentelle Bildpraxis zwischen Ästhetik und Naturwissenschaft, Göttingen 2011, S. 21; Roodenburg: The Eloquence of the Body; Maria Isabel PousãoSmith: Sprezzatura, Nettigheid and the Fallacy of Invisible Brushwork in Seventeenth Century Dutch Painting, in: Jan de Jongh u. a. (Hg.): Virtus. Virtuositeit en kunstliefhebbers in de Nederlanden, 1500–1700, Nederlands Kunsthistorisch Jaarboek, 54 (2004), S. 259–279. Philip Sohm: Pittoresco. Marco Boschini, his Critics, and their Critiques of Painterly Brushwork in Seventeenth- and Eighteenth-Century Italy, Cambridge 1991, S. 247. Zitiert nach der englischen Übersetzung Sohms, da das Original im venezianischen Dialekt verfasst ist. Eine deutsche Übersetzung liegt nicht vor. Ebd.: Maniera and the Absent Hand. Avoiding the Etymology of Style, in: RES, 36 (1999), S. 109. Vgl. Evan Thompson: Mind in Life. Biology, Phenomenology and the Sciences of Mind, Harvard 2010, S. 249 ff. Lorenzo Ghibertis Denkwürdigkeiten, hg. v. Julius von Schlosser, Berlin 1912, S. 62, sowie ders., Band 2, S. 189n: „Ancora uidi in Padoua una statua, ui fu condotta per Lombardo della Seta; A moltissime dolceze le quali el uiso no lle comprende nè con forte luce nè con temperata, solo la mano a toccarla la truoua.“

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II. Das Primat der Hand

Bild 30  Roemer Visscher: Sinnepoppen, Band 2, S. 8.

Jahr 1614 (Bild 30), in Italien 1551 bei Andrea Alciato.48 Eine Hand, aus deren Mitte ein Auge den Betrachter fixiert, ist mit einem Lorbeerkranz geschmückt, der sie quasi unterfängt und mit den Worten „Dapper gaet voor“ („Der Entschlossene geht zuerst“) versehen ist, was zum rechtzeitigen Aufhören ermahnt.49 Eine weitere Lesart des Emblems, die aber nicht im Gegensatz zu der vorigen steht, sondern als deren Erweiterung zu betrachten ist, tut sich mit dem Begriff des Self-enoblement auf.50 Van Mander spricht von der sozialen Deter48

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Georg Braungart: Die tastende Hand, die formende Hand. Physiologie und Ästhetik bei Johann Gottfried Herder, in: Paragrana. Internationale Zeitschrift für Historische Anthropologie, Beiheft 1 (2005), S. 31. Arthur Henkel/Albrecht Schöne: Emblemata. Handbuch zur Sinnbildkunst des XVI. und XVII. Jahrhunderts, Stuttgart 1967, Sp. 1010 f. Visscher setzt eine Tradition fort, die schon in den Emblemata von Andrea Alciato 1551 (gedruckt in Lyon) zu finden ist. Henkel/Schöne: Emblemata, Sp. 1010 f. Auf dem Epigramm des Emblems steht (hier in der deutschen Übersetzung): „Viele scheiden nicht auf dem Höhepunkt des Festes und wissen nicht wegzugehen, ehe das Getränk beim Hahnenschrei ausgeht.“ Celeste Brusati: Artifice and Illusion. The Art and Writing of Samuel van Hoogstraten, Chicago 1995, S. 149.

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Die denkende Hand

mination der Malerei: Nicht das gemeine Volk, sondern die Edelleute sollten sie ausüben. Obwohl er in seinen Ausführungen den unorthodoxen Maler akzeptiert, vertritt van Mander dennoch die Meinung, dass ein Künstler gesittet und eben nicht wild sein solle.51 Die Intuition, auch im Sinne der Mantik,52 scheint der gemeinsame Nenner der denkenden Hand und Visschers Emblem zu sein, die mit der Übung (Habitus) beziehungsweise der harten Arbeit einhergeht.53 Die noble, adlige Herkunft einer Person ist Visscher zufolge von Bedeutung, solange sie von Arbeit und Fleiß geprägt ist. Diese Verbindung ist Zeichen der wahren Nobilità, einer Haltung, die mit Visschers protestantischer Ethik zusammenhängt.54 Daran schließen Darstellungen von arbeitenden Künstlern an, wie auf dem Selbstbildnis de Gelders zu sehen ist, der sich selbst trotz seiner höheren sozialen Herkunft als ein mit den Händen arbeitender Maler darstellt (Bild 31).55 Die Idee einer sehenden, intuitiven Hand wird auch von de Piles in Bezug auf den blinden Giovanni Gonneli formuliert, ein Motiv, das ebenfalls in Diderots Brief über die Blinden Verwendung fand: „Ich sehe gar nichts […], meine Augen befinden sich an den Spitzen meiner Finger.“56 Hier kann ein Zusam-

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Das Lehrgedicht des Karel van Mander, hg. v. Rudolf Hoecker, Den Haag 1916, S. 3 u. 31. Für die Rolle der Intuition beziehungsweise der Mantik vgl. Wolfram Hogrebe: Echo des Nichtwissens, Berlin 2006. Brusati: Artifice and Illusion, S. 149. Weiterhin heißt es im zitierten Emblem Visschers: „Voor alle Edelheyd gaet de wackere Dapperheydt, ’twelck beteeckent wordt door een wakent Oogh in de handt, boven den Lauren krans; want Edelheydt van Geboorte is wel een spoor of prickel tot treffelijke daden [Herv. d. V.], dan de trage Slampamper mach hem zijns gheboorts niet roemen, als hy de dappere handt niet aen ’t werck en slaet, toonende dat hy zijns gheslachts gheen bastaert en is. Ende die van slechte afcomst is, behoeft hem dies niet te schamen, den wegh van eeren staet hem oock open, soo hy in Dapperheydt d’ Edelheyd overtreft ende te boven gaet.“ Roemer Visscher: Sinnepoppen, Amsterdam 1614, Band 2, S. 8, zitiert nach Henkel/Schöne: Emblemata, Sp. 1010 f. Nicht zufällig hob Sandrart Fleiß als Rembrandts zentrale Eigenschaft hervor. Vgl. Joachim von Sandrart: Teutsche Akademie 1675, I, Buch 3 (Malerei), S. 58, unter: http://ta.sandrart.net/de/text/145#tapagehead [22. 1. 2014]. Hans Joachim Dethlefs: Der Wohlstand der Kunst: Ökonomische, sozialethische und eudämonistische Sinnperspektiven im frühneuzeitlichen Umgang mit dem Schönen, Tokyo 2010, S. 314. Vgl. Peter Hecht: The Paragone Debate. Ten Illustrations and a Comment, in: Simiolus, 14 (1984), S. 131: „De Piles obviously drawing on Baldinucci for the bare bones of the story, asserts, that he has seen a portrait of Gonnelli in Paris in which the poor prodigy was portrayed with an eye on each fingertip […] to indicate that his original eyes were no longer of service to him.“ Der blinde Bildhauer bietet in diesem Falle eine Bestätigung des Tactus gegenüber dem Visus in dem vermeintlichen Paragone zwischen Malerei und Skulptur. Vgl. zum Bericht de Piles’ auch Hans Körner: Giovanni Gonnelli. Quellen und Fragen

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II. Das Primat der Hand

menhang zwischen der Intuition des blinden Künstlers und van Hoogstratens Erzählung über van Goyen sowie Visschers Emblem gesehen werden. Alle drei eint das Verständnis von der künstlerischen Tätigkeit als gesamtkörperlichem Prozess.57 Die Hand ist nicht blind, zumindest nicht für die Rembrandtisten.58 Die den Körper verachtende idealistische Kunsttheorie muss sich mit dem Topos des Blinden befassen, um die denkende bzw. sehende Hand überhaupt akzeptieren zu können. Als Beispiel hierfür kann Gerard de Lairesse herhalten oder auch Giovanni Paolo Lomazzo, die sich nach ihrer Erblindung mit der Kunsttheorie befassten und mit der Malerei aufhörten. Im Gegensatz zu diesen beiden Künstlern tritt Giovanni Gonnelli hervor, der trotz seiner Erblindung weiter als Bildhauer tätig war. Willem Goeree argumentierte gegen die Holländer, deren Kunstpraxis nicht im Kopf, sondern in den Fingerspitzen liegt.59 Dagegen betont van Hoogstraten (wohl wegen seiner Lehre bei Rembrandt) die paritätische Bedeutung von Hand und Kopf,60 was in der Tradition Leonardos steht, bei dem bekanntermaßen Kopf und Hand zusammenwirken.61 Joachim von Sandrart unterstrich das Desideratum einer Harmonie zwischen Hand und Verstand: „Der Verstand und die Hand des Künstlers/ sollen glücklich und klüglich zusammen spielen.“62 Jedenfalls lässt sich behaupten, dass Hand, Auge und Hirn in einem gemeinsamen Prozess, in diesem Fall beim Farbauftrag, kooperieren.63 Diese Entitäten sind nicht voneinander zu trennen.

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zum Werk eines blinden Bildhauers, in: Markus Rath/Jörg Trempler/Iris Wenderholm (Hg.): Das haptische Bild. Körperhafte Bilderfahrung in der Neuzeit, Berlin 2013, S. 144. Pallasmaa: The Thinking Hand, S. 31. Er spricht von „this complete integration of the actions of the hands with the entire body“. Dass dies schon ein recht alter Topos ist, beweist Vinzenz von Beauvais um 1250. Er verstand die Hand als „Gabe für den ganzen Körper“. Zitiert nach Wolf-Dietrich Löhr: Handwerk und Denkwerk des Malers. Kontexte für Cenninis Theorie der Praxis, in: Ausst. Kat.: Fantasie und Handwerk. Cennino Cennini und die Tradition der toskanischen Malerei von Giotto bis Lorenzo Monaco, hg. v. ders./Stefan Weppelmann München 2008, S. 154. Vgl. Gottfried Boehm: Das bildnerische Kontinuum. Gattung und Bild in der Moderne, in: ders.: Wie Bilder Sinn erzeugen. Die Macht des Zeigens, Berlin 2007, S. 157. Van de Roemer: Regulating the Arts, S. 195. Ebd. Martin Warnke: Der Kopf in der Hand, S. 112. Sandrart: Teutsche Akademie 1675, Buch (Malerei), S. 62, unter: http://ta.sandrart. net/edition/text/view/149#tapagehead [22. 1. 2014]. Vgl. Pallasmaa: The Thinking Hand, S. 82–86.

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Die denkende Hand

In van Hoogstratens idealistisch gehaltenem Modell gibt es wiederum Ansätze, in denen er die Hand als einen treuen Diener des Kopfes versteht.64 Der Hand gewährt er keine grenzenlose Freiheit. Er akzeptiert aber Fehler, wie er im Falle Dürers zeigt, die für einen jungen Künstler lehrreich sind.65 Ob damit die Umrisslinie gemeint ist oder der suchende Charakter einer offenen Linie ebenfalls als frei aufgefasst wird, bleibt fraglich.66 Etwas Ähnliches soll Frans Hals seinen Schülern geraten haben: „F. Hals die gewoon was tot zyn leerlingen te zeggen: Gy moet maar stout toesmeeren: als gy vast in de Konst word zal de netheid van zelf wel komen.“67 Das Auge soll van Hoogstraten zufolge ein Kompass, ein körperliches Navigationssystem werden – was an den Titel des aus dem Jahre 1660 stammenden gereimten Dialogs von Marco Boschini, Carta del navegar pitoresco, erinnert.68 Das Wort pitoresco kann bis zu einem gewissen Grade mit dem Wort Schilderachtig, wie es van Hoogstraten gebraucht, verglichen werden, der einen viel offeneren und nicht allein an die klassischen Regeln von Schönheit gebundenen Begriff (im Sinne des worth being painted als Folge der allumfassenden Darstellung der „zichtbaere werelt“) befürwortet.69 Dieses Konzept des Schilder-

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Ernst van de Wetering: Towards a Reconstruction of Rembrandt’s Art Theory, in: ders. (Hg.): A Corpus of Rembrandt Paintings V. The Small-Scale History Paintings, Dordrecht 2010, S. 119: „So it is now necessary that one should get used to a way of doing such that it is able to obey readily what the mind dictates.“ Van de Wetering: Towards a Reconstruction of Rembrandt’s Art Theory, S. 48. Dürer hat die Rolle der Hand im Verhältnis zum Verstand folgendermaßen beschrieben: „Dann der Verstand muß mit dem Gebrauch anfahen zu wachsen, also daß die Hand künn thon, was der Will im Verstand haben will.“ Zitiert nach Monika Wagner: Geliehene Hände. Antony Gormleys Field, in: Philippe Cordez/Matthias Krüger (Hg.): Werkzeuge und Instrumente. Hamburger Forschungen zur Kunstgeschichte VIII, Berlin 2012, Anm. 32, S. 197. Van Hoogstraten: Inleyding tot de hooge schoole der Schilderkonst, S. 63. Vgl. van de Wetering: Towards a Reconstruction of Rembrandt’s Art Theory, S. 47 f. Zitiert nach Nicola Suthor: Bravura. Virtuosität und Mutwilligkeit in der Malerei der Frühen Neuzeit, München 2010, S. 252: „Ihr müsst nur kühn hinschmieren, wenn Ihr einmal fest in der Kunst seid, kommt die Ordentlichkeit von selbst.“ In gewisser Weise unterstrich dies schon Cennini: „Weißt du, was dir geschehen wird, wenn du das Zeichnen mit der Feder ausübst? Es wird dich erprobt, geübt und fähig machen für vieles Zeichnen in deinem Kopf.“ Zitiert nach Löhr: Handwerk und Denkwerk des Malers, S. 168. Die motorische Übung der Zeichnung kann neue Ideen für künftige Werke evozieren. Löhr (S. 169) unterstreicht dabei die Wichtigkeit des Zusammenspiels von Intellekt und Praxis, die die Fantasie beflügelt. Brusati: Artifice and Illusion, S. 225. Vgl. Boudewijn Bakker: Schilderachtig: Discussions of a Seventeenth-Century Term and Concept, in: Simiolus, 23/2–3 (1995), S. 159–162. Der Begriff kommt schon bei van Mander vor, vgl. Das Lehrgedicht des Karel van Mander, S. 28.

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II. Das Primat der Hand

achtig von Rembrandt ist das, was den „radikalen Naturalismus“ des Malers ausmacht und als Prinzip auch die späten Schüler zutiefst beschäftigt.70 Boschini ist auch derjenige, der in ähnlicher, doch rigoroser Weise als van Hoogstraten die besondere Rolle des Auges gegenüber dem Intellekt betonte: „The eye should be the true guide to persuade the intellect“.71 Samuel ist demnach in Bezug auf das Verhältnis von Auge, Hand und Kopf nicht konsequent genug. Ein großer Teil seines Buches bewegt sich zwischen unbewusster Rembrandt’scher Praxis und zielgerichtetem Neoplatonismus, sodass nicht selten widersprüchliche Aussagen auftreten. Hinzu gesellt sich die unsystematische Weise, in der das Buch geschrieben ist, hervorgerufen durch den Versuch van Hoogstratens, bestimmte seit der Antike vorhandene Traditionen und Topoi zu reflektieren und für das holländische Publikum zu überliefern, auch wenn bezüglich des Aufbaus der Grondt van Manders den größten Einfluss auf ihn ausgeübt hat.72 Houbraken hat wohl als Erster diese Diskrepanz erkannt: In der Biografie seines Lehrers erwähnt er, wie van Hoogstraten die Farbe ungemischt und pur verwendete und in seinem Spätwerk auf eine Art und Weise malte, die er zuvor in seinem eigenen Buch kritisiert hatte.73 Die Intuition verbindet sich mit der Tatkraft des handwerklichen Arbeitens, was wiederum für das Handeling (Actio als körperliche Articulatio)74 der denkenden Hand bezeichnend ist.75 Annibale Carracci, der aufgrund seiner Malideologie (beispielsweise hinsichtlich der Rolle der Unmittelbarkeit des lebenden Modells) mit den Rembrandtisten vergleichbar ist, war der Meinung, dass die Maler mit ihren Händen sprechen sollten.76 Dies verband ihn im Sinne der Actio mit den Rhetorikern, nicht aber in Bezug auf eine sprachliche Fixierung, sondern

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Van de Wetering: Towards a Reconstruction of Rembrandt’s Art Theory, S. 216. Sohm: Pittoresco, S. 116. Van de Wetering: Towards a Reconstruction of Rembrandt’s Art Theory, S. 12. Arnold Houbraken: De Groote Schouburgh der Nederlantsche konstschilders en schilderessen, Band 2, Den Haag ²1753, S. 158 f. Vgl.: Ulrike Kern: Samuel van Hoogstraeten and the Cartesian Rainbow Debate. Colour and Optics in a Seventeenth-Century Treatise of Art Theory, in: Simiolus, 36/1–2 (2012), S. 113. Vgl. Hendrik J. Horn: Arnold Houbraken’s References to Samuel van Hoogstraten and his Introduction to the Academy of Painting, in: Thijs Weststeijn (Hg.): The Universal Art of Samuel van Hoogstraten (1627–1678). Painter, Writer, and Courtier, Amsterdam 2013, S. 241–258. Ausst. Kat.: Bewegtes Leben. Körpertechniken in der Frühen Neuzeit, hg. v. Rebekka von Malinckrodt, Wiesbaden 2008, S. 65. Henkel/Schöne: Emblemata, Sp. 1011; Braungart: Die tastende Hand, die formende Hand, S. 31. Siehe exemplarisch Roberto Zapperi: Annibale Carracci. Bildnis eines jungen Künstlers, Berlin 1990, S. 123–138.

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Die denkende Hand

aufgrund der Artikulation als bildliche Energeia.77 Besonders prägnant kommt das in der Erzählung van Hoogstratens über van Goyen zum Ausdruck und charakterisiert die Bildpraxis de Gelders. Mit anderen Worten: Die denkende Hand ist vor allem eine arbeitende, agierende Hand, die durch das eigene Schaffen zunehmend Intelligenz erwirbt, wie ein Organismus im Raum und in seiner körperlichen Interaktion mit der Welt. Sie ist im Sinne Visschers „nobel“ durch die intuitive Arbeit, die sie verrichtet. Zugleich gibt auch die göttliche Schöpferkraft eine Erklärung für die Wichtigkeit der Hände beim Schaffensprozess, ähnlich dem Natura-naturans-Prinzip. Die Hand wirkt entschieden mit, wie auch Jakob Böhme in Aurora herausstellte: „Die Hände bedeuten die Allmacht Gottes; denn gleichwie Gott in der Natur kann alles verändern und daraus machen, was er will, also auch kann der Mensch mit seinen Händen alles das, was aus der Natur gewachsen oder worden ist, verändern und aus demselben mit seinen Händen machen, was er will; er regiert mit den Händen der ganzen Natur Werk und Wesen, und sie bedeuten recht die Allmacht Gottes.“78 Das Handeling ist als Hauptagens des Malers Teil seines gesamten Organismus. Als Werkzeug und gleichzeitige Spur sowie Erweiterung des Körpers schließt es die Distanzierung und die kritische Reflexion mit ein.79 Der körperlich agierende Künstler verrichtet „[the] active work of the senses by observation with the eyes and manipulation with the hands and instruments“80. Diese jüngst formulierte theoretische Konzeption hat ihren Ursprung in der Phänomenologie Maurice Merleau-Pontys sowie in den Körpertechniken von Marcel Mauss. Der Habitusbegriff Bourdieus knüpft an diese Tradition an.81 Für Merleau-Ponty ist der Leib ein Werkzeug des Verstehens der Welt und 77 78 79

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Weststeijn: The Visible World, S. 72. Jakob Böhme: Aurora oder Morgenröthe im Aufgang. Ausgewählte Texte, Leipzig 1974, S. 71 f. Vgl. Smith: The Body of the Artisan, S. 161. Vgl. André Leroi-Gourhan: Hand und Wort. Die Evolution von Technik, Sprache und Kunst, Frankfurt am Main 1988, S. 305 u. 307: „Die indirekte Motorik der Hand bedeutet eine weitere Befreiung, denn die motorische Geste findet sich in eine manuelle Maschine freigesetzt, durch die sie verlängert und modifiziert wird. […] Die Bewegung der Hand erfährt mit diesem Instrument eine Transformation, die sowohl deren Kraft als auch deren Richtung betrifft. […] Die Gebißaktivitäten gehen auf die Hand über, die das losgelöste Werkzeug führt, sodann löst sich das Werkzeug auch von der Hand und wird zu einem Teil der Geste, die vom Arm auf die manuelle Maschine übergeht.“ Vieles verdankt Leroi-Gourhan Henri Focillons Lob der Hand. Smith: The Body of the Artisan, S. 220. David Rosand bringt dieses Problem in Drawing Acts auf den Punkt: „It is by lending his body to the world that the artist changes the world into paintings.“ David Rosand: Drawing Acts. Studies in Graphic Expression and Representation, Cambridge/New York 2002, S. 15. Herman Roodenburg: A New Historical Anthropology? A Plea to take a Fresh Look at Practice Theory in: Beate Binder/Michaela Fenske (Hg.): Historische Anthropologie. Standortbestimmungen im Feld historischer und europäisch ethnologischer

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II. Das Primat der Hand

wächst in der Interaktion mit ihr.82 Dies ist ein wichtiges Fundament der Verkörperungsphilosophie, die nicht allein phänomenologisch, sondern auch enaktivistisch argumentiert. Die denkende Funktion der Hand hat Henri Focillon in seinem berühmten Essay erkannt, seine Einsicht könnte hier als Motto dienen: „Die Hand […] ist Tätigkeit; sie ergreift, sie erschafft, und manchmal ist man sogar versucht zu sagen, daß sie denkt. […] Um die Welt zu besitzen, braucht es eine Art von taktilem Spürsinn. Der Tastsinn erfüllt die Natur mit geheimnisvollen Kräften. Ohne ihn gliche sie den entzückenden Landschaften einer camera obscura, die leicht, flach und chimärisch sind. […] Im Anfang war das Wort, im Anfang war die Tat, denn Tat und Wort, Hände und Stimme sind in den gleichen Ursprüngen vereinigt.“83 Focillon fasst seine Überlegungen wie folgt zusammen: „Ich trenne die Hand weder vom Körper noch vom Geist. Der Geist bildet die Hand, die Hand bildet den Geist. […] Die Hand ist nicht die gehorsame Dienerin des Geistes, sie sucht, sie grübelt für ihn, sie durchläuft alle Arten von Abenteuern, sie versucht ihr Glück.“84 Die Bildung von Geistigem durch die Praxis der Handmotorik wird als ein allmählich angeeigneter Prozess verstanden, der alle Sinne miteinschließt. Boschini bevorzugte die Bilder Tizians, weil sie die Wahrnehmung des Geruchs, des Geschmacks und des Tastsinns miteinbezogen.85 Gleichermaßen sind die Bilder der Rembrandtisten aufzufassen. Van Hoogstraten unterstreicht einen weiteren Aspekt der Bildpraxis, der auch für de Gelder zentral ist: „Sicherlich besteht die Malerei aus dem, was man tut, und nicht aus dem, was man sagt“ („Zeeker de Schilderkonst bestaet in wel te doen, en niet in wel te zeggen“).86 Dem Autor und Künstler waren alle Theoretiker suspekt, die nicht selbst die Praxis der Kunst kannten.87 An dieser Stelle

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Forschungs- und Wissenspraktiken, Historisches Forum, 14 (2012), S. 93–105, hier besonders S. 97–100. Siehe Marcel Mauss: Die Techniken des Körpers, in: ders.: Soziologie und Anthropologie, Band 2, München 1975, S. 199–220; Pierre Bourdieu: Zur Soziologie der symbolischen Formen, Frankfurt am Main 2000, S. 125–158. Maurice Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin 1966, S. 233 ff.; Ausst. Kat.: Bewegtes Leben, S. 1. Focillon: Lob der Hand, Bern 1958, S. 20 u. 25. Ebd. S. 29 u. 46. Jodi Cranston: The Muddied Mirror. Materiality and Figuration in Titian’s Later Paintings, University Park Pennsylvania 2010, S. 16. Van Hoogstraten: Inleyding tot de hooge schoole der Schilderkonst, S. 22: „Die Malerei besteht sicherlich daraus indem was gemacht wird und nicht indem was gesagt wird.“ Auf Seite 230 wiederholt er: „houd meerder van doen, dan van zeggen“. Vgl. Paul Taylor: Flatness in Dutch Art. Theory and Practice, in: Oud Holland, 121 (2008), S. 161; Weststeijn (Hg.): The Universal Art of Samuel van Hoogstraten, S. 23. Wie bereits gesehen, vertrat Annibale Carracci diese Meinung.

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„Handwerker“ aus Überzeugung

schließt sich der Kreis bei van Hoogstraten: Das Plädoyer für Praxis und Formsuche bei der Bildgestaltung verbindet sich mit dem Prinzip der denkenden Hand.

„Ha ndwerker“ aus Ü b er zeug u ng Im geräumigen Inneren eines Ateliers (Bild 31) sind im Vordergrund zwei Gestalten zu erkennen: Eine männliche Figur, ein Maler mit seinen Werkzeugen, ist im Begriff, das Bildnis einer Frau anzufertigen, und wendet sich dem Betrachter mit einem breiten Grinsen zu, das seine Zähne ansatzweise entblößt (Bild 32). Sein Modell, eine betagte Dame, posiert vornehm sitzend mit einer Orange in der Hand und schaut weitgehend im Profil in die Richtung des Malers, der ebenfalls eine Sitzhaltung eingenommen hat. Dass er sich eben gesetzt haben könnte, darauf deutet die Kordel seines Gewandes hin, die in schneller Bewegung nach links schwingt. Neben dem Maler scheint auch die porträtierte Dame auf der Leinwand als Bild im Bild den Betrachter anzublicken. Im Gemälde hat sie einen ernsten Ausdruck, ihre Hand ist vom davorsitzenden Maler verdeckt, sodass offen bleibt, ob sie eine Frucht hält. Hinter der Staffelei ist ein weiteres Porträt zu erkennen, diesmal ein männliches. Der Künstler wird hier also als produktiver Porträtmaler dargestellt.88 Auf einem mit Kreide beschmierten Tisch befinden sich diverse Farbtöpfe und weitere Malutensilien. Der Künstler weist mit einem Fingerzeig auf die Farbe bzw. auf einen Topf mit Öl (sein Bindemittel) hin, wodurch der handwerkliche Aspekt der künstlerischen Arbeit hervorgehoben wird, was die höhere soziale Position des Künstlers zumindest indirekt in Frage stellt (Bild 33). Es ist vorstellbar, dass es sich um eine Referenz auf das Malen mit den Fingern handelt (fingere, formieren).89 Das Bild gleicht einer Prinzipienerklärung: Attribute eines humanistischen Künstlers werden vergeblich gesucht.90 De Gelder ist ein Maler, der gleichsam mit den Händen denkt. Dies steht in der bereits skizzierten Tradition der denkenden Hand, die dem Körper gegenüber der Idea der Neoplatoniker den Vorzug gibt. Interessanterweise ist auch das traditionelle Symbol für die abstrakttheoretischen Aspekte der Kunst präsent, nämlich der Stechzirkel. Den Figuren fehlt es aber an anatomischer Korrektheit im Sinne der klassischen Regeln. Der

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Mirjam Neumeister: Holländische Gemälde im Städel Museum 1550–1800, Künstler geboren nach 1630, Band 3, Petersberg 2010, S. 104. Leider lässt sich in den Reproduktionen das Porträt nicht erkennen. Ebd., S. 109. Ebd., S. 112.

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II. Das Primat der Hand

Bild 31  Arent de Gelder: Selbstbildnis als Zeuxis, signiert, 1685, Öl auf Leinwand, 144 × 169 cm, Städelsches Kunstinstitut, Frankfurt am Main.

Zirkel ist an die Tischkante verbannt worden und findet keine Verwendung. Vielmehr geht es um den Vorzug der Farbe. Im Einklang mit der Palette de Gelders wird die Szenerie von einer rötlich-dunkel angemischten Farbgebung bestimmt, deren Farbenreihe nach dem Helldunkelwert angeordnet ist.91 Die erdigen Farben dominieren, ein Charakteristikum der Rembrandtisten,92 das sie von den Klassizisten und ihrer regenbogenartigen Farbanordnung unterscheidet.93 Das signierte und auf das Jahr 1685 datierte Bild wird von der Forschung einstimmig als Selbstbildnis als Zeuxis betrachtet und hat den Anstoß zur Identifizierung von Rembrandts Selbstbildnis als Zeuxis in Köln gegeben.94 Der 91 92 93 94

John Gage: Kulturgeschichte der Farbe. Von der Antike bis zur Gegenwart, Leipzig 2009, S. 182. Für diese Farbtöne wird der Begriff bruin verwendet, was nicht die Farbe Braun bezeichnet, sondern generell dunkle Töne meint. Kern: Samuel van Hoogstraeten and the Cartesian Rainbow Debate, S. 111. Jan Białostocki: Rembrandt’s Terminus, in: Wallraf-Richartz-Jahrbuch, 28 (1966), S. 49–60; Albert Blankert: Rembrandt, Zeuxis and Ideal Beauty, in: Joshua Bruyn

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„Handwerker“ aus Überzeugung

Bilder 32, 33  Details aus Bild 31.

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II. Das Primat der Hand

Bild 34  Detail aus Bild 31.

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Farbton des Gemäldes im Frankfurter Städel scheint geradezu programmatisch. Nebst seiner Palette hält der Maler einen Malstock und mehrere Pinsel in seiner Linken, von denen einige auf das Gemälde weisen oder sogar dessen Oberfläche zu berühren scheinen. Das Bild im Bild, das gerade jetzt vor unseren Augen entsteht, unterstreicht das prozessuale Werden der Form, eine zentrale Eigenschaft der de Gelder’schen Praxis (Bild 33). Das Bekenntnis de Gelders zur ­an­ti­­­­­­idealistischen Helldunkeltradition95 ist wichtiger als lediglich sein Bekenntnis zu Rembrandt, und zwar deshalb, weil es in einem größeren Zusammenhang steht. De Gelder vertritt das Malerische, im Frankfurter Bild weist er auf die Farbe hin und eben nicht auf den unbenutzten Zirkel, das Lineare im Gemälde.96 Der Malerkittel des Künstlers ist mit Farbe bespritzt, die wie Spuren seines Denkens auf der Leinwand verbleibt. Außerdem ist die Farbe auf seinem rechten Arm so aufgetragen, dass sie vexierbildartig ein Gesicht vor den Augen der Betrachter entstehen lässt (Bild 35).97 Dieses poten-

(Hg.): Album Amicorum J. G. Van Gelder, Den Haag 1973, S. 32–39; Ekkehard Mai: Zeuxis, Rembrandt und De Gelder – Das Selbstbildnis als Kunstprogramm, in: Ausst. Kat.: Arent de Gelder [1645–1727], S. 98–109; Ekkehard Mai: Selbstbildnis als Zeuxis, in: Ausst. Kat.: Arent de Gelder [1645–1727], S. 174; Ekkehard Mai: Rembrandt „Selbstbildnis als Zeuxis“, Berlin 2002. Mai zufolge bezieht sich de Gelder auf die Zeuxisanekdote des Marcus Verrius Flaccus, überliefert in Karel van Manders Schilderboeck von 1604. Blankert: Rembrandt, Zeuxis and Ideal Beauty. Mai: Selbstbildnis als Zeuxis, S. 174. Mit Dank an Franz Engel für den Hinweis. Das im Viertelprofil nach links gewendete Gesicht wird vom Saum des Gewandes umhüllt. Die Kinnfalte verlängert die Saumlinie im unteren Bereich. Die Schulter agiert als Stirn und die oberste Gewandfalte des Armes bildet die Augenhöhlen.

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„Handwerker“ aus Überzeugung

Bild 35  Detail aus Bild 31.

zielle, nicht sofort erkennbare Antlitz ist bei den Rembrandtisten kein Einzelfall.98 In einem Gemälde von Barent Fabritius, das wohl seinen jüngeren Bruder beim Malen zeigt (Bild 36 und Bild 37), erscheint ebenfalls ein Gesicht, eine Fratze mit weit geöffnetem Mund, gebildet aus den Falten des Gewandes und den Farbspuren, die sich wie bei de Gelder auf dem Malerkittel finden (Bild 38 und Bild 39).99 Das Gesicht erscheint fast auf derselben Achse wie die Bambocci  98   99

Vgl. Kapitel IV, S. 213 ff. Dieses Detail wurde in der bisherigen Literatur nicht wahrgenommen. Vgl. zuletzt Ulrich Pfisterer: Der Kontrakt des Zeichners. Barent Fabritius und die disegnoTheorien der Frühen Neuzeit, in: Ausst. Kat.: Disegno. Der Zeichner im Bild der Frühen Neuzeit, hg. v. Hein-Thomas Schulze Altcappenberg, München 2007,

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II. Das Primat der Hand

Bild 36  Barent Fabritius: Junger Maler im Atelier, um 1655, Öl auf Holz, 72 × 54 cm, Musée du Louvre, Paris.

Bild 37  Detail aus 36.

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„Handwerker“ aus Überzeugung

Bild 38  Detail aus Bild 36.

Bild 39  Detail aus Bild 36.

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II. Das Primat der Hand

Bild 40  Detail aus Bild 36.

anti ähnlichen Sgraffito-Grotesken der verputzten Wand (Bild 40). Das übrige Gewand zeigt ebenfalls taktile Spuren von Farbe, als hätte Fabritius sie mit seinen Fingern darauf verteilt. Die Palette liegt auf dem Unterarm des Malers auf, womit Pinsel und Palette zu Waffen und das Ärmelgesicht zum apotropäischen Schild werden, gewiss eine Anspielung auf das Wort „Schilder“, das Maler bedeutet. Schon Gerard de Lairesse charakterisierte den Künstler als einen General, der mit seinen Malgeräten hantiert, als kämpfe er in einer Schlacht.100 Diese beiden Beispiele erscheinen wie ein visuelles Argument gegen die Kritik Filippo Baldinuccis an Rembrandt, die nach einem Bericht von Bernhard Keil 1686 (ein Jahr davor entstand das Selbstbildnis als Zeuxis) veröffentlicht worden ist. Dort wird der Künstler („una faccia brutta e plebea“) zu einem Bauern stilisiert, weil er die Gewohnheit hatte, sich während des Malens die Farbe von seinen Händen am Malerkittel abzuwischen.101 Nach Meinung Baldinuccis

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S. 45–53. Die Tradition, aus zufällig gefalteten Gewändern Grotesken zu bilden, findet sich bereits im Mittelalter. Zitiert nach Hans Joachim Dethlefs: Gerard de Lairesse and the Semantic Development of the Concept Haltung in German, in: Oud Holland, 122 (2009), S. 219. Filippo Baldinucci: Cominciamento, e progresso dell’arte dell’intagliare in rame, colle vite di molti de’ più eccelenti Maestri della stessa Professione, Florenz 1686,

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„Handwerker“ aus Überzeugung

steht dieser Habitus einem freien, edlen Künstler nicht zu, sondern gehört eher dem Milieu eines Handwerkers an, ist also sozial niedriger konnotiert. Indem die Rembrandtisten ihre Hände an ihrer Bekleidung abwischen, wird die Palette in den Bildern buchstäblich und metaphorisch auf den Körper des Künstlers transformiert. Die altmodischen Kleider des Malers (er trägt ein Künstlergewand aus dem 16. Jahrhundert)102 und der Frau im Selbstbildnis als Zeuxis nehmen Bezug auf die Malweise, die von den Zeitgenossen als überholt betrachtet wurde. De Gelder tritt damit in einen Dialog mit der Kleidung Rembrandts in dessen Selbstporträts. Weder das Modell noch der Maler werden idealisiert. Bekanntlich nahm de Gelder die Scherze über sein Schielen mit Gelassenheit und Humor.103 Ironisch ist das Motiv der Orange, die ein beliebtes Objekt in seinem Œuvre ist und eher an die „Femmes fatales“, wie im Bild Vertumnus und Pomona, denken lässt (Bild 41). Die Orange steht häufig für Fruchtbarkeit und ist mit jungen weiblichen Schönheiten verbunden, was hier anhand der Zeuxisanekdote nochmals ironisch aufgegriffen wird. Bei einem Apfel würde die Verführung eine Rolle spielen und man wäre zudem an das Urteil des Paris erinnert. Die Hauptbotschaft wird dadurch jedoch nicht berührt.104 De Gelder verwendet für seine Selbstdarstellung genrehafte Züge (dafür steht sein Grinsen), was in einem reinen Porträt nicht möglich wäre.105 Das Porträtieren wird hier mit Elementen eines Genreund Historienbildes vermischt. Mithin wird der Inhalt des Bildes zu einem Kommentar über die Praxis der Malerei erhoben.

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S. 79: „Lo scomparire, che faceva in lui una faccia bruta, e plebea, era accompagnato da un vestire abietto, e fucido, essendo suo costume nel lavorare il nettarsi i pennelli addosso, ed altre cose fare tagliate a questa misura.“ Vgl. Slive: Rembrandt and His Critics, S. 113. Dazu soll die Erzählung Sandrarts in Erinnerung gerufen werden, der Rembrandts niedere Herkunft betonte: „[…] der fürtrefliche Rembrand von Ryn/nur aus dem platten Land und von einem Müller entsprossen […].“ Sandrart: Teutsche Akademie 1675, Buch 3 (Malerei), I, S. 326, unter: http://ta.sandrart.net/de/text/ 552#idx552.1 [20.5.2015]. Lomazzo erzählt, dass Dürer (als Zeichen seiner humilitas) durch die Straßen Nürnbergs in seinem Malerkittel ging. Giovanni Paolo Lomazzo: Idea del Tempio della Pittura, Mailand 1590, S. 114 f.: „[…] D’Alberto Durero si dice che spesse volte andava per la città con la veste nelle quale pignea, non riputandosi niente più del suo valore […].“ Vgl. Marieke de Winkel: Fashion or Fancy. Dress and Meaning in Rembrandt’s Paintings, Amsterdam 2006, S. 163. Vgl. Hans Joachim Raupp: Untersuchungen zu Künstlerbildnis und Künstlerdarstellung in den Niederlanden im 17.  Jahrhundert, Hildesheim/New York 1984, S. 180. De Winkel: Fashion or Fancy, Amsterdam 2006, S. 162. Jacob Campo Weyerman: De levens-beschryvingen der Nederlandsche konst-schilders en konst-schilderessen, Band 3, Den Haag/Dordrecht, 1729–1769, S. 44. Neumeister: Holländische Gemälde im Städel Museum 1550–1800, S. 108. Ebd.: S. 111.

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II. Das Primat der Hand

Bild 41  Arent de Gelder: Vertumnus und Pomona, um 1700, Öl auf Leinwand, 93,5 × 122 cm, Národní Galerie v Praze, Prag.

Das Selbstbildnis als Zeuxis stellt eine Inszenierung der ChiaroscuroMalerei dar und ist gleichzeitig ein ironischer Kommentar zu den Ausführungen van Hoogstratens über Rembrandt und Tizian sowie eine Vorwegnahme der viel schärferen, späteren Kritik von de Lairesse.106 Aber gerade in der Ironisierung liegt das Bekenntnis zum anderen, nicht akademischen Stil. Weiterhin wird als Kritik an Rembrandt das Prinzip der Ähnlichkeit bzw. der Naturtreue angesprochen, was sich, abgesehen von der Figur des Malers selbst, im Porträt auf der Staffelei widerspiegelt. Das Bild im Bild zeigt die Frau so, wie sie in Wirklichkeit ausgesehen haben mag. Allerdings erscheint ihr Gesicht noch dunkler als beim Modell selbst. Die leichte Schrägsicht wirkt verlebendigend. Durch die Lichtinszenierung wird ihre ledrige Haut hervorgehoben und steht so im Gegensatz zum hellen Inkarnat der idealisierten Damen der Feinmaler. Das Bildnis auf der Leinwand weist typische Kompositionsformen der Porträts de Gelders auf, nämlich die Betonung der einen gegenüber der anderen Körperseite mit der Hervorhebung der entsprechenden Schulter sowie der bildparallelen Haltung des Unterarmes. 106

Vgl. den dritten Abschnitt dieses Kapitels, S. 116–119.

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„Handwerker“ aus Überzeugung

Wenn der Künstler Zeuxis darstellt, geht es ihm nicht um eine geschichtliche, sondern um eine zeitgenössische Verkleidung, ein Rollenspiel, das mit Klischees dieser Figur spielt und de Gelder so Gelegenheit für einen Kommentar zur Kunst der Malerei bietet. Zeuxis galt in den Quellen per se als Affektmaler. De Gelder inszeniert sich im Wechselspiel zwischen Einfühlung und Distanz als ein solcher. So pendelt die Darstellung zwischen dem tödlichen Lachen des Zeuxis und Arents Selbstironie bzw. des Mitlachens des Betrachters über den Maler: Lache mit dem Lachenden. Zeuxis stellt eine ungesunde Beziehung mit der Welt und somit der Mäßigung dar,107 wodurch die Frage des Maßes und die Rolle der Übertreibung im Bild thematisiert werden. De Gelder spielt mit der eigenen Radikalität, die sich in der Fortsetzung eines übertriebenen Rembrandtismus äußert und in manchen Dingen (Farbauftrag, Kratzen) „rembrandtscher“ als Rembrandt selbst ist. Indem er sich als Zeuxis darstellt, evoziert er auch eine weitere überlieferte Episode aus dem Leben des antiken Malers: die Täuschung der Natur (Vögel, die an den gemalten Trauben picken). Zeuxis wurde als bloßer Naturnachahmer charakterisiert, so wie auch de Gelder neben Rembrandt in der klassizistischen Kritik.108 Das Selbstbildnis eröffnet aber noch eine weitere, abstraktere Dimension: Durch das Gemälde wird ein bestimmter Malhabitus offenbart, der nicht nur de Gelder, sondern auch andere Rembrandtisten beschäftigt hat. Der Zyklus von fünf Bildern von Barent Fabritius, um 1666 gemalt, etwa zwanzig Jahre vor dem Gemälde de Gelders, bestätigt wie schon sein Bild aus dem Louvre (Bild 36), dass sich unter den Rembrandtisten nicht de Gelder allein als Beispiel eines denkenden Handwerkers verstand. Die Bilder werden als die fünf Sinne identifiziert und befinden sich im Aachener Suermondt-LudwigMuseum.109 In einem der Gemälde hat sich der Maler wohl selbst dargestellt (Bild 42). Die „Trauben des Zeuxis“ werden just gegessen und verdaut und nicht nur das – sie werden im transitorischen Moment des Kauens im Mund in der Tradition des Bohnenessers von Annibale Carracci gezeigt, der durch die Untersicht den Betrachter von oben herab anschaut (etwas Ähnliches hat, abgesehen von Rembrandt und Lievens, auch Jacob Backer gemalt). Auch die Hände des Malers sind durch diesen Winkel prominent dargestellt (Bild 43). Die Kratzer

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Amy Golahny: Rembrandt’s Reading. The Artist’s Bookshelf of Ancient Poetry and History, Amsterdam 2003, S. 204 f. Van Hoogstraten erwähnt die Trauben des Zeuxis und die Verführung der Vögel. Vgl. Van Hoogstraten: Inleyding tot de hooge schoole der Schilderkonst, S. 215: „Door naeryver quam Zeuxis tot zoo hoogen graet in de Schilderkonst, dat de vogelen door zijn geschilderte druiven bedrogen wierden.“ Vgl. Ausst. Kat.: Immagini del Sentire. I cinque sensi nell’arte, hg. v. Sylvia FerinoPagden, Mailand 1996, S. 214–219. Thomas Fusenig/Christine Vogt: Bestandskatalog der Gemäldegalerie. Niederlande von 1550–1880, München 2006, S. 104 ff.

Bild 42  Barent Fabritius: Der Geschmack, um 1666, Öl auf Eichenholz, 38,9 × 32,7–33 cm, Suermondt-Ludwig-Museum, Aachen. Bilder 43, 44  Details aus Bild 42.

Bild 45  Barent Fabritius: Der Geruch, signiert, um 1666, Öl auf Eichenholz, 39 × 32,9 cm, SuermondtLudwig-Museum, Aachen. Bilder 46, 47  Details aus Bild 42.

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II. Das Primat der Hand

auf den Haaren haben nicht die Radikalität wie bei de Gelder, stimmen aber mit der Tradition der „Natürlichkeit“ Rembrandts überein (Bild 44). Vom Tronje mit dem Gesicht des Malers abgesehen wird in einem anderen Gemälde des Zyklus ein eindeutiges Selbstbildnis gezeigt (Bild 45). Der Maler trägt hier einen Hut und sein schulterlanges, lockiges Haar ist mit Kratz-

Bild 48  Detail aus Bild 45.

spuren versehen, die die Lockenform erzeugen (Bild 47). Außerdem trägt er ein Wams, wie Vermeer in der Malkunst, jedoch in einem dunkleren, genauer: braunen Ton gemalt, der in Richtung raue Manier geht. Vor allem die Pfeife sticht hervor. Fabritius scheint gerade Rauch aus Nase und Mund gestoßen zu haben, was den transitorischen Moment der Darstellung unterstreicht (Bild 46). Ähnlich wie Hogarths Vater Zeit schwärzt Fabritius mit seiner Pfeife die Gemälde. Ist dies als Anspielung auf die dunkle Manier des Malers zu verstehen? Er hält eine Palette, auf der Flecken angebracht sind, die von der Farbtonanordnung her der Palette de Gelders ähneln. Die Rauchwolke geht über in die Wolken der gemalten Landschaft, wobei anhand der überlieferten Werke bekannt ist, dass Fabritius kaum Landschaften gemalt hat. Hier zeigt er sich als ein Maler bei der Arbeit, wie de Gelder. Das Bild ist das einzige aus der Serie, das signiert und datiert ist, und zwar auf das Jahr 1666, sodass die übrigen Gemälde ebenfalls um 1666 entstanden sein müssen (Bild 48). In einem anderen Bild hält ein Junge einer Katze den Spiegel vor, woraufhin sie sich vor ihrem eigenen Bild zu erschrecken scheint (Bild 49). Eine neue Perspektive wird eröffnet, insofern bei Fabritius wie bei de Gelder die Spiegel-

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„Handwerker“ aus Überzeugung

Bild 49  Barent Fabritius: Der Sehsinn, um 1666, 38,8 × 32,7 cm, Öl auf Eichenholz, Suermondt-Ludwig-Museum, Aachen.

metapher und die bloße Imitatio problematisiert werden. Die Bilder dieses Zyklus sollten als Verfolgung ein und desselben Prinzips verstanden werden: Sie beziehen sich auf eine andere Malideologie als die der akademischen Kunst und Kunsttheorie, denn sie geben der Natürlichkeit während des Malprozesses den Vorzug, nicht bloß als mimetisches, sondern als produktives Verfahren. Die Frage der Natürlichkeit und des Naturalismus war ein wichtiger Kritikpunkt bei der Auseinandersetzung zwischen den Malschulen, obwohl die meisten schriftlichen Quellen nicht aus dem Umfeld Rembrandts stammen, weil sie vom Standpunkt einer idealistischen Kunsttheorie her verfasst sind. Ihre Bildideologie blieb meistens der Vorstellung von einer visuellen Natur verhaftet. Houbraken äußerte sich zu Rembrandts Auseinandersetzung mit der Natur folgendermaßen: „[Rembrandt] begnügte sich, die Natur nachzuahmen, so wie sie ihm erschien, ohne dabei wählerisch zu sein.“110 Gerard de Lairesse 110

Alfred von Wurzbach: Arnold Houbraken’s Grosse Schouburgh der niederländischen Maler und Malerinnen, Osnabrück 1970, S. 115.

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II. Das Primat der Hand

attackierte Rembrandts Impasto als unnatürlich.111 Jan Vos behauptete hingegen – und die später entstandene Passionsfolge de Gelders könnte stellvertretend für diese Auffassung stehen –, dass der Maler, der den Körper Christi am meisten verunstaltete, das Leben am besten getroffen habe, was bedeutet, dass die Lebendigkeit, die das Bild durch seine Deformation ausstrahlt, gesteigert wird und diese Tatsache seine Funktion am adäquatesten erfüllt.112 Dass Vos von denselben Personen kritisiert wurde wie Rembrandt ist in diesem Zusammenhang bezeichnend.113 Im Gegensatz zu Vos formuliert de Lairesse: „Kann jemand wohl seine Gründe gut darlegen oder mit gesunden Sinnen sagen, das ist ein malerisches Männchen, indem er auf einen verkrüppelten und beschmutzten Bettler weist, voller Fetzen und Lappen, mit Füßen groß und platt, den Kopf in ein dreckiges Tuch gewunden, die Haut gelb und geröstet wie ein englischer Bückling, damit beschäftigt, seine Läuse zu knacken […]?“114 Ähnlich könnte auch die Auseinandersetzung zwischen Gainsborough und Reynolds im 18. Jahrhundert beschrieben werden, die gewiss von anderen historischen und sozialen Bedingungen herrührt. Eine Behauptung Gainsboroughs über die Beziehung des Künstlers zur Natur ist bemerkenswert: „Nature is modest and the artist should be so in his adresses to Her.“115 Die Natürlichkeit basiert auf der Verwendung von braunen Erdtönen, einer Eigenschaft der Palette der Rembrandtisten, die von de Lairesse angegrif­ fen wird. Dieser Materialismus der Farbgebung wurde von verschiedenen Malern positiv hervorgehoben und gerühmt, wie zum Beispiel von van Gogh in seinem Urteil über den Anatomischen Unterricht Joan Deymans von Rembrandt aus dem Jahre 1661 (heute in Amsterdams Historischem Museum), wenn er die Leiche als „aus der Erde geschaffen“ beschreibt.116

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Slive: Rembrandt and His Critics, S. 163. Gregor J. M. Weber: Der Lobtopos des „lebenden“ Bildes. Jan Vos und sein „Zeege der Schilderkunst“ von 1654, Hildesheim u. a. 1991, S. 126. Ebd., S. 17. Weber: Der Lobtopos des „lebenden“ Bildes, S. 131. Vgl. Gerard de Lairesse: Groot Schilderboek, Band 1, Haarlem ²1740, S. 419. Hier könnte an die Kinderdarstellungen Murillos gedacht werden, auf die de Lairesse auch an anderer Stelle hinweist. Vgl. Tijana Zakula: The Indecorous Appeal of Beggar Boys. Murillo, de Lairesse and Gainsborough, in: Simiolus, 35/3–4 (2011), S. 165–173. Thomas Gainsborough an David Garrick, Mai 1766. Susan Sloman: Gainsborough’s Landscapes. Themes and Variations, London 2011, Anm. 1, S. 27 u. 35. Siehe Gockel: Kunst und Politik der Farbe, S. 27. Zu Gainsborough vgl. Werner Busch: Reynolds und Gainsborough. Zwei Weisen der Auseinandersetzung mit der überlieferten Bildsprache, in: ders.: Englishness: Beiträge zur englischen Kunst des 18. Jahrhunderts von Hogarth bis Romney, Berlin 2010, S. 87 ff. Peter Hecht: Van Gogh en Rembrandt, Amsterdam/Brüssel/Zwolle 2006, S. 14.

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„Handwerker“ aus Überzeugung

Zur Natürlichkeit der Farbgebung als Eigenschaft der Rembrandt’schen Praxis kommt eine allgemeinere Dimension hinzu. Für den Stellenwert des handwerklichen Wissens spricht eine Erzählung van Hoogstratens über Rembrandt. Dieser soll auf die Frage eines Schülers folgendermaßen geantwortet haben: „[…] first learn to use what you already know in your work and the secrets about which you ask will be discovered soon enough.“117 Diese praktische Einstellung unterstreicht das Prozessuale des Tuns und steht im Einklang mit der denkenden Hand. Nur durch das Üben kann überhaupt Intelligenz entwickelt werden, die in Zusammenhang mit den sensomotorischen Fähigkeiten des Malers steht. Diese Erkenntnis hängt mit einem körperlichen Engagement in der Welt im Hier und Jetzt zusammen. Jegliches Wissen der Künstler wird durch die Interaktion mit der Natur generiert, was als aktive Wissensspeicherung angesehen werden muß.118 Die von Bildern hergeleitete praktische Erfahrung und Erkenntnis schafft eine eigene Theorie. Vor allem für die Rembrandt’sche Bildtheorie ist diese visuelle und haptische Praxis von zentraler Bedeutung. Die Praxis geht der Theorie voraus und nicht umgekehrt. Der gesamtkörperliche Aspekt in der Bildproduktion wird schon bei Paracelsus unterstrichen: „[…] die [Arznei] muss er [der Arzt, Anm. d. Verf.] mit seinem Leib in das Werk bringen.“119 Ähnliches lässt sich über das Bild und sein Handeling sagen. Bei den Bildern von de Gelder und Fabritius ist eine gewisse Leichtigkeit zu erkennen, eine Lockerheit im Umgang mit der Farbe. Das Prinzip des Künstlers als Handwerker, der sich nicht scheut, seine Hände und deren Spuren auf dem Bild sichtbar werden zu lassen, wird betont.120 In diesem Zusammenhang scheint auch die aristotelische Mesotes (μεσότης, aurea mediocritas, die Mitte) eine Rolle zu spielen, die auf das Zusammenspiel von „Handwerk und Kunst-

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Zitiert nach Walter Liedtke: Style in Dutch Art, in: Wayne E. Franits (Hg.): Looking at Seventeenth-Century Dutch Art, Cambridge 1997, S. 125. Vgl. Smith: The Body of the Artisan, S. 8: „Artisans employed naturalism in order to make claims about their status as active knowers. […] The articulation of this epistemology through naturalistic objects and paintings in turn influenced patrons and scholars in their attitudes toward nature.“ Dies nennt Smith den „[…] epistemological status of craft operations“ (S. 21). Zitiert nach ebd., S. 100. Auf Seite 113 bringt Smith diesen Aspekt weiter auf den Punkt: „The whole body was in artisanal labour.“ Vgl. allgemein Alessandro Conti: Der Weg des Künstlers. Vom Handwerker zum Virtuosen, Berlin 1998. Im vorliegenden Versuch wird die Linearität „vom Handwerker zum Virtuosen“ durchbrochen.

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II. Das Primat der Hand

praxis und sittlicher Vortrefflichkeit“ zielt.121 Dantes Begriff des intellectus practicus geht in diese Richtung.122 Eine solche Vorstellung stimmt mit dem Konzept des Handwerks und einem gewissen Habitus überein. Es handelt sich, wie bei der mit dem Auge versehenen Hand Visschers, um einen versteckten Hinweis auf die handwerkliche Arbeit. Die noble Tätigkeit des Homo Faber wird hervorgehoben, was von Künstlern wie de Gelder bestätigt wird, die es finanziell nicht nötig haben, mit ihren Händen zu arbeiten, und zudem aus einer sozial höheren Schicht stammen. Dass sie es trotzdem tun, kann nur ideologische Beweggründe haben. De Gelder wird von Houbraken, wie bereits gesehen, als ein geselliger Mensch dargestellt, der das Malen vernachlässigte. Jedoch war er kein Amateur, der nur zu seinem eigenen Vergnügen malte. Dafür spricht die hohe Zahl seiner Gemälde, auch wenn sich viele in seinem eigenen Inventar befanden und nicht verkauft wurden. Dennoch gibt es einige eindeutige Auftragsarbeiten, die, wie bereits gesehen, mehr aus sozialen als aus finanziellen Gründen geschaffen wurden. Etliche Schüler Rembrandts stammten aus allgemein guten sozialen und ökonomischen Verhältnissen, denn die Ausbildung bei dem großen Meister war kostspielig.123 Die Rembrandtisten kehren die Kritik der Klassizisten um: Es geht um den Kampf zwischen dem Maler als Handwerker und dem Maler als Humanisten. De Lairesse attackiert den Ersteren, der ohne intellektuelle Anstrengung agiert.124 Gleichzeitig erkennt Roger de Piles den wahren Künstler in der Beherrschung des Kolorits (le coloris im Unterschied zur bloßen couleur), also des Farbauftrags oder des Handeling, unterscheidet ihn vom Handwerker und ordnet ihn als freien Künstler ein.125 Er spricht über seinen Helden Rubens folgen-

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Thomas Weigel: Tintoretto und das Non-finito, in: ders./Joachim Poeschke/Britta Kusch-Arnhold (Hg.): Die Virtus des Künstlers in der italienischen Renaissance 2006, S. 239. Dante: Monarchia I, iii, 9 u. ii, 1. Zitiert nach Löhr: Handwerk und Denkwerk des Malers, S. 169. Vgl. Werner Sumowski: Gemälde der Rembrandt-Schüler, 4 Bände, Landau 1983; Ausst. Kat.: The Hoogsteder Exhibition of Rembrandt’s Academy, hg. v. Paul Huys Janssen u. a., Den Haag 1992. Lyckle de Vries: How to Create Beauty. De Lairesse on the Theory and Practice of Making Art, Leiden 2011, S. 117. Jochen Becker: Die funkelnden Farben der Freiheit. Zu einem schillernden Begriff in Historiographie und Kunsttheorie, in: Ausst. Kat.: Zeichen der Freiheit. Das Bild der Republik in der Kunst des 16. bis 20. Jahrhunderts, hg. v. Dario Gamboni/Georg Germann, Bern 1991, S. 106. Vgl. Thomas Puttfarken: Roger de Piles’ Theory of Art, New Haven 1985, S. 67 f.

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„Handwerker“ aus Überzeugung

dermaßen: „Rubens hat sein Werk schnell, kenntnisreich und frei ausgeführt, als ein souveräner Meister seiner Kunst.“126 Die Erlangung der Freiheit durch eine absolute Beherrschung des Handwerks ist für de Piles ausschlaggebend. Dieser Aspekt sollte geradezu zur Schau gestellt werden, weil durch ihn „Nobilität“ erlangt wird, worauf im Zusammenhang mit dem zuvor genannten Stich von Visscher aufmerksam gemacht wurde. Hierin liegt auch die Leichtigkeit des Umgangs mit dem Handwerk, dessen Charakter durch soziale Gegebenheiten begünstigt wird, wie das Beispiel de Gelders zeigt, bezeugt sowohl durch primäre unpublizierte Dokumente als auch durch Quellen von Houbraken und Weyerman. Er wird zu einem respektablen Bürger stilisiert, der sich keine Sorgen um seinen Lebensunterhalt zu machen brauchte und somit durch ein handwerklich und körperlich bestimmtes Formbewusstsein frei arbeiten konnte. Dies erinnert an einen berühmten Satz Rembrandts, der wohl Produkt der Kunstliteratur ist und von Houbraken überliefert wird:127 Er habe mit Menschen aus den niederen Klassen verkehrt und ein einfaches Leben geführt.128 Rembrandt selbst erklärte dies, wie Roger de Piles überliefert, folgendermaßen: „Ich suche nicht Ehre, sondern Freiheit.“129 De Piles fügte hinzu: „l’éducation et l’habitude ont beaucoup de pouvoir sur nos esprits“,130 was wie ein Kommentar zum Handeling der Rembrandtisten gelesen werden kann. Rembrandts außergewöhnliche Art und Weise, die Farben aufzutragen, nämlich uneben und pastos, spiegelt sich auch in seiner Aussage wieder, dass er ein

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Becker: Die funkelnden Farben der Freiheit, S. 107. Dass Rubens sozial und malerisch gesprochen vollkommen anders als Rembrandt war, steht natürlich außer ­Frage, obwohl der Zweite mit dem Ersten malerisch bewusst wetteiferte. Für die französische Akademiedebatte ist er jedoch gegenüber Poussin das, was in Holland Rem­­brandt gegenüber van der Helst war. Vgl. Ausst. Kat.: Rubens contre Poussin. La querelle du coloris dans la peinture française à la fin du XVIIe siècle, hg. v. Emmanuelle Delapierre u. a. , Gent 2004. Houbraken: De Groote Schouburgh der Nederlantsche konstschilders en schilderessen, Band 1, S. 273: „Alk ik myn geest uitspanninge wil geven, dan is het niet eer die ik zoek, maar vryheid.“ Schon Sandrart bemerkt, dass Rembrandt sich mit niederen Leuten traf. Siehe Slive: Rembrandt and His Critics, S. 93. Houbraken verwendet das Adjektiv „bürgerlich“ im Sinne des Einfachen: „[…] daar hy maar borgerlyk leefde.“ Houbraken: De Groote Schouburgh der Nederlantsche konstschilders en schilderessen, Band 1, S. 272. Roger de Piles: Abrégé de la Vie des Peintres. Avec des réflexions sur leurs Ouvrages, Paris ²1715, S. 424: „[…] ce n’est pas l’honneur que je cherche, c’est la liberté.“ Vgl. Slive: Rembrandt and His Critics, S. 126; Hendrik J. Horn: The Golden Age Revisited. Arnold Houbraken’s Great Theater of Netherlandish Painters and Paintresses, Band 1, Doornspijk 2000, S. 476. Es ist nicht von entscheidender Bedeutung, der Aussage zu Rembrandt einen Wahrheitsgehalt zuzusprechen. Sie ist trotzdem fruchtbar, weil sie offenbart, welchem Kontext der Künstler zugeordnet wurde. De Piles: Abrégé de la Vie des Peintres, S. 422. Zitiert nach Slive: Rembrandt and his Critics, S. 216 u. 126: „[…] education and habit have great powers over our spirits.“

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II. Das Primat der Hand

Maler und kein Färber sei. Die wirkliche Malerei wird als ein Kampf mit der Materie dargestellt, die handwerklich zu bewältigen ist.131 Diese Idee materialisiert sich nicht zuletzt in den Gemälden von Arent de Gelder (Bild 31) und Barent Fabritius (Bild 36). Baldinuccis Kritik wird positiv gewendet. Die Freiheit der Pinselführung wird Boschini zufolge mit der Freiheit der Venezianer als Bürger gleichgesetzt: „In conclusion the Venetian style carries with it the same liberty that everyone enjoys who lives in this city.“132 Könnte dies ebenfalls für die Rembrandtisten behauptet werden?

Ha n d eli ng a ls Habit us Eine negative Kritik klassizistischer Prägung bezüglich der Kunst de Gelders (die für die Rembrandtisten seit der Mitte des 17. Jahrhunderts repräsentativ ist) findet sich im Lexikon von Watelet und Lévesque aus dem Jahre 1792. Der Artikel fasst die Auseinandersetzung zwischen den mit dem Körper denkenden Künstlern und dem idealistischen Akademismus zusammen.133 De Gelder wird von den Autoren kritisch unter dem Begriff des manoeuvre eingeordnet, weil er Werke der Hand und nicht des Verstandes (der Idea) schuf: Talent und Verstand machen dem Artikel von Watelet und Lévesque zufolge den großen Künstler aus, und nicht bloß seine Arbeitsweise.134 Die denkende Hand und das Prinzip des Handwerkerseins spielen hierbei eine besondere Rolle. Sie werden von einer bürgerlichen bzw. großbürgerlichen Tradition her entwickelt, die immer noch an die Rembrandt’schen Ideale glaubt und sich von den neuen, aristokratischen Moden französischer Prägung des Bürgertums nicht beeindrucken lässt. Das beste Beispiel für Letztere bietet Gerard de Lairesse, der sich in seinem Schilderboek als ein entschiedener Gegner eines rauen Malhabitus zu Beginn des 18. Jahrhunderts ausweist, in einer Zeit, in der Arent de Gelder noch

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De Piles: The Art of Painting and the Lives of the Painters, London 1706, S. 318. Marco Boschini: La Carta del navegar pitoresco, ed. critica, con la „Breve istruzione“ premessa alle „Ricche minere della pittura Veneziana“, hg. v. Anna Pallucchini, Venedig/Rom 1966, zitiert nach Sohm: Pittoresco, S. 138 (Boschini: Carta, S. 99). Vgl. Suthor: Bravura, S. 214, wo der Franzose Rolin das Gegenteil formuliert: Er hält die Freiheit der Hand in der Ausübung der Kunst für problematisch. Ekkehard Mai (Hg.): Holland nach Rembrandt. Zur niederländischen Kunst zwischen 1670 und 1750, Köln/Weimar/Wien 2006; Ausst. Kat.: Vom Adel der Malerei. Holland um 1700, hg. v. Ekkehard Mai/Sander Paarlberg/Gregor J. M. Weber, Dordrecht/Kassel/Köln 2006. Bei beiden Annäherungen wird der Wechsel vom alten in den neuen Modus zwar beschrieben, aber die ideologischen Implikationen der Bildsprache der Rembrandtisten werden nicht angesprochen. Claude Henri Watelet/Pierre Charles Lévesque: Dictionnaire des Arts de Peinture, Sculpture et Gravure, Paris 1792, Band 3, S. 379, zitiert nach Suthor: Bravura, S. 246 f.

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Handeling als Habitus

lebte und malte. Diese Auseinandersetzung fassen auch Watelet und Lévesque in der Debatte um Esprit und Raison zusammen.135 Esprit wird in diesem Zusammenhang als körperlich bedingt und intuitiv verstanden. Für de Lairesse spielt im Gegensatz zu van Hoogstraten die Inspiration kaum noch eine Rolle.136 Deshalb empfiehlt er jedem, dessen Manier auf Esprit und nicht Raison basiert, seine Aufmerksamkeit auf das Zweite zu lenken, aus Angst vor dem Einfluss des Esprit (Rembrandt’scher Prägung) auf junge und schwächere Köpfe, wie de Lairesse sie nennt.137 Aus der Tatsache, dass er die Rembrandtisten immer noch als Gefahr für junge Künstler ansieht, lässt sich schließen, dass Letztere zu Beginn des 18. Jahrhunderts noch immer nicht gänzlich als passé galten. Das Schilderboek von de Lairesse ist der akademisch-klassizistischen Tradition zugehörig. Es handelt sich für die Zeit de Gelders um die bekannteste Schrift der Gegner des pastosen Farbauftrags in den Niederlanden. De Lairesse macht nicht nur in seiner Malerei wenig Aufhebens um die Bedeutung des Körpers im künstlerischen Prozess. Die Erkenntnisse und das Wissen, die aus der verkörperten Interaktion des Künstlers mit der Welt gezogen werden, sind ihm fremd und auch nicht erstrebenswert. Er greift die Kunst Rembrandts als realistisch, bürgerlich und naturalistisch an, wohingegen die großen Künstler klassizistische oder in der „fijnen“ Manier geschulte Maler seien, wie Frans van Mieris, Antonis van Dyck und natürlich Raffael und Poussin.138 Auch den Manierismus sowie „too severe forms of classicism“ lehnt er ab.139 Mit dem Schilderboek verbindet sich ein praktisches Ziel: „[…] to translate the rules of international classicism into workable instructions for studio use. Theory was to lend its authority to instruction in practical matters, whereas practice had to demonstrate the validity of theory in any given situation.“140 De Lairesse benennt beide Malweisen, steht aber der Rembrandtmanier kritisch gegenüber und lobt hingegen die feine, klassische. Während van Mander beide manieren van schilderen akzeptierte und van Hoogstraten die raue mit einem kritischeren Ton kommentierte, ist bei de Lairesse ein radikaler Bruch auszumachen. Er beschreibt im Kapitel über „van de Handeling des Penseels“ die zwei Manieren: die eine als vloeijende und gladde und die andere als 135 136 137 138

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Frank: Helldunkel, S. 218. De Vries: How to Create Beauty, S. 21. Zitiert nach de Vries: How to Create Beauty, S. 30 u. 143. Siehe De Lairesse: Groot Schilderboek, Band 1, S. 16 u. 260. Claus Kemmer: In Search of Classical Form: Gerard de Lairesse’s „Groot Schilderboek“ and Seventeenth-Century Dutch Genre Painting, in: Oud Holland, 26/1–2 (1998), S. 92 u. 97; Lyckle de Vries: Gerard de Lairesse. The Critical Vocabulary of an Art Theorist, in: Oud Holland, 117/1–2 (2004), S. 80. Lyckle de Vries: Gerard de Lairesse. An Artist between Stage and Studio, Amsterdam 1998, S. 126. De Vries: Gerard de Lairesse, The Critical Vocabulary of an Art Theorist, S. 81.

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II. Das Primat der Hand

wakkere, vaardige oder stoute. Er führt aus, wie manche Meister (er meint sicherlich Tizian und Rembrandt, ohne sie zu nennen) am Ende ihres Lebens „echter styf en morssig schilderen“141. De Lairesse wurde von Rembrandt 1665–67 porträtiert, und zwar ausgerechnet in jener allmählich aus der Mode geratenen rauen Manier, die der Porträtierte später verdammen sollte (Bild 50). Auch die Empfehlung an die Porträtmaler in seinem Buch, jegliche Muttermale aus den Gesichtern zu tilgen, könnte eine Anspielung auf das eigene Porträt von Rembrandt sein, dessen gemalte Ehrlichkeit jeder Idealisierung zuwiderläuft.142 Der Soll-Zustand des Gesichts von de Lairesse und der damit einhergehende Farbauftrag wird dem Ist-Zustand vorgezogen, was den radikalen Bruch mit jeglicher Tradition Rembrandt’scher Prägung bedeutet. Dieser Transformationsprozess des Geschmacks ist an keiner Person im ausgehenden 18. Jahrhundert so deutlich zu beobachten wie an de Lairesse. Seine Formsprache erwächst aus der Adaptation der ästhetischen und ideologischen Forderungen der neuen Amsterdamer Eliten. Im Kapitel über das Kolorieren argumentiert er bezüglich Rembrandt und Lievens, dass wenn das Licht nicht sauber sei (mit anderen Worten ein Chiaroscuro-Effekt entsteht), die Objekte weniger schön seien.143 In diesen Kontext ist die Kunst de Gelders und der Rembrandtisten einzuordnen. Ein Bild im Buch van Hoogstratens fasst die zwei Manieren zusammen, die de Lairesse mit einem entsprechenden Habitus verbindet. Auf dem Stich der Titelseite des Siebten Buches, Über die Farbe (Bild 51), ist das Interieur einer Malerwerkstatt zu erkennen. Begleitet vom Lautenspiel der Terpsichore, der Muse der performativen Akte der Musik und des Tanzes, die in Richtung des Betrachters schaut, sind vier Personen mit dem Malen beschäftigt. Sie sind nicht allein: Ihnen assistieren zwei Gehilfen links beim Anmischen der Farben. Andere, vor allem männliche Zuschauer geben sich der Betrachtung der Maltätigkeit hin. Ein Künstler malt im Hintergrund ein Wandgemälde, ein weiterer eine nackte weibliche Figur. Überraschend wirkt der Maler im mittleren Teil, der nicht mit dem Pinsel, sondern mit dem Fuß die Farbe aufträgt, den er mit 141

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De Lairesse: Groot Schilderboek, Band 1, S. 7. Vgl. Gerard de Lairesse: The Art of Painting in all its Branches, London 1778, S. 1: „fluent and smooth“, „expeditious and bold“. De Lairesse: Groot Schilderboek, Band 1, S. 8. Vgl. De Lairesse: The Art of Painting in all its Branches, S. 2: „fall into a hard and muddy manner“. De Vries: How to Create Beauty, S. 56; De Lairesse: Groot Schilderboek, Band 1, S. 173. An anderer Stelle seines Schilderboek (S. 325, zitiert nach van de Wetering: Towards a Reconstruction of Rembrandt’s Art Theory, S. 129) gibt de Lairesse zu: „I don’t deny that I once had a special preference for his [Rembrandt’s] style. But as soon as I began to understand the unfallible rules of art, I had to acknowledge this aberration and reject his style as something resting on nothing but disordered flights of fancy which, without examples, have no solid foundation to support them.“ De Lairesse: Groot Schilderboek, Band 1, S. 41 f.

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Handeling als Habitus

Bild 50  Rembrandt: Gerard de Lairesse, signiert, 1665–1667, Öl auf Leinwand, 112,7 × 87,6 cm, Robert Lehman Collection, The Metropolitan Museum of Art, New York.

seinen Händen wie einen Pinsel zu lenken scheint. Er ist im Begriff, das Porträt einer vornehmen Dame zu vollenden. So sind zwei Malweisen dargestellt, die nicht gegeneinander gerichtet sind, sondern komplementär als zwei Arten der noblen Kunst der Malerei angesehen werden können: einerseits die klassische und andererseits die unorthodoxe, die durch einen mit dem Fuß malenden Künstler verkörpert wird – in der Inleyding als Cornelis Ketel vorgestellt. In diesem Zusammenhang wird aber auch der Unterschied zu de Lairesse sichtbar, der die unklassische, vom Körper her denkende Malweise überhaupt

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II. Das Primat der Hand

Bild 51  Samuel van Hoogstraten: Terpsichore, Titelseite des 6. Kapitels des Inleyding tot de hooge schoole der Schilderkonst, Rotterdam 1678.

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Handeling als Habitus

nicht duldet, was sich anhand eines weiteren Beispiels verdeutlichen lässt: Als er über die Draperie der Esther spricht, ist es, als ob er de Gelder im Sinn hat, der die Esther-Geschichte mehrmals gemalt hat. Spöttisch bemerkt er: „[…] want hoe bespottelyk zou het zyn, indien men de Koningin Esther kwam te kleeden in een naauwe en styve tabbaard […].“144 Weiter behauptet er, dass ein Tronje Rembrandts entgegen der Natur und den Regeln der Kunst sei, und empfiehlt den jungen Malern, die Farbe nicht wie Fäkalien auf der Leinwand verlaufen zu lassen (wie es Rembrandt oder Lievens täten), sondern sie farbenprächtig auf feinmalerische Art aufzutragen, sodass die Objekte rund und nicht rau erscheinen.145 Die Manier Rembrandts und Lievens sei allerdings nicht gänzlich zu verwerfen, da sie „natürlich“ sei, obwohl diejenigen, die ihr folgten, „zu Grunde“ gingen.146 Damit werden implizit alle späteren Rembrandtisten angesprochen, die im Gegensatz zu Malern wie Bol, Flinck oder Maes ihre Manier nicht änderten, sondern wie Paudiß, Barent Fabritius und de Gelder sich innerhalb des Rembrandt’schen Chiaroscuro und damit der feindlichen Tradition bewegten. Aus diesem Grund mag de Lairesses kritische Einstellung gegenüber Tizian kaum überraschen, da die Rezeption des Venezianers durch Rembrandt bekannt war.147 Obwohl de Lairesse keine anderen Rembrandtisten namentlich erwähnt, wird deutlich, dass er sie in eine antagonistische Tradition (Tizian, Rembrandt, Lievens) einordnet, die mit den von ihm verfochtenen Regeln der Kunst brach. De Lairesse teilt die Malerei in seinem Buch in drei Kategorien ein, wodurch erneut eine Abgrenzung der unterschiedlichen Malweisen erfolgt und deren Abhängigkeit von bestimmten Lebensstilen unterstrichen wird. Er ordnet Rembrandt zusammen mit Jordaens (hier wären auch de Gelder, Paudiß, Drost 144

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De Lairesse: Groot Schilderboek, Band 1, S. 196. Vgl. De Lairesse: The Art of Painting in all its Branches, S. 113 f.: „How ridiculous would it be, to dress queen Esther in a stiff-bodied gown […].“ In diesem Zusammenhang meint de Vries (How to Create Beauty, S. 123), dass de Lairesses Vergleich mit Bildern eines Jan Steen parallelisiert werden könne. David de Witt verweist mit Houbraken auf den Bezug de Gelders zu Jan Steen, sodass zumindest hier, abgesehen von der Frage, ob de Lairesse Steen oder de Gelder mit den oben zitierten Sätzen gemeint hat, von einer strukturellen Ähnlichkeit die Rede sein kann. Vgl. David de Witt: Aert de Gelder, Jan Steen and Houbrakens Perfect Picture, in: Akira Kofuku (Hg.): Rembrandt and Dutch History Painting in the 17th Century, Tokyo 2003, S. 88 ff. De Lairesse: Groot Schilderboek, Band 1, S. 320 u. 324. Vgl. De Lairesse: The Art of Painting in all its Branches, S. 193. De Lairesse: Groot Schilderboek, Band 1, S. 325. Vgl. De Lairesse: The Art of Painting in all its Branches, S. 193. De Lairesse: Groot Schilderboek, Band 2, S. 17 f. Vgl. De Lairesse: The Art of Painting in all its Branches, S. 270 f. Vgl. über die Tizian-Rezeption Rembrandts: Ernst van de Wetering: Technik im Dienst der Illusion, in: Ausst. Kat.: Rembrandt. Der Meister und seine Werkstatt, Gemälde, hg. v. Christopher Brown/Jan Kelch/Pieter van Thiel, London/Berlin/Amsterdam 1991, S. 12–39.

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II. Das Primat der Hand

und andere Rembrandtisten hinzuzufügen) in die bürgerliche, mittlere, van Dyck zusammen mit Rubens in die höhere, adlige, und van Laer mit Brouwer in die niedere, bäuerliche Kunst ein: „Zo zag men Rubbens en van Dyck, mannen die dagelyks te Hoof en by de Grooten verkeerden, hunne gedachten op her verheevene der Konst vesten; Jordaans en Rembrant weder op het burgerlyke; Bamboots en Brouwer op het allergeringste: en dus ieder na de maat hunner neigingen, voor zo veel dezelve tot den ommegang met menschen van hunne soorten strekten.“148 Der Umgang mit bestimmten sozialen Gruppen beeinflusst nach Meinung de Lairesses die Malerei der Künstler. Die Hofmaler bzw. die sich in einem höfischen Kontext bewegenden Künstler wie zum Beispiel Rubens oder van Dyck malten in entsprechender Weise.149 Ähnliches lässt sich für Brouwers Bilder sagen, die Kneipen und den Umgang mit Bauern zeigen, was wiederum die bereits zitierte Erzählung Houbrakens über Rembrandt in Erinnerung ruft.150 Das Konglomerat von Habitus und Malstil hängt zum Teil auch mit der Gattungsfrage zusammen und der erwartungsgemäßen Hervorhebung der Historienmalerei durch de Lairesse. Sie wird als die bessere Gattung stilisiert, da mit ihr die Antike und so das Schöne am adäquatesten repräsentiert werde, was im Gegensatz zur Genremalerei stehe. Letztere konstituiert de Lairesse zufolge das Moderne, Hässliche, wobei er wiederum Schwierigkeiten mit der Kategorisierung der Historien von Rembrandt und den Rembrandtisten hat, sodass er von der Kritik an Habitus und Gattung zur Kritik an der Malweise übergehen muss. Eine solche Strategie hat deutliche ideologische Implikationen. Es ist sinnvoll zu fragen, inwiefern in de Lairesses Modell Form und Inhalt ineinander übergehen. Er ist eines der seltenen Beispiele, bei dem Sprache und Bild in der Person eines Künstlers sozial determiniert sind. Deutlich wird besonders, wo die akademische Kunsttheorie zu verorten war und dass die Ge­ genseite selten gefördert und immer mit niederen Konnotationen verbunden wurde, weil sie eine Gefahr für die etablierte Kunsttheorie und deren theoretischideologische Rechtfertigung darstellte.

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De Lairesse: Groot Schilderboek, Band 1, S. 185. Vgl. die Übersetzung: Gerard de Lairesse: The Art of Painting, hg. v. Lyckle de Vries: How to Create Beauty, Leiden 2011, S. 195: „Thus Rubens and Van Dyck, who frequented the court and the highplaced on a daily basis, directed their attention to the most elevated parts of art; Jordaens and Rembrandt on their turn concentrated on the urbane aspects of art; whereas Bamboccio and Brouwer bent their thoughts towards the lowest level. In this way everybody followed the natural bent of his character in accordance with their social contacts with people of their own kind.“ Zum Hofmaler vgl. allgemein: Martin Warnke: Hofkünstler. Zur Vorgeschichte des modernen Künstlers, Köln 1985. De Vries: How to Create Beauty, S. 15: „[…] critics associated his painting style with his supposed lifestyle.“ Sowie ebd., S. 173.

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Handeling als Habitus

Der Dreiteilung de Lairesses entspricht die antike Unterscheidung zwischen den drei genera dicendi: dem genus sublime, dem genus mediocre und dem genus humile.151 Vom politisch-sozialen Standpunkt aus betrachtet, vertritt de Lairesse eine ultrakonservative Position, wonach das Ideale im Adel, das Mittelmäßige im Bürgertum und das Niedrige im Bauerntum begründet ist. In der Tat wird das Wort „burgelijk“ im Gegensatz zu „adelijk“ und auch zum Status der Bauern („boeren“) verwendet, was keinen direkten Bezug zum Bourgeois des 19. Jahrhunderts hat,152 sondern erstmals auf den Unterschied zwischen „Heer“ und „Burger“ referiert, wobei der Bürger als jemand angesehen wird, der alle Rechte als Bewohner einer Stadt besitzt.153 Dass das kein Bonmot von de Lairesse ist, bezeugen auch die Worte Vondels, der in ideologischer Hinsicht ein Verbündeter von de Lairesse war und bezeichnenderweise ein Bild von Lievens mit folgenden Worten beschrieb: „[…] ’t portret van Lievens, welks burgerlijkheid, ondanks de titiaensche kleur, de koninklijken zanger maar half voldaan zal hebben.“154 Hier wird auf das Bezug genommen, was de Lairesse später abschätzig über die Farbe eines Lievens oder Rembrandts bemerkte, obwohl sich Lievens nach seinen Erfahrungen in Antwerpen und England doch der klassizistischen Mode angeschlossen hatte.155 In einem Stich aus de Lairesses Schilderboek wird sein Modell der Dreiteilung bildlich vermittelt: Unter Fig. 3 sind zwei Gruppen einander gegenüber-

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Jan A. Emmens: Rembrandt en de regels van de kunst. Gesammelte Werke, Band 2, Amsterdamm 1979, S. 273; Hans Joachim Raupp: Ansätze zu einer Theorie der Genremalerei in den Niederlanden im 17. Jahrhundert, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte, 46 (1983), S. 407. De Lairesse ist gewiss nicht der Erste, der eine Drei­ teilung nicht nur nach Stilen, sondern auch nach Künstlern vornahm. Schon Melanch­thon sprach mit Bezug auf Dürer, Cranach und Grünewald von genera dicendi. Vgl. Heinz Weniger: Die drei Stilcharaktere der Antike in ihrer geistesgeschichtlichen Bedeutung, Berlin/Leipzig 1932, S. 21. Eine Unterteilung anhand der drei genera dicendi unternimmt Sandrart in seiner Teutschen Akademie be­ züglich der unterschiedlichen Säulenordnungen. Vgl. Von Sandrart: Teutsche Aka­ ­demie 1675, S. 13 ff., unter: http//ta.Sandrart.net/de/text/62 [26. 12. 2015]. Joanna Woodall: Sovereign Bodies. The Reality of Status in Seventeenth-Century Dutch Portraiture, in: dies. (Hg.): Portraiture. Facing the Subject, Manchester 1997, S. 76. Burgerlijk in: Woordenboek der Nederlandsche Taal, hg. v. J. W. Muller/A. Kluyver, Band 1, Den Haag/Leiden 1902. Ebd. „Die ‚burgerlijkheid’ des Lievens Porträts, ungeachtet dem Tizian ähnlichen Kolorit, soll dem königlichen Sänger nur halb genügt haben.“ Übersetzung von Herman Roodenburg. Vgl. Ausst. Kat.: Jan Lievens. A Dutch Master Rediscovered, hg. v. Arthur K. Wheelock/Stephanie S. Dickey, New Haven u. a. 2008.

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II. Das Primat der Hand

Bild 52  Gerard de Lairesse: Groot Schilderboek, Band 1, S. 55.

gestellt (Bild 52).156 Auf der einen Seite stehen drei Frauen und auf der anderen zwei Männer. Was vor allem hervorsticht, sind Haltung und Kleidung von zwei der drei Frauen, die in eine direkte Konfrontation mit den beiden Männern gebracht sind. Erhobenen Hauptes tragen sie prächtige, antike Gewänder, im Gegensatz zu den ärmlich gekleideten Männern, die auch in ihren Haltungen wenig anmutig wirken. Die graziöse Körperhaltung der Adligen wird dem Betrachter vor Augen geführt, ebenso wie die gebückte Haltung der Bauern. Durch die von links kommenden Frauen, die zudem höher platziert sind, wird deutlich, dass der aristokratische Habitus als Ideal für de Lairesse galt. Die dritte

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Vgl. Arno Dolders: Some Remarks on Lairesse’s Groot Schilderboek, in: Simiolus, 15 (1985), S. 197–220; Werner Busch: Das sentimentalische Bild. Die Krise der Kunst im 18. Jahrhundert und die Geburt der Moderne, München 1993, S. 317 ff.; Roodenburg: The Eloquence of the Body, S. 124 ff.

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Handeling als Habitus

Frau erinnert an eine Kupplerin. Sie dient offensichtlich den beiden anderen weiblichen Figuren und verkörpert einen ähnlichen Habitus wie die beiden Männer, die womöglich ebenfalls Bedienstete der höherstehenden Frauen sind. De Lairesse gibt selbst eine Beschreibung dieser Szene, die vollkommen im Sinne seines Programms der sozialen Determination von Habitus und der Hervorhebung einer kontrollierten Körperlichkeit steht: „Maar zie nu eens deze aanzienelyke Juffer, hoe zedig haare beweeging en hoe groots en bevallig haare gestalte is, de eene hand rust onder de borst tegen het lyf, het binnenste des hands bovenwaards gekeerd, laatende de vingers los en slapjens nederwaard buygen, terwyl zy, aandachtig luysterende, met de andere een slip van haar kleed eenigzins opbeurd; zy staat recht overend, het hoofd zyling een weinig voorwaards geboogen, de knien en voeten dicht aan een, en met de eene hiel tegens de binnenste enkel van de andere voet gekeerd. Stel nu die andere vrouw daar by staande en desgelyks aandachtig toehoorende, eens in teegen overeenstelling met de voorige, en let wat een verschil de opvoeding in de gebaarden der mensen maakt; beide haar handen heeft zy op de heupen gezet, staande op beide de voeten zonder de minste draaying, het boovenlyf held een weinig voor over, de borst en kin steekt zy vooruit, slaande het hoofd wat in de nek, met de mond eenigzints gaapende, en geen zwelling der heupen.“157 Eine weitere Zeichnung, die sich auf demselben Blatt befindet, verdeutlicht dieses Prinzip anhand von unterschiedlichen Manieren, nämlich dem Halten eines Löffels einmal auf adlige und einmal auf bäuerliche Art.158 Die Bauern, die an den Bohnenesser von Annibale Carracci erinnern, werden in Halbfigur beim Essen dargestellt. Ein anderes Bild zeigt, wie ein Glas gehalten werden kann, von plump bis anmutig in insgesamt sechs Abstufungen.159 Die Strichführung

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Gerard de Lairesse: Groot Schilderboek, Band 1, Amsterdam 1712, S. 55. Vgl. Paul Taylor: Vermeer, Lairesse and Composition, Hofstede de Groot Lezing 1, Zwolle 2010, S. 13 f.: „See this attractive young lady, how modest is her movement and how grand and graceful her form. The one hand rests beneath her breast against her body, the palm of the hand turned upward, allowing her fingers to fall loosely and languidly while she, listening attentively, raises an edge of her garment with the other [hand]; she stands erect, her head inclined sideways and a little forward, the knees and feet together, and with one heel turned against the ankle of the other foot. Consider now the other woman standing by who is also listening attentively […] and note what a difference education makes to people’s gestures; she has set both her hands on her hips, standing on both feet without the slightest turning [of her limbs]. Holding her upper body a little forward, she sticks out her breast and chin, pressing her head down into her neck with her mouth slightly agape, and with no raising of her hip.“ Eine Zwischenstufe scheint dort zu fehlen. Die drei unterschiedlichen Stufen werden jeweils anhand von zwei Bildbeispielen visualisiert. Die Form des jeweiligen Glases, aber auch der jeweiligen Hand wird je nach Kategorie entsprechend charakterisiert (grob, fein, am feinsten).

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II. Das Primat der Hand

der Linie auf dem Blatt, die ebenfalls zwischen den sozial unterschiedlichen Paaren variiert, ist bezeichnend. Weist die Linienführung einen geschlossenen, fixierten Charakter bei den weiblichen Figuren auf, so ist sie bei den Bauern umso unkontrollierter, ja beinahe plump. Dies lässt sie jedoch beweglicher erscheinen und verleiht ihnen so mehr Lebendigkeit als den Frauen. Somit gibt es eine Übereinstimmung zwischen Strichführung und Körperhaltung der Personen, was wiederum die Verbindung zwischen den genera dicendi demonstriert, diesmal allerdings nicht nur vom rhetorischen Standpunkt aus, sondern auch im Sinne eines bestimmten Handeling des Instruments im Hinblick auf das Körperbild. Dort fehlt aber, sowohl motivisch als auch formal, das Mittlere und damit Bürgerliche, weil es eine Zwischenposition einnimmt und der einen wie der anderen Richtung zugehörig sein kann. Die Mittelklasse in Holland bewegte sich in Geschmacksfragen zwischen „High and Low“,160 was auch als Eklektizismus verstanden werden kann. Vor allem aber ist die Freiheit der Wahl zwischen diesen Konzepten von zentraler Bedeutung. Auch der Rhetoriker Vossius spricht sich im Rahmen seiner Aufzählung der drei Stile für die vermittelnde Funktion des genus mediocre innerhalb der beiden Extreme aus.161 So auch van Hoogstraten: „[…] hoemen de figueren een behaeglijke sprong zal geeven, dat is, datze, ’t zy hoog of laeg, met malkanderen een gedaente maeken, die ’t oog bevallijk is, en datze, door haere verscheydenheyt onderling schijnen te speelen.“162 Die Bewegung des Körpers und dessen Disziplinierung ist auch eine sozial-ideologische Entscheidung, der der Bürger auf die eine oder andere Weise folgt. Dies kann mit Bezug auf das Malerische, Habituelle erklärt werden. Ein klares Schema des mittleren Stils fehlt und macht diesen zu einem schwierigen Gegner für den Akademismus, da er die denkenden Hände und deren hinterlassene Spuren als ein handwerkliches Produkt eines verkörperten Umgangs mit der Farbe zum Prinzip erhebt. Die Vorsicht de Lairesses bezüglich des mittleren Stils spielt insofern eine Rolle, als das Lesepublikum seines Schilderboek genau wie dessen Verfasser selbst aus der Mittelklasse stammten.163 160 161 162

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Peter Burke: Venice and Amsterdam. A Study of Seventeenth-Century Elites, Cambridge ²1994, S. XX. Weststeijn: The Visible World, S. 193. Van Hoogstraten: Inleyding tot de hooge schoole der Schilderkonst, S. 198. Van de Wetering: Towards a Reconstruction of Rembrandt’s Art Theory, S. 96: „One should give the figures an agreeable ‚sprong‘ that is pleasing [to the eye], such that, whether high or low, together they create a ‚shape‘ [gedaente] that is attractive to the eye, and then appears an interplay between them resulting from their diversity; […].“ Dolders: Some Remarks on Lairesse’s Groot Schilderboek, S. 185. Sicherlich erhoffte de Lairesse sowie sein entsprechendes Lesepublikum die „Nobilitierung“ der Mittelklasse durch das Etablieren höfischer Ideale, die sich in der Selbstinszenierung des „Als-ob-Aristokratischen“ entfalten würde.

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Handeling als Habitus

De Lairesse empfiehlt den Malern, die sich den Antiken und folglich der Grazie widmen, das genus medium und so die moderne Manier nur als eine Freizeitbeschäftigung zu betrachten. Dies erinnert wiederum an Künstler wie Ovens oder Mayr, deren Bilder in einem gewissen Gegensatz zu solchen standen, die für die Öffentlichkeit bestimmt waren.164 Zugleich dient aber die Behauptung de Lairesses als Ausrede, um dann dem Höheren den Vorzug zu geben.165 Die vollkommene Körperdisziplinierung geht für ihn mit dem Konzept der Grazia und des Wohlstands sowie der Haltung (Hexis) einher und spielt auch für Sandrart eine besondere Rolle.166 Samuel van Hoogstraten unterteilte ebenfalls drei genera dicendi in seiner Inleyding, allerdings abweichend von de Lairesse: „Wat ons aengaet, wy geeven deze, en, zoo ’er noch meer verschillende geesten zijn, yder de vryheyt haer behaegen te volgen; en verwerpen geen tulp om dat het geen roos, noch geen roos om dat het geen lely is. Wy zullen de konstdeelen verhandelen, een yder verkieze daer uit, ’t geen hem waerdichst dunkt.“167 Die Blumenmetaphorik vergleicht das Bäuerliche mit einer Tulpe – die Tulpomanie und das damit verbundene Fiasko im Jahre 1637 könnte ein Grund für diese Assoziation sein. Die Lilie wird mit dem Adligen (als Symbol der Bourbonen?) sowie möglicherweise mit dem allmählichen Einfluss der französischen Kunst in den Niederlanden mit Referenz auf das Höhere assoziiert, während die Rose als das Mittlere er­scheint. Erneut kann, wie im Bild mit dem Lautenspiel der Terpsichore (Bild  51), von einer Toleranz van Hoogstratens gegenüber den drei genera dicendi gesprochen werden, obwohl zugleich anschaulich wird, welcher Blume er persönlich den Vorzug geben würde. 164 165

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Ebd. Bezeichnenderweise macht de Lairesse folgende Unterscheidung zwischen modern und antik, was als das Momentane gegenüber dem Klassischen bezeichnet werden könnte: De Lairesse: Groot Schilderboek, Band 1, S. 173. Zitiert nach Atkins: A Signature Style of Frans Hals, S. 197: „I think I cannot better describe the difference between what is antique and what is modern, than by a windball and an egg, thus: the ball by being tossed to and fro, and at last bursting, represents short duration, affording nothing but wind; but the egg hatched and opened, produces a living creature; not only a something, but something good; the former, a mere nothing; or, if it have a name, ’tis vanity, and therefore rather bad than good.“ Dethlefs: Gerard de Lairesse and the Semantic Development of the Concept Haltung in German, S. 221 f. Sandrart macht zum Beispiel Bemerkungen über den Habitus bezüglich der Kleidung (Von Sandrart: Teutsche Akademie 1675, 12. Capitel: Vom Gewand und Tücher-Mahlen). Die Gewänder sind gemäß Geschlecht, Stand und Stellung der Personen sowie gemäß den Landesarten zu unterscheiden. Van Hoogstraten: Inleyding tot de hooge schoole der Schilderkonst, S. 176. Vgl. Van de Wetering: Towards a Reconstruction of Rembrandt’s Art Theory, S. 59: „As far as we are concerned, and as there are other different minds, we allow each the freedom to follow whatever he likes; and reject no tulip because it is not a rose, nor a rose because it is not a lily. We shall discuss the parts of art, and each may choose from them what he considers the most valuable.“

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II. Das Primat der Hand

Michel de Montaigne verurteilte, hier in Übereinstimmung mit de Lairesse, die Tänzer von niedrigem, bäuerlichem Stande, die nicht in der Lage seien, die Grazia der Adligen zu imitieren, und deshalb außergewöhnliche Körperbewegungen ausüben müssten, um die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Der französische Humanist betonte dies kritisch im Hinblick auf die Ausführung des salto mortale: „Es gehet hier eben so wie bey unsern Bällen, bey welchen sich diejenigen Leute von schlechtem Stande, welche im Tanzen Unterricht geben, weil sie die Geberden und die geschickten Stellungen unseres Adels nicht nachahmen können, durch gefährliche Sprünge, und andere seltsame und poßierliche Bewegungen beliebt zu machen suchen.“168 Diese exzessive Bewegung des Körpers lässt sich adäquat auf die unorthodoxe Malweise der Rembrandtisten übertragen, die de Lairesse kritisierte. Lambert ten Kate übernimmt kurze Zeit später die Dreiteilung von de Lairesse und stimmt mit ihm in der schematischen Ordnung überein. In seiner Verhandeling over het Denkbeeldige Schoon der Schilders, Beeldhouwers en Dichters aus dem Jahre 1720 ordnet er die Maler in drei Klassen: zunächst die, die alltägliche Themen malen (Genremalerei), wie Dou und Metsu. In diesem Kontext bildet die Gattung und weniger die Malweise die Determinante.169 Brouwer oder Teniers werden von ten Kate gar nicht erwähnt. Rembrandt wird erwartungsgemäß in die Mitte der Skala gesetzt und Rubens, van Dyck sowie die Italiener in die höchste Klasse.170 Rembrandts Werk wird von ten Kate folgendermaßen charakterisiert: „Schoon Rembrand zyne denkbeelden van laage en gemeene beelden, zo ten aanzien der kleedinge, gelaat als gestalte, ontleend schyn te hebben; egter geeft hy, door een kunstige verdeeling van licht, om dezelven beter te doen uitblinken, gewoonlyk aan zyne eenvoudige beelden spreekende vrolykheden en gemoedsbeweegingen, verzeld van eene gemaklyke en ongemaakte houding; doch dit alles heeft zelden iets deftigs.“171 Kritik und Lob Sandrarts und de Lairesses werden durch die Feder ten Kates zusammengefasst.

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Michel de Montaigne: Essais, Band 1, Zürich 1992, S. 817. Zitiert nach Ausst. Kat.: Bewegtes Leben, S. 114. Der Begriff „Genre“ taucht erst deutlich später auf. Vgl. Barbara Gaethgens (Hg.): Genremalerei, Geschichte der klassischen Bildgattungen in Quellentexten und Kommentaren, hg. v. Kunsthistorischen Institut der Freien Universität Berlin, Band 4, Darmstadt 2003, S. 14–44. Slive: Rembrandt and His Critics, S. 170 f. Lambert ten Kate: Verhandeling over het Denkbeeldige Schoon, S. 7 f. Zitiert nach Slive: Rembrandt and His Critics, S. 170 f: „[He] [s]eemed to have borrowed his ideas from people completely base and low for his drapery as well as for the faces and the shapes of his figures; nevertheless, by means of an ingenious distribution of light, in order to make it appear better, he gives to this naive people, expressive

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Handeling als Habitus

Bild 53  Arent de Gelder: Der Maler in seinem Atelier, um 1710, Öl auf Leinwand, 45 × 55 cm, Sammlung Isabel und Alfred Bader, Milwaukee.

Aber wie soll eine solche von de Lairesse vorgesehene Dreiteilung bildlich funktionieren? Ein Blick auf drei Gemälde soll das Schema des Lüttichers verdeutlichen, weniger, um de Lairesses Konstruktion zu bestätigen, als vielmehr, um seine innere Logik aufzuzeigen. Was im Selbstbildnis als Zeuxis explizit angedeutet wird (Handwerker-Habitus, Bild 31), ist in der späteren Atelierszene aus der Sammlung Bader nur implizit vorhanden (Bild 53). Formal erscheint das Bild anders als das Gemälde aus Frankfurt, obwohl beide Werke der gleichen Tradition – de Lairesse folgend der mittleren – zugehörig sind. In einem dunklen Atelierraum sind drei Figuren erkennbar. Ein Maler in zeitgenössischer Kleidung sitzt mit dem Rücken zum Betrachter vor seiner Staffelei und ist, anders als beim Rollenspiel im Frankfurter Gemälde, hier allein hervorgehoben. Ihm gegenüber befindet sich in lässiger, an Frans Hals erinnernder Pose eine männliche Figur. Auf der linken Seite des Bildes ist eine längliche männliche Gestalt zu erkennen, der Assistent des Malers, der Farben humours and passions, accompanied by an easy attitude and without affectation, but all of this almost never has anything of the noble.“

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II. Das Primat der Hand

Bild 54  Adriaen van Ostade: Der Maler in seiner Werkstatt, signiert, 1663, Öl auf Holz, 37 × 36 cm, Staatliche Kunstsammlungen, Gemäldegalerie Alte Meister, Dresden.

mischt. Der kleine Kopf und der lange Körper weisen auf die Proportionen der Akteure des Passionszyklus und somit auf die „radikale manieristische“ Wendung hin, die den Hauptunterschied zum Selbstbildnis als Zeuxis ausmacht.172 Der Stuhl im Vordergrund erinnert an solche, auf denen Modelle de Gelders und Rembrandts saßen. An den Wänden hängen Werke und Werkzeuge. Ein Vorhang mit Seilzug regelt den Lichteinfall, beinahe als Metapher für die charakteristische Tonalität des Helldunkels.173 Die entspannte Haltung des 172

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Ausst. Kat.: De Zichtbaere Werelt. Schilderkunst uit de Gouden Eeuw in Hollands oudste stad, hg. v. Peter Schoon, Zwolle 1992, S. 166 f.; Ausst. Kat.: Arent de Gelder [1645–1727], S. 230 f. Hier im Sinne einer stilistischen Entwicklung des Malers, was im vorliegenden Versuch nicht weiter verfolgt wird. Diese Regulierung des Lichtes hatte einen technischen Aspekt, denn wenn das Atelier Südlicht hatte, konnte mithilfe des Vorhangs das Licht gemildert werden. Vgl. Ausst. Kat.: Arent de Gelder [1645–1727], S. 230.

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Handeling als Habitus

Bild 55  Michiel van Musscher: Der Maler bei der Arbeit, signiert, 1690, Öl auf Leinwand, 77 × 65,5 cm, Standort unbekannt.

Mannes im bürgerlichen Kostüm, der dem Maler gegenübersitzt, lässt darauf schließen, dass er ein Freund oder Auftraggeber ist. Seine Körperhaltung stellt eine Mischung aus Disziplinierung und Lässigkeit im Sinne einer bürgerlich geprägten Sprezzatura dar. Bezeichnend aber ist die dunkle (bruin) Manier des Gemäldes, die ihm seinen charakteristischen de Gelder’schen Ton gibt, wonach de Lairesse es in das genus mediocre einordnen würde. Von der Staffage her erinnert das Bild an ein Werk Adriaen van Ostades (Bild 54).174 Nach dem Wertungssystem de Lairesses müsste Letzteres aber dem niedrigsten, bäuerlichen Stand zugerechnet werden, de Gelders Werk dem mittleren, bürgerlichen und das Michiel van Musschers (Bild 55), mit seiner feinen Malweise, dem höchsten. Das Modell bei van Musscher und das bei de Gelder ist in einer ähnlichen Pose dargestellt, nur trägt es bei de Gelder seinen Hut auf 174

Ebd.

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II. Das Primat der Hand

dem Kopf und hält ihn nicht auf dem Schoß wie bei van Musscher. Im Handeling wird ein deutlicher Unterschied erkennbar. In van Musschers Gemälde ist die Farbe flach und fein aufgetragen, wohingegen bei van Ostade die Farbe zwar fein aufgetragen ist, das Thema jedoch dieser Feinheit nicht entspricht. Zugleich herrscht bei ihm ein dunkler Ton. Marco Boschini kritisierte die (italienischen) Feinmaler und auf diese Weise indirekt die Machart des Bildes van Musschers. Die Fijnschilders tragen die Farbe auf: „[…] neatly neatly […] with squirrel brushes. And those brushes notwithstanding […] they wipe them with their handkerchiefs now and then, such cleanliness.“175 Was die Klassizisten gegenüber Rembrandt geäußert haben, kehrt Boschini ins Gegenteil um. De Gelders Bild ist tatsächlich zwischen diesen beiden Gemälden anzusiedeln. Malerisch näher zu van Ostade und thematisch zu van Musscher unterstreicht es ausdrücklich die Offenheit der Mitte gegenüber beiden Seiten – an de Lairesses Maßstab gemessen. In formaler Hinsicht unterscheidet jedoch die Freiheit der denkenden Hand, die der Performativität von Farbe den Vorzug gibt, das Gemälde de Gelders von den beiden eher feingemalten Bildern. Dafür spricht die Ideologie des bruin, das nicht mit der Farbe Braun gleichgesetzt, sondern allgemein als ein dunkler Ton angesehen wird, wie eingangs am Selbstbildnis als Zeuxis gezeigt wurde.176 Dieser Ton ist durch Erdfarben charakterisiert, die die Palette der Rembrandtisten beherrschen und per se mittlere Töne sind.177 Von de Lairesse wird, abgesehen von der schon erwähnten Kritik am Farbauftrag der Rembrandtisten, bruin mit Malern wie Ribera und Loth assoziiert, und zwar nicht ohne kritischen Unterton: „Laat u niet vorstaan dat de gloeijende en bruyne Coloriet de beste zy.“178 Dass de Lairesses Bemerkung hier wiederum an Drost und dessen aktive Einwirkung auf den Tenebrismo in Venedig denken lässt, ohne dass er explizit genannt würde, ist vielsagend. Eine erweiterte Kritik am Helldunkel wird hier deutlich: Sie betrifft einen so versatilen Künstler wie Drost, der sich aber in einer anderen Form des Helldunkels in Venedig bewegt. Ein ästhetisches Empfinden, das den Chiaroscuro bevorzugt, scheint Anfang des 18. Jahrhunderts in Holland vorhanden gewesen zu sein, sonst bräuchte de Lairesse dies gar nicht so polemisch erwähnen. 175 176 177

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Sohm: Pittoresco, S. 206 (Boschini: Carta, S. 374 f.). Vgl. Karin Leonhard: Bildfelder. Stilleben und Naturstücke des 17. Jahrhunderts, Berlin 2013, S. 85–91. Vgl. Kern: Samuel van Hoogstraeten and the Cartesian Rainbow Debate, S. 111; De Vries: How to Create Beauty, S. 38: „bruyn as a meaning of dark, not brown, schoon (pure)“. De Vries: Gerard de Lairesse, S. 90: „[…] do not pride yourself on your glowing and dark colouring as being the best.“

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Handeling als Habitus

In der Forschung wird dies als Gegensatz zwischen den erdigen Tönen der Rembrandtisten und den chromatischen Tönen der Klassizisten beschrieben.179 Es geht um eine Auseinandersetzung zwischen Kopf und Körper, dem Verstand und den Sinnen, Idealismus und Materialismus. Dass sich van Hoogstraten in den siebziger Jahren eher für die Regenbogenfarben als für die Erdfarben aussprach, unterstreicht erneut den Wechsel seines Stils in Richtung Klassizismus.180 Wie sich beide Malideologien auch noch im fortschreitenden 18.  Jahrhundert in Deutschland gegenübertreten, wird in einer Erzählung Christian von Hagedorns deutlich, der 1763 Generaldirektor der Dresdener Kunstsammlung wurde: „[…] so ist Herr Göring gewaltig gerupft, da ihm ein Weiberkopf, der allem Aussehen nach von Arent de Gelder, einem der jüngsten und wohlfeilsten Discipel des Rembrandt ist, vor Rembrandt aufgehängt worden, und ihm dagegen ein Netscher und zwei Cosciau abgelockt, wo Netscher allemal den Rembrandt, wenn er auch ächt wäre, an Wert übersteigert.“181 Zugleich wird die Fehleinschätzung Görings bezüglich Rembrandts und de Gelders (Göring bevorzugte den Schüler!) durch Hagedorn angegriffen. Arent de Gelders Auseinandersetzung mit der Farbe und sein Habitus werden den klassizistischen Vorlieben entgegengestellt. In einer Zeit, in der sich der Künstler längst von der Etikette des Handwerkers befreite, ist bei den Rembrandtisten eine Tendenz zu erkennen, die den gegenteiligen Prozess insofern legitimiert, als die künstlerische Praxis (also das Handwerk) zu einem Denkprozess erhoben wird.182 Der Navigator ihres Handeling ist, in formaler und inhaltlicher Hinsicht, der Körper, was de Gelder und die Rembrandtisten zu „denkenden Handwerkern“ machte.

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Kern: Samuel van Hoogstraeten and the Cartesian Rainbow Debate, S. 111 ff. Ebd. Moritz Stübel: Christian Ludwig von Hagedorn, Leipzig 1912, S. 38. Zitiert nach Horst Gerson: Zur Nachwirkung von Rembrandts Kunst, in: Otto von Simson/Jan Kelch (Hg.): Neue Beiträge zur Rembrandt-Forschung, Berlin 1973, S. 209. Siehe auch Horst Gerson: Ausbreitung und Nachwirkung der holländischen Malerei des 17.  Jahrhunderts, Amsterdam ²1983, S. 266. Auf Seite 343 schreibt Gerson: „Die Rembrandt-Renaissance begann in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts; sie war in der Anti-Rokokobewegung verankert, dadurch bestimmt und begrenzt.“ Dieses Urteil bekräftigt das Zitat Hagedorns. Es ist bezeichnend, dass Samuel van Hoogstraten in dem Titelblatt des siebten Buches aus der Inleyding mit Melpomene den vom dunklen Handwerkertum des Hephaistos befreiten Maler darstellt, um seine hohe Schule der Malerei zu legitimieren. Der Maler wird von Apoll im Lichtkegel empfangen und stellt somit die wahre Erkenntnis der Kunst dar. Van Hoogstraten: Inleyding tot de hooge schoole der Schilderkonst, S. 242 f.

I I I . M aterial

Fa rb e a ls Mater ia l Im Selbstbildnis als Zeuxis von de Gelder wird die Malerei als Prozess gezeigt (Bild 31). Diverse Farben befinden sich auf dem Tisch, de Gelder weist aktiv darauf hin, als bildete das Material Farbe bzw. das Öl als Bindemittel (Bild 33) die primäre Basis seines Kunstverständnisses und seiner Bildproduktion. Monika Wagner hat in ihrem fundamentalen Werk über Das Material in der Kunst. Eine andere Geschichte der Moderne für die Autonomie des Materials gegenüber der Form plädiert.1 Sie konnte zeigen, wie das Material vor allem im 20. Jahrhundert, besonders seit 1945, zu einem Akteur par excellence wird, und zwar betrifft dies nicht nur traditionelle Materialien wie Farbe oder Holz, sondern zum Beispiel auch Fett und Glas. Wagner betont hierbei, dass in der Frühen Neuzeit „die von den Gegenständen emanzipierte Farbe […] als farbige Erscheinung, nicht als Material vorgestellt [wurde]“2. Gleichzeitig erkennt sie die eigenen Qualitäten des Materials bei Rembrandt und Tizian an: „Rem-

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Monika Wagner: Das Material der Kunst. Eine andere Geschichte der Moderne, München 2002. Vgl. Monika Wagner/Dietmar Rübel/Sebastian Hackenschmidt (Hg.): Lexikon des künstlerischen Materials. Werkstoffe der modernen Kunst von Abfall bis Zinn, München ²2010. Der erste und der zweite Abschnitt bauen auf bereits publizierten Vorarbeiten des Verfassers auf: Malerei auf Stein, Steinerne Malerei. Die Farbgestaltung bei Spranger und de Gelder, in: ders./Joris van Gastel/Markus Rath (Hg.): Paragone als Mitstreit, Berlin 2014, S. 211–235. Der dritte Abschnitt beruht zum Teil auf: Malen, Kratzen, Modellieren. Arent de Gelders Farbauftrag zwischen Innovation und Tradition, in: Markus Rath/Jörg Trempler/Iris Wenderholm (Hg): Das haptische Bild. Körperhafte Bilderfahrung in der Neuzeit, Berlin 2013 (Actus et Imago VII), S. 227–252. Wagner: Das Material der Kunst, S. 22.

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III. Material

brandts braune Farbkrusten, Tizians aufwendige Lasuren oder van Goghs rohe Farbpaste“ beschäftigte die Forschung nicht.3 Das Selbstbildnis de Gelders wird überraschenderweise – trotz der Erwähnung der Bildtradition Tizians und Rembrandts – als ein Beispiel gewählt, bei dem der Werkstoff Farbe durch die Form vernichtet wird: „Auf der Palette trat die Farbe zum letzten Mal als Material auf, bevor sie im Transfer zum Bild ihren Status änderte und vom Material zur farbigen Form mutierte. Aus den zähen Pasten in den Töpfen ist auf der Palette weiches, gefügiges Malmaterial geworden. Dem amorphen Material sieht man seine mineralische oder aber pflanzliche Herkunft nicht mehr an, es erscheint geschichtslos. Die Kunst des Malers, so lehrt uns de Gelder, erweist sich darin, dass er dieses geschmeidig und flexibel gemachte, formlose Material auf der Leinwand in ein Porträtgemälde überführt und damit zum Verschwinden bringt.“4 Dem ist nur bedingt zuzustimmen. Einerseits agiert die Farbe immer noch als Material und andererseits wird durch die besondere Art des Farbauftrags die Materialität der Malmittel betont, wodurch der Übergang vom Material zur Form als künstlerischer Prozess thematisiert wird, ohne dass das eine zugunsten des anderen aufgegeben würde. Dies gehört zum Charakteristikum der Kunst de Gelders in der Tradition Tizians und Rembrandts. Neben der Betonung des Zufalls ist es gerade dieses Prinzip, das später auch William Turner hoch geschätzt und schließlich produktiv übernommen hat.5 Der Werkstoff mag bei de Gelder zwar nicht im gesamten Bild autonom agieren, wie in der Moderne (etwa bei der Bildoberfläche eines Constable), sondern nur partiell, er kann aber zugleich auf das Verfahren der Rembrandtisten

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Ebd., S. 18. Die Annahme einer bewussten Materialwahl kann sicherlich auch für das Mittelalter, wenn nicht sogar für die Antike bezeugt werden. In der byzantinischen Kunst gibt es viele Beispiele, die von der Anerkennung und Wahrnehmung des Materials als solches sprechen. Wagner: Das Material der Kunst, S. 18 f. Mit der Frage des Materials haben sich in der Kunstgeschichte schon früher eine Reihe von Wissenschaftlern befasst, ohne jedoch so systematisch Schlüsse zu ziehen wie Wagner. Siehe zum Beispiel: Günter Bandmann: Bemerkungen zu einer Ikonologie des Materials, in: Städel Jahrbuch, 2 (1969), S. 75–100; Norberto Gramaccini: Zur Ikonologie der Bronze im Mittelalter, in: Städel Jahrbuch, 11 (1987), S. 147–170; Wendy Stedman Sheard: Verrocchio’s Medici Tomb and the Language of Materials. With a Postscript on his Legacy in Venice, in: Steven Bule/Alan Philipps Darr (Hg.), Verrocchio and late Quattrocento Italian Sculpture, Florenz 1992, S. 63–93; Nicholas Penny: The Materials of Sculpture, New Haven u. a 1993; Thomas Raff: Die Sprache der Materialien. Anleitung zu einer Ikonologie der Werkstoffe, Münster ²2008. Wagner lässt ihre andere Geschichte mit Turner anfangen, was nicht verwunderlich ist, da ihre Forschungsinteressen genau genommen mit diesem Künstler beginnen. Vgl. Monika Wagner: William Turner, München 2011.

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Farbe als Material

verweisen und dadurch mit den Bildern Constables in eine Linie gebracht werden. Die vom Material hinterlassenen Farbspuren, die den Malprozess offenlegen, bilden einen zentralen Aspekt des Bildverständnisses Rembrandt’scher Prägung.6 Die Farbe bildet die Schnittstelle zwischen Medium und Material.7 Ein Maler wie de Gelder eliminiert durch die Formgebung die Farbe nicht gänzlich. Stattdessen werden die Gegenstände und Personen sowie deren Beschaffenheit im Bild materialiter aufgeladen.8 Die Farbe wird einerseits als solche gezeigt, andererseits wird durch ihre spezifische Gestaltung eine Materialität zweiter Ordnung hergestellt. Da die Materie per se dynamisch ist, kann von einem absolut ursprünglichen Material nicht die Rede sein.9 In dem Gemälde Jakobs Traum (Bild 56), signiert und um 1715 datiert, kommt dies auf eindrucksvolle Weise zum Ausdruck. Die Signatur emergiert aus der Handmotorik de Gelders, als hätte er ein Schnitzmesser verwendet. Sie ist wohl in einem Zug mit den gekratzten Büschen im Bildgrund entstanden, was den Eindruck erweckt, als sei sie wie die Büsche von der Natur selbst geschaffen worden. Die Kratzer sollten die Landschaft bezeichnen; nun scheint es, als wolle de Gelder das Verhältnis von Bezeichnendem und Bezeichnetem umkehren, indem die Landschaft die Kratzer gleichsam hervorbringt und die Motorik des künstlerischen Aktes sichtbar wird. Die Signatur und die abstrakte Form der Kratzer thematisieren gleichzeitig das spannungsvolle Verhältnis zwischen Vollendetem und Unvollendetem, offenbaren den Malprozess und zeigen mit Nachdruck, dass sie buchstäblich und metaphorisch ein zentrales Merkmal der Kunst des Dordrechters sind (Bild 57).10

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Diesen Prozess hat Matthias Krüger für die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts in Frankreich gezeigt. Siehe Matthias Krüger: Das Relief der Farbe. Pastose Malerei in der französischen Kunstkritik 1850–1890, Berlin 2007. Franziska Uhlig: Farbe – Medium oder Material? Fragen des Sehens am Beispiel Camille Pissarros und Ernst Ludwig Kirchners, in: Andreas Haus u. a. (Hg.): Material im Prozess. Strategien ästhetischer Produktivität, Berlin 2000, S. 231. Monika Wagner: Materialvernichtung als künstlerische Schöpfung, in: Haus: Material im Prozess, S. 109. Antonia Ulrich: (Im)material(ität) und Ideologie, in: Haus: Material im Prozess, S. 94 f. John Dewey bringt dies auf den Punkt, wenn er schreibt: „[…] the contrast is not between matter and form but between matter relatively unformed and matter adequately formed.“ John Dewey: Art as Experience, New York 2005, S. 198. 1802 ist das Bild in der Auktion der Sammlung des Königs von Polen in London versteigert und 1807 von der Dulwich Picture Gallery erworben worden, wo es sich bis heute befindet. William Hazlitt (1824) und James Russell Lowell (1855) äußerten sich begeistert über den vermeintlichen Rembrandt. Turner benutzte de Gelders Bild als Inspirationsquelle für seine Vision der Himmelsleiter. Das Gemälde wurde zunächst Rembrandt und erst 1946 (nach Entdeckung der gekratzten Signatur) endgültig Arent de Gelder zugeschrieben. Vgl. David Raymond van Fossen: The Paintings of Aert de Gelder, unveröffentlichte Doktorarbeit, Harvard University,

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III. Material

Das Kratzen zerstört zwar die Farbe, fügt dem Werk aber gleichzeitig eine skulpturale, reliefartige Eigenschaft hinzu und macht die Materialität des Bildträgers sichtbar, wodurch dieser selbst im Bildprozess agiert. Die pastos gemalten Stämme der Bäume könnten sogar mit den Fingern aufgetragen sein, womit ein weiteres plastisches Mittel beschrieben wäre. Das Material bezeichnet auf eine radikale und abstrakte Art und Weise den Stamm und mittels des pastosen Farbauftrags seine festere, hölzerne Eigenschaft. Farbe wird in ihrem gestalterischen Einsatz auch als Material und je nach Ansicht als dieses selbst wahrgenommen.11 Eine erstaunliche Parallele zur Applikationstechnik der Farbe auf den Baumstämmen in Jakobs Traum findet sich in folgender Aussage van Goghs: „Ich drückte […] die Wurzeln und Stämme direkt aus den Tuben.“12 Die Zweige der Bäume in Jakobs Traum dagegen entstehen aus Kratzern. Dadurch wird ihre spitze Beschaffenheit gleichzeitig betont und abstrahiert. Wie im Selbstbildnis als Zeuxis wird die Farbe als Material eingesetzt und mit unterschiedlichen Mitteln bearbeitet, um Materialität zu evozieren, wodurch sie als gestaltete Form agieren kann. Von den Rembrandtisten verfolgt nicht nur Arent de Gelder dieses Prinzip. Auch Willem Drost, Barent Fabritius und Christopher Paudiß präsentieren das Material Farbe als solches oder verwenden den Bildträger als Akteur.13 Die materielle Beschaffenheit der Dinge wird anhand der Bearbeitung der Farbe sichtbar. Exemplarisch lässt sich diese Beobachtung am Beispiel von zwei Gemälden von Paudiß zeigen. Das signierte Selbstbildnis mit Gamsbart, geschaffen um 1665, heute in Freising, zeigt ein im Verhältnis zum Körper übergroßes Gesicht, das aus dem braunen Ton des Gemäldes hervortritt (Bild 58). Der Kopf scheint durch die extreme Drehung aus dem Bild herauszuspringen und hinterlässt dadurch einen umso lebendigeren Eindruck.14 Aufgrund der abrupten Bewegung wird die rechte

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Cambridge Massachusetts 1969, S. 32 f.; John Anthony Loughman, Jakobs Traum, in: Ausst. Kat.: Arent de Gelder [1645–1727], Rembrandts Meisterschüler und Nachfolger, hg. v. Dordrechts Museum/Wallraf-Richartz-Museum, Gent 1998, S. 246. Diese Bemerkung klingt in Abraham Bosses Beobachtung an, dass die Striche wie abstrakte Elemente agieren, die keine optische Ähnlichkeit mit etwas anderem aufweisen. Vgl. Christopher Atkins: The Signature Style of Frans Hals. Painting, Subjectivity, and the Market in Early Modernity, Amsterdam 2012, S. 151. Vincent van Goghs Briefe an seinen Bruder, hg. v. Johanna Gezina van Gogh-Bonger, Köln 1963, Nr. 221. Zitiert nach Wagner: Das Material der Kunst, S. 30. Vgl. die jeweiligen Abschnitte über diese Künstler in: Werner Sumowski: Gemälde der Rembrandt-Schüler, Band 1–4, Landau 1983. In diesem Zusammenhang spricht Hans Joachim Raupp von der „genialen Kopfwendung“ des Künstlers, die als Referenzpunkt Rembrandts Selbstbildnisse hat. Vgl. Hans Joachim Raupp: Untersuchungen zu Künstlerbildnis und Künstlerdarstellung in den Niederlanden im 17. Jahrhundert, Hildesheim/New York 1984.

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Farbe als Material

Bild 56  Arent de Gelder: Jakobs Traum, signiert, um 1715, Öl auf Leinwand, 65,1 × 53,6 cm, Dulwich Picture Gallery, London.

Bild 57  Detail aus Bild 56.

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III. Material

Bild 58  Christopher Paudiß: Selbstbildnis mit Gamsbart, Öl auf Leinwand, 87 × 69 cm, Bayerische Staatsgemälde­ sammlungen, Diözesanmuseum, Freising.

Schulter betont – dies war schon im Selbstbildnis Rembrandts in London oder bei Porträts de Gelders (Bild 5) und Barent Fabritius angelegt –, wohingegen die andere Seite des Körpers nicht existent zu sein scheint. Die langen Haare des Mannes sind auf der einen Seite opak, auf der anderen jedoch so fein, dass sie einem Nebel gleichen. Sein Körper lässt sich nur erahnen, weil er dem vorherrschenden Farbton des Grundes gleicht und dadurch beinahe unsichtbar wird. Das Gemälde ist im Vergleich zu de Gelders Bildern ebenmäßiger gemalt. Das Material Farbe ist zwar vergleichsweise stärker durchgearbeitet, bleibt aber trotzdem an einigen Stellen als solches sichtbar, wie das pastose Gelb an der Kopfbedeckung des Mannes zeigt. Das Haar wird vor allem auf der rechten Seite unten mittels Kratzer gestaltet, wodurch eine fragile Skulpturalität entsteht, die weniger radikal ist als die de Gelders, aber dennoch als Stilmittel auffällt (Bild 59).

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Farbe als Material

Bild 59  Detail aus Bild 58.

Im Bereich der exotischen Kopfbedeckung, die nach links zu kippen droht, ist eine Feder zu sehen, die gänzlich aus gekratzten Linien besteht.15 Die spitze Form des Gegenstandes selbst wird durch Kratzer unterstrichen, ähnlich wie bei den Ästen in Jakobs Traum (Bild 57). Das Gemälde, wenn es überhaupt ein Selbstbildnis sein sollte – denn eine Referenz auf die Arbeit als Maler fehlt – erinnert eher an Tronjebilder und Rollenporträts in der Tradition Rembrandts oder Lievens’.16 Ein weiteres, unten links im Bereich der sichtbaren Grundierung signiertes und auf das Jahr 1664 datiertes Bild von Paudiß, heute ebenfalls in Freising zu sehen, zeigt, wie die Zinnplatte in der Darstellung des Hieronymus mit 15 16

Carmen Roll: Selbstbildnis mit Gamsbart, in: Ausst. Kat.: Christopher Paudiß, 1630– 1666. Der Bayerische Rembrandt?, hg. v. Sylvia Hahn u. a., Regensburg 2007, S. 216. Ernst van de Wetering: Rembrandt’s Self-Portraits. Problems of Authenticity and Function, in: ders. (Hg.): A Corpus of Rembrandt Paintings IV. The Self Portraits, Dordrecht 2005, S. 89–317.

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III. Material

Bild 60  Christopher Paudiß: Hieronymus mit Engel, signiert, 1664, Öl auf Zinnplatte, 55 × 46,1 cm, Bayerische Staatsgemäldesammlungen, Diözesanmuseum, Freising.

dem Engel gestaltend mitwirkt (Bild 60).17 Die Platte ist mit einer recht dünnen Farbschicht versehen und verleiht der Komposition einen schimmernden Effekt. Das Malen auf einem solchen Träger (ähnlich der Kupferplatte) steht in der Tradition Elsheimers sowie Rembrandts. Vereinzelte Beispiele zur Verwendung der Zinnplatte sind in Österreich vorhanden, dem Land, in dem Paudiß bekanntlich einige Zeit verbracht hat.18 Paudiß, Deutscher und Rembrandtist, lässt sich mit 17 18

Carmen Roll: Hieronymus mit Engel, in: Ausst. Kat.: Christopher Paudiß, S. 256. Ausst. Kat.: Christopher Paudiß, S. 185 f.

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Farbe als Material

Hieronymus mit dem Engel in diesem Milieu verorten.19 Er ist nicht als ein bloßer Rembrandt-Epigone zu verstehen, sondern vielmehr als ein versatiler und komplexer Künstler, wie bereits im ersten Kapitel festgestellt wurde.20

Bild 61  Detail aus Bild 60.

Die weißgraue Grundierung konstituiert das Bild. Auch die Haut des Kirchenvaters scheint an einigen Stellen mit der Imprimitur zu verschmelzen, als ob die Haut des Bildes und die Haut des Körpers identisch wären (Bild 61). Die Zinnplatte hebt die glatte, aber unscharfe, stimmungsvolle Farbigkeit hervor. Die Umrisslinien der Gestalten sind verschwommen. Aufgrund der leichten Pastositäten lassen sich Lichtreflexe an der Stirn des Hieronymus finden. Der Künstler nutzt die Möglichkeiten der Zinnplatte, die daher den Malprozess quasi als Koautor begleitet. Durch ihre Glattheit diktiert sie gewissermaßen die Motorik des Pinsels.

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Das Motiv des Bildes scheint aus Albrecht Dürers Kupferstich Der Traum des Doktors (um 1498) spielerisch entnommen zu sein, da der Dämon vom Engel und der Müßiggänger (der Doktor) vom niedergeschlagenen Hieronymus substituiert werden. Darauf spielt der Titel der einzigen Ausstellung über den Künstler an: Christopher Paudiß 1630–1666. Der Bayerische Rembrandt? (2007).

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III. Material

Joachim von Sandrart argumentiert in seiner Teutschen Akademie im Kapitel über die Landschaftsmalerei: „Hier hat der Mahler insonderheit zu beobachten/ wie die entlegene Landschaften sich algemach in der Farbe verweiten und verlieren. […] die Bäume und ihre Blätter theils rötlich/ theils gelb/ coloriren/ und Form und Farben sich veränderlich zeigen: welches dann den Gemälden große Anmutigkeit gibet. […] Mahlen ist besser/ als Zeichnen/ nach dem Leben [Rand des Buches, Anm. d. V.].“21 Abgesehen von der besonderen Rolle, die Sandrart der Farbe gegenüber der Zeichnung und dem Verschmelzen von Landschaft und Farbe zuspricht, sticht vor allem die Tatsache hervor, dass der Schüler Honthorsts und guter Kenner Rembrandts Form und Farbe (im Sinne des Materials) doch voneinander trennt. So spricht er dem jeweiligen Element ein eigenes Potenzial zu und empfiehlt jungen Künstlern und Liebhabern, die die Hauptadressaten seines Buches sind, beide Aspekte zu berücksichtigen. Die Wichtigkeit, die Rembrandt der Materialität seiner Bilder zugesprochen hat, hebt Houbraken in der Biografie des Künstlers hervor: Er ging „zoo ver dat hy om eene enkele parel kragt te doen hebben, een schoone Kleopatra zou hebben overtaant“.22 Rembrandt verstrickt sich, der versteckten Kritik Houbrakens zufolge, in einen Materialfetischismus, da er das Schöne und so auch das ganze Bild („die schöne Kleopatra“) verdecke. Dies geht mit der bekannten Kritik des Schülers van Hoogstraten an den Regeln der Kunst einher.23 In der Vita seines Lehrers behauptet Houbraken: „Daar en boven had hy een manier van vet in de verf te schilderen, een wyze van doen, waar door de stukken lang hunne volkomen kragt en koleur behouden […] als dat de koleuren, in de kleederen inzonderheid, te enkel en onvermengt gebruikt zyn […] somtyds dingen in zyn stukken gebragt heeft, die hy in zyn Boek van de gronden der Schilderkonst wraakt.“24 21 22

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Joachim von Sandrart: Teutsche Akademie 1675, I, Buch 3 (Malerei), S. 70 f., unter: http://ta.sandrart.net/edition/text/view/157#tapagehead [14.1.2014]. Arnold Houbraken: De Groote Schouburgh der Nederlantsche konstschilders en schilderessen, Band 1, Den Haag ²1753, S. 259. Vgl. Alfred von Wurzbach: Arnold Houbraken’s Grosse Schouburgh der niederländischen Maler und Malerinnen, Osnabrück 1970, S. 113: „[…] ja er [Rembrandt, Anm. d. V.] ging hierin so weit, dass er, um eine einzige Perle kräftig hervortreten zu lassen, eine schöne Kleopatra überschmierte.“ Vgl. in diesem Zusammenhang die Argumentation von Jan A. Emmens: Rembrandt en de regels van de kunst, Gesammelte Werke, Band 2, Amsterdam ²1979; Seymour Slive: Rembrandt and his Critics. 1630–1730, New York 1988. Houbraken: De Groote Schouburgh der Nederlantsche Konstschilders en Schilderessen, Band 2, S. 158 f. Vgl. Wurzbach: Arnold Houbrakens Grosse Schouburgh der niederländischen Maler und Malerinnen, S. 226: „Dabei hatte er eine eigentümliche Art, die Farbe fett aufzutragen, eine Manier, vermöge welcher die Bilder lange Zeit ihre vollkommene Kraft und Farbe behalten […], als dass die Farben, insbesondere in den Gewändern, zu massenhaft und unvermischt angewendet sind,

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Farbe als Material

In diesem Urteil werden zwei Aspekte deutlich: Van Hoogstraten hat die Farbe deshalb so pastos aufgetragen, weil er die Wirkung seiner Bilder langfristig intensivieren wollte. Die damit einhergehende Indexikalität des Materials Farbe verstößt gegen die (klassischen) Regeln der Kunst, die er in der Distanzierung von seinem Lehrer Rembrandt selbst vertreten hat. Diesen Widerspruch zwischen Theorie und Praxis bei van Hoogstraten bewertet Houbraken offenbar kritisch und kommentiert dies entsprechend. Er bemängelt in seiner Inleyding die Diskrepanz zwischen bewusster Kritik und Parteinahme für einen idealistischen Akademismus sowie die unbewusste Praxis Rembrandt’scher Prägung, die er selbst immer noch schweigend vertritt, weil seine Hand sie mnemotechnisch gespeichert hat. Die Wichtigkeit des Aufzeigens und Wiedergebens unterschiedlicher Texturen im Bild betont van Mander im Grondt.25 Abgesehen davon, dass er die Malerei als „prozesshafte[n] Vorgang, in dem Farbe auch als Material wirkt“,26 auffasst, vertritt er weiterhin die Meinung, dass jedes Objekt ein entsprechendes Handeling aufweise, um seine Materialität hervortreten zu lassen: „En blijft dan niet, als moetwillighe Secte/ Aen u valsch’ opiny te vast ghebonden/Maer overspeelt hier vry/ ten zijn geen zonden.“27 Samuel van Hoogstraten setzt in einem gewissen Sinne den Gedankengang van Manders, sowohl zum Medium der Zeichnung wie zur Malerei, fort: „[…] [w]ant men moet zijn handeling nae den aert der dingen somtijts veranderen. […] Een yder ding zijn eygenschap te geven, In ’t handelen: men wen zich geen manier, Als die zich strekt tot aller dingen zwier. […] Bekreun u weynich met een handeling of manier van schilderen te leeren, maer wel, om gestadich in de opmerking vaster te worden, en de deelen der konst wel te onderscheyden, en met wakkerheyt nae te volgen. […] Want daer behoort een andere lossicheit van handeling tot het luchtige hair […].“28 Das Material oder die materielle Beschaffenheit des Bildträgers diktiert

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[…] zuweilen Dinge in seinen Bildern anbrachte, die er in seinem Buch von den Grundregeln der Malerkunst verwirft.“ Ernst van de Wetering: Towards a Reconstruction of Rembrandt’s Art Theory, in: ders. (Hg.): A Corpus of Rembrandt Paintings V. The Small-Scale History Paintings, Dordrecht 2010, S. 72 u. 98. Jan Nicolaissen: Chaos unentwirrbarer Farben, in: Ausst. Kat.: Augenkitzel. Barocke Meisterwerke und die Kunst des Informel, hg. v. Dirk Luckow, Kiel 2004, S. 34. Das Lehrgedicht des Karel van Mander, hg. v. Rudolf Hoecker, Den Haag 1916, S. 280. Vgl. Van de Wetering: Towards a Reconstruction of Rembrandt’s Art Theory, S. 115: „Do not then remain tied to your false opinion, like some rigid sect; but change your approach here freely, it is no sin.“ Samuel van Hoogstraten: Inleyding tot de hooge schoole der Schilderkonst: Anders de Zichtbaere Werelt, Rotterdam 1678, S. 30 u. 234 f. Dieses Zitat wurde schon bezüglich des Begriffes Handeling im ersten Kapitel verwendet, in diesem Kontext

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III. Material

die Führung des Pinsels. Letztere wiederum hängt von der Natur der Objekte ab, nicht umgekehrt. Der Künstler sollte der physischen Substanz des darzustellenden Objektes entsprechend im Sinne der natura naturans schaffen,29 mithilfe seiner Urteilsinstanz, dem Auge, und keine eigene Manier anwenden. Die Frage, welche Handbewegung nötig ist, um die Materialität hervorzuheben, und ob das jeweilige Material mit einer leichten oder einer mühsamen Bewegung durch das entsprechende Werkzeug unterstützt wird, stellt van Hoogstraten nicht.30 In der Geschichte der Unabhängigkeit des Materials von der Form und vom Prozess seiner Formwerdung spielt Tizian eine besondere Rolle, da er für die Niederlande und insbesondere für die Rembrandtisten eine der wichtigsten Referenzfiguren war.31 Tizian bewegt sich vor allem in seinen späten Werken zwischen einer Autonomie des Materials Farbe und deren Verwandlung in gestaltete Form, wie sie später auf je eigene Weise von Rembrandt, de Gelder,

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jedoch gewinnt es eine weitere Dimension. Vgl. Van de Wetering: Towards a Reconstruction of Rembrandt’s Art Theory, S. 122 f.: „[…] one must sometimes change the handeling according to the nature of things […], give everything its own quality in the handeling after its character in life acquiring no other manner than that which extends to giving everything its natural quality. […] Do not bother much with learning a particular handeling or manner of painting but do to become ever more firm in your observation and to distinguish the different parts of the art (nature) and to imitate them carefully. […] For a different kind of brushwork is needed for fluffy hair […].“ Spinoza definiert die zwei zentralen Begriffe in seiner Ethik folgendermaßen: „[…] [natura naturans:] was in sich selbst ist und durch sich selbst begriffen wird, also solche Attribute von Substanz, die eine ewige und unendliche Essenz ausdrücken, d. h. […] Gott insofern er als freie Ursache angesehen wird. Unter natura naturata verstehe ich dagegen alles, was aus der Notwendigkeit der Natur Gottes oder vielmehr der Natur irgendeines seiner Attribute folgt, d. h. als Modi der Attribute Gottes, insofern sie als Dinge angesehen werden, die in Gott sind und ohne Gott weder sein noch begriffen werden können.“ Baruch de Spinoza: Ethik in geometrischer Ordnung dargestellt, Hamburg 2012, S. 63 ff. Bei Roger de Piles wird eine schwere Hand generell verurteilt. Vielmehr soll eine leichte, freie Hand im Sinne der Sprezzatura agieren, ein Topos seit C. Cennini. Vgl. Roger de Piles: The Art of Painting and the Lives of the Painters, London 1706, S. 39: „In this place the word pencil signifies simply the exterior manner he observe’d in employing his colours, when those colours don’t seem too much agitated, or, as one may say, too much tormented by the motion of a heavy hand; but on the contrary when the movement appears free, ready and light, we say, The piece is of a good pencil, yet this freedom of the pencil is of little worth, if ’tis not guided by the Head, […].“ Vgl. Ausst. Kat.: Der späte Tizian und die Sinnlichkeit der Malerei, hg. v. Sylvia Ferino-Pagden, Wien 2007.

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Farbe als Material

Paudiß und anderen Rembrandtisten aufgegriffen wurden.32 Die Malerei wird somit im wahrsten Sinne des Wortes inkarniert.33 Die Kunst nördlich der Alpen verfolgt die Tradition einer Autonomie des Materials, die van Mander in seinem Grondt thematisierte. Einer der Künstler, dem er eine der ausführlichsten Viten widmete, ist neben dem Wanderer Hans von Aachen dessen Rivale Bartholomäus Spranger.34 Beide Künstler waren am Hof Rudolfs II. in Prag tätig.35 Die Bemerkungen van Manders zur Materialität der Bilder Sprangers erinnern an ein Werk, das sich heute im Kunsthistorischen Museum in Wien befindet. In einer weiten, bergigen Landschaft sind mehrere Figuren in unterschiedlichen Körperhaltungen zu sehen, die verschiedenen Tätigkeiten nachgehen (Bild 62). Bei näherer Betrachtung fällt eine nackte Gestalt auf, die nur mit Sandalen und einer Kappe bekleidet ist. Sie ist mit einem sonnenartigen Nimbus versehen und führt ein Instrument bei sich. Es handelt sich ohne Zweifel um Apoll. Er ist von Musen umgeben, unter denen sich Thalia mit der Narrenmaske und der Wurst sowie Erato mit der Laute im Vordergrund finden. Im Mittelgrund des Bildes befindet sich Pallas Athene.36 Die Darstellung kann als Apoll und die Musen auf dem Parnass identifiziert werden. Das Bild von Bartholomäus Spranger basiert auf einem Stich

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Diese Problematik in der Malerei Tizians ist – in Bezug auf die Schindung des Marsyas – am treffendsten von Daniela Bohde beschrieben worden: „Farbe und Materialität sind miteinander verbunden. […] Farbe wird verstärkt als Material wahrgenommen.“ Daniela Bohde: Haut, Fleisch und Farbe: Körperlichkeit und Materialität in den Gemälden Tizians, Emsdetten u. a. 2002, S. 13. Wie schon in Bezug auf die Bilder der Rembrandtisten festgehalten, spielt die Leinwand als Träger auch in der Malerei Tizians eine wichtige Rolle: „Von großer Bedeutung ist außerdem die Körnung der Leinwand. Die materielle Basis der Ölmalerei wird also nicht verborgen, sondern Farbe, Pinsel und Leinwand werden sichtbar gemacht und bestimmen die Bildwirkung.“ (Ebd., S. 18). Ebd., S. 346. Vgl. dazu: Georges Didi-Huberman: Die leibhaftige Malerei, München 2002; zum Begriff der „incarnazione“ vgl.: Christiane Kruse: Fleisch werden. Fleisch malen. Malerei als „incarnazione“. Mediale Verfahren des Bildwerdens im Libro dell’Arte von Cennino Cennini, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte, 63/3 (2000), S. 305–325. Karel van Mander: Das Leben der niederländischen Maler, hg. v. Hanns Floerke, Band 2, München/Leipzig 1906, S. 279–293; vgl. Ausst. Kat.: Einzug der Kunst in Böhmen. Malerei und Skulptur am Hof Kaiser Rudolfs II. in Prag, hg. v. Johann Kräftner u. a., Wien 2009. Van Mander: Das Leben der niederländischen Maler, S. 127–169. Vgl. Thomas DaCosta Kaufmann: Remarks on the Collection of Rudolf II. The Kunstkammer as a Form of Representatio, in: Art Journal, 38/1 (1978), S. 22–28. Michael Henning: Die Tafelbilder Bartholomäus Sprangers (1546–1611). Höfische Malerei zwischen „Manierismus“ und „Barock“, Essen 1987, S. 101 f.

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III. Material

Bild 62  Bartolomäus Spranger: Apoll und die Musen, um 1590, Öl auf Marmor, 37 × 49 cm, Kunsthistorisches Museum, Gemäldegalerie Wien.

Bild 63  Hendrick Goltzius: Das Urteil des Midas, signiert, 1590, 42,3 × 67,3 cm, Kupferstich, Rijksmuseum, Amsterdam.

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Farbe als Material

von Hendrick Goltzius aus dem Jahre 1590, der das Midasurteil darstellt. Spranger übersetzte die Helldunkeltonalität der Grafik in die Malerei (Bild 63).37 Das signierte Bild im Wiener Kunsthistorischen Museum, nach 1590 entstanden, ist auf eine Marmorplatte gemalt worden. Da das Werk abgeschlagen wurde, ist vom Schiedsrichter Tmolos nur noch das Bein erkennbar.38 Durch diesen Umstand wurde das Thema des Midasurteils in eine Darstellung mit Apoll und den Musen umgewandelt. Der Marmor, der mit bloßem Auge erkennbar ist, gestaltet teilweise selbst den Berg (Bild 64). Stein agiert hier als Stein, was wie-

Bild 64  Detail aus Bild 62.

derum auf die weiße Fläche des Papiers des Stiches von Goltzius und dessen bildhauerische Produktionsweise anspielt.39 Der Himmel erhält seinen leichten Grauton ebenfalls durch den Stein, der durch seine Maserung Wolkengebilde im Auge des Betrachters entstehen lässt. Sie erinnern an die Zufallsbilder, die die künstlerische Imagination beflügeln.40 Die Vergänglichkeit des Materials 37

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Ausst. Kat.: Hendrick Goltzius. Drawings, Prints and Paintings, hg. v. Huigen Leeflang, Zwolle 2003, S. 114 f. Ausführlicher zum Stich: Doris Krystof: „Die wahre Kunst ist bescheiden und schweigsam“. Zu Goltzius Midasurteil von 1590, in: Nederlands Kunsthistorisch Jaarboek, 42/43 (1992), S. 427–437; das Bild Sprangers findet dort allerdings keine Erwähnung. Ernst Dietz: Der Hofmaler B. Spranger, in: Jahrbuch der kunsthistorischen Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses (1909), S. 132; Henning: Die Tafelbilder Bartholomäus Sprangers, S. 101. Ebd., S. 103. Leonardo da Vinci: Treatise on Painting, hg. v. Amon Philip McMahon, Band 1, Princeton 1956, S. 50; Horst W. Janson: The Image Made by Chance in Renaissance Thought, in: Millard Meiss (Hg.): De Artibus Opuscula XL. Essays in Honor of Erwin Panofsky, Band 1, New York 1961, S. 262; Leon Battista Alberti: Das Standbild. Die Malkunst. Grundlagen der Malerei, hg. v. Oskar Bätschmann/Christian Schäublin, Darmstadt 2000, S. 142 f.; Andreas Hauser: Andrea Mantegnas „Wolkenreiter“. Manifestation von kunstloser Natur oder Ursprung von vexierbildhafter

148  

III. Material

wird durch den Riss im Marmor manifest, der die gesamte Komposition einerseits zerstören könnte und andererseits durch den Zufall aktiv mitbestimmt und ihn zu einem Donnerkeil inmitten der Wolken formt. Die Berge in der Ferne müssen in einem leuchtenden Blau erscheinen, um sich von den grauen, stürmischen Wolken abheben zu können. Die klassische Landschaftsmalerei der Zeit in der Tradition eines Patinir oder van Mander, an die das Bild erinnert und von der es sich jedoch gleichzeitig abhebt, beruht auf dem Aufbau der Farben Braun, Grün und Blau.41 Die beidseitig auf Alabaster gemalten Bilder Hans von Aachens (hier der Sturz des Phaeton) knüpfen ebenfalls an diese Tradition an (Bild 65).42 Sie befinden sich seit jeher in einer Kunstkammer. Von Aachen verstand es, ähnlich wie Spranger, die Möglichkeiten des Steins für sich zu nutzen, was im Grunde bedeutet, dass die Maserung des Alabasters die Komposition vorgibt und aktiv mitträgt. Außerdem wird in seiner Zeichnung zum Sturz des Phaeton sichtbar, dass er das Blatt im Sinne der steinernen Maserung kompositorisch unterteilt und somit Strukturen ausprobiert, die er später auf dem Alabaster ausführte. Ein ähnliches Verfahren lässt sich auch bei Gemälden (zum Beispiel der Allegorie der Schlacht von Sissek) beobachten, in denen das Prinzip der Maserung nur durch malerische Mittel erzeugt wird. Dies zeigt, dass im Hinblick auf die Maserung des Steins natürlicher und künstlicher Stoff für von Aachen wie für Spranger ähnliche Formprinzipien aufweisen.43 Die Annahme, dass das Bild Sprangers in der Kunstkammer Rudolfs II. gewesen sein könnte, scheint aufgrund der verwendeten Materialien und der Thematik geradezu zwingend zu sein. Vermutlich handelt es sich sogar um das Bild, das im Wiener Inventar von 1619 als „Ein Taffel auf Kupfer mit Apollo und Musen von Spranger“ verzeichnet ist.44 Dass das Werk als auf Kupfer gemalt beschrieben wird, ist nicht völlig abwegig, da der Triumph Rudolfs II., der ebenfalls auf Kupfer gemalt ist, eine ähnliche Farbbehandlung aufweist. Abgesehen vom Format des bemalten Steins sowie seiner Rolle als Akteur im künstlerischen Prozess spricht für ein Kunstkammerstück auch das Sujet. Das wissen-

41

42 43 44

Kunst?, in: Felix Thürlemann u. a. (Hg.): Die Unvermeidlichkeit der Bilder, Tübingen 2001, S. 147–172; Gabriele Helke: Eine Inkunabel der Antikenrezeption. Mantegnas „Hl. Sebastian“ im Kunsthistorischen Museum, in: Jahrbuch des Kunsthistorischen Museums Wien, 11 (2009), S. 25 ff. Über die Tradition des Zufalls siehe Kapitel IV. Vgl. Werner Busch: Landschaftsmalerei. Geschichte der klassischen Bildgattungen in Quellentexten und Kommentaren, Band 3, hg. v. Kunsthistorischen Institut der Freien Universität Berlin, Berlin 1997. Ausst. Kat.: Hans von Aachen. Hofkünstler in Europa, hg. v. Thomas Fusenig/Alice Taatgen/Heinrich Becker, Berlin 2010, S. 195–200. Vgl. den dritten Abschnitt dieses Kapitels. Henning: Die Tafelbilder Bartholomäus Sprangers, Anm. 166, S. 217.

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Farbe als Material

Bild 65  Hans von Aachen: Sturz des Phaeton, Verso: Der Triumph von Amor und Bacchus, Öl auf Alabaster, 37 × 45, Kunsthistorisches Museum, Wien, Leihgabe an Schloss Ambras, Innsbruck.

schaftliche Messinstrument auf der rechten Seite im Vordergrund, das einen scharfen Schatten auf den Marmor wirft, sowie das Musikinstrument werden genauso wie die Künste innerhalb des Bildes vereint statt getrennt. Der Komposition liegt ein osmotisches Verhältnis zwischen Natur und Kunst zugrunde, wie es im Modell der Kunstkammer verkörpert wird.45 Diese aktive Rolle des Materials bedeutet für den Betrachter einen Zuwachs an Lebendigkeit der Bilder.46 Sandrart beschreibt (im Rückgriff auf die zweite Ausgabe der Viten Vasaris sowie auf die van Manders) die Malerei auf Stein folgendermaßen: „Es ist den Kunst-Meistern das Herz allezeit mehr und mehr gewachsen/ daß sie sich unterfangen/ nicht allein auf Mauren/ Tafeln und Leinwant/ sondern auch auf Stein/ zu mahlen: worzu sehr tauglich ist der jenige/ so bey Genoua anzu45 46

Vgl. Horst Bredekamp: Antikensehnsucht und Maschinenglauben. Die Geschichte der Kunstkammer und die Zukunft der Kunstgeschichte, Berlin 1993. Vgl. den letzten Abschnitt des Kapitels IV.

150  

III. Material

treffen und auf welsch Lastri benamet wird/ Noch tauglicher aber ist/ bey uns Teutschen/ der am Rheinstrom und anderer Orten befindliche Schieferstein: weil solcher die Farben sehr gern annimmet und behaltet: wie dann auf diesem unzahlbar-viel Gemälde gemacht worden/ und noch täglich gemacht werden. […] Doch ist/ das weiße Marmor/ auch stark im Gebrauch. Je rauher und truckner aber die Steine sind/ (doch daß sie nicht sandig seyen) je lieber und leichter nehmen sie die Farben an. Solche Steine können sehr schön poliret werden/ daß sie zum Mahlen völlig taugen [Am Rand: Auf Stein läßt es sich/ ohne Grund/ mahlen].“47 Sandrart schildert in dieser Passage die Verbindung von Farbe und Schieferstein sowie Marmor. Wenn diese poliert werden, ist eine Grundierung nicht mehr nötig, da die hohe Beständigkeit des Materials auch die Farbigkeit erhält (im Gegensatz zu den vielfarbigen Steinen). Samuel van Hoogstraten treibt Sprangers Bildthema konzeptuell weiter. Gleichzeitig nimmt er in seiner Inleyding von 1678 kritisch auf den Künstler Bezug: „Niemant duide ’t my ten euvel, dat ik zelfs vermaerde mannen noeme, Kornelis van Haerlem, Bartolomeus Spranger, Julio Roman, en den grooten Michel Agnolo hebben ’t koloreeren byna geheel over ’t hooft gezien.“48 Van Hoogstraten tadelt Spranger im Zuge einer Kritik am Manierismus für sein unnatürliches Kolorit. Der Stein im Wiener Bild mutet wie eine polierte Haut aus Marmor an, steht aber gleichzeitig an einigen Stellen im Einklang mit der gemalten Fleischfarbe der Figuren (vor allem dort, wo die Gestalten durch das Licht besonders scharf akzentuiert werden). Van Hoogstraten thematisiert den Umgang mit der Farbe, was er bei Rembrandt gelernt hat. Er lobt seinen Lehrer immer noch dafür, da bei ihm das Mischen der Farben, im Gegensatz zur Farbbehandlung seitens der Manieristen, als ein der Natur entsprechender Prozess zu betrachten sei.49

47 48

49

Joachim von Sandrart: Teutsche Akademie 1675, I, S. 67, unter: http://ta.sandrart. net/edition/text/view/154#tapagehead [9. 1. 2013]. Van Hoogstraten: Inleyding tot de hooge schoole der Schilderkonst, S. 225. Vgl. die Übersetzung van de Weterings: Towards a Reconstruction of Rembrandt’s Art Theory, S. 110: „No-one should hold it against me that I dare to mention such illustrious names as Kornelis van Haarlem, Bartolomeus Spranger, Julio Romano, and the great Michel Agnolo as having almost totally overlooked [natural] colouring.“ Auf Seite 226 lobt van Hoogstraten dagegen Tizian, Giorgione und Caravaggio, weil er bei ihnen „de natuer zien nae te komen“. So heißt ein Abschnitt davor in der Inleyding: „Dat is, de dingen haer natuerlijke verwen geven [Rand des Buches, Anm. d. V.] […] door een van Midas gepreeze manier van koloreeren zelf de natuer te verbluffen.“ Van Hoogstraten: Inleyding tot de hooge schoole der Schilderkonst, S. 225. „Das heißt, den Dingen ihre natürlichen Farben zu geben, […] durch eine von Midas gepriesene Manier des Kolorierens, die selbst die Natur verblüfft.“ Übersetzung d. V.

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Farbe als Material

Bild 66  Detail aus Samuel van Hoogstraten: Perspektivkasten, um 1660, Holz, 58 × 88 × 64 cm, National Gallery, London.

De Gelder bezieht auch Position bezüglich der Relation von Malerei und Natur. Die Kunst soll so frei in ihren Manieren (im Sinne des Handeling) und der Wahl von Stoffen sein wie die Natur.50 Dies verbindet van Hoogstraten mit der Aufgabe des Künstlers, beim Betrachter Verwunderung zu erzeugen, was nicht anders als das Erstaunen angesichts der Natur sein sollte.51 Wenn er über 50

51

Ebd., S. 340: „De Schilderkonst, dewijlze alleenlijk verbonden is, ’t zy van naby of van verre, de natuur in gedaente en verwe na te bootzen, is zoo vry in’t veranderen van manieren van doen, en verkiezingen van stoffen, daer de natuur haer op duizenderhande wijzen van verziet, datter byna geen eynd aen te vinden is.“ Ebd.: „Ja een meester in de konst zal niet alleen in alle landen, maer ook zelf meest in alle huien zich van gereetschap verzien vinden, om door zijn konst verwondering [Hervorhebung d. V.] te baeren.“ Zum Begriff der curiosité in der Frühen Neuzeit vgl. Robert Felfe: „… der Vernunft Augen und den Augen Vernunft geben“.

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III. Material

Bild 67  Rembrandt: Der auferstandene Christus, signiert, 1661, Öl auf Leinwand, 78,5 × 63 cm, Alte Pinakothek, München.

die Steine und die bilderschaffende Rolle der Natur („hoe de Natuur beelden vormt“, Herv. d. V.) spricht und das Malen auf Steinen thematisiert, scheint es, als ob er das Bild Sprangers nach seinen Besuchen in Wien (1651 und 1653) vor Augen hätte.52 In diesem Kontext erwähnt er den berühmten Ring mit dem Achatstein des Pyrrhus von Epirus aus Plinius’ Naturgeschichte, mit dem gleichen Thema, nämlich Apoll und den Musen: „Maer den Agaet van Pyrrhus d’ Epirot was aenmerkelijk, want men zegt dat’er Apoll met zijn harp, en onze zusteren de negen Musen, elk met haere byzondere eerteykenen, in te zien waren.“53

52 53

Charles Patin (1622–1693) – Physiognomie eines reisenden Curieux, in: Ulrike Feist/Markus Rath (Hg.): Et in imagine ego. Facetten von Bildakt und Verkörperung. Festgabe für Horst Bredekamp, Berlin 2012, S. 325–346. Van Hoogstraten: Inleyding tot de hooge schoole der Schilderkonst, S. 341 ff. Ebd., S. 342: „Aber der Achat des Pyrrhus von Epirus war bemerkenswert, weil man sagt, dass Apoll mit der Harfe und unsere Schwestern, die neun Musen, jede mit ihren besonderen Attributen zu sehen waren.“ Übersetzung d. V.

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Farbe als Material

Bild 68  Detail aus Bild 67.

Diese Erwähnung erfolgt nicht aus Zufall. Abgesehen von Apoll und den Musen war auch das Midasurteil – das eigentliche Sujet des abgeschlagenen Werkes Sprangers – ein typisches Motiv für Kunstkammer-Bilder. Es sprach für ihren wissenproduzierenden Charakter, der seit van Mander eine bedeutende Rolle spielte.54 Da van Hoogstraten dasselbe Thema als Gemälde in seinem 54

Celeste Brusati: Artifice and Illusion. The Art and Writing of Samuel van Hoogstraten, Chicago 1995, S. 178 f.

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III. Material

­ erspektivkasten (um 1660, heute in London) aufgegriffen hatte, knüpfte er an P diese Tradition an. Auf der Seite der Gloria Causa (van Hoogstraten zufolge die höchste Motivation zur Ausübung der Malerei) ist im zweiten Zimmer links ein Gemälde platziert, das den Wettbewerb zwischen Apoll und Marsyas in dem Moment zeigt, in dem Apoll seine Lyra erklingen lässt (Bild 66). Der Mikrokosmos des Hauses entfaltet sich durch die Öffnung des Perspektivkastens.55 Für die Rembrandtisten spielt das Material Farbe eine besondere Rolle, allerdings nicht mehr im Sinne der Steinmalerei Sprangers, sondern hinsichtlich einer steinigen Malerei überhaupt, oder genauer im Sinne des reliefartigen Charakters der Bildoberfläche als Produkt der Farbbehandlung.56 Bei dem Mantel des auferstandenen Christus in der Münchener Alten Pinakothek ist exemplarisch zu erkennen, wie der Künstler über das Zeigen seines malerischen Könnens hinausgeht und eine künstliche Materialität schafft, um gleichsam auf das Ursprungsmaterial der Farbe zu verweisen (Bild 67 und Bild 68). Durch dessen Bearbeitung wird die Rauheit der Farbe evoziert, die gar nicht mit dem Gegenstand identifizierbar ist, den er beschreiben soll (den Mantel), und der so eine autonome, opake Qualität bekommt. Bezeichnend ist, dass Rembrandt und die Rembrandtisten mit der Farbmaterie nicht fortwährend einen Gegenstand definieren, sondern mit dem Surplus der Farbe handeln und somit zwischen Konkretion und Abstraktion pendeln. Als Paradebeispiel hierfür kann der Teppich bei den Staalmeesters angeführt werden, wo die Farbe unkontrolliert hinunterfließt. Damit wird eine Wirkung sowohl visueller als auch haptischer Natur erzielt (Bilder 69, 70, 71). Diese Beobachtung geht mit dem Erscheinungsprinzip der Farbe als pastosem Relief einher.

55 56

Ebd., S. 179 f. Svetlana Alpers hat darauf aufmerksam gemacht, wie Rembrandt selbst auf die Farbe verweist, im Sinne einer indexikalischen Kraft, ohne dabei zu klären, ob sie als Material oder als gestaltete Form gemeint ist, obwohl sie an anderer Stelle die Meinung vertritt, dass Rembrandt „already treats his medium as something to be worked in, as if material to be modeled […]“. Svetlana Alpers: Rembrandt’s Enterprise. The Studio and the Market, Chicago 1988, S. 15 u. 21.

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Farbe als Material

Bilder 69, 70, 71  Details aus Rembrandt: Die Staalmeesters, signiert, 1662, Öl auf Leinwand, 191,5 × 279 cm, Rijksmuseum, Amsterdam.

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III. Material

Fa rb e a ls pa stoses Rel ief Das große, signierte Werk mit dem Titel Der Traum Jakobs der Sammlung Oskar Reinhart in Winterthur ist eines der besonders pastosen Werke de Gelders (Bild 72). Das Bild weist einen einheitlichen Farbauftrag auf. Es ist körnig gemalt und ähnelt einem Rembrandt der 1660er Jahre. Abgesehen vom Gewand des Engels sind es vor allem seine Flügel, die aus der Nähe betrachtet wie gemeißelt erscheinen. Vor allem an den innerbildlich hell beleuchteten Partien ist die Farbe so dick aufgetragen, dass sie wie aus schwerem Stein geformt wirkten. Diesen Charakter des Farbauftrags hebt Jürg Amann in seiner Ekphrasis positiv hervor: „Wie aus Stein wirken sie, vor allem an ihrer oberen, geschwungenen Kante. Auch wenn bei genauerem Zusehen und sozusagen im Licht seines Gewandes betrachtet, am unteren Rand ihr Gefieder durchaus zu erkennen ist. Wie eine Mauer zwischen dem Licht und der Finsternis, zwischen dem hellen Traum und der dunklen Nacht stehen sie da.“57 Im Gemälde Judah und Tamar in der Wiener Akademie der bildenden Künste ist eine weitere plastische Eigenschaft der Kunst de Gelders erkennbar (Bild 73).58 Judah drängt Tamar nach links und packt mit seiner rechten Hand ihr Kinn, während er mit seiner Linken ihre Schulter umfasst. Abgesehen von der violetten Farbe des Kragens des Mannes, die eher auf eine Palette des 18. Jahrhunderts hinweist und bei Rembrandt nie auftaucht, kommt ein Prinzip hinzu, dem de Gelder bewusst treu blieb und von dem Houbraken berichtet, nämlich das Modellieren der Farbmasse mit den Fingern. De Gelder folgt hierbei der bildlichen Praxis Rembrandts und Tizians, die mit der Schöpfungsgeschichte parallelisiert wurde: Wie Gott dem Lehm mit seinen Fingern Leben einhauchte, so ging, dem Bericht Palma il Giovanes zufolge, auch Tizian mit der Farbe um.59

57

58 59

Jürg Amann: Arent de Gelder. Der Traum Jakobs, in: Mariantonia Reinhard-Felice (Hg.): Lautmalerei und Wortbilder. Autoren schreiben über Kunstwerke aus dem Römerholz, Zürich 2007, S. 40. Vgl. Ausst. Kat.: Arent de Gelder [1645–1727], S. 144. „Die letzten Retuschen verrieb er bisweilen mit den Fingern. […] Und wie Palma mir versicherte, sei es wahr, daß er zum Schluß seine Bilder mehr mit den Fingern als mit dem Pinsel malte. Und wirklich arbeitete er in dieser Weise mit Verstand. Er wollte nämlich die Tätigkeit des Größten Schöpfers imitieren und formte den menschlichen Körper mit den Händen aus der Erde.“ Marco Boschini: La Carta del navegar pitoresco; ed. critica, con la „Breve istruzione“ premessa alle Ricche minere della pittura Veneziana, hg. v. Anna Pallucchini, Venedig/Rom 1966, S. 711 f. Zitiert nach der Übersetzung von Valeska von Rosen: Mimesis und Selbstbezüglichkeit in Werken Tizians. Studien zum venezianischen Malereidiskurs, Emsdetten u. a. 2001, S.  417. Vgl. Werner Busch: Das unklassische Bild. Von Tizian bis Constable und Turner, München 2009, S. 99 u. 130.

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Farbe als pastoses Relief

Bild 72  Arent de Gelder: Jakobs Traum in Bethel, Reste einer Signatur, um 1700, Öl auf Leinwand, 172,4 × 118,3 cm, Sammlung Oskar Reinhart, Winterthur.

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III. Material

Bild 73  Arent de Gelder: Judah und Tamar, um 1680, Öl auf Leinwand, 98,7 × 129,5 cm, Gemäldegalerie der Akademie der bildenden Künste, Wien.

Bild 74  Detail aus Bild 73.

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Farbe als pastoses Relief

Das Motiv des Griffs an Kinn und Schulter steht in Zusammenhang mit der Bearbeitung der Farbe mit den Händen (Bild 74). Der Druck auf die Haut erweckt beim Betrachter den Eindruck einer plastilinartigen, tastbaren Masse, was die modellierende Arbeit des Künstlers mit der Farbe unterstreicht. Die weiße Farbe auf der Schulter der Frau könnte direkt mit den Fingern appliziert worden sein. Dort, wo die Finger tief in die Masse des Stoffes greifen, scheint auch die Haut darunter entsprechend nachzugeben. Die Farbe ist ein plastisches Gebilde, dessen fleischgewordene Spuren sichtbar und tastbar sind. Die erotisch konnotierte Handlung im Bild kann mit dem Farbauftrag des Malers parallelisiert werden. Ein weiteres Bild, das einen skulpturalen Umgang mit der Farbe und somit reliefartige Strukturen aufweist, ist Esther bei ihrer Toilette, heute in der Münchener Alten Pinakothek zu sehen (Bild 75). Alle typischen de Gelder’schen Prinzipien finden sich in diesem Bild wieder: die Farbigkeit (was die Gewänder, vor allem Esthers, angeht) sowie das Kratzen (Bild 76a und Bild 76b). De Gelder greift in die Leinwand ein, als handele es sich um einen zu modellierenden Körper. Die Vertiefungen auf der Leinwand, die sich durch das Auskratzen der Farbe bilden, sprechen den haptischen Sinn an. Es darf sowohl von einem zerstörerischen (durch das Auskratzen der Farbe) wie von einem schöpferischen Akt die Rede sein, und beides wird durch das entstehende Relief unterstrichen. Abgesehen vom Kratzen bekommt die Farbe durch den pastosen Auftrag eine reliefartige Struktur. Ein solcher Umgang mit der Farbe offenbart sich ebenfalls in einem Porträt de Gelders, das den Bildschnitzer Hendrik Noteman zeigt (Bild 77). Das Gemälde ist signiert, auf 1698 datiert und befindet sich heute im Dordrechter Museum. Vor einem dunklen Hintergrund tritt die Halbfigur des Künstlers hervor, der seine Werkzeuge vor sich niedergelegt hat, sie jedoch mit beiden Händen festhält und mit gedrehtem Kopf aus dem Gemälde herausschaut. Seitlich ist der Kopf einer faunartigen Figur erkennbar, die in die Richtung ihres Schöpfers blickt; es scheint sich um das Ergebnis der bildhauerischen Tätigkeit des Schnitzers zu handeln.60 Das Gesicht Notemans und seine Hände bilden die pastosesten Partien des Gemäldes. Der Kopf des Fauns (Bild 78) erinnert stark an eine Skulptur im Stil Ludwig XIV. im Dordrechter Museum, vermutlich von Noteman (Bild 79). Der Faun im Gemälde scheint direkt auf den gefangenen faunartigen Atlas im Ornamentwerk des Terrakottasockels und damit auf die künstlerische Tätigkeit Notemans zu verweisen.

60

Zu diesem Typus siehe: Annette Kanzenbach: Der Bildhauer im Porträt. Darstellungstraditionen im Künstlerbildnis vom 16. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, München/Berlin 2007.

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III. Material

Bild 75  Arent de Gelder: Esther bei der Toilette, Reste einer Signatur, 1684, Öl auf Leinwand, 140 × 164 cm, Alte Pinakothek, München.

In der Porträtdarstellung hält der Künstler dem Betrachter den Beitel entgegen. Auf der Klinge erscheint in einem dünneren Pinselstrich die Signatur (Bild 80). Die ovale Form des Gemäldes ist dessen originale Form. Alma Ruempol hat sich gefragt, ob der Rahmen aus der Hand Notemans stammen könnte, dessen Œuvre nicht hinreichend bekannt ist. Im Arend Maartenshof hat er offenbar die Schnitzereien angefertigt und wurde dafür mit 56 Gulden bezahlt.61 Noteman (1657–1734) war mit Arent de Gelder gut bekannt.62 Auch Godefridus Schalcken und Arnold Houbraken haben ein Porträt von ihm ange61

62

Alma Ruempol: De beeldsnijder Hendrik Noteman, zijn vrienden en zijn werk, in: Dordtenaar 24. April 1982; Ausst. Kat.: De Zichtbaere Werelt. Schilderkunst uit de Gouden Eeuw in Hollands oudste stad, hg. v. Peter Schoon, Zwolle 1992, S. 170. Houbraken: De Groote Schouburgh der Nederlantsche konstschilders en schilderessen, Band 3, S. 269: „[…] ik [Arnold Houbraken, Anm. d. V.], verzeld met den Konstschilder Arent de Gelder, en den braven Beeldsnyder Henrik Noteman, hem [Augustinus Terwesten, Anm. d. V.] daar ging bezoeken.“ Hier beschreibt Houbraken, wie er zusammen mit de Gelder den Bildschnitzer Noteman und Augustinus Terwesten in Dordrecht bei der Arbeit besuchte, als Letzterer den Ovid-Zyklus für das Haus von Barthout van Slingelandt malte.

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Farbe als pastoses Relief

Bild 76a, 76b  Details aus Bild 75

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III. Material

Bild 77  Arent de Gelder: Porträt des Hendrik Noteman, signiert, 1698, Öl auf Leinwand, 84 × 68 cm, Dordrechts Museum, Dordrecht.

fertigt, wie aus der Hinterlassenschaft des Bildschnitzers sowie der Erzählung Weyermans hervorgeht.63 De Gelders Bild befand sich in der Herberge De Engel an der Dordrechter Voorstraat,64 in einer der wohlhabendsten Gegenden der Stadt. Weyerman preist das Bild de Gelders wegen der Wiedergabe der „Illusion der Hände“ und des Beitels, wohingegen das Bildnis Schalckens mit einem „flachen Pfannkuchen“ verglichen wird, eine Anspielung auf die feine Manier Schalckens, die im Gemälde des Jungen mit einem Pfannkuchen zu sehen ist (Bild 81).65 63 64 65

Jacob Campo Weyerman: De levens-beschryvingen der Nederlandsche konst-schilders en konst-schilderessen, Band 3, Den Haag 1729, S. 43. Ausst. Kat.: Arent de Gelder [1645–1727], S. 190. Weyerman: De levens-beschryvingen der Nederlandsche konst-schilders en konstschilderessen, Band 3, S. 43 f.: „Dat konterfijtsel was gelyk aan het leeven, en een

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Farbe als pastoses Relief

Bild 78  Detail aus Bild 77.

Bild 79  Detail aus Hendrik Noteman (?): Modell für einen Tafel, um 1690, Marmor und Terracotta, Dordrechts Museum, Dordrecht. Bild 80  Detail aus Bild 77.

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III. Material

Bild 81  Godfried Schalcken: Junge mit Pfannkuchen, um 1670/80, Öl auf Holz, 19,8 × 15,7 cm, Hamburger Kunsthalle, Hamburg.

Die Farbe im Gemälde Schalckens ist in der Tat so flach aufgetragen, dass das Bild wie der Gegenentwurf zu einem Gemälde de Gelders erscheint und somit zu einem Exempel eines nicht skulpturalen Umgangs mit dem Kolorit wird. Das gemeinsame Ziel sowohl der Skulptur als auch der Malerei ist die Verlebendigung des Artefakts, die mit unterschiedlichen Mitteln erzielt wird. Sie können je nach Gattung variieren, sich ergänzen oder sich überschneiden. Die Kraft der Farbgestaltung de Gelders und die dadurch erreichte plastische

hand die een hamer had gevat was zo rond geschildert datze buyten het stuk scheen te komen. Nevens dat konstryk konterfijtsel hing een portret van Godefried Schalken, dat een kwade nabuur had aan het konterfijtsel van A. de Gelder, want hoe schoon het ook was opgeschikt, echter vertoonde het zich zo plat als een pannekoek van den Vastenavont.“

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Farbe als pastoses Relief

Bild 82  Christopher Paudiß: Ein Gelehrter, Holz parkettiert, 63,8 × 50,7 cm, Bayerische Staatsgemäldesammlungen, Diözesanmuseum, Freising.

Wirkung werden dem Porträt des Bildschnitzers hingegen auf kongeniale Weise gerecht. Pastose Strukturen weisen ebenfalls die Bilder von Christopher Paudiß auf. Sein Gelehrter, geschaffen um 1665 und heute im Freisinger Diözesanmuseum, ist ein solches Beispiel (Bild 82 und Bild 83). Das Gesicht ist im für Paudiß typischen braunen Ton (eventuell auch mit Firnis versehen) gehalten und hebt sich als reliefartige Struktur vom dunklen Grund ab. Stirn und Nase des Mannes, die das meiste Licht sammeln und so den hellsten Punkt des Gemäldes bilden, sind pastos herausgearbeitet.66 Die strenge Haltung der Figur im Profil, die wiederum an Mayr und vor allem an Lievens Tronjebilder erinnert, unter66

Sumowski bemerkt dazu, dass die Farbreliefs die stärksten Helligkeiten erzeugen. Werner Sumowski: Christopher Paudiß, in ders.: Gemälde der Rembrandt-Schüler, Band 4, Landau 1983, S. 2314.

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III. Material

Bild 83  Detail aus Bild 82.

streicht den Reliefcharakter des Bildes. Aber auch die Farbschichten, die den Globus formen, weisen eine solche Oberfläche auf. Das Ohr und das Haar des Gelehrten sind unscharf. Diese Behandlung der Farbe erzeugt zugleich Opazität und Transparenz innerhalb desselben Bildes, sodass die Dynamik des Artefakts, durch die Negation einer formalen und inhaltlichen Symmetrie, entfaltet wird.67

67

Der Zustand der „Materialität und Entkörperung, [der] Masse und [des] Durch­ schein[ens], [der] Schwere und Leichtigkeit“ (wie Sumowski ihn treffend beschrieben hat) ist ein zentrales Charakteristikum der Malerei de Gelders sowie Willem Drosts, wie bereits gezeigt wurde. Sumowski: Christopher Paudiß, S. 2314. Vgl. Roland Vogel: Beobachtungen zur Maltechnik von Christopher Paudiß, in: Ausst. Kat.: Christopher Paudiß, 1630–1666. Der Bayerische Rembrandt?, hg. v. Sylvia Hahn u. a., Regensburg 2007, S. 199.

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Farbe als pastoses Relief

Bild 84  Detail aus Bild 191.

Die skulpturale Behandlung der Farbe ist von Rembrandt seit den 1650er Jahren systematisch verfolgt worden. Vor allem in den 1660er Jahren hat er das Erzeugen von Farbkrusten in seinen Bildern intensiviert. Die Gewänder scheinen bei der Jüdischen Braut wie mit einem Bildhauerwerkzeug gemeißelt (Bild 84).68 Die Applizierung der Farbe auf der unebenen Oberfläche des Bildgrundes mit seinen Höhen und Tiefen verleiht dem Bild und vor allem dessen Figuren einen Reliefcharakter, der sie vom dunklen Hintergrund besonders abhebt.69 Das Licht macht die materielle Beschaffenheit der Gewänder sichtbar. So erhält die Farbe ihren steinigen Ursprung durch die Bearbeitung sowie den Auftrag wieder zurück und verleiht dem Bild jene Skulpturalität, von der schon Zeitgenossen wie Arnold Houbraken gesprochen haben: „Ook word ’er getuigt dat hy eens een pourtret geschildert heeft daar de verw zoodanig dik op lag, datmen de schildery by de neus van de grond konde opligten. Dus zietmen ook gesteente en paerlen, op Borstcieraden en Tulbanden door hem zoo verheven

68 69

Nicolaissen: Chaos unentwirrbarer Farben, S. 25. Vgl. Ernst van de Wetering: Rembrandt. The Painter at Work, Berkeley/Los Angeles/London ²2004, S. 155–159.

168  

III. Material

geschildert al even of ze geboetseerd waren, door welke wyze van behandelen zyne stukken, zelf in wyden afstand, kragtig uitkomen.“70 Das Prinzip der reliefartigen Bildoberfläche ist jedoch keinesfalls neu. De Gelder steht mit ihm in der Tradition Tizians. Van Mander empfiehlt den jüngeren Malern: „Ginghen de penneelen so niet belasten/ Als nu/ dat men schier blindelijck mach tasten En bevoelen al t’ werck aen elcker sijde Want de verwen ligghen wel t’onsen tijde/ Soo oneffen en rouw/ men mochtse meenen/ Schier te zijn half rondt/ in gehouwen steenen.“71 Gleichzeitig aber beschreibt van Mander die körperliche MacchiaFleckenmalerei Tizians, die wie hartes Gestein oder gemeißeltes Relief wirke und einen Blinden zum Tasten und Befühlen motiviere. Er kritisiert das „schuppige“, „steinige“ Inkarnat auf den Bildern seiner Landsleute72 gegenüber den Italienern: „Niet alleen siet ons dinghen uyt den drooghen/ Maer als w’ons best vleesch te schilderen meenen/Soo isset al visch/ oft beelden van steenen.“73 Dieser Umstand wird von van Mander weniger negativ bewertet, was sich mit seiner Toleranz gegenüber den zwei unterschiedlichen Malweisen erklären lässt, obwohl er dem Anfänger doch die feine Applizierung der Farbe empfiehlt.74 Van Mander schil70

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Houbraken verwendet das niederländische geboetseerd, das direkt an das Verb bozzare erinnert. Houbraken: De Groote Schouburgh der Nederlantsche konst­ schilders en schilderessen, Band 1, S. 269. Vgl. Wurzbach: Arnold Houbraken’s Grosse Schouburgh der niederländischen Maler und Malerinnen, S. 116: „Man sagt, dass er einmal ein Porträt gemalt habe, in welchem die Farbe so dick aufgetragen war, dass man das Bild bei der Nase vom Boden aufheben konnte. Man sieht auch Steine und Perlen, in Halsketten und Turbans, so pastos gemalt, als wenn sie gemeisselt wären, durch welche Manier seine Bilder, selbst auf weite Entfernung, ungeschwächt wirken.“ Das Lehrgedicht des Karel van Mander, S. 272. Vgl. Van de Wetering: Towards a Reconstruction of Rembrandt’s Art Theory, S. 113: „did not load the panels (with paint) as they do now, when one can almost blindly feel and trace by the touch the whole work on all sides; for in our time the paint is applied so roughly and unevenly that one would almost think that they had been sculpted in stone relief.“ Ob er dabei an Cornelis van Haarlems Farbauftrag denkt? Viele von dessen Figuren erscheinen durch die Malbehandlung ihrer Oberfläche wie Skulpturen, auf denen Schmetterlinge wie auf Stein zu kauern scheinen. Siehe zum Beispiel den Sturz der rebellierenden Engel im Statens Museum for Kunst in Kopenhagen, um 1588 in Öl auf Leinwand gemalt (239 × 307 cm). Vgl. Ausst. Kat.: Cornelis van Haarlem. 1562–1638, hg. v. Judith Niessen, Rotterdam 2012. Das Lehrgedicht des Karel van Mander, S. 278 f.: „Nicht allein sehen unsere Dinge trocken aus, sondern wenn wir unser bestes Fleisch zu malen scheinen, scheint es nur Fischfleisch oder von Steinfiguren zu sein.“ Diese negative Wirkung der Farbe wird bei Roger de Piles angesichts der Werke Poussins nicht zufällig mit kaltem Disegno in Verbindung gebracht. Vgl. Jacqueline Lichtenstein: The Eloquence of Color. Rhetoric and Painting in the French Classical Age, Berkeley/Los Angeles/ Oxford 1993, S. 165. Das Lehrgedicht des Karel van Mander, S. 274 f.: „Doch möchte ich euch raten, euch zuerst mit einer sauberen Manier abzuquälen […].“

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Farbe als pastoses Relief

dert das Betasten des Gemäldes wie eine Skulptur und beschreibt den Farbauftrag Tizians, den er aus zweiter Hand durch seinen Lehrer Pieter Vlerick kannte, der in Tintorettos Werkstatt tätig war. Die späten Bilder Tizians würden den haptischen Sinn besonders ansprechen.75 Es geht um die Rolle der Leinwand als Material sowie die Frage nach der Erscheinung der Farbe als Relief, die den Tastsinn des Betrachters besonders stimuliert. Die Grenzen zwischen Malerei und Skulptur werden in Frage gestellt: Ihr gemeinsames Ziel sei es, den Betrachter zu affizieren. Neben der Tizianrezeption in den Niederlanden im 17. Jahrhundert gibt es schon im 15. und 16. Jahrhundert Erwähnungen über die Rolle der Farbe als steiniges Gebilde. So wird ein heute verschollenes Porträt Mantegnas von Ulisse degli Aleotti, eines Zeitgenossen des Malers, in einem Sonett als „in Farbe skulptiert, lebensecht und wahrhaftig“ beschrieben.76 Marco Boschini kommentiert in der Carta del navegar pitoresco die plastische Wirkung der Werke Bassanos ähnlich wie Houbraken die Rembrandts: „Quando per questo mi son stà Bassan,/ Procurete d’aver bona licencia/ D’ inzegnochiarme con gran reverencia/ Su quell Altar, per tocar con le man/ Quei colpi, quele machie e quele bote,/ Che stimo preciose piere fine,/ Perle, rubini, smeraldi e turchine,/Diamanti che resplende fin la note.“77 An anderer Stelle vergleicht Boschini Veroneses Pinselstriche mit Perlen, Rubinen und Diamanten.78 Der Autor formuliert in einer höchst metaphorischen Sprache, die mit intersensoriellen Vergleichen aufgeladen ist, den körperlich gestalteten Umgang mit der Form, wie ihn auch die Rembrandtisten vertraten. Boschini gibt in seinen Überlegungen der körperlichen Interaktion mit der zu gestaltenden Materie den Vorzug und hebt sich dadurch von der idealistischen Kunsttheorie der Zeit 75

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Dass dies kein bloßer kunsttheoretischer Topos ist, den van Mander aufgreift, hat Daniela Bohde gezeigt: „Durch die rauere Textur der Leinwand erzielt Tizian außerdem einen taktilen Effekt […], insbesondere die pastosen Ocker[töne] […] gewinnen durch den Unterschied zu ihrer diffusen Umgebung einen extrem haptischen Charakter, man meint sie mit den Fingern zu tasten.“ Bohde: Haut, Fleisch und Farbe, S. 173. „Scolpi in pictura propria viva et vera.“ Vgl. Ronald W. Lightbown: Mantegna. With a Complete Catalogue of the Paintings, Drawings and Prints, Berkeley 1986, S. 457, N. 65, zitiert nach Ausst. Kat.: Gesichter der Renaissance. Meisterwerke italienischer Portrait-Kunst, hg. v. Keith Christiansen/Patricia Lee Rubin/Stefan Weppelmann, München 2011, S. 38. Marco Boschini: La Carta del navegar pitoresco, ed. critica, con la „Breve istruzione“ premessa alle Ricche minere della pittura Veneziana, hg. v. Anna Pallucchini, Venedig/Rom 1966, zitiert nach Philip Sohm: Pittoresco. Marco Boschini, his Critics, and their Critiques of Painterly Brushwork in Seventeenth- and Eighteenth- Century Italy, Cambridge 1991, S. 154 (Boschini: Carta, S. 302): „Whenever I am in Bassano, I kneel in front of this altar with great reverence and touch with my hands those colpi, those macchie, those bote which seem to me precious stones, pearls, rubies, emeralds, and diamonds that glitter in the night.“ Die zweite Ausgabe erschien 1672. Sohm: Pittoresco, S. 155. Vgl. Boschini: La Carta del navegar pitoresco, S. 733.

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III. Material

ab. Hinzu kommt der venezianische Dialekt, der, ähnlich dem Farbauftrag und dem Pinselstrich der Venezianer, kräftig und zugleich weich wirkt.79 Wie schon die Worte La Carta del navegar im Vergleich zu pitoresco verdeutlichen, ist ein starker sensomotorischer Bezug bereits im Titel vorhanden: Es handele sich um die „Navigation des Malerischen“. Boschini erwähnt auch Antonis van Dycks Gewohnheit, seine Figuren wie Skulpturen zu kneten, was einerseits an die Tradition Tizians und andererseits an die Gepflogenheiten de Gelders erinnert.80 Schon 1675 sprach Joachim von Sandrart vom Relief Rembrandts als ein großes Erlebnis.81 Baldinucci hat Rembrandts Praxis mit Bezug auf „die Ungezwungenheit [franchezza] der colpi, dem Gemälde ein starkes Relief zu geben und in ihm die große Bravura und Meisterschaft des Pinsels und der Farben in Erscheinung treten zu lassen“ beschrieben.82 Dies bedeutet, dass die freie Hand gleichzeitig pastose Formen verursachen kann, die wie skulptiert und reliefartig erscheinen.83 Neben der besseren Bezahlung sowie der hohen sozialen Stellung des Malers führt die Kunsttheorie auch ein gemeinsames Ziel der Bildhauer und Maler an: den Mitstreit um die adäquate Form.84 Sowohl Bildhauer als auch Maler haben miteinander gearbeitet, und zwar nicht nur an einzelnen gemalten und bildhauerischen Teilen eines Altars,85 sondern auch in vielen anderen Bereichen; ein Beispiel dafür sind die Brüder Asam, die barocke „Gesamtkunstwerke“ schufen.86 Die Verwendung von Mischtechniken, zum Beispiel die Malerei als

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Abgesehen von der Übersetzung Pallucchinis hat Sohm den bis heute wichtigsten Beitrag über Boschini verfasst. Sohm interpretiert Boschini jedoch größtenteils anhand der Sprechakttheorie von Ferdinand de Saussure, worunter die Bildkraft der Sprache des venezianischen Autors leidet. Sohm: Pittoresco, S. 150. Vgl. Boschini: La Carta del navegar pitoresco, S. 712. Wie Sohm auf Seite 139 erwähnt, unterstreicht Boschini auf Seite 373: „Venetians model color on the canvas with inspired jabs of their fingers.“ Sandrart: Teutsche Akademie 1675, S. 326, unter: http://ta.sandrart.net/de/text/­ 552#idx552.1 [16.4.2014]. Vgl. Nicolaissen: Chaos unentwirrbarer Farben, S. 34. Filippo Baldinucci: Vocabolario dell’arte del Disegno, Florenz 1681, S. 48, 64. Zitiert nach der Übersetzung von Nicola Suthor: Bravura. Virtuosität und Mutwilligkeit in der Malerei der Frühen Neuzeit, München 2010, S. 94. Jan Nicolaisen pointiert: „Statt einer glatt geschlossenen Oberfläche erzeugte die lebendige Pinselschrift durch den körnigen Farbauftrag ein tastbares Relief.“ Nicolaissen: Chaos unentwirrbarer Farben, S. 34. Vgl. Joris van Gastel/Yannis Hadjinicolaou/Markus Rath: Paragone als Mitstreit/ Paragone as Comradeship, in: dies. (Hg.): Paragone als Mitstreit, Berlin 2014 (Actus et Imago XI), S. 15–47. Iris Wenderholm: Bild und Berührung. Skulptur und Malerei auf dem Altar der italienischen Renaissance, München u. a. 2006. Richard Zürcher: Architektur als Gesamtkunstwerk. Zwei Beispiele aus dem Spätbarock, in: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft, 27 (1982), S. 11–22.

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Farbe als pastoses Relief

skulptiertes Relief bei den Rembrandtisten oder die Malerei auf Stein bei Spranger, diente einem solchen Ziel. Somit ließ sich die Trennung der Gattungen aufbrechen, sodass sie in ein fruchtbares Verhältnis zueinander gesetzt werden konnten. Die Farbe, die oft rein visuell wirkt, spricht dort, wo sie Relief wird, auch das taktile Vermögen an. Diese Artefakte werden dadurch zu haptischen Bildern im Sinne eines verkörperten Prozesses, der nicht eine Hierarchisierung für sich beansprucht, sondern alle Sinneswahrnehmungen als Ausdruck eines intersensoriellen Zugangs des Organismus einschließt. Diese Ansicht bringt John Dewey in Art as Experience folgendermaßen auf den Punkt: „Qualities of sense, those of touch and taste as well as of sight and hearing, have esthetic quality. But they have it not in isolation but in their connections; as interacting, not as simple and separate entities. […] The action of any one sense includes attitudes and dispositions that are due to the whole organism.“87 De Gelders Gemälde Der Traum Jakobs, das Taktiles und Visuelles nicht harmonisch vereint, sondern eine intersensorielle Spannung produziert, ist charakteristisch für das Œuvre des Dordrechter Künstlers. Dass das Sehen schon ein Greifen beziehungsweise eine taktile Handlung miteinbezieht, hat auch Herder in seiner Plastik betont.88 87 88

Dewey: Art as Experience, S. 125 f. Vgl. Kapitel VI, S. 345 f. Johann Gottfried von Herder: Plastik. Einige Wahrnehmungen über Form und Gestalt aus Pygmalions bildendem Traume, Riga 1778. Vgl. Monika Wagner: „Das Auge ward Hand, der Lichtstrahl Finger“. Bildoberfläche und Betrachterraum, in: Markus Rath/Jörg Trempler/Iris Wenderholm (Hg.): Das haptische Bild. Körperhafte Bilderfahrung in der Neuzeit, Berlin 2013, S. 253–266. Im Sinne einer körperlichen Malerei argumentiert auch Georges Didi-Huberman: „Deleuze hat zu Recht auf der Tatsache beharrt, daß die Farbe, auch wenn sie zunächst aus einer rein optischen Funktion hervorzugehen scheint, es versteht, bei ihrer Modulation eine regelrecht haptische Funktion anzuregen. Ohne Tastsinn kein Sehen nach Aristoteles. Berühren wäre eine Absicht des Sehens.“ (Didi-Huberman: Die leibhaftige Malerei, S.  58 f.) Max Imdahl orientierte sich ebenfalls in diese Richtung, auch wenn er vor allem von visuellen Effekten der Malerei im Sinne Fiedlers ausging: „Die Farbe ist nicht nur optisch, sondern haptisch relevant.“ Max Imdahl: Farbe. Kunsttheoretische Reflexionen in Frankreich, München 2003, S. 110. Die Gesamtkörperlichkeit der Materie findet auch bei Deleuze und Guattari in Mille Plateaux Erwähnung; dort verweisen sie auf den Begriff des haptischen Raumes: Dieser könne auditiv, visuell und taktil sein. Vgl. Niklaus Largier: Objekte der Berührung. Der Tastsinn und die Erfindung der ästhetischen Erfahrung, in: Hartmut Böhme/ Johannes Endres (Hg.): Der Code der Leidenschaften, Paderborn u. a. 2010, S. 121. Vgl. zu der Rolle des Auditiven: Jürgen Trabant: Der akroamatische Leibniz. Hören und Konspirieren, in: Holger Schulze (Hg.): Gespür – Empfindung – Kleine Wahrnehmungen. Klanganthropologische Studien, Bielefeld 2012, S. 121–132. In seinem Buch Ähnlichkeit und Berührung beschreibt Didi-Huberman erneut die untrennbare Einheit von Form und Materie (in der Tradition des tutto composto Giovanni Paolo Lomazzos): „Im Bereich der bildenden Künste lässt sich die Materie nicht von

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III. Material

Der modellierte Umgang mit der Farbe bei de Gelder und Paudiß lässt sich mit dem körperlichen Malprozess bei van Gogh vergleichen: „Der Farbpaste, die van Gogh mit dem Pinsel wie einen geschmeidigen Teig heftig traktierte […], schrieb er seine Körperbewegungen ein.“89 Dies zeigt, wie ein solcher Farbauftrag mit dem Körperschema, das heißt mit den sensomotorischen und habituellen Bewegungen des Künstlers (sowohl bei den Rembrandtisten als auch bei van Gogh) unmittelbar verbunden ist.90

Nat u r/Ku nst-Prozesse des Mater ia ls Wenn sich der Eigensinn des Materials sowohl in den Formprozessen der Natur als auch der Kunst niederschlägt, so kann nicht länger von einer bloßen Analogie zweier getrennt ablaufender Formprozesse ausgegangen, sondern es muss vielmehr mit einer Verwischung ihrer Grenzen gerechnet werden.91 Im Vordergrund des Familienbildnisses mit dem berühmten Professor Boerhaave aus Leiden zeichnet sich in der Ferne eine aus der Vogelperspektive gesehene Landschaft mit einer Stadt ab, die sich aus der autonomen Dynamik von Farbe und Kratzern speist (Bild 102). Sogar das herabfallende Gewand der Frau fügt sich im Detail sowohl im Farbton als auch in der Art des Auftrags in die Landschaft ein (Bild 85). Als dienten das Gemälde de Gelders, aber auch die Landschaften Rembrandts, die jener sicherlich kannte, als Vorlagen für diese Überlegung, bemerkte

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der Form trennen, der Prozeß nicht vom Resultat, das Taktile nicht vom Sichtbaren. Selbst die Probleme der Perspektive sind stets auf ein gewisses taktiles Experimentieren angewiesen.“ (Georges Didi-Huberman: Ähnlichkeit und Berührung, Köln 1999, S. 52 u. 58) Ähnlich formulierte es Max Imdahl, als er bezüglich Courbets schrieb: „[…] [Courbet] setzt die Materialität der Bildfarben für die Materialität des verbildlichten Gegenständlichen ein.“ Zitiert aus Imdahl: Farbe, S. 110. Dies lässt sich für de Gelder und die übrigen Rembrandtisten sagen, von denen Courbet bekanntlich einen großen Teil seiner Inspiration – neben Frans Hals – erhalten hat. Wagner: Das Material der Kunst, S. 30. Zum Begriff des Körperschemas, der von Henry Head stammt, vgl. Shaun Gallagher: How the Body Shapes the Mind, Oxford 2006; John Michael Krois: Bildkörper und Körperschema, in: ders.: Bildkörper und Körperschema. Schriften zur Verkörperungstheorie ikonischer Formen, Berlin 2011 (Actus et Imago II), S. 253–271. Vgl. Robert Felfe: Figurationen im Gestein. Ko-Produktionen zwischen Kunst und Natur, in: Joris van Gastel/Yannis Hadjinicolaou/Markus Rath (Hg.): Paragone als Mitstreit, S. 153–175. Van de Roemer bringt diese zentrale Rolle des Materials für den künstlerischen Prozess auf den Punkt: „[…] an artist saw his working materials as substances preserving overt and hidden qualities, or as congregations of tiny corpuscles that move and act according to mathematical regularity.“ Bert van de Roemer: Regulating the Arts. Willem Goeree versus Samuel van Hoogstraten, in: Nederlands Kunsthistorisch Jaarboek, 61 (2011), S. 203.

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Bild 85  Detail aus Bild 105.

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III. Material

Bild 86  Detail aus Bild 56.

Sandrart (wie schon zu Beginn dieses Kapitels zitiert): „Hier hat der Mahler insonderheit zu beobachten/ wie die entlegene Landschaften sich algemach in der Farbe verweilen und verlieren.“92 Ähnliche Debatten zur Gemeinsamkeit von Natur und Malerei beziehungsweise Kunst bezogen sich auf den Bereich der lebendigen Kraft und Wirkung von Farbe, weil genau diese die Verschmelzung zwischen beiden Gebieten zeigt.93 Nicht nur in Jakobs Traum kratzte de Gelder in die nasse Farbe ein, sondern auch in seinen wenigen Landschaftsdarstellungen (Bild 86 und Bild 87). Dort entspricht die gekratzte Signatur der Linienform, die er zur Darstellung der Büsche verwendete. Gekratzte Linien und Büsche scheinen somit ähnlichen bildgenerativen Prozessen zugrunde zu liegen. Die Gestaltungsmöglichkeiten der Natur sind vergleichbar mit denen des Künstlers, in diesem Falle de Gelders, da er mit einer ähnlich freien Hand agiert, die aber sichtbar bleibt und somit in einem widersprüchlichen Verhältnis zu der erzielten Natürlichkeit steht.94

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Sandrart: Teutsche Akademie 1675, S. 70, unter http://ta.sandrart.net/de/text/157 [1.2.2014]. Van de Roemer: Regulating the Arts, S. 203. Vgl. Robert Felfe: Natura faciebat? Signaturen als Reflex einer produktiven Natur, in: Nicole Hegener (Hg.): Künstlersignaturen von der Antike bis zur Gegenwart, Petersberg 2013, S. 350–369. Siehe Kapitel IV, S. 233 ff.

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Natur/Kunst-Prozesse des Materials

Bild 87  Detail aus Bild 56.

Dies erinnert an den hier bereits erwähnten, von van Hoogstraten thematisierten Wettstreit zwischen den Künstlern Knipbergen, van Goyen und Porcelles.95 Van Hoogstraten verdeutlicht beispielhaft die Gemeinsamkeiten zwischen Kunst und Natur, indem er die Wirkung des Gemäldes van Goyens mit der eines Achats vergleicht und so die Rolle der Fortuna hervorhebt und ihre bildende Kraft für die Natur mit der Kunst gleichsetzt. Daraus lässt sich schließen,

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Siehe zweites Kapitel, S. 77 ff. Van Hoogstraten: Inleyding tot de hooge schoole der Schilderkonst, S. 237 ff. Vgl. Van de Wetering: Rembrandt. The Painter at Work, S. 81–87.

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III. Material

dass die Kunst van Goyens dem bildnerischen Prinzip der Prozessualität der Natur folgt. Seine Technik beruhte auf Schnelligkeit, die auf eine reduzierte Palette und eine lockere Pinselführung zurückzuführen ist, die die Farbe direkt auf eine dünne Imprimitur aufträgt.96 Sandrarts Vorstellung von der Entstehung der Welt kann mit dem Malprozess eines Gemäldes Rembrandt’scher Prägung verglichen werden: „Im Anfang/ als der weise Schöpfer alle Dinge/ was wir mit den Augen sehen/ hervorgebracht/hat er erstlich/ durch hervorruffung des Liechtes/ das Chaos oder den vermängten Klumpen/ aus welchem alles erschaffen worden/ entdecket. In diesem Chaos, waren damals alle Farben beysammen und durch einander vermänget/ bis sie von einander gesondert worden. Nachdem auch alle Dinge ihre Gestalt bekommen/ werden sie doch durch die Nachtfinsternis wieder verdecket/ und müssen täglich durch das Tagliecht wieder sichtbar werden.“97 In der Erzählung des Wettstreits zwischen Knipbergen, Porcelles und van Goyen bemerkt van Hoogstraten: „[…] of dat het oog in de ruwe schetssen van gevallige voorwerpen eenige vormen uitpikt, gelijk wy aen den haert in het vuer pleegen te doen; of dat de handt, door gewoonte, iets formeert, min noch meer als wanneer wy schrijven; want een goedt schrijver maekt goede letteren, schoon hy ’er niet aen gedenkt, en zijn oog en verstandt schijnen in zijn hand geplaetst te zijn.“98 Neben der Beschreibung der zentralen Rolle der denkenden Hand ist für den Künstler und Theoretiker in diesem Kontext vor allem eine weitere Naturmetapher von Bedeutung: Van Hoogstraten erläutert den Prozess, mit dem das Auge beim Anblick der züngelnden Flammen Formen auswählt, die dann Gegenständen ähneln. Diese Metapher lässt ein anthropomorphes Prinzip erkennen, das mit dem menschlichen Drang zur Formung von Gegenständlichkeit zusammenhängt. Der Prozess ist analog zu dem eines Künstlers, der aus einem Material Formen entstehen lässt, der umformt oder vernichtet, um eine Gestalt hervorzubringen. Die Kenntnis der physischen sowie stofflichen Mög-

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Nicolaissen: Chaos unentwirrbarer Farben, S. 37. Joachim von Sandrart: Teutsche Akademie 1675, I, S. 86, unter: http://ta.sandrart. net/de/text/173?query=als+der+weise+sch%C3%B6pfer&truncation=#querystri ng1 [1. 2. 2014]. Van Hoogstraten: Inleyding tot de hooge schoole der Schilderkonst, S. 237. Vgl. Van de Wetering: Rembrandt. The Painter at Work, S. 85 f.: „Whether the mind acquires the ability to form immediately the desired image; or whether the eye picks out single forms in rough sketches of chance objects, as we do when we sit at the hearth gazing into the fire; or whether the hand makes something by habit, more or less as when we write; for a good scribe makes fine letters without thinking about it, as though the mind and the eye were placed in his hand.“

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Natur/Kunst-Prozesse des Materials

lichkeiten (sprich die Affordance) des jeweiligen Materials ist in diesem Bereich von entscheidender Bedeutung.99 Van Hoogstraten beobachtet eine weitere Symbiose: Die naturbildenden Prozesse, denen eine formbildende Kraft innewohnt, weisen dem Künstler den Weg. Die Freiheit der Natur in der Gestaltung könnte mit dem Handeling des Künstlers gleichgesetzt werden. Sandrart unterstreicht seinerseits, wie produktiv die Aneignung der Natur durch den Künstler sein kann: „Man soll sich an keine Manier, Gewohnheit oder angenommenen Gebrauch binden, sondern wie die Natur immer alles verändert und anderst gebieret, also sollen wir immerzu in allem uns verändern und von dem guten zum bässern werden.“100 Schon Plinius und ihm folgend van Hoogstraten erkannten, dass die Natur voll von zufälligen Gebilden ist, wie es unter anderem die Maserung der Achatsteine zeigt. Natura naturans und nicht natura naturata war das Ziel einer solchen Auseinandersetzung Rembrandt’scher Prägung,101 die van Hoogstraten benennt, nämlich die Natur zu zeigen, wie sie ist: „Geen eygen handeling te betrachten, maer alleen de natuerlijkheyt.“102 Dies steht sowohl im Einklang mit den religiösen Auffassungen Vondels als auch mit seinem Idealismus klassizistischer Prägung, indem die Idea und eben nicht der Zufall die höchste Form der Gestaltung darstellt.103 Im dritten Kapitel des Neunten Buches nimmt van Hoogstraten auf die malende und bilderschaffende Natur bezug.104 Sowohl der Zeitgenosse de Gelders, Simon Schijnvoet, als auch sein Freund Jacob Moelaert und auch Rembrandt selbst besaßen eine Kunstkammer.105 Die Bibliothek und Kunstkammer der zwei Letzteren könnte für de Gelder ein Ort der Inspiration, Konsultation und Wissenserzeugung gewesen sein, an dem die Grenzen zwischen Natur und

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Michael Baxandall (The Limewood Sculptors of Renaissance Germany, New Haven u. a. 1982) hat dies bei der deutschen Skulptur um 1500 gezeigt (sprich die Rolle der Chiromancy). Pamela Smith erwähnt die Rolle eines solchen Wissens für die Erzeugung von Bildern. Vgl. Pamela H. Smith: The Body of the Artisan. Art and Experience in the Scientific Revolution, Chicago 2004, S. 7. Joachim von Sandrart: Academie der Bau-, Bild- und Mahlerey-Künste von 1675, hg. v. Rudolf Arthur Peltzer, München 1925, S. 301; vgl. auch Nicolaissen: Chaos unentwirrbarer Farben, S. 39. Busch: Das unklassische Bild, S. 58 f. Van Hoogstraten: Inleyding tot de hooge schoole der Schilderkonst, S. 234. Ausst. Kat.: Rembrandt’s Landscapes, hg. v. Christian Vogelaar/Gregor J. M. Weber, Zwolle 2006, S. 165. Siehe Kapitel IV (Zufallsspiele). Van Hoogstraten: Inleyding tot de hooge schoole der Schilderkonst, S. 340 ff. Ernst van de Wetering verwies auf die Erklärungen der Sammler oder Kenner von Naturalien in den Niederlanden: Das Verhältnis von Stil, Technik und Zufall bei Arent de Gelder, in: Ausst. Kat.: Arent de Gelder [1645–1727], S. 33. Ausst. Kat.: Rembrandts schatkamer, hg. v. Bob van den Boogert u. a., Zwolle 1999.

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III. Material

Kunst aufgehoben waren.106 Rembrandts Kunstkammer stellte auch für seine Schüler die untrennbare Verbindung von Naturalia und Artificialia dar.107 Für de Piles sowie Baldinucci und Jacob Campo Weyerman hat sich Rembrandts Kunstkammer für die Malpraxis als brauchbar erwiesen.108 Ähnliches ließe sich für de Gelder sagen, dessen eigene Sammlung keinen Kunstkammercharakter hatte. Den fand er jedoch in der Sammlung Moelaerts. Auch Paudiß und van Hoogstraten suchten Kunstkammern in Dresden oder Wien auf. Der Gelehrte Rumphius, der mit Boerhaave befreundet war,109 verfasste 1705 die Abhandlung D’Amboinsche Rariteitkamer. In ihr findet sich sowohl eine religiöse Erklärung, nach der hinter der gemalten Natur der Schöpfer stehe (Vondel), als auch eine epikureisch-atomistische, wonach die Achatsteine eine zufällige Konstellation von verschiedenen Stoffen beziehungsweise die zufällige Verbindung von Atomen darstellen.110 Der Gestaltkraft der Natur sei die größte Freiheit zuzusprechen, da sie nicht an Regeln gebunden sei.111 Die Rembrandtisten versuchten sich die Freiheit im Suchen nach Formen im Chaos zunutze zu machen, indem sie eben nicht den Regeln des Decorum (Klassizismus) und des entsprechenden idealistischen Programms folgten.112 Van Hoogstratens Perspektivkasten sei Sinnbild für die Kunst der Malerei als Mikrokosmos: „[Van Hoogstraten] emphasizes his claim to cosmological allinclusiveness, a self-contained microcosm, a microcosm however that is confined to the visible aspects of reality, the naturalia and artificialia that belong to the domain of painting.“113 Dies steht, abgesehen von van Hoogstratens eigener Erfahrung mit der Kunstkammer, in Einklang mit seinem Programm, das er in

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Gabriel M. C. Pastoor: The Life of Arent de Gelder, in: Joachim Wolfgang von Moltke: Arent de Gelder: Dordrecht 1645–1727, Dornspijk 1994, S. 6. Ausst. Kat.: Rembrandts schatkamer, S. 77 f. Ebd., S. 60. G. A. Lindeboom: Herman Boerhaave. The Man and his Work, London 1968, S. 165 f. Außerdem war Boerhaave, wie Israel gezeigt hat, gegen den Cartesianismus und stattdessen Newton verpflichtet. Gleichzeitig wurde er als Spinozist angeklagt. Jonathan I. Israel: Radical Enlightenment. Philosophy and the Making of Modernity 1650–1750, Oxford 2001, S. 478 u. 705. Van de Wetering: Das Verhältnis von Stil, Technik und Zufall bei Arent de Gelder, S. 33; Bert van de Roemer: De Geschikte Natuur. Theorieën over natuur en kunst in de verzameling van zeldzaamheden van Simon Schijnvoet (1652–1727), unveröffentlichte Dissertation, Amsterdam 2004, S. 137. Van de Roemer: De Geschikte Natuur, S. 137. In Bezug auf eine produktive Nutzung des Zufalls in der Natur für die Kunst bemerkt van de Roemer auf Seite 200 von Regulating the Arts: „Nature not only supplies the examples that art should follow, but also reveals the processes by which this imitation should be accomplished.“ Thijs Weststeijn: The Visible World. Samuel van Hoogstraten’s Legitimation of Painting in the Dutch Golden Age, Amsterdam 2008, S. 63.

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Natur/Kunst-Prozesse des Materials

der Inleyding vertritt: nämlich die gesamte sichtbare Welt ernst zu nehmen und malerisch in einer unhierarchischen Ordnung zu erzeugen. Der Jesuit Athanasius Kircher, der an die göttliche Intervention glaubte, ohne jedoch die Kraft der Natur zu unterschätzen, spielt eine wichtige Rolle in diesem Zusammenhang. Kircher war in den Niederlanden bekannt, da seine Werke auch ins Niederländische übersetzt wurden.114 Van Hoogstraten macht einige Ausführungen zu China bezüglich der Natur als Bildhauerin, was die Kenntnis von Kirchers China Illustrata voraussetzt, die 1667 in lateinischer Sprache und ein Jahr später auf Niederländisch erschienen ist.115 Für Kircher sind solche Zufallsbilder zwar unvollkommen, unregelmäßig und unordentlich, aber gerade dies mache ihre Schönheit aus („nulla earum imaginum quae casu fiunt perfecta cit“).116 Kircher glaubte allein an die formbildende Kraft der Natur, die aus sich selbst heraus Gestalten schafft.117 Dies kann mit dem genannten Wettbewerb und vor allem mit dem Zufallsbild van Goyens durchaus verglichen werden. Die Unvollkommenheit der Kratzer de Gelders korrespondiert mit der Unvollkommenheit der Zufallsbilder der Natur. Es sind also nicht allein die Zufälle der Natur, die solche Gebilde hervorbringen, sondern auch die Zufälle der Kunst, die im Einklang mit dem Schöpfungsakt stehen. Cozens zeigt mit seiner Blotspot-Methode, die seit den Atomisten in dieser Tradition steht, „dass zwischen dem Chaos des Bildprozesses und dem Prozess der Natur eine zwingende Analogie besteht“.118 Die Rolle der Farbe sowie deren Applizierung und Kraft überwindet den vermeintlichen Gegensatz von Natur und Kunst.119 Die Farbe der Rembrandtisten bewegt sich somit in einer intermedialen Dialektik zwischen Material und Materialität, die selbst den Naturprozess thematisiert und ihn für den Malprozess fruchtbar macht.

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Van de Roemer: De Geschikte Natuur, S. 136 u. 141 ff. Vgl. Jurgis Baltrusaitis: Aberrations. Essai sur la légende des formes, Paris ²1983, S. 55–88. Van Hoogstraten: Inleyding tot de hooge schoole der Schilderkonst, S. 343; ShengChing Chang: Natur und Landschaft. Der Einfluss von Athanasius Kirchers „China Illustrata“ auf die europäische Kunst, Berlin 2003, S. 11 u. 16. Athanasius Kircher: Mundus subterraneus, Amsterdam 1665/1678, Band 2, S. 37. Zitiert nach Chang: Natur und Landschaft, S. 45 u. 61. Ebd., S. 35 f. Gottfried Boehm: Offene Horizonte. Zur Bildgeschichte der Natur, in: ders.: Wie Bilder Sinn erzeugen. Die Macht des Zeigens, Berlin 2007, S. 77. Weststeijn: The Visible World, S. 111. Pamela Smith bemerkt in diesem Zusammenhang wie Cyriacus von Ancona die „Processes of Art and those of nature […] as identical“ verstand. Smith: Body of the Artisan, S. 54.

I V. A spekte des Farbauftrags

Da s Unvol lende te a ls Pr i n z ip In einem unbestimmten, dunklen Innenraum, der allein durch eine Tischfläche mit darauf befindlichen Gegenständen gekennzeichnet ist, sind vier Halbfiguren dargestellt. Sie gruppieren sich zu jeweils zwei Paaren: ein Mann und eine Frau im Vordergrund, dazwischen eine weibliche und im Hintergrund eine männliche Figur (Bild 88). Die ältere, mit einem Kopftuch bedeckte und im Profil dargestellte weibliche Figur im Vordergrund fasst mit beiden Händen an die rechte Hand des jüngeren, ebenfalls im Profil gezeigten Mannes. Mit leicht gesenktem Kopf beobachtet die jüngere Frau dahinter die Szene. Auch der ältere Mann im Hintergrund richtet seinen Blick dorthin, erscheint aber aufgrund seiner abseitigen Position als Außenseiter, wie es für Josephsdarstellungen typisch ist. Das Bild wird als Edna segnet Tobias und Sarah identifiziert.1 Bei der Betrachtung des Originals – die Reproduktion vermittelt nur einen ungenügenden Eindruck – sticht in der Darstellung des älteren Mannes die Gestaltung seines Bartes hervor (Bild 89), der nur an der Oberlippe ausgearbeitet ist. Die Fläche besteht aus der Grundierung des Bildes selbst, die eigenwillig zur Gestaltung des Gesichts beiträgt. Im unteren Bereich des Bartes wurde die Fläche, die plastisch hervortritt, mit hellerer Farbe ausgearbeitet und anschließend mit einem Spachtel wieder entfernt. Dies ist an den Ecken und Kanten zu erkennen, die die Bewegung des Spachtels hinterlassen hat. 1

Joachim Wolfgang von Moltke: Arent de Gelder: Dordrecht 1645–1727, Dornspijk 1994, S. 82; Ausst. Kat.: Arent de Gelder [1645–1727], Rembrandts Meisterschüler und Nachfolger, hg. v. Dordrechts Museum/Wallraf-Richartz-Museum, Gent 1998, S. 224. Über das Thema des Bildes wurde lange diskutiert. Tümpels Deutung fand bislang die breiteste Akzeptanz. Vgl. Ausst. Kat.: Im Lichte Rembrandts. Das Alte Testament im Goldenen Zeitalter der niederländischen Kunst, hg. v. Christian Tümpel, Zwolle 1994, S. 296.

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IV. Aspekte des Farbauftrags

Bild 88  Arent de Gelder: Edna segnet Tobias und Sarah, signiert, um 1700, Öl auf Leinwand, 87,5 × 111 cm, Instituut Collectie Nederland.

Ansatzweise ist im Bereich der Wangen Farbe zu finden, die zur Darstellung von Schattierungen eingesetzt wurde und den Mann gleichsam in den Schatten des Geschehens stellt. Auch sein Ohr ist nur skizzenhaft gebildet. Es entsteht aus den als Schattierung dienenden braunen Flecken in Verbindung mit der Grundierung. Körper und Leinwand bilden hier eine Einheit. Sie bedingen einander.2 Zwischen dem Bildgrund und dem Ohr verläuft braune Farbe. Sie bildet einerseits die Grenze zwischen den beiden Bereichen, andererseits ist sie selbst der potenzielle Akteur, der den Bart ausfüllen kann und im Fließen dessen Werden mitbestimmt. Die Couleur ist außerdem für die innerbildliche Handlung des Bildes zuständig: Der Akt der Segnung Tobias’ ist in seinem Vollzug gezeigt. Der bärtige Mann (Raguel), dessen Kopfbedeckung und Kleidung mit den Brauntönen des Bartes korrespondieren, befindet sich im Schatten, sodass eine solche Behandlung der Farbe bis zu einem gewissen Grade der inneren Logik des Bildes entspricht. Diese weist aber eine erstaunliche Modernität 2

Dieser Eindruck bleibt unabhängig vom Zustand des Bildes bestehen. Gottfried Boehm behauptet, der steigende Grund trage zum Prozess der Energetisierung des Bildes bei, womit er auf Deleuzes Satz, „der Untergrund steige zur Oberfläche auf“, anspielt („Geteilte Aufmerksamkeit. Bemerkungen zur ikonischen Differenz“, Vortrag gehalten am 18. 6. 2013 an der Humboldt-Universität); siehe auch die Einleitung in: Gottfried Boehm/Matteo Burioni (Hg.): Der Grund. Das Feld des Sichtbaren, München 2012, S. 11–28.

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Das Unvollendete als Prinzip

Bilder 89, 90  Details aus Bild 88.

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IV. Aspekte des Farbauftrags

durch den vermeintlich unvollendeten Zug des Werkzeugs auf, der in seiner Radikalität auch bei einem Manet oder Cézanne Erstaunen hervorrufen würde. Zur Verlebendigung des Gesichts trägt die dünne graue Farbschicht bei, die die Haut des Mannes darstellt und an bestimmten Stellen an die entsprechend gräulich-gelbe Grundierung der körnigen Leinwand grenzt.3 Gleichzeitig ist die Farbe fließend aufgetragen, sodass sich die Grenzen wie von selbst bilden (Bild 90). An dieser Stelle wird die Schwelle zwischen Belebung der Figur (Farbe der Haut) und totem Artefakt (Grundierung der Leinwand) deutlich, was sowohl die Diskrepanz zwischen diesen beiden Bereichen als auch deren Dynamisierung unterstreicht. Bezeichnenderweise ist rechts oberhalb des Mannes in der Diagonalen die gekratzte Signatur de Gelders (Arent de Gelder f.) zu sehen. Sie weist das als zunächst unvollendet erscheinende Bild als vollendet aus (Bild 91). Die eigentliche Pointe der Vollendung des Bildes durch die gekratzte Signatur liegt darin, dass diese sich im Entstehen präsentiert, da sie durch eine bewusst unkontrollierte Handmotorik hervorgebracht wird. Deshalb kann das f. als ein faciebat gedeutet werden, wie es in Werken Michelangelos, Tizians und Tintorettos (um nur einige Künstler zu nennen, der nordalpine Raum bleibt hier unberücksichtigt) zu finden ist.4 Das f. wird gleichsam durch die schwingend gekratzte Signatur und die Dynamis der Form zum faciebat ausgeschrieben. Dass de Gelder hier die Kratztechnik verwendet (er signiert seine Bilder auch häufig mit Farbe in einer geradezu zeichnerischen Qualität), spricht für die spielerische Auseinandersetzung mit einer vermeintlichen Bezeichnung des Bildes als „vollendetunvollendet“, auch weil die Signatur sich im Dunkeln befindet (was möglicherweise jedoch auf den heutigen Zustand des Bildes zurückgeht) und erst entdeckt 3 4

Vgl. Ernst van de Wetering: Das Verhältnis von Stil, Technik und Zufall bei Arent de Gelder, in: Ausst. Kat. Arent de Gelder [1645–1727], S. 23. Thomas Weigel: Tintoretto und das Non-finito, in: ders./Joachim Poeschke/Britta Kusch-Arnhold (Hg.): Die Virtus des Künstlers in der italienischen Renaissance, Münster 2006, S. 257. Anna Tummers betonte in Bezug auf niederländische Künstler, dass „the addition of ‚f‘ after the artist’s name, which is commonly interpreted as an abbreviation of ‚fecit‘ also stands for ‚faciebat‘“. Anna Tummers: By his Hand. The Paradox of Seventeenth Century Connoisseurship, in: dies./Koenraad Jonckheere (Hg.): Art Market and Connoisseurship. A Closer Look at Paintigs by Rembrandt, Rubens and Their Contemporaries, Amsterdam 2008, S. 45; Werner Busch: Das unklassische Bild. Von Tizian bis Constable und Turner, München 2009, S. 70 f.; Jüngst Rudolf Preimesberger: Trübe Quellen. Noch einmal zu Michelangelos Signatur der Pietà in St. Peter, in: Nicole Hegener (Hg.): Künstlersignaturen von der Antike bis zur Gegenwart, Petersberg 2013, S. 142–149; Irving Lavin: Divine Grace and the Remedy of the Imperfect. Michelangelo’s Signature on the St. Peter’s Pietà, in: Hegener (Hg.), Künstlersignaturen von der Antike bis zur Gegenwart, S. 150– 187; Nicole Hegener: Faciebat, non finito und andere Imperfekte. Künstlersignaturen neben Michelangelo, in: dies. (Hg.): Künstlersignaturen von der Antike bis zur Gegenwart, S. 188–231.

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Das Unvollendete als Prinzip

Bilder 91–93  Details aus Bild 88.

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IV. Aspekte des Farbauftrags

Bild 94  Christopher Paudiß: Ein Heyduck, signiert, 166(?), Öl auf Leinwand, 59 × 51,5 cm, Staatliche Kunstsammlungen – Gemäldegalerie Alte Meister, Dresden.

werden kann, wenn das Bild aus der Nähe betrachtet wird. Die aufgetragene und gekratzte Farbe der Gewänder tilgt bei näherer Sicht die eigene Darstellungsfunktion im Bild (Bild 92 und Bild 93). Dieser Vorgang ist auch im sogenannten Bildnis eines Heyduck 5 von Christopher Paudiß zu verfolgen (Bild 94):6 Das kleine Bild zeigt einen jungen Mann mit glatten, langen Haaren, der den Betrachter mit seinem Blick fixiert. Er trägt eine üppige Kopfbedeckung, die wie ein Pilz aus seinem Kopf erwächst und ihm die Benennung Heyduck eingebracht hat. Die Konzentration richtet sich auf sein Gesicht. Vor allem die obere Gesichtshälfte scheint wie mit einem Scheinwerfer beleuchtet zu sein. Auf Stirn und Nasenknochen, dort, wo das meiste Licht hinfällt, ist die Farbe pastos auf-

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Das Bild wird in der Dresdner Sammlung von 1722–1728 als „Ein Heyduckenkopf“ inventarisiert. Ausst. Kat.: Christopher Paudiß, 1630–1666. Der Bayerische Rembrandt?, hg. v. Sylvia Hahn u. a., Regensburg 2007, S. 236. Ebd., S. 236 ff.

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Das Unvollendete als Prinzip

Bild 95  Detail aus Bild 94.

getragen. Der gedrehte Kopf emergiert aus einem unbestimmten Hintergrund, der in rötlichen, hellgrauen sowie braunen Tönen gehalten ist. Dadurch entsteht eine Übereinstimmung mit der rötlichen Kopfbedeckung im oberen Bereich des Bildes. Als verschwömmen sie ineinander, hat auch der Hintergrund die rötliche Farbe eines Ziegelsteines. Die Kopfbedeckung wirkt erstaunlich leicht, als schwebe sie auf dem Kopf des Mannes. Im unteren und mittleren Bereich des Bildes bezeichnen die braunen, grauen und hellgrauen, fast gelblichen Töne die pelzbesetzte Bekleidung und den wie mit einem beleuchteten Nimbus umrissenen Kopf, der dadurch akzentuiert wird, dass er als dunkle Fläche auf einer hellen erscheint.7 Das Bild erinnert an jene tronjeartigen Darstellungen Johann Ulrich Mayrs, die Gemälde von Lievens und Rembrandt zum Vorbild haben. 7

Im Ausstellungskatalog zu Paudiß wird der Zustand des Gemäldes als „unbefriedigend“ beschrieben, weil es „nach seinem Abhandenkommen 1945 auf allen Seiten mehr oder weniger stark beschnitten, doubliert und dadurch stark verpresst“ wurde (Ausst. Kat.: Christopher Paudiß, 1630–1666, Anm. 8, S. 238). Außerdem „ist die gesamte Oberfläche durch den Verlust von Farbschichten sehr in Mitleidenschaft

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IV. Aspekte des Farbauftrags

Aus der Nähe betrachtet wird deutlich, dass große Teile des Bildhintergrundes nur aus einer braun-grauen Grundierungsschicht bestehen (Bild 95). Auch am Rand der verknoteten Tuchbahnen der Kopfbedeckung, wo die Farbe mit roten, gelb-ocker beziehungsweise schwarzen und grünlichen Pinselstrichen exzessiv aufgetragen ist, scheint die graue Grundierung des Bildes durch. Ähnlich wie die aus dem Gesicht fallenden Haare sind die Fransen des Hutes aus Farben gebildet, die nicht nur durch den Pinselstrich, sondern vor allem aufgrund der Schwerkraft an der Leinwand hinunterzufließen scheinen (Bild 96). Wie Ornamente erscheinen die gelben Punkte und Striche auf der linken Schulter des Mannes, die eine farbliche Symmetrie bilden und das sonst dunkelbraune Gewand betonen, dabei zugleich fragmentarisch und dadurch umso lebendiger wirken. Auch die Übergänge des Hintergrundes im oberen Bereich vom Rötlichen ins Dunkelgraue und dann wiederum ins Gelbliche beziehungsweise Braune sind unregelmäßig. Der Kopf ruht auf dem Bildträger, wodurch er vitaler wirkt, als wenn der Hintergrund einfarbig und gleichmäßig bearbeitet worden wäre. Dass diese Darstellungsweise nicht als völlig zufällig zu verstehen ist, dafür spricht die Signatur des Malers auf der unteren rechten Ecke des Gemäldes, die als das Produkt einer bewussten Entscheidung von Paudiß angesehen werden muss. Mit dunkelbraunen Druckbuchstaben aufgetragen, unterstreicht sie ihre Künstlichkeit ebenso wie ihre Natürlichkeit durch die Entstehung aus einem ähnlichen Ton des Grundes (Bild 97). Der Maler signiert mit seinem vollständigen Namen Christstofhe (oder Criststoffer) Paudiß 166..(?).8 Das kann zweierlei bedeuten: Erstens bezeichnet Paudiß sein Bild durch die Signatur als vollendet, obwohl oder vielmehr gerade weil es in den Augen seiner Gegner als unvollendet gelten musste. Dass Paudiß vermittels eines Tronjebildes zu einer solchen Entscheidung fand,9 ist insofern bezeichnend, als diese Gattung schon bei den Rembrandtisten als Experimentierfeld der Künstler gedient hatte. Zweitens wird das Prozessuale der Formwerdung allein durch den Namen des Schöpfers und nicht durch das Faciebat deutlich, indem die Grundierung des Bildes und der leichte braune Farbauftrag verschmelzen.

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gezogen, vor allem in den bereits in der Anlage dünnen Hintergrundpartien wird die rötlich-braune Grundierung sichtbar“. Das bedeutet, dass das Bild von Paudiß stark gelitten hat und seine heutige Erscheinung als „unvollendet“ dadurch mitbedingt ist. Wie an der Signatur und der darunter sichtbaren Grundierung festgestellt werden konnte, war dieser Eindruck jedoch schon vorher gegeben und wird durch den heutigen Zustand des Bildes nur verstärkt. Ausst. Kat.: Christopher Paudiß, 1630–1666, S. 236. Ebd. Im Katalog (S. 238) wird die Meinung vertreten, dass das Bild „weit über die Form einer ‚Tronie‘“ hinausgeht. Warum dies aber der Fall sein soll, wird nicht weiter erläutert.

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Das Unvollendete als Prinzip

Bilder 96, 97  Detail aus Bild 94.

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IV. Aspekte des Farbauftrags

Bild 98  Christopher Paudiß: Selbstbildnis(?) mit Federbarett, signiert, 1660, Kunstsammlungen der Benediktinerabtei zu den Schotten, Museum im Schottenstift, Wien.

Um den Eindruck des Einzelfalls zu entkräften (der zudem von seinem späteren Erhaltungszustand mitbestimmt wird), soll ein weiteres Bild von Paudiß unter diesem Gesichtspunkt als Vergleich hinzugezogen werden. Im sogenannten Selbstbildnis mit Federbarett, heute in den Kunstsammlungen der Benediktinerabtei zu den Schotten in Wien zu sehen, ist ein ähnliches Brustbildnis eines Tronje dargestellt. Gezeigt ist ein Mann, der den Betrachter im Vergleich zum Heyduck spiegelverkehrt und aus einer extrem dynamischen Drehung des Halses heraus anblickt (Bild 98).10 Besonders dort, wo die diffuse Farbgebung dazu beiträgt, dass Haar und Schulter sich mit dem Hin-

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Ob es sich um ein Selbstbildnis des Künstlers handelt oder nicht, sei zunächst dahingestellt. Ausst. Kat.: Christopher Paudiß, 1630–1666, S. 208 ff.

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Das Unvollendete als Prinzip

Bild 99  Detail aus Bild 141.

Bild 100  Detail aus Bild 13.

Bild 101  Detail aus Christopher Paudiß: Frierende Kinder, signiert, 1663, Öl auf Leinwand, 144,5 × 114 cm, Bayerische Staatsgemäldesammlungen, Diözesan­ museum, Freising.

tergrund vereinen, erinnert das Bildnis, abgesehen von den Rembrandt’schen Einflüssen, auch an das Sfumato Leonardos.11 Das Gesicht der männlichen Figur ist in der Nähe der dunklen Fläche hell beleuchtet und auf der helleren Wandfläche schattig. Sein rotbraunes Gewand mit dem hohen Kragen ist nur ansatzweise bearbeitet. Hier verdeutlichen die vielen Kratzer die Prozessualität der Farbgestaltung. Es scheint, als speise sich die Kleidung aus dem Grund des Bildes selbst. Rote Farbe läuft auf das Gewand, als ob sie in einem fließenden Zustand wäre, und trägt so zur Lebendigkeit der 11

Zu Leonardos Sfumato: Frank Fehrenbach: Der oszillierende Blick. Sfumato und die Optik des späten Leonardo, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte, 65/4 (2002), S. 522–544. Zur Praxis der verschwommenen Konturen in der Tradition des Sfumato in Rembrandts Werkstatt, aber auch zu den Unterschieden zwischen diesen siehe: Thijs Weststeijn: „This Art Embraces All Visible Things in its Domain“. Samuel van Hoogstraten and the „Trattato della pittura“, in: Claire Farago (Hg.): Re-Reading Leonardo, The Treatise on Painting across Europe, 1550–1900, Burlington 2009, S. 423–427.

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IV. Aspekte des Farbauftrags

Bild 102  Detail aus Bild 141.

Figur bei. Die Wand erinnert an Stillleben des Künstlers, an die Delfter Malerei und die Farbgestaltung Carel Fabritius’, die vor allem bei der Darstellung von Wänden als Hintergrund eine abstrakte Qualität aufweist.12 In der rechten dunkleren Ecke der Wand sind die Signatur und die Datierung mit fetten, braunen Buchstaben aufgetragen: Cristofher Paudiß 1660. Farbigkeit und Platzierung korrespondieren mit der Kleidung des Dargestellten. Das Spiel mit der Vollendung des Unvollendeten wird weiterverfolgt. So ist das Bildnis mit dem Heyduck kein Einzelfall im Œuvre des Malers. Paudiß trägt seine Signatur häufig direkt auf die Grundierung des Bildes auf, wie zum Beispiel im Bild der Tempelreinigung, auf dem Gastmahl in Emmaus oder in den Frierenden Kindern, als folge er einer Gesetzmäßigkeit (Bild 99, Bild 100 und Bild 101).13 Stets wird der Name des Urhebers und das Jahr der Entstehung angegeben. Indem Paudiß seine nicht abgeschlossene Schöpfung als vollendeten Akt bezeichnet, der für immer unvollendet bleiben wird, findet er zu einer Steigerung der unabschließbaren Kraft seines Handeling.

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Siehe zum Beispiel das signierte Bild: Distelfink, 1654, Öl auf Holz, 33,5 × 22,8 cm, Mauritshuis, Den Haag. Vgl. Ausst. Kat.: Carel Fabritius, 1622–1654. Das Werk, hg. v. Gero Seelig/Ariane van Suchtelen/Frederik J. Duparc, Zwolle ²2005, S. 142. Regina Bauer-Empl: Betrachtungen zur Maltechnik von Christopher Paudiß, in: Ausst. Kat.: Christopher Paudiß, 1630–1666, S. 175.

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Das Unvollendete als Prinzip

Bild 103  Barent Fabritius: Selbstbildnis, signiert, 1650, Öl auf Leinwand, 70,1 × 55,7 cm, Städelsches Kunstinstitut, Frankfurt am Main. Bild 104  Detail aus Bild 103.

Dem bärtigen, alten Mann de Gelders aus Edna segnet Tobias und Sarah (Bild 88) lassen sich die Geldwechsler aus der Vertreibung der Händler aus dem Tempel zur Seite stellen, die, wie jener, zum großen Teil im Schatten dargestellt sind und ebenso skizzenhaft erscheinen (Bild 102).14 Hinzu kommt jedoch der teilweise schlechte Erhaltungszustand des Bildes. Das transitorische und dynamische Moment der Handlung Christi sowie die Austreibung aus dem Tempel werden durch die skizzenhaften Darstellungsmittel unterstrichen (Bild 141).15 Die in Teilen unfertige Farbbehandlung von Paudiß lässt die Szene verschwommen und unscharf erscheinen.16 Auch Barent Fabritius brachte seine Signatur auf dem sichtbaren Grund auf, wie in seinem Selbstbildnis deutlich wird, das sich heute im Städel Museum in Frankfurt befindet (Bilder 103, 104).17 Es ist signiert und auf das Jahr 1650 datiert. 14 15 16

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Ebd., S. 174. Dieser Eindruck wird durch den Erhaltungszustand verstärkt. Vgl. das Kapitel V, S. 260 ff. Der Ausst. Kat.: Christopher Paudiß, 1630–1666, S. 213, folgt der Meinung Seifertovás: „Die Entgrenzung von Umrissen führt zur ‚vibrierenden‘ Atmosphäre des Ganzen“, und auf S. 202 heißt es: „Seine Malweise wirkt verschwommen.“ Vgl. Hana Seifertová: ­Pau­­pertate premor sublevor ingenio. Ein moralisierendes Porträt des Christopher Paudiss, in: Umení, ˘ 25 (1977), S. 224–241. Vgl. León Krempel: Holländische Gemälde im Städel 1550–1800. Künstler geboren 1615 bis 1630, Band 2, Petersberg 2005, S. 126. Vgl. Ernst van de Wetering: Rembrandt. The Painter at Work, Berkeley/Los Angeles/London ²2004, S. 21: „[…] where

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IV. Aspekte des Farbauftrags

Sowohl Paudiß als auch de Gelder und Fabritius spielen mit der Prozessualität der Gestaltwerdung – zwar auf je eigene, aber dennoch ähnliche Weise. Sie verfolgen die gleiche Malideologie, die Rembrandt in der Tradition Tizians entwickelte.18 Wie aber steht die Kunsttheorie beziehungsweise Vitenliteratur in den Niederlanden zu dieser Erkenntnis? Arnold Houbraken bemerkte bezüglich der Bildpraxis Rembrandts: „En in zulk doen was hy niet te verzetten, nemende tot verantwoording dat een stuk voldaan is als de meester zyn voornemen daar in bereikt heeft, zoo ver dat hy om eene enkele parel kragt te doen hebben, een schoone Kleopatra zou hebben overtaant.“19 Die Aussage dient als Erklärung zur vorangegangenen Passage in der Biografie des Künstlers: „En dus ging het ook met zyne schilderyen, waar van ik ’er gezien heb, daar dingen ten uitersten in uitgevoert waren, en de rest als met een ruwe teerkwast zonder agt op teekenen te geven was aangesmeert.“20 Zusätzlich zu dem im vorigen Kapitel als „Materialfetischismus“ bezeichneten Umgang Rembrandts mit dem Bild der Kleopatra gibt dieser Abschnitt dem Leser wichtige Erkenntnisse bezüglich der unregelmäßigen Arbeitsweise Rembrandts und seiner formalen Diversität. Manche Partien der Gemälde Paudiß’, de Gelders und Barent Fabritius’ sind stark ausgearbeitet, besonders die „ornamentalen“ Bereiche wie Kleider oder Schmuck, wohingegen andere nur skizziert sind. Es gibt kein wirkliches Interesse an korrekter Zeichnung und Anatomie.21 So wird die aktive Rolle der Farbe vor allem

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the ground is visible, it always appears to be a light yellowish-brown colour.“ Dies lässt sich auch auf das Fabritius-Bild sowie auf die Bilder Paudiß’ und de Gelders anwenden. Busch: Das unklassische Bild, S. 67 u. 70. Arnold Houbraken: De Groote Schouburgh der Nederlantsche konstschilders en schilderessen, Band 1, Den Haag ²1753, S. 259. Vgl. die Übersetzung: Alfred von Wurzbach: Arnold Houbraken’s Grosse Schouburgh der niederländischen Maler und Malerinnen, Osnabrück 1970, S. 113: „Aber davon [das non-finito, Anm. d. V.] war er nicht abzubringen und sagte zu seiner Rechtfertigung, dass ein Bild vollendet sei, sobald der Meister seine Absicht darin erreicht habe; ja er ging hierin so weit, dass er, um eine einzige Perle kräftig hervortreten zu lassen, eine schöne Kleopatra überschmierte.“ Vgl. Ernst van de Wetering: Technik im Dienst der Illusion, in: Ausst. Kat. Rembrandt. Der Meister und seine Werkstatt. Gemälde, hg. v. Christopher Brown/Jan Kelch/Pieter van Thiel, London/Berlin/Amsterdam 1991, S. 21. Houbraken: De Groote Schouburgh der Nederlantsche konstschilders en schilderessen, Band 1, S. 259. Wurzbach: Arnold Houbraken’s Grosse Schouburgh der niederländischen Maler und Malerinnen, S. 113: „Ganz ebenso behandelte er seine Bilder, von denen ich einige gesehen habe, in welchen Einzelnes bis auf’s Äusserste fleissig ausgeführt, das Übrige aber, wie mit einem rohen Anstreicherpinsel, ohne Rücksicht auf die Zeichnung, hingeschmiert war.“ Vgl. in diesem Zusammenhang zum Skizzenhaften bei Rembrandt: Nicola Courtright: Origins and Meanings of Rembrandt’s Late Drawing Style, in: The Art Bulletin, 78 (1996), S. 485–510.

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Das Unvollendete als Prinzip

in jenen Bereichen deutlich, die von den Idealisten eher als nebensächlich beschrieben wurden. Houbraken führt einen Gedanken aus, den er von seinem Lehrer Samuel van Hoogstraten übernommen haben könnte, wenn er bemerkt, dass ein Bild dann für den Schöpfer als vollendet gilt, wenn dessen Vorhaben als erreicht angesehen wird.22 Nicht äußere Regeln also sind bestimmend, sondern der Giudizio des Künstlers gegenüber seiner eigenen Schöpfung. Das bedeutet, dass die Rembrandtisten ihre Bilder auch dann signieren, wenn, von einem klassisch-akademischen Standpunkt aus, noch nicht genügend Disegno oder finito in der Komposi­tion vorhanden sind. Auf diese Weise legitimiert Houbraken die unregelmäßige Art des Farbauftrags, auch wenn eine solche Pinselführung für ihn nur bedingt akzeptabel ist. Ähnliches vertritt der Künstler und Biograf auch in einer weiteren Passage der Vita Rembrandts, mit einer noch kritischeren Wendung: „Maar een ding is te beklagen dat hy zoo schigtig tot veranderingen, of tot wat anders gedreven, vele dingen maar ten halven op gemaakt heeft, zoo in zyne schilderyen, als nog meer in zyn geëtste printkonst, daar het opgemaakte ons een denkbeeld geeft van al ’t fraais dat wy van zyne hand gehad zouden hebben, ingevallen hy yder ding naar mate van het beginsel voltooit hadde, als inzonderheid aan de zoo genaamde hondern guldens print en andere te zien is, waar omtrent wy over de wyze van behandelinge moeten verbaast staan; om dat wy niet konnen begrypen hoe hy het dus heeft weten uit te voeren op een eerst gemaakte ruwe schets, gelyk blykt dat hy gedaan heeft aan het pourtretje van Lutma dat men eerst in ruwe schets, daar na met een agtergrond en eindelyk uitvoerig in print ziet.“23 Hier offenbart sich die eigentliche Haltung Houbrakens, die mit der gängigen Kunsttheorie der Zeit übereinstimmt. Er betrachtet das Unvollendete als eine Marotte nicht nur in der Malerei, sondern auch in der Grafik Rembrandts.

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Houbraken: De Groote Schouburgh der Nederlantsche konstschilders en schilderessen, Band 1, S. 259: „[…] een stuk voldaan is als de meester zyn voornemen daar in bereikt heeft.“ Ebd., S. 258 f.; Wurzbach: Arnold Houbraken’s Grosse Schouburgh der niederländischen Maler und Malerinnen, S. 113: „Aber es ist zu beklagen, dass er, so geneigt zu Veränderungen, oder leicht hingelenkt auf eine andere Sache, sowohl viele seiner Bilder, und noch häufiger seine Radierungen nur zur Hälfte vollendete, sodass uns nur die ausgeführten eine Vorstellung von all’ dem Schönen geben können, was wir von ihm besitzen würden, wenn er Alles, so wie er es begonnen, auch beendet hätte. Dies ist insbesondere an dem sogenannten Hundertguldenblatte zu ersehen, über dessen Behandlung wir nur staunen können, weil wir nicht zu begreifen vermögen, wie er dies, lediglich nach einer ursprünglich rohen Skizze auszuführen wusste; trotzdem ist diese seine Weise zu arbeiten deutlich an dem Porträt des Lutma ersichtlich, welches zuerst in roher Skizze, dann mit einem Hintergrunde, und endlich ganz ausgeführt im Abdruck vorhanden ist.“

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IV. Aspekte des Farbauftrags

Das Hauptaugenmerk seiner Kritik liegt auf der rauen Skizze, die per se unvollendet und dem Zufall ausgeliefert ist.24 Houbraken wählt das Hundertguldenblatt als Beispiel, das einerseits minutiös, andererseits grob ausgeführt ist, doch vermag der Biograf dahinter nicht Rembrandts Regie zu erblicken. Rembrandt ritzt in die Platte und denkt noch nicht an die spätere spiegelverkehrte Übertragung beziehungsweise an das Produkt der Radierung selbst.25 Bei der Betrachtung des vollständigen Zitats zeigt sich, dass Houbraken seine negative Einstellung gegenüber dem Unfertigen („een stuk voldaan is als de meester zyn voornemen daar in bereikt heeft“) entgegen seiner bisherigen scharfen Position relativiert. Hier nähert er sich den schon ausgeführten Aussagen seines Lehrers van Hoogstraten an. Eine historisch relevante und parallel entwickelte Idee zur Passage Houbrakens über Rembrandt findet sich in Baruch de Spinozas Ethik. Die Beziehung Spinoza – Rembrandt hat die Forschung oft beschäftigt.26 Spinoza schreibt zur Frage des Vollendeten/Unvollendeten Folgendes: „Wenn jemand sich vorgenommen hat, etwas herzustellen, und es vollendet hat, wird nicht nur er selbst sagen, daß seine Sache vollendet ist, sondern auch jeder, der Geist und Absicht des Urhebers dieses Werkes kennt oder zu kennen glaubt. Wenn z. B. jemand ein Werk (von dem ich voraussetze, daß es noch nicht fertig ist) sieht und weiß, daß es die Absicht seines Urhebers ist, ein Haus zu bauen,

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Folgende Bemerkung bezüglich des Skizzenhaften muss van Hoogstraten direkt von Rembrandt gelernt haben: Samuel van Hoogstraten: Inleyding tot de hooge schoole der Schilderkonst: Anders de Zichtbaere Werelt, Rotterdam 1678, S. 27: „Deeze manier van in ’t gros te schetssen, is by de meeste op een onbedwonge wijze in ’t gebruik […] maer wat verder het ruw schetssen belangt, het is de eerste grontvest van ’t wel teykenen […].“ Siehe die Übersetzung: Ernst van de Wetering: Towards a Reconstruction of Rembrandt’s Art Theory, in: ders. (Hg.): A Corpus of Rembrandt Paintings V. The Small-Scale History Paintings, Dordrecht 2010, S. 33: „This way of sketching the whole is mainly used in an unforced manner […] [but] what further concerns the rough sketching, it is the first foundation of good draughtsmanship […].“ Vgl. den nächsten Abschnitt. Dies hat die Ausstellung im Rembrandthuis Rembrandt gespiegelt (2009–2010) gezeigt. Vgl. hier Werner Busch: Rembrandts späte Zeichnungen mit der Rohrfeder. Ein für die Veranschaulichung ungeeignetes Mittel?, in: Gyburg Radke-Uhlmann/Arbogast Schmitt (Hg.): Anschaulichkeit in Kunst und Literatur. Wege bildlicher Visualisierung in der europäischen Geschichte, Berlin 2011, S. 281. Weststeijn untersucht das Verhältnis zwischen Spinoza und van Hoogstraten: Thijs Weststeijn: The Visible World. Samuel van Hoogstraten’s Legitimation of Painting in the Dutch Golden Age, Amsterdam 2008, S. 338–351; zum Verhältnis von Spinoza und Rembrandt siehe: Wilhelm Reinhold Valentiner: Rembrandt and Spinoza. A Study of the Spiritual Conflicts in Seventeenth-Century Holland, London 1957 sowie Erwin Panofsky: Rembrandt und das Judentum, in: Jahrbuch der Hamburger Kunstsammlungen, 18 (1973), S. 75–108.

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Das Unvollendete als Prinzip

wird er sagen, daß das Haus unvollendet ist; andererseits wird er es vollendet nennen, sobald er sieht, daß das Werk zu dem Abschluß gelangt ist, den ihm zu geben sein Urheber sich vorgenommen hatte. Wenn aber jemand ein Werk sieht, desgleichen er noch nie gesehen hat, und nicht den Geist seines Herstellers kennt, wird er natürlich nicht wissen können, ob dieses Werk vollendet oder unvollendet ist. […] was er mit seinem entworfenen Musterbild nicht so sehr übereinstimmen sah, mochte es auch nach Ansichten seines Herstellers ganz fertiggestellt sein.“27 Vor allem der Teil „andererseits wird er es vollendet nennen, sobald er sieht, daß das Werk zu dem Abschluß gelangt ist, den ihm zu geben sein Urheber sich vorgenommen hatte“ weist einen direkten inhaltlichen Bezug zur Aussage Houbrakens auf, obwohl sich Letzterer von der Frage des Vollendeten leiten lässt. Dazu schreibt Spinoza jedoch an anderer Stelle: „Vollkommenheit und Unvollkommenheit sind also in Wahrheit nur Modi des Denkens, nämlich Begriffe, die wir aufgrund dessen zu fingieren pflegen, daß wir Individuen derselben Art oder Gattung miteinander vergleichen; […].“28 Das Kriterium des finito spielt für Spinoza aus folgendem Grund eine untergeordnete Rolle: „Vielmehr wird jegliches Ding, mag es mehr oder weniger vollkommen sein, mit derselben Kraft, mit der es zu existieren beginnt, immer weiter im Existieren verharren können, so daß in dieser Hinsicht alle Dinge gleich sind.“29 Für ihn ist in diesem Zusammenhang die Trias Schöpfer (Spinoza nennt ihn „Urheber“), Ding (in seinem Beispiel „das Haus“) und Betrachter (der den Urheber kennt oder nicht kennt und dementsprechend sein Urteil fällt) zentral. Diese Einheit aus drei Instanzen ist relevant für die Wahrheit des Urteils über das Vollendete-Unvollendete.30 Houbraken kritisiert Rembrandts Werke, obwohl er sowohl den Schöpfer wie das Ding kannte (zum Beispiel das Hundertguldenblatt), indem er den spezifischen Umgang mit der Form nicht anerkennt. Hier liegt ein Hauptunterschied zu Spinozas entsprechendem Standpunkt über die Problematik des Abgeschlossenen, insofern Letzterer die beiden Seinszustände eines Werkes für ebenbürtig hält. Eine andere Quelle, die Houbraken sicherlich bekannt war, ist Horaz’schen Ursprungs und in Sandrarts Teutscher Akademie überliefert: „Es hat Horatius gar wol gesagt/ daß alsdann ein Werk zu seiner Vollkommenheit gelanget sey/ wann es dem Besitzer eine Freude/ und dem Verfärtiger den verhofften Nutzen

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Baruch de Spinoza: Ethik in geometrischer Ordnung dargestellt, Hamburg 2012, S. 373 ff. Weder Valentiner noch Panofsky oder Weststeijn haben die Passage Spinozas zitiert oder mit der von Houbraken über Rembrandt verglichen, um das implizite Verhältnis der beiden Männer zu erhellen. Ebd., S. 377. Ebd., S. 381. Mit herzlichem Dank an Pedro Stoichita für die Diskussion über Spinoza.

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IV. Aspekte des Farbauftrags

und Frommen erwerbe.“31 Darin klingt wiederum die zitierte Passage Spinozas an, in der es heißt, dass ein Werk nur im Verbund von Betrachter, Besitzer und Schöpfer als vollkommen betrachtet werden kann.32 Das spezifische Urteil ist von der jeweiligen Ideologie abhängig. Sowohl Boschini als auch van Hoogstraten erklärten denjenigen zum wahren Kenner und Kunstliebhaber, der die raue Malweise in ihrem amorphen und unfertigen Zustand von Nahem genießen konnte.33 Besonders van Hoogstraten äußert sich positiv darüber und verweist damit sicherlich implizit auch auf Rembrandt: „Daerom hebben groote meesters ook wel dingen, die in ’t eerste aenleggen een gelukkige welstant hadden, onopgemaekt gelaten, van vreeze dat zy die zouden bederven. Zoo kann ’t ook gebeuren dat de grondverwe uwes doeks of paneels in ’t koloreeren te pas komt, en met eenige duwkens geholpen, uwen arbeyt verlicht.“34 Das Skizzenhafte sowie das Sichtbarwerden der Grundierung werden als Arbeitserleichterung angesehen und somit gleichsam akzeptiert. Spätestens seit Plinius im 35. Buch seiner Naturalis Historia jene Werke der griechischen Maler, die sie in fortgeschrittenem Alter schufen, höher einstufte als ihre in jüngerem Alter vollendeten, war der Topos des Unvollendeten in der Welt.35 Plinius charakterisiert hier einen Altersstil, und es ist signifikant, dass sich das Unvollendete in der Tradition Tizians und Rembrandts vor allem durch deren ultima maniera äußert.36 Außerdem führt Plinius an, dass die

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Joachim von Sandrart: Teutsche Akademie 1675, I, Buch 3 (Malerei), S. 103, unter: http://ta.sandrart.net/de/text/194 [9.2.2014]. Natürlich kann der Schöpfer gleichzeitig Betrachter sein. Vgl. Kapitel V, S. 293 f. Vgl. Van de Wetering: Technik im Dienst der Illusion, S. 21; Van Hoogstraten: Inleyding tot de hooge schoole der Schilderkonst, S. 27 u. 291. Van Hoogstraten: Inleyding tot de hooge schoole der Schilderkonst, S. 321. Übersetzung aus Weststeijn: The Visible World, S. 239: „This is why great masters also sometimes left unfinished things that were fortuitously apt when first laid in, for fear that they would spoil them. It may be for instance that the ground on your canvas or panel may be opportune in the colouring and, with the aid of a few dabs, may make your work easier.“ Van de Wetering: Technik im Dienst der Illusion, S. 21. Siehe zum Beispiel: Philip Sohm: The Artist Grows Old. The Aging of Art and Artists in Italy. 1500–1800, New Haven u. a. 2007, und die entsprechenden Bemerkungen über beide Künstler beispielsweise bei van Hoogstraten: Inleyding tot de hooge schoole der Schilderkonst, S. 242. Aber auch was Houbraken über Rembrandt sagt, ist hier relevant: „Liever dat stuk onvoldaan wilde aan zig houden, dan hun ten gevallen de kwast ’er op zetten, gelyk ook geschiedde; waarom het gemelde stuk ook naderhand, tot een afschutting gedient heeft voor zyne Leerlingen. […] En ik heb opgemerkt dat hy in zyn vroegen tyd wel meer gedult gehad heeft om zyne konststukken uitvoerig te bewerken dan daarna.“ (De Groote Schouburgh der Nederlantsche konstschilders en schilderessen, Band 1, S. 260).

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Das Unvollendete als Prinzip

unvollendeten Werke eher anerkannt würden als die vollendeten, weil in ihnen die Unterzeichnung sichtbar bleibe.37 Gleichzeitig bedauert er, dass die Skulpturen mancher antiken Bildhauer unfertig aussähen, wenn ein Künstler verstorben war und die Betrachter das Werk durch ihre Imagination vollenden müssten.38 Was nicht vom Künstler vollendet werden konnte oder bewusst offen gelassen wurde, wird dann doch durch den zweiten Schöpfer weitergeführt, den Betrachter, der den Platz des Ersteren im Schöpfungsakt einnimmt. Die Unvollständigkeit des Artefaktes wird durch die Imagination des Rezipienten (die jeweils unterschiedlich sein kann) vervollständigt.39 Dass ein Kunstwerk bewegt und eine Antwort auf seine Kraft fordert, ist selbstverständlich für die Bildbetrachter, doch dass sie es durch ihre Imagination vervollständigen, setzt dessen Unvollständigkeit oder Mangelhaftigkeit voraus. Daher bleibt fraglich (im Sinne Spinozas), ob sich die Bewertung des Vollendeten für ein Werk überhaupt als fruchtbar erweist. Vielmehr soll die Aufmerksamkeit auf die veränderbare und prozessuale Dynamis der Farbmaterie der Rembrandtisten gerichtet werden. Auch Vasaris Bemerkungen zum non-finito sind in gewisser Hinsicht widersprüchlich. In Bezug auf Tizians Spätstil und angelehnt an das vorige Zitat von Plinius argumentiert er: „[D]iese letzten Werke aber werden, wenngleich man in ihnen auch Gutes sieht […], nicht sehr geschätzt und sind nicht so vollendet wie seine anderen Gemälde.“40 Der Künstler und Biograf ist zwar vorsichtig

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Siehe Philip Sohm: Pittoresco. Marco Boschini, his Critics, and their Critiques of Painterly Brushwork in Seventeenth- and Eighteenth-Century Italy, Cambridge 1991, S. 32. Vgl. Creighton Gilbert: What is expressed in Michelangelo’s non-finito, in: Artibus et Historiae, 24/48 (2003), S. 57. In Gombrichs Diktum vom Anteil des Betrachters oder Kemps Der Betrachter ist im Bild findet sich diese rezeptionsästhetische Herangehensweise wieder. Vgl. Ernst H. Gombrich: Art and Illusion. A Study in the Psychology of Pictorial Representation, New York 1960, S. 181–241, sowie Wolfgang Kemp: Der Betrachter ist im Bild. Kunstwissenschaft und Rezeptionsästhetik, Köln 1985. Wie Sohm herausgestellt hat, beschreibt auch Boschini die aktive Rolle des Betrachters in der „Vollendung des Unvollendeten“: „Boschini’s viewer finds an ‚unfinished‘ image which is only completed in the viewer’s imagination. Hence the painting is a stimulus for the imagination and can be finished only with the active participation of the viewer.“ Sohm: Pittoresco, S. 147. Vgl. Martin Warnke: Chimären der Phantasie, in: Ausst. Kat.: Pegasus und die Künste, hg. v. Claudia Brink/Wilhelm Hornbostel, München 1993, S. 61–69. Warnke hebt die negative Seite der Imagination hervor, die die gegebene Realität nicht wahrnimmt. Vgl. Dario Gamboni: Potential Images. Ambiguity and Indeterminacy, London 2002, S. 17. Giorgio Vasari: Das Leben des Tizian, hg. v. Christina Irlenbusch/Victoria Lorini, Berlin 2005, S. 45. Vgl. Daniela Bohde: Haut, Fleisch und Farbe: Körperlichkeit und Materialität in den Gemälden Tizians, Emsdetten u. a. 2002, S. 27.

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IV. Aspekte des Farbauftrags

mit seinem Urteil („wenngleich man in ihnen auch Gutes sieht“), seine Kritik ist allerdings eindeutig und mitbestimmend für Tizians Rezeption in den Niederlanden. Karel van Mander spricht davon, dass sich „Want d’Ouders wercken en wilden niet ronden“.41 Somit kritisiert der niederländische Vasari implizit das non-finito als eine Alterserscheinung; Boschini hingegen hob dies durchaus positiv hervor. Bezüglich Michelangelos jedoch vertritt Vasari eine vollkommen andere Position: Er preist die unvollendeten Marmorreliefs in dessen Vita als „vorzüglich und bewundernswert“42. Das Florentinische und die Person Michelangelos selbst könnten eine Erklärung für das Wohlwollen Vasaris sein, der auch aus persönlichen Gründen der Toscana und den Medici verbunden war.43 Dem entspricht seine Kritik an den Venezianern und an Tizian. Vasari setzt den Topos von Plinius fort, indem er die Maler kritisiert und die Bildhauer lobt. Auch der Maler und Akademie-Präsident Reynolds äußerte in Bezug auf das Unvollendete eine widersprüchliche Meinung. Einerseits sprach er sich für das Skizzenhafte aus, wenn er bemerkte, dass „the great advantage of this idea of a whole is, that a greater quantity of truth may be said to be contained and expressed in a few lines or touches, than in the most laborious finishing of the parts, where this is not regarded“44. Hier unterstreicht Reynolds, dass eine raue Oberfläche oder schnell angefertigte Skizze einen gewissen Esprit aufweist (eine Meinung, die auch Roger de Piles teilte).45 Andererseits bemerkt der Engländer, der sich malerisch auch der Rembrandt’schen Praxis zugehörig fühlte, dass „the imagination supplies more than the painter himself, probably, could produce; and we accordingly often find that the finished work disappoints the expectation that was raised from the sketch; […]“.46 Auch er spricht der Imagination des Betrachters im Prozess der Formwerdung eine wichtige Bedeutung zu,

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Das Lehrgedicht des Karel van Mander, hg. v. Rudolf Hoecker, Den Haag 1916, S. 276 f.: „[…] die Werke der Alten […] runden [nicht].“ Giorgio Vasari: Das Leben des Michelangelo, hg. v. Caroline Gabbert u. a., Berlin 2009, S. 56. Vgl. Horst Bredekamp: Varianten der Vollendung, in: Michelangelo. Fünf Essays, Berlin 2010, S. 17. Bezüglich dieses Problems in der Skulptur vgl. ders.: Die Skulptur als Grenzstein von Anfang und Ende, in: Peter Brandes/Burkhardt Lindner (Hg.): Finis. Paradoxien des Endens, Würzburg 2009, S. 203–210. Vgl. Martin Warnke: Die erste Seite aus den „Viten“ Giorgio Vasaris. Der politische Gehalt seiner Renaissancevorstellung, in: Kritische Berichte, 6 (1977), S. 5–28. Sir Joshua Reynolds: Discourses on Art, hg. v. Robert R. Wark, New Haven/London 1997, S. 202. Hilmar Frank: Helldunkel. Die Malerei eröffnet einen neuen Wissensraum, in: Carolin Bohlmann/Thomas Fink/Philipp Weiss (Hg.): Lichtgefüge des 17. Jahrhunderts. Rembrandt und Vermeer – Spinoza und Leibniz, München 2008, S. 217 f. Vgl. das zweite Kapitel, S. 84. Reynolds: Discourses on Art, S. 164.

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Das Unvollendete als Prinzip

vor allem im Hinblick auf den Malprozess seines Rivalen: „Now Gainsborough’s portraits were often little more, in regard to finishing, or determining the form of the features, than what generally attends a dead colour; but as he was always attentive to the general effect, or whole together, I have often imagined that this unfinished manner contributed even to that most striking resemblance for which his portraits are so remarkable […] the imagination supplies the rest.“47 Bei Gainsborough spielt die Sichtbarkeit des Grundes in Form der dead colour, der Imprimitur eine zentrale Rolle. Für Rembrandt ist das entsprechende dood verf ein zentrales Element seiner Praxis.48 Die Paradoxie der „toten Farbe“ trägt als Grundierung aktiv zur Prozessualität und somit zur Lebendigkeit des Bildes bei.49 Reynolds vergleicht die Porträtmalerei von Frans Hals (dessen Pinselführung viele Gemeinsamkeiten mit der von Rembrandt aufweist) mit der von van Dyck und stellt fest, dass ein unzureichendes finito eine negative Wirkung erzielt. Er stuft den Haarlemer Maler unter den Wahlengländer aus Antwerpen ein: „[…] if he [Hals] had joined to this most difficult part of the art, a patience in finishing what he had so correctly planned, he might just have claimed the place which van Dijk […] so justly holds as the first of portrait painters.“50 Auffällig ist, dass die Einstellung zum Unvollendeten in der Kunsttheorie wohlwollender wurde, je näher die Moderne rückte. So wurden auch die Werke Rembrandts und der Rembrandtisten seit dem 19. Jahrhundert positiv bewertet.51 Delacroix, Verehrer von Tizian, Rubens und Rembrandt, ging so weit, zu behaupten, dass ein Werk umso verdorbener würde, je vollendeter es

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Christopher Atkins: The Signature Style of Frans Hals. Painting, Subjectivity and the Market in Early Modernity, Amsterdam 2012, S. 61. Vgl. Nicola Suthor: Transparenz der Mittel. Zur Sichtbarkeit der Imprimitur in einigen Werken Rembrandts, in: Gottfried Boehm/Matteo Burioni (Hg.): Der Grund. Das Feld des Sichtbaren, München 2012, S. 225 ff. Vgl. den letzten Abschnitt dieses Kapitels. Atkins: The Signature Style of Frans Hals, S. 209. Es sei hier am Rande bemerkt, dass Hals und van Dyck in der Kunstliteratur in einem konstanten Wettstreit auftreten (vgl. Houbrakens Biografie von Frans Hals) und sie beide, malerisch gesprochen, Elemente voneinander aufgreifen. Vgl. Ausst. Kat.: Frans Hals. Eye to Eye with Rembrandt, Rubens and Titian, hg. v. Anna Tummers/Christopher Atkins/Martin Bijl, Rotterdam 2013. Vgl. Johannes Stückelberger: Rembrandt und die Moderne. Der Dialog mit Rembrandt in der deutschen Kunst um 1900, München 1996. Willem Bürger (Théophile Thoré), der Entdecker Vermeers und Verehrer Courbets, rühmte die unvollendeten Züge des Pinsels von Frans Hals. Siehe Willem Bürger: Salons de Bürger. 1861 à 1868, Paris 1870, S. 414. Vgl. Atkins: The Signature Style of Frans Hals, S. 213. Zu Courbets spielerischer Auseinandersetzung mit dem non-finito: Matthias Krüger: Gespachtelter Zufall. Gustave Courbet und die Messermalerei, in: ders./Philippe Cordez (Hg.): Werkzeuge und Instrumente. Hamburger Forschungen zur Kunstgeschichte VIII, Berlin 2012, S. 109–127.

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IV. Aspekte des Farbauftrags

sei, da seine Frische und Vitalität verloren gingen.52 Ähnlich äußert sich van Gogh über Hals und Rembrandt: „Above all I admired hands by Rembrandt and Hals – hands that lived, but were not finished in the sense that people want to enforce nowadays.“53 Nicht nur für Menzel, der durch seine privaten Ölskizzen dem non-finito als Ideal treu blieb,54 sowie allgemein für die Moderne, sondern auch für die Rembrandtisten darf folgende Feststellung gelten: „Der zur Anschauung gebrachte atmosphärische Moment wird nicht etwa auf Dauer gestellt, vielmehr durch die Form seiner unvollendeten Erscheinung verlebendigt.“55 In ähnlicher Hinsicht wurde bereits 1959 die Ansicht vertreten, dass „im [U]nvoll­ endeten […] der Lebensprozess noch spürbar ist“56 und zugleich die Ma­­­terialität des Objekts sichtbar bleibe. Die Dialektik zwischen Leben und Tod offenbart sich in der fruchtbaren Interaktion zwischen Transparenz und Opazität. Das Gestaltungsprinzip des non-finito zeugt vom Bewusstsein der Rembrandtisten, niemals vollständige Perfektion erreichen zu können, was als Demutsgeste verstanden werden kann. Damit wird die Schöpferrolle relativiert, ohne sie zu leugnen. Der Weg zur Vollständigkeit, der nie bis an sein Ende verfolgt werden kann, ist die Antriebskraft für ein ständiges Suchen und Experimentieren, das Bewegung und Lebendigkeit evoziert.57 Unübertroffen brachte

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Werner Busch: Adolph Menzel. Das Balkonzimmer. Ein Werk aus der Alten Nationalgalerie, Berlin 2002, S. 31. Vincent van Gogh an Theo van Gogh am 13. Oktober 1885. Vgl. Jonathan Bikker: The Jewish Bride, Amsterdam 2013, S. 7. Karin Gludovatz: Fährten legen – Spuren lesen. Die Künstlersignatur als poetische Referenz, München 2011. Siehe Kapitel VI: Die unvollendete Revolution. Adolph Menzels Aufbahrung der gefallenen Märzrevolutionäre in Berlin“. Vgl. Werner Busch: Adolph Menzel. Leben und Werk, München 2004. Das Unvollendete des Bildes wird der unvollendeten Revolution von 1848 gleichgesetzt. Dies erinnert an Gerard de Lairesses Einstufung des Bürgerlichen als unvollendetes Projekt und Teil der modernen Manier. Atkins: The Signature Style of Frans Hals, S. 199. Vgl. Lyckle de Vries: Gerard de Lairesse: The Critical Vocabulary of an Art Theorist, in: Oud Holland, 117/1–2 (2004), S. 95: „[…] lack of diligence […], lack of detail in the objects represented.“ Werner Busch: Alles Unvollständige ist der Zeitlichkeit unterworfen. Der Anteil des Betrachters in der Vervollständigung der Kunst um 1800, in: Thomas Kisser (Hg.): Temporalität und Kunst seit 1800, München 2012, S. 192. Claus Conrad: Das Problem der Vorgestaltung, in: Herbert von Einem (Hg.): Das Unvollendete als künstlerische Form, Bern u. a. 1959, S. 35; Dagobert Frey: Das Fragmentarische als das Wandelbare bei Rembrandt, in: von Einem: Das Unvollendete als künstlerische Form, S. 91–116. Der französische Kritiker Gustave Geffroy brachte dies in Bezug auf Cézanne auf die Formel: „Art always contains an element of unfinished [inachèvement] for the life that it reproduces is in constant transformation.“ Gustave Geffroy: Salon de 1901, in: La vie artistique, Paris 1903, S. 376. Zitiert nach Matthew Simms: Cézanne’s unfinish, in: RES, 36 (1999), S. 227.

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Zufallsspiele

Louis Althusser das in seiner späten Schrift Der Unterstrom des Materialismus der Begegnung auf den Punkt: „Das Denken bewegt sich hier nicht in der Notwendigkeit der vollendeten Tatsache, sondern in der Kontingenz der noch zu vollendenden Tatsache.“58

Zu fa l lsspiele In dem Familienbildnis des namhaften Professors Boerhaave aus Leiden erscheint er in einem Interieur mit seiner Tochter in der Mitte und seiner Frau rechts (Bild 105). Der feste Familienbund wird durch die Verbindung der Hände angezeigt. Schräg hinter Boerhaaves Gattin zeichnet sich eine ferne Landschaft mit einer Stadt ab. Die Figuren setzen sich zusammen aus Farbe und gekratzten Linien. Auf eine anatomische und zeichnerische Korrektheit im Bereich der Hände oder beim Körpervolumen wurde kein besonderer Wert gelegt. Der von Frau und Tochter in den Blick genommene Boerhaave trägt einen üppigen, orange- und gelbfarbenen Japonsche Rock mit aufgesetzten Zickzackkratzern, der den Eindruck von Stofflichkeit vermittelt (Bild 106). Ähnlich verhält es sich mit den Ärmeln des Gewandes, die feinere, weniger auffällige Kratzer aufweisen. Boerhaaves Doppelkinn sowie das rechte Ohr und sein Haar nehmen ebenfalls durch Kratzer Gestalt an, während die bestimmende gelbe Farbe an seinem Hals dick mit den Fingern appliziert wurde. Das Gewand der Tochter hingegen wurde aus teils dick, teils dünn aufgetragener Farbe komponiert und weist ebenfalls zickzackförmige Linien auf, die wie zufällig entstanden anmuten (Bild 107). Hier offenbart sich vor allem die bewusste Willkürlichkeit des Farbauftrages anhand der gelblichen Sonnenmotive auf dem Oberstoff. Die Farbe des weißen, pastos gemalten Bändchens im Haar des Mädchens könnte dem Anschein nach mit den Fingern verteilt worden sein. In der Beschaffenheit des Ohres drängt sich die Farbmaterie als solche auf. Die Perlen, die die Frauen tragen, bestehen aus einzelnen Tupfern weißer Farbe, die erst aus der Ferne als Halskette erscheinen. Die Form des Gewandes der Mutter ist durch Kratzen in die nasse Farbe entstanden (Bild 108). Der Stoff des Umhangs, der von den Schultern der Frau herabfällt (Bild 109), scheint mit dem Spachtel auf der weißen Fläche verteilt worden zu sein. Dort sind die Haupttöne des Gemäldes zu finden: Gelb, Schwarz, Rot und Grün, die zugleich in die Landschaft übergehen, teilweise sogar mit ihr verschwimmen. Die Pinselstriche weisen bisweilen das Zickzackprinzip des Kratzens

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Louis Althusser: Materialismus der Begegnung, hg. v. Marcus Coelen und Felix Ensslin, Zürich 2010, S. 27.

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IV. Aspekte des Farbauftrags

Bild 105  Arent de Gelder: Porträt des Herman Boerhaave und seiner Familie, signiert, um 1722, Öl auf Leinwand, 104,5 × 173 cm, Rijksmuseum, Amsterdam.

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Zufallsspiele

Bilder 106–109  Details aus Bild 105.

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IV. Aspekte des Farbauftrags

Bild 110  Detail aus Bild 195.

auf. Diese Details lassen erkennen, wie sehr sich die Farbe verselbstständigt hat.59 Wie an diesem Beispiel festgestellt wurde, ist die Kratztechnik ein zentrales Merkmal der Kunst de Gelders: „Somwylen smeert hy ook de verf wel, als hy by voorbeeld een franje of borduursel op eenig kleed wil schilderen, met een breet tempermes, op het paneel of doek, en krabt de gedaante van het borduursel, of de draden der franje daar uit met zyn penceelstok, zonderende geene wyzen uit, als zy maar tot zyn oogmerk behulpig zyn; en ’t ist e verwonderen hoe

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Das Bild wird um 1722 datiert und befindet sich im Amsterdamer Rijksmuseum.

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Zufallsspiele

Bild 111  Detail aus Bild 187.

natuurlyk en kragtig zulk doen somwylen zig in afstant vertoont.“60 Diese detaillierte Beschreibung durch Houbraken offenbart den ungewöhnlichen Umgang de Gelders mit der Farbe als sein Markenzeichen. Es handelt sich um eine Nass-in-nass-Technik, bei der der Künstler mit der Griffspitze seines Pinsels, einem Hölzchen, Spachtel oder einem Paletmesser in die nasse Farbe ritzte.

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Houbraken: De Groote Schouburgh der Nederlantsche konstschilders en schilderessen, Band 3, S. 207 f. Übersetzung aus Wurzbach: Arnold Houbraken’s Grosse Schouburgh der niederländischen Maler und Malerinnen, S. 370: „Zuweilen schmiert er auch die Farbe, wenn er z. B. eine Franse oder Bordüre an einem Kleide malen will, mit einem breiten Farbenspatel auf seine Leinwand oder Holz und schabt nun die Zähne der Bordure oder die Fäden der Franse mit seinem Pinselstiel heraus und verwirft kein Mittel, sobald es ihn zum Ziele führen kann; und es ist erstaunlich, wie natürlich und kräftig sich dies zuweilen auf einige Entfernung ausnimmt.“ Diese Technik wird von Houbraken in der Biografie des Künstlers beschrieben. Van de Wetering versteht das Kratzen de Gelders als einen multisensorisch zu erlebenden Vorgang: „Das schabende Geräusch, welches das flache Messer auf der straff gespannten Leinwand verursacht, das rhythmische Kratzen mit dem Pinselstiel muß die Stille […] häufig unterbrochen haben.“ Vgl. Ernst van de Wetering: Das Verhältnis von Stil, Technik und Zufall bei Arent de Gelder – Ein Vergleich mit Rembrandt, in: Auss. Kat.: Arent de Gelder [1645–1727], S. 19. Einige weitere Überlegungen zu diesem Thema finden sich in: Yannis Hadjinicolaou: Malen, Kratzen, Modellieren. Arent de Gelders Farbauftrag zwischen Innovation und Tradition, in: Markus Rath/Jörg Trempler/Iris Wenderholm (Hg.): Das haptische Bild. Körperhafte Bilderfahrung in der Neuzeit, Berlin 2013, S. 227–252.

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IV. Aspekte des Farbauftrags

Dass de Gelder jedes mögliche Werkzeug verwendete, solange es zum gewünschten Maleffekt beitrug, hebt Houbraken auch hervor („er verwirft kein Mittel“). Durch das Entfernen von Farbe machte der Künstler den Bildgrund und dessen Farbigkeit sichtbar. Sein Ziel war es, mit dem Medium Farbe auf unterschiedliche Art und Weise Bewegung, Vibration und Lebendigkeit zu erzeugen. Was aus der Ferne beispielsweise wie ein gedruckter Text aussieht, offenbart sich von Nahem als eine Serie von harschen Kratzern (Bild 111). Möglicherweise meint die Schrift die Anklage gegen Haman, die Esther dem König vorliest (Bild 187). Die gesamte Handlung und Emotion des Moments verdichtet sich im Handeling des seismografischen Kratzens.61 Bei diesem Vorgang geht der Künstler mit Farbe über die bloße Darstellung hinaus. So entstehen ornamentale Gebilde einer Abstraktionsstufe höheren Grades (Bild 110, hier im Ausschnitt das Kopftuch des Simeon). Diese Radikalität der Kratztechnik ist nicht selbstverständlich für die damalige Zeit. Der Vorgang kann als die künstlerische Signatur de Gelders verstanden werden und ist vor allem mit dem Prinzip des Zufalls und dessen Tradition verbunden. Das Akzidentelle spielt dabei insofern eine Rolle, als die Hand bei bestimmten Bewegungen nicht gänzlich kontrollierbar ist. Dieser „kontrollierte Kontrollverlust“ wird vom Künstler bewusst eingesetzt. Durch unterschiedlich ausgeführte Kratzvorgänge werden allmählich Gegenstände geformt beziehungsweise durch das Auge und die Körperbewegung des Betrachters als solche identifiziert, obwohl sie gleichzeitig weder vollendet noch fixiert sind. Das Arbeiten mit dem Zufall erweist sich als ein Wechselspiel von Kontrolle und Freiheit oder von „Kalkulation und Spontanität“.62 Die Kratztechnik ist bei Rembrandt (Bild 112) oder Lievens kompositionell bedingt und dient der scharfen Betonung der Unterzeichnung und der Lichtregie.63 Das Kratzen in dieser etwa bei Jan Breughel dem Jüngeren, aber auch schon viel früher bei Konrad Witz64 anzutreffenden Tradition, die sich sowohl bei Aert van den Neer als auch bei Hals findet, weist auf den schon the-

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Vgl. Kapitel V, S. 290 f. Ernst van de Wetering hat einen fundamentalen Beitrag zum Thema des Zufalls bei de Gelder geliefert und verwies dabei sowohl auf Ähnlichkeiten als auch auf wichtige Unterschiede zu Rembrandt, besonders in der Technik. Van de Wetering: Das Verhältnis von Stil, Technik und Zufall bei Arent de Gelder, S. 21. Ders.: Rembrandt. The Painter at Work, S. 222. Eine de Gelder ähnliche, aber dennoch nicht ins Extreme geführte Radikalität des Kratzens ist beispielsweise bei Rembrandts Jüdischer Braut zu beobachten. Vgl. Nicola Suthor: Bravura. Virtuosität und Mutwilligkeit in der Malerei der Frühen Neuzeit, München 2010, S. 247. Die Technik des Kratzens findet sich bei Konrad Witz in der Darstellung der Wand der Krippe seines Fürbittaltars (um 1445), heute in Basel (Kunstmuseum). Mit Dank an Stefan Trinks für den Hinweis.

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Zufallsspiele

Bild 112  Rembrandt: Selbstbildnis im jungen Alter, um 1628, Öl auf Holz, 22,6 × 18,7 cm, Rijksmuseum, Amsterdam.

matisierten Begriff der Natürlichkeit hin. In van den Neers Landschaft im Rijksmuseum in Amsterdam (Bild 113) werden Zäune, Häuser und Büsche (Bild 114) sowie die Horizontlinie (Bild 115) mit akkurat ausgeführten Kratzern fixiert. Diese Technik weist Gemeinsamkeiten zu de Gelder auf (Vgl. Jacobs Traum, Bild 56). Der Hauptunterschied aber besteht darin, dass de Gelders Kratzspuren von einem selbstagierenden Potenzial bestimmt sind. Auch Christopher Paudiß verwendet die Kratztechnik, allerdings eher, wie bereits gezeigt, im Sinne Rembrandts und Lievens (Bild 60). Drost bedient sich ihrer in einem noch viel beschränkteren Maße als Paudiß oder Barent Fabritius. In höchst detaillierter Art und Weise wird der gestalterische Umgang de Gelders mit den unterschiedlichen Werkzeugen im heute in Hannover befind­

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IV. Aspekte des Farbauftrags

Bild 113  Aert van den Neer: Blick auf den Fluss im Mondschein, um 1655, Öl auf Leinwand, 55 × 103 cm, Rijksmuseum, Amsterdam.

lichen Porträt eines jungen Mannes beschrieben (Bild 116): „Die einem Barett ähnliche Kopfbedeckung mit einem herabhängenden Schleier ist mit einem breiten Spachtel und forschen Zügen in die nasse Farbe ‚geschoben‘. Mit einem noch breiteren Pinsel sind zwei Schatten angedeutet worden. Der Hintergrund hinter dem Barett wurde möglicherweise mit dem Strich eines sehr breiten Messers oder anderen Werkzeugs etwas heller gemacht.“65 Der flüchtige Eindruck einer schnellen und lockeren Ausführung verschwindet, sobald erkannt wird, dass de Gelder mehrmals an dem Bild gearbeitet hat und Lasuren auf der trockenen Farbe hinzufügte, was den plastischen Eindruck verstärkt.66 Das unerschöpfliche Arbeiten am Bild erinnert an die Herangehensweise Tizians (auch El Greco arbeitete an seinen Bildern immer wieder, wie Francisco Pacheco 1649 berichtet),67 die von Marco Boschini, nach dem Bericht Palma Giovanes, eingehend beschrieben wurde.68 Tizian hat in einem langwierigen Prozess immer 65 66 67

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Van de Wetering: Das Verhältnis von Stil, Technik und Zufall bei Arent de Gelder, S. 32. Ebd. Francisco Pacheco: Arte de la pintura, hg. v. Bonaventura Bassegoda i Hugas, Madrid 1990, S. 483: „[…] Dominico Greco traxese sus pinturas muchas veces a la mano, y las retocase una y otra vez, para dexar los colores distintos y desunidos y dar aquellos crueles borrones para afectar valentia […].“ „Nachdem er diese kostbaren Fundamente angelegt hatte, lehnte er die Bilder gegen die Wand und ließ sie dort manchmal für einige Monate, ohne sie anzuschauen; wenn er dann erneut an ihnen Pinselstriche anbringen wollte, prüfte er sie mit solcher Schärfe, als wären sie seine größten Feinde, um in ihnen Fehler ausfindig zu machen. […] So vorgehend und die Figuren immer wieder überarbeitend, reduzierte

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Bilder 114, 115  Details aus Bild 113.

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Bild 116  Arent de Gelder: Porträt eines jungen Mannes, signiert, um 1700, Öl auf Leinwand, 85 × 73 cm, Niedersächsisches Landesmuseum, Hannover.

wieder an ein und demselben Bild gearbeitet, obwohl der eigentliche Malakt schnell vonstatten ging. Dieser Prozess aus Schnelligkeit und Langsamkeit charakterisiert auch die Bildschöpfung eines Rembrandt oder de Gelder. Letzterer

er sie auf das vollkommene Ebenmaß, das die Schönheit von Natur und Kunst zeigen kann; und dann, nachdem er das getan hatte, legte er Hand an das nächste, ehe das erste noch trocken war, und machte dasselbe. Nach und nach überzog er diese wesentlichen Abstrakte, in dem er oftmals über sie ging, mit lebendigem Fleisch, so daß ihnen zum Leben nur der Atem fehlte.“ Marco Boschini: La Carta del navegar pitoresco; ed. critica, con la „Breve istruzione“ premessa alle Ricche minere della pittura Veneziana, hg. v. Anna Pallucchini, Venedig/Rom 1966, S. 711 f. Zitiert nach der Übersetzung Valeska von Rosens: Mimesis und Selbstbezüglichkeit in Werken Tizians. Studien zum venezianischen Malereidiskurs, Emsdetten u. a. 2001, S. 416 f.

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brauchte „wenige Tage oder Stunden für Gemälde“69. Die Temporalität und Prozessualität – oder vielmehr die Sichtbarmachung derselben – ist somit eine zentrale Eigenschaft des Handeling der Rembrandtisten. Das Prinzip der zufälligen Bildgenerierung wird in der Arbeit de Gelders durch die Reduktion der Mittel verstärkt.70 Das erinnert an die Arbeitsweise van Goyens. Baldinucci wunderte sich über das Zusammenspiel von Langsamkeit und Performativität in Rembrandts Malprozess: „And what is almost incomprehensible is how he [Rembrandt] could work so slowly and at such length by throwing paint (far di colpi).“71 Das „Werfen“ der Farbe auf die Leinwand erinnert unmittelbar an eine der Ursprungsgeschichten der Malerei, bei der der Zufall eine große Rolle spielte: Im neunten Kapitel des Grondt behandelt van Mander jenes Problem, mit dem ein Künstler in der Antike konfrontiert war, wenn er das schäumende Maul eines Pferdes (der Überlieferung von Valerius Maximus zufolge) oder Hundes (Protogenes nach Plinius) darzustellen hatte: „Seer verlegen vondt hem eens een bysonder Schilder/ na grooten Valery beschrijven/ Die had een Peert gemaect seer schoon te wonder/ Welck quam uyt den arbeyd/ en als hy onder Ander dingen wouw/tot zijns Consts beclijven/ Maken dat schuym te mondt uyt quame drijven/ Desen constighen werckman heeft al langhen Vergeefschen tijdt en moeyt daer aen gehangen. Zijn constich werck en cond’ hy niet gebrengen Ten Eynde/ noch comen tot zijn vermeten/ Hoe dat hy proefde/ dus met soo gheringhen/ Onweerdighen/ oft ongheachten dinghen Wesende ghequelt/ het heeft hem ghespeten/ En heeft om verderven daer op ghesmeten De sponsy/ daet hy zijn verwen me vaechde/ En de saecke gheviel soo ’t hem behaechde. Want de spattingh der sponsy is ghebleve Aen sijn Peerts mont hangend/ wt quaden spele/ Ghelijck natuerlijck schuym/ dus is becleven Zijn vorneem en werck/ ’t geluck toegeschreven/ En niet zijn Conste/ maer ’t is even vele In summa/ men bevindt met wat een zele En yver sy van oudts/ so sy best mochten/ All’ eyghenschappen uyt te beelden sochten. Te Room oock in de sale Constantini, Daer is dat schuymen uytghebeeldt ten rechten Protogenes, nae ’t ghetuygenis Plinij, Conde niet ghemaken na zijn opiny ’t Schuym aen eenen hont/ en ging om so slechten Ondoenlijck dingen oock zijn werck bevechten Metter sponsy/ghelijck gheseydt is boven/ Doe stond ’t oock so wel/ dat yeder most loven. Want eerst en stonde dit schuym niet natuerlijck/ Seyt Plinius, maer te seer afghescheyden Van ’t oprecht in ’t leven/maer scheen figuerlijck Geschildert met vlijt/ t’welcke by wilde puerlijck Wt den mondt doen vloeyen met veel arbeyden Nealcas deed oock een Ionghen leyden/ Oft houden

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Van de Wetering: Das Verhältnis von Stil, Technik und Zufall bei Arent de Gelder, S. 35. Ebd., S. 25. Sohm: Pittoresco, S. 16.

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IV. Aspekte des Farbauftrags

een Peert/en troetelen mede/ Daer zijn sponsy oock dus mirakel dede. Dus mogen wy ooc/alst past/ op het schuymen Der Peerden letten/ met neerstich volheerden.“72 Die Hauptszene dieser Erzählung zeigt, wie der wütende Wurf des Schwammes, um das Werk zu zerstören, durch Zufall das gewünschte Resultat hervorbrachte: den Schaum.73 Die höchste Natürlichkeit wird durch einen zerstörerisch intendierten Akt erzielt, vom Zufall erzeugt. Van Mander zieht folgenden Schluss: „Hoe een dingen gemaeckt is/ ’t zy met duymen/Met sponsy/ oft anders buyten costuymen/ ’t Is al goet wat wel staet/ ick houdt in weerden.“74 Auch an anderer Stelle bespricht van Mander die Rolle von außergewöhnlichen Praktiken bei der erfolgreichen Ausführung von diversen körperlichen Tätigkeiten, was nochmals an den mit dem Fuß malenden Ketel erinnert: „Het zyn doch eenighe, die om hun behendicheydt te toonen, wel derghelijcke onghewoon dingen bestaen en doen: Eenighe schieten met ’t Roer op den rugghe, oft verkeert,

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Das Lehrgedicht des Karel van Mander, S. 224–229: „Sehr verlegen war einst ein grosser Maler nach der Überlieferung des Valerius Maximus, als er ein wunderschönes Pferd gemacht hatte, das von der Arbeit kam, und er ihm unter anderen Dingen zur Förderung der Kunst auch den Schaum, der aus dem Mund hervortrat, malen wollte, um den mühte sich dieser geschickte Künstler eine lange Zeit vergeblich. Sein kunstvolles Werk konnte er nicht vollenden und sein Vorhaben nicht ausführen, solange er auch probierte. Und wie er so mit geringen und wenig beachteten Dingen gequält wurde, hat er es verflucht, und hat den Schwamm, womit er seine Farben abwusch, darauf geworfen, um es zu verderben, und da kam die Sache so heraus, dass es ihm gefiel. Denn die Spritzflecken des Schwammes waren am Maul seines Pferdes hängen geblieben, wie natürlicher Schaum. Aus schlechtem Spiel ist seine Arbeit hervorgewachsen, und ist dem Glück zuzuschreiben und nicht seiner Kunst, aber das geschieht eben vielfach. In Summa, man sieht, mit welchem Drang und Eifer die Alten aufs Beste alle Besonderheiten der Kunst darzustellen suchten. Zu Rom im Konstantinsale ist der Pferdeschaum auf rechte Art dargestellt. Protogenes konnte nach Plinius’ Zeugnis den Schaum eines Hundes, wie er meinte, nicht machen und ging wegen dieser schlechten, untunlichen Sache auch daran, sein Werk mit dem Schwamme zu vernichten, wie oben gesagt ist. Dies wurde dann auch so schön, dass es jeder loben musste. Zuerst war dieser Schaum nicht natürlich, sagt Plinius, zu sehr entfernt von der richtigen, natürlichen Art, aber es schien anschaulich und mit Fleiss gemalt und wiedergegeben, was er sauber und mit viel Arbeit aus dem Maule fliessen liess. Nealkes machte auch einen Knaben, der ein Pferd führte oder hielt und zugleich liebkoste; hier tat auch sein Schwamm das gleiche Wunder. So mögen wir auch auf den Schaum der Pferde, wenn es so kommt, mit ernster Ausdauer Acht haben.“ Ebd., S. 226 f. Ebd., S. 228 f.: „Ich schätze jedes Ding, wie es auch gemacht ist, sei es mit dem Daumen, mit dem Schwamm oder anderm Aussergewöhnlichen, denn es ist alles gut, was angemessen ist.“

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Zufallsspiele

Bild 117  Arent de Gelder: Herman Boerhaave, signiert, um 1722, Öl auf Leinwand, 79 × 63 cm, Koninklijk Kabinet van Schilderijen Mauritshuis, Den Haag.

en raken daer sy op micken. Ick laet staen, dat eenighe loopen op touwen, daer de aerde nochtans bequamer toe is.“75 Für van Mander ist der Zufall, aber auch das Malen mit den Fingern nicht negativ konnotiert, beides wird jedoch als außergewöhnliche Praxis eingestuft.76 Das Malen mit dem Daumen erinnert an eine Erzählung Houbrakens, nach der de Gelder nicht nur mit der Rückseite des Pinsels (beim Kratzen), sondern auch mit den Fingern gemalt haben soll. Tatsächlich sind bei etlichen Bil75

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Karel van Mander: Das Leben der niederländischen und deutschen Maler, hg. v. Hans Floerke, Band 2, München/Leipzig 1906, S. 196 f.: „Gibt es doch gar manche, die um ihre Geschicklichkeit zu zeigen, dergleich ungewöhnliche Dinge ausführen. Einige schiessen z. B. indem sie das Gewehr auf dem Rücken anlegen oder umgekehrt halten, und treffen das, worauf sie zielen, ganz abgesehen von Jenen, die auf dem Seil laufen, wo sich doch die Erde besser dazu eignet.“ Vgl. Suthor: Bravura, S. 245. Das Lehrgedicht des Karel van Mander, S. 194. Van Mander geht noch viel weiter, wenn er die Gewohnheit Ketels mit der „Lust schwangerer Frauen, seltsame, rohe oder ungekochte Dinge zu verzehren“, vergleicht. Inwiefern das Rohe, Unbehandelte, abgesehen von einer gewissen Kritik zwischen fein und rau, ebenfalls die Frage des Spontanen, Unbearbeiteten beinhaltet, bleibt offen.

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IV. Aspekte des Farbauftrags

Bild 118  Detail aus Bild 117.

dern Fingerabdrücke zu finden, zum Beispiel im Porträt Boerhaaves in Den Haag (Bild 117 und Bild 118).77 Die Deixis Boerhaaves verschmilzt mit der künstlerischen Deixis de Gelders. Es ist van Manders Urteil zu verdanken, dass der seinerzeit als niedere Kunst verstandene Beruf des Pferdemalers aufgewertet wurde: „Maer wat grooter vlijt men voormaels wel Peerden Te schilderen dede/ canmen versinnen/ 77

Das Manuskript von Carol Pottasch über den Restaurierungsprozess des Porträts Boerhaaves lässt annehmen, dass diese Partien mit den Fingern gestaltet wurden. Ich danke Carol Pottasch herzlich, dass sie mir ihr Manuskript zur Verfügung gestellt und Zugang zum Bild in der Restaurierungswerkstatt des Mauritshauses verschafft hat.

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Zufallsspiele

Nadiender oock prijs mede was te winnen.“78 Die außergewöhnliche Technik der Darstellung wird dem nebensächlichen, ja niederen Thema gegenübergestellt. Hervorgehoben wird des Weiteren, dass das Malen innerhalb einer solchen Gattung dem Künstler in der Antike zu Preisgeldern verhalf. Um sowohl die Ausführungen der Kunsttheoretiker als auch die Praxis de Gelders nachzuvollziehen, ist eine kurze Vorgeschichte des Zufallsprinzips notwendig. Seit der Antike ist der Begriff des Zufalls Gegenstand philosophischer Erörterung gewesen. Plinius überliefert im 35. Buch seiner Naturalis Historia die Anekdote mit der Darstellung des Schaums des Pferdes durch Protogenes und Nealk­­­es, die dann in der gesamten Kunsttheorie rezipiert und aktualisiert wurde.79 Spannend an der Anekdote von Plinius ist seine Beschreibung der Aktivität der Farben. Diese sollen den aus dem Körper des Pferdes herausspringenden Schaum am natürlichsten wiedergeben, sodass sich Körper/Saft und Farbe analog zueinander verhalten.80 Das Schäumen und das Fließen von Farbe im Sinne einer Verflüssigung und gleichzeitigen Stillstellung von Materie sind vergleichbare Prozesse.

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Das Lehrgedicht des Karel van Mander, S. 228 f.: „Aber was für grossen Fleiss man vor Zeiten auf Pferdemalen anwendete, kann man daraus erkennen, dass man damit auch Preise gewinnen konnte.“ Plinius d. Ä: Über die Altgriechische Malerei, 35. Buch der Naturgeschichte, hg. v. Alekos Levidis, Athen 1994, S. 92 ff.: „Displicebat autem ars ipsa: nec minuit poterat et videbatur nimia ac longius a veritate discedere, spumaque pingi, non ex ore nasci. Anxio animi cruciatu, cum in pictura verum esse, non verisimile vellet, absterserat saepius mutaveratque penicillum, nullo modo sibi adprobans. Postremo iratus arati, quod intellegeretur, spongeam inpegit inviso loco tabulae. Et illa reposuit ablatos colores qualiter cura optaverat, fecitque in picture fortuna naturam. Hoc exemplo eius similis et Nealcen successus spumae equi similiter spongea inpacta secutus dicitur, cum pingeret poppyzonta retinentem eum. Ita Protogenes monstravit et fortunam.“ Genau dies äußert sich in einer späteren Erzählung des Dion Chrisostomos, der die gleiche Anekdote dem Apelles zuschreibt. Nun aber mit dem entscheidenden und für diesen Zusammenhang besonderen Unterschied, dass „έλειπε μόνο το χρώμα του αφρού, εκείνο που προκύπτει από τη συνεχή μίξη αίματος και σάλιου όταν αποβάλλονται με την εκπνοή τα υγρά του σώματος […] και επειδή το σφουγγάρι είχε πάνω πολλά χρώματα που έμοιαζαν όλα μαζί σαν αφρός ματωμένος, ταίριαξε στη ζωγραφιά το χρώμα“. In der freien deutschen Übersetzung heißt es: „Nur die Farbe des Schaums fehlte, diese, die sich aus der ständigen Mischung von Blut und Speichel ergibt, wenn während des Ausatmens Körperflüssigkeiten ausgesondert werden […] und weil der Schwamm viele Farben darauf hatte, die alle zusammen dem blutigen Schaum ähnelten, hat sich die Farbe der Malerei angepasst.“ Chrisostomos zufolge vollendet der Zufall, was die Kunst nicht realisieren kann. Vgl. Plinius d. Ä: Über die Altgriechische Malerei, S. 385.

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IV. Aspekte des Farbauftrags

Aristoteles’ berühmtes Diktum „Die Kunst liebt den Zufall und der Zufall die Kunst“ sei hier erwähnt, um die Wichtigkeit des Konzepts in der Antike zu unterstreichen.81 In der Renaissance spielte der Zufall ebenfalls eine zentrale Rolle.82 So nimmt zum Beispiel Alberti in De Statua eine Aktualisierung des Problems vor: „Man nahm wohl zufällig einst an einem Baumstrunk oder an einem Erdklumpen oder sonst an irgendwelchen derartigen leblosen Körpern gewisse Umrisse wahr, die – schon bei ganz geringer Veränderung – etwas andeuteten, was einer tatsächlichen Erscheinung in der Natur überaus ähnlich sah. Dies nun bemerkte man und hielt es fest, und man begann sorgfältig zu erkunden und zu erproben, ob es möglich sei, an dem betreffenden Gegenstand etwas hinzuzufügen oder wegzunehmen und schließlich alles das beizubringen, was zur Erfassung und zur Wiedergabe der wahren Gestalt des Bildes noch zu fehlen schien. Indem man also, soweit der Gegenstand selbst dazu riet, seine Umrisse und die Oberfläche ausbesserte und glättete, gelangte man zum erstrebten Ziel, nicht ohne dabei Lust zu empfinden.“83 Dieses Verfahren erfordert die Imaginationskraft des Betrachters, dank derer er abstrakte Formationen in Naturdingen erkennt und anthropomorphisiert, um schließlich durch Hinzufügen oder Wegnehmen von Material (die Schrift richtet sich explizit an die Bildhauer) das erwünschte Resultat zu erzielen.84 Das Alberti’sche Diktum ist nicht nur für die Skulptur gültig, sondern auch für die Malerei. Dafür spricht eine Passage aus De Pictura, die an die vorangehende anschließt: „Schließlich ist mit Händen zu greifen, dass sogar die Natur selbst ein Vergnügen daran findet, sich als Malerin zu betätigen. So stellen wir fest, wie sie häufig auf Marmorflächen Hippokentauren und bärtige Antlitze von Königen abbildet. Ja, es wird sogar berichtet, dass die Natur selbst auf einer Gemme des Pyrrhus ganz deutlich die neun Musen gemalt habe, erkennbar je an ihren Wahrzeichen.“85

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Vgl. Otto Neumaier: Des Widerspenstigen Zähmung. Über den Zufall in der Kunst, in: Thomas Kamphusmann (Hg.): Anderes als Kunst. Ästhetik und Techniken der Kommunikation, Peter Gendolla zum 60. Geburtstag, München 2010, S. 165, S. 171 u. 175, sowie Samuel Henry Butcher: Aristotle’s Theory of Poetry and Fine Art, New York 1951, S. 180: „[Chance] owes its existence to the uncertainty and variability of matter.“ Die Verzahnung der Variabilität der Materie mit dem Zufall wird im Zitat deutlich. Vgl. Horst W. Janson: The Image Made by Chance in Renaissance Thought, in: Millard Meiss (Hg.): De Artibus Opuscula XL. Essays in Honor of Erwin Panofsky, Band 1, New York 1961, S. 254–266. Leon Battista Alberti: Das Standbild. Die Malkunst. Grundlagen der Malerei, hg. v. Oskar Bätschmann/Christian Schäublin, Darmstadt 2000, S. 142 f. Vgl. hierzu Ernst H. Gombrich: Kunst und Illusion. Zur Psychologie der bildlichen Darstellung, Berlin ²2004, S. 154–161. Alberti: Das Standbild. Die Malkunst, S. 245.

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Zufallsspiele

Das unwillkürliche Wiedererkennen von vertrauten Gegenständen in Naturgebilden wäre als ein erster Schritt des Zufalls zu bezeichnen. Die Imaginationskraft des Künstlers verwandelt solche Gestalten in Bilder. Die Wahrnehmung von Formen in der Natur und die Aktivierung der Imagination ist kein passiver Prozess, sondern eine körperliche Aktion des Organismus (Interaktion mit der Umwelt und der Materie). Der aktive, performative Zufall wird anhand der Protogenes-Anekdote deutlich und ist für die Rembrandtisten von Belang. Durch den Akt des Zerstörens wird zufällig ein körperliches Gebilde hervorgebracht. Was Alberti in De Statua darlegt, überträgt Leonardo in sein Malereitraktat. Er spricht von gegenständlich lesbaren Wandflecken: „[…] look at walls splashed with a number of stains or various stones of mixed colours. If you have to invent some scene, you can see the resemblances to a number of landscapes, adorned in various ways with mountains, rivers, rocks, trees, great plains, valleys and hills. Moreover you can see various battles, and rapid actions of figures, strange expressions on faces, costumes, and an infinite number of things, which you can reduce to good integrated form. This happens thus on walls and varicoloured stones, as in the sound of bells, in whose pealing you can find every name and word you can imagine.“86 Der Künstler kann mithilfe seiner Imagination in Wandflecken (die wie die Farbflecken auf der Leinwand agieren) Figürliches erkennen und dies in gestaltete Form, also in ein Bild (im Sinne eines minimalen menschlichen Zugriffes)87 umsetzen. Die Natur ist eine der Quellen für solche Ideen. Sie beflügelt die Imaginationskraft: „[…] it should not be hard for you to stop sometimes and look into the stains of walls, or the ashes of a fire, or clouds, or mud, or like things, in which, if you consider them well, you will find really marvelous ideas.“88 In der wiederum von Leonardo mitgeteilten Botticelli-Episode wird das erste „hausgemachte Zufallsbild“ benannt:89 „For example, if one does not like

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Leonardo da Vinci: Treatise on Painting, Band 1, hg. v. Amon Philip McMahon, Princeton 1956, S. 50. Vgl. Horst Bredekamp: Albertis simulacrum im Tal, in: Sebastian Egenhofer/Inge Hinterwaldner/Christian Spies (Hg.): Was ist ein Bild? Antworten in Bildern. Gottfried Boehm zum 70. Geburtstag, München 2012, S. 110–112. Ebd., S. 51. Janson: The Image Made by Chance in Renaissance Thought, S. 262. Janson erwägt, dass Leonardo den Impuls zu den Zufallsbildern Botticellis gab. Bätschmann ist der Meinung, dass das Entdecken von Naturbildern zufällig geschieht, im Gegensatz zur These Jansons, der diese Naturbilder Zufallsbilder nennt. Siehe: Alberti: Das Standbild. Die Malkunst, S. 31. Dario Gamboni fragt sich, ob es besser sei, von potenziellen Bildern als von „Chance Images“ (Janson) zu sprechen. Vgl. Gamboni: Potential Images. Siehe weiterhin Hubert Damisch: Theorie der Wolke. Für eine Geschichte der Malerei, Zürich/Berlin 2013, S. 53–60.

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IV. Aspekte des Farbauftrags

landscapes, he esteems it a matter of brief and simple investigation, as when our Botticelli said, that such study was vain, because by merely throwing a sponge full of diverse colours at a wall, it left a stain on that wall, where a fine landscape was seen. It is really true that various inventions are seen in such a stain. […] But although those stains give you inventions they will not teach you to finish any detail. This painter of whom I have spoken makes very dull landscapes.“90 Der Zufall ist demnach der Generator.91 Vor allem ist entscheidend, dass der Künstler Talent und Erkenntnis- sowie Einfühlungsvermögen besitzt (womit Leonardo Botticelli kritisiert), um die Flecken überhaupt wahrnehmen zu können und daraus ein inspiriertes Kunstwerk (im Sinne der Inventio) zu schaffen. Die Fleckenmalerei Tizians kann als Folge eines vom Zufall bestimmten und gleichermaßen bewusst eingesetzten Farbauftrags verstanden werden.92 Folgende Passage des epikureischen Atomisten Lukrez bezeugt das Vorhandensein dieser Theorie des produktiven Zufalls in der Antike. Wie er sagen würde, besteht diese Malerei aus Atomen/Flecken, welche aus dem Chaos heraus eine Form ergeben, die dem Betrachter entgegenkommt: „Denn über letzten Grund will dir von Himmel und Göttern ich zu sprechen beginnen, will zeigen der Dinge Atome, aus denen alles Natur erschafft, vermehret und nähret, in die zugleich sie Natur dann wieder vernichtet und auflöst […], es gibt, was wir der Dingwelt Abbilder heißen, die wie Häutchen, die ganz von der Oberfläche der Dinge los sich gerissen, hierin fliegen und dorthin im Luftraum und uns im Wachen zugleich entgegentretend in Schrecken setzen den Geist und im Schlafe […].“93 Diese Atome formen dem antiken Autor nach in ihrer andauernden 90 91 92

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Leonardo: Treatise on Painting, S. 59. Suthor: Bravura, S. 243. Ein weiteres Beispiel in diesem Zusammenhang stellt die Malerei Tintorettos dar. An ihm kritisiert Vasari allerdings, dass der Zufall die colpi seines Pinsels regiert: „[…] daß man noch die Pinselstriche sieht, die mehr durch Zufall und Ungestüm gemacht erscheinen als von zeichnerischem Entwurf und vom Urteil geleitet“ („che si veggiono i colpi de’ pennegli fatti dal caso e dalla fierezza, più tosto che dal disegno e dal giudizio“). Zitiert nach Weigel: Tintoretto und das Non-finito, S. 233. Vgl. hierzu von Rosen: Mimesis und Selbstbezüglichkeit in Werken Tizians, S. 327. „Nam tibi de summa caeli ratione deumque disserere incipiam et rerum primordia pandam, unde omnis natura creet res, auctet alatque quove eadem rursum natura perempta resolvat […] esse ea quae rerum simulacra vocamus; quae quasi membranae summo de corpore rerum dereptae volitant ultroque citroque per auras, atque eadem nobis vigilantibus obvia mentes terrificant atque in somnis […].“ Lukrez: De rerum natura. Welt aus Atomen, hg. v. Karl Büchner, Stuttgart ²2008, S. 10 f. u. 256 f. Zur Bildtheorie von Lukrez: Horst Bredekamp: Theorie des Bildakts. Frankfurter Adorno-Vorlesungen 2007, Berlin 2010, S. 319: „Die fliegenden Hüllen von Licht und Farbe schwirren ähnlich wie Geruch, Rauch und Dampf durch den Raum, wobei sie sich berühren und bei Kontakt mit Materie auch verformen können. Dies bewirkt, daß sie ‚verschwommen den Dingen‘ entströmen. Hierin besteht die Diffusität des lebensspendenden sfumato der Malerei.“

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Bewegung, in der Dialektik von Erschaffung und Zerstörung zufällige körperliche Gebilde.94 Sie sind Lukrez zufolge völlig dem Prinzip des Zufalls ausgeliefert; nur dadurch kann überhaupt Freiheit entstehen.95 Die Zufälligkeiten der bildenden Kunst messen sich mit dem Schöpfungsakt sowie der Legende der Veronika. Diese Legende bildet insofern die christliche Version der Schaum-Anekdote, als dort die paradigmatische Substitution von Bild und Körper sichtbar wird, denn das Artefakt besteht aus Farbe, Schmutz und Blut.96 Die Vera Icon ist deshalb von zentraler Bedeutung, weil sie im Körper ihren Ursprung hat. Sie stellt eine Alternative zur Geschichte der Malerei als Schattenriss bei Plinius dar, die nur auf der Linie basiert. Das Acheiropoeiton ist die paradoxe Konstellation eines nicht von Menschenhand geschaffenen Bildes, das zugleich aus körperlichen Partikeln besteht. An dieser Stelle soll nun das Prinzip des Zufalls bei den Rembrandtisten in Verbindung mit van Hoogstraten und seiner kunsttheoretischen Fundierung näher erläutert werden. Das bereits beschriebene Familienbildnis Boerhaaves von de Gelder weist einen direkten Bezug zu dem Theoretiker auf (Bild 105). Im Fokus steht zunächst die sich seitlich von der Frau erstreckende Landschaft, die aus Kratzern und Farbe besteht (Bilder 85 und 119). Darunter ist eine Kirche zu sehen, die an die Dordrechter Oude Kerk denken lässt. Das Bild erinnert an den erwähnten Wettstreit zwischen den Künstlern François Knipbergen, Jan van Goyen und Jan Porcellis.97 Die bereits zitierte Passage

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Vgl. Stephen Greenblatt: The Swerve. How the World became Modern, New York 2011, S. 5. Ebd., S. 188 f. Grundlegend zum Veronika-Mandylion: Gerhard Wolf: The Origins of Painting, in: RES, 36 (1999), S. 62 f.; Dario Gamboni: Acheiropoiesis, Autopoiesis und potentielle Bilder im 19. Jahrhundert, in: Friedrich Weltzien (Hg.): Von selbst. Autopoietische Verfahren in der Ästhetik des 19. Jahrhunderts, Berlin 2006, S. 63 ff.; Bredekamp: Theorie des Bildakts, S. 173–178. Van Hoogstraten: Inleyding tot de hooge schoole der Schilderkonst, S. 237 ff. Vgl. van de Wetering: Rembrandt. The Painter at Work, S. 81–87; Miriam Volmert: Memorie, gedachtenis, geheugen. Kunsttheoretische, historiographische und künstlerische „memoria“-Konzepte in den Niederlanden der Frühen Neuzeit, in: Claudia Fritzsche/Karin Leonhard/Gregor J. M. Weber (Hg.): Ad Fontes! Niederländische Kunst des 17. Jahrhunderts in Quellen, Petersberg 2013, S. 160 f. Zu Jan van Goyens Landschaften vgl. Ausst. Kat.: Jan Van Goyen, hg. v. Christiaan Vogelaar/Edwin Buijsen, Zwolle 1996, S. 12. Schon van Mander berichtet, wie solche Wettbewerbe eigentlich mit Schnelligkeit zu tun haben, was wie eine Allusion auf van Goyens Praxis innerhalb der Auseinandersetzung mit den anderen zwei Malern wirkt. Vgl. Atkins: The Signature Style of Frans Hals, S. 118. Die weiteren Bezüge zum Wettstreit, die für das Handeling von Bedeutung sind, wurden bereits in Kapitel II und III erwähnt und werden auch im letzten Kapitel angesprochen, sodass der Erzählung van Hoogstratens eine Schlüsselrolle zum Verständnis der Bildpraxis der Rembrandtisten zukommt.

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IV. Aspekte des Farbauftrags

Bild 119  Detail aus Bild 105.

van Hoogstratens könnte auch für die Landschaft im Familienbildnis Boerhaaves gelten, die in der Machart und Farbigkeit an Landschaften von Rembrandt sowie van Goyen erinnert (Bild 120 und Bild 121); wobei der Erste das Konzept des Zweiten aufnahm.98 Aus dem Chaos der Farben und Kratzer entsteht das Bild einer Stadt und ihrer landschaftlichen Umgebung (Bild 122). Die Beschreibung van Hoogstratens fällt entsprechend aus: „[…] en in ’t kort zijn oog, als op het uitzien van gedaentens, die in een Chaos van verwen verborgen laegen, afgerecht, stierde zijn hand en verstandt op een vaerdige wijs, zoo datmen een volmaekte Schildery zag, eermen recht merken kon, wat hy voor hadt.“99 In vergleichbarer Weise kommentierte Boschini das Farbchaos in Bassanos Bildern, die ihm aus der Nähe wie ein Wirrwarr erschienen und sich erst aus einem gewissen Abstand heraus zu einem einheitlichen Ganzen zusammenfügten.100 Van Hoogstraten bezieht sich auf jene schon bei van Mander erzählte Episode mit dem Schwamm des Protogenes aus der Antike: „[…] daer verliest   98

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Vgl. hierzu Mark Roskill: The Languages of Landscape, Philadelphia 1997, S. 78. Ausst. Kat.: Rembrandt’s Landscapes, hg. v. Christian Vogelaar/Gregor J. M. Weber, Zwolle 2006, S. 47–53. Es handelt sich um die bereits im Kapitel II (S. 79) zitierte Stelle, die in diesem Zusammenhang eine andere Bedeutung bekommt. Van Hoogstraten: Inleyding tot de hooge schoole der Schilderkonst, S. 237 f. Vgl. Weststeijn: The Visible World, S. 251: „[…] and in short his eye, trained to see forms that were concealed in a chaos of paint, directed his hand and understanding so skillfully that one saw a complete painting before one could rightly perceive what he had in mind.“ „Un Caos […] de colori indistinti e miscugli di confusione.“ Boschini: La Carta del navegar pitoresco, S. 725. Zitiert nach Weststeijn: The Visible World, S. 238.

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Bild 120  Rembrandt: Gewitterlandschaft, Öl auf Leinwand, um 1637/8, 52 × 71,5 cm, Herzog Anton Ulrich Museum, Braunschweig.

Bild 121  Jan van Goyen: Landschaft mit Sicht auf die Ruine der Kirche von Warmond, um 1645, Öl auf Holz, 40 × 61 cm, Privatsammlung, Den Haag.

Bild 122  Detail aus Bild 105.

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IV. Aspekte des Farbauftrags

den Schilder bynae al wat hy begreepen heeft, eer hy ’t met verwen kann uitdrukken. Protogenes en Neacles vonden zich verleegen, hoe grooten vlijt zy ook aenwenden, in het schuim, d’eerste van een hond, en de tweede van een paert, uit te beelden, ja geraekten in zoo flechten zaek buiten gedult, bewerpende haer werk, als wanhopende, met de sponsiën; en schoon de besmette sponsiën ’t begeerde te weeg brachten, en hun dieren zeer natuerlijk deeden schuimbekken, zoo bleek hier uit, dat hun oordeel fix genoeg, maer hune handt te traeg was. Doch, gelijk Seneka zegt, zoo is dit het eenige, dat den Schilders by geval gebeurt ist, in het uitbeelden van iet natuerlijx.“101 In dieser Passage wird ähnlich wie bei van Mander deutlich, wie sehr die Natürlichkeit als vom Zufall abhängig verstanden wird („dat den Schilders by geval gebeurt ist, in het uitbeelden van iet natuerlijx“). Dem Dordrechter Kunsttheoretiker zufolge basiert die künstlerische Mimesis der Natur auf der Philosophie Senecas: „Een goet konstenaer, zegt Seneka, handelt zijn gereetschap behendich, of met een zonderling gemak. […] Moeilijk gedaen, moeilijk om te zien, zegtmen.“102 Mit der folgenden Äußerung, die in Zusammenhang mit der denkenden Hand und der Tradition des Wandflecks Leonardos steht, geht van Hoogstraten über van Mander hinaus: „[…] of dat het oog in de ruwe schetssen van gevallige voorwerpen eenige vormen uitpikt, gelijk wy aen den haert in het vuer pleegen te doen; of dat de handt, door gewoonte, iets formeert, min noch meer als wanneer wy schrijven; want een goedt schrijver maekt goede letteren, schoon hy ’er niet aen gedenkt, en zijn oog en verstandt schijnen in zijn hand geplaetst te zijn.“103 Van Hoogstraten nimmt

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Van Hoogstraten: Inleyding tot de hooge schoole der Schilderkonst, S. 233. „Dort verliert der Maler fast alles, was er erfaßt hat, ehe er es mit Farben ausdrücken kann. Wie fleissig sie sich auch bemühten, Protogenes und Nealkes gerieten in Verlegenheit, den Schaum darzustellen, der Erste eines Hundes und der Zweite eines Pferdes. Ja, sie verloren in so einer einfachen Sache die Geduld, bearbeiteten wie verzweifelt ihr Werk mit den Schwämmen und, obwohl die schmutzigen Schwämme das Gewollte herbeiführten und ihre Tiere sehr natürlich Schaum vor dem Mund schlugen, so hat sich hier gezeigt daß ihr Urteil fix genug war, ihre Hand aber zu träge. Doch, wie Seneca sagt, war dies das Einzige, was den Malern in der Darstellung von etwas Natürlichem durch Zufall passiert ist.“ Übersetzung von Herman Roodenburg. Ebd., S. 236 f. Zitiert nach der Übersetzung van de Weterings: Towards a Reconstruction of Rembrandt’s Art Theory, S. 119: „A good artist according to Seneca handles his tools dexterously or with singular ease. […] Laboriously done, tiresome to look at, as the saying goes.“ Siehe dasselbe Zitat im Kapitel III (S. 176). Vgl. Van Hoogstraten: Inleyding tot de hooge schoole der Schilderkonst, S. 237. Van de Wetering: Rembrandt. The Painter at Work, S. 85 f.: „Whether the mind acquires the ability to form immediately the desired image; or whether the eye picks out single forms in rough sketches of chance objects, as we do when we sit at the hearth gazing into the fire; or whether the hand makes something by habit, more or less as when we write; for a good

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eine eingehendere Beschreibung des Zufallsprozesses als der Haarlemer Maler und Kunsttheoretiker vor, der seine Aufmerksamkeit eher auf die Überlieferung der Geschichte richtet. Aus dem Chaos entstehen Gebilde, die sowohl an die Fleckenmalerei als auch an die Atomlehre erinnern. Dies kritisierte wiederum Vondel, als er Künstler, die mit dem Zufallsaspekt arbeiteten, mit den Atomisten verglich, womit sich auch eine implizite Kritik an den Rembrandtisten verband. Als Klassizist greift Vondel das Konzept des Zufalls scharf an und versichert sich selbst, dass hinter jedem Chaos Gott stehe.104 Er stellte sich gegen die Auffassung, dass die Welt aus „’t wild geval/ Het t’zamenrunnen der ondeelbre vezelingen/ En stoffe“ bestünde. Er glaubte nicht, dass die „Natuur kann zonder hand en verf geen landschap schilderen./ Wat kan dit wild geval? Niet anders dan verwilderen.“105 Der Cartesianismus und die in Holland vorherrschende mechanistische Philosophie waren dafür verantwortlich, dass der Zufall als Ursprung der Welt ausgeschlossen wurde.106 In diese Kategorie lassen sich Goerees, de Lairesses, oder Vondels feindliche Kommentare gegenüber dem Einsatz des Akzidentellen im künstlerischen Prozess einordnen. Schon Sandrart äußerte sich abschätzig über den Zufall im Hinblick auf dessen Rolle bei der Inventio: „Es glauben etliche/ der Ursprung und Vatter des Zeichnens sey der ungefähre Zufall oder Geraht-wol/ die Ubung oder Erfahrenheit aber nehre und erziehe dieses Kind/ als eine Seugamme oder Lehrmeisterin/ mit Hülfe der Erkantnis. Ich aber vermeine zum Widerspiel/ daß der ungefähre Zufall dieselbe nicht gebohren/ sondern nur darzu Anlaß und Ursach gegeben habe.“107 Nicht der Zufall stelle den Ursprung des Zeichnens dar, sondern die Idea. In Goerees schon erwähnten skeptischen Aussagen über Zufallsprinzipien, wird der Zufall durch die Gratia in den Künsten ersetzt, was bereits durch van Hoogstraten unterstrichen wurde.108 Descartes war gegen den Atomismus

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scribe makes fine letters without thinking about it, as though the mind and the eye were placed in his hand.“ Weststeijn: The Visible World, S. 256 f. Vgl. Joost van den Vondel: Bespiegelingen van Godt en godtsdienst (1662), hg. v. J. J. Zeij, Utrecht (u. a.) 1937, S. 32 f. Zitiert nach der Übersetzung Weststeijns: The Visible World, S. 256: „[…] brute chance/ the coalescing of indivisible particles/ and dust. […] Without hand and paint Nature cannot paint a landscape/ What can this brute chance do? Only brutalize.“ Ob diese Haltung Vondels mit dessen Wendung zum Katholizismus zu erklären ist? Vgl. hierzu Jan A. Emmens: Rembrandt en de regels van de kunst, Gesammelte Werke, Band 2, Amsterdam 1979, S. 168 f. Von Sandrart: Teutsche Akademie 1675, I, S. 60, unter: http://ta.sandrart.net/edition/ text/view/147#tapagehead [22.1.2014]. Dieses Problem bringt Bert van de Roemer auf den Punkt: „As mechanistic natural philosophy tried to deny the existence of chance in nature, writers on art that honoured the classicist principles tried to eliminate chance from the process of

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IV. Aspekte des Farbauftrags

und die ständige und zufällige Bewegung und Begegnung der kleinsten unteilbaren Partikel; für ihn war Gott der einzige Urheber (ähnlich wie für Vondel).109 Im Verflüssigungsprozess wird dagegen die Bewegung der Farbe durch das Handeling und den Zufall hervorgebracht.110 Die Idee der Unvollkommenheit des Zufalls und damit der Unvollkommenheit jener Bilder, die mit Hilfe der Fortuna geschaffen wurden, wird schon in der Antike in Ciceros De Divinatione verteidigt: „Farben, die gedankenlos auf ein Brett gespritzt werden, ergeben vielleicht die Umrisse eines Gesichts. Kann deshalb aber, nach deiner Ansicht, auch die Schönheit der Venus von Kos sich aus glückhaftem Aufspritzen ergeben? […] Karneades pflegte folgendes erdachte Beispiel zu nennen: In den Steinbrüchen der Chier sei, nach der Spaltung eines Felsens, das Haupt eines kleinen Pan zum Vorschein gekommen. Einverstanden, ein Bild von einer gewissen Ähnlichkeit, aber bestimmt nicht von der Art, daß man es als Werk des Skopas hätte bezeichnen können. Denn in der Tat, die Dinge verhalten sich so, daß der Zufall die wesenhafte Notwendigkeit niemals vollkommen einholt.“111 Hier überlagern sich die Rolle des Unvollendeten und der bewusste Einsatz des Zufalls.

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painting.“ Vgl. Bert van de Roemer: Regulating the Arts. Willem Goeree versus Samuel van Hoogstraten, in: Nederlands Kunsthistorisch Jaarboek, 61 (2011), S. 200 ff. Vgl. hierzu Karin Leonhard: Welt im Fluss. Energieübertragungsmodelle des 17.  Jahrhunderts, in: Bohlmann/Fink/Weiss (Hg.): Lichtgefüge des 17. Jahrhunderts, S. 42 u. 47. Dies ist ein zum clinamen analoger Prozess: „Das clinamen ist die ‚kleinstmögliche‘ infinitesimale Abweichung […]. Sie führt dazu, dass ein Atom von seinem senkrechten Sturz in die Leere ‚abweicht‘, den Parallelismus an einem Punkt kaum merklich unterbricht, dadurch eine Begegnung mit dem Nachbaratom bewirkt, dann eine von Begegnung zu Begegnung fortschreitende Karambolage und somit die Geburt einer Welt, d. h. eines Atomaggregats, das durch die erste Abweichung und Begegnung in einer Kettenreaktion erzeugt wurde.“ (Althusser: Materialismus der Begegnung, S. 22 f.) Vgl. Leonhard: Welt im Fluss, S. 51. Zum Begriff clinamen zuletzt: Greenblatt: The Swerve, hier S. 188 f. Vgl. weiterhin: Horst Bredekamp: Leibniz und die Revolution der Gartenkunst – Herrenhausen, Versailles und die Philosophie der Blätter, Berlin 2012, S. 88. Zitiert nach Ausst. Kat.: Francis Bacon und die Bildtradition, hg. v. Wilfried Seipel/ Barbara Steffen, Mailand 2003, S. 40. Vgl. Marcus Tullius Cicero: Über die Wahrsagung. De Divinatione, hg. v. Christoph Schäublin, München/Zürich 1991, S. 31. Der lateinische Text (S. 30) lautet: „[…] adspersa temere pigmenta in tabula oris liniamenta efficere possunt; num etiam Veneris Coae pulchritudinem effici posse adspersione fortuita putas? […] fingebat Carneades in Chiorum lapicidinis saxo diffisso caput exstitisse Panisci; credo, aliquam non dissimilem figuram, sed certe non talem, ut eam factam a Scopa diceres. sic enim se profecto res habet, ut numquam perfecte veritatem casus imitetur.“

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Dass sich de Lairesse allem Anschein nach gar nicht erst über das Zufallsprinzip geäußert hat, ist nicht überraschend angesichts seiner klassizistischen Gesinnung. Die Arbeitsweise der Rembrandtisten, die de Lairesse zufolge die Details von Objekten nur unvollständig ausführten,112 und die daraus resultierende pulsierende Aktivität der Farbe113 empfindet der gebürtige Lütticher als gegen die Regeln der Kunst gerichtet.114 Eine wichtige Fortsetzung der Beschäftigung mit dem Zufall im 18. Jahrhundert stellt Alexander Cozens und seine Blot-Spot-Methode dar.115 Diese Methode gibt Anlass zur weiteren Beschäftigung mit der englischen Landschaftsmalerei (vor allem Constable, Turner und Gainsborough) und dem „gelenkten Zufall“.116 Cozens steht sowohl in der Tradition Leonardos (er erwähnt die Wandflecken) als auch in der van Hoogstratens, bei dem das „raue Skizzieren“ ein zentrales Gestaltungsprinzip darstellt: „To blot, is to make varied spots and shapes with ink on paper, producing accidental forms without lines, from which ideas are presented to the mind. This is comfortable to nature: for in nature, forms are not distinguished by lines, but by the shade and colour. To sketch, is to delineate ideas; blotting suggests them.“117 Hier klingt auch die Auseinandersetzung der Rembrandtisten mit der dynamischen Qualität des Flecks und seinen potenziellen Formwerdungen an. Turners Begeisterung für Jacobs Traum von de Gelder kann als Erklärung für die Beschäftigung des Künstlers nicht nur mit der Chiaroscuro-Tradition, sondern auch mit dem Zufall und der Klecksografie dienen.118 Auch Constable,

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Lyckle de Vries: Gerard de Lairesse: The Critical Vocabulary of an Art Theorist, in: Oud Holland, 117/1–2 (2004), S. 95. Ebd., S. 82. De Gelder wendet sich somit gegen den Ratschlag de Lairesses bezüglich der „sound distribution of the colours […] as graces of painting“. Vgl. Kapitel II, S. 119. 1759–1785 hat sich Cozens mit dem Zufallsaspekt befasst. Werner Busch: Das sentimentalische Bild. Die Krise der Kunst im 18. Jahrhundert und die Geburt der Moderne, München 1993, S. 346. Alexander Cozens: A New Method of Assisting the Invention in Drawing Original Compositions of Landscape, London 1785/6, S. 8 f. Zitiert nach Werner Busch: Alexander Cozens blot-Methode. Landschaftserfindung als Naturwissenschaft, in: Heinke Wunderlich (Hg.): Landschaft und Landschaften im achtzehnten Jahrhundert, Heidelberg 1995, S. 209 u. 220; Johannes Stückelberger: Skying. Wolkenmalerei als Übungsfeld einer autopoietischen Ästhetik nach 1800, in: Friedrich Weltzien (Hg.): Von Selbst. Autopoietische Verfahren in der Ästhetik des 19. Jahrhundert, Berlin 2006, S. 117. Siehe Kapitel II, S. 83 f. Vgl. hierzu Ausst. Kat.: Turner – Hugo – Moreau , S. 125 ff.: „Eines Tages, vielleicht um das Jahr 1807, soll Turner drei Kinder gebeten haben, ihre Finger in rote, blaue und gelbe Aquarellfarbe zu tauchen und sie dann auf einem Blatt zu bewegen. Aus den so entstandenen Flecken malte er eine Landschaft. Diese seit 1879 nachweisba-

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IV. Aspekte des Farbauftrags

den Antipoden Turners,119 beschäftigte das Bild. Er übersetzte es in ausschließlich helle und dunkle Flächen, also Tonalitäten einer Zeichnung, als wolle er die Formsuche des Künstlers aus dem Amorphen, Chaotischen und Zufälligen heraus thematisieren, wie van Hoogstraten es forderte (ruwe schets) und de Gelder es anhand seiner Maltechnik entwickelte (Bild 123). Auch aus der ostasiatischen Kunst sind ähnliche Experimente mit dem Zufall überliefert.120 Der chinesische Künstler Wang legte schon um 840 (im Malereikompendium Chu Ching-hsuans) die Grundlage für einen Cornelis Ketel oder Arent de Gelder, da er beim Malen auch mit den Händen und Füßen operierte und so mithilfe des Zufalls Naturgebilde schuf, die Jackson Pollock als Inspiration dienten.121 Die Farbe und deren Handeling lösten sich seit Tizian, bei Rembrandt, aber auch bei de Gelder, Paudiß und Goya vom Gegenstand und führten durch ihre Eigenständigkeit zur abstrakten Kunst.122 Sie sind in systematischer Hinsicht Vorläufer des abstrakten Expressionismus. Dass es sich um eine asynchrone Tradition mit unterschiedlichen geschichtlichen Ausprägungen handelt, bezeugt auch ein anderer prominenter Vertreter der Moderne, der ebenfalls mit dem Zufall arbeitete und sich dezidiert mit Malern wie Rembrandt oder Velázquez auseinandersetzte, aber zugleich grundsätzlich von der Arbeitsweise Pollocks Abstand nahm: Francis Bacon. „Ich würde es zum Beispiel verabscheuen, wenn meine Gemälde aussähen wie abstrakt-expressionistische Zufallsbilder, da ich hochdisziplinierte Malerei schätze, obschon ich keine hochdisziplinierte Verfahren verwende bei ihrer Herstellung.“123

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re Anekdote trifft einen charakteristischen Kern in Turners Werk: seinen Einsatz zufällig entstandener Flecken.“ (Die Anekdote wird in der Turner-Biografie Philip Gilbert Hamertons erwähnt.) Zur Rivalität beider vgl. Werner Busch: Turner und Constable als künstlerische Antipoden. Zur Topik des Klassischen und des Unklassischen, in: ders.: Das unklassische Bild, S. 190–209. John Constables Wolkenbilder sind Gegenstand der Überlegungen von Cozens zur Autopoiesis und so zu dem Verhältnis des Zufalls zu seiner Blot-Spot-Methode; vgl. hierzu auch Busch: Das sentimentalische Bild, S. 350, in dessen Kontext auch Gainsboroughs Landschaften erwähnt werden. Henri Focillon: The Life of Forms in Art, New York 1989, S. 175–178. Focillon brachte das Beispiel Hokusais. Focillon: The Life of Forms, S. 178 ff.; Bredekamp: Theorie des Bildakts, S. 270. Vgl. Charles Lachman: The Image Made by Chance in China and the West. Ink Wank meets Jackson Pollock’s Mother, in: The Art Bulletin (1992), S. 501. Ausst. Kat.: Turner – Hugo – Moreau, S. 317; Bredekamp: Theorie des Bildakts, S. 267 f. Zitiert nach: Ausst. Kat.: Francis Bacon und die Bildtradition, S. 28. Vgl. David Sylvester: Gespräche mit Francis Bacon, München/New York ²1997, S. 94, sowie auf Englisch: David Sylvester: Interviews with Francis Bacon, New York 1999 [4. Auflage], S. 92: „For instance I would loathe my paintings to look like chancy abstract expressionist paintings, because I really like highly disciplined painting, although I don’t use highly disciplined methods of constructing it.“

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Bild 123  John Constable: Studie nach Arent de Gelders Jakobs Traum, Gallustinte auf Papier, 17,2 × 14,6 cm, ehemals Christie’s, London.

Dass durch den Zufall Lebendigkeit und Natürlichkeit evoziert werden,124 reicht noch nicht für eine vollständige Charakterisierung des Problems aus, wie im folgenden Abschnitt gezeigt wird. 124

Weltzien kommt zu dem Schluss, dass „in der Malerei der Zufall die Naturwahrheit geschaffen“ habe. Friedrich Weltzien: Fleck. Das Bild der Selbsttätigkeit. Justinus Kerner und die Klecksografie als experimentelle Bildpraxis zwischen Ästhetik und Naturwissenschaft, Göttingen 2011, S. 278. In ähnlichem Sinne wird die Rolle des Zufalls in Rembrandts Malerei beurteilt: „[…] he gave increasing room for chance to play a role, presumably on the assumption that this encourages the beholder to see in it a natural, concrete reality.“ Van de Wetering: Towards a Reconstruction of Rembrandt’s Art Theory, S. 140.

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IV. Aspekte des Farbauftrags

Wider spr üc h l ic he L eb end ig keit Das signierte Gemälde Christus wird in das Haus des Hohenpriesters gebracht (Bild 124) von Arent de Gelder, heute im Depot des Rijksmuseums in Amsterdam, stammt aus dem berühmten Passionszyklus, der sich größtenteils in Aschaffenburg befindet. Die Bilderzählung, die sich von rechts nach links vollzieht und Christus nicht mittig, sondern im Profil und nach rechts zum Bildrand gewendet zeigt, ist in ihrer Drastik erstaunlich. Einer der Soldaten, die Christus gefangen nehmen, ist in voller Bewegung und wird nur von hinten gezeigt. Er bleibt teilweise im Schatten; im Bereich der Schulter blitzen helle Lichtreflexe auf,

Bild 124  Arent de Gelder: Christus wird in das Haus des Hohenpriesters gebracht. Passionsfolge, signiert, um 1715, Öl auf Leinwand, 73 × 59 cm, Rijksmuseum, Amsterdam.

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Widersprüchliche Lebendigkeit

während er sich weiter in Richtung der Lichtquelle bewegt. Er führt den Betrachter dorthin, wo Christus am Gewand gezogen von einem Soldaten verschleppt wird. Es ist nicht eindeutig, woher das Licht stammt, da die Lichtquelle verdeckt ist. Fest steht, dass es von links kommt und die bewegte Menschenmenge wie ein Magnet anzuziehen scheint. Als Gegenpol zur Lichtmasse fungiert die kleine Lampe, die von einem Schächer aus der Gruppe gehalten wird und aus der Dunkelheit am rechten Bildrand heraus leuchtet. Der gesamte Bewegungsfluss der Menge richtet sich aus der tiefen Nacht zum gleißenden Licht, das dadurch gleichsam zum Auslöser der Bewegung wird. Ein Mann führt auf lebhafte Weise in die Szene ein; sein rechter ausgestreckter Arm weist in Richtung der Soldaten in die Tiefe – mit dem anderen hält er eine Lanze –, sein rechter Fuß ist so erhoben, dass die Sohle des Schuhs, trotz der Schatten, zu erkennen ist. Der Hund daneben unterstützt in seiner Haltung den Schwung der Bewegung der Menge. Die ausgestreckten Füße der Soldaten, die Jesus flankieren, unterstreichen die Spannung zwischen Ruhe und Bewegung. Der beleuchtete Pfad verbindet den Weg der Menge von einer Lichtquelle zur anderen. Durch die hervorspringenden Farbflecken mutet er wie ein Teppich an und erwirkt die Materialisierung der unterschiedlichen Lichtquellen. Zur

Bild 125  Detail aus Bild 124.

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IV. Aspekte des Farbauftrags

Drastik der Darstellung tragen ebenfalls die Harnische und Gewänder der Soldaten bei: Sie werden aus Farbflecken gebildet, die ein Eigenleben führen. Auch die Gesichter der Männer bestehen teilweise nur aus Macchie, die nochmals das Fließende des Zuges in der beleuchteten Dunkelheit der Nacht unterstreichen. Die zwei Männer hinter Christus heben sich durch rote Punkte aus der Dunkelheit ab. Der Gegensatz zwischen absoluter Dunkelheit und gleißendem Licht verdichtet sich vor allem auf der linken Seite des Bildes. Diese Spannung wird von der nur im scharfen Umriss erscheinenden männlichen Rückenfigur hervorgehoben, die das Geschehen regungslos beobachtet und die Lichtquelle teilweise verdeckt (Bild 125). Abgesehen von ähnlichen Lichtexperimenten Rembrandts erinnert diese Szene stark an Tizian und vor allem an Bassano.125 Auch die Rolle des Houding, die stimmige Verteilung von Licht und Schatten, wird in diesem Zusammenhang angesprochen, wofür de Gelder von Jacob Campo Weyerman gelobt wird: „Een wonderbaare verkiezing van lichten en schaduwen.“126 In Paudiß’ signiertem Stilleben mit zwei Kalbsköpfen und Zwiebel in Dresden wird eine ähnlich vitale Wirkung von Farbe und Licht beobachtet (Bild 126). Hier entsteht allerdings nicht die Drastik des vorigen Bildes. Es handelt sich im wahrsten Sinne des Wortes vielmehr um Totes, um eine Nature morte.127 Die Objekte des Bildes werden wie Trophäen zur Schau gestellt (vor allem die Köpfe der Ochsen, die die Darstellung abgetrennter Köpfe von Géricault vorwegnehmen). Der frontal gezeigte Ochsenkopf fängt das meiste Licht auf (Bild 127). Dies zeigt sich auf dem weißen Fell des Tieres in gemäßigten, aber doch pastosen und reliefhaften Farbstrukturen, die die Kraft und Materialität des Bildes betonen. Am Ohr des Tieres wird peinlich genau jedes einzelne Haar dargestellt, welches sich je aus einem einzelnen Pinselstrich formiert. Im Gemälde eines Feinmalers hingegen hätte die Flächigkeit des Bildes das Sichtbarwerden jedes einzelnen Strichs verwehrt. So wird einerseits eine Darstellung nach dem Leben gezeigt, die in ihrem toten Zustand lebendig wirkt, andererseits aber verstärkt das Licht aufgrund seiner pastosen, klumpigen Farbstruktur die lebendige Wirkung und erinnert gleichzeitig an die artifizielle Natur der Malerei. Dafür spricht auch der Bildraum, der dem Schaukasten einer Kunstkammer ähnelt. In diesem Zusammenhang lässt sich auch die Zwiebelknolle verstehen,

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Den Einfluss Bassanos erwähnt bereits Karl Lilienfeld: Arent de Gelder. Sein Leben und seine Kunst, Den Haag 1914, S. 119. „Eine wunderbare Wahl an Licht und Schatten“. Jacob Campo Weyerman: De levens-beschryvingen der Nederlandsche konst-schilders en konst-schilderessen, Band 3, Den Haag/Dordrecht, 1729–1769, S. 43. Ausst. Kat.: Christopher Paudiß, 1630–1666, S. 219–222.

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die eine enorme Plastizität und Natürlichkeit durch Glanzlichter erhält, dadurch aber als gemalte Zwiebel erkennbar wird, die außerdem schräg im Bildraum platziert ist und somit ein noch stärkeres Bewegungsgefühl vermittelt (Bild 128). Ein weiterer Widerspruch zwischen Leblosigkeit und Lebendigkeit entsteht durch die beiden Ochsenköpfe, von denen der hintere mit der heraushängenden Zunge diffus und unscharf gemalt ist im Gegensatz zum vorderen (Bild 129), der dadurch umso mehr hervorsticht. Das leicht geöffnete Auge (Bild 127), das feucht schimmernde Nasenloch sowie das Maul mit den sichtbaren Zähnen können als Zeichen einer Wiederbelebung des Toten durch die Malerei aufgefasst werden. Das Verhältnis von Schärfe und Unschärfe, Plastizität und Flächigkeit erzeugt eine Spannung, die zur Aktivität des Bildes beiträgt, nicht zuletzt in der Interaktion zwischen ihm und dem Betrachter. Das Tuch, auf dem die Köpfe mit den Knochen platziert sind, wird durch freiere Pinselstriche erkennbar. Bezeichnend ist in dieser Hinsicht auch das Blut auf dem Knochen im Vordergrund, das den Farbauftrag herausstellt und zur Verlebendigung der Darstellung beiträgt. Das Bild erhält durch Machart und Komposition den Charakter einer Vera Icon. Sowohl in den Gemälden de Gelders als auch in denen von Paudiß lässt sich jeweils ein Widerspruch beobachten: Zunächst wird bei beiden Malern – wenn auch auf unterschiedliche Art und Weise – sichtbar, wie die Medialität von Farbe mit der daraus resultierenden Objekthaftigkeit des Bildes einhergeht und zugleich reflektiert wird: das Bild als toter Gegenstand beziehungsweise Artefakt.128 Dennoch wird gerade durch diese Objekthaftigkeit mittels des Farbauftrags Lebendigkeit hervorgerufen. So wird hier der Topos, dass den Dingen erst durch Farbe Leben eingehaucht wird, paradigmatisch erfüllt.129 Im Folgenden wird daher die Rede von einer widersprüchlichen Lebendigkeit sein, die als Motor dieses bestimmten Farbauftrags Rembrandt’scher Prägung dient und als Teil einer seit Tizian wirksamen Tradition verstanden werden kann.130 Dabei spielen die Offenlegung des Arbeitsprozesses (was, wie bereits gesehen, die idealistische Kritik als unvollendet bemängelte) sowie das Akzidentelle eine entscheidende Rolle. Beides trägt zu dem Umstand bei, dass die geradezu betont leblose Materie durch die Farbe eine höchst vitale Wirkung auf den Betrachter hat. Das Bild wirkt belebt im Sinne des Handeling und damit des prozessualen 128 129

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Siehe allgemein: Bredekamp: Theorie des Bildakts. Vgl. auch John Dewey: Art as Experience, New York 2005, S. 208 f. Vgl. Verena Krieger: Die Farbe als „Seele“ der Malerei. Transformationen eines Topos vom 16. Jahrhundert zur Moderne, in: Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft, 33 (2006), S. 91–112. Allgemein zum Begriff Lebendigkeit in der Kunst: Frank Fehrenbach: Lebendigkeit, in: Ulrich Pfisterer (Hg.): Metzler Lexikon Kunstwissenschaft. Ideen, Methoden, Begriffe, Stuttgart 2003, S. 222–227.

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IV. Aspekte des Farbauftrags

Bild 126  Christopher Paudiß: Stilleben mit zwei Kalbsköpfen, signiert, 1658, Öl auf Holz, 71,5 × 55 cm, Staatliche Kunstsammlungen – Gemäldegalerie Alte Meister, Dresden. Bild 127  Detail aus Bild 126.

Farbauftrags. Die durch Kunst evozierte Belebtheit wird als eine Voraussetzung dafür gesehen, dass der Mensch sich und seine Umwelt reflektieren kann.131 Gerade in der Distanz zum Objekt kann die gleichzeitige Nähe zu ihm aufgrund der evozierten Lebendigkeit überhaupt erst reflektiert werden. Das bedeutet, dass das Reale, Organische nicht als getrennt von dem Künstlichen, Anorganischen zu betrachten ist (zumal dort auch organisches Material vorhanden sein kann).132 Den Rembrandtisten liegt der Gedanke einer Illusion von Wirklichkeit fern. Ihnen geht es immer darum, Mittel zu finden, um mit jeglicher Illusion zu brechen. Bilder, die weniger eine bloße Spiegelung der Wirklichkeit darstellen als vielmehr zu deren Erzeugung beitragen, können anhand dieser Herangehensweise ihr aktives Potenzial entfalten. Mit der Farbe werden somit nicht 131

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„In ihrer scheinbaren Lebendigkeit, die immer die Oszillation zwischen tot und lebendig umgreift und kaum jemals die vollständige Illusion ‚magischer‘ Belebung anstrebt, wird Kunst zum Reflexionsmedium eines grundlegenden Problems des menschlichen Selbst- und Weltverhältnisses.“ Frank Fehrenbach: „Eine Zartheit am Horizont unseres Sehvermögens“. Bildwissenschaft und Lebendigkeit, in: Kritische Berichte, 38/3 (2010), S. 34. Vgl. das letzte Kapitel.

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Bilder 128, 129  Details aus Bild 126.

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nur mimetische oder vermeintlich illusionistische Ziele verfolgt, sondern die Farbe geht darüber hinaus, indem sie auf ihre eigene dynamische Qualität hinweist. Damit steht sie aber im Widerspruch zum Gedanken einer bloßen Imitatio.133 Die Diskrepanz zwischen dem Eindruck der Lebendigkeit einer bild­ lichen Darstellung und der gleichzeitigen Wahrnehmung ihrer Objekthaftigkeit wird auch in der Erzählung Giovanni Battista Agucchis über eine Venus Carraccis sichtbar: „Thus if one turns to consider in general the delicacy of all the flesh […] it will certainly seem to him [the spectator], on the one hand, that the dazzling whiteness as well as the highlights appearing at the raised parts of the limbs, when carefully observed, have the solidity of alabaster or ivory; but if on the other hand he considers the ease and softness of the various folds, and the sweetness of the shadows scattered gently in the little valleys that appear here and there, these will certainly bring to mind the tenderness of the freshest cream cheese. And so strongly do both the one and the other deceive the senses of touch and sight […] that, then again, he will long to test what they are by touching them, and then again, on approaching will fear that he might disturb that sweet sleep […].“134 Sowohl Paudiß als auch de Gelder werden in verschiedenen Quellen für die Kraft ihrer Bilder auf eine Weise gepriesen, die stark an die Lebensbeschreibung Rembrandts von Houbraken erinnert, der teils die Worte van Manders übernimmt und dabei Adriaen Pels zitiert: „Van deze meening was ook onze groote meester Rembrant, stellende zig ten grondwet, enkele naarvolging van de natuur, en alles wat daar buiten gedaan wird was by hem verdagt. […] vermoegte zig met het leven te volgen, zoo als het hem voorkwam, zonder eenige keur daar ontrent te maken. […] Ten minsten zyne [natuur], die geen regels, nog

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Vgl. Jodi Cranston: The Muddied Mirror. Materiality and Figuration in Titian’s Later Paintings, University Park Pennsylvania 2010, S. 6. Zitiert nach der englischen Übersetzung aus Joris van Gastel: Il Marmo Spirante. Sculpture and Experience in Seventeenth-Century Rome, Berlin/Leiden 2013, S. 157 f. Vgl. Carlo Cesare Malvasia: Felsina pittrice. Vite dei pittori bolognesi, hg. v. Giovanni Pietro Zanotti, Band 1, Bologna 1841, S. 362 f.: „Quindi rivolgendosi alcuno a considerate in generale la dilicatezza di tutte le carni […] mentre dall’una parte ed il candore, ed i lumi, che spuntano dalle sommità delle membra, in quelle n’osserverà, gli pareranno al sicuro, come sodi alabastri, ed avorii; ma s’egli riguarderà dall’altra la facilità, e morbidezza delle varie piegature, e la soavità dell’ombre, leggiermente sparse per le picciole vallette, che in diversi parti si formano; gli verrà per certo alla mente la tenerezza delle giuncate: e tra l’uno e l’altro ingannatone il senso e la vista, ed istupidito egli dello accoppiamento di si differenti qualità, talora di sperimentare ciò ch’elle sieno in toccandole, averà desiderio; talora nell’avvicinarsele dubiterà di non turbare quell dolce sonno […].“

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geen reden Van evenmatigheid gedoogde in ’s menschen leden.“135 Auch Jan de Bisschop kommt zu einem ähnlichen Schluss, ohne sich dabei direkt auf Rembrandt zu beziehen: „Datmen derhalven het leven most volgen sonder onderscheit en soo gelijck het sich meest en over al vertoonden.“136 Die Natur war Ausgangs- und Endpunkt von Rembrandts Beobachtungen. Die Kritiker übertrugen diese Einsicht auch auf seine allgemeine Lebensweise: „[…] datmen uit het leven, het leven leert kennen.“137 Van Mander unterstreicht außerdem im „Leben Caravaggios“ die Wichtigkeit des „Naar-het-leven“-Prinzips: „Dan zijn segghen is dat alle dinghen niet dan Bagatelli, kinderwerck oft bueselinghen zijn t’zy wat oft van wien gheschildert soo sy niet nae t’leven ghedaen en gheschildert en zijn en datter niet goet oft beter en can wesen dan de Natuere te volghen. Alsoo dat hy niet eenen enckelen treck en doet oft hy en sittet vlack nae t’leven en copieert end’en schildert.“138 An anderer Stelle in Rembrandts Biografie beurteilt Houbraken die Bearbeitung von dessen Zeichungen: „[…] alles staat zoo natuurlyk afgebeeld 135

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Houbraken: De Groote Schouburgh der Nederlantsche konstschilders en schilderessen, Band 1, S. 262 u. 267 f. Vgl. die deutsche Übersetzung von Wurzbach: Arnold Houbraken’s Grosse Schouburgh der niederländischen Maler und Malerinnen, S. 115 f.: „Derselben Meinung war auch unser grosser Meister Rembrant, der den Grundsatz aufstellte, man müsse lediglich der Natur nachfolgen und alles Uebrige war ihm werthlos. […] er begnügte sich, die Natur nachzuahmen, so wie sie ihm erschien, ohne dabei wählerisch zu sein […] das heisst seiner Natur, welche keine Regel und keine Grundsätze von Ebenmass an dem menschlichen Leibe dulden wollte.“ Bei dieser Idee kommt Rembrandt Albrecht Dürer nah. Vgl. van de Wetering: Towards a Reconstruction of Rembrandt’s Art Theory, S. 137. Jan de Bisschop: „Aen …Six“, 1671. Zitiert nach der Übersetzung Eric Jan Sluijters: Rembrandt and the Female Nude, Amsterdam 2006, S. 197 f.: „One must imitate life indiscriminately as it usually and ubiquitously manifests itself.“ Houbraken: De Groote Schouburgh der Nederlantsche konstschilders en schilderessen, Band 1, S. 266. Houbraken nimmt allerdings von diesem Diktum Rembrandts Abstand und offenbart seine kritische Haltung bei gleichzeitiger Anerkennung der Tatsache, dass die Künstler, die nach dem Leben gemalt hätten, die besten gewesen seien (S. 263): „Wy willen graag toestemmen dat naar ’t leven te schilderen nootzakelyk en goed is, maar dat dit niet tot zoo een algemeenen grondregel kan gebragt worden, dat het leven enkel te volgen de eenige weg zoude wezen om volmaakt in de Konst te worden; want dan zoude nootzakelyk moeten volgen, dat de genen die zig meest gewenden naar ’t leven te schilderen de beste meesters in de Konst waren, dat niet algemeen doorgaat, maar in tegendeel ontrent velen onwaar bevonden word.“ Karel van Mander: Het Schilderbock, Haarlem 1604, fol. 191r. Zitiert nach der Übersetzung van de Weterings: Towards a Reconstruction of Rembrandt’s Art Theory, S. 135: „He is in the habit of saying that all things are mere bagatelles, child’s work, trifles, no matter who they are painted by, if they are not painted after the life; and that there is nothing that can rival or surpass following nature; and that he therefore never sets down a single line that is not copied and painted directly after the life.“

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IV. Aspekte des Farbauftrags

dat men uit de pentrekken lezen kann wat elk zeggen will.“139 Dieser Satz verdeutlicht, was schon in den Beschreibungen der Bilder de Gelders und Paudiß’ auffiel: Durch die Reflexion über das Arbeitsinstrument wird die Natürlichkeit beziehungsweise Lebendigkeit gepriesen, die durch dieses hervorgebracht wurde. Dadurch wird die materielle Beschaffenheit des Bildes unterstrichen. Diese Beobachtung wiederholt sich in Verbindung mit den Adjektiven natuurlyk und kragtig in de Gelders Biografie: „[…] en ’t is te verwonderen hoe natuurlyk en kragtig zulk doen somwylen zig in aftstant vertoont.“140 Hier wird auf den Topos von Nähe und Ferne angespielt: Nah bedeutet die absolute Sichtbarkeit des Materials und den gleichzeitigen Tod des Artefakts in den Augen der Kritiker.141 Fern bedeutet hingegen Lebendigkeit. So ist es kein Zufall, dass beinahe derselbe Satz aus der Vita de Gelders auch in der Biografie Rembrandts auftaucht: „Dus zietmen ook gesteente en paerlen, op Borstcieraden en Tulbanden door hem zoo verheven geschildert al even of ze geboetseerd waren, door welke wyze van behandelen zynen stukken, zelf in wyden afstand, kragtig uitkomen.“142 Aus der Entfernung entfalten die Bilder erst die ihnen eigentümliche Kraft, den Betrachter für sich zu vereinnahmen. Eine weitere Parallele im Vokabular findet sich in folgender Bemerkung Houbrakens über ein Porträt Rembrandts: „[…] ’t geen zoo konstig en kragtig uitgewerkt was, dat het kragtigste penceelwerk van van Dyk, en Rubbens daar by niet kon halen, ja het hoofd scheen uit het stuk te steken, en de aanschouwers aan te spreken.“143 Die Eigenschaft der Farbe als Kraft wird nicht nur innerhalb des Rembrandt’schen Werkes erkannt, sondern auch mit Künstlern wie van Dyck und Rubens in Verbindung gebracht, die mit der Farbe als Ausdrucksmittel gearbeitet haben. Jacob Campo Weyerman wiederholt diese Aussage mit Blick auf das Porträt Notemans von de Gelder (Bild 117), ohne dabei einen Vergleich mit den Flamen heranzuziehen: „Dat konterfytsel was gelyk aan het leeven.“144 Dass das Wort kragtig mit dem Farbauftrag im Sinne Rembrandts einhergeht, macht Weyerman in der Biografie Samuel van Hoogstratens deutlich. 139 140

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Houbraken: De Groote Schouburgh der Nederlantsche konstschilders en schilderessen, Band 1, S. 270. Ebd., Band 3, S. 207 f. Vgl. die deutsche Übersetzung von Wurzbach: Arnold Houbraken’s Grosse Schouburgh der niederländischen Maler und Malerinnen, S. 370: „Es ist [verwunderlich], wie natürlich und kräftig ein solches Tun [das Malen im Sinne des Handeling] sich manchmal vom Abstand entfaltet [im Sinne der lebendigen Kraft].“ Vgl. hierzu das Kapitel VI, S. 321 ff. Houbraken: De Groote Schouburgh der Nederlantsche konstschilders en schilderessen, Band 1, S. 269. Ebd. Weyerman: De levens-beschryvingen der Nederlandsche konst-schilders en konstschilderessen, Band 3, S. 43. „Das Porträt war dem Leben gleich“. Übersetzung d. V.

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Widersprüchliche Lebendigkeit

Der erste Lehrer de Gelders verfolgte die „krachtige schilderwijze“ für eine gewisse Zeit, was als Anspielung auf de Gelders Aneignung der Rembrandt’schen Manier aufgefasst wird.145 Das Adjektiv kragtig, das oft mit Rembrandts Kolorit in Verbindung gebracht wird, findet außerdem mehrmals in verschiedenen Auktionen von Werken Arent de Gelders im 17. und 18. Jahrhundert Erwähnung.146 So wird zum Beispiel in einer Auktion in Amsterdam am 14. August 1771 ein Bild de Gelders als „zeer krachtig en fraay geschildert“ beschrieben.147 Christopher Paudiß äußert sich bei seinem Aufenthalt in Dresden (beinahe im Sinne der van Eyck’schen Signatur „als ich can“) in einem Schreiben an den Kurfürsten Johann Georg II. am 6. Februar 1660 über ein Bild, das an das in Dresden befindliche Stillleben erinnert: „[…] jägerey (als einem dem höchlöblichsten churhauße Sachsen fast gancz eigenen, und nirgents so hochgebrachten höchstrühmlichen exercitio) mit sonderbahren doch ungerühmbten fleisse, so gut ich es durch gottes gnade erlernet und zwar alles nach dem leben [Herv. d. V.] kunstmässig verferttigen […].“148 Das Nach-dem-Leben-Malen scheint auch für Paudiß’ Kunst ein zentrales Prinzip im Sinne Rembrandts zu sein. Die Erzeugung von Evidenz ist sein wichtiges Merkmal.149 Van Hoogstraten formulierte in seiner Inleyding einige Ideen, die teilweise mit dem Rembrandt’schen Verständnis der produktiven Rolle der Natur für den Künstler einhergehen. Er fasst dieses Credo folgendermaßen zusammen: „[…] zoo moet een konstoeffenaer zich tot de levende natuur keeren.“150 145 146 147

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Ebd. Siehe Excerpts: Hofstede de Groot Fiches, RKD. „Sehr kräftig und gut gemalt“. Übersetzung d. V. Auktion Amsterdam 14. 8. 1771. In einer französischen Auktion wird bei einem anderen Bild am 1.10.1810 das Wort krachtig als „d’une forte couleur et d’un effet vrais“ [Herv. d. V.] übersetzt. Weitere Beispiele mit Beschreibungen der Bilder de Gelders mit dem Adjektiv krachtig: Am 25.8.1773 heißt es in Amsterdam „zeer krachtig op doek geschildert“; am 25. 4. 1775 wiederum in Amsterdam „krachtig en schoon in de manier van Rembrandt geschildert“; am 7. 10. 1783 in Den Haag hingegen „fraay en krachtig, in de manier van Rembrandt geschildert“; am 30. 8. 1797 „krachtige uitwerking“, am 11.5.1801 in Amsterdam als „krachtig, fix en meesterlyk behandeld“ und ebd. am 30.4.1821 „krachtig en meesterlijk geschildert“. Dresden Hauptstaatsarchiv. Schreiben von Paudiß an den Kurfürsten Johann Georg II. am 6. Februar 1660. Zitiert nach: Ausst. Kat.: Christopher Paudiß, 1630–1666, S. 17. Vgl. hierzu Boudewijn Bakker: Au vif – naar ’t leven – ad vivum. The Medieval Origin of a Humanist Concept, in: Anton W. A. Boschloo (Hg.): Aemulatio. Imitation, Emulation and Invention in Netherlandish Art from 1500–1800. Essays in Honor of Eric Jan Sluijter, Zwolle 2011, S. 37–52; Robert Felfe: Naar het leven. Eine sprachliche Formel zwischen bildgenerierenden Übertragungsvorgängen und ästhetischer Vermittlung, in: Claudia Fritzsche/Karin Leonhard/Gregor J. M. Weber (Hg.): Ad Fontes! Niederländische Kunst des 17. Jahrhunderts in Quellen, Petersberg 2013, S. 165–195. Van Hoogstraten: Inleyding tot de hooge schoole der Schilderkonst, S. 294: „So muss sich ein Künstler zu der lebendigen Natur kehren.“ Übersetzung d. V.

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IV. Aspekte des Farbauftrags

Die lebendige Natur (natura naturans) muss immer der Bezugspunkt des Künstlers sein: Ein Gedanke, der Leonardo nahesteht und der auch als Fortsetzung einer aristotelisch-scholastischen Tradition angesehen werden kann.151 Vergleichbares behauptete, abgesehen von van Mander im Grondt (das Leben selbst sei das Vorbild des Malers),152 auch Annibale Carracci. Im Gegensatz zu Vasari forderte Annibale den Maler auf, nach den wirklichen Dingen in der Natur zu suchen.153 Dementsprechend sollte dieser auch beim Farbauftrag agieren, so van Hoogstraten: „[…] en in ’t breeken der verwen, in ’t koloreeren, de natuer zien nae te komen.“154 Diese Meinung vertrat er im Hinblick auf die Malerei Tizians, Giorgiones und Caravaggios, ohne Rembrandt explizit zu nennen. Trotzdem wird die Tradition, in der sich sein Lehrer bewegte, nachgezeichnet.155 Dass die Werke jener Künstler, deren Kompositionen auf Skizzen basieren, unnatürlich wirken, da sich dem Kolorieren nicht ausreichend gewidmet wurde, kommentierte van Hoogstraten ebenfalls: „[…] waer over veele als wanhoopende zich alleen een wijze van koloreeren gewenden, om haere Teykeningen in Schildery te brengen; zonder op eenige natuerlijkheden te letten, als of de kolorijt hun niet aenginge.“156 Im Abschnitt über die Rolle der Zeichnung wird deutlich, dass fehlende Kunstfertigkeit für van Hoogstraten einen Mangel darstellte und dass sich die jungen Künstler seiner Meinung nach dem Zeichnen eingehend widmen sollten,157 auch wenn er die Venezianer für ihr gutes und

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Zum Verhältnis Leonardo – van Hoogstraten hinsichtlich der Frage Natur – Kunst siehe Weststeijn: „This Art Embraces All Visible Things in its Domain“, S. 420–423. Das Lehrgedicht des Karel van Mander, S. 280: „in ’t leven ’T patron“. Henry Keazor (Hg.): Distruggere la Maniera? Die Carracci Postille, Freiburg im Breisgau 2002, S. 13; Sluijter: Rembrandt and the Female Nude, S. 203. Van Hoogstraten: Inleyding tot de hooge schoole der Schilderkonst, S. 226: „Und in dem Brechen der Farben, im Kolorieren [soll der Künstler] die Natur annähern.“ Wie van de Wetering anschaulich beschreibt, ist eine solche Idee von zentraler Bedeutung für Sandrart: „as Sandrart explained, naturalness could only be achieved through the use of broken colours – for otherwise the colours (of the costumes) in paintings look more like the ‚boxes of pigments in the shop or strips of textile from the cloth-dyers‘.“ Van de Wetering: Towards a Reconstruction of Rembrandt’s Art Theory, S. 110. Van Hoogstraten: Inleyding tot de hooge schoole der Schilderkonst, S. 225. Van de Wetering: Towards a Reconstruction of Rembrandt’s Art Theory, S. 110: „[…] over which many, in despair [over whether they would ever succeed in achieving natural colours] merely accustomed themselves to a way of colouring in order to carry their drawings through into paintings; without paying heed to any naturalness at all, as though the use of color [kolorijt] did not matter.“ Van Hoogstraten: Inleyding tot de hooge schoole der Schilderkonst, S. 36: „Want als den roemtuchtigen Titiaen tot Romen in ’t Belvideer gekomen was, vertoonde hy aen Michel Agnolo een naekte Danae van zijn konst, welke Agnolo tegens Vasary, dieze met hem gezien hadde, ten aenzien van ’t koloreeren en schilderen zeer prees; maer hy zeyde, dat het schade was, dat de Veneetsche Schilders, in hun begin,

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Widersprüchliche Lebendigkeit

natürliches Kolorit lobte.158 Dass es sich hierbei um eine idealistische Theorie handelt, wird dadurch klar, dass er dem jungen Künstler zwar eingangs empfiehlt, die Dinge wiederzugeben, wie sie sind (im Sinne einer produktiven Mimesis), ihm gleichzeitig aber rät, mit der Zeit das Schönste daraus Kraft seines eigenen Urteils zu extrahieren.159 In einem bekannten Dialog zwischen Carel Fabritius und van Hoogstraten, die beide in den 1640er Jahren bei Rembrandt waren, fragt Fabritius seinen Mitstreiter: „Welk zijn de gewisse kenteykenen, en vruchten van den geest in een jong leerling, om een goet Schilder uit te verhoopen? […] Dat hy niet alleen het doode lichaem der konst beooge, dat is trant te volgen, en te doen als andre, maer dat hy op de ziele der konst als verslingert is: dat is, de natuur in hare eigenschappen te onderzoeken.“160 Der wahre Geist liegt demnach im Erforschen der Natur in ihrer ganzen Fülle. Hier drückt sich eine künstlerische Haltung aus, die die Rembrandtisten bei ihrem Meister gelernt haben. Mit seiner berühmten Metapher, dass alle anderen Werke der Doelen in Amsterdam neben der Nachtwache Rembrandts wie Spielkarten nebeneinanderstünden, beschrieb van Hoogstraten das Gemälde seines Lehrers ebenfalls mit Adjektiven, die das Lebendige charakterisieren, wie das schon erwähnte kragtig, aber auch als zwierich van sprong und schilderachtig: „[…] zijnde zoo schilderachtich van gedachten, zoo zwierich van sprong, en zoo krachtich, dat, nae zommiger gevoelen, al d’andere stukken daer als kaerteblaren nevens staen.“161 Bezeichnend im Sinne einer widersprüchlichen Lebendigkeit ist die Meinung Gerard de Lairesses, der zufolge Rembrandts Impasto unnatürlich wirke,

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niet wel en leerden teykenen: want, vervolgde hy, zoo dezen man zoo wel door de Teykenkonst geholpen ware, als hy in ’t navolgen der Natuer met de verwen is, zijn werk zoude overbeterlijk zijn.“ Ebd., S. 216: „De Venetiaenen, om wel en natuerlijk te koloreeren.“ Ebd., S. 36: „En dezen wech zal de jeugt voor eerst alderdienstichst zijn, datmen zich gewenne de dingen, eeven alsze zijn, na te bootsen, om met der tijdt, tot de kennis der dingen geraekt zijnde, de schoonste met oordeel te verkiezen.“ Van Hoogstraten: Inleyding tot de hooge schoole der Schilderkonst, S. 11 f. Zitiert nach der Übersetzung van de Weterings: Towards a Reconstruction of Rembrandt’s Art Theory, S. 9: „What are the sure characteristics and fruits of the mind in a young pupil, if he is ever to become a good painter? […] That [after the young painter has finished his training] he should not only contemplate the dead body of art, that is merely to follow the fashion and do as others do, but that he should throw himself into the spirit of art: that is, investigate nature in all her properties.“ Van Hoogstraten: Inleyding tot de hooge schoole der Schilderkonst, S. 176. Vgl. Paul Taylor: „Zwierich van sprong“. Samuel van Hoogstraten’s Night Watch, in: Thijs Weststeijn (Hg.): The Universal Art of Samuel van Hoogstraten (1627–1678). Painter, Writer, and Courtier, Amsterdam 2013, S. 97: „[…] being so pictorial in thought, so sinuous of step, and so forceful, that, in the opinions of some, all the other pieces there stand like playing cards next to it.“

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IV. Aspekte des Farbauftrags

vor allem das Helldunkel.162 Dies verwundert insbesondere angesichts der von van Hoogstraten und vom noch kritischeren Houbraken herausgestellten lebendigen Wirkung des Rembrandt’schen Kolorits. Die Natürlichkeit des Kolorits wird auf dem Wege höchster Artifizialität erreicht.163 So gelten beide Pole als eine zentrale Eigenschaft der Wirkung des Farbauftrags bei den Rembrandtisten.164 Schon Jan Vos, ein Rembrandt-Sympathisant, verdeutlicht in seiner Zeege der Schilderkunst diese Diskrepanz: „De levendige geest verdooft de doode verve.“165 Die Farbe strahlt Vitalität aus: „vol vlees en bloedt“ („voll Fleisch und Blut“).166 In dieser Hinsicht ist der „lebendige Geist“ nicht idealistisch gedacht, da Vos an anderer Stelle unterstreicht, dass „der Pinsel durch Geistvolles be­rühmt […] nie gegen das Leben streiten [soll]“ („’t Penseel, beroemt door geestigheën Moet nimmer teegens ’t leeven stryen“).167 Der Dichter Dirk Raphaelsz. Camphuysen schrieb in polemischem Ton und nicht ohne calvinistische Anklage der Bildverehrung: „Nochtans leeft schilderey/en ziet haar ziender aan; […] die niet uyt vleesch en bloed/maar gomm’ en aarde zijn.“168 In diesem Paradox entdeckte er eine durch Bilder ausgelöste

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Gerard de Lairesse: Groot Schilderboek, Band 1, Haarlem ²1740, S. 323 f. Zitiert nach Seymour Slive: Rembrandt and His Critics. 1630–1730, New York 1988, S. 163; Paul Taylor: Colouring Nakedness in Netherlandish Art and Art Theory, in: Karolien de Clippel/Katharina van Cauteren/Katlijne van der Stighelen (Hg.): The Nude and the Norm in the Early Modern Low Countries, Turnhout 2011, S. 65. Ähnlich Anna Tummers: The Eye of the Connoisseur. Authenticating Paintings by Rembrandt and His Contemporaries, Amsterdam 2011, Anm. 47, S. 275: „A perfect illusion of lifelikeness is often celebrated as one of the most important goals of the art of painting, yet a perfect illusion cannot be appreciated if the viewer does not realize that he or she is looking at a picture. In other words, a perfect illusion requires an awareness of the deception.“ Fehrenbach bringt diesen Aspekt bezüglich der Lebendigkeit auf den Punkt, wenn er behauptet, dass sich diese „in labiler, mittlerer Distanz zwischen dem Faktum des toten Materials auf der einen und der dämonischen, göttlichen, alchemistischen, mechanistischen Beseelung auf der anderen Seite“ befindet. Frank Fehrenbach: Kohäsion und Transgression, in: Ulrich Pfisterer/Anja Zimmermann (Hg.): Animationen, Transgressionen. Das Kunstwerk als Lebewesen, Berlin 2005, S. 3. Dies stimmt mit Warburgs Diktum „Du lebst und thust mir nichts“ überein. Jan Vos: Alle de Gedichten […], Band 1, Amsterdam 1726, S. 356. Zitiert nach Gregor J. M. Weber: Der Lobtopos des „lebenden“ Bildes. Jan Vos und sein „Zeege der Schilderkunst“ von 1654, Hildesheim/New York 1991, S. 144: „Der lebendige Geist übertönt die tote Farbe.“ Ebd., S. 10: „Voll Fleisch und Blut“. Ebd., S. 126. Dirck Rafaelsz. Camphuysen: Stichtelijke Rymen (1624), Amsterdam 1681, S. 195. Zitiert nach Weber: Der Lobtopos des „lebenden“ Bildes, S. 66 f.: „[…] dennoch lebt das Gemälde und sieht seinen Betrachter an […], die [Bilder sind] nicht aus Fleisch und Blut, sondern Gummi und Erde.“

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Widersprüchliche Lebendigkeit

Bild 130  Detail aus Arent de Gelder: Soldat vor einem Bordell, um 1700, Öl auf Holz, 31,6 × 26 cm, Privatsammlung, Deutschland.

Gefahr: Trotz seiner Zusammensetzung aus toter Materie sei das Bild lebendig. Das Handeling der Rembrandtisten ist in diesem Kontext zu verstehen. Ein weiteres Mittel der Verlebendigung fanden die Rembrandtisten im roten Punkt, den sie an einer flachen oder dunklen Stelle des Bildes positionierten und der einem Bluttropfen ähnlich war, wie schon bei Paudiß und de Gelder beobachtet wurde.169 Auch in de Gelders Bild Soldat vor einem Bordell wird dieses Charakteristikum deutlich (Ausschnitt, Bild 130). Das Gemälde wurde unverständlicherweise zunächst nicht ihm zugeschrieben,170 obwohl das Werk alle Eigenheiten des Dordrechters aufweist. An der Tür ist eine Kupplerin zu erkennen, die mit einer Frau im Profil diskutiert und deren Mund aus einem einzigen Farbfleck gebildet wird und so gewissermaßen die Gestalt aus der Dunkelheit heraushebt. Diese Malpraxis ist auf Rembrandt zurückzuführen. Durch einen von Boschini überlieferten Bericht von Palma il Giovane ist bekannt, dass Tizian ähnlich vorging: „Manchmal setzte er mit einem reinen Fingerstrich ein Stück Schwarz in eine Ecke, um es

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Auch Christopher Paudiß verwendete rote Macchie. Vgl. Ausst. Kat.: Christopher Paudiß, 1630–1666, S. 180: „Insbesondere rote Farbpunkte wie ein Dreieck neben dem Knaben bilden in der Tempelreinigung starke farbige Akzente […].“ Moltke: Arent de Gelder, S. 114.

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IV. Aspekte des Farbauftrags

zu verstärken, oder er verstärkte mit einem Strich Rot – wie einem Blutstropfen – die Lebendigkeit der Oberfläche, und so brachte er seine belebten Figuren langsam zur Vollendung.“171 Die Farbe Rot wird mit Organischem, Lebendigem wie dem Blut in Verbindung gebracht, was jedoch angesichts früherer Darstellungen der VeronikaLegende oder auch der Erzählung Senecas über die Verwendung von Blut bei Parrhasius keine Neuerung darstellt.172 Das unmittelbare Erfinden auf der Leinwand beziehungsweise die Malerei alla prima, oft ohne Unterzeichnung, stellt ein weiteres Element der Malerei Rembrandts in der Tradition Tizians, aber auch Caravaggios dar und wurde von Paudiß und de Gelder übernommen.173 Dafür sprechen auch die Pentimenti, sichtbare Korrekturen (als Gedankenspuren) auf der Leinwand, die zur Lebendigkeit beitragen, weil sie das Werden der Figur und das intelligible Ringen mit der Materie offenbaren. Zur Vitalität der Darstellung trägt außerdem das Nicht-Sehen in der Tradition des Sfumato Leonardos bei.174 Die Wirkung beruht auf dem Körperschema des Betrachters und seiner Sensomotorik. Damit steht das Sehen nicht primär im Vordergrund.175 Das Multiperspektivische, anatomisch nicht unbedingt Korrekte avanciert zum Prinzip. Dies findet sich auch in den Bildern der Rembrandtisten wieder. Paudiß erhebt zum Beispiel die Diffusität der Konturen seiner Figuren ab 1660 zum zentralen Element seines Handeling, wie in seinem Werk Das Martyrium des Heiligen Thiemo in Wien exemplarisch zu sehen ist (Bild 131). Ein verwandtes Prinzip lässt sich vor allem an dem Reiter im Mittelgrund nachvollziehen, der ins Verhältnis zu der von Licht durchströmten, stark gebückten Figur gesetzt wird.176 Zu diesem Eindruck trägt auch das Prinzip des Von-hinten-nach-vorneMalens bei, was wiederum mit der allmählichen Konkretion der Form aus dem 171

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Boschini: La Carta del navegar pitoresco, S. 711 f. Zitiert nach der Übersetzung von Rosens: Mimesis und Selbstbezüglichkeit in Werken Tizians, S. 417. Vgl. Philip Sohm: Maniera and the Absent Hand. Avoiding the Etymology of Style, in: RES, 36 (1999), S. 107. Norman E. Land: Blood as paint. Rubens, Guido Reni and Parrhasius, in: Source, 2 (2012), S. 23. Das fließende Potenzial von Farbe wurde eingehend im vorigen Abschnitt über den Zufall besprochen. Vgl. Beate Fricke: Liquid History. Blood and Animation in Late Medieval Art, in: RES, 63/64 (2013), S. 53–69. Busch: Das unklassische Bild, S. 140 f. Auch van Mander beschreibt, wie Tizian ohne Zeichnung „nach dem Leben“ arbeitete; hierzu Sluijter: Rembrandt and the Female Nude, S. 201. Zu den fehlenden Hinweisen auf eine Unterzeichnung sowie die Rolle der Pentimenti bei Paudiß vgl. Ausst. Kat.: Christopher Paudiß, 1630– 1666, S. 171. Fehrenbach: „Eine Zartheit am Horizont unseres Sehvermögens“, S. 34. Vgl. Kapitel VI, S. 349 f. Ausst. Kat.: Christopher Paudiß, 1630–1666, S. 197.

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Widersprüchliche Lebendigkeit

Bild 131  Christopher Paudiß: Das Martyrium des Heiligen Thiemo, signiert, 1662, Öl auf Holz, 336 × 191 cm, Gemäldegalerie, Kunst­historisches Museum, Wien.

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IV. Aspekte des Farbauftrags

Chaos zusammenhängt und mit dem Houding einhergeht.177 Auch im Bild Ecce Homo von de Gelder in Aachen ist Vergleichbares zu beobachten, wenn sich verschiedene Gestalten aus der Dunkelheit heraus in Richtung der Lichtquelle (Christus) bewegen und die anfangs diffusen Konturen konkretere Formen annehmen (Ausschnitt, Bild 132). Dass Tiefe im Bild durch tonale Abstufung hervorgebracht wird, steht im Gegensatz zur bloßen Naturnachahmung,178 sodass sich das vermeintlich Natürliche und von der idealistischen Perspektive als solches Kritisierte als artifiziell entpuppt. Die bereits erwähnte Kraft (kragt) des Kolorits spielt hierbei eine zentrale Rolle. Weil Rembrandts Farbauftrag der Natur nahe kommt, gleichen seine Bilder dem Leben, was letztlich auch de Lairesse trotz der Kritik an dessen unnatürlichem Impasto zugibt: „zo ten opzichte van zyne natuurlykheid, als ook zyne uitsteekende kragt. […] was’er ooit een Schilder die de natuur in kracht van coloriet zo na kwam, door zyne schoone lichten […] En is zulks niet genoeg om de geheele waereld te verlokken […]?“179 Die „unnatürliche Natürlichkeit“ des Handeling verdichtet sich im Bild als geformte Kraft. De Lairesse vertrat die Ansicht, dass die Künstler in dieser Zeit nur wenig daran interessiert waren, sich an der Natur zu orientieren, eine These, die von der heutigen Forschung bekräftigt wird.180 Wenn in den Augen der idealistischen Kunstkritik Rembrandts Farbauftrag im Sinne der Mimesis als der Natur zu nah erachtet wurde, wie konnte dann de Lairesse behaupten, dass die Künstler kein Interesse daran hatten, die Natur als striktes Vorbild zu haben? Bei dem Lütticher erfolgte die Orientierung an der Natur gemäß einer natura naturata und nicht einer natura naturans. Bei Letzterer agiert die Farbe als ein lebender, aber nicht geschlossener Organismus. Die Vitalität des Handeling konstituiert sich im Vasari’schen Sinne in der unione der Farbe.181 Lebendigkeit 177 178

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Vgl. Busch: Das unklassische Bild, S. 128. Ebd. Für van Hoogstraten ist die tonale Abstufung statt des „linear rendering of space“, wie Weststeijn betonte, ein zentraler Aspekt der Rembrandt’schen Praxis, was auch mit dem Begriff des ronding verbunden ist. Weststeijn: „This Art Embraces All Visible Things in its Domain“, S. 428 f. De Lairesse: Groot Schilderboek, Band 1, S. 325. Zitiert nach der Übersetzung Weststeijn: The Visible World, S. 227: „[…] in regard to both his naturalness and his force of projection (zyne natuurlykheid […] uitsteekende kracht) […] was there ever a painter who came so close to nature in the force of colour (kracht van coloriet), by his fine light […]? And is this not enough to entice the whole world […]?“ Paul Taylor: The concept of Houding in Dutch Art Theory, in: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes, 55 (1992), S. 223. Giorgio Vasari: Le Vite de’ più eccellenti pittori, scultori e architettori nelle redazioni del 1550 e 1568, hg. v. R. Bettarini/P. Barocchi, Florenz 1966, S. 124 f. u. 128 [nach der Ausgabe von 1568]. Zitiert nach Taylor: The Concept of Houding in Dutch Art Theory, S. 223: „A painting with una dolcissima e delicatissima unione had its

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Widersprüchliche Lebendigkeit

Bild 132  Detail aus Arent de Gelder: Ecce Homo, signiert, um 1715, Öl auf Leinwand, 84 × 102 cm, Suermondt-Ludwig-Museum, Aachen.

wird so zu einem Ideal, dem es sich mit unterschiedlichen Mitteln und Malideologien anzunähern gilt, obwohl im Handeling der Rembrandtisten der Widerspruch zwischen der Materialität der Oberfläche und dem darzustellenden Sujet viel größer ist als beispielsweise bei den Feinmalern. Albani äußerte sich im 16. Jahrhundert negativ über die Farbe der Venezianer, da ihm zufolge die Erscheinung der Natur keinen sichtbaren Pinselstrich aufweist.182 Paolo Pino hingegen bemerkte über Schiavones Bildpraxis, die mit dem widersprüchlichen Effekt des Farbauftrags der Rembrandtisten verglichen werden kann, dass Skizzieren nicht die Natur reproduziert, sondern vage den Effekt des Lebendigen evoziert.183 Boschinis Urteil über die venezianische Malerei wäre ähnlich ausgefallen: „[Venetian painting] possesses a naturalness that vibrates in every part. Such is the force of these brilliant strokes that they strike us across even at great distance, impastoed so broadly that they enchant.“184 Der Begriff der kragt gewinnt erneut an Bedeutung, da er mit dem Konzept des Houding korrespondiert.185 Wie schon bei Christus wird in das Haus des Hohen­ ­priesters gebracht festgestellt, wird anhand des Houding die Einheit des Farb-

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lights and shadows blended by the brush and not left unmixed in thick swathes of impasto, or as Vasari put it, carichi di corpo.“ Sohm: Pittoresco, S. 11. Paolo Pino: Dialogo di pittura, Venedig 1548, in: Trattati d’arte del Cincquecento, hg. v. Paola Barocchi, Bari 1960, Band 1, S. 119. Zitiert nach Sohm: Pittoresco, S. 11: „[…] do not reproduce it [nature] but only vaguely suggest the effect of life.“ Sohm: Pittoresco, S. 166. Hierzu Sluijter: Rembrandt and the Female Nude, S. 212.

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IV. Aspekte des Farbauftrags

auftrags und seiner Wirkung gewahrt. Die Erwähnung Bassanos in Zusammenhang mit Christus wird in das Haus des Hohenpriesters gebracht kommt nicht von ungefähr. Der norditalienische Maler könnte de Gelder, nicht zuletzt auch durch Rembrandt, bekannt gewesen sein. Außerdem hatte der Dordrechter Zugang zur folgenden Passage van Manders im Grondt: „Onder al die nachten pleghen te stichten Van verwen op Tafereelen figuerlijck/ Met stralighe wederglansende lichten Con de ouden Bassano de ghesichten Wtnemende wel bedrieghen natuerlijck Want het schijnt datmen siet voor ooghen puerlijc Vlammen/ Toortsen/ brandende lampen hangen/ En Potten en Ketels t’weerschijn ontfanghen.“186 Bassanos Bilder wurden von van Mander rezipiert, insbesondere die Anbetung der Hirten, die sich heute in Haarlem befindet. Wahrscheinlich hat van Mander Bassanos Kunst durch seinen Lehrer Vlerick kennen gelernt. Wie der Haarlemer Maler in der Biografie des Künstlers schreibt, hatten selbst Betrachter in Holland Zugang zu Werken Bassanos.187 Die vielfältige Rolle des Lichts in Nachtszenen hat sowohl Rembrandt als auch seine Schüler beschäftigt. Van Mander erzählt außerdem eine spannende Geschichte bezeichnenderweise auch über eine Ver­kündigung an die Hirten: „Om nu wel van t’ hoogen den sin bespooren/ sal ick ons verhalen uyt Goltzy spreken/ Hoe Titianus (t’is weerdich om hooren) In eenen Kerstnacht met den hoofde vooren Maeckt’ eenen Herder/ comende ghestreken/ Al waer op ’t voorhooft/ om wel doen uytsteken/ Een eenich hoogsel maer en is verschenen/ Daer al de reste vliet bedommelt henen.“188 Das reflektierte Licht auf Stirn oder Nase vor allem in Tronjebildern, aber auch auf unterschiedlichen Gegenständen in Historien- oder Genrebildern war ein essenzielles Element der Rembrandtisten und bewegte sich zwischen der Objekthaftigkeit des Bildes, durch die starke Konzentration von Licht als pastoser Farbe, und der ästhetischen Evokation von Natürlichkeit.

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Das Lehrgedicht des Karel van Mander, S. 184 f.: „Unter allen denen, die Nachtszenen mit Farben auf Gemälden darzustellen pflegen mit strahlenden und reflektierenden Lichtern, konnte der alte Bassano die Augen durch Natürlichkeit ausserordentlich gut betrügen. Denn man glaubt vor den Augen Flammen, Fackeln und hängende brennende Lampen sich in Kesseln und Topfen sehr natürlich spiegeln zu sehen.“ „Von ihm ist in Amsterdam bei dem Kunstliebenden Jan van Ycker ein Gemälde auf Leinwand, das die Verkündigung an die Hirten darstellt […].“ Ebd., S. 357. Ebd., S. 278 f.: „Um den Sinn sich auf das Auflichten richten zu lassen, will ich ein Gespräch des Goltzius wiedergeben, wonach Tizian, es ist wert zu hören, in einer Christnacht einen Hierten den Kopf voraus herankommen lässt, und auf dessen Stirn erscheint nur ein einziges Licht, um sich gut herauszuheben, während der ganze Rest ablaufend ins Dunkel versinkt.“

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Widersprüchliche Lebendigkeit

Was aber bedeutete Houding damals genau, abgesehen von Haltung (Hexis)?189 Willem Goeree liefert in seiner Inleyding tot de Algemeene Teyckenkonst aus dem Jahre 1669 eine Definition und hebt gleichsam die Bedeutung des Begriffes hervor: „De Houdinge is een van de nootwendigste dingen die in een Teikening of Schilderye moet waargenomen worden; om dat zy ons het selve gevoel aan het oog doet krijgen, dat wy in’t beschouwen van de natuurlijke dingen genieten. Want wanneer de Houdinge in de nagebootste beeldnissen niet gevonden word, zijn sulke Teikeningen en Schilderyen redenloos, en meer dan half dood.“190 Houding ist die „spatial organization as a whole […] [which] is achieved by a judicious use of light, shade and colour“191. Was Weyerman über de Gelders Talent, ein gutes Houding zu erzielen, bemerkt, ist von Sandrarts Lob auf Rembrandt beeinflusst: „In grossen Werken/ mus die disminuirung beobachtet werden/ so die Holländer Hauding nennen. Bambots und Rembrand sind hierinn fürtreflich.“192 Im Weiteren wird dieser Satz näher ausgeführtt: „In einem großen Altar/ oder auf einem andern Blat/ das vielerley Farben bedarf/ ist zu beobachten die disminuirung: daß man nach und nach/ in gerechter Maße/ sich verliere/ und die Colorit ungehintert/ nach der Perspektiv Regeln/ von einem Bild zum andern netto folge und ihr Ort bekomme: welches wir auf Niederländisch Hauding nennen. Diß ist eine sehr nötige Observanz, wird aber wenig erkennet. Und hierinn haben wir zu lernen/ von unserm verwunderbaren Bambots, auch von andern/ insonderheit von dem laboriosen und dißfalls hochvernünftigen Rembrand: welche/ wie in deren Leben zu ersehen/ gleichsam Wunder gethan/ und die wahre Harmonie, ohn Hinternis einiger besondern Farbe/ nach den Regeln des Liechts/ durchgehends wol beobachtet.“193 Die Verteilung zwischen Licht und Schatten solle nicht zu kräftig sein, schreibt van Hoogstraten, denn sonst liefe man Gefahr, dass das Bild wie ein

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Für diese Dimension siehe das Kapitel II, S. 125. Willem Goeree: Inleyding tot de algemeene Teykenkonst, Middelburgh ²1670, S. 128. Zitiert nach Pamela H. Smith: The Body of the Artisan. Art and Experience in the Scientific Revolution, Chicago 2004, S. 213 und Taylor: The Concept of Houding in Dutch Art Theory, S. 210: „Houding is one of the most essential things to be observed in a Drawing or Painting; since it gives the same sensation to the eye, that we enjoy in the contemplation of natural objects. For whenever Houding is not found in representational images, such Drawings and Paintings are senseless, and more than half dead.“ Taylor: The Concept of Houding in Dutch Art Theory, S. 210 u. 213. Von Sandrart: Teutsche Akademie 1675, I, S. 84, unter: http://ta.sandrart.net/edition/text/view/171#tapagehead [14. 1. 2014]. Ebd., http://ta.sandrart.net/en/text/172#tapagehead, S. 85 [14. 1. 2014].

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IV. Aspekte des Farbauftrags

Schachbrett erscheine.194 Er lobte seinen eigenen Lehrer, da dieser „befreundete Farben“ („bevriende kleuren“) zur Erlangung eines gelungenen Houding verwendet habe: „Daerom beveele ik u niet te veel met lichten en schaduwen door een te haspelen, maer de zelve bequamelijk in groepen te vereenigen; laet uwe sterkste lichten met minder lichten minlijk verzelt zijn, ik verzeeker u, datze te heerlijker zullen uitblinken; laet uwe diepste donkerheden met klaere bruintens omringt zijn, op datze met de meerder gewelt de kracht van het licht mogen doen afsteeken. Rembrant heeft deeze deugt hoog in top gevoert, en was volleert in ’t wel byeenvoegen van bevriende verwen.“195 Was van Hoogstraten positiv hervorhebt und aufgrund seiner eigenen praktischen Erfahrung in der Werkstatt Rembrandts genau beschreibt, wirkt für de Lairesse geradezu unnatürlich. Die schwarze Kante, aus der sich der Umriss einer Figur in der Nähe der hellsten Quelle des Lichtes abhebt, bildet für den Lütticher das „unnatürliche Houding“, wohingegen der Dordrechter Maler gerade hierin die Kraft des Gemäldes umso stärker hervorzuheben vermag (siehe Bild 124). Diese „Kraft des Lichtes“ („kracht van het licht“) ist ebenfalls ein Charakteristikum Rembrandt’scher Prägung. Jüngst wurde dieses Phänomen als „bildinternes Lichtgefüge“ beschrieben, das „keinen realistischen Anspruch erhebt, sondern dessen materielle Präsenz eine dienende Funktion gegenüber der kompositorischen Darstellung einnimmt“196. Deshalb könnte auch von einem intrinsischen Licht die Rede sein, das mit entsprechenden malerischen Mitteln hervorgerufen wird.197 Dies lässt sich, abgesehen von dem Bild Christus wird in

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Van Hoogstraten: Inleyding tot de hooge schoole der Schilderkonst, S. 305: „Veel harde schaduwen maeken een schildery een schaekbert gelijk [Rand des Buches, Anm. d. V.].“ Hierzu Taylor: The Concept of Houding in Dutch Art Theory, S. 232. Van Hoogstraten: Inleyding tot de hooge schoole der Schilderkonst, S. 305 f. Hierzu die Übersetzung aus Carolin Bohlmann: Von den „befreundeten Farben“. Zur Materialität des Lichts bei Rembrandt und Vermeer, in: dies./Fink/Weiss (Hg.): Lichtgefüge des 17. Jahrhunderts, München 2008, S. 243: „Darum heiße ich Sie, Lichter und Schatten nicht zu viel durcheinanderzubringen, sondern diese geschickt in Gruppen zu vereinigen; lassen Sie Ihre stärksten Lichter gütlich mit geringeren Lichtern einhergehen. Ich versichere Ihnen, dass Sie desto herrlicher brillieren werden. Lassen Sie Ihre tiefsten Dunkelheiten umringt sein, auf dass sie desto gewaltiger die Kraft des Lichts abheben mögen. Rembrandt hat diese Tugend zu einer großen Höhe geführt durch das richtige Zusammenfügen von befreundeten Farben.“ Timo Trümper: Gerbrand van den Eeckhout. Christus und die Ehebrecherin, 1653, in: Ausst. Kat.: Lichtgefüge. Das Licht im Zeitalter von Rembrandt und Vermeer, hg. v. Museumslandschaft Hessen Kassel, Petersberg 2011, S. 34. Das „aktive, handelnde“ Licht hat gleichsam eine intrinsische Qualität. Vgl. hierzu Carolin Bohlmann/Thomas Leinkauf (Hg.): Lichtgefüge. Das Licht im Zeitalter Rembrandts und Vermeers. Ein Handbuch der Forschergruppe Historische Lichtgefüge, Berlin 2012, S. 54.

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Widersprüchliche Lebendigkeit

Bild 133  Arent de Gelder: Jehovah und zwei Engel besuchen Abraham, um 1685, Öl auf Leinwand, 111 × 174 cm, Museum Boymans Van Beuningen, Rotterdam.

das Haus des Hohenpriesters gebracht, exemplarisch auch in de Gelders Jehovah und zwei Engel besuchen Abraham beobachten, dessen Komposition Rembrandt entlehnt ist, ohne eine bloße Kopie zu sein, wie es bei den Gemälden des Dordrechters der Fall ist (Bild 133). Das Gewand Abrahams leuchtet aus sich selbst heraus.198 Wie das Stillleben auf dem Tisch verdeutlicht, wird nur Abraham mit jenem handelnden Licht versehen und so aus der Dunkelheit der Szene hervorgehoben, was als eine ikonografische Aufladung der Figur innerhalb der spezifischen Geschichte be­ trachtet werden muss und damit von zentraler Bedeutung für das Verständnis des Gemäldes ist. Das dergestalt von Licht erleuchtete Gewand wird von Kratzspuren, pastosen Farbschichten, Krusten sowie Punkten gebildet, die keine mimetische Funktion haben, sondern dynamisierend wirken. Sie haben eine intelligente und expressive Qualität. Die Farbmaterie als verwandeltes Licht verleiht der Figur das Leuchten (Bild 134, Bild 135 und Bild 136). Wie Sandrart bemerkt, hatte das Houding Rembrandts einen künstlichen Effekt und brachte dadurch die Farbe besonders glühend zum Vorschein: „In seinen Werken ließe

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Dies entspricht der Bezeichnung des „immanenten“ Lichtes, „das aus den Gegenständen, die im eigentlichen Sinne keine Lichtquellen sind, herauszuleuchten scheint“. Bohlmann/Leinkauf (Hg.): Lichtgefüge. Ein Handbuch, S. 55.

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IV. Aspekte des Farbauftrags

Bild 134  Detail aus Bild 133.

unser Künstler wenig Licht sehen/ außer an dem fürnehmsten Ort seines Intents, um welches er Liecht und Schatten künstlich beysammen hielte/ samt einer wohlgemeßenen reflexion, also daß das Liecht in den Schatten mit großem Urtheil wieche/ die Colorit ware ganz glüend/ und in allem eine hohe Vernunft.“199 Bezeichnenderweise wurde an einem Gemälde von Vermeer eine Beobachtung gemacht, die auch auf de Gelders Bild zutrifft: „Dadurch dass die Farbe nicht in einer mimetischen Funktion aufgeht, sondern in ihrer Ausbreitung ein starker Eigenwert zum Tragen kommt, drückt sich auch hier eine Substanzialität der Dinge innerhalb des Bildes aus, die dem Betrachter entgegenstrahlt.“200 Keine bloße Mimesis, sondern Natürlichkeit, die sich ihrer eigenen Medialität bewusst ist, zeichnet die Lebendigkeit des Handeling der Rembrandtisten aus.

199 200

Von Sandrart: Teutsche Akademie 1675, S. 327, unter: ta.sandrart.net/de/text/ 553#tapa­gehead [9. 2. 2014]. Sara Hornak: Causa sui und causa immanens – Spinoza, die Immanenz und die Malerei Vermeers, in: Bohlmann/Fink/Weiss (Hg.): Lichtgefüge des 17. Jahrhunderts, S. 231.

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Widersprüchliche Lebendigkeit

Bilder 135, 136  Details aus Bild 133.

V. I konik der Bewegung

Be weg u ng Im Vordergrund des Abendmahls von Arent de Gelder ist eine männliche Gestalt im Begriff, das letzte Beisammensein der Jünger mit Christus – unmittelbar nach der Ankündigung des Verrats – zu verlassen (Bild 137). Der traditionellen Ikonografie zufolge muss es sich um Judas handeln. Das stille Wegschleichen von der Bühne des Geschehens bestimmt die Atmosphäre. Diese Stille wird einzig durch das Schaben des Stockes auf der ersten der vier steinigen Stufen unterbrochen, als wolle de Gelder ein akustisches Äquivalent seinem Kratzen auf der Leinwand entsprechend Ausdruck geben. Die schräge Platzierung des aufrecht gehenden Judas im Bildraum verleiht ihm Plastizität und Bewegung: Der linke Fuß ist nach vorn ausgerichtet. Der leicht erhobene rechte Fuß hingegen befindet sich noch auf der Höhe der letzten Stufe. Nur das im Schatten befindliche Gesicht der Judasfigur lässt eine gewisse Erregung erkennen, die im Gegensatz zu seiner allem Anschein nach gefassten Körperhaltung steht. Als Pendant zu Judas erscheint diagonal der junge Diener, der mit leicht erhobenen Schultern und geöffnetem Mund in Richtung des Ersten schaut, als würde er nur ihn bemerken. Gleichzeitig ist seine Beinstellung mit der von Judas vergleichbar, auch wenn sie sich spiegelverkehrt zu dieser verhält; kurz vor dem Schrittausfall. In einem anderen Bild der Passionsfolge de Gelders führt ein Soldat, in leichter Drehung des Körpers und im flüchtigen Profil von links gezeigt, schreitend mit einem Schwert in der Hand, den Betrachter in die Szene der Gefangennahme Christi ein (Bild 138 und Bild 139). Die Menschenmenge bewegt sich dramatisch aus der Dunkelheit heraus in die Richtung des Lichts. Viele der Soldaten weisen gestikulierend auf Christus hin. Im Sinne der Varietas sind sie in unterschiedlichen Bewegungsmomenten festgehalten: gebeugt, geneigt und gedreht. Sie sind im Begriff, Christus zu

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V. Ikonik der Bewegung

Bild 137  Arent de Gelder: Das Letzte Abendmahl, signiert, um 1715, Öl auf Leinwand, 71 × 60 cm, Gemäldegalerie, Aschaffenburg.

verhaften, der ihnen aufrecht und ruhig gegenübersteht. Mit geöffnetem Mund deutet er mit der rechten Hand auf sich und erscheint so in der Haltung eines Redners. Seine linke Hand weist auf die gleiche Figur wie im Abendmahl: auf Judas. Der hat bereits seine symbolische Geste (den Judaskuss) hinter sich gebracht und wendet seinen leicht gebeugten Rücken vom Geschehen ab. Erneut ist er in der Bewegung festgehalten. Zwischen den Soldaten und Christus schwingt das Schwert des Paulus in der Luft. Paulus macht sich bereit das Ohr des auf dem Boden festgehaltenen Soldaten (Malchus) abzuschlagen. Die Struktur der Grablegung aus demselben Zyklus ist mit den zwei Figuren im Vordergrund sowie der Hauptbewegung von links nach rechts in der Gefangennahme vergleichbar, nur die Landschaft weist eine vollkommen andere Stimmung und Tageszeit auf (Bild 140).1 1

Alle bereits besprochenen Bilder befinden sich in Aschaffenburg (Städtisches Schloss­ museum).

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Bewegung

Bild 138  Arent de Gelder: Die Gefangennahme Christi, signiert, um 1715, Öl auf Leinwand, 71 × 79 cm, Gemäldegalerie, Aschaffenburg.

Bild 139  Detail aus Bild 138.

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V. Ikonik der Bewegung

Bild 140  Arent de Gelder: Die Grablegung Christi, signiert, um 1715, Öl auf Leinwand, 71,8 × 59,6 cm, Gemäldegalerie, Aschaffenburg.

Die einzelnen Figuren der Menge befinden sich in unterschiedlichen Abständen zueinander sowie in verschiedenen Haltungen zum Hauptgeschehen, das dezentralisiert dargestellt ist. Der letzte Mann im Bild rechts schreitet auf seinen Gesprächspartner zu, der seinerseits dem Geschehen den Rücken zuwendet. Dadurch steigert sich die Spannung schon vor Ablauf der Handlung. Eine starke Bewegung entsteht durch das Licht am Himmel, das die Konzentration schlaglichtartig auf das Tragen des Leichnams Christi lenkt. Die Figuren bilden von links nach rechts eine Reihe und sind nach Körpergröße und Haltung vom Kleinsten zum Größten angeordnet. Die mittlere Figur hält die Leiche mit großer Kraft, die Hand fest in das darüberliegende Tuch gekrallt, den Körper

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Bewegung

unter der Last gebückt. Der letzte Träger kehrt dem Grab den Rücken zu und schließt damit den Zug ab. Er zieht Christus mehr, als dass er ihn trägt, was sich in seiner Körperhaltung manifestiert. Im starken Gegensatz dazu steht die üppig orientalisch gekleidete, verhältnismäßig wuchtige Gestalt eines Mannes in der Mitte des Ereignisses, bei dem es sich möglicherweise um Nikodemus handelt. Er beobachtet passiv die körperliche Anstrengung der anderen. Eine männliche Figur im Mittelgrund, rechts von ihm, scheint vom Anblick des Geschehens überwältigt und hat sich hingekniet. Aktivität und Passivität werden in einem Moment konzentriert, was der Szene Emotionalität sowie Lebendigkeit verleiht. Die Bewegung wird in den Beispielen der Passionsserie Arent de Gelders nicht sukzessiv wiedergegeben, sondern verdichtet sich in den unterschiedlich agierenden Figuren, die den Szenen durch ihren prozessualen Charakter Spontaneität verleihen.2 Bedingung für jegliche Aktion ist die Bewegung, und zwar sowohl im wörtlichen wie im übertragenen Sinn.3 Das bekannte und vielfach ausgelegte Diktum Rembrandts, dass er die meeste ende die naetuereelste beweech­ ge­lick­heijt (nicht zufälligerweise bei seinem Passionszyklus) angestrebt habe, ist dafür verantwortlich.4 Sein Versuch, Aktionen und Leidenschaften im Moment

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3

4

Zur Bildsukzession bei Leonardo oder Jacques de Gheyn II. vgl. Martin Kemp: Die Zeichen lesen. Zur graphischen Darstellung von physischer und mentaler Bewegung in den Manuskripten Leonardos, in: Frank Fehrenbach (Hg.): Leonardo da Vinci: Natur im Übergang. Beiträge zu Wissenschaft, Kunst und Technik, München 2002, S. 207–227; Yannis Hadjinicolaou: Das allumfassende Auge. Zur Bildsukzession bei Jacques de Gheyn II., in: Ulrike Feist/Markus Rath (Hg.): Et in imagine ego. Facetten von Bildakt und Verkörperung. Festgabe für Horst Bredekamp, Berlin 2012, S. 93–116. In seinem Laokoon (XVI Kapitel) kam Lessing zu einer Auffassung, die im Gegensatz zum hier Ausgeführten steht: „Die Malerei kann auch Handlungen nachahmen, aber nur andeutungsweise durch Körper.“ Vgl. Erwin Panofsky: Albrecht Dürers rhythmische Kunst, in: Jahrbuch für Kunstwissenschaft (1926), Anm. 1, S. 141. Umgekehrt lässt sich sagen, dass die Malerei nur durch Körper oder das Material Farbe (sprich im Handeling) Handlungen evozieren kann. Während Rembrandt seinen Auftrag für die Passionsfolge für den Statthalter in Den Haag ausführte, schickte er dem Sekretär Frederik Hendriks, Constantijn Huygens, einen Brief, datiert vom 12. Januar 1639, in dem er erklärte, dass er für die Grablegung und die Auferstehung so lange gearbeitet habe, weil er „die meiste und natürlichste Beweglichkeit“ erstrebt habe: „Deesen twe sijnt daer die meeste ende die naetuereelste beweechgelickheijt in geopserveert is dat oock de grooste oorsaeck is dat die selvijge soo lang onder handen sij geweest.“ Vgl. John Gage: A note on Rembrandt’s „Meeste Ende die Naetuereelste Beweechgelickheijt“, in: The Burlington Magazine, 795 (1969), S. 381; Ausst. Kat.: Rembrandt. Der Meister und seine Werkstatt, Gemälde, hg. v. Christopher Brown/Jan Kelch/Pieter van Thiel: London/Berlin/Amsterdam 1991, S. 157. Vgl. Werner Busch: Das keusche und das unkeusche Sehen. Rembrandts „Diana, Aktaion und Callisto“, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte, 52 (1989), S. 266 f.

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V. Ikonik der Bewegung

Bild 141  Christopher Paudiß: Vertreibung der Händler aus dem Tempel, signiert, 1663, Öl auf Leinwand, 375 × 264 cm, Diözesanmuseum, Freising.

der „meisten und natürlichsten Bewegung“ festzuhalten, stellt eines der Prinzipien dar, das die Rembrandtisten produktiv verfolgten. Inmitten eines gewaltigen Kircheninterieurs ist ein leicht gebückter Christus zu erkennen, der im Begriff ist, mit der Peitsche gegen eine Menschenmenge vorzugehen (Bild 141). Die Peitsche könnte vor allem den älteren, bärtigen Mann mit den markanten Gesichtszügen treffen, der gekrümmt und mit geöffneten Händen die übrigen Männer zur Flucht zu bewegen sucht. Er bildet einen ruhigen Sockel, auf dem Christus – ähnlich wie Phyllis auf Aristoteles – zu reiten scheint, und ist den zwei Männergestalten mit den unterschiedlichen Hüten links zugewendet, die in einer passiven Haltung aus dem Bild herausschauen. Neben Christus versucht ein Schriftgelehrter mit rotem Barett das

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Bewegung

Bild 142  Detail aus Bild 141.

Peitschen des Ersten abzuwehren, indem er eine kräftige und schnelle Seitenbewegung nach rechts vollzieht und mit hervorstechenden Augen sowie geöffnetem Mund eine Schreckensmiene macht. Die energische, gleichzeitig jedoch kontrolliert verrichtete Tat Christi löst eine unmittelbare Reaktion auf der gesamten unteren Fläche des Bildes aus, die sich fast vollständig in der Dunkelheit verliert. Ein bebendes Durcheinander findet dort statt, sodass die Handlung – und mit ihr das Bild – nach unten zu stürzen droht. Ein junger Bursche versucht mit geöffnetem, geradezu schreiendem Mund und bohrendem Blick sein Hab und Gut – eine Kiste, in der sich ein Hahn befindet – mit beiden Händen zu retten (Bild 142). Er scheint leicht nach links zu kippen und verliert beinahe das Gleichgewicht, weil sich eine ältere Frau

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V. Ikonik der Bewegung

Bild 143  Detail aus Bild 141.

bei dem Versuch, ihren eigenen Korb zu retten, mit der linken Hand auf ihm abstützt und damit wiederum die Kiste des Jungen bewegt. In dieser gekrümmten Haltung hält sie mit der Rechten auch noch ein Lamm. Neben dem Jungen sind zwei erschrockene Männer zu erkennen. Ihre Körperhaltungen werden durch eine Kettenreaktion erzeugt: Die spontane Raserei Christi bringt den alten Mann in Bewegung, der eine weitere männliche Figur mit einem roten Hut nach unten stößt. Dieser versucht sich seinerseits mit seiner Hand auf dem Tisch abzustützen. Bei dieser Bewegung legt er den Arm ungestüm um den Mann neben sich, dessen Kopf dadurch stark nach vorne geschoben wird. So formen beide ein doppelköpfiges Wesen. Indessen hat sich eine Frau unter dem Tisch am äußeren rechten Bildrand versteckt und schaut dem Geschehen eher überrascht als verängstigt zu. Nur ihr Kopf setzt sich vom vorwiegend braunen Ton des Bildes ab. Unbewegt von all diesen Ereignissen, den Kopf in vollkommener Dunkelheit (auch eine Folge des schlechten Erhaltungszustands), schaut ein Mann zu Christus. Er sitzt aufrecht, seine kräftige Hand ruht auf dem Tisch, unter dem sich die Frau versteckt hält (Bild 143). Die Vertreibung der Händler aus dem Tempel wurde 1663 von Christopher Paudiß gemalt, ist signiert und befindet sich heute im Diözesanmuseum in Freising. Paudiß wandelt ein Rembrandt’sches

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Bewegung

Motiv, das er von der berühmten Radierung aus dem Jahre 1635 gekannt haben muss, in seiner persönlichen Art und Weise ab. Aktivität und Passivität sind hier wie bei der Passionsfolge de Gelders vereint. In dieser „unordentlichen“ Anordnung entsteht eine Kreisform, die ihr Zentrum in der vom Licht durchströmten Christusfigur hat. Der Schriftgelehrte und der Greis bilden eine Art Peripherie um Christus, die auch die übrigen Händler und Beobachter in dem sonst dunklen Tempel miteinschließt. Die Ge­ mütsregungen manifestieren sich in der bewegten Körperlichkeit der Figuren. So erhält die Darstellung ihre Dramatik. Die folgende Aussage van Hoogstratens steht in der Tradition Albertis und handelt von der oogenblikkige beweeging: „[…] datmen allenlijk een oogenblikkige beweeging, welke voornamentlijk de daed der Historie uitdrukt, vertoone.“5 Sie erinnert direkt an das Bild von Paudiß. An anderer Stelle nennt er auch das Ziel eines Malers: „Een enkele en oogenblikkige daet uit te beelden.“6 Er verwendet somit oogenblikkige beweeging und oogenblikkige daedt (Tat) synonym. Die beiden Begriffe bezeichnen den fruchtbaren Augenblick eines Bildes, was nicht bedeuten soll, dass van Hoogstraten Lessings Diktum vorwegnahm. Eher handelt es sich um eine Auffassung von Bewegung im prozessualen Sinn, wie die betrachteten Bilder de Gelders schon zeigten.7 Das Verb vertoonen im ersten Zitat van Hoogstratens ist von Belang, da er dem Maler rät, wie ein Schauspieler oder ein Theaterregisseur zu agieren.8 Der Grund hierfür wird noch eingehend erörtert; festgehalten sei zunächst, dass das Zitat an die Äußerung Rembrandts über die „stärkste und natürlichste Bewegung“ erinnert. Van Hoogstraten und Paudiß nehmen sowohl praktisch als auch theoretisch darauf Bezug. Paudiß zeigt die unmittelbare Reaktion von Figuren auf eine Handlung. Das Bild hält das einzelne Individuum in seinem Bezug zu anderen sowie zum ganzen Geschehen in einem bestimmten und 5

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Samuel van Hoogstraten: Inleyding tot de hooge schoole der Schilderkonst. Anders de Zichtbaere Werelt, Rotterdam 1678, S. 116: „[…] dass allein eine augenblickliche Bewegung, die vor allem die Aktion der Historie trägt, dargestellt werden soll.“ [Übersetzung d. V.]. Vgl. Thijs Weststeijn: The Visible World. Samuel van Hoogstraten’s Legitimation of Painting in the Dutch Golden Age, Amsterdam 2008, S. 183. Van Hoogstraten: Inleyding tot de hooge schoole der Schilderkonst, S. 116: „Eine einzige und augenblickliche Tat darzustellen“ [Übersetzung d. V.]. Eric Jan Sluijter übersetzte den Begriff oogenblikkige beweeging mit „an instantaneous motion and emotion that takes place at one single moment“. Roger de Piles Coup-d’oeil-Prinzip klingt hier bereits an. Eric Jan Sluijter: Rembrandt’s Portrayal of the Passions and Vondel’s „staetveranderinge“, in: Nederlands Kunsthistorisch Jaarboek, 60 (2010), S. 290. Vgl. Tomaso Montanari: Bernini e Rembrandt, il teatro e la pittura. Per una rilettura degli autoritratti Berniniani, in: Ausst. Kat.: Bernini e la pittura, hg. v. Daniela Gallavotti Cavallero, Rom 2005, S. 187–201. Mit Dank an Joris van Gastel für diesen Hinweis.

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V. Ikonik der Bewegung

Bild 144  Detail aus Rembrandt: Die Blendung Simsons, 1636, Öl auf Leinwand, 206 × 276 cm, Städelsches Kunstinstitut, Frankfurt am Main.

zugleich unerwarteten Moment fest. Der Bewegungsfluss unterstreicht die Plötzlichkeit des Gezeigten. Rembrandt hat dieses Vorgehen neben seiner Passionsfolge bereits in Bildern wie der Blendung Simsons unternommen, zum Beispiel beim Spritzen des Blutes, als die Waffe ins Auge des von mehreren Philistern gehaltenen Simson sticht (Bild 144). Rembrandt versucht an dieser Stelle Rubens zu übertreffen. So rekurriert er mit der Körperhaltung Simsons auf Rubens’ Gemälde Der gefesselte Prometheus, treibt sie darüber hinaus aber in ein dynamischeres Extrem: „Rembrandt’s main concern was to surpass Rubens by depicting the most plausible and lifelike actions in this violent occurance and to depict as convincingly as possible the oogenblikkige beweeging and the natuereelse beweechgelickheyt.“9 Der Begriff Beweging 10 wird sowohl körperlich als auch mental verstanden und ist seit Alberti und Leonardo ein kunsttheoretischer Topos.11 Die Bewe  9 10 11

Eric Jan Sluijter: Rembrandt and the Female Nude, Amsterdam 2006, S. 110 f. Van Hoogstraten: Inleyding tot de hooge schoole der Schilderkonst, S. 109: „[…] innerlijke gevoelicheden en uiterlijke beweging deeze lijdingen veroorzaken.“ Bernhard Stumpfhaus: Modus – Affekt – Allegorie bei Nicolas Poussin: Emotionen in der Malerei des 17. Jahrhunderts, Berlin 2007, S. 62 ff.: „‚Die Bewegungen eines Menschen sind unendlich verschieden, sogar in einem Moment.‘ Damit markiert [Leonardo] das zentrale Defizit der Darstellung bewegter Körper auf einer Fläche,

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Bewegung

ging bei den Rembrandtisten ist sowohl physisch als auch emotional, ohne dass das eine gegenüber dem anderen dominiert.12 Schon in van Manders Grondt wird Beweging in diesem Sinne (verbunden mit seinem manieristischen Programm) verwendet: „Maer op den motus des Lichaems van buyten/ T’ veranderen en ’t roeren der Lidtmaten/ Moeten wy achten/ tot constigher baten/ Dat een yeghelijck mach lichtelijck mercken/ T’geen onse Beelden lijden/ ofte wercken.“13 Die körperliche Bewegung ist Bedingung für das Erkennen von Affekten, insbesondere vor einem Bild.14 Joachim von Sandrart behauptete in ähnlicher Weise wie van Mander, ja sogar von ihm beeinflusst: „Die Wirkungen derselben/ werden ingemein die Affecten oder Gemüts-regungen genennet: weil sie/ wie die leibliche Zufälle dem Leib/ das Gemüt afficiren und bewegen.“15 Hierzu vertritt Weststeijn die Meinung, dass „the term Motus – Motion or Movement – is used arbitrarily for emotion and physical movement alike“16. Das „arbitrarily“ zeigt, dass jedes das jeweils andere miteinschließt, weshalb sich kein Unterschied zwischen beiden Begriffen machen lässt. Weiterhin nimmt West-

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daß die maßgerechte, durch Gitternetze vermittelte Projektion eine Kristallisation der Bewegung, die Stillstellung ihrer Dynamik bedeutet. […] [Leonardo] begreift die Bewegung als ein unendlich teilbares Kontinuum. Er will die auf einer Fläche dargestellte Bewegung lediglich als einen Moment beständiger Bewegungssukzession, als ein punktuelles Ereignis von unendlich vielen möglichen Teilen einer Bewegungsphase verstanden wissen. […] [Die] Darstellung einer Bewegung […] wird [für Leonardo] als ein Augenblicksereignis [konstituiert] […]“ Dem hier angesprochenen Augenblicksereignis ent­­spricht bei van Hoogstraten die „augenblickliche Bewegung“. Das Leonardo-Zitat findet sich in: Leonardo: Treatise on Painting, Band 1, hg. v. Amon Philip McMahon, Princeton 1956, S. 138; vgl. auch Norbert Michels: Bewegung zwischen Ethos und Pathos. Zur Wirkungsästhetik italienischer Kunsttheorie des 15. und 16. Jahrhunderts, Münster 1988, S. 9–38; Gregor J. M. Weber: Der Lobtopos des „lebenden“ Bildes. Jan Vos und sein „Zeege der Schilderkunst“ von 1654, Hildesheim u. a. 1991, S. 35; Frank Zöllner: Bewegung und Ausdruck bei Leonardo da Vinci, Leipzig 2010. Die Debatte über die Begrifflichkeit Rembrandts beschäftigt die Forscher seit etwa dem Anfang des 20. Jahrhunderts. Es gab die Deutung Jan Veths, der mehr eine äußerliche Interpretation vorlegte, im Gegensatz zu H. E. van Gelder, der den Satz eher auf die innerliche Bewegung (im Sinne von Emotion) bezogen verstehen wollte. Vgl. hierzu Lydia de Pauw-De Veen: Over de betekenis van het woord „beweeglijkheid“ in de zeventiende eeuw, in: Oud Holland, (1959), S. 202–211. De Pauw-De Veen zeigt, wie diese Konzepte der Beweging (emotional oder körperlich) eigentlich miteinander zu denken sind. Das Lehrgedicht des Karel van Mander, hg. v. Rudolf Hoecker, Den Haag 1916, S. 148 f.: „Aber auf die Bewegung des äusseren Körpers, auf die Veränderung und Bewegung der Gliedmassen müssen wir achten, als eine kunstvolle Hilfe, damit jeder leicht erkennen kann, was unsere Figuren erleiden oder tun.“ Vgl. hierzu Weber: Der Lobtopos des „lebenden“ Bildes, S. 195. Joachim von Sandrart: Teutsche Akademie 1675, I, Buch 3 (Malerei), S. 77, unter: http://ta.sandrart.net/edition/text/view/164 [12. 2. 2014]. Weststeijn: The Visible World, S. 182.

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V. Ikonik der Bewegung

steijn eine dualistische und eindimensionale Deutung des Begriffes beweeglijkheid vor, die an sich problematisch ist, da der Terminus, wie schon gezeigt, zugleich „innen und außen“, „Körper und Kopf“ sowie „physisch und mental“ einschließt: „The term beweeglijkheid, literally ‚moving quality‘ or perhaps ‚movability‘ must be under­stood in the light of the theory of the motions of the mind [Herv. d. V.] – not only those of figures portrayed, but the viewer’s and those of the artist himself as well.“17 Ein weiteres Problem der höchst kenntnisreichen Deutung Weststeijns ist, dass er nach rhetorischen Topoi innerhalb der Kunsttheorie – vor allem der von van Hoogstraten – sucht und weniger die Bildlichkeit selbst und ihr Kraftpotenzial, aus der sich dann die Theorie entwickelt, zum Thema macht. Die Bildpraxis wird im Namen rhetorischer oder literarischer Topoi zu einem Passivum degradiert. Jegliche Aktivität der gestalteten Form wird ausgeschlossen.18 Mit anderen Worten: Weststeijn interessiert nur die schriftbasierte und nicht die ikonische Dimension des Problems. Dadurch entzieht er dem Artefakt die Energeia, die als Formkraft des Bildes zu verstehen ist.19 In ähnlichem Sinne wie van Mander, van Hoogstraten oder gar Sandrart spricht Gerard de Lairesse in seinem Schilderboek von der natürlichen Bewegung, obwohl die Konzeption einer „unnatürlichen Natürlichkeit“ im Zeichen der Gratia sein eigentliches Desideratum ist.20 Er versteht die Körperbewegung und die Gefühlsäußerung als zwei zusammengehörige Aspekte einer Darstellung, die sich aber doch dualistisch zueinander verhalten.21 Willem Goeree macht in seinem Natuurlyk en Schilderkonstig Ontwerp der Menschkunde von 1682 folgende, de Lairesse nahestehende Unterscheidung:22 „Voor d’eerste stellen wy d’inwendige beweging die alleen in den 17 18

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Ebd., S. 211. Bereits Brusati stellte bezüglich van Hoogstratens Inleyding fest: „This is evidenced in the way the text consistently links knowledge to making and experiment rather than to rhetoric, favoring know-how over knowledge in the abstract.“ Celeste Brusati: Artifice and Illusion. The Art and Writing of Samuel van Hoogstraten, Chicago 1995, S. 224. Roodenburg kritisiert Weststeijn in einer ähnlichen Richtung: „He [Weststeijn] rightly related the notion of oogenblikkige beweeging to that of evidentia or energeia […] but such text oriented explanations […] may easily neglect aspects of Aristotelian aesthesis, of a period’s bodily and sensory engagement with works of art, even if the evidence is there.“ Herman Roodenburg: „Beweeglijkheid“ embodied. On the Corporeal and Sensory Dimensions of a Famous Emotion Term, Nederlands Kunsthistorisch Jaarboek, 60 (2010), S. 315 f. Gerard de Lairesse: Groot Schilderboek, Band 1, Haarlem ²1740, S. 135 ff. Claus Kemmer: „Expression“, „effet“ und „esprit“. Rubens und die Kunsttheorie des 17. Jahrhunderts, in: Ausst. Kat.: Peter Paul Rubens. Barocke Leidenschaften, hg. v. Nils Büttner/Ulrich Heinen, München 2004, S. 103. Bert van de Roemer: Regulating the Arts. Willem Goeree versus Samuel van Hoogstraten, in: Nederlands Kunsthistorisch Jaarboek, 61 (2011), S. 184–207.

267  

Bewegung

Geest werkt, sonder eenige sienlijke Lichamelijke Actien te laten blijken, en d’andere sijn eenvoudige Lichamelijke bewegingen daar geen byzondere blijken of uytdrukkingen van de Geest ontrent gezien werden. En de laatste zijn die, welke uyt de Geest meest voortkomende met de Lichamelijke Actien gaan.“23 Für Goeree gibt es eine innere Bewegung, die allein im Geist verhaftet bleibt, eine äußere, die sich allein im Körper entfaltet, und eine weitere, die in der Interaktion zwischen Körper und Geist besteht. Mit anderen Worten beschreibt auch er unterschiedliche Ebenen, die zwar verschmelzen können, jedoch nicht von Anfang an aus Modalitäten eines einzigen Organismus in seiner Interaktion mit der Welt bestehen. Van Hoogstraten unterstreicht die intrinsische Qualität eines Bildes durch die Verwendung des Begriffes beweeglijkheid: „[…] ’t is niet genoeg, dat een beelt schoon is, maer daer moet een zeekere beweeglijkheid in zijn.“24 Vor allem die Präposition „in“ spricht für die inhärente Kraft des Artefakts, die nach außen unmittelbar wirkt und mit dem rhetorischen Konzept des „Vor-AugenStellens“ (ante oculos ponere) verbunden ist.25 Der Begriff des intrinsischen Bildakts (Form als Form) bietet hier eine wichtige Basis.26 Demzufolge muss das Kunstwerk „ […] seine eigenen Fähigkeiten entwickeln. Diese liegen nicht in der Darstellung einer statischen Oberfläche, sondern in der einer inneren Bewegung“.27

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Willem Goeree: Natuurlyk en schilderkonstig ontwerp der Menschkunde, Amsterdam 1682, S. 284. Mit Dank für die Übersetzung an Herman Roodenburg: „At first we propose the inner movement which only works in the mind, without manifesting any visible bodily acts, and the other [kind of movements, Anm. d. V.] are simple bodily movements, in which no particular marks or expressions of the mind are seen, and the last are those mostly emanating from the mind that enact with the bodily movements.“ Vgl. Van Hoogstraten: Inleyding tot de hooge schoole der Schilderkonst, S. 292: „Es genügt nicht, dass ein Bild schön ist, sondern es muss eine sichere Bewegung in ihm enthalten sein.“ [Übersetzung d. V.] Vgl. hierzu Valeska von Rosen: Die Enargeia des Gemäldes. Zu einem vergessenen Inhalt des „Ut-pictura-poesis“ und seiner Relevanz für das cinquecenteske Bildkonzept, in: Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft, 27 (2000), S. 171; Rüdiger Campe: In der Stadt und vor Gericht. Das Auftauchen der Bilder und die Funktion der Grenze in der antiken Rhetorik, in: Bildwelten des Wissens. Kunsthistorisches Jahrbuch für Bildkritik, 3/1 (2005), S. 97–114; Ulrich Heinen: Huygens, Rubens and Medusa. Reflecting the Passions in Paintings with some Considerations of Neuroscience in Art History, in: Stephanie S. Dickey/Herman Roodenburg (Hg.): The Passions in the Arts of the Early Modern Netherlands, Nederlands Kunsthistorisch Jaarboek, 60 (2010), S. 159 ff. Horst Bredekamp: Theorie des Bildakts. Frankfurter Adorno-Vorlesungen 2007, Berlin 2010, S. 237–249. Ebd., S. 242.

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V. Ikonik der Bewegung

Ein ähnliches Potenzial wie das der Energeia äußert sich im zuvor genannten Coup-d’œil-Prinzip: „[…] die Möglichkeit, im Blick komplexe Zusammenhänge in der extrem kurzen Zeit des subito erfassen zu können, begrün­dete für ihn [Roger de Piles] die Höherrangigkeit der Kunst über die Dichtung.“ 28 Leonardo benennt genau das, was Rembrandt sowie de Gelder und Paudiß anstrebten: „Die Malerei zeigt Dir augenblicklich (in un subito) ihre Essenz in der visuellen Kraft – und mit eigenen Mitteln, so dass das Aufnahmevermögen die natürlichen Objekte sogar in derselben Zeit empfängt, in der sich die harmonische Proportionalität jener Teile komponiert, die das Ganze zusammensetzten, das den Sinn befriedigt.“29 Der niederländische Dichter Jan Vos thematisiert die unglaubliche Kraft eines unerwarteten Geschehens, das mit dem Prinzip der „augenblicklichen Bewegung“ zusammenhängt.30 Van Hoogstraten spricht in diesem Sinne im Anschluss an die oogenblikkige beweeging von der Möglichkeit, in einem Historienbild „durch einen einzigen Blick“ (eenstemmich) als Betrachter involviert zu werden.31 Zentral in diesem Zusammenhang ist auch der transitorische Moment, der für die Rembrandtisten von äußerster Bedeutung war, denn dadurch konnte der Ablauf des Bewegungsflusses hervorgehoben und dargestellt werden. Deshalb vereinen sich mehrere Bewegungen in einer einzigen, die sich im statischen, zweidimensionalen Bild simultan kristallisiert. Als Prinzip hat dies eine lange, unklassische Tradition und wird zum Beispiel schon von den Carracci und auch Tizian verfolgt.32 Die Bewegungen werden weder am Anfang noch am Ende, sondern eher im Fluss der Handlung dargestellt. Der Pfeil eines Bogenschützen wird im Flug und nicht am Anfang oder am Ende der Handlung gezeigt. Solche Darstellungen werden oft durch eine entsprechend „fließende“

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Horst Bredekamp: Die Erkenntniskraft der Plötzlichkeit. Hogrebes Szenenblick und die Tradition des Coup d’œil, in: Joachim Bromand/Guido Kreis (Hg.): Was sich nicht sagen lässt. Das Nicht-Begriffliche in Wissenschaft, Kunst und Religion, Berlin 2010, S. 459. Leonardo da Vinci: Trattato della pittura, hg. v. Ettore Camesasca, Mailand 1995, S. 17: „La pittura ti rappresenta in un subito la sua essenza nella virtù visiva, e per il proprio mezzo d’onde la impressiva ricevi gli obbietti naturali, ed ancora nel medesimo tempo, nel quale si compone l’armonica proporzionalità delle parti che compongono il tutto, che contenta il senso.“ Zitiert nach Bredekamp: Die Erkenntniskraft der Plötzlichkeit, S. 459. Jan Vos: Alle de Gedichten, Band 1, Amsterdam 1726, S. 361: „Eine unerwartete Sache hat eine ungemeine Kraft“ („Een onverwachte zaak heeft overgroote kracht“). Zitiert nach Weber: Der Lobtopos des „lebenden“ Bildes, S. 199. Van Hoogstraten: Inleyding tot de hooge schoole der Schilderkonst, S. 116. Zum Begriff des Unklassischen siehe das grundlegende Buch von Werner Busch (Das unklassische Bild. Von Tizian bis Constable und Turner, München 2009). Zu Carracci und der Bildtradition: ders.: Great Wits Jump. Laurence Sterne und die bildende Kunst, München 2011, S. 122 ff.

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Bewegung

Bild 145  Annibale Carracci: Der Bohnenesser, um 1585, Öl auf Leinwand, 57 × 68 cm, Galleria Colonna, Rom.

Malweise festgehalten. Die klassizistische Kunsttheorie (und so auch Lessings „fruchtbarer Augenblick“) greifte dies immer wieder an.33 So lässt sich für die Rembrandtisten behaupten: „Um aber im Bilde auch den Ablauf der Handlung selbst – und nicht ihren einen beschließenden Moment – suggerieren zu können und ohne zugleich die Wahrscheinlichkeit der zeitlich eingeschränkten Darstellung zu verletzen, kann der Maler einen Augenblick wählen, in dem der Lauf des Geschehens entscheidend umschlägt.“34 Der Bohnenesser von Annibale Carracci aus der Galleria Colonna in Rom (Bild 145) ist ein solches Beispiel, denn die Bohne befindet sich in der

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Wie Montagu feststellt, ging es auch bei Lessing – jedoch mit völlig anderen Prämissen – darum, einen Moment „in a continuing process of movement“ festzuhalten. Jennifer Montagu: The Expression of the Passions. The Origin and Influence of Charles Le Brun’s „Conférence sur l’expression générale et particulière“, New Haven u. a. 1994, S. 3. Roodenburg macht folgende Unterscheidung zwischen van Hoogstraten und Lessing: Er nennt den fruchtbaren Moment im Unterschied zu van Hoogstratens oogenblikkige beweeging „pre-climactic“. Roodenburg: „Beweeglijkheid“ embodied, S. 315. Weber: Der Lobtopos des „lebenden Bildes“, S. 197.

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V. Ikonik der Bewegung

Bild 146  Christopher Paudiß: Heimkehr vom Markt, signiert, um 1663, Öl auf Leinwand, 170 × 234 cm, Alte Pinakothek, München.

Luft.35 Die krumme Haltung, der geöffnete Mund sowie das leichte Kippen des Löffels, aufgrund dessen er die Bohnensuppe zu verschütten droht, unterstreichen die Bewegung und, im Sinne de Lairesses, den niedrigeren Habitus des hungrigen Bauern. Das Bild wird durch die Gattung des „Genre“ gleichsam legitimiert. Ähnlich wird in Paudiß’ großformatiger Genredarstellung einer Marktszene – zu sehen in München – das Herunterfließen des Eiweißes festgehalten (Bild 146). Hier lässt sich eine Analogie zur fließenden Farbe herstellen, die während des Malaktes auf die Leinwand tropft. In der Willem Drost zugeschriebenen Verkündigung wird das Prinzip des Transitorischen ebenfalls paradigmatisch verfolgt (Bild 147). Um die Überraschung der zukünftigen Mutter Christi angesichts der plötzlichen Erscheinung des Erzengels (der im Gemälde unsichtbar bleibt) zu zeigen, nimmt die Jungfrau eine Pose ein, die durch eine komplexe und fließende Bewegung sowohl nach innen wie nach außen gerichtet ist und damit eine paradoxe Wendung des Körpers als Öffnung und Schutz zugleich beschreibt. Das geöffnete Buch unterstreicht diese Pose zusätzlich, denn es wird herunterfallen, auch wenn es gerade noch an der Tischkante zu schweben scheint. Transitorische Momente und fließende Bewegungen werden auf der eigentlich statischen Oberfläche eines Bildes 35

Busch: Great Wits Jump, S. 123.

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Bewegung

Bild 147  Willem Drost: Die Verkündigung, Öl auf Leinwand, 88 × 70 cm, Narodni Galerie v Praze, Prag.

gezeigt – sowohl für die Maler als auch für die Theoretiker Anzeichen für verschiedene Gemütszustände.36 Das Bild wird zur Projektionsfläche der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen.

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So zum Beispiel: De Lairesse: Groot Schilderboek, Band 1, S. 28–35 u. 65–106. Weber: Der Lobtopos des „lebenden Bildes“, S. 197: „Um aber im Bilde auch den Ablauf der Handlung selbst – und nicht ihren einen beschließenden Moment – suggerieren zu können, und ohne zugleich die Wahrscheinlichkeit der zeitlich eingeschränkten Darstellung zu verletzen, kann der Maler einen Augenblick wählen, in dem der Lauf des Geschehens entscheidend umschlägt: […] Die Darstellbarkeit eines in dieser Hinsicht zugrundeliegenden Affektumschlags wird erst durch die Verwendung verschiedener Affekte sowie ihrer Mischung in einer Figur möglich.“ Zu einer ähnlichen Einsicht kam Roodenburg: „Accordingly, Jelgerhuis described the actor’s movements on stage as ‚a quickened sequence of attitudes, of, so to speak, a succession of permanent picturesque movements of arms and hands, legs and feet, and turning of the head‘.“ Johannes Jelgerhuis: Theoretische lessen over de gesticulatie en mimiek, Band 1, S. 77. Zitiert nach Herman Roodenburg: The Eloquence of the Body. Perspectives on Gesture in the Dutch Republic, Zwolle 2004, S. 158.

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V. Ikonik der Bewegung

Bild 148  Willem Drost: Noli me tangere, signiert, Öl auf Leinwand, 95,4 × 85,4 cm, Gemäldegalerie, Kassel.

In der Noli-me-tangere-Szene (Bild 148) des von Willem Drost signierten Werkes, heute in der Gemäldegalerie in Kassel, wird unter anderem die Frage des Verhältnisses der Bewegung zwischen innen (Emotionen) und außen (Körper) angesprochen. Inmitten einer nicht weiter identifizierbaren Landschaft sind Maria Magdalena und Christus zu erkennen. Die Handlung wird von links nach rechts in Szene gesetzt und bewegt sich von der Dunkelheit (Magdalena) ins Licht der Erkenntnis (Christus). Vor Erregung ist Magdalenas mit Glanzlichtern versehenes Salbeifläschchen heruntergefallen. Ihr Kopf ist nach vorne in Richtung Christi gebeugt und ihre Hände – eine im Schatten, die andere teils im Licht – tasten den Raum mit der Absicht ab, den Gottessohn zu berühren, um seine Wiederauferstehung zu verifizieren. Nur das körperliche Tasten kann zum Glauben führen.37 Als wäre sie blind, erscheint Magdalena mit tief schattierten Augen, die ihr In-sich-gekehrtSein symbolisieren (Bild 149). Die körperliche Starre lässt sie isoliert von der übrigen Außenwelt erscheinen. In dieser Haltung wird das Tasten, das gleich37

Dieser Aspekt des Glaubens als körperliches Ritual erinnert an das von Althusser bemühte Diktum Pascals: „Notwendig muss sich das Äußerliche dem Innern vereinen, damit man Gott erlange, d. h., dass man sich hinknie, mit den Lippen bete […].“ Louis Althusser: Spinoza, in: Materialismus der Begegnung, hg. v. Marcus Coelen und Felix Ensslin, Zürich 2000, Anm. 2, S. 124.

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Bewegung

Bilder 149, 150  Details aus Bild 148.

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V. Ikonik der Bewegung

Bild 151  Detail aus Bild 148.

sam ein räumliches Sehen ist, betont. Magdalenas Pose schwankt zwischen schweben und niederlegen. Ihr Gesicht ist rau und mit groben Flecken gemalt.38 Ihr Mund ist leicht geöffnet, als flüsterte sie Worte des Wiedererkennens. Die glänzende Stirn kann als Hinweis auf das Erkennen der Identität Christi gedeutet werden (Bild 150). 38

Nach dem Angriff mit Säuren (1971) war unter anderem der Bereich des Gesichts stark beschädigt. Das Bild ist vor einiger Zeit restauriert worden.

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Bewegung

Bild 152  Detail aus Bild 148.

Christus ist in sachter Drehung festgehalten. Der Kontrapost mit dem leicht erhobenen rechten Fuß erweckt den Eindruck, er wolle sich von Magdalena abwenden. In Wirklichkeit aber wendet er sich ihr mit geneigtem Haupt und robustem Oberköper zu (Bild 151). Das Noli me tangere wird durch den geöffneten Mund und den abweisenden Gestus der Rechten alludiert. Der angewinkelte linke Arm Christi unterstützt die Drehbewegung, die der Darstellung zusätzliche Energie verleiht. Zudem wird die Ruhe, die von der Erscheinung Christi ausgeht, durch den energischen Schwung des Gewandes konterkariert (Bild 152).

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V. Ikonik der Bewegung

Bild 153  Rembrandt: Noli me tangere, 1651, Öl auf Leinwand, 65 × 79 cm, Herzog Anton Ulrich Museum, Braunschweig.

Der Stoff mit seinen teils pastos gemalten Konturen betont durch die Falten die auffällige Abwendung von Magdalena. Der durch den Schwung der Körperdrehung bewegter Stoff wird hier zu einer Pathosformel. Da der Kopf Christi gegen das Licht gerichtet ist, bleiben die einzelnen Gesichtspartien im Dunkeln. Die Schaufel des Gärtners, bildet, ebenfalls auf dem Boden liegend, einen kompositorischen Kontrapunkt zu Magdalenas Fläschchen. Die innere Zerrissenheit zwischen Zu- und Abwendung manifestiert sich in dieser Szene körperlich. Der Vergleich mit einer entsprechenden Darstellung Rembrandts, heute im Herzog-Anton-Ulrich-Museum in Braunschweig, erweist sich als produktiv (Bild 153). Das Bild ist um 1651 entstanden, zu einer Zeit, als Drost es also durchaus in Rembrandts Atelier gesehen haben könnte.39 Rembrandt positioniert 39

Jeremias de Decker lobte in einem Gedicht (1660) das Bild seines Freundes Rembrandt folgendermaßen: „[…] Where (I think to myself) did the brush ever come so close to the pen, in bringing lifeless paint so close to life? […] It seems that Christ is saying: Mary, tremble not. […] The grave-rock rising high in the air, as art requires, And richly shadowed, dominates the painting and gives majesty to the whole work. […] Your masterful strokes, friend Rembrandt, I first saw move on this painting. Thus my pen was able to speak on your talented brush and my ink to

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Aktion

Christus, im Gegensatz zu Drost, nicht im Gegenlicht.40 Bei Rembrandt erscheint die Gegenüberstellung von Licht und Schatten sowie die schon beschriebene Einheit zwischen Körperbewegung und daraus resultierender Emotion ausgewogener als bei Drost. Beide Figuren sind weniger bewegt und affektbeladen, was damit zu tun haben könnte, dass die Farbe beziehungsweise der Farbauftrag selbst als Affekterreger agieren. Auch in dieser Hinsicht kann Energeia die indexikalische Kraft der Farbhandlung in einer Darstellung bedeuten. Die innere Spannung und das körperliche Hin- und Hergerissensein Christi sind bei Rembrandt viel weniger ausgeprägt als bei Drost. Das Verhältnis zwischen innen und außen wird im Grunde von der Frage der Relation zwischen Affekt und Körper oder zwischen Form und Inhalt bestimmt. Das Medium dieser Beziehung ist die praktizierte und dargebotene Handlung. Schon van Hoogstraten spricht sich für die ganzheitliche Motorik des Körpers aus, damit Bewegung innen und außen erzeugt werden kann.41 Diese Einheit deutete sich in den vorigen Beispielen schon an. In Drosts Gemälde Noli me tangere wird die Drastik anhand der untrennbaren Einheit von Körper und Emotion unverkennbar.

A k t ion Inmitten einer lieblichen Landschaft und flankiert von verschiedenen Tieren ist eine Dreiergruppe zu erkennen (Bild 154). Ein jung aussehender Abraham und die barfüßige Hagar, die eine Kopfbedeckung trägt und ein Tuch in ihrer linken Hand hält, bilden den Bezugspunkt für den mit dem Rücken zum Betrachter gewandten Ismael, der im Schatten Abrahams steht. Auch wenn der Gemütszustand des Jungen aus seiner Körperhaltung nicht eindeutig ersichtlich ist, scheint er doch Zuneigung bei den anderen zu suchen. Abraham ist im Profil in leicht nach vorne gekrümmter Haltung dargestellt und legt seine rechte Hand auf den geneigten Kopf des Jungen. Mit seiner Linken berührt er Hagar, die das erwidert. In dieser Dreieckskonstellation erscheinen alle Figuren starr und somit

40 41

praise your paints“. Das Gedicht ist abgedruckt in Cornelis Hofstede de Groot: Die Urkunden über Rembrandt, Den Haag 1906, S. 268. Vgl. für die englische Übersetzung Ernst van de Wetering: An Illustrated Chronological Survey of Rembrandt’s Small-Scale „Histories“, in: ders. (Hg.): A Corpus of Rembrandt Paintings V. The Small-Scale History Paintings, Dordrecht 2010, S. 234. Siehe weiterhin: Jan Konst: De retorica van het „movere“ in Jeremias de Deckers Goede Vrydag ofte het Lijden onses Heeren Jesu Christi, in: De nieuwe taalgids, 83 (1990), S. 298–312. Zum Porträt Rembrandts des Jeremias de Decker siehe: K. H. De Raaf: Rembrandt’s portret van Jeremias de Decker, in: Oud Holland, (1912), S. 1–5. Vgl. Jonathan Bikker: Willem Drost (1633–1659). A Rembrandt pupil in Amsterdam and Venice, New Haven 2005, S. 63 ff. Van Hoogstraten: Inleyding tot de hooge schoole der Schilderkonst, S. 120.

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V. Ikonik der Bewegung

in gewisser Hinsicht handlungsunfähig. Hinter Hagar tun sich in der Landschaft eine Brücke und ein Gebäude mit Turm (bekannt aus Rembrandt- und LastmanDarstellungen) auf, womit auf ihre Vertreibung aus dem Hause Abrahams referiert wird. Abraham befindet sich auf der anderen Seite in der Nähe der Tiere und eines angedeuteten Gebäudes. Dämmriges Licht mit verschiedenen, feinen Nuancen von Hell und Dunkel dominiert die gesamte Szene. Das Bild wurde in den 1650er Jahren von Barent Fabritius gemalt. Das Gemälde des Rembrandt-Lehrers Lastman diente Barent als Ausgangspunkt. So wirkt sein Bild auf den ersten Blick wie eine Kopie, unterscheidet sich dann aber doch an einigen zentralen Stellen (Bild 155). Das explizit rhetorische Erzählen der Geschichte und deren dramatischer Folgen wird bei Lastman anhand der Gestik und Mimik Hagars und des weinenden Ismael, der sich von Abraham abwendet, in Szene gesetzt.42 Lastmans Abraham ist etwas älter, wird jedoch – abgesehen von der pastoseren Malweise – in Haltung und Ausdruck von Barent übernommen (Bild 154). Landschaft und Architektur sind deutlicher dargestellt, indem der Größenunterschied zu den Figuren reduziert wird. Durch die Monumentalisierung der Figuren gestaltet sich die Umgebung schemenhafter. Auch das Licht ist schärfer und hat nicht die Nuancen wie bei Fabritius. Bei ihm verlieren die Gesten zugunsten einer atmosphärischen Wiedergabe durch Farbe an Deutlichkeit, was sich auf die Stimmung des Bildes auswirkt. Eine klare, lesbare Darstellung der Handlung durch Gestik und Mimik wird vermieden. Das typische Lastman-Laub, wie es sich in den Büschen links zeigt, wird von Fabritius in einen dunklen, mit Lichtreflexen versehenen Organismus verwandelt. Die Handlung scheint in Fabritius’ Darstellung wie gehemmt, Gefühle werden vermieden oder gemildert. Das wird sowohl durch Ismaels Abwendung deutlich als auch dadurch, dass Hagar unentschlossen scheint, ihr angespanntes Gesicht mit dem Tuch abzuwischen. Die durch Farbe akzentuierten Lichtnuancen übernehmen die Aktion, und zwar bei semiotisch nicht eindeutig dekodierbaren Zeichen, die Lastman im Vergleich zu Fabritius deutlich durch Gestik und Mimik unterstreicht. Obwohl nach Meinung einiger Spezialisten die Verstoßung Hagars besonders geeignet war, verschiedene Gefühle malerisch zu zeigen,43 werden diese bei Fabritius durch Helldunkeltonalitäten in einer Um­wandlung von Theatralik zu Empfindsamkeit dargestellt. 42

43

Ausst. Kat.: Pieter Lastman. In Rembrandts Schatten?, hg. v. Martina Sitt/Adriaan E. Waiboer/Christian T. Seifert, München 2006, S. 88 ff. Siehe auch zum Vergleich zwischen Lastman und Rembrandt im Hinblick auf die Verstoßung der Hagar: Martina Sitt: Lastman und Rembrandt am Beispiel der „Verstoßung der Hagar“, in: Ausst. Kat.: Rembrandt, hg. v. Klaus Albrecht Schröder und Marian Bisanz-Prakken, Wolfratshausen 2004, S. 292 ff. Ausst. Kat.: Im Lichte Rembrandts. Das Alte Testament im Goldenen Zeitalter der niederländischen Kunst, hg. v. Christian Tümpel, Zwolle 1994, S. 30.

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Aktion

Bild 154  Barent Fabritius: Die Verstoßung von Hagar und Ismael, um 1655, Öl auf Leinwand, 107 × 107,5 cm, De Young Museum, San Francisco.

Bild 155  Pieter Lastman: Die Verstoßung von Hagar und Ismael, 1612, Öl auf Leinwand, 49 × 71 cm, Kunsthalle, Hamburg.

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V. Ikonik der Bewegung

Bild 156  Nicolaes Maes: Verstoßung der Hagar, links steigt Ismael die Treppe hinab, Rötel Zeichnung, 17,7 × 15,4 cm, Kupferstich­ kabinett – Staatliche Museeen zu Berlin, Berlin.

Bild 157  Nicolaes Maes: Die Verstoßung der Hagar, 1653, Öl auf Leinwand, 87,6 × 69,9 cm, Metropolitan Museum of Art, New York.

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Aktion

Nicolaes Maes malt 1653 dasselbe Thema, basierend auf einer Zeichnung von ihm (Bild 156 und Bild 157). Die Figurenkonstellation zeigt keine deutlichen Handlungsabsichten. Außerdem ist die vorsichtige, aber als aktiv zu bezeichnende Pose Abrahams schwer zu interpretieren. Versucht er Hagar zu besänftigen, zu überzeugen oder spricht er eben die Verstoßung aus? Jedenfalls scheint er Isaak zu segnen. Hagar ist in sich gekehrt. Die Aufmerksamkeit, die ihr durch Abraham und das auf sie gerichtete Licht zuteil wird, scheint ihr nicht behaglich zu sein. Ihre Haltung lässt sich als passiv charakterisieren. Ismael, der im Profil wiedergegeben wird, ist an der ganzen Handlung unbeteiligt. Die Szene spielt sich auf dem Absatz einer steilen Treppe vor einem Haus ab. Maes orientiert sich an der berühmten Radierung Rembrandts mit demselben Thema und ändert teilweise die Komposition auf drastische Weise. Weder Sara noch Isaak sind bei ihm zu erkennen. Durch die Platzierung des Hundes sowie die Neuverteilung der Personen im Bild (Ismael befindet sich nicht in der Mitte) wird die Darstellung unbestimmt. Abgesehen davon sind die Licht- und Schattenverhältnisse sowie die atmosphärische Wiedergabe der Dämmerung dem Bild von Fabritius ähnlich. Das Gemälde von Jan Victors mit demselben Thema referiert mit den theatralischen, rhetorischen Posen der Figuren auf Lastman (Bild 158). Die Stimmung der Landschaft weist zwar Ähnlichkeiten mit den weiteren Darstellungen auf, jedoch ist die Spannung nicht mehr vorhanden. Die klaren Konturen der Figuren entsprechen den klaren Zeichen der Handlung und der Komposition. Dies steht im Gegensatz zu den Gemälden von Barent Fabritius oder Nicolaes Maes,

Bild 158  Jan Victors: Die Verstoßung von Hagar und Ismael, 1650, Öl auf Leinwand, 143,5 × 178,7 cm, Israel Museum, Jerusalem.

282  

V. Ikonik der Bewegung

die – ähnlich den Darstellungen Rembrandts seit den 1650er Jahren – auf ein Kodieren dieser Zeichen verzichten. Victors geht in einer an Rembrandt erinnernden Malweise auf die klassizistischen Tendenzen der Zeit ein, die Flinck und Bol schon verinnerlicht hatten. Abrahams Opfer wurde als Thema häufig von den Rembrandtisten behandelt. Bei Maes tritt das Problem der Darstellung von Handlung besonders stark hervor (Bild 159). Er schuf das heute in der Sammlung Alfred Bader aufbewahrte Bild um 1655–58. Stilistisch weist es Ähnlichkeiten zu seiner Verstoßung der Hagar auf (Bild 157). Maes stellt in einer bergigen Landschaft den gebückten und knienden Abraham dar, der im Begriff ist, sein Schwert zu ziehen, um seinen auf einen Holzbalken gefesselten und nur von einem Tuch bedeckten Sohn zu opfern. Die Rettung ist durch die Anwesenheit des Engels schon angekündigt. Es scheint, als ob er auf der prominent ins Bild gesetzten Wolke balanciert. Mit leicht geöffnetem Mund mustert er eher den Betrachter als Abraham. Der traditionellen Ikonografie entsprechend hat er noch nicht die Hand Abrahams gepackt. Der Vater Isaaks ist einen Moment zuvor dargestellt. Trotzdem vermittelt der Engel nicht den Eindruck, als wolle er spontan eingreifen, wodurch die Handlung eine gewisse Uneindeutigkeit erhält. Der Körper Isaaks ist hingegen kaum angespannt, als sei er sich seiner Rettung schon sicher. Das Kolorit und die Helldunkelkontraste verleihen der Szene eine Dynamik, die der seltsamen Passivität der Figuren nicht entsprechen will. Dies zeigt sich vor allem an den dunklen Wolken, die im Hintergrund mit einer rot-orangen Farbigkeit versehen sind, entsprechend dem Gewand Abrahams. Vereinzelt leuchten durch Glanzlichter verschiedene Objekte auf, wie die Schüssel oder das rechts im Vordergrund abgelegte Gewand (wohl Isaaks). Das Vorbild ist hier Rembrandts Gemälde mit demselben Thema (Bild 160), das in zwei Versionen vorliegt. Eine befindet sich in St. Petersburg und ist von 1635, die andere (in München) entstand 1636 in Zusammenarbeit mit einem Schüler, bei dem es sich wohl um Govert Flinck handelt.44 Rembrandt reagiert – in ähnlicher Weise wie Barent Fabritius bei der Verstoßung der Hagar – auf Lastmans holzschnitthafte Rhetorik. Während er die Aktion selbst und deren psychologische Implikationen in einem transitorischen Moment (das in der Luft befindliche Messer) darstellt, rekurrieren sowohl Maes als auch de Gelder auf die Handlungsschritte davor, die einen Anti-Erzählmoment auf jeweils unterschiedliche Weise darstellen. Das Gemälde Arent de Gelders (Bild 161) ist signiert, auf 1696 datiert und erinnert kompositorisch an das Werk von Maes mit demselben Thema. Die besondere Platzierung von Isaak auf dem Holzbalken sowie das Tuch, das die 44

Vgl. Ausst. Kat.: Rembrandt. Die Opferung Isaaks, hg. v. Marcus Dekiert, München 2004.

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Aktion

Bild 159  Nicolaes Maes: Abrahams Opfer, um 1654, Öl auf Leinwand, 113 × 91,5 cm, Agnes Etherington Art Center, Kingston/Ontario.

Lenden bedeckt, sind dem Werk von Maes ähnlich, obwohl Isaaks Körper bei Maes in die entgegengesetzte Richtung zeigt. Die überkreutzte Haltung der Beine Isaaks bei de Gelder ist identisch mit jener bei Rembrandt, im Gegensatz zu den ausgestreckten Beinen bei Maes, obwohl dieser sie in einer Zeichnung zunächst auf ähnliche Weise festgehalten hatte. Die Dramatik steigert sich durch die Bedeckung der Augen mit einem Tuch, die jedoch nicht an das körperliche Greifen im Bilde Rembrandts herankommt. Die fehlende Drastik offenbart sich durch die entspannte Haltung Isaaks bei Maes. Das Körpervolumen wie auch die Proportionen der Figuren entsprechen sich in den zwei Darstellungen.

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V. Ikonik der Bewegung

Bild 160  Rembrandt: Das Opfer Abrahams, 1635, Öl auf Leinwand, 193,5 × 132,8 cm, Eremitage, St. Petersburg.

Das Licht verleiht der metallenen Schüssel einen besonderen Glanz. Der Handlungsverlauf ist bei de Gelder schon fortgeschritten: Abraham hält das Schwert in der Rechten, scheint aber im Unklaren darüber zu sein, was damit zu tun ist. Durch die Abwesenheit des Engels verwickelt Abraham den Betrachter in ein moralisch-psychologisches Dilemma,45 indem er ihn starr und in einer leicht ge­ 45

Zum moralischen Dilemma: Pablo Schneider: „wann dies stückh aufgethan“. Bildakt in der Montierung – Der Selbstmord der Lucretia bei Lucas Cranach d. Ä. und Albrecht Dürer, in: Feist/Rath: Et in imagine ego, S. 56 ff.

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Aktion

bückten Haltung anblickt, als fordere er ihn zu einer Handlung auf. Eben diesen ­Eindruck verstärkt die Platzierung Isaaks: Anders als bei Maes ist er hier dem Betrachter zum Greifen nahe. In beiden Darstellungen bleibt die Haltung Abrahams offen, vor allem bei de Gelder. Die Farbe und die Motorik des Pinsels scheinen die Dramatik des Geschehens zu verstärken. Der Hintergrund ist rauchig gehalten, ohne eine wirkliche Ausprägung der nur angedeuteten Landschaft.46 Die Szenerie ist in Dunkelheit getaucht. Ebenso scheint das Schwert im

Bild 161  Arent de Gelder: Abrahams Opfer, signiert, 1696, Öl auf Leinwand, 108 × 132 cm, Verbleib unbekannt.

Hintergrund zu verschwinden, sodass Abrahams Tat in der farblichen Tonalität aufgehalten wird. De Gelder nimmt drei Jahre nach dem Tode von Maes ein frühes Bild des Malers und interpretiert es auf eine ganz persönliche Weise, wie schon im ersten Kapitel am Beispiel der Sitzenden alten Frau (Bild 22) gezeigt wurde.47 46 47

Von der Farbe kann hier leider nicht eingehender gesprochen werden, weil das verschollene Bild nur von Schwarz-Weiß-Reproduktionen bekannt ist. Vgl. Kapitel I, S. 57 ff.

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V. Ikonik der Bewegung

In seiner Inleyding behauptete Samuel van Hoogstraten, dass ohne Bewegung keine Aktion möglich sei. Bedingung für jegliche Aktion sei Bewegung; umgekehrt könne es ohne Handlung keine Bewegung geben. Van Hoogstraten spricht im Sinne seiner oogenblikklijke beweeging auch von der oogenblikklijke daedt.48 Aktionen werden also mit den Bewegungen des Körpers verschränkt. Sie stimmen mit den Leidenschaften der Gemüter überein.49 Weiterhin forderte van Hoogstraten, „de eygentlyke bewe­­gingen den lichaemen nae haere doeningen toe te passen“.50 Bezeichnend in diesem Kontext ist die Tatsache, dass er eine unmittelbare Verbindung zwischen körperlichen Aktionen und Bewegungen mit mentalen Prozessen sah, und dies sogar bei beinahe statischen Figuren (wie Tableaux-Vivants).51 Die Statik der Figuren wurde in unterschiedlichen Ausprägungen bereits bei der Beschreibung der Gemälde von Maes, de Gelder oder Fabritius deutlich. Wenn der Abraham bei de Gelder starr und bewegungslos dargestellt wird, so bedeutet das, dass er unter Spannung steht und handlungsunfähig ist. Soll er Gottes Gebot befolgen und seinen eigenen Sohn töten oder nicht? Dort, wo Unentschlossenheit sich in starrer und in sich gekehrter Darstellung der Figuren ausdrückt, werden die Betrachter verunsichert. Otto Pächt führte aus, dass Rembrandt kein Interesse an der äußeren Handlung zeigte, sondern vielmehr an deren psychischen Folgen (was sich vor allem über das Spätwerk des Künstlers sagen lässt).52 Auf ähnliche Weise argumentiert Gary Schwartz: „Eher als für die spezifischen menschlichen Verhaltensformen schien Rembrandt sich für den mentalen Zustand hinter einer Handlung zu interessieren. Dabei brauchte es gar keine Aktion zu geben.“53 Beide Autoren lassen aber weiterführende Fragen zur Substitution der Aktion durch die Pinselführung und den Farbauftrag (d. h. dem Handeling) als Handlungsträger vermissen. Deshalb ist es wichtig, die Verbindung der Hand mit der darzustellenden Aktion als performative Tätigkeit, als ikonisches Surplus zu unterstreichen. So fasst van Hoogstraten die Motorik der Hand als Tat per se auf: „Wat de handen belangt, door dezelve worden voornamentlijk alle daden ofte doeningen uitge-

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Van Hoogstraten erwähnt diese Begriffe, wie bereits gesehen, im Abschnitt „Van de doening, in de daed der Historie“. Van Hoogstraten: Inleyding tot de hooge schoole der Schilderkonst, S. 115 f. Ebd., S. 116. Ebd., S. 109: „[…] dass die eigentlichen Bewegungen der Körper mit deren Handlungen übereinstimmen [sollen].“ Übersetzung d. V. Ebd., S. 116. Otto Pächt: Rembrandt, München 1991, S. 161. Gary Schwartz: Das Rembrandt Buch. Leben und Werk eines Genies, München 2006, S. 310.

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Aktion

werkt.“54 Diese Idee ist fast wörtlich Quintilian entnommen: „As for the hands, without which all action would be crippled and enfeebled, it is scarcely possible to describe the variety of their motions, since they are almost as expressive as words.“55 Arnold Houbraken brachte die Verbindung zwischen Hand und Instrument im Hinblick auf die Darstellung von Affekten in der Biografie Rembrandts auf den Punkt: „[…] honderden […] van schetsen […] waar in de driften van ’t gemoed ontrent allerhanden voorvallen zoo konstig en duidelyk zig in de wezenstrekken vertoonen dat het te verwonderen is. […] Stel eens, men moet vreugt, blydschap, droefheid, schrik, toorn, verwondering, veragting enz. dat is, de menigerhande leidingen van de ziel, door vaste en kennelyke wezenstrekken vertoonen.“56 Überraschenderweise verteidigte sich de Lairesse gegenüber einer übertriebenen gestischen Expressivität, obwohl seine eigenen Bilder in der Tradition Lastmans mit Übertreibungen gespickt sind. Er befürchtete den Verlust der moralischen wie auch der natürlichen Aktion und somit seines programmatischen Zieles der Gratia, die mit gleichmäßiger Motorik mittels eines feinen Pinsels zu erreichen sei.57 Ein Gemälde affiziert den Betrachter ihm zufolge durch natürliche Bewegung, wobei mit „natürlich“ paradoxerweise höfische Eleganz gemeint ist, die dann mit dem an anderer Stelle bereits erläuterten Habitus einhergeht.58 Dahingegen wurde in der Forschung jedoch betont: „[…] [g]estures 54

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Van Hoogstraten: Inleyding tot de hooge schoole der Schilderkonst, S. 117. Siehe die Übersetzung Herman Roodenburgs: „As far as the hands are concerned, these mainly express all deeds or actions; indeed, their movements are almost comparable to a universal language.“ Quintilian: Institutio Oratoria, 11.3.85, 4:289, zitiert nach Jacqueline Lichtenstein: The Eloquence of Color. Rhetoric and Painting in the French Classical Age, Berkeley/Los Angeles/Oxford 1993, S. 102. Siehe Houbraken: De Groote Schouburgh der Nederlantsche Konstschilders en schilderessen, Band 1, Den Haag ²1753, S. 270 u. 264: „[…] hundreds […] of sketches […] wherein the passions of the soul in all kinds of situations are so explicitly and artfully shown […] joy, happiness, sadness, fright, wrath, amazement and so on, everything represented so naturally that one can read the meaning from the very facial features themselves.“ Übersetzung Herman Roodenburg. Vgl. hierzu David Rosand: Drawing Acts. Studies in Graphic Expression and Representation, Cambridge/New York 2002, S. 226. Für die Beziehung zwischen Arnold Houbraken und Samuel van Hoogstraten siehe: Hendrik J. Horn: Great Respect and Complete Bafflement: Arnold Houbraken’s Mixed Opinion of Samuel van Hoogstraten, in: Thijs Weststeijn (Hg.): The Universal Art of Samuel van Hoogstraten (1627–1678). Painter, Writer, and Courtier, Amsterdam 2013, S. 208–239. Hans Joachim Dethlefs: Gerard de Lairesse and the Semantic Development of the Concept Haltung in German, in: Oud Holland, 122/4 (2009), S. 221 f.: „Der Bilder Natur-artige und wohl-sittliche action“. Vgl. Kapitel II, S. 123. Weber: Der Lobtopos des „lebenden“ Bildes, S. 206. Vgl. De Lairesse: Groot Schilderboek, Band 1, S. 135 ff.

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V. Ikonik der Bewegung

are just indicated, not firmly made, to prevent the misunderstanding that forceful actions are more important than the emotions that cause them. Evidently there is a certain degree of standardisation in the movements Lairesse’s figures make […].“59 Dies steht im Zeichen eines idealistischen Prinzips und damit im Gegensatz zu den Rembrandtisten. Abgesehen von der unterschiedlichen Malweise und der entsprechenden Nutzung der künstlerischen Mittel bleibt bei de Lairesse das Zeichen immer deutlich und fixiert, auch wenn es in gewisser Weise abstrahiert wird. So kann eine „offene“ Malweise mit einer entsprechenden Bildhandlung kombiniert werden, wohingegen ein geschlossenes, gleichmäßiges Handeling wie im Falle de Lairesses mit einer eindeutigen inhaltlichen Aussage zusammenhängt. Diese Erkenntnis entstammt der französischen Kunsttheorie, wie sie besonders Charles Le Brun vertrat, der eine Inspirationsfigur für de Lairesse war. Es ist wichtig zu beobachten, wie vom Direktor der französischen Kunstakademie Bewegung und Aktion einerseits als ähnliche Konzeptionen aufgefasst werden, andererseits aber in einem wissenschaftlichen Programm stehen, das von einem mechanistisch-dualistischen Weltbild durchdrungen ist. Der geschlossene und definierte Umriss des Körpers durch die Linie wurde beispielsweise zu diesem Zeitpunkt in den Niederlanden als Gegenprogramm zur altmodischen, weil aristotelisch geprägten Scholastik angesehen: „Since most of the passions of the soul produce bodily actions, we ought to know what the actions of the body are which express the passions, and what an action is. An action is nothing else but the movement of some part, and this movement can be effected only by an alteration in the muscles, while the muscles are moved only by the intervention of the nerves, which bind the parts of the body and pass through them. […] The nerves work only by the spirits which are contained in the cavities of the brain, and the brain receives the spirits only from the blood which passes continuously through the heart […] The brain thus filled sends out these spirits to the other parts by means of the nerves, which are like so many little filaments or tubes which carry the spirits into the muscles, varying the amount to suit the needs of the muscles in performing the action to which they are called.“60 In einem solchen Kunstverständnis hat der Körper keinen Platz. Einzig die in der fixierten Linie verkörperte Idea hat überhaupt ein Recht, in 59 60

Lyckle de Vries: Gerard de Lairesse. An Artist between Stage and Studio, Amsterdam 1998, S. 192. Charles Le Brun: Conférence sur l’expression, Paris 1698: „Comme il est donc vrai que la plus grande partie des passions de l’Ame produit des actions corporelles […] selon qu’ils en ont besoin pour faire l’action à laquelle ils sont appellez.“ Vgl. den französischen Text und die Übersetzung in: Montagu: The Expression of the Passions, S. 126. Siehe Jutta Held: Französische Kunsttheorie des 17. Jahrhunderts und

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Aktion

dieser von Le Brun unternommenen Rationalisierung der Affekte zu existieren. Die Seele produziert getrennt vom Körper Affekte, die der Künstler dann anhand der Umrisslinie des Gesichts, als wäre der übrige Körper nicht affektiert, mit Hilfe der jeweiligen Mimik (Augen, Augenbrauen und Mund) zu bändigen versucht. Dem steht die Auffassung gegenüber, die vom Körper ausgeht und den Malprozess zum Handlungsträger und Affekterreger erhebt. Wie mehrfach deutlich wurde, ist Handeling der Oberbegriff für diese Annäherung an die Rembrandtisten. Denken und Handeln leiten sich bei ihnen von der Form und vom Malakt ab, nicht umgekehrt, und sind im Sinne des Zusammenspiels von Körper und Kopf zu denken. Das Auftragen der Farbe ist ein performativer, emotiver und zugleich intelligibler Akt.61 Es gilt, das eigene, bildliche Potenzial dieser nicht primär mentalen Bildproduktion zu unterstreichen.62 Das bedeutet jedoch nicht, dass die Sprache (zum Beispiel die schriftlichen Werke van Hoogstratens) keinen Zugang zum Verständnis dieser Bildlichkeit liefert. Vielmehr wird das Verhältnis zwischen Bild und Sprache hier als produktives Nebeneinander verstanden, wenn Bilder nicht als Illustrationen der Theorie gesehen werden, sondern aus sich heraus Möglichkeiten generieren, die Theorie nachzuvollziehen oder sie sogar erzeugen können.63 Van Hoogstraten tradiert eine bis dahin noch nicht verbalisierte Bildpraxis (wenn auch mit widersprüchlicher Haltung), die erst in der Moderne als explizit sprachliches Manifest auftritt. Durch die mittels unterschiedlicher Werkzeuge hergestellte, widerspenstige Wirkung der Oberfläche evozieren die Rembrandtisten gegenüber der gleichmäßigen Ausführung der Feinmaler eine Unruhe, die im Betrachter unmittelbar Emotionen auslösen kann. Sie motiviert ihn zum Handeln und ermöglicht es, die motorische Bewegung der Hand des Künstlers an den hinterlassenen

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der absolutistische Staat. Le Brun und die ersten acht Vorlesungen an der königlichen Akademie, Berlin 2001. Vgl. allgemein: Erika Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, Frankfurt am Main 2004. Mit dem Begriff der Ikonik lässt sich vor allem an Max Imdahl sowie an die Arbeiten von Gottfried Boehm oder John Michael Krois denken. Bei den zwei Ersten spielt der Körper im Hinblick auf den Begriff der Ikonik und der Bildwahrnehmung eine geringere Rolle als bei Letzterem. Vgl. Max Imdahl: Giotto. Zur Frage der ikonischen Sinnstruktur (1979), in: ders.: Reflexion – Theorie – Methode, Gesammelte Schriften, hg. v. Gottfried Boehm, Band 3, Frankfurt am Main 1996, S. 424–463; John Michael Krois: Tastbilder. Zur Verkörperungstheorie ikonischer Formen, in: ders.: Bildkörper und Körperschema. Schriften zur Verkörperungstheorie ikonischer Formen, (Actus et Imago II), Berlin 2011, S. 211–231; Gottfried Boehm: Der Grund. Über das ikonische Kontinuum, in: ders./Matteo Burioni (Hg.): Der Grund. Das Feld des Sichtbaren, München 2012, S. 28–92. Siehe zu diesem Komplex: Jürgen Trabant: Nacquero esse gemelle. Über die Zwillingsgeburt von Bild und Sprache, in: Feist/Rath: Et in imagine ego, S. 77–92.

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V. Ikonik der Bewegung

Spuren nachzuvollziehen. Das nehmen die Betrachter abhängig von sozialen und kulturellen Voraussetzungen unterschiedlich wahr. Doch besitzen alle einen Körper und können Bewegungen aller Art anhand ihres Körperschemas verfolgen: „To perceive like us, it follows, you must have a body like ours.“64 So werden Linie und Farbe als untrennbar voneinander verstanden, weil das Handeling beide verbindet, auch wenn die Rembrandtisten mehr mit der Farbe als mit der Linie denken.65 Das Wie wird zum Desideratum eines Bildes, weniger das Was. Dass Farbe und Form die Handlung übernehmen und dadurch auf sich selbst verweisen, ist ein Charakteristikum der modernen, wenn nicht gar abstrakten Kunst. Die sekundären Bildelemente, die eigentlich Handlungen und Erzählungen thematisieren, werden in einer figurativen Kunst zum Handlungsträger. Die Prozessualität selbst ist Gegenstand des Handeling. Die Bewegung entstammt der Motorik der Hand, die gewiss den Inhalt thematisiert und miteinschließt, ihn aber durch das indexikalische Verweisen auf ihre eigene Kraft in den Hintergrund zu drängen weiß. Die nicht selten noch im Prozess befindlichen Aktionen bleiben offen, ähnlich den oft unkontrollierten Strichen und Farben der Rembrandtisten. Daraus schöpft sich die Dynamik des Bildes. In diesem Zusammenhang spielt das Konzept der Energeia eine zentrale Rolle.66 Sie konstituiert die Bildkraft. Ohne sie gibt es keine Wirkung auf das Gemüt der Betrachter, so van Hoogstraten.67 Nicht allein die spezifisch ausgeführte Handlung oder Erzählung im Bild sind von Belang, sondern die Stimmung und Kraft68 der Farbe und deren Auftrag.69 Deren direkte Beziehung zum Inhalt spricht die Betrachter an. Die Handmotorik wird zum Seismografen des 64 65

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Alva Noë: Action in Perception, Cambridge MA 2004, S. 25. Siehe: Thijs Weststeijn: „This Art Embraces All Visible Things in its Domain“. Samuel van Hoogstraten and the „Trattato della Pittura“, in: Claire Farago (Hg.): Re-Reading Leonardo. The Treatise on Painting across Europe, 1550–1900, Burlington 2009, S. 427. Von Rosen: Die Enargeia des Gemäldes, S. 184. Van Hoogstraten: Inleyding tot de hooge schoole der Schilderkonst, S. 293: „Zoo is ’t ook met de Schilders, zy beroeren ’t gemoed niet, zooze deeze beweeglijkheyt overslaen […].“ Vgl. Thijs Weststeijn: Rembrandt and Rhetoric. The Concept of affectus, enargeia and ornatus in Samuel van Hoogstraten’s Judgement of his Master, in: ders./Marieke van Doel/Natasja van Eck (Hg.): The Learned Eye. Regarding Art, Theory, and the Artist’s Reputation. Essays for Ernst van de Wetering, Amsterdam 2005, S. 117. Junius spricht von beweghens kracht. Franciscus Junius: De schilderkonst der oude, Middelburg 1641, S. 274, zitiert nach Thijs Weststeijn: Between Mind and Body. Painting the Inner Movements According to Samuel van Hoogstraten and Franciscus Junius, in: Nederlands Kunsthistorisch Jaarboek, 60 (2010), S. 279. Die Kraft der Farbe ist ein Produkt des Handeling und bewegt von sich aus den Betrachter. Vgl auch die Ausführungen von Roger de Piles, in: Thomas Kirchner: L’Expression des Passions. Ausdruck als Darstellungsproblem in der französischen Kunst und Kunsttheorie des 17. und 18. Jahrhunderts, Mainz 1991, S. 61.

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Affekt als Körpertechnik

Bildes. Die Lebendigkeit der Farbe basiert auf einer Bildlichkeit, die die Sprache nicht erfüllen kann. Die Ikonik tritt jedoch mit der Sprache in ein interagierendes, komplementäres Verhältnis als körperliche Artikulation. Demnach ließen sich Energeia und Handeling in Bezug auf ihre indexikalische Kraft als Affekt­ erreger nicht nur parallelisieren, sondern als ein integraler Bestandteil desselben Prozesses verstehen.70

A f fek t a ls Kör p er tec h n i k z w isc hen E i n f ü h lu ng u nd D ist a n z 1721 schrieb Arnold Houbraken über die Passionsserie seines Freundes Arent de Gelder (gemalt um 1715), die er noch als unvollendetes Projekt kannte: „Het laatste van zyne werken is de Passie, anders de Historie van den lydenden Chrsitus, in 22 stukken, war van’ er reets voltooit zyn, waar in konstig de menigerhande hartstogten, of gemoedsdriften uit kennelyke wezenstrekken te zien zyn.“71 De Gelder musste sich selbst in die Emotionen der anderen hineinversetzen, um sie darstellen zu können, was sich am anschaulichsten in seinem Selbstbildnis als Zeuxis zeigt (Bild 31).72 Hier stellt er in Form einer gemalten

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Wie sehr das Handeling als eine bildliche Aktion des Gemüts zu betrachten ist, wird in der Biografie Domenichinos von Bellori, 1672, ersichtlich: „Er [Domenichino] fügte hinzu, dass es für die Handlung des Bildes nicht allein vonnöten ist, die Affekte zu betrachten und zu erkennen, sondern dass man sie auch in sich selbst fühlen muss, dass man eben die Dinge, die man darstellt, tun und empfinden muss; daher hörte man ihn bisweilen für sich allein Reden führen und Worte des Schmerzes oder der Fröhlichkeit aussprechen, je nach den Gefühlen, die er ausdrückte.“ Zitiert nach Thomas Kirchner: „De l’usage des passions“. Die Emotionen bei Künstler, Kunstwerk und Betrachter, in: Klaus Herding/Bernhard Stumpfhaus (Hg.): Pathos, Affekt, Gefühl. Die Emotionen in den Künsten, Berlin u. a. 2004, Anm. 24, S. 376. Hier treffen sich bestimmte Topoi der Kunstliteratur nördlich und südlich der Alpen. Sie zeigen, dass etliche Malprinzipien von der idealistischen Kunsttheorie ähnlich wahrgenommen und beschrieben werden. Deshalb macht diese geografische Unterscheidung in diesem Fall wenig Sinn, da es sich um ein genuin europäisches Phänomen handelt. Arnold Houbraken: De Groote Schouburgh der Nederlantsche konstschilders en schilderessen, Band 3, S. 208. Vgl. Alfred von Wurzbach: Arnold Houbraken’s Grosse Schouburgh der niederländischen Maler und Malerinnen, Osnabrück 1970, S. 370: „Seine letzte Arbeit ist eine Passion oder eine Geschichte des Leidens Christi in 22 Bildern, von welchen gegenwärtig 20 vollendet sind, in welchen die mannigfaltigsten Gefühle und Gemütsbewegungen aus charakteristischen Zügen zu entnehmen sind […].“ Vgl. Kapitel II, S. 105. Junius vertrat in diesem Zusammenhang folgende Meinung: „An Artificer therfore who desireth to moove the spectator with his worke […] had need to be mooved himself.“ Franciscus Junius: The Painting of the ancients/De Pictura veterum, according to the English Translation (1638), hg. v. Keith Aldrich/ Philipp Fehl/Raina Fehl, Band 1, Berkeley 1991, S. 264.

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V. Ikonik der Bewegung

ideologischen Prinzipienerklärung dar, welche Rolle er den Affekten beimisste: Lache mit dem Lachenden (um das Alberti’sche Diktum des Horaz zu paraphrasieren). Jedoch ist das Lachen de Gelders nicht lebensbedrohlich oder gar tödlich wie in der Zeuxis-Legende, sondern hebt vielmehr seine Distanz und das Rollenspiel hervor. Diese eigenwillige Einfühlungsstrategie wurde vom Lehrer de Gelders, Samuel van Hoogstraten, der sich diesbezüglich Rembrandt verpflichtet zeigt, paradigmatisch verfolgt. Durch die performativen Bewegungen und Artikulationen des Körpers werden die Passionen einer Person im Bild sichtbar, wie es schon van Mander analysiert hatte. Da Rembrandt auf die Darstellung der Leidenschaften großen Wert legte, wurde er vom Dordrechter Maler und Theoretiker van Hoogstraten nicht nur gelobt, sondern gleichzeitig auch zu einem wichtigen Impulsgeber als Lehrer, sogar zur Zeit als er sich vom großen Vorbild distanzierte.73 Diese bildliche Theatralik, die jedoch nicht aus einer rhetorisch-akademischen Perspektive heraus verstanden werden soll, erschließt intrinsisch die Bewegungen und Ge­ heimnisse des menschlichen Körpers und setzt sie ikonisch in die zweidimensionale Fläche des Bildes.74 Bei van Hoogstraten spielt das Theater in seiner Funktion als körpermotorischer Unterricht eine zentrale Rolle, und zwar weniger als exponierte Gestik und Mimik (Theatralität), sondern vielmehr als Bewegung mit sensomotorischer Qualität.75 Diese muss mit dem entsprechenden Handeling sowie mit den jeweiligen im Bild dargestellten Körperbewegungen übereinstimmen. Mit den Worten Houbrakens wurde dies am besten formuliert, denn dieser ließ „zyne Discipelen by wylen tot verversinge hunner opgespannen gedagten, een schaduwdans vertoonen, of spelen: dienstig niet alleen tot vermaak, maar in zonderheid om hen door zulk een voorwerp, de menigvuldige veranderingen en verlengingen of verkortingen der licht verwisselende gedaanten der schaduwen, (spruitende uit de nabyheid of afstand van ’t licht) te doen kennen en

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Constantijn Huygens rühmte ebenfalls den damaligen jungen Maler für seinen affectuum vivacitas. Auch Houbraken lobte genau diesen Aspekt, den er sicherlich von seinem Lehrer gelernt hatte. Wurzbach: Arnold Houbraken’s Grosse Schouburgh der niederländischen Maler und Malerinnen, S. 117: „Daraus kann man entnehmen, dass er fähig war, bei der Beobachtung der mannigfaltigsten Gemütsbewegungen eine bleibende Vorstellung in sich aufzunehmen.“ Roodenburg spricht in diesem Zusammenhang von „kinesthetic empathy“ und „corporeal and sensory dimension“. Roodenburg: „Beweeglijkheid“ embodied, S. 311 u. 316. Vgl. allgemein Svetlana Alpers: Rembrandt’s Enterprise. The Studio and the Market, Chicago 1988. Alpers’ Studien zählen zu den wenigen, die ansatzweise versuchen, den Aspekt des Körpers im Schaffen Rembrandts hervorzuheben.

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Affekt als Körpertechnik

begrypen“76. Dieser performative Charakter, der als eine „Erholungstätigkeit“ be­ schrieben wird, benötigte jedoch durchaus körperliche Anstrengung, womit der Bewegung durch Einfühlung zur Natürlichkeit verholfen werden sollte. Bezeichnenderweise sah Agostino Carracci den fruchtbaren Einsatz dieser Technik ähnlich: „[…] painters should strive to understand their figures through physical imitation, through their own sense of the body. Literally incorporating the postural and gestural repertories of the actors of the time.“77 Dadurch, dass den Schülern einmal die Rolle der Akteure und dann wieder die Rolle der Betrachter zugewiesen wurde, waren sie zugleich Schöpfer und Beschauer aller Bewegungen. Als Zuschauer bekamen sie die Möglichkeit zur Distanz, die sie in eine actio in distans übersetzen sollten. Durch die verschiedensten Bewegungen trainierten sie ihr eigenes Körperschema und verfeinerten die Sensomotorik. Deshalb misst van Hoogstraten der Darstellung der Affekte eine besonders große Bedeutung bei. Sie lasse sich nur durch die gänzliche Transformation des Künstlers in einen Schauspieler nachvollziehen, der sich der Präsenz seines Körpers bewusst ist: „Van de dristen des gemoeds, lijdingen der ziele, ofte Hartstochten staet ons dan eerst te spreeken. Leer nu, ô Schilderjeugt, deze allerkonstichste rol speelen […] Wilmen nu eer inleggen in dit alleredelste deel der konst, zoo moetmen zich zelven geheel in een toneelspeeler hervormen. Ten is niet genoeg, datmen flaeuwelijk een Historye kenbaer make […].“78 Ein weiteres Mittel dafür war van Hoogstratens Schattentheater, das er in seiner Inleyding vorstellt und beschreibt.79 Vom erhöhten Standpunkt innerhalb eines riesigen Innenraums sind verschiedene Figuren dargestellt, deren unterschiedliche Bewegungen als Schatten auf ein aufgespanntes Tuch geworfen 76

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Arnold Houbraken: De Groote Schouburgh der Nederlantsche konstschilders en schilderessen, S. 163. Vgl. Wurzbach: Arnold Houbraken’s Grosse Schouburgh der niederländischen Maler und Malerinnen, S. 228 f.: „[…] seine Schüler [sollten] nicht selten zur Erholung ein Schattenspiel aufführen oder spielen, was nicht allein Unterhaltung gewährte, sondern ihnen auch die mannigfaltigen Veränderungen, Verlängerungen und Verkürzungen der leicht wechselnden Schattenbilder, die durch die grössere oder geringere Entfernung des Lichtes verursacht werden, erkennen und verstehen liess.“ Roodenburg: „Beweeglijkheid“ embodied, S. 312. Van Hoogstraten: Inleyding tot de hooge schoole der Schilderkonst, S. 109. Ernst van de Wetering: Towards a Reconstruction of Rembrandt’s Art Theory, in: ders. (Hg.): A Corpus of Rembrandt Paintings V. The Small-Scale History Paintings, Dordrecht 2010, S. 68 f.: „It is for us to speak first of all the range of the emotions, the afflictions of the soul, or the passions of the heart. You must learn, O young painter, to act out this the most artful role […]. If one now wants to gain honour in this most noble aspect of art, the rendering of affects, one must transform oneself entirely into an actor. It is not sufficient just to make a history feebly recognizable […].“ Ebd., S. 259 ff.

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V. Ikonik der Bewegung

werden (Bild 162). Die Schatten werden durch die Lichtquelle im Vordergrund links erzeugt. Die handelnden Personen werden zu Betrachtern ihrer eigenen Schattenbilder, sind als solche aber nicht allein: Hinter dem aufgespannten Tuch erscheint ein gewaltiger, mindestens zweistöckiger Zuschauerraum, der mit einem aufmerksam gespannten Publikum gefüllt ist. Dieses beobachtet die verschiedenen, durch wechselnde Bewegung erzeugten Schattenbilder spiegelverkehrt. Eine Figur hebt die Grenzen zwischen Publikum und Akteuren auf, indem sie hinter das Tuch schaut. Diese Szene verdeutlicht, abgesehen von der enormen Erweiterung des Raumes und der Bedeutung sowie Präsenz der Licht- und Schattenverhältnisse, die Rolle, die van Hoogstraten der Körperlichkeit beigemessen hat.80 Letztere wird evident, indem der Künstler performativ agiert (Nähe – Einfühlung) und gleichzeitig zum Betrachter seiner eigenen Tätigkeit wird (Distanz – Verfremdung), die wiederum immer auf ein Publikum bezogen ist. Neben dem Schattentheater und anderen Theaterstücken, die van Hoogstraten aufgeführt hat, empfiehlt er ein weiteres Prinzip, das für den Schaffensprozess eines Bildes hilfreich sein könnte: „Dezelve baet zalmen ook in ’t uitbeelden van diens hartstochten, die gy voorhebt, bevinden, voornaemlijk voor een spiegel, om te gelijk vertooner en aenschouwer te zijn.“81 In der Performanz der Darstellung liege die Kraft solcher Praktiken und nicht im bloßen Imaginieren. Insofern ist es nicht hinreichend, die Körpertechniken als eine bloß ausgeführte Funktion oder ein Abbild des Mentalen anzusehen, vielmehr müssen sie als umgekehrter Vorgang begriffen werden. Beim Ausprobieren beginnen überhaupt erst jegliche Aktion und Bewegung, die die jeweilige Idee grundlegend verändern können. Van Hoogstraten vertrat die Auffassung, dass die Wiedergabe eines Affektes die Folge eines ebenso affektbeladenen Umgangs mit der Form ist und daher dieselbe Emotion beim Betrachter hervorruft. Im Rahmen seiner widersprüchlichen Stellungnahme zwischen Theorie und Praxis empfiehlt er dem Maler: „[S]peel de historyen, en yder personaedie eerst in uw gedachten.“82 Erst wenn während des Schaffensprozesses etwas eine körperlich geformte Gestalt annehme, würde diese für mögliche Assoziationen verfügbar. 80

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Siehe hierzu Victor Stoichita: Brève histoire de l’ombre, Genève 2000, S. 137 f.; Horst Bredekamp: Die Fenster der Monade: Gottfried Wilhelm Leibniz’ Theater der Natur und Kunst, Berlin ²2004, S. 71 ff. Van Hoogstraten: Inleyding tot de hooge schoole der Schilderkonst, S. 110. Übersetzung in Weststeijn: The Visible World, S. 183: „You will derive the same benefit from acting out the passions you have in mind, chiefly in front of a mirror, so as to be actor and spectator at the same time.“ De Piles ist van Hoogstraten bei der Einfühlung (Nutzung des Spiegels) oder der Beobachtung von Stummen (wegen der Gestik) sehr nahe; vgl. Kirchner: L’Expression des Passions, S. 57 u. 116. Ähnliches empfehlen sowohl Franciscus Junius wie Gerard de Lairesse. „[S]tage the events and every person in it in your mind first.“ Zitiert nach Weststeijn: The Visible World, S. 163.

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Affekt als Körpertechnik

Bild 162  Samuel van Hoogstraten: Schattentheater, Inleyding tot de hooge schoole der Schilderkonst, S. 260.

Van Hoogstraten vertritt die Meinung, dass Gesten ein direkteres und stärkeres Ausdrucksmittel der inneren Verfassung einer Person seien als die gesprochene Sprache.83 Dies trifft umso mehr zu, wenn die jeweilige Emotion im Theaterspiel oder vor dem Spiegel vom Künstler selbst ausprobiert werde und er anschließend daraus ein Bild schaffe.84 Houbraken berichtet in einer Anekdote über seinen Lehrer van Hoogstraten, wie dieser im Sinne der Artikulation jene performativen Körpertech83 84

Van Hoogstraten: Inleyding tot de hooge schoole der Schilderkonst, S. 117. Vgl. hierzu Weststeijn: The Visible World, S. 182. Van Hoogstraten differenziert zwischen der Arbeit des Künstlers und der des Schauspielers. Er empfiehlt dem Künstler, dass seine Figuren lieber nicht wie bei den „dummen Schauspielern“ erscheinen sollten (ein zentraler Unterschied zu de Lairesse, der den Künstlern empfahl, ins Theater zu gehen und sich davon inspirieren zu lassen). Van Hoogstraten: Inleyding tot de hooge schoole der Schilderkonst, S. 190: „Laet uwe figuuren met malkanderen een welstandige beweging hebben: niet als de domme toneelspeelers, die de reedenen, dieze elkander behoorden toe te duwen, voor op ’t toneel aen de toehoorders komen uitbraken.“ („Gebt Euren Figuren untereinander eine anmutige Bewegung: nicht wie die dummen Schauspieler, die die Wörter, die sie aneinander richten sollten, vorne auf der Bühne gegenüber den Zuhörern aussprechen.“) Übersetzung von Herman Roodenburg.

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V. Ikonik der Bewegung

niken als pädagogisches Mittel für seine Schüler einsetzte: „’T is gebeurt dat een van zyn Discipelen de schets van zyn ordonantie (gelyk ieder alle week doen moest) aan hem vertoonde, maar weinig agt gegeven had op de regte werkinge der beelden, die hy zoo maar had neergestelt. Straks was het zeggen, Lees den Text; en gevraagt, Wil dat nu het Beeld wezen dat zulks zeit? antwoorde zy dan Ja, zoo was gemeenlyk zyn zegge: Verbeeld u eens dat ik die andere Persoon ben, daar gy zulks tegen moet zeggen; zeg het tegens my. Als zy dan de reden volgens de letter van de Text, zonder aandoeninge, met de handen in de zak, of als stokbeelden uitspraken, was zyn zeggen: de zakken zyn gemaakt om dat het geld in ’t dragen niet door de vingeren zoude druipen; en stond met een van zyn plaats op en liet den Discipel daar zitten, zeggende: Nu zal ik het u voordoen, let op de Gebaarden, wyze van staan, of buiging des lichaams, als ik spreek, en beduide het (als het spreekwoord zeit) met vinger en duim. […] Om van deze gebaarden, en roeringen die een Konstige Redevoeringe behoorden te verzellen, zyne Leerlingen een vaster indruk te geven, en zig daar aan meerder te doen gewennen; koos hy de bekwaamste van zyne Discipelen uit […] en gaf hun yder een Rol van zyne, of een’s anders Toneelstuk te spelen: tot het welke zyden vermogten hunne Ouders en goede Bekenden te noodigen, tot aenschouwers, van het Spel […].“85 Der Künstler wird zum Pathopoios, zum Erzeuger von Leidenschaften, die den Betrachter direkt ansprechen und affizieren.86 Die Anekdote Houbrakens stellt heraus, welche Techniken van Hoogstraten von Rembrandt

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Houbraken: De Groote Schouburgh der Nederlantsche konstschilders en schilderessen, Band 2, S. 162 f. Übersetzung aus Brusati: Artifice and Illusion, S. 87: „[O]ne of the disciples showed van Hoogstraten a sketch but had given little attention to the correct working of his figures. Van Hoogstraten then said: ‚Read the text‘ and asked: ‚Now does that look like the figure who says this?‘ and then the disciple answered: ‚Yes‘, then van Hoogstraten usually said: ‚Just imagine that I am the other person to whom you have to say something like that; and then say it to me.‘ When he gave his account according to the letter of the text, without feeling, with hands in pockets or like wooden statues, van Hoogstraten said: ‚pockets are made to carry your money so that it doesn’t slip through the fingers‘; and immediately stood up from his place saying: ‚Now I will show you, watch the gestures, my way of standing, or the bending of the body, as I speak and indicated it (as the proverb has it) with finger and thumb.‘ To give his pupils a firmer impression of these gestures, and the power to move that ought to accompany an artful monologue, he chose the most able of his disciples (when he lived in the front house, where he had enough room to put on a full-scale theatrical play) and gave each of them a role to play in their own, or in each others theatrical play: to which they were allowed to invite their parents and close friends as spectators of the play.“ Zur Rolle des Künstlers als Pathopoios: Weststeijn: The Visible World, S. 171. Bezeichnend ist, dass der Schauspieler im Griechischen eben Ethopoios heißt, also als derjenige bezeichnet wird, der Ethos erzeugt und nicht Pathos.

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Affekt als Körpertechnik

Bild 163  Arent de Gelder: Porträt eines Schauspielers (?), signiert, 1689, Öl auf Leinwand, 79 × 65 cm, The Detroit Institute of Arts, Detroit.

gelernt hatte.87 Darüber hinaus vermittelte er als Lehrer solche Methoden an Maler wie de Gelder oder Houbraken. Im Falle de Gelders ist erneut zu betonen, dass er zu Rembrandt in die Lehre ging, nachdem er die Grundlage (Grondt) der Malkunst (darunter die Affekte) bei van Hoogstraten gelernt hatte. Sein Schauspieler in Detroit, datiert 1689 und signiert, liefert ein wichtiges Beispiel einer solchen Praxis, die de Gelder von seinen beiden Lehrern gelernt hatte (Bild 163). Vor grauem Hintergrund hebt sich die Gestalt eines Mannes mit langem Haar ab. In einer leichten Drehung wendet er den Kopf nach links und schaut mit ernster Miene aus dem Bild heraus, als empfinge er einen Stimulus aus der Richtung, in die er schaut. Sein Gesicht mit dem vollen, geschlossenen Mund und dem Doppelkinn sowie dem klaren Blick macht keinen affektierten Eindruck, sondern vermittelt eine starke Präsenz, die auch durch 87

Brusati: Artifice and Illusion, S. 89 f.

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V. Ikonik der Bewegung

die aufrechte Positur und der leichten Linksneigung spürbar ist. Seine Garderobe besteht aus teils fantastischen, teils altmodischen Stücken (unter anderem ein Wams oder eine Art Japonsche Rock). Der kräftige Mann nimmt eine bestimmte Pose ein: Er hält einen nur ansatzweise erkennbaren Stab mit einem silbernen Griff locker in der rechten Hand. Seine linke ist ebenso lässig und leicht verdreht in die Seite gestemmt und hebt so die linke Schulter an, wodurch sein Hals länger erscheint. Es handelt sich nicht um ein narratives Bild mit einem klaren ikonografischen Bezug oder um ein klar identifizierbares Rollenspiel, sondern vielmehr um eine Verkleidung und eine bestimmte Haltung des Körpers als Pose, die vom Maler selbst oder einem Modell eingenommen werden konnte, mit dem Ziel, die Bewegung in ihrem Fluss zu begreifen. Dazu spielte – wie später gezeigt wird – die Verwendung der Gliederpuppe eine besondere Rolle. Dieses Einfühlungskonzept, bei dem die Rollen des Künstlers als Betrachter, als Modell oder eben Schöpfer, der ein anderes Modell betrachtet, einem ständigen Wechsel unterlagen, kann in mehreren Darstellungen von Rembrandtisten verfolgt werden, wie etwa in Gemälden (meistens Tronjebildern) von Drost, B. Fabritius und Paudiß. Die Anekdote, die Houbraken über van Hoogstraten zu berichten weiß, entspricht dem, was in der jüngeren Theaterwissenschaft betont wird, nämlich dass der Schauspieler „[…] Gefühle, seelische Zustände, Gedankengänge und Charakterzüge der dramatis personae – an und mit seinem Körper zum Ausdruck [bringt] […]. Sein leibliches In-der-Welt-Sein […] [sollte er] auf der Bühne zum Verschwinden bringen, indem er ihn möglichst vollständig in einen ‚Text‘ aus Zeichen für die Gefühle, seelischen Zustände etc. einer Rollenfigur umformte.“88 Demzufolge kann der Schauspieler den Zuschauer körperlich und emotional fesseln.89 Die Rolle des Theaters wird im Sinne agierender Körper und ihrer Interaktion mit der Welt verstanden. Die Gemeinsamkeit des Schauspielers und des bildenden Künstlers ist der Körper. Der Unterschied besteht darin, dass der Schauspieler zwar eine andere Rolle einnehmen muss, jedoch im selben Medium – in seinem Körper – verbleibt, auch wenn seine Distanz zu seiner Rolle im Sinne Diderots (Paradox über den Schauspieler) erkennbar ist. Der bildende Künstler muss diese leibliche Erfahrung in ein anderes Medium übertragen, nämlich in ein von ihm gestaltetes Artefakt, das eine körperliche Auseinandersetzung mit der jeweils zu gestaltenden Materie erfordert. Die Darstellung der intrinsischen Kraft des Körpers wird somit zur Bildaufgabe: „They knew nature through the

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Erika Fischer-Lichte: Verkörperung/Embodiment. Zum Wandel einer alten theater­ wissenschaftlichen in eine neue kulturwissenschaftliche Kategorie, in: dies./ Christina Horn/Matthias Warstat (Hg.): Verkörperung, Tübingen/Basel 2001, S. 12. Ebd.

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Affekt als Körpertechnik

practice of their bodily art.“90 Die Erkenntnisse über die Natur können nur durch die körperliche Auseinandersetzung mit ihr erlangt werden.91 Abgesehen vom körpermotorischen Unterricht bei van Hoogstraten, trug zu der körperlichen Auffassung der Figuren de Gelders laut Houbraken auch bei, dass der Dordrechter eine Gliederpuppe besaß: „[…] gelyk hy dan ook voor gebruik houd, zynen Leeman van hoofd tot teen te bekleeden, en in zulk een gedaante te zetten, als hy noodig heeft, ’t geen hy dan met het penceel, of met duim en vinger nabootst.“92 Durch ihre haptische Positionierung in vielfältigen Körperbewegungen oder auch durch die Nutzung von Draperie war die Puppe als ein erweitertes Modell des Körperschemas wie auch des Körperbildes zu begreifen. Sie erlaubte dem Künstler, sich vom eigenen Körper zu distanzieren, indem er während seiner malerischen Performanz mit Fingern und Pinsel die Bewegungen an ihr ausprobieren konnte. Ähnlich funktionierten die Konstruktionen von kleinen Puppenmodellen, die die Schüler schufen, um eine Szene aus verschiedenen Winkeln zu zeichnen.93 Während des Zeichenunterrichts wurde das Modell aus verschiedenen 90 91 92

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Pamela H. Smith: The Body of the Artisan. Art and Experience in the Scientific Revolution, Chicago 2004, S. 238. Ebd., S. 239. Vgl. Houbraken: De Groote Schouburgh der Nederlantsche konstschilders en schilderessen, Band 3, S. 207. Vgl. Wurzbach: Grosse Schouburgh der Niederländischen Maler und Malerinnen, S. 370: „[…] [Er] hat auch die Gewohnheit, seinen Gliedermann vom Kopf bis zu den Zehen anzukleiden und in einen solchen Zustand zu versetzen, wie er ihn nöthig hat, worauf er dies mit dem Pinsel oder mit dem Daumen und Finger nachahmt.“ Zum Gebrauch und zur Bedeutung der Gliederpuppe siehe: Katja Kleinert: Atelierdarstellungen in der niederländischen Genremalerei des 17. Jahrhunderts. Realistisches Abbild oder glaubwürdiger Schein?, Petersberg 2006, S. 77–81; H. Perry Chapman: The Wooden Body. Representing the Manikin in Dutch Artists Studios, in: Ann-Sophie Lehmann/Herman Roodenburg (Hg.): Body and Embodiment in Netherlandish Art, Nederlands Kunsthistorisch Jaarboek, 58 (2008), S. 188–215; Markus Rath: Die Berliner Gliederpuppe, unveröffentlichte Magisterarbeit, Humboldt-Universität zu Berlin 2008. Joachim von Sandrart erwähnt im Kapitel über das „Gewand- und Tücher-Mahlen“ in seiner Teutschen Akademie bezüglich der Rolle der Gliederpuppe als Modell, die ihm zufolge bisweilen verführerisch sein könne: „Es ist/ in den Gewändern/ zuvörderst der Unterschied zu beobachten: weil deren Form Farben und Falten nach Alter/ Stand und Stellung der Personen/ nach dem Männ- und Weiblichen Geschlecht/ auch nach alt- und neuem Lands-Gebrauch und al modo ganz ungleich sind. Dieses wol zu begreifen/ pfleget man/ nächst fleißiger Beschauung des Lebens/ die so-genannte kleine Wachs-Modellen zu machen/ oder Gliedmänner mit Röcken oder Mänteln von rauher Leinwat oder nassem Papier zu überlegen: welches dann angenehme Falten macht/ und sich wohl erzeigt/ wann mit guter Bescheidenheit in und zu großen Bildern gefolget wird; wiewol man dadurch/ weil die Bewegung manglet/ leichtlich kann verführet werden.“ Siehe Sandrart: Teutsche Akademie 1675, S. 82, unter: http://ta.sandrart.net/edition/text/view/169#tapagehead [12.2.2014]. Weststeijn: The Visible World, S. 163 f.

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Perspektiven abgezeichnet,94 sodass sich, sobald die einzelnen Vorlagen zusammengefügt waren, beinahe eine Gesamtansicht der Figur ergab, die dann wie eine Skulptur mit dreidimensionalen Qualitäten erschien und den Übergang von Körper und Puppe zum Bild markierte. Diese Praxis beschreibt auch Houbraken in der Biografie Rembrandts, was ihm sicherlich van Hoogstraten zugetragen hat: „Hier in word ik te meer verzekert, om dat verscheiden van zyne Leerlingen my hebben verklaard, dat hy somtyds een wezen wel op tienderhande wyzen afschetste eer ha ’t zelve op paneel bragt […].“95 Viele Modelle waren Schüler, die aus verschiedenen Winkeln gezeichnet wurden und dabei unterschiedliche Rollen verkörperten,96 was das oben zitierte Diktum van Hoogstratens nochmals verdeutlicht. Entsprechende Zeichnungen kamen nach diesem Prinzip zustande.97 Auch die Nutzung des Spiegels spielte für Rembrandt eine wichtige Rolle, da „the multiple images so produced increased his spatial and sculptural grasp of the subject, an aspect of vision in which he excelled“98. Rembrandt hat nicht nur mittels des Visuellen gedacht, sondern auch mit Hilfe des Verhältnisses von Raum und Körper. Viele seiner Schüler folgten diesem Beispiel. Darüber hinaus machte der Künstler mit seinen Lehrlingen körpermotorische Übungen, um den richtigen Schwung der Hand einzuüben, was für ein angemessenes Handeling sowie für die entsprechende Darstellung der Leidenschaften (Rolle der affektierten Linien) maßgeblich war: „It is the passions of the draftsman’s hand that so move us. […] Rembrandt eventually lived the drama on the paper.“99 94 95

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Zu dieser Praxis siehe: Alexander Perrig: Michelangelo und die Zeichnungswissenschaft. Ein methodologischer Versuch, Frankfurt am Main 1976. Houbraken: De Groote Schouburgh der nederlantsche konstschilders en Schilderessen, Band 1, S. 261. Vgl. Wurzbach: Grosse Schouburgh der Niederländischen Maler und Malerinnen, S. 115: „Ich bin dessen um so gewisser, da mir mehrere seiner Schüler erzählten, dass er zuweilen ein Gesicht auf zehnerlei verschiedene Art skizzirte, ehe er es auf die Leinwand brachte […].“ Nigel Konstam: Rembrandt’s Use of Models and Mirrors, in: The Burlington Magazine, 119 (1977), S. 97. Vgl. zum Beispiel die Constantijn van Renesse zugeschriebene Zeichnung, Rembrandt zeichnet mit seinen Schülern ein weibliches, nacktes Modell, in: Ausst. Kat.: Old Drawings, New Names. Rembrandt and his Contemporaries, hg. v. Peter Schatborn/Leonore van Sloten, Varik 2014, S. 120. Konstam: Rembrandt’s Use of Models and Mirrors, S. 97. Van Hoogstraten unterstrich in seiner Inleyding, dass Giorgione Spiegel benutzte, um die Dinge gleichzeitig von verschiedenen Winkeln sichtbar zu machen. Vgl. van Hoogstraten: Inleyding tot de hooge schoole der Schilderkonst, S. 275: „Het verstant van deeze konst gaf aen Giorgione de stourigheyd van staende te houden […] en van vooren in een glad afstraelende waeterqueel te zien was.“ Rosand: Drawing Acts, S. 226. Vgl. hierzu Werner Busch: Wirklich Rembrandt? 400 Jahre nach seiner Geburt gibt der Maler der Forschung noch immer Rätsel auf,

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Affekt als Körpertechnik

Das Handeling, das bis zu einem gewissen Grad von den Rembrandtisten kontrolliert wird, emanzipiert sich von seinem Schöpfer. Es tritt dem Betrachter als gestaltete Form entgegen, wie es auch Houbraken bei Rembrandts Selbstporträt beschrieben hat: „[Das Gemälde war] […] so kunstvoll und kräftig in der Farbe ausgeführt […], dass das glänzendste Bild von van Dyk oder Rubens dagegen nicht auskommen konnte. Ja der Kopf schien aus dem Bilde herauszutreten und den Beschauer anzusprechen.“100 Das Bild ist als Produkt eines gesamtkörperlichen Prozesses des Künstlers zu verstehen, wie auch de Piles betonte: „[The painter] is so happy as to manage his Expressions well, He will not only make them relate to the parts of the Face, but also to those of the whole Body, and will expose them, in such manner, that even the most inanimate objects shall agree with the general expression of the subject.“101 Wie die intrinsische Kraft eines Gemäldes den Betrachter gefangen nehmen kann, bringt van Hoogstraten auf die Formel: „macht over d’ aenschouwers“ – „Macht über die Betrachter“102. Je beweglicher und aktiver das Gemälde ist, desto starrer und passiver wird der Beschauer (Medusa-Effekt). Das Werk kann die Betrachter in vielerlei Hinsicht bewegen: Es kann sie zu einer Aktion motivieren, begeistern, erschrecken oder Mitgefühl mit dem Leidenden erzeugen.103 Die natürliche Bewegung eines Bildes fordert, wie Gerard de Lairesse es im Sinne des Horaz’schen Diktums formulierte je nach Inhalt zu unterschiedlichen Emotionen auf.104 De Lairesse kommt auf ein Frauenporträt zu sprechen, das im Sinne der Vera Icon oder des Porträts (Mann mit rotem Turban) des Jan van Eyck105 alle Betrachter unabhängig ihrer Position immerzu beobachtete: „De reden daar van is, dat deze […] Beeltenissen zodanig doorwrocht en gelykvormig met de menschelyke gedaantens over een kwamen, dat zy niet als geschildert, maar vleesch en bloed, ja als beweegende beelden, vertoonden.“106

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in: Der Tagespiegel, 25.6.2006. Georg Simmel bringt in seiner Rembrandt-Monografie von 1916 das Phänomen genau auf den Punkt: „Das Ganze des expressiven Sinnes, den die Bewegung hat, liegt deshalb schon in dem allerersten Strich; mit der Schauung oder dem Gefühl, dass das Seelische und das Äußerliche der Bewegung als eines und dasselbe enthält, ist dieser Strich schon angefüllt.“ Expressivität, Bewegung und Sinn von der Form werden hier auf einen gemeinsamen Nenner gebracht. Georg Simmel: Rembrandt. Ein kunstphilosophischer Versuch, Leipzig 1916, S. 4. Wurzbach: Arnold Houbraken’s Grosse Schouburgh der Niederländischen Maler und Malerinnen, S. 117. Roger de Piles: The Art of Painting and the Lives of the Painters, London 1706, S. 32. Van Hoogstraten: Inleyding tot de hooge schoole der Schilderkonst, S. 292 f. Ebd., S. 116. Weber: Der Lobtopos des „lebenden Bildes“, S. 206. Bredekamp: Theorie des Bildakts, S. 239 ff. Gerard de Lairesse: Groot Schilderboek, Band 1, Amsterdam 1712, S. 136: „The reason for this is that […] such images were so profoundly congruent with human

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Goeree bekundete sogar, dass das Bild jegliche Zeichen seiner Materialität und so seiner Eigenschaft als Artefakt verlöre und dem Betrachter wie eine lebende Person entgegenträte: „Nadien de Konst-Beelden uyt haar eygen Natuur het Leven en de beweging derven; dat sulx ons te meer vermaand na Middelen om te sein, waar door de Beelden in de Tafereelen soodanig konnen voortgebracht werden, datse den Beschouwer alle gedagten van doek en panneel, verf en olye, ofte van hout en steen en koper, soose mogten gegoten of Geboedseerd zijn, konden doen afleggen, en een Denk-Beeld geven dat hy niet geschilderte noch Gegotene, maar Natuurlijk Levende Menschbeelden voor zijn Oogen meend te sien. Invoegen dat hem dunkt datse Loopen, datse gaan, spreken, roepen, vegten, hooren, zien, denken en alle andere Levende Actien van bezielde Menschen doen.“107 Das lässt sich ebenso anhand eines Bildes aus der Passionsserie de Gelders zeigen, worauf die eingangs zitierte Passage Houbrakens anspielt.108 Auf dem Berg Golgatha befindet sich, aus der Froschperspektive gesehen, eine Menschenmenge, die über den gesamten Bildraum verteilt ist. In der dunklen, kargen und hügeligen Landschaft ragen fünf Kreuze empor, woran Christus und zwei Schächer hängen (Bild 164). Zwei Figuren im Vordergrund links, wahrscheinlich Nikodemus und Joseph von Arimathäa, führen den Betrachter in die Szene ein.109 Das Bild ist von Dunkelheit und Brauntönen beherrscht und nur von einigen Lichtstrahlen durchbrochen. Die überlange und magere, fast immaterielle Gestalt Christi (Bild 165) ist nicht nur dezentralisiert, sondern wird auch weniger stark vom Licht umfangen als der gute Schächer. Der Körper präsentiert sich in leichter Schrägstellung. Die rechte Hand befindet sich am hellsten Punkt des Bildes. Die verkürzte Linke ist abstrakter dargestellt. Die Figur weist eine Mischung aus

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forms that they appeared to be not painted but to be made of flesh and blood, aye as moving figures.“ Zitiert nach Weststeijn: The Visible World, S. 145. Willem Goeree: Natuurlyk en schilderkonstig ontwerp der menschkunde, S. 337 f. Vgl. auch Roodenburg: „Beweeglijkheid“ embodied, S. 314: „Since it is the nature of figures depicted that they lack life and movement, this should stimulate us all the more to find the means to create the figures in the scenes in such a way that the spectator forgets all thoughts about canvas and panel, paint and oil, wood and stone and copper, be it cast or modeled, and to give him the idea that he sees before his eyes nothing painted or cast, but living human figures, so that he thinks they walk, move, speak, shout, fight, hear, see, think, and do all other living actions of living people.“ Siehe S. 291. Guus Sluiter: „De passie, anders de Historie van den lydenden Christus“. Arent de Gelders Passionsfolge, in: Ausst. Kat.: Arent de Gelder [1645–1727]. Rembrandts Meisterschüler und Nachfolger, hg. v. Dordrechts Museum/Wallraf-RichartzMuseum, Gent 1998, S. 71–85; sowie: ders.: Die Kreuzigung, in: Ausst.Kat.: Arent de Gelder [1645–1727], S. 240.

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gotischer und manieristischer Körperlichkeit auf, deren Kolorit an Goya erinnert.110 Es scheint, als ob die Haut Christi aus einer dünnen Schicht der Grundierung gebildet wird. Hinter ihm sind rote Farbflecken erkennbar, die abgesehen von der Hervorhebung seiner dunklen Gestalt sein Martyrium verdeutlichen. Die unter dem Kreuz niedergeworfene Maria Magdalena trägt aufwendige, mit roten und gelben Flecken versehene Kleider, die in der Dunkelheit funkeln (Bild 166). Neben ihr ist eine männliche Gestalt erkennbar, die heftig gestikuliert. Die aktive Gestik des Mannes kontrastiert die körperliche Passivität Magdalenas, deren Affekte durch die Kraft der Farbflecke vermittelt werden. Hell und Dunkel werden unterschiedlich intensiv auf der Bildfläche verteilt. Der böse Schächer verliert sich beinahe gänzlich im Dunkeln. Es liegt nahe, in der Lichtregie nicht nur die Momentaufnahme eines Wolkenbruchs, sondern auch ein bewusst eingesetztes Mittel der Figurendeutung zu erkennen. So fängt der reuige Schächer das meiste Licht auf; es fällt von oben links nach unten rechts, zeichnet ihn als Hoffnungsträger aus (Bild 167) und wird so dem Betrachter als Beispiel für richtiges Verhalten vor Augen geführt. Diese Akzentuierung des Geschehens hat eine kommentierende Funktion: Durch seine Darstellung auf der vertikalen Mittellinie und auch aufgrund der Lichtregie erhält der gute Schächer eine zentrale Stellung im Gemälde. Von den drei gekreuzigten Figuren ist er dem Betrachter am nächsten und löst durch seine lange, ausgemergelte Gestalt, die mit einer entsprechenden Malweise ausgeführt ist, Empathie aus. Unterhalb des rechten Kreuzes ist die Figur eines Mannes erkennbar (der bekehrte Zenturio), der in die Betrachtung der Gekreuzigten versunken ist und eine Haltung eingenommen hat, die der des Betrachters vor dem Bild entsprechen könnte (Bild 168). Er steht Christus diagonal gegenüber und erweckt den Eindruck, als bestätige er in aufrechter Position mit ausgestrecktem rechten Arm dessen Göttlichkeit. Auf seinem Gesicht sind rote und gelbe Farbflecken verteilt, die als Affektsubstitute eingesetzt wurden. Mehrere Figuren im Vordergrund weisen in Richtung der Gestalt Christi, andere bedecken ihr Gesicht. Sie schauen den Betrachter zwar nicht direkt an, sind für ihn jedoch klare Referenzfiguren und Wegweiser, da sie dem Geschehen

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Lilienfeld sah eine starke Beziehung zu Giovanni Domenico Tiepolo. Karl Lilien­ feld: Arent de Gelder. Sein Leben und seine Kunst, Den Haag 1914, S. 116. Die Perspektive und Körperlichkeit der Figuren in diesem Bild ist noch radikaler als bei entsprechenden Darstellungen Rembrandts (sowohl malerischer als auch grafischer Art), die de Gelder kannte. Joshua Bryun vergleicht die Passionsfolge sowohl mit Gustave Doré als auch mit Goya. Vgl. hierzu Sluiter: „De passie, anders de Historie van den lydenden Christus“, S. 83.

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V. Ikonik der Bewegung

Bild 164  Arent de Gelder: Die Kreuzigung, um 1716, Öl auf Leinwand, 71,8 × 59,9 cm, Gemäldegalerie, Aschaffenburg.

teilweise ihren Rücken zugewandt haben. Durch ihre spezifischen Haltungen und Gesten (Zeigegestus des Mannes rechts vorne) führen manche Gestalten den Betrachter zum Geschehen. Des Weiteren ist der Oberkörper eines Mannes erkennbar, der wie ein Zwitterwesen aus der Erde des Golgatha-Hügels emporwächst. Auge und Mund bestehen aus schematischen, abstrakten Punkten. Er schaut in Richtung Vordergrund und auf die niedergeworfenen Gestalten, die teilweise ihr Gesicht mit den Händen bedecken (Bild 169 und Bild 170).

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Bilder 165–168  Details aus Bild 164.

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Bild 169  Detail aus Bild 164.

Eine weibliche Figur, bei der es sich nicht um Maria handelt, fällt sogar in Ohnmacht und ist dementsprechend in einer flüchtigen Malweise dargestellt. Sie wird von zwei Männern getragen. Das Geschehen zeigt die Affektionen der vom Leiden Christi Ergriffenen und die Figuren rufen analoge Reaktionen beim Betrachter hervor.111 Im Sinne des Zitats von Houbraken über die Passionsfolge herrschen in diesem Bild verschiedene Bewegungen und Emotionen vor.112 Es sind weniger die einzelnen Gesichtszüge der Personen und ihre Affekte als ihre gesamtkörperlichen Reaktionen auf das Ereignis der Kreuzigung erkennbar. Außerdem lässt sich eine Verbindung der Affekte mit der Wetterstimmung, der Andeutung des aufziehenden Sturmes und der Landschaft beobachten, getragen von einer entsprechend dünnen, ja geradezu fragilen Malweise mit einigen opakeren

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Dies steht in der Tradition des Agamemnon von Timanthes, die van Hoogstraten erwähnt (Van Hoogstraten: Inleyding tot de hooge schoole der Schilderkonst, S. 111). Sluiter: „De passie, anders de Historie van den lydenden Christus“. Es ist verwunderlich, dass Sluiter Houbrakens Beschreibung der Passionsfolge nicht in einen Zusammenhang mit den Bildern bringt. Seine Meinung, dass de Gelder keine Affekte zeige, was bezüglich der unmittelbaren Gesichtszüge stimmt, ist problematisch. Als Affekterreger in diesem Bild fungiert nicht allein die Darstellung körperlicher Affekte der Figuren, sondern auch das Handeling, besonders mit Blick auf den herannahenden Sturm, der sich eher als ein Sturm der Farbe generiert.

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Bild 170  Detail aus Bild 164.

Stellen, den Emotionen entsprechend. Malerische und formale Mittel werden mit dem Geschehen in ein interagierendes Verhältnis gesetzt, um den Betrachter zu bewegen. Es ist anzunehmen, dass de Gelder wohl alle Bilder der Passionsfolge ohne Auftrag gemalt hat. Die Vermutung liegt nahe, dass abgesehen von Freunden wie Houbraken, der darüber berichtet, oder von Mitgliedern seiner Familie, der Maler der beständigste Betrachter seiner Bilder war. Sie tragen sicherlich die Merkmale einer recht persönlichen Aussage, sind aber zugleich ein malerischer Tour de Force in der Tradition Rembrandts.113 113

Die Bilder sind zusammen mit vielen anderen eigenhändigen Werken im Inventar des Künstlers aufgelistet. Vgl. Lilienfeld: Arent de Gelder, S. 272–286. Hierbei könnte der Stadtgenosse de Gelders und Freund Rembrandts Jeremias de Decker

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V. Ikonik der Bewegung

Die multisensorische Dimension in der Betrachtung von Bildern bemerkte schon van Hoogstraten in seiner Inleyding.114 Er beschreibt, wie die Betrachter beim Anblick einer brutalen Szene den Schmerz in ihren eigenen Gliedern fühlen.115 Wie Carolus Scribanius aus Antwerpen 1610 formulierte, konnte er bei der Darstellung des Martyriums des heiligen Sebastian dessen Schmerz in seinem eigenen Körper nachspüren.116 In der Schindung des Marsyas von Dirck van Baburen wird das Publikum der schmerzvollen Szene selbst zum Protagonisten: Es leidet mit Marsyas und hat einen Gesichtsausdruck, als würde es selbst gerade gehäutet (Bild 171). Ein Bild regt van Hoogstraten zufolge aufgrund seiner lebendigen, körperlichen Präsenz das haptische Gefühl an, wie beispielsweise jenes des großen Kriegers Hektor, das eine solche Vitalität ausstrahlt, dass die Betrachter es

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mit seiner Schrift Goede Vrijdag ofte Het Lijden onses Heeren Jesu Christi (1651) eine Rolle gespielt haben, was auch Sluiter („De passie, anders de Historie van den lydenden Christus“, S. 84 f.) erwähnt. De Deckers Sprache, die voll von gefühlsbezogenen und intersensoriellen Vergleichen ist, könnte ein Movens für de Gelders Bildproduktion der Passionsfolge gewesen sein. Siehe ebenfalls Jeremias de Decker: Goede Vrydag ofte Het Lijden onses Heeren Jesu Christi, hg. v. W. J. C. Buitendijk, Zwolle 1958. Rembrandts kleinformatige Historienbilder wie seine Passionsfolge werden von van de Wetering (Corpus V) als Experimentfeld des Künstlers per se angesehen. Folgendes Zitat vom Beginn des 20. Jahrhunderts lässt sich auch in de Gelders Bild nachvollziehen, wo die Bewegung als intrinsisches Geschehen vom Betrachter aufgefasst wird: „Wir selbst durchdringen die Dinge, bewegte und unbewegte, mit unserem Bewegungs- und Körpergefühl. […] [wir empfangen] selbst durch das Unbewegliche die Empfindung eines Vorgangs.“ Ludwig Volkmann: Das Bewegungsproblem in der bildenden Kunst, Esslingen 1908, S. 15. Diese Auffassung ist mit dem Begriff der Einfühlung verbunden, der von Friedrich Theodor und Robert Vischer sowie Theodor Lipps oder Hermann Lotze bis hin zur Kunstgeschichte eines Wölfflin, Schmarsow oder gar eines Berenson Erfolgsgeschichte schrieb. Vgl. hierzu Georges Didi-Huberman: Das Nachleben der Bilder. Kunstgeschichte und Phantomzeit nach Aby Warburg, Berlin 2010, S. 446. Für die Architektur siehe: Heinrich Wölfflin: Prolegomena zu einer Psychologie der Architektur, München 1886. Siehe außerdem die Bemerkungen von Stephanie S. Dickey/ Herman Roodenburg in ihrer „Introduction. The motions of the mind“, in: dies. (Hg.): The Passions in the Arts of the early Modern Netherlands, Nederlands Kunsthistorisch Jaarboek, 60 (2010), S. 9 f. Das Konzept der Empathie spielt für die Verkörperungstheorie (Enaktivismus) oder die Spiegelneuronen-Debatte heute eine entscheidende Rolle. David Freedberg/Vittorio Gallese: Motion, Emotion and Empathy in Aesthetic Experience, in: Trends in Cognitive Science, 11/5 (2007), S. 197–203; Jörg Fingerhut: Das Bild, dein Freund. Der fühlende und der sehende Körper in der enaktiven Bildwahrnehmung, in: Feist/Rath: Et in imagine ego, S. 177–198. Van Hoogstraten: Inleyding tot de hooge schoole der Schilderkonst, S. 167. Ebd., S. 121: „Pithagoras Leontinus maekte zynen Hinckepoot zoodanig, dat d’ aenschouwers de smerte zijns verzwooren beens meenden te gevoelen.“ Weststeijn: The Visible World, S. 203.

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Bild 171  Dirck van Baburen: Die Schindung des Marsyas, Öl auf Leinwand, 192 × 160 cm, Otto Naumann Ltd., New York.

berühren wollen.117 Umso mehr lässt sich hinzufügen, dass die Verwendung des Impasto bei den Rembrandtisten besonders zur haptischen Bildwahrnehmung beiträgt, die formal und inhaltlich zugleich ist. Die intersensorielle Wahrnehmung des Betrachters wird gesteigert.118 Das Verhältnis zwischen der Pastosität und der Innerlichkeit der Figuren, die seit den 1650er Jahren bei Rembrandt und den Rembrandtisten zunahm, ist ein komplementäres. Die Opazität der Farbe übernimmt die Rolle der Expressivität, 117 118

Ebd., S. 290: „Het beelt van Hector in de stad trojen opgerecht […] dat den aenschouwer lust krigt om het aen te roeren.“ Vgl. hierzu Kapitel VI.

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V. Ikonik der Bewegung

sodass das In-sich-gekehrt-Sein der Dramatis Personae malerisch aufgeladen wird. Die Immaterialität des Innenlebens wird durch die Materialität der Farbe geradezu sichtbar, tastbar und fühlbar. Auf die Rolle des haptischen Verlangens bei der Betrachtung eines Bildes wurde in der damaligen Kunstliteratur häufig Bezug genommen. Ein weiteres Beispiel hierfür ist das Gedicht de Brunes, in dem das Bild mit einem lebendigen Organismus gleichgesetzt wird: De Brunes’ Angst davor, eine Figur zu berühren, rührt daher, dass er sie möglicherweise zerstören beziehungsweise beschädigen könnte, womit er die Paradoxie eines lebendigen Bildes unterstreicht: „Ik durfze raken naauw,/ Op daat haar poesle vleesch, geen kneep en krijg’, of kraauw:/ Want zy is gemaalt, z’ is levend’ en waarachtigh,/ Zy weet geluit te slaan dat yeders ziel bemachtigh“.119 In diesem Sinne „bestätigt die Affektwirkung die Lebendigkeit des Bildes, zugleich verlebendigt der besondere Affektzustand des Betrachters wiederum auch das Bild“.120 Der Körper fungiert als ein multisensorisches Werkzeug, indem er sowohl die Motorik des Künstlers als auch die innerbildliche Handlung mitfühlt.121 Die Auseinandersetzung findet jedoch zwischen Bild und Betrachter statt und ist nicht einseitig. Weder bestimmt das Bild den Betrachter vollkommen noch dieser das Bild. Es ist ein interaktives Verhältnis, das keinen eindeutigen Souverän zu haben braucht. Die Positionen Künstler – Bild – Betrachter können ständig untereinander wechseln.122 Die Macht des Bildes gründet in

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Jan de Brune de Jonge: Wetsteen der vernuften, oft bequaam middel, om, van alle voorvallende zaken, aardighlik te leeren spreken, Rotterdam 1994 (1644), S. 169. Zitiert nach Weststeijn: The Visible World, S. 151 u. 393: „I scarcely dare to touch/ That comely flesh for fear to bruise or scratch:/ For she is not a painted figure, she lives, and true to tell/ She can utter sounds that will o’erpower each viewer’s soul.“ Van Hoogstraten erzählt vom dringenden Wunsch von Samuel Pepys, die gemalten Wassertropfen eines Früchtestilllebens zu berühren. Weber: Der Lobtopos des „lebenden Bildes“, S. 204. In dem Buch Pictures and Tears lässt James Elkins Jane Dillenberger über ihre Erfahrung vor einem Gemälde Rothkos zu Wort kommen. Hier wird für ein Kunstwerk des 20. Jahrhunderts beschrieben, was auch schon für die Rembrandtisten hätte gelten können: „I felt as if my eyes had fingertips […] moving across the brushed textures of the canvases.“ James Elkins: Pictures and Tears. A History of People Who Have Cried in Front of Paintings, London 2004, S. 2 f. Rothko gilt als ein Künstler, der der Farbe als Emotionsträger, ähnlich den Rembrandtisten, eine besondere Rolle beigemessen hat. Alfred Gell: Art and Agency. An Anthropological Theory, Oxford u. a. 2006, S. 29. Gell fokussiert jedoch zu sehr die schematischen Trennungen dieser Interaktion zwischen passiven und aktiven Polen, wie zum Beispiel der aktive Betrachter gegenüber dem passiven Kunstwerk und umgekehrt. Siehe die Kritik Frank Fehrenbachs: „Du lebst und thust mir nichts“. Aby Warburg und die Lebendigkeit der Kunst, in: Hartmut Böhme/Johannes Endres (Hg.): Der Code der Leidenschaften, Paderborn u. a. 2010, S. 124–145, bes. S. 130 f.

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Affekt als Körpertechnik

Bild 172a  Daniel Chodowiecki: Kunst Kenntnis – Connoissance des Arts, in: Natürliche und affektierte Handlungen des Lebens. Zweite Folge, 1779. Bild 172b  Daniel Chodowiecki: Kunst Kenntnis – Connoissance des Arts, in: Natürliche und affektierte Handlungen des Lebens. Zweite Folge, 1779.

einer anthropologischen, ahistorischen Kraft, die über die Jahrtausende hinweg wirksam, aber von unterschiedlichen geschichtlichen Reaktionen der Betrachter geformt wird. Letztere können durch ihr Körperschema unmittelbar von Bildern affiziert sein, ihre bewusste Auseinandersetzung mit dem Bild ist dagegen immer historisch bedingt und steht im Zusammenhang mit dem jeweiligen Wissen, den vorherrschenden Interessen sowie Ideologien einer Gesellschaft. Chodowiecki zeigt 1779 in den Natürlichen und affektierten Handlungen des Lebens zwei unterschiedliche Reaktionen auf ein und dasselbe Bild (Bild 172 a und Bild 172 b), wobei die Statue der Flora auch abweicht – denn im Bild 172 b lächelt sie den in die Betrachtung versunkenen Bürger an.123 Diese

123

Werner Busch: Das sentimentalische Bild. Die Krise der Kunst im 18. Jahrhundert und die Geburt der Moderne, München 1993, S. 324 ff.; Kirchner: „De l’usage des passions“, S. 369; zu Chodowiecki siehe jüngst: Martin Kirves: Das gestochene Argument. Daniel Nikolaus Chodowieckis Bildtheorie der Aufklärung, Berlin 2012.

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V. Ikonik der Bewegung

divergierenden Verhaltensweisen hängen nicht mit dem Körperschema zusammen, sondern vielmehr mit dem Körperbild und den unterschiedlichen sozialen Konventionen der Zeit.124 Marcel Mauss kombinierte in Les techniques corporelles das Körperbild (Gesten als soziale Instanzen) mit dem Körperschema (anthropologische Körperprozesse wie Laufen), das den Körper zum Agenten oder Akteur macht. Damit ist dieser gleichzeitig Instrument, Objekt und Subjekt.125 Dieses triadische Verhältnis lässt sich auch auf das Bild anwenden: Erst durch die körperliche Auseinandersetzung der Rembrandtisten mit der Form bewegt das entstandene Artefakt durch sein Handeling die Betrachter auf unterschiedliche Art und Weise.

124

125

Für den Unterschied zwischen Körperschema (unbewusst) und Körperbild (bewusst): Shaun Gallagher: How the Body Shapes the Mind, Oxford 2006; John Michael Krois: Bildkörper und Körperschema, in: ders.: Bildkörper und Körperschema. Schriften zur Verkörperungstheorie ikonischer Formen (Actus et Imago II), Berlin 2011, S. 253–271. Marcel Mauss: Die Techniken des Körpers, in: ders.: Soziologie und Anthropologie, Band 2, München 1975, S. 199–220. Vgl. Fischer-Lichte: Verkörperung/Embodiment, S. 18.

V I . N ah und fern

Vom A mor ph ismus z u r For mwerdu ng Die Bilder der Rembrandtisten wirken aus unmittelbarer Nähe wie ein Wirrwarr aus Farben. Gestalten treten erst mit einem gewissen Abstand hervor. Im signierten und auf das Jahr 1671 datierten Bild Ecce Homo von Arent de Gelder in Dresden lässt sich das exemplarisch fassen (Bild 173). Zunächst sind nur Flecken in Rot, Weiß, Ocker und Blau zu erkennen, die erst allmählich konkrete Figuren ergeben. Diese heben sich aus der Tiefe des tempelartigen Gebäudes links ab, laufen in Richtung Bühne, wo sich die Ecce-Homo-Szene abspielt, und versammeln sich im Hintergrund links unter der gewaltigen Architektur des Palastes. Besonders eindrucksvoll ist die Menschenmenge, die auf den ersten Blick nur aus Farbklecksen besteht (Bild 174). Der rote Fleck zum Beispiel belebt nicht nur die Figuren und hebt sie aus dem dunklen Hintergrund hervor, sondern scheint zugleich wie bloße Farbe herunterzufließen. Innerhalb der Menschenmenge ist nicht zu unterscheiden, ob es sich um Köpfe oder Farbflecken handelt, und erst durch die Lichter treten schärfer umrissene Gestalten hervor. Die Wand und deren Kacheln werden in einem unvergleichlichen Spiel von Farben in unterschiedlichen Tönen stark akzentuiert (Bild 175). Aus dem Chaos entstehen Formen, die ihrerseits in Abstraktion münden. Der rote Hut mit der weißen Feder pendelt zwischen abstraktem Wirrwarr und konkreter Figuration. Er hebt sich von der fleckigen Wand ab und verliert sich zugleich darin. Nicht zufällig steht über dieser Leerstelle die wie mit der Feder geschriebene Signatur de Gelders (Bild 176). In den Gewändern der Bauern am äußeren rechten Rand wiederholen sich dieselben Töne in einer ähnlich abstrakten Konstellation, die nur aus senfgelben, roten und grünen Farbflecken besteht (Bild 177). Erst aus der Distanz werden die Wand als Wand und die Gewänder als solche erkennbar. Aus der Nähe ist die Farbe nur als Farbe sichtbar und entfaltet auf diese Weise ihr aktives Potenzial (Bild 178 und Bild 179).

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VI. Nah und fern

Bild 173  Arent de Gelder: Ecce Homo, signiert, 1671, Öl auf Leinwand, 152 × 191 cm, Staatliche Kunstsammlungen, Gemäldegalerie Alte Meister, Dresden. Bilder 174, 175, 176  Details aus Bild 173.

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Vom Amorphismus zur Formwerdung

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VI. Nah und fern

Bild 177  Detail aus Bild 173.

Diesen Eindruck beschreibt Hans Sedlmayr mit Bezug auf Bruegel in seinem bekannten Macchia-Aufsatz aus dem Jahre 1934: „Die Menge der Farbflecken ist ungeordnet, bunt durcheinandergewürfelt; außerdem führen die Farbflecken ungeordnete Scheinbewegungen aus, sie scheinen nach allen Richtungen durcheinanderzuschwimmen. Dem entspricht in der gegenständlichen Sphäre die Unordnung der Dinge und Körper mit ihren Steigerungsformen des ‚Wirrwarrs‘ und ‚Trubels‘ und des völlig sinnlosen Chaos, wie die ungeordneten und chaotischen Formen der Bewegung. Beides hängt eng zusammen mit dem Phänomen der Masse.“1 Was von Sedlmayr kritisch kommentiert wird und als eine Anklage gegen die Abstraktion, noch lange vor dem Erscheinen von Verlust der Mitte, verstanden werden kann, ist gerade das Besondere, sowohl bei Bruegel als auch bei de Gelder. Diese Idee übernimmt Sedlmayr von Benedetto Croce: „Die bloße nackte macchia, ohne irgend eine nähere gegenständliche Bestimmung, ist durchaus imstande [den Beschauer] innerlich zu bewegen [und

1

Hans Sedlmayr: Die „Macchia“ Bruegels, in: Jahrbuch der kunsthistorischen Sammlungen in Wien, 8 (1934), S.  137–160; wieder abgedruckt, in: ders.: Epochen und Werke. Gesammelte Schriften zur Kunstgeschichte, Band 1, München/Wien 1959, S. 282.

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Vom Amorphismus zur Formwerdung

Bilder 178, 179  Details aus Bild 173.

in ihm] irgend eine Empfindung zu wecken.“2 Jonathan Richardsons Bemerkung aus dem Jahre 1715, dass die Bilder Rembrandts aus der Ferne nur als eine Komposition von „Chiaroscuro-Massen“3 erscheinen, wird angesichts des Ecce Homo deutlich. Eine ähnliche Wirkung entfaltet die teils unkontrollierte Kratztechnik de Gelders, die auf eine andere Art die Frage von nah und fern, von Chaos und Form aufwirft. Was aus der Ferne im mit der gekratzten Signatur versehenen Porträt Elisabeth van Blijenburgs als Ring an ihrer Hand erkennbar wird, besteht aus der Nähe aus unregelmäßigen, unkontrolliert scheinenden Kratzern, die zwischen Erschaffung und Zerstörung pendeln (Bild 180 und Bild 4).4

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3

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Benedetto Croce: Kleine Schriften zur Ästhetik I, in: Gesammelte philosophische Schriften, Tübingen 1927–30, VI, S. 249. Zitiert nach Max Imdahl: Farbe. Kunsttheoretische Reflexionen in Frankreich, München 2003, Anm. 205, S. 173. Raphael Rosenberg: Der Fleck zwischen Komposition und Zufall. Informelle Ansätze in der frühen Neuzeit, in: Ausst. Kat.: Augenkitzel. Barocke Meisterwerke und die Kunst des Informel, hg. v. Dirk Luckow, Kiel 2004, S. 42. De Piles ersetzte das Wort Macchia durch Komposition. Siehe Kapitel IV (Abschnitt zwei).

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VI. Nah und fern

Der venezianische Kunsttheoretiker Boschini benennt den Prozess vom Chaos zur Form mit dem Begriff des bulegar, womit er das Springen der Figuren im Bild beschreibt, das wohl mit dem Begriff des sprong in Verbindung gebracht werden kann: „I see an impasto, a disdain of the brush, a certain ineffable something that goes dancing about (bulegando) under eye.“5

Bild 180  Detail aus Bild 4.

Auch Willem Drost realisiert, mit unterschiedlichen Ausprägungen, dieses Pendeln zwischen nah und fern. Beim sitzenden, bärtigen Mann in der Dresdner Gemäldegalerie erscheinen die wie zufällig angebrachten Farben am linken Ärmel der Figur völlig autonom, sobald sie aus der Nähe betrachtet werden (Bild 181 und Bild 182). Aus der Ferne dienen sie der Plastizität und dem Hervortreten der Gestalt aus dem dunklen Hintergrund, beziehungsweise der Akzentuierung der besonderen Lichtverhältnisse. Dies lässt sich als widersprüchliche Lebendigkeit bezeichnen,6 da das Bild bei gleichzeitiger Reflexion des leblosen Stoffes, der Farbe, aus der es besteht, ein aktives Potenzial entfaltet. Diese Beobachtungen sind keine Einzelfälle, sondern Prinzipien Rembrandt’scher Prägung in der Tradition Tizians, 5

6

Marco Boschini: La Carta del navegar pitoresco; ed. critica, con la „Breve istruzione“ premessa alle Ricche minere della pittura Veneziana, hg. v. Anna Pallucchini, Venedig/Rom 1966, S. 327: „Vedo un impasto, un sprezzo de penelo,/ Un certo che inefabile e amirando,/ Che soto l’ochio ne va a bulegando […].“ Zitiert nach Philip Sohm: Pittoresco. Marco Boschini, his Critics, and their Critiques of Painterly Brushwork in Seventeenth- and Eighteenth-Century Italy, Cambridge 1991, S. 150. Siehe Kapitel IV (Abschnitt drei).

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Vom Amorphismus zur Formwerdung

Bild 181  Willem Drost: Ein Herr mit roter Pelzmütze im Lehnstuhl, um 1654, Öl auf Leinwand, 89,5 × 68,5 cm, Staatliche Kunstsammlungen, Gemäldegalerie Alte Meister, Dresden.

Bild 182  Detail aus Bild 181.

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VI. Nah und fern

die unmittelbar mit dem Formfindungsprozess und folglich dem Handeling verbunden sind. Die Spannung zwischen Chaos und Form und die Thematisierung des Bildprozesses wird beim Zufall deutlich.7 Die Wand Leonardos bildet Formkonstellationen, die immer noch amorph sind und mit dem jeweiligen künstlerischen Vermögen eine Form erhalten. Die hervorgebrachten Gestalten müssen jedoch nicht als vollendet im klassischen Sinne gelten.8 Der Topos von Nähe und Ferne verbindet mehrere von den Rembrandtisten verfolgte Prinzipien (Zufall, Unvollendetes, widersprüchliche Lebendigkeit, Bewegung), die hier in einen neuen Zusammenhang gestellt werden sollen, sodass der Begriff des Handeling im Hinblick auf die Bildwahrnehmung eine neue Dimension erlangt. Der Formprozess wird in diesen Bildern paradigmatisch thematisiert, er avanciert zum Exemplum. Joachim von Sandrarts Beschreibung der Formwerdung aus dem Chaos wurde bereits zitiert.9 Sandrart macht deutlich, dass der Maler aus einem Wirrwarr von vermengten Farben genau wie ein Bildhauer etwas wegnehmen muss, um Neues zu schöpfen.10 Der Künstler bringt in der Spannung zwischen Erschaffung und Zerstörung als zweiter Schöpfergott eine Gestalt hervor. Dieser Übergang vom Chaos zur Form manifestiert sich in der Bezie  7   8   9

10

Vgl. Kapitel IV (Abschnitt zwei). Vgl. hierzu den ersten Abschnitt des vierten Kapitels. Siehe Kapitel III (Abschnitt drei). Vgl. erneut: Joachim von Sandrart: Teutsche Akademie 1675, I, Buch 3 (Malerei), S. 86, unter: http://ta.sandrart.net/edition/text/ view/173#tapagehead [22. 1. 2014]: „Im Anfang,/ als der weise Schöpfer alle Dinge/ was wir mit den Augen sehen/ hervorgebracht/ hat er erstlich/ durch hervorruffung des Liechtes/ das Chaos oder den vermängten Klumpen/ aus welchem alles erschaffen worden/entdecket. In diesem Chaos waren damals alle Farben beysammen und durch einander vermänget/ bis sie von einander gesondert worden. Nachdem auch alle Dinge ihre Gestalt bekommen/ werden sie doch durch die NachtFinsternis wieder verdecket/ und müssen täglich durch das Taglicht wieder sichtbar werden.“ Sandrart übernimmt diese Passage aus van Manders Grondt. Vgl. Das Lehrgedicht des Karel van Mander, hg. v. Rudolf Hoecker, Den Haag 1916, S. 285: „Als die dunkle Tiefe bestand oder wie die Dichter sagen, das Chaos, bevor die Dinge in Ordnung waren, und die Luft ohne Licht, von der Dunkelheit verschlungen, dalag, da waren die Farben mit ihren verschiedenen Namen noch nicht vorhanden oder sie waren noch ganz verborgen, um sich nachher erst zu offenbaren.“ Vgl. Kapitel III, S. 176. Zur Rolle der Schöpfung aus dem Chaos vgl. Beate Fricke: Schaumgeburten. Zur Topologie der Creatio Ex Nihilo bei Albrecht Dürer und ihre Vorgeschichte, in: Hannah Baader/Gerhard Wolf (Hg.): Das Meer, der Tausch und die Grenzen der Repräsentation, Zürich/Berlin 2010, S. 33–58. Gottfried Boehm sieht im Topos des Anfangs die Linie als zentrales bildliches Element im Sinne des Disegno und so der Folge der Erzählung von Plinius bezüglich des Schattenrisses. Dieser Tradition wird hier der Fleck und die Farbe gegenüber­ gestellt, womit ein anderer Topos des Anfangs aufgerufen ist, dessen Ahnherren Protogenes und die Veronika-Legende sind. Vgl. Gottfried Boehm: Der Topos des Anfangs. Geometrie und Rhetorik in der Malerei der Renaissance, in: Ulrich Pfisterer/Max Seidel (Hg.): Visuelle Topoi. Erfindung und tradiertes Wissen in den Künsten der italienischen Renaissance, München 2003, S. 48–59.

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Vom Amorphismus zur Formwerdung

hung zwischen nah und fern. Dieses Verhältnis kann wiederum mit der Bewegung und der Wahrnehmung des Betrachters und des Künstlers zum Bild hin gleichgesetzt werden. Von Nähe und Ferne in Tizians Spätwerk berichtet Vasari in einer berühmten und vielfach zitierten Passage: „Es ist aber wohl wahr, daß sich seine Arbeitsweise in diesen zuletzt genannten Werken sehr von der seiner Jugendzeit unterscheidet. Seine ersten sind mit einer gewissen Feinheit und unglaublichen Sorgfalt ausgeführt und sowohl aus der Nähe wie aus der Ferne zu betrachten. Letztere hingegen gestaltete er mit grob hingeworfenen Pinselstrichen und Flecken, so daß man sie von Nahem nicht zu betrachten vermag, sie aus der Ferne aber perfekt wirken.“11 Was aus der Nähe undeutlich wirkt und 11

Giorgio Vasari: Das Leben des Tizian, hg. v. Christina Irlenbusch/Victoria Lorini, Berlin 2005, S. 45. Vgl. den italienischen Text: Giorgio Vasari: Le Vite de’ più eccellenti pittori, scultori e architettori, Band 7, Mailand 1965, S. 332: „Ma è ben vero che il modo di fare che tenne in queste ultime è assai diferente dal fare suo da giovane. Con ciò sia che le prime son condotte con una certa finezza e diligenza incredibile e da essere vedute da presso e da lontano, e queste ultime, condotte di colpi, tirate via di grosso e con macchie di maniera, che da presso non si possono vedere e di lontano appariscono perfette.“ Siehe Jodi Cranston: The Muddied Mirror. Materiality and Figuration in Titian’s Later Paintings, University Park Pennsylvania 2010, S. 2. Ähnlich beschreibt Lomazzo den Besuch Aurelios in Tizians Werkstatt, wo im Grunde dieselbe Beschreibung Vasaris nochmals anhand eines Landschaftsbildes aktualisiert wird. Vgl. Werner Busch: Landschaftsmalerei. Geschichte der klassischen Bildgattungen in Quellentexten und Kommentaren, Band 3, hg. v. Kunsthistorischen Institut der Freien Universität zu Berlin, Berlin 1997, S. 97: „Aurelio hielt es auf den ersten Blick für eine Schmiererei, als er dann aber ein paar Schritte zurücktrat und es von Ferne betrachtete, schien es ihm, daß die Sonne darin schiene und die Wege hier und da verflüchtigen ließ.“ In der Vita Luca della Robbias liefert Vasari auch eine positive Erzählung über die grobe Skizze in Donatellos Entwurf für die Cantoria, die sowohl der pragmatischen Funktion der Hängung geschuldet sei als auch dem künstlerischen Ingenium, das mit wenigen Hieben zum Ausdruck gebracht werde: „Auf dem großen Gesims dieser Verzierung schuf Luca zwei Figuren aus vergoldetem Metall, die zwei nackte Engel darstellen und wie das ganze Werk als außerordentlich galt, sehr präzise ausgeführt sind. Im Gegensatz dazu hat Donatello, der dann die Kanzel für die andere Orgel gegenüber schuf, seine mit sehr viel mehr Urteil und Erfahrung als Luca realisiert, wie an entsprechender Stelle gesagt werden wird, da er fast das gesamte Werk skizzenhaft und nicht präzise ausgearbeitet hat, weshalb es aus der Ferne sehr viel besser als das von Luca wirkt. Obwohl dessen Werk also mit gutem disegno und aller Sorgfalt ausgeführt ist, sorgt es in seiner Feinheit und Genauigkeit dafür, daß das Auge sich durch die Entfernung darin verliert und es nicht so gut zu erkennen vermag wie das von Donatello, das fast nur skizzenhaft angedeutet ist. Dies ist ein Aspekt, dem die Künstler große Beachtung schenken sollten, denn die Erfahrung lehrt, daß alle Werke, die aus der Entfernung betrachtet werden – ob es sich dabei um Malereien, Skulpturen oder irgendein anderes Werk handelt –, mehr Kühnheit und Ausdruckskraft besitzen, wenn sie schön umrissen sind, als wenn sie ganz vollendet werden. Neben diesem auf der Entfernung beruhenden Effekt scheint es zudem,

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VI. Nah und fern

deshalb von Vasari für unbegreiflich erklärt wird, entfaltet sich aus der Ferne gesehen in ein perfektes lebendiges Formgebilde. In der Biografie de Gelders bemerkt Houbraken, wie kräftig dessen Bilder aus der Ferne erscheinen, womit eine Brücke zu Tizian geschlagen werden kann: „[…] en ’t is te verwonderen hoe natuurlyk en kragtig […] zig in afstant vertoont.“12 So wird eine doppelte Lebendigkeit erkennbar: die der Figuren und die der Farben. Die Werke Rembrandts entfalten ebenfalls aus großem Abstand ihre Wirkung: „[…] door welke wyze van behandelen zyne stukken, zelf in wyden afstand, kragtig uitkomen.“13 Rembrandt selbst empfahl in einem Brief an Huygens ein Bild so zu hängen, dass aus der Ferne die Farbe funkelt.14 Zudem riet er den Besuchern seines Ateliers davon ab, seine Bilder aus der Nähe zu studieren, da der Geruch der Farbe sie belästigen würde, wie Houbraken berichtet.15 Dieser empfahl außerdem, aus der Nähe nur das zu betrachten, „was fein verschmolzen und fleissig ausgeführt ist“16. Seymour Slive bemerkt, dass Félibien die dick applizierte Farbe Rembrandts ähnlich wie Houbraken beurteilte: „[…] at the proper distance the strong brush strokes and the impasto vanish, the whole blends and one gets the effect one would desire to have.“17 Pymandre betont das Problem des groben Pinsel-

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daß in den Skizzen, die der künstlerische Furor im Moment gebiert, die Vorstellung [des Künstlers] oftmals mit wenigen Hieben zum Ausdruck gebracht ist, während auf der anderen Seite Anstrengung und allzu große Sorgfalt zuweilen denen, die es nicht schaffen, ihre Hände von dem Werk zu lassen, das sie gerade bearbeiten, Kraft und Weitsicht rauben.“ Giorgio Vasari: Das Leben des Jacopo della Quercia, Niccolò Aretino, Nanni di Banco und Luca della Robbia, hg. v. Alessandro Nova, Berlin 2010, S. 67 f. Mit Dank an Frits Scholten für den Hinweis. Arnold Houbraken: De Groote Schouburgh der Nederlantsche konstschilders en schilderessen, Band 3, Den Haag ²1753 [1718–21], S. 207 f. Vgl. Arnold Houbraken: Grosse Schouburgh der Niederländischen Maler und Malerinnen, hg. v. Alfred von Wurzbach, Osnabrück ²1970, S. 370: „Und es ist erstaunlich, wie natürlich und kräftig sich dies zuweilen auf einige Entfernung ausnimmt.“ Houbraken: De Groote Schouburgh der Nederlantsche konstschilders en schilderessen, Band 1, S. 269. Siehe Houbraken: Grosse Schouburgh der Niederländischen Maler und Malerinnen, S. 116: „[…] durch welche Manier seine Bilder, selbst auf weite Entfernung, ungeschwächt wirken.“ Vgl. den Brief Rembrandts vom 12. Januar 1639 an den Sekretär Frederik Hendriks, Constantijn Huygens (Kapitel V, S. 259). Ähnliche Thesen bezüglich der Rem­ brandt’schen Farbkraft aus der Distanz vertritt Roger de Piles. Siehe die englische Ausgabe: The Art of Painting and the Lives of the Painters, London 1706, S. 320. Houbraken: De Groote Schouburgh der Nederlantsche konstschilders en schilderessen, Band 1, S. 269. Houbraken: Grosse Schouburgh der Niederländischen Maler und Malerinnen, S. 369. Seymour Slive: Rembrandt and His Critics. 1630–1730, New York 1988, S. 119. Vgl. André Félibien: Entretiens sur les vies et sur les ouvrages des plus excellens peintres anciens et modernes, Band 4, Paris 1685, S. 150f.

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Vom Amorphismus zur Formwerdung

strichs, wenn er aus der Nähe gesehen wird, und nimmt diesbezüglich eine ähnliche Position wie Félibien ein. Ein extrem pastoses und aus der Nähe gesehenes Porträt erschien ihm „[…] to have something hideous about it when one looked at it closely. And since one does not like to study a mere portrait from a great distance, he did not see how one could be satisfied with paintings which have so little finish.“18 Félibien nahm einerseits eine kritische Stellung in der Tradition Vasaris bezüglich dieser colpi ein, wies einen solchen Farbauftrag jedoch nicht völlig ab.19 In Spanien wird die Malerei eines Velázquez um 1720 von Palomino im Vasari’schen Sinne aus der Nähe nicht verstanden, aus der Ferne hingegen gelobt: „[Velázquez habe] mit langstieligen Pinseln und Bürsten gemalt, die er gelegentlich benutzte, um aus größerer Entfernung und mit größerer Entschlossenheit zu malen; so daß man die Bilder aus der Nähe nicht verstand, wogegen sie aus der Ferne ein Wunder sind.“20 Ähnliches gilt für El Greco und seine Borrones, zu deren Erklärung am Beginn des 20. Jahrhunderts auf einen Astigmatismus des Künstlers rekurriert wurde.21 Reynolds, der kritische Verehrer Rembrandts, nahm in seinen Discourses eine Zwischenposition ein: „[…] this chaos, this uncouth and shapeless appearance, by a kind of magic, at a certain distance assumes form, and all the parts seem to drop into their proper places; so that we can hardly refuse acknowledging the full effect of diligence, under the appearance of chance and hasty negligence.“22 Sowohl Vasari als auch Félibien und Houbraken stimmten darin überein, dass Erkenntnis und Kraft der Farbe auf bloße Visualität zurückgehen. Der gesamte Körper als Wahrnehmungsorgan, wie zum Beispiel das Überprüfen aus der Nähe und das Betasten der Leinwand sowie die Bewegung des Betrachters vor dem Bild, bleibt ihnen fremd und spielt keine Rolle. Was die idealistische Kunsttheorie aus der Nähe als bloße Striche ohne Erkenntniswert versteht, weiß

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Slive: Rembrandt and His Critics, S. 119. Ebd. Auch Reynolds, der Gegner und Kritiker Gainsboroughs, erkennt dessen Umgang mit der Nähe und Ferne beim Malen. Vgl. Werner Busch: Das sentimentalische Bild. Die Krise der Kunst im 18. Jahrhundert und die Geburt der Moderne, München 1993, S. 171–178. Antonio Gallego Burín (Hg.): Varia Velazqueña, Madrid 1960, Band 2, S. 87 u. 92. Zitiert nach Martin Warnke: Nah und Fern zum Bilde, in: ders.: Nah und Fern zum Bilde. Beiträge zur Kunst und Kunsttheorie, Köln 1997, S. 13. Vgl. hierzu Gridley McKim-Smith/Greta Andersen-Bergdoll/Richard Newman: Examining Velázquez, New Haven u. a. 1988. Germán Beritens: El astigmatismo del Greco – Nueva Teoría que explica las anomalías de las obras de este artista, Madrid 1914. Sir Joshua Reynolds: Discourses on Art, hg. v. Robert R. Wark, New Haven/London 1997, S. 258.

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VI. Nah und fern

Boschini in seiner Kunsttheorie hingegen zu schätzen.23 In seiner Carta vertritt er die entgegengesetzte These zu Houbraken. Der Venezianer hält sich nicht zurück, seinen Gegner Vasari persönlich zu kritisieren: „[…] Let me try to reason with you, Mr. Vasari. You say [the paintings of Titian] […] are made with stylish strokes [a colpi de maniera], with gross sketchiness [d’una macchia de grosso] and openly [a bona ciera] […], have an effect which cannot be seen from nearby but can only be enjoyed at a distance, and you praise this effect. […] You praise without limits the diligence of your compatriots whose work is so far removed from these strokes. Don’t you understand that these strokes are everything and that all the rest is nothing? That this artificial sketchiness [macchia artificiosa] is worth much more than the laborious, meagre and dry style [maniera fadigosa, magra e seca] that the diligent painter uses?“24 Ein ähnlich affirmatives Verhältnis zur Nähe zum Bild lässt Balzac in seinem Unbekannten Meisterwerk anklingen, wenn Frenhofer Poussin und Porbus auffordern lässt: „Geht näher heran, ihr werdet diese Arbeit dann besser sehen. Von weitem verschwindet sie.“25 Dies ist auch van Hoogstratens Diktum, der diejenigen als die wahren Kunstliebhaber identifiziert, die die Bilder (hier die „raue Skizze“, ruwe schets) aus der Nähe betrachten, da die Meisterschaft des Künstlers dort am besten nachzuvollziehen ist.26 Auch de Piles argumentiert in diese Richtung: „Not all paintings are made to be seen from up close or held in one’s hand, and it is enough that they produce their effect from the place at which people usually look at them, except that connoisseurs, after seeing them from a reasonable distance, wish to come closer to examine the artifice. For there is no painting that does not have its point of distance from which it should be

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Es ist auch kein Zufall, dass Francesco Bocchi im Sinne Vasaris 1591 schrieb: „[…] these sketches (bozze) are without any beauty from nearby, but appear fierce, marvelous, yet graceful from much further away.“ Siehe Sohm: Pittoresco, S. 50. Boschini: La Carta del navegar pitoresco, S. 74 ff. Zitiert nach Sohm: Pittoresco, S. 141. Honoré de Balzac: Das unbekannte Meisterwerk, in: Georges Didi-Huberman: Die leibhaftige Malerei, München 2002, S. 169 f. Samuel van Hoogstraten: Inleyding tot de hooge schoole der Schilderkonst: Anders de Zichtbaere Werelt, Rotterdam 1678, S. 27: „En even gelijk men zijn vriend van verre bespeurende, of by schemerlicht ontmoetende, strax als met het verstant zijn gedaente ziet, en bevat, zoo geeft een ruwe schets dikwils aen den kenders zoo grooten indruk, dat zy ’er meer, dan dieze gemaekt heeft, in zien kunnen.“ Der Kenner sieht in den wenigen amorphen Flecken mehr, weil dessen Imagination stimuliert wird. An anderer Stelle (S. 340) spricht sich van Hoogstraten (in der Tradition von Horaz) für beide Möglichkeiten des Betrachtens aus: „De Schilderkonst, dewijlze alleenlijk verbonden is, ’t zy van naby of van verre […].“ [Herv. d. V.]

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Vom Amorphismus zur Formwerdung

seen.“27 Luigi Scaramuccia vergisst sogar das Zurücktreten vom Gemälde Tizians in San Sebastiano, so sehr ist er von der Nahsicht angezogen.28 Nicht zuletzt Johann Christian Hagedorn zufolge sollten die Kunstliebhaber „mehr mit den Händen als mit den Augen“29 beurteilen. Pymandre räumt durch die Erfahrung mit Félibien ein: „In the future I will look at pictures from different distances and in considering the works I will know the reasons for the different effects of plasiticity and delicacy.“30 Somit vertritt er einen Standpunkt, der als Kompromiss der Vasari’schen und Boschini’schen Position zu verstehen ist. In diesem Zusammenhang wäre ebenfalls Giovanni Pietro Zanotti zu erwähnen, der Nähe und Ferne als paritätisch für die Betrachtung ansieht.31 Zugleich betont de Piles, der Maler solle einen gewissen Abstand zu seinem Bild halten und eben nicht „seine Nase reinhalten“32. Die amorphen Gebilde der Rembrandtisten sind Produkte des Umgangs mit der Farbmaterie und den Malwerkzeugen, die eine fruchtbare, körperliche Auseinandersetzung mit dem Zufall erlauben. Formgebung und Formwerdung verschränken sich in dieser Praxis. Boschinis Beschäftigung mit der Formwerdung aus dem Chaos thematisiert darüber hinaus die Rolle des Betrachters.33 Der Beschauer wiederholt den Vorgang der allmählichen Formwerdung während des Farbauftrags.34 Nähe und Ferne sind als gleichberechtigte Größen zu verstehen, die in der Betrachtung kontinuierlich verschmelzen.35 In der Nähe wie in der Ferne trifft die Form der Pinselstriche den Betrachter: „Such is the

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Jacqueline Lichtenstein: The Eloquence of Color. Rhetoric and Painting in the French Classical Age, Berkeley/Los Angeles/Oxford 1993, S. 162. Luigi Scaramuccia: Le finezze de’pennelli italiani ammirate e studiate da Girupeno sotto la scorta e disciplina del genio di Raffaello d’Urbino, Pavia 1674, S. 106. Vgl. Valeska von Rosen: Mimesis und Selbstbezüglichkeit in Werken Tizians. Studien zum venezianischen Malereidiskurs, Emsdetten u. a. 2001, S. 342. Johann Christian Hagedorn: Betrachtungen über die Mahlerey, 2 Bände, Reprint der Ausgabe Leipzig 1762, Hildesheim u. a. 1997, Band 2, S. 756. Zitiert nach Monika Wagner: „Das Auge ward Hand, der Lichtstrahl Finger“. Bildoberfläche und Betrachterraum, in: Markus Rath/Jörg Trempler/Iris Wenderholm (Hg.): Das haptische Bild. Körperhafte Bilderfahrung in der Neuzeit, Berlin 2013, S. 259. Slive: Rembrandt and his Critics, S. 121. Giovanni Pietro Zanotti: Nuovo fregio di gloria a Felsina sempre pittrice nella Vita di Lorenzo Pasinelli pittor bolognese, Bologna 1703, S. 102. Vgl. Nicola Suthor: Bravura. Virtuosität und Mutwilligkeit in der Malerei der Frühen Neuzeit, München 2010, S. 93. Suthor: Bravura, S. 75 ff. Sohm: Pittoresco, S. 141; Cranston: The Muddied Mirror, S. 4. Sohm: Pittoresco, S. 50 und S. 147. Zum Begriff des Kontinuums vgl. Gottfried Boehm: Der Grund. Über das ikonische Kontinuum, in: ders./Matteo Burioni (Hg.): Der Grund. Das Feld des Sichtbaren, München 2012, S. 28–92. Vgl. weiterhin die Bemerkungen zu Nähe und Ferne von Wolfram Hogrebe: Philosophischer Surrealismus, Berlin 2014, S. 16–26.

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VI. Nah und fern

force of these brilliant strokes that they strike us across even a great distance, impastoed so broadly that they enchant.“36 In diesem Zusammenhang sind die Konzeptionen des Houding, der Unione del Colore sowie des damit einhergehenden Begriffs der Kenlijkheid/ Onkenlijkheid von eminenter Bedeutung.37 Die Rolle der Fernsicht und der daraus resultierenden Beschränkung auf das Sehen kann nicht genügend unterstrichen werden. Bei der Kenlijkheid, einer zentralen Kategorie in van Hoogstratens Kunsttheorie, geht es um die Frage des Pinselstriches und dessen Perzeptionsmöglichkeiten: „Ik zeg dan, dat alleen de kenlykheyt de dingen naby doet schijnen te zijn, en daer en tegen de egaelheyt de dingen doet wechwijken: daerom will ik, datmen ’t geen voorkomt, rul en wakker aensmeere, en ’t geen weg zal wijken, hoe verder en verder, netter en zuiverder handele.“38 Van Hoogstraten beschreibt damit eine Malweise, die in den Gemälden der Rembrandtisten bereits umgesetzt wurde. Mit anderen Worten wird das Problem der Nähe und der Ferne, dem auch der Unterschied zwischen optisch und haptisch inhärent ist, in der Formwerdung des Bildes thematisiert, was seinerseits unmittelbar mit Wahrnehmungsprozessen zusammenhängt. Der Betrachter, der sich mit seinem Körper bewegt, partizipiert aktiv am gesamten Prozess der Formwerdung: „Noch deeze nog geene verwe zal uw werk doen voorkomen of wechwij­ ken maar alleen de kenlykheyt of onkenlykheyt der deelen.“39 Diese Fest­stellung des Rembrandtschülers ist deshalb wichtig, weil sie im Sinne der Mere­ologie die 36 37 38

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Boschini: La Carta del navegar pitoresco, S. 166, zitiert nach Sohm: Pittoresco, S. 242. Die Rolle des Houding wurde im vierten Kapitel thematisiert (S. 249 f.). Van Hoogstraten: Inleyding tot de hooge schoole der Schilderkonst, S. 307. Vgl. Alice Crawford Berghof: „Nearest the Tangible Earth“. Rembrandt, Samuel van Hoogstraten, George Berkeley, and the Optics of Touch, in: John Shannon Hendrix/ Charles H. Carman (Hg.): Renaissance Theories of Vision, Ashgate 2010, S. 196. Übersetzung in: Ernst van de Wetering: The Painter at Work, Berkeley/Los Angeles/London 22004, S. 183 f.: „I therefore maintain that perceptibility (kenlijkheyt) alone makes objects appear close at hand, and conversely that smoothness (egaelheyt) makes them withdraw, and I therefore desire that that which is to appear in the foreground be painted roughly and briskly, and that that which is to recede be painted the more neatly and smoothly the further back it lies.“ Van Hoogstraten: Inleyding tot de hooge schoole der Schilderkonst, S. 307. Übersetzung in Ernst van de Wetering: Towards a Reconstruction of Rembrandt’s Art Theory, in: ders. (Hg.): A Corpus of Rembrandt Paintings, V, The Small-Scale History Paintings, Dordrecht 2010, S. 12: „Neither one colour or another will make your work seem to advance or recede, but only the kenlijkheyt [perceptibility, being the roughness of the paint surface] or onkenlijkheyt [imperceptibility, being the smoothness] of the parts.“ Berghof (S. 197 f.) kritisiert van de Wetering und stellt van Hoogstratens Aussage auf den Kopf (S. 202): „[…] what is close will appear brighter or more vibrant due to the strength of the beams of light, but what is in the distance may revert to the aggregate representational brightness of what may have been a series of bright as well as muted shades of color.“ Die Frage ist, für welche

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Vom Amorphismus zur Formwerdung

Kraft des Details hervorhebt und dies in ein spannungsvolles Verhältnis zum Ganzen ohne Hierarchisierungsansprüche setzt. Tatsächlich ist in Bildern de Gelders, Paudiß’ oder Drosts sichtbar, wie die Details durch den groben Pinselstrich auf sich selbst hinweisen und dadurch eine Autonomie erlangen. Die einzelnen Elemente im Hintergrund hingegen sind in der Tat so gemalt, dass sie mit ihm verschwimmen.40 Die Formwerdung ist somit in der Kenlijkheid/Onkenlijkheid bereits enthalten. Gleichzeitig ist sie unmittelbar mit der Perzeption verbunden. Dazu kommt auch die Rolle des Handeling, das auf Nähe und Distanz bedacht ist.41 Verschiedene Malweisen innerhalb ein und desselben Bildes werden gerade aus der Dialektik zwischen Nähe und Ferne plausibel, was wiederum an die Rolle der formalen Diversität, also an das Spannungsverhältnis zwischen Opazität und Transparenz der Bildfläche erinnert.42 Joachim von Sandrart verlangt in dem Abschnitt „Von Nähe und FerneMahlen“ seiner Teutschen Akademie im Kapitel „Über das Wohl Mahlen“, dass die Schärfe zu vermeiden sei, weil gewisse Sachen im Sinne der Kenlijkheid/ Onkenlijkheid dann als zu hart erscheinen und ihre Natürlichkeit und Schönheit verlieren würden. Darin lässt sich aber auch eine Kritik am pastosen Farbauftrag erkennen. Denn Sandrart spricht im Sinne van Manders und Vasaris von der feinen Manier als der anzustrebenden Malweise für einen jungen Künstler, wohingegen er der Manier eines späten Tizian zwar kritisch gegenübersteht, aber dennoch anerkennt: „Aber in seinen letzten Zeiten und Jahren/ mahlte er sehr rauh/ mit vielen Farben beschwert: welches in der Nähe nicht/ aber nur von weitem/ sehr wol gestanden […].“43 ­Sandrart betont den pragmati-

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Malerei dieser Aspekt von Berghof gelten soll: für die eines Rembrandt oder vielmehr für die eines Vermeer? In diesem Zusammenhang ist die spätere Auseinandersetzung Diderots mit den Bildern Chardins spannend. Bei Chardin und den Rembrandtisten geht es um die Störung von Illusion, die sich nicht auf einen logischen, optischen Nachvollzug beschränken lässt. Vgl. Bettina Gockel: Bilder für Blinde – Sehen und Handeln in Malerei, Fotografie und Film. Ein Versuch, in: Horst Bredekamp/John Michael Krois (Hg.): Sehen und Handeln (Actus et imago I), Berlin 2011, S. 74 ff. Dies wird in der Kunstgeschichte seit Langem diskutiert. Siehe: Martin Warnke: Weltanschauliche Motive in der kunstgeschichtlichen Populärliteratur, in: ders. (Hg.): Das Kunstwerk zwischen Wissenschaft und Weltanschauung, Gütersloh 1970, S. 88–106. Ebenfalls grundlegend: Daniel Arasse: Le détail. Pour une histoire rapprochée de la peinture, Paris 1992. Van Hoogstraten: Inleyding tot de hooge schoole der Schilderkonst, S. 307. Siehe das erste Kapitel, S. 32 f. u. 49 f. Sandrart: Teutsche Akademie 1675, S. 72, unter http://ta.sandrart.net/en/text/ 159#tapagehead [21. 5. 2014]. Gleichzeitig spricht aber Joachim von Sandrart für die Funktion einer solchen Malweise in einem bestimmten Kontext: „Andere/ die man in die ferne ordnet/ müßen als flüchtig/ mit allgemach-dunklen und abnehmenden Farben beygebracht werden.“ Sandrart: Teutsche Akademie 1675, S. 62, unter http://ta.sandrart.net/en/text/149#tapagehead [21. 5. 2014].

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VI. Nah und fern

schen Umgang mit dem Handeling, und hierin besonders, dass das, was klein ist, fein gemalt werden sollte.44 Somit spielt Nähe oder Ferne keine Rolle mehr, da die Faktur des Bildes gleichmäßig erkennbar ist. Hervorzuheben ist die Tatsache, dass Sandrart sogar von der Nahsicht eines Bildes abrät. Vasari hingegen lobt zwar die Fernsicht, dies aber explizit als einen Überraschungseffekt, der mit der Nahsicht beginnt. Van Hoogstraten nimmt – wie bereits gesehen – ähnlich wie Sandrart eine praktische Einstellung gegenüber den Unterschieden des Handeling innerhalb eines Gemäldes ein und thematisiert nah und fern bezüglich des Farbauftrags.45 Der Rembrandtschüler plädiert für einen raueren Farbauftrag bei jenen Bildern, die nur aus der Distanz gesehen werden sollen und durch die Luftperspektive im Auge einen scharfen Eindruck entstehen lassen. Dies bedeutet, dass die Formwerdung durch die Entfernung entsteht, die den Pinselhieben eine Gestalt gibt. Aber auch Gerard de Lairesse erwähnt in seinem Schilderboek unterschiedliche Handelinge bezüglich der Nah- und Fernansicht eines Bildes.46 Vasaris Beschreibung von Tizians Gemälden als solchen, die in der Nähe nur amorphe Gebilde erkennen lassen, zeigt, dass das, was nicht verstanden wird, auch nicht gesehen werden kann.47 Dass eine derartige Auseinandersetzung mit amorphen Gebilden Wissen generiert und mit einer bestimmten Wahrnehmung zusammenhängt, unterstreicht Boschinis positive Auseinandersetzung mit den chaotisch anmutenden Pinselstrichen. Vasari und Houbraken sind hingegen blind für solche Erscheinungen. Sie wollen das Gezeigte nicht sehen, weil es ihnen an Interesse mangelt. Gleichzeitig aber hat das Fehlen von Erkenntnis auch mit einem Defizit an sensomotorischem und körperlichem Wissen im Hinblick auf die kognitiven Fähigkeiten zu tun.48 Eine Passage, die 44 45

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Ebd. Van Hoogstraten: Inleyding tot de hooge schoole der Schilderkonst, S. 235: „Nu zoo moetmen ook zijn handeling voornamentlijk veranderen na de plaets […] die by zich zelven steekende zijn.“ Vgl. van de Wetering: Towards a Reconstruction of Rembrandt’s Art Theory, S. 117: „One should also adapt his brushwork [Handeling] according to the place where the work has to stand: for you will assuredly regret it if, in painting a piece that has to hang high up, and has to be seen from a distance, you have wasted much time on small things. […] for the height and the thickness of the air will show many things merged together which should [seen closer] stand out separately.“ Vgl. Kapitel I, S. 34. Gerard de Lairesse: Groot Schilderboek, Band 1, Haarlem ²1740, S. 315–319. Vgl. hierzu Lyckle de Vries: How to Create Beauty. De Lairesse on the Theory and Practice of Making Art, Leiden 2011, S. 67. Auf Seite 131 bemerkt de Vries weiterhin: „De Lairesse points out that one should never forget that colours loose much of their intensity when seen from a great distance.“ Zu einer ähnlichen Einsicht gelangt auch Alva Noë in anderem Zusammenhang „To see one must have visual impressions that one understands.“ Alva Noë: Action in Perception, Cambridge MA 2004, S. 6. Ebd., S. 7.

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Vom Amorphismus zur Formwerdung

dies verdeutlicht, stammt von Lovis Corinth, einem großen Bewunderer Rembrandts: „In der Nähe betrachtet, scheint aber das wüsteste Farbenchaos die wildesten Orgien zu feiern. Wohl sollte dieses furiose Umspringen mit den Farben und deren Wirkung in die Ferne eher als der wundervollste Kunstausdruck angestaunt werden; aber die Menge ist nun einmal so: Was sie nicht versteht, wird von ihr verdammt.“49 Wie Carl Justi in seinem berühmten Vortrag von 1902 postulierte, müsste bei einer „Undeutlichkeit der Gegenstände“ und einer „Wildheit des Pinselstrichs“ von Amorphismus die Rede sein, was im Grunde die bereits festgestellten Formeigenschaften der Rembrandtisten charakterisiert.50 Diesen „EmbryoZustand des Kunstwerks“ betont Justi nicht ohne kritischen Unterton, als würde er Vasaris und Houbrakens Aussagen bezüglich des Impressionismus weiterführen.51 Sedlmayr setzte mit dem bereits zitierten Aufsatz „Die Macchia Bruegels“ die Idee Justis fort. In Anlehnung an Georges Bataille bemerkt Didi-Huberman zur Rolle des Formlosen: „Die Form kann nur als fortwährender Zufall/Unfall der Form gedacht werden.“52 Dies scheint direkt auf einen Satz Marco Boschinis zu verweisen, in dem der Venezianer über die paragonale Auseinandersetzung zwischen Bildhauer und Maler behauptete: „The painter uses form without form, or rather with form deformed, and finds the true formation in fluid form.“53 Formwerdung und Formentzug werden somit als zwei Seiten einer Medaille im Hinblick auf die Prozessualität des Farbauftrags gesehen. Die dauernde Bewegung und zufällige Konstellation der Farbe im Pendeln zwischen Erschaffung und Zerstörung charakterisiert dieses Verhältnis und äußert sich bei den Rembrandtisten in Form von Punkten und Flecken, die bereits intelligibler Natur sind.54 In diesem stetig werdenden, nicht unbedingt linear gedachten Prozess der Form manifestiert sich die spannungsvolle Beziehung zwischen Chaos und Gestalt.

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Zitiert nach Johannes Stückelberger: Rembrandt und die Moderne. Der Dialog mit Rembrandt in der deutschen Kunst um 1900, München 1996, S. 189 f. Vgl. Klaus Albrecht Schröder: Nähe und Ferne. Faktur und Ausdruck im Schaffen Corinths, in: Ausst. Kat.: Lovis Corinth, hg. v. Klaus Albrecht Schröder, München 1992, S. 8–35. Carl Justi: Amorphismus in der Kunst. Ein Vortrag gehalten 1902, Bonn 1902, S. 5. Ebd., S. 6: „[D]as Unklare und Zerflossene, das Sinnlose und Unzulängliche wird als höchstbewertete Stilqualität angestaunt.“ Georges Didi-Huberman: Formlose Ähnlichkeit oder die fröhliche Wissenschaft des Visuellen nach Georges Bataille, München 2010, S. 200. Boschini: La Carta del navegar pitoresco, S. 750; zitiert nach Sohm: Pittoresco, S. 155. Stephen Greenblatt: The Swerve. How the World Became Modern, New York 2011, S. 6 ff.

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VI. Nah und fern

Bild 183  Arent de Gelder: Weibliche Figur (Allegorie?), um 1698, Öl auf Leinwand, 84 × 68 cm, Dordrechts Museum, Dordrecht.

Da s Verhä lt n is z w isc hen hap t isc h u nd op t isc h Wie im vorigen Abschnitt gezeigt, lassen von Nahem betrachtete Werke der Rembrandtisten einen hohen Abstraktionsgrad gegenüber den dargestellten Objekten zu, da sie aus modellierter, weniger vermalter Farbe bestehen. Eine solche Prozesshaftigkeit der Farbmaterie ist auch bei der Allegorischen Figur in Dordrecht zu erkennen (Bild 183). Auf der Schulter der Frau mit der Lanze liegt ein Umhang, der derart üppig ausfällt, dass ihr Kopf dadurch recht klein erscheint. Die opulente Wiedergabe des Stoffes spricht besonders den Tastsinn an. Dabei treten die Gesichtszüge der Frauengestalt in den Hintergrund, wodurch das Gemälde in die Tradition des venezianischen Ärmelporträts im Cinquecento eingeordnet werden kann (Bild 184).55

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Vgl. Marianne Koos: „Quasi la fan toccar con mano“. Berührung im Ärmelporträt des Cinquecento, in: Klaus Herding/Antje Krause-Wahl (Hg.): Wie sich Gefühle Ausdruck verschaffen, Taunusstein 2008, S. 133–160.

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Das Verhältnis zwischen haptisch und optisch

Bild 184  Detail aus Bild 183.

Für ein umfassendes Verständnis der Gemälde de Gelders und der anderen Rembrandtisten ist es von Bedeutung, sie aus der Nähe zu betrachten und wenigstens „mit dem Auge zu berühren“, auch wenn nur Striche, Kratzer oder pastose Flecken zu erkennen sind (Bild 185). Auch wenn es heute nur in Ausnahmefällen möglich ist, eines der Bilder tatsächlich zu berühren, so ist der Betrachter umso mehr dazu aufgerufen, die Oberflächenstruktur mit den Augen abzutasten. Die Kratztechnik versieht das Bild wie mit Wundmalen an seiner Oberfläche, die erst durch den Tastsinn erfahrbar werden; ein Umstand, der wesentlich zur Verlebendigung beiträgt.56 Die Kratzer offenbaren die Objekthaftigkeit des Bildes, wie paradigmatisch in der Nahaufnahme von Ahasvers Gewand auf de Gelders Gemälde zu erkennen ist (Bild 186 und Bild 187). Auf dem Gemälde Pieter Coddes in Stuttgart sind drei Kunstliebhaber im Atelier eines Malers, der den Betrachter mit einer Palette in der Hand 56

Das Ertasten eines Bildes wird bei Sohm zum Thema, wenn er schreibt: „Boschini loved to rub his fingers over the sharp edges of Bassano’s work as if his touch could help him to understand the densely jagged surfaces.“ Vgl. Sohm: Pittoresco, S. 6.

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VI. Nah und fern

Bilder 185, 186  Details aus Bild 183.

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Das Verhältnis zwischen haptisch und optisch

Bild 187  Arent de Gelder: Esther, Ahasver und Haman (oder Mordechai), Reste einer Signatur, um 1680, 105 × 150 cm, Dordrechts Museum, Dordrecht.

anschaut, in die Betrachtung von Bildern versunken (Bild 188). Unwillkürlich wird sich auch der Betrachter selbst seiner Versunkenheit gewahr, angestoßen durch den ihn anblickenden Maler. Einer der Männer ist sitzend dargestellt und hält sich ein kleines Gemälde nah vor Augen, um es besser studieren zu können. Die innerbildliche wie auch die tatsächliche Kunstbetrachtung fordern Visus und Tactus gleichermaßen heraus, gerade wenn es sich um Gemälde handelt, die aus dem Milieu Coddes stammen, war dieser doch den frühen Rembrandtisten und Frans Hals nahe.57 Die Figur hinter dem Sitzenden erkundet eine Landschaftsmalerei dem Betrachter den Rücken zukehrend. Der dritte Mann hat eine lässige Pose eingenommen und studiert das größte Werk im Raum, das auf die gleiche Weise auf der Staffelei angebracht ist wie das in Rembrandts Bostoner Selbstbildnis. Der Kopf des Mannes sowie sein Oberkörper weisen in Richtung Gemälde, was seine Empathie für das Objekt der Betrachtung unterstreicht. Gleichzeitig stützt er seine Hand und den Unterarm auf die Stuhllehne, die auch ein Hindernis für die Annäherung zum Bild darstellt, was ihn jedoch nicht zu stören scheint.

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Vgl. Ausst. Kat.: Der junge Rembrandt. Rätsel um seine Anfänge, hg. v. Ernst van de Wetering/Bernhard Schnackenburg, Wolfratshausen 2001, S. 32.

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VI. Nah und fern

Bild 188  Pieter Codde: Kunstliebhaber besuchen das Atelier eines Künstlers, um 1635, Öl auf Holz, 38,3 × 49,3, Staatsgalerie, Stuttgart.

Eine andere Vorstellung von Kunstbetrachtung vermittelt Arnold Houbrakens Zeichnung mit der Gemäldebesichtigung der Kunstgenossenschaft Pictura in der St. Lucasgilde in Dordrecht, jener Stadt, in der Arent de Gelder den Großteil seines Lebens verbrachte (Bild 189). Diese Zeichnung, inszeniert wie ein Gemälde mit Rahmen, repräsentiert eine eher akademische Perspektive auf die Kunstbetrachtung, im Gegensatz zu jener privat-bürgerlichen Coddes, und steht im Einklang mit Houbrakens Kunstpraxis sowie seiner Kunsttheorie. Der Bedienstete links steht zwar neben dem Werk, versperrt dem Betrachter allerdings mit dem Gläsertablett teilweise den Blick auf das Gemälde, über das lebhaft diskutiert wird.58 Vier Personen im rechten Vordergrund, die das Gemälde (Urteil des Kambyses?) sitzend sowie stehend betrachten, kommentieren und beurteilen es. Dabei halten sie, ganz im Sinne der akademischen Kunsttheorie, großen Abstand zum Bild. Im Hintergrund an der Wand hängen Historiengemälde, wie der Gute Samariter oder Ecce Homo und ein Porträt, außerdem steht dort ein Tisch, an dem Mitglieder der Gilde sitzen und sich in angeregtem Austausch befinden.

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Mit herzlichem Dank an Holm Bevers für die Diskussion.

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Das Verhältnis zwischen haptisch und optisch

Bild 189  Arnold Houbraken: Gemäldebesichtigung in der St. Lukasgilde zu Dordrecht, Federzeichnung, Kupferstichkabinett – Staatliche Museen zu Berlin, Berlin.

In diesen beiden Bildbeispielen sind zwei grundverschiedene Betrachtungsformen gezeigt: die bürgerlich-private und die akademisch-öffentliche. Im ersten Fall wird der Tactus, das Haptisch-Körperliche, miteinbezogen; im zweiten Fall der Visus, der sich hier als ein absolutes, körperabstinentes Sehen präsentiert. Von dieser Unterscheidung ausgehend, soll im Folgenden das Verhältnis von haptisch (nah) und optisch (fern) verfolgt werden. Es ist gekennzeichnet von einer Oszillation zwischen Täuschung und Enttäuschung, mit der eine innerbildliche Spannung thematisiert und die Wahrnehmung der Form vereint ist.59 59

Frank Fehrenbach: Kohäsion und Transgression. Zur Dialektik lebendiger Bilder, in: Ulrich Pfisterer/Anja Zimmermann (Hg.): Animationen, Transgressionen. Das Kunstwerk als Lebewesen, Berlin 2005, S. 20. Zur Rolle der Enttäuschung siehe Valeska von Rosen: Die Enargeia des Gemäldes. Zu einem vergessenen Inhalt des „Ut-pictura-poesis“ und seiner Relevanz für das cinquecenteske Bildkonzept, in: Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft, 27 (2000), S. 190: „Die Enttäuschung durch Berührung des Gemäldes wie Zuccaro berichtet, ist allein dem Bereich des Anekdotischen zuzuweisen.“ Weststeijn argumentiert hingegen in Bezug auf die niederländische Kunsttheorie: „[…] the two way movement of ocular exchange means that while the beholder’s senses are taken over by the painter’s illusionistic skills, the art object itself changes too, from a lifeless material object into an animated

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VI. Nah und fern

Zunächst sollen Implikationen geklärt werden, die sich bei den Begriffen Nähe und Distanz beziehungsweise haptisch und optisch ergeben, um deren Dialektik in der Kunstliteratur nachzuvollziehen. Eine besondere Rolle spielen hierbei Alois Riegl und Heinrich Wölfflin. Riegl unterscheidet in der Römischen Kunstindustrie (1901) zwei Arten des Sehens: die Nahsicht, die er dem Haptischen zuordnet, und die Fernsicht, die er mit dem optischen Gefühl verbindet.60 In seiner posthum veröffentlichten Historischen Grammatik der bildenden Künste nimmt er folgendermaßen Bezug auf die beiden Begriffe: „Aber gerade der Gesichtssinn als solcher ist ungenügend, um uns die Empfindung der Form zu verschaffen. […] Es bedarf eines anderen Sinnes, um uns vom Vorhandensein der Tiefe zu überzeugen, und das ist der Tastsinn. Der Gesichtssinn verrät nur das Vorhandensein eines Dinges; die Form des Dinges erkundet erst der Tastsinn. […] So hätten wir ein Wesentliches: die Form, die uns der Tastsinn lehrt, und ein Trügerisches, Scheinbares: die Fläche, die uns der Gesichtssinn vorspiegelt. Diese Fläche nennen wir die optische oder subjektive Fläche.“61 Riegl bezeichnet die Nahsicht als eine objektive Seite, da sie überprüfbar sei. Gleichzeitig erzeuge sie den „Tod des Artefakts“, weil die Berührung mit der Enttäuschung über die vermeintliche Illusion eines Bildes einhergehe, andererseits aber das Vorhandensein von Materie belege. Im selben Buch verknüpft Riegl die Wölfflin’schen Begriffe „plastisch“ und „malerisch“ mit folgenden Worten: „Daher ist plastisch und malerisch mit nahsichtig und fernsichtig zu übersetzen.“62 Für Heinrich Wölfflin hingegen bilden das Lineare und das Malerische einen Brückenschlag zu optisch und haptisch, nah und fern. In seinen Prolegomena zu einer Psychologie der Architektur spielen ganzkörperliche Erfahrun-

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reality.“ Thijs Weststeijn: Seeing and the Transfer of Spirits in Early Modern Art Theory, in: Hendrix/Carman (Hg.): Renaissance Theories of Vision, S. 160. Die durchaus wichtige Beobachtung Weststeijns wirft ein Problem auf, das seiner Auffassung von der virtuellen Realität zugrunde liegt und wohl für eine feine Manier gilt, sich bei den Rembrandtisten aber genau ins Gegenteil kehrt. Alois Riegl: Spätrömische Kunstindustrie, Darmstadt 1973, S. 27–35. Didi-Huberman: Die Leibhaftige Malerei, S. 89; vgl. hierzu auch John Michael Krois: Tastbilder. Zur Verkörperungstheorie ikonischer Formen, in: ders.: Bildkörper und Körperschema. Schriften zur Verkörperungstheorie ikonischer Formen (Actus et Imago II), Berlin 2011, S. 213; Markus Rath/Jörg Trempler/Iris Wenderholm (Hg.): Einleitung, in: Das haptische Bild. Körperhafte Bilderfahrung in der Neuzeit (Actus et Imago VII) Berlin 2013, S. X f. Siehe weiterhin Ludger Schwarte: Taktisches Sehen. Auge und Hand in der Bildtheorie, in: ders./Johannes Bilstein (Hg.): Auge und Hand, Oberhausen 2011, S. 211 ff. Alois Riegl: Historische Grammatik der bildenden Künste, hg. v. Karl M. Swoboda/ Otto Pächt, Graz 1966, S. 287. Ebd., S. 291.

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Das Verhältnis zwischen haptisch und optisch

gen eine prominente Rolle.63 In den Kunstgeschichtlichen Grundbegriffen versteht Wölfflin diese Erscheinungen vor allem als optische Phänomene,64 die jedoch nicht rein visuell zu begreifen sind. Er führt im Grunde die Herder’sche Idee von „sein Auge ward Hand, der Lichtstrahl Finger“65 fort, wenn er die These vertritt, dass „die Operation, die das Auge ausführt, der Operation der Hand gleicht, die tastend am Körper entlanggeht, und die Modellierung, die in der Lichtabstufung das Wirkliche wiederholt, sich ebenso an den Tastsinn wendet. Eine malerische Darstellung dagegen in bloßen Flecken schließt diese Analogie aus. Sie wurzelt nur im Auge und wendet sich nur an das Auge, und wie das Kind sich abgewöhnt, alle Dinge auch anzufassen, um sie zu begreifen, so hat die Menschheit sich abgewöhnt, das Bildwerk auf das Tastbare zu prüfen.“66 In dieser Diskussion findet der Körper des Betrachters überhaupt keine Beachtung und auch das Handeling spielt keine Rolle. Allerdings ist, wie schon gezeigt, die Malerei von Tizian, Rembrandt, Drost, de Gelder oder Paudiß körperlich und reliefhaft, sodass sie nicht nur optisch, sondern auch haptisch wahrgenommen wird. In diesem Sinne ist auch Berkeleys visuelle Perzeption zu verstehen, die aus dem Gesichtssinn und dem imaginierten Tastsinn besteht67 und damit Parallelen zu Herders Aussage aufweist.68 Auch Descartes hatte eine ähnlich visuelle Auffassung von der Taktilität: „In Descartes’s Optics the sense of touch is rightly understood as the avenue through which light waves reach the optic nerve.“69 Bei den Rembrandtisten geht es eben nicht nur um eine bloß imaginierte Taktilität

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Siehe: Heinrich Wölfflin: Prolegomena zu einer Psychologie der Architektur, München 1886. Ders.: Kunstgeschichtliche Grundbegriffe. Das Problem der Stilentwicklung in der neueren Kunst, München 1915. Vgl. Krois: Tastbilder, S. 212. Körner unterstreicht, dass Herders Bezug zur Plastik eher visueller denn haptischtaktiler Natur gewesen sei: Vgl. Hans Körner: Der fünfte Bruder. Zur Tastwahrnehmung plastischer Bildwerke von der Renaissance bis zum frühen 19. Jahrhundert, in: Artibus et Historiae, 21 (2000), S. 182. Vgl. hierzu Monika Wagner: John Constable. Taktiles Sehen fluider Landschaften, in: Werner Busch: Verfeinertes Sehen, Berlin 2008, S. 44. Heinrich Wölfflin: Kunstgeschichtliche Grundbegriffe, S. 23 f. Vgl. Franz Joachim Verspohl: „Optische“ und „taktile“ Funktion von Kunst. Der Wandel des Kunstbegriffs im Zeitalter der massenhaften Rezeption, Kritische Berichte, 3/1 (1975), S. 30. Berghof: „Nearest the Tangible Earth“, S. 187. Berghof stellt Berkeley auf den Kopf, indem sie kritisierend anmerkt, dass beide Perzeptionsarten eigentlich doch taktiler Natur seien. Ebd., S. 203: „In formulating a theory of depth perception, what Berkeley does not acknowledge is that both kinds of sensation – internal feelings of the movement of optical nerves and external manual sensations – are tactile.“ René Descartes: Discourse on Method, Optics, Geometry and Meteorology, Indianapolis/Cambridge 2001, S. 104. Zitiert nach Berghof: „Nearest the Tangible Earth“, S. 201.

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VI. Nah und fern

beziehungsweise Haptik der Bilder, sondern um eine real existierende, die den Körper entgegen der cartesianischen Vorstellung in vollem Maße affiziert. Bei Riegl konstituieren „Sehsinn und Tastsinn […] im optischen oder taktilen Bildwerk eine antithetische Einheit von Weltvorstellung und Welterfahrung“70. Diese Dichotomien kommen auch in Adolf Hildebrands Problem der Form zum Tragen, auf das sich Wölfflin bekanntlich bezog.71 Für Theoretiker wie Konrad Fiedler, Robert Vischer (Das optische Formgefühl, 1873) oder Hildebrand spielte eher das optische beziehungsweise das absolute Sehen eine zentrale Rolle.72 Aber auch Max Imdahl spricht im Anschluss an Fiedler und Wölfflin der Zeichnung taktile Erfahrbarkeit zu, der Farbe hingegen visuelle.73 Hier scheint das Handeling weder in der Zeichnung noch in der Malerei eine Rolle zu spielen, denn sonst käme es nicht zu einer so grundlegenden Unterscheidung zwischen beiden. Grund dafür ist der topische Wettstreit in der Kunst.74 Ähnliches ließe sich über die vermeintlich antithetische Beziehung zwischen Nähe und Ferne sagen, die gerade auf dieser Dialektik basiert. Carlo Ginzburg versteht Nähe und Distanz als ambivalente Begriffe: Sie sind sich näher, als sie sich fern sind.75 Er verneint zwar nicht, dass Nähe und Distanz gegensätzlich sind, betont aber zugleich, dass ihre Gegensätzlichkeit dadurch zustande komme, dass sie sich aufeinander beziehen. Die Dialektik zwischen Nähe und Ferne ist auch eine Frage der Hierarchie der Sinne: Oft wird das Auge bevorzugt, denn aus der sicheren Distanz des Sehens bleibt auch ein amorphes Gebilde, ungeachtet der Malweise, immer sichtbar. Auch für Platon stellt das Sehen die höchste Stufe der Sinneswahr70 71 72

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Verspohl: „Optische“ und „taktile“ Funktion von Kunst, S. 29. Juliet Koss: On the Limits of Empathy, in: The Art Bulletin, 88 (2006), S. 142. Ebd., S. 143. Fiedler, Helmholtz und Hildebrand beschäftigten sich sowohl mit der Nahsicht als auch mit der Fernsicht. Vgl. Karl Schawelka: Zu nah am Bild, in: Silvia Glaser/Andrea M. Kluxen (Hg.): Musis et Litteris. Festschrift für Bernhard Rupp­ recht zum 65. Geburtstag, München 1993, S. 401. Clausberg bemerkt, dass Hildebrand dennoch „das nahsichtig binokular-stereoskopische Sehen für unrein und zur künstlerischen Verwertung ungeeignet“ hielt. Karl Clausberg: Statt Ferngefühl Nahsicht – Das „dramatische Präsens“ der Bilder, in: Ulrike Feist/Markus Rath (Hg.): Et in imagine ego. Facetten von Bildakt und Verkörperung. Festgabe für Horst Bredekamp, Berlin 2012, S. 60. Imdahl: Farbe, S. 66. Für eine andere Perspektive bezüglich der Paragone-Debatte siehe: Joris van Gastel/ Yannis Hadjinicolaou/Markus Rath (Hg.): Paragone als Mitstreit (Actus et Imago XI), Berlin 2014. Carlo Ginzburg: Holzaugen. Über Nähe und Distanz, Berlin 1999, S. 252. Pichler identifiziert die Dialektik von Haupt- und Nebensache mit der von Nähe und Distanz. Wolfram Pichler: Detaillierungen des Bildes. Zur Einleitung in den Band, in: ders./Edith Futscher/Stefan Neuner (Hg.): Was aus dem Bild fällt. Figuren des Details in Kunst und Literatur. Friedrich Teja Bach zum 60. Geburtstag, München 2007, S. 20.

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Das Verhältnis zwischen haptisch und optisch

nehmungen dar, obwohl er ihm kritisch gegenübersteht, da die Visualität auch ein Hindernis, eine „Blendung“ zur Erlangung der „wahren Ideen“ darstelle.76 Aristoteles spricht dem Tastsinn eine prominente Stellung zu und stellt ihn sogar über das Sehen.77 Die Rolle der Haphe ist für Aristoteles lokal und wird dem Berühren zugeordnet.78 Der Unterschied zwischen Haptik und Taktilität liegt darin, dass Erstere einem aktiven motorischen System zugeordnet wird, Letztere hingegen einem passiven sensorischen.79 Für Voltaire war der Tactus eine Metapher für die sinnliche Erkenntnis.80 Seine Auffassung präzisiert er wie folgt: „Was sich nicht spüren, tasten, greifen läßt, das ist bloßer ‚Geist‘, Gespenst und Phantom.“81 Ohne auf Topoi einer bloßen Sinneshierarchisierung zu bestehen, wird gerade damit begonnen, die Geschichte des Haptischen und der Sinne im Allgemeinen für die Bildwahrnehmung zu entdecken. Im europäischen und vor allem im deutschsprachigen Raum ist diese Unternehmung bereits in vollem Gange.82 Schon für Bernard Berenson spielten die tactile values eines Kunstwerks eine besondere Rolle in der Bildwahrnehmung. Berensons Lupe, Hilfsmittel 76

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Vgl. hierzu Frank Fehrenbach: Der Fürst der Sinne. Macht und Ohnmacht des Sehens in der italienischen Renaissance, in: Horst Bredekamp/John Michael Krois (Hg.): Sehen und Handeln (Actus et Imago I), Berlin 2011, S. 142. Zu Platon und den Bildern: Horst Bredekamp: Theorie des Bildakts. Frankfurter Adorno-Vorlesungen 2007, Berlin 2010, S. 36–43. Fehrenbach: Der Fürst der Sinne, S. 143; John Michael Krois: Bildkörper und Körperschema, in: ders.: Bildkörper und Körperschema. Schriften zur Verkörperungstheorie ikonischer Formen (Actus et Imago II), Berlin 2011, S. 265. Aristoteles: De Anima, II, 2,413b. Zitiert nach Krois: Bildkörper und Körperschema, S. 265; Vgl. ebenfalls zum Tastsinn François Quiviger: The Sensory World of Italian Renaissance Art, London 2010, S. 105–120. Natalie Binczek: Kontakt. Der Tastsinn in Texten der Aufklärung, Tübingen 2007, Anm. 9, S. 5. Allgemein zu Begriff und Geschichte des Tastsinns: Constance Victoria Classen: The Deepest Sense. A Cultural History of Touch, Urbana Ill. 2012. Peter Utz: Das Auge und das Ohr im Text. Literarische Sinneswahrnehmung in der Goethezeit, München 1990, S. 20. Zitiert nach Hartmut Böhme: Der Tastsinn im Gefüge der Sinne. Anthropologische und historische Ansichten vorsprachlicher Aisthesis, in: Günter Gebauer (Hg.): Anthropologie, Stuttgart 1998, S. 216. Böhme: Der Tastsinn im Gefüge der Sinne, S. 215. Als Beispiel wäre der Band Das haptische Bild zu nennen. Auch Didi-Hubermans Werk Die Leibhaftige Malerei ist hier einzuordnen. Michael Yonan hat genau in diesem Sinne in seinem Vortrag während der CIHA 2012 in Nürnberg („Die Herausforderung des Objekts“) im Rahmen der Sektion „Questioning the Subject of Art History“ über „The Suppression of Materiality in Anglo-American Art-Historical Writing“ gesprochen. Vgl. Michael Yonan: The Suppression of Materiality in Anglo-American Art-Historical Writing, in: Ulrich Großmann/Petra Krutisch (Hg.): The Challenge of the Object, Congress Proceedings 1, CIHA 2012, Nürnberg 2013, S. 63–66. Siehe auch Herman Roodenburg: Introduction. Entering the sensory Worlds of the Renaissance, in: ders. (Hg.): A Cultural History of the Senses in the Renaissance. 1450–1650, London 2014, S. 1–17.

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VI. Nah und fern

Bild 190  Bernard Berenson in der Galleria Borghese, Rom 1955.

und Motor seiner berüchtigten kennerschaftlichen Urteile, bildet die Brücke zwischen Sehen und Berühren und kann als Metapher für Herders Plastik ­gelten, indem in beiden Fällen das Sehen der Anleitung durch die Hand folgt (Bild 190).83 Bezüglich der Parallelisierung von Nähe (Körper) und Ferne (Geist) wird bemerkt: „[…] diese gespaltene Wahrnehmung von Ferne trotz körperlicher Nähe, von Kontemplation trotz emotionaler Steigerung [erlaubt] Experten von Laien zu scheiden […].“84 Dabei handelt es sich um das Spiel von Erscheinen und Verschwinden.85 Eine weitere Assoziation im Hinblick auf die Beziehung zwischen Nähe und Ferne besteht darin, dass sich der idealistischen Kunsttheorie zufolge Kraft und Illusion eines Bildes zwar aus der Ferne heranbilden, doch

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Frank Fehrenbach: „Du lebst und thust mir nichts“. Aby Warburg und die Lebendigkeit der Kunst, in: Hartmut Böhme/Johannes Endres (Hg.): Der Code der Leidenschaften, Paderborn u. a. 2010, S. 136. Vgl. allgemein zur kennerschaftlichen Methode: Carlo Ginzburg: Spurensicherung. Der Jäger entziffert die Fährte, Sherlock Holmes nimmt die Lupe, Freud liest Morelli – die Wissenschaft auf der Suche nach sich selbst, in ders.: Spurensicherung. Die Wissenschaft auf der Suche nach sich selbst, Berlin ³2002, S. 7–57. Schawelka: Zu nah am Bild, S. 516. Georges Didi-Huberman: Was wir sehen, blickt uns an. Zur Metapsychologie des Bildes, München 1999, S. 85.

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Das Verhältnis zwischen haptisch und optisch

dann als Falle herausstellen.86 Entfaltet sich die Kraft eines Gemäldes aus der Distanz, so vermittelt es ein Gefühl der Sicherheit; aus der Nähe hingegen erzeugen seine materielle Beschaffenheit und das gleichzeitige Brechen der sogenannten Illusion eine Ungewissheit, die den Betrachter verunsichert. Trotz der Offenbarung der Materialität des Bildes aus der Nähe bleibt die Gefahr bestehen, sich gänzlich in ihm zu verlieren, mit ihm eins zu werden. Schien manchen Anhängern des Akademismus das Bild aus der Nähe betrachtet schwächer, so entwickelt es gerade hier seine spezifische, überraschende Kraft. Es lässt sich somit nicht letztgültig ausmachen, ob Nähe oder Ferne Garanten für die Lebendigkeit eines Bildes sind. Vielmehr werden beide Pole bezüglich ihrer absoluten Setzung in Frage gestellt. Der reliefartige Bildcharakter der Rembrandtisten, Produkt einer Malweise, deren resultierende Formen aus der Nähe nicht genauer auszumachen sind, trennt die Letztere von der Ferne eben nicht, sondern verbindet sich mit

Bild 191  Rembrandt, Die jüdische Braut, signiert, 1667, Öl auf Leinwand, 121,5 × 166,5, Rijksmuseum, Amsterdam. 86

James Elkins: Pictures and Tears. A History of People Who Have Cried in Front of Paintings, London 2004, S. 17 ff: „From a distance a Rothko painting can be pleasing and even pretty. But if you walk up to it you may find yourself lost in a smear of colours. The paintings are like traps: harmless looking from a distance, disorienting or bewildering from nearby.“ Weiterhin beschreibt Elkins eine körperliche Involvierung in Rothkos Bilder der Texaner Kapelle, die für ihn eine solch intime Nähe zum Bild aufbaue, die er nicht einmal zu einer anderen Person würde herstellen wollen.

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VI. Nah und fern

Bild 192  Werbung für das iPad in Berlin 2012.

ihr, wie es am rechten Arm Isaaks in Rembrandts Jüdischer Braut nachzuvollziehen ist, der wie aus Farbklumpen herausgemeißelt scheint (Bild 191 und Bild 84). Das Betrachten aus der Ferne kann bedeutende Aspekte des Ganzen liefern, während die Formwerdung als Prozess am besten aus der Nähe erschlossen wird. Das Detail bekommt eine selbstständige Kraft und verweist anhand des Mediums Farbe auf sich selbst. Anhand der heutigen Technologien, wie der des Touchscreens, kann das Problem der haptischen Bildwahrnehmung in der Frühen Neuzeit besser verstanden werden: In der Plakatwerbung für das iPad ist eine Hand erkennbar, die eine gemalte Landschaft auf einem Bildschirm zu berühren scheint (Bild 192). Die farbenfrohe Landschaft weist Pinselhiebe auf, die im Sinne des Formgefühls van Goghs die Materialität des Trägers und so seine taktile Qualität unterstreichen. Beim iPad, das nur mittels der über den Bildschirm gleitenden Finger betätigt wird, drängt sich zunächst der Eindruck einer haptischen Begegnung mit dem Bild auf – ein Zugang, der dem Museumsbesucher verwehrt bleibt. Es ist aber evident, dass der Pastosität und dem Rilievo der Gemälde die Flachheit des Bildschirms entgegensteht. Es wird eine vermeintliche Nähe geschaffen. Dies spricht letztlich für die Kraft des Sehens, auch wenn die Möglichkeit des Zoomens und der fiktiven Annäherung an den Träger besteht, wie es auch Bild-

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Das Verhältnis zwischen haptisch und optisch

datenbanken erlauben. Die Taktilität wird auf eine absolute Fläche beschränkt; sie wäre für einen Blinden eine Tabula rasa. Der Tastsinn wird hier dem Sehen untergeordnet. Das tatsächliche Berühren als Akt der Evidenz verschwindet; die Möglichkeit der Vergegenwärtigung wird durch den flachen Bildschirm zwar gegeben, entzieht sich jedoch der Überprüfbarkeit der fühlbaren Form und so der gesamten Bewegung des Betrachters, trotz der motorischen Betätigung der Finger beim Zoomen. Die zentrale Bedeutung des Originals wird durch die technologische Erfindung eines iPads gleichsam verstärkt und liefert in deren Interaktion neue Erkenntnisse für die Forscher und Kunstliebhaber, was wiederum die Verbindung von Analogem (haptisch) und Digitalem (optisch) fördert. Die Nähe des Bildes mit der Ferne in Beziehung zu setzen, bedeutet gleichzeitig den Bild 193 Adolf Oberländer: In künstlerischen Prozess nachzuvollziehen. Die der Gemälde-Ausstellung, 1890. Nähe zu verwerfen und mit ihr die Möglichkeit der taktilen Überprüfbarkeit des Bildes würde zu einer ähnlich verqueren Sichtweise führen, wie sie die idealistische Kunsttheorie mit Bezug auf die Malerei Tizians und der Rembrandtisten postuliert hat. Das heißt aber nicht, dass die Ferne im Vergleich zur Nähe weniger von Belang ist. Eine solche Einsicht käme einem Formalismus gleich, wie er sich in einigen Karikaturen des 19.  Jahrhunderts ausdrückt. Die zwei als Dandys erscheinenden Gelehrten verlieren sich in dem nur aus amorphen Strichen bestehenden, abstrakten Landschaftsbild, vor dem sie stehen, und machen dennoch unaufhörlich Notizen, sodass das Bild selbst beinahe sekundär wird (Bild 193). Der Herr im Bild von Pieter Oyens aus Dordrecht beugt sich, ohne das angeschaute Ge­mälde zu berühren, so weit vor, als wolle er darin verschwinden. (Bild 194). Die Staffelei und die Rückseite eines Gemäldes, die in der unteren linken Ecke des Bildes zu sehen sind, wirken wie ein Kommentar zur Haltung des Mannes, der anonym bleibt.87 Das Objekt seiner Bewunderung bleibt dem Betrachter gänzlich verborgen. 87

Die Haltung des Herrn erinnert an eine Berliner Zeichnung Menzels, in der der Künstler am Gemälde mit dem Flötenkonzert prüft, ob er mit seiner Malweise zufrieden ist.

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VI. Nah und fern

Bild 194  Pieter Oyens: Der Kunst­ liebhaber, signiert, 1878, Öl auf Leinwand, 40,5 × 30,5 cm, Dordrechts Museum, Dordrecht.

In beiden Beispielen geht es um die Rolle der Empathie und Distanz in der Bildbetrachtung, um zwei Standpunkte des Historikers oder allgemein des Forschers.88 Durch sein Verschwinden im Bild verliert der Geschichtswissenschaftler die Distanz buchstäblich aus den Augen und damit auch die Zeit, in der das Artefakt geschaffen wurde. Entfernt er sich aber vom Bild, kommt der Distanz, die hier vor allem eine zeitlich-historische ist, eine besondere Position zu, denn nur durch diese kann überhaupt eine kritische Reflexion und Auseinandersetzung mit der Vergangenheit wie auch der Gegenwart und Zukunft erfolgen. Bedingung dafür ist aber wiederum das Eintauchen in die Unmittelbarkeit des Artefakts. Das betrifft das Problem der historischen Zeit und des Anachronismus. In diesem Sinne wird das Bild zwischen Nähe und Distanz als „[…]

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Ginzburg: Holzaugen, S. 7.

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Die Aufhebung von Nähe und Ferne

gegenseitige ‚kritische‘ Durchdringung von Vergangenheit und Gegenwart, als Symptom des Gedächtnisses – die Geschichte hervorbringt […]“,89 verhandelt. Aby Warburgs Auseinandersetzung mit den scheinbar gegensätzlichen Paaren Nähe – Ferne beziehungsweise Greifen – Begreifen stellt die Ambiguität dieser Begriffe in Frage, indem er einen neuen Faktor ins Spiel bringt. Warburg beschreibt in seinen Reise-Erinnerungen aus dem Gebiet der Pueblo-Indianer im Abschnitt Oraibi Folgendes: „Der bewusste besonnene Mensch steht zwischen Systole und Diastole. Greifen und Begreifen. Er bewegt sich gleichsam im Halbkreis von der Erde auf und zur Erde wieder hernieder. […] Zwischen Greifen und Begreifen liegt die umreißende Umfangsbestimmung.“90 Hierbei handelt es sich um den in der späteren Forschung vielfach bemühten Begriff des „Denkraums der Besonnenheit“91, der zu einem Zwischenraum wird, in dem Nähe und Ferne zu gleichberechtigten Größen werden, die ineinander übergehen und ihre vermeintliche Polarität in eine produktive Spannung überführen, oder wie der gebürtige Hamburger das Phänomen beschrieben hat: „Zwischen imaginärem Zugreifen und begrifflicher Schau steht das hantierende Abtasten des Objekts mit darauf erfolgender plastischer oder malerischer Spiegelung, die man den künstlerischen Akt nennt.“92 Die Aufhebung der Polarität zwischen nah (haptisch) und fern (optisch) sowie die damit einhergehende Anerkennung von Nähe und Ferne als zwei Pole soll im Folgenden untersucht werden.

D ie Au f hebu ng von Nä he u nd Fer ne Im Loblied Simeons von Arent de Gelder (Den Haag, Mauritshuis) besteht Simeons Kopftuch, wird es aus der Nähe betrachtet, nur aus gekratzten Farbgebilden, die keiner gegenständlichen Form entsprechen (Bild 195 und Bild 110). Erst mit Abstand entfalten diese amorphen Gebilde ihre Gestalt, eine Wirkung, die bereits bei etlichen Rembrandtisten festgestellt worden ist. Das Handeling erscheint dort als ein Prozess, der nicht Tactus gegen Visus setzt, haptisch gegen optisch, Nähe gegen Ferne, tote Materie gegen Lebendigkeit, sondern Bilder hervorbringt, die als Produkte einer gesamtkörperlichen Aktion im Sinne eines verkörperten Denkens und einer multisensorischen Bildwahrnehmung (die auch 89 90

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Didi-Huberman: Was wir sehen, blickt uns an, S. 167. Aby Warburg: Reise-Erinnerungen aus dem Gebiet der Pueblo Indianer in Nordamerika, in: ders.: Werke in einem Band. Auf der Grundlage der Manuskripte und Handexemplare, hg. v. Martin Treml/Sigrid Weigel, Berlin 2010, S. 586 f. Vgl. zuletzt: Martin Treml/Sabine Flach/Pablo Schneider (Hg.): Warburgs Denk­ raum. Formen, Motive, Materialien, München 2014. Aby Warburg: Mnemosyne. Einleitung, in: ders.: Werke in einem Band, S. 629 f. Vgl. Verspohl: „Optische“ und „taktile“ Funktion von Kunst, S. 32.

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VI. Nah und fern

Bild 195  Arent de Gelder: Das Loblied Simeons, um 1700, Öl auf Leinwand, 94,5 × 107,5 cm, Koninklijk Kabinet van Schilderijen Mauritshuis, Den Haag.

als intersensoriality bezeichnet werden kann)93 zu verstehen sind. Dieses Verständnis von Erfahrung hat seine Wurzeln in der aristotelischen Tradition.94 Eine Geschichte, die von der Bewegung des Körpers als Mittel der Wahrnehmung von Bildern zwischen Nähe und Ferne handelt, erzählt Paul Fréart de Chantelou in seinem Tagebuch des Aufenthaltes Berninis am Hof Ludwigs XIV. Chantelou beschreibt darin, wie Bernini ein Gemälde Veroneses betrachtete:

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Vgl. zum Begriff intersensoriality: David Howes (Hg.): The Empire of the Senses. The Sensual Culture Reader, Oxford 2005; David Howes: The Expanding Field of Sensory Studies, August 2013, unter: http://www.sensorystudies.org/sensorialinvestigations/the-expanding-field-of-sensory-studies/ [24. 10. 2013], Part III, A full Complement of the senses. Vgl. dazu grundlegend: David Summers: The Judgment of Sense. Renaissance Naturalism and the Rise of Aesthetics, Cambridge 1987. Ähnliches beschreibt Jodi Cranston in ihrem Buch über Tizian: „The more obvious layering of paint, the exposure of the canvas support, and the traces of the brushstroke establish a spatial and temporal kinaesthetic relationship with the beholder that involves the body.“ Cranston: The Muddied Mirror, S. 15.

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Die Aufhebung von Nähe und Ferne

„Der Cavaliere sah das Bild eingehend an, zuerst von nah, dann von fern, näherte sich abermals an und sagte schließlich: ‚Ein schönes Bild, aber es ist in höchstens acht Tagen gemalt.‘“95 Die Antinomie von Nähe (haptisch) und Distanz (optisch) wird durch das eigene Körperschema des Betrachters und in diesem Falle durch das eines Künstlers aufgehoben. In seiner Funktion als Connaisseur muss sich Bernini ständig bewegen, um ein gültiges Urteil über das Bild fällen zu können. Ähnliches geschieht, wenn ein Betrachter ein Kunstwerk studieren will. Er bewegt seinen Körper im Raum und kann so die Komposition durch sein eigenes Körperschema nachvollziehen, weshalb in vielen Fällen seine Bewegung von der formalen und inhaltlichen Aktion im Bilde angeleitet wird. Das heißt, dass die Kunstbetrachtung zwar innerhalb eines gewissen Rahmens verläuft, niemals aber stillgestellt ist, sondern vielmehr im ständigen Hin und Her zwischen nah und fern, links und rechts, oben und unten schwankt. Durch die Bewegung des Körpers entsteht eine Kontinuität, die diese Bereiche verbindet. Die Bilder der Rembrandtisten erfordern die Bewegung des Betrachters im Raum. Es handelt sich um den haptischen Raum, den der Betrachter mit seinem gesamten Körper abtastet. Diese Werke sind körperliche Bilder und nicht bloß visuelle Entitäten, die direkt aus dem Geist geboren wurden. Sie entstehen erst in der körperlichen Auseinandersetzung mit der zu formenden Materie. Die Kraft des Bildes zieht den Betrachter wie ein Magnet an, zwingt ihn nahezutreten und stößt ihn gleichzeitig ab, sobald die Objekthaftigkeit erkannt wird, was nicht heißt, dass die Nähe dann nicht immer wieder aufs Neue gesucht würde. Die Nähe verwandelt sich in eine Ferne und die Ferne in eine Nähe, nicht nur durch die Bewegung des Körpers, sondern auch durch das wechselseitige Verhältnis von Nähe als Abstraktion und Ferne als Konkretion. Im Nachspüren des je spezifischen Handeling der Rembrandtisten ist die Bewegung des Körpers abhängig von der Materialisierung des Lichts, die ihrerseits von den jeweiligen Wetter- und Raumbedingungen beeinflusst wird. Das Licht trägt aktiv zur Wahrnehmung des Gemäldes und der Actio der Farbe bei, was wiederum nur durch die körperliche Betätigung des Betrachters erfahrbar und semantisch aufgeladen werden kann.96 Eine mit Chantelous Anekdote vergleichbare Geschichte erzählt Balzac in seinem Chef-d’œuvre inconnu: „‚Der alte Landsknecht hält uns zum Narren‘, meinte Poussin, während er wieder vor das angebliche Gemälde trat. ‚Ich sehe

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Pablo Schneider/Philipp Zitzlsperger (Hg.): Bernini in Paris: Das Tagebuch des Paul Fréart de Chantelou über den Aufenthalt Gianlorenzo Berninis am Hof Ludwigs XIV., Berlin 2006, S. 83. Vgl. hierzu die Ausführungen über das aktive und intrinsische Licht im Kapitel IV, S.  250 f.

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VI. Nah und fern

nur verworren aufgetragene Farben, die von einer Vielzahl seltsamer Linien umgrenzt sind, welche eine Mauer aus Malerei bilden.‘ […] Als sie näher herangingen, bemerkten sie in einer Ecke des Gemäldes die Spitze eines nackten Fußes, der aus diesem Chaos von Farben, Tönen, verschwommenen Nuancen, aus diesem formlosen Nebel hervorragte: ein köstlicher Fuß, ein lebendiger Fuß!“97 Es ist die Nähe selbst, die zur Erkenntnis führt, wenn der Feinmaler Poussin sich dem Bild nähert und trotz der angeblichen Formlosigkeit doch etwas in dieser Farbenschlacht erkennt, nämlich die Spitze des nackten Fußes, die aus der Ferne nicht zu sehen war.98 Balzac stellt die Klischees über das NahAmorphe und die Fern-Gestalt auf den Kopf und unterstreicht dadurch die Absurdität einer solchen Unterscheidung. In der berühmten Szene aus Antonionis Blow Up erfährt auch der zeitgenössische Betrachter, dass das Herantreten an das Bild (in diesem Fall die Fotografie) neue Erkenntnisse oder Indizien hervorbringen kann. Der Fotograf nimmt wie ein Connaisseur (im Stil der Fotografie Berensons) sein eigenes Foto unter die Lupe. So wird durch ein unscheinbares Detail, was nur aus der Nähe entzifferbar ist und zunächst amorph erscheint, ein Mord aufgespürt (Bild 196).99 Die Aufhebung eines Denkens in Polaritäten manifestiert sich in der tatsächlichen Bewegung des gesamten aktiven Körpers: Darin wird auch die absolute Dialektik der zuvor genannten Kategorien relativiert, ohne dass diese gänzlich aufgehoben sei.100 Es wurde darauf aufmerksam gemacht, dass der Tactus nicht nur auf die lokale Sensation der Hand zu reduzieren ist, sondern als eine enaktive Wahr-

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Balzac: Das unbekannte Meisterwerk, in: Didi-Huberman: Die Leibhaftige Malerei, S. 168 f. Dieses Element veranlasst Didi-Huberman, nach der Beachtung des Details in der Malerei zu fragen. Er nennt dies den Pan der Malerei. Didi-Huberman: Die Frage des Details, die Frage des Pan, in: Pichler/Futscher/Neuner (Hg.): Was aus dem Bild fällt, S. 62 f. und S. 80–84. Vgl. Guido Reuter: Verunklartes Sehen. Unschärfe bei Antonioni, Hilliard und Richter, in: ders./Johannes Bilstein (Hg.): Auge und Hand, Oberhausen 2011, S. 191. Dass die Fotografie aus Blow Up geradezu eine Metapher der Bildwissenschaft geworden ist, belegt der Band: Hans Belting (Hg.): Bildfragen. Die Bildwissenschaften im Aufbruch, München 2007. Siehe auch den Text Hans Beltings im gleichen Band: Blickwechsel mit Bildern. Die Bildfrage als Körperfrage, S. 59. Diese Bewegung des Körpers nennt Noë „sensorimotor bodily skill“. Vgl. Noë: Action in Perception, S. 11. Ähnliche Thesen vertritt: Niklaus Largier: Objekte der Berührung. Der Tastsinn und die Erfindung der ästhetischen Erfahrung, in: Hartmut Böhme/Johannes Endres (Hg.): Der Code der Leidenschaften, Paderborn u. a. 2010, S. 121 f.

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Die Aufhebung von Nähe und Ferne

Bild 196  Michelangelo Antonioni: Blow Up (1963), Filmstill.

nehmung beschrieben werden sollte.101 Das Sehen ist somit ein Sinn, der sich kraft eines aktiven, beweglichen Körpers entfaltet.102 Bezeichnenderweise wählte John Michael Krois für einen Aufsatz den Titel Für Bilder braucht man keine Augen. Zur Verkörperungstheorie des Ikonischen, in dem er die Unabhängigkeit des Ikonischen vom Sehen verteidigte.103 Krois zufolge nimmt das Haptische eine zentrale Rolle bei der Bildwahrnehmung ein, die eben nicht nur auf die lokale Sensation des Berührens beschränkt ist: „Der Begriff des ‚Tastens‘, verstanden als das Tasten mit den Fingern [ist] zu eng, um die Dimension der haptischen Wahrnehmung zu erklären. Räumliche Wahrnehmung ist unabhängig vom Sehen und auch vom Tasten mit den Fingern – sie stützt sich auf die ambulante Körperlichkeit des Menschen: auf Propriozeption und Kinästhesie.“104 Diese Beobachtung ist von zentraler Bedeutung 101

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Dieser erweiterte Begriff des Tactus wurde auch in den Filmwissenschaften entwi­ ckelt. Vgl. Jennifer M. Barker: The Tactile Eye. Touch and the Cinematic Experience, University of California 2009, S. 1: „The hands then are only the beginning, the contact point, of a mutual engagement of body and mind that extends deep into the body, involving the muscles and tendons as surely as the fingers.“ Ebd., S. 17. John Michael Krois: Für Bilder braucht man keine Augen in: ders.: Bildkörper und Körperschema. Schriften zur Verkörperungstheorie ikonischer Formen (Actus et Imago II), Berlin 2011, S. 149. Krois: Tastbilder, S. 214 f.

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VI. Nah und fern

und wird durch die Forschungen John Kennedys gestützt.105 Kennedy zeigt, dass blind geborene Menschen in der Lage sind, perspektivisch zu zeichnen, was er auf das Körperschema zurückführt. Damit wird es möglich, Malerei wie die der Rembrandtisten anhand des Körperschemas, der körperlichen Interaktion des Menschen mit der Umwelt nachzuvollziehen: „[Der Mensch] muss sich bewegen können und daher im Besitz eines Körperschemas sein. Dieses bildet unbewusst ein Modell der Körperhaltung heraus, das kein Sehbild ist, sondern eine Art Tastbild.“106 Die Definition des Objekts schließt das Sehen und Greifen und damit die Interaktion zwischen Objekt und Betrachter mit ein.107 Die Verbindung von Nah- und Fernsicht scheint demzufolge der geeignetste Zugang zum Bild zu sein.108 Das Prinzip der Vereinigung von Antithetischem ist auch bei den Rembrandtisten erkennbar. Dafür spricht die formale Diversität ihres Handeling. Dem steht die Malweise eines Raffael „ohne Hände“ (nach den Worten Lessings)109 oder der holländischen Feinmaler gegenüber, die sich durch einheitliches Handeling und die Vermeidung von jeglicher Spur und Taktilität im pastosen Farbauftrag charakterisieren lässt. In den Augen der Idealisten ist das Haptisch-Nahe unscharf und unkonkret. Sie richten sich allein nach dem Optischen im Sinne eines Okkular-Zen105

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Vgl. John M. Kennedy: Drawing and the Blind, New Haven 1993. Vgl. insbeson­ dere: John M. Kennedy/Sherief Hammad: Cognition and Representation. Picture Perception, in: André L. Blum/John M. Krois/Hans-Jörg Rheinberger (Hg.): Verkörperungen, Berlin 2012, S. 72 f. Grundlegend zu dieser Frage: Rudolf Arnheim: Perceptual Aspects of Art for the Blind, in: ders.: To the Rescue of Art. Twenty-Six Essays, Berkeley/Los Angeles/Oxford 1992, S. 133–143. Krois: Bildkörper und Körperschema, S. 265. Die Frage des Objekts in der Kunstgeschichte war das Thema der CIHA 2012 in Nürnberg („Die Herausforderung des Objekts“); vgl. hierzu Horst Bredekamp: The Object as an Active Force, in: Großmann/Krutisch (Hg.): The Challenge of the Object, S. 34 ff. Eine Passage bei Franz Joachim Verspohl steht stellvertretend dafür: „Die Annahme der zeitlichen Differenz zwischen einem passiven und aktiven Sehen, einem ‚ruhig schauenden‘ Standpunkt und einem ‚abtastend bewegten‘ kollidiert mit der grundsätzlichen Bestimmung des Kunstwerkes als ‚Tat‘, der als entsprechender Rezeptionsweise nur das aktive Sehen gerecht wurde.“ Verspohl: „Optische“ und „taktile“ Funktion von Kunst, S. 28. Verspohl: „Optische“ und „taktile“ Funktion von Kunst, S. 30 u. 36. Das gesamte Zitat lautet: „Conti: Ha! Daß wir nicht unmittelbar mit den Augen malen! Auf dem langen Wege aus dem Auge durch den Arm in den Pinsel, wie viel geht da verloren! […] Oder meinen Sie, Prinz, daß Raphael nicht das größte malerische Genie gewesen wäre, wenn er unglücklicherweise ohne Hände wäre geboren worden?“ Zitiert nach Ursula Link-Heer: Maniera. Überlegungen zur Konkurrenz von Manier und Stil, in: Hans Ulrich Gumbrecht/K. Ludwig Pfeiffer (Hg.): Stil. Geschichten und Funktionen eines kulturwissenschaftlichen Diskurselements, Frankfurt am Main 1986, S. 112.

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Die Aufhebung von Nähe und Ferne

trismus auf das Scharf-Akzentuierte.110 Sie weisen der Macchia beziehungsweise der amorphen Kraft der Pinselhiebe keinen Wert zu. Gerade dies hebt Boschini bei der Betrachtung eines Bildes von Bassano hervor, wenn er die Farbflecken und Spuren des Pinsels berühren will: „Whenever I am in Bassano, I kneel in front of this altar with great reverence and touch with my hands those colpi, those macchie, those bote.“111 Das Visuelle folge dem Taktilen und dessen Energie.112 Ähnlich kann die Berührung des Werkzeugs auf der Bildfläche verstanden werden, die Ergebnis einer gesamtkörperlichen Aktion ist. Das Werkzeug (hier der Pinsel) ist als eine Erweiterung des Körpers zu verstehen, eine Extension des Gesamtorganismus, dessen Aktivität als Spur erfahrbar ist.113 Boschinis Beschreibung der Bildwahrnehmung lässt erkennen, dass er diese als verkörperte Aktion verstand.114 Ihm zufolge vollzieht der Betrachter den Werkprozess des Künstlers nach und wiederholt als zweiter Demiurg die göttliche Schöpfung.115 Der Venezianer versteht die Farbe und deren Auftrag als intersensoriell. Er lobte die Bilder Tizians in den höchsten Tönen, weil diese verschiedene Sinne gleichsam aktivieren.116 Ariosto bemerkt über denselben Künstler, er male so ausgezeichnet, dass seine Bilder mit den Händen gesehen und mit den Augen berührt werden müssten.117 Bei der Betrachtung der Bilder Leonardos werde der gesamte Körper aktiviert.118 110 111

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Zur Kritik des Okkular-Zentrismus vgl. Juhani Pallasmaa: The Eyes of the Skin. Architecture and the Senses, West Sussex ³2012, S. 21 ff. Boschini: La Carta del navegar pitoresco, S. 302. Zitiert nach Sohm: Pittoresco, S. 154 f.: „Quando per questo mi son stà Bassan,/ Procurete d’aver bona licencia/ D’inzegnochiarme con gran reverencia/ Su quel Altar, per tocar con le man/ Quei colpi, quele machie e quele bote […].“ Vgl. Kapitel III, S. 169. Böhme: Der Tastsinn im Gefüge der Sinne, S. 215. Freedberg/Gallese: Motion, Emotion and Empathy in Aesthetic Experience, S. 202. Hierbei handelt es sich nicht um eine Redeweise über Bilder, sondern wird in Experimenten mit Makaken-Affen konkret untersucht. Vgl. hierzu Angelo Maravita/ Atsushi Iriki: Tools for the Body (Schema), in: Trends in Cognitive Sciences, 8/2 (2004), S. 81. Freundlicher Hinweis von Jörg Fingerhut. Wie Wahrnehmen und Handeln zusammengehören, beschreibt Susan Hurley in ihrem berühmten Aufsatz: Wahrnehmen und Handeln. Alternative Sichtweisen, in: Joerg Fingerhut/Rebekka Hufendiek/Markus Wild (Hg.): Philosophie der Verkörperung. Grundlagentexte zu einer aktuellen Debatte, Berlin 2013, S. 379–412. Sohm: Pittoresco, S. 146. Cranston: The Muddied Mirror, S. 16. Vgl. Kapitel II, S. 94. Capitoli del S. Pietro Aretino, di Messer L. Dolce, di Messer F. Sansovino e d’ altri acutissimi ingegni, Venedig 1540. Zitiert nach von Rosen: Die Enargeia des Gemäldes, S. 185: „[…] con le man vedi, e con gli occhi tu tocchi.“ Zitiert nach Fehrenbach: Der Fürst der Sinne, S. 151: „[Leonardo, Libro di Pittura (§ 23):] Alle Sinne wollen sie, gemeinsam mit dem Auge, besitzen, ja es scheint, als wären sie mit dem Auge im Kampf. Es scheint, als wollte sie der Mund für sich als

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VI. Nah und fern

Aber auch in der holländischen Kunsttheorie beziehungsweise in der Rhetorik des Vossius wird das Handeling und somit implizit die Bilderfahrung als gesamtkörperlich empfunden.119 Dass und wie das Bild aufgrund seiner Faktur vom Betrachter fordert, es aus der Nähe und aus der Ferne zu beschauen, pointiert Martin Warnke: „Aus der Ferne […] sieht der Betrachter eine ‚unversehrte‘, zeichnerisch geschlossene, klar bewegte Gruppe, während aus der Nähe ein großzügiger Farbduktus, ein lockerer Pinsel alles verschwimmen und ‚verfallen‘ lässt. […] Das Bild ist nicht identisch, sondern abhängig von den Bewegungen, die der Betrachter vor ihm vollzieht. Diese Bewegungen mußten gelernt werden, und sie haben ihre Ge­ schichte.“120 Dabei wird deutlich, wie solche Bewegungen habitualisiert wurden und die Auseinandersetzung zwischen amorphisierender Nähe und formgestaltender Ferne als ein Kontinuum aufgefasst wurde.121 Aufgrund des bewegten Körpers ändert sich die Präsenz des Bildes ständig, es ähnelt so einem lebenden Organismus. Die Pinselstriche laden den Betrachter zu einer körperlichen Bewegung ein. Im Bild eines Feinmalers hingegen steht die Spannung bei der Betrachtung nicht so sehr im Zentrum des Wahrnehmungsprozesses. In der entgegengesetzten Tradition steht Constable, der seine pastosen Bilder nicht nur aus der Ferne betrachtet haben wollte, sondern die Nähe suchte, um ihre Taktilität spürbar zu machen.122 Bei den Impressionisten wurde die Distanz zum Bild genau bestimmt.123 Daumier zeichnete dazu sogar eine Karikatur.124 In der französischen Salonmalerei wurden Fern- und Nahsicht institutionell geregelt: Die Bilder sollten nur aus der Ferne betrachtet werden, die Nahsicht wurde verwehrt, was besonders mit Blick auf die Impressionisten verwundert, da die Malfaktur das Nähern

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Körper haben, als würde das Ohr Gefallen daran finden, von ihrer Schönheit zu hören, als würde sie der Tastsinn durch alle Poren durchdringen wollen und als würde auch die Nase jene Luft einatmen wollen, die beständig von ihr ausgeatmet wird.“ Thijs Weststeijn: The Visible World. Samuel van Hoogstraten’s Legitimation of Painting in the Dutch Golden Age, Amsterdam 2008, S. 155. Siehe Kapitel I, S. 18 f. Warnke: Nah und Fern zum Bilde, S. 8. Über die Fusion von Sehen und Berühren vgl. Pallasmaa: The Eyes of the Skin, S. 30 ff. Wagner: John Constable, S. 51. Vgl. hierzu Schawelka: Zu nah am Bild, S. 401; Matthias Krüger: Ernest Meissonier und der Blick durch die Lupe. Fern- und Nahsicht im französischen Salon (Text zur Diskussion), in: Kunstgeschichte. Open Peer Reviewed Journal, 2008 (urn:nbn: de:0009-23-17323) unter: http://www.kunstgeschichte ejournal.net/51/2/Matthias_ Kr%C3%BCger___Ernst_Meissonier.pdf [28. 1. 2014], S. 2. Krüger: Ernest Meissonier und der Blick durch die Lupe, S. 5.

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Die Aufhebung von Nähe und Ferne

geradezu herausfordert.125 Die Bilder der Rembrandtisten könnten unter diesen Umständen ihre Wirkkraft nicht entfalten, da ihr Verständnis von der Möglichkeit abhängt, sie aus greifbarer Nähe zu betrachten.126 Karl Schawelka hat in seinem Beitrag Zu nah am Bild eine weitere wichtige Beobachtung gemacht: „Die Frage des Abstands hängt also von unseren Interessen ab und enthält eine starke affektive Komponente […] Das furchteinflößende Erhabene liegt also nicht einfach im Gegenstand, sondern in unserem körperlichen Verhältnis zu diesem Gegenstand begründet.‘“127 Die Bedeutung des Bildes resultiert aus der körperlichen Relation zum Gegenstand: „Die Kopräsenz unseres Körpers mit dem Bild als physikalischem Ding wird deshalb bei der Analyse der Bildwirkung meist übersehen.“128 Diese Passagen machen deutlich, dass Schawelka die sichtbaren Pinselstriche allein mit der Fernsicht verbindet beziehungsweise isoliert und somit in der Tradition Vasaris oder Houbrakens steht. So kommt er sogar zu folgendem Schluss: „Mit der Fernsicht sind mehrere wahrnehmungspsychologische Veränderungen verbunden. So spielt die Eigenbewegung unseres Körpers verglichen mit der Nahsicht eine weit geringere Rolle. […] Erkennen wir die Mittel des Malers wie Farbflecken, die sog. Macchia, oder die einzelnen Pinselstriche und die Art und Weise des Farbauftrags, den Duktus oder die sog. Faktur oder auch die Materialität von Farbträger und Farbsubstanz, so handelt es sich wahrscheinlich um fernsichtige Malerei und wir Betrachter stehen zu nahe davor.“129 Doch gerade die dynamische Dialektik des Farbflecks und seiner materiellen Beschaffenheit sowie die Gestalt des Bildes, die das körperliche Hin und Her des Betrachters evoziert, ist

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Ebd., S. 30. Obwohl die Beobachtungen von Matthias Krüger wertvoll sind, bleibt der Faktor des Körpers (der für diesen Kontext von zentraler Bedeutung ist) gänzlich unberücksichtigt. Hinzu kommt das Problem der Platzierung von Bildern und die Bevorzugung bestimmter Künstler bei Missachtung anderer. Dies erinnert an die Strategie von Gainsborough, seine Bilder auf Augenhöhe des Betrachters auszustellen. Auch im Falle Constables wurden die Bilder auf Augenhöhe platziert, um die Nahsicht zu ermöglichen. Vgl. Wagner: John Constable, S. 55. Die Verbannung der Bilder von Arent de Gelder oder Christopher Paudiß ins museale Depot oder die schlecht sichtbare Hängung oberhalb der Türen von Ausstellungsräumen bestätigt diese Annahme. Deswegen entgeht dem Betrachter ihre Stärke, nämlich die Erzeugung von körperlicher Stimmung durch die Kraft der Farbe. Rudolf Arnheim beschreibt, wie der Mensch auf sich als Zentrum eines auf seinem Körper fußenden Koordinatensystems referiert. Zitiert nach Schawelka: Zu nah am Bild, S. 508. Schawelka: Zu nah am Bild, S. 495. Ebd., S. 498. Weiterhin heißt es: „Ohne den körperhaften Bezug des Betrachters zum Bild als Gegenstand, das heißt ohne richtiges Lesen seiner topogenen Elemente lassen sich viele Werke der Moderne nicht richtig verstehen.“ (S. 501) Die Wichtigkeit der „topogenen Elemente“ ist bereits bei den Rembrandtisten vorhanden. Ebd., S. 505 f.

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VI. Nah und fern

bei einer solchen Malerei von Belang; sie wird von Schawelka jedoch letztlich unterdrückt. Zugleich erkennt er aber die Rolle der Körperlichkeit bei der Wahrnehmung von Bildern und die damit einhergehenden kinästhetischen Empfindungen an, sieht aber Kontemplation und Ferne getrennt von Empfindung und Nähe.130 Eine in diesem Zusammenhang wichtige Passage aus Erwin Straus’ Vom Sinn der Sinne. Ein Beitrag zur Grundlegung der Psychologie lautet wie folgt: „Weil ich mich nähern kann, gibt es für mich Nähe und Ferne. Die dritte Dimension, die Raum-Tiefe, ist kein rein optisches Phänomen. Der Sehende ist ein bewegliches Wesen.“131 Einerseits ist festzuhalten, dass Nähe und Ferne existieren. Andererseits aber sind sie keine statischen Phänomene, die von der Kunsttheorie in bestimmte Polaritäten gebracht wurden, sondern Begriffe, die sich durch die Körpermotorik des Künstlers oder des Betrachters ständig ändern und einen aktiven Prozess beschreiben, der zur Wahrnehmung und Erkenntnis eines Bildes eminent wichtig ist. Die Bilder der Rembrandtisten setzen anhand des Handeling solche Kräfte frei, die uns direkt betreffen, berühren und bewegen, sodass dem Betrachter das körperliche Verhältnis von Nähe und Distanz bewusst wird, was aber durch die ständige Betätigung des eigenen Körpers als Erfahrungsinstrument vergessen wird. Dieser Prozess ist kein rein neurobiologischer, sondern ein den gesamten Körper einbeziehender. Die aktive Entfaltung der Form aus der Ferne setzt gleichsam deren Amorphismus aus der Nähe voraus.

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Ebd., S. 516 f. Erwin Straus: Vom Sinn der Sinne. Ein Beitrag zur Grundlegung der Psychologie, Berlin/Göttingen/Heidelberg ²1956, S. 408. Zitiert nach Didi-Huberman: Was wir sehen, blickt uns an, S. 150 f.

S chlussbetrachtung

Das Handeling der Rembrandtisten weist Formelemente auf, die erst in der Moderne begannen, sich konsequent zu entfalten. Innerhalb der vorliegenden Arbeit wurden diese Eigenschaften der Gestaltung herausgearbeitet, nicht ohne auf Verbindungen zu späteren Phänomenen hinzuweisen. Die Bezüge, die sich bis zur Moderne herstellen lassen, stehen im Gegensatz zur zeitgenössischen Rezeption dieser Kunst, die vom Publikum, das sich der Feinmalerei verpflichtet fühlte, als altmodisch verworfen und von ihren Anhängern als Fortsetzung der Rembrandt’schen Tradition verstanden wurde. Zugleich aber wurden Elemente des Handeling bereits im 18. Jahrhundert von Malern wie Reynolds, Gainsborough oder Constable und Turner erkannt und produktiv für ihre eigene Bildpraxis verwendet. Dieser Prozess lässt sich bis ins 20. Jahrhundert verfolgen. In diesem Kontext ist auch Lovis Corinths Besuch im Amsterdamer Rijksmuseum zu verorten, den Leo Michelson eindrucksvoll beschrieb: „De Gelder, der nicht besonders vertreten ist, hatte Pech, machte ihn ganz zornig. [...] Aber ganz erstaunt und überrascht stand er vor der Salome des Fabritius, die er bis dahin auch aus keiner Reproduktion gekannt hatte, überrascht durch die Ähnlichkeit mit seiner eigenen Salome. Von diesem Bilde kam er überhaupt nicht mehr los, den ganzen Tag sprach er davon. Darüber wollte er schreiben.“1 Dabei rufen die Bilder der Rembrandtisten, von de Gelder bis Carel Fabritius, sowohl negative als auch sehr euphorische Reaktionen hervor. Corinth erkannte im Gemälde Salome mit dem Haupt Johannes des Täufers, das damals Carel Fabritius zugeschrieben wurde und heute dem Rembrandtkreis zugerechnet wird, seine eigene Kunst wieder. Die ablehnende Haltung gegenüber de Gelder teilte ein Zeitgenosse Corinths, nämlich der Maler Max Slevogt, nicht. Der Kunsthistoriker Karl Voll 1

Leo Michelson: Corinths letzte Tage in Amsterdam, in: Kunst und Künstler. Illustrierte Monatsschrift für Bildende Kunst und Kunstgewerbe, 24 (1926), S. 16.

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Schlussbetrachtung

kommentierte 1903 in einem Brief an Slevogt de Gelders Selbstbildnis als Zeuxis (Bild 30): „Denke nur an den merkwürdigen Rembrandtschüler von Geldern, von dem in Frankfurt ein Selbstbildnis vis à vis von dem großen Rembrandt hängt und der in der pikanten Farbe Dich, der im Raum [in der Raumauffassung] aber – auf Bildern, die Du nicht kennst – thatsächlich Degas vorweggenommen hat. Unglaublich, aber wahr.“2 Was Fabritius für Corinth war, stellte in den Augen des Kunsthistorikers Voll de Gelder für Slevogt dar.3 Das offenbart, dass nicht nur Rembrandt, sondern auch die radikalen Anhänger seines Handeling im Hinblick auf die selbstständige Kraft und Aktion der Farbe rezipiert wurden. Was solche Identifikationen von späteren Künstlern mit künstlerischen Phänomenen der Frühen Neuzeit bedeuten, erfordert eine gesonderte Behandlung. Der Begriff Handeling beinhaltet eine weitergehende Dimension im Sinne der Rembrandtisten und ihres primären Farbdenkens bei der Pinselführung. Diese Bedeutung findet bis heute im Niederländischen Verwendung. Die Handlung sollte im Sinne einer körperlichen Tätigkeit ernst genommen werden. Somit wurde in der Arbeit ein historischer Begriff der Zeit verwendet, um sich diesem spezifischen Phänomen anzunähern und es zu begreifen. Speziell dem Handeling der Rembrandtisten unterliegen unterschiedliche Arbeitsweisen (sprich eine Varietas der Form), die zwischen grob und fein, transparent und opak variieren und sowohl in unterschiedlichen Bildern als auch innerhalb eines einzigen zu finden sind. Diese Spannung konstituiert die Handlung des Bildes (als Prozess) selbst. Sie wird umso stärker durch die postulierte widersprüchliche Lebendigkeit des Artefakts ermöglicht. Aus der Reflexion des „leblosen Materials“ eines Werkes wird sein aktives Potenzial entfaltet, was den Betrachter in einem interagierenden Verhältnis in die Paradoxie des Bildes miteinbezieht. Die Diversität bei der Gestaltung der Form ist ein Hauptmerkmal des Rembrandtismus und kann von einem variierten Helldunkel bis hin zu einer stilistisch differenzierten Pinselführung reichen. Das Handeling bei den Rembrandtisten innerhalb der Chiaroscuro-Tradition wurde zum Hauptaugenmerk der Arbeit erhoben. Die ökonomische Unabhängigkeit einiger Rembrandtschüler ermöglichte ihnen eine Radikalität der Malpraxis im Rückgriff auf ein nach zeitgenössischer Meinung altmodisches Handeling. Das Phänomen wird besonders einige Jahre nach dem Tode Rembrandts ersichtlich. 2

3

Karl Voll: Briefe an Max Slevogt, o. O., o. J., Band 1, o. S., Brief vom 21.3.1903. Zitiert nach Johannes Stückelberger: Rembrandt und die Moderne. Der Dialog mit Rembrandt in der deutschen Kunst um 1900, München 1996, S. 113. Voll spricht von „Zerlegung der Farbe“. Karl Voll: Malerei des 17. Jahrhunderts, Entwicklungsgeschichte der Malerei in Einzeldarstellungen, Band 3, München, 1917, S. 120 f.

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Schlussbetrachtung

Da die Schüler dies aber unterschiedlich ausführten und sich den Geschmackswandel der Zeit entweder zu eigen machten (Leveck) oder eben nicht (de Gelder), wurde deutlich, dass trotz ähnlicher sozialer und ökonomischer Bedingungen die Parteinahme für ein bestimmtes Handeling doch ideologischer Natur war und mit einem jeweils unterschiedlichen Habitus verbunden wurde. So ist auch die Gegenüberstellung von Carel de Moor und Arent de Gelder seitens Weyerman zu erklären, der das Aufeinandertreffen unterschiedlicher Handelinge bis ins 18. Jahrhundert hinein verfolgte. Die Erforschung der verschiedenen charakteristischen Elemente des Handeling kann keinesfalls als erschöpft gelten. Die erste Bündelung der in diesem Versuch festgestellten Prinzipien bildet eine Basis, um anschließend weitere Probleme zu erfassen und deren mögliche Perspektiven zu erläutern. Zunächst wurde konstatiert, dass die Hand der Rembrandtisten nicht nur einfach mechanisch vorher Gedachtes wiedergibt, sondern dass sie das, was sie darstellt, zugleich in einem Denkprozess erzeugt und durch diese Formsuche allmählich Bilder vor den Augen des Künstlers und daraufhin des Betrachters entstehen lässt. Die Artefakte, die die Hand hervorbringt, können als Resultat eines gesamtkörperlichen Prozesses gelten. Dies vollzieht sich in einer Zeit, in der das Metier des Künstlers immer stärker intellektualisiert wird, das Handwerk zurückgedrängt und Bilder behandelt werden, als wären sie ohne Hände, aus bloßen „Schwangerschaften des Geistes“ entstanden. Diese Entwicklung schritt in Europa und spezieller in den Niederlanden immer stärker voran, obwohl dort bis dahin eine ganz andere Tradition vorherrschend war. Es ist daher nicht verwunderlich, dass sich ausgerechnet die Rembrandtisten das Prinzip des Zufalls zu eigen gemacht haben. Idealisten wie Gerard de Lairesse oder Willem Goeree sträubten sich gegen diese Tradition. Samuel van Hoogstraten nahm als ehemaliger Rembrandtist eine Zwischenposition ein, machte aber teilweise die Wende des Geschmacks mit. Die in seinen Augen objektive Beschreibung der Bildpraxis geschah von einem Rembrandt’schen Standpunkt aus, da er diesen erlernt hatte, auch wenn sich sein Handeling in dieser Zeit davon erheblich distanzierte. Deshalb wurde der raue, amorphe, vom Zufall geleitete Pinselstrich von ihm bis zu einem gewissen Grade geduldet, aber für die jungen Maler und Kunstliebhaber, das primäre Publikum der Inleyding, gerade nicht als nachzuahmendes Vorbild stilisiert. In seiner Erzählung vom topischen Malerwettstreit kommt nach der Idea, die diesen gewinnt, die Fortuna als Zwischenposition, die sich im Bild der sehenden und denkenden Hand Jan van Goyens verkörpert und als eine Imprese des Handeling der Rembrandtisten dient. Handeling ist von Beginn an ein intelligibler Prozess. Das explizite Zurschaustellen des handwerklichen Aspekts ihrer Malerei und das daraus extrahierte Wissen wurden bewusst inszeniert. Die implizite Versprachlichung der Bildpraxis der Rembrandtisten durch van Hoogstraten ist

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Schlussbetrachtung

von so immenser Bedeutung, weil sie eine historische Basis dafür bietet, dieses Phänomen adäquat zu begreifen. Das durch die denkenden Hände geformte Material lässt sich nicht vom Resultat, der formierten Gestalt des Handeling trennen, da es autonom gezeigt wird und unmittelbar zur Erscheinung des jeweiligen Gebildes beiträgt. Die Prozessualität des Farbauftrags wird durch die sichtbaren Spuren des jeweiligen Werkzeugs bewusst offengelegt. Durch besondere Techniken wie dem Einsatz der Hände oder das Kratzen beim Farbauftrag erhält die Farbe eine reliefartige Struktur, die die verschiedenen Medien und Gattungen eher vereint als trennt und somit die intersensorielle Bildwahrnehmung produktiv macht. Dazu kommt der fruchtbare Einsatz der Naturprozesse im Hinblick auf das Material Farbe, sodass von einem veritablen Mitstreit der natürlichen und artifiziellen Bildformen die Rede sein kann. Das Handeling verbindet die formale mit der inhaltlichen Handlung eines Bildes. Die Bezugnahme auf verschiedene Körpertechniken (wie das Theater) lassen den Künstler sowie den Betrachter zwischen Einfühlung und Distanz pendeln. Sogar dort, wo es keine Aktion gibt, wird durch das Handeling eine solche hervorgerufen, mit der Farbe selbst als Protagonistin und Stifterin von Emotionen. Auch wenn keine rhetorisch exponierte Bildsprache angewandt wird, die einem theatralischen Gestus entspräche, der aber den Kern des Problems nicht trifft, kommt der intrinsischen Kraft des Körpers und des Theaters als Lernmittel eine zentrale Bedeutung zu, sodass das Handeling als eine verkörperte, genuin bildliche Technik beschrieben werden kann. So ein verkörpertes, ikonisches Verfahren ist auch die Bewegung des Be­ trachters vor dem Bild, die Nähe und Ferne sowie Tactus und Visus in einer fruchtbaren Interaktion dieser sonst gegensätzlichen Paare miteinander verbindet. Die amorphe Kraft der Pinselstriche erzwingt also eine spezifisch körperliche Haltung und Handlung vor dem Bild. Der Malprozess selbst wird sichtbar. Vor den Augen des Künstlers beziehungsweise des Betrachters erhält das Chaos eine Form, sodass Künstler sowie Betrachter als Zeugen eines Evidenz­ aktes agieren, nicht anders als beim rhetorischen ante oculos ponere, hier evoziert durch das Bild. Das Suchen von Formen geschieht anhand des Zufallsprinzips und der allmählichen Aneignung der Gestalt eines Bildes, ein Prozess, der im Gegensatz zum Konzept der Idea steht. Dieses wurde schon seit Vasaris Kritik der macchie Tizians bis hin zur Diffamierung durch den Begriff der „Entarteten Kunst“ unter ähnlichen Prämissen verworfen, was auch mit der negativen Einstellung gegenüber dem Manierismus und dessen Handeling als ein pathologisches, hysterisches und somit krankhaft bedingtes Symptom übereinstimmt. Dies hat letztlich auch das Interesse einiger, im 20. Jahrhundert als „entartet“ geltender Künstler geweckt. Es ist bezeichnend, dass das übermäßige Handeling, als ela-

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Schlussbetrachtung

borierte Technik verworfen, die mehr dem Schein als dem Sein verpflichtet ist, bereits Ende der 1620er Jahren in den Niederlanden implizit mit Rembrandt in Verbindung gebracht wurde. Der Farbauftrag der Rembrand­tisten ist Schein und Sein zugleich. Es ist die Besonderheit des Handeling de Gelders, von Houbraken eingehend beschrieben, die als Markenzeichen des Künstlers gilt. In seiner exzessiven Form und der extremen Technik wurde es beinahe als ein Kuriosum, ähnlich wie der mit dem Fuß malende Cornelis Ketel, angesehen. Mit der Analyse des Handeling und den vom kritischen Akademismus und Idealismus meist negativ beleuchteten Rembrandt’schen Elementen wurde hier eine wohlwollendere Betrachtung des Rembrandtismus vorgenommen. Dies sollte nicht nur durch die Negation der damals neoplatonisch besetzten Kunsttheorie deutlich werden, sondern produktiv als ein anderer Zugang zur Welt und deren Interpretation zu verstehen sein. Deshalb greift zum Beispiel das Wort „unvollendet“ für die Kunst der Rembrandtisten zu kurz, da es a priori von einem Defizit ausgeht, wogegen der Zeitgenosse Spinoza beispielsweise argumentierte, dass alle Dinge unabhängig von ihrem Stadium der Bearbeitung gleich seien. Dadurch avanciert diese spezifische Art des Farbauftrags zu einem Prinzip und steht jenseits von Konzepten wie dem des finito/non finito, da die Form selbst und somit das Handeling als Prozess wahrgenommen wird. Es handelt sich um die immer werdende Kraft der Form, nicht unähnlich der Naturprozesse, sodass der Begriff natura naturans auch in diesem Sinne hier fruchtbar ist. Um die Grenzen der Arbeit nicht zu sprengen, konnten manche Aspekte nur zum Teil verfolgt werden und fanden weniger Beachtung. Darunter fällt auch das schon skizzierte Problem der Begrifflichkeit: Der Terminus „unvollendet“ wurde eher von den Gegnern dieser Formgestaltung verwendet, um dann aber in der Moderne anhand der Rolle des Fragments ins absolute Gegenteil verkehrt zu werden. In anderen Fällen wurde es unternommen, sich von solchen negativen Termini zu verabschieden oder diese metaphorisch und somit distanziert zu verwenden bzw. deren Beliebigkeit oder Ausweglosigkeit anhand der bildlichen Kraft zu hinterfragen. Der Philosophie kommt hier eine implizite Rolle zu. Es geht nicht darum, in Bildern Ideen wiederzufinden. Dies würde in einer banalen Ikonologie enden, die das vorliegende Problem nicht wirklich hätte lösen können. Die Gefahr, einem Schematismus zu unterlaufen, der das konkrete Potenzial der Bilder verfehlt, wäre zu groß. Fruchtbar ist zum Beispiel die Beschäftigung mit der Philosophie der Verkörperung, die den Körper ins Zentrum des Erkenntnispotenzials in der Interaktion mit der Welt setzt und erstaunliche Verbindungen zur Malerei, nicht nur zu der der Rembrandtisten, geliefert hat. Diese Theorien konnten eingesetzt

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Schlussbetrachtung

werden, um die Potenziale aufzuzeigen, die sich in einer Hinwendung zum Körper ergeben, sodass sich die hier vorliegenden Ergebnisse dieses Versuchs von den negativ besetzten Begriffen der mechanistisch geprägten Kunsttheorie abgrenzen können. Ein neues Panorama könnte somit eröffnet werden, das die Potenzialität der Form beziehungsweise des Handeling zu verdeutlichen sucht, sodass die Gültigkeit der Theorie in und aus der Praxis bestätigt wird. Im Zuge der Erforschung des Handeling der Rembrandtisten sollten zweierlei Erkenntnisse deutlich geworden sein: Erstens, dass bereits durch die Gestaltung jeder einzige Pinselstrich kognitiv und expressiv aufgeladen ist, sodass Materie und Inhalt von Anfang an vereint sind und entsprechend von den Betrachtern wahrgenommen werden. Diese intelligente Körperlichkeit der Materie kann nur durch körperschematische Abläufe, die beim Arbeitsprozess des Künstlers stattfinden, aktiviert werden und bildet eine Praxis mit theoretischen Implikationen, die durch den einstig etablierten neoplatonischen Akademismus jedoch nur inhärent blieb. Zweitens verbirgt sich in der aktiven und prozessualen Entfaltung der Pinselführung eine kunstgeschichtliche Auseinandersetzung, die sich ernsthaft mit dem künstlerischen Prozess beschäftigt ohne aber die Theorie (im Sinne eines dualistischen Denkens) getrennt von diesem zu betrachten. Gleichzeitig funktioniert die Theorie nicht als Determinant und Überbau der Praxis sondern genau umgekehrt: sie hat als deren Basis das Handeling selbst. Die historische Beziehung der unterschiedlichen Topoi zueinander, die in Praxis und Theorie aufflammten und somit die europäische Aura des Phänomens ansprachen, konnte in diesem Rahmen nicht angemessen behandelt werden. Obwohl einige Rembrandtisten von unterschiedlicher Nationalität waren, in der späteren Phase vor allem aus dem deutschen Sprachraum, wurde hier nicht von einer nationalen Unterscheidung ausgegangen. Schon Lucien Febvre erkannte 1924 dieses Problem, das auch auf Rembrandt und seine Schüler im Hinblick auf die Frage ihrer Herkunft übertragen werden kann, als er über die französische Kunst des 15. Jahrhunderts schrieb: „Die Künstler waren nicht an ein bestimmtes Land gebunden, sondern an einen bestimmten Meister, einen Meister im strengen Sinn des Wortes, der sie ihr Metier gelehrt hat, von dem sie Rezepte, Gewohnheiten und Praktiken übernommen haben.“4 Zwischen Marco Boschinis und van Hoogstratens Kunsttheorie bestehen große Ähnlichkeiten, die gewiss durch die Rezeption der jeweiligen Größen Tizian und Rembrandt in Venedig und in den Niederlanden hervorgerufen wurden. Die Ähnlichkeiten und Unterschiede der Gesellschaftsstrukturen in Venedig

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Lucien Febvre: Das Streben nach Schönheit, in: ders.: Leben in der französischen Renaissance, Berlin 2000, S. 60.

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Schlussbetrachtung

und Amsterdam wären ein Ausgangspunkt, von dem bereits Peter Burke in einer wegweisenden Studie ausging.5 Der gemeinsame Nenner des spezifischen Farbauftrags, der eine Folge des Geschmacks eines zunächst informellen aristokratischen Habitus (Sprezzatura) war, fand dann aber in einem großbürgerlichen bis bürgerlichen Milieu am meisten Anklang. Wie ist diese Beobachtung aber zu erklären und zu deuten? Boschini lieferte ein sprachliches Manifest des Anti- oder Unakademischen und Unklassischen mit vielfältigen, teilweise recht schwer zu übersetzenden venezianischen Termini, was die gegenseitige (oft implizite) Beeinflussung der venezianischen und der holländischen Tradition auch im Bereich der Theorie bezeugt und erneut die europäische Aura des Phänomens unterstreicht. Boschini griff die mächtigen Gegner der akademischen Bildauffassung wie Vasari namentlich an. Damit fasste er noch radikaler in Worte, was bei van Hoogstraten öfters implizit, selten explizit angelegt war, sodass Boschini ein ideologischer Mitstreiter der Rembrandtisten aus der Distanz wurde, ohne es zu wissen. Er bot die sprachliche Version dessen, was Padovanino in der Bildpraxis tat, nämlich eine fruchtbare Aktualisierung der Kunst Tizians durch Bildzitate.6 Boschinis Kunsttheorie und Padovaninos Bildpraxis weisen somit eine Parallele zu den Rembrandtisten auf, obwohl Padovanino kein Tizian-Schüler war und eher mit Künstlern wie Januarius Zick zu vergleichen wäre. Die Rezeption des Boschini’schen Ansatzes blieb größtenteils auf Venedig beschränkt. Dafür aber könnte auf der persönlichen, biografischen Ebene Drost der „Missing Link“ für den venezianischen Autor im Hinblick auf die Vermittlung der Rembrandt’schen Praxis gewesen sein. Eine gemeinsame Malideologie nördlich und südlich der Alpen wird somit sichtbar, die im Gegensatz zu Bellori, Le Brun oder Vasari die Topoi anders interpretiert. Im Rahmen dieser Arbeit konnten die direkten historischen Verbindungen dieser Ideologie nicht geknüpft werden. Dafür stehen aber die abstrakteren Gemeinsamkeiten der Autoren außer Frage. Dies spricht für die europäische Dimension des Phänomens: Velázquez und El Greco sind zwei berühmte Beispiele für Spanien und Alexis Grimou, der „französische Rembrandt“, für Frankreich, um nur einige zu nennen. Wäre die Werkstatt Tizians als der gemeinsame Nenner dieser Tradition zu verstehen, wenn zum Beispiel an Greco oder van Mander und die Rembrandtisten gedacht wird?7 Eine weiterführende Arbeit, die

5 6 7

Peter Burke: Venice and Amsterdam. A Study of Seventeenth-Century Elites, Cambridge ²1994. Maria H. Loh: Titian Remade. Repetition and the Transformation of Early Modern Italian Art, Los Angeles 2007. Einen ersten Versuch in diesem Sinne stellt eine Arbeit des Verfassers dar: Yannis Hadjinicolaou: El Greco von nah und fern. Die europäische Dimension eines Topos

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Schlussbetrachtung

diese Bereiche mit ihren gemeinsamen und unterschiedlichen Ausprägungen auf gesamteuropäischer Ebene verfolgt, ist notwendig. Die Untersuchung der Praxis des Handeling in Bild und Sprache könnte dazu entscheidend beitragen.

in der Frühen Neuzeit, in: ders./Franz Engel (Hg.): Formwerdung und Formentzug, Berlin/Boston 2016, S. 95–119.

Dank

Entscheidende Impulse, die ich im Laufe dieser Arbeit erhalten habe, sind der Kolleg-Forschergruppe Bildakt und Verkörperung zu verdanken. Ich möchte mich hiermit bei Horst Bredekamp und Jürgen Trabant aber auch bei allen Mitstreiterinnen und Mitstreitern, Freundinnen und Freunden herzlichst bedanken. Auch dem Exzellenzcluster „Bild Wissen Gestaltung. Ein Interdisziplinäres Labor“ der Humboldt-Universität zu Berlin ist für die vielfältige Unterstützung herzlich zu danken, insbesondere bei Thomas Lilge, Franziska Wegener und Deborah Zehnder. Viele Personen haben dazu beigetragen dieser Arbeit ihre endgültige Form zu verleihen: Holm Bevers, Jonathan Bikker, Björn Blauensteiner, Chris de Bruyn, Robert Felfe, Jörg Fingerhut, Joris van Gastel, Peter Hecht, Anna Krekeler, Christoph Nicht, Volker Manuth, Sander Paarlberg, Carol Pottasch, Markus Rath, Peter Schatborn, Pablo Schneider, Pedro Stoichita, Frits Scholten, Stefan Trinks, Tullio Viola, Monika Wagner, Robert Wald und Ernst van de Wetering. Herman Roodenburg war ein sehr inspirierender Ansprechpartner und zwar sowohl in Amsterdam (während meines Aufenthaltes im Meertens Instituut, Koninklijke Nederlandse Akademie van Wetenschappen zwischen März und April 2013) als auch in Berlin (im November 2013). Ohne die Hilfe von Franz Engel, Johanna Schiffler und vor allem Anja Pawel wäre diese Arbeit nie sprachlich (und somit auch inhaltlich) in die Form gebracht worden, in der sie heute ist. Für diese freundschaftliche Geste bin ich unendlich dankbar. Aber auch Hanna Fiegenbaum, Nadine Lange, Amelie Ochs und Patrizia Unger haben dankenswerter Weise in einer zweiten Phase das gesamte Manuskript kritisch gelesen und korrigiert. Die Betreuer Werner Busch und Horst Bredekamp waren immer da, um Vorschläge zu machen, Fragen zu beantworten, direkte Kritik zu üben und haben mir in jeder Hinsicht geholfen. Dafür bin ich beiden zutiefst verbunden.

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Dank

Peter Geimer, Gregor Stemmrich und Jan von Brevern ist für ihre Bereitschaft als Mitglieder der Promotionskommission zu fungieren herzlich zu danken. Die Arbeit wurde als Dissertation an der Freien Universität im Juni 2014 angenommen und im Dezember 2014 verteidigt. Daher wurde die Literatur auf dem Stand von Juni 2014 belassen. Marion Lauschke hat als Schriftenleiterin der Actus et Imago Reihe die Arbeit betreut, wofür ich ihr danke. Seitens Walter de Gruyter haben Katja Richter und Verena Bestle die Publikation mit großer Aufmerksamkeit begleitet. Dafür gebührt mein herzlicher Dank. Doreen Westphal hat das Lektorat vorgenommen, wofür ich Ihr ebenfalls meinen besten Dank aussprechen möchte. Petra Floraths feinfühlige Hand und kritisches Auge haben sich erneut in höchstem Maße entfaltet. Alkyoni und Nicos sind für das A und Ω aber auch für das A und O verantwortlich.

Berlin, Dezember 2015

Q uellen - und L i teraturverze ichn i s

Unge d r uc k te Q uel le n GAD Gemeente Archief Dordrecht ONA Oud Notarieel Archief, Dordrecht RKD Rijksbureau voor Kunsthistorische Dokumentatie, Den Haag

G e d r uc k te Q uel le n Alberti, Leon Battista: Das Standbild. Die Malkunst. Grundlagen der Malerei, hg. v. Oskar Bätschmann/Christian Schäublin, Darmstadt 2000 [1435/6]. Baldinucci, Filippo: Cominciamento, e progresso dell’arte dell’intagliare in rame, colle vite di molti de’ più eccelenti Maestri della stessa Professione, Florenz 1686. Baldinucci, Filippo: Notizie dei professori del disegno da Cimabue in qua, hg. v. Ranalli, Band 5, Florenz 1847 [1686]. Balkema, C.H.: Biographie des Peintres Flamands et Hollandais, qui ont existé depuis Jean et Hubert van Eyck jusqu’à nos jours, Gent 1844. Böhme, Jakob: Aurora oder Morgenröthe im Aufgang. Ausgewählte Texte, Leipzig 1974 [1612]. Boschini, Marco: La Carta del navegar pitoresco, ed. critica, con la „Breve istruzione” premessa alle Ricche minere della pittura Veneziana, hg. v. Anna Pallucchini, Venedig/Rom 1966 [1660]. Bryan, Michael: Biographical and Critical Dictionary of Painters and Engravers, Band 2, London 1816. Bürger, Willem: Salons de Bürger. 1861 à 1868, Paris 1870. Cicero, Marcus Tullius: Über die Wahrsagung. De Divinatione, hg. v. Christoph Schäublin, München/Zürich 1991. Decker, Jeremias de: Goede Vrydag ofte het Lijden onses Heeren Jesu Christi, hg. v. W. J. C. Buitendijk, Zwolle 1958 [1651]. Descamps, Jean Baptiste: La vie des peintres flamands, allemands et hollandois, Band 3, Paris 1760.

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P ersonenregister

Aachen, Hans von 145, 148 f. Agucchi, Giovanni Battista 236 Albani, Francesco 247 Alberti, Leon Battista 218 f., 263 f., 292 Alciato, Andrea 88 Aleotti, Ulisse degli 169 Alpers, Svetlana 154, 292 Althusser, Louis 203, 272 Amann, Jürg 156 Antidotus 84 Antonioni, Michelangelo 348 f. Apelles 217 Arnheim, Rudolf 353 Aristoteles 171, 218, 260, 339 Ariosto, Ludovico 351 Asam, Cosmas Damian/Egid Quirin 170 Baburen, Dirck van 308 f. Bach, Johann Sebastian 82 Backer, Jacob 73 f., 105 Bacon, Francis 228 Baen, Jan de 61 Baldinucci, Filippo 56, 89, 102, 114, 170, 178, 213 Balzac, Honoré de 81, 85, 324, 347 f. Bamboccio, (van Laer, Pieter) 120, 249 Bassano, Jacopo 169, 222, 232, 248, 331, 351 Bataille, Georges 329 Bätschmann, Oskar 219 Bauch, Kurt 73 Baxandall, Michael 177 Beauvais, Vinzenz von 90 Bellori, Giovanni Pietro 291, 361 Belting, Hans 348

Benesch, Otto 47 f. Berenson, Bernard 308, 340, 348 Berghof, Alice Crawford 326 f., 337 Berkeley, George 337 Bernini, Gian Lorenzo 23, 346 f. Beveren, Ernst van de 40 ff. Bikker, Jonathan 56 Bisschop, Jan de 237 Blankert, Albert 8 Blijenburgh, Charlotte Elisabeth van 28 f., 31, 42 f. Bocchi, Francesco 324 Boehm, Gottfried 182, 289, 320 Boerhaave, Herman 172, 178, 203 f., 215 f., 221 f. Bohde, Daniela 145, 169 Böhme, Jakob 93 Bok, Marten Jan 36 Bol, Ferdinand 35 f., 38, 56, 73 f., 119, 282 Boonen, Arnold 62 Boschini, Marco VIII, 56, 87, 91 f., 94, 114, 130, 156, 169 f., 198 ff., 210 ff., 222, 243 f., 247, 318, 324 f., 328 f., 331, 351, 360 f. Bosse, Abraham 23, 44, 136 Botticelli, Sandro 219 f. Bourdieu, Pierre 81, 93 Braets, Adriaen 58 f. Bredekamp, Horst 23 Broucke, Mattheus Eliasz. van der 59 f. Brouwer, Adriaen 120, 126 Bruegel, Pieter 316, 329 Brueghel d. J., Jan 208 Brune de Jonge, Jan de 310 Brusati, Celeste 266

402  

Personenregister

Bryun, Joshua 303 Bürger, Willem (Théophile Thoré) 201 Burgh, Johan van der 28, 31, 42 f. Burke, Peter 361 Busch, Werner 268 Callot, Jacques 40 Camphuysen, Dirk Raphaelsz. 242 Caravaggio, Michelangelo Merisi da 150, 237, 240, 244 Carracci, Agostino 268, 293 Carracci, Annibale 49, 92, 94, 105, 123, 236, 240, 268 f. Castiglione, Baldassare VIII, 86 f. Cennini, Cennino 18, 91, 144 Cézanne, Paul 184, 202 Chardin, Jean Baptiste Simeon 327 Chodowiecki, Daniel 311 f. Chrisostomos, Dion 217 Chu Ching-hsuan 228 Cicero, Marcus Tullius 226 Clausberg, Karl 338 Codde, Pieter 331, 333 f. Constable, John 23 f., 135, 227 ff., 352 f., 355 Corinth, Lovis 329, 355 f. Cossiau, Jan Joost van 131 Courbet, Gustave 82, 172, 201 Cozens, Alexander VIII, 83 f., 179, 227 f. Cranach, Lucas d.Ä. 121 Cranston, Jodi 346 Croce, Benedetto 316 f. Cuyp, Aelbert 37 Cuyp, Benjamin 36 Cyriacus von Ancona 179 Dante Alighieri 112 Decker, Jeremias de 12, 46, 276 f., 307 f. Degas, Edgar 356 Delacroix, Eugène 84, 201, 353 Deleuze, Gilles 171, 182 Descartes, René 225, 337 Dewey, John 135, 171 Dezallier d’ Argenville, Antoine-Joseph 85 Diderot, Denis 18, 89, 298, 327 Didi-Huberman, Georges 171 f., 329, 339, 348 Dillenberger, Jane 310 Domenichino 291 Doré, Gustave 303

Drost, Willem 5 f., 12, 52–56, 119, 130, 136, 166, 209, 270 ff., 276 f., 298, 318 f., 327, 337, 361 Donatello 321 Doni, Anton Francesco 81 Dou, Gerrit 126 Dürer, Albrecht 61, 68, 91, 103, 121, 141, 237, 320 Dyck, Antonis van 61 ff., 70, 74, 115, 120, 126, 170, 201, 238, 301 Dyke, John van 35 Eeckhout, Gerbrand van der 27, 37 Ekkart, Rudolf E. O. 59 Elkins, James 16, 310, 341 Emmens, Jan Emmeling 8 f. Eyck, Jan van 239, 301 Fabritius, Barent 5, 12, 45 f., 48 f., 53 f., 99–102, 105–109, 111, 114, 119, 136, 138, 193 f., 209, 278–282, 286, 298, 355 f. Fabritius, Carel 24, 192, 241, 355 Fanti, Vincenzo 3 Febvre, Lucien 360 Fehrenbach, Frank 242 Félibien, André 322 f., 325 Fiedler, Konrad 171, 338 Flaccus, Marcus Verrius 98 Flinck, Govert 26 f., 35, 37, 56, 62 f., 73 f., 119, 282 Focillon, Henri 93 f., 228 Franits, Wayne E. 63 Fréart de Chantelou, Paul 346 f. Frederik Hendrik 259, 322 Gainsborough, Thomas VIII, 82, 86, 110, 201, 227 f., 323, 353, 355 Gamboni, Dario 219 Garrick, David 110 Geffroy, Gustave 202 Gelder, Arent de VII, 3–6, 10, 12, 25–33, 36–50, 52 f., 56, 58, 61–66, 73, 77, 86 f., 89, 93–99, 103–108, 110–116, 119, 127–131, 133–138, 144, 151, 156–166, 168, 170–174, 177–179, 182 ff., 193 f., 204–217, 221, 227–230, 233, 236–239, 243–253, 255–260, 263, 268, 282–286, 291 f., 297 ff., 302–308, 313–316, 322, 327, 330–334, 337, 345 f., 353, 355–357, 359 Gelder, Hendrik Enno van 265

403  

Personenregister

Gell, Alfred 310 Gerson, Horst 4, 48, 131 Gheyn II., Jacques de 259 Ghiberti, Lorenzo 87 Ginzburg, Carlo 338 Giordano, Luca 79 Giorgione 150, 240, 300 Goeree, Willem 15, 17, 90, 225, 249, 266 f., 302, 357 Gogh, Theo van 136, 202 Gogh, Vincent van 110, 134, 136, 172, 202, 342 Goltzius, Hendrick 24, 146 f., 248 Gombrich, Ernst H. 9, 199 Gonnelli, Giovanni 89 f. Göring 131 Goya, Francisco de 43, 228, 303 Goyen, Jan van 77, 79 ff., 90, 93, 175 f., 179, 213, 221 ff., 357 Greco, El (D. Theotokopoulos) 210, 323, 361 Grimou, Alexis 361 Grünewald, Matthias 121 Guattari, Félix 171 Haak, Bob 36 Haarlem, Cornelis van 150, 168 Hagedorn, Christian Ludwig von 19, 131 Hagedorn, Johann Christian 325 Hals, Frans 12, 58, 91, 127, 172, 201 f., 208, 333 Hamerton, Philip Gilbert 228 Hanneman, Adriaen 42 f. Hazlitt, William 135 Head, Henry 172 Helmholtz, Hermann von 338 Helst, Bartholomeus van der 62, 113 Herder, Johann Gottfried 171, 337, 340 Hildebrand, Adolf von 338 Hirschfelder, Dagmar 68 Hogarth, William 108 Hokusai 228 Honthorst, Gerrit van 142 Hooch, Pieter de 65 Hoogstraten, Samuel van VIII, 6, 9, 13, 16–19, 21, 24 f., 34 f., 38, 40 f., 70, 77–84, 86, 90–95, 104 f., 111, 115 f., 118, 124 f., 131, 142 ff., 150–154, 175–179, 195 f., 198, 221–228, 239–242, 246, 249 f., 263–269, 277, 286, 289 f., 292–301, 306, 308, 310, 324, 326, 328, 357, 360 f.

Horaz 197, 292, 301, 324 Houbraken, Arnold 17, 25 ff., 34 f., 37 f., 40, 46, 54, 59, 61 ff., 74, 92, 109, 112 f., 119 f., 142 f., 156, 160, 167 ff. 194–198, 207 f., 215, 236 f., 238, 242, 287, 291 f., 295–302, 306 f., 322 ff., 329, 334 f., 353, 359 Huizinga, Johan 36 Hurley, Susan 351 Huygens, Constantijn 86, 259, 292, 322 Imdahl, Max 171 f., 289, 338 Israel, Jonathan I. 178 Jacobsz., Lambert 73 Janson, Horst W. 219 Jelgerhuis, Johannes 271 Johann Georg II. 239 Jordaens, Jacob 70 f., 119 f. Junius, Franciscus 40, 290 f., 294 Justi, Carl 329 Karneades von Kyrene 226 Kate, Lambert ten 126 Keil, Bernhard 56, 102 Kemp, Wolfgang 199 Kennedy, John M. 350 Ketel, Cornelis 117, 214 f., 228, 359 Ketelsen, Thomas 17 Kircher, Athanasius 179 Klessmann, Rüdiger 47 Knipbergen, François 77, 79, 81, 175 f., 221 Körner, Hans 337 Krois, John Michael 289, 349  Krüger, Matthias 135, 353 Lairesse, Gerard de VIII, 9, 22, 37, 40, 90, 102, 104, 109 f., 112, 114–117, 119–127, 129 f., 202, 225 ff., 241, 246, 250, 266, 270 f., 287 f., 294 f., 301, 328, 357 Lampsonius, Dominicus 81 Lastman, Pieter 56, 278 f., 281 f., 287 Le Brun, Charles 61, 288 f., 361 Leibl, Wilhelm 48 Lenbach, Franz von 48 Leonardo 83, 90, 191, 219 f., 224, 227, 240, 244, 259, 264 f., 268, 320, 351 Leroi-Gourhan, André 93 Lessing, Gotthold Ephraim 259, 263, 269, 350 Leveck, Jacobus 5 f., 36, 57–63, 71 ff., 357 Lévesque, Pierre Charles 114 f.

404  

Personenregister

Leyden, Lucas van 42, 61 Lichtenstein, Jacqueline 11 Liebermann, Max 85 Liebmann, Michael 48 Lievens, Jan 3, 23, 47, 49, 68, 105, 116, 119, 121, 139, 165, 187, 208, 209 Lilienfeld, Karl 232, 303 Lipps, Theodor 308 Loh, Maria H. 56 Löhr, Wolf Dietrich 91 Lomazzo, Giovanni Paolo 90, 103, 171, 321 Loth, Johann Carl 53–56, 130 Loth, Ulrich 49 Lotze, Hermann 308 Loughman, John Anthony 39 Lowell, James Russell 135 Ludwig XIV. 159, 346 f. Lukrez 220 f. Mauss, Marcel 81, 93, 312 Maes, Nicolaes 5 f., 36, 39 f., 50, 56, 58 f., 62 f., 65 f., 72, 119, 280–283, 285 f. Mander, Karel van 11 f., 16 f., 21, 23 f., 40, 81, 83, 88 f., 91, 98, 143, 145, 148 f., 153, 168, 200, 213–217, 221–224, 236 f., 240, 244, 248, 265 f., 292, 320, 327, 361 Manet, Edouard 184 Mantegna, Andrea 169 Manuth, Volker 52 Mayr, Christoph Georg 71 Mayr, Johann Ulrich 6, 66–73, 125, 165, 187 Mayr, Suzanna 70 f. Medici, Cosimo de 70 Menzel, Adolph 202, 343 Melanchthon 121 Merleau-Ponty, Maurice 93 f. Metsu, Gabriel 126 Michelangelo 25, 81, 150, 184, 200, 240 Michelson, Leo 355 Mieris, Frans van 69, 115 Mignard , Pierre 40 Moelaert, Jacob 30, 39, 40 f., 177 f. Moltke, Joachim Wolfgang von 39 Monde, Nicolaas van der 16 Montagu, Jennifer 269 Montaigne, Michel de 126 Moor, Carel de 25 f., 46, 357 Müller, Johann Jacob 72 f. Müller, Sigmund 71

Murillo, Bartolomé Esteban 110 Musscher, Michiel van 129 f. Nealkes 214, 224 Neer, Aert van den 208 ff. Netscher, Caspar 131 Neuweiler, Gerhard 82 Newton, Isaac 178 Nicolaisen, Jan 170 Noë, Alva 328, 348 Noteman, Hendrik 159 f., 162 f., 238 Ostade, Adriaen van 128 ff. Ovens, Juriaen 72, 125 Oyens, Pieter 343 f. Pächt, Otto 286 Padovanino (Alessandro Varotari) 361 Paggi, Giovanni Battista 80 Pallucchini, Anna 170 Palma il Giovane 156, 210, 243 Palma Vecchio 54 Palomino, Antonio 323 Panofsky, Erwin 197 Parrhasius 244 Pascal, Blaise 272 Paudiß, Christopher 3–6, 10, 12, 46–53, 67, 71, 73, 119, 136, 138–141, 145, 165 f., 172, 178, 186–194, 209, 228, 232–236, 238f., 243 ff., 260–264, 270, 298, 327, 337, 353 Pauw-De Veen, Lydia de 265 Peltzer, Rudolf Arthur 48 Pels, Adriaen 236 Pepys, Samuel 310 Pichler, Wolfram 338 Piles, Roger de 11, 20, 23 f., 84 f., 89, 112 f., 144, 168, 178, 200, 263, 268, 294, 301, 317, 322, 324 f. Pino, Paolo 247 Platon 338 f. Plinius d. Ä. 44, 152, 177, 198 ff., 213 f., 217, 221, 320 Pluym, Karel van der 4, 10 Poilly, François de 61 Pollock, Jackson 82, 228 Poorter, Willem de 54 Porcellis, Jan 77–80, 84, 175 f., 221 Poussin, Nicolas 20, 81, 113, 115, 168, 324, 347 f. Protogenes 213 f., 217, 219, 222, 224, 320 Pymandre, 322, 325

405  

Personenregister

Pyrrhos I. 152, 218 Quintilian 287 Raffael 25, 40, 69, 79 115, 350 Raupp, Hans Joachim 136 Rembrandt VII f., 3–13, 16 f., 23–27, 30, 34–37, 39, 41–50, 53–57, 59 f., 62 f., 65, 89 f., 92, 96 ff., 102–121, 126, 128, 130 f., 133–136, 138–144, 150, 154 ff., 167, 170, 176 ff., 187, 191, 194–198, 200 ff., 208 f., 212 f., 222, 228 f., 232 f., 236–246, 248–251, 259, 263 ff., 276–284, 186 f., 292, 296 f., 300 f., 307 ff., 317 f., 322 f., 326, 333, 337, 341 f., 355–362 Reynolds, Joshua 85 f., 110, 200 f., 323, 355 Ribera , Jusepe de 53, 130 Richter, Ludwig 77 f. Richardson, Jonathan 317 Riegl, Alois 336, 338 Rigaud, Hyacinthe 40 Rijn, Andriaen van 4 Ripa, Cesare 68 Robbia, Luca della 321 f. Robinson, William W. 62 f. Roemer, Bert van de 172, 178, 225 Rolin 114 Romano, Giulio 150 Roodenburg, Herman 266, 269, 271, 292 Rosand, David 93 Rosen, Valeska von 35 Rosenberg, Raphael 84 Rothko, Mark 310, 341 Rubens, Peter Paul 20, 24, 49, 73, 112 f., 120, 126, 201, 238, 264, 301 Rudolf II. 145, 148 Ruempol, Alma 160 Rumphius, Georg Eberhard 178 Sandrart, Joachim von 17, 20 f., 46, 67, 70 f., 73, 89 f., 103, 113, 121, 125f., 142, 149 f., 170, 174, 176 f., 197, 225, 240, 249, 251, 265 f., 299, 320, 327 f. Saussure, Ferdinand de 170 Scaramuccia, Luigi 325 Schalcken, Godefridus 25 f., 38, 46, 160, 162, 164 Schawelka, Karl 353 f. Schiavone, Andrea 247 Schlegel, Friedrich 84 Schmarsow, August 308

Schmidt-Degener, Frederik 74 f. Schnell, J. C. 68 Schwartz, Gary 286 Scribanius, Carolus 308 Sedlmayr, Hans 316, 329 Seneca, Lucius Annaeus 224, 244 Seta, Lombardo della 87 Sigismund von Bayern, Albrecht 46, 53 Simmel, Georg 300 f. Six, Jan 56, 86 Skopas 226 Slevogt, Max 355 f. Slingelandt, Barthout van 160 Slive, Seymour 8 f., 322 Sluijter, Eric Jan 36, 263 Smith, John 86 Smith, Pamela H. 111, 177, 179 Snellinx, F. 80 Sohm, Philip 18, 170, 199, 331 Spinoza, Baruch de 144, 196–199, 359 Spranger, Bartholomäus 145–148, 150, 152 ff., 171 Steen, Jan 119 Sterne, Laurence 82 Straus, Erwin 354 Sumowski, Werner 7 f., 57, 59, 62, 70, 73, 165 f. Tempel, Abraham van den 25 Terlee van 54 Terwesten, Augustinus 160 Thimann, Michael 49 Tiepolo, Giovanni Domenico 303 Timanthes 306 Tintoretto, Jacopo Robusti 84, 169, 184, 220 Tizian VIII, 5, 23, 35, 40, 54, 82 f., 94, 104, 116, 119, 121, 133f., 144 f., 150, 156, 168 ff., 184, 194, 198–201, 210 ff., 220, 228, 232 f., 240, 248, 268, 322, 324 f., 327 f., 337, 343, 346, 351, 358, 360 f. Tummers, Anna 184 Tümpel, Christian 181 Turner, William 134 f., 227 f., 355 Valentiner, Wilhelm Reinhold 75, 197 Valerius Maximus 213 f. Vasari, Giorgio 18, 70, 149, 199 f., 220, 240, 246 f., 321–325, 327 ff., 353, 358, 361 Veen, Jaap van der 74 Velázquez, Diego 228, 323, 361

406  

Personenregister

Vermeer 66, 108, 201, 252, 327 Veronese 346 Verspohl, Franz Joachim 350 Veth, Jan 265 Victors, Jan 56, 281 Ville, Jacques de 22 f., 25 Vischer, Friedrich Theodor 308 Vischer, Robert 308, 338 Visscher, Roemer 87–90, 93, 112 f. Vlerick, Pieter 169, 248 Voll, Karl 355 f. Voltaire 339 Vondel, Joost van den 75, 121, 177 f., 225 f. Vos, Anton von 40 Vos, Jan 110, 242, 268 Vossius, Gerhard Johannes 18 f., 124, 352 Vries, Lyckle de 119, 328 Vugt, Simon van 37 Wagner, Monika 133 f. Wang P’o-mo 228 Warburg, Aby 75, 242, 345 Warnke, Martin 199, 352

Watelet, Claude Henri 114 f. Weltzien, Friedrich 229 Weststeijn, Thijs 9, 196 f., 246, 265 f., 335 f. Wetering, Ernst van de 8 f., 16 f., 207 f., 240, 308, 326 Weyerman, Jacob Campo 19, 25 f., 38, 46, 61 f., 113, 162, 178, 232, 238, 249, 357 Wind, Edgar 84 Witt, David de 35, 119 Witz, Konrad 208 Wölfflin, Heinrich 77 f., 308, 336 ff. Wulfhagen, Franz 27 Ycker, Jan van 248 Yonan, Michael 339 Zanotti, Giovanni Pietro 325 Zeeb, Reiner 73 Zeuxis 44, 70, 103, 105, 292 Zick, Januarius 5, 361 Zuccaro, Federico 335

Bi ld nac hweise Bild 1, 2 Sumowski: Gemälde der Rembrandtschüler, Band IV, S. 2364. Bild 3, 4, 5, 6, 9, 11, 23, 31, 41, 53, 56, 73, 74, 173, 187, 195 Ausst. Kat.: Arent de Gelder, S. 204, 205, 221, 141, 171, 203, 198, 175, 201, 231, 247, 145, 191, 133, 155, 195. Bild 7, 10, 14, 15, 16, 21,22, 32, 33, 34, 35, 36, 37, 38, 39, 40, 43, 44, 46, 47, 48, 57, 59, 61, 67, 68, 69, 70, 71, 76a, 76b, 77, 78, 80, 83, 84, 85, 86, 87, 89, 90, 91, 92, 93, 95, 96, 97, 103, 104, 106, 107, 108, 109, 110, 111, 113, 114, 115, 118, 119, 122, 125, 127, 128, 129, 130, 132, 133, 134, 135, 136, 139, 143, 144, 148, 149, 150, 151, 152, 174, 175, 176, 177, 178, 179, 180, 182, 183, 184, 185, 186, 189, 192, 194 Foto des Verfassers. Bild 8 Ella Reitsma: Het leven van de verzamelaar. Simon van Gijn: advocaat, bankier, koopman, Dordrecht 2002, S. 155. Bild 13, 14, 58, 60, 82, 94, 98, 99, 100, 101, 102, 126, 131, 141, 142, 146 Ausst. Kat.: Christopher Paudiß, S. 261, 281, 235, 257, 245, 237, 209, 174, 174, 221, 87, 174, 174, 279 Bild 17, 18, 147 Bikker: Drost, S. 56, 76, 58. Bild 19 Sumowski: Gemälde der Rembradntschüler, Band 3, S. 1756. Bild 20 Ausst. Kat.: De Zicht­ baere Werelt, S. 224 Bild 24, 26, 50, 54, 81, 88, 112, 116, 117, 120, 121, 124, 137, 138, 140, 145, 153, 154, 155, 156, 158, 160, 164, 165, 166, 167, 168, 169, 170, 191 Prometheus Image Archive. Bild 25, 27, 123 Archiv des Verfassers. Bild 28 Ausst. Kat.: Aus Rembrandts Kreis, S. 103. Bild 29 Wölfflin: Kunstgeschichtliche Grundbegriffe, S. 1. Bild 30 Henkel/ Schöne: Emblemata, Sp. 1010 f. Bild 12, 42, 45, 49 Fusenig/Vogt: Bestandskatalog der Gemäldegalerie, S. 128, 104, 105, 104 Bild 51, 66 Weststeijn: The visible world, S. 218, 92. Bild 52 Gerard de Lairesse: Groot Schilderboek, Band 1, S. 55. Bild 55 Kleinert: Atelierdarstellungen, S. 283 Bild 62, 64 Hadjinicolaou: Malerei aus Stein, Steinerne Malerei, S.  161. Bild 63 Niessen: Cornelis van Haarlem, S. 41. Bild 65 Ausst. Kat.: Hans von Aachen, S. 198. Bild 72, 75, 161, 163 Moltke: Arent de Gelder, Farbabbildung IV, XV, Fig. 6, Farbabbildung XXXIX Bild 79 © Dordrechts Museum, mit Dank an Sander Paarlberg. Bild 105 Hadjinicolaou: Malen, Kratzen, Modellieren, S. 257. Bild 157 Esmée Quodbach: The Age of Rembrandt. Dutch Paintings in the Metropolitan Museum of Art, in: The Metropolitan Museum of Art Bulletin, Summer 2007, S. 58. Bild 159 Ausst. Kat.: De Zichtbaere Werelt, S. 233. Bild 162 Bredekamp: Die Fenster der Monade, S. 72. Bild 171 Wayne Franits: The Paintings of Dirck van Baburen, ca. 1592/3–1624. Catalogue Raisonné, Amster­ dam/Philadelphia 2013, S. 266. Bild 172a, 172b Jens Heiner Bauer (Hg.): Daniel Nikolaus Chodowiecki. Das druckgraphische Werk, Hannover 1982, S. 95, Bild 571, 572. Bild 181 Gemäldegalerie Alte Meister Dresden. Die Ausgestellten Werke, Köln 2005, S. 371. Bild 188 Ausst. Kat.: Rembrandt. A Genius and his Impact, S. 63. Bild 190 D.A. Brown: Berenson and the Connoisseurship of Italian Painting, Washington 1979, Bild 7. Bild 193 Ausst. Kat.: Turner – Hugo – Moreau, S. 301. Bild 196 Sam Rohdie: Antonioni, London 1990, S. 177.

Actus et I mago Berliner Schriften für Bildaktforschung und Verkörperungsphilosophie Herausgegeben von Horst Bredekamp und Jürgen Trabant Bilder sind keine Abbilder, sondern erzeugen im Bildakt, was sie darstellen. Sie verfügen über eine handlungsstiftende Kraft und wirken selbst lebendig. Bildkompetenz lässt sich keineswegs ausschließlich aus der traditionell überbewerteten Visualität des Menschen ableiten: Menschen reagieren auch deshalb auf Bilder, weil ihr unbewusstes neurologisches Körperschema, das aus der Integration taktiler, propriozeptiver, vestibulärer, visueller und akustischer Informa­ tio­nen entsteht, durch Bildschemata affiziert wird. Diese neuere Erkenntnis der Kognitionswissenschaften entspricht älteren Vorgaben der Verkörperungsphilosophie, die eine genuine Tradition im europäischen Sprachraum hat. In den Studien der Reihe „Actus et Imago“ wird eine Bild- und Verkörpe­ rungstheorie entwickelt, die in der Lage ist, Bildproduktion, Bildverstehen und Bildakte zu erklären. Im Ausgang vom belebten Leib leisten sie einen Beitrag zum Verständnis des menschlichen Reflexionsvermögens, das sich in ikoni­schen wie sprachlichen Formen und Interaktionen verkörpert.

In der Reihe sind bereits erschienen: Band 1

Sehen und Handeln hrsg. von Horst Bredekamp und John M. Krois ISBN 978-3-05-005090-4

Band II

John Michael Krois. Bildkörper und Körperschema hrsg. von Horst Bredekamp und Marion Lauschke ISBN 978-3-05-005208-3

B a n d I I I Thomas Gilbhard Vicos Denkbild. Studien zur „Dipintura“ der „Scienza Nuova“ und der Lehre vom Ingenium ISBN 978-3-05-005209-0

B a n d I V Stefan Trinks Antike und Avantgarde. Skulptur am Jakobsweg im 11. Jahrhundert: Jaca – León – Santiago ISBN 978-3-05-005695-1

Band V

Das bildnerische Denken: Charles S. Peirce hrsg. von Franz Engel, Moritz Queisner und Tullio Viola ISBN 978-3-05-005696-8

B a n d V I Verkörperungen hrsg. von André L. Blum, John M. Krois und Hans-Jörg Rheinberger ISBN 978-3-05-005699-9

B a n d V I I Das haptische Bild. Körperhafte Bilderfahrung in der Neuzeit hrsg. von Markus Rath, Jörg Trempler und Iris Wenderholm ISBN 978-3-05-005765-1

Band VIII

John Bender und Michael Marrinan Kultur des Diagramms übers. von Veit Friemert

Band IX

Bodies in Action and Symbolic Forms. Zwei Seiten der Verkörperungstheorie hrsg. von Horst Bredekamp, Marion Lauschke und Alex Arteaga



ISBN 978-3-05-006140-5

Band X

Ulrike Feist Sonne, Mond und Venus. Visualisierungen astronomischen Wissens im frühneuzeitlichen Rom



ISBN 978-3-05-006365-2

Band XI

Paragone als Mitstreit hrsg. von Joris van Gastel, Yannis Hadjinicolaou und Markus Rath



ISBN 978-3-05-006425-3

Band XII

Bildakt at the Warburg Institute hrsg. von Sabine Marienberg und Jürgen Trabant



ISBN 978-3-11-036463-7

978-3-05-005765-1

B a n d X I I I Robert Felfe Naturform und bildnerische Prozesse. Elemente einer Wissensgeschichte in der Kunst des 16. und 17. Jahrhunderts

ISBN 978-3-11-036455-2

B a n d X I V Carolin Behrmann Tyrann und Märtyrer. Bild und Ideengeschichte des Rechts um 1600

ISBN 978-3-11-036350-0

B a n d X V Das Entgegenkommende Denken hrsg. von Franz Engel und Sabine Marienberg ISBN 978-3-11-043956-4 B a n d X V I I Andreas Plackinger Violenza. Gewalt als Denkfigur im michelangelesken Kunstdiskurs ISBN 978-3-11-040346-6