Schriften zu Kunsttheorie und Kunstgeschichte / Gesamtausgabe Bd.5: Schriften und Projekte 9783205784586, 3205784588

Band 5 der Gesamtausgabe dokumentiert Camillo Sittes Arbeiten zu Kunsttheorie und Kunstgeschichte. Der Wiener Künstler,

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German Pages 696 [691] Year 2010

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Schriften zu Kunsttheorie und Kunstgeschichte / Gesamtausgabe Bd.5: Schriften und Projekte
 9783205784586, 3205784588

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Camillo Sitte Gesamtausgabe, Band 5

Herausgegeben von

Klaus Semsroth Michael Mönninger Christiane Crasemann Collins

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Camillo Sitte Schriften zu Kunsttheorie und Kunstgeschichte

Einleitung von Robert Stalla Mario Schwarz

Wissenschaftliche Bearbeitung und Kommentierung von Robert Stalla mit einem Beitrag von Mario Schwarz

Böhlau Verlag Wien . Köln . Weimar

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Herausgeber: Klaus Semsroth, Michael Mönninger, Christiane C. Collins Wissenschaftliche Bearbeitung und Kommentierung: Robert Stalla (Schriften zu Kunsttheorie und Kunstgeschichte), Mario Schwarz (Vorträge über Geschichte der Baustyle) Redaktion: Ann Katrin Bäumler, Sonja Hnilica, Bernhard Langer, Andreas Zeese Lektorat: Ann Katrin Bäumler, Sonja Hnilica, Bernhard Langer, Jürgen Lenk, Andreas Zeese Transliterationen: Ruth Hanisch, Birgit Kupka, Petra Widauer, Jürgen Lenk, Mario Schwarz (Vorträge über Geschichte der Baustyle)

Die Arbeit an der Camillo Sitte Gesamtausgabe wurde unterstützt von: FWF – Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung, Jubiläumsfonds der Österreichischen Nationalbank, Technische Universität Wien.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische ­Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-205-78458-6 Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdruckes, der Entnahme von Abbildungen, der Funksendung, der Wiedergabe auf fotomechanischem oder ähnlichem Wege und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. © 2010 by Böhlau Verlag Ges. m. b. H. & Co. KG, Wien · Köln · Weimar http://www.boehlau.at http://www.boehlau.de Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlor- und säurefrei gebleichtem Papier. Druck: Arrabona Print Györ

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Inhaltsverzeichnis

Einleitung Robert Stalla (unter Mitarbeit von Andreas Zeese): „Künstler und Gelehrter“ – Der Universalist Camillo Sitte.

Ein Eitelberger-Schüler im Umfeld der „Wiener Schule für Kunstgeschichte“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .    9

Mario Schwarz: Zu Camillo Sittes „Vorträgen über Geschichte der Baustyle“.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   87 Verwendete Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113

Camillo Sitte – Schriften zu Kunsttheorie und Kunstgeschichte Beobachtungen über bildende Kunst, besonders über Architectur, vom Standpuncte der Perspective (1868).. . . . . . . . . . . . . . . . . 127 Die Perspectivlehre des Pietro degli Franceschi (1879) . . . . . . . . . . . . 143 Vorträge über Geschichte der Baustyle (1883–1884) . . . . . . . . . . . . . 151 Rudolf v. Eitelberger (1885) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 314 Rede am Grabe Eitelberger’s (1885) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321 Die Ornamentik des Islam (1889) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323 Die Schönheit des Armes (1893) .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331 Ein stiller Mann der Wissenschaft (1897) .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341 Über die Bemalung figuraler Plastik im griechischen Alterthume (1898) . 351 Die Moderne in der Architektur und im Kunstgewerbe (1899) . . . . . . . 359 Brief an Ferdinand von Feldegg (1899) .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 366 Über Farbenharmonie (1900) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 370 Topographische Anatomie (ca. 1900/1902) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 422 Inhaltsverzeichnis

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Weltanschauungs-Perioden (1902) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 428 Neue Methode des perspectivischen Construierens (o.J.) . . . . . . . . . . 429 Über den praktischen Wert der Lehre vom goldenen Schnitt (o.J.) .. . . . 435 Autograph, ohne Titel (o.J.) .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 447

Teil I: Über Gesch[ichte] des Persp[ektivischen] Zeichn[en]s – Erste Fassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 449



Teil II: Über Zeichen – Unterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 562



Zettelkonvolut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 660

Anhang Bildnachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 683 Namenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 685 Kurzbiographien der Herausgeber und Autoren . . . . . . . . . . . . . . 695



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Robert Stalla unter Mitarbeit von Andreas Zeese*

„Künstler und Gelehrter“ – Der Universalist Camillo Sitte Ein Eitelberger-Schüler im Umfeld der „Wiener Schule für Kunstgeschichte“

Der internationale Ruhm, den Camillo Sitte (1843–1903) für sein 1889 publiziertes und in mehrere ­Sprachen übersetztes Buch Der Städte-Bau nach seinen künstlerischen Grundsätzen erntete und der u. a. Einladungen zu den Stadtplanungen in Melbourne, Sydney und Adelaide nach sich zog, ist hinlänglich bekannt. Dieser Ruhm überstrahlt bis heute sein nach Anspruch und Umfang deutlich ambitionierteres Buch-Projekt: eine achtbändige, von Sitte selbst in den Zusammenhang mit Herders Ideen zur Philosophie der Geschichte der

*

Mein herzlicher Dank gilt Andreas Zeese, der sich im Zuge der redaktionellen Mitbetreuung des Bandes umfassend in das Thema eingearbeitet hat. Er versorgte mich nicht nur mit Literatur für vorliegenden Beitrag, sondern war mir auch jederzeit ein kompetenter Gesprächspartner, mit dem ich viele der hier vorgestellten Thesen ausführlich diskutieren und teilweise auch entwickeln konnte. Weiterer herzlicher Dank gilt Roswitha Lacina, ehemalige Leiterin des Sitte-Archivs, für Hilfe und Unterstützung.



Sitte, Camillo: Der Städte-Bau nach seinen künstlerischen Grundsätzen. Ein Beitrag zur Lösung modernster Fragen der Architektur und monumentalen Plastik unter besonderer Beziehung auf Wien. Wien: Graeser 1889 (Reprint der 1. Aufl. von 1889 in: Camillo Sitte Gesamtausgabe (im Folgenden CSG), Bd. 3: Der Städtebau nach seinen künstlerischen Grundsätzen. Hg. von Klaus Semsroth, Michael Mönninger und Christiane Crasemann Collins. Wien, Köln u.a.: Böhlau 2003). Hierzu zuletzt besonders: Collins, George R./Collins, Christiane Crasemann: Camillo Sitte: The Birth of Modern City Planning. New York: Rizzoli 1986 (2., überarbeitete Auflage der Erstausgabe Camillo Sitte and the Birth of Modern City Planning. New York: Random House 1965); Wieczorek, Daniel: Camillo Sitte et les débuts de l´urbanisme moderne. Brüssel, Liège: Architecture + Recherches 1981; Ders.: „Camillo Sittes ‚Städtebau‘ in neuer Sicht“, in: Berichte zur Raumforschung und Raumplanung, Bd. 33 (1989), Heft 3–5, S. 35–45; Semsroth, Klaus/Jormakka, Kari/Langer, Bernhard (Hg.): Kunst des Städtebaus. Neue Perspektiven auf Camillo Sitte. Wien, Köln u.a.: Böhlau 2005; Wilhelm, Karin/Jessen-Klingenberg, Detlef: Formationen der Stadt. Camillo Sitte weitergelesen (= Bauwelt Fundamente, Bd. 132). Basel, Boston u.a.: Birkhäuser/Gütersloh, Berlin: Bauverlag 2006.



Koechlin, Heinrich: „Nachruf auf Kamillo Sitte“, in: Österreichische Wochenschrift für den öffentlichen Baudienst, Jg. 10 (1904), S. 97. „Künstler und Gelehrter“ – Der Universalist Camillo Sitte

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Menschheit gerückte, kulturphilosophische Universalgeschichte, die infolge seines plötzlichen Todes 1903 unvollendet blieb. Sie liefert den Hintergrund und größeren Kontext der hier teilweise erstmals publizierten „Schriften zur Kunsttheorie und Kunstgeschichte“ Camillo Sittes – von den Zeitgenossen als „Künstler und Gelehrter“, als „Polyhistor“ und Universalist geehrt und mit mehreren Preisen ausgezeichnet.

Der Stellenwert des Wiener Gelehrten für die Kunstgeschichte ist bis

heute unzureichend geklärt. Die amerikanischen Architekturhistoriker George ­Collins und Christiane Crasemann Collins und der französische Germa­ nist Daniel Wieczorek waren die ersten, die in ihren – im Zuge der Postmoderne-Debatte entstandenen – Untersuchungen zu Sitte das breite Spektrum seiner geistes- und naturwissenschaftlichen Forschungsinteressen auszuloten



Das Konzept seiner Universalgeschichte ist ausgeführt in Sitte, Camillo: „Brief an Ferdinand von Feldegg (1899)“, S. 366–369 in diesem Bd. Zu Sittes achtbändiger Universalgeschichte siehe unten S. 64–68.



In einem Nachruf auf Camillo Sitte heißt es beispielsweise: Der „Polyhistor […] beherrschte die verschiedensten Zweige menschlichen Wissens. Unterstützt durch eine großartige, viele hunderte von Kartons umfassende Exzerptensammlung erstreckten sich seine Studien auf Philosophie, Prähistorie, Ornamentik, Perspektive, Kunstgeschichte, Archaeologie, Physiologie, Musiktheorie und Anatomie. Überall war er zu Hause, überall beherrschte er die Literatur, über alles hatte er ganz eigenartige interessante Theorien aufgestellt“ (N.N.: „Nachruf auf Camillo Sitte“, in: Jahresbericht der Baugewerbeschule Schellinggasse. 1903– 1904. Wien: Verlag der kaiserl.-königl. Staats-Gewerbeschule 1904; zitiert nach Reiterer, Gabriele: AugenSinn. Zu Raum und Wahrnehmung in Camillo Sittes Städtebau. Salzburg, München: Pustet 2003, S. 27). Zu den zeitgenössischen Würdigungen siehe besonders die weiteren Nachrufe: N.N.: „Kamillo Sitte gestorben“, in: Neues Wiener Tagblatt, 16. November 1903; Bayer, Josef: „Ein Vermächtnis Camillo Sittes“, in: Neues Wiener Tagblatt, 28. Januar 1903; Koch, Julius: „Kamillo Sitte“, in: Zeitschrift des Österreichischen Ingenieur- und Architekten-Vereines, Jg. 55 (1903), Heft 50, S. 671; Hooker, Georges Ellsworth: „Camillo Sitte, City Builder“, in: Chicago Record Herald, 15. Januar 1904; siehe ebenso: Feldegg, Ferdinand von: „Kamillo Sitte. Gedenkrede zum 80. Geburtstage. Gehalten im Festsaale des ‚Österr. Ingenieur- und Architekten-Vereines‘ am 15. April“, in: Zeitschrift des Österreichischen Ingenieur- und Architekten-Vereines, Jg. 75 (1923), S. 125–127; Sitte, Heinrich: „Camillo Sitte. 1843–1903“, in: Neue Österreichische Biographie 1815–1918, Abt. 1, Bd. 6. Zürich, Leipzig u.a.: Almathea 1929, S. 132–149.



Sitte, noch während seiner Zeit als Staatsgewerbeschullehrer in Salzburg zum Juror der Pariser Weltausstellung berufen, wurde 1878 Offizier der Académie française und im Jahr 1879 Mitglied der k. k. Zentralkommission für Kunst- und historische Denkmale. 1897 erhielt er den Orden der Eisernen Krone III. Klasse, 1901 den päpstlichen Gregor-Orden; vgl. Koechlin 1904 (s. Anm. 2), S. 97.

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1  Camillo Sitte (1843−1903), Fotografie (Würthl und Spinnhirn, o.J.)

„Künstler und Gelehrter“ – Der Universalist Camillo Sitte

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begannen. Doch erst Michael Mönninger gab in seiner richtungsweisenden Untersuchung zur Kunst- und Architekturtheorie Sittes (1998) dem Künstler, Architekten, Gewerbeschullehrer, Schriftsteller und Gelehrten scharfe Konturen. Mit seinem Versuch einer systematischen Auswertung des imposanten schriftlichen Nachlasses, der 150 – teils unpublizierte – Abhandlungen, Kritiken und Essays umfasst, lenkte Mönninger den Blick auf Sittes weit gespannten geistigen Horizont. Sittes Schriften zu Architektur, Malerei und Plastik, Kunsthandwerk, Zeichenkunst und Bühnenbild, zu Physiologie, Anatomie, Musik, Schulwesen, Pädagogik u. v. m., die den zeitlichen Bogen von der Antike bis zu aktuellen Fragen der Gegenwart spannen, ließen erkennen, dass er „nahezu alle wissenschaftlichen und geistigen Strömungen des ausgehenden 19. Jahrhunderts“ bündelte. Zugleich lässt sein breiter kulturgeschichtlicher Ansatz, in dem beispielsweise evolutionsbiologische und wahrnehmungstheoretische Fragen mit solchen nach Perspektive, Proportion und Farbe gekoppelt und auf ihre Relevanz für die Kunst und Pädagogik des Fin de siècle hinterfragt werden, Sitte als „Ahne“ heutiger Kunsttheorien erscheinen. Unangefochten von der Erkenntnis der Modernitätsskepsis Sittes sowie den kontrovers beantworteten Fragen nach dem wissenschaftlichen Anspruch und Rang seiner Schriften, herrscht in der – jüngst von Gabriele Reiterer (2003), dem Sitte-Symposium (2004) und Karin Wilhelm und Detlef Jessen-Klingenberg (2006) erweiterten – Forschungsliteratur10 jedoch Einigkeit hinsichtlich der „Sittes Gedankengebäude“ zugrunde liegenden „Eckpfeiler“: mit unterschiedlichen Gewichtungen werden bis heute die „vier Zentralfiguren des 19. Jahrhunderts“ – Richard Wagner, Gottfried Semper, Charles Darwin und Hermann von Helmholtz – in Anspruch genommen und deren Bedeutung für Sitte ausführlich dargelegt.11   Wieczorek 1981 (s. Anm. 1); Collins/Collins 1986 (s. Anm. 1).   Mönninger, Michael: Vom Ornament zum Nationalkunstwerk. Zur Kunst- und Architekturtheorie Camillo Sittes. Braunschweig, Wiesbaden: Vieweg 1998.   Mönninger, Michael: „Leben und Werk Camillo Sittes“, in: Camillo Sitte Gesamtausgabe (= CSG), Bd. 1: Schriften zu Kunstkritik und Kunstgewerbe. Hg. von Klaus Semsroth, Michael Mönninger und Christiane Crasemann Collins. Wien, Köln u.a.: Böhlau 2008, S. 28.   Mönninger 1998 (s. Anm. 7), S. 17. 10 Reiterer 2003 (s. Anm. 4); Semsroth/Jormakka/Langer 2005 (s. Anm. 1); Wilhelm/JessenKlingenberg 2006 (s. Anm. 1). 11 Mönninger 1998 (s. Anm. 7), S. 11–12; ebenso: Ders.: „Naturdenken und Kunstgeschichte. Camillo Sitte und die ästhetische Theorie im 19. Jahrhundert“, in: Semsroth/Jormakka/ Langer 2005 (s. Anm. 1), S. 27–45; zuletzt Mönninger „Leben und Werk Sittes (2008)“ (s. Anm. 8), S. 2.

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Ausgehend von neuen Forschungsergebnissen zu Sittes Studienjahren so-

wie der Analyse seiner in diesem Band unter dem Titel „Kunsttheorie und Kunstgeschichte“ zusammengefassten, großteils unpublizierten Schriften, soll im Folgenden dieser Quadriga ein weiterer „Eckpfeiler“ hinzugefügt werden: Rudolph Eitelberger von Edelberg (1819–1885) – erster Lehrstuhlinhaber für „Kunstgeschichte und Kunstarchäologie“ der Universität Wien, Gründer des Österreichischen Museums für Kunst und Industrie und der Kunstgewerbeschule, Reformer der Wiener Akademie der bildenden Künste, Herausgeber erstrangiger Fachorgane, einflussreicher Fachpublizist und Organisator des „Ersten internationalen Kunsthistorikerkongresses“.12 Er muss als Spiritus rector für Sittes intellektuelle Genese betrachtet werden. Zwar wurde Eitelbergers Einfluss auf Sitte aufgrund der wenigen bisher bekannten Fakten zu ihrem Lehrer-Schüler-Verhältnis mehrfach konstatiert, blieb aber in der Literatur bis heute unerforscht.13

Neue Erkenntnisse zum Verhältnis von Eitelberger und Sitte rücken

erstmals dessen prägende Jahre im direkten Umfeld des Österreichischen ­Museums und der Quellenschriften für Kunstgeschichte in den Brennpunkt. Zugleich verleihen sie Sittes bisher zu wenig beachteten Wiener Wurzeln besonderes Gewicht, die dem jungen Gelehrten erst den internationalen Kontext erschlossen. Sein – direkt auf Eitelberger fußendes – Fachverständnis eröffnet ferner neue Perspektiven für die Analyse seiner Schriften, die es nach inhaltlichen Schwerpunkten, methodischen Ansätzen und fachlichen Ambitionen neu zu gewichten gilt. Schließlich soll – ausgehend von Sittes hier erstmals nachgewiesenen umfassenden kunsthistorischen Studien – der bisher nicht beantworteten Frage nach seinem Verhältnis zur sogenannten Wiener Schule für Kunstgeschichte nachgegangen werden, die schon durch seinen Lehrer ­Eitelberger – ihrem „Ahnherrn“14 – nahegelegt ist. Die Einbeziehung von Sittes Kollegen Moriz Thausing und seinem Freund Albert Ilg in die Untersuchung gewährt nicht nur Einblick in die von der Kontroverse ­zwischen

12 Zu Eitelbergers Einfluss und Ämterbündelung siehe Fliedl, Gottfried: Kunst und Lehre am Beginn der Moderne. Die Wiener Kunstgewerbeschule 1867–1918. Salzburg, Wien: Residenz-Verlag 1986, S. 58–66; ebenso Schlosser, Julius von: Die Wiener Schule der Kunstgeschichte. Rückblick auf ein Säkulum deutscher Gelehrtenarbeit in Österreich (= Mitteilungen des Österreichischen Instituts für Geschichtsforschung, Ergänzungsbd. 13, Heft 2). Innsbruck: Wagner 1934, S. 155–159. 13 Mönninger 1998 (s. Anm. 7), S. 157–158; Reiterer 2003 (s. Anm. 4), S. 23–24; Wilhelm/­ Jessen-Klingenberg 2006 (s. Anm. 1), S. 27, 29, 31. 14 Schlosser 1934 (s. Anm. 12), S. 155. „Künstler und Gelehrter“ – Der Universalist Camillo Sitte

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­Universalisten und Spezialisten geprägte Fachgenese in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts, sondern gibt auch Sittes intellektueller Biographie ein klares Profil, das zugleich Fragen nach seiner heutigen Bedeutung aufwirft.

Sitte, Eitelberger, die Vorlesungen am Österreichischen Museum für Kunst und Industrie und die Quellenschriften für Kunstgeschichte Sittes Studienjahre am Polytechnischen Institut in Wien sind hinlänglich bekannt und seien hier nur kurz memoriert: 1863–66 absolvierte der Architektensohn an der „technischen Abteilung […] die obligaten Jahresprüfungen“15 in den diversen naturwissenschaftlichen Fächern. Ab 1866/67 besuchte er die dortige Bauschule, die er nach zwei Jahren verließ, weil sie – wie Sitte schreibt – „mir in der Tat nichts mehr zu bieten vermochte“.

Sittes kunstgeschichtliche Studien bei Eitelberger Die Verbindung mit Eitelberger (Abb. 2), den Sitte zeitlebens hoch verehrte16 und dessen Grabrede er 1885 hielt sowie seinen Nekrolog verfasste,17 reicht ebenfalls bis zum Beginn seines Studiums zurück. Denn parallel zum Polytechnikum besuchte er ab 1863 für elf Semester zunächst als außerordentlicher, ein Jahr später bereits als ordentlicher Hörer auch „zahlreiche Collegien an der philosophischen Fakultät“ der Universität Wien.18 „Während dieser Zeit“

15 Dieses und nachfolgendes Zitat aus Camillo Sittes „Curriculum vitae (o.J.)“, das 1979 von Roswitha Lacina im Haus-, Hof- und Staatsarchiv Wien (ad 121510 ex 74) aufgefunden wurde. Zitate aus dem undatierten Lebenslauf Sittes erstmals bei: Wilhelm, Karin: „Städtebautheorie als Kulturtheorie – Camillo Sittes ‚Der Städtebau nach seinen künstlerischen Grundsätzen‘“, in: Musner, Lutz/Wunberg, Gotthart/Lutter, Christina (Hg.): Cultural Turn. Zur Geschichte der Kulturwissenschaften. Wien: Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur 2001, S. 97. 16 Siehe hierzu beispielsweise Camillo Sittes Brief an Rudolph Eitelberger vom 1. Februar 1882, in dem es heißt: „[…] die öffentliche Anerkennung als Ihr Schüler. Das ist mir mehr, als wenn ich plötzlich mit einem Dutzend Ehrendiplomen aller möglichen Akademien überrascht worden wäre“ (Handschriftensammlung der Wienbibliothek im Rathaus (vormals Wiener Stadt- und Landesbibliothek), Inv.-Nr. 21.773; zitiert nach Mönninger „Leben und Werk Sittes (2008)“ (s. Anm. 8), S. 7, Anm. 22). 17 Sitte, Camillo: „Rede am Grabe Eitelberger’s (1885)“, S. 321f. in diesem Bd.; Ders.: „Rudolf v. Eitelberger (1885)“, S. 314–320 in diesem Bd. 18 Siehe hierzu und zum Folgenden: Sitte „Curriculum vitae (o.J.)“ (s. Anm. 15).

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2  Rudolph Eitelberger von Edelberg (1819–1885), Fotografie (unbekannt, o.J.)

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– so Sitte – „hörte ich fast alle kunstgeschichtlichen Fächer, ferner noch historische, ästhetische, philosophische, naturwissenschaftliche, physikalische und mathematische Gegenstände“. Am 7. November 1865 prüfte ihn Eitelberger in einem „Colloquium […] über Kunstgeschichte und Kunstarchäologie“. Eitelberger, seit den 1850er Jahren zur „ersten und einzig kompetenten kunsthistorischen Instanz in Österreich“ avanciert,19 hatte nach anfänglichen Studien von Jura und klassischer Philologie seine eigene kunsthistorische Laufbahn in den 1840er Jahren im Umfeld des prominenten Kunstsammlers Joseph Daniel Böhm begonnen, dessen Haus den Mittelpunkt der damaligen „Kunstgelehrtenwelt“ Wiens bildete.20 Ab 1847 profilierte er sich an der Universität, der Akademie und am Polytechnikum mit Vorlesungen über „Theorie und Geschichte der bildenden Künste“, bis er 1852 eine außerordentliche, 1864 eine ordentliche Professur für „Kunstgeschichte und Kunstarchäologie“ an der Universität Wien erhielt.21 Dies war die erste Lehrkanzel für Kunstgeschichte in Österreich und – nach Berlin – die zweite bedeutende im deutschsprachigen Raum.22 Eitelbergers Berufung markiert zugleich einen Paradigmenwechsel: die erstmalige Anerkennung der – bis zu diesem Zeitpunkt als Teil der Ästhetik gelehrten – Kunstgeschichte als eigenständiges Universitätsfach.23 19 Zu dieser in der Öffentlichkeit anerkannten Selbsteinschätzung Eitelbergers siehe Lachnit, Edwin: Die Wiener Schule der Kunstgeschichte und die Kunst ihrer Zeit. Zum Verständnis von Methode und Forschungsgegenstand am Beginn der Moderne. Wien, Köln u.a.: Böhlau 2005, S. 18. 20 Siehe hierzu Dobslaw, Andreas: Die Wiener „Quellenschriften“ und ihr Herausgeber Rudolf Eitelberger von Edelberg (= Stalla, Robert/Wehdorn, Manfred (Hg.): Wiener Schriften zur Kunstgeschichte und Denkmalpflege, Bd. 1). München, Berlin: Deutscher Kunstverlag 2009, S. 30ff.; Dobslaws Publikation basiert auf der gleichnamigen Magisterarbeit, die 1998 am Institut für Kunstgeschichte der LMU München abgeschlossen wurde (im Folgenden: Dobslaw 1998). Ich danke Herrn Dobslaw herzlich für die Einsichtnahme in sein Manuskript. Siehe zudem Eitelberger von Edelberg, Rudolph: „Josef Daniel Böhm“, in: Ders.: Gesammelte kunsthistorische Schriften, Bd. 1: Kunst und Künstler Wiens der neueren Zeit. Wien: Braumüller 1879, S. 198. 21 Hierzu insbesondere: Schlosser 1934 (s. Anm. 12), bes. S. 155; Fliedl 1986 (s. Anm. 12), bes. S. 58–61; Lachnit 2005 (s. Anm. 19), bes. S. 17f.; Dobslaw 2009 (s. Anm. 20), S. 29ff. 22 Schlosser 1934 (s. Anm. 12), S. 155; Kultermann, Udo: Geschichte der Kunstgeschichte. Der Weg einer Wissenschaft. Frankfurt/M., Berlin u.a.: Ullstein 1981, S. 281. 23 Siehe hierzu vor allem Fliedl 1986 (s. Anm. 12), S. 58–66, bes. S. 60f. In dem Zusammenhang bedeutsam war auch Anton Springers Berufung auf den Lehrstuhl nach Bonn. Hierzu Beyrodt, Wolfgang: „Kunstgeschichte als Universitätsfach“, in: Ganz, Peter/Gosebruch, Martin u. a. (Hg.): Kunst und Kunsttheorie 1400–1900 (= Wolfenbütteler Forschungen, Bd. 48). Wiesbaden: Harrassowitz 1991, S. 318–321.

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Ab 1863 wurde Sitte in Eitelbergers kunstgeschichtlichen Collegien mit

einer breiten Fachpalette vertraut: u. a. mit der „Geschichte der Malerei seit Constantin des Grossen bis auf unsere Tage“ (1863/64), mit der „Lehre vom Style, mit besonderer Rücksicht auf die Architektur“ (1864), der „Geschichte der modernen Kunst vom Anfange des XII. Jahrhunderts bis auf unsere Tage“ (1864/65), der „Kunstliteratur und Terminologie der Kunst“ (1865/66) und mit „Leonardo da Vinci, Rafael und MichelAngelo“ (1865/66).24 Im Zentrum des – teilweise vor den Originalen im Museum abgehaltenen – Unterrichts standen, wie von Minister Graf Leo Thun-Hohenstein gefordert und bereits im privaten Kunstzirkel Joseph Daniel Böhms praktiziert,25 „das Ausgehen von der Individualität des Einzelkunstwerks und seiner Autopsie“ und der anschließende „Aufstieg zu allgemeineren Gesetzlichkeiten der historischen Entwicklung“.26 1868/69 hörte Sitte bei Eitelberger „Über die Quellenschriften zur Kunstgeschichte“.27

Sittes umfassendes kunsthistorisches Studium schuf die Voraussetzungen

für seine eigene kunsthistorische Lehrtätigkeit, die der 25-Jährige noch im Studienjahr 1868/69 aufnahm. In den obersten Klassen verschiedener Wiener Mädcheninstitute und Gymnasien hielt er für mehrere Jahre – eigenen Angaben zufolge – „Vorlesungen [… über] allgemeine Kunstgeschichte von der ältesten bis auf die neueste Zeit“, „Kunstgeschichte des Alterthums und Mittelalters“ und „neuere Kunstgeschichte“.28 1869 begann er – dem Vorbild 24 Vgl. hierzu die Vorlesungsverzeichnisse ab 1863. Siehe die entsprechenden Jahrgänge von Öffentliche Vorlesungen an der k. k. Universität Wien. Hg. vom Rektorat der Universität Wien. Wien: Holzhausen 1863–1868. 25 Vgl. hierzu den „allerunterthänigste[n] Vortrag“ des Ministers für Cultus und Unterricht vom 9. November 1852 (Österreichisches Staatsarchiv Wien, Allgemeines Verwaltungsarchiv, Ministerium des Cultus und Unterrichtes, Fasz. 634, Akt 11742 ex 1852; zitiert nach: Höflechner, Walter/Brugger, Christian: „Zur Etablierung der Kunstgeschichte an den Universitäten in Wien, Prag und Innsbruck. Samt einem Ausblick auf ihre Geschichte bis 1938“, in: Höflechner, Walter/Pochat, Götz (Hg.): 100 Jahre Kunstgeschichte an der Universität Graz. Mit einem Ausblick auf die Geschichte des Faches an den deutschsprachigen österreichischen Universitäten bis in das Jahr 1938 (= Publikationen aus dem Archiv der Universität Graz, Bd. 26). Graz 1992, S. 13–16); ebenso: Dobslaw 2009 (s. Anm. 20), S. 30. 26 Schlosser 1934 (s. Anm. 12), S. 147. 27 Siehe hierzu unten S. 34ff.; ebenso: Kraus, Franz Xaver: Über das Studium der Kunstwissenschaft an den deutschen Hochschulen. Straßburg, London: Trübner 1874, S. 23–24. 28 Hierzu und zum Folgenden: Sitte „Curriculum vitae o.J.“ (s. Anm. 15). Demzufolge unterrichtete Sitte im Mädcheninstitut von Fr. M. Luithlen am Bauernmarkt, am k. k. akademischen Gymnasium, im Erziehungsinstitut von Frl. N. Lederer, Singerstraße. Weiter heißt es: „Öffentliche Vorträge hielt ich: im Winter 1871 am Institute des Frl. Hanausek, „Künstler und Gelehrter“ – Der Universalist Camillo Sitte

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­seines Lehrers folgend – seine publizistische Tätigkeit, zunächst mit „kleinen Besprechungen verschiedener künstlerischer Angelegenheiten“; ab 1871 hielt er – neben Zeichenunterricht, künstlerischen Arbeiten und architektonischen Entwürfen – öffentliche Vorträge.

Die prägende Phase: die Vorlesungen am Österreichischen Museum für Kunst und Industrie Noch während seines Studiums am Polytechnischen Institut und an der Universität sowie seiner ersten beruflichen Erfahrungen setzte Mitte der 1860er Jahre Sittes prägende Phase seiner Laufbahn ein, die aufs Engste mit Eitelberger verbunden blieb und in der die Weichenstellungen für sein späteres Tätigkeitsfeld gelegt wurden. „Die Antriebe zu fortgesetzten historischen und theoretischen Studien“ – so Sitte selbst im Rückblick – „bildeten viele der unzähligen, frischen Impulse, welche gegenwärtig durch Gründung des k. k. österreichischen Museums für Kunst und Industrie und durch die Herausgabe der Quellenschriften zur Kunstgeschichte angefangen haben, alle Zweige künstlerischer Thätigkeit anzuregen und zu beleben“.29

Diese „unzähligen, frischen Impulse“, die in der bisherigen Forschung un-

beachtet blieben, lagen besonders im breit angelegten, interdisziplinären Lehrangebot des Österreichischen Museums, der damit verbundenen Kontaktmöglichkeit mit bedeutenden Gelehrten sowie den zentralen Anregungen zu Literaturstudium, Fragestellungen und Themenfeldern. Der dortige Diskurs über den neuen Stellenwert des Kunstgewerbes prägte nicht nur ­Sittes späteres Berufsverständnis als Staatsgewerbeschullehrer in Salzburg (ab 1875) und Wien (ab 1883). In diesem Umfeld liegen auch die Wurzeln für sein – von Eitelberger übernommenes – Renaissance-Ideal, das er selbst nach dem Vorbild des „uomo universale“ auf vielfältige Weise einzulösen versuchte. Hier fand er ferner den Großteil seiner späteren Forschungsthemen, die er teilweise zeitlebens verfolgte. Hier entwickelte er schließlich neben der prinzipiellen pädagogischen Ausrichtung seiner Arbeiten auch jenen – von ihm selbst benannten – methodischen Ansatz der „Betrachtung künstlerischer Formen vom physiologischen Standpunkt aus“,30 der später sein berühmtes

Lobkowitz­platz; ferner im Vereine Mittelschule als ordentliches Mitglied desselben; und im Winter 1874 im grünen Saal der k. k. Akademie zum Besten des Schillervereines ‚Glocke‘.“ 29 Siehe Sitte „Curriculum vitae (o.J.)“ (s. Anm. 15). 30 Ebd.

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3  Wien, Ballhaus, Ausstellungs- und Vortragssaal des Österreichischen Museums für Kunst und Industrie (Vinzenz Katzler, 1865)

Städtebau-Buch ebenso wie weite Teile seiner anderen wissenschaftlichen Untersuchungen prägen sollte.

Das auf Eitelbergers Betreiben gegründete k. k. Österreichische Museum

für Kunst und Industrie (heute Österreichisches Museum für angewandte Kunst in Wien, MAK), nach dem Vorbild des South-Kensington-Museums (heute Victoria and Albert Museum) in London konzipiert, war die erste kunstgewerbliche Lehranstalt auf dem Kontinent.31 Sie wurde am 12. Mai 1864 unter Eitelbergers Direktorat im Ballhaus, das von Heinrich von Ferstel adaptiert und mit umfangreichen Leihgaben aus den Sammlungen des Hofes, der öffentlichen Museen und Anstalten sowie Neuerwerbungen eingerichtet worden war, eröffnet (Abb. 3).32 Ihre Hauptaufgabe bestand laut §1 der

31 Vgl. hierzu: Eitelberger von Edelberg, Rudolph: „Die Gründung des österreichischen Museums (Erinnerungen aus der Zeit vom Juni 1862 bis 20. Mai 1864)“, in: Ders.: Gesammelte kunsthistorische Schriften, Bd. 2: Österreichische Kunst-Institute und kunstgewerbliche Zeitfragen. Wien: Braumüller 1879, S. 81–117; siehe ebenso Fliedl 1986 (s. Anm. 12), S. 67–77; Pokorny-Nagel, Kathrin: „Zur Gründungsgeschichte des k. k. Österreichischen Museums für Kunst und Industrie“, in: Noever, Peter (Hg.): Kunst und Industrie. Die Anfänge des Museums für angewandte Kunst in Wien. Wien, Ostfildern-Ruit: Hatje-Cantz 2000, S. 52–89. 32 Fliedl 1986 (s. Anm. 12), S. 71. „Künstler und Gelehrter“ – Der Universalist Camillo Sitte

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Statuten darin, „durch Herbeischaffung der Hilfsmittel, welche Kunst und Wissenschaft den Kunstgewerben bieten, und durch Ermöglichung der leichteren Benützung derselben die kunstgewerbliche Thätigkeit zu fördern“.33 Die ebenfalls in den Statuten verankerten und gleichfalls nach dem Vorbild des South-Kensington-Museums veranstalteten Vorlesungen34 bildeten den wesentlichsten Bestandteil des Bildungsprogramms des Museums, das von Eitelberger zugleich als „Anschauungsunterricht für Kunst“, als Instrument der „Volks- und Geschmacksbildung“ sowie als Bestandteil der Unabhängigkeitsbestrebungen der österreichischen Industrie begriffen wurde.35

Das im Oktober 1864 gestartete Vorlesungsprogramm36 entwickelte sich in-

nerhalb weniger Monate zu einer kulturpolitisch wie volkspädagogisch erstrangigen Einrichtung der Stadt. Vergleichbar dem Museum, das 1865 mit knapp 120 000 Besuchern alle Erwartungen übertraf, und dem Museumskatalog, der reißenden Absatz fand,37 stießen auch die dem „Publicum unentgeltlich“ zugänglichen Vorlesungen am Donnerstag-, später am Sonntag-Abend auf größte Resonanz. Künstler, Kunstgewerbetreibende, Kunstgeschichtsstudenten und kunstinteressierte Laien drängten sich seit Anbeginn in dem zunächst auf 300 Personen beschränkten Saal im Museum,38 der schon nach kurzem zumeist nur mit tags zuvor ausgegebenen Platzkarten zugänglich war.39 Die Ankündigungen erfolgten über Aushang40 bzw. in den von Eitelberger gegründeten und seit Oktober 1865 monatlich erscheinenden Mittheilungen des k. k. Österreichischen Museums für Kunst und Industrie41 – einem der wichtigsten kunstgewerblichen Fachblätter des 19. Jahrhunderts, in dem teilweise auch Zusammenfassungen

33 Ebd., S. 77. 34 Mittheilungen des k. k. Österreichischen Museums für Kunst und Industrie, Bd. I (1865– 1867), Heft 14, S. 231. 35 Fliedl 1986 (s. Anm. 12), S. 72, Anm. 23, 24 sowie S. 73, Anm. 25; hierzu ebenso: Nebel, Elfriede: Die kunstpädagogischen Ideen, Theorien und Leistungen Rudolf von Eitelbergers. Wien: Univ., Diss. 1980. 36 Punktuelle Hinweise auf das Vorlesungsprogramm mit einem summarischen Überblick von 1864–1910 finden sich bei Fabiankowitsch, Gabriele: „Das Vermittlungsprogramm des k. k. Österreichischen Museums für Kunst und Industrie“, in: Noever 2000 (s. Anm. 31), S. 184–192. 37 Ebd., S. 177. 38 Einige der Vorlesungen wurden auch am Polytechnischen Institut Wien abgehalten. 39 Fabiankowitsch 2000 (s. Anm. 36), S. 184. 40 Ebd. 41 Siehe Anm. 34. Die Mittheilungen des k. k. Österreichischen Museums für Kunst und Industrie (in der Folge abgekürzt: Mittheilungen) erschienen ab 15. Oktober 1865 im Selbstverlag des Museums in Wien.

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4  Ankündigung der Vorlesungen im Österreichischen Museum, Winterhalbjahr 1867/68, in: „Mittheilungen des k. k. Österreichischen Museums für Kunst und Industrie“, 1867

der Vorlesungen abgedruckt wurden. Das breite Fächerspektrum und die prominenten Redner aus Kunst, Architektur, Geschichte, Technik, Natur- und Wirtschaftswissenschaft, Medizin usw. eröffneten Sitte neue Perspektiven.

Die kleine Auswahl der Vorlesungsthemen (Abb. 4), die bis 1875 – Sittes

Weggang nach Salzburg – auf Basis der Mittheilungen ausgewertet wurden, ist unten nach denjenigen Themengruppen geordnet, die hinsichtlich der hier in zeitlicher Chronologie wiedergegebenen Schriften Sittes von besonderer Relevanz und Aussagekraft sind.

Heinrich von Ferstels Vorlesung „Über Perspective“ (Abb. 5), seit 1865 im

Programm und beim Publikum besonders beliebt, darf nach Inhalt, Schwerpunkten, Quellenapparat und Zielsetzung als Basis für Sittes diverse Untersuchungen zur Perspektive – u. a. seine bisher unpublizierte, im vorliegenden Band erstmals abgedruckte „Geschichte des Perspectivischen Zeichnens“42 – angesehen werden. Ferstel, den Sitte bereits vom Architekturstudium kannte,43 führte in acht Doppelstunden aus, „dass die Kenntniss der Perspec-

42 Siehe unten das Kapitel „Das sogenannte große Autograph: ‚Über Geschichte des perspectivischen Zeichnens‘ und ‚Über Zeichen – Unterricht‘“, S. 47ff. 43 Sitte belegte das letzte Jahr seines Studiums am Wiener Polytechnikum bei Heinrich von Ferstel; vgl. Reiterer 2003 (s. Anm. 4), S. 23. „Künstler und Gelehrter“ – Der Universalist Camillo Sitte

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5  Bericht über Heinrich von Ferstels Vorlesung über „Perspective“, in: „Mittheilungen des k. k. ­Österreichischen Museums für Kunst und Industrie“, 1865

tive als eine der Grundlagen aller zeichnenden Künste zu betrachten sei […, was er] durch eine übersichtliche Darstellung der Entwicklungsgeschichte der Kunst ins Klare setzte“.44 Wie später auch Sitte spannte er den großen historischen Bogen von der Antike über das Mittelalter (Roger Bacon und Dante Alighieri) bis zur wissenschaftlichen Erforschung in der Renaissance (Leon Battista Alberti, Piero della Francesca, Leonardo da Vinci, Luca Pacioli und besonders Albrecht Dürer) und weiter zur darstellenden Geometrie von Gaspard Monge; erklärte, ausgehend von der „Construction des Auges“, die 44 Hierzu und zum Folgenden: Mittheilungen, Bd. I (1865–1867), Heft 2, S. 28–29.

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Begriffe des „Sehwinkels“ und des „Gesichtskreises“ sowie die „Gesetze des Sehens“ und betonte den Stellenwert der Perspektivlehre im elementaren Zeichenunterricht der Gegenwart.45 Seine eigenen Ergebnisse präsentierte Sitte 1903 – in seinem Todesjahr – vor gleichem Forum unter dem Titel „Geschichte des perspectivischen Zeichnens“,46 was eine Einordnung des undatierten Manuskripts in seine letzten Lebensjahre nahe legt.

Ein besonderer Stellenwert in Sittes späterem Streben nach breitester

kulturwissenschaftlicher Fundierung seiner Arbeiten muss aber den Vorlesungen über Physiologie, Optik und Farbenlehre zugewiesen werden. Bereits im Januar 1865 begann Anton Schrötter von Kristelli – Professor am Polytechnischen Institut für Chemie und Physik in Wien und Generalsekretär der Akademie der Wissenschaften – mit Vorlesungen über „Optik und Farbenlehre“.47 Ein Jahr später erhielt dieses Thema Aktualität durch Ernst ­Brückes soeben erschienene Physiologie der Farben für die Zwecke der Kunstgewerbe.48 ­ Brückes Erkenntnisse wurden ab 1867 in den Vorlesungen von Dr. Czerny „mit all jenen Experimenten [erläutert], die vielleicht nöthig sein könnten, um weiteren Kreisen das Verständniss des Buches zu erleichtern“.49 Hierbei zielte Czerny – gestützt auf die bedeutendsten Gewährsmänner wie ­Chevreul, Goethe, Helmholtz, Maxwell, J. Müller, Newton, Pettenkofer und Young – u. a. auf die „physikalisch-physiologischen Vorgänge [… beim] Zustandekommen der Farbenempfindungen“ und die „Grundzüge einer physiologisch begründeten Aesthetik der Farben“.50

45 Dies untermauerte Ferstel neben Hinweisen auf diverse Lehrbücher u. a. mit einem „perspectivische[n] Zeichen-Apparat von Dr. Hillardt, welcher auf Grundlage des von Dürer angegebenen mechanischen Verfahrens construirt ist“ (Mittheilungen, Bd. I (1865–1867), Heft 4, S. 49–53, Zitat S. 51). 46 Fabiankowitsch 2000 (s. Anm. 36), S. 186. 47 Ebd., S. 185. Schrötter, ein renommierter Organisator in Industrie und Wissenschaft, der 1868 Direktor des Hauptmünzamts wurde und auch als Berater bei mehreren Expeditionen tätig war, gilt als Erstbeschreiber des roten Phosphor, womit er für die Zündholzindustrie neue Grundlagen schuf. 48 Brücke, Ernst Wilhelm Ritter von: Die Physiologie der Farben für die Zwecke der Kunstgewerbe auf Anregung der Direction des kais. österr. Museums für Kunst und Industrie bearbeitet. Mit 30 Holzschnitten. Leipzig: Hirzel 1866 (2., verm. und verb. Auflage Leipzig: Hirzel 1887). 49 Die Inhalte dieser Vorlesung sind zusammengefasst in: Mittheilungen, Bd. I (1865–1867), Heft 20, S. 340–345 und Mittheilungen, Bd. I (1865–1867), Heft 21, S. 359–361; Zitat: Mittheilungen, Bd. I (1865–1867), Heft 10, S. 148. 50 Mittheilungen, Bd. I (1865–1867), Heft 20, S. 340. „Künstler und Gelehrter“ – Der Universalist Camillo Sitte

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Brückes Physiologie ist in engster Verbindung mit dem Österreichischen Mu-

seum entstanden (Abb. 6). Initiiert durch Eitelberger,51 war die Schrift ein programmatischer Beitrag zum eingeschlagenen Weg des Museums, „Theorie und Praxis, Wissenschaft und Kunst“ zu vereinen und „die breite Kluft zwischen Kunst und Naturwissenschaft zu überbrücken“.52 Dass hierzu der international renommierte Physiologe der Universität Wien besonders berufen war, darauf verwies schon 1866 eine Buchbesprechung in den Mittheilungen: Brücke sei „erste wissenschaftliche Autorität für alle jene Fragen“ und gehöre „als Curator des Museums auch unserer Anstalt“ an.53 „Besonders günstig [sei aber jener] Umstand, dass Brücke als Sohn eines Malers und durch einige Jahre als Lehrer der Anatomie an der Akademie der bildenden Künste in Berlin angestellt, im steten Verkehre mit Künstlern, sich frühzeitig gewöhnt hat, die Lehren der wissenschaftlichen Optik im Zusammenhange auf künstlerische Zwecke zu betrachten“.

Die hier formulierte Koppelung von wissenschaftlicher Theorie und

künstlerischer Praxis markiert einen Kernpunkt von Sittes Verständnis: In diesen Worten sind nicht nur die Grundlagen für einen zentralen methodischen Ansatz Sittes präformiert oder finden sich Erklärungen für eine Reihe seiner einschlägigen Schriften, die u. a. anlässlich von Brückes Tod entstanden.54 Angeregt von Brückes Theorien und Czernys Vorlesungen beschäftigte sich Sitte nun auch eingehend mit der gesamten diesbezüglichen Grundlagenliteratur,55 welche später u. a. in seine schon genannte „Geschichte des Perspec-

51 Zu Eitelbergers Anteil an dem Buch siehe auch den Buchtitel (s. Anm. 48). Brücke selbst schreibt im „Vorwort zur ersten Auflage“ der Physiologie der Farben: „Im Sommer 1864 bezeichnete es die Direction des kaiserlichen Museums für Kunst und Industrie als wünschenswerth, dass eine Farbenlehre mit Rücksicht auf die Bedürfnisse der Industrie und des Kunsthandwerks ausgearbeitet werde, welche dem jetzigen Stande der Wissenschaft entspräche. […] Es bot sich mir dadurch die Gelegenheit, eine Reihe von Erfahrungen, welche ich im Laufe der Jahre gemacht hatte und welche ich durch die Hülfsmittel des Museums noch mannigfach vermehren konnte, zu einem einheitlichen Ganzen zu verarbeiten“ (Brücke 1887 (s. Anm. 48), S. 1). 52 Mittheilungen, Bd. I (1865–1867), Nr. 10, S. 146–147. 53 Hierzu und zum Folgenden: Ebd., S. 147. 54 Sitte, Camillo: „Die Schönheit des Armes (1893) “, S. 331–340 in diesem Bd.; Ders.: „Über Farbenharmonie (1900)“, S. 370–421 in diesem Bd. 55 Czerny wies in seinen „Vorlesungen über die Physiologie der Farben“ u. a. auf Goethe, Purkinje (auch Purkyně), Dove, Helmholtz, Brücke, J. Müller, Young und Newton hin (Mittheilungen, Bd. I (1865–1867), Heft 21, S. 359–361). Sitte beschäftigte sich 1871/72 – wie in seinem „Curriculum vitae (o.J.)“ (s. Anm. 15) ausgeführt – u. a. mit Helmholtz, J. Müller, Brücke, Goethe, Purkinje.

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6  Bericht über Ernst von Brückes „Physiologie der Farben“, in: „Mittheilungen des k. k. ­Österreichischen Museums für Kunst und Industrie“, 1866 „Künstler und Gelehrter“ – Der Universalist Camillo Sitte

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tivischen Zeichnens“ einfloss und deren umfassender Lektüre – wie von ihm selbst vermerkt – er sich in jener Zeit widmete: „Im Jahre 187156 und 72 Physiologie und die einschlägigen naturwissenschaftlichen Disciplinen [studiert], um diejenigen Eigenschaften der Sinne und besonders des menschlichen Auges kennen zu lernen, welche von Einfluß auf künstlerische Formgebung sind. Die in dieser Zeit streng durchgearbeiteten Werke sind: Sämmtliche Arbeiten von J. Müller, H. Helmholtz und W. Wundt; ferner die Physiologien von Aubert, Brücke, Jessen, Ludwig, Wagner. Die vergleichenden Anatomien von Gegenbauer, Bergmann u. Leuckart, […] Fechner’s Psichophysik, die Beobachtungen von Purkinje, Göthe’s Farbenlehre und viele Arbeiten von Classen, Lotze, Schleiden, Huxley, Darvin, Volkmann und Anderen“.57

Sittes Hinweis auf seine anatomischen Studien, die er 1871/72 und 1872/73

durch den Besuch von „Vorlesungen und Secierübungen bei Hfr. [Hofrat] Hyrtl und Dr. Friedlowsky als außerordentlicher Hörer der medicinischen Facultät“ intensivierte, führt zu einem weiteren Themenkomplex der Vorlesungen am Österreichischen Museum, der bei ihm ebenfalls auf fruchtbaren Boden fiel. Nach Langers 1867/68 begonnenem Zyklus „Ueber menschliche Proportionen“, fand Anfang der 1870er Jahre eine Schwerpunktverschiebung in Richtung Anatomie statt:58 Für 1873 waren Leander Ditscheiner und Anton von Frisch mit „Anatomie und Farbenlehre“ sowie letzterer mit „Thieranatomie“ angekündigt.59 Frisch, der ehemalige Demonstrator des weltberühmten Josef Hyrtl60 und spätere

56 In diesem Jahr hielt Leander Ditscheiner seine Vorlesung „Ueber Farbenlehre“ (Mittheilungen, Bd. III (1869–1871), Heft 74, S. 506). 57 Sitte „Curriculum vitae (o.J.)“ (s. Anm. 15). 58 Mittheilungen, Bd. I (1865–1867), Heft 22, S. 381. Einen besonderen Anteil an dieser Schwerpunktverschiebung könnte Ernst Brücke gehabt haben, der bereits 1850 in einem Brief an Eitelberger ausführlich darüber berichtet, „welche Form wohl der anatomische Unterricht annehmen müßte, um den Zwecken einer höheren Kunstschule möglichst zu entsprechen“ (Brücke, Ernst: Brief an Rudolph Eitelberger, 29. Oktober 1850, Handschriftensammlung der Wienbibliothek im Rathaus (vormals Wiener Stadt- und Landesbibliothek), Inv. Nr. 20. 395; transkribiert bei Dobslaw 2009 (s. Anm. 20), S. 189. 59 Mittheilungen, Bd. IV (1872–1873), Heft 89, S. IV (Inhaltsverzeichnis); ebenso: Mittheilungen, Bd. IV (1872–1873), Heft 90, S. 319 und Mittheilungen, Bd. IV (1872–1873), Heft 89, S. 297. 60 Josef Hyrtl (1810–1894), schon während seiner Studienzeit in Wien zum Prosektor der Anatomie, 1837 als 26-Jähriger zum Professor der Anatomie der Karls-Universität in Prag und ab 1845 in Wien ernannt, begründete in Wien das Museum für vergleichende Anatomie und publizierte 1847 das Handbuch der topographischen Anatomie und ihrer praktisch-medizinisch-chirurgischen Anwendungen (Wien: Wallishauser 1847; 2. Auflage Wien: Braumüller 1853), das weltweit eines der wichtigsten Lehrbücher an anatomischen Schulen wurde.

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Professor für Anatomie an der Akademie der bildenden Künste, las 1873 „Der menschliche Körper und seine Darstellung durch Malerei und Plastik“61 (Abb. 7) und 1874/75 über „Die anatomischen Lehren des Trattato della Pittura von Leonardo da Vinci“.62

Welchen Stellenwert in Zeiten der sich erst langsam konturierenden

Grenzen der geisteswissenschaftlichen Fächer beispielsweise die Anatomie in Kunst und Kunstgeschichte einnehmen konnte, zeigt ein 1871 – zeitgleich mit dem Beginn von Sittes Sezierübungen – gehaltener Vortrag des Rostocker Anatomieprofessors Wilhelm Henke über „Die Menschen des Michelangelo im Vergleiche mit der Antike“.63 Dadurch, dass „Fachmänner aus anderen Gebieten von ihren Gesichtspunkten Fragen der Kunst und Kunstgeschichte in Erwägung ziehen“, so in einer Besprechung des noch im gleichen Jahr in Buchform veröffentlichten und in den Mittheilungen besprochenen Manuskripts, würden „neue Blicke auf die Gegenstände gewonnen, welche dem Kunsthistoriker selbst unmöglich bleiben müssen“. Ebenso könne „nur ein des Secirens kundiger Künstler“, so Henke mit Blick auf Michelangelo weiter, der „den Körper ohne Haut und den sonst umhüllenden, ausgleichenden äusseren Fettlagen zu sehen, zu denken gewohnt“ ist, die „Bewegungen des menschlichen Leibes weit richtiger, wissenschaftlich correcter wiedergeben, als es die besten Statuen der Alten vermögen“. Davon abgesehen, dass Sitte in seinen späteren Ausführungen zu den Figuren Michelangelos zu auffallend ähnlichen Einsichten gelangen wird,64 manifestiert sich sein eigener Anspruch nach wissenschaftlich korrekter Wiedergabe des menschlichen Körpers in zwei Punkten: in seiner wiederholt vorgebrachten Forderung nach besten anato61 Mittheilungen, Bd. IV (1872–1873), Heft 94, S. 410. 62 Mittheilungen, Bd. V (1874–1875), Heft 107, S. 169. Frisch machte, „[t]heils durch wortgetreue Citate, theils durch […] Zahlreiche Reproductionen von Leonardo’s Zeichnungen“ die „Methode klar, in welcher Leonardo seine exacten naturwissenschaftlichen Forschungen anstellte, wie er stets von den Leichen zum Leben zurückkehrte, inductiv seine scharfsinnigen, gewissenhaften Beobachtungen und Lehrsätze wohlbegründet seinen Schülern vorlegte und sie als rechter Lehrer zu weiteren selbständigen Forschungen und fortwährendem Studium der Natur anspornte“ (Mittheilungen, Bd. V (1874–1875), Heft 114, S. 316f., Zitat S. 317). 63 Henke, Wilhelm: Die Menschen des Michelangelo im Vergleiche mit der Antike. Vortrag gehalten in Rostock 1871. Mit 3 Tafeln. Rostock: Kuhn 1871. Vgl. hierzu und zum Folgenden die Besprechung in: Mittheilungen, Bd. IV (1872–1873), Heft 76, S. 23. Siehe auch Brücke „Brief an Eitelberger (1850)“ (s. Anm. 58). 64 Siehe Sitte, Camillo: „Autograph, ohne Titel (o.J.) – II. Teil: ‚Über Zeichen – Unterricht‘“, S. 601–603 in diesem Bd. [fol. 194–196]. „Künstler und Gelehrter“ – Der Universalist Camillo Sitte

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7  Bericht über einen Vortrag von Anton von Frisch zum „menschlichen Körper und seiner Darstellung durch Malerei und Plastik“, in: „Mittheilungen des k. k. Österreichischen ­Museums für Kunst und Industrie“, 1874

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mischen Kenntnissen65 und besonders in der von ihm selbst erstellten und auch zur Drucklegung vorbereiteten „Topographischen Anatomie“, die in diesem Band erstmals in Auszügen publiziert vorliegt.66

Die Vorlesungen des Österrei-

chischen Museums boten Sitte über die

genannten

Themenkomplexe

hinaus auch eine weit gefächerte Palette archäologischer und kunsthistorischer Themen, durch die sein Überblickswissen wie seine Denkmälerkenntnisse eine breite Basis erhielten. Vorbildlich für seine späteren Arbeiten blieb allerdings auch

8  Karl von Lützow (1832-1897), Fotografie

jenes eingeengte, in diesem Forum

(unbekannt, o.J.)

für ein Jahrzehnt festgeschriebene Spektrum – Antike, Renaissance und Kunst von 1800 bis zur Gegenwart –, eine zeitliche Beschränkung, die erstmals 1875/76 durch Albert Ilgs Vorlesung „Die Barockmalerei Österreichs“67 eine grundsätzliche – in Sittes wissenschaftlichen Arbeiten nicht mehr vollzogene – Akzentverschiebung erhielt.68

Karl von Lützow (1832–1897) (Abb. 8), 1866 auf die neu gegründete Lehr-

kanzel für Kunstgeschichte am Polytechnischen Institut berufen und seit 65 Sitte schreibt in seinem „Zeichen – Unterricht“ („Autograph, ohne Titel (o.J.) – II. Teil“ (s. Anm. 64), S. 601–603 in diesem Bd. [fol. 194, 196]): „Eine vollkommen richtige Con­ struction könnte nur durchgeführt werden, wenn zuerst das Knochengerüste richtig construirt, und dieses dann schrittweise mit Muskulatur umgeben würde. […] Hierin übertrifft die Renaissance bei Weitem die Antike, denn keiner der großen griechischen Bildner ist im Stande gewesen mit seiner gänzlich geringfügigen Kenntniß innerer Anatomie solche Werke hervorzubringen.“ 66 Siehe unten das Kapitel „Topographische Anatomie“, S. 59–64. 67 Mittheilungen, Bd. V (1874–1875), Heft 119, S. 396. 68 Hinweise für eine Öffnung von Sittes ästhetischen Normen liefert das Inventar seiner 1883/84 bezogenen Wiener Wohnung in der Schellinggasse. Die Einrichtung umfasste, neben einer reichen Majolikasammlung, Führichs „Alpenglühen“, den nach eigenen Entwürfen im Stil der Renaissance in der Salzburger Staatsgewerbeschule gefertigten Möbeln auch „Kopien des Malers Thomas nach Rembrandt, Rubens und Van Dyk“ und „zwei Original-Marmorköpfe von Messerschmidt“ (Sitte 1929 (s. Anm. 4), bes. S. 143f.). „Künstler und Gelehrter“ – Der Universalist Camillo Sitte

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­Anbeginn in das Vorlesungsprogramm eingebunden, begann 1865–1868 mit antiken Themen,69 wandte sich 1869–1871 der Renaissance zu70 und konzen­ trierte sich ab 1872 in monographischen Betrachtungen auf die Maler der Romantik und des Klassizismus;71 seine Auswahl von Objekten und Künstlern prägte Sittes spätere Studien nachhaltig. Jacob von Falke (1825–1897), ab 1864 Eitelbergers Stellvertreter und erster Kustos, nach Eitelbergers Tod dessen Nachfolger als Direktor am Österreichischen Museum, vertrat die Felder „Kunstindustrie“ und „Kunstgewerbe“ und las u. a. „Über Innendecoration der Wohnräume (das Wohnhaus in seiner historischen und künstlerischen Entwicklung)“72 – eine Vorlesung, die 1899, nach Falkes Tod, Sitte übernahm.73 Moriz Thausing (1838–1884), Schüler Eitelbergers, seit 1864 an der Graphischen Sammlung des Erzherzogs Albrecht (Albertina) tätig und seit 1873 Professor für Kunstgeschichte an der Universität Wien, beschäftigte sich besonders mit der Renaissance-Malerei:74 1871 referierte er „Über ­Albrecht

69 In den Jahren 1865–1868 hielt von Lützow folgende Vorträge: 1865/66 „Über die Geschichte der decorativen Künste bei den Griechen und Römern“ (Ankündigung in: Mittheilungen, Bd. I (1865–1867), Heft 1, S. 9); 1866/67 „Über griechische Götterideale“ (Mittheilungen, Bd. I (1865–1867), Heft 12, S. 190); 1867/68 „Über die Akropolis von Athen“ (Mittheilungen, Bd. II (1867–1869), Heft 25, S. 18); 1868/69 „über antike Statuen“ mit den Themen Apoll von Belvedere, Laokoon, Niobiden (Mittheilungen, Bd. II (1867–1869), Heft 34, Beilage). 70 In den Jahren 1869–1871 hielt von Lützow folgende Vorträge: 1869/70 „Über Benvenuto Cellini als Bildhauer und Goldschmied“ (Ankündigung in: Mittheilungen, Bd. II (1867– 1869), Heft 42, S. 389); 1871/72 – unter Bezugnahme auf den Holbeinstreit von 1871 (siehe unten S. 80f.) – „Über die Madonna des Bürgermeisters Meyer von Hans Holbein“ und „Wandmalerei und Architektur in der italienischen Renaissance“ (Mittheilungen, Bd. III (1869–1871), Heft 74, S. 505). 71 1872/73 „Joseph Anton Koch und seine Stellung in der deutschen Kunst“ (Ankündigung in: Mittheilungen, Bd. IV (1872–1873), Heft 84, S. 188); 1873/74 „Über Benv. Genelli“ (Mit­ theilungen, Bd. IV (1872–1873), Heft 94, S. 410); 1874/75 „Über [Peter] Cornelius“ (Mittheilungen, Bd. V (1874–1875), Heft 110, S. 229). 72 Mittheilungen, Bd. II (1867–1869), Heft 42, S. 389. 73 Der Vorlesungstitel Sittes, angekündigt als „Director der k. k. Staatsgewerbeschule Regierungsrath Camillo Sitte“, lautete: „Die innere Einrichtung des Wohnhauses im Zusammenhang mit den jeweiligen Bauformen.“ Die Vorlesung fand zwischen dem 8. und dem 20. März 1899 an fünf Terminen statt und wurde „mit skioptischen Demonstrationen“ illus­ triert; siehe hierzu: Kunst und Kunsthandwerk. Monatsschrift des k. k. Österr. Museums fuer Kunst und Industrie, Jg. 1 (1898), S. 420; ebenso Fabiankowitsch 2000 (s. Anm. 36), S. 187f. 74 Thausing las 1872/73 „Über die deutsche Kunstreform im 16. Jahrhundert“ (hierzu ausführlich: Mittheilungen, Bd. IV (1872–1873), Heft 90, S. 316–317), 1876 „Über Masolino und Masaccio“ (Ankündigung in: Mittheilungen, Bd. V (1874–1875), Heft 122, S. 439).

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Dürer“75 und legte hiermit wie mit seinen Publikationen Dürers Briefe, Tagebücher und Reime (1872) und Dürer. Geschichte seines Lebens und seiner Kunst (1875) auch Sittes Dürer-Bild fest.76

Eitelberger, Spiritus rector des Vorlesungsprogramms, der es im Oktober

1864 selbst mit einem Überblick „Über die hervorragendsten Kunstwerke im österreichischen Museum“ eröffnete,77 widmete sich in den nachfolgenden Jahren bevorzugt aktuellen Themen (Abb. 9): 1867 der „Kunst der Pariser Weltausstellung“,78 1868 der „Kunstbewegung in Wien im Jahre 1868, mit Rücksicht auf die Architekten E. v. d. Nüll und A. v. Sicardsburg“79, 1870 der „österreichischen Kunstindustrie in der heutigen Weltlage“80 usw. Damit sensibilisierte er seinen Schüler ganz offensichtlich für Fragen der zeitgenössischen Kunst und beeinflusste – etwa mit seiner Kritik am „realistischen Kunstprinzip“ (1867/68)81 – auch erkennbar Sittes Kunsturteil.82 Mit seiner Vorlesung „Über Städteanlagen und Stadtbauten“ (1868)83 wie mit seinem viel beachteten Vortrag „Aufgaben des heutigen Zeichenunterrichts“ (6. November 1873)84 bereitete Eitelberger zugleich den Boden für zwei grundlegende Arbeiten Sittes: neben dem berühmten „Städte-Bau“ auch für die

75 Mittheilungen, Bd. III (1869–1871), Heft 61, S. 257. 76 Siehe hierzu unten Sitte, Camillo: „Autograph, ohne Titel (o.J.) – I. Teil: ‚Über Gesch[ichte] des Persp[ektivischen] Zeichn[en]s – Erste Fassung‘“, S. 533ff. in diesem Bd. Hier stellt Sitte fest: „Dürer eilt in der Perspectiv-Construction seiner Zeit weit voran“ (S. 534 in diesem Bd. [fol. 122]). In „Autograph, ohne Titel (o.J.) – II. Teil“ (s. Anm. 64) notiert er, dass die Konstruktionsverfahren der Figurenperspektive „über das von Dürer geleistete […] seitdem kaum hinaus gekommen“ seien und fordert: „Die Ausbildung der figuralen Perspective ist auf Grundlage ihrer bereits von A. Dürer entwickelten Elementarsätze wieder aufzunehmen“ (S. 596 und 657 in diesem Bd. [fol. 188, 260]). 77 Fabiankowitsch 2000 (s. Anm. 36), S. 184f. 78 Mittheilungen, Bd. I (1865–1867), Heft 22, S. 381. 79 Mittheilungen, Bd. II (1867–1869), Heft 34, S. 209. 80 Mittheilungen, Bd. III (1869–1871), Heft 61, S. 257. 81 Hierzu ausführlich: Mittheilungen, Bd. I (1865–1867), Heft 2, S. 27 und besonders Mittheilungen, Bd. II (1867–1869), Heft 26, S. 34. 82 „Das realistische Kunstprinzip“ war der Titel der ersten von drei Vorlesungen Eitelbergers über „Die Kunst auf der Pariser Ausstellung“, die im Winterhalbjahr 1867/68 gehalten wurden. Der Inhalt der Vorlesung ist zusammengefasst in: Mittheilungen, Bd. II (1867– 1869), Heft 26, S. 34. 83 Fabiankowitsch 2000 (s. Anm. 36), S. 186. 84 Der Vortrag wurde erstmals abgedruckt in: Mittheilungen, Bd. V (1874–1875), Heft 100, S. 1–7 und 39–46. „Künstler und Gelehrter“ – Der Universalist Camillo Sitte

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9  Bericht Rudolph von Eitelbergers über die Vorlesung „Die Akademien in ihrer ­historischen ­Entwicklung“, in: „Mittheilungen des k. k. Österreichischen Museums für Kunst und Industrie“, 1872/73

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umfassende, unten erstmals publizierte Studie „Über Zeichen-Unterricht“,85 in der er auf zentrale Punkte seines Lehrers rekurriert.86

Eitelbergers prägender Einfluss auf Sitte lässt sich aber ebenso deutlich

an den oben ausgeführten Themenkomplexen Perspektive, Anatomie, Farbenlehre usw. fassen. Die Auswahl dieser Fächer darf nämlich nicht als Beleg für die unterschiedlichsten Interessen Sittes missverstanden werden. Im größeren Kontext betrachtet, erscheint sie im Gegenteil als strenges Kalkül, mit dem der Schüler schon früh das neue, universalistische Ausbildungskonzept seines Lehrers einzulösen versuchte. Denn nach Eitelbergers 1872 im Auftrag des Ministeriums durchgeführter und am 15. August von Kaiser Franz Joseph genehmigter Reform der Akademie der bildenden Künste waren es genau ­diese Fächer, die nun gemeinsam mit Kunstgeschichte, Altertumskunde, Stillehre usw. als Hilfsfächer bzw. Hilfswissenschaften in der Ausbildung von Künstlern und Architekten Anerkennung fanden.87 Dies schien auch angemessen in einer Zeit, in der die Neurenaissance ihren Gipfel erreicht hatte und seit Jacob Burckhardts einflussreicher Kultur der Renaissance in Italien

85 Siehe Sitte „Autograph, ohne Titel (o.J.) – II. Teil“ (s. Anm. 64), bes. S. 613 in diesem Bd. [fol. 206]. 86 In ihrem Urteil über den aktuellen Zeichenunterricht und in ihrem Streben nach einer grundsätzlichen Neuorganisation vertraten Sitte und Eitelberger die gleichen Positionen. Eitelberger war der Auffassung, dass der Zeichenunterricht „ein wesentliches Mittel zur Förderung der Volkswohlfahrt, eine unentbehrliche Hilfe zur Pflege einer grossen Anzahl von Wissenschaften, und zugleich ein Förderungsmittel allgemeiner menschlicher ­Bildung“ sei. Er plädierte in seiner am 6. November 1873 im Österreichischen Museum gehaltenen Vorlesung über „Die Aufgaben des Zeichenunterrichts“ (abgedruckt in: Eitelberger von Edelberg, Rudolph: Gesammelte kunsthistorische Schriften, Bd. 3: Die Auf­gaben des ­Zeichenunterrichtes und vier kunsthistorische Aufsätze. Wien: Braumüller 1884, S. 1–27) für einen allgemeinen Zeichenunterricht auf Grundlage rationeller Methoden. „Eine Hauptursache des Verfalles der Künstlertechnik in der modernen Zeit“ erkannte er darin, dass in der Künstlerbildung zu spät mit einer methodischen Vermittlung von Fertigkeiten begonnen werde. Eitelberger forderte, besonders die handwerklichen Fertigkeiten in einer „dem Lebensalter und dem Unterrichtsgange entsprechenden Stufenfolge“ zu vermitteln. „Ästhetische Theorie“ und „kunstgeschichtliches System“ sollten erst nach Erlernen der handwerklichen Grundlagen folgen. Eitelbergers Vorstellungen fanden u. a. in Sittes Tabelle zur Gliederung des Zeichenunterrichts – etwa in der Idee, zuerst die „Hand“ und erst dann den „Verstand“ auszubilden – einen direkten Niederschlag (Sitte „Autograph, ohne Titel (o.J.) – II. Teil“ (s. Anm. 64), S. 627f. in diesem Bd. [fol. 226]). 87 Wagner, Walter: Die Geschichte der Akademie der bildenden Künste in Wien. Wien 1967, S. 217ff. Parallel dazu hielt Eitelberger 1872/73 die Vorlesung über „Die Akademien in ihrer historischen Entwicklung“ (Mittheilungen, Bd. IV (1872–1873), Heft 87, S. 247). „Künstler und Gelehrter“ – Der Universalist Camillo Sitte

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(1860) die Akademien als Wiederentdeckung der Renaissance gepriesen, die „Vielseitigkeit“ des „uomo universale“ – des enzyklopädisch ausgebildeten Künstlers – zum Ideal erhoben und der in Kunst und unterschiedlichsten Wissenschaften gleichermaßen ausgewiesene Leonardo schlicht als „Vollender“ gefeiert wurden.88

Zwanzig Jahre später schien dieses universalistische bereits von einem

spezialistischen Ausbildungsideal überholt: Sitte, der sich nach aufreibenden Jahren als Staatsgewerbeschullehrer und intensiver Forschungsarbeit 1894 – neun Jahre nach dem Tod seines Mentors – Hoffnung auf die Nachfolge Karl von Hasenauers als Architekturprofessor an der Akademie gemacht hatte, unterlag dem in der Baupraxis seit 1864 bestens ausgewiesenen Otto Wagner, der selbst nach Jahrzehnten des Festhaltens am üppigen Ringstraßenstil um 1900 eine Zeitenwende in der Architektur einleiten sollte.89

Sitte und die Quellenschriften zur Kunstgeschichte Von besonderem Rang für Sittes methodisches Verständnis und zugleich ein bedeutender Markstein für die Disziplingeschichte waren die von Eitel­berger herausgegebenen Quellenschriften zur Kunstgeschichte,90 in deren Entstehungsgeschichte – was bisher unbeachtet blieb – der junge „Polyhistor“ ebenfalls eingebunden war. Diese Quellenschriften, 1871–1882 in ­einer ­ersten Folge von 18 Bänden erschienen, sind die erste und bis heute umfangreichste systematische Edition kunstgeschichtlicher Quellen, die – wie schon 1873 ­Albert von Zahn in einem Brief an Eitelberger postulierte – „die Arbeitskraft einer ganzen jungen Generation von Kunsthistorikern“ absorbierte (Abb. 10).91 Die Kontakte mit diesen wurden großteils beim ­ ersten Kunstwissenschaft88 Burckhardt, Jacob: Die Kultur der Renaissance in Italien. Wien: Phaidon o.J. [1920] (Erstveröffentlichung unter dem Titel Die Cultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch von Jacob Burckhardt. Basel: Schweighauser 1860), bes. S. 79–82, 158f., 164. Darauf zielte wohl auch der Inhalt von Eitelbergers Vorlesung „Über die Akademien in ihrer historischen Entwicklung“, die dieser 1872 im Österreichischen Museum hielt (s. Anm. 87). 89 Zu Sittes Bewerbung und den Hintergründen seiner Feindschaft mit Otto Wagner siehe Mönninger „Leben und Werk Sittes (2007)“ (s. Anm. 8), S. 10f. sowie Anm. 39; siehe ebenso Wilhelm, Karin: „Ordnungsmuster der Stadt. Camillo Sitte und der moderne Städtebaudiskurs“, in: Wilhelm/Jessen-Klingenberg 2006 (s. Anm. 1), S. 71–76. 90 Das Folgende basiert auf Dobslaw 2009 (s. Anm. 20). 91 Quellenschriften für Kunstgeschichte und Kunsttechnik des Mittelalters und der Renaissance, 18 Bde. Mit Unterstützung des Kaiserlich-Königlichen Österreichischen Ministeriums für Cultus und Unterricht im Vereine mit Fachgenossen hrsg. Wien: Braumüller 1871–1882;

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10  Frontispiz von „Leone Battista Alberti’s kleinere kunsttheoretische Schriften“, Band XI der „Quellenschriften für Kunstgeschichte und Kunsttechnik des Mittelalters und der Renaissance“, 1877

lichen Kongress geschlossen, zu dem Eitelberger die ­Fachwelt anlässlich der Wiener Weltausstellung vom 1.–4. September 1873 ins Österrei­chische Museum eingeladen hatte.92 Wie eng Museum, Vorlesungen, ­Mit­theilungen und

Zahn, Albert von: Brief an Rudolph Eitelberger, 24. Januar 1873, Handschriftensammlung der Wienbibliothek im Rathaus (vormals Wiener Stadt- und Landesbibliothek), Inv.-Nr. 22.090; zitiert nach Dobslaw 2009 (s. Anm. 20), S. 314ff.

92 Siehe hierzu: Eitelberger von Edelberg, Rudolph: Die Resultate des ersten internationalen kunstwissenschaftlichen Congresses in Wien. Wien: k. k. Hof- und Staatsdruckerei 1874. Das Protokoll des Kongresses ist publiziert in: Mittheilungen, Bd. IV (1872–1873), S. 400–402, 431–432, 445–470, 481–504, 512–525 und Mittheilungen, Bd. V (1874–1875), S. 9–22, 223–224, 421–422. Zum Kongress siehe auch: Dilly, Heinrich: Kunstgeschichte als Institution. Studien zur Geschichte einer Disziplin. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1979, S. 161, 171; Beyrodt, Wolfgang: „Kunstwissenschaft. Entwicklungslinien der Kunstgeschichtsschreibung im 19. Jahrhundert bis zum Kunstwissenschaftlichen Kongreß von 1873“, in: Busch, Werner/Beyrodt, Wolfgang (Hg.): Kunsttheorie und Malerei, Kunstwissenschaft (= Beyrodt, Wolfgang/Bischoff, Ulrich u. a. (Hg.): Kunsttheorie und Kunstgeschichte des 19. Jahrhunderts in Deutschland. Texte und Dokumente, Bd. 1). Stuttgart: Reclam 1982, „Künstler und Gelehrter“ – Der Universalist Camillo Sitte

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Quellenschriften von ihrem Initiator als Einheit begriffen wurden, geht aus Hubert Janitscheks Nachruf auf Eitelberger aus dem Jahr 1885 hervor, in dem es heißt: „Die Donnerstags-Vorlesungen warben dem Museum einen mächtigen, gebildeten und bald verständnisvollen Freundeskreis; die als Organ des Museums gegründeten Mittheilungen des österreichischen Museums versammelten die Fachleute zu gemeinsamem Wirken und wurde Mitbegründer einer reichen und gediegenen kunstgewerblichen Literatur. Und schließlich, damit diese Bewegung in ein tiefes Bett geleitet werde, begann er mit der Herausgabe der Quellenschriften“.93

Die Idee hierzu lässt sich bis zu Eitelbergers im Winterhalbjahr 1868/69

an der Universität abgehaltenem Kollegium „Über die Quellenschriften zur Kunstgeschichte“ zurückverfolgen, an dem auch Sitte teilnahm.94 Hier begründete Eitelberger die für die Frühzeit der Wiener Schule charakteristische Verbindung von Autopsie des Originals und Studium der Quellenliteratur,95 die von Anfang an durch die Zusammenarbeit mit dem 1854 – unter Eitelbergers Beteiligung – gegründeten Institut für österreichische Geschichtsforschung geprägt war, was 1873 mit der Gründung der zweiten Lehrkanzel für Kunstgeschichte auch institutionalisiert wurde.96 In jener Zeit erkannte Eitelberger auch, dass nichts so geeignet sei, „Studierende in das Gebiet der Kunstgeschichte einzuführen, wie die Lektüre von Quellenschriften“.97



S. 350–362; Schmidt, Gerhard: „Die internationalen Kongresse für Kunstgeschichte“, in: Wiener Jahrbuch für Kunstgeschichte, Bd. 36 (1983), S. 7–116, zum 1. Kongress S. 7–22.

93 Janitschek, Hubert: „Rudolf Eitelberger“, in: Repertorium für Kunstwissenschaft, Bd. 8 (1885), S. 401; zitiert nach Dobslaw 2009 (s. Anm. 20), S. 27. 94 Zum Kollegium siehe: Öffentliche Vorlesungen an der k. k. Universität Wien. Hg. vom Rektorat der Universität Wien. Wien: Holzhausen 1868. Zur Teilnahme Sittes siehe oben S. 17 sowie Anm. 27. 95 Hierzu insbesondere Schlosser 1934 (s. Anm. 12), bes. S. 162f. Eitelberger wurde hierzu wohl durch den Zirkel um Joseph Daniel Böhm angeregt, dessen Kenntnisse der „KunstLiteratur“ er nachdrücklich betonte (Eitelberger 1879 (s. Anm. 20), S. 182); Dobslaw 2009 (s. Anm. 20), S. 32. 96 Zur Institutsgeschichte grundlegend: Lhotsky, Alphons: Geschichte des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 1854–1954. Festgabe zur Hundert-Jahr-Feier des Instituts (= Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung, Ergänzungsband 17). Graz u. a.: Böhlau 1954. 97 Eitelberger von Edelberg, Rudolph: „Zur Publikation des Libro della Pittura des Lionardo da Vinci nach der vaticanischen Handschrift“, in: Repertorium für Kunstwissenschaft, Bd. 4 (1881), S. 281; zitiert nach Dobslaw 2009 (s. Anm. 20), S. 32.

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Mit seinen Quellenschriften verfolgte Eitelberger aber noch andere Ziele.

Zum einen ging es ihm um eine fachliche und methodische Profilierung der noch jungen kunstgeschichtlichen Disziplin, wenn er in Abgrenzung zur Berliner Schule – der von „Ruhmohr, Waagen, Kugler und Schnaase [… vorgelegten,] vorwiegend historisch“ ausgerichteten Literatur – forderte: „Aber es genügt nicht, die Kunst bloß als historische Erscheinung aufzufassen, man muss zu den Quellen derselben zurücksteigen, […] in die Tiefen des menschlichen Geistes in die Principien der Kunst selbst, in die Quellen der geistigen Überzeugung, aus welchen die Kunstwerke emporwachsen“.98 Zum anderen wollte er – wie bereits 1870 im Dezemberheft der Mittheilungen angekündigt – diese Quellen „in deutscher Übersetzung einem grösseren Publicum zugänglich machen“.99 Hierbei zielte er neben den Kunstgeschichtsstudenten und dem um Museum und Vorlesungen versammelten „Freundeskreis“ interessierter Laien aber vor allem auf die Künstler. In der Kenntnis der Quellenliteratur sah er das „größte Bedürfnis unserer Künstlerwelt“,100 „um eine sichere Basis für die Principien der Kunst zu erhalten, welche durch wechselnde Philosopheme und das prinzipienlose künstlerische Denken ins Schwanken geraten sind“. „Denn“ – so Eitelberger über Heinrich Ludwigs Bearbeitung von Leonardos Buch von der Malerei (Libro della Pittura) – „was unserer Kunst, speciell der deutschen Kunst Noth thut, ist vor Allem ein tie­ feres Beherrschen der wissenschaftlichen Grundlagen“.101

Sitte war „an den Vorarbeiten zur Herausgabe“ der ersten Bände nach-

weislich beteiligt.102 Möglicherweise gehörte er auch zu jenen unbenannten

  98 Eitelberger von Edelberg, Rudolph: „Die heutige Kunstwissenschaft und die Aufgaben des kunstwissenschaftlichen Congreßes“, Manuskript des Vortrags, gehalten am 12. Februar 1874, Handschriftensammlung der Wienbibliothek im Rathaus (vormals Wiener Stadt- und Landesbibliothek), Inv.-Nr. 23.384, S. 16–17; zitiert nach Dobslaw 2009 (s. Anm. 20), S. 32.   99 Eitelberger von Edelberg, Rudolph: „Quellenschriften für Kunstgeschichte und Kunsttechnik des Mittelalters und der Renaissance“, in: Mittheilungen, Bd. III (1869–1871), Heft 63, S. 292–294. 100 Eitelberger von Edelberg, Rudolph: Brief an Heinrich Ludwig, 23. Juni 1877, Handschriftensammlung der Wienbibliothek im Rathaus (vormals Wiener Stadt- und Landesbibliothek), Inv.-Nr. 22.424; transliteriert bei Dobslaw 2009 (s. Anm. 20), S. 200. Ludwig war der Bearbeiter der Bände 15–18 der Quellenschriften (= Lionardo da Vinci. Das Buch von der Malerei. Übersetzt und unter Beibehalt der Haupteintheilung übersichtlich geordnet von Heinrich Ludwig. Wien: Braumüller 1882). 101 Eitelberger 1881 (s. Anm. 97), S. 283f.; zitiert nach Dobslaw 2009 (s. Anm. 20), S. 33. 102 Sitte 1929 (s. Anm. 4), S. 137; Olexinski, Robert: „Die Technisch-gewerbliche Bundeslehranstalt in Wien I. Ihre Vorgeschichte, ihre Gründung und Entwicklung“, in: Festschrift zur 50Jahrfeier der Techn. Gew. Bundeslehranstalt Wien I. Wien: Bundeslehranstalt 1930, S. 15. „Künstler und Gelehrter“ – Der Universalist Camillo Sitte

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11  Ankündigung der „Quellenschriften für Kunstgeschichte und Kunsttechnik des Mittelalters und der Renaissance“, in: „Mittheilungen des k. k. Österreichischen Museums für Kunst und Industrie“, 1872/73

­„Correc­toren“103 im Umfeld des seit dieser Zeit mit ihm befreundeten Albert Ilg, der in den ersten drei Jahren allein vier der sieben Bände bearbeitete und für die ersten zehn Bände die alleinige Verantwortung für die Redaktionsarbeit trug.104 Schließlich wurde Sitte von Eitelberger – wohl gleichzeitig mit ­Janitschek – die Bearbeitung von Piero della Francescas De Prospectiva ­pingendi 103 Hierzu Valdek, Rudolph: Brief an Rudolph Eitelberger, 12. Februar 1874, Handschriftensammlung der Wienbibliothek im Rathaus (vormals Wiener Stadt- und Landesbibliothek), Inv.-Nr. 21.906; transliteriert bei Dobslaw 2009 (s. Anm. 20), S. 299. Rudolph Valdek war der Bearbeiter von Band 6 der Quellenschriften (= Ascanio Condivi. Das Leben des Michel Angelo Buonarotti. Zum 1. Male in deutsche Sprache übersetzt durch Rudolph Valdek. Mit Noten und einer chronologischen Übersicht hg. von Rudolph von Eitelberger. Wien: Braumüller 1874). 104 Ilg, Albert: „Curriculum vitae“, Handschriftensammlung der Wienbibliothek im Rathaus (vormals Wiener Stadt- und Landesbibliothek), Inv.-Nr. 11.851; siehe Dobslaw 2009 (s. Anm. 20), S. 40, Anm. 132.

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für die „Wiener Quellenschriften“ in Aussicht gestellt,105 die dieser – wie unten gezeigt wird – 1888, nach Eitelbergers Tod, unter der neuen Herausgeberschaft Ilgs auch konkret anging.106 Ein Abgleich der ersten 18 Bände mit den von Sitte für seine wissenschaftlichen Arbeiten besonders intensiv konsultierten Quellen zeigt schnell, wie sehr er zeitlebens aus diesem Wissenspool schöpfte.107 Es wird ebenso deutlich, dass er im Umfeld dieser Quellenedition neben der historischen Betrachtung auch einen quellenkritischen Ansatz kennen lernte, der seine eigenen Schriften entscheidend prägend sollte.

Camillo Sittes Schriften zur „Kunsttheorie und Kunstgeschichte“ Camillo Sittes in vorliegendem Band unter den Begriffen „Kunsttheorie und Kunstgeschichte“ subsumierte Schriften, die sich häufig eindeutigen fachlichen Klassifizierungen entziehen,108 geben nur ein eingeschränktes

105 Hierzu Sittes Brief an Albert Ilg vom 14. Januar 1888, in dem er im Rückblick über die geplante Drucklegung von Pieros Malereitraktat berichtet: Dass diese nicht zustande kam, „das ist Schicksalstücke und […] keiner von uns [ist] daran Schuld [,] weder wir noch Winterberg noch auch Eitelberger, der mir ja nie einen positiven Auftrag gegeben hatte, sondern es mir blos zur Überlegung anheim stellte“. Im Postskriptum ergänzte Sitte: „Janitschek soll ja (wie mir Beyersdorfer erzählte) auch schon im Auftrage Eitelbergers eine Zeit an dem Codex des Pietro gearbeitet haben, die Sache aber als ‚unverdaulich‘ aufgegeben haben, weil er sich technisch nicht zurecht fand“. (Sitte, Camillo: Brief an Albert Ilg, 14. Januar 1888, Österreichische Nationalbibliothek, HAN: Autograph 1301/35-2, transkribiert von Roswitha E. Lacina). Das Angebot an Sitte steht im Zusammenhang mit seinen zwei hier abgedruckten Untersuchungen zu Pieros Perspektivtraktat von 1868 und 1879, S. 127–142 und S. 143–150 in diesem Bd. 106 Siehe unten S. 55 und 84, Anm. 295f. 107 Hier sind neben Lionardo da Vinci. Das Buch von der Malerei (s. Anm. 100) und Ascanio Condivi. Das Leben des Michel Angelo Buonarotti (s. Anm. 103) insbesondere folgende Werke der Quellenschriften zu nennen: Dürers Briefe, Tagebücher und Reime, nebst einem Anhange von Zuschriften an und für Dürer. Übersetzt und mit Einleitung, Anmerkungen, Personenverzeichnis und einer Reisekarte versehen von Moriz Thausing (= Eitelberger von Edelberg, Rudolph (Hg.): Quellenschriften für Kunstgeschichte und Kunsttechnik des Mittelalters und der Renaissance, Bd. 3). Wien: Braumüller 1872; ebenso Leone Battista Albertis kleinere kunsttheoretische Schriften. Im Originaltext hg., übersetzt, erläutert, mit Einleitungen und Excursen versehen von Hubert Janitschek (= Eitelberger von Edelberg, Rudolph (Hg.): Quellenschriften für Kunstgeschichte und Kunsttechnik des Mittelalters und der Renaissance, Bd. 11). Wien: Braumüller 1877. 108 Siehe hierzu auch Mönninger 1998 (s. Anm. 7), S. 12. „Künstler und Gelehrter“ – Der Universalist Camillo Sitte

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Spektrum seiner weit gefassten Interessen wieder. Sie müssen stets vor dem Hintergrund seiner anspruchsvoll projektierten, achtbändigen „Universalgeschichte“ betrachtet werden, die – von Sitte selbst in den Zusammenhang mit Herders Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit gerückt109 – aber nicht realisiert wurde.

Die hier neu edierten Texte, großteils bisher unpublizierte Manuskripte aus

dem Nachlass, können in weiten Teilen den drei oben vorgestellten Themenfeldern Perspektive, Anatomie und Farbigkeit zugeordnet werden. Im Zentrum steht das schon genannte zweiteilige Autograph „Über Geschichte des Perspectivischen Zeichnens“ und „Über Zeichen-Unterricht“,110 das – als Band III seiner „Universalgeschichte“ geplant111 – eingehender analysiert werden soll: ein über 250 Seiten starkes Rohmanuskript, in dem – auf Quellentexten von der Antike bis ins 16., teils bis ins 19. Jahrhundert fußend – der zeitliche Bogen von den Ägyptern bis zur Gegenwart gespannt ist. Durch die Einbeziehung physiologischer Forschungsergebnisse gewährt die Schrift zugleich Einblick in Sittes methodische Vorgehensweise. Dem zweiten Teil des Autographs darf wohl auch Sittes bisher isoliert stehende, hier erstmals auszugsweise publizierte „Topographische Anatomie“ zugeordnet werden, deren 37 Blatt, die recto und verso Ganzkörperdarstellungen, Detailansichten von Knochen mit Hautsilhouette sowie Schnittbilder zeigen, ebenfalls gesondert zu untersuchen sind.112 Der Aspekt „Farbigkeit“ ist mit zwei Arbeiten vertreten: Die eine stellt die Frage nach der „Bemalung figuraler Plastik im griechischen Alterthume“, der Sitte im Rahmen eines Festschriftbeitrags für seinen Freund Otto Benndorf, dem Gründer des Österreichischen Archäologischen Instituts, nachgegangen ist;113 die andere, auch als „Separat-Abdruck“ erschienen, handelt „Über Farbenharmonie“ und versucht u. a. die Farbwahrnehmungstheorien von Thomas Young und Hermann von Helmholtz vor dem Hintergrund eines historisch weit gesteckten Rahmens künstlerischer Arbeiten von der

109 Siehe hierzu Sitte „Brief an Feldegg (1899)“ (s. Anm. 3), dem eine schematische Übersicht über die acht Bände beigefügt ist, S. 366–369 in diesem Bd. 110 Siehe Sitte „Autograph, ohne Titel (o.J.) – I. Teil“ (s. Anm. 76), S. 450–563 in diesem Bd. [fol. 1–148], sowie „Autograph, ohne Titel (o.J.) – II. Teil“ (s. Anm. 64), S. 563–660 in diesem Bd. [fol. 149–263]. 111 Siehe Sitte „Brief an Feldegg“ 1899 (s. Anm. 3), S. 368 in diesem Bd. 112 Sitte, Camillo: „Topographische Anatomie (ca. 1900/1902)“, S. 422–427 in diesem Bd. 113 Sitte, Camillo: „Über die Bemalung figuraler Plastik im griechischen Alterthume (1898)“, S. 351–358 in diesem Bd.

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­Antike bis zur Gegenwart fruchtbar zu machen.114 Im vorliegenden Band ferner aufgenommen wurden kleinere Beiträge zur „Ornamentik des Islam“ und zu aktuellen Fragen „in der Architektur und im Kunstgewerbe“;115 Nachrufe auf Rudolph Eitelberger und Sittes Schwager Ludwig Blume;116 auch ein Brief an den Architekten, Architekturtheoretiker und Philosophen Ferdinand von Feldegg sowie Sittes Tabelle der „Weltanschauungs-Perioden“, die im Zusammenhang mit seiner „Universalgeschichte“ zu sehen ist.117 Hinzu kommt das 188 Seiten umfassende Manuskript „Vorträge über Geschichte der Baustyle“ von 1883–1884, das in einem gesonderten Kommentar diskutiert wird. Um ein klares Bild von Sittes Kunstverständnis zu erlangen und zumindest eine Facette seines Universalismus deutlicher zu konturieren, ist es notwendig, auch einige in andere Bände des Textkorpus der Camillo Sitte Gesamtausgabe (CSG) aufgenommene Schriften zu Malerei, Architektur und Kunstgewerbe kurz zu berücksichtigen.

Schriften zur Malerei Sittes Zugang zur Malerei ist vom „Ideal der Antike, der kunstzerstörerischen Einflussnahme des Christentums, dem Mangel der neueren Kunst an idealen Stoffen und dem unkünstlerischen Vordringen des Naturalismus“ geprägt.118 In seinen hierzu ab 1868 publizierten Beiträgen konzentriert sich Sitte auf die Malerei zwischen 1820 und der Gegenwart: Bonaventura Genelli (1798–1868), dessen Wiener Ausstellung er bespricht, rechnet er „zu den Heroen einer noch gültigen und kraftvollen Antikenrezeption“.119 Bei Wilhelm von Kaulbach (1804–1874) rühmt er anlässlich der Präsentation von dessen 114 Sitte, Camillo: „Über Farbenharmonie (1900)“, S. 370–421 in diesem Bd.; vgl. hierzu auch: Mönninger 1998 (s. Anm. 7), S. 165–171; Reiterer 2003 (s. Anm. 4), S. 68–70. 115 Sitte, Camillo: „Die Ornamentik des Islam (1889)“, S. 323–330 in diesem Bd.; Ders.: „Die Moderne in der Architektur und im Kunstgewerbe. Diskussion im Österr. Ingenieur- und Architekten-Vereine am 6. Jänner (1899)“, S. 359–365 in diesem Bd. 116 Sitte, Camillo: „Rudolf v. Eitelberger (1885)“, S. 314–320 in diesem Bd.; Ders.: „Ein stiller Mann der Wissenschaft (1897)“, S. 341–350 in diesem Bd. 117 Sitte „Brief an Feldegg (1899)“ (s. Anm. 3), S. 366–369 in diesem Bd.; Ders.: „Weltanschauungs-Perioden (1902)“, S. 428 in diesem Bd.; vgl. hierzu: Mönninger 1998 (s. Anm. 7), S. 171–173, 198–200; Reiterer 2003 (s. Anm. 4), S. 27–30. 118 Mönninger 1998 (s. Anm. 7), S. 25; siehe auch: Ders.: „Camillo Sitte als Kunstkritiker“, in: CSG, Bd. 1 (s. Anm. 8), S. 49f. Das Nachfolgende ist Mönninger verpflichtet. 119 Mönninger „Sitte als Kunstkritiker (2007)“ (s. Anm. 118), S. 50; vgl. Sitte, Camillo: „Zur Genelli-Ausstellung (1869)“, in: CSG, Bd. 1 (s. Anm. 8), S. 141–147. „Künstler und Gelehrter“ – Der Universalist Camillo Sitte

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­„Inquisitionsgericht“ im Wiener Kunstverein die Kraft der Historienmalerei, welche eine „Kulturgeschichte der Menschheit […] nicht in Worten, sondern in Bildern aufzuschreiben“ versuche.120 Sittes Kritik am 1867 entstandenen Historienbild „Der polnische Landtag (1773)“ des – u. a. an der Wiener Akademie ausgebildeten – polnischen Malers Jan Matejko (1838–1893) hingegen, dem er „Mangel einer höheren geistigen Bewegung“ vorwirft,121 darf nicht nur mit seiner „Abneigung gegen alles Slawische“ erklärt werden.122 Sie gründet auch – im Gegensatz zu Kaulbach – auf der malerischen Behandlung des Themas, die sich mit ihrem effektvollen Kolorismus und nervösem Pinselstrich der Tradition Pilotys verpflichtet zeigt. Zum beißenden Verdikt über die zeitgenössische Malerei steigert sich Sitte in seiner Besprechung von Hans Makart (1840–1884): Vergleichbar seiner späteren Beschimpfung Otto Wagners als „Zinspalast-Makart“123 nimmt er in den von der breiten Öffentlichkeit mit Begeisterung aufgenommenen Makart-Bildern eine „fiebrige, kranke Sinnlichkeit“ von Farben wahr, die „nur ein Blinder anschauen [könne], ohne daß es ihm in den Augen“ schmerze.124 Als Gegenmodell und zugleich Leitbild einer neuen Naturschilderung positioniert Sitte den später mit ihm befreundeten Maler und Graphiker Josef Hoffmann (1831–1904) – in Rom von Peter von Cornelius und Johann Friedrich Overbeck gefördert und von 1872 an mit den Bühnenbildentwürfen für die Bayreuther Uraufführung von Wagners „Ring des Nibelungen“ beschäftigt.125 Dessen Bilder seien – wie zwischen 1873 und 1900 in mehreren Besprechungen festgehalten – „mit einer Fülle interessanter Raumgruppierungen, Terrainentwicklungen, per­ spektivischen Tiefen und Verschneidungen voll Harmonie des Linienflusses“126 – „thatsächlich gemalte Poesie“.127 120 Sitte, Camillo: „Das Inquisitionsgericht von Kaulbach (1871)“, in: CSG, Bd. 1 (s. Anm. 8), S. 157. 121 Sitte, Camillo: „Matejkos neuestes Bild (1872)“, in : CSG, Bd. 1 (s. Anm. 8), S. 188. 122 Hierzu Mönninger 1998 (s. Anm. 7), S. 30; hierzu ebenso – in leicht veränderter Form – Mönninger „Sitte als Kunstkritiker (2007)“ (s. Anm. 118), S. 56. 123 Mönninger „Leben und Werk Sittes (2007)“ (s. Anm. 8), S. 39; Wilhelm 2006 (s. Anm. 89), S. 73. 124 Sitte, Camillo: „Makart. Eine Studie (1871)“, in: CSG, Bd. 1 (s. Anm. 8), S. 154. 125 Zum Folgenden Mönninger 1998 (s. Anm. 7), S. 52–64. Siehe zudem: Mönninger, Michael: „Sitte und Wagner“, in: CSG, Bd. 1 (s. Anm. 8), S. 86ff. 126 Sitte, Camillo: „Josef Hofmann’s Reisebilder. Ausstellung im Künstlerhause (1873)“, in: CSG, Bd. 1 (s. Anm. 8), S. 270; siehe ferner: Ders.: „Hoffmann’s Landschaften im Saale der Handelsakademie (1873)“, in: Ebd., S. 198–200; Ders.: „Joseph Hoffmann (1900)“, in: Ebd., S. 284– 289; Ders.: „Hoffmann’s Scenerien zum Nibelungenring (1873)“, in: Ebd., S. 201–206. 127 Sitte, Camillo: „Die Ausstellung im Künstlerhause (1892)“, in: CSG, Bd. 1 (s. Anm. 8), S. 280.

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Schriften zur Architektur Im Zentrum von Sittes Beiträgen zur Architektur, in denen er sich in „Der neue Wiener Styl“ (1881) und „Am Carlsplatz“ (1902) beispielsweise aktuellen Fragen zur Architekturgeschichte der Stadt zuwandte,128 steht Gottfried Semper (1803–1879). Dessen umfassende Bedeutung für den jungen Universalisten, die sich an Sittes Verhältnis zur Architektur des Historismus und seinem Zugang zu einer an naturwissenschaftlichen Vorbildern orientierten Theorienbildung fassen lässt, kann an dieser Stelle nur angedeutet werden.

In mehreren, seit 1873 erschienenen Artikeln würdigte Sitte neben der

„Schönheit“, „Größe“ und „Individualität“ von Sempers Ringstraßenbauten deren räumlich-städtebauliche Komposition und vor allem dessen „ewige[n] Errungenschaften […] als Theoretiker“.129 Angeregt vom Forschungsansatz von Georges Baron de Cuvier (1769–1832), der mit dem Vergleich von Tier­ anatomien eine radikale Neuerung in der Klassifizierung der Naturgeschichte einleitete, hatte nämlich auch Semper begonnen, wie ein neuer Cuvier130 mit einem „vergleichenden System“ die „Kunst und speciell […] die Architectur“ nach einigen wenigen Prinzipien zu ordnen.131 In seinem 1860 publizierten

128 Sitte, Camillo: „Der neue Wiener Styl (1881)“, in: CSG, Bd. 2: Schriften zum Städtebau und zur Architektur. Hg. von Klaus Semsroth, Michael Mönninger und Christiane Crasemann Collins. Wien, Köln u.a.: Böhlau 2010; Ders.: „Am Carlsplatz. Das Kaiser Franz JosephMuseum der Stadt Wien (1902)“, in: Ebd. 129 Sitte, Camillo: „Gottfried Semper (1873)“, in: CSG, Bd. 2 (s. Anm. 128); siehe ebenso: Ders.: „Gottfried Semper (1879)“, in: Ebd.; Ders.: „Eine Handschrift Gottfried Semper’s. Ein Beitrag zur Baugeschichte Wiens (1885)“, in: Ebd.; Ders.: „Gottfried Semper und der moderne Theaterbau (1885)“, in: Ebd.; Ders.: „Gottfried Sempers’s Ideen über Städteanlagen (1885)“, in: Ebd. Zum Folgenden siehe Mönninger 1998 (s. Anm. 7), S. 97–114. 130 Hauser, Andreas: „Der ‚Cuvier der Kunstwissenschaft‘. Klassifizierungsprobleme in Gottfried Sempers ‚Vergleichender Baulehre‘“, in: Bolt, Thomas/Grunder, Karl/Maggi, Pietro (Hg.): Grenzbereiche der Architektur. Festschrift Adolf Reinle. Basel, Boston u.a.: Birkhäuser 1985, S. 97–114. 131 Semper, Gottfried: „Entwurf eines Systemes der vergleichenden Stillehre. Vortrag, gehalten in London, 1853“, in: Ders.: Kleine Schriften. Hg. von Manfred und Hans Semper. Berlin, Stuttgart: Spemann 1884 (Reprint Mittenwald: Mäander Kunstverlag 1979), S. 259– 291; zitiert nach Mönninger 1998 (s. Anm. 7), S. 101; hierzu ebenso: Nerdinger, Winfried: „Der Architekt Gottfried Semper. ‚Der notwendige Zusammenhang der Gegenwart mit allen Jahrhunderten der Vergangenheit‘“, in: Nerdinger, Winfried/Oechslin, Werner (Hg.): Gottfried Semper 1803–1879. Architektur und Wissenschaft. Zürich, München u. a.: Prestel 2003, S. 9f. „Künstler und Gelehrter“ – Der Universalist Camillo Sitte

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theoretischen Hauptwerk Der Stil132 machte er Material, Technik, Produktion, Funktion und Bedürfnis zu den Grundlagen seiner neuen Stil- und Formengeschichte und nobilitierte zugleich „Kunsthandwerk“ und „Kunstindustrie“, aus denen sich erst „viele Jahrhunderte später“ die „Architektur als Kunst“ entwickelt hätte.133 Damit waren nicht nur die Voraussetzungen für Eitelbergers Gründung des Österreichischen Museums und Sittes späteres Selbstverständnis als Staatsgewerbeschullehrer geschaffen. Sitte erkannte nun erstmals auch die umfassende theoretische Fundierung der Architektur, der er sogleich den Rang eines „wiedergefundenen Naturgesetzes“134 zuwies. Wie zuvor Lessing in seiner kunsttheoretischen Schrift Laokoon oder über die Grenzen der Mahlerey und Poesie (1766) habe Semper Gesetze von „unvergänglicher Wirkung [aufgestellt], gerade so wie Gesetze der Mathematik und Mechanik“ – ein Urteil, das mit Sittes direktem Rückbezug auf das Naturverständnis des von ihm hochgeschätzten Physikers Hermann von Helmholtz erfolgte.135 Semper ziele nicht auf die zyklische Reproduktion der Stile, die die Gegenwart beherrsche. Vielmehr habe er Kriterien entwickelt, „dass wir das Primitive von dem höher Entwickelten, das Zusammenpassende von dem sich Widersprechenden zu trennen lernen“ und bereit sind, anstelle von „Genie und Tradition“ nun „Genie und Bewusstsein, d. i. streng wissenschaftliche und kritische Durchbildung, stylistische Überzeugung“, zu setzen.136

132 Semper, Gottfried: Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten oder praktische Ästhetik. Ein Handbuch für Techniker, Künstler und Kunstfreunde, Bd. 1: Textile Kunst und Bd. 2: Keramik, Tektonik, Stereotomie, Metallotechnik. Frankfurt/M.: Verlag für Kunst und Wissenschaft 1860 (Bd. 1); München: Bruckmann 1863 (Bd. 2) (Reprint Mittenwald: Mäander Kunstverlag 1977). 133 Semper, Gottfried: „Ueber das Verhältnis der dekorativen Künste zur Architektur. Vortrag, gehalten in London, 1854“, in: Semper 1884 (s. Anm. 131), S. 344–346; zitiert nach Mönninger 1998 (s. Anm. 7), S. 102. 134 Hierzu und zum Folgenden: Sitte „Gottfried Semper“ 1873 (s. Anm. 129); zitiert nach Mönninger 1998 (s. Anm. 7), S. 103. 135 Helmholtz formulierte 1869: „Unsere Forderung, die Naturerscheinungen zu begreifen, das heisst ihre Gesetze zu finden […] dass wir die Kräfte aufzusuchen haben, welche die Ursachen der Erscheinungen sind. Die Gesetzlichkeit der Natur wird als causaler Zusammenhang aufgefasst, sobald wir die Unabhängigkeit derselben von unserem Denken und unserem Willen anerkennen.“ Helmholtz, Hermann von: „Über das Ziel und die Fortschritte der Naturwissenschaften (1869)“, in: Ders.: Vorträge und Reden, Bd. 1. Braunschweig: Vieweg 1884, S. 342f.; zitiert nach Mönninger 1998 (s. Anm. 7), S. 112, Anm. 23. 136 Sitte „Gottfried Semper“ 1873 (s. Anm. 129); zitiert nach Mönninger 1998 (s. Anm. 7), S. 104–105.

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Publikationsorgane Trotz Sittes steter Forderung nach strenger Wissenschaftlichkeit und seiner teilweise innovativen Verknüpfungen unterschiedlichster Themenfelder: die Intention seiner hier nur ausschnitthaft vorgestellten Schriften, in denen er schwerpunktmäßig aktuelle Themen aufgriff, war populär. Dies verdeut­licht schon ein Blick auf seine Publikationsorgane. Es wurde bereits festgestellt, dass der größte Teil seiner Artikel und Beiträge im Neuen Wiener Tagblatt abgedruckt wurde – der führenden, 1867 vom böhmischen Statthalter Richard Graf Belcredi gegründeten deutsch-liberalen Zeitung137 –, womit sich Sitte, ähnlich Eitelberger, bevorzugt mit journalistischem Anspruch an eine breite Öffentlichkeit wandte. Bisher unbeachtet blieb, dass keine einzige seiner Studien in einem der großen, verstärkt seit Mitte des 19. Jahrhunderts im deutschen Sprachraum etablierten kunsthistorischen Fachorgane erschien, in denen er sich der damaligen wissenschaftlichen Fachdiskussion gestellt und als Fachwissenschaftler profiliert hätte: weder in der 1866 gegründeten, von seinem Wiener Kollegen Lützow herausgegebenen Zeitschrift für bildende Kunst und der als Beilage erschienenen Kunstchronik, noch im Jahrbuch für Kunstwissenschaft (ab 1868), dem 1876 umbenannten Repertorium für Kunstwissenschaft, noch in dem 1883 von Eitelberger mitbegründeten Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses oder in einer anderen Fachzeitschrift. Auffallen muss ferner, dass Eitelberger seinen Schüler – trotz des engen Umgangs – nicht mit der Bearbeitung von einem der Bände der Wiener Quellenschriften für Kunstgeschichte betraute.138 Allein Sittes – unten abgedruckter – Beitrag zur „Perspectivlehre des Pietro degli Franceschi“139 erschien 1879 in Eitelbergers renommierten Mittheilungen des Österreichischen Museums für Kunst und Industrie.

137 Mönninger 1998 (s. Anm. 7), S. 24. 138 Siehe hierzu Anm. 105. 139 Siehe Sitte, Camillo: „Die Perspectivlehre des Pietro degli Franceschi (1879)“, S. 143–150 in diesem Bd. „Künstler und Gelehrter“ – Der Universalist Camillo Sitte

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12  Camillo Sitte, „Perspectivlehre des Pietro degli Franceschi“ (Manuskript), 1879, fol. 1

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Das sogenannte große Autograph: „Über Geschichte des Perspectivischen Zeichnens“ und „Über Zeichen-Unterricht“ Von seinen Zeitungsbeiträgen klar abzusetzen ist Sittes zweiteiliges, 262 Seiten umfassendes Manuskript „Über Geschichte des Perspectivischen Zeichnens“ und „Über Zeichen-Unterricht“, das – thematisch und inhaltlich den oben genannten Vorlesungen Ferstels verpflichtet und in einem gleichfalls unpublizierten Manuskript von 1868 sowie der genannten „Perspectivlehre des Pietro degli Franceschi“ von 1879 vorbereitet140 (Abb. 12) – allein schon nach Umfang und zeitlichem Horizont des Untersuchungsfeldes einen vollkommen anderen Anspruch vertritt. Da das Autograph in einer frühen, teils nur grob redigierten Textfassung vorliegt, Fußnoten – von Markierungen abgesehen – zur Gänze fehlen und die geplanten Textillustrationen mit wenigen Ausnahmen verloren sind, erscheint es angemessen, sich im Folgenden anstelle einer kritischen Textanalyse auf die Referierung zentraler Inhaltspunkte zu beschränken.

Im ersten, 148 Seiten umfassenden Teil (Abb. 13, 14) konzentriert sich Sitte

auf zwei Themenkomplexe, die zugleich als Abbild seines methodischen Verständnisses gelten können: die „Geschichte der Perspective[,] wie sich dieselbe aus den Denkmälern der zeichnenden Künste entnehmen läßt“, und zwar – wie er besonders betont – erstmals auch auf Basis der „Physiologie“, also unter Berücksichtigung der „Beschaffenheit des menschlichen Auges“ und der „Vorgänge beim Sehacte“, dargelegt;141 und „parallel [… zu] dieser practischen […] die theoretische Entwicklung“, die unter Auswertung der Quellenschriften erfolgen soll.142 Die Klärung beider Bereiche sieht Sitte als Grundlage für die Beurteilung der damaligen Diskussionen über die ­„Methodik des

140 Sitte, Camillo: „Beobachtungen über bildende Kunst, besonders über Architectur, vom Standpuncte der Perspective (1868)“, S. 127–142 in diesem Bd.; Sitte „Pietro degli Franceschi“ 1879 (s. Anm. 139), S. 143–150 in diesem Bd. Zentrale Inhaltspunkte des Autographen, z.B. die Frage der Entwicklung der Perspektive und die Nutzbarmachung der historischen Erkenntnisse für den Zeichenunterricht, finden sich bereits in einem Vortrag Sittes von 1884. Siehe Sitte, Camillo: „Zur Geschichte und Methodik des elementaren Körperzeichnens (1884)“, in: CSG, Bd. 4: Schriften zu Pädagogik und Schulwesen. Hg. von Klaus Semsroth, Michael Mönninger und Christiane Crasemann Collins. Wien, Köln u.a.: Böhlau 2008, S. 164–189. 141 Sitte „Autograph, ohne Titel (o.J.) – I. Teil“ (s. Anm. 76), S. 449f., 526 in diesem Bd. [fol. 2, 3, 113]. 142 Ebd., S. 526f. in diesem Bd. [fol. 113f.]. „Künstler und Gelehrter“ – Der Universalist Camillo Sitte

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13  Camillo Sitte, „Autograph, ohne Titel“ (Manuskript), I. Teil, o. J., Titelseite

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14  Camillo Sitte, „Autograph, ohne Titel“ (Manuskript), I. Teil, o. J., fol. 2

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­Zeichenunterrichts“,143 denen der zweite, 114-seitige Manuskriptteil gewidmet ist.

Ausgangspunkt seiner Untersuchung ist die Ende des 19. Jahrhunderts

aktuelle Erkenntnis „der […] Gleichheit zwischen der Art, in welcher die Bilder ältester Culturvölker ausgeführt sind, und zwischen der Art erster Zeichnungsversuche von Kindern“.144 Er konstatiert, dass auf dem „Gebiete des Zeichnenlernens […] die Entwicklung des Einzelnen nach großen Grundzügen in abgekürzter Form denselben Weg [nimmt,] den die Culturentwicklung ganzer Völker gegangen ist“145 und dass „auch der Weg, auf welchem das […] Ziel erreicht wird, […] derselbe“ sei.146 Die „Stufenfolge der verschiedensten Fortschritte von Kinderzeichnungen an bis zum Meisterwerk“ ende laut Sitte mit der „Fähigkeit[,] die drei Dimensionen der uns umgebenden räumlichen Gebilde auf den nur zwei Dimensionen einer Zeichenfläche so darzustellen, daß das Auge in täuschender Weise von bildlichen Darstellungen einen gleichen Eindruck empfängt, wie von den Gegenständen der Natur selbst“.147

Die „geschichtliche Entwicklung der Zeichenkunst“ gliedert Sitte in eine

Vorstufe und vier Perioden. In der „hypothetisch construirte[n] Vorstufe“, der die „primitivste Culturentwicklung“ in der „Bronze- und Steinzeit“ angehöre, zeige sich – so Sitte – die Ähnlichkeit von „Schrift und Zeichnung“

143 Ebd., S. 449 in diesem Bd. [fol. 2]. 144 Ebd., S. 141f. in diesem Bd. [fol. 8]; Sitte weist ebenso darauf hin, „daß zuweilen schon moderne primitive Zeichnungen[,] selbst nachweisliche Kinderzeichnungen[,] von Archäologen als hochwichtige Alterthümer angesehen wurden.“ (S. 454 in diesem Bd. [fol. 12f.]) Wie sehr Sitte an dieser Stelle auf den aktuellen Theorien – beispielsweise Ernst Haeckels biogenetischer Rekapitulationstheorie – basiert, zeigt ein Beitrag des von ihm in anderem Zusammenhang vielfach rezipierten Wilhelm Wundt: „Die Zeichnungen des Kindes und die zeichnende Kunst der Naturvölker“, in: Barth, Paul u. a. (Hg.): Festschrift Johannes Volkelt zum 70. Geburtstag. München: Beck 1918, S. 1–24. Wundts Schrift erschien zwar erst 1918, also 15 Jahre nach Sittes Tod, resümiert aber Erkenntnisse der letzten Jahre, wenn er schreibt: „Es sind vor allem zwei solche Analogien, die in den Diskussionen über die Anfänge der Kunst in den letzten Jahren eine gewisse Rolle gespielt haben: Die eine lautet: wie nach dem bekannten Gesetze der Übereinstimmung der Ontogenie mit der Phylogenie die Entwicklungsgeschichte des Individuums eine abgekürzte Wiederholung der Entwicklungsgeschichte der Gattung ist, so wiederholen sich in der Kunst des Kindes oder […] in den Kinderzeichnungen die allgemeinen Eigenschaften und die Entwicklungsstufen der Kunst des Naturmenschen“ (Ebd., S. 2). 145 Sitte „Autograph, ohne Titel (o.J.) – I. Teil“ (s. Anm. 76), S. 457 in diesem Bd. [fol. 17]. 146 Ebd., S. 454f. in diesem Bd. [fol. 13]. 147 Ebd., S. 454 in diesem Bd. [fol. 13].

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und lege nahe, dass ehemals „Schrift und Bild in Eins verwachsen waren“.148 Der „I. Periode“ rechnet Sitte alle „alt assyrischen und ägyptischen“ sowie „alle ältesten griechischen, italischen, keltischen, germanischen“ Bilder zu.149 Diese würden „Gegenstände“ nur als vereinfachte „Begriffe“ mit deutlichen Schwierigkeiten bei der Wiedergabe von „Tiefendimension“ und „Verkürzung“ wiedergeben.150 Als künstlerische Prinzipien nennt er die „Methode des Auslassens“,151 das „Neben- und Übereinander“ anstelle des „Hintereinander“,152 und für die Darstellung der „menschlichen Gestalt“ einfachste „Stellungen“ mit der „geringsten Anzahl von Verkürzungen“.153

In der „II. Periode“, der u. a. die „höher entwickelte assyr. Kunst und […

die] spätere ägyptische um die Zeit der 18ten Dynastie“ angehören,154 erkennt Sitte neben der Einführung des Horizonts als ersten Schritt zur Landschaftsdarstellung eine „Annäherung zum perspectivischen Zeichnen“.155 „Das Wesentliche des Fortschritts“ sei aber, „daß die Tiefendimension nicht mehr mechanisch in die Zwischenfläche versetzt wird, sondern daß in immer ausgebreiteterer Weise ihre wirkliche perspectivische Darstellung, jedoch nur der vollen Verkürzung, also der einfachsten Tiefenrichtung senkrecht auf die Bildfläche[,] versucht wird“.156 148 Ebd., S. 460f. in diesem Bd. [fol. 21–23]. 149 Ebd., S. 461, 482 in diesem Bd. [fol. 23, 57]; zur „I. Periode“ siehe S. 461–484 [fol. 23–60]. 150 Ebd., S. 461, 472ff. in diesem Bd. [fol. 24, 40ff.]. 151 Ebd., S. 473 in diesem Bd. [fol. 41]. 152 Ebd. 153 Ebd., S. 473–477 in diesem Bd. [fol. 42–49]. Sein Modell der Periodisierung nutzt Sitte beispielsweise auch, um die These eines ägyptischen Einflusses auf die „Zeichenmethoden“ Griechenlands, Kleinasiens und Italiens zu widerlegen. Er begreift die Zeichenkunst als Polygenese, da es sich jeweils „um typische Stellungen der ersten Kunststufe“ handle (Ebd., S. 477–482 in diesem Bd. [fol. 50–56]). 154 Ebd., S. 484 in diesem Bd. [fol. 61]; zur „II. Periode“ siehe S. 484–498 [fol. 60–82]. 155 Ebd., S. 486f. in diesem Bd. [fol. 63f.]; als besondere Kennzeichen sieht Sitte erneut drei „Methoden“: „1. Methode: Von mehreren gleichgestalteten hinter einander sich befindenden Körpern wird der Vorderste gezeichnet und die rückwärtigen durch Wiederholung der Conturen angedeutet. 2. Methode: Die Elemente zweier unverkürzter Nachbarstellungen vereinigen sich zu einer Mischbildung aus der sich allmälig die volle Verkürzung entwickelt. 3. Methode: Die Elemente einer einzigen frontalen Ansicht setzen sich unmittelbar mit Elementen der angestrebten vollen Verkürzung zusammen“ (Ebd., S. 497 in diesem Bd. [fol. 80]). 156 Ebd., S. 498 in diesem Bd. [fol. 82]; Grundlage für diesen Schritt sei die Erkenntnis, dass bei einem von der Seite betrachteten Gegenstand nicht alle Teile wahrgenommen werden könnten. „Künstler und Gelehrter“ – Der Universalist Camillo Sitte

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Der „III. Periode“, von Sitte als „Übergangsperiode“ begriffen, „gehören

sämmtliche Werke der spätesten griechisch-römischen Kunst an und dann wieder die Werke des späteren Mittelalters“,157 die wieder das Niveau der pompejanischen Malerei erreicht hätten.158 In den Bildern dieser Periode sei ihm zufolge „Richtiges und Falsches bunt durcheinander gewürfelt“.159 In der Figurendarstellung bemerkt er u. a. das Bemühen um kompliziertere Körperhaltungen und Gesichtsprofile160 und in der Architektur- und Landschaftsdarstellung als „bedeutende Umwälzung“ den „ersten Schritt zur Auffindung des Verschwindungspunktes“:161 „Gegenstände des Hintergrundes“ seien bereits verkleinert und „gerade in die Tiefe laufende Linien“ nicht „parallel gezeichnet“, sondern „bereits geneigt“.162 Dennoch – so Sitte weiter – werden die „fallenden Linien der Architektur […] nicht sogleich auch auf die danebenstehenden Figuren angewendet und überall mangelt es an Einheit des Augpunktes“.163

Die „IV. Periode“ markiert laut Sitte die höchste, erstmals im „Zeitalter

der Renaissance“ erklommene Stufe der Zeichenkunst.164 Voraussetzung hierfür sei der „Drang nach vollständig klarer[,] d. i. auch nach theoretischer Erkenntniß des perspectivischen Problems“ gewesen.165 Ausgehend von ­Albertis Glastafelverfahren verweist er auf die „eigene Kaste von Perspectivmalern“, 157 Ebd., S. 498f. in diesem Bd. [fol. 75 (Doppelpaginierung)]; zur „III. Periode“ siehe S. 498– 512 [fol. 75–95] (teilweise Doppelpaginierung). Obwohl in der Antike Optik und Geome­ trie als Wissenschaft bereits ausgebildet waren, sei die Theorie der Perspektive in dieser Zeit noch nicht erkannt worden (Ebd., S. 495 in diesem Bd. [fol. 76]). 158 Ebd., S. 501 in diesem Bd. [fol. 79]; ihren Tiefpunkt habe die Entwicklung im 11. und 12. Jahrhundert; Sitte verweist hier besonders auf die Mosaikausstattungen der Hagia Sophia in Istanbul und des Doms in Monreale. 159 Ebd., S. 511 in diesem Bd. [fol. 94]. 160 Er verweist beispielsweise auf die Kombination des „Viertelprofils aus dem Halbprofil und der Frontalansicht, oder [… des] Dreiviertelprofils aus Profil und Halbprofil“ (Ebd., S. 502 in diesem Bd. [fol. 82]). 161 Ebd., S. 506, 508 in diesem Bd. [fol. 88, 90]; an der Stelle heißt es weiter: „Unzählige Beispiele dazu bieten die pompejanischen Malereien, die reichen Darstellungen an der Trajanssäule, an den römischen Triumphbogen und endlich in noch viel vollkommenerer ununterbrochenerer Folge die Darstellungen des 12., 13. und 14., selbst noch 15. Jahrhunderts“ (Ebd., S. 508 in diesem Bd. [fol. 90]). 162 Ebd., S. 508 in diesem Bd. [fol. 90]. 163 Ebd., S. 511 in diesem Bd. [fol. 94]; zu den in drei Punkten zusammengefassten „Methoden“ der Formbildung siehe S. 511f. [fol. 95]. 164 Ebd., S. 499 in diesem Bd. [fol. 75]; zur „IV. Periode“ siehe S. 512–526 [fol. 96–113]. 165 Ebd., S. 512 in diesem Bd. [fol. 97].

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denen er in Italien u. a. Agostino della Prospettive und Baldassare Peruzzi sowie den „vorzüglichsten deutschen Perspectivmaler“, Vredeman de Vries, zurechnet.166 Anhand von Domenico Ghirlandaio, Paolo Veronese, Raffael und Correggio erläutert er die „neu entwickelten Grundsätze über die Wahl des Augpunktes und des Horizonts“.167 Und er erkennt in Michelangelos Ausmalung der Capella Sistina den Kulminationspunkt der Entwicklung: „das Höchste an Vollendung der perspectivischen Zeichnung“.168

Die Ursache für dieses „mühevolle und langsame Fortschreiten“ der Per-

spektivkunst liege Sitte zufolge nicht im Beharren auf alten Darstellungstraditionen, sondern an der Physiologie. Er konstatiert unter Bezugnahme auf Helmholtz, dass der Mensch zwar perspektivisch sehe, aber nicht perspektivisch denke.169 Jeder perspektivisch wahrgenommene Gegenstand werde nämlich direkt in ein „feststehendes unwandelbares Vorstellungsbild“ transformiert, „in dem es keine veränderlichen perspectivischen Verkürzungen gibt, sondern nur wahre Längen, Breiten und Höhen“.170 Der Grund hierfür sei, dass das Auge im Gegensatz zum Tastsinn die drei Raumdimensionen „nicht unmittelbar“ wahrnehmen könne, „sondern es schiebt sich zwischen die räumlichen Dinge und zwischen die Vorstellung derselben das Netzhautbild als Durchgangsstation“.171 So sieht Sitte die Entwicklungsgeschichte der perspektivischen Zeichenkunst in eine „als Resultat aller vorangehenden Bemühungen“ verstandene „Grundregel“ münden, in der er sich Albertis Definition des Bildes zueigen macht, wenn er feststellt: „Das perspectivische Bild ist der Schnitt irgend einer Fläche mit der Sehpyramide oder Perspective ist centrale Projection“.172

In den letzten 35 Seiten des Manuskripts rückt Sitte die „Geschichte der

Perspectivlehre“, also die Quellenschriften, ins Zentrum seiner Betrachtung, die er „nach den drei Hauptgebieten […], wie sie gegenwärtig in gesonderten Disciplinen behandelt werden, nämlich als Optik, Physiologie des Sehens und malerische Perspective“, unterscheidet.173 Das hier von Sitte aufbereitete und untersuchte Material umfasst weitgehend das gesamte ein166 Ebd., S. 515 in diesem Bd. [fol. 98]. 167 Ebd., S. 516–520 in diesem Bd. [fol. 99–103]. 168 Ebd., S. 521 in diesem Bd. [fol. 104]. 169 Ebd., S. 522 in diesem Bd. [fol. 106]. 170 Ebd., S. 522 in diesem Bd. [fol. 106]. 171 Ebd., S. 523 in diesem Bd. [fol. 107a]. 172 Ebd., S. 525 in diesem Bd. [fol. 112]. 173 Ebd., S. 526 in diesem Bd. [fol. 113f.]. „Künstler und Gelehrter“ – Der Universalist Camillo Sitte

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schlägige Schrifttum von Antike, Mittelalter und Renaissance, mit vereinzelten Ausblicken auch auf das 17. und 18. Jahrhundert, womit er bereits auf die entsprechenden Passagen in Julius Schlossers – im Umfeld des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung entstandener – Kunstliteratur vorausweist.174

Ausgehend von terminologischen Fragen zeigt Sitte, dass das „Wort Per-

spective […] zuerst Vitellion 1270 […] als Titel einer neuen Unterabteilung der Optik gebraucht“ habe und im Unterschied „zur optischen Perspective“ erstmals „bei Pélerin: De artificiali perspectiva 1505“ als „Bezeichnung für malerische Perspective“ Verwendung fand.175 Sein besonderes Interesse gilt aber dem „Verschwindungspunkt“, dem er u. a. in den Schriften von Vitruv, Leonardo da Vinci, Albrecht Dürer, Egnazio Danti, Lorenzo Sirigatti und Andrea Pozzo nachgeht. Er weist nach, dass der „in der Perspectiv-Construction seiner Zeit weit voran“ geeilte Dürer den Verschwindungspunkt „mit dem wahren Augpunkt“ verwechselt176 und dass dieses Problem erstmals 1796 (tatsächlich schon 1784) in Johann Michael Rödels Abhandlungen von den zufälligen Punkten in der Perspektivkunst seine vollständige Lösung gefunden habe.177 Ferner macht er deutlich, dass „der eine Theil der Theorie vom Verschwindungspunkt“ aus „der Praxis“ stamme, während „der andere Theil[,] nämlich die Form der Sehpyramide“, ein von „den Mathematikern“ entlehntes Modell darstelle.178 Daraus resultiere, dass „Maler[,] welche bei Bildung des perspectivischen Grundgedankens eine Rolle spielen, […] in enger Verbindung mit der Mathematik“ standen, wie Paolo Uccello, Piero della Francesca, Peruzzi, Leonardo und Dürer; und dass bei „allen Perspectivlehrern des 16. und 17. Jahrhunderts […] noch vornehmlich die alten und mittelalterlichen Mathematiker und Optiker citirt [werden], besonders Euclid, Vitellius,

174 Schlosser, Julius von: Die Kunstliteratur. Ein Handbuch zur Quellenkunde der neueren Kunstgeschichte. Wien: Schroll 1924. Wie Schlosser im Vorwort hinweist, ist das Werk, mit dem er sich der „philologisch-historischen Herkunft aus Sickels und Wickhoffs Schule“ verpflichtet zeigt, „zuerst in den Sitzungsberichten (Philosophisch-historische Klasse) der Wiener Akademie der Wissenschaften erschienen unter dem Titel: Materialien zur Quellenkunde der Kunstgeschichte (10 Hefte 1914–1920)“. Ob Schlosser Zugang zum Nachlass Sittes hatte, ist nicht bekannt. 175 Sitte „Autograph, ohne Titel (o.J.) – I. Teil“ (s. Anm. 76), S. 528 in diesem Bd. [fol. 115]. 176 Ebd., S. 535 in diesem Bd. [fol. 122]. 177 Ebd., S. 532 in diesem Bd. [fol. 120]. 178 Ebd., S. 540 in diesem Bd. [fol. 129].

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Alhazen, Alckin u. andere“.179 In einem eigenen Untersuchungspunkt wendet sich Sitte mit einem Überblick über die wichtigsten Autoren der „Entstehung der neueren Perspectivliteratur“ zu.180

Die von Sitte abschließend unter – nicht immer korrekter – Bezugnahme

auf Giorgio Vasari aufgeworfene Frage nach dem „Erfinder der Perspective“181 wird von ihm selbst mit dem Hinweis relativiert, dass von einem einzigen „Erfinder der Perspective gar nicht die Rede sein“ könne. Vielmehr sei zu fragen, „wer zuerst den perspectivischen Grundgedanken […] auszusprechen vermochte [, …] wer diese Grundregel zuerst niedergeschrieben, und unter welchen Einflüssen dieß stattgefunden“ habe.182 In dem Zusammenhang fällt auf, dass Sitte zwar beispielsweise den Anteil der Maler Jan van Eyck und Uccello relativiert,183 doch an keiner Stelle auf die herausragenden Leistungen von Filippo Brunelleschi und Masaccio zu sprechen kommt, obwohl schon in Ludwig Schorns Kommentar zu Vasaris Brunelleschi-Vita zu lesen war, dass „Paolo [Uccello] durch Filippo Brunellesco zum Studium der Perspective veranlasst worden“ sei.184 Stattdessen betont Sitte zu Recht die besondere Bedeu­ tung Albertis – Autor des „älteste[n] Lehrbuch[s] der Perspective“ –, die er u. a. am „Hülfsmittel“ des Quadratnetzverfahrens exemplifiziert.185 Den ers­ ten Rang weist er aber zwei anderen Künstlern und Theoretikern zu: Piero della Francesca, der die „perspectivische Grundregel […] zum ersten male auszusprechen vermochte“186 und dessen De prospective pingendi Sitte – als Kern seines wissenschaftlichen Oeuvres – für die „Wiener Quellenschriften“ bearbeiten sollte;187 und Albrecht Dürer, mit dem die „Wendung zur richtigen geometrischen Construction“ beginne.188 179 Ebd., S. 540f. in diesem Bd. [fol. 129f.]. 180 Ebd., S. 544ff. in diesem Bd. [fol. 133–137]. 181 Ebd., S. 550 in diesem Bd. [fol. 137]. 182 Ebd., S. 550 in diesem Bd. [fol. 138]. 183 Siehe hierzu ebd., S. 550–552 in diesem Bd. [fol. 137–139]; sie zählt er nur zur Gruppe derjenigen Meister, die „sich vergebens bemüht haben, den Schleier der Perspective zu lüften“, die aber „dieselbe practisch schon ziemlich gut auszuüben verstehen“. 184 Schorn, Ludwig (Hg.): Leben der ausgezeichnetsten Maler, Bildhauer und Baumeister, von Cimabue bis zum Jahre 1567, beschrieben von Giorgio Vasari, Bd. 2,1. Stuttgart, Tübingen: Cotta 1837, S. 83, Anm. 2. 185 Sitte „Autograph, ohne Titel (o.J.) – I. Teil“ (s. Anm. 76), S. 555, 557 in diesem Bd. [fol. 142, 144]. 186 Ebd., Zitat S. 554 in diesem Bd. [fol. 141]; hierzu S. 554–558 [fol. 141–145]. 187 Hierzu unten S. 84. 188 Sitte „Autograph, ohne Titel (o.J.) – I. Teil“ (s. Anm. 76), S. 561 in diesem Bd. [fol. 147]. „Künstler und Gelehrter“ – Der Universalist Camillo Sitte

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15  Camillo Sitte, „Autograph, ohne Titel“ (Manuskript), II. Teil, o.J., Titelseite

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16  Camillo Sitte, „Autograph, ohne Titel“ (Manuskript), II. Teil, o. J., fol. 149



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In seinem inhaltlich direkt an den ersten Manuskriptteil anschließenden zweiten Teil „Über Zeichen-Unterricht“ (Abb. 15, 16) geht es Sitte – wie er einleitend darlegt – um die „Anwendung aller dieser Erkenntnisse [aus der Geschichte des perspektivischen Zeichnens] auf den Zeichenunterricht“.189 Auf den letzten 80 Seiten dieser Studie entwickelt er seine Kritik am zeitgenössischen Zeichenunterricht, die zur bitteren Abrechnung mit dem schalen modernen Spezialistentum gerät.190 Von der Erkenntnis geleitet, dass „die ungeometrischen, mannigfach gekrümmten Flächen des menschlichen Körpers einer perspectivischen Construction [am schwierigsten] zugänglich sind“191 und dass ohne ein tiefes Verständnis für „Proportion, Anatomie und Perspective“ eine „hinlängliche Einsicht in das innere Wesen [… des menschlichen] Aufbaus“ unmöglich ist,192 formuliert Sitte zugleich sein Hauptanliegen: die Neubegründung einer figuralen Perspektivlehre im Zeichenunterricht. Denn „gegenwärtig“ – so Sitte weiter – würden „Figuren in der Regel gezeichnet ohne Erklärung ihrer Anatomie und Perspective, denn derlei geht den Zeichenlehrer nichts an, das ist wieder die Specialität des Anatomieund Perspectivlehrers“.193 Entschieden wendet sich Sitte gegen die übliche „Zersetzung“ von Zeichnung und Zeichenunterricht in „gesonderte Theile“: „Zeichentechnik, Anatomie, Perspective, Proportion und dann ein noch nicht recht löslich gewordener Niederschlag von dem man vermuthet, daß allerlei Historisches, Ästhetisches, Ethisches, Nationales und wer weiß, was noch für Ingredienzien darin stecken mögen.“194 „Auf welche Weise mit den Anfängen des Zeichenunterrichtes bereits die Anfänge der perspectivischen Theorie der Anatomie etc. zu verbinden seien“,195 findet Sitte bei den alten Meistern vorgezeichnet, „weil die Wissenschaft bei ihnen noch nicht specialisiert ist, und die Fühlung mit der Kunst und dem practischen Leben noch nicht verloren hat“.196 Zwei Namen hebt er in

189 Sitte „Autograph, ohne Titel o.J. – II. Teil“ (s. Anm. 64), S. 563 in diesem Bd. [fol. 149]. 190 Ebd., S. 590ff. in diesem Bd. [fol. 183ff.]. 191 Ebd., S. 595 in diesem Bd. [fol. 187]. 192 Ebd., S. 645 in diesem Bd. [fol. 247]. 193 Ebd., S. 645 in diesem Bd. [fol. 247]. 194 Ebd., S. 644 in diesem Bd. [fol. 245]; ebenso heißt es an dieser Stelle über den Zeichenunterricht: „Kunstgeschichte, Ästhetik, Proportion, Anatomie, Perspective werden gesondert vorgetragen und der eigentliche Zeichenunterricht beschäftigt sich demzufolge ausschließlich nur mit Einübung der Technik des Zeichnens“. 195 Ebd., S. 623 in diesem Bd. [fol. 221]. 196 Ebd., S. 649 in diesem Bd. [fol. 252].

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diesem Zusammenhang besonders hervor, Michelangelo und Dürer: Michelangelo habe wie kein anderer „die Construction des menschlichen Körpers in den verschiedensten Bewegungen so klar durchgeführt“.197 Dürer hingegen habe hinsichtlich der Alternativen, um bei der Konstruktion „des menschlichen Körpers […] nicht zeitlebens auf einige auswendig gelernte Schemata oder beständig auf Modell und Gliederpuppe angewiesen“ zu sein198 und die Schwierigkeiten der „anatomischen Verlängerungen, Verkürzungen und Verschiebungen bei den Bewegungen der Gliedmaßen“199 zu meistern, bereits „mehrere Verfahren“ angegeben. Diese sollen im Zusammenhang mit Sittes „Topographischer Anatomie“ weiterverfolgt werden.

„Topographische Anatomie“ Sittes anatomische Zeichnungen, vor dem Hintergrund seiner 1871/72 und 1872/73 unternommenen, oben genannten „Secierübungen“ bei Josef Hyrtl zu sehen, dürften allerdings deutlich später entstanden sein und stehen, da ohne Kommentar etwa hinsichtlich Funktion und inhaltlicher Zuordnung, bisher vollkommen zusammenhangslos innerhalb seines schriftlichen Nachlasses.200 Eine 197 Ebd., S. 613 in diesem Bd. [fol. 207]. 198 Ebd., S. 595 in diesem Bd. [fol. 187]. Das Kopieren nach Modell und Gliederpuppe macht Sitte mitverantwortlich für den „Verfall der großen idealen Kunst“: „Wenn wir also mit unserer gegenwärtigen entweder alte Stylformen oder die Natur reproducirenden Kunst zufrieden sind, wenn es uns genügt, naturalistische Baumschläge, bausbäckige Bauernjungens in trefflich abgewetzten Lederhosen, Modellacte und Faltenwurftraperien über die Gliederpuppe zu sehen, dann brauchen wir auch keine andere Zeichenschule als eine solche in der man gut copiren lernt“ (Ebd., S. 610 in diesem Bd. [fol. 204f.]). 199 Ebd., S. 602 in diesem Bd. [fol. 194]. 200 An dieser Stelle gilt mein sehr herzlicher Dank Herrn Prof. Dr. Helmut Gruber, Vorstand des Instituts für Anatomie und Zellbiologie der Medizinischen Universität Wien, mit dem ich die Zeichnungen der „Topographischen Anatomie“ ausführlich diskutieren konnte. Seinen Auskünften ist Nachstehendes verpflichtet. Möglicherweise kannte Sitte auch den Inhalt von Ernst Brückes Brief an Rudolph Eitelberger vom 29. Oktober 1850 (s. Anm. 58), in dem darüber gehandelt wird, „welche Form wohl der anatomische Unterricht annehmen müßte, um den Zwecken einer höheren Kunstschule möglichst zu entsprechen“. Darin heißt es u. a.: „Der wesentliche Grund dieser Unzulänglichkeit [des bisherigen anatomischen Unterrichts] liegt darin, daß der Künstler in der Regel nicht weiß, was ihm die Anatomie zu leisten im Stande ist, der Anatom nicht weiß, was der Künstler von der Anatomie verlangt. […] Die Anatomie soll dem angehenden Künstler das Verständnis des Modells eröffnen […]. Die Anatomie soll ihn lehren, den menschlichen Körper kunstgemäß und mit Bewusstsein zu vermessen, damit die Lehre von den Proportionen ihm nicht ein totes Schema sei“. „Künstler und Gelehrter“ – Der Universalist Camillo Sitte

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Analyse der 37 Blatt der „Topographischen Anatomie“,201 die recto eine vom Hals bis zu den Füßen absteigende Sequenz von Schnittbildern und verso in aufsteigender Auswahl Detailansichten von Knochen und Gelenken mit Hautsilhouette wiedergeben, bestätigt einerseits Sittes genaue anatomische Kenntnisse (Abb. 17). Sie zeigt aber andererseits, dass die Zeichnungen weder den damaligen Ansprüchen traditioneller medizinischer noch künstlerischer Ausbildung genügten: Für die einen waren sie, obwohl teils penibel und detailgetreu wahrscheinlich nach Schnittvorlagen, teils aber auch frei interpretierend gezeichnet, im Vergleich mit der damals hoch entwickelten Lehrbuchanatomie zu ungenau; auch können Beschriftungen wie „Fuß“202 anstelle von Bein ein dilettantisches Fachverständnis nicht verbergen (Abb. 18). Für die anderen waren sie, da Künstler nicht lernten, aus Detailansichten oder Schnitten eine Vorstellung des gesamten Menschen zu entwickeln, ebenfalls unbrauchbar, gerade auch angesichts des Verzichts auf die Wiedergabe aller reliefbildenden Strukturen wie Muskelmasse, -formen und -ansatzpunkte.

Ein eingehenderes Studium von Sittes „Topographischer Anatomie“ rückt

drei Aspekte in den Vordergrund: die Systematik des Aufbaus, mit der die durchnummerierten Schnitte anhand der entsprechend markierten Stellen an der ganzfigurigen Darstellung eines von vorne wie von der Seite gezeigten Mannes zu überprüfen sind; das erkennbare Interesse an der Relation von stützendem Knochenskelett und Oberflächensilhouette der Haut, wozu bis dahin keine Publikation existierte, die offensichtlich von Sitte – wie der Zusatz „alle Rechte vorbehalten“ unter den Zeichnungen deutlich macht203 (Abb. 19) – geplant war; und das vordergründige Interesse an den Körperproportionen, das angesichts der natürlichen Größe der Schnitte und Details wohl auf einen leichten Nachvollzug zielte. Die daraus resultierende Feststellung, dass Sitte mit seiner „Topographischen Anatomie“ ein Spezialinteresse verfolgt haben muss, führt schließlich zur Frage nach Zielgruppe und Anwendungsbereich dieser Vorlagen, die wohl im Kontext des Zeichenunterrichts vermutet werden dürfen.

Mit Bezug auf die Schnittbilder in Sittes „Topographischer Anatomie“

verdient folgender Passus in seiner „Geschichte des Zeichen-Unterrichts“ Interesse, in dem er ausführt: „Eine Methode Dürers[,] eine menschliche Figur 201 Sitte „Topographische Anatomie (ca. 1900/1902)“, S. 422–427 in diesem Bd. Die Bezeichnung „Topographische Anatomie“ findet sich über einem Teil der Zeichnungen (z. B. fol. XXI recto). 202 Ebd., fol. XX recto – XXVI recto. 203 Ebd., fol. XXII recto, fol. XXIV recto, fol. XXVII recto, fol. XXX recto, fol. XXXI recto, fol. XXXIII recto.

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17  Camillo Sitte, ­„Topographische ­Anatomie“, ca. 1900/1902, ­Körperschnitt ­(Brustbereich), fol. VII

18  Camillo Sitte, ­„Topographische ­Anatomie“, ca. 1900/1902, Körperschnitt ­(Oberschenkel), fälschlicherweise als „Fuss“ bezeichnet, fol. XVIII „Künstler und Gelehrter“ – Der Universalist Camillo Sitte

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19  Camillo Sitte, „Topographische Anatomie“, ca. 1900/1902, Körperschnitt (Unterschenkel) mit dem Vermerk „Alle Rechte vorbehalten“, fol. XXV

ohne Modell in Verkürzung richtig zu zeichnen[,] besteht darin, daß von den einzelnen Bestandtheilen der Gestalt Querschnitte gemacht werden. Die richtige Zusammenstellung solcher Querschnitte […] zeigt deutlich, wie sich die einzelnen Glieder gegenseitig gruppiren, überschneiden, verkürzen. ­ Diese Methode ist aber complicirt und ungelenk für die Praxis und hat keine weitere Verbreitung gefunden. Im Detail kann jedoch die Aneinanderreihung von Querschnitten dem Künstler sehr nützlich werden […] und keinerlei Zeitaufwand verursachen, wenn nur jeder Künstler ein so tüchtiger Anatom wäre, wie es unbedingt sein sollte“.204

Dürers Verfahren der „Aneinanderreihung von Querschnitten“, von die-

sem selbst mit zehn nummerierten und bezeichneten Körperschnitten entwickelt,205 diente Sitte offensichtlich als konkrete Vorlage, um eine ebenso

204 Sitte „Autograph, ohne Titel (o.J.) – II. Teil“ (s. Anm. 64), S. 596 in diesem Bd. [fol. 188]. 205 Dürer, Albrecht: Hjerin sind begriffen vier biicher/von menschlicher Proportion/durch Albrechten/Dürer von Nürenberg erfunden und be/schriben/zu nutz allen denen/so zu dieser kunst lieb tragen. Nürnberg: Hieronymus Andreae (Formschneyder) für Agnes Dürer 1528, Buch IV, fol. Y41.

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20 (l.)  Camillo Sitte, „Topographische Anatomie“, ca. 1900/1902, Darstellung des menschlichen Skeletts mit Hautkontur, Titelblatt 21 (r. o.)  Albrecht Dürer, Vertikalprojektion des Menschen, ca. 1900/1902, in: „Vier Bücher von menschlicher Proportion“, 1528 22 (r. u.)  Anordnung von Camillo Sittes Körperschnitten aus der „Topographischen Anatomie“ als Modell

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praktikable wie kostengünstige Alternative zu Modell und Gliederpuppe zu entwickeln und bei seinen Schülern zugleich ein tieferes anatomisches Verständnis zu fördern. Hierbei mochte er sich auch an den nach Dürers Angaben gebauten „perspectivischen Zeichenapparat“ erinnert haben, den Ferstel in seinen Perspektivvorlesungen am Österreichischen Museum zum Einsatz brachte.206 Seinem eigenen Schnitt-Modell dürfte Sitte eine Doppelfunktion zugewiesen haben: probates Hilfsmittel für die perspektivisch richtige und anatomisch korrekte Wiedergabe der menschlichen Gestalt und ebenso wichtiges Instrument zur Erlangung seines Reformziels – „Wiedereinführung der constructiven Zeichenmethode“207 – zu sein. Vielleicht dürfen sogar die in der „Tabelle zur Gliederung im Unterrichte des Freihandzeichnens“ gemachten Hinweise wie „Vortrag, in Verbindung mit dem Modell“ oder „Hauptlinien der Oberfläche an den Vorlagen erklärt“,208 auf sein geplantes Schnitt-Modell bezogen werden. Über dessen technische Ausführung können wir allerdings nur mutmaßen. Vielleicht sollten die Querschnitte, deren Abstände Sitte durch Markierungen auf der ganzen Figur eindeutig definierte (Abb. 20), mit Fäden verbunden werden. In diesem Fall hätte das Modell – wie eine Girlande – einfach aufgezogen werden bzw. wieder in sich zusammenfallen können, vergleichbar der Darstellung Dürers, der die verschiedenen Schnitt­ ebenen u. a. auf die Standfläche der Fußsohlen projizierte, um zu zeigen, „wie viel ein Teil den anderen übertrifft“ (Abb. 21).209 Möglicherweise sollten die Querschnitte auch Teil eines – in Sittes Unterrichtstabelle wie an anderen Stellen genannten – Drahtmodells sein,210 das neben dem Vorzug größerer Stabilität wohl auch eine überzeugendere Simulierung von Körperhaltungen erlaubte (Abb. 22).

Die achtbändige Universalgeschichte Alle seine Schriften verstand Sitte, wie in einem – hinten abgedruckten – Brief an Ferdinand Fellner von Feldegg vom 6. Dezember 1899 ausgeführt, „stets nur [als] Hilfsarbeiten, Training für meine projektierten national Wagnerisch künstlerischen Arbeiten […]. Dass sich Alles immer mehr zu geschlossenen

206 Siehe Anm. 45. 207 Sitte „Autograph, ohne Titel (o.J.) – II. Teil“ (s. Anm. 64), S. 612 in diesem Bd. [fol. 206]. 208 Ebd., S. 626 in diesem Bd. [fol. 226]. 209 Dürer 1528 (s. Anm. 205), Buch IV, fol. Y41. 210 Sitte „Autograph, ohne Titel (o.J.) – II. Teil“ (s. Anm. 64), S. 626f. in diesem Bd. [fol. 226].

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Gruppen ausgewachsen hat, ja zuletzt zu einem completen philos[ophischen] System (schrecklich !!!)[,] wurde mir selbst erst nach u[nd] nach klar, das Letztere erst jetzt u[nd] zw[ar] so wie es aus Beiliegendem zu sehen“.211

Sittes Ziel war es, wie aus der dem Brief beigefügten, graphischen Über-

sicht deutlich wird, seine Forschungsarbeiten in einem achtbändigen Werk zu bündeln, in dem seine „Geschichte des perspectivischen Zeichnens“ als Band III erscheinen sollte (Abb. 23). Das Gesamtkonzept – offensichtlich identisch mit jener in einem Nachruf genannten siebenbändigen „Entwicklung der Kunstformen“,212 welche um einen achten Band „Gesammelte Pädagogische Aufsätze“ zu ergänzen war – findet auch Widerhall in seinen 1902 verfassten „Weltanschauungs-Perioden“, die unten ebenfalls abgedruckt vorliegen.213 Mit seiner umfangreichen Werkreihe plante Sitte kein kunsthistorisches Überblickswerk, etwa in der Tradition von Wilhelm Lübke und Anton Springer.214 Vielmehr orientierte er sich, wie in seinem graphisch dargestellten Exposee ausgeführt, an Herders 1791 erschienenen Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, die er „bettelarm an Materiale“ fand und auf „höherer Erkenntnisstufe“ weiterführen wollte;215 vorbildlich war wohl auch Ernst Haeckels Welträtsel von 1899, ein Hauptwerk des philosophischen Monismus.216

Das Konzept der acht Bände folgt der Idee einer das Kunstwerk ins Zen-

trum rückenden, kulturphilosophischen Universalgeschichte, die nach Sitte einen klar nationalen „Zweck“ hatte: „Die möglichst alle deutschen Künstler

211 Siehe Sitte „Brief an Feldegg (1899)“ (s. Anm. 3), S. 366–369 in diesem Bd.; ebenso: Mönninger 1998 (s. Anm. 7), S. 171 und Reiterer 2003 (s. Anm. 4), S. 28–30. 212 Hierzu: Koch 1903 (s. Anm. 4), S. 671; „Nachruf auf Camillo Sitte (1904)“ (s. Anm. 4); ebenso: Reiterer 2003 (s. Anm. 4), S. 27f. 213 Sitte „Weltanschauungs-Perioden (1902)“ (s. Anm. 117), S. 428 in diesem Bd. 214 Lübke, Wilhelm: Grundriß der Kunstgeschichte. Stuttgart: Ebner & Seubert 1860 (Reihe von Neuauflagen); Springer, Anton: Handbuch der Kunstgeschichte. Zum Gebrauche für Künstler und Studirende und als Führer auf der Reise. Stuttgart: Rieger 1855. Als „Erläuterung“ und „Erklärung“ zu den seit 1877 bei Seemann in Leipzig herausgegebenen Kunsthistorischen Bilderbogen brachte Anton Springer 1879 ein Textbuch zu Seemanns Kunsthistorischen Bilderbogen heraus (Leipzig: Seemann 1879; 2. verb. Auflage unter dem Titel Textbuch zu den Kunsthistorischen Bilderbogen 1881 ebd.; 3. verb. Auflage unter dem Titel Grundzüge der Kunstgeschichte. Textbuch zur Handausgabe der kunsthistorischen Bilderbogen 1889 ebd.). Dieses wurde später in Handbuch der Kunstgeschichte (Reihe von Auflagen) umbenannt. 215 Siehe hierzu die Sittes „Brief an Feldegg (1899)“ (s. Anm. 3) beigefügte graphische Übersicht, S. 366–369 in diesem Bd. 216 Mönninger 1998 (s. Anm. 7), S. 173. „Künstler und Gelehrter“ – Der Universalist Camillo Sitte

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23  Camillo Sitte, tabellarische Darstellung des Projekts einer achtbändigen ­Universalgeschichte (Ausschnitt); Brief an Ferdinand Fellner von Feldegg, 6. Dezember 1899

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electrisierende Aufstellung eines grossen Arbeitsprogrammes für deutsches Kunstschaffen“.217 Die „5 ersten Bände“ verstanden sich als „Geschichtswerke“, teilweise „aus den Quellen unmittelbar geschöpft“, jedoch niemals mit dem Ziel des „Materialherbeischleppens“, nicht des Gruppierens, Klarstellens, Interpretierens, sondern allein bezogen auf die „Erkenntnis des Culturwerdens, des Kunstschaffens.“

Band 1 und 2 sollten von den Grundlagen handeln: der „Entstehung der

Grundformen der altgriech[ischen] Baukunst und Ornamentik“ und den „Wurzeln der etrusc[isch]-röm[ischen] Baukunst“, inhaltlich jedoch die „Schilderung des Griechen-Werdens“ bzw. der „Italer“ ins Zentrum rücken und den „höchsten Gipfel des Erreichten: Die Nationalität“ besonders herausstellen. Band 3 galt der – oben vorgestellten – „Geschichte des perspect[ivischen] Zeichnens“, die „nebenbei die Idee“ ausführen sollte, „wie alle Völker dieselben technischen Mittel in derselben Reihenfolge unabhängig von einander fanden aber trotz aller dieser naturnotwendigen Gleichheit mit jedes Mal anderer eben nationaler Kunststimmung verwendeten“. Band 4 zielte auf „Die Figurendarstellung in der grossen Kunst“, „eine Art vergleichende Mythologie zu dem Zweck, die Lücke in unserer deutschen Cultur geradezu himmelschreiend deutlich aufzuweisen“.218 Band 5 sollte – gleichsam als Summe der „Geschichtswerke“ – „Beiträge zur Erkenntnis des Völkerwanderns und Völkerwerdens“ enthalten und – von Sitte besonders betont – „vollständig mit der Abstammungstheorie“ brechen. Seine Intention an dieser Stelle war es, eine „neue Basis der Völkerkunde“ und eine neue Vorstellung von „Volk“ zu kreieren, die nicht mehr auf „ehemaliger Blutsverwandtschaft“ basieren, „sondern ein Gewordenes ist, ein Erarbeitetes, dessen Seele die volksthümliche Ethik ist“. Band 6 wollte – als Ergebnis seiner universalistischen Ausbildung – „die physiolog[ischen] u[nd] psychol[ogischen] Ursachen von Weltanschauung“ offen legen und, unter Einbeziehung von „Ästhetik“ und „Metaphysik“, der „Entstehung der Sinnesorgane“, der „Kunsteintheilung (Absteckung des ganzen Gebiets)“ und den „Grenzen wissenschaftlicher ­Erkenntnis“ nachgehen. Band 7 schließlich, zu dem keine Inhaltspunkte 217 Dieses und die nachfolgenden Zitate aus der graphischen Übersicht der Bände in Sitte „Brief an Feldegg (1899)“ (s. Anm. 3), S. 366–369 in diesem Bd. 218 Sitte dürfte in diesem Band auf die Gegenüberstellung von antiker Mythologie und deutschen Heldensagen abgezielt haben. Die Grundlage hierfür könnte sein Schwager, Ludwig Blume, geliefert haben, dessen Buch Das Ideal des Helden und des Weibes bei Homer mit Rücksicht auf das deutsche Alterthum (Wien: Hölder 1874) er in seinem Nachruf „Ein stiller Mann der Wissenschaft (1897)“ besprochen hat (siehe S. 341–350 in diesem Bd.). „Künstler und Gelehrter“ – Der Universalist Camillo Sitte

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ausgeführt sind, sollte – als Kern- und Zielpunkt der gesamten Abhandlung – „Das Deutsche Kunstwerk der Zukunft“ vorstellen.

Sittes „completes philos[ophisches] System“ ist also von einem historischen

Entwicklungsdenken geprägt, in dem das „Volk“ die zentrale Rolle einnimmt und die neue „volksthümliche Ethik“ die höchste Stufe markiert.219 In diese Vorstellung eingebunden ist seine – in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts intensiv diskutierte – Idee einer Nationalkunst, in der er u. a. Jacob Burckhardt nahe steht.220 Sein „System“ sieht Sitte, wie er abschließend in seinem Brief an Feldegg festhält, ausschließlich als Ergebnis „historischer Forschung und in alleiniger Übereinstimmung mit den Ergebnissen von zahlreichen Einzel­forschungen, z. B. Darwinismus, Kunstgeschichte, Culturgesch[ichte] etc. Der hiemit zusammenhängende Idealismus“ – so Sittes Quintessenz – „ist ein ethischer, denn er glaubt an das stete Edlerwerden der Culturvölker; er ist ein künstlerischer, denn er glaubt an die beseeligende Wirkung grosser (nur natio­nal möglicher) Kunstwerke, er ist ein wissenschaftlicher, philosophischer, denn er verzichtet auf den ausserhalb unserer Sinneswahrnehmung liegenden experimentalen Nachweis – er fusst aber trotzdem auf realistischer, geschichtlicher möglichst reichlicher Anschauung, weil eben nur diese zur Verneinung des Causalitätsgesetzes führte“.

Sitte – der „Universalist“ im Umfeld der „Wiener Schule für Kunstgeschichte“ Von Sittes Universalismus hat auch die Beurteilung seines – bisher ungeklärten – Verhältnisses zur sogenannten Wiener Schule für Kunstgeschichte auszugehen.221 Die Relevanz dieses Zusammenhangs wird angesichts seines lang219 Hierzu wie zum folgenden Hinweis auf Rothacker siehe Mönninger 1998 (s. Anm. 7), S. 171–173. 220 Schlink, Wilhelm: „‚Der Charakter ganzer Nationen in den Künsten‘ – Jacob Burckhardt über das Verhältnis von Volk und Nation zur Kunst“, in: Zeitschrift für Schweizerische Archäologie und Kunstgeschichte, Bd. 53 (1996), S. 307–312. Siehe ebenso die modellhaften Untersuchungen von Storck, Christopher P.: Kulturnation und Nationalkunst. Strategien und Mechanismen tschechischer Nationalbildung von 1860–1914. Köln: Verlag Wissenschaft und Politik 2001; ebenso: Marek, Michaela: Kunst und Identitätspolitik. Architektur und Bildkünste im Prozess der tschechischen Nationsbildung. Köln, Weimar u.a.: Böhlau 2004; Telesko, Werner: Geschichtsraum Österreich. Die Habsburger und ihre Geschichte in der bildenden Kunst des 19. Jahrhunderts. Wien, Köln u.a.: Böhlau 2006. 221 Zu dem von Julius von Schlosser geprägten Begriff wie zu Inhalt und Repräsentanten der sogenannten „Wiener Schule“ siehe besonders Schlosser 1934 (s. Anm. 12); ebenso:

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jährigen kunsthistorischen Studiums deutlich, durch das er in Eitelbergers große Schülerschaft eingebunden war:222 Albert Ilg (1847–1896) wurde zu einem engen Freund und Vertrauten;223 Moriz Thausing (1838–1884), Franz Wickhoff (1853–1909) und später auch Alois Riegl (1858–1905) gehörten zu seinen Kollegen in Wien, das sich neben Berlin als führendes Zentrum der Kunstgeschichte etablierte. Weiters bieten die oben dargelegten neuen Erkenntnisse zu Sittes Ausbildung, Schrifttum, thematischen Schwerpunkten, methodischen Ansätzen usw. erstmals die Voraussetzung, seinen Werdegang und seine Leistung im Kontext der kunsthistorischen Disziplingeschichte zu würdigen und seine Aktualität für den heutigen Fachdiskurs zu eruieren.

Sitte und Eitelberger: Möglichkeiten und Grenzen eines Schüler-Lehrer-Verhältnisses Für Sitte (Abb. 24) war und blieb nach den vorhandenen Zeugnissen sein Lehrer Eitelberger die prägende Figur – „Rathgeber und Freund“, „Führer und Pfadfinder […] im Reich der höchsten Ideale […] in Wissenschaft und Kunst“ – wohl umfänglicher und nachhaltiger als für die meisten anderen Schüler.224 Durch ihn gewann er Interesse für das junge Universitätsfach Frey, Dagobert: „Bemerkungen zur ‚Wiener Schule der Kunstwissenschaft‘“, in: Dagobert Frey 1883–1964. Eine Erinnerungsschrift. Hg. mit Unterstützung seiner Schüler, Kollegen und Freunde durch das Kunsthistorische Institut der Universität Kiel. Kiel 1962, S. 5–15; Kultermann 1981 (s. Anm. 22), S. 278–302; Zaunschirm, Thomas: „Kunstgeschichte als Geistesgeschichte. Eine andere Wiener Schule“, in: Sotriffer, Kristian (Hg.): Das Größere Österreich. Geistiges und Soziales Leben von 1880 bis zur Gegenwart. Wien: Edition Tusch 1982, S. 162–164; Lachnit 2005 (s. Anm. 19). Zuletzt eine kritische Sicht auf das bisherige Schulverständnis in: Theisen, Maria (Red.): Wiener Schule. Erinnerung und Perspektiven (= Wiener Jahrbuch für Kunstgeschichte, Bd. 53 (2004)). 222 Zu Eitelbergers großer Schülerschaft siehe Sitte „Rudolf v. Eitelberger (1885)“ (s. Anm. 17), S. 314–320 in diesem Bd. 223 Siehe hierzu die zahlreichen Briefe Sittes an Albert Ilg, in denen es u. a. heißt: „Von Deinem Vorschlag, daß wir mit unsern Vorträgen einmal Schulter an Schulter vor der Öffentlichkeit erscheinen, bin ich geradezu entzückt; sind wir doch die beiden ältesten Vorkämpfer dieser Richtung, welche die allein richtige ist; beide von derselben Begeisterung, beide von demselben Groll, beide von derselben festen Überzeugung, daß alles nichts nützt. Herzlichst Dein Camillo Sitte“. Sitte, Camillo: Brief an Albert Ilg, 24. Januar 1894, Österreichische Nationalbibliothek, HAN: Autograph 1301/35-3 (transkribiert von Roswitha E. Lacina). 224 Sitte „Rudolf v. Eitelberger (1885)“ (s. Anm. 17), S. 314–320 in diesem Bd.; Zur Schülerschaft Sittes siehe Sitte „Brief an Eitelberger (1882)“ (s. Anm. 16); zu Sittes Würdigung von Eitelberger siehe Sitte „Rede am Grabe Eitelberger’s (1885)“ (s. Anm. 17), S. 321f. in die„Künstler und Gelehrter“ – Der Universalist Camillo Sitte

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Kunstgeschichte, das er gegen den Willen des Vaters, der von seinem Sohn ein eindeutiges Bekenntnis zur Architektenlaufbahn einforderte,225 intensiv weiterverfolgte. Im Umfeld von Universität und Österreichischem Museum erhielt er sein methodisches Rüstzeug, das in der Autopsie des Kunstwerks, im Verständnis für historische Entwicklungen und Zusammenhänge sowie in der besonderen Gewichtung von Quellenschriften für seine Arbeit gesehen werden darf.226 Sitte verdankt Eitelberger ferner den Zugang zu aktuellen Themen, die ihn zeitlebens beschäftigen sollten, wie die neue Bedeutung des Kunstgewerbes und die Auseinandersetzung mit dem zeitgenössischen Kunstschaffen.227 Zugleich übernahm er dessen pädagogischen Impetus, auf dieses direkten Einfluss nehmen zu wollen, um, wie Eitelberger forderte, „die Resultate der kunsthistorischen Studien praktisch zu verwerthen“228 und – so Sitte – der gegenwärtig stagnierenden Kunst „Halt“ zu geben.229 Diesbezüglich spannte Sitte – weiter auf Eitelbergers Spuren – den Bogen von seiner Kritik an Akademieausbildung und Kunstunterricht bis hin zu seinem Entwurf einer neuen, ganzheitlichen Unterrichtsmethode oder seinen Statements zur zeitgenössischen Malerei. Wie stark volkspädagogische Absichten und Ideen des Völkischen und Nationalen im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts allgemein Konjunktur hatten, kann hier nicht ausgelotet werden. sem Bd. Der Kontakt zwischen Sitte und Eitelberger riss auch während Sittes achtjährigem Aufenthalt in Salzburg nicht ab, wie die 23 Briefe umfassende Korrespondenz zwischen 1874 und 1884 belegt (Handschriftensammlung der Wienbibliothek im Rathaus [vormals Wiener Stadt- und Landesbibliothek]). 225 Siehe hierzu Mönninger 1998 (s. Anm. 7), S. 23; ebenso Sitte 1929 (s. Anm. 4), bes. S. 141. 226 Sitte betonte in seinem „Brief an Eitelberger (1882)“ (s. Anm. 16), dass dieser ihm „das ruhige klare Bild der Geschichte vor Augen gestellt“ habe; zitiert nach Hanisch, Ruth/ Sonne, Wolfgang: „Die Welt der kleinen Dinge. Camillo Sittes Schriften zum Kunstgewerbe“, in: CSG, Bd. 1 (s. Anm. 8), S. 127. 227 Zum Einfluss Eitelbergers auf Sittes Beschäftigung mit kunstgewerblichen Fragen siehe Mönninger 1998 (s. Anm. 7), S. 158. 228 Eitelberger von Edelberg, Rudolph: „Die deutsche Renaissance und die Kunstbewegung der Gegenwart“, in: Ders.: Gesammelte kunsthistorische Schriften, Bd. 2: Österreichische Kunst-Institute und kunstgewerbliche Zeitfragen. Wien: Braumüller 1879, S. 370; zitiert nach Hanisch/Sonne 2007 (s. Anm. 226), S. 127. 229 Sitte „Über Farbenharmonie (1900)“ (s. Anm. 54), S. 406 in diesem Bd.; hierzu auch der für Eitelberger einflussreiche Joseph Daniel Böhm, der bereits erkannte, „dass die moderne Kunst keinen wirklichen Höhepunkt der Kunst bezeichne, sondern […] an grossen inneren Schäden leide und die alte Kunst der modernen in allen wesentlichen Theilen weit überlegen“ sei (Eitelberger 1879 (s. Anm. 20), S. 193ff.; zitiert nach Lachnit 2005 (s. Anm. 19), S. 13).

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Stattdessen müssen noch zwei weitere – ebenfalls direkt mit Eitelberger in Verbindung und ihrerseits wieder in Wechselwirkung stehende – Aspekte hervorgehoben werden, die für Sitte besondere Weichenstellungen darstellten und wohl auch mitverantwortlich dafür gewesen sein dürften, dass ihm eine akademische Karriere verwehrt blieb: Sein Universalismus und sein – in Fragen der Malerei und Zeichenkunst besonders deutlich zu fassendes – Bekenntnis zur Renaissance.230

Sittes Universalismus, der sich

u. a. an seinen – an Eitelbergers Ausbildungsideal orientierten – umfassend angelegten Studien sowie

24  Camillo Sitte (1843−1903), ­Fotografie

dem breiten Themenspektrum sei-

(unbekannt, o.J.)

ner Schriften abbildet, darf nämlich zugleich als deutliches Bekenntnis zur damals allgemein hoch gewerteten Renaissance gesehen werden. Diese hatte, wie Sitte vielfach betonte, Wissenschaft, Kunst und Leben auf ideale Weise verbunden231 und sollte ihm zufolge nun die Basis bilden, um eine neue Kunst und Kultur in ihrem Geiste erstehen zu lassen.232 Den sich ­speziell 230 Sitte weist in seiner „Geschichte des perspectivischen Zeichnens“ der Renaissance die vierte und höchste Stufe zu. In der Renaissance – so Sitte – werde zum ersten Mal das „letzte Ziel“ der Entwicklung der Zeichenkunst, „die drei Dimensionen der uns umgebenden räumlichen Gebilde auf den nur zwei Dimensionen einer Zeichenfläche [naturgetreu] darzustellen“, erreicht (Sitte „Autograph, ohne Titel (o.J.) – I. Teil“ (s. Anm. 76), S. 499, 454 in diesem Bd. [fol. 75, 13]). Den Kulminationspunkt der Entwicklung des Zeichnens erkennt Sitte im Werk Michelangelos, dessen Ausmalung der Sixtinischen Kapelle „das Höchste an Vollendung der perspectivischen Zeichnung“ darstelle (Ebd., S. 521 in diesem Bd. [fol. 104]). 231 Wesentlich für Sittes Ideal ist die Vorstellung, dass sich in der Renaissance Theorie und Praxis, „Genie“ und „Wissen“ gegenseitig ergänzten (Sitte „Autograph, ohne Titel (o.J.) – II. Teil“ (s. Anm. 64), S. 603 in diesem Bd. [fol. 196f.]). 232 Ziel ist es, so Sitte, „Auf allen Gebieten der Kunst und des Kunsthandwerkes […] wieder ­diejenige hohe Vollkommenheit zu erreichen, welche die alten Meisterwerke großer Kunstperioden vor den modernen Werken auszeichnet, [… um] den Sinn unserer Zeit endlich in künstlerisch verklärter Form aussprechen zu können“ (Sitte „Autograph, ohne Titel „Künstler und Gelehrter“ – Der Universalist Camillo Sitte

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in der ­ Renaissance ­ ausformenden Typus des „uomo universale“, den Sitte zuvorderst in Leonardo, Michelangelo und Dürer personifiziert sah,233 erhob er im umfänglichen Sinn auch zum eigenen Vorbild. Zugleich lieferte die Renaissance – in einem Zirkelschluss – den Begründungshorizont für sein „Sys­ tem“: Sie diente ihm als Legitimation für die eigene Position und lieferte die Grundlage für seine Kritik an zeitgenössischen, von Renaissance-Idealen weit abweichenden Entwicklungen.234 Sittes persönliche Affinität zur Renaissance muss natürlich im weiteren Kontext gesehen werden, welcher seine Richtung bestimmte: wenn Jacob Burckhardt in seiner Kultur der Renaissance zunächst das italienische Städtebürgertum im Verein mit dem italienischen Nationalgeist allgemein als Muster für die damalige Zeit erkannte;235 wenn Gottfried Semper – eine Zentralfigur für Sitte – den Renaissance-Stil der „ersten Bürgerzeit“ als beispielgebend für die „zweite Bürgerzeit“ der Gegenwart nannte;236 oder wenn Albrecht Dürer, von Sitte auf die höchste (o.J.) – II. Teil“ (s. Anm. 64), S. 659 in diesem Bd. [fol. 262]). Da die Einheit von Kunst und Leben, gerade im Gegensatz zur Renaissance, nicht mehr existierte, müsste eine „‚Gesundung‘ der Gegenwart […] am lehrreichen Beispiel der Vergangenheit erfolgen“ (Lachnit 2005 (s. Anm. 19), S. 21). 233 Siehe die Erwähnungen in Sittes „Autograph, ohne Titel (o.J.)“ (s. Anm. 64 und 76) in diesem Bd.; zu Leonardo bes. S. 602–604, 651–654 in diesem Bd. [fol. 195–197, 254–257], zu Michel­ angelo bes. S. 520, 602f., 613f., 654 in diesem Bd. [fol. 103, 195f., 207, 257], zu Dürer bes. S. 533–540, 559–561, 596–598, 611–613, 645f. in diesem Bd. [fol. 122–129, 146f., 188–190, 205–207, 247]. 234 Siehe hierzu insbesondere Sittes Kritik am zeitgenössischen Naturalismus im „Autograph, ohne Titel (o.J.) – II. Teil“ (s. Anm. 64), S. 603–610 in diesem Bd. [fol. 197–204]. Hier kritisiert Sitte, dass die moderne Naturanschauung im Gegensatz zur Renaissance „weit von der Fährte der Natur abgekommen“ sei und nicht mehr in „organischem Zusammenhang mit den Zielen der Kunst“ stehe (S. 605 in diesem Bd. [fol. 198]). Zudem stelle das zeitgenössische bloße „Abzeichnen der äußeren Naturformen“ die „primitivste Leistungsfähigkeit der Kunst“ dar (S. 607f. in diesem Bd. [fol. 202]). 235 Vgl. Burckhardt o.J. [1920] (s. Anm. 88). Laut Burckhardt habe die „Renaissance“ erst durch „ihr enges Bündnis mit dem neben ihr vorhandenen italienischen Volksgeist“ zur „hohe[n] weltgeschichtliche[n] Notwendigkeit“ gefunden (Ebd., S. 98). Die Voraussetzung sei – so Burckhardt weiter – die „Entwicklung des städtischen Lebens“ gewesen, „wie sie nur in Italien und erst jetzt vorkam: Zusammenwohnen und tatsächliche Gleichheit von Adeligen und Bürgern; Bildung einer allgemeinen Gesellschaft, welche sich bildungsbedürftig fühlte [… – so, wie] auch unser laufendes Jahrhundert“ (Ebd., S. 100–123). 236 Hierzu zuletzt: Karge, Hendrik (Hg.): Gottfried Semper – Dresden und Europa. Die moderne Renaissance der Künste. Akten des Internationalen Kolloquiums der Technischen Universität Dresden aus Anlass des 200. Geburtstags von Gottfried Semper. München, Berlin: Deutscher Kunstverlag 2006.

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Stufe der Kunst gehoben, im Rahmen einer seit dem frühen 19. Jahrhundert deutsch-national aufgefassten „Dürer-Renaissance“ besondere Würdigung erfuhr,237 die – wie unten gezeigt wird – Moriz Thausing in den 1870er Jahren in Wien in eine wissenschaftliche Erforschung des Malers und Theoretikers überführte.238

Von Eitelbergers Mentorfunktion abgesehen,239 lassen sich für Sitte klare

Abgrenzungen von seinem Lehrer benennen, die ihm ein eigenständiges Profil geben. Universalismus begriff Sitte – anders als Eitelberger – nicht nur auf Basis eines breiten Fächerkanons, sondern auch als eine methodische Öffnung und fachliche Einbeziehung beispielsweise naturwissenschaftlicher Forschungsergebnisse. Auch wenn seine Anregungen hierzu von den oben genannten Hyrtl und Brücke kamen, also aus Eitelbergers direktem Umfeld, so erkannte Sitte offenbar eigenständig die neuen Möglichkeiten, die etwa Anatomie und Physiologie eröffneten und machte diese zu einer wichtigen Basis seiner Arbeit: Wie seine anatomischen Kenntnisse ihm die Grundlage für seine Vorstellungen eines neuen – auf Renaissance-Idealen fußenden – Künstlertums lieferten, so prägte sein physiologischer Ansatz entscheidend seinen persönlichen Zugang zu Problemen der Perspektive und des Städtebaus.240

Sittes Universalismus beinhaltet noch drei weitere, über Eitelbergers

Fach- und Selbstverständnis hinausführende Aspekte: Sitte betrieb mit Nachdruck die Erschließung neuer Themenfelder, wenn er für die Kunstgeschichte erstmals die Stadtbaugeschichte reklamierte,241 die – so Sitte – jeden ­„Faden künstlerischer Tradition verloren“ habe und sich in ­ „mathematischen“ 237 Zur Dürer-Renaissance im 19. Jahrhundert siehe u. a.: Die zur Feier des 400jährigen Geburtstages Albrecht Dürer’s im Germanischen Museum veranstaltete Ausstellung. Nürnberg: Literarisch-artistische Anstalt des Germanischen Museums 1871; darüber hinaus: Nürnberger Dürerfeiern 1828–1928. Katalog zur Ausstellung der Museen der Stadt Nürnberg und des Stadtarchivs Nürnberg. Nürnberg: Museen der Stadt Nürnberg 1971; ebenso: Blumenthal, Margot: Die Dürer-Feiern 1828. Kunst und Gesellschaft im Vormärz. Egelsbach u. a.: Hänsel-Hohenhausen 2001. 238 Siehe S. 79f., Anm. 268–272. 239 Dazu gehörte auch die Vermittlung der Stelle an die Salzburger Kunstgewerbeschule, wo Sitte bei seiner Bewerbung als Eitelberger-Protegé galt; siehe Reiterer 2003 (s. Anm. 4), S. 24f. 240 Siehe insbesondere Reiterer 2003 (s. Anm. 4) sowie: Dies.: „Wahrnehmung – Raum – Empfindung. Anmerkungen zu Camillo Sittes Städtebau“, in: Semsroth/Jormakka/Langer 2005 (s. Anm. 1), S. 225–237; siehe ebenso: Porfyriou, Heleni: „Camillo Sitte und das Primat des Sichtbaren in der Moderne“, in: Ebd., S. 239–256. 241 Zu den möglichen Anregungen durch die Vorlesungen Eitelbergers siehe oben S. 17ff. „Künstler und Gelehrter“ – Der Universalist Camillo Sitte

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­Rastervorstellungen ergehe.242 Den Ausweg erkannte Sitte erneut in der Geschichte, wenn er historische Stadtstrukturen nun einer morphologischen und – da es sich um gewachsene Organismen handelt – von stilistischen Implikationen losgelösten Untersuchung unterzog, in der er den Blick sowohl auf die malerische Schönheit des Mittelalters wie auch bereits verhalten auf den Barock lenkte.243 Als Adressat seiner scharfen Fachkritik, zu der er in diesem Zusammenhang ausholte, darf wohl auch Eitelberger gesehen werden, wenn Sitte resümiert: „Nicht einmal in der jeden kleinsten Kram behandelnden modernen Kunstgeschichte wurde dem Städtebau ein bescheidenes Plätzchen eingeräumt, während doch Buchbindern, Zinngiessern und Costume­schneidern da bereits Raum neben Phidias und Michelangelo gewährt wurde“.244

Als Universalist betrieb Sitte Kunstgeschichte nicht – wie sein Städtebau-

Buch zeigt – als eigenständige Disziplin. Einerseits war sie für ihn, trotz seines wissenschaftlichen Anspruchs, noch nicht vollständig losgelöst aus dem alten Zusammenhang mit der Ästhetik.245 Andererseits war sie für ihn – besonders in den späteren Jahren, wie sein oben erläuterter Brief an Ferdinand von Feldegg zeigte – eingebunden in den großen Akkord verschiedenster Disziplinen, die er selbst als Grundlage seiner hohen kulturphilosophischen Ambitionen beschrieb.246

Einen eindeutigen Unterschied zu Eitelberger kennzeichnet natürlich

auch Sittes Selbstverständnis als Architekt bzw. Künstler und Wissenschaftler, darin partiell vergleichbar mit Cornelius Gurlitt (1850–1938), der in Berlin und Stuttgart zum Architekten ausgebildet wurde und seit 1887 als Dozent bzw. 242 Sitte „Der Städte-Bau (1889)“ (s. Anm. 1), S. 90 sowie S. 2. An letztgenannter Stelle spricht Sitte von „unserem mathematischen Jahrhundert“. 243 Ebd., bes. S. 82–86. Hier heißt es u. a.: „Am reichsten entfaltet zeigt sich diese ganze neue Welt des Städtebaues in den Werken der Barocke“ (S. 82). Sitte gesteht dem Barock zu, „einen eigenartigen Höhepunkt in der Kunst von Stadtanlagen erreicht zu haben“ (S. 86). Siehe darüber hinaus: Jessen-Klingenberg, Detlef: „Camillo Sitte als ‚leidenschaftlicher Verehrer des Barock‘. Zur Rezeption im Umfeld Werner Hegemanns“, in: Wilhelm/JessenKlingenberg 2006 (s. Anm. 1), S. 97ff. 244 Sitte „Der Städte-Bau (1889)“ (s. Anm. 1), S. 90. 245 In Anlehnung an Semper 1860–1863 (s. Anm. 132) betrachtete Sitte sein Städtebau-Buch als „Theil des grossen Lehrgebäudes praktischer Aesthetik“ (Sitte „Der Städte-Bau (1889)“ (s. Anm. 1), S. IV); siehe hierzu: Hanisch, Ruth: „‚Die Ursache der schönen Wirkung‘. Eine Parallellektüre von Camillo Sittes Schriften zu Kunstgewerbe und Städtebau“, in: Semsroth/Jormakka/Langer 2005 (s. Anm. 1), S. 219. 246 Sitte „Brief an Feldegg (1899)“ (s. Anm. 3), S. 366–369 in diesem Bd.

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Professor für Kunstgeschichte an den Technischen Hochschulen in Berlin und Dresden tätig war, oder mit Franz Wickhoff (1853–1909), seit 1882 Dozent, ab 1891 ordentlicher Professor für Kunstgeschichte der Universität Wien, der auch malte und dichtete.247 Dieses Selbstverständnis dürfte für Sitte aufgrund seines sehr speziellen Ausbildungsgangs und Berufswegs einen besonderen Stellenwert gehabt haben und führt zur oben gezeigten RenaissanceThematik zurück: Seine eigene Tätigkeit auf den Gebieten Theorie und Praxis, die für ihn kontinuierlich nachzuweisen ist,248 erinnert auffallend an jenes vitruvianische Ideal der Architektenausbildung,249 das in der Renaissance besondere Beachtung fand und sowohl zur Grundlage des schon genannten „uomo univerale“-Ideals wurde, als auch zur positiven Bewertung des sogenannten Dilettanten führte. Dem vitruvianischen Ideal entsprach auch Gottfried Semper, dem Sitte als Architekt wie als „Führer am Gebiete der Theorie der Kunst“ den höchsten Rang zuerkannte.250

247 Zu Gurlitt siehe insbesondere: Paul, Jürgen: Cornelius Gurlitt. Ein Leben für Architektur, Kunstgeschichte, Denkmalpflege und Städtebau. Dresden: Hellerau-Verlag 2003. Zu Wickhoff siehe Schlosser 1934 (s. Anm. 12), S. 161–171; ebenso: Kalavrezou-Maxeiner, Ioli: „Franz Wickhoff: Kunstgeschichte als Wissenschaft“, in: Fillitz, Hermann/Pippal, Martina: Akten des XXV. Internationalen Kongresses für Kunstgeschichte. Wien, 4.–10. September 1983, Bd. 1: Wien und die Entwicklung der kunsthistorischen Methode. Wien, Köln u.a.: Böhlau 1985, S. 17–22; ebenso Lachnit 2005 (s. Anm. 19), S. 35–47. 248 Zu den architektonischen Planungen Sittes siehe CSG, Bd. 6: Entwürfe und städtebauliche Projekte. Hg. von Klaus Semsroth, Michael Mönninger und Christiane Crasemann Collins (erscheint Wien, Köln u.a.: Böhlau 2012) sowie Lacina, Roswitha: Katalog des Nachlasswerkes der Architekten Franz Sitte, Camillo Sitte, Siegfried Sitte. Hg. von Rudolf Wurzer, Bd. 2. Wien: Institut für Städtebau, Raumplanung und Raumordnung der Technischen Universität Wien 1979, S. 302–390. Auch während seiner Zeit als Staatsgewerbeschuldirektor in Salzburg und ab 1885 in Wien verfasste Sitte architektonische Entwürfe wie beispielsweise die Pfarrkirchenprojekte für Temeswar (1884; ebd., S. 311f.), Kleinmünchen (1887; ebd., S. 307–310) und Sierndorf (1888; ebd., S. 313–321) sowie weitere Projekte. Ab den 1890er Jahren konzentrierte sich Sitte verstärkt auf städtebauliche Projekte und Baulinienplanungen. Im Rückblick erkennt Sitte aber die berufliche Bruchstelle, wenn er im März 1895 an Ilg schreibt: „[…] denn seit ich durch den unglückseligen dummen Zeitungsartikel von Schembera die Vorstellung bei Cardinal : Rauscher zum Behufe der Übernahme aller Kirchenbauten vom X. Bz. an verlor u. durch den Krach auch die sonstig winkende Privatpraxis“. Sitte, Camillo: Brief an Albert Ilg, 20. März 1895, Österreichische Nationalbibliothek, HAN: Autogr. 1301/35-8 (transkribiert von Roswitha E. Lacina). 249 Hierzu Vitruvius Pollio: De architectura libri decem, Buch I, Kapitel 1 („Die Ausbildung des Baumeisters“). 250 Sitte „Gottfried Semper (1879)“ (s. Anm. 129). „Künstler und Gelehrter“ – Der Universalist Camillo Sitte

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Auch bei ihren nationalen Bestrebungen vertraten Eitelberger und Sitte

unterschiedliche Positionen. Während dieser bei seiner Museumsgründung wie in anderem Zusammenhang die „vaterländisch-österreichischen“ Inte­ ressen hervorhob,251 gründete jener sein oben vorgestelltes Konzept einer unausgeführt gebliebenen Universalgeschichte in einer deutsch-nationalen Perspektive.252 Sittes in diesem Kontext verortete Vision eines „deutschen Kunstwerks der Zukunft“ von wahrlich „national Wagnerischer“ Größe gewinnt Konturen durch seine eindeutige Abgrenzung von den „Griechen“ und „Italern“ sowie deren antiken Mythologien.253 Daraus resultiert sein unverkennbarer Wunsch nach der adäquaten künstlerischen Behandlung der germanischen Heldensagen in „Figurendarstellungen“.254 Diese sollten wohl, wie seine oben skizzierte Bewunderung für Genelli und Kaulbach nahe legt, den Stoff für eine neue Blüte des – deutschen Themen verpflichteten – Historienbildes liefern, sich in der Komposition an der „noch gültigen und kraftvollen Antikenrezeption“ orientieren und in der Malkultur den Alten folgen.255

251 Die Gründung des Österreichischen Museums sah Eitelberger u. a. als notwendigen Bestandteil der Unabhängigkeitsbestrebungen der österreichischen Industrie; siehe hierzu Eitelberger von Edelberg, Rudolph: „Die Museen für Kunstindustrie und der Anschauungsunterricht für Kunst“, in: Oesterreichische Revue, Jg. 1 (1863), S. 279–297; ebenso Fliedl 1986 (s. Anm. 12), bes. S. 73ff. Siehe auch Eitelbergers Position zu dem von Leopold Kupelwieser vorgelegten Konzept einer „Österreichischen Geschichtsgalerie“; hierzu: Telesko 2006 (s. Anm. 220), S. 368–371. 252 Hierzu auch: Lachnit 2005 (s. Anm. 19), S. 47–52. 253 Vgl. Band I, II und IV seiner projektierten Universalgeschichte (Sitte „Brief an Feldegg (1899)“ (s. Anm. 3), S. 366–369 in diesem Bd.). 254 Siehe Band IV der projektierten Universalgeschichte (Sitte „Brief an Feldegg (1899)“ (s. Anm. 3), S. 369 in diesem Bd.). Ausführliche Äußerungen Sittes über Heldendarstellungen in Antike, Christentum und dem deutschen Kunstwerk der Zukunft finden sich in Sitte, Camillo: „Richard Wagner und die Deutsche Kunst (1875)“, in: CSG, Bd. 1 (s. Anm. 8), S. 230–265. 255 Sitte „Genelli-Ausstellung (1869)“ (s. Anm. 19), S. 50. In dieses Konzept könnten ebenfalls wichtige Anregungen von Eitelberger eingeflossen sein, der – allerdings mit Blick auf die österreichische Geschichte – die besondere Bedeutung einer „Galerie historischer Bilder“ betonte (Telesko 2006 (s. Anm. 220), S. 371).

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Universalismus versus Spezialistentum: Sittes Kollegen Moriz Thausing und Albert Ilg Zeitgleich mit Sittes Universalismus entwickelte sich in der Frühzeit der Kunstgeschichte ein Spezialistentum, dem die fachliche Zukunft gehörte und das an dieser Stelle – gleichsam als Gegenmodell – beleuchtet werden soll. Sittes Position hatte natürlich ihren Preis: Ein „schier ins Unbegrenzte“ sich verlierendes Wissen und eine Neigung zum „Sichverzetteln“,256 so dass er nicht immer auf dem letzten Stand der Forschung war,257 aktuellste Forschungsbeiträge teilweise gar nicht zur Kenntnis nahm258 oder vereinzelt schlicht falsche bibliographische Angaben machte.259 Dazu im Gegensatz stand der akribische Anspruch der neuen Wissenschaftsdisziplin Kunstgeschichte, die die faktische und sachliche Richtigkeit voraussetzte und sich in einer Engführung auf kleinere, eindeutig definierte Themen beschränkte. Sittes Anachronismus wird besonders deutlich in der Gegenüberstellung mit den – hier exemplarisch stehenden – Eitelberger-Schülern Moriz Thausing und Albert Ilg.

Thausing (Abb. 25), fünf Jahre älter als Sitte und diesem wohl bereits im

Rahmen der Vorlesungen im Österreichischen Museum bekannt geworden,260 ist eine zentrale Figur innerhalb der Entwicklung einer autonomen Kunstgeschichte. Thausing hatte ab 1856 bei Eitelberger studiert, ging 1864 an die Albertina, wo er 1876 Direktor wurde und erhielt 1873 – mit ­ Eitelbergers

256 Feldegg 1923 (s. Anm. 4), S. 125–127; ebenso Mönninger 1998 (Anm. 7), S. 174f. 257 Wie seine Rezeption der Arbeiten von Helmholtz belegt; siehe Reiterer 2003 (s. Anm. 4), S. 68–70. 258 In seinem Aufsatz „Die Perspectivlehre des Pietro degli Franceschi (1879)“ (s. Anm. 139), S. 143–150 in diesem Bd., beruft sich Sitte besonders auf den 1856 publizierten Beitrag von Ernst Harzen (Harzen, Ernst: „Über den Maler Pietro degli Franceschi und seinen vermeintlichen Plagiarius L. Pacioli“, in: Archiv für die zeichnenden Künste, Jg. 2 (1856), S. 231–244), lässt aber den wichtigen, ein Jahr zuvor erschienenen Beitrag von Hubert Janitschek („Des Piero della Francesca drei Bücher von der Perspective“, in: Kunstchronik, Jg. 13 (1878), S. 670–674) unerwähnt. In Sittes Text bleibt unklar, ob er sein Wissen über das in Parma befindliche Manuskript Pieros Janitschek verdankt oder dieses selbst eingesehen hat. 259 In seiner „Geschichte des perspectivischen Zeichnens“ („Autograph, ohne Titel (o.J.) – I. Teil“ (s. Anm. 76), S. 557f. in diesem Bd. [fol. 145]) nennt Sitte eine 1511 in Nürnberg gedruckte Ausgabe von Albertis De pictura. Diese Angabe ist falsch. Der Erstdruck von Albertis Malereitraktat, für den eine ehemals im Besitz von Albrecht Dürer in Nürnberg befindliche lateinische Abschrift benutzt wurde, erschien 1540 in Basel (Alberti, Leon Battista: De Pictura libri tres absolutissimi. Basel: Bartholomaeus Westheimer 1540). 260 Zu den Vorlesungen Thausings am Österreichischen Museum siehe Anm. 74. „Künstler und Gelehrter“ – Der Universalist Camillo Sitte

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Unterstützung – neben diesem die zweite

Kunstgeschichte-Professur

der Universität Wien.261 Bereits in seiner Antrittsvorlesung, die er im gleichen Jahr unter dem Titel „Die Stellung der Kunstgeschichte als Wissenschaft“ hielt und worin er die „Anerkennung der neueren Kunstgeschichte

als

wissenschaftliche

Disziplin […] neben den anderen historischen formuliert

Fächern“ er

in

forderte,262

entscheidenden

Punkten eine konträre Position zum Universalismus Sittes (wie Eitelbergers): Thausing wollte die „Grenzen 25  Moriz Thausing (1838–1884), ­Fotografie (unbekannt, o.J.)

[definieren …], welche die Kunstgeschichte

von

den

verwandten

Wissenschaften, als da sind die classische Archäologie, die Aesthetik und die Weltgeschichte, scheiden“. Mit Nachdruck fordert er die Abgrenzung von der Ästhetik, wenn er festhält: „Ich kann mir die beste Kunstgeschichte denken, in der das Wort ‚schön‘ gar nicht vorkommt“.263 Auch betont er „jene wichtige Grenzscheide, welche die Kunstgeschichte von der praktischen Kunstübung trennt, und welche nichts Anderes ist, als eine Strecke jener tiefen Kluft, die allerorts zwischen Theorie und Praxis verläuft“.264 Thausings und Sittes konträre Positionen erweisen sich ferner an ihrer Beurteilung des Verhältnisses der Kunstgeschichte zu den Nachbarwissenschaften: Während dieser das autonome Fach als zwar

261 Den Untersuchungen Artur Rosenauers verdanke ich wichtige Hinweise für vorliegende Arbeit. Hier: Rosenauer, Artur: „Moriz Thausing und die Wiener Schule der Kunstgeschichte“, in: Wiener Jahrbuch für Kunstgeschichte, Bd. 36 (1983), S. 135–139, zur Vita besonders S. 136. 262 Bei Rosenauer 1983 (s. Anm. 261) auch der Wiederabdruck von Thausing, Moriz: „Die Stellung der Kunstgeschichte als Wissenschaft. Aus einer Antrittsvorlesung an der Wiener Universität im October 1873“, in: Wiener Jahrbuch für Kunstgeschichte, Bd. 36 (1983), S. 141–150 (urspr. abgedruckt in: Wiener Kunstbriefe von M. Thausing. Leipzig: Seemann 1884); dieses und die folgenden Zitate S. 141. 263 Ebd., S. 143. 264 Ebd., S. 141.

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­„unentbehrlichen Teil“ der „Volksgeschichte“ und der „Kulturgeschichte“ auch unabhängig zu profilieren suchte,265 begriff Sitte die Kunstgeschichte als integralen Bestandteil seiner volks- und kulturgeschichtlichen Studien.266

Den Unterschied zu den universalistischen Interessen Sittes kann ein Blick

auf Thausings spezialisiertes Arbeitsfeld und seine wissenschaftliche Methode verdeutlichen.267 Zwar konzentrierte auch er sich – ausschließlich – auf die Renaissance, engte aber innerhalb dieser Epoche seinen Blick auf nur einen Künstler ein: den auch von Sitte hochgeschätzten Albrecht Dürer, dessen Erforschung seine Studien und Publikationen galten: Nach mehreren, in Fachzeitschriften erschienenen Aufsätzen zu Einzelaspekten – „Dürers Triumphwagen“ (1868) und „Das Dürersche Altarwerk in Ober-St. Veit bei Wien“ (1871)268 – bearbeitete er 1872 im Rahmen von Eitelbergers „Wiener Quellenschriften“ Dürers Briefe, Tagebücher und Reime,269 denen 1875 seine viel beachtete zweibändige Monographie Dürer. Geschichte seines Lebens und seiner Kunst folgte.270 Dieses schon bald ins Englische und Französische übersetzte Opus, das auf der Basis „methodisch strenger Materialerschließung“271 eine umfassende Würdigung und Interpretation sowie eine kunst- und kulturgeschichtliche Kontextualisierung von Dürers Werk anstrebte und auch ein Verzeichnis der Gemälde enthielt, darf als Markstein einer mit wissenschaftlichem Anspruch verfassten Künstlermonographie verstanden werden.

Bei allen hier nachgewiesenen Unterschieden zwischen Thausings und

Sittes Fachverständnis, finden sich auch Gemeinsamkeiten, die teils im ­Kontext

265 Feist, Peter H.: „Moriz Thausing“, in: Betthausen, Peter/Feist, Peter H./Fork, Christiane (Hg.): Metzler Kunsthistoriker Lexikon. Zweihundert Porträts deutschsprachiger Autoren aus vier Jahrhunderten. Stuttgart, Weimar: Metzlersche Verlagsbuchhandlung 1999, S. 410. 266 Siehe Sitte „Brief an Feldegg (1899)“ (s. Anm. 3), S. 366–369 in diesem Bd., sowie oben S. 64f. 267 Zu Thausing siehe Schlosser 1934 (s. Anm. 12), S. 159f.; Kultermann 1981 (s. Anm. 22), S. 283f.; Lachnit 2005 (s. Anm. 19), S. 26–34; besonders Rosenauer 1983 (s. Anm. 261), S. 135–139. 268 Thausing, Moriz: „Dürer’s Triumphwagen und sein Anteil am Triumphzug Kaiser Maximilian I.“, in: Mitteilungen der k. k. Central-Commission zur Erforschung und Erhaltung der Baudenkmale, Jg. 13 (1868), S. 135–149; Ders.: „Das Dürersche Altarwerk zu Ober-St.Veit bei Wien“, in: Mitteilungen der k. k. Central-Commission zur Erforschung und Erhaltung der Baudenkmale, Jg. 16 (1871), S. 81–85. 269 Thausing 1872 (s. Anm. 107). 270 Thausing, Moriz: Dürer. Geschichte seines Lebens und seiner Kunst, 2 Bde. Leipzig: Seemann 1875. 271 Feist 1999 (s. Anm. 265), S. 410. „Künstler und Gelehrter“ – Der Universalist Camillo Sitte

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zeittypischer Strömungen, teils vor dem Hintergrund ihrer gemeinsamen Ausbildung bei Eitelberger gesehen werden können: die Betonung nationaler Aspekte, so wenn Thausing in Dürer, dem er – wie Sitte – die „Führerschaft auf dem Gebiete der neueren Kunst“ zuerkennt, eine „deutsche Gefühlsweise in ihrer reinsten Gestaltung“ sehen will, hervorgegangen aus fränkischem Stamm, welcher „Kern und Kitt für das vielgeteilte deutsche Volkstum“ sei;272 ferner das Bestreben nach methodischer Erweiterung, die Thausing durch Einbeziehung der an physiognomischen Detailformen interessierten „Experimentalmethode“ des italienischen Naturwissenschaftlers, Mediziners und Kunstkenners Giovanni Morelli fand.273 Daraus entwickelte Thausing – wiederum im Gegensatz zu Sitte – Ansätze zu einer vergleichenden Stilanalyse, mit der er der modernen Kunstwissenschaft einen wichtigen Weg wies.274

Wie sehr Thausings Wissenschaftsverständnis als Teil einer allgemeinen

– gegen den Universalismus gerichteten – Entwicklung zu bewerten ist, die keineswegs von Eitelbergers „mehr ins Weite“ gerichtetem Fachverständnis275 ausging, verdeutlicht ein kurzer Hinweis auf den sogenannten Holbeinstreit. Die einmalige Bedeutung der 1871 in Dresden veranstalteten und von einem Fachkongress begleiteten Holbein-Ausstellung lag bekanntlich darin, dass von den 46 gezeigten Gemälden 32 Holbein abgeschrieben wurden.276 Besonders spektakulär war der erstmals in der Kunstgeschichte praktizierte Gemäldevergleich zwischen der Dresdner und der Darmstädter Version der „Madonna des Bürgermeisters Meyer“, in dessen Folge das bis dahin „berühmteste[s] Kleinod deutscher Kunst“ in der Dresdner Galerie277 als spätere Kopie des 17. Jahrhunderts entlarvt werden konnte. Dies war nicht nur ein international beachtetes Signal für eine neue, auf spezifischen Methoden 272 Thausing 1875 (s. Anm. 270), S. 2 sowie S. 28. 273 Zu Morelli siehe: Schlosser 1934 (s. Anm. 12), S. 164–168, sowie besonders: Agosti, Giacomo/Manca, Maria Elisabetta/Panzeri, Matteo (Hg.): Giovanni Morelli e la cultura conoscitori. Atti del Convegno Internazionale, Bergamo, 4–7 giugno 1987, 3 Bde. Bergamo: Lubrina 1993. 274 Zum Verhältnis Thausing/Morelli siehe Rosenauer 1983 (s. Anm. 261), S. 139; ebenso: Rosenauer, Artur: „Giovanni Morelli und Franz Wickhoff“, in: Agosti/Manca/Panzeri 1993 (s. Anm. 273), Bd. 2, S. 359–370. 275 Schlosser 1934 (s. Anm. 12), S. 11. Hier heißt es über Eitelberger weiter, dass er „entscheidende Züge“ des Faches vielfach vorausgenommen habe, obwohl er als „Gelehrter und Forscher […] zurückstehen muss“. 276 Kultermann 1981 (s. Anm. 22), S. 251–263. 277 Thausing, Moriz: „Nachruf auf Albert von Zahn“, in: Jahrbücher für Kunstwissenschaft, Bd. 6 (1873), Heft 3, S. 218; zitiert nach Kultermann 1981 (s. Anm. 22), S. 252.

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aufbauende, wissenschaftliche Position der Kunstgeschichte. Dies hätte Universalisten wie Sitte aufklären können, dass den Spezialisten und Kennern die weitere fachliche Zukunft gehören würde.

Auch der Eitelberger-Schüler Albert Ilg (Abb. 26), mit Sitte seit seiner Stu-

dienzeit eng befreundet, hat als Fach-Spezialist zu gelten. Seine Forschungsinteressen, die er – anders als Sitte – von populärwissenschaftlichen Schriften klar abzugrenzen wusste,278 zielten einerseits in der topographischen Eingrenzung auf sein Heimatland Österreich, andererseits auf eine – seit den 1880er Jahren von einer breiten internationalen Forschung mitgetragene und von Sitte ebenfalls nicht mehr vollzogene – Öffnung des bisher gültigen Stil­ ideals hin zur Kunst des Barock.279 Der Verlust des bisher gültigen Stilideals der Renaissance musste für Sitte auch den Verlust des von ihm immer wieder genutzten Begründungszusammenhangs für seinen Universalismus und für sein Selbstverständnis bedeuten. Ein Blick auf die klaren Konturen von Ilgs Laufbahn und Fachprofil kann vielleicht auch eine Erklärung liefern, warum Sittes Weg von Fachkreisen kaum goutiert wurde.280 Auch Ilg war die ersten Jahre entschieden von der Strahlkraft Eitelbergers geprägt und konnte – ähnlich wie Thausing – auf eine glanzvolle Karriere hoffen.281 Er begann mit dem Studium der „vergleichenden Sprachforschung, germanistischen Mythologie u[nd] Geschichte“ und hörte – ähnlich wie Sitte – bei Eitelberger zunächst nebenbei Kunstgeschichte. Von ihm wurde Ilg noch als Student 1870 ans Österreichische Museum geholt. Im gleichen Jahr legte er mit einem Katalog über die Kunstschätze des Fürsten Metternich seine erste wissenschaftliche Arbeit vor.282 Mit seiner 1871 fertig gestellten und wenig später im Druck erschienenen Dissertation über Francesco Colonnas Hypnerotomachia Poliphili entsprach er Eitelbergers Interessen, der ihm sogleich die gesamte

278 Lachnit 2005 (s. Anm. 19), S. 33. 279 Siehe Anm. 243. 280 Siehe Mönninger „Leben und Werk Camillo Sittes“ (s. Anm. 8), S. 38f. sowie Anm. 38, 39. Mönninger zitiert einen Brief an Albert Ilg vom 20. März 1895, in dem Sitte die Intrigen an der Staatsgewerbeschule schildert, die ihm unterstellten, er „verstünde vom Baufach gar nichts, sei ein bloßer Dillettant, Zeitungsschreiber u. Renommierer“. Sitte „Brief an Ilg“ (s. Anm. 248); zitiert nach Mönninger „Leben und Werk Camillo Sittes“ (s. Anm. 8), Anm. 38. 281 Zum Folgenden: Springer, Elisabeth: „Biographische Skizze zu Albert Ilg (1847–1896)“, in: Polleroß, Friedrich (Hg.): Fischer von Erlach und die Wiener Barocktradition (= Frühneuzeit-Studien, Bd. 4. Hg. vom Institut für die Erforschung der Frühen Neuzeit, Wien). Wien, Köln u.a.: Böhlau 1995, S. 319–343. 282 Springer 1995 (s. Anm. 281), S. 320. „Künstler und Gelehrter“ – Der Universalist Camillo Sitte

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­Redaktion

der

„Wiener

Quellen-

schriften“ übertrug.283 1872 erhielt er, von Eitelberger respektvoll als „einer der strebsamsten, fleißigsten jüngeren Gelehrten nicht bloss Österreichs, sondern Deutschlands“ gerühmt,284 eine Dozentur an der dem Österreichischen Museum angeschlossenen Kunstgewerbeschule und wenig später diverse Angebote u. a. an die Universitäten in Graz und Straßburg. Erst als Ilg 1876 – ein Jahr nach Sittes Weggang nach Salzburg – auf eine Kustodenstelle an den kaiserlichen Hofmuseen wechselte und es darüber zum offenen Bruch mit 26  Albert Ilg (1847–1896), Fotografie

Eitelberger kam,285 entwickelte er

(unbekannt, o.J.)

sein eigenständiges Fachprofil. Er, der „stets für Österreichs Bedeu-

tung und Ehre auf dem Gebiete der Kunstwissenschaft energisch einzutreten wußte“,286 war zunächst für die Katalogisierung und Inventarisierung der Abteilungen „Mittelalter und Renaissance“ verantwortlich, die er „entsprechend der von Eitelberger vermittelten Methodik“ vornahm.287 Schon wenige Jahre später gelingt es Ilg, seine weit gespannten Interessen zu bündeln und auch wissenschaftlich einen – von Eitelberger unabhängigen und für das Fach Kunstgeschichte – richtungsweisenden Weg zu beschreiten.

283 Ebd. 284 Siehe Eitelbergers Antrag vom 25. Juli 1872 (Österreichisches Staatsarchiv Wien, Allgemeines Verwaltungsarchiv, Kultus- und Unterrichts-Ministerium, Allgemeine Akten, Zl. 9069/1872, Sign. 15 Wien-Kunstgewerbeschule-Dozenten); zitiert nach Springer 1995 (s. Anm. 281), S. 320. 285 Auf Betreiben Eitelbergers wurde Ilg 1876 die Lehrbefugnis an der Kunstgewerbeschule entzogen (hierzu Springer 1995 (s. Anm. 281), S. 321f.). Zugleich wurde Ilg von der Redaktionsarbeit bei den Quellenschriften entbunden. 286 So das Urteil des Oberstkämmerers Crenneville zum Berufungsantrag Ilgs (Konzept für Vortrag, 15. September 1876, Haus-, Hof- und Staatsarchiv Wien, D, K. 86, Generalinventur 1876/9 Zl. 1064); zitiert nach Springer 1995 (s. Anm. 281), S. 321. 287 Schlosser 1934 (s. Anm. 12), S. 157.

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Ilg gehört zu den Protagonisten einer Neubewertung des Barock.288 Hatte

er 1874 selbst noch von der „verwilderten barocken Epoche“ gesprochen,289 publizierte er 1879 über die im 17. und 18. Jahrhundert tätige „Künstler­ familie Carlone“.290 In jenen Jahren setzte er sich nicht nur für die Erhaltung barocker Kunstwerke, sondern auch für die Etablierung des Neubarock ein, wie seine unter dem Pseudonym „Bernini der Jüngere“ erschienene Kunst­ epistel Die Zukunft des Barockstils belegt.291 Ilgs Interesse am Barock galt aber hauptsächlich dem Nachweis, dass der österreichischen Barockkunst der erste Rang im europäischen Vergleich gebühre.292 Dies suchte er u. a. in der ersten, von ihm 1895 vorgelegten Monographie über Johann Bernhard ­Fischer von Erlach zu belegen,293 der – wie Sitte in einem Brief an Ilg forderte – nun auch noch eine Monographie über „den jüngeren Fischer u. noch vieles andere“ folgen müsse.294

Camillo Sitte: Universalismus versus / und Spezialistentum Symptomatisch für die Unterschiede zwischen Thausings bzw. Ilgs fachlichem Spezialistentum und Sittes Universalismus erscheint im Rückblick dessen beruflicher Werdegang, der abschließend nochmals kurz beleuchtet werden soll: 1875, als Thausing mit seiner Dürer-Monographie internationale Anerkennung in Fachkreisen fand, ging Sitte – ebenfalls Eitelberger-Protegé, aber

288 Hierzu: Tintelnot, Hans: „Zur Gewinnung unserer Barockbegriffe“, in: Stamm, Rudolf (Hg.): Die Kunstformen des Barockzeitalters. München: Lehnen 1956, S. 13–91. Einen kurzen Überblick liefert Bauer, Hermann: Barock. Kunst einer Epoche. Berlin: Reimer 1992, besonders S. 10–15. 289 Ilg, Albert: „Ueber die Entwicklung der Goldschmiedekunst im Zeitalter der deutschen Renaissance“, in: Gewerbehalle. Organ für den Fortschritt in allen Zweigen der KunstIndustrie, Jg. 12 (1874), S. 179; zitiert nach Springer 1995 (s. Anm. 281), S. 327. 290 Ilg, Albert: „Die Künsterfamilie Carlone“, in: Mitteilungen der k. k. Zentral-Komission zur Erforschung und Erhaltung der Kunst- und Historischen Denkmale, N.F., Jg. 5 (1879), S. 57– 66. 291 Springer 1995 (s. Anm. 281), S. 329. 292 Ebd., S. 330. 293 Ilg, Albert: Leben und Werke Johann Bernhard Fischer‘s von Erlach des Vaters. Wien: Konegen 1895. Hierzu: Kreul, Andreas: „Zwischen Pathos und Neuordnung. Die Fischer von Erlach-Monographie von Albert Ilg“, in: Polleroß 1995 (s. Anm. 281), S. 389–403. Etwa zeitgleich (1894/95) begann Alois Riegl mit ersten Vorlesungen über Barockkunst (siehe Schlosser 1934 (s. Anm. 12), S. 187). 294 Sitte „Brief an Ilg“ (s. Anm. 248). „Künstler und Gelehrter“ – Der Universalist Camillo Sitte

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gleichsam Opfer von dessen universalistischen Vorstellungen für das Fach Kunstgeschichte, von denen er sich zeitlebens nicht befreien konnte – als Leiter der neu gegründeten Staatsgewerbeschule nach Salzburg. 1883, als Sitte die Staatsgewerbeschule in der Schellinggasse in Wien übernahm, hatte Ilg seine richtungsweisenden Barockforschungen bereits aufgenommen. Im Herbst 1889 wollte auch Sitte „in weitesten Kreisen Aufsehen erregen“, und zwar nun gleichfalls als Spezialist: mit der für diesen Zeitraum geplanten und in Prospekten bereits angekündigten Drucklegung von Piero della Francescas Perspektivtraktat, der – nach Eitelbergers Tod – unter Ilgs neuer Herausgeberschaft in den „Wiener Quellenschriften“ erscheinen sollte.295 „Die Publication“, so Sittes Hoffnung, würde „eine Capitalleistung“ werden, bedeutender als der „längst in alle Sprachen“ übersetzte „Tractat von Leonardo“. „Kunsthistoriker und Künstler (die wenigen besseren natürlich, welche so was verstehen)“, war sich Sitte sicher, „würden staunen, welches neue Licht da aufgeht über die gesammte Entwicklung der Malerei im 15. Jahrhundert. Ich bin fest überzeugt, daß der deutschen (ersten) Ausgabe sofort eine englische, französische und auch italienische folgen wird“. Keine der genannten Ausgaben konnte infolge diverser Konkurrenzsituationen jedoch realisiert werden.296

Schließlich gelang dem Universalisten Sitte mit seinem eingangs zitierten,

1889 publizierten Buch Der Städte-Bau nach seinen künstlerischen Grund-

295 Hierzu und zu den nachfolgenden Zitaten: Sitte, Camillo: Brief an Albert Ilg, 9. Januar 1888, Österreichische Nationalbibliothek, HAN: Autograph 1301/35-1 (transkribiert von Roswitha E. Lacina). Darin berichtet Sitte über die für das Frühjahr geplanten Studienreisen in die Archive nach Mailand und Parma, in denen zwei Manuskripte Pieros verwahrt würden. „Auf diese Art“ – so Sitte – „halte ich es für möglich bis nächsten Herbst dennoch die Drucklegung fertig zu bekommen“. 296 Über die Hintergründe des gescheiterten Projekts unterrichtet Sittes Brief an Albert Ilg vom 14. Januar 1888, in dem es u. a. heißt: „Mit großer Freude sehe ich daraus, dass Du in freundschaftlicher Rücksicht auf mich, bis an die äußerste Grenze gegangen und betrachte es als meine Pflicht in dieser Angelegenheit nicht selbstisch zu sein. Die Mittheilung, daß Winterberg [, der 1889 in den „Wiener Quellenschriften“ den Band über Fra Luca Pacoli. Divina Proportione. Die Lehre vom Goldenen Schnitt bearbeiten wird]‚ möglichst exacte Pausen‘ genommen, ändert das gestern besprochene doch Wesentlich. Auch der Umstand, daß Eitelberger ihm seinerzeit den Auftrag gab (respective die Anregung) ist mir wichtig“. An späterer Stelle berichtet Sitte, dass ja auch schon Janitschek im Auftrag Eitelbergers an der Drucklegung von Pieros Codex gearbeitet habe. „Das einzige Unangenehme dabei ist“ – so Sitte an Ilg – „daß Du mich bereits als Bearbeiter des P. d. Fr. hast in den Prospecten drucken lassen, das werde ich aber gewiß mit Anstand verschmerzen“. Siehe Sitte „Brief an Ilg“ 1888 (s. Anm. 105).

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sätzen endlich ein großer Erfolg. Damit wurde er – nun selbst auf diesem Gebiet Spezialist – zum Begründer einer neuen Fachrichtung.297 Seine – hier editierten, für die Kunstgeschichte beleuchteten – Arbeiten zu Perspektive, Zeichenunterricht, Anatomie usw. fanden bei den Zeitgenossen jedoch kaum öffentliche Resonanz. Als Kunsthistoriker mit universalistischer Ausbildung und Zielsetzung konnte er in Zeiten des sich schnell etablierenden Fachwissens und Kennertums nicht reüssieren. Von der rasanten Fachentwicklung in kürzester Zeit überrollt, persönlich enttäuscht, physisch und psychisch angeschlagen und wissenschaftlich isoliert, begann sein weitgehender Rückzug in das private – in Fachkreisen lange Zeit nicht wahrgenommene und parallel zu seiner Lehr- und Bautätigkeit gelebte – Gelehrtendasein.298 Zwar hatte Sitte noch 1895 Hoffnung, mit „nur mehr zwei, drei Jahren Gesundheit [… in der Karriereleiter] ebenfalls oben“ anzukommen.299 Doch schon 1899 – vier 297 Siehe hierzu besonders Collins/Collins 1986 (s. Anm. 1). Sitte plante 1902/03 gemeinsam mit dem Berliner Städtebauprofessor Theodor Goecke die Herausgabe eines Fachorgans. In der ab Januar 1904 – nach Sittes Tod – im Berliner Wasmuth-Verlag erscheinenden Zeitschrift Der Städtebau. Monatsschrift für die künstlerische Ausgestaltung der Städte nach ihren wirtschaftlichen, gesundheitlichen und sozialen Grundsätzen sind Sitte und Goecke als Gründer und Herausgeber genannt. Hierzu Wilhelm 2006 (s. Anm. 89), S. 75–82 sowie Mönninger, Michael: „Die Zeitschrift ‚Der Städtebau‘“, in: CSG, Bd. 2: Schriften zu Städtebau und Architektur. Hg. von Klaus Semsroth, Michael Mönninger und Christiane Crasemann-Collins. Wien, Köln u. a.: Böhlau 2010. 298 Siehe hierzu Sittes „Brief an Ilg“ (s. Anm. 248), in dem er schreibt: „Schweigend aber u. ohne jeden Groll, mir selbst die Schuld gebend wegen meiner Menschenscheu[,] verbitterten Vereinsamung u. Zurückziehens sogar von den letzten mir noch aus der Jugendzeit verbliebenen Freunden[,] ging ich meinen Weg ruhig weiter. Ein neuer furchtbarer Schlag, der mir leider sogar ein Nervenleiden zuzog in Folge der ungeheueren Gemüths­ erschütterungen, war mein Durchfall bei meiner Candidatur um die Akademie-Professur von Hasenauer“. Otto Wagner, der an Stelle Sittes berufen wurde (siehe S. 34, 42 sowie Anm. 89), nutzte in der Folge das „Gewicht seines Amtes als österreichischer Universitätsprofessor“ zur Kritik am „Städtebaukonzept des Staatsgewerbeschuldirektors“ (Wilhelm 2006 (s. Anm. 89), S. 71). Seine Beurteilung, „C. Sitte gilt in Wien […] als hohler Schwätzer“, trug erheblich zur Diskreditierung Sittes bei (Wagner, Otto: Brief an Joseph Stübben, 5. April 1894, Stadt-Archiv Köln; zit. nach Wilhelm 2006 (s. Anm. 89), S. 73). 299 Am 20. März 1895 schrieb Sitte an Albert Ilg: „Mit Deinem wundervollen Werke [über Fischer von Erlach] bist Du auf dem Gipfel Deines Schaffens u. Lebenszieles angelangt; […] Deine Fahne ist bereits auf der eroberten Turmzinne gehisst und damit hat wenigstens das Sorgen u. Pochen des Herzens Ruhe gefunden […]. Ich selbst bin noch nicht so glücklich, sei es, daß mein Weg noch struppiger war, sei es, daß ich nicht schnellfüßig genug, stehe aber hart vor demselben Ziel. Noch nur mehr zwei, drei Jahre Gesundheit und ich stehe ebenfalls oben“. Sitte „Brief an Ilg“ (s. Anm. 248). „Künstler und Gelehrter“ – Der Universalist Camillo Sitte

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Jahre vor seinem tödlichen Schlaganfall – bekannte er gegenüber Ferdinand von Feldegg resigniert: „[ob mein] System auch nur einen einzigen Anhänger findet, ist mir gänzlich gleichgültig“.300

Kunstgeschichte wohin? Wenn nach jahrzehntelangen Forschungen zu seinem Städtebau-Buch seit etwa zwanzig Jahren der Blick erstmals verstärkt vom Spezialisten auf den Universalisten Sitte gewendet und dabei auch – wie hier – besonders die Kunstgeschichte einbezogen wurde, darf darin mit Recht ein Symptom für das Fach gesehen werden. Mit angeregt von Hans Beltings 1983 gestellter Frage nach dem „Ende der Kunstgeschichte“301 gibt es seit Jahren viele Versuche, die als zu eng erkannten Grenzen der Disziplin neu zu definieren.302 Neben rezeptionsästhetischen, funktionsgeschichtlichen, kunstsoziologischen, strukturalistischen, bildwissenschaftlichen etc. Ansätzen findet sich auch das – freilich bereits von Aby Warburg (1866–1929) und Ernst Cassirer (1874–1945) begründete – Verständnis von Kunstgeschichte als Kulturwissenschaft.303 Dafür kann Sittes Universalismus bis heute wichtige Anregungen geben.

300 Sitte „Brief an Feldegg (1899)“ (s. Anm. 3), S. 366–369 in diesem Bd. 301 Belting, Hans: Das Ende der Kunstgeschichte? München u. a.: Deutscher Kunstverlag 1983 (Englische Ausgabe: The end of history of art? Chicago, London: University of Chicago Press 1987). 302 Zu einer Facette dieser Diskussion siehe: Sauerländer, Willibald: „Der Kunsthistoriker angesichts des entlaufenen Kunstbegriffs. Zerfällt das Paradigma einer Disziplin?“, in: Ders.: Geschichte der Kunst – Gegenwart der Kritik. Köln: Dumont 1999, S. 293–323. 303 Wuttke, Dieter (Hg.): Dazwischen. Kulturwissenschaft auf Warburgs Spuren, 2 Bde. Baden-Baden: Koerner 1996; Raulff, Ulrich: „Von der Privatbibliothek des Gelehrten zum Forschungsinstitut. Aby Warburg, Ernst Cassirer und die neue Kulturwissenschaft“, in: Geschichte und Gesellschaft, Jg. 23 (1997), Heft 1, S. 28–43.

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Zu Camillo Sittes „Vorträgen über Geschichte der Baustyle“

Betrachtet man das auf 188 paginierten Blättern in Kurrentschrift eigenhändig abgefasste, bisher unveröffentlichte Manuskript, dessen auffallendstes äußeres Kennzeichen die große Zahl eingeklebter Zeichnungen auf Transparentpapier darstellt, und zieht man dessen gesamte Struktur in Betracht, so stellt sich sogleich die Frage nach dem eigentlichen ursprünglichen Zweck dieser Arbeit. Die Ergänzung des Titels „von Dir: C. Sitte 1883–84“ sowie der Untertitel „Collegienheft für Baustyllehre“ liefern den Hinweis, dass es sich um Unterrichtsmaterial handelt, welches Camillo Sitte in seiner Funktion als Direktor und Lehrer an der Wiener Staatsgewerbeschule in der Schellinggasse ausgearbeitet und verwendet hat, und dass es einen Unterrichtsbehelf darstellt, der schon im ersten Schuljahr nach der Berufung Sittes von Salzburg nach Wien Verwendung fand. Aufschlussreich ist die am Anfang des Textes hinzugefügte Bemerkung: „Die eingeklebten Pausen sind meist Schülerarbeiten“, was den vorwiegend didaktischen Zweck des Autographs bestätigt. Wie die mit Bleistift – meist am linken Blattrand – angebrachten zahlreichen Datumsvermerke zeigen, verwendete Camillo Sitte das Manuskript auch in späteren Schuljahren (1886, 1887, 1888, 1889 und 1893) wieder im Unterricht. Dabei ist zu beachten, dass das vorliegende Autograph nach Aussage des Untertitels als „zweiter (geschichtl:) Theil, der Geschichte der Baukunst“ zu verstehen ist, wobei der erste Teil nicht erhalten geblieben ist und dessen Inhalt und Umfang unbekannt sind.

Es stellt sich weiters die Frage, in welcher Form das Autograph im Unter-

richt eingesetzt wurde. Zunächst ist anzunehmen, dass der Text mit den an

 

Czeike, Felix: Historisches Lexikon Wien, Bd. 5. Wien: Kremayr & Scheriau 1997, S. 236. Siehe: fol. 5: „29/9 88“; fol. 9: „24/9 88”; fol. 17: „27/9 88”; fol. 50: „12/11 87”; fol. 57: „11/11 86”; fol. 61: „14/5 93”; fol. 72: „5/12 87”; fol. 76: „9/12 87”; fol. 122: „5/2 88”; fol. 144: „24/2 88”; fol. 146: „30/1 89”; fol. 152: „27/2 88”; fol. 171: „9/3 88” und „14/2 87”; fol. 175: „17/2 87” und „13/3 88”; fol. 184: „20/3 88”; fol. 186: „28/2 87”. Die Datumsangaben sind nicht vollständig genug, um einen Folgerhythmus der Unterrichtseinheiten rekon­ struieren zu können. Zu Camillo Sittes „Vorträgen über Geschichte der Baustyle“

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passenden Stellen eingeklebten Zeichnungen dem Vortragenden als Vortragsmanuskript und zugleich als Erinnerungsstütze dienen sollte. Hatte Sitte im Autograph Text und Abbildungen synoptisch vor Augen, so war er dadurch in die Lage versetzt, anhand der Bilder auch frei extemporiert weitere Erläuterungen zu geben, die über den geschriebenen Vortragstext hinausgingen.

Andererseits sind aber auch noch andere zeitgemäße Verwendungsmög-

lichkeiten in Betracht zu ziehen. Möglicherweise verwendete Sitte bereits die damals fortschrittlichsten Projektionsmittel im Unterricht. Mit optischen Projektionsgeräten konnte man zu dieser Zeit außer fotographischen Diapositiven auch auf Transparentpapier gepauste Zeichnungen in Vergrößerung auf Bildflächen projizieren, ein Verfahren, das besonders im Unterrichtsgebrauch damals rasch Bedeutung erlangte. Sollte Sitte diese Unterrichtsmethode benützt haben, so müsste er neben den in seinem Manuskript eingeklebten Zeichnungen einen gleichen Satz projektionsfähig montierter Pausen zur Verfügung gehabt haben. Die eingeklebten Zeichnungen hätten dem Vortragenden in jeder Situation veranschaulicht, welches Bild zur richtigen Zeit zu projizieren war. Unwahrscheinlich ist hingegen die Annahme, dass Camillo Sitte die Autographenblätter selbst als Projektionsvorlagen verwendet hätte. Obwohl für eine solche Anwendung zu dieser Zeit auch schon Episkope für die Projektion nicht transparenter Abbildungen zur Verfügung standen, hatten diese den großen Nachteil sehr geringer Lichtstärke; außerdem hätte der Vortragende in diesem Fall sein Manuskript ständig aus der Hand geben und in den Projektor einlegen müssen, was den Unterricht äußerst beschwerlich gestaltet hätte.

Offensichtlich verfolgte Camillo Sitte mit der Herstellung des bebilderten

Autographs auch noch einen wichtigen pädagogischen Zweck: Dadurch dass er seinen Schülern die Aufgabe übertrug, aus von ihm ausgewählten Druckwerken und Bildvorlagen Illustrationen abzupausen, veranlasste er die Schüler, sich inhaltlich intensiv mit den Vorlagen auseinanderzusetzen. Geschah der Vorgang des Abpausens unter Anleitung Sittes, so konnte der Lehrer damit didaktische Zielsetzungen verwirklichen, vor allem das Verständnis für den wesentlichen Inhalt der Darstellungen vermitteln und die Schüler anleiten, komplexere Darstellungen sinngemäß richtig zeichnerisch zu verein-



Liesegang, Franz Paul: Skiopticon und Nebelbilderapparat. Düsseldorf: Liesegang 1875 (2. Aufl.); Ders.: Die Projections-Kunst für Schulen, Familien und öffentliche Darstellungen. Düsseldorf: Liesegang 1878. Projektionsbilder wurden auf Pauspapier oder Pausleinwand gezeichnet und zwischen Glasplatten, deren Ränder man mit Papier zusammenklebte, montiert.

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fachen. Eine solche Methode entsprach der Denkweise Sittes, der sich stets strikt gegen ein geistloses Kopieren wandte. Vielmehr konnte eine aus selbst gewonnenem Verständnis des Wesentlichen geschaffene Nachzeichnung der entscheidenden Konturen und Grundelemente zumindest im Ansatz einen „im hermeneutischen Sinne mimetischen, mitschöpferischen Erkenntnis-, Inter­pretations- und Hervorbringungsprozess“ in Gang bringen, wie er Sitte als Bildungsziel vorschwebte.

Wenn Camillo Sitte schon zu Beginn des Schuljahres 1883/84 über den be-

achtlichen Vorrat von über zweihundert Zeichnungen verfügte, so ist daraus zu schließen, dass er die Pausen schon von seinen Schülern an der Staatsgewerbeschule in Salzburg hatte anfertigen lassen, wo er von 1875 bis 1883 als Direktor und Lehrer wirkte. Demnach ging das Konzept und die Vorbereitung seines Baukunst-Lehrprogramms in der in Wien verwirklichten Form bereits auf seine Salzburger Dienstzeit zurück.

Es gibt aber auch Anhaltspunkte für die Vermutung, dass Camillo Sitte

schon zu Beginn seines Baukunstunterrichts an die Veröffentlichung dieses Lehrmaterials dachte. Dies bestätigt der Hinweis am Beginn des Collegienheftes, wonach die Pausen „meist Schülerarbeiten u. daher nach Erforderniß zu corrigiren“ seien. Ein Erfordernis zu durchgehenden Korrekturen hätte sich in erster Linie im Fall einer geplanten Veröffentlichung des Manuskripts ergeben.

Dass das Autograph wirklich dazu bestimmt gewesen ist, Teil einer groß

angelegten Publikation Camillo Sittes zu werden, erscheint auch durch die teilweise Übereinstimmung mit dem von Sitte selbst überlieferten Konzept für ein achtbändiges kulturgeschichtliches Werk bestätigt. Wie Camillo Sitte in einem Brief vom 6. Dezember 1899 an Ferdinand Fellner von Feldegg ausführt, sollten die ersten beiden Bände dieses Werkes gerade jene Bereiche enthalten, die einen Teil des Inhalts des Manuskripts Vorträge über Geschichte der Baustyle bilden, nämlich: „I. Bnd: Über die Entstehung der Grundformen der alt-griech. Baukunst u. Ornamentik“ und „II. Bnd: Die Wurzeln der etrusc.-röm. Baukunst“. 

Mönninger, Michael: Vom Ornament zum Nationalkunstwerk. Zur Kunst- und Architekturtheorie Camillo Sittes. Braunschweig, Wiesbaden: Vieweg 1998, S. 129.



Die Abschnitte „Die altägyptische Bauweise“, „Die Assyrisch-Babylonische Bauweise“, „Die Bauten der Perser“ und „Die Baukunst der Griechen“ enthalten 123 nummerierte Abbildungen, das Kapitel „Die Baukunst der Römer“ enthält 96 Zeichnungen, dazu kommen noch mehrere kleinere nicht durchnummerierte Illustrationen.



Sitte, Camillo: „Brief an Ferdinand von Feldegg (1899)“, S. 366–369 in diesem Bd. Zu Camillo Sittes „Vorträgen über Geschichte der Baustyle“

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Da der dritte Band der projektierten Publikation gleichfalls eine im Jahr

1899 bereits fertig vorliegende Arbeit Sittes, nämlich die „Geschichte des perspect. Zeichnens“ beinhalten sollte, erscheint die Absicht erkennbar, dass der Autor sein achtbändiges Werk unter Heranziehung früher entstandener Arbeiten konzipiert hat, zu denen die Baustillehre der griechischen und römi­ schen Antike gehörte. Auch die Nachrufe auf Camillo Sitte bestätigen ­diese Absicht. Karl Henrici erwähnt den Inhalt des von Sitte geplant gewesenen großen „literarischen Werkes […] von welchem Teile […] bereits geschrieben sind“. Othmar von Leixner schreibt: „ein großes […] Werk, das im Excerpt komplett, sollte der Mitwelt Sittes weit ausgreifendes Wissen zeigen. Die verschiedensten Fragen auf prähistorischem, philosophischem, physiologischem und psychologischem Gebiete wurden von ihm in eingehendster Weise bearbeitet. Die ersten zwei Bände waren der Entstehung der Grundformen der altgriechischen Baukunst und Ornamentik und der Wurzel der etruskisch­römischen Baukunst gewidmet. Der dritte Band sollte eine Geschichte des perspektivischen Zeichnens behandeln.“

Camillo Sitte scheint daran gedacht zu haben, seine Darstellungen über

die Entwicklung der Baukunst im Anschluss an die römische Architektur mit Abhandlungen der auf die Antike folgenden Epochen – der Baukunst der frühchristlichen Zeit sowie des Mittelalters – fortzusetzen, wofür Skizzen eines Konzepts erhalten sind.10 Anscheinend bezog sich diese Absicht aber bloß auf den Schulunterricht. Dagegen ist auffallend, dass Camillo Sitte offenbar nicht beabsichtigte, seine groß angelegte Publikation in Form einer kompletten Entwicklungsgeschichte der Baukunst vom Altertum bis zur Gegenwart zu gestalten. Vielmehr sollte nach Sittes eigener Aussage sein Werk so angelegt sein, dass nach Abhandlung der griechischen und römischen Antike das Thema gewechselt würde: So sollte der dritte Band des Werkes mit den Ausführungen über die Perspektive sogleich den Sprung vom Altertum in die Neuzeit vollziehen. Die nächsten Bände hätten sich wieder anderen Schwer  Ebd., S. 368.   Henrici, Karl: „Camillo Sitte, † 16. November 1903“, in: Der Städtebau, Jg. 1 (1904), Heft 3, S. 33.   Leixner, Othmar v.: „Camillo Sitte“, in: Der Baumeister, Jg. 2 (1904), Heft 4, S. 44–46, S. 46. 10 Sign. SN: 425–585, Beilage: 5 fol. (fol. 1 bis fol. 5): fol. 1 nur recto, fol. 2 recto et verso, fol. 3 recto et verso, fol. 4 recto et verso und fol. 5 nur recto handschriftlich beschrieben, teilweise Latein-, teilweise Kurrentschrift, teilweise stenographisch, mit zahlreichen Skizzen in Federzeichnung.

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punkten gewidmet, so der vierte Band den „Figurendarstellungen in der grossen Kunst nach Inhalt und Verwendungsart“ und der fünfte Band der „Erkenntnis des Völkerwanderns und Völkerwerdens“, während der sechste Band die „physiolog. u. psychol. Ursachen von Weltanschauungen“ zum Gegenstand haben sollte. Der siebente Band hätte das „deutsche Kunstwerk der Zukunft“ behandelt, während der abschließende achte Band des Werkes „gesammelte Pädagogische Aufsätze“ enthalten sollte.11

Im Plan für das achtbändige Werk fehlen die am Beginn der Baustillehre

stehenden Ausführungen über die altägyptische, assyrisch-babylonische und die persische Baukunst. In seiner Beschränkung auf Darlegungen zur Architekturgeschichte der klassischen Antike in dem geplanten Druckwerk zeigt sich die für Camillo Sitte kennzeichnende, bis auf seine Frühzeit als Architekt zurückgehende Vorliebe für die Renaissance12 und deren aus der griechischen und römischen Kunst bezogenes Stilvokabular. Sitte wählt diese Darstellungsinhalte exemplarisch aus und behandelt sie aus seiner Sicht der Stilideologie des Strengen Historismus. Im demonstrativen Abbrechen einer kontinuierlichen Entwicklungsdarstellung mit dem Ende der römischen Kunst und im Weglassen der Architektur des Mittelalters offenbart sich auch Sittes ambivalente und zeitweise ablehnende Einstellung gegenüber der Architektur der Romanik und Gotik.13 11 Siehe Anm. 6. 12 1873 übernahm Camillo Sitte von seinem Vater die Leitung des Neubaues der Mechitharistenkirche in Wien und änderte den in Formen der Neugotik konzipierten und fertig ausgearbeiteten Entwurf, nach welchem der Bau bereits begonnen worden war, sogleich in eine Gesamtgestaltung im Renaissancestil um. Obwohl Camillo Sitte in einem Brief vom 29. Mai 1876 an den Generalabt der Mechitharistenkongregation eigens betont, dass sein Kirchenentwurf „nach bestem italienischen Renaissancemuster“ gestaltet sei, was auch durch historische Bezugnahmen bestätigt erscheint, erklärte er zehn Jahre später, dass die Mechitharistenkirche in den Stilformen deutscher Renaissance erbaut sei. Aus dieser Sicht wurde die Kirche dann auch in den Nachrufen auf Camillo Sitte beurteilt. Schwarz, Mario: „Zur Baugeschichte der Wiener Mechitharistenkirche“, in: Steine sprechen. Zeitschrift der Österreichischen Gesellschaft für Denkmal- und Ortsbildpflege, Jg. 38 (1999), Nr. 114, S. 20–36, Anm. 56; Ders.: „Ideologie und Stilbegriff“, in: Semsroth, Klaus/Jormakka, Kari/Langer, Bernhard (Hg.): Kunst des Städtebaus. Neue Perspektiven auf Camillo Sitte. Wien, Köln u.a.: Böhlau 2005, S. 171–182. 13 In seinem Aufsatz „Die neuere kirchliche Architektur in Oesterreich und Ungarn“ aus dem Jahr 1886 widmet Camillo Sitte den Stimmen der Kritik an den historistischen Stilrichtungen der Neuromanik und Neugotik breiten Raum. Zu der in München propagierten Neuromanik im Kirchenbau meint Sitte: „Der Münchener Versuch, auch den Basilicabau wieder zu beleben, fand in Oesterreich nirgends Nachahmung, obwohl Bunsen diese Form als die allein echte und richtige für die christliche Kirche erklärt hatte.“ Über die allgemeine Erschöpfung an der Begeisterung für die Neugotik bemerkt Sitte: „Zuerst wurden Stimmen laut, Zu Camillo Sittes „Vorträgen über Geschichte der Baustyle“

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Eine Reihe von Gründen hat wohl dazu geführt, dass Camillo Sitte die

Herausgabe seines großen Druckwerks bis zuletzt immer wieder verschoben hat. Dies hatte einerseits äußere Ursachen, andererseits war aber wohl auch ein im Laufe der Zeit eingetretener Paradigmenwechsel in den Schwerpunkten der Forschungstätigkeit Sittes dafür verantwortlich.

Für die Abfassungszeit der Baustillehre, nämlich für die Jahre 1883/84,

war die vorliegende Darstellung hinsichtlich des Forschungsstandes weitgehend aktuell. In der Gesamtorientierung folgte Sittes Baustillehre im Großen und Ganzen den damals weit verbreiteten und in zahlreichen Auflagen erschienenen Arbeiten zur Geschichte der Baukunst von Wilhelm Lübke14, die auch Anregungen zu Exkursen in Bereiche der Kunst außerhalb der Architektur im engeren Sinn, wie dem Ornament, lieferten.15 Sittes Anmerkungen

welche die schweren Erhaltungskosten und ewigen Restaurationen an den zierlichen Maßwerken und Steinspitzen der gothischen Werke bemängelten, so daß bei größeren Domen das Bauen thatsächlich niemals aufhört, weil immer wieder an der einen Seite begonnen werden müsse, wenn die Restaurationen auf der anderen Seite zu Ende sind. Dann wurde auch auf die nothwendigerweise derbe, ja ungeschlachte Farbengebung hingewiesen, die man aber nicht verfeinern könne, weil man sonst aus der Rolle falle. Ebenso wurde die Unterdrückung der großen Malerei, die leidige Nothwendigkeit eckig und falsch zu zeichnen, weil die Figuren sonst nicht in den Styl passen würden, hervorgehoben. Das große Publicum fand im Allgemeinen den Eindruck besonders des Inneren für unsere Empfindung gar zu ernst, ja düster […] Wo aber einmal die Kritik ihr zersetzendes Werk begonnen, da erlahmt die Begeisterung und so trat denn eine allmähliche Ernüchterung an Stelle des ursprünglichen Feuereifers. Das Entdecken alter Werke hatte den Reiz verloren, denn es war eben nicht mehr viel zu entdecken und über das Gefundene war nicht mehr viel wesentlich Neues zu sagen. So wurde denn bereits in den Siebzigerjahren die Gothik endlich als etwas All­bekanntes, Gebräuchliches hingenommen, über das man sich nicht sonderlich in Aufregung zu versetzen braucht.“ – Sitte, Camillo: „Die neuere kirchliche Architektur in Oesterreich und Ungarn“, in: Oesterreichisch-ungarische Revue. Monatsschrift für die gesamten Culturinteressen Oesterreich-Ungarns, Bd. III (1886), S. 65–87. Zit. nach einem Sonderdruck dieses Aufsatzes, der sich im Sitte-Nachlass an der Technischen Universität Wien befindet (Sign. SN: 190–450, S. 18). Der Sonderdruck trägt die handschriftliche Widmung: „Herrn Prof. C. v. Lützow in hochachtungsvollster Verehrung Camillo Sitte“. Siehe dazu: CSG, Bd. 2: Schriften zu Städtebau und Architektur. Hg. von Klaus Semsroth, Michael Mönninger und Christiane Crasemann-Collins. Wien, Köln u. a.: Böhlau 2010. 14 Lübke, Wilhelm: Geschichte der Architektur von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart. Leipzig: Graul 1855; Ders.: Abriß der Geschichte der Baukunst als Leitfaden für Studirende des Baufachs bearbeitet. Essen: Seemann 1861. 15 Lübke, Wilhelm: Denkmäler der Kunst zur Übersicht ihres Entwicklungsganges von den 1. künstlerischen Versuchen bis zu den Standpunkten der Gegenwart. Stuttgart: Ebner & Seubert 1858.

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zur Spezialliteratur – etwa über die altägyptische Baukunst – zeigen, dass der Autor über neueste Forschungsergebnisse wohl informiert war, wie etwa über Auguste Mariettes Berichte von den Untersuchungen und Ausgrabungen in Dendera16, Karnak17, Deir el-Bahari18 und Abydos19, die zwischen 1875 und 1880 erschienen waren. Dass Sitte in seiner Literaturliste auch Gaston ­Maspero namentlich, allerdings ohne Angabe von Publikationstiteln, anführt, lässt erkennen, dass er auch über die aktuelle Entwicklung in der ägyptologischen Forschung informiert war, denn Maspero hatte gerade erst 1881 die Leitung der Ägyptischen Altertümerverwaltung (Service des Antiquités) in Kairo und damit die Hauptverantwortung in der Organisation von Ausgrabungen übernommen.20

Bald darauf erfolgten jedoch in der ägyptologischen Forschung so we-

sentliche Fortschritte in so raschem Ablauf, dass sich das Gesamtbild innerhalb weniger Jahre erheblich veränderte. Von größter Bedeutung waren die Ausgrabungsergebnisse von Sir William Matthew Flinders Petrie (1853–1942), dessen Arbeiten über Tanis21, über die in den Jahren 1891–1892 erfolgten Grabungen in Amarna22, über die Königsgräber des Alten Reichs23 und über Abydos24 wichtige neue Aufschlüsse brachten. Ebenso bedeutend waren die französischen Ausgrabungen in den Jahren 1893–1895 in Daschur25 und 1894–1898 in Abydos26 sowie die deutschen Ausgrabungen von Pyramiden 16 Mariette, Auguste: Dendérah. Déscription génerale du grand temple de cette ville, 5 Bde. Paris: Franck 1870–1880. 17 Mariette, Auguste: Karnak. Étude topographique et archéologique, avec un appendice comprenant les principaux textes hieroglyphiques découverts ourécueillis pendant les fouilles éxecutees à Karnak. Leipzig: Hinrich 1875. 18 Mariette, Auguste: Deir-el-Bahari. Documents topographiques, historiques et éthnographiques récueillis dans ce temple pendant les fouilles éxecutées. Leipzig: Hinrich 1877. 19 Mariette, Auguste: Abydos. Description des fouilles éxecutées sur l’emplacement de cette ville, 2 Bde. Paris: Franck 1869–1880. 20 Hornung, Erik: Einführung in die Ägyptologie. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1967, S. 11. 21 Petrie, William M. Flinders: Tanis, 2 Bde. London: Trübner 1885–1888. 22 Petrie, William M. Flinders: Tell el-Amarna. London: Methuen 1894. 23 Petrie, William M. Flinders: The Royal Tombs of the Earliest Dynasties, 2 Bde. London: Egypt Exploration Fund 1900–1901. 24 Petrie, William M. Flinders: Abydos, 3 Bde. London: Egypt Exploration Fund 1902–1904; MacIver, David Randall/Mace, Arthur Cruttenden/Francis Llewellyn Griffith: El Amrah and Abydos: 1899–1901. London: Trübner 1902. 25 Morgan, Jacques de: Fouilles à Dahchour, 2 Bde. Wien: Holzhausen 1894–1903. 26 Amélineau, Émile: Les nouvelles fouilles d’Abydos, 3 Bde. Paris: Leraux 1899–1904. Zu Camillo Sittes „Vorträgen über Geschichte der Baustyle“

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und Sonnenheiligtümern in Abusir unter der Leitung von Friedrich Wilhelm Freiherr von Bissing ab 1898. In der Reihe Receuil de travaux relatifs à philologie et l’archéologie égyptiennes et assyriennes, die seit 1870 in Paris herausgegeben wurde, erschienen laufend neue Forschungsberichte zur Ägyptologie. In der deutschsprachigen Fachliteratur traten Ludwig Borchardt27 und Georg Steindorff28 mit wichtigen Publikationen hervor.

Man kann sich vorstellen, dass Camillo Sitte in Anbetracht seiner vielfäl-

tigen und zeitaufwändigen Verpflichtungen als Direktor der Wiener Staatsgewerbeschule29 zu diesem Zeitpunkt nicht mehr in der Lage war, mit dieser Flut neuer Wissensinformationen aus der archäologischen Forschung ständig Schritt zu halten. Wenn er beabsichtigte, das von ihm in den Jahren 1883/84 ausgearbeitete Unterrichtsmaterial mehr als 15 Jahre später für eine Buchveröffentlichung zu verwenden, so hätte dies im Bereich der altägyptischen Baukunst eine komplette Überarbeitung und Aktualisierung erfordert, zu der umfangreiche Recherchen notwendig gewesen wären.

Das Gleiche gilt für den Abschnitt zur assyrisch-babylonischen Baukunst

in Sittes Baustillehre. In diesem Kapitel datierten die verwendeten Wissensgrundlagen aus der Zeit um 1850 bis 1870, und die Aussagen stützten sich hauptsächlich auf die bis dahin bekannten Entdeckungen in Ninive. Seither waren unter der Leitung von Hormuzd Rassam30 bedeutende weitere Ausgrabungen erfolgt; epigraphische Forschungen31 hatten das Bild der assyrisch-babylonischen Geschichte wesentlich erweitert. 1897–1898 unternahm

27 Naville, Eduard: Denkmäler aus Aegypten und Aethiopien. Hg. unter Mitwirkung von Ludwig Borchardt, bearb. von Curt Sethe, 2 Bde. Leipzig: Hinrich 1897. 28 Steindorff, Georg: Die Blütezeit des Pharaonenreichs. Bielefeld: Velhagen & Klasing 1900. 29 Camillo Sitte beklagte sich über diese berufliche Überlastung bereits 1876 in seiner Dienstzeit als Direktor der Staatsgewerbeschule in Salzburg in einem Brief an Rudolf von Eitelberger: „Ich sitze täglich von 8 bis 12 Uhr und ½ 2 bis ¼ 10 Uhr Abends zur Hälfte mit Unterricht zur anderen Hälfte mit Kanzleiarbeit beschäftigt und zu eigenen oder künstlerischen Arbeiten komme ich schon gar nicht.“ Zit. nach Mönninger 1998 (s. Anm. 4), S. 158. Diese jahrzehntelange Arbeitsüberlastung wird auch in den auf Sitte verfassten Nachrufen hervorgehoben: Koch, Julius: „Kamillo Sitte“, in: Zeitschrift des Österr. Ingenieur- und Architekten-Vereines, Jg. 55 (1903), Heft 50, S. 671; Leixner 1904 (s. Anm. 9), S. 44–46. 30 Rassam, Hormuzd: Asshur and the Land of Nimrod. Being an Account of the Discoveries Made in the Ancient Ruins of Nineveh, Asshur, Sepharvaim, Calah, etc. New York: Eaton & Mains 1897. 31 Budge, Ernest Alfred Thomson Wallis: The History of Esarhaddon (son of Sennacherib) king of Assyria, B.C. 681–688. Translated from the cuneiform inscriptions upon cylinders and tablets in the British Museum collection. London: Trübner 1880.

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Robert Koldewey gemeinsam mit Eduard Sachau eine Erkundungsreise nach Mesopotamien und wurde in der Folge 1898 von der Deutschen Orient-Gesellschaft mit groß angelegten Ausgrabungen in Babylon betraut, deren erste, vielversprechende Ergebnisse schon 1900 publiziert wurden.32 1900 setzte sich der Assyrologe Friedrich Delitzsch dafür ein, auch in Assur zu graben, was die Deutsche Orient-Gesellschaft schon seit 1898 plante. Auch dieser so sehr in Bewegung geratene Forschungsbereich musste Camillo Sitte zum Zeitpunkt seines Buchprojektes für endgültige Aussagen nicht geeignet erscheinen, sodass er, ebenso wie die altägyptische, nun auch die assyrische, babylonische und altpersische Baukunst33 ausschied.

Ganz anders war die Lage im Bereich der griechischen und römischen

Kunst. Hier musste sich Camillo Sitte auf abgesichertem Terrain fühlen. Die architektonische Formenlehre der klassischen Säulenordnungen hatte schon bei seinem Studium am Wiener Polytechnikum, wo Heinrich Ferstel sein Lehrer für Baukunst war, eine ganz wesentliche Rolle gespielt, galt doch die exakte Kenntnis der antiken Bauformen als unentbehrliches Rüstzeug für die Architekten des Historismus. Sitte galt als „gründlicher Kenner der Vitruvlitteratur“34, wie auch die präzisen Bezugnahmen auf Einzelheiten aus den Libri decem de architectura des Vitruv im Autograph belegen. Mit dem Werk des Vitruv verfügte die Architektur der Neuzeit über authentische Angaben aus der 2. Hälfte des 1. Jahrhunderts v. Chr. zu den Stileigenschaften der griechischen und römischen Baukunst, die bis in kleinste Details gingen und sogar mit Maß- und Proportionsangaben versehen waren.

An die Überlieferung des Werkes Vitruvs knüpfte sich seit der Antike eine

reiche und stets lebendig gebliebene Tradition: Während des ganzen Mittelalters blieb Vitruv bekannt. Am Hof Karls des Großen wurde sein Werk von Alkuin und Einhard diskutiert, auch die älteste erhaltene handschriftliche Kopie datiert aus karolingischer Zeit.35 Beim Bau bedeutender Groß­kirchen­

32 Koldewey, Robert: Die hettitische Inschrift gefunden in der Königsburg von Babylon am 22. August 1899 und veröffentlicht. Leipzig: Hinrich 1900. 33 Die umfangreichen Forschungsergebnisse von Franz Stolze waren in Sittes Autograph noch nicht berücksichtigt: Stolze, Franz: Persepolis. Die Achaemedischen und Sasanidischen Denkmäler und Inschriften von Persepolis, Istakhr, Pasargadae, Shakpŭr, 2 Bde. Berlin: Asher 1882. 34 Leixner 1904 (s. Anm. 9), S. 46. 35 Der Codex befand sich ehemals in der Düsseldorfer Bibliothek des Kurfürsten Johann Wilhelm und wird heute in der Bibliothek des Britischen Museums in London (Cod. Harleianus 2767) verwahrt. Zu Camillo Sittes „Vorträgen über Geschichte der Baustyle“

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anlagen wie zu St. Michael in Hildesheim oder beim Umbau der Klosterkirche von Montecassino wurde Vitruv studiert.36 Als um 1350 im Kreis um Petrarca neues Interesse an der Antike erwachte, wurde auch Vitruv wiederum verstärkt beachtet: Petrarca, Boccaccio und Giovanni Dondi besaßen Manuskripte der Bücher Vitruvs.37 Poggio Bracciolini entdeckte mit großem Interesse im Jahre 1416 im Kloster St. Gallen eine Vitruv-Kopie. Als Leon Battista Alberti 1452 sein neues Architekturtraktat De re aedificatoria verfasste, bezog er sich ganz bewusst auf Vitruv und tradierte so wie dieser getreu die Einzelheiten der drei klassischen Säulenordnungen.38

1487 erschien in Rom die erste gedruckte Ausgabe des lateinischen Textes

von Vitruv, herausgegeben von Giovanni Sulpicio da Veroli, 1514 wurde in Basel die erste deutsche Übersetzung gedruckt. 1521 veröffentliche Gotardo da Ponte die erste italienische Übersetzung in Mailand, Teile des Werkes erschienen ins Französische übersetzt 1539, ins Spanische übertragen 1542.39 1511 hatte der Humanist, Architekt und Ingenieur Fra Giocondo da Verona in Venedig erstmals eine mit 136 Holzschnitten illustrierte Ausgabe der Texte Vitruvs herausgegeben, die die Ausführungen bildlich erläuterten40 und solcherart zu praktischen Behelfen für Architekten und Baumeister wurden.

Indirekt abhängig von der vitruvianischen Überlieferung waren auch die

zahlreichen in der Renaissance erschienenen Säulenbücher. 1537 veröffent­ lichte Sebastiano Serlio (1475–1554) ein eigenes Buch, das nur der Säulenlehre gewidmet war. Neben den von Vitruv dargestellten drei antiken Säulenordnungen, der dorischen, ionischen und korinthischen Ordnung, wurde nun noch die toskanische und die komposite Ordnung hinzugefügt. Im Neben­ ei­nander von streng vitruvianischer Klassizität und freien Stilformen fanden Serlios Ausführungen in zahlreichen Auflagen große Verbreitung und wurden auch in Deutschland von Augustin Hirschvogel (1503–1553) und Hans

36 Günther, Hubertus (Hg.): Deutsche Architekturtheorie zwischen Gotik und Renaissance. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1988, S. 69f. 37 Ciapponi, L. A.: „Vitruvius“, in: Cranz, Ferdinand Edward (Hg.): Catalogus translationum et commentariorum, Bd. III. Washington: Cath. Univ. of America 1976, S. 399–409. 38 Alberti, Leon Battista: De re aedificatoria. 1452, VIII, 3 (im Druck erschienen: Florenz: Nicolaus Laurentii Alemanus 1485). 39 Vitruvius: Zehn Bücher über Architektur/Vitruv. Übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Curt Fensterbusch. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1976 (2., durchges. Aufl., Paralleltitel: Vitruvii de architectura libri decem), S. 13f. 40 Ciapponi, L. A.: „Fra Giocondo da Verona and His Edition of Vitruvius“, in: Journal of the Warburg and Courtauld Institute, Vol. 47 (1984), S. 72–90.

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Blum übernommen. Weitere von Vitruv abgeleitete Säulenordnungen verfass­ ten im deutschsprachigen Raum u.a. Hans Sebald Beham (1500–1550), Peter ­Flötner (1485–1546) oder Heinrich Vogtherr (1490–1556); ihre Werke fanden im 17. Jahrhundert eine weitverbreitete Nachfolge und mit ihren detaillierten Konstruktionsanweisungen vielfältige Anwendung in der Baupraxis.

In Italien gehörte die Architekturtheorie nach wie vor zum klassisch-

antiquarischen Bildungsgut. Hier entwickelten Daniele Barbaro und ­Andrea ­Palladio (1508–1580) sowie Vincenzo Scamozzi die römischen Studien ­Sebastiano Serlios weiter. Andrea Palladio wurde als Autor einer nach dem Vorbild Vitruvs groß angelegten Enzyklopädie über die Lehre der Baukunst unter dem Titel I quattro libri dell’architettura (Venedig 1570) selbst zum Lehrmeister der am Vorbild der Antike orientierten Architekturtradition.41 Palladio, dessen Werk vor allem in den protestantischen Ländern Nord- und Nordwesteuropas (Deutschland, Holland, Skandinavien), insbesondere in den angelsächsischen Ländern, aber auch in Frankreich größte Beachtung fand, bot bis in die Zeit des Klassizismus die exakteste Kenntnis antiker Bauregeln. Auch in Palladios Regelwerk spielten die Säulenordnungen und die getreue Wiedergabe ihrer Einzelheiten eine wichtige Rolle.42 Eine frühe Palladio-Rezeption gab es in England, wo Inigo Jones und Christopher Wren schon in der 1. Hälfte des 17. Jahrhunderts palladianische Anregungen aufnahmen. Seine Glanzzeit erfuhr der englische Palladianismus aber im 18. Jahrhundert infolge der Veröffentlichung des Stichwerks Vitruvius Britannicus (1715–1725) von Colen Campbell, dessen Auswirkungen bis nach Nordamerika ausstrahlten.43

Vom Palladianismus beeinflusst war auch Theophil Hansen (1813–1891),

der, seit 1846 in Wien ansässig, großen Einfluss auf Camillo Sitte ausübte. Er war an der Akademie in Kopenhagen ausgebildet und hatte in Deutschland Werke der Architekten des Klassizismus Karl Friedrich Schinkel, Leo von

41 Palladio, Andrea: I quattro libri dell´ architettura. Venedig: Domenico di Franceschi 1570. Deutsche Ausgabe: Ders.: Die vier Bücher zur Architektur. Nach der Ausgabe Venedig 1570 I quattro libri dell‘architettura aus dem Italienischen übertragen und hg. von Andreas Beyer und Ulrich Schütte. Zürich, München: Verlag für Architektur Artemis 1983 42 Ebd., I. Buch, Kapitel 12: „Von den fünf Ordnungen, die die Alten gebrauchten“; Kapitel 13: „Über die Schwellung und die Verjüngung der Säulen, Interkolumnien und Pilaster“; Kapitel 14: „Über die toskanische Ordnung“; Kapitel 15: „Von der dorischen Ordnung“; Kapitel 16: „Von der ionischen Ordnung“; Kapitel 17: „Von der korinthischen Ordnung“; Kapitel 18: „Von der kompositen Ordnung“; Palladio 1983 (s. Anm. 41), S. 39–80. 43 Wittkower, Rudolf: Palladio and English Palladianism. London: Thames & Hudson 1974. Zu Camillo Sittes „Vorträgen über Geschichte der Baustyle“

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Klenze und Friedrich von Gärtner studiert. Wesentlich geprägt wurde Hansen durch seinen langjährigen Aufenthalt in Griechenland (1838–1846) und den Auftrag zur Errichtung des Gebäudes für die Akademie der Wissenschaften in Athen. Der Bau wurde 1859 begonnen und gilt als ein frühes Hauptwerk des Neo-Hellenismus (Greek Revival).44 Hansen stellte das Studium der antiken Baukunst im Sinn des Strengen Historismus auf eine neue wissenschaftliche Grundlage und wurde zum Hauptvertreter einer Griechischen Neorenaissance in Wien. Im großen Projekt der Stadterweiterung mit dem Bau der Wiener Ringstraße beteiligte sich Theophil Hansen 1867 am Wettbewerb für den Neubau der Hofmuseen im Stil der hellenistischen Neorenaissance; sein Entwurf blieb jedoch unausgeführt.45 Hansens Hauptwerk in diesem Formenrepertoire wurde das Reichsratsgebäude (Parlament) an der Wiener Ringstraße, mit dessen Bau der Architekt 1869 betraut wurde.46

Im Zuge der Errichtung des 1883 vollendeten Parlamentsgebäudes setzte

sich Hansen nachdrücklich für die Ausführung einer reichen Architekturpolychromie ein, die er aus antiken Zeugnissen für gesichert ansah.47 An der Frage der farbigen Fassung des Außenbaues entzündete sich ein Gelehrtenstreit: Während Hansen die verfehlte Haltung des Klassizismus verurteilte, die die Architektur vorwiegend allein wirken lassen wollte und auf eine harmonische Unterstützung durch den Einsatz von Plastik und Malerei vielfach verzichtete48, argumentierte Rudolph von Eitelberger gegen die Polychromierung des Parlamentsgebäudes, indem er die Außenpolychromie als Eigentümlichkeit der griechischen Architektur überhaupt in Frage stellte49 und

44 Wagner-Rieger, Renate: Theophil von Hansen (= Wagner-Rieger, Renate (Hg.): Die Wiener Ringstraße. Bild einer Epoche, Bd. VIII/4).Wiesbaden: Steiner 1980, S. 2. 45 Ebd., S. 105–110; Wagner-Rieger, Renate: Wiens Architektur im 19. Jahrhundert. Wien: Österreichischer Bundesverlag für Unterricht, Wissenschaft und Kunst 1970, S. 175–177. 46 Wagner-Rieger 1980 (s. Anm. 44), S. 111–131. 47 Ebd., S. 135–137. 48 „Der griechische Stil unterliegt bei der größten Freiheit, die er dem Künstler gewährt, doch der strengen formalen Gesetzmäßigkeit und sämtliche Teile des Ganzen stehen unter sich in einem so innigen organischen Zusammenhang, daß auch nicht der geringste Teil weggelassen werden kann, ohne das Ganze zu zerstören.“ Exposé Theophil Hansens von 1876, Allgemeines Verwaltungsarchiv Wien, nach Wagner-Rieger 1980 (s. Anm. 44), S. 133. 49 Diesbezüglich folgte Eitelberger der Auffassung des Klassizismus von der ursprünglichen Steinsichtigkeit griechischer Bauwerke und Bildwerke, die sich auf Johann Joachim Winckelmann (1717–1768) berief. Insbesondere dessen Ausführungen „von der verschiedenen Materie, in welcher die griechischen Bildhauer gearbeitet haben“, konnten so verstanden

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Hansens diesbezügliches Gestaltungskonzept 1880 in einem Memorandum verwarf, denn „jedes Übermaß an Farbe als Außendekoration zerstört die Harmonie der architektonischen Linie und die Massenwirkung des Gebäudes.“50 In der Folge ließ das Baukomitee noch im gleichen Jahr die bereits angefertigten Polychromieteile am Fries, an den Kapitellen und an den Basen des Parlamentsgebäudes bis auf einen kleinen Rest an der rückwärtigen Seitenfront wieder entfernen und gab damit das Konzept Hansens für eine farbliche Fassung des Gebäudes endgültig auf. In dieser Frage, die vor dem Hintergrund eines in der Fachwelt lange und erbittert ausgetragenen Polychromiestreits51 über die authentische Farbigkeit der antiken Architektur und Monumentalplastik zu sehen ist, erscheint bemerkenswert, dass Rudolph von Eitelberger, Camillo Sittes akademischer Lehrer im Fach Kunstgeschichte, tatsächlich unrecht hatte und dass Sitte in seiner 1883 verfassten Baustillehre den Standpunkt Hansens vertrat, indem er auf die Ursprünglichkeit farbiger Architekturfassungen in der griechischen Baukunst hinwies.52 In seinen Formulierungen bringt Camillo Sitte allerdings zum Ausdruck, dass die Entdeckung der Farbigkeit griechischer Architekturwerke „in neuerer Zeit […] zum erstenmale untersucht […] ein derartiges Aufsehen“ erregt hätte, so „daß diese Enthüllungen griechischer […] Kunstempfindung anfangs gar nicht für richtig gehalten, gar nicht geglaubt wurden.“53 Im Grunde aber hatte Gottfried Semper (1803–1879) bereits 1834 durch gesicherte Nachweise ursprünglicher Farbfassungen an antiken Bauwerken in Athen den Polychromiestreit entschieden.54

werden. Winckelmann, Johann Joachim: Geschichte der Kunst des Alterthums. Heidelberg: Weiß 1882, S. 176f. Von den Architekten des Klassizismus vertrat vor allem Leo von Klenze (1784–1864) diese Richtung, die die strahlend weiße Erscheinung der aus Marmor errichteten Bauten als wesentliches Ausdrucksmittel der antiken Baukunst ansah. Im Polychromiestreit wurden die Vertreter dieser Auffassung daher spöttisch „Weißtempler“ bezeichnet. 50 Zit. nach Wagner-Rieger 1980 (s. Anm. 44), S. 137. 51 Koller, Manfred: „Architektur und Farbe. Zu ihrer Geschichte, Untersuchung und Restaurierung“, in: Maltechnik restauro, Jg. 81 (1975), Nr. 4, S. 177–198. 52 Sitte, Camillo: „Vorträge über Geschichte der Baustyle (1883–1884)“, S. 239–248 in diesem Bd. [fol. 102–104, 106, 110, 112, 113]. 53 Sitte „Vorträge (1883–1884)“ (s. Anm. 52), S. 246 in diesem Bd. [fol. 111]. 54 Nachdem Jakob Ignaz Hittorff an Tempeln in Selinunt Reste von Architekturpolychromie entdeckt hatte, unternahm Gottfried Semper gemeinsam mit Jules Goury eine Reise nach Athen und fand Farbspuren am Erechtheion und am Theseustempel, über die er noch im gleichen Jahr einen Bericht publizierte: Semper, Gottfried: Vorläufige Bemerkungen über Zu Camillo Sittes „Vorträgen über Geschichte der Baustyle“

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Das 19. Jahrhundert hatte mit dem Entstehen einer wissenschaftlich-kri-

tischen Kunstgeschichte neue Ansätze zur Erforschung der antiken Architektur gefunden, und es wurde eine Fülle neuer Untersuchungen und Interpretationen publiziert.55 Weiterhin spielte die Auseinandersetzung mit den antiken Säulenordnungen eine wesentliche Rolle.56 Es entspricht der Haltung der architekturhistorischen Forschung im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts, den Abhandlungen über die Detailgestaltung der griechischen Tempel, ihren Säulenordnungen und Ausführungsdetails breitesten Raum zu widmen. Hierin stimmt Sittes Baustillehre mit zeitgenössischen Publikationen, wie der weit verbreiteten Geschichte der Architektur von den ältesten Zeiten bis zur Gegenwart von Wilhelm Lübke (Leipzig 1884), tendenziell vollkommen überein. Lübke behandelt bei einem Gesamtumfang des Kapitels über die griechische Baukunst von 123 Seiten auf nahezu der Hälfte dieses Seitenumfangs Fragen der Säulenstellung, der Säulengestaltung und Dimensionierung, der Basisprofile, der Kapitellformen, Gesimse und des über den Säulen lagernden Gebälks und widmet diesem Thema nicht weniger als 60 Abbildungen. Im Schwerpunkt ähnlich ausgerichtet war das Werk von Josef Durm, Die Baukunst der Griechen (Darmstadt 1881), welches auch von Camillo Sitte zitiert wird.

Adressaten solcher Publikationen waren zu dieser Zeit vor allem die Ar-

chitekten und Baumeister des Historismus sowie Studenten im Architekturfach, denen die exakte Kenntnis der antiken Bauformen ein unentbehrliches Werkzeug für neoklassizistische Gestaltungsentwürfe war. Immer wieder traten bedeutende Architekten auch in der Bauforschung und Analyse der

farbige Architectur und Plastik bei den Alten. Altona: Hammerich 1834. Frühe Verfechter der antiken Architekturpolychromie waren Karl Friedrich Schinkel (1781–1841) und Eduard Schaubert (1804–1860). Spöttisch wurden im Polychromiestreit die Vertreter dieser Richtung „Bunttempler“ genannt. Hittorff selbst publizierte seine Entdeckungen erst wesentlich später: Hittorff, Jacques Ignace: Restitution du temple d’Empedocle à Selinonte ou l’architecture polychrôme chez les Grecs, 2 Bde. Paris: Didot 1851. Später forschte Adolf Furtwängler (1853–1907), seit 1894 Professor für klassische Archäologie an der Universität München, auf dem Gebiet der antiken Architekturpolychromie. 55 Unter vielen anderen: Boetticher, Carl: Tektonik der Hellenen, 3 Bde. Potsdam: Riegel 1843–1852. 56 Unter vielen anderen: Mauch, Johann Matthaeus von: Neue systematische Darstellung der architektonischen Ordnungen der Griechen und Römer und neueren Meister. Berlin u.a.: Riegel 1855 (4. verb. Aufl.); Krell, Paul Friedrich: Geschichte des dorischen Styls. Stuttgart: Ebner & Seubert 1870.

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Stilformen publizistisch hervor, so etwa Gottfried Semper57, für den Camillo Sitte stets große Bewunderung empfand.58 So ist gut zu verstehen, dass es auch für Sitte ein wichtiges Anliegen gewesen sein muss, seinen Schülern an der Staatsgewerbeschule als angehenden Baumeistern und Baufachleuten eine gediegende Ausbildung in architektonischer Formenlehre der Antike zu vermitteln.

Im Kapitel über die griechische Baukunst erscheinen die Interessens-

schwerpunkte Sittes ganz nach seinen persönlichen Vorstellungen verteilt. Dementsprechend greift Sitte stellenweise neueste Forschungsergebnisse und deren Dokumentation in der Literatur inhaltlich auf, während er andere aktuelle Erkenntnisse beiseite lässt. Auffallend ist, dass Sitte auf die Frühzeit der griechischen Kunst, insbesondere auf die mykenische Epoche, nur ganz kursorisch eingeht, indem er etwa die Mauertechnik der Burgen von Mykene und Tiryns59 behandelt oder die Gewölbe durch Vorkragung am Schatzhaus zu Mykene60 darstellt. Es fällt auch auf, dass Sitte die zu dieser Zeit hochaktuellen und viel diskutierten Ausgrabungsergebnisse von Heinrich Schliemann61 nur ganz am Rande erwähnt62, obwohl ihm diese wichtiges Grundlagenmaterial für seine Entwicklungsgeschichte des Ornaments geboten hätten. Von den neuesten Forschungsergebnissen Schliemanns in Orchomenos63 scheint Sitte nur ganz oberflächlich informiert.64

57 Semper, Gottfried: Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten oder praktische Ästhetik. Ein Handbuch für Techniker, Künstler und Kunstfreunde, Bd. 1: Textile Kunst und Bd. 2: Keramik, Tektonik, Stereotomie, Metallotechnik. Frankfurt/M.: Verlag für Kunst und Wissenschaft 1860 (Bd. 1), München: Bruckmann 1863 (Bd. 2) (Reprint Mittenwald: Mäander Kunstverlag 1977). 58 Siehe hierzu Mönninger, Michael: „Sitte und Semper“, in: CSG, Bd. 2: Schriften zu Städtebau und Architektur. Hg. von Klaus Semsroth, Michael Mönninger und Christiane Crasemann Collins.Wien, Köln u.a.: Böhlau 2010. 59 Siehe Sitte „Vorträge (1883–1884)“ (s. Anm. 52), S. 251f. in diesem Bd. [fol. 119]. 60 Ebd., S. 259 in diesem Bd. [fol. 127]. 61 Schliemann, Heinrich: Trojanische Alterthümer. Bericht über die Ausgrabungen in Troja. Leipzig: Brockhaus 1874; Schliemann, Heinrich: Mykenae. Bericht über meine Forschungen und Entdeckungen in Mykenae und Tiryns. Leipzig: Brockhaus 1878. 62 Siehe Sitte „Vorträge (1883–1884)“ (s. Anm. 52), S. 223 in diesem Bd. [fol. 86]. 63 Schliemann, Heinrich: Orochomenos. Bericht über meine Ausgrabungen im Böotischen Orchomenos. Leipzig: Brockhaus 1881. 64 Auf fol. 126 nennt Sitte „Die Schatzhäuser (oder Vorrathshäuser) zu Mykene und zu Archomenos“ (in unrichtiger Schreibweise). Sitte „Vorträge (1883–1884)“ (s. Anm. 52), S. 259 in diesem Bd. Zu Camillo Sittes „Vorträgen über Geschichte der Baustyle“

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Ausführlich geht Sitte auf die dorischen Tempel in Sizilien ein, an denen

er die für ihn wichtigen Feststellungen zur Funktion schattenbildender Rillen (Schattenrinnen) an den Außenfassaden vorführt, die er für ein wichtiges Ausdrucksmittel „in dem herrlichen südlichen Lichte“ hält.65 Wenn Sitte voraussetzt, dass die Schattenwirkung dabei „von wunderbarer Transparenz und von einem so gesättigt blauem Tone“ sei, der das Blau des Himmels in den weißen Marmorflächen widerspiegelt, so scheint zumindest an dieser Stelle die Vorstellung eines polychromen Erscheinungsbildes der Tempel unberücksichtigt geblieben zu sein.

Sitte, der sich in seinem Elaborat immer wieder mit dem Fragen der Ent-

wicklungs- und Übermittlungswege von Bauformen und Stileigentümlichkeiten auseinandersetzt, lehnt konsequent die These ab, wonach die griechischen Säulen, insbesondere die dorische Säulenform, von altägyptischen Vorbildern abzuleiten seien: Stattdessen bietet sich für Sitte „unverkennbar das Bild einer selbstständigen Entwicklung“ und einer „naturnotwendigen Entwicklungs-Reihe“, die keineswegs voraussetze, „daß diese Völker deßhalb auch alle stets unter gegenseitigem Einflusse gestanden seien“.66 Sitte erklärt hier apodiktisch: „Das Naturnotwendige kann und muß bei allen Völkern gleich sein, auch ohne daß sie von einander direct lernen und entlehnen“.67

Noch an einer späteren Stelle seines Textes geht Sitte auf diese Frage

ein und stellt zusammenfassend fest: „Es hat sich in Allem und Jedem das griechische Bausystem als ein vollkommen in sich selbst ruhendes herausgestellt. Sehr verfänglich für die Beurtheilung sind aber die mit ägyptischer, asiatischer, indischer Kunst etc. analogen Entwicklungsreihen, welche zu wiederholten Malen auftauchen doch sind dieselben durchaus nicht stichhaltig. Bruchstücke aus diesen Analogien waren es, welche der anfangs ganz unwissenschaftlich, ohne jede Begründung aufgestellten Behauptung, daß die Griechen nur die Kunst Ägyptens und Assyriens aufgegriffen und weitergebildet hätten, ziemlich allgemeinen Glauben einbrachten […] Was den historisch beglaubigten Verkehr zwischen Griechenland u. Ägypten betrifft, so gehört derselbe einer Zeit an als jede der beiden Nationen mit sich selbst und ihrer Kunst schon vollkommen im Reinen waren“.68 65 Ebd., S. 204 in diesem Bd. [fol. 65]. 66 Ebd., S. 212 in diesem Bd. [fol. 73f]. 67 Ebd., S. 213 in diesem Bd. [fol. 75]. Die zahlreichen Durchstreichungen und Wortumstellungen an dieser Stelle zeigen, dass Sitte sehr um die richtige Ausdruckweise dieses für sein kulturgeschichtliches Entwicklungsbild so wichtigen Satzes gerungen hat. 68 Ebd., S. 260f. in diesem Bd. [fol. 127f.].

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Was Camillo Sitte zur Zeit der Abfassung seines Manuskripts für gesichert

ansah, obwohl es schon damals offensichtlich im Gegensatz zu gut untermauerten Lehrmeinungen stand, musste um und nach 1899, als Sitte sein achtbändiges Werk publikationsreif machen wollte, bereits in ganz anderem Licht erscheinen. Hatte bereits Heinrich Schliemann die engen kulturellen Verbindungen zwischen Kleinasien und Griechenland schon in frühester Zeit nachgewiesen, so enthüllten die auf der Insel Kreta ab 1899 von Sir Arthur Evans (1851–1941) unternommenen Ausgrabungen in Knossos und die ab 1900 von italienischen Archäologen durchgeführten Grabungen in Phaistos die große Bedeutung der kretischen Kultur als eine der Wurzeln der späteren griechischen Entwicklung und gleichzeitig als kulturhistorisches Verbindungselement im Mittelmeerraum. Die in altägyptischen Quellen überlieferte Invasion der „Seevölker“, jener „nördlichen Fremdvölker, die auf ihren Inseln sind“ und im 13. und 12. Jahrhundert v. Chr. Ägypten angegriffen haben, wurde nun in neuem Licht gesehen69, und ob man diese nun mit den Lykiern, den Pelasgern Homers, den Sikulern Siziliens oder den Minoern von Kreta identifizieren wollte, so bewiesen diese neuen Entdeckungen auf jeden Fall einen ganz intensiven Verkehr im östlichen Mittelmeerraum schon zu sehr früher Zeit, ein halbes Jahrtausend vor dem Entstehen der frühesten (archaischen) griechischen Tempel, in welchen Griechenland ebenso eingebunden war wie Ägypten. Wenn Camillo Sitte diese neuesten Erkenntnisse – vielleicht auch nur in ersten Ansätzen – verfolgen konnte, so musste er sogar in jenem grundsätzlichen Bereich, der ihm besonders wichtig war, mit erheblichen Umwälzungen der bestehenden Lehrmeinungen rechnen.

Dass Camillo Sitte in seinem Autograph den prominentesten Beispielen der

griechischen Baukunst, wie den Tempeln auf der Akropolis in Athen, besonderen Stellenwert einräumt, hatte sicher didaktisch-pädagogische Gründe. Als Lehrer musste er sicherstellen, dass seine Schüler in erster Linie die Bedeutung der hervorragendsten Werke der Baukunst vermittelt bekamen. Außerdem

69 Bray, Warwick/Trump, David: Lexikon der Archäologie, Bd. 2. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1975, S. 353. Wenige Jahre nach Sittes Tod kommt Fritz Baumgarten über die Ursprünge der griechischen Kultur zu der Schlussfolgerung: „Je unabweisbarer es sich herausstellen wird, daß wesentliche Elemente dieser Kultur aus dem Orient herzuleiten sind, um so mehr müssen die Inseln als Vermittler dieser aus dem Orient kommenden Zivilisation eine Rolle gespielt haben. Das läßt sich denn auch für Kreta in vollstem Umfang dartun.“ Baumgarten, Fritz/Poland, Franz/Wagner, Richard: Die hellenische Kultur. Leipzig, Berlin: Teubner 1905, S. 34. Zu Camillo Sittes „Vorträgen über Geschichte der Baustyle“

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lagen über den Parthenon70 und über die Propyläen71 neue Untersuchungsergebnisse vor, die den Forschergeist Sittes anregen konnten. Wäre es um 1899 zur Erstellung einer Publikation über die griechische Baukunst gekommen, so hätte Sitte zweifellos die inzwischen erfolgten Forschungsergebnisse auf dem Gebiet der Klassischen Archäologie in Griechenland und Kleinasien zu berücksichtigen gehabt. Dabei wären die umfangreichen Entdeckungen deutscher Archäologen in Olympia (1875–1881)72 und Pergamon73 ebenso in Bearbeitung zu nehmen gewesen wie die österreichischen Forschungen in Samothrake (1873–1875)74, in Lykien (1881–1882)75, Pamphylien und Pisidien (1884–1885)76 sowie schließlich in Ephesos (ab 1896)77, wodurch sich eine deutliche Schwerpunktverlagerung des aktuellen Wissenszuwachses auf die Küstengebiete Kleinasiens ergeben hätte.

Die hier dargestellte Problematik in Sittes Baustillehre gilt im Wesent-

lichen auch für den Abschnitt über die römische Baukunst. Camillo Sitte leitet dieses Kapitel mit einer ausführlichen Würdigung Vitruvs ein78, den er allerdings in manchen seiner Aussagen auch kritisch beurteilt.79 Ausgangspunkt sind für Sitte auch hier, so wie bei dem Formenapparat der dorischen Säulenordnung am Beginn des Kapitels über die griechische Architektur, die Detailformen, ihre Proportionen und Konstruktionsregeln. Schrittweise führt Sitte dann anhand von systematisch geordneten Baudetails bedeutende Monumentalbauten vor, wobei es allerdings zu einer anscheinend will-

70 Michaelis, Adolph: Der Parthenon. Leipzig: Breitkopf & Härtel 1871; Petersen, Eugen: Die Kunst des Pheidias am Parthenon und zu Olympia. Berlin: Weidmann 1873. 71 Bohn, Richard: Die Propyläen der Akropolis zu Athen. Berlin, Stuttgart: Spemann 1882. 72 Curtius, Ernst/Adler, Friedrich (Hg.): Olympia. Die Ergebnisse der von dem Deutschen Reich veranstalteten Ausgrabung, 5 Bde. Berlin: Asher 1890–1897. 73 Die Ausgrabungen wurden ab 1878 im Auftrag der Königlich Preußischen Kunstsammlungen unter der Leitung von Alexander Conze durchgeführt, ihre Ergebnisse wurden ab 1885 in der Reihe Altertümer von Pergamon publiziert. 74 Conze, Alexander/Hauser, Alois/Niemann, George: Archäologische Untersuchungen auf Samothrake. Wien: Gerold 1875. 75 Benndorf, Otto/Niemann, George: Das Heroon von Gjölbaschi-Trysa. Wien: Holzhausen 1889. 76 Lanckoronski, Karl (Hg.): Städte Pamphyliens und Pisidiens, 2 Bde. Unter Mitwirkung von Eugen Petersen und George Niemann. Wien, Prag: Tempsky; Leipzig: Freytag 1890–1892. 77 Die Ausgrabungen standen ab 1898 unter der Leitung des neu gegründeten k.k. Österreichischen Archäologischen Instituts, dessen erster Direktor Otto Benndorf wurde. 78 Siehe Sitte „Vorträge (1883–1884)“ (s. Anm. 52), S. 264ff. in diesem Bd. [fol. 136f]. 79 In klarem Widerspruch zu Vitruv stehen die Ausführungen zu den dorischen Tempeln. Ebd., S. 276–278 in diesem Bd. [fol. 150f.].

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kürlichen Auswahl von Beispielen ganz unterschiedlicher Entstehungszeit kommt.80 Zwar werden immer wieder die Unterschiede zu den Profilbildungen der griechischen Antike aufgezeigt, eine Entwicklungslinie innerhalb der römischen Architekturgeschichte wird aber nicht erkennbar.

Zur Zeit der Abfassung des Autographs lagen neben der älteren Litera-

tur81 nur einzelne aktuelle Neuerscheinungen zur antiken römischen Architektur vor: 1873 war in Paris die Arbeit von Auguste Choisy über die römische Wölbekunst (L’art de bâtir chez les Romains) erschienen, im gleichen Jahr veröffentlichte Rodolfo Amedeo Lanciani eine Arbeit über die Baudenkmäler auf dem Palatin.82 1878 wurde der erste Band der Topographie der Stadt Rom im Alterthum von Heinrich Jordan und Christian Carl Friedrich Hülsen veröffentlicht.83 Aktualität hatte weiters eine Arbeit von Rodolfo Amedeo Lanciani über antike Wasserleitungen.84 Eine wichtige Neuentdeckung war Sitte aber noch unbekannt: Man hatte durch Ausgrabungen festgestellt, dass das Pantheon in Rom nicht, wie früher angenommen wurde und wie auch Sitte noch angibt85, ein zu den Thermen des Agrippa gehörender Nebenbau war.86 Man erkannte nun, dass der Rundbau nach einem Brand der Vorgängeranlage im Jahre 110 n. Chr. von Kaiser Hadrian neu errichtet worden war.87

In den beiden letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts bis zur Jahr­­

hundert­­wende erfolgten weitere Entdeckungen und Neuerscheinungen zur 80 So werden Basisprofile vom sogenannten Tempel der Fortuna virilis aus dem 2. Jh. v .Chr. in eine Gruppe gestellt mit solchen vom Nervaforum vom Ende des 1. Jh. n. Chr. und mit Basen vom Konstantinsbogen aus dem 3. Jh. n. Chr. Sitte „Vorträge (1883–1884)“, S. 270ff. in diesem Bd. [fol. 143]. 81 Canina, Luigi: Gli edifici di Roma antica. Cogniti per alcune importante reliquie, Bd. 1–6. Rom: G. A. Bertinelli 1848–1856; Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel: Schweighauser 1855; Reber, Franz von: Die Ruinen Roms und der Campagna. Leipzig: Weigel 1863; Jordan, Heinrich: Die Kaiserpaläste in Rom. Berlin: Lüderitz 1868. 82 Lanciani, Rodolfo: Guida del Palatino. Turin, Rom u.a.: Bocca 1873. 83 Jordan, Heinrich/Hülsen, Christian Carl Friedrich: Topographie der Stadt Rom im Alter­ thum, 3 Bde. Berlin: Weidmann 1878–1907. 84 Lanciani, Rodolfo: I commentari di Frontino intorno le acque e gli aquedotti. Rom 1880. 85 Siehe Sitte „Vorträge (1883–1884)“ (s. Anm. 52), S. 284 in diesem Bd. [fol. 161]. 86 Lübke, Wilhelm: Geschichte der Architektur von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart, Bd. 1. Leipzig: Seemann 1884 (6. Aufl.), S. 297. 87 Baumann, Eduard: Die dekorative Bildnerei der Griechen (= Schultz, Alwin/Ders.: Allgemeine Geschichte der bildenden Künste, Teil 1, Hälfte 2). Berlin: Baumgärtel o.J. [1903], S. 211f. Die Vorhalle hielt man wegen der auf Marcus Agrippa hinweisenden monumentalen Inschrift auf dem Epistyl nach wie vor für ein Bauwerk aus der Zeit Agrippas. Zu Camillo Sittes „Vorträgen über Geschichte der Baustyle“

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­römischen Baukunst, die Camillo Sitte bei einer Neubearbeitung des Themas hilfreich gewesen wären: Vor allem das im Jahre 1893 veröffentlichte große Kartenwerk über das antike Rom ist hier zu nennen.88 1897 erschien in London Lancianis Buch The Ruins and Excavations of Ancient Rome mit wichtigen archäologischen Berichten. Erst 1902 folgte eine ausführlichere Fassung der Berichte desselben Autors zu diesem Thema in italienischer Sprache.89 Laufend erschienen weitere Spezialuntersuchungen zu einzelnen Bereichen und Denkmalkomplexen des antiken Rom, wie beispielsweise die Studie von Maurice Besnier über die Tiberinsel.90

Wenn Sitte im Jahr 1899, fünfzehn Jahre nach Abfassung des Autographs,

die Absicht hatte, sein Studienmaterial über die Baukunst der Griechen und Römer in Buchform zu bringen, sah er sich gewiss vor die Situation gestellt, dieses Manuskript unter erheblichem Arbeitsaufwand mit Ergänzungen und Richtigstellungen, Erweiterungen und Abänderungen nach Maßgabe der seither erfolgten archäologischen Entdeckungen und der zahlreich erschienenen Fachliteratur zu versehen. Auch infolge seiner eigenen umfangreichen Studien hatte Camillo Sitte inzwischen wichtige neue Schwerpunkte gefunden. So wäre es ihm gewiss ein persönliches Anliegen gewesen, auch seine Erkenntnisse über die Platzanlage bei den Griechen (Agora) und Römern (Forum), die entscheidende Aussagen in seinem Buch Der Städtebau nach seinen künstlerischen Grundsätzen (1889) darstellten, in die jeweiligen Werkteile einzuarbeiten.

Viel entscheidender war aber, dass sich die Buchveröffentlichung an

eine ganz andere Zielgruppe wenden wollte als das Autograph. Hier ging es nicht mehr um Wissensvermittlung, sondern um Argumentation mit dem anspruchsvollen Ziel, ein theoretisches Evolutionsmodell der gesamten Kulturgeschichte zu begründen und einleitend mit den beiden ausgewählten Epochendarstellungen – der griechischen und der römischen Baukunst der Antike – zu belegen. Tatsächlich erklärt Camillo Sitte in seinem Brief an Ferdinand Fellner von Feldegg von 1899, mit welchen Zielsetzungen er nun die Ausführungen über die altgriechische Baukunst und Ornamentik und über 88 Lanciani, Rodolfo: Forma urbis Romae ad modulum 1 : 1000 delineavit Rodulphus Lanciani. Mailand: Hoepli 1893. 89 Lanciani, Rodolfo: Storia degli scavi di Roma e notizie intorno le collezioni romane di antichità, 4 Bde. Rom: Loescher 1902–1912. 90 Beispielsweise: Besnier, Maurice: L’ île Tibérine dans l’antiquité. Paris: Fontemoing 1902; Delbrück, Richard: Die drei Tempel am Forum holitorium in Rom. Rom: Kaiserliches Archäologisches Institut 1903.

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die etruski­sche und römische Architektur entwickeln wollte.91 Aus der Druckschrift Sittes vom Jahre 1902 mit dem Titel Weltanschauungs-Perioden92 geht hervor, weshalb in Sittes kulturhistorischem Evolutionsmodell gerade die Epochen der griechischen und römischen Antike beispielhaft als Basis für seine Aussagen gewählt wurden: Das „Alterthum“, welches Sitte als „II. Periode“ seines Zeitaltersystems bezeichnet, sei durch die „anthropomorphe Naturerklärung“ gekennzeichnet gewesen: „Alle Naturerscheinungen werden im Sinne menschlichen Thuns erklärt“.93 Die Kunstentwicklung der Antike sei sinngemäß als „national volksthümliche Kunstbildung“ zu verstehen94, wobei die „Staatenbildung zuerst nach Stämmen und engeren Landsmannschaften, dann nach Völkern“ erfolgt sei. Sitte war von der Überzeugung getragen, dass jede Zeit „nach denselben Prinzipien wie unter dem Zwange eines allgemeinen Naturgesetzes“95 gearbeitet habe, so wie auch die Entstehung von Völkergemeinschaften und Nationen stets nach naturgesetzlichen Prinzipien abgelaufen sei. Sitte geht also von einem naturhistorisch-evolutionistischen Denkmodell aus. Dadurch dass er die Naturgesetze nicht nur als oberstes wissenschaftliches Prinzip, sondern auch als höchste künstlerische Kategorie postuliert, folgert Sitte, es hätten alle Hochkulturen die ­ wichtigsten Elemente ihrer künstlerischen Entwicklung voneinander unabhängig in ähn91 Sitte „Brief an Feldegg (1899)“ (s. Anm. 6), S. 366–369 in diesem Bd.

„I. Bnd: Über die Entstehung der Grundformen der alt-griech. Baukunst u. Ornamentik Schilderung des Griechen-Werdens bis auf den Höhepunkt des Perikles, ohne fremde Hülfe, ohne indogerm. Abstammung u. somit ohne gleichsam blosser Auslösung einer latent vorhandenen Cultur. Das Werden griech. Cultur (Sprache, Mythe, Kunst, Wissensch. Ethik) ist eine Neuschöpfung, eine Urzeugung, ein in vielen Jahrtausenden aus Nichts Geschaffenes, ein durchaus mühsam selbst Erarbeitetes, dieser ganze, lange Entwicklungsgang ist zur sogen. mykenischen Zeit schon abgeschlossen, was von da (c. 1500 v.) bis Perikles nachfolgt, ist nur mehr der allerletzte kurze Schritt. Höchster Gipfel des Erreichten: Die Nationalität.



II. Bnd: Die Wurzeln der etrusc.-röm. Baukunst Ganz dasselbe für die Italer. Gipfel des endlich Erreichten wieder die Nationalität des Italers, als eine über dem Einzelmenschen stehende nächst höhere Gruppierung in demselben Sinne wie der Mensch schon ein organisierter Cellenhaufen genannt wurde.“

92 Sitte, Camillo: „Weltanschauungs-Perioden (1902)“, S. 428 in diesem Bd. 93 Ebd. Dazu passen auch Sittes Anmerkungen unter der Rubrik „Wissenschaft: Naturbeobachtung zum Zweck der Naturerkenntnis aber nur bei den Griechen, der gesammte Orient gelangte nie bis zu dieser Stufe.“ 94 „Zuerst als choregisches Gesammtkunstwerk entwickelt, dann allmälige Durchbildung der Einzelkünste. Zweck: Lebensfreude. Inhalt: Der schöne Mensch.“ Ebd. 95 Ebd. Zu Camillo Sittes „Vorträgen über Geschichte der Baustyle“

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licher Weise zu jenem Zeitpunkt entdeckt und erfunden, als sie jeweils gerade auf der gleichen Stufe ihrer Kulturentwicklung angelangt waren, wobei sie immanenten Naturgesetzen folgten. Sitte hielt diese Schlussfolgerung dadurch für absolut gesichert, da ihm zahlreiche Formwerdungsprozesse von Einzelphänomenen, die er empirisch studiert hatte, ein derartiges Bild zu vermitteln schienen.

Betrachtet man den Inhalt des Autographs im Überblick, so finden sich

darin zahlreiche Modellvorschläge für Formwerdungsprozesse von Einzelmotiven. Sie betreffen griechische Säulenkapitelle bis in ihre kleinsten Einzelheiten, Friesprofile von einfachen Anfängen bis zu reich differenzierten Variationen, dann wieder Ornamentbänder, ein anderes Mal Mauerwerksverbände. Im Versuch, all dies zu systematisieren und in rationale Entwicklungsabläufe einzuordnen, bemüht sich Sitte ohne Zweifel, nicht bei einer normativen Einordnung nach materiellen Gesichtspunkten stehen zu bleiben, obwohl über weite Strecken solche Vergleichskriterien überwiegen. Er lässt aber vielfach die Möglichkeit außer Acht, die beobachteten Formkriterien einem historischen Ordnungsraster einzugliedern, obwohl – wie im Fall der Beispiele römischer Basisprofile – konkrete Datierungsansätze verfügbar gewesen wären. Stattdessen versucht Sitte, die Gesetzlichkeit des Entstehens und Werdens von Kunsterscheinungen aus naturgesetzlichen Abläufen wie der zwangsläufig eintretenden schrittweisen Verarbeitung von Erfahrungen und der Verfeinerung von Produktionsprozessen zu erklären. Ein Beispiel, wie Erfahrungen auf dem Gebiet der Naturbeobachtung die Formentwicklung beeinflusst haben, liefert Sitte ausführlich in der Darstellung und Begründung sogenannter „Schattenrinnen“ an den Fassadenflächen dorischer Tempel, die nur unter den ganz bestimmten Voraussetzungen des strahlenden Sonnenlichts und des südlichen Himmels sinnvoll entstehen konnten.96 Die Kunstentwicklung ist nach Sittes Meinung also „unmittelbarer Ausfluß unumstößlicher Naturgesetze“.97

Dieser von Sitte postulierten Naturgesetzmäßigkeit sollte auch die

Beobachtung entsprechen, wonach in unterschiedlichen Kulturepochen, nämlich bei den Babyloniern, Persern und Griechen, zu unterschiedlichen Zeiten „manche Formen der älteren Holzsäulen“ in den Steinbau über-

96 Siehe Sitte „Vorträge (1883–1884)“ (s. Anm. 52), S. 205–207 in diesem Bd. [fol. 66–68]. 97 Sitte, Camillo: „Gottfried Semper (1873)“, in: CSG, Bd. 2: Schriften zu Städtebau und Architektur. Hg. von Klaus Semsroth, Michael Mönninger und Christiane Crasemann Collins. Wien, Köln u.a.: Böhlau 2010.

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geführt worden seien.98 Die Kannelierung von Säulen sei von Ägyptern, ­Griechen und Indern – wiederum ohne gegenseitige Beeinflussung und unabhängig voneinander – durch wiederholtes Abfasen eines Pfeilers erfunden worden.99 Ähnlich sei zu einem gewissen Zeitpunkt in der Baukunst „die Übertragung […] bisher immer nur bemalter Decorationen […] in Plastik“100 erfolgt. Sitte meint auch, dass „die Durchführung durchgängig schlankerer freierer Verhältnisse bei Portalöffnungen und Allem eine Erscheinung“ sei, „welche der Stylentwicklung aller Kunstperioden aller Völker gemeinsam ist“.101 Die Entwicklung hin zur Harmonie der Proportionen, Maßverhältnisse und Symmetrien bewertet Sitte ebenfalls als Ergebnis naturgesetzlicher Entwicklungen.102

Diese Theorien beschreiben einseitig linear verlaufende, für irreversibel an-

genommene Entwicklungen und erscheinen damit evident ahistorisch, denn sie lassen die Möglichkeit von Tendenzumkehrungen und Rücklaufprozessen von Formgestaltungsverläufen außer Acht, wie sie die Kunstgeschichte aber immer wieder zu verzeichnen hat. Im geschlossenen Lehrsystem Vitruvs mit seinen genau festgelegten überlieferten Regeln, Maßangaben und Konstruktionsanleitungen erkennt Sitte diese Widersprüche freilich nicht. Im Text des Autographs dominiert die historische Autorität der vitruvianischen Lehren. Wie man bemerkt, fühlt sich Sitte in dieser ideologischen Beheimatung weit sicherer als in den Bereichen der von ihm zwar mit großem Interesse, aber doch auch mit einigem Misstrauen rezipierten Berichte aus anderen, ihm ferner stehenden Gebieten der Architekturforschung, wie der ägyptischen, assyrisch-babylonischen und persischen Kunst. Daher steht für Sitte die Auseinandersetzung mit den von Vitruv tradierten Säulenordnungen so sehr im Vordergrund. Die Tatsache des Festhaltens an den Gesetzen der über die Jahrhunderte weitergegebenen   98 Siehe Sitte „Vorträge (1883–1884)“ (s. Anm. 52), S. 189 in diesem Bd. [fol. 48].   99 Siehe ebd., S. 212 in diesem Bd. [fol. 74]. 100 Siehe ebd., S. 192 in diesem Bd. [fol. 51]. 101 Siehe ebd., S. 192 in diesem Bd. [fol. 52]. 102 Siehe ebd., S. 193 in diesem Bd. [fol. 54f.]: „Die gerade den Griechen eigenthümliche Empfindungsweise auf dem Gebiete der Kunst besteht hauptsächlich in einer außergewöhnlichen Feinfühligkeit für alles Harmonische. Einklang der Farben und der Formen in Bezug auf Proportion, Symmetrie, Massenvertheilung, Linienführung etc. kurz die Herstellung alles dessen, was das Aug des Beschauers mit Wolgefallen erfüllt, war ihnen in so hohem Grade Bedürfniß, daß die ganze Entwicklung ihrer Kunst diesem Ziele unverrückt entgegenstrebt. Hierin erreichten sie auch einen solchen Grad der Vollendung, daß sie in dieser einen Eigenschaft unübertroffen dastehen und ihre Bauwerke heute noch als Muster reinster Harmonie studirt werden.“ Zu Camillo Sittes „Vorträgen über Geschichte der Baustyle“

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­Lehren Vitruvs scheint ihm Bestätigung dafür, dass ein erreichtes Optimum einer Entwicklung keine weitere Steigerung mehr zulässt.103

So aber erweist sich das angewandte System immer mehr als statisch.104

In seiner Position als Architekt des Strengen Historismus steht Camillo Sitte unverrückbar auf dem Fundament der vitruvianischen Überlieferung, was ihm einerseits die affirmative Sicherheit für seine Argumentation verschafft, was ihn aber andererseits auch immer wieder zu apodiktischen Feststellungen verleitet. So erklärt Sitte, indem er die autochthone Entstehung der griechischen Baukunst behauptet, die in Ägypten beobachtete Erscheinung „protodorische[r] Kapitäl[e]“ habe „gewiß mit der geschichtichen Entwicklung der griechischen Baukunst nichts zu thun, sondern nur mit der ägyptischen“; Sitte begründet diese Meinung in keiner Weise, vielmehr bezweifelt er sogar die Wahrheit der diesbezüglichen archäologischen Befunde.105 Auch die Äußerung, dass „die ägyptischen Säulen einen ganz anderen con­ structiven und genetischen Sinn haben als die griechischen“, und die Behauptung, dass es falsch sei, in der „ägyptischen Architektur bei den Steinbalken welche von einem Pfeiler zum anderen hinübergehen […] von Architraven zu reden“106, erfolgt ohne jede weitere Argumentation und folgt offensichtlich einer vorgefassten Meinung, die bis in den Bereich einer eigenen willkürlich eingesetzten Terminologie (z.B. „Wurzelformen“107) reicht. 103 Siehe ebd., S. 248 in diesem Bd. [fol. 115]: „[…] bei schärferem Zusehen zeigt sich gar bald, daß wirklich Neues in der Kunst höchst selten auftritt (wenn es überhaupt erscheint); sondern daß man es, selbst bei den scheinbar größten Umwälzungen und epochemachendsten Erfindungen gemeiniglich doch nur mit Umgestaltungen (neuen Combinationen des bereits Vorhandenen, kleinen Formveränderungen u. Weiterbilden) zu thun hat, und daß gerade wirklich große Neuerungen nur sehr langsam vorbereitet in Erscheinung treten oft erst nach einer allmäligen Entwicklung durch Jahrhunderte und selbst Jahrtausende hindurch.“ 104 So hat Sitte zum Beispiel Schwierigkeiten, „Abweichung[en] von der griechischen Norm“, wie sie sich zahlreich in der römischen Kunst finden, zu erklären. Sie sind nach Sitte „keine Zufälligkeit oder gar ,Verrohung‘ des griechischen Typus, sondern notwendige Folge der formbildenden Kräfte des specifisch italischen Kunstgefühles.“ Siehe Sitte „Vorträge (1883–1884)“ (s. Anm. 52), S. 273 in diesem Bd. [fol. 144f]. 105 Siehe ebd., S. 165 in diesem Bd. [fol. 17]: „[…] hier frägt es sich ob dieser Fund nicht schlecht erklärt wurde und eine Säulenbase bedeuten soll.“ Tatsächlich wurde später diese Kapitellform vom Tempel der Hatschepsut am Westufer von Theben nicht nur eindeutig dokumentiert, sondern gilt unbestritten als Vorläufer der dorischen Säulenordnung. 106 Siehe ebd., S. 165 in diesem Bd. [fol. 17]: Diese seien „nichts anderes als Bestandtheile der elementaren Quadermauer aus der sich hier alles entwickelte.“ 107 Sitte beruft sich auf unterschiedliche „Wurzelformen“, die die elementaren und unüber-

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Man vermisst im Text des Autographs den Versuch Camillo Sittes, mit sei-

nen empirisch aufgestellten Entwicklungsserien von Einzelphänomenen ein zusammenhängendes Gesamtbild zu entwerfen. Es ist durchaus zu glauben, dass er mit seinem Unterrichtsmaterial das didaktische Ziel erreichen konnte, seine Schüler zum Nachvollziehen von Entwicklungsschritten und auch zur Anerkennung von Gesetzmäßigkeiten evolutionärer Prozesse zu führen, doch fehlen Schlussfolgerungen oder plausible Erklärungen, welche Konsequenzen aus den vorgeführten Systemen und den aufgestellten Reihungen letztlich zu ziehen seien.

Für immer wird die Frage offen bleiben, ob es Camillo Sitte hätte gelin-

gen können, die in seinem Brief an Ferdinand Fellner von Feldegg skizzierten Leitgedanken seines kulturgeschichtlichen Weltsystems unter Verwendung des im Autograph von 1883/84 aufbereiteten Materials ausreichend überzeugend zu beweisen. Die in Sittes Brief von 1899 skizzierten Postulate stehen weitgehend isoliert, in der dort erscheinenden Formulierung wirken sie noch unfertig und gewissermaßen unausgegoren. Man erkennt aber doch ganz klar, dass zwischen dem Zeitpunkt der Abfassung des Autographs und der Position von 1899 bei Sitte ein bemerkenswerter Paradigmenwechsel seiner Interessensschwerpunkte und Lösungsversuche eingetreten war: Hatte er zuerst mit Akribie und wissenschaftlichem Anspruch anhand seiner Entwicklungsbeispiele die Gesetzmäßigkeit von Formwerdungsprozessen vom Gesichtspunkt des Historismus a posteriori aus ihren zuletzt erreichten Idealzuständen nachzuweisen versucht, so war seine Aufmerksamkeit nun auf die Projektion einer Gesamttheorie gerichtet, die die Kunstentwicklung als solche in einen universalen biomorphen Evolutionsprozess eingebunden sehen wollte. Dieses Modell konnte jedoch nicht statisch sein, sondern war eigengesetzlich auf ständige dynamische Erneuerung ausgerichtet. Ein solches Gedankenmodell hätte aber die Überwindung des beharrenden, retrospektiven Gedankengebäudes des Historismus von einer Entwicklung als abgeschlossenem Prozess, und – als zwangsläufige Folge – die ständige naturgesetzliche Erneuerung der Kunst bedeutet, womit Sitte sein bis dahin brückbaren Gegensätze zwischen der altägyptischen und der griechischen Kunst ausmachen: „So zeigt sich wie selbst die Wurzelform der Säule bei Ägyptern u. Griechen eine ganz andere ist. Die ägypt. Wurzelform ist die Mauer und die griechische der Steinbalken- oder vielleicht Holzbalkenbau. Weit hinauf bis über die ältesten Denkmäler verfolgt, müßten somit ägyptische und griechische Bauweise scharf geschieden als verschiedene Formengebiete die nichts mit einander gemein haben, als was notwendiger Weise nicht anders sein kann, dastehen.“ Siehe ebd., S. 218 in diesem Bd. [fol. 81]. Zu Camillo Sittes „Vorträgen über Geschichte der Baustyle“

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sorgsam abgesichertes ideologisches Terrain schlagartig verlassen hätte. Die offensichtliche Unvereinbarkeit dieser beiden grundsätzlichen Positionen wird auch die Ursache gewesen sein, dass Camillo Sitte das Forschungsmaterial aus dem Autograph nicht ohne weiteres zur Beweisführung seiner neuen kulturgeschichtlichen Theorie einsetzen konnte, was alle weiteren Schritte in der Ausarbeitung des großen Publikationswerkes hemmte.108 Aus heutiger Beurteilung erscheint aber gerade diese Problematik kennzeichnend für den langen, mühevollen inneren Kampf Camillo Sittes zwischen seiner Verankerung im Historismus und seinem Erkennen aufkommender neuer Perspektiven einer modernen Welt.

108 Ähnlich meint Michael Mönninger: „[…] der unaufgelöste Widerspruch, ja die Tragik in Sittes Lebenswerk liegt darin begründet, daß er sein durch Erfahrung gewonnenes Wissen nie im erfahrungswissenschaftlichen Sinne systematisieren konnte. Sein in den letzten Lebensjahren erarbeitetes Konzept einer Universalkunstgeschichte und Weltanschauungsphilosophie ist der geradezu brutale Versuch eines leidenschaftlichen Empirikers, die Kontingenz und Singularität des Anschauungswissens in die stabile Ordnung eines Geschichtsmodells zu bringen.“ Mönninger 1998 (s. Anm. 4), S. 174.

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Verwendete Literatur

Agosti, Giacomo/Manca, Maria Elisabetta/Panzeri, Matteo (Hg.): Giovanni Morelli e la cultura conoscitori. Atti del Convegno Internazionale, Bergamo, 4–7 giugno 1987, 3 Bde. Bergamo: Lubrina 1993. Alberti, Leon Battista: De re aedificatoria. 1452 (im Druck erschienen: Florenz: Nicolaus Laurentii Alemanus 1485). Alberti, Leon Battista: De Pictura libri tres absolutissimi. Basel: Bartholomaeus Westheimer 1540. Amélineau, Émile: Les nouvelles fouilles d’Abydos, 3 Bde. Paris: Leraux 1899–1904. Bauer, Hermann: Barock. Kunst einer Epoche. Berlin: Reimer 1992. Baumann, Eduard: Die dekorative Bildnerei der Griechen (= Schultz, Alwin/Ders.: Allgemeine Geschichte der bildenden Künste, Teil 1, Hälfte 2). Berlin: Baumgärtel o.J. [1903]. Baumgarten, Fritz/Poland, Franz/Wagner, Richard: Die hellenische Kultur. Leipzig, Berlin: Teubner 1905. Bayer, Josef: „Ein Vermächtnis Camillo Sittes“, in: Neues Wiener Tagblatt, 28. Januar 1903. Belting, Hans: Das Ende der Kunstgeschichte? München u.a.: Deutscher Kunstverlag 1983 (The end of history of art? Chicago, London: University of Chicago Press 1987). Benndorf, Otto/Niemann, George: Das Heroon von Gjölbaschi-Trysa. Wien: Holzhausen 1889. Besnier, Maurice: L’ île Tibérine dans l’antiquité. Paris: Fontemoing 1902. Beyrodt, Wolfgang: „Kunstwissenschaft. Entwicklungslinien der Kunstgeschichtsschreibung im 19. Jahrhundert bis zum Kunstwissenschaftlichen Kongreß von 1873“, in: Busch, Werner/Beyrodt, Wolfgang (Hg.): Kunsttheorie und Malerei, Kunstwissenschaft (= Beyrodt, Wolfgang/Bischoff, Ulrich u.a. (Hg.): Kunsttheorie und Kunstgeschichte des 19. Jahrhunderts in Deutschland. Texte und Dokumente, Bd. 1). Stuttgart: Reclam 1982, S. 350–362. Beyrodt, Wolfgang: „Kunstgeschichte als Universitätsfach“, in: Ganz, Peter/Gosebruch, Martin u.a. (Hg.): Kunst und Kunsttheorie 1400–1900 (= Wolfenbütteler Forschun­ gen, Bd. 48). Wiesbaden: Harrassowitz 1991, S. 318–321. Blume, Ludwig: Das Ideal des Helden und des Weibes bei Homer mit Rücksicht auf das deutsche Alterthum. Wien: Hölder 1874. Blumenthal, Margot: Die Dürer-Feiern 1828. Kunst und Gesellschaft im Vormärz. Egelsbach u.a.: Hänsel-Hohenhausen 2001. Bohn, Richard: Die Propyläen der Akropolis zu Athen. Berlin, Stuttgart: Spemann 1882. Bray, Warwick/Trump, David: Lexikon der Archäologie, Bd. 2. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1975.

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Verwendete Literatur

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Beobachtungen über bildende Kunst, besonders über Architectur, vom Standpuncte der Perspective (1868) Unpublizierter Autograph, gezeichnet „Cam. Sitte“, datiert „Wien 15. 2. [18]68“. Sign. SN: 249–68. Handschriftliches Manuskript in Reinschrift. 63 Seiten ohne Abbildungen. Im Typoskript des Inhaltsverzeichnisses von 1903, das anlässlich der geplanten Edition der Schriften Camillo Sittes von seinen Söhnen erstellt wurde (siehe hierzu Bd. 1 dieser Edition), ist vorliegender Autograph nicht verzeichnet. Die Erstlingsschrift, die Sitte im Alter von 25 Jahren verfasste, könnte während seines Studiums bei Rudolf Eitelberger von Edelberg entstanden sein.

Einleitung Jede Kunst drückt einen gewissen Inhalt durch äussere Formen aus, und verfolgt dabei eine starke Rührung des Gemüthes als ihren nächsten Zweck. Ihre Mittel dazu sind rein sinnlicher Natur, so wie auch ihre Wirkung von einem sinnlichen Reiz ausgeht. Daher steht die Wirkung eines Kunstwerkes in nothwendigem Zusammenhange mit den Gesetzen, welche unsere Sinne unterworfen sind. Der Sinn, zu welchem die Architectur spricht ist das Gesicht, und somit steht die architektonische Form in irgend einer Abhängigkeit von den Gesetzen des Sehens und zwar von denen, welchen das Sehen als Sinn überhaupt unterworfen ist, und von jenen, welche dem Gesichtssinne ganz besonders eigen sind. Im Folgenden ist nur dasjenige zu behandeln versucht, was dem Sehen als einem perspectivischen (von einem Mittelpunkte aus) zukommt. Sehgesetz Auf der Netzhaut des Auges bilden sich alle Gegenstände perspectivisch ab, und erscheinen daher bald gross oder klein, in ganzer Ausdehnung oder bedeutend verkürzt, in den mannigfaltigsten Formen je nach ihrer Entfernung

*

Es war der Wunsch der Herausgeber, bei der Kommentierung weitgehend auf Literaturhinweise zu verzichten. Für punktuelle Recherchen danke ich Ursula Arendt und Manuel Weinberger.



[Hierzu: Mönninger, Michael: Vom Ornament zum Nationalkunstwerk. Zur Kunst- und Architekturtheorie Camillo Sittes. Braunschweig, Wiesbaden: Vieweg 1998, S. 117ff.; ­Reiterer, Gabriele: Augensinn. Zu Raum und Wahrnehmung in Camillo Sittes Städtebau. Salzburg, München: Pustet 2003, S. 57 ff.]



[Das Folgende steht inhaltlich in engem Zusammenhang mit zwei späteren Untersuchungen Camillo Sittes, in denen die hier ausgeführten Themen im größeren Kontext behandelt sind: „Über Geschichte des Perspektivischen Zeichnens“ und „Über Zeichen-Unterricht“, die beide im sog. „Großen Autographen“ enthalten sind (siehe S. 447ff., 562ff. in diesem Bd.).] Beobachtungen über bildende Kunst, besonders über Architectur, vom Standpuncte der Perspective

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und Stellung zum Auge. Würden wir uns diese Gegenstände ebenso vorstellen, wie sie sich im Auge abbilden; so erschiene der einfachste Körper in einer unendlichen Mannigfaltigkeit von Formen. Wir denken uns aber die Dinge nicht so, wie wir sie sehen, sondern in ihrer wahren Gestalt. Eine Linie mag noch so stark verkürzt erscheinen, so denken wir uns beiläufig ihre wahre Länge; und diese wahre Gestalt ist nun das Unwandelbare, das wir stets nur zu wissen brauchen.

Wir sehen perspectivisch und denken orthogonal. Dessen Einfluss auf Zeichnung

Daraus erklärt sich die Zeichnungsmethode der Alten und aller primitiver Zeichnungsversuche; so wie umgekehrt diese wieder ein Beweis für die Richtigkeit des aufgestellten Satzes ist. Denn wer ohne Kenntnis der Perspective zu zeichnen anfängt, der folgt dabei gewiss nicht dem perspectivischem Bilde im Auge, sondern seiner Vorstellung. Diese aber ist orthogonal und somit fallen alle ersten Zeichenversuche im Sinne der orthogonalen Projection aus und erst dann wenn die unrichtige

Wirkung der so entstandenen Zeichnung wahrgenommen wird, entwic-

kelt sich nach und nach die Kenntniss der Perspective. Dieser Vorgang ist so naturnothwendig, dass er sich Schritt für Schritt an allen Denkmalen nachweisen lässt. Zeichnung der Ägypter Am bestimmtesten zeigen die ägyptischen Reliefs und Malereien ein solches streng ausgebildetes System orthogonaler Zeichnung.

Grundgesetz ist: Jeden Körper in seiner wahren Gestalt zu zeichnen; d.i.

in voller Länge und Breite, ohne Scozzirung oder Verschwindung und in der Stellung, in welcher seine characteristische Form sich am entschiedens­ten ausspricht. Da aber an ein und demselben Körper Theile vorkommen können, welche ihre wahre Länge nach verschiedenen Richtungen strecken, oder ihre characteristische krumme oder gerade Form von verschiedenem Standpunkten aus gewahren lassen, so ist es, um nicht dem obigem Gesetze untreu zu werden, unbedingt nothwendig eine einzige Figur stückweise aus verschiedenen Standpuncten zusammenzuzeichnen.



[Der von Sitte mehrmals verwendete Begriff – im sog. Zettelkonvolut (Blatt NN11 verso) findet sich auch die Schreibweise „scorzirt“ – ist möglicherweise eine veraltete Form für „Verkürzung“, abgeleitet vom italienischen „corto“ für „kurz“.]

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So entsteht die menschliche Figur. Sie zeigt stets:



Den Kopf von der Seite / das Auge von vorne. / die Brust von vorne / die

weiblichen Brüste / von der Seite und / daher nur Eine. / Die Hüften von vorne / Bauch und Hintertheil / von der Seite / Beine und Füsse von / der Seite / die Arme in irgend einer / Stellung aber stets / in wahrer Länge. Die Schürze von vorne, Kopfputz meist von vorne. Die Figur wird also, ähnlich gebildet, wie unsere geometrischen Costructionszeichnungen, durch fortwährendes Drehen und Umklappen der einzelnen Theile. Noch ausgedehn­ tere Beispiele dieser Methode geben Darstellungen von Gruppen mehrerer Personen und Gegenstände. Dabei wird zuerst der Grundriss von oben genommen, wodurch in wahrer Gestalt die Lage der einzelnen Personen und Dinge zu einander fixiert wird, dann werden diese wieder einzeln für sich nach der oben angeführten Weise gezeichnet. Dasselbe gilt von der Zeichnung aller Gegenstände, wie Bauwerke, Landschaften, Gefässe u.s.w. und bedingt sogar einen eigenthümlich characteristischen Zug des Ornaments. Hier wird der Lotos, Papyrus und Sonstiges ebenfalls orthogonal entweder im Aufriss oder als kreisrunde Rosetten im Grundriss nachgebildet. Alles Perspectivische z.B. elliptische Formen, wie sie die Renaissance in so reicher und schwungvoller Weise verwerthet, fehlt gänzlich. Das ägyptische Ornament bewegt sich nur nach der Geraden und nach der Kreislinie, in ganzen Kreisen oder in Segmenten.

Aus diesem Darstellungsprincipe entspringt noch eine ganz eigene Be-

handlung des Gewandes. Dasselbe wird bei freien Figuren eng anliegend dargestellt, so dass der Körper aus einiger Entfernung unbekleidet erscheint. In der Nähe siht man feine Fältchen darüberlaufen. Diess entspringt insofern aus der angenommenen Grundregel, als es eben der Körper ist, welcher in der Vorstellung die Hauptsache ausmacht und der in der Darstellung nicht verloren gehen darf. Noch eigenthümlicher ist die Bekleidungsdarstellung im Relief und der Malerei. Hier ist erstens das Gewand immer mehr nach dem Zuschnitt als nach natürlicher Fältelung, also wieder nach seiner wahren Gestalt gezeichnet, wodurch übermässig steife, spitz ausfahrende Formen entstehen; und zweitens siht auch hier der Körper durch, aber so, als wenn das Gewand in der That durchsichtig wäre. Dass dabei nicht an wirklich durchscheinende schleierartige Gewande zu denken ist, zeigt ein Relief in Karnak, wo ein Mann ganz aus einem umgeworfenen Pantherfelle hindurchscheint, und diese waren damals gewiss nicht durchsichtig. Diese eigene Darstellungsmethode fordert für uns zuweilen fast eine Übersetzung in Perspective, um das Dargestellte sich nicht verfehlt zu denken, genügt aber, Beobachtungen über bildende Kunst, besonders über Architectur, vom Standpuncte der Perspective

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um sich ­auszudrücken und entspricht jedenfalls den Anforderungen und naturwüchsigen Anschauungen primitiver Kunstvölker; auch macht sie grössten­ theils dasjenige aus, was man an der naturalistischen Ägypterkunst den Styl zu nennen pflegt. Zeichnung der Mittelasiaten Dasselbe System findet sich an den Assyrischen und persischen Reliefs, nur etwas freier. Der Griechen und Römer Die griechisch römische Kunst nähert sich einer vollkommenen Perspective auf empirischem Wege sehr mühsam, ohne ihr Ziel zu erreichen. Der auffälligste Fortschritt ist das Neigen horizontaler Linien; jedoch laufen sie noch nicht nach einem Verschwindungspunct zusammen, sondern werden, wie es in Wahrheit der Fall ist, so auch parallel gezeichnet. Dadurch entsteht eine Art schiefe Projection, welche die Mitte hält zwischen orthogonaler und perspectivischer Zeichnung. Der Chinesen Dieser Methode folgen noch heute die Chinesen und Japanesen. Zeichnung im Mittelalter Im Mittelalter bis Pietro della Francia [sic!] zeigt sich derselbe Kampf zwischen perspectivischer und orthogonaler Darstellung, zwischen dem perspectivisch Gesehenem und dem in wahrer Gestalt Gedachten. Fortsetzung der Sehgesetze. Fundamentalsatz architectonischer Formbildung Ist mithin dieser Satz: „dass bei dem Übergang aus der sinnlichen Anschauung in die Vorstellung eine Reduction des perspectivisch Gesehenen in orthogonale Projection stattfindet“, hinlänglich festgestellt; so ist damit schon der Ausgangspunkt für das Folgende gewonnen. Man wird nämlich Raum-



[Gemeint ist hier Piero della Francesca (ca. 1416–1492), italienischer Maler, Kunsttheoretiker und Mathematiker, der kunsttheoretische Schriften zur Perspektive, Geometrie und Trigonometrie verfasste. Sitte veröffentliche 1879 eine Untersuchung zu Pieros Perspektivlehre. Sitte, Camillo: „Die Perspectivlehre des Pietro degli Franceschi (1879)“, S. 143–150 in diesem Bd.]

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verhältnisse umso leichter begreifen, je leichter diese Reduction gelingt. Dass dieses in sehr verschiedenem Grade der Fall sein kann, geht schon aus den sogenannten optischen Täuschungen hervor, indem eine Form so unklar werden kann, dass man zuletzt etwas ganz anderes zu sehen vermeint. Das Bauwerk soll also dem Beschauer seine wahre Gestalt auf den ersten Blick mit voller plastischer Wirkung zeigen. Ist es möglich hierin einen hohen Grad der Vollkommenheit zu erreichen, so spricht das Werk unmittelbar zum Gemüthe und wirkt mit seiner vollen sinnlichen Kraft. Entgegengesetzte Anschauung Dieser Satz erscheint so einfach als natürlich; und doch hat man unter perspectivischen Effecten durch drei Jahrhunderte sich das gerade Gegentheil gedacht. Man ging principiell nicht auf Wahrheit sondern auf Täuschung aus, und wer zu diesem Zweck die schlauesten Kniffe ausstudierte, galt für den grössten Meister. Diese aus der anfänglichen Überschätzung der neu aufgefundenen Perspective entstandene Richtung war so tief gewurzelt, dass selbst die grössten Künstler und Kenner sich von dem Urtheile ihrer Zeit nicht befreiten.

So sagt Winkelmann, der hintere Fuss bei schreitenden ägyptischen Fi-

guren ist grösser „denn man hat dem hinterwärtsstehendem Fusse so viel mehr geben wollen als er in der Ansicht durch das Zurückweichen verlieren könnte.“ Eine Erklärung, welche durchaus nicht zu dem Wesen ägyptischer Kunst passt, indem sie schon bis zur ungesunden Speculation vorgeschrittene Perspectivkenntnis voraussetzt. P a u l V e r o n e s e , ja selbst L e o n a r d o und R a f a e l verschmähten nicht das kleinliche Perspectivmittelchen des doppelten Horizontes, welches angeblich architectonische Räume höher erscheinen lässt. Die Rosetten in der Casettirung von Gewölben und Kuppeln finden sich so angeordnet, dass sie von einem bestimmten Punct gesehen jede in der Mitte ihrer Casette stehen, wodurch offenbar alle plastische Wirkung zerstört wird. Hierher gehören auch gemalte Laternen und Kuppeln an den Decken, überhaupt alle gemalte Architectur, die nicht als Bild sondern als wirkliche Architectur wirken soll. Diese unnatürlichen Künsteleien haben



[Johann Joachim Winckelmann (1717–1768), Archäologe, Kunsttheoretiker und -schriftsteller, gilt als Begründer der klassischen Archäologie und neueren Kunstwissenschaft. Das Textzitat stammt aus dessen Hauptwerk Geschichte der Kunst des Alterthums. Dresden: Waltherische Hof-Buchhandlung 1764, S. 42 ff. (Kapitel: „Von der Kunst unter den Ägyptern, Phöniziern und Persern“).] Beobachtungen über bildende Kunst, besonders über Architectur, vom Standpuncte der Perspective

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noch den Nachtheil dass sie aus einem andern Augpunkt gesehen gerade die entgegengesetzte Wirkung thun. So rächt sich jedes Vergehen gegen die Wahrheit, dieser immerfrischen Quelle aller ächten Kunst. Weitere Verfolgung der Sehgesetze. Natürlicher Maszstab Verfolgt man nun den Grundsatz: Die wahre Gestalt eines Bauwerkes klar auf den ersten Blick erkennen zu lassen, weiter; so ergibt sich die Nothwendigkeit: die Art und Weise genauer zu wissen auf welche die Reduction des perspectivisch Gesehenen in orthogonal Gedachtes vor sich geht. Diese Reduction ist gewiss nicht angeboren, sondern eine im Kindesalter unbewußt zugleich mit der Sprache erlernte Kunst und somit empirisch. Sicher sind ihre Mittel nicht die des Geometers, der mit Winkelmasz, Sehstrahlen, Theilungspuncten misst, sondern die allereinfachsten. Stehen wir zum ersten male am Rande eines Sees und blicken über die glatte Wasserfläche zum fernen Ufer, so erscheinen uns die dort stehenden Häuser und Bäume so deutlich und nahe, wir täuschen uns wenigstens um das drei, vierfache der Entfernung. Die Ursache ist allbekannt, es fehlt uns das gewohnte Mittel der Reduction „der natürliche Maszstab“.

Es fehlt die fortlaufende Kette von Gegenständen, die das Mass der Ver-

kleinerung und der Entfernung gibt. Diese Maszeinheiten sind in der Natur Gegenstände von bekannter Grösse; an Bauwerken sind es Figuren, Ornamente, überhaupt Formen von gleicher Grösse, wodurch sich die entfernteren unmittelbar mit den nächstliegenden vergleichen lassen. Das Mittel wäre also gefunden, aber es ist noch nicht lebendig gemacht. Es frägt sich nämlich: Wie werden diese Maszeinheiten zu verbinden und zu ordnen sein, um die grösstmöglichste Wirkung zu erzielen? Anwendung dieses Maszstabes Nunmehr muss auf den Körper selbst eingegangen werden.

Jeder Körper, jede Fläche hat Grenzen und diese sind Linien, die Entfer-

nung, die Längen und Breiten sind Linien. Die Linie erscheint sonach als das wichtigste zur ersten Beobachtung. Will man für die Linie den verlangten Maszstab bereiten, so kann dieses nur geschehen, indem man sie durch was immer für Cäsuren in Stücke abtheilt, denn hier gibt es nur eine Dimension zu beurtheilen, „ihre Länge“. Gewiss ist Form und Stellung der Linie nicht ohne Einfluss auf die Anordnung dieser Cäsuren. Als einfachste Form [kann] die Gerade gewählt [werden]; so kann diese ihrer Stellung nach, horizontal, vertikal oder schief stehen.

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Die horizontale Gerade Die Horizontale ändert am meisten ihre perspectivische Länge bei Änderung des Augpunctes. Bei ihr tritt mit einziger Ausnahme, wenn sie parallel zur Bildebene ist, stets der Fall ein, eine Entfernung zu messen, wie oben in dem Ausgangsbeispiele. Es ist also eine ununterbrochen fortlaufende Kette gleicher Maszeinheiten sicher das Wirksamste, und damit sind die Cäsuren bestimt: „Die Horizontale ist in lauter gleiche Theile zu zerlegen“. Wie ungemein wirksam dieses ist, zeigt die plastische Klarheit und Bestimmtheit einer griechischen Säulenreihe. Von diesem Standpuncte aus sind die einzelnen Säulen nichts anderes als die Cäsuren einer horizontalen Linie, der natürliche Maszstab für die Tiefe des Tempels.

Wie unklar ist dagegen eine in horizontaler Richtung ungleich getheilte

Wand. Die vertikale Gerade Die Vertikale biethet das Gegentheil. Sie ist stets parallel zur Bildebene und alle Theile auf ihr erscheinen zu einander in ihrem wahren Verhältniss, unverkürzt, in wahrer Gestalt. Sie bedarf daher ihrer Länge nach gar keines perspectivischen Masses, ja dieses schadet sogar, denn da die gleichen Theile alle wirklich gleich erscheinen, so entsteht dadurch eine gefährliche Einförmigkeit. Diess gilt wegen des Mangels an Scozzirung [sic!], nun ist aber die Vertikale den mannigfachsten Verkleinerungen durch verschiedene Entfernungen von der Bildebene unterworfen. Um hierüber dem Auge ein festes Maszs zu gewähren, gibt es kein anderes Mittel als „dass man in verschiedenen Tiefen aufgestellten, senkrechten Geraden die gleiche Gesammthöhe und gleiche Höhe der Cäsuren gibt“. Dadurch entstehen wieder Masseinheiten, welche wie an der Horizontalen gleichmässig den Blick in die Tiefe geleiten, nur dass diese statt horizontal senkrecht stehen. An der griechischen Säule sind diese untereinander ungleichen, aber an den zu einander gehörigen Säulen gleichen Abschnitte: Fuss, Schaft, Kapitäl. Die schiefe Gerade Die schiefgestellte Gerade ist als Übergang der Horizontalen in die Vertikale oder umgekehrt ein Mittelding zwischen beiden. Nun ist aber ein Mittelding zwischen den für die Horizontale und Vertikale abgeleiteten Cäsurme­thoden 

[Siehe Anm. 3] Beobachtungen über bildende Kunst, besonders über Architectur, vom Standpuncte der Perspective

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nicht möglich. Die Theorie hört sich hier auf aber die Praxis hilft weiter; denn in jedem speciellen Fall hat die schiefe Gerade entweder als Stütze die Function der Verticalen oder als schiefe Überdeckung die Function der Horizontalen und sie wird ohne Zweifel in dem einen Fall wie eine Vertikale im anderen wie eine Horizontale behandelt. Beispiele sind die schiefen Thürpfosten und die schiefen Theile des Giebels. Zusammengesetzte Figuren. Krumme Linien Über Figuren, die sich aus mehreren Geraden zusammensetzen, lässt sich ganz Allgemein sagen: Dass jede Gerade nach ihren eigenen Gesetzen behandelt werden möge; jedoch kann die innige Verbindung mehrerer Linien z. B. zu einem regelmässigen Polygon wohl nicht ohne wechselseitigen Einfluss sein. Ist das Polygon horizontal (am Fussboden oder an der Decke) so folgt nach dem Vorhergehenden ganz gleiche regelmässige Eintheilung.

Diese muss aber wegen der streng centralen einheitlichen Form des Po-

lygons unter allen Umständen beibehalten werden, selbst wenn es vertikal steht, und zwei seiner Seiten auch vertikal stehen, also nicht gleich getheilt werden sollten. Hier ist aber die Gefahr von Einförmigkeit gar nicht vorhanden und somit unter allen Umständen auch kein Grund zu ungleicher Theilung.

Der Kreis der die grösste Übereinstimmung in Wirkung mit einem Polygon

hat, streng mathematisch auch ein Polygon von unendlich vielen Seiten ist, wird eben so zu behandeln sein unter allen Umständen rund herum gleich getheilt. (Dabei werden nicht gleiche Felder verlangt sondern nur gleiche Theilung.)

Ähnliches gilt von anderen Curven. Der weitere Übergang zur Fläche ist

nicht schwer. Die horizontale Fläche Die horizontale Fläche besteht nur aus horizontalen Geraden die aber nach allen Richtungen gehen können, wie auch die Horizontalebene nach allen Richtungen verschwindet.

Es sollte daher nach allen Seiten für horizontale gleichgetheilte Masz-

stäbe gesorgt werden. Da dieses ein Unding ist, so wird man sich auf wenige Hauptrichtlinien beschränken, und wenn diese wohl gewählt sind, so leisten sie in der That alles Erwünschte. Wählt man zwei Richtungen senkrecht auf einander, so entsteht ein Gatter, welches einfach und sehr wirksam z.B. bei gewöhnlichem mit quadratischen Steinplatten bedeckten Fussboden, besonders, wenn diese in zwei Tönen abwechseln. Man kann aber auch mit

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Vortheil vom Centrum gegen die Peripherie gehen, wodurch Kreise entstehen, die wieder gleichmässig getheilt werden müssen. Da eine Kuppel als Decke functionirend, wie eine Horizontalfläche zu behandeln ist; so kann eine casettirte Kuppel hierher als Beispiel dienen. Endlich kann man um der allzugrossen Anhäufung gleicher Theile in den beiden ebengenannten Fällen zu begegnen Auslassungen veranstalten, wobei dann gewöhnlich ein Stern in der Mitte und ein Band am Rande herum von der gemachten Theilung übrigbleibt. Auch können beide Arten combinirt werden u.s.w. Denn eigentlich handelt es sich nur darum, dass das Auge durch, mit den Maszeinheiten versehene, Linien an alle Theile der Fläche bis zu den entferntesten geleitet werde. Je einfacher diese Linien desto ruhiger und stärker der Effect. Sie können aber auch in allen möglichen Krümmungen, Richtungen und Stellungen die Ebene durchziehen, wie dieses die Barrocke liebte. Endlich erfüllt es auch unsern Zweck, wenn blos an einzelnen, verstreuten Puncten Masz­ einheiten stehen bleiben, welche sich das Auge, wenn sie gut gruppirt sind, selbst durch stetige Linien verbindet z. B. eine horizontale Gerade mit der geringsten Zahl von Maszeinheiten zu versehen kann man eine am Anfang und eine am Ende aufstellen. Beispiele dazu sind: die Figuren, Obelisken, Thürme etc. an Brückenköpfen. Diese Zusammenstellung zu zweien ist Anfang und Ende aller Perspectivwirkung. Ein einziger Körper, eine einzige Figur erhebt weder die Plastik des Raumes worin sie steht, noch hat sie selbst ein Masz mit welchem sie verglichen werden kann, man müsste sie mit dem Zollstabe messen. Wie eine zweite in gleicher Grösse hinzukommt ändert sich die Sache. Es entstehen perspectivisch fallende Linien, die Distanz zwischen beiden ist eine Gerade, welche am Anfang und Ende mit einer Maszeinheit versehen ist und wird daher leicht aufgefast. Die hohe Wirkung dieser Zusammenstellung zu zweien kann man unter andern an S c h i n k e l ’ s Theaterdecorationen studieren. Selten steht dort ein Gegenstand vereinzelt da; aber nebst ganzen Reihen kommt in noch grösserem Masze angewendet die Zusammenstellung zu zweien vor. Hierher gehören auch die Thürme an den Hauptfacaden unserer Kirchen (obwohl hier die Wirkung wegen zu grosser Nähe schwach ist) ferner die Eckthürmchen an Schlössern u.s.f.



[Karl Friedrich Schinkel (1781–1841) ist einer der bedeutendsten Architekten des 19. Jahrhunderts. Zu seinen Werken zählen u.a. die Neue Wache, Berlin (1817/18), das Schauspielhaus, Berlin (1818–21), das Alte Museum, Berlin (1824–28), die Nikolaikirche, Potsdam (1830–37), Schloß Babelsberg, Potsdam (1834–49). 1815–1832 schuf Schinkel über 100 Bühnenbilder für 42 Opern und Schauspiele.] Beobachtungen über bildende Kunst, besonders über Architectur, vom Standpuncte der Perspective

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Die vertikale Fläche Auf der vertikalen Fläche lassen sich zwar ebenfalls nach allen Richtungen Linien ziehen aber die Vertikalen und Horizontalen, auf die ja auch die Schiefen, wie vorher gezeigt sich zurückführen, dominiren. Daraus entspringt ein viel bestimmteres strengeres System der Decoration. Es sind die Maszstabrichtungen schon gegeben, nämlich: horizontal und vertikal. Die horizontale Richtung verlangt gleiche Theilung, die vertikale jedoch ungleiche Theilung der Höhe nach mit Beibehaltung dieser Theilung für alle nebeneinanderstehenden Vertikalen. Dadurch entstehen horizontale Linien, welche die Fläche der Höhe nach in ungleiche Theile schneiden. Am häufigsten geschieht diese Theilung zu dreien: Sockel-, Mittel- und Gesims-Parthie. Entschieden von höchster Wichtigkeit ist die Durchführung dieser Horizontalen. Wo diese nicht eingehalten wird entsteht Unruhe und Unordnung. Sie ist das Band, das die verschiedenen Theile untereinander zusammenhält und zu einem Ganzen verbinden hilft. Diese auf einem andern Wege auch schon durch die Theorie begründeten Sätze haben eine mehrtausendjährige Praxis hinter sich. Am ägyptischen Bau führt sich die Horizontale im Gebälk an den Abschnitten der Säule am Kapitäl mit wenigen aber immer störenden Ausnahmen durch. Viel strenger ist dieses im Griechischen eingehalten. Hier theilt sich der ganze Bau in drei gänzlich ungleiche übereinanderliegende Schichten; Das Gebälk wieder in drei, die Säule in zwei oder drei, jeder Anklang einer Theilung der Vertikalen ist rund herum durchgeführt. Die pompejanische Wandmalerei copirt diese Eintheilung. Wie streng läuft in der Gotik das Sockelgesims um den ganzen Bau und macht nur bei den Portalen kleine Abtreppungen. Jede Kapitäl-Kämpfer-oder Scheitel-Linie setzt sich ununterbrochen fort. Die Renaissance betont die Horizontale ungemein stark durch ihre kräftigen Gesimse. Nur endlich die Barrocke hat wieder eine eigene Abweichung zu verzeichnen. Diese liebt an einigermassen grösseren Bauten die Anlage einer dominierend vortretenden Mittelparthie. Anstatt aber die Horizontallinien der Seitentracte über den Mittelbau fortzuführen, und eine Erhöhung durch einen besonderen Aufbau zu erzielen, wie dieses viele treffliche Bauwerke zeigen, vergrössert sie am Mittelbau die Dimension der Seiten und erzielt dadurch dessen Erhöhung. Abgesehen davon, dass dieses beim Zusammenstoss der beiden ungleichen Theile ganz vertracte Verschneidungen erzeugt, so entsteht dadurch eine störende Perspectivwirkung indem die kleineren aber gleich gestalteten Seitentracte entfernter erscheinen als sie es sind. Ähnliches kommt schon bei den niedriger werdenden Conchen romanischer und gothischer Kirchen vor.

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Schiefe und krumme Flächen Nach den horizontalen und vertikalen Flächen wären jetzt die schiefen und krummen Flächen zu behandeln, hier muss aber abermals die Praxis aushelfen. Wir haben nur zweierlei Cäsurmethoden, die für das Horizontale und die für das Vertikale, entweder regelmässige oder unregelmässige Theilung. Eine dritte ist nicht möglich. Da demnach jede schiefe oder krumme Fläche auf eine der beiden Arten zu behandeln sein wird; so ist nur die richtige Wahl zu treffen.

Diess ist in jedem speciellen Fall, durch Beurtheilung, ob die betreffende

Fläche als eine Vertikale oder Horizontale functionirt, sehr leicht zu entscheiden.

Nachdem so die Anordnung der Cäsuren getroffen ist, kömmt es weiter

darauf an: ihr Verhältniss untereinander, die Grösse der Maszeinheiten, und die Formen, in welche sich diese einkleiden näher zu untersuchen. Einheit des Maszstabes Schon das Princip der Einheit an einem Kunstwerke überhaupt gebietet ­einen einheitlichen Maszstab; aber auch von dem hier eingenommenen Standpuncte aus, zeigt sich dessen Nothwendigkeit leicht, denn verschiedene Masz­einheiten tragen gewiss nicht zur angestrebten höchsten Klarheit der Form bei, sondern biethen nur neue Schwierigkeiten. Ohne Bedenken kann, wenn sonst möglich, im Innern eine andere u.z. [und zwar] kleinere Masz­ e­­inheit als für das Äussere gewählt werden, da Inneres und Äusseres nicht zugleich gesehen wird, andererseits aber als Insichabgeschlossenes und frei von der Natur Umgebenes verschiedene Bedingungen enthält. Bei Säulenstellungen ist die Entfernung der Säulenaxen, in der Gothik die Entfernung der Strebepfeileraxen Masseinheit. Dass dawider die von der vorigen verschiedene Masseinheit der Triglyphentheilung, des Symaornamentes u.s.w. nicht stört, geht aus der gegen die ungemeine Wirkung der Säulenstellung höchst untergeordneten Wirkung dieser Maszeinheiten hervor. Ein Beispiel, wo nicht in dieser Weise ein einziger Maszstab dominiert, bildet die Tauf­ kapelle zu Pisa. Diese besitzt an ihren übereinanderstehenden Gallerien fünf Maszstäbe, worunter nur zwei gleich, also vier ungleich und alle von gleich starker Wirkung sind, was nicht sehr zur Ruhe des Bauwerks beiträgt. Die Schlosskapelle zu Palermo enthält über abwechselnd cannelirten und glatten Säulen gleiche Spitzbogen, also zwei gleich starke Maszstäbe im Verhältnis von 1:2 noch dazu in organischer Verbindung was sehr unruhig wirkt.

Hierdurch ist das Verhältniss der Masse als Einheit des Maszstabes festge-

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Formeinkleidung der Maszeinheit Auf die Formen übergehend, in welche sich die Maszeinheiten einkleiden; kann in der Regel die einfachere Form als die klarere und somit, von unserm Standpuncte aus, bessere angenommen werden. Bei Figuren ist die Form gegeben, und nur ihre Grösse einer Untersuchung zu unterziehen. Bei architectonischen Gliedern, Ornamenten ist immer die Symetrieachse unsere Cäsurlinie. Da man durch verschiedene Bildung der Form die Symetrieaxe beliebig stark oder schwach hervorheben kann, so hat man dadurch das Mittel in Händen: Jeden Perspectivmaszstab, je nach seiner Wichtigkeit angemessen stark zu betonen. Eine weitere Verfolgung würde tief ins Gebieth der Ornamentation führen. Nur der Kreis, als perspectivisch wirkamste Figur sei beispielsweise erwähnt. Der Kreis bildet nicht nur, durch sein Kleinerwerden in grösserer Entfernung, eine gewöhnliche Maszseinheit; sondern da er in schiefer Lage als Ellipse erscheint, in welcher Stellung und Länge der grossen und kleinen Axe leicht aufgefast werden, so verräth er auch jede kleinste Neigung und Wendung der Fläche auf der er sich befindet. Auf Bildern sind z.B. Pantherfelle mit ihren runden Flecken und ähnliches von grösster plastischer Wirkung.

Das Polygon, die Ranke, die Spirale wirken ähnlich. Absolute Grösse des Maszes

Was nun die Dimensionen betrifft, so ist, wenn überhaupt von absoluter Grösse bei einem Kunstwerke die Rede sein kann, dieses nur in Bezug auf die umgebende Natur möglich. Wo findet sich aber in der Natur eine dominirende Maszeinheit? Schon Protagoras sagt: „Der Mensch gibt den Maszstab für alle Dinge.“

Und so ist es. Keine natürliche Grösse ist uns mehr geläufig und tiefer

eingeprägt als die Länge der menschlichen Figur. Wenn eine architectonische Zeichnung man auch dem Laien in ihrer natürlichen Grösse naherücken will, so zeichnet man eine menschliche Figur dazu. Daher kommt es auch, dass Statuen, wenn sie in noch so grossen Dimensionen ausgeführt werden, doch keinen riesigen Eindruck machen; und man könnte sich wohl die Lehre ableiten: Statuen und Figuren nicht bedeutend über Lebensgrösse zu machen, weil sich die überschwängliche Mühe nie sehr belohnt. Dadurch ist eine Mass­



[Protagoras von Abdera (um 485–ca. 415), griech. Philosoph (Sophist). Der ihm zugeschriebene Homo–Mensura–Satz lautet: „Der Mensch ist das Maß aller Dinge, der seienden, dass sie sind, der nichtseienden, dass sie nicht sind.“]

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einheit gewonnen, welche viele Freiheit gestattet, aber doch einen sicheren Anhaltspunct gewährt, denn mit der Grösse der menschlichen Figur ist beiläufig auch die Grösse des Blattes und Ornamentwerkes und vieles andere gegeben, indem die kleinsten Details an der Figur und die kleinsten Details des Ornamentes, gleichsam als letzte Atome eines Körpers, doch von ziemlich gleicher Grösse sein müssen. Weitere Anhaltspunkte gewähren noch: Fens­ terbrüstungen, Balkone, Doggengeländer, Stühle, Tische, Altäre, kurz alle diejenigen Theile, welche vermöge ihrer practischen Function von der Grösse der menschlichen Figur abhängen. Diese absolute Einheit steht der absoluten Grösse eines Bauwerkes gegenüber. An einem Grabsteine kann die menschliche Figur vielleicht kaum Platz finden, in einer Kapelle den ganzen Raum beherrschen, an einem Riesenbauwerk kann sie in ungeheurer Menge möglich sein. In diesem letzten Falle würde es sehr schlecht sein, die grosse Baumasse unmittelbar in die kleine Einheit zu zerlegen, da eine grosse Menge gleichartiger Dinge nicht augenblicklich fasslich und somit wirkungslos ist. Man wird demgemäss die grosse Masse zuerst in grosse Parthien theilen, diese wieder untertheilen und so fort bis man zur gegebenen Einheit gelangt; genau so, wie beim gewöhnlichem Messen, wo man die Meile auch nicht unmittelbar durch Linien ausdrückt. Daraus entspringt eine verschiedene Behandlung für grosse und kleine Bauwerke, was sehr naturgemäss ist und in guter Ausführung herrliche Wirkungen erzielt. Ein vielbesprochenes aber doch sehr gutes Beispiel gibt im negativen Sinn die Peterskirche,10 in welcher die Wirkung mit der blosen Vergrösserung der Formen bei weitem nicht gleichen Schritt hält. Hiermit wären die Hauptpuncte in Kürze abgeschlossen. Eine kleine Nachlese ergibt sich noch durch eine Vergleichung mit den anderen Wegen, auf welchen man zu den Sätzen über die Behandlung vertikaler und horizontaler Flächen gelangt ist. Zusammenhang des Perspectivgesetzes mit dem Gesetz der Schwere Diese Sätze wurden nämlich sehr natürlich und leicht aus dem Gesetz der Schwere abgeleitet. Es lässt sich zeigen, wie nahe dieses mit den hier verfolgten Perspectivgesetzen verwandt ist. Alle Perspective ist abhängig vom Horizonte, dieser aber ist abhängig von der Schwere, er entstand ja in Folge der Schwerkraft. Der Mensch der parallel aber entgegengesetzt der Richtung

  [Altertümliche Bezeichnung für Balustrade.] 10 [Sitte bezieht sich hier auf den 1506 begonnenen Neubau von St. Peter in Rom, mit 211 m Länge, 138 m Breite und 132 m Höhe der größte Kirchenbau der christlichen Welt.] Beobachtungen über bildende Kunst, besonders über Architectur, vom Standpuncte der Perspective

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der Schwere sich aufrecht erhebt, schaut rings um sich herum und so entsteht senkrecht auf die Richtung der Schwere der perspectivische Horizont. Perspective und Schwerkraft müssen daher, nachdem eine die andere bedingt, zu denselben Resultaten führen, wie man überhaupt in Kunst und Natur von jedem Punct zu allen übrigen gelangen kann. Abhängig von der Schwere bildet sich auch in der Natur ein gewisser Grad von Durchführung der horizontalen Linie. An einem Waldrande bilden der Fuss der Bäume die Puncte, wo Äste und Blätter beginnen, und die Gipfel drei parallele Linien, welche auch horizontal wären, wenn die horizontale Erdfläche nicht durch mancherlei Umwälzungen gestört worden wäre.

Allein die widereinander sich neigenden Linien der Gebirge und Hügel

bilden durch Gegenbewegung einen gewissen Ausgleich auf die Horizontale, welcher Ausgleich auf die Horizontale in der Malerei besonders der Landschaft in freier Weise das strengere architectonische Gesetz der Durchführung der Horizontalen repräsentirt. Ein Bild, wo dieser Ausgleich bei der Composition versäumt wurde, wird stets schief aussehen.

Überschneidungen. Wichtigkeit des äusseren Sinnenreizes Bisher wurde an den Körpern das in Erwägung gezogen, was man wirklich siht. Durch Überschneidung geschiht es aber, dass Theile verdeckt werden, vieles dem Anblick ganz verschwindet. Auf diesem neuen Felde begegnet uns zum ersten male ein Stück einschlägiger Literatur. C. A. Menzel. „Über die Wirkungen der Perspective in Bezug auf die Baukunst“ (Polyt.Journ., Octob. 1835).11 Das Meiste enthält allgemeine Schönheitsregeln, einiges auch verschiedene Beobachtungen, welche in den Bereich der Formenphysiologie gehören. Das was streng zur Perspective gehört ist in Kürze folgendes: „Gibt man einer Facade Vor-und Rücksprünge, so ändert sich die perspectivische Ansicht wesentlich gegen die geometrische. Denkt man sich Vorsprung und Beschauer in der Mitte, so wird vom rückspringenden Tracte umso mehr verdeckt a. je grösser der Vorsprung und b. je breiter er ist. 11 [Menzel, Carl August: „Die Wirkungen der Perspektive in Bezug auf die Baukunst, und mit Rücksicht auf die Anfertigung von Baurissen“, in: Polytechnisches Journal, Hg. von Dr. Johann Gottfried Dingler, Bd. 58 (1835), Heft 2, S. 89–118.]

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Dieses kann bis zum Verschwinden des Hintertractes geschehen. Die Tiefe der Mittelparthie correspondirt mit der Länge der Flanken, doch soll sie nie ihr gleich sein, denn sonst wird mit viel Mitteln wenig Wirkung erzilt, was immer ein Fehler ist. Wenn ein erhöhter Aufbau aus der Mitte einer Baumasse sich erhebt, so wird er durch den niedern Vorsprung theilweise verdeckt und muss in der geometrischen Anordnung höher gemacht werden, damit er in der Natur entspricht und zwar um so viel, als die Verschneidung beträgt. Schiefe Flächen, Thurmhelme gehören ebenfalls hierher. Für Zuschauerräume in Theatern ist der Kreis sehr entsprechend, weil aus seiner Peripherie alle Logen unter gleichem Sehwinkel erscheinen und auch die Bühne erscheint von allen Puncten des Theaters unter gleichem Sehwinkel“.12 Dieses Letzte ist natürlich nur eine zwecklose mathematische Spitzfindigkeit. Die beiden andern Puncte sind aber ganz am Platze, wenn auch nicht erschöpfend behandelt. Ein sehr richtiges Gefühl lässt Menzel’n bei der Angabe des Masses, um das die Mittelkuppel wegen der Überschneidung zu erhöhen sei bemerken: „Dass man hierin aber leicht zu viel thut“.13 Und warum thut man hierin leicht zu viel? Wir denken uns die wahre Gestalt und somit auch den überschnittenen Theil, wodurch die Kuppel scheinbar etwas gehoben wird. Diess nützt aber nicht vollständig, denn trotz allem gewährt die Kuppel einen kurzen Anblick. Daraus ergibt sich, dass nicht nur der Begriff von der wahren Gestalt eines Körpers, sondern vornehmlich der blose Anblick ins Gewicht fällt, wenn es sich nicht nur um das klare Verständniss der Form, sondern um schön oder nicht schön handelt. Diese gleichzeitige Thätigkeit beider Elemente zeigt sich unwiederleglich bei Betrachtung eines mit Säulen oder Pfeilern angefüllten Innenraumes. Würden wir von einem Augpunct aus nur so viel Raum empfinden, als wir thatsächlich durch die Pfeiler unverdeckt sehen können, so wäre unsere Raumempfindung viel kleiner als sie es wirklich ist, denn wir empfinden nicht nur den gesehenen sondern auch den gedachten Raum, wir fühlen auch den Raum der hinter den Pfeilern herumgeht, wenn wir ihn auch nicht sehen.

Wie gross die Wichtigkeit des äuseren Sinnenreizes ist, geht am deut-

lichsten aus Betrachtung einer Säulenreihe hervor. Frontal gesehen fast zu einfach ist sie in der Scozzirung14 [sic!] unendlich reizend durch die schöne

12 [Das Zitat nach Menzel ist nicht wörtlich, sondern frei wiedergegeben; siehe hierzu Menzel, ebd., S. 90f.] 13 [Auch dieses Menzel–Zitat ist nicht wörtlich, sondern nur dem Inhalt nach wiedergegeben; siehe hierzu Menzel, ebd., S. 94f.] 14 [Siehe Anm. 3] Beobachtungen über bildende Kunst, besonders über Architectur, vom Standpuncte der Perspective

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Proportionalität der abnehmenden Höhen und Zwischenräume, trotzdem wir sie uns auch so in wahrer Gestalt d.i. frontal denken.

Characteristisches Hierdurch in ein neues Thema gerathen nämlich in die Beurtheilung nicht der plastischen, sondern der sinnlichen Wirkung ist es nothwendig abermals rückwärts zu greifen.

Abwechslung gibt Reiz, Einförmigkeit Ruhe. Als Norm wurde bisher auf-

gestellt: Einförmigkeit nach der horizontalen Richtung und Abwechslung nach der vertikalen. Dadurch entsteht jene gleichförmige Verschmelzung von Bewegung und Ruhe, diese anziehende Klarheit in Übereinstimmung mit der Natur und Anschauung, die den griechischen Tempel so wunderbar auszeichnet. Von dieser Mitte aus kann man nach beiden Seiten gehen. Macht man auch die vertikale Theilung immer strenger und gleichförmiger, so entsteht ernste, erhabene Ruhe bis zu todter Erstarrung. Gibt man auch horizontalen Gliedern Abwechslung und fortschreitende Bewegung, so entsteht ein prunkendes, flimmerndes bis flatterhaft leichtes Wesen, das endlich in chaotischer Verwirrung endet. Die beiden Extreme zu verbinden wäre Wahnsinn. Schluss Hierdurch ist der letzte Punct allgemein scizzirt und man siht, dass die Perspective nicht blos als Hülfsmittel zum Zeichnen gut ist, sondern, dass sich aus ihr auch ein taugliches Werkzeug bereiten lässt, um mit Hülfe dessen in die ewigen Gesetze des Wahren und Schönen einzudringen. Wien 15/2 68.

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Die Perspectivlehre des Pietro degli Franceschi (1879) Mittheilungen des k. k. Österreichischen Museums für Kunst und Industrie. (Monatsschrift für Kunst und Kunstgewerbe), Jg. 14 (1879), Nr. 164. In Camillo Sittes Nachlass befindet sich nur die – mit der Druckschrift identische – handschriftliche Fassung, die mit „Mai 1879“ datiert ist. Mit geringfügigen Redaktionen. Sign. SN: 200–456.

Dieses für die Theorie der Kunst und deren Geschichte so bedeutende Werk wurde, nachdem es seit 1585 verschollen, zuerst in neuester Zeit bleibend zu Tage gefördert durch E. Harzen, welcher eine Abschrift der lateinischen Übersetzung in der Ambrosiana auffand. Harzen erledigte auf Grundlage dieses Aufsehen erregenden Fundes die seit Vasari fortwuchernde ­Streitfrage über das dem L. Paccioli zur Last gelegte Plagiat aus diesem ungedruckten Werke 

[Der italienische Maler Piero della Francesca (1420–1492) – in Borgo San Sepolcro geboren, in Florenz ausgebildet und am Künstler- und Humanistenhof des Federico da Monte­feltro in Urbino gemeinsam mit Luca Pacioli und Francesco di Giorgio Martini tätig – gehört zu den führenden Theoretikern seiner Zeit auf den Gebieten der Mathematik, Optik und Perspektivlehre. Wahrscheinlich vor 1482 schrieb er seine in latinisierendem Volgare verfasste Perspektivlehre: die dreibändige, auf euklidischen Grundlagen basierende De prospettiva pingendi, die Sitte ins Zentrum seiner Untersuchung rückt. Buch I handelt über die Punkte, Linien und Flächen, Buch II über die stereometrischen Körper und deren Konstruktion, Buch III über den perspektivischen Aufriß von Köpfen und Bauteilen. Anregungen für seinen Beitrag dürfte Sitte durch einen kurz zuvor publizierten Aufsatz eines Wiener Kollegen bekommen haben. Janitschek, Hubert: „Des Piero della Francesca drei Bücher von der Perspective“, in: Kunstchronik, Jg. 13 (1878), S. 670­–647. Die Erstausgabe von Pieros Traktat wurde erst 20 Jahre nach Sittes Schrift vorgelegt von Winterberg, Constantin (Hg.): Petrus pictor Burgensis. De prospectiva pingendi. Nach dem Codex der königlichen Bibliothek zu Parma, nebst deutscher Übersetzung. 2 Bde. Strassburg: Heitz 1899. Sitte beruft sich in seiner Abhandlung besonders auf das 1856 von Ernst Harzen zur Kenntnis gebrachte Spätwerk Pieros, den Libellus de quinque corporibus regularibus, das 1509 posthum mit Luca Paciolis De Divina proportione in Venedig erschien.



[Harzen, Ernst: „Über den Maler Pietro degli Francheschi und seinen vermeintlichen Plagiarius L. Pacioli“, in: Naumann’s Archiv für die zeichnenden Künste, Jg. 2 (1856), S. 231–244.]



[Giorgio Vasari, Le Vite de’ più eccellenti pittori, scultori e architettori. Florenz: Lorenzo Torrentino 1550 (Florenz 1568); erste deutsche Gesamtausgabe von Ludwig Schorn und Ernst Förster, Leben der ausgezeichnetsten Maler, Bildhauer und Baumeister von Cimabue bis zum Jahre 1567. Stuttgart, Tübingen: Cotta 1832–1849; zu Piero della Francesca siehe Bd. 2,1, S. 296–311; zum Verhältnis von Piero della Francesca zu Luca Pacioli (= Fra Luca del Borgo) ebd., S. 297.]



[Der Franziskanermönch Luca Pacioli (ca. 1445 – nach 1514), Schüler des Piero della Fran­ cesca, Mathematiker und Kunsttheoretiker, verfasste: Divina Proportione, opera a tutti glingegni perspicaci e curiosi necessaria que ciascun studioso di Philosophia, Prospectiva, Die Perspectivlehre des Pietro degli Franceschi (1879)

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seines Lehrers und ordnete bei dieser Gelegenheit alles verfügbare biographische Material zu einem klaren Bilde, das nun wenigstens in den Hauptumrissen das Leben eines Künstlers, der bei Lebzeiten Monarca della Pittura genannt wurde und als Erfinder der malerischen Perspective angesehen wird, vor Augen stellt. Dem Buche selbst, auf dessen Besprechung Harzen nicht weiter eingeht, ist in seiner diesbezüglichen Arbeit: „über den Maler Pietro degli Franceschi und seinen vermeintlichen Plagiarius den Franciscanermönch Luca Paccioli“, welche 1856 in Naumann’s Archiv erschien, jedoch keine Stelle in der Entwicklung der Perspectivliteratur angewiesen worden. Auch kennt Harzen das noch nirgends vor die Öffentlichkeit gebrachte Originalmanuscript der Bibliothek zu Parma nicht, und so scheint denn eine Besprechung des Inhaltes und Werthes dieses so merkwürdigen Buches erspriesslich. Das erste Durchblättern dieses Manuscriptes setzte mich ob der Fülle des Stoffes, der demjenigen wie er gegenwärtig an technischen und künstlerischen Hochschulen zum Vortrag gelangt, beinahe gleichkommt und wegen der ungemeinen Genauigkeit der bis in die kleinsten Details geometrisch construirten Darstellungen so sehr in Erstaunen, dass die Anfertigung eines solchen Werkes in so früher Zeit (spätestens vollendet 1494) fast unmöglich schien. Erst die genaue Durchsicht lehrte die unzweifelhafte Echtheit dieses Werkes, das man im Wesentlichen erst Ende des vorigen Jahrhundertes durch Erklärung des Verschwindungspunktes um einen Schritt zu überholen vermochte. Einzelne Figuren und Constructionen, wie die des Kreuzgewölbes auf vier gleich grossen Gurten und vier unprofilirten Pfeilern, haben Pictura, Sculptura, Architectura, Musica e altre Mathematicae suavissima, sottile e admirabile doctrina conseguirà … de secretissima scientia. Venedig: Paganius Paganinus 1509. Deutsch-italienische Ausgabe von Winterberg, Constantin (Hg.): Fra Luca Pacioli, Die Lehre vom Goldenen Schnitt. Nach der venezianischen Ausgabe von 1509. Quellenschriften für Kunstgeschichte und Kunsttechnik des Mittelalters und der Neuzeit, N. F. 2. Wien: Graeser 1889 (Nachdruck Hildesheim: Olms 1974). Pacioli findet auch Erwähnung in Sitte, Camillo: „Die Initialen der Renaissance nach den Constructionen von Albrecht Dürer (1882)“, siehe Bd. 1 der Edition und „Über Geschichte des Perspektivischen Zeichnens“ in diesem Bd. S. 449ff.]  

[Siehe Anm. 2] [Hierzu auch: Sitte, Camillo: „Über Geschichte des Perspektivischen Zeichnens“ in diesem Bd. S. 449–562]



[Die Hinweise auf die Figuren bzw. Konstruktionszeichnungen Piero della Francescas können verifiziert werden anhand von Fasola, Nicco: Piero della Francesca. De Prospettiva Pingendi (= Raccolta di fonti per la storia dell’arte). Florenz: G. C. Sansoni 1942, Fig. XLIII.]

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sich durch eine Menge Perspectivbücher bis auf die neuesten Compendien erhalten; andere gehören zu den schwierigsten Aufgaben, welche hier gestellt werden können und alle sind gleich meisterhaft u.z. [und zeitweise] im Originalmanuscript ohne Fehler (bekanntlich kommen auch in Perspectivlehrbüchern gerne einige Perspectivfehler vor), während in der Mailänder Abschrift einige Verwechslungen und daher falsche Ausführungen sich finden. Original und Abschrift (respect. Übersetzung) stimmen jedoch vollkommen überein, wobei nur einige der letzten schwierigsten Constructionen in der Abschrift in mehreren Zeichnungen durchgeführt wurden, zur noch grösseren Deutlichkeit eine Zeichnung des Originales in zwei getrennte zerlegend, ohne jedoch irgend etwas Neues hinzuzufügen. Das ganze an Figuren und Text umfangreiche Opus zerfällt in drei ­Theile. Der erste Theil beginnt mit einer Erklärung der geometrischen Elemente, Punkt, Linie und der regelmässigen Vielecke. Hierauf folgen sechs Figuren mit Erklärungen des Sehwinkels und diesbezüglicher Beobachtungen ähnlich wie bei Euclid. Eine dieser Figuren kehrt genau so bei Dürer und zwei bei Danti wieder. 

[In einer der wohl originellsten Passagen seines Traktates widmet sich Piero della Francesca den Grenzbereichen der visuellen Wahrnehmung. Er erkennt, dass die visuelle Wahrnehmung ab einem bestimmten Sehwinkel bzw. in einer bestimmten Entfernung derart beeinträchtigt ist, „dass der Verstand diese Objekte nicht mehr erfasst und nur noch einen aus der Ferne gesehenen Fleck wahrzunehmen vermag, wobei es ihm nicht mehr möglich ist, zu unterscheiden, ob es sich um einen Menschen oder ein anderes Lebewesen handelt“. Daher sei es konsequent – so Piero weiter –, dass nur Objekte bzw. Gegenstände im Bild dargestellt werden, welche klar und deutlich erkennbar sind und somit den Regeln der Perspektive unterworfen werden können, während jene, die aufgrund des Sehwinkels oder der Entfernung nur undeutlich wahrgenommen werden können, von der bildlichen Darstellung ausgeschlossen bleiben. In seiner um 300 v. Chr. entwickelten Optica, auf die sich Sitte mehrfach bezieht, nimmt Euklid an, vom Auge würden – nicht materielle, sondern geometrisch abstrakte – Sehstrahlen ausgehen, die als Sehkonus ausstrahlen und alle Dinge erfassen, die im Blickfeld erscheinen. Größe und Lage der Dinge werden von der Größe des Blickfelds, d.h. dem Blickwinkel des Sehkonus bestimmt. Je mehr Sehstrahlen die Objekte treffen, umso deutlicher erscheinen sie. Euklids geometrische Theorie des Sehens bildet die Grundlage für spätere Perspektivtheorien, wie sie u.a. in Vitruvs De Architectura Libri Decem, in Leon Battista Albertis Della pittura und in Piero della Francescas De prospettiva pingendi ausgeführt sind.]



[Dürer, Albrecht: Unterweysung der Messung mit dem Zirckel und Richtscheyt in Linien, Ebenen unnd gantzen Corporen. Nürnberg: Hieronymus Andreae 1525. Als Faksimile reproduziert: Dietikon bei Zürich: Stocker und Schmied 1966. Zur Perspektivkonstruktion Die Perspectivlehre des Pietro degli Franceschi (1879)

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Darnach folgt die Erklärung und Anwendung eines seither lange gänzlich ausser Gebrauch gesetzten Constructionsprincipes, das unzweifelhaft als das primitivste und älteste bezeichnet werden muss. Als Basis dieser, bei aller Urwüchsigkeit sinnreichen und geometrisch tadellos genauen Construction dient nur die erfahrungs- ja handwerksmässig entwickelte Praxis der Maler. Weder die Kenntniss des Verschwindungspunktes noch der Glastafeltheorie oder Perspectivlehre als Schnitt mit der Sehpyramide sind hiezu erforderlich,10 sondern nur Folgendes: Die Erfahrung hat gelehrt, dass die in die Tiefe laufenden Linien eines Fussbodenquadrates scheinbar, nach aufwärts zu, sich zusammenneigen. Linienführungen dieser Art kommen an antiken und mittelalterlichen Malereien vor und Euclid liefert bereits in der 10. Proposition seiner Optik mittelst Sehstrahlen den geometrischen Beweis, dass dies so sein müsse. Ähnliches ist behandelt in seiner 6. und 11. Proposition.11 Nachdem nun die rückwärtige Viereckseite, welche parallel zur Bildebene ist und demzufolge als horizontale Linie erscheint, noch irgendwo angenommen wird (wodurch unwissentlich die Distanz gewählt wird) ergibt sich das richtige Perspectivbild eines Fussbodenquadrates ohne eigentlich zu wissen wie und warum. In diesem Quadrat kann man aber auch die Diagonale perspectivisch ziehen, da ihre Endpunkte vorhanden sind, und mit Hilfe dieser Diagonale auf einfache Art einen beliebigen Punkt dieser Quadratfläche auch perspectivisch finden.12

Dürers siehe auch: Sitte, Camillo: „Die Initialen der Renaissance nach den Constructionen von Albrecht Dürer (1882)“, siehe Bd. 1 der Edition. Danti, Egnazio, eigentlich Pellegrino Danti de’ Rinaldi (1536–1586), Architekt, Ingenieur, Maler, Geograph, Mathematiker und Astronom. 1583 gab er in Rom Vignolas Le due regole della prospettiva pratica di M. Jacomo Barozzi da.Vignola con i commentarii del R. P. M. Egnazio Danti mit einer Biographie und Erklärung von Vignolas Perspektivregeln heraus.] 10 [Leon Battista Alberti gibt in seiner um 1435/36 verfassten Della Pittura – der ersten systematischen Abhandlung der Neuzeit über Malerei – eine neue Definition des Bildes als senkrechter Durchschneidung („intersegazione“) der Sehpyramide und als proportionale Projektion der Basisfläche der Sehpyramide auf die Schnittfläche, die zugleich als Voraussetzung für die linearperspektivische Konstruktion anzusehen ist. In dem Zusammenhang macht Alberti den berühmt gewordenen Vergleich des Bildes mit dem Fenster bzw. mit der Bildfläche aus Glas, die für die Sehpyramide durchsichtig ist.] 11 [Sitte verweist hier auf die ersten beiden Axiome von Euklids Optica: Das erste stellt die geradlinige Ausbreitung der Sehstrahlen und ihre Distanz voneinander fest, das zweite behauptet die Bündelung der Sehstrahlen im Sehkegel, dessen Spitze im Auge liegt und dessen Basis durch die Oberfläche des gesehenen Gegenstandes gebildet wird.] 12 [Fasola „Piero della Francesca“ 1942 (s. Anm. 7), Fig. XVa.]

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Denkt man sich dieses Fussbodenquadrat mit seinem ganzen Constructionsinhalt senkrecht aufgestellt, so kann man auch jede Höhendimension perspectivisch auftragen und somit schliesslich jeden beliebigen Punkt des Raumes perspectivisch finden.13 Hiedurch ist denn ein Mittel gegeben Linien, Flächen und Körper allmälig zusammenzubauen. Es ist dieselbe Construction, welche auch in Dürer’s Perspective14 noch zuerst behandelt wird und zwar unter so auffälliger Beibehaltung von reinen Zufälligkeiten der Anordnung in der Zeichnung, dass man sich der Meinung nicht erwehren kann, Dürer müsse unmittelbar oder mittelbar die Arbeiten Pietros gekannt haben. So ungelenk diese Perspectivmethode nun auch ist, so staunenswerth sind die Leistungen, welche P. d. Franceschi mit einem so umständlichen Verfahren zu Stande brachte.15 Von der perspectivischen Construction der regulären Vielecke im Grundriss in verschiedenen Stellungen gelangt er bis zur richtigen Auftragung ­eines Gebäudegrundrisses und der Perspective regelmässiger Körper.16 Die Perspective der Körper nach der eben angegebenen primitiven Methode umfasst den zweiten Theil des ganzen Werkes. Zuerst werden Würfel und Prismen perspectivisch construirt. Dann folgt ein sechseckiger Brunnen auf zwei Stufenlagen, ein Säulenpostament in Frontalperspective, ein eben solches in schiefer Stellung, ein liegender achteckiger Pfeiler,17 und drei bedeutendere Objecte, welche besondere Besprechung verdienen, nämlich: ein zweistöckiges Haus, an welchem selbst die so oft verfehlten Rundbogen in Verkürzung als Ellipsen, die Eintheilung einer verschwindenden Fensterreihe und die Gehrungen der Gesimse tadellos richtig construirt sind; ferner ein achteckiger Thurm mit Gesims und zwei kreisrunden Fenstern, eines frontal, eines verschwindend, jedoch beide sammt Mauerdicke vollkommen richtig; zuletzt das schon erwähnte Kreuzgewölbe, das bis in neueste Werke unverändert übergegangen.18

13 [Sitte referiert hier einige – erstmals von Leon Battista Alberti in seiner 1435/36 verfassten Della Pittura ausgeführte – Schritte der perspektivischen Konstruktion.] 14 [S. Anm. 9.] 15 [Sitte zielt hier offensichtlich auf Pieros malerisches Werk, wie die berühmte, zwischen 1455 und 1465 entstandene Geißelung Christi (Urbino, Galleria Nationale delle Marche) mit perspektivischer Darstellung.] 16 [Fasola „Piero della Francesca“ 1942 (s. Anm. 7), Fig. XVI–XXIX.] 17 [Fasola „Piero della Francesca“ 1942 (s. Anm. 7), Fig. XXXII–XL.] 18 [Fasola „Piero della Francesca“ 1942 (s. Anm. 7), Fig. XLI–XLIII.] Die Perspectivlehre des Pietro degli Franceschi (1879)

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Die meiste Bewunderung verdient jedoch der dritte Theil des Werkes. Die-

ser umfasst die Lösung der complicirtesten Aufgaben und zwar nach neuer Methode, an deren Erfindung möglicherweise P. d. Franceschi auch den gröss­ ten Antheil haben mochte. Diese Methode basirt auf der von L. B. Alberti aufgestellten Glastafeltheorie19, welche in seinen schon 1435 vollendeten drei Büchern über Malerei aufgestellt wurde und zwar mit dem geradezu pathetisch zur Schau getragenem Bewusstsein einer neuen und bedeutenden Erfindung, welches umsomehr deutlich hervortritt, als Alberti die bereits bekannten geometrischen Lehrsätze eigens als von den Mathematikern entlehnt vorführt. Den Grundgedanken der vorliegenden neuen Construction könnte also, wie es auch in hohem Grade wahrscheinlich, P. d. Franceschi fertig vorgefunden haben, wobei aber dennoch sein eigenes Verdienst noch ein ganz bedeutendes bliebe, denn Alberti war nicht mehr im Stande seine eigene Erkenntniss noch weiter auszubilden, noch weiter zu steigern, sondern versank von der Höhe seiner Theorie, welche mit einem Male das Wesen aller Zeichenkunst von diesem technischen Standpunkt aus klar definirte, „als die auf einer Fläche mittelst Linien und Farben zu Stande gebrachte künstliche Darstellung eines Querschnittes der Sehpyramide“20 wieder herab zu seinem Ausgangspunkte, nämlich zu einer Proportions- und Sehwinkellehre wie bei Euclid und seinen Nachfolgern. Noch einen Schritt weiter zu thun und den richtig in’s Auge gefassten Querschnitt nun auch als Schnitt geometrisch zu construiren, gelang Alberti nicht mehr. Dies wird zuerst von P. d. Franceschi geleistet. Auch diese Methode findet sich bei Dürer wieder bei den Perspectivlehren bis Ende des vorigen Jahrhunderts fasst ausschliesslich und als leichtere Methode zur Einführung in das Verständniss der Sache bis auf den heutigen

19 [Diese Technik ermöglicht es, einen Gegenstand, bzw. verschieden weit entfernte Gegenstände räumlich korrekt wiederzugeben, indem der Maler diese durch ein sogenanntes „Velum“ betrachtet. Dieses Velum ist ein lose gewobenes Tuch mit eingelegter Quadrierung, das den senkrechten Schnitt durch die Sehpyramide darstellt und die Vermessung der Projektion auf der Schnittfläche erlaubt. Die Messpunkte für die Gegenstände und Figuren können dann vom Tuch auf ein entsprechend quadriertes Blatt übertragen werden.] 20 [Siehe Alberti, Leon Battista: Leon Battista Albertis kleinere kunsttheoretische Schriften (=  Eitelberger von Edelberg, Rudolf (Hg.): Quellenschriften für Kunstgeschichte und Kunsttechnik des Mittelalters und der Renaissance. Bd. 11). Im Originaltext herausgegeben von Hubert Janitschek. Wien: Braumüller 1877, S. 68–70 (Neudruck Osnabrück: O. Zeller 1970).]

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Tag. Eine bestimmte Annahme der Distanz, des Horizontes u.s.w. ist dieser Methode gleichfalls schon eigen. Die Summe der nach dieser Methode von P. d. Franceschi im dritten Theile seines Buches dargestellten Objecte ist höchst merkwürdig. Auf die einfache Construction von zwei Grundrissquadraten folgt die Construction eines Ringes mit Hilfe von 96 Punkten in 12 Querschnitten, hierauf die Zeichnung eines schief auf eine Spitze gestellten Würfels; die Perspective einer attischen Säulenbasis, eines korinthischen Kapitäles, zahlreicher menschlicher Köpfe in den verschiedensten Stellungen und Verkürzungen und zuletzt eine Serie von Rotationskörpern in Perspective.21 Als erstes Beispiel dieser letzten Gruppe erscheint nichts Geringeres gewählt als eine Innenansicht der Pantheonkuppel sammt Cassetten;22 hierauf die richtige Perspective der Kugel und zweier Gefässe. Die Aufzählung des blossen Inhaltes genügt wohl schon, die ungemeine Bedeutung dieses Buches zu zeigen; die Erklärungen sind jedoch so naiv, so gemeinverständlich, wie dies bei einem Erstlingswerk, das die ganze Mühe des Erfindens und Klarmachens der schwierigen Probleme noch in sich trägt, beinahe selbstverständlich, so dass das Buch in einfacher Übersetzung noch heute eines der besten und brauchbarsten Lehrwerke darstellen würde. Dasselbe würde vielleicht von Künstlern sogar mehr gelesen als unsere modernen Lehrwerke, die vom Leser schon eine gewisse mathematische Disciplinirung des Denkens voraussetzen und daher zum Schaden der Kunst nicht so vielfach studirt werden, als es geschehen sollte. Was nun noch die Stellung des Werkes in der Entwicklungsgeschichte der Perspective betrifft, so ist diese auch zufolge der zwei angeführten Methoden des Construirens interessant. Die Perspective hat sich nämlich thatsächlich auf zwei Wegen getrennt entwickelt, auf dem Wege der Praxis und auf dem der geometrischen und optischen Untersuchung. Die Naturbeobachtung an der Hand der praktischen Ausübung des Malens führte zuerst dahin, den Linien an Fussboden und Decke eine gewisse schräge Stellung zu geben. Dies geschah zunächst jedoch so, dass die wenig von einander entfernten Linien noch parallel blieben. In diesem Falle erscheinen sie jedoch als nach rückwärts divergirend, was zu einer Correctur durch Zusammenneigen führen musste. Das vollständige Zusammenlaufen aller dieser Linien in einen Punkt ergab sich daraus allmälig durch Praxis, für welches Stadium der Entwicklung etwa 21 [Fasola „Piero della Francesca“ 1942 (s. Anm. 7), Fig. LIV–LXXIX.] 22 [Fasola „Piero della Francesca“ 1942 (s. Anm. 7), Fig. LXXIII–LXXVII.] Die Perspectivlehre des Pietro degli Franceschi (1879)

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Ucello bezeichnend ist. Daraus aber geht, wie vorher gezeigt, unmittelbar die erste Methode von P. d. Franceschi hervor, deren Quadrat und Diagonale L. B. Alberti gleichfalls kennt, ohne die reiche Entwicklung seines Nachfolgers daraus zu ziehen. Die zweite Methode, fussend, wie gezeigt, auf der antiken Lehre des Sehwinkels, führt auf rein optische und geometrische Grundlagen zurück. Die allmälige Ausbildung und Verschmelzung der beiderseitigen Resultate führte endlich zur modernen Theorie vom Verschwindungs- und Theilungspunkt, und die Betrachtung der gesammten Entwicklung zu der Überzeugung, dass hier der continuirliche Ausbau einer weitläufigen Theorie vorliegt, an welcher Alterthum und Neuzeit gearbeitet, und dass es jedem Einzelnen nur gegönnt war auch nur einen einzelnen Schritt vorwärts zu machen. Es ist auch eine vollständig müssige Sache, nach einem bestimmten Erfinder der Perspective zu fragen, oder andererseits etwa die Frage aufrecht zu halten, ob die Alten Perspective gehabt haben oder nicht, welche Frage richtiger Weise nur lauten könnte: bis zu welcher Stufe der Entwicklung haben es die Alten und eventuell jeder neue Meister darin gebracht? C. Sitte.

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Vorträge über Geschichte der Baustyle (1883–1884) Originalfassung Unpublizierter Autograph, Sign. SN: 425–585. 191 lose Blätter einseitig in Kurrentschrift mit Tinte beschrieben, paginiert als fol. 1 bis fol. 189. Papierformat: 17,2 x 21,0 cm. Zahlreiche Durchstreichungen und Einfügungen in Tinte, einzelne Korrekturen und Eintragungen mit Blaustift, einzelne Randanmerkungen mit Bleistift. 282 Textabbildungen, bezeichnet als „Figuren“, davon 59 Figuren ohne Nummerierung von fol. 3 bis fol. 50 sowie in weiterer Folge nummeriert in zwei Serien, und zwar 1. Serie: Fig. 1 (auf fol. 57) bis Fig. 123 (auf fol. 128, bez. „127“) und 2. Serie: Fig. 1 (auf fol. 139, bez. „138“) bis Fig. 100 (auf fol. 188, bez. „186“). Die überwiegende Zahl der Textabbildungen ist auf unterschiedlich vergilbtes bzw. gebräuntes Transparentpapier gezeichnet und durch Einkleben in die passend ausgesparten Textabschnitte eingefügt. 214 eingeklebte Textfiguren sind mit Bleistift gezeichnet, 36 eingeklebte Textfiguren sind mit Tusche bzw. Tinte gezeichnet. Vier eingeklebte Textfiguren (Fig. 33, 69, 86, 91) sind aus Druckwerken ausgeschnittene Abbildungen. Zwei nicht nummerierte Textfiguren sind mit Bleistift unmittelbar auf die Textseiten gezeichnet, 26 Textfiguren sind mit Tusche bzw. Tinte unmittelbar auf die Textseiten gezeichnet. Eine nicht nummerierte Textfigur auf fol. 50 ist, wie Klebespuren und ein geringer Rest von Transparentpapier erkennen lassen, verloren gegangen. Von den 282 Abbildungen werden in dieser Ausgabe 153 wiedergegeben. Beigefügt ist dem Autograph ein Konvolut von 20 Zetteln im Papierformat 10,3 x 16,7 cm mit handschriftlichen Angaben in Kurrentschrift. Es handelt sich offensichtlich um Prüfungsfragen, wobei die Fragethemen jeweils in Tinte geschrieben sind (fol.1: Der jonische Stil. Das Kapitäl; fol. 2: Der dorische Stil Das Kapitäl; fol. 3: Charakteristik der deutschen Renaissance; fol. 4: Die Akropolis von Athen. Lageplan, Beschreibung, Stil; fol. 5: Die wichtigsten Baudenkmale des gotischen Stils.; fol. 6: Entwicklung des Wölbens; fol. 7: Die romanischen Kapitäle Hauptformen, Zeitfolge; fol. 8: Die frühchristliche Baukunst. Zeit, Charakteristik, wichtigste Baudenkmale; fol. 9: Die Säulenordnungen Vitruv, Vignola; fol. 10: Einteilung der Baustile zeitliche Folge derselben; fol. 11: Das gotische Maßwerk; fol. 12: Kreuzgewölbe Grundform Konstruktion Pfeiler u. Dienste stilistische Entwicklung; fol. 13: Das Schema des römischen Triumphbogens.; fol. 14: Der Festplatz von Olympia Lageplan, Beschreibung; fol. 15: Die Baudenkmale der Wiener-Ringstraße Zeit, Stil, Meister; fol. 16: Das antike Wohnhaus; fol. 17: Die Ecktriglyphenfrage; fol. 18: Die bedeutendsten Bauanlagen der Griechen.; fol. 19: Wiener Barockbauten Zeit, Meister, Hauptform; fol. 20: Säulen – Verhältnisse Schwellung, Einziehung, Curvaturen Neuere Beispiele), in Lateinschrift mit Bleistift darunter jeweils Namen von Prüfungskandidaten und abgekürzte Beurteilungsnoten (z.B. Buhl – sg. Oder Hartl – + g) Eine weitere Beilage des Autographs besteht aus fünf Blatt, davon vier Blatt im Papierformat 14,7 x 21,0 cm und ein Blatt im Papierformat 17 x 21 cm. Die Blätter sind jeweils auf der Vorderseite paginiert. Fol. 1 und fol. 5 sind nur auf der Vorderseite beschrieben, fol. 2, 3 und 4 auf der Vorder- und Rückseite. Die Seiten enthalten zahlreiche Zeichnungen und Vorträge über Geschichte der Baustyle (1883–1884)

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Beschriftungen in Lateinschrift sowie auch Texte in Kurrentschrift. Text und Zeichnungen sind einheitlich in Tinte ausgeführt. Fol. 5 ist die Rückseite eines amtlichen Formulars mit der Bezeichnung Dienstzettel. Abschriften Von dem Autograph sind im Sitte-Nachlass zwei Abschriften erhalten. 1. Abschrift auf losen Blättern in Mappe Sign. SN: 257–333. Handschriftlich auf 188 paginierten Blättern im Papierformat 17 x 21 cm durchwegs nur auf der Vorderseite in Kurrentschrift von immer gleicher Hand beschrieben, mit eingeklebten Zeichnungen auf Transparentpapier, die einheitlich mit Tusche ausgeführt sind und Durchzeichnungen der Textfiguren des Autographs darstellen. Die Flügelmappe mit Leinenrücken, Leinenecken und Verschlußbändern trägt ein aufgeklebtes Schild mit der Aufschrift in Tinte: KK. Bau ū Maschinen Gewerbeschule Bautechnische Abtheilung Geschichte der Baukunst 1873 Hinzugefügt mit Bleistift: Camillo Sitte 2. Abschrift in Buchform gebunden Sign. SN: 256–332. Halblederband mit Lederrücken auf 6 Bündchen und Lederecken, Seitenformat: 16,2 x 21,0 cm. Handschriftlich auf 191 paginierten Seiten, mit Tinte in Kurrentschrift von verschiedener Hand durchwegs auf den Vorderseiten beschrieben, mit eingeklebten Zeichnungen auf Transparentpapier, die vorwiegend in Bleistift ausgeführt sind. 24 Zeichnungen sind mit Tusche ausgeführt. Es handelt sich durchwegs um Durchzeichnungen der Textfiguren des Original-Autographen. Auf den Rückseiten finden sich von unterschiedlicher Hand teilweise sehr ausführliche ergänzende Bemerkungen in Bleistift.

[fol.] 1. [fol. 2, bezeichnet:] 1.

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Collegienheft für Baustyllehre zweiter (geschichtl.) Theil, der Geschichte der Baukunst von C. Sitte. B e m : Die eingeklebten Pausen sind meist Schülerarbeiten u. daher nach Erforderniß zu corrigiren. [fol.] 3. [Linker Seitenrand oben: Kleine Bleistiftskizze einer Landkarte von Ägypten mit Ortseintragungen: „Gizeh, Memphis, Seen, Benihassan, Theben, Assuan, Insel Phylä“] Die altägyptische Bauweise. In den mächtigen Baudenkmälern des alten Ägyptens steht eine erste Entwicklungsstufe der Baukunst vor uns. Bis ins vierte Jahrtausend reichen diese Werke zurück. Zur Zeit der 12. Dynastie also um 2400 v. Chr. ist Memphis die Hauptstadt des alten Reiches der Mittelpunkt einer großartigen Bauthätigkeit, während die berühmten drei größten Pyramiden (die des Chufu, des Chafra und des Menkera) bei Memphis schon der vierten Dynastie, also der Zeit um 3000 v. Ch[r]., angehören. Die Riesensphinx [gestrichen: „mit dem kleinen Tempelchen zwischen den Vordertatzen“] gehört gleichfalls dieser ältesten Periode an. Nach dieser Zeit einer ersten Culturblüthe mußte eine lange Pause, die Herrschaft der Hyksos überdauert werden und erst nachdem diese unter Thotmas d. 2. gänzlich vertrieben waren, entwickelte sich neues Leben auch 

[Gegründet um 3000 v. Chr. von König Menes, Hauptstadt des ersten unterägyptischen Gaues und lange Zeit Reichshauptstadt Ägyptens, 28 km südlich von Kairo gelegen.]



[Chufu oder griech. Cheops oder Suphis (um 2650 v. Chr.), zweiter König der vierten ­Dynastie im Alten Reich.]

 

[Chaefrê oder griech. Chefren (um 2620 v. Chr.), vierter König der vierten Dynastie.] [Men-kaw-rê oder griech. Mykerinos (um 2600 v. Chr.), Sohn des Chefren, König der vierten Dynastie.]



[Hyksos bedeutet „Herrscher der Fremdländer“. Aus Voderasien eingewanderte Fremdherrscher, die Ägypten während der „Zweiten Zwischenzeit“ (15. und 16. Dynastie) beherrschten. Ihre Hauptstadt war Auaris im östlichen Nildelta.]



[Thutmosis II. (1510–1504 v. Chr.) In der Ägyptologie gilt heute Amose als jener Fürst, der die Hyksos entscheidend vernichtete (um 1567 v. Chr.) und die 18. Dynastie (Neues Reich) begründete.] Vorträge über Geschichte der Baustyle (1883–1884)

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in der Baukunst, eine zweite große Kunstperiode. In dieser Zeit der 18 bis 23 Dynastie ist das hundertthorige Theben Hauptstadt, schon im Alterthume hoch gepriesen. [gestrichen: „Heute nisten in den Ruinen seiner Hauptgebäude wie in großen Steinbrüchen die Orte: Karnak, Luxor, Kournah Medinet: Abu und Andere.“] [fol.] 4. In die folgende Periode der Herrschaft der äthiopischen Könige (729–525) gehören die meisten Bauten der Insel Phylä und die zahlreichen kleineren Ziegelpyramiden der Insel Meroë. Von dieser Zeit an verliert sich in der ägyptischen Baukunst die treibende Kraft sich selbstständig weiter zu bilden mehr und mehr, und tritt das Bestreben in den Vordergrund die Besonderheiten der älteren Werke zu ordnen und regelrecht wiederzugeben.

Die kurze Perserherrschaft10 brachte gänzlichen Stillstand.



Gegen eine Amalgamirung mit fremden Stylelementen erwies sich der

primitive und streng abgeschlossene ägyptische Styl stets sehr spröde und nur wenige schwache Anklänge an griechische Bauweise finden sich in der Zeit der griechischen Herrschaft unter den Ptolemäern, hauptsächlich in der Grundrißdisposition der kleinen Tempel des zerstörenden Gottes Typhon der sogen. Typhonien.

Während der Römerherrschaft von 30 v. bis 560 n. Chr. wurde in Ägypten

entweder rein ägyptisch oder ganz römisch gebaut.

  [In Oberägypten zwischen Luxor und Karnak gelegen. Aus bescheidenen Anfängen zur Zeit der 11. Dynastie zu einer der größten Tempelstädte der Antike angewachsen. Nach Vertreibung der Hyksos politischer und religiöser Mittelpunkt Ägyptens im Neuen Reich. Homer rühmte Theben als die „hunderttorige“ Stadt.]   [Philae, Insel im Nil nahe Assuan in Oberägypten. Berühmtes Isis-Heiligtum zur Zeit der Ptolemäer (Ptolemäus II. – Ptolemäus VIII. Euergetes). Der Isis-Kult bestand bis zur Zeit Kaiser Justinians (535 n. Chr.). Der große Isis-Tempel wurde 1972–1980 wegen der bevorstehenden Überflutung durch den Assuan-Stausee auf die benachbarte Insel Agilkia versetzt.]   [Meroe liegt am Oberlauf des Nil an der Einmündung des Atbara. Seit etwa 300 v. Chr. Hauptstadt des nubischen Königreichs Napata. Zur Zeit des ägyptischen Königs Ptolemäus IV. residierte hier König Ergamenes. Erhalten ist der Amuntempel und der Tempel des Löwengottes Apedemak sowie Grabpyramiden von Königen der äthiopischen Dynastie. Um 350 n. Chr. wurde Meroe von den Aksumiten erobert.] 10 [525–404 v. Chr. war Ägypten Satrapie des Perserreiches.]

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Die Formen der ägyptischen Bauweise sind bedingt, theils durch das Material und dessen Bearbeitung theils durch klimatische und geographische Verhältnisse, am meisten aber durch den Umstand, daß die ganze [fol.] 5. colossale Thätigkeit dieses eigenartigen Volkes eben an der Schwelle der Cultur- Entwicklung selbst noch stand und somit bei der Lösung jeder Frage noch nach dem Einfachstem und Nächstliegenden griff.

Man siht [sic!] dieß deutlich aus der aufs Äußerste beschränkten Zal [sic!]

der Formelemente (Profile). Nur R u n d s t a b und V i e r t e l k e h l e kommen so häufig vor, daß sie auffallen, aber doch immer nur an ein und derselben Stelle, nämlich der Rundstab nur als Kante der großen Mauerflächen und die Viertelkehle immer nur als einziges und alleiniges Bekrönungsgesims. [Detailzeichnungen einer „Viertelkehle“ und eines Kapitells, Bleistift auf Transparentpapier, eingeklebt, mit Legende in Tinte unterhalb der eingeklebten Zeichnung: „Kapitäl von einem Grab zu Giseh (Lepsius)“] [Anmerkung mit Blaustift am linken Blattrand: „Äg. Hauptgesimse“]

Einige andere Profilelemente müssen förmlich mühsam gesucht und

förmlich in erzwungener Weise nachgewiesen werden. Z.B. die Vereinigung von Viertelstab und Viertelkehle zu einer Symaform oder zum Herzblattstab, C a r n i e s p r o f i l kommt nur an den offenen Lotoskapitälen vor, also an einer Stelle, wo sie sich von selbst ergibt und als ein Element zu Profilcombinationen gar nicht angesehen werden kann. [Anmerkung am linken Blattrand in Bleistift: „29/9 88“]

Das Gleiche gilt von den Plättchen,

[fol.] 6. den Hohlkehlen und den Viertelstäben die nur in uneigentlichen Formen gefunden werden bei welchen es unzweifelhaft ist, daß der altägyptische Baumeister dabei an ein System der Profilelemente nicht dachte. [Detailzeichnung eines Kapitells im Aufriss, ­Bleistift auf Transparentpapier, eingeklebt, mit Legende in

protodorisches Kapitäl

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Bleistift links außerhalb der eingeklebten Zeichnung: „protodorisches Kapitäl“]

Also nicht einmal die fünf Elementarformen der Profilirung finden sich

bereits bei den Ägyptern. Von Combinationen zu Cordon- u. Hauptgesimsen etc. ist noch keine Rede.

Es wäre falsch das Alles aus der Härte des verwendeten Steinmaterials

herleiten zu wollen. Vielmehr ist dieß lediglich ein Zeichen des ersten Uranfanges in der Baukunst. Die Ägypter waren eben noch nicht so weit die architektonischen Profilelemente erkannt zu haben und somit fallen auch alle Combinationen von selbst weg.

Was das Material betrifft so war es auch nur zu Statuen, Sphingen, Obelis-

ken monolithen Säulen u. dgl. der harte Granit oder Porphyr, die sie übrigens wunderbar zu bearbeiten verstanden. Die Quadern der Tempelwände etc. sind meist Sandstein, auch Kalksteinquadern und Bruchsteine aller Art wurden verwendet.

Das Ziegelmaterial bestand aus an

[fol.] 7. der Sonne getrocknetem Nilschlamm, der vorher reichlich mit Gehäcksel durchknetet wurde.

Als Mörtel diente häufig natürlicher Nilschlamm, aber auch aus Sand und

Kalk bereiteter Mörtel. Als bester Kalk wurde der von Mokattam11 verwendet.

Als ganz besondere Leistung in Bezug auf Anhäufung unglaublicher

Massen von Baumaterial müssen die Pyramiden angestaunt werden. Es sind dieß die altägyptischen Königsgräber. Ihrer Form nach nichts als der primitive Grabhügel der Urzeit, hier [Schnittzeichnung, Bleistift auf Transparentpapier, eingeklebt, mit Legende in Tinte: „Durchschnitt der Pyramide des Chufu (Cheops)“12 erbaut von 3095 v. Chr. an. 480 Fuß Scheitelhöhe, 764 Fuß Basisbreite. Anmerkungen dazu links und rechts außerhalb der eingeklebten Zeichnung:

11 [Höhenrücken im Osten von Kairo mit Steinbrüchen aus der Pharaonenzeit.] 12 [Grundfläche: 230 m², urspr. Höhe: 146,59 m, Neigungswinkel 51°50’.]

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Durchschnitt der Pyramide des Chufu (Cheops)

a Schachtöffnung b . Königskammer c Königinkammer d . Grabkammer e Eingang f Entlastungsräume] [fol.] 8. aber zu colossaler Ausdehnung gesteigert. Während in Bezug auf die Form nur die genaue Einhaltung des quadratischen nach den Himmelsgegenden gestellten Grundrisses bemerkenswert erscheint, brachte die Anhäufung einer solchen Mauermenge denn doch manche technische Schwierigkeit. Die Fundirung soll durch eine Art Beton hergestellt worden sein. Die Entlastung der Gänge und Grabkammern geschah durch Vorkragen und durch wiederholte Anbringung immer kleiner werdenden Entlastungsräume. Sie wurden nicht in horizontalen Schichten, sondern mantelförmig, also stetig in PyramiVorträge über Geschichte der Baustyle (1883–1884)

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denform aufgeführt. Je länger die Lebenszeit des Pharao, desto größer wuchs also seine Grabpyramide an. Die Wirkung dieser Bauwerke ist vermöge ihrer einfach zu überblickenden Colossalität eine mächtige; ihre glatten Wände prangten einst im Farbenschmuck von Bildern und Inschriften.

Von den Typen des architekton. Formenschatzes finden sich aber auch bei

den Tempeln nur Wenige.

Schon der Grundriß zeigt stets die gleiche Anreihung aller Theile an einer

langgestreckten Axe. [Grundrisszeichnung in Bleistift auf Transparentpapier, eingeklebt, mit Legende in Tinte: „Tempel des Chensu13 zu Karnak“]

Tempel des Chensu zu Karnak

[fol.] 9. [zweigeteilter Aufrissschnitt in Bleistift auf Transparentpapier, eingeklebt, mit Legende in Tinte: „Tempel des Chensu zu Karnak, Pylon, Offener Vorhof, Gedeckter Säulensaal, Innere Gemächer“] [fol.] 10. Wie an einer Straße entlang ist immer alles angeordnet (niemals schachbrettartig wie bei Assyrern, Persern etc.) und diese Straße ist für Alles der Ausgangspunkt der Conception. Sie ist die Straße der P r o c e s s i o n an den großen Nationalfesten und der Tempel war nur das zu Stein gewordene umgeformte Festgerüste dazu. In der Durchführung ist Alles darauf berechnet, auch die starken Contraste nach denen die einzelnen Theile auf einander folgen. [Anmerkung am linken Blattrand mit Bleistift: 2 4 / 9 8 8 ]

13 [Tempel des Mondgottes Chons, Sohn des Amun und der Göttin Mut erbaut von Ramses III. – Ramses XI.]

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Tempel des Chensu zu Karnak



Für Decorirung des Weges eines Festzuges wird man schwerlich ein groß-

artigeres Beispiel in der ganzen Kunstgeschichte finden können.

Der Weg beginnt mit einer langen Allee von Sphingen14, theilweise unter-

brochen durch ein mächtiges Portal bis er von dem Haupteingang anlangt. Hier erhebt sich die Portalbildung mit den beiden Pylonen zur größten Kraft. Die thurmartigen P y l o n e n 15 [Aufrisszeichnung in Bleistift auf Transparentpapier, eingeklebt, mit Legende in Tinte unterhalb der eingeklebten Zeichnung: „Haupt: Pylonen des Tempels zu Edfu“16] [fol.] 11. 14 [Von ägyptisch: sches-p-anch („lebendes Bild“). Mythologisches (männliches) Mischwesen mit Löwenkörper und menschlichem Kopf, der den Pharao darstellt. In den Plastiken von Sphingen sollte sich die Kraft des Königs zum Schutz des Heiligtums vervielfachen.] 15 [Paarweise turmartige Flankierungsbauten zu beiden Seiten der Tore ägyptischer Tempel. Die Außenflächen sind geneigt, den oberen Abschluss bildet eine Hohlkehle. Erste Beispiele stammen aus der 11. Dynastie. Durch Bildreliefs mit der Darstellung der Vernichtung von Feinden sind die Pylonen in die Symbolik der Erhaltung der Weltordnung einbezogen. Außen waren Flaggenmmasten angebracht, im Inneren führten Treppen auf das Tempeldach.] 16 [In Edfu in Oberägypten (105 km südlich von Luxor) befindet sich der 237–57 v. Chr. errichtete Horustempel, der in seinem hervorragenden Erhaltungszustand als Musterbeispiel ptolemäischer Baukunst gilt.] Vorträge über Geschichte der Baustyle (1883–1884)

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Haupt: Pylonen des Tempels zu Edfu

stellen sich mit dem reichen Bilderschmuck wie eine mächtige Abwehr vor den andringenden Menschenstrom. Der Begriff des Abschlusses steht hier in stärkstem Contrast mit dem Begriff des Einlasses durch das Portal selbst. Aber dadurch ist die Menge starker Gegensätze die hier gehäuft erscheinen nicht erschöpft. Der breiten Flächenwirkung der beiden Pylonen tritt entgegen die scharfe Linienwirkung der 4 Flaggenstangen und der zwei davorstehenden O b e l i s k e n 17 (ein griechisches Wort das „Spieschen“ bedeutet, denn so nannten die Griechen spöttisch diese dem Sonnengotte Ra geweihten Monolithe); zu der wuchtigen Mauer contrastiren die runden Formen der sitzenden Figuren zu beiden Seiten des Portales und diese durch ihre verhältnißmäßige Niedrigkeit zu den hochaufschießenden Obelisken. [Detailzeichnung in Bleistift auf Transparentpapier, eingeklebt, mit Legende in Tinte unterhalb der eingeklebten Zeichnung: „Coloß vor dem Tempel-Portal zu Karnak“] 17 [Obelisken sind hohe schlanke, steinerne Pfeilermale mit geböschten Seitenflächen, die meist Weiheinschriften tragen, und einem pyramidenförmigen oberen Abschluss („Pyramidion“), der mit vergoldetem Bronzeblech beschlagen sein konnte. Sie stehen als Zentrum von Sonnenheiligtümern entweder allein oder paarweise vor Tempeln oder Grabbauten. Beispiele sind bereits aus dem Alten Reich bezeugt.]

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[fol.] 12. Endlich mußte auch die unverrückbare Ruhe dieser Steinmassen lebhaft contrastiren mit den bewegten Wimpeln und Bändern und der bewegten Menschenmenge.

Diesen hochaufgerichteten Pylonenwänden folgt der weithin sich deh-

nende Vorhof, diesem o f f e n e n Raum wieder der g e d e c k t e Säulensaal und diesem durch möglichste Größe wirkenden Raum wieder die kleinen dunklen innersten Zellen.

Dieß die Anordnung des Ganzen.

[Aufrissschnitt in Bleistift auf Transparentpapier, eingeklebt, mit Legende in Bleistift: „Tempel von Karnak: Säulensaal“18]

Tempel von Karnak: Säulensaal

Im Detail ist es merkwürdig zu sehen, wie das Alles eigentlich aus einem einzigem technischem Grundmotiv hervorwächst nämlich aus der E i n f r i e d u n g s m a u e r.

Man sieht dieß auf den ersten Blick auf den Grundrissen.

18 [Der Amun-Bezirk von Ipet-sut von Karnak war mit 123 ha Grundfläche das größte und bedeutendste Heiligtum Ägyptens. Hauptbauzeit unter Thutmosis I.–IV., Amenophis II.–III. und Ramses II.–III. Der Große Säulensaal erstreckt sich über 5356 m² und beinhaltet 134 Säulen.] Vorträge über Geschichte der Baustyle (1883–1884)

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Die einzelne Kammer ist ein umfriedeter Raum. Eine oder mehrere Kammern werden dann wieder von einer Mauer im Geviert umschlossen und so fort bis endlich [fol.] 13. der ganze Complex von einer einzigen mächtigen Schutzmauer neuerdings eingefaßt wird. Rechts und links vom Portal erhebt sich diese Mauer einfach zur doppelten Größe und dieses vergrößerte Stück der Umfriedungsmauer sind eben die Pylonen.

Aber auch im Querschnitt erkennt man die Umfriedungsmauer, sie ist

nämlich im Innern senkrecht und außen geböscht mit stark nach Außen in Gegenbewegung geschwungener Kehle als Bekrönung.

Am deutlichsten zeigt sich die Bedeutung der Mauer als formbildendes

Element bei den Ägyptern an ihren Pfeiler- und Säulenbildungen.

Die Wände der Pfeiler sind fluch-

tig mit der Gesammtwand und somit drei Seiten senkrecht und d i e vierte Seite geböscht. [Schematische Pfeilerdarstellungen in Bleistift in Grund- und Aufriss auf Transparentpapier, eingeklebt, mit Legende in Bleistift: „1. Hypogèes de Thebes 2. Gournah19 3. Benihassan“20] [fol.] 14. Diese Pfeiler entstanden also gerade so als ob aus einer Wand einfach Öffnungen wären herausgeschnitten worden. Das zwischen zwei Öffnungen stehenbleibende

1. Hypogèes de Thebes 2.Gournah 3. Benihassan

19 [Kurna, Dorf am Westufer des Nil gegenüber von Luxor. Hier befindet sich der Totentempel König Sethos I. (1306–1290 v. Chr.)] 20 [Beni Hasan, Ortschaft am Ostufer des Nil, ca. 25 km südlich von El Minya. Nekropole mit 39 Felsengräbern von Fürsten aus dem Mittleren Reich (11. und 12. Dynastie).]

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Wandstück ist der Pfeiler an dem somit noch alle Eigenschaften der Wand selbst zu sehen sind.

Aus

diesem

Pfeiler

entwickelt sich durch Abfasung allmälig die cannellirte Säule. Daß diese aber mit der griechischen dorischen Säule historisch nichts gemein hat, geht aus mehreren wesentlichen Unterschieden hervor.

Die fälschlich sogenannte

Deckplatte (d) ist überhaupt gar keine Deckplatte, so wie die

stark

vorspringenden

Deckplatten

der

5 d Karnak 6 d Benihassan 4 d Kalabscheh 7 d ­Benihassan

griechi-

schen Säulen, sondern [Pfeilerdarstellungen in Grund- und Aufriss in Bleistift auf Transparentpapier, eingeklebt, mit Legende in Bleistift: „5 d Karnak 6 d Benihassan 4 d Kalabscheh21 7 d Benihassan“] [fol.] 15. nichts anderes, als ein Stück stehen gebliebener Pfeiler also ein Stück der ursprünglichen Umfriedungsmauer. Eben deshalb ist diese ägyptische „P f e i l e r s ä u l e “ (weil sie aus dem Pfeiler entstand) auch nicht verjüngt, außer nur so viel, als zur Einschneidung der Formen bei der Endigung der Fasen notwendig ist; und auch nicht geschwellt.

In gleicher Weise läßt sich die Entwicklung aus dem viereckigen Pfeiler

nachweisen an den sogenannten Lotossäulen. Zuerst erscheint die Lotospflanze nur decorativ dargestellt an den Wänden der Pfeiler und dann wird

21 [Kalabscha, Ort bei Assuan in Unternubien an der Stelle der antiken Stadt Talmis. Der Tempel des Mandulis und der Isis, erbaut unter Kaiser Augustus, wurde 1961–1963 abgetragen und am Westufer des Nil südlich von Philae wieder aufgebaut. Der rekonstruierte Torbau befindet sich seit 1973 in Berlin.] Vorträge über Geschichte der Baustyle (1883–1884)

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der ganze Pfeiler selbst als ein Bündel von Lotosblumen aufgefaßt. Unter den Blüthen sind sie durch Streifen zusammengebunden.

Je

nachdem

die [Pfeilerdarstellungen in Grund- und Aufriss, Bleistift auf Transparentpapier, eingeklebt, mit Legende in Bleistift: „8 Karnak 9 Benihassan 10 Louqsor“22] [fol.] 16. Blume als Knospe oder als offene Blüthe gedacht ist, unterscheidet man geschlossene und offene Lotoskapi8 Karnak 9 Benihassan 10 Louqsor

täle. Durch die ganze Säule geht aber noch die alte Regel, daß nämlich der

wie immer gerundete Schaft durch Abmeiselung aus dem ursprünglichem Pfeiler entsteht und somit in der Pfeilercontur enthalten sein muß. Deßhalb wird zur Hervorbringung der Schwellung beim Ansatz der Knospen eine starke Einziehung erforderlich und hiedurch entsteht eine starke Verjüngung des Schaftes. Diese Verjüngung ist jedoch eine Zufallsbildung ein Nebenproduct und nicht wie bei den griechischen Säulen (auch den ältesten) von vornherein Selbstzweck. Daher haben [Pfeilerdarstellungen in Grund- und Aufriss in Bleistift und Tusche auf Transparentpapier, eingeklebt, mit Legende in Bleistift: „11 Louqsor 12 Elephantine23 13 Karnak 14 Karnak“] [fol.] 17. die Ägypter die Verjüngung auch stets unberücksichtigt gelassen wenn sie sich nicht von selbst ergab aus anderweitigen Gründen. [Anmerkung am linken Blattrand in Bleistift: 27/9 88] Das sogenannte „protodorische“ Kapitäl

22 [Luxor, Stadt in Oberägypten im Bereich des antiken Theben. Der Amuntempel, erbaut unter Amenophis III. und Ramses II., ist mit dem Reichstempel von Karnak durch eine 2,5 km lange Sphingenallee verbunden.] 23 [Elephantine, Insel im Nil bei der Stadt Assuan. Tempelbezirk der 18. Dynastie. Chnumtempel aus der Zeit König Nektanebis II. (30. Dynastie)]

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aus Theben [am linken Seitenrand der Buchstabe „F“ als Verweis zur Detaildarstellung] hat daher gewiß mit

der

geschichtlichen

Entwicklung der griechischen Baukunst nichts zu thun, sondern nur mit der ägyptischen und hier frägt es sich ob dieser Fund nicht schlecht erklärt wurde und eine Säulenbase bedeuten soll. [Detaildarstellun­gen eines Kapitells und einer Säulenbasis im Aufriss in Bleistift auf

Transparentpapier,

11 Louqsor 12 Elephantine 13 Karnak 14 Karnak

ein­geklebt, mit Legende in Bleistift: „F Kapitäl von Theben“, in Tinte: „Säulenbase zu Karnak“]

So wie also die ägypti-

schen Säulen einen ganz anderen

constructiven

und genetischen Sinn haben als die griechischen, ebenso ist es auch falsch, bei der ägyptischen Architektur von Architraven zu reden. Diese Steinbalken, welche von einem Pfeiler zum anderen hinübergehen, sind eben auch nichts anderes als Bestandtheile der elementaren Quadermauer aus der sich hier alles entwickelte. F Kapitäl von Theben, Säulenbase zu Karnak Vorträge über Geschichte der Baustyle (1883–1884)

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In der letzten Periode unter der äthiopischen Dynastie von Sais erreichten die Ägypter durch stete [fol.] 18. Weiterbildung des Überdeckens von Öffnungen endlich sogar die Kunst des Wölbens, ohne davon jedoch in besonders ausgedehnter Weise Gebrauch zu machen. Aus der Construction dieser Wölbungen siht man deutlich wie sie allmälig aus dem Überdecken von Öffnungen durch nur einen einzigen Stein entstanden sind. [Aufrissschnitt, Bleistift auf Transparentpapier, eingeklebt, mit Maßstab und Legende in Bleistift: „Grabkammerwölbung“] Zuerst wurden zwei Steine giebelförmig gegen einander gelegt, dann drei und endlich noch mehrere, so daß zuletzt regelrechte Wölbungen im Keilschnitt entstanden. [Aufrisszeichnungen, Bleistift auf Transparentpapier, eingeklebt, mit Legende in Bleistift: „Pyramidenvorhalle aus Meroë“] Das ursprüngliche Zusammenlegen im Giebel drückt sich noch in der Form des Spitzbogens aus, der auch bei Abmeiselungen der primitiven Vorkragungen zum Vorschein kommt. Alle Gewölbeformen gehören der spätesten Zeit an. [Anmerkung am linken Blattrand in Bleistift: „3 0 / 9 “]

Die früheste Zeit (bis zur 12.

Dynastie) ist dagegen gekennzeichnet durch einen noch starken Procentsatz von Formen des Holzbaues. Ein [fol.] 19. Beweis, daß selbst in dem holzarmen Ägypten in ältester Vorzeit als Vorläufer des Steinbaues der Holzbau herrschte.

In dieser Beziehung beach-

tenswert ist die Gräberstadt von Memphis. In diesen Felsengräbern (zu Benihassan) kommen Palmenstammdecken in Stein nachgeahmt vor. Ferner eine Menge Holzlattenwerk als Wanddecoration in Stein

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Wanddekoration in einem der Gräber von ­Memphis

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verwendet; an einem Grabporticus zu Benihassan auch Lattenköpfe an der Decke und ganz ähnliche Holzbauformen auch an dem Sarcophag des Menkera. Dieser Sarcophag zeigt auch das älteste Beispiel [Aufrisszeichnung in Bleistift auf Transparentpapier, eingeklebt, mit Legende in Bleistift: „Wanddekoration in einem der Gräber von Memphis“] [Aufriss- und Aufrissschnittzeichnungen in Bleistift auf Transparentpapier, eingeklebt, mit Legende in Bleistift: „Gräberstadt v. Memphis“] [fol.] 20 der Hohlkehlenbekrönung.

Ähnlich dem Meiselschnitt-Muster primitiver Arbeiten N. 1. kommen end-

lich auch noch allerlei andere Combinationen in der Ornamentik vor, welche auf Holzarbeit hinweisen. [Aufrisszeichnung in Bleistift auf Transparentpapier, eingeklebt, mit Legende in Bleistift: „Grabporticus von Benihassa[n]“]

Grabporticus von Benihassa[n]

N. 3 u. 4 von altägyptischen Wanddecorationen weisen auf textile Geflechte als Entstehungs-Grund.

Vorträge über Geschichte der Baustyle (1883–1884)

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Fig. 1–5

[1 Aufrisszeichnung und 5 Zeichnungen von Ornamentdetails, Bleistift auf Transparentpapier, eingeklebt, nummeriert: „Fig. 1−5“] Sehr zahlreich sind die Verschlingungen von Spiralen (N. 5, 6, 7, 8, 9) es sind das die Bronzespiralformen der unmittelbar vorausgegangenen prähistorischen Culturstufe.

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Fig. 6–12

Vorträge über Geschichte der Baustyle (1883–1884)

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[fol.] 21 Endlich werden auch Pflanzenformen ornamental verwendet. Diese sind dann aber niemals nach der Natur gezeichnet sondern aus dem Gedächtniß in typischer Form dargestellt, wobei bei Blumen zweierlei Formen sich geltend machen (N. 10, 11, 12) u. zw. entweder die Ansicht der Blüthe von der Seite her oder die rosettenartige volle Daraufsicht. [7 Zeichnungen von Ornamentdetails, Bleistift auf Transparentpapier, eingeklebt, nummeriert: „Fig. 6−12“]

Auch die Farbengebung ist noch höchst einfach, höchst primitiv.

[fol.] 22. Von complementären Zusammenstellungen hatte der Ägypter auch in der Praxis noch kein Gefühl. Dennoch geschieht die Aneinanderreihung der Farben nicht willkürlich nur basirt die Regel noch nicht auf so feiner Empfindung; sie hält sich vielmehr an den derbsten handgreiflichsten Effect den die Farbe macht nämlich den des Hellen und Dunkeln. Die Regel ist also, daß immer der hellen Farbe eine dunkle folgen soll und umgekehrt; ob sie sonst noch gut oder schlecht zusammen passen war dem ägyptischen Maler noch gleichgültig.

Die Farben selbst waren aber gut nämlich nicht chemisch gereinigt bis

zur Unerträglichkeit fürs Aug, sondern so, wie die Natur die darbot. In Bezug auf das Bindemittel waren den Ägyptern schon die Wichtigsten alle bekannt auch Öl- und Schmelzfarben.

Im Ganzen genommen sind uns in den zalreichen altägyptischen Monu-

menten durch die Gunst des Zufalls des Klimas u. dgl. unschätzbare Zeugnisse einer hochalterthümlichen Culturwelt erhalten deren Studium über Vieles uns aufklärt. [fol.] 23 Wichtigste Special-Literatur über Geschichte der ägyptischen Kunst.

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C. Panckoucke: Description de l’Égypte Paris 182024 Lepsius: Denkmäler aus Ägypten Berlin 1849–5625 E. Prisse d’Avennes: Histoire de l’art Egyptien, Paris 1868–77.26 Rosellini: Monumenti dell’ Egitto e della Nubia.27 Die Werke von Mariette28 über Dendérah29, Karnak30, Deir-el-Bahari31 und Abydos32. Joh. Brugsch33: Ägyptologie „ „

: Geschichte Ägyptens34

„ „

: Äg: Mythologie35

Die Werke der jüngeren Ägyptologen:

24 [Panckoucke, Charles Louis Fleury: Déscription de l’Égypte ou recueil des observations et des recherches qui ont eté faites en Égypte pendant l’éxpedition de l’armée française. Paris: Panckoucke 1820–1830.] 25 [Lepsius, Carl Richard: Denkmaeler aus Aegypten und Aethiopien nach den Zeichnungen der von dem Koenige von Preussen Friedrich Wilhelm IV. nach diesen Laendern gesendeten und in den Jahren 1842–1845 ausgefuehrten wiss. Expedition, Bd. 1–12. Berlin: Nicolai 1849–1913.] 26 [Prisse d’Avennes, Achille Constant Théodor Émile: Histoire de l’art Égyptien d’après les monuments depuis les temps les plus récules jusqu’a la domination Romaine. Paris: Bertrand 1878.] 27 [Rosellini, Ippolito: I monumenti dell’ Egitto e della Nubia disegnati dalla spedizione scientifico – letteraria Toscana in Egitto. Bd. 1–12. Pisa 1832–1844.] 28 [Auguste Mariette (1821–1881) war (bis 1881) erster Direktor der 1858 gebildeten Ägyptischen Altertümerverwaltung (Service des Antiquités).] 29 [Mariette, Auguste: Dendérah. Déscription générale du grand temple de cette ville, Bd. 1–5. Paris: Franck 1870–1880.] 30 [Mariette, Auguste: Karnak. Étude topographique et archéologique, avec un appendice comprenant les principaux textes hieroglyphiques decouverts ourécueillis pendant les fouilles éxecutees a Karnak. Leipzig: Hinrichs 1875.] 31 [Mariette, Auguste: Deir-el-Bahari. Documents topographiques, historiques et éthnographiques récueillis dans ce temple pendant les fouilles éxecutées. Leipzig: Hinrichs 1877.] 32 [Mariette, Auguste: Abydos. Description des fouilles éxecutées sur l’emplacement de cette ville. Paris: Franck 1869–1880.] 33 [Recte: Heinrich Brugsch (1827–1894) erforschte die späten Tempelinschriften und begründete die Kenntnis des Demotischen.] 34 [Brugsch, Heinrich: Geschichte Aegypten’s unter den Pharaonen. Nach den Denkmälern bearbeitet von Heinrich Brugsch-Bey. Leipzig: Rost 1877.] 35 [Brugsch, Heinrich: Mythologische Inschriften altägyptischer Denkmäler, gesammelt, übertragen und autographiert von Heinrich Brugsch. Leipzig 1884.] Vorträge über Geschichte der Baustyle (1883–1884)

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Dümichen36, Reinisch37 u. Anderer und die von Maspero38 u. E. de Rougé.39

Das Neueste der Forschung bietet fortlaufend die 1863 gegründete „Zeit-

schrift für ägyptische Sprache u. Alterthumskunde“.

Anziehende populäre Darstellungen brachten Ebers40 und Andere.

[fol.] 24. Die Assyrisch-Babylonische Bauweise. In der fruchtbaren Tiefebene von Mesopotamien – d.i. an den Flüssen Euphrat und Tigris, blühten im Alterthume auch jene beiden berühmten Reiche der Babylonier und Assyrer mit den Hauptstädten Babylon41 und Niniveh42. Von den Resten des alten Babylon ist derzeit noch wenig bekannt.

Die Ruinenhügel des alten Niniveh wurden aber aufgegraben und gewäh-

ren über das Wichtigste Aufschluß. Die heute aufgedeckten Monumente, bei

36 [Z.B. Dümichen, Johannes: Baugeschichte des Denderatempels und Beschreibung der einzelnen Theile des Bauwerkes nach den an seinen Mauern befindlichen Inschriften. Strassburg: Karl J. Trübner 1877.] 37 [Simon Leo Reinisch war mit G. Bühler ab 1887 Herausgeber der Wiener Zeitschrift für die Kunde des Morgenlandes.] 38 [Gaston Maspero (1846–1916) war ab 1881 der Nachfolger Auguste Mariettes als Direktor der Ägyptischen Altertümerverwaltung. Seine wichtigsten Werke erschienen erst nach Erstellung von Sittes Baustillehre: Maspero, Gaston: Ètudes de mythologie et d’archéologie égyptiennes. Paris 1893; Ders.: Histoire ancienne des peuples de l’Orient classique, Bd. 1–3. Paris: Hachette 1895–1899.] 39 [Rougé, Emmanuel Vicomte de: Mélanges d’archéologie Égyptienne et Assyrienne. Paris 1873.] 40 [Ebers, Georg: Aegypten in Bild und Wort. Bd. 1–2. Stuttgart: Eduard Hallberger 1879.] 41 [Babylon oder Babel (hebräisch: Bāb-ilī oder Bāb-ilānī: „Tor Gottes“ oder „Tor der Götter“), als Stadt schon in vorsumerischer Zeit gegründet. Aufstieg vor allem unter König Hammurapi (1728–1686 v. Chr.). Ausgrabungen der antiken Stadt unternahm ab 1899 Robert Koldewey (1855–1925). Seine erste zusammenfassende Darstellung erschien 1911: Koldewey, Robert: Die Tempel von Babylon und Borsippa. Leipzig: Hinrichs 1911.] 42 [Ninive, Nineve oder babylonisch-assyrisch: Ninua, griechisch: Ninos, bei Xenophon: Mespila. Antike Stadt am linken Ufer des Tigris gegenüber Mosul, besiedelt seit vorgeschichtlicher Zeit, Blüte unter König Sanherib (705–681 v. Chr.). Ausgrabungen seit 1846 unter A. H. Layard und H. Rassam und E. A. Budge ab 1888: Layard, Austen Henry: Discoveries in the Ruins of Niniveh and Babylon. London: Murray 1853; Ders.: Niniveh and its Remains. A Narrative of an Expedition to Assyria during the Years 1845, 1846 & 1847. London: Murray 1873.]

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den kleinen Ortschaften Khorsabad43, Kujundschik44 etc. gelegen, gehören der Zeit des XIII. bis VI. Jahrhunderts v. Chr. an und sind die Reste mächtiger Palastbauten. Grabstätten und andere Anlagen sind nur wenige gefunden worden.

Der große Thurmbau zu Niniveh dem im Wesentlichen sicher der aus der

Bibel her bekannte Thurm zu Babel gleichartig zu denken ist, hatte sich in seinen unteren Terassen [fol.] 25. noch erhalten. Diese Thürme zu Niniveh und Babylon waren religiösem ­Dienste gewidmet aber zugleich auch Sternwarten.

Um beide Städte zog sich eine mächtige Mauer. Die von Babylon hatte

eine Länge von 9 deutschen Meilen.

Als auffallendstes Motiv der baulichen Anlage war beiden Städten der Te-

rassenbau gemeinsam. Diese mächtigen Unterbauten waren in beiden Städten erforderlich wegen der alljährlichen großen Überschwemmungen.

Hiedurch ist aber auch manche Ähnlichkeit in der Grundrißdisposition ge-

geben.

An dem Palast zu Khorsabad ist dieser Typus deutlich zu sehen. Die ganze

Anordnung aller Räume ist schachbrettartig und die Fundamente bilden ein Netz zalreicher senkrecht auf einander stehender Mauern; alles auf einer riesigen Terasse zu der mächtige Freitreppen von großer Breite und sanfter Steigung (selbst leicht zum Reiten) emporführen.

Der vollkommene Gegensatz dieser mesopotamischen Anordnung zu dem

gleichzeitigen altägyptischen Langsystem ist auf den ersten Blick ersichtlich. Statt der Längenaxe herrscht hier das Quadrat. [fol.] 26.

43 [Chorsabad, arab.: Dur Scharrukin („Sargonsburg“): Befestigte Residenzstadt König Sargons II., erbaut 713–708 v. Chr., umgeben von 183 Türmen und 7 Toren und einer Zikkurat. Ausgrabungen ab 1842 unter P.-E. Botta und Victor Place: Botta, Paul-Emile: Monument de Ninive mesuré et dessiné par E. Flandin. Bd. 1–5. Paris: Imprimerie nationale 1849–1850. – Place, Victor: Ninive et l’Assyrie. Bd. 1–3. Paris: Imprimerie impériale 1867–1870.] 44 [Ortschaft im Bereich des antiken Ninive, an deren Stelle der Palast König Sanheribs ausgegraben wurde.] Vorträge über Geschichte der Baustyle (1883–1884)

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Palast von Khorsabad

[Grundrisszeichnung in Bleistift auf Transparentpapier, eingeklebt, mit Legende in Bleistift: „Palast von Khorsabad“]

Ebenso gleichzeitig zu einander und grundverschieden zu Ägypten ver-

hält sich die Bauweise von Babylon und Niniveh in Bezug auf Material und Construction. [fol.] 27.

Während nämlich in Ägypten ungeheure Steinmassen verwendet wurden

und ein bedeutender Quaderbau sich entwickelte, fehlt es der mesopotamischen Tiefebene selbst an Steinen zum Bauen. Somit waren die Völker hier in

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ihrer primitiven Vorentwicklung auf Lehm und Ziegelbau angewiesen, worin sie dafür aber auch Außerordentliches leisteten.

Hier sind die ersten Entwicklungs-Stufen der Ziegelbereitung am deut-

lichsten zu sehen.

Die größte Menge dieser Ziegel sind L u f t z i e g e l d.i. nur an der Sonne ge-

trocknet und nicht gebrannt. Dieß ist offenbar auch die älteste Gattung der Ziegel. Diesem Rohziegel folgte um Jahrhunderte vielleicht auch um tausend und mehr Jahre später erst die Erfindung des Brennens der Ziegel, der B a c k s t e i n .

Erst im Mittelalter wurde in Europa fast ausschließlich nur mehr der ge-

brannte Ziegel verwendet. An den römischen Bauten späterer Zeit ist der Backstein gleichfalls überwiegend. An älteren römischen Bauten waren jedoch blos lufttrockene Ziegel sehr häufig und je weiter man ins Alterthum zurück geht desto mehr verschwindet der Backstein.

Zu Babylon wurden in den Fundamenten ausschließlich Luftziegel

[fol.] 28. verwendet.

Zu Niniveh sind viele Mauern sogar nur aus gestampftem Lehm gebildet; die

Substructionen gleichfalls aus Luftziegeln, während der Backstein bei den Thürmen Anwendung fand, wo seine größere Tragfähigkeit auch in der That nötig ist. Gebrannte Ziegelplatten wurden auch zu Hofpflasterungen verwendet.

Das Material der Ziegel zeigt sich stets als sehr gut vorbereitet, alle sind

gleich groß und tragen an der Unterseite eine Legungsmarke. Die Ziegel öffentlicher Bauten erhilten den Namenszug des Königs. Zu Babylon wurden diese Marken mit einem Holzstempel eingedrückt, während sie zu Niniveh mit dem Griffel frei eingeritzt wurden.

Bemerkenswert ist noch, daß die bestgearbeitetsten Ziegel die älteren

sind, und die babylonischen Ziegel im Allgemeinen noch sorgfältiger bereitet sind als die assyrischen.

Unter die Ziegel wurden Schilfgeflechte gelegt. Auch diese sind an den

ältesten Bauten am feinsten und schönsten gearbeitet und werden gegen Verfall des Reiches immer schlechter. [fol.] 29.

Die Verbindung geschah mit Erdpech und Sand also durch Asphalt, war

also überaus solid. Vorträge über Geschichte der Baustyle (1883–1884)

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In der bündigen Legung der Ziegel sind einige Hauptregeln unserer modernen Ziegelverbände schon enthalten, obwol unsere Verbände schon durch das Format der alten Ziegel ausgeschlossen erscheint. Es waren nämlich quadratische Platten von 1 Fuß (babylonisch) Länge und 1 Fuß Breite bei verhältnißmäßig geringer Dicke. Diese quadratischen Platten wurden aber doch so gelegt, daß nicht Fuge auf Fuge kam. [Bleistiftanmerkung „Fx“] [Schematische Zeichnung, Bleistift auf Transparentpapier, eingeklebt, bezeichnet mit: „Fx“; außerhalb Beischrift in Blaustift: Babylonischer Ziegelverband]

Daß die alten Assyrer auch schon die Bedeutung der „Binder“ kannten, geht

aus einer Steinverkleidung zu Khorsabad hervor. [Bleistiftanmerkung „Fy“]

Die Mauerstärken sind stets sehr bedeutend, 1.50–1 Meter. An den Platt-

formen kommen außen auch Strebepfeiler vor. Diese Dicke der Mauern entspricht dem weichem Materiale, gab aber auch im Sommer Kühle und im Winter Wärme, was [fol.] 30. bei den schroffen Temperaturdifferenzen dieser Gegenden sehr erwünscht sein mußte.

Nächst den Wänden sind es

die freistehenden Stützen und die Decken deren Construction uns interessiren muß. [Detailzeichnung in Grund- und Aufriss, Bleistift auf Transparentpapier, eingeklebt, mit Legende in Bleistift: „Steinverkleidungs Ziegel Verband von Kohrsabad“, bezeichnet mit: „Fy“]

Merkwürdig ist, daß zu Niniveh

noch keine einzige freistehende Säule gefunden wurde. Dagegen sind aber doch Holzsäulen, wenigs­ tens inschriftlich festgestellt und kommt eine Säulengallerie, etwa

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Steinverkleidungs Ziegel Verband von Kohrsabad

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[fol.] 31. ein dreitheiliges Fenster darstellend, auf einem Relief zu [Bleistiftanmerkung „F. b“] Khorsabad vor [Aufrisszeichnung in Bleistift auf Transparentpapier, eingeklebt, mit Legende in Bleistift: „Säulengalerie Relief von Khorsabad“; bezeichnet mit: „b“]

In den Ruinen von Niniveh ist keinerlei Spur von Holzbalken zu Decken-

constructionen gefunden worden, so zwar, daß man schon glaubte, diese Räume seien überhaupt alle unbedeckt gewesen.

Für B a b y l o n (wo auch Säulen mit Diglyphen auf dem Steine des Michaux

abgebildet vorkommen) sind jedoch Holzdecken u. zw. aus: „Cedern, Cypressen, Tamarisken und wilden Pistaceen“ durch Inschriften beglaubigt. Eine dieser Inschriften, welche für das alte Babylon in allem die ganz gleiche Bauart, wie sie zu Niniveh gefunden wurde, beschreibt, lautet:

„Den Thurm, das ewige Haus, habe ich (Nebuchadnezar, König von Baby-

lon) gebaut mit Gold, Silber [fol.] 32. glasirten Ziegeln, Steinen, Bronze, Tamarisken und Cedern habe ich seine Pracht vollendet.

Das Haus des Grundsteines des Himmels und der Erde, den Urbau Baby-

lons, habe ich neu gebaut und vollendet, in Ziegeln und Marmor habe ich sein Haupt erhoben.

Wir sagen von diesem hier: den Tempel der sieben Sphären des Himmels

und der Erde, hatte ein alter König angefangen und 42 Fuß hoch erbaut, doch sein Haupt nicht erhöht. Von der Zeit der Sündflut her, war er verlassen und ohne Ordnung waren die Ableitungen der Wasser. Regen und Erdbeben hatten die Rohziegel gelockert. Die gebrannten Platten der Verkleidung waren gespalten, die Rohziegel des Kernes hatten sich in Hügel ringsum aufgeweickt. Zu seiner Herstellung feuerte M e r o d a c h * [Anmerkung in Tinte am Seitenrand links: * babyl. Gottheit45], der große Herr, mein Herz an. Ich rührte nicht an dem Platze, ich änderte nicht den Grundstein. Im Monate des

45 [Marduk, Stadtgottheit von Babylon, schließlich Hauptgott („Götterherr“), dargestellt als „Schlangengreif“ mit Löwenkörper, Adlerklauen, gehörntem Schlangenkopf, Schuppenpanzer und Schlangenschweif. Das Symboltier trägt auf den Darstellungen am Rücken einen Königsthron.] Vorträge über Geschichte der Baustyle (1883–1884)

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Glückes, am Tage des Heils fügte ich die Rohziegel des Kernes und die Brandziegel der Bekleidung zu Etagen zusammen [fol.] 33. die gewundenen Aufgänge* [* Detailskizze am Seitenrand links] erneute ich, und die Schrift meines Namens brachte ich in den Friesen der Thürme an.“ So erweist sich also der Thurm und Terassenbau und die Ziegelverwendung und noch vieles Andere zwischen Babylon und Niniveh als gleichartig. Nur in Bezug auf die Deckenconstruction scheint eine [sic!] belangreicher Unterschied bestanden zu haben und zwar wie er sich in diesen zwei Gegenden heute noch findet. Heute noch herrscht in der Gegend des alten Babel die Holzdecke während in der Gegend des alten Niniveh das Wölben mit Vorliebe gepflegt wird. Und mit Wölbungen scheint das alte Niniveh auch bereits reichlich versehen gewesen zu sein. [Aufrisszeichnung, Bleistift auf Transparentpapier, eingeklebt, daneben rechts Anmerkung mit Bleistift: „Fig.“]

Die Thore zeigen heute noch ih-

ren stattlichen Rundbogen in regelrechter Keilsteinconstruction. [fol.] 34. [Ansichtsskizze, Bleistift auf Transparentpapier, eingeklebt, mit Legende in Bleistift: „Wasserleitung (Nimrud.)“]

Eine Wasserleitung zu Nimrud46

[ Anmerkung mit Bleistift: „(F.)“] ist gleichfalls in Keilschnitt gewölbt, während

einzelne

Grabkammern

wie die von Mugheir durch Vorkragen der Schichten überdeckt sind.

Wasserleitung (Nimrud.)

46 [Kalach (hebr.) oder assyrisch: Kalchu, arabisch: Nimrud: antike Stadt am Tigris. Zeitweilig Hauptstadt Assyriens. Gegründet unter König Salmanassar I. um 1270 v. Chr., 612 v. Chr. von den Medern zerstört. Untersuchungen ab 1845 von A. H. Layard und 1852 von H. Rassam. 1949–1963 Ausgrabungen von M. E. L. Mallowan. 7 Paläste, 1 Zikkurat, 1 Ischtar-Tempel.]

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­[Anmerkung mit Bleistift: „F“ als Veweis auf Detailskizze: „Grabkammer von Mugheir F.“] Diese primitive Urform findet sich also auch hier wieder; und auch hier zeigt der Querschnitt wieder den Spitzbogen. Diese Form geht eben mit zwingender Notwendigkeit, wie von selbst, aus der Construction hervor. Würde man nämlich einen Kreisbogen durch Vorkragen erzeugen wollen, so ginge dieß schlecht, denn beim Fuße ergäben sich kaum merkliche Auskragungen, dagegen am Scheitel so starke, daß sie nicht gut ausführbar wären oder wenigstens dem Principe des Vorkragens unter allen [fol.] 35. Umständen widersprächen.

Besonders beachtenswert sind aber zwei Kanalgewölbe von Khorsabad.

Beide zeigen die g r ö ß e r e n Flächen der Ziegel im Querschnitt. [Anmerkung mit Bleistift: „F“] Als Druckflächen sind also (im Gegensatze zur modernen Construction) die schmalen Seitenflächen benutzt. Offenbar widersprach es dem constructivem Gefühle der Assyrer die Dicke der plattenförmigen Ziegel ungleich stark herzustellen was für das gleichmäßige Schwinden der Lehmziegel auch in der That ungünstig ist. [Aufrisszeichnung,

Bleistift

auf

Transparentpapier, eingeklebt, mit Legende rechts in Bleistift: „Canal von Kohrsabad“ und Anmerkung links „F“]

Die solideste Herstellung des

einzelnen Ziegels galt ihnen [fol.] 36. also mehr, als die Anforderung der Construction in Bezug auf die Druckrichtung. Bei uns ist es umgekehrt.

Das zweite der genannten Ka­

nalgewölbe ist noch bemerkenswert durch die schräge Aufstellung der einzelnen Ziegellagen [Anmerkung mit Bleistift: „(F)“], was offenbar bereits der Absicht entsprach

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Canal von Khorsabad

das Gewölbe ohne Schalung „aus freier Hand“ herzustellen; auch dieses Detail [Aufrisszeichnung, Schnitt in Seitenansicht und in Vorderansicht, Bleistift auf Transparentpapier, eingeklebt, mit Legende unten: „Canal von Kohrsabad“] [fol.] 37. der Wölbetechnik war den Assyrern schon bekannt. Sehr zalreich sind Wölbungen von Kellerräumen. [Ansichtsskizze, Bleistift auf Transparentpapier, eingeklebt, mit Legende: „Relief von Kujundschik“. Daneben am Blattrand links Anmerkung mit Bleistift: „F“].

Diese umfangreiche Verwendung des Wölbens, im Gegensatze zu Ägypten

wo nur wenige Beispiele aus später Zeit vorkommen, hängt mit dem ­Mangel des Steinmateriales zusammen, indem hiedurch der Architravbau ausgeschlossen erscheint und somit von den ältesten Zeiten an die Ausbildung des

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Wandbekleidung von einem Palastraum zu Wurka

Wölbens als schlechterdings notwendiges Auskunftsmittel begünstigt wurde. Nach alledem hat die Annahme, daß auch die oberen Stockwerke gewölbt waren, nichts Befremdendes mehr an sich. Und in der That fanden sich auch noch zwei Kuppelwölbungen erhalten undc außerdem ein Relief das einen Gebäudecomplex mit kegelförmigen und halbkugeligen Wölbungen darstellt. [Anmerkung mit Bleistift: „(F.)“] [Anmerkung am Blattrand links mit Bleistift: „ 1 4 / 1 0 8 7 “ ]

Daß die Anfänge des Wölbens zu Niniveh bis tief ins früheste Alterthum

zurückreichen, scheint auch der Umstand zu bezeugen, daß alle diese Wölbungen nicht etwa ausschließlich mit Brandziegeln hergestellt waren, sondern meist sogar aus luftgetrockneten Rohziegeln. [fol.] 38.

Trotz der so uralten Ausbildung des Wölbens und seiner reichlichen An-

wendung finden sich auch hier an ältesten Werken Nachbildungen von Holzconstructionen, welche zeigen, daß auch hier der Ausbildung des Ziegelbaues eine Periode des Holzbaues voran gegangen ist. Das bedeutendste Zeugniß [Detailzeichnung in Aufriss und Grundriss, Bleistift auf Transparentpapier, eingeklebt, mit Legende in Tinte: „Wandbekleidung von einem Palastraum zu Wurka“47, unten links mit Bleistift Anmerkung: „F“] hiefür ist eine Wandbekleidung von Wurka. [Anmerkung mit Bleistift: „F.“] Offenbar ist die

47 [Wurka oder Warka: Dorf an der Ruinenstätte von Mugheir am rechten Ufer des Euphrat. Lübke, Wilhelm: Geschichte der Architektur von den ältesten Zeiten bis zur Gegenwart. Bd. 1. Leipzig: Seemann 1884, S. 40, Fig. 35.] Vorträge über Geschichte der Baustyle (1883–1884)

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­eigenthümliche Form derselben nichts anderes als die Nachahmung einer Pfahlwand und solche Pilotenreihen, solche Pfahlwände müssen in noch älterer Zeit daher üblich gewesen sein.

Was nun die Detailbildung anlangt, so wurde diese häufig mit der Profili-

rung an ägyptischen Bauten verglichen. Der Unterschied ist aber ganz deutlich.

Die Wände sind nicht geböscht, sondern senkrecht. Die Bekrönung der

Wände zeigt theilweise allerdings [fol.] 39. eine der ägyptischen Mauerkrone ähnliche Anordnung, aber doch mit durchgehenden Veränderungen. [Aufrisszeichnung eines Profildetails, Bleistift auf Transparentpapier, aufgeklebt. Rechts unten Anmerkung: „F“]. Der Rundstab geht nämlich niemals senkrecht an der Mauerkante herab und die Kehle ist in ganz anderer Linie eingezogen. Rundstab, Kehle und Platte sind aber auch hier wieder die spärlichen Elemente zur Profilirung und mit diesen wenigen Elementen läßt sich eine andere Combination gar nicht bilden denn die Kehle eignet sich nur für die Stellung in der Mitte, die Platte am besten für oben der Rundstab am besten für unten. [Aufrisszeichnung eines Details, Bleistift auf Transparentpapier, eingeklebt, mit Legende: „Brüstungsmauern aus Khorsabad“]

Daß aber den Assyrern keine größere Auswahl von Profilelementen zu

Gebote stand zeigt wieder ihre Stellung als an der Schwelle der Kunstentwicklung stehend.

An den Umfassungsmauern kommt noch eine einfache Zinnenbildung

durch Abtreppen vor; als Sockelbildung nur gerade Unterlagsplatten.

Die S förmige Symaform kommt in den Profilirungen noch nicht vor, son-

dern nur an einem [fol.] 40. Kapitäl, das jedoch wieder in seiner Gesammterscheinung durchaus nicht mit einem ägyptischen Lotoskapitäl übereinstimmt. [Aufrisszeichnung mit Tinte, Anmerkung mit Bleistift: „F.“]

Die figuralen Darstellungen sind (wie in Ägypten) an die Architektur ge-

bunden aber durchaus eigenartig; am Auffallendsten darunter: die Portalfiguren. Es sind Stierkörper mit Flügeln, bärtigen Männerköpfen mit [eingefügt in Tinte: „der“] königlichen Mitra als Kopfbedeckung. [Ansichtsskizze, Bleistift auf Transparentpapier, eingeklebt. In der Mitte: Anmerkung: „F.“]

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Also eine symbolische Vermengung von Menschen und Thierformen die lebhaft an die ägyptischen Sphinge erinnert, aber doch in Allem und Jeden anders gestaltet erscheint. [Anmerkung mit Bleistift: „F“] [Folgender Abschnitt bis Ende des Absatzes ist mit Bleistift gestrichen: „Sie sind in Relief gearbeitet und da vorne zwei Ansichten über Eck zusammenstoßen, so entsteht die sonderbare Eigenthümlichkeit von drei Vorderfüßen.“]

In ganz flachem aber scharf geschnittenem Relief kommen eine Menge

figurale Darstellungen auf Alabasterplatten als Wandverkleidung vor. Die Alabasterplatten, die auch als [fol.] 41. Bodenpflasterungen verwendet wurden, haben eine Dicke von circa 15 cm und Breiten u. Längendimensionen von 1 bis zu 4 Metern.

Außerdem wurden die Wände auch mit Gipsmörtel verputzt und darauf

mit Wachsfarben (Enkaustik)48 oder mit Kalkfarben (Fresco) gemalt. Die figuralen Darstellungen sind überall mit zalreichen Inschriften gepaart. [Detail­ aufrisszeichnung, Bleistift auf Transparentpapier, eingeklebt, rechts unten Anmerkung: „F“] Die Ornamentik besteht aus: geraden Bändern, Nachbildungen von Zinnen, typischen Rosetten seitlich dargestellten Knospen oder offenen Blumenkelchen und primitiven Rankenbewegungen Spiralen und Riemengeflechten. [Anmerkung mit Bleistift: „F“]

48 [Enkaustik, antike Maltechnik, bei der Pigmentfarben mit Wachs verschmolzen und mit Pinseln bzw. erhitzten Metallspachteln (cauteria) heiß aufgetragen werden.] Vorträge über Geschichte der Baustyle (1883–1884)

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Eine hervorragende Rolle spielt die Wandverkleidung mit glasierten Thonplatten, Fliesen. [Aufrisszeichnung, Bleistift auf Transparentpapier, eingeklebt]

In dieser Technik waren die alten Assyrer Meister, denn die Glasur ist bereits

Zinnemail, also gleich unserer Majolika und hergestellt wurden ganze Gemälde in dieser Weise. Die Platten wurden am Boden liegend bemalt, dann

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[fol.] 42. auseinander genommen und gebrannt und zuletzt wieder nach der auf der Rückseite angebrachten Numerirung zum Gemälde zusammengesetzt. Abgesehen davon, daß eine andere Art der Herstellung kaum denkbar wäre zeigt die in die Fugen hineingeflossene Farbe noch heute unwiderleglich diesen Vorgang an.

Die Farben dieser Platten sind: weiß, gelb, blau und braunroth; Farben

welche der Majolikatechnik auch in der neueren Zeit eigenthümlich sind, weil andere Farben in Zinnemail nur schwer oder gar nicht zubereitet werden können. Aber auch die sonstigen Malereien der Assyrer weisen diese beschränkte Palette auf, die also an Reichthum hinter derjenigen der Ägypter zurücksteht dafür aber durch geschlossene Einheit wirkt.

Also auch auf dem Gebiete der Decoration bildet ein einigendes Band die

alles übrige beherrschende Verwendung des Thonmateriales. Bedenkt man, daß allenthalben gebrannte Töpfe viel früher bei Urvölkern vorkommen als gebrannte Bauziegel, so drängt sich folgende Reihe auf: Zuerst gab es gebrannte Töpfe bei welchen das Erhärten [fol.] 43. des Thones durch Brennen sich beim Herdfeuer wie von selbst ergab; waren ja urälteste Thongefäße zuerst mit Lehm ausgeschlagene Bastkörbe oder Weidengeflechte von welchen am Herdfeuer die Basthülle wegbrannte und der Thonkern als gebranntes festes Gefäß übrig blieb [Markierung mit Bleistift: „+“].

Dem erfolgten viel später erst die gebrannten Fließen und dann erst,

nachdem vorher blos das Aufbrennen der Glasur erstrebt wurde, bemerkte man wie hiebei auch eine Festigung des Lehmsteines entstand die auch an und für sich, abgesehen von der Bemalung, wertvoll sei. Daß wirklich auf diesem langen Umweg so mühevoll das Ziegelbrennen erfunden wurde, lehren gleichfalls die Ruinen von Niniveh. Es fanden sich nämlich zahlreiche Lehmsteine die nur an der bemalten Seite gut ausgebrannt sind und dieser Umstand lehrt, daß die Absicht hiebei nicht das Härten des Ziegels, sondern lediglich das Einbrennen [fol.] 44. der Glasur war und dass dementsprechend auch die Heizung eingerichtet war. Vorträge über Geschichte der Baustyle (1883–1884)

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Nebst der Thonindustrie ist es vornehmlich die Textilindustrie, welche ihre

Formen der Decoration leiht. Allerlei Teppichmuster werden in Wandmalereien verwendet und allerlei Posamentrien, reiche Fransenbehänge und Quas­ ten kommen häufig vor. [Anmerkung mit Bleistift: „F.“] Wichtigste Litteratur: V. P l a c e : Niniveh et l’Assyrie avec les essais de restauration par M. F. Thomas Paris 1866.49 J . F e r g u s s o n The Palaces of Niniveh and Persepolis restored. London 1851.50 A . H . L a y a r d : Niniveh and its Remains London 184951 P. E . B o t t a e . E . F l a n d i n : Monument de Niniveh. Paris 1849.52 [fol.] 45. Die Bauten der Perser Die Bauten der Perser gehören der Zeit des VI. bis IV. Jahrhundertes v. Chr. an. Da die Perser die Herrschaft über die ehemaligen Länder von Babylon und Assyrien antraten, ist es nicht zu verwundern, daß auch ihre Bauweise die Erbschaft dieser altmesopotamischen Cultur aufweist. Die Bedingungen des Bauens sind aber doch nicht ganz die gleichen geblieben. Die frühzeitige lebhaftere Berührung mit Vorderasien etc. die jüngere Zeit mit ihrem Drang nach Neuerung und Fortschritt über das Alte hinaus, bleiben nicht ohne Wirkung. Auch das Baumaterial hat sich theilweise geändert, indem mehr Steinmaterial den in den Bergketten gelegenen Perserstädten zur Verfügung stand. [Detailskizze, Bleistift auf Transparentpapier, eingeklebt, mit Legende in Tinte: „Unregelmäßiges Quaderwerk von der Plattform zu Persepolis“]

49 [Place, Victor: Ninive et l’Assyrie. Bd. 1–3. Paris: Imprimerie impériale 1867–1870.] 50 [Fergusson, James: The Palaces of Nineveh and Persepolis Restored. An Essay of Ancient Assyrian and Persian Architecture. London: Murray 1851. James Fergusson (1808–1886): schottischer Architekt und Bauforscher.] 51 [Layard, Austen Henry: Niniveh and its Remains. With an account of a visit to the Chalda­ rean Christians of Kurdistan. London: Murray 1849.] 52 [Botta, Paul-Emile: Monument de Ninive mesuré et dessiné par E. Flandin. Bd. 1–5. Paris: Imprimerie nationale 1849–1850.]

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Unregelmäßiges Quaderwerk von der Plattform zu Persepolis

Beispiele von mächtigem Quaderbau fanden sich zu P e r s e p o l i s 53, einer der Hauptstädte des weitgedehnten Reiches. Das gesamte Ruinenfeld von Persepolis ist bedeckt mit Überresten von Steinconstructionen, bei welchen [fol.] 46. der Marmor in ausgedehnter Weise Verwendung fand. Säulen, Sockelstücke, Ecksteine und Thürgewände sind es hauptsächlich welche die Verwendung des festen Steinmateriales vor Allem zum Schutze der Öffnungen und Kanten des Mauerwerkes darthun.

Alles Füllmauerwerk und alle Wände sind verschwunden, sie waren also

zweifellos aus Luftziegeln. 53 [Persepolis, altpers.: Pārsa, antike achämenidische Königsresidenz 60 km nordöstlich von Schiras, gegründet von König Dareios I. Hauptbauzeit 518 – um 460 v. Chr. Befestigte Terrassenanlage, „Hundertsäulenhalle“ erbaut von Artaxerxes I. Texier, Charles: Description de l’Armenie, la Perse et la Mesopotamie publiée sous les auspices des ministres de l’interieur et de l’instruction publique. Paris: Didot Frères 1842; Flandin, Eugène / Coste, Pascal: Voyage en Perse pendant les années 1840 e 1841. Paris: Baudry 1851.] Vorträge über Geschichte der Baustyle (1883–1884)

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Grundriss der Palasttrümmer von Persepolis



Auch Gewölbe und sonstige Deckenconstructionen haben sich nirgends er-

halten. Nach den Grundrißanlagen von Persepolis dürfte dort aber die horizontale Holzdecke fast durchgängig angewendet gewesen sein. Alle Räume sind [Grundrissplan, Bleistift auf Transparentpapier, eingeklebt, mit Maßstab und Legende in Blockschrift: „Grundriss der Palasttrümmer von Persepolis“;

„A. Doppeltreppe ca. 7 ½ M. breit. B. Propylaeon. C. Sammelbecken für

die Abzugskanäle. D. Doppeltreppe zur oberen Terrasse. E. Säulenhalle (Halle des Xerxes), die Säulen ca. 20 M. hoch mit 8 M weiten Intercolumnien F. Palast des Darius.54 G. Palast des Xerxes.55 H. Säulenhallen. K. Propylaeon, von 4 Säulen und 4 Paar Pfeilern L. Vermuthlich eine ältere Palastanlage. M. Die Hundertsäulenhalle, vermuthlich der Harem.“]

54 [Dareios I. der Große (altpersisch: Dârajawahusch: „der das Gute bewahrt“), 550–486 v. Chr., persischer Großkönig der Achämenidendynastie, regierte 522–486 v. Chr.] 55 [Xerxes (altpersisch: Chschajarscha: „herrschend über Helden“), 519–465 v. Chr., persischer Großkönig, Sohn des Dareios I., regierte 486–465 v. Chr.]

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[fol.] 47. nämlich dort mit Säulenresten bedeckt. Einer der beachtenswertesten Theile dieser Palastanlage ist die Halle des Xerxes, genau im Quadrat angelegt, mit 6 x 6 Säulen von welchen noch 13 aufrecht stehen und die Stellung der Übrigen durch ihre Basen genau bestimmt ist. Der größte genau quadratische Raum (der Hundertsäulensaal) hatte 10 x 10 Säulen. In anderen rechteckigen Räumen und auch Vorhallen war die Decke getragen von 4 x 4 von 5 x 6 von 6 x 6 von 2 x 6; 2 x 8 und 2 x 2 Säulen.

Alle diese Säulenhallen stehen zu einander parallel, wodurch eine der alt-

mesopotamischen ganz ähnliche Gesammtanlage sich ergibt. Die Ähnlichkeit mit der assyrischen und babylonischen Anlage wird noch vervollständigt durch den großartigen Terassenbau (der zu Persepolis hauptsächlich zur Plani­ rung des Terrains diente) und durch die breiten (7.5 m.) Freitreppen. [Planzeichnung in Grundriss und Auf­ riss, Bleistift auf Transparentpapier, eingeklebt. Legende in Tinte: Persepolis. In Bleistift: Grundriss der großen Treppe Aufriss]

Das meiste Interesse gebührt je-

doch den erhaltenen Säulen. Es sind [fol.] 48. in Stein ausgeführte Holzsäulen, die somit sicher manche Formen der älteren Holzsäulen, wie sie auch zu Babylon und Niniveh einst bestanden haben, uns überliefern. Der Character der Holzsäule ist unverkennbar bewahrt in ihrer für Stein ungewöhnlich schlanken Proportion. Sie haben bei 1.5 m Durchmesser 19.5 m Höhe also 13 Durchmesser Höhe. Ferner in ihrer weiten Achsenstellung, welche in der Halle des Xerxes, der alle diese Maße entnommen sind, 7.7 m

Säule aus Persepolis aus der Halle des ­Xerxes

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­beträgt. Endlich in der Form der Kapitäle, deren oberster Theil (die Stiere oder Einhörner) constructiv nichts anderes sind als das Sattelholz der Holzsäulen mit seiner starken einseitigen Ausladung und den Durchzügen der Holzdecke in der Mitte. [Aufrisszeichnung, Bleistift auf Transparentpapier, mit Legende in Tinte: „Säule aus Persepolis aus der Halle des Xerxes“]

Außer diesen Eigenschaften ist noch bemerkenswert die Anbringung

senkrecht gestellter Voluten unter den genannten Thieren und das [fol.] 49. alte Posamentriemotiv des Tressenbehanges unter diesen Voluten und am Fuß der Säule. Der bereits schön verjüngte Schaft ist mit 40 bis 52 Cannelen versehen. [Aufrisszeichnung, Bleistift auf Transparentpapier, eingeklebt. Legende: „Persische ‚Gebälkordnung Von den Königsgräbern’“]

Die in Felsrelief dargestellten Säulen der Königsgräber sind nicht canne-

lirt, geben aber einigen Aufschluß über das persische Gebälk. Dieses ist bereits reicher gegliedert als zu Niniveh indem schon zahnschnittähnliche Formen und eine ausgesprochene Architravbildung aus übereinander schwach vorspringenden Streifen vorkommen. Dieselben Architravglieder ziehen sich auch als Zierrahm an den Gewänden und dem Sturz der Portale herum [Anmerkung mit Bleistift: „F.“] [Aufrisszeichnung eines Details, Bleistift auf Transparentpapier, eingeklebt. Legende: „Säulenbasis aus Pasargadä“]

An der Säulenbasis kommt schon Wulst, Plättchen und Anlauf vor und

(wie zu Pasargadä) auch ein kleiner Rundstab über großem cannelirtem Wulst. [Anmerkung mit Bleistift: „F“] [fol.] 50. [Bleistiftanmerkung am linken Blattrand oben: „12/11 87“]

Diese Formen erinnern lebhaft an die griechische Profilirung. Es ist auch

möglich, ja vielleicht wahrscheinlich, daß sie thatsächlich aus Vorderasien zu den Persern gekommen sind. Die Perser waren ja Eroberer, welche mit den unterworfenen Ländern auch die Kunstformen derselben miterwarben.

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[Profilzeichnung in Aufriss, Bleistift auf Transparentpapier, eingeklebt, da­ rauf Aufschrift: „II F K,“ unterhalb des eingeklebten Transparentpapiers Legende in Tinte: „Profile vom Grab des Cyrus zu Pasargadae“56]

Es ist aber auch schon behauptet worden, daß umgekehrt die Griechen

ihre Grundformen aus Asien (und selbst aus Ägypten) her bezogen hätten. Thatsache ist sicher das Eine, daß die Profilirung der persischen Zeit um einen Schritt weiter vorgerückt erscheint im Vergleich zu der ganz primitiven von Niniveh. [Profilzeichnung in Aufriss, Bleistift auf Transparentpapier, eingeklebt, Legende in Tinte: „Portalbekrönung aus Persepolis“, in Bleistift: „F 3“]

Zu den Grundformen: Rundstab,

Viertelkehle und Plättchen tritt nämlich noch die S förmige Combination des Herzblattstabes in eigentlicher Verwendung als Gesimsglied, [fol.] 51.

Portalbekrönung aus Persepolis

und die Combinationen dieser nunmehr completen Grundformen werden gleichfalls zalreicher, ohne aber auch nur im Entferntesten den Reichthum der griechischen Profilirung zu erreichen. [Anmerkung mit Bleistift: „F 1“] Als neue stetig vorkommende Combinationen sind zu verzeichnen: 1. Die vorkragungsartigen Streifen der Architrave 2. Die Verwendung der Viertelkehle als ausgesprochener Anlauf und Ablauf. Diese letztere Combination war übrigens vorgebildet in den assyrischen Bekrönungen, welche an den Portalen beibehalten wurden.

Also im Ganzen nur e i n e neue Grundform und nur z w e i neue Com-

binationen und alles schon förmlich spruchreif vorgebildet. So viel eigene

56 [Pasargadai (altpersisch: Parsa gada: „Perserlager“), persische Residenzstadt, gegründet von König Kyros II. um 550 v. Chr. Ruinen beim Dorf Mâdar-i Sulaimân in der iranischen Provinz Fars. Grabmonument König Kyros II. des Großen (reg. 559–530 v. Chr.)] Vorträge über Geschichte der Baustyle (1883–1884)

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Phantasie könnte eventuell den Persern selbst auch zugetraut werden, zumal dieser logische Fortschritt mit anderen Weiterentwicklungen der Baukunst zusammenhängt, welche den persischen Bauleuten sicher selbst zukommen, nämlich: die Übertragung einiger bisher immer nur bemalter Decorationen (z. B. am Rundstab der Portalbekrönung von Pasargadä) in Plastik; und die Durchführung [Bleistiftanmerkung: „(F 3)“] [fol.] 52. durchgängig schlankerer freierer Verhältnisse bei Portalöffnungen und Allem, eine Erscheinung, welche der Stylentwicklung aller Kunstperioden aller Völker gemeinsam ist. Diesem allgemein giltigen Gesetze der Stylentwicklung folgten, wie unter dem Zwange eines Naturgesetzes stehend, auch die Erbauer der persischen Denkmäler und hierin waren sie der Zeit nach den Griechen voran.

Was die Ausschmückung der persischen Bauwerke betrifft, so kann dar-

über wenig gesagt werden, weil sich fast nichts erhalten hat. Nur an den Terassenwänden sind figurale Darstellungen in Reihenform und schichtenförmig über einander erkennbar, also eine Anordnung, welche mit der von Niniveh übereinstimmt.

Von den erhaltenen Monumenten sind noch die Gräber zu nennen. Diese

waren p y r a m i d e n f ö r m i g e F r e i b a u t e n , also nach der Urform des Grabhügels gebildet, wie das sogenannte Grab des Cyrus [Anmerkung mit Bleistift: „F“]; oder F e l s g r o t t e n bestehend aus einer verschlossenen einfachen Grabkammer und davor einer [fol.] 53. im Relief decorirten kleinen Felsennische einer Art Vorhalle oder Kapelle. Diese kommen reichlich vor an einer großen Felswand in der Nähe von Persepolis. Das Wichtigste unter ihnen ist das Grab des Darius57 dessen Decoration aus einer der schon erwähnten Säulenstellung mit Gebälk, einer Scheinthür

57 [Felsengrab Dareios I. in Naqsh-i Rustam. Über einer aus der Felswand herausgearbeiteten Säulenfront, die die Fassade des Königspalastes Dareios I. in Persepolis darstellt, erstreckt sich ein Figurenrelief, das den König umgeben von seinen Völkern zeigt. Rechts vom Grab des Dareios I. befindet sich das Grab Xerxes I., links die Felsgräber von Artaxerxes I. und Dareios II., alle nach dem Vorbild des Grabes Dareios I. des Großen.]

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in der Mitte und darüber dem Reliefbild des Königs über seinem Sarkophag besteht. [Anmerkung mit Bleistift: „(F.)“] Wichtigste Literatur. E. Flandin et P. Coste. Voyage en Perse Paris 1841.58 [fol.] 54. Die Baukunst der Griechen Das Gebiet der griechischen Baukunst muß in räumlicher und zeitlicher Ausdehnung so weit angenommen werden, als die griechische Sprache reichte. Zu dem eigentlichem Griechenland gehört in diesem Sinne noch die Ostküste Kleinasiens sammt allen Inseln des griechischen Meeres, auch die Colonien an den Küsten des schwarzen Meeres, so wie in Unteritalien (Großgriechenland) und auf Sicilien. Mögen die Völkerschaften, welche auf diesem Gebiete im Alterthume so Großes leisteten, nun ganz von einerlei Abstammung gewesen sein oder auch mehr weniger verschieden; soweit sie griechisch sprachen, haben sie auch griechisch gedacht und gefühlt, auch griechisch gebaut.

Die gerade den Griechen eigenthümliche Empfindungsweise auf dem

Gebiete der Kunst besteht hauptsächlich in einer außergewöhnlichen Feinfühligkeit für alles Harmonische. [Anmerkung am linken Seitenrand in Tinte: „für das Kαλόν“] Einklang der Farben und der Formen in Bezug auf Proportion, Symmetrie, Massenvertheilung, Linienführung etc. kurz die Herstellung alles dessen, was das Aug des Beschauers [fol.] 55. mit Wolgefallen erfüllt, war ihnen in so hohem Grade Bedürfniß, daß die ganze Entwicklung ihrer Kunst diesem Ziele unverrückt entgegenstrebt. Hierin erreichten sie auch einen solchen Grad der Vollendung, daß sie in dieser einen Eigenschaft unübertroffen dastehen und [Einfügung mit Bleistift: „vor allem auch wie ihre D …“ (möglicherweise: Dramen) „so auch“] ihre Bau­ werke heute noch als Muster reinster Harmonie studirt werden.

Aber auch sonst waren die alten Griechen von der Natur in hohem Grade

begünstigt, so daß sie auch in jeder anderen Beziehung in der Construction, 58 [Flandin, Eugène/Coste, Pascal: Voyage en Perse pendant le années 1840 et 1841. Paris: Baudry 1851.] Vorträge über Geschichte der Baustyle (1883–1884)

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in Mannigfaltigkeit und Durchbildung des Ornamentalen ja in fast allen Küns­ ten und Handwerken eine höhere Stufe der Ausbildung erreichten wie die bisher betrachteten Culturvölker in Asien und in Ägypten.

Schon ihr schönes Heimatland, das im Alterthum noch reich bewaldet,

bewässert und bevölkert war im Gegensatze zu der heutigen Verödung, bot ihnen die günstigsten Vorbedingungen zu reger Entwicklung; reichliche Baumaterialien: Harte und weiche Hölzer aller Art, von südländischen Gewächsen bis zu den stämmigen Eichen der hohen Gebirgszüge im Norden; alle wichtigen Metalle, darunter besonders Silber in Menge; und eine Fülle der herrlichsten Marmorgattungen in verschiedensten Farben und Härtegraden für die mannigfachsten Bauzwecke [fol.] 56. geeignet. Also schon in der von Natur aus gegebenen Mannigfaltigkeit der Baumaterialien ist dieses bevorzugte Land Mesopotamien und dem Nilthale voraus; noch mehr aber durch seine reiche Küstengliederung, deren zahllose Buchten Schiffahrt und Handel begünstigten, und durch günstige Lage der Gebirgszüge, durch Klima und Vegetation.

Auf diesem wie zur Culturentwicklung geschaffenen Boden, spielte sich

denn auch in der That in rascher Folge eine reiche Geschichte ab. Zahlreiche kleine Staaten aber voll Lebenskraft und Beweglichkeit entstehen und die Hauptstädte derselben sind ebenso viele Sitze der Kunstpflege. So ragen unter anderen M y k e n e und Tr o j a 59 aus dem Zwielichte der sagenhaften Urgeschichte Griechenlands hervor; während in der Zeit vor den Perserkriegen schon eine stattliche Reihe von Städten mehr weniger hervorragende Bedeutung errungen hatten wie: A t h e n , S p a r t a , K o r i n t h , A r g o s 60, T h e b e n ,

59 [Troia, bei Homer: η Ιλιος, antike Siedlung an der Nordwestküste Kleinasiens, von Heinrich Schliemann beim Dorf Hisarlik identifiziert. Früheste Besiedlung 1. Hälfte d. 3. Jahrtausends v. Chr. Bis um 1100 kontinuerliche Besiedlung des Burgberges, danach 3½ Jahrhunderte verlassen. Um die Mitte des 8. Jh. v. Chr. Neubesiedlung unter dem Namen Ilion durch äolische Griechen. 204 v. Chr. Bündnis mit Rom.] 60 [Αριος, antike Hauptstadt der ostpeloponnesischen Landschaft Argolis. In mykenischer Zeit erhob sich auf dem Berg Larissa eine Burg. Hauptbedeutung in archaischer Zeit im 7. Jh. v.  Chr. Bis ins 5. Jh. v. Chr. Königsherrschaft, danach demokratische Verfassung. Heimatstadt des Bildhauers Polyklet. Geringe antike Reste in der gleichnamigen modernen Stadt.]

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M e g a r a 61, S i k y o n 62 u. andere. Aber auch in den Kolonien blühten mächtige Städte wie in Unteritalien Ta r e n t 63 u. P ä s t u m 64 und in Sicilien: S y r a k u s 65, S e l i n u n t 66, A k r a g a s (Girgenti)67, M e s s i n a 68, Ta o r m i n a 69, E g e s t a 70 etc. 61 [Μεγαρα, antike Stadt auf der Landbrücke zwischen Mittelgriechenland und der Peloponnes. Von Argos aus besiedelt. Hauptbedeutung in der archaischen Zeit. Von Megara ging die Kolonisation von Selinus, Byzanz, Kalchedon, Herakleia am Pontus u.a. aus. 461 v. Chr. Anschluss an Athen. Geringe antike Reste in der gleichnamigen modernen Stadt.] 62 [Sikyon, Nachbarstadt von Korinth. Helladische Siedlung, seit 510 v. Chr. mit Sparta verbündet. Heimatstadt berühmter Künstler wie Polyklet und Lysipp. Aus römischer Zeit erhalten sind Theater, Buleuterion, Stoa und Gymnasium.] 63 [Tarentum, antike Hafenstadt an der Westküste Kalabriens. Kulturelle Beziehungen zu Mykene seit ca. 1200 v. Chr., Kolonisierung durch Sparta um 700 v. Chr. Seit 272 v. Chr. römisch.] 64 [Poseidonia, antike Hafenstadt an der Westküste Italiens am gleichnamigen Golf in Lukanien an der Mündung des Silaros. Im 7. Jh. v. Chr. von den Sybariten oder Dorern gegründet. 273 v. Chr. latinische Kolonie Paestum. Erhalten sind vier große und mehrere kleine Tempel, das Kapitol, Theater, Amphitheater und Thermen.] 65 [Σνρακονσαι, antike Hafenstadt in Ostsizilien. Gründung durch korinthische Siedler im Jahr 733 v. Chr. Artemisheiligtum auf der Insel Ortygia. Die archaische Stadt umfasste 125 ha. 414/413 durch die Athener belagert. Um 400 die größte Stadt der griechischen Zivilisation. 212 v. Chr. von den Römern erobert. Unter römischer Herrschaft Hauptstadt Siziliens.] 66 [Selinus [Σελινοσυσιος, Σελινοσυντιος], antike Hafenstadt in Südwestsizilien, im Bereich der heutigen Ortschaft Selinunte. Um 651 v. Chr. von den Megarern gegründet. Zeitweilig unter der Oberhoheit von Karthago. Blütezeit im 5. Jh. v. Chr. 250 von den Puniern zerstört. Erhalten sind acht dorische Tempel, die Akropolis und umfangreiche Nekropolen.] 67 [Agrigent, antike Stadt in Südwestsizilien, heute von der modernen Stadt Agrigento großteils überbaut. Das Areal von ca. 625 ha war von einem Mauerring von 10 km Länge umschlossen. Die von Rhodos aus um 600 v. Chr. gegründete (dorische) Stadt war nach Syra­ kus die mächtigste griechische Stadt in Sizilien; 406 v. Chr. wurde sie von den Karthagern und 210 v. Chr. von den Römern erobert. Erhalten sind 10 dorische Tempel durchwegs aus dem 5. Jh. v. Chr.] 68 [Messana, Messene, antike Hafenstadt in Nordostsizilien an der Meerenge gegenüber von Kalabrien. Der Hafen Zankle war schon lange vor der griechischen Kolonisation besiedelt. 756 von Joniern neu begründet. 395 v. Chr. Kolonie von Syrakus, im 1. Punischen Krieg auf Seite Roms, danach civita foederata und römischer Flottenstützpunkt. Die antiken Reste im Gebiet der heutigen Stadt Messina sind unbedeutend.] 69 [Tauromenion (griech.), antike Stadt an der Ostküste Siziliens, im Bereich der heutigen Stadt Taormina. 396 v. Chr. vom Karthager Himilkon als befestigte städtische Siedlung der sikelischen Bevölkerung geründet und bald danach zu Macht und Reichtum gelangt. Im 3. Jh. v. Chr. civitas foederata der Römer, ab 21 v. Chr. römische Kolonie. Bedeutende antike Bauten sind das hellenistische, in der Römerzeit umgebaute Theater, die Naumachie, das Odeion, das Gymnasium und die Thermen.] 70 [Segesta, antike Stadt der Elymer in Westsizilien westlich von Alcamo; nach der Sage eine Vorträge über Geschichte der Baustyle (1883–1884)

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[fol.] 57. [Bleistiftanmerkung am linken Blattrand oben: „11/11 86“]

So ist denn die Entwicklung hier überhaupt eine reiche und mannigfal-

tige in jeder Beziehung und damit steht der Fortschritt in der Baukunst in Einklang.

Sehr deutlich zeigt sich derselbe gleich bei Betrachtung der Profilirun-

gen. Während Ägypter und Assyrer nicht einmal alle fünf Grundformen erreichten, bilden diese in der vollendeten griechischen Bauweise die Elemente mannigfacher, wohlgegliederter Gesimse. Auch die Profilelemente selbst sind streng systematisch durchgebildet. [Bleistiftanmerkung am linken Blattrand: „21/11 87“]

1 . Der R u n d s t a b . Dieser ist niemals wie in der neueren Baukunst ein

halbkreisförmiger Wulst sondern in seinem Querschnitt immer schräg gezogen u. zw. entweder nach abwärts wie in Fig. 1 oder nach aufwärts wie in Fig 2. u. 3. also im Sinne einer schrägen Leitlinie (A, B) geformt, wodurch auch ein allmäliger Übergang vom Rundstab [Profilzeichnung, Bleistift auf Transparentpapier, eingeklebt, Legende: „vom choregischen Monument des Lysikrates in Athen. Corinthisch.“ Mit Tinte Angabe einer Schnittlinie „A B“ und die Anmerkung „Fig 1.“] [Profilzeichnung, Bleistift auf Transparentpapier, eingeklebt. Mit Tinte Angabe einer Schnittlinie „A B“ und die Anmerkung „Fig 2.“ Legende unterhalb des eingeklebten Trans-

Fig. 1. vom choregischen Monument des Lysikrates in Athen. Corinthisch

parentpapiers mit Tinte: „Vom Tempel der Athenae Polias. altjonisch“ ] [Rechts daneben: Profilzeichnung, Bleistift auf Transparentpapier, eingeklebt. Beschriftet mit Tinte: „Fig. 3.“ Legende unterhalb des eingeklebten

troische Gründung. Segesta widersetzte sich der griechischen Landnahme und war mit Karthago verbündet. Im 1. Punischen Krieg wechselte es auf die Seite der Römer. Sehr gut erhalten sind der dorische Tempel aus der 2. Hälfte des 5. Jh. v. Chr. und das Theater aus hellenistischer Zeit. Zur Zeit erfolgen Ausgrabungen.]

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Fig. 3. Vom Tempel der Hera auf der Insel Samos. jonisch

Fig. 2. Vom Tempel der Athenae Polias. ­altjonisch

Transparentpapiers mit Tinte: „Vom Tempel der Hera auf der Insel Samos.71 jonisch.“] [fol.] 58. zum Viertelstab sich herausstellt.

2. Der V i e r t e l s t a b gibt die Richtung der geraden Leitlinie noch deutli-

cher wieder. Während der Rundstab hauptsächlich bei Säulenfüssen u. überhaupt bei Fußgesimsen verwendet erscheint, findet sich der Viertelstab meist bei Kehl- und Kranzgesimsen, wie es auch der Natur dieser Gesimsglieder am besten entspricht. [Profilzeichnung, Bleistift auf Transparentpapier, eingeklebt. Beschriftet mit Tinte: Angabe einer Schnittlinie „A B“ und die Anmerkung „Fig 4.“ Legende unterhalb des eingeklebten Transparentpapiers mit Tinte: „Von den Propyläen zu Eleusis.72 (jonisch)“]

Fig. 4. Von den Propyläen zu Eleusis (jonisch)

71 [Das Heraion von Samos war ein Dipteros von 52,4 x 108,7 m Seitenlänge, erbaut von Polykrates nach 321 v. Chr. Er galt als eines der Sieben Weltwunder.] 72 [Die „Kleinen Propylaeen“ von Eleusis wurden um 50 v. Chr. von Appius Claudius Pulcher erbaut. Eleusis in Attika, 21 km westlich von Athen, besaß ein berühmtes Mysterienheiligtum.] Vorträge über Geschichte der Baustyle (1883–1884)

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[Darunter: Profilzeichnung,,Bleistift auf Trans­ parentpapier, eingeklebt. Anmerkung mit Tinte: „Fig 5“ Legende unterhalb des eingeklebten Transparentpapiers mit Tinte: „Vom Cerestempel zu Eleusis. jonisch“]

Die weitaus hervorragendste Verwen-

dung kommt dem Viertelstab als Echinus, d. i. als das Kehlglied beim dorischen Kapitäl zu. Hier kann an zalreichen Beispielen auch die Entstehung und Bedeutung seines so specifisch griechischen Linienschwunges im Profil studirt werden.

Fig. 5. Vom Cerestempel zu ­Eleusis. jonisch

Fig. 7. Tempel des Apollo auf d. Insel Delos

Fig. 6. Capitäldetail vom Porticus zu Nemea

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[Profilzeichnung unten links, Bleistift auf Transparentpapier, eingeklebt, Anmerkung mit Tinte: „Fig. 6“; Legende links vom eingeklebten Transparentpapier mit Tinte: „Capitäldetail vom Porticus zu Nemea.“73] [Profilzeichnung unten Mitte, Bleistift auf Transparentpapier, eingeklebt, Anmerkung mit Tinte: „Fig. 7.“ Legende in Bleistift: „Tempel des Apollo auf d. Insel Delos.“74] [fol.] 59. [Profilzeichnung oben links, Bleistift auf Transparentpapier, eingeklebt, Anmerkung mit Tinte: „Fig. 8“; Legende in Bleistift: „Zu Pästum gefunden u. noch ein zweites Ähnliches (S. Normand T. 9.)“75] Beachtenswert sind in dieser Beziehung die in Fig. 6–9 vorgeführten Querschnitte, welche insgesammt ältesten Bauten angehören. Die ältesten Bauten weisen also zwei deutlich von einander abweichende Varianten auf während die Normalform des Echinus der Blütezeit und Spätzeit in Bezug auf die Stärke der

Fig. 8. Zu Pästum gefunden u. noch ein zweites Ähnliches (S. Normand T. 9.)

Schwellung zwischen den beiden älteren Varianten die Mitte hält, wie in Fig. 10. Von beiden älteren Formen unterscheidet sich der spätere Echinus durch seine größere Höhe, oder was dasselbe durch geringere Ausladung. [Profilzeichnung Mitte links, Bleistift auf Transparentpapier, eingeklebt, Anmerkung mit Tinte: „Fig. 9.“ Legende mit Tinte: „Capitäl der Tavola dei Palladini zu Metapont nach Duc de Lugues.“] 73 [Zeustempel zu Nemea, dorischer Peripteros von 44½ x 22 m mit 13 : 6 Säulen, erbaut um 330–320 v. Chr.] 74 [Apollotempel auf der Insel Delos, dorischer Peripteros von 29,8 x 13,7 m mit 13 : 6 Säulen, erbaut 1. Hälfte d. 5. Jh. v. Chr.] 75 [Normand, Carl (i.e.: Charles Pierre Joseph Normand germ.): Vergleichende Darstellung der architectonischen Ordnungen der Griechen und Römer und der neueren Baumeister. Potsdam: Riegel 1830–1836 (1. deutsche berichtigte und fortgesetzte Ausg. von Moritz Hermann Jacobi und Johannes Matthaeus Mauch).] Vorträge über Geschichte der Baustyle (1883–1884)

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Fig. 10

Fig. 9. Capitäl der Tavola dei ­Palladini zu Metapont nach Duc de Lugues



Die ältesten Formen sind nun entweder ganz geradlinig, wie zu Nemea,

auf Delos und zu Pästum, Fig. 6–8; oder für einen griechischen Bau ziemlich stark geschwellt, wie in Fig. 9. [Profilzeichnung in Tinte unten links, Anmerkung: „Fig. 10.“]

Die geschwellte Form gehört hauptsächlich Unteritalien u. Sicilien an, so

daß man fast versucht sein [fol.] 60. möchte, hierin einen Einfluß der heimischen und benachbarten italischen Bauempfindung zu erkennen. Diese starke Schwellung wurde aber auch als s p ä t e r e Verrohung des specifisch hellenischen Formgefühles angesehen und demzufolge auch die Tempel an welchen diese Form vorkommt für jüngeren Datums angesehen. Dieß ist entschieden falsch, denn alle übrigen Formen gerade dieser Tempel (Säulenproportion, Canneluren etc. etc.) zeigen einhellig ein höheres Alter und einen primitiveren Styl. Außerdem würde aber eine halbwegs zutreffende Chronologie dieser Bauten im Zusammenhang mit der Geschichte dieser Städte nicht hergestellt werden können und endlich ist erst vor 2 Jahren zu Selinunt ein solches Kapitäl mit stark geschwelltem Echinus tief in den Fundamenten eines späteren griechischen

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Baues vermauert gefunden worden, ein Beweis, daß es einem bereits wieder abgetragenem also älterem Baue angehörte.

Die Schwellung ist jedoch niemals so stark, daß die gerade Hauptrichtung

hiedurch gänzlich verwischt würde.

Unverhüllt tritt aber Grundform und Sinn des griechischen Viertelstabes

in denjenigen ältesten dorischen Kapitälen auf, bei welchen das Echinusprofil geradlinig ist. Da zeigt sich deutlich, daß die gerade Leitlinie in der That die Wurzel ist für die griechischen Profilelemente und daß diese Gerade nichts [fol.] 61. anderes ist als eine gerade Abfasung entweder eines vorspringenden Platteneckes oder einer einspringenden Kehle. [Detailskizze in Tinte, Anmerkung: „Fig. 11“]

Dieser Abfasung scheint in der That eine Säule ohne Echinus vorher ge-

gangen zu sein, Fig. 11 und es wäre nicht zu verwundern, wenn diese Abschrägung oder Stütze, welche ein fortgeschritteneres Constructions- und Formgefühl verlangt, anfänglich geradlinig gemacht wurde. Erst das Vorhandensein solcher Gebilde zeigte dann wieder die Notwendigkeit eines trennenden Einschnittes zwischen Echinus und Abakus wie in Fig. 6 und die weichere stetige Krümmung dieses Einschnittes verlangt dann erst eine Schwellung des Echinus. Diese Schwellung gerade an den ältesten Beispielen übertrieben zu finden hat nichts Widersprechendes, denn auch die Schwellung des Säulenschaftes ist gerade an diesen ältesten Denkmälern ganz in gleicher Weise auch eine übertriebene und erst nach allmäliger Läuterung des Formgefühles gelingt es jene elastischen sanften Curven der Blüthezeit zu finden am Schaft so gut wie am Kapitäl und anderwärts. [Anmerkung unten Seitenmitte in Bleistift: „14/5 93.“] [fol.] 62. 3 . Die H o h l k e h l e . Auch diese ist ganz im Sinne der übrigen Profilelemente steil und gestreckt. Auch sie drückt die gerade Hauptrichtung stärker aus als die etwa kreisförmige Einziehung und gerade hierin liegt das Übereinstimmende mit den anderen Formelementen, das specifisch Griechische. [Profilzeichnung oben links, Bleistift auf Transparentpapier, eingeklebt, Anmerkung mit Bleistift: „Jonisch“, mit Tinte: „Fig. 12“. Unterhalb des eingeVorträge über Geschichte der Baustyle (1883–1884)

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klebten Transparentpapiers Legende in Tinte mit bezugnehmendem Klammerzeichen: „v. einem Fragment von der Insel Paros“] [Darunter: Profilzeichnung, Bleistift auf Transparentpapier, eingeklebt, Anmerkung mit Tinte: „F. 13“. Legende in Bleistift: „alt-jonisch vom Ilissus76 Tempel bei Athen“]

4 . Die V i e r t e l k e h l e ist gleichfalls gestreckt wie in Fig. 14 ist niemals

ein Zirkelschlag (etwa ¼ Kreis). [Kleine Profilzeichnung mit Tinte, Anmerkung in Tinte: „Fig. 14“.]

Sie kommt bereits als Anlauf und Ablauf verwendet vor und hat daher bei

fast allen Gesimsen und Gliederungen eine reichliche Anwendung.

5 . Das K a r n i e s im weitestem Sinne als Verbindung von Viertelstab und

Viertelkehle aufgefaßt kommt in allen möglichen Varianten der Verwendung vor, nämlich: wie in Fig. 15 u. 16 als Kehlleiste oder Herzblattstab; [2 Profilzeichnungen, Bleistift auf Transparentpapier, eingeklebt. Anmerkungen mit Tinte: „Fig 15“. und „Fig. 16“ sowie: „jon.“ Unterhalb des eingeklebten Transparentpapiers 2 Legenden in Tinte: Links: „vom Nemesistempel zu Rhamnus“77, rechts: „vom Tempel d. Pandoros zu Athen“] [fol.] 63. [Profilzeichnung, Bleistift auf Transparentpapier, eingeklebt. Anmerkung mit Tinte: „Fig. 17“; Legende in Tinte teilweise auf dem Transparentpapier, teilweise unterhalb: „Kranzgesimse von Akragas.“]

ferner als Rinnleiste am Kranzgesimse wie in Fig. 17; auch in umgekehrter

Stellung als Sturzgesimse bei Fußprofilen wie in Fig. 18 u. 19 endlich als Karnies im eigentlichen Sinne, wie in Fig. 20 griechisch: Sima. [Profilzeichnung Seitenmitte links, Bleistift auf Transparentpapier, eingeklebt. Anmerkung mit Tinte: „Fig. 18“ und mit Bleistift: „dorisch“; Legende unterhalb des eingeklebten Transparentpapiers in Tinte: „vom Tempel d. Nemesis zu Rhamnus“] [Rechts daneben: Profilzeichnung, Bleistift auf Transparentpapier, eingeklebt, Anmerkung mit Tinte: „Fig. 19“ und mit Bleistift: „dorisch“; Legende unterhalb des eingeklebten Transparentpapiers in Tinte: „von d. Propyläen zu Eleusis.“]

76 [Ilissos, Fluss in Attika, der am Südrand des antiken Athen vorbeifloss. Der Ilissos besaß in Athen einen eigenen Kult.] 77 [Rhamnus (Ραμνους, Ραμνουσισς), antike Ortschaft an der Nordküste von Attika nördlich von Marathon. Nemesisheiligtum, dorischer Tempel von ca. 430 v. Chr.]

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Fig. 17. Kranzgesimse von Akragas

Fig. 19. von d. Propyläen zu Eleusis

Fig. 20. Fragment von d. Insel Delos

Fig. 18. vom Tempel d. Nemesis zu Rhamnus



In allen diesen Fällen ist die Streckung im Sinne der geraden Leitlinie

deutlich ausgesprochen, wie es auch nicht anders sein kann, da diese Streckung ja schon in den beiden Grundformen Viertel-Stab u Viertel-Kehle, aus welchen die S förmig geschwungene Combinationsform sich zusammensetzt, enthalten ist. [Profilzeichnung, Bleistift auf Transparentpapier, eingeklebt. Anmerkung mit Tinte: „Fig. 20.“ Legende unterhalb des eingeklebten Transparentpapiers in Tinte: „Fragment von d. Insel Delos.“]

Somit haben wir die 5 Grundformen aller Profilirung complet u. zw. mit

einheitlichem, bestimmt ausgesprochenem Typus; und d i e s e r Ty p u s i s t s p e c i f i s c h g r i e c h i s c h , weder im Orient oder in Ägypten noch auch in Italien [fol.] 64. oder sonst wo im Alterthume vorhanden. Dieser Typus geht aber auch durch alle griechischen Werke hindurch bis zu den ältesten Denkmälern. Es sind diese Elemente die Laute der specifisch griechischen Bausprache. Vorträge über Geschichte der Baustyle (1883–1884)

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Verfolgt man diesen Typus an den B e s t a n d t h e i l e n griechischer Bauwerke noch weiter so findet man überall das gleiche Princip der Formgebung nämlich als G r u n d f o r m einfach geradlinige B o s s e n und zur Trennung oder Deutlichmachung der tiefe Einschnitt in den Stein, die Cäsur verwendet. [Seitenmitte oben: Detailzeichnung in Ansicht und Profilschnitt, Bleistift auf Transparentpapier, eingeklebt. Anmerkung mit Tinte: „Fig. 21 a b“. Legende mit Tinte: „Triglyphen vom Apollotempel zu Delos“] [Darunter links: Profilzeichnung, Bleistift auf Transparentpapier, eingeklebt. Anmerkung mit Tinte: „Fig. 22 a b“. Legende teilweise mit Bleistift auf dem Transparentpapier, teilweise mit Tinte unterhalb des Transparentpapiers: „u Trigl. Höhlung zu Nemea.“] [Rechts davon: Profilzeichnung, Bleistift auf Transparentpapier, eingeklebt. Anmerkung mit Tinte: „Fig. 23 a b“. Legende in Bleistift: „Unterscheidung der Trigly. Zeust. zu Egina.“78]

In höchster Deutlichkeit sind diese Principien ausgeprägt bei den Trigly-

phen. Deren Grundform ist ein viereckiger vorspringender Steinbossen. Dieser wird zunächst an den Seitenkanten abgeschrägt und diese geradflächige [Profilzeichnung, Bleistift auf Transparentpapier, eingeklebt. Anmerkung mit Tinte: „Fig. 24 a b c d“. Legende in Bleistift: „Kranzgesimse des Theseustempels.“] [fol.] 65. Fase wird lediglich nach dem uraltem Principe der Reihung oder symmetrischen Wiederholung (das so viele architektonische u. ornamentale Formen geschaffen hat) auch an der Vorderfläche wiederholt. Dieß die Grundform. Im Detail entsteht an der oberen Endigung der Schlitze bei heller Sonnenbeleuchtung ein kleiner Schlagschatten. Diese Schatten sind in dem herrlichen südlichen Lichte Griechenlands u. Siciliens von wunderbarer Transparenz und von einem so gesättigt blauem Tone, daß man sich kein vollendeteres und schöneres Mittel die Einzelformen deutlich zu machen wünschen kann. Es ist daher von höchstem Vortheil diese Schattenbildungen durch die Profile möglichst zu begünstigen. Dieß nun in der That überall zu bewirken ist das Princip der griechischen Detailbildung.

78 [Aigina, Insel in der Mitte des Saronischen Golfes. Seit ca. 3000 v. Chr. besiedelt, griechische Landnahme um 2000 v. Chr. Aphaia-Tempel: dorischer Peripteros 28,8 x 13,8 m, 12 : 6 Säulen, erbaut Anfang des 5. Jh. v. Chr. mit den berühmten Giebelplastiken der „Aegineten“.]

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Speciell bei den Triglyphenschlitzen wird am oberen Ende eine Art Vorhang [Einfügung mit Bleistift: „F 21–23“] (a) in Stein stehen gelassen hinter welchem ein oft sehr tiefes kappenförmiges Loch [Einfügung in Tinte: „(b).“] ausgemeißelt wird. Diese Löcher sind in Wirklich[fol.] 66. keit niemals so regelmäßig ausgemeißelt wie in den Aufnahmen der Monumente dieß gezeichnet erscheint. Es sind unregelmäßige Vertiefungen die keinen andern Zweck haben als das reflectirende Licht zu verzehren und somit den Schatten an dieser Stelle in seiner ganzen Tiefe und Wirkung zur Geltung zu bringen.

Betrachtet man von diesem Gesichtspunkte aus das dorische Hauptge-

simse von Fig. 24, so finden sich außer dem Vorhang sammt Vertiefung a, b an dem Triglyp noch ganz ähnliche Bildungen bei c und d. Es ist c eine sogenannte Wassernase und d ein sogen. dorisches Kyma. In beiden Fällen ist an den Monumenten selbst die Wirkung die einer wunderbar schönen tiefblauen Schlagschattenlinie und das zu erzielen ist unzweifelhaft die Absicht dieser Cäsuren, dieser Rinnen. [Profilzeichnung in Tinte, Anmerkung „Fig. 25 a b c“] [Bleistiftanmerkung am linken Seitenrand: „28/11 87“]

Das d o r i s c h e K y m a ist also seiner Grundform nach ein Viertelstab

(Echinus) a b c an dessen unterem Ende zur Verstärkung des dort entstehenden Schattens [fol.] 67. noch eine Schattenrinne zwischen b c angebracht ist. So entsteht die Grundform. Die Frage der Decoration folgt dann in zweiter Linie später. [2 Profilzeichnungen, Bleistift auf Transparentpapier, eingeklebt. Anmerkung mit Tinte: „Fig. 26 b c“. Legende in Bleistift: „Kranzgesimse vom Porticus des Philippus (König v. Maced.) zu Delos.“79] [Rechts daneben: Profilzeichnung Bleistift auf Transparentpapier, eingeklebt. Anmerkung mit Tinte: „Fig. 27“ Legende in Bleistift: „Deckplattensaum vom Tempel Nemea“]

79 [Der Haupteingang zum Apolloheiligtum von Delos im Süden wurde von zwei hellenistischen Säulenhallen flankiert, wobei die westliche von Philipp V. von Makedonien errichtet wurde. Französische Ausgrabungen begannen 1873.] Vorträge über Geschichte der Baustyle (1883–1884)

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Ähnliche Schattenrinnen sind immer am unteren Ende von Gesimsstreifen angebracht also immer dort, wo die Hervorhebung einer Schlagschattenlinie für den Gesammteffect von entscheidender Wichtigkeit ist. Dieß gilt natürlich immer nur unter Voraussetzung der herrlichen südlichen Beleuchtung. Bei uns im trüben Norden haben alle diese Dinge für die Praxis nicht den geringsten Wert. Zur Characteristik des griechischen Styles sind sie aber von ganz besonderer Bedeutung. [Profilzeichnung, Bleistift auf Transparentpapier, eingeklebt. Anmerkung mit Tinte: „Fig. 28“. Legende in Tinte: „vom Tempel zu Aegina“] [Rechts daneben: Profilzeichnung, Bleistift auf Transparentpapier, eingeklebt. Anmerkung mit Tinte: „Fig. 29“. Legende in Bleistift: „Fragment einer Rinnleiste gefund. auf d. Akrop. zu Delos.“] [fol.] 68. [Profilzeichnung, Bleistift auf Transparentpapier, eingeklebt. Anmerkung auf dem Transparentpapier mit Tinte: „c.“ Anmerkung oberhalb des Transparentpapiers mit Tinte: „Fig. 30“ Legende teils auf dem Transparentpapier, teils unterhalb desselben mit Tinte: „vom Zeustempel zu Agri­ gent80 (Akragas, Girgenti [sic! – eigentlich Grigenti]) v. 425. v. Chr.“]

Die Figuren 26, 27, 28, 30 bieten noch mehrfach

Beispiele solcher Schattenrinnen unter welchen die von Fig. 26 b. noch besonders zu erwähnen ist als Beispiel einer Rinne unterm Herzblattstab. Es ist eben ganz gleichgültig unter welches Profilelement diese Rinne gesetzt wird, maßgebend ist immer nur der Umstand ob an dieser Stelle ein

Fig. 30. vom Zeustempel zu Agrigent (Akragas, ­Girgenti) v. 425. v. Chr.

kräftig wirkender Schlagschatten erzielt werden soll. Eine eigenthümliche Combination bietet auch Fig. 31 deren sonst nicht gerade besonders glückliche Profilirung durch den Wunsch bei a u b. also zu oberst und unterst eine Schattenwirkung zu erzielen sich motivirt.

80 [Der Tempel des Zeus Olympios in Akragas ist ein ganz ungewöhnlicher Pseudoperipteros mit je 7 Säulen an den Giebelseiten und je 14 Halbsäulen an den Langseiten, die mit gebälktragenden Atlantenfiguren abwechseln (Maße: 110,1 x 52,7 m).]

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[Profilzeichnung, Bleistift auf Transparentpapier, eingeklebt. Anmerkungen mit Tinte: „Fig. 31. a b c“; Legende in Bleistift: „Detail eines Piedestals in Marm von den Ruinen eines Portikus“ weiter in Tinte: „zu Delos.“ und: „v. Porticus d. Philippus“] [Unterhalb: Profilzeichnung, Bleistift auf Transparentpapier, eingeklebt. Anmerkungen mit Tinte: „Fig. 32. c“; Legende in Bleistift: „Fußgesims vom Sockel. Grabdenkmal zu Mylasa“81]

Fig. 31 a b c. Detail eines Piedestals in Marm von den Ruinen eines Portikus. zu Delos. v. Porticus d. Philippus

Fig. 32 c. Fußgesims/ vom Sockel. Grabdenkmal zu Mylasa

Neben diesem Streben die Schatten zur Geltung zu bringen [fol.] 69. geht congenial das verwandte Streben die Lichtstreifen der Plättchen dadurch zu heben, daß sie möglichst vorgeschoben wurden, wie die Plättchen c in den Figuren 26, 29, 30, 31 u. 32.

81 [Mylasa, antike Siedlung mit Heiligtum in Karien im Südwesten Kleinasiens beim heutigen Dorf Peçin. Um 450 v. Chr. Mitglied des Attisch-Delischen Seebundes, um 390 v. Chr. Residenz eines persischen Satrapen und danach des Mausolos. Im römischen Reichsverband oppidum liberum. Beachtliche antike Baureste aus lokalem Marmor.] Vorträge über Geschichte der Baustyle (1883–1884)

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[Profilzeichnung, Bleistift auf Transparentpapier, eingeklebt. Anmerkung mit Tinte: „Fig. 33“; Legende in Bleistift: „vom Athenetempel zu Priene“] [rechts daneben: Profilzeichnung, Bleistift auf Transparentpapier, eingeklebt. Anmerkung mit Tinte: „Fig. 34“; Legende in Bleistift: „Profil der Säulenbasis des Tempels der Athene Polias zu Priene.“82 Diagonal über die Figuren 33 und 34 in Bleistift: „gleich“]

Faßt man alle diese Grundsätze zusammen,

alle diese Unterschneidungen, Vorschiebungen, Schattenrinnen u. dgl. so kann man sich auch die reichen Bildungen der Säulenbasen wie sie in Fig. 33 bis 36 gegeben sind, erklären, wenn auch noch manches Andere dabei in Betracht

Fig. 33. vom Athenetempel zu Priene

kommt, wie die Decoration dieser Stäbe, der Steinschnitt u. dgl. mehr. [Profilzeichnung, Bleistift auf Transparentpapier, eingeklebt. Anmerkung mit Tinte: „Fig. 35“; Legende in Bleistift: „von der Osthalle des Erechtheion“83] [rechts daneben: Profilzeichnung, Bleistift auf Transparentpapier. Anmerkung mit Tinte: „Fig. 36“; Legende in Tinte: „Vom Heraklestempel84 zu Samos.“]

Diese Basen gehören zu jonischen und attisch jon. Säulen.

[fol.] 70. Die dorische Säule hat im griechischen Style keinen Fuß.

82 [Der Tempel der Athena Polias in der Stadt Priene in Karien (Südwestkleinasien) wurde in der 2. Hälfte des 4. Jh. v. Chr. von Baumeister Pytheos errichtet. Seine Antenmauer trägt eine Weiheinschrift von Alexander d. Gr. (334 v. Chr.). Der ionische Peripteros hat 11 : 6 Säulen und weist das attische Fußmaß auf.] 83 [Das Erechtheion auf der Akropolis in Athen ist ein unregelmäßiger Gruppenbau im ionischen Stil, der auf ältere Kultstätten Rücksicht nahm. Der höher liegende Hauptraum besitzt eine Vorhalle mit 6 Säulen, in der Cella befand sich das Kultbild und ein Ewiges Licht. Die Nordvorhalle mit 4 : 2 Säulen führt zum tiefer gelegenen Kekropsgrab. Die südliche Vorhalle (Korenhalle) besitzt 6 gebälktragende Frauenfiguren (Karyatiden). Erbaut Ende des 5. Jh. v. Chr. von Baumeister Philokles.] 84 [Gemeint ist offenbar der Heratempel von Samos.]

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Fig. 34. Profil der Säulenbasis des Tempels der Athene Polias zu Priene

Fig. 35. von der Osthalle des Erechtheion Fig. 36. Vom Herakles­ tempel zu Samos

Dagegen ist gerade bei den dorischen Säulen wieder die Schaftbildung von hervorragendem Interesse für die historische Entwicklung der Formen. [Zeichnung eines Säulenquerschnitts, Bleistift auf Transparentpapier, eingeklebt. Anmerkung mit Tinte: „Fig. 37“. Legende in Bleistift: „Tempel der Athenae zu Sunium“85]

Der Schaft ist schon an den ältesten Denkmälern bereits verjüngt u. ge-

schwellt. Am stärksten sind Verjüngung und Schwellung (Entasis) an allen ältesten Säulen bei welchen die V e r j ü n g u n g sogar 1/3 des unteren Säulendurchmessers erreicht, während sie später 1/4 und 1/5 D (unterer Durchmesser) erreicht. Sie ist sichtlich umgekehrt proportional mit der Höhe des Säulenschaftes und beträgt somit bei der schlankeren jonischen Ordnung noch weniger nämlich nur 2/11–1/7 D. Die S c h w e l l u n g beträgt an den älteren Säulen 1/80 D während sie an neueren Beispielen gleichfalls

85 [In Sunion am südöstlichen Kap von Attika befand sich neben dem berühmten Poseidontempel auch der von Vitruv genannte Athenatempel innerhalb eines ummauerten Temenos. Der Cella war nur an der Ost- und an der Südseite jeweils eine ionische Säulenhalle vorgelagert.] Vorträge über Geschichte der Baustyle (1883–1884)

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[Zeichnungen eines Säulenquerschnitts und darunter eines Details davon, Bleistift auf Transparentpapier, eingeklebt. Anmerkungen mit Tinte: „Fig. 38.“ und „Fig. 39.“ Legenden in Bleistift: „16. flache Cannele Fragment einer Säule auf der Acropolis zu Delos gefunden“. Darunter: „Cannele Athenaet. zu Sunium“] [Unterhalb: Detailzeichnung eines Säulenquerschnitts, Bleistift auf Transparentpapier, eingeklebt. Anmerkung mit Tinte: „Fig. 40“. Legende in Bleistift: „Cannele Zeust. zu Egina“] [fol.] 71. geringer ist. Sie beträgt am Theseustempel86 zu Athen 1/140 D u. am Parthenon87 1/110 D. [Aufrisszeichnungen zweier Säu­ lenordnungen, Bleistift auf Transparentpapier, eingeklebt. Anmerkung mit Tinte:

Fig. 41 a b

„Fig. 41 a b.“]

In ähnlicher Weise läßt sich ein genetisches Gesetz für die Bildung der

Cannelen erkennen.

Die Zal der Cannelen beträgt an den Säulen der Blüthezeit 20; an älteren

Säulen aber 16, wie am Athenätempel zu Sunium (Fig. 37) u. am Fragment einer alten Säule zu Delos (Fig 38).

86 [Das sogenannte „Theseion“ in Athen war tatsächlich dem Hephaistos bzw. der Athena Hephaistia geweiht. Der dorische Peripteros misst 31,7 x 13,7 m (13 : 6 Säulen). Die Cella war von einem ringsumlaufenden bemalten und vergoldeten Fries umgeben. Der Bau gilt als der am besten erhaltene Tempel der griechischen Antike.] 87 [Der Tempel der Athena Parthenos auf der Akropolis von Athen ist ein dorischer Peripteros von 69,5 x 30,9 m (17 : 8 Säulen). Die Cella ist als Amphiprostylos (mit Vorhalle und Opisthodom) mit je 6 vorgestellten Säulen im Peripteros gestaltet. Im Inneren führt ein Pronaos in den dreischiffigen Hekatompedos von 100 attischen Fuß Länge, in dem sich das Götterbild der Athena von Phidias befand. Der Figurenfries an der Außenseite der Cella zeigte die Panathenäenprozession. Erbaut 447– 438 v. Chr. von Iktinos und Kallikrates.]

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Höchst alterthümliche Beispiele zeigen sogar achteckige Säulentrommeln wie die zu Trözen88 gefundenen aus dunklen basaltartigem Stein, welche vielleicht Überreste des Apollotempels sind den Pausanias (II, 31, 6) als älteste ihm bekannte Heiligthum nennt. An der Grenze Laconiens wurden ebenfalls achteckige Säulentrommeln gefunden, welche vielleicht dem ebenfalls bei Pausanias erwähnten Artemistempel von Limnai89 angehören.

Diese Zahlen der ältesten Cannelen, 8 u 16 zeigen deutlich, daß die can-

nelirte Säule auch hier (wie in Ägypten u. Indien etc.) aus dem viereckigen Pfeiler durch allmälig vorschreitende Abfasung entstanden ist. Aber auch die Form des [fol.] 72. [Links oben Anmerkung mit Bleistift: „5/12 87“] Querschnittes bezeugt dieß. Auch in Bezug auf die Form der Einziehung der einzelnen Cannelen kann deutlich eine ältere und neuere Form unterschieden werden. Die ä l t e r e F o r m (s. Fig. 39), welche an allen Säulentrommeln mit 16 Cannelen und ebenso an den sich chronologisch daran schließenden ältesten Säulen mit 20 Cannelen vorkömmt, zeigt noch deutlich (s. auf Fig. 37.) die geraden Poligonseiten wie sie durch Abfasung entstehen; aber nur gleichsam versenkt, so daß die Kanten zwischen diesen Flächen deutlich genug hervortreten. Die j ü n g e r e F o r m (s. Fig. 40) hat diesen Typus und mit ihm die Spur der Entstehung bereits verwischt und die Rinnen in Kreissegmente verwandelt, was für eine gleichmäßige Herstellung derselben mittelst Winkelschablone von Vortheil ist, also auch einer technisch vorgeschritteneren Zeit entspricht.

Nimmt man zu diesen Unterschieden älterer u. jüngerer Zeit noch die

gleich zuverlässigen der Höhe des Schaftes, welche an den ältesten Säulen am geringsten, und die Ausladung der Kapitäldeckplatte (Abakus), welche an den ältesten Säulen am größten ist, so stehen der Typus der dorischen Säule ältester u. neuerer Zeit

88 [Troizen (Τροζαν, Τροζην, Τροιζην), antike Stadt an der Nordküster der Halbinsel Argolis bei der heutigen Ortschaft Damala. Ausgegraben wurde der heilige Bezirk des Hippolytos mit Tempel vom Ende des 4. Jh. v. Chr. und das kleinere Asklepieion.] 89 [Limnai, antike Siedlung in Messenien an der Grenze gegen Lakonien mit dem Heiligtum der Artemis Limnatis. ] Vorträge über Geschichte der Baustyle (1883–1884)

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[fol.] 73. deutlich vor uns.

Die Säulenhöhe beträgt bei den älteren Monumenten 4 ½–5 D (untere

Durchm.); bei den Monumenten der Blüthezeit 5 1/2–5 2/3 D.; in der spätgriechischen Zeit (Zeit Alexander d. Gr. u. d. Diadochen) sogar 6–6 3/4 D.

Somit sind die Charactere, wie in Fig. 41 a den alten u. b. den neueren

Typus darstellt, die folgenden:

Die a l t d o r i s c h e S ä u le ist kurz mit starker Verjüngung u. Schwellung

und starker Ausladung des Abakus bei noch flach gearbeiteten Cannelen.

Die n e u e r e d o r. S ä u l e ist höher mit mäßiger Verjüngung u. Schwel-

lung und geringerer Ausladung des Abakus bei kreisförmig eingearbeiteten Schaftrinnen.

In jedem einzelnen Falle stimmen stets alle diese Merkmale untereinan-

der überein und haben wir unverkennbar das Bild einer selbstständigen Entwicklung vor uns, die unbeirrt logisch vorschreitet.

Trotzdem hatte man den Einfall die griechische Säule als Nachahmung

und Weiterbildung der ägyptischen Säulen von Benihassan anzusehen. [fol.] 74. Wenn n a c h w e i s l i c h p l ö t z l i c h die cannelirte Säule in Griechenland aufträte, dann wäre diese Erscheinung durch Einfuhr des fertigen Productes aus der Fremde zu erklären. Da sich aber in Griechenland selbst alle Zwischenstadien der Erfindung in ununterbrochener chronologischer Reihenfolge durch einen Zeitraum von etwa 1000 Jahren hindurch vorfinden, so ist dieß die Geschichte dieser Erfindung selbst und somit der untrügliche Beweis, daß die Griechen das Ganze von Anfang an selbst gefunden und gerade so weiter gebildet haben.

Höchst beachtenswert ist dann allerdings, daß Griechen, Ägypter und In-

der etc. hierin im Wesentlichen dieselben Grundformen in derselben Reihenfolge erfanden. Demgegenüber ist es aber nicht unumgänglich notwendig anzunehmen, daß diese Völker deßhalb auch alle stets unter gegenseitigem Einflusse gestanden seien, vielmehr zeigt diese Gleichheit, mit der aus dem viereckigen Pfeiler durch fortgesetzte Abfasung endlich die cannelirte Säule entsteht, daß hier eine naturnotwendige Entwicklungs-Reihe vor uns liegt, die eben deßhalb überall auftritt, weil es anders

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[fol.] 75. gar nicht sein kann. Das Naturnotwendige kann und muß bei allen Völkern gleich sein, auch ohne daß sie von einander direct lernen und entlehnen, dagegen die Details und Zufälligkeiten der Form bei getrennter selbstständiger Entwicklung wohl kaum gleich sein können. Das sind sie aber auch nicht. Sehr lehrreich ist hiezu die Detailbildung des griechisch dorischen Kapitäls. [Detailzeichnung im Aufriss, Tusche auf Transparentpapier, eingeklebt. Anmerkung mit Tinte: „Fig. 42“. Legende teilweise auf dem Transparentpapier, teilweise rechts außerhalb: „Alte Votivsäule v. d. Akropolis zu Athen“.]

Ursprünglich, wie schon gezeigt noch nur mit einfach abgeschrägtem

Echinus erhält dieser oben einen Einschnitt und ebenso auch unten oder dort gar eine Schattenrinne, wie sie häufig in Unteritalien u. Sicilien vorkommt. s. Fig 43. [Detailzeichnung im Aufriss, Bleistift auf Transparentpapier, eingeklebt. Anmerkung mit Tinte: „Fig. 43“ und mit Bleistift: a. Legende in Tinte: „Vom Pronaos d. großen Zeustempels zu Selinunt“90] [Detailzeichnung im Aufriss, Bleistift auf Transparentpapier, eingeklebt. Legende in Tinte: b. Schattenrinne unterm Echinus. Dazu.]

Die einfachste Grundform ist aus Fig. 42. zu sehen.

[fol.] 76.

Decorativ ausgestattet erscheint die Schattenrinne unterm Echinus am

Kapitäl des Demetertempels zu Pästum, Fig. 47. [Aufrisszeichnung mit vergrößertem Detail, Bleistift auf Transparentpapier, eingeklebt. Anmerkungen mit Tinte: „Fig. 44“ und: „(nach Serradifalco91)“; Legende in Tinte: „vom sogen: Demeter Tempel zu Pästum.“] [Bleistiftanmerkung: „9/12 87“]

Nur mehr schwach angedeutet ist sie in dem Kapitäl von Fig. 45 aus Seli­

nunt. 90 [Von den 7 großen Tempeln von Selinus sind nur die Widmungen der Tempel E (Heratempel) und G (Apollotempel) gesichert; die Tempel A, C, D und O auf der Akropolis und der Stadttempel F konnten bisher keiner Widmung zugeordnet werden. Dem Zeus Meilichios war in Selinus ein kleiner tempelartiger Schrein geweiht, der von Sitte offenbar nicht gemeint ist.] 91 [Domenico Lo Faso Pietrasenta duca di Serradifalco (1783–1863) ] Vorträge über Geschichte der Baustyle (1883–1884)

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Fig. 45. (nach Hittorf) vom Tempel am östl: Plateau zu Selinunt Fig. 44. (nach Serradifalco) vom sogen: ­Demeter Tempel zu Pästum

Aber auch dort wo diese starke Rinne fehlt, wie an den meisten Kapitälen sind wenigstens Einschnitte gemacht zur deutlichen Trennung des Echinus vom Hals. [Aufrisszeichnung mit vergrößertem Detail, Bleistift auf Transparentpapier, eingeklebt. Anmerkungen mit Tinte: „Fig. 45.“ und: „(nach Hittorf92)“; Legende in Tinte: „vom Tempel am östl: Plateau zu Selinunt.“]

Ein derartiges Hilfsmittel ist hier unbedingt nötig weil der Übergang aus

[fol.] 77. [Aufrisszeichnung mit vergrößertem Detail, Bleistift auf Transparentpapier, eingeklebt. Anmerkungen mit Tinte: „Fig. 46.“ und: „(nach Texier)“; Legende in Tinte: „Kapitäl v. Tempel zu Assos“] 92 [Hittorff, Jacques Ignace: Restitution du temple d’Empedocle à Selinonte ou l’architecture polychrôme chez les Grecs. Bd. 1–2. Paris: Didot 1851; Hittorff, Jacques Ignace: Architecture antique de la Sicile. Paris: Domaud 1870.]

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Fig. 47. (nach Cokerell) v. Athen: T. auf Aegina Fig. 46. (nach Texier) Kapitäl v. Tempel zu Assos

[Rechts daneben: Aufrisszeichnung mit vergrößertem Detail, Bleistift auf Transparentpapier, eingeklebt. Anmerkungen mit Tinte: „Fig. 47.“ und: „(nach Cokerell)“; Legende in Tinte: „v. Athen: T. auf Aegina“] dem Hals in den Echinus sonst als stumpfer Winkel zu wenig deutlich zu wenig scharf ausfiele. Solche Einschnitte (Cäsuren) setzten die Griechen immer mehrere neben einander bis die nötige Stärke des hier erforderlichen Effectes erreicht war. Zwischen zwei solchen Vertiefungen muß dann folgerichtig eine Erhöhung

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Fig. 49. (nach Hittorf) vom T. zu Egesta Fig. 48. (nach Hittorf.) von der Akropolis zu Selinunt

[fol.] 78. [Aufrisszeichnung mit vergrößertem Detail, Bleistift auf Transparentpapier, eingeklebt. Anmerkungen mit Tinte: „Fig. 48“ und: „(nach Hittorf.)“; Legende in Tinte: „von der Akropolis zu Selinunt“] [Rechts daneben: Aufrisszeichnung mit vergrößertem Detail, Bleistift auf Transparentpapier, eingeklebt. Anmerkungen mit Tinte: „Fig. 49.“ und: „(nach Hittorf).“; Legende in Tinte: „vom T. zu Egesta“] stehen bleiben, weßhalb diese Theile auch Ringe genannt werden. Im Zusammenhang mit dem ganzen Genius der griechischen Profilirung ist aber hier der Einschnitt das Wesentliche, das Formbildende und der Ring blos das Nebenproduct. Es zeigt sich dieß deutlich am unteren Ende des Kapitälhalses. Auch dort wird wieder der Einschnitt (dieses Universalmittel der griechischen Detailbildung) verwendet

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[fol.] 79. [Aufrisszeichnung mit vergrößertem Detail, Bleistift auf Transparentpapier, eingeklebt. Anmerkungen mit Tinte: „Fig. 50.“ und: „(nach Rey­ naud)“; Legende in Tinte: „v. Poseidont. zu Paestum“] zur Trennung von Säulenschaft u. Kapitälhals.

Auch

diese

wurden

a n n u l i , Ringe genannt (nach der römischen Bezeichnung) obwohl es hier handgreiflich ist, daß nur ganz entschiedene Einschnitte vorliegen.

Der Zal nach sind diese Ein-

schnitte sowol am untern als auch am obern Ende des Kapitälhalses sehr verschieden, sie variieren von nur einem einzigen bis zu fünfen [Einfügung mit Bleistift: „(F. 46– 50)“]

Ganz deutlich als bloße Einker-

bungen gebildet erscheinen sie am Tempel zu Sunium Fig. 51. [Profildetail, Bleistift auf Transparentpapier, eingeklebt. Anmerkung

Fig. 50. v. Poseidont. zu Paestum (nach Reynaud)

mit Tinte: „Fig. 51.“ Legende in Bleistift: „Tempel zu Sunium“]

Das dorische Kapitäl der Griechen zerfällt so-

nach in 3 Haupttheile: Hals, Wulst, Deckplatte. Merkwürdig ist es nun allerdings, daß gerade wieder 3 Theile und sogar ähnliche Theile in ähnlicher Reihenfolge [fol.] 80. an dem altägyptischen sogenannten protodorischen Kapitäl von Benihassan vorkommen. Bei

Fig. 51. Tempel zu Sunium

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näherem Zusehen verflüchtigt sich die Ähnlichkeit immer mehr. Der Hals ist hier cannelirt wie der Schaft; bei den Ägyptern dagegen ist er das auch bei der Lotossäule übliche Bandgeflecht. Der Wulst ist hier steil ansteigend; bei den Ägyptern breit herabhängend, wie der untere Rand eines geschlossenen Lotoskapitäls. Ein wesentlicher durchgreifender Unterschied liegt aber in der Deckplatte. Diese ist wie schon früher gezeigt bei den Ägyptern gar keine Deckplatte, sondern ein Stück stehengebliebene Quaderwand und daher flüchtig mit dem Übrigen. [kleine Aufrisszeichnung am linken Blattrand in Bleistift] Demgegenüber ist der Abakus der Griechen eine wirkliche Deckplatte, welche weit ausladet und hinter welcher der Architrav bis zur Fluchtlinie des Säulenhalses zurückgreift. Auch der Architrav ist somit ein wirklicher ächter Architrav d. h. ein von Säule zu Säule frei übergelegter Balken, während das ähnlich liegende Quaderwerk der ägyptischen Bauten mit diesem Namen gar nicht sollte bezeichnet werden, denn [fol.] 81. es sind diese Steine nur Bestandtheile der ursprünglichen Mauer. So zeigt sich wie selbst die Wurzelform der Säule bei Ägyptern u. Griechen eine ganz andere ist. Die ägypt. W u r z e l f o r m ist die Mauer und d i e g r i e c h i s c h e d e r S t e i n b a l k e n - oder vielleicht Holzbalkenbau. Weit hinauf bis über die ältes­ ten Denkmäler verfolgt, müßten somit ägyptische und griechische Bauweise scharf geschieden als verschiedene Formengebiete die nichts mit einander gemein haben, als was notwendiger Weise nicht anders sein kann, dastehen.

Noch sind einige Bemerkungen über den technischen Aufbau griechischer

Säulen zu machen. Sie waren meist aus Stücken (Trommeln) zusammengesetzt. Diese wurden uncannelirt versetzt mit Holz od. Bronze Dübeln in der Mitte verbunden und die Lagerfläche innenzu sanft ausgehölt, so daß sie nur am Rand fest aufeinander standen. Auf diesen Rand wurden die einzelnen Trommeln noch obendrein durch Rotiren aufgeschliffen. Am Kapitälhals wurde die Cannelirung vor dem Versetzen angearbeitet und dieses angefangene Stück der Canneluren [fol.] 82. diente dann als Lehre für die Eintheilung dem ganzen Schaft entlang. Wegen dieses Vorganges ist einer der Einschnitte am Hals der mit dem Fugenschnitt zusammenfällt auch technisch notwendig, damit die bereits fertigen Cannelen­

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ecken beim Versetzen nicht abspringen. Ebenso ist es nötig auf die Deckplatten der Kapitäle nicht unmittelbar die Architrave aufzulegen, damit Absprengungen des frei ausladenden Theiles von vorne herein verhindert seien. Zu diesem Zweck blieb auf der Lagerfläche der Deckplatte in der Mitte eine quadratische Erhöhung (Scamillum) von geringer Höhe stehen (s. Fig. 50) und von einer Seitenlänge die beiläufig dem unterem Säulendurchmesser gleich kommt. [Anmerkung mit Bleistift am linken Blattrand: „16/12 87“]

Ebensolche Scamilli waren an der Unterfläche der jonischen Basen ange-

bracht.

Bisher wurde hauptsächlich die dorische Säule besprochen, und die Ent-

stehung u. Bedeutung ihrer Theile nachgewiesen.

Viel schwieriger ist es die jonische Kapitäl- und Säulenbildung, ja den joni-

schen Styl überhaupt genetisch zu erklären. Selbst in den ältesten erhaltenen Denkmälern [fol.] 83. steht die jonische Bauweise schön völlig fertig da u. zwar gleichwertig neben der dorischen. Demzufolge hat es den Anschein als ob beide Stylarten gleichzeitig neben einander entstanden wären. Dem würde auch die räumliche Verbreitung beider Stylarten ziemlich gut entsprechen. Der dorische Styl beherrscht nämlich den Peloponnes, Sicilien und Unteritalien also den Wes­ ten des griechischen Culturgebietes, während der jonische Styl in Kleinasien hauptsächlich zu Hause ist und in Attika eine gleichwertige Mischung beider Style zu Stande kam.

Dagegen weißt die notwendige Schlankheit der Säule überhaupt; die

Form der Cannelirung und das Fehlen von primitiven Resten auf eine Zeit von bereits reicher entwickelter Baukunst hin. Damit würde es übereinstimmen, daß der noch reichere und complicirtere korinthische Styl nachgewiesenermaßen erst der jüngsten Zeit angehört, und so wird es denn wahrscheinlich, daß die Pflege und Ausbildung des jonischen Styles der Zeit nach zwischen die älteste Zeit (welche dem dorischen Style gehört) und die jüngste Zeit der Herrschaft des korinthischen Styles fällt. Dieß [fol.] 84. gilt vermuthlich von seiner Pflege und besonderen Ausbildung, die Wurzelformen dieses Styles reichen aber bis zu den ersten Anfängen der Cultur Vorträge über Geschichte der Baustyle (1883–1884)

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zurück. Dieß gilt vor Allem von der Schnecke oder Volute des Kapitäls, jenes auffälligsten Merkmals dieser Bauweise. [In Bleistift eingefügt: „F(52)“] [Aufrisszeichnung, Bleistift auf Transparentpapier, eingeklebt. ­Anmer­kung mit Tinte: „Fig. 52“; Legende in Tinte: „(nach Stuart) v. Tempel am Ilissus“.

Maßangaben in Bleistift: „Archi­

trav 1’ 7“.866 Fries 1’ 6“ 45“ und Beschriftung, die durch Beschneiden des Transparentpapiers fehlt, sich aber in der nächstfolgenden Figur

Fig. 52. (nach Stuart) v. Tempel am Ilissus

ergänzend fortsetzt: „St … li … Jon … am“]

Diese Volute kommt auch an griechischen Arbeiten in sehr verschiedener

Verwendung vor, wie die Figuren 54–57 zeigen. [Aufrisszeichnung, Bleistift auf Transparentpapier, eingeklebt. Anmerkung mit Tinte: „Fig. 53.“ Legende in Bleistift, die durch Beschneiden des Transparentpapiers teilweise fehlt, jedoch den Text der vorhergehenden Figur ergänzt: „… uart … f I Pl. XII … ischer Tempel … Ilissus“] sowie zahlreiche Maßangaben].

Hinreichend bekannt die die massenhafte Verwendung solcher Spiralen-

züge zur Decoration der griechischen Vasen.

Fig. 53. [St]uart … f I Pl. XII … [ion]ischer Tempel … Ilissus

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[fol.] 85.

Fig. 54–56

Fig. 57. Sesselfuß ­eines archaisch: ­Reliefs in Villa Albani

Fig. 58. Niniveh

[3 Skizzen, Bleistift auf Transparentpa­pier, eingeklebt. Anmerkungen mit Tinte: „Fig. 54, Fig. 55, Fig. 56“]

Ganz ähnliche C förmige Spiralen sind auch von den persischen Säulen her

bekannt, dort stehen sie aber senkrecht an den Stamm angelehnt, statt wie hier horizontal darüber. [Skizze, Bleistift auf Transparentpapier, eingeklebt. Anmerkung mit Tinte: „Fig. 57.“ Legende unterhalb des Transparentpapiers in Tinte: „Sesselfuß eines archaisch: Reliefs in Villa Albani“] [Rechts daneben: Skizze, Bleistift auf Transparentpapier, eingeklebt. Anmerkung mit Tinte: „Fig 58.“ Legende in Bleistift: „Niniveh“]

Horizontal aber doppelt über einander kommen sie in einem Relief zu

Khorsabad vor s. Fig. 59. [Skizze, Bleistift auf Transparentpapier, eingeklebt. Anmerkung mit Tinte: „Fig. 59.“] Fig. 61. Indisches Kapitäl

Fig. 59

Fig. 60. Relief zu Khorsabad

[Rechts daneben: Skizze, Bleistift auf Transparentpapier, eingeklebt. Anmerkung mit Tinte: „Fig. 60“. Legende zu den Figuren 59 u. 60 unterhalb der eingeklebten Transparentpapiere in Tinte: „Relief zu Khorsabad“] Wieder in anderer Verwendung an anderen assyrischen Resten, wie in Fig. 58 u. 60. Vorträge über Geschichte der Baustyle (1883–1884)

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[Axonometrische Zeichnung, Bleistift auf Transparentpapier, eingeklebt. Anmerkung mit Tinte: „Fig. 61“. Legende unterhalb des Transparentpapiers in Tinte: „Indisches Kapitäl“]

Auch an indischen Kapitälen (Fig. 61) kommen solche Spiralen vor, aber

wieder anders geformt und anders angebracht.

Ja selbst an ägyptischen Bauwerken fehlt der Versuch nicht die ornamen-

[fol.] 86. tale Wurzelform der Spirale gelegentlich einmal auch zur Auszierung von Kapitälen zu verwenden wie in dem Hathorkapitäl zu Ibsambel in Fig. 62. [Perspektivische Skizze in Bleistift auf Transparentpapier, eingeklebt. Anmerkung mit Tinte: „Fig. 62“. Legende unterhalb des Transparentpapiers in Tinte: „Hatorkapit: von Ibsamboul (nach Champollion)“93]

Auch an etrurischen Werken (Fig. 63) kurz

überall wo gebaut wurde kommen solche Versuche vor und ü b e r a l l a u f e i n e a n d e r e A r t , was wohl hinlänglich zeigt, daß jeder dieser Versuche ein origineller gewesen. [Perspektivische Skizze in Bleistift auf Transparentpapier, eingeklebt. Anmerkung mit Tinte: „Fig. 63.“ Legende unterhalb des Transparentpapiers in Tinte: „Grabkammer bei Cervelli“]

Fig. 62. Hatorkapit: von Ibsamboul (nach Champollion)

Die Urform hiezu muß aber überall vorhan-

den gewesen sein in Indien und Ägypten so gut wie in Italien, Griechenland und anderwärts und diese überall vorhandene gemeinsame Urform ist die Bronzespirale der Urzeit, wie sie an ältesten Kunstwerken

93 [Hathortempel von Abu Simbel in Nubien, erbaut von König Ramses II. 1963–1969 wegen der bevorstehenden Überflutung durch den Assuanstausee abgetragen und auf höherem Standort wiederaufgebaut. Champollion, Jean-François: Monuments de l’Égypte et de la Nubie. Notices descriptives conformes aux manuscrits autographes rédigés sur les lieux. Paris: Firmin Didot 1844–1871.]

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Fig. 64. Von einer Grab-Stele aus Mykene (Schliemann) Fig. 63. Grabkammer bei Cervelli

[Skizze, Bleistift auf Transparentpapier, eingeklebt, rechts daneben eine weitere Skizze, Bleistift auf Transparentpapier, eingeklebt. Dazwischen Anmerkung mit Tinte: „Fig. 64“ Unterhalb des Transparentpapiers links Legende in Tinte: „Von einer Grab-Stele aus Mykene (Schliemann)“] [fol.] 87. in übermäßiger Menge vorkommt und in dieser Form aus Fig. 64, den Verzierungen einer Grab-Stele von Mykene zu entnehmen ist. [Aufrisszeichnung, Bleistift auf Trans­

Fig. 65. aus Athen

parentpapier, eingeklebt. ­Anmerkung mit Tinte: „Fig. 65.“ Legende unterhalb des Transparentpapiers in Tinte: „aus Athen.“] [Darunter: Aufrisszeichnung, Bleistift auf Transparentpapier, eingeklebt. Anmerkung mit Tinte: „Fig. 66.“ Legende unterhalb des Transparentpapiers in Tinte: „Vom Erech­ theion.“]

Fig. 66. Vom Erechtheion

Es ist nun bei Betrachtung aller

vorgeführten Varianten auf den ersten Blick zu ersehen, daß die Griechen sich aus all den möglichen Fällen den entschieden günstigsten auswählten. Schon das allein beweist ihr Feingefühl für Kunstbildungen; aber auch die Durchbildung des gegebenen Themas ist ihnen aufs Herrlichste gelungen.

Vorträge über Geschichte der Baustyle (1883–1884)

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[Anmerkung am linken Seitenrand mit Bleistift: „2/1 88“] Die Spirale selbst ist in ihrem freien elastischen Schwunge von vollendetster Schönheit; die Zertheilung in einzelne Streifen bereitet die Streifen des Architraves entsprechend vor, während die Rinnen an der übergeworfenen Seite einen Ausklang der Schaftcannelirung enthalten; dazu der einfach [„einfach“ durchgestrichen] regelmäßig decorirte Hals und Wulst und die leichte Deckplatte und alles in reicher aber zart vertheilter Polichromie u. Vergoldung prangend. In Wahrheit ein Bautheil [fol.] 88. von vollendeter Pracht u. Schönheit.

Die Höhe des a t t i s c h - j o n i s c h e n Kapitäles beträgt in der Regel 1/2 D (un-

tere Säulendurchmesser); die Höhe des j o n i s c h e n K a p . ist etwas geringer, während umgekehrt die Höhe der attischen Basis (Fig. 35) 1/2 D beträgt und die der jonischen (Fig. 33, 34, 36) etwas größer ist und circa 5/8 u D. beträgt. Die Höhe der ganzen jonischen Säule beträgt über 7 bis zu 10 Durchmesser.

Die Verjüngung 2/11–1/7 u D.



Der Schaft hat 24 Cannelen,

welche stets kreisrund und tief geschnitten sind so daß sich ihr Profil (s. Fig. 53.) einem Halbkreise nähert und dadurch die Anbringung eines Plättchens zwischen je zwei Rinnen erfordert, welches auch nie fehlt. Die Rinnen sind oben u. unten halbkreisförmig geschlossen. [Aufrisszeichnung, Tusche auf Transparentpapier, eingeklebt. Links daneben außerhalb des Transparentpa-

Fig. 67. vom Monument des Lysikrates

piers in Tinte: „Fig. 67. vom Monument des Lysikrates“]

Die korinthische Säule unterscheidet sich von einer schlankeren reichde-

corirten jonischen nur durch das Kapitäl. Basis und Schaft sind gleich. Das Kapitäl besteht aus einem glatten kelchförmigen Kern (Kalathos) [fol.] 89. um den sich ein Kranz von Akanthusblättern mit einer Krone von Ranken und Blüthen legt.

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[Aufrisszeichnung, Bleistift auf Transparentpapier, eingeklebt. ­Anmerkung mit Tinte: „Fig. 68.“ Legende unterhalb des Transparentpapiers in Tinte: „Korinth: Ordnung vom Thurm der Winde“]

Das einzige derartige ächt grie-

chische Kapitäl ist übrigens das vom Monument des Lysikrates, das sogen. Kapitäl des Kallimachos. Fig. 67. Ein zweites in den Ruinen von Milet gefundenes bekundet schon römischen Einfluß.

Dem vom Thurm der Windes feh-

len die Ranken unter der Deckplatte, welche durch Schilfblätter ersetzt sind, ein wenig geeigneter Schmuck, weil durch ihn verschiedenen wichtigen Bedingungen nicht entsprochen wird, wie dem Übergang aus dem runden Schaft in die quadratische Deckplatte, der Beugung der Laubwerke unter dem Drucke der Deckplatte u.s.w. [Einfügung mit Bleistift: „(F 68)“]

Die Werke des korinthischen

Fig. 68. Korinth: Ordnung vom Thurm der Winde

Styles gehören überhaupt der spätesten Zeit an nach Alexander und unter den Römern und sind uns nicht erhalten. [fol.] 90. [Aufrisszeichnungen in Seiten- und Vorderansicht, Tusche auf Transparentpapier, eingeklebt. Anmerkung in Tinte: „Fig. 69.“ Legende in Tusche: „Atlant zu Girgenti“]

Statt der Säulen wurden an den

Wänden auch Pilaster verwendet und

Fig. 69. Atlant zu Girgenti

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auch menschliche Figuren von welchen die männlichen als A t l a n t e n gedacht sind, wie sie zur Strafe für ihren Aufstand gegen Zeus u. die Herrschaft der Götter gleichsam das Himmelsgewölbe, der Mythe entsprechend, tragen; während die weiblichen K a r i a t h i d e n hießen, nach dem ans Erechtheion angebautem Siegesdenkmal über die aufständischen Kariathen, deren Frauen hier gleichsam in Sklaverei das Gebälk tragen. In beiden Fällen sind die Figuren jedoch von ruhiger ernst architektonischer Haltung [eingefügt in Bleistift: „69.“] [Profilzeichnung, Bleistift auf Transparentpapier, eingeklebt. Legende links neben dem Transparentpapier in Tinte: „Fig. 70. Vom Tempel am Ilissus bei Athen.“]

Die H a u p t g e s i m s e sind in der griechischen Architektur so gedacht und

durchgebildet, daß sie in ihrer Gesammtmasse zunächst den Säulen gegenüber immer e i n i n s i c h g e s c h l o s s e n e s G a n z e s bilden.

Innerhalb dieser einheitlichen Zusammenfassung aber sind sie wieder

derart gegliedert, daß jeder Unter[fol.] 91. theil wieder ein in sich geschlossenes Ganze bildet.

Diese S e l b s t s t ä n d i g k e i t d e r E i n z e l t h e i l e ist trotz des strengen Zusam­

menfassens zum Ganzen, doch bis zu einen Grad gewahrt, wie dieß in keinem anderen Style außer dem griechischen mehr in so hohem Grade der Fall ist. [Schnittzeichnung eines Profildetails, Bleistift auf Transparentpapier, eingeklebt. Eintragungen mit Tinte: „Fig. 71. Jonisches Gebälk a. Zahnschnitt b. Fugenschnitt.“ Quer dazu Dreiteilung: „I, II, III“ der einzelnen Profilabschnitte und deren Bezeichnung: „Epistylion“, „Zophoros“, „Hängeblatt“, „Geison“, „Sima“; x Bem: „Wenn ausnamsweise einer dieser 3 Theile (einer der unters­ ten) fehlt, so hat das immer einen besonderen Grund. Die Ausname von der“ Text fortgesetzt auf der unterhalb eingeklebten Zeichnung]

Dabei gehen harmonisch durch alle Bautheile dieselben (3) Hauptregeln

hindurch.

Eine solche H a u p t r e g e l i s t d i e D r e i t h e i l u n g x [ das hochgestellte

„x“ bezieht sich auf die Anmerkung „x Bem.“ auf den eingeklebten Zeichnungen „Fig 71.“ und „Fig. 72“; siehe oben und unten]. Ihr zufolge hat jeder Einzel-Bautheil ein Fußgesimse einen Mitteltheil und ein Bekrönungsgesimse, also Anfang Mitte und Endigung. So zerfällt auch das Gebälke wieder in Architrav (Epistylion) Fries (griechisch: Zophoros oder Thrinkos) und Kranzgesimse (Geison, Sima).

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[Schnittzeichnung eines Profil­details, Bleistift auf Transparentpapier, einge­ klebt. Eintragungen mit Tinte: Fortsetzung des Textes von der oberhalb eingeklebten Zeichnung (Fig. 71): „Regel ist immer motivirt, wodurch die Regel selbst aufrechterhalten bleibt.“ Legende: „Fig. 72.“ Bildunterschrift unterhalb der eingeklebten Zeichnung – bzw. der Zeichnungen, nimmt man die beide umfassende Bleistift-Klammer zur Kenntnis – in Tinte: „Aus den Ruinen von Eleusis. Jonisches Gebälk.“] [Bleistiftanmerkung am linken Seitenrand: „12/1 88“]

Der A r c h i t r a v ist bei der do-

rischen Ordnung meist aus einem einzigen Balken mit Bekrönungsplättchen gebildet Fig. 73; bei der jonischen (Fig. 70 u 71) u. korinthischen (Fig. 68.) besteht er aus mehreren Streifen meist aus dreien sammt einfachen Bekrönungsstäbchen.

Der Fries ist [„ist“ durchgestri-

chen] bildet bei der ion. u. korinth. Ordnung eine ununterbrochen fortlaufende Fläche mit figuralen Darstellungen oder ornamentalem Schmuck u. zw. plastisch oder bemalt.

Sehr beachtenswert ist die archi-

tektonische Gliederung des d o r. [fol.] 92. Frieses, nämlich die bekannte Ein­

Fig. 71, 72. Aus den Ruinen von Eleusis. ­Jonisches Gebälk

thei­lung in Triglyphen u. Metopen.

Bei den Griechen besteht bei dieser Theilung die vom römischen u. Re-

naissance-Typus wesentlich abweichende Anordnung, daß der E c k t r i g l y p h Vorträge über Geschichte der Baustyle (1883–1884)

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n i c h t i m S ä u l e n m i t t e l steht, sondern an der Ecke, was bei gleichbleibender Metopenbreite ein Hineinrücken der Ecksäulen bedingt. [Aufrisszeichnung

eines

Details,

Bleistift auf Transparentpapier, eingeklebt. Legende in Tinte: „Fig. 73. Dor: Gebälk vom Theseus-Tempel zu Athen.“ Maßangabe an der Triglyphe: “x … ½D … x.“ Ergänzende Skizze mit Tinte: „Fig. 73 a. Architr: Höhe = 2/3–5/6 D.“]

Diese

Anordnung

ist

dann,

wenn die Metopen geschloss e n u n d f l ü c h t i g mit dem Architrav sind, weder nötig noch auch die schönere der beiden Varianten. Dieser specielle Fall der geschlossenen u. flüchtigen Metopen ist aber nicht der specifisch griechische, obwohl er an verschiedenen Werken auch vorkommt.

Die urälteste griechische Form ist

die gewesen, daß die Metopen leere

Fig. 73. Dor: Gebälk vom Theseus-Tempel zu Athen

Licht- u. Luftöffnungen (gleichsam Fenster) bildeten zwischen viereckigen Steinpfeilern, den Triglyphen. Bei dieser Anordnung ist es natürlich unerläßlich, daß der Steinpfeiler der Triglyphe ans Eck hinausrückt. Diese Anordnung erhilt sich dann traditionell; es ist aber beachtenswert, daß sie gerade in der ältesten Bauweise der Griechen ihre Wurzel hat.

Erhalten blieb dieser älteste Formbegriff nachklingend noch in den tief-

liegenden Metopen mit Hochrelief-Figuren. Auch bei dieser Anordnung ist die Eckstellung der Triglyphen unvermeidlich, man [fol.] 93. möchte sagen: „ein notwendiges Übel“, denn, wie aus Fig 73 a ersichtlich decken sich dabei die Flucht a desr Metopengründe nicht mit der Architravflucht b, was für die Eckbildung entscheidend wird.

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[Schnittzeichnung eines Profildetails in Bleistift, auf Transparentpapier in zwei Teilen, eingeklebt. Legende in Tinte: „Fig. 74“. Anmerkung in Bleistift: „Kranzgesimse vom Zeustempel zu Egina.“ Unterhalb der eingeklebten Zeichnungen drei kleine Profilskizzen in Tinte mit den Beischriften: „dorisches Sima und jonisches Sima“.]

Freilich haben es die Griechen verstanden sich aus diesem Dilemma sehr

geschickt zu ziehen; so geschickt, daß der ursprüngliche Notbehelf schließlich förmlich als Vorzug erscheint.

Die stark vertieften Metopen wurden nämlich, wie schon bemerkt, mit

vollständig rund gearbeiteten Statuen geschmückt. Gerade diese volle Plas­ tik steht aber im harmonischen Einklang mit den ebenfalls vollplastischen Figuren des Giebelfeldes mit der vollplastischen Erscheinung der freistehenden Säulen der Vorhalle und des äußeren Säulenumganges und endlich dieß alles zusammengenommen steht in richtiger Gesammtwirkung zu der freien Umgebung der Natur, einer Natur in der Menschen Bäume und Felsen ja auch vollplastisch dastehen. Das ganze Äußere eines griechischen Baues ist somit systematisch in voller Plastik, im Hochrelief durchgeführt.

Anders verhält es sich mit dem Inneren. Hier ist der Raum und Blick eng

begränzt; an Stelle der unendlichen Weite der Natur tritt hier die Scheinnatur der Malerei, welche die Rundungen und Tiefen auf ebener Fläche darstellt und in feinempfundener Übereinstimmung hiemit wurden im Innern die Figurenfriese von den Griechen hier nicht mehr rund sondern in flachem Basrelief dargestellt. So stimmt denn schließlich Alles aufs Beste.

Ausgeführt wurden Triglyphen u. Metopen bald aus getrennten Stein-

blöcken wie am Parthenos, Theseust., Tempel zu Aegina etc. bald aus einem einzigen Stück wie zu Nemea, Rhamnus, Samothrake etc. [Bleistiftanmerkung am linken Seitenrand: „20/1 88“]

Auch die Bildung der Kranzgesimse ist in dorischer und

[fol.] 94. jonischer Ordnung sehr verschieden. Eine eigene korinthisch-griechische Form ist nicht bekannt.

Die Unterschiede zwischen der Profilirung der dor. u. jon. Rinnleiste sind

aus Fig. 74 zu ersehen. Beachtenswert ist in der dorischen Ordnung noch die verhältnißmäßig bedeutende Höhe der Deckplatte und damit in Einklang die geringe Ausladung der Rinnleiste (des Sima.). Die dor. Deckplatte ohne Sima hat 1/2–1/3 D Ausladung und 1/3–1/5 D Höhe. Die Untersicht der schrägen Vorträge über Geschichte der Baustyle (1883–1884)

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dorischen Hängeplatten mit den Tropfen deren 18 (3 x 6) auf eine Platte kommen, deren wieder je eine ober jedem Triglyph und jeder Metope angebracht ist, verändert sich so wie es aus Fig. 75–77 ersichtlich wobei Fig. 75 den älteren, 76 den mittleren und 77 den neueren Tipus vorstellt. [Drei Profildetails, skizziert mit Tinte mit Legenden: „Fig. 75 Fig 76. Fig. 77“]

Die Ausladung d. jon. Deckplatte beträgt 2/3 D u. der attischen 3/8 D.



Die Höhe der jon. Deckplatte (ohne Sima aber sammt Zahnschnitten) be-

trägt 3/4 D und die der attischen 1/2 D.

Zur Übereinstimmung mit der Gesammtheit des jonischen Aufbaues ist

auch beim Kranzgesimse eine größere Zierlichkeit u. Leichtigkeit u. zugleich ein größerer Reichthum an Ziergliedern erforderlich. Beides wurde erreicht durch Ausbildung einesr reichen Kehlprofilirung. Man kann sich dabei (wie in Fig. 71.) die Hängeplatte in zwei Theile zerlegt denken, deren unterer Theil (I) zur Bildung des Kehlgesimses mit den Zahnschnitten verwendet wird, während der obere Theil (II) die eigentliche Deckplatte mit der Wassernase bildet.

Von Wichtigkeit ist die Verbindung des Gebälkes mit der dahinterliegen-

den Decke. Man möchte meinen (besonders bei der dorischen Ordnung) [fol.] 95. daß die Hauptbalken der Decke unmittelbar auf den Architraven liegen und somit die Triglyphen deren Köpfe bezeichnen. [Mehrteilige Detailzeichnungen in Bleistift auf Transparentpapier, eingeklebt. Legende in Tinte: „Fig. 78“. Legende in Bleistift: „Der Parthenon in Athen.“ Anmerkungen mit Tinte: „Stylobat“. – schräg: „Stereobat d. i. der innere Kern“ – Abschnittsbezeichnung quer: „Fels“ und „Beschüttung“] [fol.] 96. [Perspektivische Zeichnung, teilweise aufgeschnitten, Bleistift auf Transparentpapier, eingeklebt. Legende mit Tinte: „Fig 78 a. Aufbau der Nordseite des Parthenons.“]

Dieß ist jedoch nur an einigen ältesten dorischen Werken so, sonst aber

befindet sich die Decke in der Höhe der Hängeplatte, wie dieß aus Fig. 78 ersichtlich.

Diese Decke (Kalymmatiendecke oder Stroterondecke) besteht aus steiner-

nen Unterzügen und Deckplatten, deren Untersicht cassettirt ist, und zwar stets möglichst regelmäßig; nahezu quadratisch. Der Grund der Cassette und

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Fig. 78 a. Aufbau der Nordseite des Parthenons

die Profilirungen sind stets reich decorirt. Bei Decken über sehr großen Spannweiten kommen auch zwei Lagen von Steinbalken oder Rahmen vor bis die letzten Deckplatten eingesetzt werden, wie in Fig. 79 u. 81.

An der Vor- u. Rückseite der Tempel folgt der bei griechischen Bauten im-

mer niedere Giebel der wenig steilen Dachfläche. Die Umrahmung des Giebels wird aus den sich gleichsam spaltenden Bestandtheilen des Kranzgesimses derart gebildet, daß die Deckplatte mit den Tropfen aber ohne Sima die Basis des Dreiecks bildet und das Sima mit Hängeplatte aber ohne Tropfen die beiden oberen ansteigenden Schenkel. Vorträge über Geschichte der Baustyle (1883–1884)

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Fig. 80 a b c d

[fol.] 97.

Am Scheitel und an den beiden Seitenenden des Giebels waren figurale

oder decorative Aufsätze angebracht, Mittel- u. Seiten-Akrotherien.

Das Dachwerk war ein hölzerner Pfettenstuhl. Die Dachdecke wurde aus

Marmorplatten in wohlberechneten Falzungen (siehe Fig. 78.) oder aus Ziegeln hergestellt, welche auch diesem System folgte. Demzufolge unterscheidet man

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a Regenziegel b . Deckziegel c . Stirnziegel d . Firstziegel [Drei Detailskizzen in Tinte mit Legende: „Fig. 80 a b c d“] [Detailzeichnung, Bleistift auf Transparentpapier, seitenverkehrt eingeklebt mit Legende in Tinte: „Fig. 79.“] Fig. 81. Durchschnitt von der Seitenhalle des Mausoleums

[fol.] 98. Zur vollendeten Dachdecke sind im-

mer alle vier Gattungen nötig, constructiv unerläßlich die beiden ersteren. [Detailzeichnung, Bleistift auf Transparentpapier, eingeklebt. Legende in Tinte: „Fig. 81.“ Unterhalb der eingeklebten Zeichnung weitere Legende in Tinte: „Durchschnitt von der Seitenhalle des Mausoleums.“]

An alt dorischen Werken besonders in Sicilien dehnt sich die keramische

Verkleidung aber auch noch weiter vor über den Rand der Dachdecke und umkleidet auch noch das ganze Kranzgesimse. [Aufrisszeichnung, Bleistift auf Transparentpapier, eingeklebt. Legende in Tinte: „Fig. 82. Antentempel“. Anmerkungen in Tinte: „Giebelfeld (Tympanon)“, „Ante“, „Säulenbau (Peristyl)“, „Unterbau (Krepidoma)“]

Construction, Verbindung und Decoration ist dabei im Wesentlichen im-

mer so wie aus Fig. 84 ersichtlich.

Fig. 83 ist ein Beispiel eines reich decorirten Stirnziegels.

[Mit { zusammengefasst und mit Bleistift durchgestrichen: „Für die Akrotherien der Giebelseite, welche auch zuweilen in Terracotta ausgeführt wurden, wurden eigene Schämel (s. Fig. 82) zu gutem horizontalem Auflager vorbereitet.“]

Hiemit sind die wesentlichen Baubestandtheile

[fol.] 99. einzeln erörtert. [Detailzeichnung, Schnitt und Aufriss, Bleistift auf Transparentpapier, einge­ klebt. Legende in Tinte: „Fig. 83. (mit Bleistift durchgestrichen). Vom Tempel der Artemis zu Eleusis“94] 94 [Eleusis, Ort eines berühmten antiken Mysterienheiligtums in Attika, etwa 21 km westlich von Athen. Der Tempel der Artemis Propylaia stammt aus der römischen Kaiserzeit.] Vorträge über Geschichte der Baustyle (1883–1884)

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Fig. 82. Giebelfeld (Tympanon), Ante, Säulenbau (Peristyl), Unterbau (Krepidoma)



Der Zusammenbau zu einer ganzen Tempel-Façade erfolgte wieder nach

dem Grundmotiv der Dreitheilung.

Zu unterst ein horizontaler Unterbau (meist aus drei Stufenlagen) dann

die Säulenstellung und die Wände; hierauf als dritter abschließender Theil das Gebälk.

Eine andere Eintheilung kommt bei griechischen Tempel-Werken nicht

vor, auch ist das ganze Werk mit diesem einen Stockwerk erschöpft. [Detailzeichnung, Bleistift auf Transparentpapier. Legende in Tinte zum Großteil außerhalb der eingeklebten Zeichnung: „Fig. 84. Sima u. Geisonverkleidung vom Schatzhaus zu Olympia.“]

So war es zunächst eine weise Selbstbeschränkung welche es ermöglichte

in so einfacher Form dann auch das Äußerste an Harmonie u. Gleichgewicht zu erzielen.

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Fig. 83. Vom Tempel der ­Artemis zu Eleusis

[fol.] 100.

Zwei Säulenstellungen übereinander kommen nur im Innern vor wo sich

eine erhöhte Gallerie befand wie beim Poseidont: zu Pästum (Fig. 85) dem Parthenon zu Athen und Anderen.

Vorträge über Geschichte der Baustyle (1883–1884)

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Fig. 84. Sima u. Geisonverkleidung vom Schatzhaus zu Olympia

[Aufrissschnitt, Bleistiftzeichnung auf Transparentpapier, eingeklebt. ­Legende in Tinte: „Fig. 85“. Legende unterhalb der eingeklebten Zeichnung in Tinte: „Durchsch. d. Poseidont. zu Paestum.“]

Zur Beleuchtung wurde der mittlere Theil des Daches offen gelassen, so

daß der freie Himmel ins Innere sah wie in einen Hofraum (sog. hypetrale Anlage).

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Fig. 85. Durchsch. d. Poseidont. zu Paestum

[Grundrisszeichnung, Bleistift auf Trans­parentpapier, eingeklebt. Legende in Tinte: „Fig. 86“. Legende unterhalb der eingeklebten Zeichnung in Tinte: „Tempel d. Artemis Propylaia zu Eleusis“]

Schon aus dem Querschnitte von

Fig. 85 ist zu sehen, wie klein eigentlich der innere Raum dieser griechischen Tempel gewesen, während auf das Äußere und seinen mächtig wirkenden Säulenumgang bedeutendes Gewicht gelegt ist. [Grundrissskizze in Tinte, Legende: „Fig.

87

Prostylos“.

Daneben

Grund­­­risszeichnung in Bleistift auf Transparentpapier, eingeklebt. Le-

Fig. 86. Tempel d. Artemis Propylaia zu Eleusis

gende in Tinte: „Fig. 88.“ Legende Vorträge über Geschichte der Baustyle (1883–1884)

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­unterhalb der eingeklebten Zeichnung in Tinte: „Tempel der Nike apteros zu Athen“]

Der ältere Säulenumgang bildet denn in der That das specifisch griechi-

sche Hauptmotiv der ganzen Anlage und nach den Arten dieses Umgangs werden die Tempel auch seit dem Alterthum her benannt. [fol.] 101.

Fig. 89. Der Parthenos zu Athen Peripteros Fig. 90. Zeust. zu Athen Fig. 91. Pseudoperipteros Fig. 92. Apollotempel zu Bassae bei Phigalia

[Grundrisszeichnung, Bleistift auf Transparentpapier, eingeklebt. Legende außerhalb der eingeklebten Zeichnung in Tinte: „Fig. 89. Der Parthenos zu Athen. Peripteros“. Rechts daneben Grundrisszeichnung, Bleistift auf Transparentpapier, eingeklebt. Legende außerhalb der eingeklebten Zeichnung in Tinte: „Fig. 90. Zeust. zu Athen.“]

Die einfachste Form ist der A n t e n t e m p e l (Fg. 86). Diesem folgt der

P r o s t y l o s (Fig. 87), wenn nur vorne, und der A m p h i p r o s t y l o s (Fig. 88), wenn vorne und rückwärts eine offene Säulenreihe vorgebaut ist. Geht die Säulenreihe rings herum, was zumeist der Fall (Fig. 89.) so heißt dieser Tempel P e r i p t e r o s . [Grundrisszeichnung, Bleistift auf Transparentpapier, eingeklebt. Legende außerhalb der eingeklebten Zeichnung in Tinte: „Fig. 91. Pseudoperipteros“. Rechts daneben Grundrisszeichnung, Bleistift auf Transparentpapier,

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­eingeklebt. Legende außerhalb der eingeklebten Zeichnung in Tinte: „Fig. 92. Apollotempel zu Bassae bei Phigalia“95]

Zwei Umgänge (Fig. 90.) geben den D i p t e r o s und ein Umgang aber

von doppelter Breite, also in der Art, als ob vom Dipteros die innere Säulenreihe weggenommen wären, bildet den P s e u d o d i p t e r o s . [fol.] 102.

Die innere Zelle in welcher das Götterbild stand heißt Naos obgleich man

darunter auch den ganzen Tempel verstand; die Vorhalle, Pronaos; die ähnliche rückwärtige Halle heißt Posticum. Der Opisthodom ist der geschlossene Raum zwischen der Cella und dem Posticum. Der äußere Säulenumgang heißt Peristyl.

So bauen sich denn die constructiven Bestandtheile zu einem streng ge-

gliederten einheitlich geschlossenem Ganzen zusammen.

Aber auch die rein ornamentalen Motive, die Verzierungen an den Pro-

filen, alle nur aufgemalten Ornamente fügen sich streng der Ordnung des Ganzen, wachsen gleichsam aus den Grundformen der constructiven Bestandtheile heraus nach den gleichen Gestaltungsnormen. Um dieß zu zeigen wird es nötig wieder zu den Profilelementen zurückzukehren. [Detailzeichnung,

Ansicht

und

Schnitt, Bleistift auf Transparent­ papier,

eingeklebt.

Legende

in

Tinte: „Fig. 93.“ Legende in Bleistift: „J o n i s c h e s K y m a t i o n “]

Es kann mit Sicherheit angenom-

men werden, daß der sogenannte Eierstab (F. 93) zuerst im Verfolge einer rein technischen Entwicklung

Fig. 93. Jonisches Kymation

entstanden ist, und dass erst dann nachträglich die Ähnlichkeit seiner Hauptform mit einem Ei auffiel und dass dadurch auch erst nachträglich der Name „Eierstab“ entstand. Es ist dieß bei

95 [Phigaleia, antike Stadt im Südwesten Arkadiens in Gebirgslage. Im Ortsteil Bassai ionischer Peripteraltempel des Apollo Epikurios, erbaut Ende des 5. Jh. v. Chr. von Iktinos. Maße: 38,2 x 14,5 m (15 : 6 Säulen). Relieffries an der Cellamauer mit Darstellung des Kampfes von Amazonen, Kentauren und Lapithen.] Vorträge über Geschichte der Baustyle (1883–1884)

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allen solchen Benennungen so, bei welchen der Hergang bekannt ist, woraus zu vermuthen, daß es auch bei den übrigen Ziergliedern etc. ebenso gegangen ist. Es spricht aber noch ein [fol.] 103. anderer Grund dafür. Alle diese Zierleisten sind in der spätesten Kunst plastisch decorirt während diese Plastik immer mehr und mehr verschwindet je mehr man sich der älteren Kunst nähert und in den ersten Entwicklungsstadien der Kunst bleiben nur die glatten Profilstäbe übrig mit aufgemaltem Decor. Die späteren Modellirungen sind also fast durchwegs Übersetzungen aus der Malerei in die Plastik und wenn man die Entstehung und somit die urwüchsige Bedeutung solcher Motive zergliedern will, muß man daher zuerst auf ihre blos aufgemalte Urform zurückgreifen und von der plastischen Modellirung vorläufig absehen. Der Bemalung gegenüber kann es aber nicht zweifelhaft sein, daß der zu bemalende Architekturtheil zuerst da sein mußte, bevor an dessen Bemalung gedacht werden konnte. [Detailskizze in Tinte. Legende in Tinte: „Fig. 94“. Anmerkungen in Tinte: „a b c d“] Die Situation ist also die, daß ein glatter Viertelstab vorliegt, der irgendwie passend zu decoriren wäre, ohne daß man vorläufig noch wüßte wie. Wird die Aufgabe organisch constructiv zu lösen versucht, wie es in der griechischen Kunst wirklich der Fall, dann muß die Form des Stabes selbst maßgebend sein, damit diese Form durch die Decoration nicht zerstört, sondern nur noch besser hervorgehoben werde und so mit noch mehr [Detailskizze in Tinte. Legende in Tinte: „Fig. 95“. Anmerkungen in Tinte: „A B C a b 3 2 1 1 2 3“] [fol.] 104. Nachdruck zur Geltung käme. Es bedarf dieß aber keiner langen theoretischen Erwägung; sondern in der Praxis liegt selbst in der primitivsten Kunst das Mittel nahe. Es ist das der einfachen symmetrischen Wiederholung oder Reihung. Setzt man wie in Fig. 94. die Symetrieachse ab neben das Profil des Stabes wie es bei Gehrungen zum Vorschein kommt, und legt man diesen Gehrungsschnitt symmetrisch herüber so hat man bei fortgesetzter Wiederholung (Reihung) mittelst cd etc. schon den Grundzug des Motives. [Bleistiftanmerkung am linken Seitenrand: „3 / 2 88 /…/“ unleserlich, viell.: „fast“]

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Die weitere Ausbildung durch Nebeneinandersetzen primärfarbiger lich-

ter und dunkler Streifen hat dann auch schon ihren Weg unabänderlich vorgezeichnet. Die Linien können nur auf zweierlei Art geführt werden entweder parallel zu einander oder senkrecht auf einander. Der Parallelismus ist das näherliegende und so entstehen die Linienzüge 2 u. 3 parallel zu 1 in Fig. 95. Für den unteren dreieckigen Zwickel auch den Parallelismus zu wählen, wie bei b. Fig 95. wäre ungünstig weil dadurch die Hauptlinie 1. wieder verdunkelt würde indem sie in einem System von vielen Parallelen förmlich unterginge. Es wäre aber auch langweilig nur den Parallelismus allein ohne Contrast anzuwenden. Somit erscheint der senkrechte Stoß, wie bei a Fig. 95 als die [fol.] 105. günstigere Variante und die Decoration des Stabes ist nun schon hinlänglich completirt. Man sieht daß nach diesem System von Farbstreifenlegungen in der That eine Menge ältester Decorationen (dorisches Kima etc.) gelegt sind. Denkt man sich diese Farbstreifen von Fig 95 nun z. B. in folgender Weise: A gold B blau; C weiß und soll nun diese ganze Decoration in Plastik übersetzt werden so wird das Gold ein flaches Plättchen bleiben, Blau eine Vertiefung und das Weiß eine abgerundete Erhöhung werden und der bekannte Eierstab ist fertig. Er ist von selbst entstanden durch allmälige consequente Weiterbildung des gegebenen Grundmotives. Zuletzt erhält er wie recht und billig auch einen Namen.

In ähnlicher Weise wird die Entwicklung mancher anderer ein constructiv

technischer Motive der griechischen Decoratioin gleichfalls zu denken sein. [Detailzeichnung in ­ Ansicht und Schnitt, Bleistift auf Transparentpapier, ­

eingeklebt.

Le­gende in Tinte: „Fig 96.“ Legende in Bleistift: „ L e s b i s c h e s K y m a t i o n “ . Rechts daneben kleine Detailskizze in Tinte.]

Jedenfalls ist es beachtens-

wert wie genau sich alle grie-

Fig. 96. Lesbisches Kymation

chischen Stabverzierungen Vorträge über Geschichte der Baustyle (1883–1884)

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[fol.] 106. der

Querschnittlinie

des

Stabes

selbst anschmiegen. So besonders beim Herzblatt Fig. 96. [Detailzeichnung, Bleistift auf Transparentpapier, eingeklebt. Legende außerhalb der eingeklebten Zeichnung in Tinte: „Fig. 97. Gemalter Rundstab“. Rechts daneben kleine Skizze

der

räumlichen

Ansicht.

Darunter: Drei Detailzeichnungen in Bleistift auf Transparentpapier, eingeklebt. Legende außerhalb der eingeklebten Zeichnung in Tinte: „Fig. 98. sog. Perlschnüre.“ Darunter kleine Detailskizze in Tinte.]

Einen Rundstab mit senkrechten

Streifen zu bemalen ist deßhalb am

Fig. 97, 98. Gemalter Rundstab. Perlschnüre

wirksamsten, weil er dadurch gleichsam in eine Reihe Querschnitte zerlegt wird, welche in allen perspectivischen Stellungen seine Rundung präcise wiedergeben.

Die Perlschnüre sind wohl wirk-

lich Nachahmungen dieses bis in

Fig. 99

die ältesten Zeiten zurückgehenden Schmuckes. Die Übereinstimmung von Hauptform u. Detail nach dem hier angegebenem Gesetz ist bei ihnen aber nicht gleichgiltig, denn in der That wird ihr Schönheitswert immer geringer; je mehr sich die Gestalten der einzelnen aneinander gereihten Perlen von der Kugelform entfernen. Nur durch mäßige und regelmäßige Einschaltung kleiner contrastirender Scheiben entsteht eine Steigerung des Gesammtreizes der aber bei noch weiter gehenden Abweichungen rasch abnimmt. Für gerade Platten z. B. d. dorischen Abakus ist der sog. Mäander [Zwei Detailskizzen, in Tinte gezeichnet auf getrennte Stücke Pergamentpapier, eingeklebt. Legende außerhalb der eingeklebten Skizzen: „Fig. 99.“]

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[fol.] 107. die ausschließlich beliebte Form. In der That besteht er wieder nur aus senkrechten und horizontalen Geraden d. i. also ausschließlich aus den beiden Linien des Plattenprofiles das er ziert. [Fünf Detailskizzen untereinander in Tinte gezeichnet auf Transparentpapier, eingeklebt. Legende unterhalb der eingeklebten Zeichnung: „Fig. 100.“]

Hier ist jedoch die Entstehung wieder anders.

Diese geradlinigen Bänder erfüllen massenhaft die Ornamentik aller Urvölker. Überall ist jedoch der Zickzack die Grundform für alle Varianten. Auch die ältesten Spuren griechischer Ornamentik gehören diesem Stadium der Entwicklung an. Die Griechen sind nun aber die Einzigen unter allen Völkern, welche aus dieser ganzen Gruppe die schrägen Linien complet ausmerzten und diese Bandverschlingungen nur aus Senkrechten und Horizontalen zusam-

Fig. 100

mensetzten. Hiedurch entstand der specifisch griechische Mäander, Fig. 100 u. 99. Die treibende Ursache ist aber keine andere, als die Absicht diese Bänder mit der Grundform des Architekturtheiles oder Gewandsaumes etc. an dem sie sich befinden in vollständige harmonische Übereinstimmung zu setzen, so zwar daß auch nicht der kleinste Rest von Disharmonie zurück bleibt. Das ist ächt hellenisch; so wirkten sie in der Kunst in [fol.] 108. Allem und kann ihre Feinempfindung für Harmonie kaum je zu hoch angeschlagen werden.

Zu beachten wäre auch die Übereinstimmung zwischen der S förmigen

Simaform und den S förmigen Rankenzügen und Palmettenlinien an Decoration derselben; ferner zwischen den kreisförmigen Linienzügen der sogenannten R i e m e n g e f l e c h t e (Fig. 101, 102 u. 103) u n d d e r e n W u l s t r u n d selbst zwischen. [Detailzeichnung, Bleistift auf Transparentpapier, eingeklebt. Legende unterhalb der eingeklebten Zeichnung in Tinte: „Fig 101“. Darunter eine weitere Detailzeichnung, Bleistift auf Transparentpapier, eingeklebt. Legende unterhalb Vorträge über Geschichte der Baustyle (1883–1884)

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der eingeklebten Zeichnung in Tinte: „Fig 102“. Darunter eine weitere Detailzeichnung, Bleistift auf Transparentpapier, eingeklebt. Legende teilweise unterhalb der eingeklebten Zeichnung in Tinte: „Fig. 103“].

Wie schon an dem Beispiele des

Mäander gezeigt wurde braucht diese Regel der Übereinstimmung nicht mit dem Hergang und der Ursache der Entstehung eines solchen Ornamentes identisch zu sein.

Ja, nachdem diese Regel endlich

herrschend geworden, braucht sie bei den Griechen selbst nicht einmal theoretisch ausgesprochen gewesen zu sein; genug daß sie in ihrem Gefühle in ihrem Formensinne lag und beobachtet wurde. Nur im Sinne ei-

Fig. 101–103

nes verstandesmäßigen Eindringens in die Gefühlsweise [fol.] 109. der griechischen Kunst können solche Regeln aufgestellt werden; und in diesem Sinne sind schon manche Gesetze griechischer Formbildung erkannt und klargemacht worden, manche andere schlummern gewiß noch in diesen harmonischen Formgebilden und harren der Auffindung.

In diesem Sinne ist auch das von Bötticher entdeckte und in seiner „Tec-

tonik der Hellenen“96 erläuterte Gesetz der griechischen Formbildung: als Symbolisirung der in den Baugliedern wirkenden statischen K r ä f t e aufzufassen. Diese äußeren ornamentalen Zeichen sind nach Bötticher: A. Sinnbilder des Bindens a Als Übergang aus einer Form in die andere (Säulenbase, Kapitäl) b . als Bindung und Verknüpfung (Bänder, Riemen, Perlschnüre, Laubgewinde, Riemengeflechte, Mäander, Antemienbänder d. i Rankengeflechte.) 96 [Bötticher, Carl: Die Tektonik der Hellenen. Potsdam: Riegel 1852.]

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[Detailzeichnung, Bleistift auf Transparentpapier, eingeklebt. Legende in Tinte: „Fig. 104“. Anmerkung in Bleistift: „7.“ Unterhalb eine weitere Detailzeichnung, Bleistift auf Transparentpapier, eingeklebt. Anmerkungen in Bleistift: „13. 14“. Rechts daneben weitere Detaílzeichnungen in Bleistift auf Transparentpapier, eingeklebt, Anmerkungen mit Bleistift: „8. 9. 10. 11“, nur teilweise sichtbar: „12“. Unterhalb der eingeklebten Zeichnung Legende in Tinte: „Fig. 105.“]

Fig. 104, 105. A. Sinnbilder des Bindens

[fol.] 110. B. Sinnbilder der Endigung a F r e i e E n d i g u n g (Aufwärtsstehende Palmetten, Akrotherien, Stirnziegel.) b . U n f r e i e E n d i g u n g Belastete Blätter nämlich: Blattüberfall (dor. Kima)

Blattwelle (lesbisches Kima)



Eierstab (Echinus-Kima)

C Sinnbilder der Richtung a L o t r e c h t e s A u f s t r e b e n dieß ist ausgedrückt in den Cannelen den Triglyphen u.den pflanzenstängelartigen dünnen Schäften der Bronze-Candelaber. b . w a g r e c h t o d . g e n e i g t Vo r s p r i n g e n d e s Vorträge über Geschichte der Baustyle (1883–1884)

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Die Viae sammt der Eckpalmette Die Geisipodes (Zahnschnitte) Die Mutuli (deren Existenz an echt griechischen Werken allerdings sehr fraglich ist.[)] [Kleine Detailzeichnung mit Tinte] c . F r e i e s E n t l a s s e n (Blätter, Kelche, Masken, Löwenköpfe, Füllhörner, Vasen.) d . G i p f e l b i l d e n d e s Akrotherien, Stirnziegel, Palmetten, Anthemien, Blumenkronen, Figuren. D . S i n n b i l d e r d e s R ä u m l i c h e n Wände, Fußboden und Decken, Meto­ pen, Fries, Giebelfeld. [fol.] 111.

Als in neuerer Zeit die griechischen Denkmäler zum erstenmale unter-

sucht und aufgenommen wurden, erregten einige ganz unerwartete Entdeckungen ein derartiges Aufsehen, daß diese Enthüllungen griechischer Formgebung und Kunstempfindung anfangs gar nicht für richtig gehalten, gar nicht geglaubt wurden.

Hieher gehören vor allem die Entdeckung der sog. Curvaturen und der

griechischen Poliychromie.

Die Curvaturen (d. i. Krummziehungen an den Stilobaten und den Gebäl-

ken) wurden durch Penrose97 entdeckt und am Parthenos zu Athen genau gemessen. Es stellte sich dabei heraus, daß diese langen horizontalen Linien nicht geometrisch genaue Gerade sind; sondern daß sie durchwegs sanft geschwellte Curven sind, daß also eine sanfte Schwellung der ganzen Säulenfront entlang besteht, gerade so wie die sanfte Schwellung jedes einzelnen Säulenschaftes. Noch mehr, es wurde auch die Schiefstellung der Säulen entdeckt, welche sich unmerklich nach einwärts neigen u. zw. um so stärker je weiter sie von der Mitte der Tempelfront entfernt sind. Hiedurch entsteht eine schwache Verjüngung des ganzen Tempels geradeso wie die Verjüngung beim einzelnen Säulenschaft üblich ist. Also Verjüngung u. Schwellung bei der ganzen Front gerade so wie beim einzelnen Säulenstamm, nur viel schwächer, unauffälliger. Die Gründe dieser Construction sind dieselben wie 97 [Penrose, Francis Cranmer: An Investigation of the Principles of Athenian Architecture. London: Longman 1851.]

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[fol.] 112. für Verjüngung u. Schwellung der Säule nämlich eine physiologische. Es sind Maßregeln zur Bekämpfung schwacher (aber ein freies Aug störender, beleidigender) Sinnesstäuschungen, denn bei senkrechter Säulenstellung würde die Säulenreihe scheinbar nach oben divergiren und bei geradlinigem Gebälk würde dieses umgekehrt ausgebaucht erscheinen.

Trotz dieser Begründung, welche nichts zu wünschen übrig läßt, versuchte

man das Ganze durch Setzungen der Fundamente zu erklären; aber weitere Untersuchungen ergaben gerade beim Parthenos die Unverrückbarkeit des Fundamentes, denn es ist vollständig auf festem Felsen (s. Fig. 78.) erbaut.

In gleicher Weise stieß die Entdeckung, daß alle griechischen Werke, Ar-

chitektur u. P l a s t i k , r e i c h b e m a l t w a r e n anfangs auf heftigen Widerspruch. So sehr hatte man sich in die angebliche Farblosigkeit der Antike hineingelebt, wie sie uns auf den ersten Blick in den Ruinen (wegen Zerstörung der Farben durch die Witterungseinflüsse) entgegentritt, daß man gerade hierin die Vornehmheit griechischer Kunst mitbegründet glaubte, und daß man geradezu entsetzt war über diese widersprechende Entdeckung. Seitdem aber allenthalben nach Farbspuren gesucht wird, fanden sich dieselben auch überall u. sonach steht die Poliychromie der [fol.] 113. griechischen Bauwerke in ihren Hauptzügen bereits fest.

B u n t b e m a l t waren: Die Kapitäle, Triglyphen der Fries, die Unterseite

der Hängeplatte, die Metopen u. Giebelfelder, die Stroterondecke, alle Gesimsstreifen, Kymatien etc.

B l o s a b g e t o n t waren: Die Säulen u. Pilasterschäfte, die Außenwände,

die senkrechte Außen u. Innenseite der Architrave.

Hiebei kamen einzelnen Architekturtheilen gewisse Farben mit Vorliebe

zu. Z. B. die Triglyphen waren meist blau Giebel- u Metopenfelder meist roth. Außer Blau u roth war weiß u. grün hauptsächlich in Verwendung und viel Gold aber in feiner Vertheilung in Punkten u. Linien.

Das Gold war Blattgold das mittelst Eiweis oder Hausenblase aufgesetzt

wurde.

Auf feinen politurfähigen Marmor wurden die Farben (Wachsfarben) un-

mittelbar aufgetragen.

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Über gröbere Steinsorten wurde zuerst ein Überzug von überaus feinem

vortrefflich gearbeitetem Marmorstuck gegeben und auf diesem erst die Bemalung hergestellt. [fol.] 114.

Aus all dem Vorgeführten geht hervor, daß nicht nur die Structur des grie-

chischen Baues, sondern auch seine decorative Ausstattung ein organisches Ganze bildete, in dem gewisse Grundsätze der Formbildung systematisch durchgeführt erscheinen.

In strenger Weise gilt dieß jedoch nur von den vollendeten Werken der

Blüthezeit. Je mehr man aber in die ältere und älteste Zeit zurückgeht, ­desto weniger genau sind diese stylistischen Grundzüge festgehalten. Man siht, daß die vollendete Einheit des Styles eine Sache langer, jahrhundertelanger Anstrengung war, ein Product sorgsamer Selbsterziehung und Leuterung des eigenen Geschmackes. Anders konnte es aber auch gar nicht sein, denn kein Kunststyl ist gleichsam fertig vom Himmel gefallen. Zu Anfang als die große Arbeit der Stylbildung begann mußten freilich die Bedingungen hiezu schon vorhanden sein, denn früh krümmt sich was ein Hacken werden will, aber noch vielfach unklar ausgesprochen und mit allerlei Beimengungen vermischt, welche im Verlaufe des Läuterungsprocesses theils umgestaltet theils ganz ausgeschieden wurden.

Diese Umgestaltungen und Ausscheidungen sind in der Geschichte der

Stylbildung von höchster Wichtigkeit, denn [fol.] 115. bei schärferem Zusehen zeigt sich gar bald, daß w i r k l i c h N e u e s in der Kunst höchst selten auftritt (wenn es überhaupt erscheint); sondern daß man es, selbst bei den scheinbar größten Umwälzungen und epochemachendsten Erfindungen gemeiniglich doch nur mit Umgestaltungen (neuen Combinationen des bereits Vorhandenen, kleinen Formveränderungen u. Weiterbilden) zu thun hat, und daß gerade wirkliche große Neuerungen nur sehr langsam vorbereitet in Erscheinung treten, oft erst nach einer allmäligen Entwicklung durch Jahrhunderte und selbst Jahrtausende hindurch.

Hiezu noch zwei Beispiele aus der griechischen Baugeschichte.



Es ist wiederholt gesagt worden: Die griechische Bauweise sei ein Holz-

bausystem. Dem wurde aber auch nachdrücklichst widersprochen und erklärt,

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daß die griechische Bauweise ein reiner ächter Steinbau sei. Damit hat es auch seine Richtigkeit, denn die Verwendung, die Dimensionen und Zusammensetzung der einzelnen Werksteine entspricht vollkommen einem wohlausgebildetem Steinbau ebenso wie die nahe Stellung der Säulen, welche bei der dorischen Ordnung von Säulenmittel zu Mittel nur 2–2 3/4 D (untern Durchmesser) und bei der jonischen Ordnung nur 2 1/2–3 D. beträgt, dem Steinbau entspricht. [fol.] 116. [Detailskizze in Bleistift auf Transparentpapier, eingeklebt. Oberhalb und unterhalb der eingeklebten Zeichnung Legende in Tinte: „Fig. 106. Säule vom Löwenthor zu Mykene“]

Trotzdem hat auch die entge-

gengesetzte Anschauung, daß der griechischen Bauweise ein Holzbausystem zu Grunde liege ihre Berechtigung.

Es liegt eben für die gesammte

Structur eine große Umwandlung vor; ein S y s t e m w e c h s e l

vom

H o l z b a u z u m S t e i n b a u und so

Fig. 107. Felsgrab zu Myra

wahr es ist, daß die griechische Bauweise den Anforderungen des Steinmateriales Rechnung trägt so weit es nur bei einem Architravbau ohne Wölbungen möglich ist; ebenso unzweifelhaft steht an der Schwelle der griechischen Bauentwicklung der Holzbau. [Perspektivische Zeichnung in Bleistift auf Transparentpapier, eingeklebt. Legende in Tinte: „Fig. 107“. Anmerkung in Bleistift: „Felsgrab zu Myra“].

Die Beweise hiefür liegen in dem Umstand, daß an ältesten Werken (s. Fig

106 u. 107) häufig directe Copien von Holzbauten angetroffen wurden und in der Überlieferung (durch Pausanias u. Andere) welche bei ältesten Bauten Holzsäulen oder auch ganze Holzbauten bezeugt. [Detailzeichnung, Bleistift auf Transparentpapier, eingeklebt. Legende in Tinte: „Fig. 108“, teilweise auf der eingeklebten Zeichnung, teilweise am Trägerpapier: „Restaurirte Säule vom Schatzhaus des Atreus.“] Vorträge über Geschichte der Baustyle (1883–1884)

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[fol.] 117. So sah Pausanias noch Holzsäulen als Reste uralter Tempel zu Olympia, und erwähnt auch eine Holzsäule am Heratempel zu Elis98. Ein vollständiger tempelartiger Holzbau stand am Markte zu Elis und ein alterthümliches Heiligthum des Poseidon bei Mantinea war ein Holzbau. Auch zu Metapont in Unteritalien stand ein uralter Heratempel mit Säulen aus Rebenholz.

Nebst dem Holzbau als älteste

primitive Construction ist die Textil­

Fig. 108. Restaurirte Säule vomn Schatzhaus des Atreus

industrie, der Teppich mit seinen Mustern für die Decoration der ältesten Werke von Einfluß. Es ist dieß deutlich zu sehen an der Zickzackdecoration des Säulenrestes vom sog. Schatzhause des Atreus (Fig. 108). Diese Decorationsweise wurde ausgeschieden weil sie dem Wesen der Säule nicht entspricht und kommt in späterer Zeit überhaupt nicht mehr vor. Dazwischen ist eine Zeit zu denken in welcher der runde mit gemustertem Teppich oder mit ähnlich getriebenem Metall umkleidete Holzstamm in Concurrenz stand mit den 8 und 16 seitig cannelirten Steinsäulen. Der monumentale Sinn der Griechen entschied sich schließlich gänzlich für die Cannelirung des Schaftes.

Aber nicht alles Textile wurde abgestoßen, sondern Vieles (wie der Mäan-

der etc.) entsprechend umgearbeitet.

Ganz ausgeschieden wurden nur diejenigen Motive, welche sich den sty-

listischen Haupt[fol.] 118. regeln schlechterdings nicht anbequemen ließen. Dieß war der Fall mit dem sonst so hervorragend wichtigen Baum o t i v e d e s W ö l b e n s . Griechische Wölbungen Schon in ältester griechischer Zeit finden sich die ersten Entwicklungsstufen dieser Technik bei der Ausbildung des Steinmauerbaues [Unlerserliche 98 [Elis, antike Stadt in der gleichnamigen Landschaft im Nordwesten der Peloponnes, 471 v. Chr. gegründet.]

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­Streichung mit Tinte, ca. eine Zeile lang, mit Verweis auf einen Einschub am linken Seitenrand: „Siehe Einlage“. Der Text wird – in einem Einschub – fortgesetzt auf Blatt mit der Bezeichnung:] [fol. 119] „Einlage ad 118.“ [Rückseite paginiert mit „155“] vor der seinerseits wieder folgende Entwicklungsstifen aufweist: A . In der Urzeit die pelasgischen oder kyklopischen Verbände u. zw. 1 . F i n d l i n g s m a u e r (zu Tiryns u. Argos) 2 . P o l y g o n v e r b a n d a tyrrhenisch d. i. mit Zwickern (zu Mantinea99 u. zu Sunna) b . Zapygisch d.i. ohne Zwickern (in Böotien.) 3 . M y k e n i s c h e r V e r b a n d in Schichten aber noch unregelmäßig (zu Mykene, Platäa100, Psophis101, Kanopus, etc.) B . In spätrer histor. Zeit 4 I s o d o m Quadernbau mit gleich hohen Schichten 5 . P s e u d i s o d o m [Quadernbau mit] ungleich [hohen Schichten] 6 . F ü l l m a u e r w e r k (Emplekton) mit durchgehenden Bindern in jeder Schich­te. 7 . N e t z v e r b a n d so wie das opus reticulatum der Römer. Ziegelverbände haben sich nicht erhalten. Parallel mit dieser Entwicklung der Steinmauer geht auch die Entwicklung des Wölbens. Diese [Ende des Einschubs; Textfortsetzung wieder auf fol. 118:] hört zu keiner Zeit auf, erreicht schrittweise eine entsprechende Vervollkommnung; das Wölben wird aber doch niemals in die eigentliche Architektur aufgenommen, sondern nur zu Nutzbauten verwendet. Der Grund ist lediglich stylistisch, weil sich die geschwungene Bogenform mit der strengen Durchführung des Säulen u Architravbaues nicht bis zu derjenigen Grenze vollständigst harmonischer Gleichartigkeit verbinden läßt, wie der griechische Sinn es verlangte.

  99 [Mantinea, antike Stadt auf einer Hochebene im Nordosten Arkadiens.] 100 [Plataiai, antike Stadt im südlichen Böotien am Nordabhang des Kithairon.] 101 [Psophis, antike Stadt im Nordwesten Arkadiens im Tal des Erymanthos.] Vorträge über Geschichte der Baustyle (1883–1884)

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Fig. 109. Löwentor von Mykene

[Ansichtsskizze, Bleistift auf Transparentpapier, eingeklebt. Legende in Tinte: „Fig. 109. Löwentor von Mykene.“ Maßangaben mit Tinte: „4.8 m“ und „3 m“]

Von Belang für die Erkenntniß des Werdens von Bauformen ist es, daß

auch hier die Entwicklungsstufen wieder genau so aufeinander folgen, wie bei den Ägyptern u. Assyrern. [fol. 120] 119.

Auch bei den Griechen wird die Überdeckung der Räume zuerst mittelst

Vorkragen erzilt, Fig. 110. [Planzeichnung, Grundriss und Aufrissschnitt, Bleistift auf Transparentpapier, eingeklebt. Legende in Tinte: „Fig. 110“, in Bleistift: „Schatzhaus zu Mykenae“.

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Anmerkungen in Tinte: „künstlicher Erdhügel“ und „Fels“. Maßangaben in Tinte: „14. m, 12.5 m“]

Hiebei ergibt sich auch bei den

Griechen wieder die Spitzbogenform (Fig. 111), weil dieß bei der Vorkragung sich so von selbst ergibt. [Perspektivische Zeichnung, Bleistift auf Transparenpapier, eingeklebt. Legende in Tinte: „Fig. 111“]

Bei den Portalen (Fig. 109) wird

die Vorkragung schon ganz unten begonnen und daher die Seiten-

Fig. 110. Schatzhaus zu Mykenae

pfosten schräge aufgestellt. Diese Schrägstellung erhält sich in der griechischen Bauweise typisch bis in die späteste Zeit unerschüttert, wie die Thüren von Fig. 112–114 zeigen. Die Entlastungsöffnung über dem Thürsturz wird an den ältesten Portalen (zu Mykene, Phigalia, Amphissa102) wieder durch Vorkragen gebildet und die Öffnung durch eine Steinplatte (mit Relief.) geschlossen. [Aufrisszeichnung, Bleistift auf Transparentpapier, eingeklebt. Legende in Tinte: „Fig. 112“. In Bleistift: „Thür zu Agrigent“]

Auch in Griechenland hat sich das

System des Vorkragens als entwick-

Fig. 113. Thür von Erechtheion zu Athen

lungsunfähig erwiesen und geht [fol. 121] 120. auch hier das Wölben aus dem Sturzbalken hervor. [Aufrisszeichnung, Bleistift auf Transparentpapier, eingeklebt. Legende in Tinte: „Fig. 113. Thür von Erechtheion zu Athen.“] 102 [Amphissa, antike Stadt nordwestlich von Delphi.] Vorträge über Geschichte der Baustyle (1883–1884)

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Der erste Schritt ist die Verdickung desselben in der Mitte (Fig 109 u 115),

wo er erfahrungsgemäß am ehesten abbricht.

Der zweite Schritt ist wieder die dachförmige Aufstellung von 2 Balken

(Fig. 116.), die sich gegenseitig am Durchschlagen hindern. Hiedurch ist das Princip [Aufrisszeichnung, Bleistift auf Trans­ parentpapier, eingeklebt. Legende in Tinte: „Fig. 114. Thür v. Tempel d. Athene Polias zu Athen“] [Rechts daneben: Aufrisszeichnung, Bleistift auf Transparentpapier, eingeklebt. Legende in Tinte: „Fig. 115“, in Bleistift: „Querschnitt einer Grabkammer von Egina“] [Unterhalb: Perspektivische Skizze

Fig. 116. Auf d. Insel Delos

in Tinte, Legende: „Fig. 116. Auf d. Insel Delos“] [fol. 122] 121. gegeben. Werden drei und dann noch mehr Steine in dieser Weise verbunden, so ist der Bogen im Keilsteinschnitt fertig. Beispiele solcher Bögen von griechischen Werken sind gegeben in Fig. 117–119. [Ansichtsskizze, Bleistift auf Transparentpapier, eingeklebt. Legende in Tinte: „Fig. 117. vom Theater in Delos.“] [Unterhalb: Aufrisszeich­ nung, Bleistift auf Transparentpapier, ­eingeklebt. Legende in Tinte: „Fig 118. Wölbungen von Sikyone.“103]

Fig. 117. vom Theater in Delos

103 [Sikyon, antike Stadt in der Nachbarschaft von Korinth.]

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Fig. 119. Porta Siena aus d. griechischen Stadtmauer von Paestum

Es ist dabei immer der Bogen für sich fertig gestellt u niemals an einem [Aufrisszeichnung, Bleistift auf Transparentpapier, eingeklebt. Legende in Tinte: „Fig. 119. Porta Siena aus d. griechischen Stadtmauer von Paestum.“] [fol. 123] 122. [Am linken Blattrand oben Datumsvermerk in Bleistift: „5/2 88“] einzigem Werkstück der Fugenschnitt des Bogens und des horizontalliegenden Quadermauerwerks verbunden. Diese Verbindung gehört einer weit späteren Entwicklungsstufe der Wölbekunst an.

Fig 120 zeigt ein Tonnengewölbe u. Fig 121 die Bögen einer griechischen

Wasserleitung.

Weiter sind die Griechen in der Kunst des Wölbens nicht mehr gekom-

men, es ist aber [Aufrissschnittzeichnungen, Bleistift auf Transparentpapier, eingeklebt. Legende in Tinte: „Fig. 120. Längenschnitt Querschnitt/Tonnengewölbe vom Heroon d. Chamylas auf d. Insel Kos.“] Vorträge über Geschichte der Baustyle (1883–1884)

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Fig. 120. Längenschnitt Querschnitt/Tonnengewölbe vom Heroon d. Chamylas auf d. Insel Kos

Fig. 121. Griechische Wasserleitung beim Thurm der Winde zu Athen

[Unterhalb: Aufrisszeichnung, Bleistift auf Transparentpapier, eingeklebt. Legende in Tinte: „Fig. 121. Griechische Wasserleitung beim Thurm der Winde zu Athen.“] [fol. 124] 123. zu verwundern, daß sie auch nur soweit darin vorwärts kamen, da sie in ihrer gesammten Monumentalarchitektur dafür keine Verwendung hatten. Die Privat­häuser waren offenbar in ihrer baulichen Structur verhältniß­mäßig

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bescheiden,

denn

sonst

hätte sich gewiß irgendwo etwas von ihnen erhalten. Auch bei den Grabmälern und choragischen Monumenten war kein Platz für Wölbungen; selbst der Theaterbau verlangte ihre Verwendung nur in untergeordneter Weise und auch die Thorbauten (für welche doch Wölbungen so ausnehmend geeignet sind) wurden bei monumentaler Ausführung bei den Griechen im Säulen-Architravbau durchgebildet, wie die Propyläen der Akropolis zu Athen, die Propyläen zu Eleusis etc. [Grundrisszeichnung Maßstab,

Bleistift

Transparentpapier,

mit auf einge-

klebt. Legende in Tinte: „Fig.

122.“

In

Bleistift:

“AKROPOLIS“; Anmerkun-

Fig. 122. AKROPOLIS

gen in Tinte: „A: Thempel der Nike apteros / B: Propyläen / C: Stelle wo die große eherne Athene stand / D: Erechtheion / E: Parthenos.“] [fol. 125] 124.

So stark war also das Übergewicht der geraden offenen Säulenhalle im

Bausysteme der Hellenen, daß die Wölbung selbst dort verschmäht wurde, wohin sie ganz besonders paßt, und gerade bei den Thorbauten den Propyläen leisteten die griechischen Baumeister Ausgezeichnetes in Überwindung von Schwierigkeiten und Scharfsinn. Besonders die Propyläen der hohen Burg (Akropolis) von Athen sind in dieser Beziehung mit Recht berühmt. Vorträge über Geschichte der Baustyle (1883–1884)

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Der Baumeister derselben war Mnesikles104, einer aus der Schaar jener

ausgezeichneten Künstler, welche unter Führung des Phidias auf (Geheis des Perikles des damaligen Beherrschers von Athen) [Anmerkung am linken Blattrand mit Bleistift: „? Veranlassung des Perikles“] das Plateau der Akropolis nach den Zerstörungen durch die Perser säuberten und in einen einzigen Tempelbezirk (Peribolos) verwandelten.

Solche Tempelzirke [sic!] gab es in den griechischen Landen viele; zu Ar-

gos um den Heratempel; zu Olympia um den Zeustempel; zu Phigalia um den Apollotempel u. d. gl. mehr. Der herrlichste von Allen, derjenige, wo die griechische Kunst ihre schönste Blüthe trieb, war die hohe Burg von Athen. Fig. 122 stellt den Plan dieser Akropolis vor. Aus der zu Füßen dieses Felsplateaus gelegenen Stadt stieg man bei A vor dem zierlichen Niketempelchen vorbei zu den Propyläen empor. Zwei kleine Hallen rechts und links, wovon die eine für Wachen gehörte, flankierten [fol. 126] 125. die mittlere Säulenhalle mit Giebel, so daß die Thoröffnung sich gleichsam trichterförmig gestaltete und die Heraufschreitenden zum Eingang lenkte. Die innere Säulenreihe ist jonisch, deren größere Schlankheit hier besser paßt und zudem die Differenz in den Architravhöhen vermittelt. Innen entließ wieder eine offene dorische Halle die Hindurchschreitenden. Hierauf kam man vor der riesigen Erzstatue der Athene (C) vorbei links zu dem eigentlichen Culttempel dem Erechtheion (D) und rechts zu dem großen Festtempel (Agonaltempel) der Athene. Die dritte Tempelgattung ein sogenannter Mysterientempel (wie zu Eleusis oder Samothrake) befand sich nicht auf der Akropolis von Athen. Beim Bau des Parthenos war Iktinos105 Baumeister, der auch den Demetertempel zu Eleusis106, den Zeustempel zu Olympia und den Apollotempel zu Bassä bei Phigalia107 in Arkadien erbaute. Dieser G l a n z p e r i o d e g r i e c h i s c h e r K u n s t (im V. Jahrh.) gehört auch der Theseus­ 104 [Der Name des Architekten Mnesikles als Erbauer der Propyläen in Athen wird von Plutarch und Valerius Harpokration überliefert. Der Bau der Propyläen erfolgte 437/436–432/431 v. Chr.] 105 [Über den Architekten Iktinos, der zusammen mit Kallikrates den Parthenon auf der Akropolis von Athen erbaute, berichten Plutarch, Strabo und Pausanias. Der Bau erfolgte 448/447–438/437 v. Chr.] 106 [Über Iktinos als Erbauer des Telesterions in Eleusis berichten Strabo und Vitruv.] 107 [Über Iktinos als Erbauer des Apollotempels in Phigaleia berichtet Pausanias.]

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tempel zu Athen das reinste Muster dorischen Styls und das Erechtheion als schönstes Muster jonischen Styles an.

Der älteren Periode des sogenannten a l t e n S t y l e s oder strengen Sty-

les, d. i. dem VI. Jahrh. u. noch früher gehören folgende [fol. 127] 126. Werke an: Der Heratempel auf Samos Der Artemist. zu Ephesus (achtsäuliger Dipteros) Der dor. Tempel zu Assos an d. Küste Kleinasiens. Der ältere Parthenos (der Hundertfüßige) ein 8 säuliger Peripteros der an Stelle des Parthenos der Perikleischen Zeit stand und von dem Werkstücke in den Umfassungsmauern vermauert gefunden wurden. Der Athenetempel auf Aegina. Der Themistempel zu Rhamnus. [Geschwungene Klammer umfasst Athenetempel und Themistempel] Beide nahe der Blüthezeit. Der Demetert. und die sogen. Basilika zu Paëstum Die meisten der zalreichen Tempel von Sicilien. Der U r z e i t griechischer Kunst gehören an: Die Burgen von Mykene, Samothrake, Troja Die kyklop. Mauern von Knidos, Patara und Assos. Die Schatzhäuser (oder Vorrathshäuser) zu Mykene und zu Archomenos.108 Der N a c h b l ü t h e (Alexandrinische Zeit u. Z. d. Diadochen) gehört: Das Monument des Lysikrates, Der Athenet. zu Priene (gebaut 340) Der Thurm der Winde zu Athen Das Grabmal des Königs Mausolus (daher Mausoleum) zu Halicarnaß, nach 354.

Der Zeustempel zu Athen, der bereits

[fol. 128] 127. aber von einem römischen Architekten Cossutius erbaut wurde. [Bleistiftanmerkung am linken Seitenrand: „11/1 8“] 108 [Richtige Bezeichnung ist: Orchomenos, antike Stadt in Griechenland seit mykenischer Zeit, in der Nähe des heutigen Skripu.] Vorträge über Geschichte der Baustyle (1883–1884)

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Endlich eine Menge Städteanlagen (Alexander allein soll ja 70 Städte ge-

gründet haben) und Palastbauten, meist korinthisch, was der Styl dieser Zeit war, von denen aber nichts erhalten vorliegt.

In dieser Zeit kamen auch die Rundtempel auf, eine Form die bereits mehr

dem Genius der römischen als der griechischen Kunst entspricht. [Beistiftanmerkung am linken Seitenrand: „17/1 89“]

Nachdem nunmehr ein Überblick über die gesammte baukünstlerische

Thätigkeit der Hellenen gewonnen ist, kann zum Schluß nochmals mit mehr Nachdruck auf die kunstgeschichtlich so wichtige Frage nach dem Einfluß der ägyptischen Kunst auf die griechische zurück gekommen werden.

Es hat sich in Allem und Jedem das griechische Bausystem als ein vollkom-

men in sich selbst ruhendes herausgestellt. [Aufrissskizze in Tusche auf Transparentpapier, eingeklebt. Legende in Tinte: „Fig. 123 Zeichnung auf der Vase des Ergotimos“]

Sehr verfänglich für die Beurtheilung sind aber die mit ägyptischer, asiati-

scher indischer Kunst etc. analogen [fol. 129] 128. Entwicklungsreihen, welche zu wiederholten Malen auftauchten doch sind dieselben durchaus nicht stichhaltig. Bruchstücke aus diesen Analogien waren es, welche der anfangs ganz unwissenschaftlich, ohne jede Begründung, aufgestellten Behauptung, daß die Griechen nur die Kunst Ägyptens und Assyriens aufgegriffen und weitergebildet hätten, ziemlich allgemeinen Glauben einbrachten. Daraufhin entstand eine förmliche Manie in griechischen Werken älteren Datums stets allerlei ägyptische Anklänge finden zu wollen, wenn sie auch nicht im Entferntesten da sind. Als Beispiel, wie weit man sich hierin verrannte, diene Fig. 123. Diese Vasenzeichnung, welche doch sichtlich einen specifisch griechisch dorischen Bau vorstellt, wurde als einer der Hauptbeweise für die Nachahmung der ägyptischen Bauweise herbeigezogen. Es wurde da von der Hohlkehle des ägyptischen Gebälkes gefabelt, obwol es doch klar ersichtlich, daß der flüchtige griechische Vasenmaler blos die Ausladung des Kranzgesimses zu zeichnen vergaß, ein Fehler der vollkommen innerhalb derjenigen Grenzen liegt, innerhalb welcher die Vasenmaler ungenau sind.

Was den historisch beglaubigten Verkehr zwischen Griechenland u. Ägyp-

ten betrifft, so gehört derselbe einer Zeit an

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[fol. 130] 129. als jede der beiden Nationen mit sich selbst und ihrer Kunst schon vollkommen im Reinen waren, wie dieß auch natürlich ist, denn erst mit steigender Cultur wächst auch erst die Möglichkeit und das Bedürfnis zu reicherem u. weiteren Verkehr.

In Bezug auf die Monumente wird aber angenommen, daß sie gerade in

ältester Zeit (wo also der Verkehr am schwächsten oder noch gar nicht vorhanden war) den ägyptischen Werken am ähnlichsten gewesen sein müßten.

Dieser Gesichtspunkt die Werke zu besehen und zu beurtheilen wird be-

günstigt durch die schon erwähnten bei allen Völkern analogen Entwicklungsreihen. Da nämlich in diesen die Zal der Varianten und die Menge des Willkürlichen (d. i. national Unterscheidbaren) immer geringer wird, je mehr man sich den ältesten Urformen nähert, so werden die Kunstwerke der verschiedensten Völker notwendiger Weise sich immer ähnlicher, je alterthümlicher sie sind.

An der Hand dieser Beobachtung entstand dann eine zweite andere An-

nahme, nämlich die, daß alle diese [fol. 131] 130. Völker (Italer, Griechen etc.) aus ihrer gemeinsamen Urheimat schon einen gewissen Vorrat von Grundformen und Kunstfertigkeiten in ihre neue Heimat mitbrachten, daß dieser Vorrat den Umfang des Gleichartigen ausmache und die spätere getrennte Weiterbildung, dann die immer weitergehenden Differenzen, die verschiedenen Style erzeugte.

Auch diese Anschauung ist die philologisch, a n t h r o p o l o g i s c h e hat

ihren wirklich historischen Untergrund. Es frägt sich nur wieder, bis wie weit sie in Betreff der Baudenkmäler thatsächlich eingreifend erscheint. Darüber müssen die Baudenkmäler selbst befragt werden. Diese wissen aber wenig mehr von der gemeinsamen Urheimat. Die Vergleichung der griechischen und ägyptischen Säulen hat zwar gezeigt, daß sie beide aus dem viereckigen Pfeiler entstanden sind, daß dieser selbst aber bei Ägyptern und Griechen einer verschiedenen Wurzel entstammte; für den aus der Urheimat her entlehnten Bauformen-Vorrat bleibt also schließlich schlechterdings nichts übrig. [fol. 132] 131.

Ebenso wie es leichtfertig und oberflächlich ist: den griechischen Styl so

schlechtweg eine Weiterbildung des ägyptischen zu nennen; ebenso wäre es falsch, gänzlich allen gegenseitigen Einfluß bei den Völkern des Alterthumes Vorträge über Geschichte der Baustyle (1883–1884)

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zu leugnen. So weit als er behauptet wurde, geht er aber gewiß nicht. Vielmehr scheint blos eine Beeinflussung unter den nächsten Nachbarn stattgefunden zu haben.

Die nächsten Nachbarn der Hellenen waren aber in Kleinasien die Phry[gi]er,

Lyder und Lycier und im Süden die Phönizier deren Handelsstrich sammt Colonien gerade an der Südgrenze des griechischen Archipelagus vorbeiging.

Die zalreichen bekannt gewordenen Grabdenkmäler der genannten Völker

Kleinasiens sind denn in der That dadurch charakterisirt, daß sie einerseits voll griechischen Einflusses andererseits voll Spuren assyrischen Einflusses sind.

Die phönizischen Arbeiten wie die Funde auf Cypern etc. zeigen that-

sächlich griechische ägyptische und assyrische Formen oft auf einem einzigen Stück vereinigt. [fol. 133] 132.

Gerade dadurch aber, daß ringsher um Griechenland noch ein Gürtel

kleiner Völker von unselbstständiger Kunstbildung lag, waren die Hellenen gleichsam durch eine isolierende Schichte von Ägyptern und Assyrern getrennt. Gerade dadurch, daß sie zwar nicht vereinsamt, aber doch auf ­eigene Kraft angewiesen sich selbst leben mußten und konnten, wurde es ihnen möglich aus eigenstem Erfinden heraus eine ihnen ganz entsprechende Kunst zur Reife zu bringen.

In einem solchen großen Bildungsprocesse einmal begriffen, konnte es

unmöglich von belangreichem Einfluß sein, wenn etliche kühne Seefahrer gelegentlich einmal Ägypten besuchten und daheim dann über die Wunderdinge der Fremde berichteten.

So sei denn den Griechen ihr Kunstwerk als ihr eigenes geistiges Eigen­

thum belassen, das sie so schön zur Vollendung brachten zu ihrer eigenen Freude und zum Nutzen aller nachfolgenden Völker. [Bleistiftanmerkung am linken Blattrand: „17/2 88“ oder: „86“ (?)] [fol. 134] 133 Literatur über griech. Baukunst. J . S t u a r t a n d N . R e v e t t : The Antiquities of Athens and other Monumments of Greece. London 1761–1816109

109 [Stuart, James/Revett, Nicholas: The Antiquities of Athens, Measured and Delineated. Bd. 1–5. London: Haberkorn 1762–1830.]

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F. C . P e n r o s e : An Investigation of the Principles of Athenian Architecture. London 1851.110 A d . M i c h a e l i s : Der Parthenon Leipzig 1870–71111 R . B o e t t i c h e r : Die Tektonik der Hellenen Berlin 1874112 O . M . v. S t a c k e l b e r g : Der Apollotempel zu Bassä. Rom 1826.113 J . H i t t o r f e t . L . Z a u t h : Architecture antique de la Sicile. Paris 1870.114 H . S c h l i e m a n n : Mykenä Leipzig 1878115 Ilios 1881116 Orchomenos 1881.117 [fol. 135] 134. Die Baukunst der Römer Unter allen Baustylen des Alterthums ist die römische Baukunst für das moderne Bauwesen von größter Bedeutung. Die heute am häufigsten verwendete Stylrichtung der Renaissance basirt auf den Architekturformen der römischen Kaiserzeit. Aber auch die mittelalterlichen Bauweisen gehen direct auf sie zurück, ja ein guter Theil europäischer Städte wurde unter der Herrschaft des römischen Weltreiches gegründet oder wenigstens in antik römischer Weise umgeformt. Unter diese Städte gehören in Österreich, wo das Römerreich bis an die Donau reichte, Carnuntum, Virodunum118, Vindobona (das römische Wien) und Iuvavia das heutige Salzburg. An der Donau aufwärts und dann die Rheingegenden entlang sind zu verzeichnen als ­ wichtigste

110 [Penrose, Francis Cranmer: An Investigation of the Principles of Athenian Architecture. London: Longman 1851.] 111 [Michaelis, Adolf: Der Parthenon. Leipzig: Breitkopf & Härtel 1870.] 112 [Boetticher, Carl: Tektonik der Hellenen. Bd. 1–3. Potsdam: Riegel 1843–1852.] 113 [Stackelberg, Otto Magnus Baron von: Der Apollotempel zu Bassae in Arcadien und die daselbst ausgegrabenen Bildwerke. Rom 1826.] 114 [Hittorf, Jaques Ignace: Architecture antique de la Sicile. Paris: Donnaud 1870.] 115 [Schliemann, Heinrich: Mykenae. Bericht über meine Forschungen und Entdeckungen in Mykenae und Tiryns. Leipzig: Brockhaus 1878.] 116 [Schliemann, Heinrich: Ilios. Stadt und Land der Trojaner. Forschungen und Entdeckungen in der Troas und besonders auf der Baustelle von Troja. Leipzig: Brockhaus 1881.] 117 [Schliemann, Heinrich: Orchomenos. Bericht über meine Ausgrabungen im böotischen Orchomenos. Leipzig: Brockhaus 1881.] 118 [Virodunum lag tatsächlich in der Provinz Gallia Belgica und wird von Camillo Sitte hier irrtümlich dem Gebiet der römischen Donauprovinzen zugeordnet. Virunum dagegen lag in der Provinz Binnennoricum (Noricum Mediterraneum) im heutigen Gebiet von Kärnten.] Vorträge über Geschichte der Baustyle (1883–1884)

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­Römerstädte: Augsburg, Mainz, Trier, Köln, Straßburg. In dem heutigen Frankreich sollen zu Beginn der Kaiserzeit an 1200 Städte bestanden haben, die alle römisches Gepräge erhielten worunter als damals bedeutendste Massilia (Marseille) und Augustodonum119 [fol. 136] 135. (Autun) hervorragten an Bedeutung und Umfang. In Afrika war Karthago als römische Stadt neu gegründet und aufgebaut; Alexandrien blühte und soll eine Million Einwohner gehabt haben. Es war ein Hauptsitz griechisch-römischer Weltbildung und ebenso die asiatischen Städte: Antiochi, Nikomedi, Cäsaria, Ephesus, Smyrna und andere. Vorderasien zälte damals circa 500 Städte welche mehr oder weniger römisches Wesen aufgenommen hatten und das griechische Korinth entstand neu aus der Asche als römische Stadt. Als reiche Handelsstädte blühten Rhodus und im Golf von Neapel Puteoli. Daß in ganz Italien und Sicilien kaum einige Städtchen existiren ohne Erinnerung und ohne Denkmälern aus den Zeiten der römischen Weltherrschaft ist begreiflich; die wichtigsten für die Geschichte der Baukunst sind aber Rom als Hauptstadt des colossalen Reiches und das kleine Landstädtchen Pompeji, weil dieses letztere durch die Verschüttung beim Ausbruche des Vesuv (79 n. Chr.) förmlich conservirt wurde und verhältnißmäßig complet u. wohlerhalten bis auf uns gekommen ist.

Die Blüthezeit römischer Baukunst fällt mit der Blüthe der Macht des Rei-

ches zusammen; es ist die erste Kaiserzeit von 46 v. Chr. bis 180 n. Chr. also ein Zeitraum von circa 200 Jahren. [Bleistiftanmerkung am linken Blattrand: „24/1 89“] [fol. 137] 136. Dem Beginne dieser Zeit gehört auch ein literarisches Werk über Architektur an: die zehn Bücher des römischen Baumeisters Vitruvius Pollio.120 Dieses 119 [Augustodunum, antike Stadt in der römischen Provinz Gallia Lugdunensis, an der Stelle der heutigen Stadt Autun.] 120 [Der Verfasser des Werkes De architectura, des einzigen aus dem Altertum erhaltenen Werkes über Architektur, wird von anderen antiken Schriftstellern, die ihn zitieren (Plinius, Frontin, Sidonius Apollinaris), lediglich mit dem Gentilnamen Vitruvius genannt. Die Nennung Vitruvius Polio bei Faventin ist nicht eindeutig. Die Benennungen Lucius (oder Gaius, Marcus oder Marcus Lucius) Vitruvius Pollio stammen erst aus der Renaissancezeit und sind

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Werk gibt viele Aufschlüsse über römische Baukunst, ist aber auch für die spätere Entwicklung der bautechnischen Literatur von ebensolcher Wichtigkeit, wie die römischen Bauten selbst für die Praxis des Bauens. Die letzten drei Bücher (das 8te, 9te und 10te) treten zwar (nach moderner Auffassung) aus dem Rahmen der eigentlichen Baufächer heraus, indem sie Lehren der Wasserversorgung, Astronomisches und nebst Hebe- und Schöpfmaschinen auch Wurfmaschinen für Kriegszwecke und Regeln der Städtebelagerung behandeln; aber die ersten sieben Bücher umfassen so ziemlich alle unsere Bauwissenschaften, wie sie sich heute noch gliedern, und in diesem Sinne aufgefaßt würe das e r s t e Buch eine allgemeine Ästhetik nebst Behandlung sanitärer Fragen; das z w e i t e eine Baumaterialien- und Bauconstructionslehre, das d r i t t e u n d v i e r t e architektonische Formenlehre, das f ü n f t e u n d s e c h s t e eine Baukunde (d. i. Angabe der Erfordernisse für die landwirtschaftliche Baukunde, den Wohnhausbau und Monumentalbau) endlich das s i e b e n t e eine Farbenchemie nebst Anweisungen zur Wandmalerei u. dgl. Thatsächlich ist für alle diese Bauwissenschaften das Werk des Vitruv der Ausgangspunkt ge[fol. 138] 137. worden, und in Bezug auf die Formenlehre ist es heute noch nicht umfassend oder wesentlich überholt, wogegen es aber in Bezug auf Bauconstructionen fast nichts bietet. Gerade das Technologische galt dem handwerksmäßig geschulten Meister als so selbstverständlich, daß es ihm nicht beifiel darüber viel zu schreiben, ein Characterzug, den das Vitruvische Werk mit allen frühen Tractaten über Kunst und Handwerke gemein hat. Die verhältnißmäßig breit gegebene Formenlehre behandelt die Säulenordnungen mit Ausname

rein spekulativ. Nach P. Thielscher ist der Architekt mit Lucius Marmurra, einem römischen Ritter aus Formiae, zu identifizieren. Dieser ist um 84 v. Chr. geboren. Vitruv erhielt eine gediegene Architekturausbildung, das heißt, im Sinne der Antike, eine Ausbildung als Ingenieur. Er trat in den Heeresdienst ein und gehörte unter Caesar zu dessen Stab, leitete den Bau von Kriegsmaschinen und trat nach dem Tod Caesars in gleicher Eigenschaft in die Dienste des Augustus. Er erwähnt nur einen von ihm selbst ausgeführten Bau, nämlich die Basilika in Fano. Sein Architekturwerk, das zugleich Lehr- und Nachschlagebuch für Fachleute und Laien sein sollte, widmete er Augustus. Die Zeit für die Abfassung des Architekturwerks wird zwischen den termini ante quem 33 v. Chr. bis 22. v. Chr. angenommen. Die älteste erhaltene Abschrift stammt aus dem 9. Jh. (London, British Museum, Harley ms. lat. 2767)] Vorträge über Geschichte der Baustyle (1883–1884)

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der fünften, nämlich der römischen oder Compositordnung, welche zur Zeit Vitruvs noch nicht existirte. Die Profilirung erscheint bereits durch Zirkelschläge fixirt und eine Reihe von Verhältnissen ziffernmäßig bestimmt wozu der untere Säulenhalbmesser als „M o d u l “ dient.

Das Princip dem alle Profile folgen ist bei Vitruv ebenso wie in der ge-

sammten römisch-italischen Baukunst selbst jedoch ein vollständig anderes als bei den Griechen.

Der Ausgangspunkt scheint in urältester Zeit allerdings derselbe gewesen

zu sein, nämlich die S c h r ä g u n g o d e r A b f a s u n g , dieses Urmotiv aller Profilirung, das sich in der Baukunst aller Völker bis [fol. 139] 138. zu den Urzeiten zurückverfolgen läßt. Die Italer haben diese Urform aber in ganz anderer Richtung ausgebildet als die Griechen. [Nebeneinander drei Profilzeichnungen in Tusche mit Legenden in Tusche: „Fig. 1., Fig. 2., Fig. 3.“, Anmerkungen in Tinte: „a b“ und Winkelangaben: „90°“]

Die zu überwindende formale Schwierigkeit war dieselbe, nämlich die un-

deutlichen, unscharfen stumpfen Winkel (Fig. 1. a, b.) zu beseitigen. Während aber die Griechen dieß stets durch die C ä s u r bewirkten (Fig. 2 a, b) erfanden die Italer sich ein anderes Mittel nämlich das P r i n c i p d e s s e n k r e c h t e n S t o ß e s indem sie die Schrägung derart in Zirkelschläge und Plättchen auflösten, daß diese stets senkrecht (Fig. 3) auf einander stoßen. [Anmerkung am Blattrand links in Bleistift: „20/2 88“] [Profilzeichnung in Tusche mit Legende in Tusche: „Fig. 4“, Anmerkung in Tusche: „A B“ und Winkelangaben: „90°“]

Demnach gewinnen die fünf Profil-Grundformen einen eigenen (vom

griechischen in Allem und Jedem vollständig abweichenden) Typus. [Profilzeichnung in Tusche mit Legende in Tusche: „Fig. 5“ und Winkelangaben in Tusche: „90°“] Der V i e r t e l s t a b (Fig. 4) und die V i e r t e l k e h l e (Fig. 5.) werden Zirkelschläge, weichen also stark von [fol. 140] 139. [Untereinander drei Profilzeichnungen in Tusche, Legenden in Tusche: „Fig. 6., Fig. 7., Fig. 8.“; Winkelangaben in Tusche: „90°“]

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der Schrägung AB als Leitlinie ab. Dieß ist notwendig, damit der senkrechte Stoß genügend deutlich zur Geltung kommt. Ebenso ist es eine bloße Consequenz dieses Systems, daß alle Kreisschläge der Profilirungen mit P l ä t t c h e n begrenzt werden d. i. mit eigens überall eingeschalteten kleinen Theilen, welche dazu bestimmt sind, den senkrechten Stoß aufzufangen u. somit auch stylistisch zu repräsentiren. [Profilzeichnung, Tusche auf Transparentpapier, eingeklebt. Legende in Tinte unterhalb der eingeklebten Zeichnung: „Fig. 9“. Legende in Tusche auf dem Transparentpapier: „Fenstersohlbank v. Tempel d. Vesta z. Tivoli“121]

Der Unterschied zwischen griechischer und italisch- römischer Profilirung

ist also ein vollständiger, durchgreifender. Im Detail ist beiderseits Alles verschieden, und einzelne Formen fehlen der römischen Profilirungskunst sogar gänzlich z. B. das sogen. dorische Kyma [fol. 141] 140. [Mehrteilige Profilzeichnung, Bleistift auf Transparentpapier, eingeklebt. Legende in Tusche: „Fig. 10.“ Zahlreiche Anmerkungen und Maßangaben in Bleistift, u.a.: „Amphitheater zu Pola Hauptgesimse d. ersten Stockwerks … Strebepfeiler Krönung… Pfeilerkopf im ersten Stockwerk“, teilweise unleserlich] was ganz begreiflich ist, weil diese Form lediglich nur eine Consequenz des Componirens mit Schlagschattenrinnen ist ein System das der römischen Art fremd ist und auch in Mittel- und Oberitalien nicht mehr vermißt wird, denn hier spendet der nördlichere Himmel schon nicht mehr jene prächtigen Effecte auch der kleinsten Schlagschatten, wie auf Sicilien und in Griechenland. [Bleistiftanmerkung am linken Blattrand: „28/1 87“] [fol. 142] 1401. Dagegen fehlen auch den Griechen eine Menge Combinationen, welche umgekehrt wieder specifisch in dem römisch-italischem Profilirungssystem wurzeln.

121 [Tibur, antike Stadt am Fluss Aniane in den Sabinerbergen östlich von Rom, heute Tivoli. Der Rundtempel der Vesta wurde unter Lucius Cornelius Sulla (138–78 v. Chr.) erbaut.] Vorträge über Geschichte der Baustyle (1883–1884)

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Fig. 10. Amphitheater zu Pola [Baudetails]

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Fig. 11. Amphitheater zu Pola. Hauptgesimse

Fig. 12. v. Amphitheater zu Pola

[Profilzeichnung, Bleistift auf Transparentpapier, eingeklebt. Legende in Tinte: „Fig 11.“ Anmerkungen in Bleistift: „Amphitheater zu Pola“122 „Hauptgesimse“ mit zahlreichen Kotierungen] [Unmittelbar rechts daneben: Profilzeichnung, Bleistift auf Transparentpapier, eingeklebt. Legende in Tinte: „Fig. 12. v. Amphitheater zu Pola.“ Anmerkungen in Bleistift: „Hauptgesims im 2. Stockw Pfeilerkapitäl“]

Die Gesimsungen sämmtlicher griechischer und römischer (s. Fig. 10, 11 u.

12.) Bauwerke lehren dieß.

122 [Pola, antike Stadt an der Südwestspitze der Halbinsel Histria. Naturhafen. Nach Legende von den Kolchern gegründet, seit 178/177 v. Chr. römisch, Flotten- und Militärstützpunkt, nach 42 v. Chr. colonia. Endpunkt der Via Flavia.Handelshafen für Wein und Öl. Bedeutende antike Baureste: Amphitheater, 2 Theater, 2 Tempel.] Vorträge über Geschichte der Baustyle (1883–1884)

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Die römische Blattwelle (Fig. 8.) ist mit eigenem Plättchen a verbunden; die griechische nicht. [Profilzeichnung, Tusche auf Transparentpapier, eingeklebt. Legende in Tusche: „v. Titusbogen z: Rom.“123. Unterhalb der eingeklebten Zeichnung Legende in Tinte: „Fig. 13.“] [Rechts daneben: kleine Skizze in Tinte. Legende in Tinte: „Fig. 14.“]

Der römische Säulen- und Pilasterschaft ist in

allen Ordnungen immer durch beistehendes Profil „Astragal“ (Fig. 14) geschlossen während die grie[fol. 143] 1412. chischen Bauten diesen Schluß erst in der Spätzeit verwenden, nachdem sie ihn von den Römern entlehnt hatten, u. dgl. mehr.

Fig. 13. v. Titusbogen z: Rom

Diese ganz anders geartete Profilirung hängt aber nicht blos mit den ver-

änderten Beleuchtungserscheinungen zusammen, sondern auch mit der wesentlich verschiedenen Construction, mit dem Mauer- und Wölbesystem der Italer und auch den anders gearteten Grundrißdispositionen. Diesem allem zufolge n e i g t die italisch-römische Kunst nicht zu so starken Ausladungen von Kapitäl- und von Kranzgesimsplatten.

Der stark ausladende Abakus der Griechen würde einen Echinus als Zirkel-

schlag ausschließen, weil sich beim Cirkelschlag zu große Höhe und Plumpheit ergäbe. Die wenig ausladende Deckplatte des römisch-italischen Wulstkapitäles läßt dieß aber zu und es zeigt also auch hierin eine wohlgefügte Übereinstimmung aller wechselseitigen Beziehungen.

Entsprechen der geringeren Bedeutung der Hängeplatten, werden klei-

nere Gesimsungen häufig [fol. 144] 143. ohne eine solche gebildet besonders bei Postamenten Fig. 15 u. 16.

123 [Der Titus-Bogen an der Via sacra am Forum Romanum in Rom wurde nach 81 n. Chr. von Kaiser Domitian dem vergöttlichten Kaiser Titus (reg. 79–81 n. Chr.) errichtet. Der Bogen erinnert an den Triumph, den Titus gemeinsam mit seinem Vater Kaiser Vespasian im Herbst des Jahres 70 nach der Zerstörung von Jerusalem in Rom gefeiert hatte.]

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Fig. 15. v. Bogen des Septimius S. Rom

Fig. 16. v. Constantin ­Bogen Rom

Fig. 17. v. Tempel d: ­Fortuna virilis, Rom

[Profilzeichnung in Tusche auf Transparentpapier, eingeklebt. Legende in Tusche: „Fig. 15. v. Bogen des Septimius S. Rom“124] [Rechts daneben: Profilzeichnung in Tusche auf Transparentpapier, eingeklebt. Legende in Tusche: „Fig. 16. v. Constantin Bogen Rom“125]

Dagegen erscheint an Stelle der Zahnschnitte öfter nur eine gerade Platte

Fig. 17, a. [Profilzeichnung, Tusche auf Transparentpapier, eingeklebt. Legende in Tusche: „Fig. 17. v. Tempel d: Fortuna virilis, Rom“126 Anmerkung mit Tusche: „a.“]

Die Wulste an Fußprofilen (Fig. 18–21.) sind bei den Römern halbkreis-

förmig. Die Plättchen springen nicht vor, so daß zwischen den Blättchen und den Wulsten keine Einschnitte entstehen wie im griechischen Styl. Es ist eben nirgends auf die Wirkungen von Schlagschatten und directem Sonnenlicht gerechnet sondern alles auf die m i l d e r e B e l e u c h t u n g z e r s t r e u t e n L i c h t e s wie bei bewölktem Himmel angelegt. G e r a d e d a s f o r d e r t e n e r­ g i s c h e r e z i r k e l s c h l a g f ö r m i g e [Profilzeichnung, Tusche auf Transparentpapier, eingeklebt. Legende in Tusche: „Fig. 18. v. Tempel d: Fortuna virilis, Rom.“] 124 [Der Triumphbogen des Kaisers Septimius Severus (reg. 193–211 n. Chr.) auf dem Forum Romanum in Rom wurde vom Senat und vom römischen Volk dem Kaiser im Jahr 203 zum zehnjährigen Regierungsjubiläum gestiftet.] 125 [Der Konstantinsbogen an der Via Triumphalis in Rom wurde nach dem Sieg an der Milvischen Brücke im Jahre 312 n. Chr. vom Senat für Kaiser Konstantin I. (reg. 306–337) und seinen Mitkaiser Licinius errichtet. Der Bogen war 315 für die Feier des zehnjährigen Regierungsjubiläums Konstantins vollendet.] 126 [Der sogenannte Tempel der Fortuna virilis in Rom südlich des Forum Holitorium am Tiberhafen von Rom war tatsächlich dem Portunus geweiht. Der Tempel wurde Anfang des 2. Jh. v. Chr. errichtet.] Vorträge über Geschichte der Baustyle (1883–1884)

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Fig. 18. v. Tempel d: Fortuna virilis, Rom

Fig. 19. v. Forum d: Nerva

Fig. 20. v. Constantin B: Rom

Fig. 21. v. Bogen d: Spt: S. Rom

[Rechts daneben: Profilzeichnung, Tusche auf Transparentpapier, eingeklebt. Legende in Tusche: „Fig. 19. v. Forum d: Nerva.“127] [Links unterhalb: Profilzeichnung, Tusche auf Transparentpapier, eingeklebt. Legende in Tusche: „Fig. 20. v. Constantin B: Rom.“] [Rechts daneben: Profilzeichnung Tusche auf Transparentpapier, eingeklebt. Legende in Tusche: „Fig. 21. v. Bogen d: Spt: S. Rom.“] [fol. 145] 144. Krümmungen und somit läßt sich der Unterschied zwischen griechischer und römischer Profilirung, soweit es dieses Hauptmoment der Beleuchtung betrifft, dahin kurz definiren, daß die griechische Profilirung auf den Schlagschattenwirkungen basirt und die römisch-italische auf den Selbstschattenwirkungen. [Profilzeichnung Tusche auf Transparentpapier, eingeklebt. Legende in Tusche: „Fig. 22. Theater d Marcellus“128, Anmerkung mit Tusche: „a{“] [Rechts daneben: Profilzeichnung, Tusche auf Transparentpapier, eingeklebt. Legende in Tusche: „Fig 23. Dor: Capit: von Albano.“ Anmerkung mit Tusche: „a{“] [Links unterhalb: Profilzeichnung, Tusche auf Transparentpapier, eingeklebt. Legende in Tusche: „Fig 24. v. Theater des Marcellus Rom.“ Anmerkung in Tusche: „Kämpfer“]

127 [Das Nerva-Forum oder Forum transitorium neben dem Augustus-Forum in Rom wurde unter Kaiser Domitian (reg. 81–96 n. Chr.) begonnen aber erst nach seinem Tod im Jahre 97 n. Chr. von Kaiser Nerva (reg. 96–98 n. Chr.) geweiht.] 128 [Das Marcellus-Theater am Marsfeld in Rom wurde von Caesar begonnen und 17 v. Chr. unter Kaiser Augustus vollendet. Die Weihung erfolgte jedoch erst 13 oder 11 v. Chr. im Namen des Marcellus, des früh verstorbenen Neffen und Erben des Augustus.]

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Fig. 23. Dor: Capit: von Albano

Fig. 24. v. Theater des Marcellus Rom

Fig. 26. Dorische Basen v: Colosseum

[Rechts daneben: Profilskizze in Bleistift auf Transparentpapier, eingeklebt. Legende in Tinte: „Fig 25“; Legende in Bleistift: „ältere dorische B[asis]“]

In offenbarem Zusammenhange mit der verhältnismäßigen Kleinheit der

Deckplatten an Hauptgesimsen Postamenten etc. steht es, wenn auch die Deckplatte der Wulstkapitäle (dorischer u. toscanischer Ordnung) durch Anbringung eines Bekrönungsgesimschens a (Fig. 22 u. 23) in Höhe und Ausladung verringert wird. [Zwei Profilzeichnungen, Tusche auf Transparentpapier, eingeklebt. Legende in Tusche: „Fig. 26. Dorische Basen v: Colosseum.“129] [Anmerkung am linken Blattrand mit Bleistift: „24/2 88“]

Also auch diese Abweichung von der griechischen Norm ist keine Zufällig-

keit [fol. 146] 145. oder gar „V e r r o h u n g “ des griechischen Typus, sondern notwendige Folge der formbildenden Kräfte des specifisch italischen Kunstgefühles. [Profilzeichnung, Bleistift auf Transparentpapier, eingeklebt. Legende in Tinte oder Tusche: „Fig. 27. Dorische Ordnung v Theater des Marcellus in Rom.“]

129 Das Kolosseum oder Flavische Amphitheater in Rom wurde an der Stelle des Amphitheaters des Taurus, das bei Brand Roms im Jahre 64 n. Chr. zerstört worden war, zunächst unter Kaiser Nero durch eine provisorische Holzkonstruktion und danach unter Kaiser Vespasian (reg. 69–79 n.Chr.) durch den bis heute bestehenden Bau ersetzt, der 79 v. Chr. geweiht wurde. Fertiggestellt wurde der Bau erst unter Kaiser Domitian. Vorträge über Geschichte der Baustyle (1883–1884)

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Fig. 27. Dorische Ordnung v Theater des Marcellus in Rom



Deßgleichen das Vorhandensein einer Basis (Fig. 26.) bei der toscanischen

und dorischen Ordnung der Römer. Diese ist bedingt durch den eben begründeten größeren Profilirungsreichthum des dazugehörigen Kapitäls und auch dadurch, daß diese Säulen im Rahmen eines römisch-italischen Bauwerkes auch einer veränderten Gesammtverwendung zu entsprechen haben. Während nämlich die griechisch-dorische Säule im Peripteros gleichsam frei aus der Horizontalebene des niederen Stufenunterbaues emporwächst; steht die römisch-dorische Säule in Verband mit Bogen[fol. 147] 146. [Anmerkung am linken Blattrand mit Bleistift: „30/1 89“] stellungen und Mauerzügen meist auf (jeder Säule speciell untergestellten) Postamenten. Während also beim griechischen Tempel in der Nähe des Säulenfußes keinerlei Profilirungen vorkommen, somit also auch die einfachste Platte hier schon zu viel des Guten wäre; zwingt in der römischen Bauweise

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schon allein die Gesimsung des Postamentes auch der Säule (selbst der einfachsten) eine Fußbildung auf.

Diese Fußbildungen bestehen zu unterst aus einer viereckigen Platte auf

welcher dann erst der kräftige Wulst aufsteht und darüber folgen noch einige Übergangs-Glieder. Die zwei untersten Glieder (Platte u. Wulst) sind constant bei allen Ordnungen und auch hierin unterscheidet sich die italische Art von der griechischen, welcher die Unterlagsplatte eigentlich fremd ist, indem sie erst bei den korinthischen Bauten spätester Zeit heimisch wird. Auch dieser Gegensatz wird sofort verständlich, wenn die Beziehung des Säulenfußes zum Postament aufgefaßt wird. Bei den römisch-italischen Säulen ist die Fußplatte fluchtig mit dem Postament[fol. 148] 147. Würfel und kommt ihr speciell die ästhetische Function der Versinnlichung des Zusammenhanges zwischen Säule und Postament zu. Nachdem nun der griechischen Kunst von Hause aus die Postamentbildung überhaupt fremd ist (erst nachdem sie römische Baudispositionen angenommen hatte gebrauchte sie diesen ihr fremden Architekturbestandtheil); so ist für eine solche Fußplatte kein formales Bedürfniß vorhanden und somit steht in der griechischen Säulenhalle der Wulst unmittelbar auf der breiten Ebene des Stylobates.

Noch ein wesentlicher Unterschied betrifft die Bildung und Verwendung

der Triglyphen. Hier fällt die sackförmige Schlagschatten-Höhlung am oberen Ende der Schlitze weg und besteht somit auch die Endigung desr Eckfase bei a [Einfügung mit Bleistift: „F 28“] nur aus der schrägen Abschneidung. [Profilzeichnung in Tusche auf Transparentpapier, eingeklebt. Legende in Tusche: „v. Theater des Marcellus.“ Anmerkung mit Tusche: „a “ Unterhalb der eingeklebten Zeichnung Legende in Tinte: „Fig. 28.“]

Noch wichtiger ist aber der Umstand, daß bei den Römern auch der Eck­

triglyph immer im [fol. 149] 148. Säulenmittel steht, falls er überhaupt s. Fig. 29, 30 mit einer Säulenreihe in Verband kommt; und endlich die stets geringe Ausladung der Triglyphen. [Profilskizze, Bleistift auf Transparentpapier, eingeklebt. Legende in Tinte: „Fig. 29.“ Legende in Bleistift: „Sarcophag des Scipio“. Anmerkung mit Tinte: Vorträge über Geschichte der Baustyle (1883–1884)

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„Trigl. am Eck weil hier keine Säule darunter u. somit das Säulenmittel auch nicht in Frage kommt.“] [Unterhalb, Profilskizze, Bleistift auf Transparentpapier, eingeklebt. Legende in Tinte: „Fig. 30.“ Legende in Bleistift: „Sockel unterer Tempel d. Fortuna zu Prenestae“130, Anmerkung in Tinte mit Hinweispfeil auf die obere Skizze: „dtto“]

Diese beiden letzteren Umstände erklären

u. bedingen sich gegenseitig, so daß die mit einander bestehen oder fallen. Die Mittelstellung des Ecktriglyphen ist nämlich nur dann möglich, wenn der Metopengrund fluchtig mit dem Architravgrund ist, wie bereits bei Erörterung des griechisch-dorischen Systems nachgewiesen wurde. Diese Möglichkeit ist aber bei der römisch italischen Bauweise die Norm und somit kann der italische Baumeis­ ter, wenn Triglyphen mit Säulen in Verbindung

Fig. 29. Sarcophag des Scipio

[fol. 150] 149. stehen, die Forderungen der Symmetrie berücksichtigen und auch den Ecktriglyph (wie in Fig. 27.) ins Säulenmittel stellen, was der griechische Künstler bei seinen offenen oder im Hochrelief decorirten Metopen nicht konnte.

Daß die Alten sich dieser Schwierigkeiten

wohl bewußt waren, geht deutlich aus einer Stelle bei Vitruv (l. IV. c. 3) hervor, welche lautet:

Fig. 30. Sockel unterer Tempel d. Fortuna zu Prenestae

130 [Praeneste, antike Stadt in Latium östlich von Rom, heute Palestrina. Der Tempel der Fortuna Primigenia besteht aus einem Oberen Tempel und einem Unteren Tempel, der unter Sulla (vor 78 v. Chr.) errichtet wurde.]

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„Einige alte Baukünstler haben sich dahin ausgesprochen, daß man keine

Tempel in dorischer Ordnung erbauen solle, da bei solchen f e h l e r h a f t e “ [sic!] „und unzusammenstimmende Gliederungen ins Werk gesetzt würden. Und so sprach sich Tarchesios aus, ferner Pythios und nicht minder Hermogenes. Denn da dieser letztere den Marmorvorrath für den Bau eines dorischen Tempels vorbereitet hatte, änderte er ihn aus demselben Material um und erbaute ihn in jonischer Ordnung dem Dionysos. Jedoch nicht, weil das Aussehen, oder die Ordnung, oder die würdevolle Gestalt nicht schön, sondern w e i l d i e E i n t h e i l u n g d e r Tr i g l y p h e n u n d d e r U n t e r s i c h t d e s K r a n z g e s i m s e s m i ß l i c h und unbequem ist. Denn es ist notwendig, daß die Dreischlitze den beiden mittleren Vierteln des [fol. 151] 150. Säulendurchmessers entsprechend angebracht werden, und daß die Meto­ pen, welche sich zwischen den Dreischlitzen befinden eben so breit als hoch seien.“131 {i t a l i s c h e s S y s t e m } „dagegen werden auch ganz außen bei den Ecksäulen Dreischlitze angebracht“ {g r i e c h i s c h e s S y s t e m } „und daraus geht hervor, daß die Metopen, welche sich zunächst an den Ecktriglyphen befinden, nicht quadratisch werden, sondern um die Hälfte der Triglyphen breiter. Diese Sache aber, mag sie nun durch die Verbreiterung der Metopen oder durch Verengung der Säulenweiten erledigt werden, ist fehlerhaft. Deßhalb scheinen die Alten bei den Tempeln die dorische Ordnung vermieden zu haben.“132 131 [Vitruv: De Architectura, Liber quartus, III: „Nonnulli antiqui architecti negaverunt dorico genere aedes sacras oportere fieri, quod mendosae et disconvenientes in his symmetriae conficiebantur. Itaque negavit Arcesius [sic!], item Pytheos non minus Hermogenes. Nam is cum paratam habuisset marmoris copiam in doricae aedis perfectionem, commutavit eam et ex eadem copia ionicam Libero Patri fecit. Sed tamen non quod invenusta est species aut genus aut formae dignitas, sed quod inpedita est distributio et incommoda in opere triglyphorum et lacunariorum distributione. Namque necesse est triglyphos constitui contra medios tetrantes columnarum, metopasque, quae inter triglyphos fient, aeque longas esse quam altas.“] 132 [Ebd.: „Contraque in angularis columnas triglyphi in extremis partibus constituuntur et non contra medios tetrantes. Ita metopae, quae proximae ad angulares triglyphos fiunt, non exeunt quadratae sed oblongiores triglyphi dimidia latitudine. At qui metopas aequales volunt facere, intercolumnia extrema contrahunt triglyphi dimidia latitudine. Hoc autem, sive in metoparum longitudinibus sive intercolumniorum contractionibus efficietur, est mendosum. Quapropter antiqui vitare visi sunt in aedibus sacris doricae symmetriae rationem.“] Vorträge über Geschichte der Baustyle (1883–1884)

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Vitruv vermengt hier (wie öfter) italische und griechische Art, die erstere



kennt er aus den Werken seines eigenen Volkes, die letztere aus seinen literarischen griechischen Quellen.

Auch seine Angabe: „daß d i e A l t e n bei den Tempeln die dorische Ord-

nung vermieden hätten“ ist für ihn bezeichnend und maßgebend für den Wert, den man ihm als historischen [fol. 152] 151. Gewährsmann beilegen darf.

Versteht man nämlich unter den Alten die griechischen Baumeister des

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ten

bis 5ten Jahrhundertes v. Chr., so ist die Stelle gänzlich unwahr, denn diese

Alten bauten im Peloponnes und in Sicilien ausschließlich griechisch dorisch mit Ecktriglyphen. Versteht man aber unter den Alten die Quellenschriftsteller des Vitruv, die er selbst hier citirt, dann gehören diese Alten nur den drei letzten Jahrhunderten vor Chr. an; also einer Zeit, in welcher die italischrömische Kunst und Cultur bereits in rege Wechselwirkung mit der griechischen getreten war und somit auch die Äußerungen der griechischen Autoren schon unter diesem Einfluße standen.

Es ist interessant zu sehen, daß die Griechen unter dem Einfluß der ita-

lisch-römischen Norm gestellt, den Geschmack an ihrer eigenen dorischen Norm verloren und lieber die dorische Ordnung ganz aufgaben, da die italische Triglyphenregel aus mehrfachen Rücksichten in ihr System nicht paßte. Die Römer dagegen hatten zu einer solchen Abwendung von ihrer eigenen dorischen Ordnung keinen Grund, da ihre Triglyphenbildung eben mit allem [fol. 153] 152. [Anmerkung in Bleistift am linken Blattrand: „27/2 88“] Übrigem stimmte. So läßt sich denn die römisch-dorische Bauweise in Mittelund Oberitalien einerseits bis in die späteste Kaiserzeit und andererseits bis in die ältesten Zeiten zurück verfolgen. Sie ist durch mehr als tausend Jahre hindurch im Wesentlichen immer dieselbe geblieben, und dieses Wesentliche besteht darin, daß nicht nur die Metopen sondern auch die Giebelfläche nicht tief liegen, sondern mit dem Architrav fluchtig sind. Die Giebelfelder waren daher auch nicht (wie bei den Griechen) mit freistehenden Statuen gefüllt, sondern figural bemalt.

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Die Aufstellung massiv steinerner Giebelfiguren ist bei allen alt italischen

Tempeln constructiv ausgeschlossen, denn sie hatten sehr weite Säulenstellung und hölzerne Architrave; auch darüber ein hölzernes Fachwerkgerüste mit leichtem Ziegelfüllmauerwerk. Das Vorhandensein figuralen Giebelfeldschmuckes beweisen aber vor Allem zalreiche alte italische Münzen u. Medaillen durch ihre kleinen Darstellungen alter, meist nicht erhaltener, Tempel. Diese Darstellungen konnten nur Malereien sein, da erst spät (gegen Ende der Republik) der Steinarchitrav [fol. 154] 153. und mit ihm die hiefür nötige enge Säulenstellung in den Tempelbau der Römer seinen Einzug hält. Dieß änderte jedoch sonst die seit Jahrhunderten üblichen sonstigen Normen nicht. Eine Giebelfront mit Bemalung ist in der Wandmalerei einer altitalischen Grabkammer zu Chinsi erhalten. Wo Meto­ penschmuck vorkommt, ist er in flachem Basrelief ausgeführt.

Ober dem Triglyphenfries ist (gleichfalls abweichend von der altgriechi-

schen Norm) stets noch eine Kehlprofilirung angebracht, häufig mit Zahnschnitten. An der Untersicht der Hängeplatte sind Mutuli mit Tropfen nur ober den Triglyphen üblich. Der Schaft der Säulen ist meist uncannellirt, was ebenfalls mehr auf eine ursprüngliche Holzbauperiode deutet, als auf eine jahrhunderte währende Pflege des Steinpfeilerbaues in älterer Zeit.

Die Säulenhöhe beträgt nach Vitruv 7 Durchmesser. Das Kapitäl ist 1 Mo-

dul hoch und 2 1/6 breit.133 Die Höhe des Metopenfrieses ist verhältnißmäßig bedeutend und zwar auf Kosten des Architraves. Der Giebel hat 1/5 seiner Breite zur Höhe. [fol. 155] 154. Die j o n i s c h e O r d n u n g der Römer stimmt in allem Wesentlichen mehr mit der der Griechen überein. [Profilzeichnung, Tusche auf Transparentpapier, in zwei Teilen überlappend eingeklebt. Legende in Tusche: „Fig. 31. v. Tempel der fortuna virilis Rom.“]

Verschieden ist hauptsächlich die Detailbildung, also:

133 [Vitruv, Liber quartus III, 4: „Crassitudo columnarum erit duorum modulorum, altitudo cum capitulo XIIII. Capituli crassitudo unius moduli, latitudo duorum et moduli sextae partis.“ Die Dicke der Säulen wird 2 Grundmaße sein, die Säulenhöhe einschließlich Kapitell 14. Die Höhe des Kapitells 1 Grundmaß, die Breite 2 1/6]. Vorträge über Geschichte der Baustyle (1883–1884)

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Die gesammte Profilirung, die

Kleinheit der Hängeplatte; die Grö­ ­ße des Kehlgesimses darunter; der Säulenfuß mit seiner Fußplatte. S. Fig. 31. und Fig. 32. [Bleistiftanmerkung am linken Blatt­ rand: „siehe Hauser S. 99“] [Profilzeichnung, Tusche auf Transparentpapier, eingeklebt. Legende in Tusche: „Fig. 32. Attische Basis. v. Tempel der Fortuna virilis Rom.“] [fol. 156] 155.

Auch die verhältnißmäßig klei-

nere Volute des Kapitäls ist im Sinne römischer Profilirung anders geformt, indem sie sehr einfach im Querschnitt ist mit geradem Plätt-

Fig. 31. v. Tempel der fortuna virilis Rom

chen und senkrechtem Stoß der Rinne und auch von einer gewissermaßen zirkelschlagartigen Rundung kreisförmig gedrungen und nicht so nach außen und unten oval ausgezogen wie die griechische. [Ausgeschnittene Abbildung aus einem Druckwerk in Tiefdruck, eingeklebt. Legende in Tinte: „Fig. 33“]

Ferner ist noch stets der Zahnschnitt anders gebildet indem bei den Ita-

lern immer ein Zahn am Eck steht, während bei den Griechen immer eine Lücke mit dem Eck zusammen fällt. So unscheinbar dieser Unterschied an sich sein mag, so ist doch seine Stetigkeit auffallend und scheint diese auf [fol. 157] [mit Bleistift hinzugefügt: „a“d „155.“ (= Rückseite der „Einlage ad 118“; darunter auch eingeordnet!)] eine verschiedene Entwicklungsart in den ersten Anfängen des Motives hinzudeuten.

Die Säulenhöhe beträgt 8½ Durchmesser; die Kapitälhöhe ½ Durchmesser

und ebenso die des Säulenfußes. Der Frieß mißt 2/3 des Architraves und das Kranz­ gesimse sammt Kehlprofilirung hat 2 untere Säulen-Durchmesser zur Höhe.

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Fig. 33



Die weitaus reichste Entfaltung gehört in der römischen Baukunst der

sogen. k o r i n t h i s c h e n O r d n u n g . Das Wesentliche dieser Gattung läßt sich aber losgelöst von dem Mauer-Wölbebau der italischen Kunst gar nicht erklären, weßhalb dessen Besprechung hier vorausgeschickt werden muß. [Ansichtsskizze in Tusche auf Transparentpapier, eingeklebt. Legende in Tusche: „Fig 34. Pelasgische Mauer bei Sunna.“] [Links darunter: Ansichtsskizze in Bleistift auf Transparentpapier, eingeklebt. Legende in Tinte: „Fig. 35“, in Bleistift: „Porta principale di Norba“134] [Rechts daneben: Ansichtsskizze in Bleistift auf Transparentpapier, eingeklebt. Legende in Tinte: „Fig. 36“. in Bleistift: „Kleines Ausfallthor von Norba“] [Darunter: Ansichtsskizze in Bleistift auf Transparentpapier, eingeklebt. Legende in Tinte: „Fig. 37“ in Bleistift: „Altra Porta Minore di Signia“135]

Die ältesten Steinmauern Italiens zeigen sogen.

134 [Norba, antike Stadt in Latium in beherrschender Lage am Westhang der Monti Lepini. 492 v. Chr. gegründete latinische Kolonie.] 135 [Signia, antike Stadt der Latiner zwischen der Via Appia und der Via Latina am Fluss Sacco. Gilt als Gründung des Tarquinius Superbus (lt. Livius). Hochstadt mit einem Tempel bekrönt.] Vorträge über Geschichte der Baustyle (1883–1884)

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[fol. 158] 156. kyklopische Verbände; so die von Arpinum136, Volterra137, Medullia138, Ceres139, Präneste, Norba etc. [Ansichtsskizze in Bleistift auf Transparentpapier, eingeklebt. Legende in Tinte: „Fig. 38.“ In Bleistift: „Porta Saracinesca di Signia.“] [Darunter: Zeichnung eines Aufriss­ querschnitts, Bleistift auf Transparentpapier, eingeklebt. Legende in Tinte: „Fig. 39“ in Bleistift: „Quellhaus zu Tuskulum“140]

Bei den Öffnungen kommen

Fig. 39. Quellhaus zu Tuskulum

Böschungen (respective Vorkragungen) vor, die sich an Portalen u. Fenstern bis spät erhalten, aber selten. Meist gehen die Seiten der Portale auch schon in ältester Zeit senkrecht auf, wie in Fig. 34–38.

Bei Quellhäusern, Schatz- und Vorratskammern etc. führt das System der

Vorkragung (Fig. 39) folgerichtig wieder zu der bereits bekannten Spitzbogenform. [Ansichtsskizze in Tusche auf Transparentpapier, eingeklebt. Legende in Tusche: „Fig. 40. Grabmal zu Volterra.“] [Rechts daneben: Grundriss und Aufrissschnitt, Bleistift auf Transparentpapier, eingeklebt. Legende in Tinte: „Fig. 41.“ in Tusche: „v. Denkmal der Julier zu St. Remy“]

136 [Arpinum, antike Stadt in Latium. Seit 305 v. Chr. Im Herrschaftsbereich der römischen Republik, ab 90 v. Chr. Municipium. Geburtsort von Gaius Marius und von Marcus Tullius Cicero.] 137 [Volaterrae, antike Stadt in Nordetrurien zwischen den Flusstälern des Era und Cecina. Eine der größten und ältesten der 12 Bundesstädte der Etrusker, an Stelle der heutigen Stadt Volterra. 7 km lange Stadtmauer aus dem 6. Jh. v. Chr. erhalten.] 138 [Medullia, antike Stadt in Latium, erwähnt bei Plinius, Historia naturalis 3,68, und bei Livius I,33,4 und 38,4.] 139 [Caere, antike Stadt in Südetrurien. Als Agylla von den Pelasgern gegründet, von den Etruskern in Caere bzw. Cisra umbenannt. Unterwarf sich 353 v. Chr. den Römern.] 140 [Tusculum, antike Stadt der Latiner am Rand der Albaner Berge unweit von Rom an der Via Latina. Cicero besaß eine Villa in Tusculum.]

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Steinerne Grabkegel, von denen die ältesten zu Corneto, Chinsi, Volterra

(Fig 40) auf Sardinien etc. vorkommen behalten (s. Fig. 41.) [fol. 159] 157. diese Construction ungemein lange bei. [Perspektivische Zeichnung, Bleistift auf Transparentpapier, eingeklebt. Legende in Tinte: „Fig. 42.“ In Bleistift: „Thor zu Vol­ terra“]

Sehr frühzeitig entwickelt sich auch

hier aus den in der Mitte verstärkten Überlagsteinen das Wölben im Keilschnitt und erreicht bei den Italern eine s o n s t i m A l terthume nirgends anzureffende Vo l l e n d u n g . [Ansichtsskizze in Bleistift auf Transparentpapier, eingeklebt. Legende in Tinte: „Fig

Fig. 42. Thor zu Volterra

43.“ In Bleistift: „Porta Latina Rom. Canino“]

Die Bogendecoration des uralten Thores von Volterra (Fig. 42) zeigt be-

reits Verständniß für die hervorstechende Wichtigkeit der Kämpfer- und des Schlußsteines und die Thorbogen von Fig. 43–45 enthalten bereits die E i n b i n d u n g der Keilsteine in die Quaderschichten. Das letzte dieser Beispiele ist vom Bogen des Nerva zu Rom. [Ansichtsskizze in Bleistift auf Transparentpapier, eingeklebt. Legende in Tinte: „Fig. 44.“ In Bleistift: „Porta Nolense di Pompei. ebenso d. Porta Ercolanea zu Pompei“141] [Darunter: Aufrisszeichnung mit Maßstab in Tusche auf Transparentpapier, eingeklebt. Legende in Tusche: „Fig. 45.“ In Bleistift: „Nerva in Rom“] [Bleistiftanmerkung am linken Blattrand: „7/2 87 / 2/3 88“]

So erlangt der Gurtbogen seine vollendete Ausbildung.



Aber das Quadergefüge erhebt sich auch

141 [Pompeji, antike Stadt in Campania am Fuß des Vesuvius an der Mündung des Flusses Sarnus. Bedeutender Handelsplatz für Bimsstein, Wein, Öl. 89 v. Chr. von Publius Cornelius Sulla erobert, 80 v. Chr. colonia. Am 24. August 79 v. Chr. durch Vulkanausbruch des Vesuv vollkommen zerstört und verschüttet. Bedeutende ausgegrabene Baureste: Forum, Kapitol, Tempel d. Jupiter, Apollo, Venus, Theater, Amphitheater, Thermen.] Vorträge über Geschichte der Baustyle (1883–1884)

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[fol. 160] 158. zum decorativ bedeutsamen Motiv und es entsteht so schon bei den Römern die Rustica-Architektur. Siehe Fig. 46. (Verona u. Pola.) [Detailskizze, Bleistift auf Transparentpapier, eingeklebt. Legende in Tinte: „Fig. 46.“ In Bleistift: „Rustica über die Pilaster hinweg am Amphitheater in Verona142; in Pola143 etc.“] [Anmerkung am linken Blattrand in Bleistift: „siehe Durm S. 155“]

Gewaltige Dimensionen erreichen diese Bogen bei den Aquäducten. So

beträgt bei der Wasserleitung der Anio nova die Spannung an einer Stelle 9 7 M e t e r und beim Aquäduct zu Nimes in Südfrankreich (Fig. 47) erreicht die Bogen-Spannung b e i n a h e d a s D o p p e l t e . [Aufrisszeichnung, Bleistift auf Transparentpapier, eingeklebt. Legende in Tinte: „Fig. 47.“ In Tusche: „Aquäduct zu Nimes.“]

Auch an mächtigen Tonnengewölben fehlt es

[fol. 161] 159 nicht mit Spannungen bis u 15 m u. Darüber. Das älteste Beispiel ist die Kloaka Maxima mit 4 m Spannung im Canal zur Entwässerung des tief gelegenen Forum Romanum zu Rom. Ganz bedeutendes leisteten die Römer auch im Kuppelbau der meist bei Bädern Verwendung fand. Das größte Werk ist aber d a s P a n t h e o n z u R o m 144, überhaupt eines der größten Meisterwerke u. hat sich bis heute erhalten. Es wurde von Markus Agrippa dem siegreichen Feldherr u. dem Freunde des greisen Augustus erbaut u. 25 v. Ch[r]. vollendet, als Theil einer Thermenanlage.

142 [Das Amphitheater in Verona wurde im 2. Viertel des 1. Jh. n. Chr. vor den Mauern der antiken Stadt errichtet. Plinius berichtet von den Gladiatorenspielen und Tierhetzen in der Arena. Der im Grundriss elliptische Bau maß 152 x 123 m und fasste ca. 25.000 Zuschauer.] 143 [Das Amphitheater von Pola an der Südwestspitze der Halbinsel Histria hatte Abmessungen von 132 x 105 m, fasste ca. 23.000 Zuschauer und wurde im 1. Jh. n. Chr. erbaut.] 144 [Die tatsächlich unrichtige Datierung Camillo Sittes bezieht sich auf den Vorgängerbau, einen von Marcus Agrippa 27 v. Chr. errichteten Tempel, der 110 n. Chr. abgebrannt war. Kaiser Hadrian ließ 120–125 den bestehenden Bau errichten, jedoch an der Vorhalle eine Gedenkinschrift für Marcus Agrippa anbringen. Auch die Annahme, dass der Kuppelbau Teil einer Thermenanlage gewesen sei, ist unrichtig.]

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Fig. 47. Aquäduct zu Nimes

[Aufrissschnitt, Bleistiftzeichnung auf Papier, eingeklebt. Legende in Tinte: „Fig. 49.“ In Bleistift: „B a s i l i k a d e s M a x i m u s .“145]

Der lichte Durchmesser der Kuppel beträgt f a s t 4 1 m

145 [Gemeint ist die Basilika des Maxentius auf dem Forum Romanum. Diese wurde 306 n. Chr. als Versammlungsort für Gerichts- und Geschäftsverhandlungen von Kaiser Maxentius begonnen und 330 von Konstantin d. Gr. vollendet. Das Mittelschiff der Anlage war kreuzgewölbt, daran schlossen sich die mit Quertonnen überwölbten Seitenschiffe an.] Vorträge über Geschichte der Baustyle (1883–1884)

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[fol. 162] 160 und die Mauerstärke fast 6 m. [Perspektivische Zeichnung, Bleistift auf Papier, eingeklebt. Legende in Bleistift: „R ö m i s c h e s K r e u z g e w ö l b e “]

Auch S p i e g e l g e w ö l b e kommen u. zuletzt auch noch das K r e u z g e -

w ö l b e Fig. 49. zur Ausführung. Am längsten stemmte sich das Holzbauschema der Tempel gegen die Annahme des Wölbens u. so kommen ü b e r w ö l b t e Te m p e l z e l l e n e r s t i n d e r K a i s e r z e i t v o r, w i e d e r 135 n. Chr. unter Hadrian erbaute Tempel der Roma u. Venus146; ein späterer Tempel zu Balbek147 u.a. Außer der Formbildung ist aber auch die e i g e n t h ü m l i c h e C o n s t r u c t i o n dieser r. Werke vom hohen Interesse. Der Grundtypus des r. Mauerwerkes ist nämlich der des „F ü l l m a u e r w e r k e s “. Die B i n d e k r a f t d e s M ö r t e l s i s t d i e B a s i s a u f d e r a l l e s b e r u h t u. schon die Dimensionen der r. Ziegel beweisen, dass von modernen Verbänden keine Rede sein kann, da sie nicht die doppelte Breite zur Länge hatten, sondern sich mehr einer quadratischen Form sich nähern. In allen r. Mauern ist die Masse des Mörtels im Verhältnis zu dem der Steine ungemein mächtig u. dieser Mörtel ist stets von der besten Qualität. Vitruv legt ungemein viel auf die Verwendung u. Bereitung u. seine Erörterungen über Puzzolanerde148 zeigen, [fol. 163] 161 dass es sehr häufig natürliche Cemente waren die verwendet wurden, weil das Land in seiner vulkanischen Beschaffenheit, dieselben von selbst in Fülle

146 [Tempel der Venus und Roma, der größte antike Tempel in Rom, hatte zwei Kulträume (Ostteil für Venus, Westteil für Roma). Die tonnengewölbten Cellen endeten in Halbkreisapsiden, die einander in der Gebäudemitte im Scheitel berührten. Peristasis von 20 x 10 korinthischen Säulen. Der Tempel stand auf einem hohen Sockel inmitten eines Platzes, der von 150 Säulen umgeben war.] 147 [Baalbek, antike Stadt in Syrien, nördlich von Damaskus, wegen des Sonnengott-Kultes auch Heliopolis genannt. Bedeutende Baureste und Ausgrabungsergebnisse. Tempel des Jupiter Heliopolitanus, 2. Jh. n. Chr. mit Tonnengewölbe von 20 m Spannweite.] 148 [Vitruv, Liber secundus, VI: „Est etiam genus pulveris, quod efficit naturaliter res admirandas. Nascitur in regionibus Baianis in agris municipiorum, quae sunt circa Vesuvium montem. Quod commixtum cum calce et caemento non modo ceteris aedificiis praestat firmitates, sed etiam moles cum struuntur in mari, sub aqua solidescunt.“]

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­darbot, Diesem Überwiegen des Mörtels ist es auch zuzuschreiben, wenn Vitruv m ö g l i c h s t d ü n n e Z i e gel empfiehlt149 und selbst Dachziegel als besonders trefflich preist, eine Ansicht, die vom Standpunkte des modernen Ziegelbaues gar keinen Sinn hätte. Vom Standpunkt der r. Technik ist dies aber berechtigt, denn hier erreichen die Mörtelfugen, sogar die gleiche Dicke wie die Ziegel selbst, weshalb die ganz in Mörtel eingebetteten Krummziehungen eines Dachziegels hier unschädlich werden. Von diesem Standpunkte (gleichsam der Mörtelmauer) wird auch das z u m e i s t r. Netzmauerwerk verständlich. Fig. 52. [Detailzeichnung, Bleistift mit kleiner skizzenhaften Ergänzung in Tusche oder Tinte auf Papier, eingeklebt. Legende mit Tusche oder Tinte: „F i g . 5 0 . “ ] [Darunter: Detailzeichnung, Bleistift auf Papier, eingeklebt. Legende mit Tu­ sche oder Tinte: „Fig. 51.“ Anmerkung am linken Blattrand in Bleistift: „Verkleidung aus Δeckigen flachen Ziegeln“]

Es ist Füllmauerwerk, das Außen mit Rautenförmigen nach Innen mit

spitzförmigen [fol. 164] 162.

Fig. 54

Fig. 53

[Querschnittzeichnung, Bleistift auf Papier, eingeklebt. Legende in Tinte: „Fig. 52.“] [Darunter: isometrische Detailansicht, Bleistift auf Papier, eingeklebt. Legende in Tinte: „Fig. 53.“] Tuffsteinen verkleidet ist. Eine ähnliche Verkleidung wird auch häufig a u s Δ e c k i g e n – f l a c h e n Z i e g e l n h e r g e s t e l l t F i g . 5 1 . Auch Quader149 [Ebd., Liber secundus, III, VIII.] Vorträge über Geschichte der Baustyle (1883–1884)

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verkleidungen Fig. 52. waren häufig. Selbst wirkliches Gussmauerwerk wurde gemacht Fig. 53. u. auch die Herstellung durch mit den Mauern steigenden Gerüsten Fig. 54. 55., deren Construction noch heute die hiebei unvermeidlichen M a u e r l ö c h e r v e r r a t h e n l a s s e n , w a r i n r a f f i n i r t e s t e r W e i s e e r s o n n e n . So wie hiedurch [Isometrische Detailansicht, Bleistift auf Papier, eingeklebt. Legende in Tinte: „Fig. 54.“] [fol. 165] 163. [Aufrissdarstellung, Bleistift auf Papier, eingeklebt. Legende in Tinte: „Fig. 55.“] [Darunter: Detailskizze, Bleistift auf Papier, eingeklebt. Legende in Tinte: „Fig 56.“] [Darunter: Perspektivische Detailzeichnung, Bleistift auf Papier, eingeklebt. Legende in Tinte: „Fig 57.“ Anmerkung mit Blaustift: „58“]. weitläufige Gerüstungen erspart wurden, so sparte man bei den Wölbungen Schalungen und Leergerüste in erstaunlich kluger Weise theils d u r c h M a u e r n v o n R i p p e n u n d l e e r e n K a s t e n Fig. 56, 58 u. 60. theils d u r c h a l l m ä h l i c h e s A u f t r a g e n v o n dünnen Wölbschalungen. Nach beiden Vorgängen war anfangs die Last nicht allzu groß, bei der hierauf folgenden Herstellung des Füllmauerwerkes mussten diese Rippen oder Schalen bereits tragen helfen. Diese Füllungen wurden Fig. 56 bei Wölbungen in horizontalen Schichtungen angetragen. [fol. 166] 164. [Perspektivische Detailzeichnung, Bleistift auf Papier, eingeklebt. Legende in Tinte: „Fig 58“] [Darunter: Aufrissschnitt und Detailansicht, Bleistift, teilw. mit Tusche angelegt, auf Papier, eingeklebt. Legende in Tusche: „Fig 59.“ In Bleistift: „Fig 31. Durchschnitt des Pantheons in Rom. Konstruction der Kuppeldecke.“]

Ein bedeutendes Beispiel von Entlastungsgurten im Kern einer Wölbung

enthält die Construction der Pantheon Kuppel in Rom Fig. 59. Aber selbst in’s kleinste gehen die Römer ihren eigenen Weg, so dass sie die Quaderdübelung ihre specielle Manier haben, die darin besteht das überflüssige Blei des Vergußes durch ein kleines Rinnchen im Moment der Versetzung nach Außen abzuleiten. Der Mauer- und

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Fig. 59. Durchschnitt des Pantheons in Rom. Konstruction der Kuppeldecke Vorträge über Geschichte der Baustyle (1883–1884)

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[fol. 167] 165 [Drei perspektivische Detailzeichnungen, Bleistift auf Papier, eingeklebt. Legenden in Tinte: „Fig 60, Fig. 62“ (Unterstreichung mit Bleistift); in Bleistift: „Fig 61“] [Darunter: Perspektivische Detailzeichnung, Bleistift auf Papier, eingeklebt. Legende in Tinte: „Fig 61.“] Wölbebau [er]reicht also im alten Italien eine überaus reiche Entwickelung und wie sollte es daher befremden die schon frühzeitig mit dem Holzbausystem des alt­

Fig. 60, 62

italischen Tempelbaues ärmlich mit Säulen in Verb. zu treten zu sehen. Die 1 Frucht dieser Verbindung von Holzgebälken mit Ziegelmauerwerk scheint ein Art Riegelwandbau gewesen [fol. 168] 166. [Aufrisszeichnung

mit

Aufriss­

schnitt, Bleistift auf Papier, eingeklebt. Legende in Tinte: „Fig. 63.“ In Bleistift: „M a r c e l l u s t h e a t e r i n R o m F i g . 6 3 . “] zu sein wie er selbst in Pompeji bei

Oberstocken

Anwendung

fand sammt seiner vorspringenden Obergeschoßes in echter Riegelwandweise bis heute noch erhalten ist. Besonders vortheilhaft gestaltete sich dieses Verhältnis als zur Zeit der Monumentalbau die Holzconstruction

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Fig. 63. Marcellustheater in Rom

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Fig. 64. Titus-Bogen in Rom. Fig. 65. Vom Pantheon in Rom

[fol. 169] 167. [Aufrisszeichnung mit Detail, Bleistift auf Papier, eingeklebt. Legende in Tinte: „Fig 64. 65.“ In Bleistift: „F i g 6 4 . T i t u s - B o g e n i n R o m . F i g 6 5 V o m P a n t h e o n i n R o m “] aufgab und in die Periode des Steinbaues eintrat. Da konnten die Quaderbögen als Gebälkstützen verwendet werden und der nunmehr steinerne Architrav brauchte nicht ein kurzer mächtiger Monolith zu sein, sondern konnte unter Beibehaltung der allgemein landesüblichen Dimensionen aus mehreren Werkstücken gefügt werden, so entstand das specifisch römische Bausystem, als eine innige, gleichartige Durchdringung des Bogens u. Architravbaues, des krumm- und geradlinigen. [fol. 170] 168. [Aufrisszeichnung mit skizziertem Grundriß und Maßstab, Tusche auf Transparentpapier, eingeklebt. Legende in Tinte: „Fig. 66.“ In Tusche: „v. Forum des Nerva in Rom.“] Vorträge über Geschichte der Baustyle (1883–1884)

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Von welcher Einwirkung diese

Verbindung

gleich

von

vorne

herein auf die Detailbildung von Säule u. Gebälk sein mußte zeigen die Fig. 63–66.

Wenn der Architrav vom Bo-

gen soll getragen werden, so muß er über demselben aufliegen, nahezu fluchtig oder doch möglich wenig ausladend. Dieses geringe Vorspringen des Gebälkes überträgt sich folgerichtig auf die Säule und so entsteht die römische Pilasterarchitektur, gleichsam Basreliefarchitektur (Fig. 63).

Soll aber trotzdem die Säule

stärker vorspringen (als ½ Dreiviertelsäule) so tritt auch das Gebälk mit ihr vor, und die Architravfläche

Fig. 66. v. Forum des Nerva in Rom

ragt dann auf eine weite Strecke vor dem Mauergrund des Bogens heraus, was nur dadurch wieder annehmbar gemacht werden kann, daß der Schlußstein des Bogens als mächtiger Tragstein hervorragend gebildet wird und so in der Mitte den Architrav noch einmal stützt (s. Fig. 64.) Hiemit erscheint der für die römische Architektur so wichtige, mächtige C o n s o l m i t S f ö r m i g e r Vo l u t e wenigstens an einer Stelle des Bausystems als constructive [fol. 171] 169. Notwendigkeit; derselbe Consol der an den reichen römischen Gebälken eine so hervorragende Rolle spielt. (s. Fig. 65.)

Noch eine d r i t t e Va r i a n t e ist möglich (Fig. 66.) nämlich das Gebälk nur

über den Säulen vorspringen zu lassen, während es in der Zwischenweite in der Mauerflucht des Bogens liegen bleibt. Diese dritte Variante erzeugt die s p e c i f i s c h r ö m i s c h e A b k r ö p f u n g , und diese Abkröpfung bleibt wieder nicht ohne entscheidende Rückwirkung auf die Bildung des zugehörigen Kapitäles. Die hiedurch neu eingeführte Bedingung für die Kapitälbildung ist die Gleichartigkeit an den Ecken, die D i a g o n a l s t e l l u n g d e r E c k v o l u ten an allen vier Ecken.

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Fig. 67. Tempel des Augustus in Pola

Vorträge über Geschichte der Baustyle (1883–1884)

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[Detailzeichnung eines Kapitells in Grund- und Aufriss und 2 Basisprofile, Bleistift auf Transparentpapier, eingeklebt. Legende in Tinte: „Fig. 67“ in Bleistift: „Te m p e l d e s A u g u s t u s i n P o l a “150. Anmerkungen in Bleistift: „Antentempel, Säulenfuß, Antenfuß, Schaft“]

Der griechische Peripteros forderte für das Voluten-

[fol. 172] 170. kapitäl eine solche Diagonalstellung der Voluten nur bei der Ecksäule, weil nur ober dieser das sonst durchlaufende Gebälk eine Gährungseke hatte. [Profildetail, Tusche auf Transparentpapier, eingeklebt. Legende in Tinte: „Fig. 68“; in Tusche: „Composite Basis v. Pantheon in Rom.“] Die römische Verkröpfung aber fordert diese Diagonalstellung bei jeder Säule und an jedem Kapitäl beiderseits.

Damit hängt wieder zusammen die Schwei-

Fig. 68. Composite Basis v. Pantheon in Rom

fung der Deckplatte, die Verkleinerung dieser über Eck gestellten Voluten, [Ausgeschnittene Abbildung aus einem Druckwerk, Xylographie, eingeklebt. Legende in Tinte: „Fig. 69. Römisch (im Louvre)“] [Anmerkung am linken Blattrand in Bleistift: „besser siehe: Manch Tafel 77“] [fol. 173] 171. da sie in großen Dimensionen in dieser Verdoppelung an den Ecken zu plump aussehen würden; und diese Verringerung des Volutentheiles muß wieder ersetzt werden durch eine reichere Ausbildung der Decoration des Kapitälhalses, damit die erforderliche Gesammthöhe und der Gesammtreichthum des Kapitäles als Ganzes genommen wieder erreicht wird. Eine verhältnismäßig bedeutende Kapitälhöhe ist aber gerade hier, gerade bei diesen mit

150 [Der Tempel des Augustus und der Roma auf dem Forum von Pola in Istrien wurde zwischen dem 2. und 4. Jh. n. Chr. erbaut. Der korinthische Tetrapylos stand in unmittelbarer Nähe eines zweiten größeren Tempels, der wahrscheinlich der Kapitolinischen Göttertrias geweiht war.]

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Fig. 69. Römisch (im Louvre)

Bogenstellungen verbundenen Säulen erforderlich, weil die Säule hier noch außerdem auf einem eigenen Postament steht (Fig 64) und somit die Kapitälhöhe sogar der vermehrten Höhe der Säule sammt [Anmerkung am linken Blattrand in Bleistift: „9 / 3 8 8 “] Postament proportional sein muß. Das Postament (dieser der römischen Architektur ganz speciell eigene Bautheil) ist aber gleichfalls ein Produkt des italisch-römischen Mauer-Bogen-Baues; denn, wie Fig. 64 zeigt, muß unbedingt die Säulenhöhe a beiläufig der Höhe b des Mauerpfeilers unterm Bogen entsprechen, und somit bleibt unter der Säule noch eine unausgefüllte Strecke, in welche also mit zwingender Notwendigkeit das Postament (der Säulenstuhl) einzutreten hat. [Anmerkung am linken Blattrand in Bleistift: „14/2 87“] Vorträge über Geschichte der Baustyle (1883–1884)

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So fügt sich alles zu einem festgeschlossenem Ganzen und es zeigt sich,

daß hier in der r ö m i s c h e n B a u w e i s e d i e F o r m d e s s o g e n a n n t e n korinthischen Kapitäls eine constructive Erklärung zuläßt, während auf Grundlage des griechischen Bausystems eine solche [fol. 174] 172. [Grundrisszeichnung, Bleistift auf Papier, eingeklebt. Legende in Bleistift: „F i g 7 0 . i t a l . P r o s t y l o s “ in Blaustift: „u. 71.“] [Darunter: Grundrisszeichnung, Bleistift auf Papier, eingeklebt. Legende in Bleistift: „F i g 7 2 . R u n d t e m p e l i n T i v o l i “] Erklärung schlechterdings unmöglich war. Dieses Blättercapitäl beherrscht daher auch die überwiegend häufige Anwendung r. Baukunst. Bei so zahlreicher Verwendung kann es nicht befremden, wenn im Rahmen dieser Hauptform Varianten gesucht werden, und eine solche ist das sogenannte „Composit Capitäl“ Fig. 69, jene bekannte Verquickung k. u. j. Capitälformen; sowie unter den Säulen, die Postamente so stehen ober den Gebälken noch Aufbauten die sog. „A t t i k e n “ gleichfalls spec. Architekturform siehe Fig. 64. Die Maße dieser Ordnung sind gewöhnlich Säulenhöhe 9½ u. D. an älteren; 9¾ u. D. an späteren Werken. Säulenfußhöhe ½ u. D. Capitälhöhe 1 u. D. und Verjüngung der Säule 1/7 u. D. Gebälkhöhe 1/6 der Säulenhöhe; Architravfries = Kranzgesimshöhe = Kranzgesimsausladung. Giebeldreieck mehr als 1/5 der Basis hoch. [fol. 175] 173.

Die Ausladung der Consolen ist gleich der lichten Entfernung zweier Con-

solen von einander. [Detailzeichnung in Aufrissschnitt und Grundriss mit Maßstab, Tusche auf Transparentpapier, eingeklebt. Legende in Tinte: „Fig. 73.“ In Tusche: „Vestatempel Tivoli.“]

Die Säulen sind häufig nicht cannelirt dagegen Pilaster gewöhlich cannelirt.



Das bisher bekannt gewordene älteste Beispiel einer Compositordnung

bietet der Triumphbogen des Titus zu Rom, erbaut 70 n. Chr. was damit übereinstimmt, daß Vitruv diese Ordnung noch nicht kennt. Die Maße sind: Kapitälh. 1¼ D – Säulenh. = 10 D. Gebälkh. = 2½ D.

Außer in Formbildung u. Construction hat die italisch-römische Bauweise

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auch in den Grundrißdispositionen ihre eigene Norm.

Die meiste Ähnlichkeit mit

griechischen Anordnungen weisen die Tempel auf, indem sie gleichfalls aus einer Säulenhalle und einer Cella bestehen. Im Detail ist aber auch hier alles anders.

Die italische Cella ist nicht so

langgestreckt

sondern

nahezu

quadratisch (Fig 70, und 71.); die Halle davorgestellt und möglichst [fol. 176] 174 großräumig, was zu allen Zeiten einer Anforderung des Cultes entFig. 73. Vestatempel Tivoli

sprach indem hier die Opferhandlungen vor sich zu gehen hatten.

Auch die weite Cella mit weitgeöffneter Thür entspricht solchen Anforderungen. Sie war außerdem nicht hypethral, sondern gedeckt und konnte auch deßhalb nicht so tief sein, weil sie ihr Licht von der Thür her sonst nicht genügend erhalten hätte.

Das specifisch italische System ist also das des P r o s t y l o s , wie der Au-

gustustempel zu Pola, und die Tempel zu Rom des Mars Ultor151; Jupiter stator152; Antoninus und Faustina153; ferner der Augustustempel in Vienne154, die

151 [Der Bau eines Tempel des Mars ultor wurde von Augustus in der Schlacht von Philippi (42 v. Chr.) gelobt, der Bau wurde danach errichtet und im Jahre 2 v. Chr. eingeweiht. Er bildete den Hauptbau des Augustusforums. Der Podiumtempel besaß eine Front von 8 korinthischen Kolossalsäulen.] 152 [Den Tempel des Jupiter stator auf dem Palatin gründete Konsul Marcus Atilius Regulus nach der Schlacht von Lucera 294 v. Chr.] 153 [Kaiser Antoninus Pius (reg. 138–161 n. Chr.) errichtete nördlich des Vestatempels am Forum Romanum einen Tempel zu Ehren seiner Gattin Faustina, der nach seinem Tode auch ihm geweiht wurde.] 154 [Der Tempel des Augustus und der Livia in Vienne, der römischen Kolonie Gallia Narbonensis, war eine offizielle Gründung des Augustus und wurde noch zu dessen Lebenszeit (vor 14 n. Chr.) geweiht.] Vorträge über Geschichte der Baustyle (1883–1884)

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Maison carrée in Nimes155; der Äskulaptempel zu Spalato156 u. andere. Frührömische Tempel sind: der Herculestempel zu Cora, ein dorischer Prostylos und der Tempel der Fortuna virilis in Rom.

Beim Prostylos läuft das Gebälk nur theilweise frei über Säulen hinweg in der

Fortsetzung ist es aber Bestandtheil der Cellawand und somit auch hier wieder an die Bedingungen des italischen Mauerbaues (respect. Reliefarchitektur) gebunden. Dazu kommt noch der hohe Unterbau mit seinen Säulenstühlen [fol. 177] 175. der nur an der Eingangsseite durch eine hohe Freitreppe zwischen hohen Seitenmauern zugänglich ist.

Im Zusammenhang mit der mauergemäßen Flacharchitektur des Ganzen

sind auch die Cassettirungen der Decken (Fig. 73.) nur schwach vertieft. Betreffend die Rundtempel (Fig. 72.) wird allgemein angenommen, daß diese Disposition auf altitalischer Überlieferung basirt und sind sie auch meist einer altitalischen Göttin, der Vesta, geweiht. [Anmerkung am linken Blattrand mit Bleistift: „17/2 87“]

Außerdem kommen noch Polygonbauten vor und in reichlichster Fülle

halbkreisrunde Conchen und Mauernischen; alles Grundrißformen deren genetischer Zusammenhang mit dem Wölbesystem der Italer offen zu Tage liegt, weil das Kuppelgewölbe einerseits derlei Grundrisse fordert während es andererseits geradezu unmöglich wäre Räume von solcher Grundrißdisposition mit Stroterondecken zu schließen. [Anmerkung am linken Blattrand mit Bleistift: „13/3 88“]

Also selbst in den Grundrissen prägt sich schon der Wölbebau aus.



Selbst in der römischen Ornamentik ist die Ver-

[fol. 178] 176 einigung gradliniger u. krummer Wurzelform derjenige einheitliche Zug, wodurch sie charakterisiert ist. A. Man nehme einen Theil aus irgend einem 155 [Die Maison carrée in Nimes, der römischen Kolonie Augusta Nemausus, stand auf dem Forum der Stadt und wurde um Christi Geburt erbaut. Die Front des Podiumstempels hatte 8 korinthische Kolossalsäulen.] 156 [Der Aeskulaptempel im Palast des Diokletian vom Anfang des 4. Jh. n. Chr. befand sich in einem Tempelhof im südwestlichen Viertel der in monumentaler Überhöhung des Bautyps eines römischen Militärlagers erbauten Palastkomplexes.]

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geradlinigen Zickzackmotive[n] u. einen Theil aus den krummlinigen Ranken oder Spiralenverbindung und stelle sie in steter Abwechslung zusammen, so ist das Schema eines römischen Ornamentstreifens fertig, wie sie in Rom, Pompeji u. anderwerts so wunderfältig vorkommen. – [8 Ornamentzeichnungen, Bleistift auf Papier, eingeklebt, Legenden in Bleistift: „F i g . 7 4 . , F. 7 5 . , F. 7 6 , F i g 7 7 , F i g . 7 8 , F i g 7 9 , F i g 8 0 , F i g . 8 1 “ ] [fol. 179] 177.

Auch die plastischen Ornamente: das Laubwerk die Blattwellen, Eierstäbe

Perlschnüre etc sind in der italischen Kunst stetig in allen Perioden von den griechischen Formen verschieden und zwar etwa gerade so stark wie die lateinische Sprache von der griechischen. Der Typus des sogenannten Akanthuslaubes ist in der frühesten Kaiserzeit der von Fig 82 in der späteren Kaiserzeit der von Fig. 83. [Detailzeichnung: Tusche auf Transparentpapier, eingeklebt. Legende in Tinte: „Fig. 82“] [Anmerkung am linken Blattrand in Bleistift: „siehe Hauser“157] [Darunter: Detailzeichnung, Tusche auf Transparentpapier, eingeklebt. Legende in Tusche: „Fig. 83.“] [Darunter: Detailzeichnung, Tusche auf Transparentpapier, eingeklebt. Legende in Tinte links au-

Fig. 82

ßerhalb der eingeklebten Zeichnung: „Fig. 84“] [Darunter: Detailzeichnung, Tusche auf Trans­ parentpapier, eingeklebt. Legende in Tinte: „Fig. 85.“]

Fig. 84 u. 85 sind Muster von Blattwelle und

Eierstab aus der Blüthezeit römischer Kunst. Hiebei ist an Fig. 84 die separate Hervorhebung der herzblattförmigen Conturlinie besonders charakteristisch, und deren Loslösung vom Begriff des

Fig. 83

Blattrandes zeigt hier besonders deutlich, daß man es hier mit einer durch Symmetrie und Reihung 157 [Siehe Anm. 178.] Vorträge über Geschichte der Baustyle (1883–1884)

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[fol. 180] 178. entstandenen rein ornamentalen Function zu thun hat. [Ausgeschnittene Abbildung aus einem Druckwerk, Xylographie (links und rechts unten zwei Namensnennungen, vermutlich der Hersteller und wohl am Druckwerk, nicht eindeutig entzifferbar: „A. Graut R.“

Fig. 84

und „A Cloß. X. J“), eingeklebt. Legende in Druck: „T. Jovis Capitolini.158 Tabularium.159 T. Junonis Monetae.160 T. Castorum.161 Basilica Julia.162 T. Saturni.163

Fig. 85

158 [Der Tempel des Jupiter Optimus Maximus Capitolinus stand auf der südlichen Kuppe des kapitolinischen Hügels von Rom, erbaut Ende des 6. Jh. v. Chr., nach Brandkatastrophen im 1. Jh. v. Chr. und im 1. Jh. n. Chr. dreimal wiederaufgebaut. Podiumtempel mit 6 Säulen an der Giebelfront.] 159 [Das Tabularium am Abhang des Kapitols zum Forum Romanum wurde unter Quintus Lutatius Catulus nach 83. v. Chr. als Staatsarchiv erbaut. Der mehrgeschossige 73 m lange Bau ist ein Beispiel der republikanischen Architektur Roms.] 160 [Der Tempel der Iuno Moneta (der Mahnerin), der 343 v. Chr. gegründet worden war, stand wahrscheinlich an der Stelle der Kirche S. Maria in Aracoeli. Tatsächlich fand man bisher keine sicher zu identifizierenden Reste.] 161 [Der Tempel der Dioskuren Castor und Pollux am Forum Romanum war ein korinthischer Peripteros von 8 x 13 Säulen; er wurde 484 v. Chr. eingeweiht und unter Kaiser Tiberius baulich erneuert.] 162 [Die Basilica Iulia auf dem Forum Romanum wurde 4 v. Chr. im Auftrag Caesars begonnen, aber erst unter Augustus vollendet. Der dreischiffige Bau diente als Gerichtshalle und maß im Inneren 72 x 18 m.] 163 [Tempel des Saturn am Forum Romanum in Rom, Giebelfront mit 6 ionischen Säulen. Mittelpunkt des alljährlichen Saturnalienfestes (ab 17. Dezember).]

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Fig. 86

T. Vespasiani.164 T. Concordiae.165 Sc. Gemoniae. Carcer.166 Arc. Tiberii167 Arc. Sept. Severi. T. Faustinae.“ [in Tinte: „Fig. 86.“] [fol. 181] 179.

Aber auch die Gattung der Bauwerke ist bei den Römern häufig eine an-

dere und wo gleiche Baudispositionen vorkommen, weil die Bedürfnisse dazu

164 [Der Tempel des Vespasian und des Titus wurde vom Senat dem vergöttlichten Vespasian gewidmet und war auch Titus geweiht. Vollendet wurde der 33 x 22 m große Bau mit 6 korinthischen Frontsäulen unter Domitian.] 165 [Concordiatempel am Forum Romanum in Rom: Der 45 m breite, aber nur 24 m tiefe Tempel hatte eine 34 m breite Vorhalle, deren Giebel von 6 Säulen getragen wurde. Erbaut 367 v. Chr., unter Kaiser Tiberius baulich erneuert.] 166 [Der Tullianische Carcer, das Staatsgefängnis im antiken Rom, lag am Fuß des Kapitols auf dem Forum Romanum westlich der Curia neben dem Concordiatempel. Die Überreste sind unter der Kirche S. Giuseppe die Falengnami erhalten. In dem Kerker fanden Jughurta und Vercingetorix als Gefangene den Tod.] 167 [Vom Triumphbogen des Tiberius an der Via sacra im Forum Romanum sind nur Fundamentreste erhalten.] Vorträge über Geschichte der Baustyle (1883–1884)

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eben allgemein menschliche sind und einer gewissen Culturstufe mit Notwendigkeit zukommen, ist doch die Detaildurchbildung verschieden. [Aufrisszeichnung, Bleistift auf Transparentpapier, eingeklebt. Legende in Tusche: „Fig. 87. Bogen des Titus an d: Via sacra, Rom.“] [Darunter: Grundrisszeichnung, Bleistift auf Transparentpapier, eingeklebt. Legende in Tusche: „Fig. 88. Amphitheater der Flavier in Rom (Colosseum).“] In welcher Weise eine solche verschiedene Detailbildung mit veränderten Sitten und Lebensgewohnheiten zusammenfällt zeigt deutlich (unter vielem Anderem) die Stelle über die Anlage des Marktplatzes (forum) bei Vitruv, wo er sagt: „Die Griechen legen ihre Marktplätze im Quadrat mit geräumigen und dop-

Fig. 87. Bogen des Titus an d: Via sacra, Rom

pelten Säulenhallen an und schmücken diese mit dichtstehenden Säulen und steinernen, marmornen Gebälken und bringen über der Decke Gänge an. In den Städten Italiens aber darf der Marktplatz nicht auf dieselbe Weise [fol. 182] 180. angelegt werden, deßhalb, weil von den Vorfahren der Gebrauch überliefert ist, daß auf dem Forum Gladiatorenspiele veranstaltet werden. Man soll daher rings um den Schauplatz die Säulenweiten geräumiger anlegen und ringsum in den Säulenhallen Wechslerbuden, und in den oberen Stockwerken vorspringende Zuschauerräume anbringen, welche mit Rücksicht sowol auf den zweckmäßigen Gebrauch, als auch auf die dem Staat daraus erwachsenden Einkünfte angelegt sein sollen.“168 168 [Vitruv, Liber quintus, I: „Graeci in quadrato amplissimis et duplicibus porticibus fora

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Fig. 88. Amphitheater der Flavier in Rom (Colosseum)

[Grundrisszeichnung, Bleistift auf Transparentpapier, eingeklebt. Legende in Tusche: „Fig. 89“, in Bleistift: „Theater zu Herculaneum“169] [Darunter: Grundrisszeichnung, Bleistift auf Transparentpapier. Legende in Tusche: „Fig 90. Circus des Maxentius an der via Appia in Rom.“170]

Fig. 89. Theater zu Herculaneum

constituunt crebrisque columnis et lapideis aut marmoreis epistyliis adornant et supra ambulationes in contignationibus faciunt. Italiae vero urbibus non eadem est ratione faciendum, ideo quod a maioribus consuetudo tradita est gladiatoria munera in foro dari. Igitur circum spectacula spatiosiora intercolumnia distribuantur circaque in porticibus argentariae tabernae maenianaque superioribus coaxationibus conlocentur, quae et ad usum et ad vectigalia publica recte erunt disposita.“] 169 [Herculaneum, antike Hafenstadt am Golf zwischen Neapel und Pompeji gelegen. Nach der Sage von Herakles gegründet. Am 24. August 79 v. Chr. durch den Vulkanausbruch des Vesuv zerstört und verschüttet. Ausgrabungen seit 1688, systematisch seit 1927.] 170 [Die Wagenrennbahn des Maxentius mit einer Länge von 482 m konnte in 10 Sitzreihen 18.000 Zuschauer fassen. Der Bau wurde 309 n. Chr. errichtet.] Vorträge über Geschichte der Baustyle (1883–1884)

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Fig. 90. Circus des Maxentius an der via Appia in Rom

Fig. 91. Typus des römischen Theaters

Specifisch römische Bauwerke bei denen zugleich der römische Baustyl am deutlichsten u. reinsten zur Erscheinung tritt sind d. Triumphbogen. S. Fig. 87. [Ausgeschnittene Abbildung aus einem Druckwerk, Grundriss mit Maßstab. Xylographie auf Papier, eingeklebt. Legende in Tusche: „Fig. 91. Typus des römischen Theaters.“ In Druck: „1. Bühne, 2. Hinterbühne, 3. Orchestra, 4. Zugang, 5. Zuschauerraum“]

Dagegen sollen angeblich die sogenannten Basiliken (s. Fig. 92) aus

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[fol. 183] 181.

Fig. 93. Haus des Pansa zu Pompeji

Griechenland stammen. Da jedoch die gesammte Constructionsweise dieser Bauten, die Hauptanordnung und deren Gebrauch specifisch römisch sind und nichts von griechischem Charakter an sich haben, so drängt sich förmlich die Annahme auf, ob nicht vielleicht blos deren Benennung, welche zu Vitruvs Zeiten gebräuchlich war, griechischer Import ist, aber nicht die Bauform selbst. Für einen solchen Fall gibt es in der Kunstgeschichte zalreiche Analogien. Der Name ist von der stoa basileos in welcher zu Athen der Archon Basileus Gericht hilt entlehnt, und soll das erste Bauwerk dieser Art auf Geheiß Cato’s 184 v. Chr. nach dem athenischen Muster in Rom gebaut worden sein.

Fig. 92. Grundriss Basilika am Forum des Trajan

[Anmerkung am linken Blattrand in Bleistift: „Porcius Cato“] [Aufrissschnittzeichnung, Bleistift auf Transparentpapier, eingeklebt. Legende in Tusche: „Fig. 93. Haus des Pansa zu Pompeji.“] [Rechts daneben: Grundrisszeichnung, Bleistift auf Transparentpapier, eingeklebt. Legende in Tusche: „Fig. 92“, in Bleistift: „Grundriss Basilika am Forum des Trajan“. Anmerkung in Tusche: „Ulpia“171] 171 [Das Trajansforum in Rom wurde 107 n. Chr. begonnen und 143 eingeweiht. Seine PlatzVorträge über Geschichte der Baustyle (1883–1884)

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Am Geringsten sind die Unterschiede zwischen römischen und griechi-

schen Theatern, obwohl Vitruv diesen durchgehenden Unterschieden entsprechend die Beschreibung des römischen und des griechischen Theaters sogar in [fol. 184] 182. [Ganzseitige Grundrisszeichnung, Bleistift auf Transparentpapier, eingeklebt. Legende in Tusche: „Fig. 94. Haus des Pansa zu Pompeji.“] [fol. 185] 183. 2 getrennte Capitel auseinander hält.172 Eine spec. r. Schöpfung dagegen sind die „Amphitheater“ zu Zwecken der ital. nationalen Kampfspielen und Thierhetzen. Das größte derselben das „Colloseum[“] in Rom faßte 8700 Zuschauer u. ist 190 m lang u. 160 m breit und außen 50 m hoch. Die elliptische Arena ist rings von aufsteigenden Sitzen Fig. 88., die [in] Überwölbungen angelegt sind, umgeben. Zu oberst waren Mastbäume aufgestellt zum Halten von Segeltüchern, welche die Zuschauer vor den Sonnenstrahlen schützten. Berühmte A m p h i t h e a t e r sind d i e z u V e r o n a , P o m p e j i , A q u i l e j a 1 7 3 , P o l a , S a l o n a 1 7 4 , N i m e s u n d Tr i e r 1 7 5 e t c . Römische T h e a t e r a n l a g e n s i n d theilweise erhalten z u P o m p e j i , Orange176, Aspante. Beinahe noch collosaler als in den Amphitheatern zeigt sich die Bauthätigkeit der Römer bei den T h e r m e n u n d A q u i d u c t e n . Die Thermen der Haupt[sache] nach Bäder, anlage schloss die Basilica Ulpia ab, in der die Staatsarchive untergebracht waren. Die Basilika bestand aus einer Halle von 130 x 125 m Seitenlänge, deren Mittelschiff von 96 Porphyrsäulen flankiert war.] 172 [Vitruv (s. Anm. 120), Liber quintus, VII, VIII, 2.] 173 [Aquileia, antike Stadt im Nordwinkel des Adriatischen Meeres zwischen den Flüssen Alsa und Natiso. Wichtiger Handelsort und Hafen für Wein, Öl und Sklaven. 181 v. Chr. gegründet.] 174 [Salona, antike Stadt in Illyrien. 78 v. Chr. durch Gaius Cosconius erobert, 27 v. Chr. von Augustus zur colonia erhoben. Bedeutende antike Baureste: Thermen, Stadtmauer, Amphitheater.] 175 [Trier, lat. Augusta Treverorum, im Tal der Mosella an einer Furt 17 v. Chr. angelegt, unter Claudius zur colonia erhoben. Seit der diokletianischen Reichsreform Residenzstadt. Bedeutende Baureste: Stadttor Porta nigra, Thermen, Forum, Säulenhallen, Aula Palatina, Sitz einer Hochschule (Lactanz).] 176 [Das Theater in Orange, der antiken römischen Kolonie Arausio, wurde in der 1. Hälfte des 1. Jh. n. Chr. erbaut.]

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Fig. 94. Haus des Pansa zu Pompeji

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deren Abtheilungen das Kaltbad ­ (Frippitanium [mit Bleistift verbessert auf: „Frigidarium“177] ); das Laubad (tepitanium [mit Bleistift verbessert auf: „tepidarium“]) u. das Warmbad (caltanium [mit Bleistift verbessert auf: „caldarium“]) waren. Damit waren aber noch verbunden: Theater, Bibliotheken, Gymnasien, Vorleseräume u. deg. [Ansichtsskizze in Tusche auf Papier, eingeklebt. Legende links neben der eingeklebten Zeichnung in Tinte: „Fig. 95. Aus: Hauser: Stillehre I, Alter­ thum.“178] [Links daneben: Ansichtsskizze in Tusche auf Papier, eingeklebt. Legende oberhalb der eingeklebten Zeichnung in Tinte: „Fig. 96.“] [fol. 186] 184. Die großartigste Thermenanlage zu Rom waren die des T i t u s 179, d e s C a r a c a l l a 180 und d e s D i o c l e t i a n 181. Das Kreuzgewölbe des Mittelraumes der diocletianischen Thermen hat 24 m Seite. Auch das Pantheon gehörte (als caldarium) zu einer Thermenanlage.182 Sein Cylinder ist 23,08 m hoch der Kuppelhalbmesser 19,62 m. lang; die Lichtöffnung hat 9 m. Durchmesser.

Wenn schon diese Thermenanlagen ganze Stadttheile bedeckten, so

glichen die K a i s e r p a l ä s t e und Villen förmlich ganzen Städten, denn sie umfaßten Foren, Thermen, Theater, Rennbahnen, Gärten Straßen und zallose größere und kleinere sonstige Bauanlagen. Die berühmtesten sind das

177 [Auffallend auf dieser Seite sind die Schreibfehler bei lateinischen termini technici und die erfolgten Korrekturen mit Bleistift. Vielleicht wurde dieser Abschnitt von anderer Hand geschrieben und nachträglich von Sitte verbessert.] 178 [Hauser, Alois: Styl-Lehre der architektonischen Formen des Alterthums. Wien: Hölder 1882.] 179 [Von den Thermen des Titus am Esquilin in Rom, die 80 n. Chr. eingeweiht wurden, ist außer einigen Ziegelpfeilern nördlich des Colosseum nichts erhalten. Kenntnis davon gibt ein von Andrea Palladio gezeichneter Plan. Das Frigidarium hatte demnach ein monumentales Kreuzgewölbe.] 180 [Thermen des Caracalla in Rom, umfassten eine Grundfläche von 330 x 330 m. Überkuppeltes kreisrundes Caldarium mit einer Scheitelhöhe von 49 m. 206 n. Chr. von Septimius Severus begonnen, unter Kaiser Caracalla vollendet.] 181 [Thermen des Diocletian in Rom, über einer Grundfläche von 316 x 356 m, erbaut nach dem Vorbild der Caracallathermen. Die Exedra des halbkreisförmigen Vorplatzes ist bis heute erhalten, der mittlere Raum der Thermen wurde von Michelangelo zur Kirche umgebaut.] 182 [Siehe Anm. 144.]

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­P a l a s t g e b i e t a m P a l a t i n 183; das sogen. g o l d e n e H a u s d e s N e r o a m E s q u i l i n 184 in Rom, und d e r P a l a s t d e s D i o c l e t i a n in S p a l a t o , der nach Art eines befestigten römischen Lagers seine Theile gruppirte in einer Ausdehnung von 216 m Länge und 179 m. Breite.185

Die uneingeschränkte Bewunderung aller Völker ärnteten aber die rö-

mischen Wasserleitungen. Da die Römer das Wasser noch in stetig fallenden freien (wenn auch theils mit Platten oder Gewölben bedeckten) Gerinne leiteten, so mußten alle Berge umgangen und alle Thäler überbrückt werden. Dazu wählten sie Bogenspannungen über Pfeilern, die sie bis zu 40 Meilen Länge fortführten und gelangten so zu jenen mächtigen Bogenreihen, wie sie schon besprochen wurden. Diese sind die Vollendung des schon in ältester Zeit auftauchenden Wölbesystems zu Zwecken der Canalisirung. [Am linken Blattrand Anmerkung mit Bleistift: „20/3 88“] [fol. 187] 185 [Zwei Ansichtsskizzen, Bleistift auf Papier, eingeklebt. Legenden in Tinte: „Fig 97, Fig 98.“ In Bleistift unter der oberen Skizze: „Grabmal des Hecropolo von Cäre“, unterhalb der unteren Skizze: „Grab zu Castel d’Assa“.]

Der ununterbrochene Zusammenhang in der Entwicklung von der ältes­

ten sog. tuskischen Zeit ist aber am deutlichsten ersichtlich an den G r a b d e n k m ä l e r n , denn von diesen hat sich in fortlaufender Reihe mehr erhalten, als von anderen Categorien von Bauwerken.

Es kommen in Italien gerade so wie in Griechenland u. anderwärts ver-

schiedene Typen vor: E r d g r ä b e r, F e l s e n g r ä b e r, G r a b d e n k m ä l e r u. s. w. D e r i t a l . H a u p t t y p u s ist aber die unmittelbar aus dem G r a b h ü g e l ( t u m u l u s ) abgeleitete Form u. gerade diese Form, wie Fig. 97–98 zeigt, kommen wirklich so häufig vor, die runde Form ohne Unterbau ist dabei die Wurzelform des tumulus. Der runde Unterbau ist die einfache Festigung des Fußes. 183 [Der Palatin trug die älteste Siedlung auf römischem Stadtgebiet. Augustus erwarb 36 v. Chr. das Haus des Hortensius und begann mit dem Bau eines Palastes (u.a. Haus der Livia). Weitere Palastkomplexe entstanden unter Tiberius, Domitian (Palast der Flavier, Architekt Rabitius) und Septimius Severus (ab 91 n. Chr.).] 184 [Nach dem Brand der Stadt Rom im Jahr 64 n. Chr. begann Kaiser Nero den Bau eines riesigen Palastes, der Domus aurea, die sich vom Forum Romanum bis zum Esquilin erstrecken sollte. Die Substruktionen (der Kryptoportikus) wurden 1506 wiederentdeckt.] 185 [Hauser, Alois: Spalato und die römischen Monumente Dalmatiens. Wien: Hölder 1883.] Vorträge über Geschichte der Baustyle (1883–1884)

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Tritt die ganze Entwickelung endlich in die Periode des regelmäßigen

Quadrates ein, so bedingt dies zugleich den Übergang in den Quaderbau Fig. 98. Es wird dann ganz von selbst die Pyramide aus dem runden Hügel genau so wie in Ägypten aber ohne deshalb [fol. 188] 186 die ägyptische Pyramide zum Mus­ ter zu haben. Bleibt der Unterbau hier weg, so hat man die steil ansteigende römische Grabpyramide wie die des Cestius zu Rom.186 [Ansichtsskizze in Tusche auf Transparentpapier, eingeklebt. Legende in Tusche: „Fig. 99. Grabmal der Cäcilia Metella.“] [Darunter: perspektivische Ansichtsskizze, Tusche auf Transparentpapier, eingeklebt. Legende in Tusche:

Fig. 99. Grabmal der Cäcilia Metella

„Fig. 100. Grabmal des Hadrian.“]

Die Beispiele von Fig. 97 u. 98 ge-

hören der ältesten Zeit an. Der Typus geht aber in ununterbrochener Folge weiter. Die sogenannte Cucumella bei Vulci hat einen Unterbau von 63 m Durchm. worauf 4 kegelförmige Eckthürme und ein quadratischer Mittelthurm von 9½ m Höhe stehen. Ein ähnliches altes Tumulusgrab zu

Fig. 100. Grabmal des Hadrian

Monterone hat 203 m Umfang und eines zu Chinsi 268 m. Umfang. Ebenfals fünf Thurmaufsätze hat ein unbestimmtes aber jedenfalls sehr altes Grabmal bei Albano das sogen. Grab der Horatier und Curiatier. [Anmerkung mit Bleistift am linken Blattrand: „2 8 / 2 8 7 “] Die späteren Grabmäler der Plantier bei Tivoli und das der Cäcilia ­Metella

186 [Grabmal des Praetors Gaius Cestius bei der Porta S. Paolo der Aurelianischen Stadtmauer Roms, erbaut nach 30 v. Chr. Der 36,4 m hohe Bau ist in opus caementicium errichtet und mit Marmorplatten verkleidet.]

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(Fig 99) sind directe Fortsetzungen dieses Typus und endlich werden daraus die Prachtbauten der Kaiserzeit wie das Grabmal des Augustus und das des Hadrian Fig. 100. Diese letzten Ausläufe der Reihe heißen aber bei den [fol. 189] 187 Zeitgenossen bereits Mausoleum, so benannt nach dem berühmten Grabmal des Mausolus von Halicarnaß. Dieß ist also gleich ein Beispiel zu dem bei Besprechung der Basilica Gesagtem. Zudem liegt aber hier obendrein die Einschleppungsgeschichte des fremden Titels zu Tage.

Vitruv gibt nämlich selbst in der Vorrede zu seinem 7ten Buch seine literari-

schen Quellen an, aus welchen er schöpfte, und da zeigt sich, daß dieß durchaus spätgriechische Autoren waren. Seine bedeutendsten Gewährsmänner sind: Hermogenes, der über den Artemistempel zu Magnesia geschrieben hatte, Argelios über den Asklepiostempel zu Tralles und dann Pythios und Satyros die Baumeister des Mausoleums.187 Vitruv sagt selbst: „Über das Mausoleum schrieben Satyros und Phiteus, denen durch ein wahrhaft glückliches Loos die höchste Gunst zu Theil ward.“188 Offenbar aus dieser Schrift erzählt er im zweiten Buch mit großer Wichtigkeit eine lange Geschichte von Artemisia der Witwe des Mausolus, die das Grabmal errichten ließ. Das lange Vorwort zum 7. Buch schließt aber: „Da also unter unseren älteren Landsleuten nicht minder, wie unter den Griechen, große Architekten gefunden werden, und in der von uns selbst durchlebten Zeit sogar ziemlich viele, v o n d i e s e n a b e r n u r w e n i g e L e h r s c h r i f t e n v e r ö f f e n t l i c h t h a b e n , so glaubte ich nicht länger schweigen [fol. 190] 188. zu dürfen, sondern die verschiedenen Theorien in besonderen Büchern entwickeln zu müssen.“189 Das ist doch deutlich genug. Er sagt: Die Römer bau187 [Vitruv, Liber septimus, Vorrede, 159, 7: „Hermogenes de aede Dianae, ionice quae est Magnesia pseudodipteros, et Liberi Patris Teo monopteros; item Arcesiusde symmetriis corinthiis et ionico Trallibus Aesculapio, quod etiam ipse sua manu dicitur fecisse; de Mausoleo Satyrus et Pytheos.“] 188 [Ebd., Liber septimus, Vorrede, 159, 13: „Quibus vero felicitas maximum summumque contulit munus.“] 189 [Ebd., Liber septimus, Vorrede, 162, 18: „Cum ergo et antiqui nostri inveniantur nos minus quam Graeci fuisse magni architecti et nostra memoria satis multi, et ex his pauci praeVorträge über Geschichte der Baustyle (1883–1884)

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ten viel, schrieben aber nicht darüber, und als sie auch über Baukunst zu schreiben anfingen, benützten sie dazu die spätgriechischen Autoren, entnahmen ihnen Eintheilung und Namen und Alles was sie glaubten brauchen zu können und paßten es den römischen Bauverhältnissen an, so gut es eben gehen wollte. Und so steht auch der ganze Vitruv heute, wo wir die Monumente kennen, vor uns.

Zu diesen Monumenten selbst zurückkehrend, kommt noch das römische

Haus zu erwähnen. Es ist ein um zwei Höfe gruppirter Innenbau (s. Fig. 93 u. 94), in der Regel einstöckig, jedoch auch mit Obergeschoßen nach Bedarf versehen, wodurch es sich in Rom bis zum eigentlichen Zinshaus von 4 und mehr Stöcken erweiterte. Sein eigentlicher Typus ist aber der des Familien-Hofhauses. Der erste Hof heißt Atrium von ater, schwarz d. i. rauchgeschwärzt. Um ihn lagen die den Geschäften und der Öffentlichkeit gewidmeten Räume. Der zweite Hof diente der Häuslichkeit und gehörte mit seinen Gemächern der Familie und den Frauen an. Die einzelnen Räume waren verhältnißmäßig klein, von den Höfen her beleuchtet und in der bekannten sogen. [fol. 191] 189. pompejanischen Manier (Fig 95, 96) bemalt.

Sowohl die Häuser als auch die öffentlichen Plätze waren außerdem reich

geziert mit plastischen Werken. Die Einführung freistehender Säulen mit Porträtstatuen scheint jedoch erst dem 2ten Jahrh. n. Chr. anzugehören.

So steht denn auch die italisch-römische Baukunst als ein großes geschlos-

senes Ganzes vor uns.

cepta edidissent, non putavi silendum, sed disposite singulis voluminibus de singulis exponeremus.“]

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Cannelierung

Vorträge über Geschichte der Baustyle (1883–1884)

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Rudolf v. Eitelberger (1885) Neue Illustrierte Zeitung, Jg. 13 (1885), S. 483 und 486. Sign. SN: 163–368. Nachruf von Camillo Sitte auf seinen Lehrer und Gönner Rudolph Eitelberger von Edelberg (1817–1885).

Nur was die Gewalt schmerzlicher Empfindungen verlangt, kann heute gesagt werden. Nicht ein Bild der ganzen Größe des Geschiedenen, nur der Ausdruck über die Größe des Verlustes. Das soll aber, das beklommene Herz erleichternd, ausgesprochen sein; ausgesprochen für die Vielen, die zahllos Vielen, die ganz wohl wissen, was wir verloren; und auch für Diejenigen, welche den Kreisen des künstlerischen Schaffens ferne stehen, damit sie die tiefe Theilnahme derer verstehen und mitempfinden, welche dem großen schönen Gebiete nahe sind, dem Eitelberger’s Leben geweiht war.

Die Kunst selbst, in allen ihren Theilen, zu fördern und zu veredeln, das

war das schöne Lebensziel, das Eitelberger unablässig verfolgte: als Kunsthistoriker, als Lehrer, Organisator und Schriftsteller, als thatkräftiger Förderer in zahllosen Einzelfällen, als Rathgeber und Freund. Allgemein gekannt und gewürdigt ist die große Leistung seines organisatorischen Talentes: das Ö s t e r r e i c h i s c h e M u s e u m  ; aber nur Wenige wissen, welche unermeß­liche Fülle von Hingebung, Mühen aller Art, welche Fülle von 

[Rudolph Eitelberger von Edelberg (1817–1885) – laut Julius Schlosser der Ahnherr der Wiener Schule der Kunstgeschichte – studierte ab 1832 in Olmütz zunächst Jura, dann in Wien am Institut für klassische Philologie, wo er bis 1840 als Assistent tätig war. Im Kreis um Joseph Daniel Böhm, dessen Sammlung später den Grundstock für das Österreichische Museum für Kunst und Industrie bildete, wurde Eitelberger mit der älteren Kunst vertraut. Er wurde 1847 erster Privatdozent für Theorie und Geschichte der Kunst an der Wiener Universität, lehrte 1848–1850 Kunstgeschichte am Wiener Polytechnikum, ab 1851 an der Kunstakademie und wurde 1852 erster a.o. Professor und 1863 erster ordentlicher Professor für Kunstgeschichte und Kunstarchäologie an der Universität Wien. In der Zeit unterrichtete er auch am neuen, 1854 gegründeten Institut für Österreichische Geschichtsforschung, das für die enge methodische Verbindung der Wiener Kunstgeschichte mit der allgemeinen Geschichte bestimmend wurde. 1864 erwirkte er die Gründung des Österreichischen Museums für Kunst und Industrie, dessen erster Direktor er im gleichen Jahr wurde. 1872 reorganisierte er als Berater des Ministeriums die Kunstakademie. 1873 organisierte er in Wien den ersten internationalen kunsthistorischen Kongreß. Zum Kreis seiner Wiener Schüler gehörten neben Camillo Sitte, der bei Eitelberger u.a. 1865 ein Kollegium über Kunstgeschichte und Kunstarchäologie ablegte, auch Justus Brinckmann, Albert Ilg, Franz Schestag, Moritz von Thausing und Franz Wickhoff.]



[Österreichisches Museum für Kunst und Industrie, heute Österreichisches Museum für Angewandte Kunst (MAK).]

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Kenntnissen, von Ideen erforderlich war, dieses Werk zu Stande zu bringen. Heute dünkt es Allen selbstverständlich, daß dieses Institut vorhanden sein müsse; bevor es aber gegründet wurde, war Eitelberger eine Zeit lang der Einzige, der seine Nothwendigkeit und Zukunft erkannte und ein Bild des werdenden Ganzen voraussah. Zuerst drang die Idee glücklicher Weise in maßgebenden Kreisen durch, aber gerade die Industriellen zweifelten vielfach sogar an der Möglichkeit eines solchen Unternehmens, und die Öffentlichkeit stand Anfangs ziemlich rathlos und auch theilnahmslos diesen Ideen gegenüber. Gewöhnlich konnte man damals das Lied vom Agriculturstaate Österreich hören, der eine belangreiche Kunstindustrie gar nicht habe, und der französische Import galt auf diesem Gebiete für wohlbegründet und unvermeidlich. Unter solchen Verhältnissen die Gründung des Museums als nothwendig und möglich erkannt zu haben und den Muth zur Durchführung zu finden, das war die eigentlich schöpferische That Eitelberger’s. Und mit welcher Liebe ging er daran! Mit förmlich liebevoller Zärtlichkeit stellte er die ersten Austellungsobjecte eigenhändig in den ersten Glasschränken im Ballplatzhaus zurecht und ordnete mit seinem Schüler Schestag, seinem ersten Gehilfen und nachmaligen Bibliothekar, die ersten Bucheinkäufe der Bibliothek. Die bald folgenden DonnerstagsVorlesungen vor auserlesenstem Publikum führten mit Siegesschritt seine Ideen in weitere Kreise.

Die Gründung des eigenen Journals, für das Eitelberger selbst das Meiste

und Beste that, sowie zahllose Kundgebungen in zahlreichen Blättern vervollständigten den Contact mit der Öffentlichkeit, und bald war ein gänzlicher Umschwung der Anschauungen erzielt, besonders da auch die Erfolge des Institutes in Kunst und Industrie nicht ausblieben und stetig sich mehrten. Die größeren Publicationen begannen, die Kunst-Gewerbeschule wurde gegründet; endlich die Wirksamkeit in die Provinzen getragen und Sieg um Sieg auf fremden und heimischen Ausstellungen errungen. Eitelberger stand thatsächlich wie ein Feldherr an der Spitze einer Armee, einer Armee, 

[Der Bibliotheksvorstand Franz Schestag (1839–1884) verfaßte den ersten Ornamentstichkatalog des Österreichischen Museums für Kunst und Industrie.]



[1865 gründete Eitelberger die Mitteilungen des k. k. Österreichischen Museums für Kunst und Industrie.]



[Beispielsweise publizierte er gemeinsam mit Gustav Adolf Heider als erste große kunsttopographische Arbeit im deutschen Sprachraum Mittelalterliche Kunstdenkmäler des Österreichischen Kaiserstaates. 2 Bde. Stuttgart 1858–1860. Die Kunstgewerbeschule wurde von Eitelberger 1868 gegründet.] Rudolf v. Eitelberger (1885)

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die er sich selbst geschaffen, und das war keine kleine That. Wer nicht diese wunderbare Versirtheit in allen Werkstätten, allen Künstler-Atelieren und auch an den Hochschulen und in der Literatur besessen hätte, der hätte das nimmermehr zu Stande gebracht. Da wurde geworben von überall her und schließlich für die Heranbildung von Kräften durch eigene Initiative gesorgt. Eitelberger benutzte hiezu seine Stellung als Professor der Kunstgeschichte an der Wiener Universität. Es ist wunderbar, wie systematisch er auch hier auf das große Gesammtziel seines Lebens hinarbeitete. Eine Reihe allgemein kunsthistorischer Vorlesungen, wie die über Leonardo, Michelangelo und Rafael waren stets gefüllt mit Studirenden aller Facultäten. Daran schlossen sich zur Zeit der Museums-Gründung schon mehr specialisirte Vorträge über die Quellen der Kunstgeschichte und endlich über die Gattungen der KunstIndustrie. Bei diesen war der Kreis der Hörer schon enger, die aber, ohne es zu wissen, die Vorstufe zu eigentlichen Seminar-Arbeiten hiemit durchmachten. Diese folgten denn auch im nächsten Semester. Es waren Übungen im Bestimmen und Prüfen alter Kunst-Objecte, also recht eigentlich Vorstudien für zukünftige Museums-Männer, und Versuche im Interpretiren aller Autoren der Kunst-Literatur. So wurde auch die H e r a u s g a b e d e r Q u e l l e n s c h r i f t e n  , jene zweite große, rein kunsthistorische That Eitelberger’s vorbereitet. Aber auch seine Bedeutung als Lehrer gewann hiedurch mächtig an Inhalt und wuchs weit über das Maß gewöhnlichen Hochschul-Docirens hinaus. Es dauerte auch kaum einige Jahre, so waren die ersten Resultate schon zu sehen.

Eitelberger’s Schüler Thausing war Director der Albertina und Kunst-

schriftsteller; der heute ebenfalls schon verstorbene Schestag war Bibliothekar des Museums, Dr. Brinkmann hatte seine vortreffliche Arbeit über Cellini, 

[Eitelberger von Edelberg, Rudolph (Hg.): Quellenschriften für Kunstgeschichte und Kunsttechnik des Mittelalters und der Renaissance. Bd. 1–18. Wien: Braumüller 1871–1882.]



[Moritz Thausing (1838–1884) gehört mit seiner ersten soliden Dürer-Monographie (Dürer. Geschichte seines Lebens und seiner Kunst. 2 Bde. Leipzig: E. A. Seemann 1876) zu den Begründern einer positivistischen Kunstgeschichtsschreibung, die sich entschieden von der damals vorherrschenden, normativ arbeitenden philosophischen Ästhetik absetzte. Thausing, der ab 1856 in Wien bei Eitelberger studierte und in Tübingen promovierte, wurde 1862 Bibliothekar, 1868 Direktor der Kupferstich- und Handzeichnungensammlung des Erzherzogs Albrecht (Albertina) in Wien. 1873 wurde er Professor für Kunstgeschichte an der Universität Wien.]



[Justus Brinckmann (1843–1915) gründete 1877 das Kunstgewerbemuseum in Hamburg. Bei der von Sitte erwähnten Arbeit handelt es sich um die Übersetzung von Benvenuto Cellinis Traktaten (Due trattati, uno intorno alle otto principali arti dell’orificeria; l’altro in

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die schon bei Eitelberger begonnen wurde, veröffentlicht und die Gründung eines Museums in Hamburg mit Glück und geschickter Hand übernommen. Damals stand Eitelberger auf der Höhe seines Ruhmes als Lehrer. Aus ganz Österreich und Deutschland strömten ihm Schüler zu, und das Seminar zählte Doctoren aus Berlin und Stuttgart und sonsther, welche schon ihre Reisejahre in Italien hinter sich hatten und doch noch zur Anlegung einer letzten Feilung an ihrem Studium zu Eitelberger zogen. Da gab es zwei bewegte, genußreiche Wintercurse, die schon im Neubau, im Bibliotheks- und Arbeitszimmer der Wohnung abgehalten wurden. Auch aus dieser Zeit gingen Kräfte hervor, die seither ihre Geltung errungen haben, so: Dr. Ilg, der damals schon einige Bände Quellenschriften publicirte; Robert Vischer10, derzeit Professor der Kunstgeschichte an der Universität zu Breslau, und später noch Janiczek11, Professor der Universität Straßburg nach vorheriger Custodie am Museum; Chmelarz12, Custos der kaiserlichen Kupferstichsammlung der Hofbibliothek; materia dell’arte della Scultura. Florenz: Valente Panizzij & Marco Peri 1568). Brinckmann, Justus: Abhandlungen über die Goldschmiedekunst und die Sculptur. Von Benvenuto Cellini. Übersetzt und verglichen mit den Parallelstellen aus Theophilius’ diversarum artium schedula. Leipzig: E. A. Seemann 1867 (Neudruck Osnabrück: Illmer 1978).]   [Albert Ilg (1847–1896) studierte bei Eitelberger Kunstgeschichte. 1871 wurde er Offizial am Österreichischen Museum für Kunst und Industrie, 1872 Dozent für Kunstgeschichte an der Kunstgewerbeschule des Museums und 1873 Kustos. 1876 kam er an die kaiserlichen Sammlungen und wurde 1884 Direktor der Sammlung von Waffen und kunstindustriellen Gegenständen. Viele seiner Studien galten der Kunst des Barock, die zu seiner Zeit erstmals neben den klassischen Epochen von der Forschung Beachtung fand. Ilg führte den österreichischen Barock und vor allem einen seiner Hauptvertreter, Johann Bernhard Fischer von Erlach, in die kunstgeschichtliche Literatur ein. In seine Zeit fällt außerdem die Zusammenlegung der kaiserlichen Sammlungen (z.B. aus dem Belvedere) in das neu erbaute Kunsthistorische Museum. An der erstmaligen Aufstellung der Sammlung für Plas­ tik und Kunstgewerbe hatte Ilg maßgeblichen Anteil.] 10 [Robert Vischer (1847–1933) war 1875–1879 Scriptor an der Wiener Akademie, 1880 wurde er Privatdozent für Kunstgeschichte an der Universität München, 1882 Extraordinarius an der Universität Breslau, 1885 an der Technischen Hochschule Aachen und 1892 Ordinarius an der Universität Göttingen. Vischer nahm mit seinen Begriffsbildungen Einfluß auf Heinrich Wölfflin und die Wiener Schule. Wegweisend für die modernen Kunstwissenschaften wurden seine Untersuchungen zur Farbe.] 11 [Hubert Janitschek (1846–1893) studierte in Graz, wurde 1877 Mitarbeiter Eitelbergers am Österreichischen Museum für Kunst und Industrie und habilitierte sich 1877 an der Universität Wien. 1879 wurde er Professor für Kunstgeschichte in Prag, 1881 in Straßburg und 1892 – als Nachfolger Anton Springers – in Leipzig.] 12 [Eduard Chmelarz (1847–1900), Kunsthistoriker. Chmelarz war von 1869–1871 Mitglied des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung in Wien, danach Beamter an der AlberRudolf v. Eitelberger (1885)

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Wickhoff13, Professor der Kunstgeschichte der Wiener Universität; Tschudi14 am Berliner Museum; der Director des Reichenberger Museums Vivié15 u.A. Glänzend durch den Umfang und die praktische Bedeutung seiner Schule, ist der Meister aber geradezu epochemachend geworden für die kunstgeschichtliche Forschung als solche durch den Geist und die Richtung der von ihm creirten Schule. Das ist nicht das trockene Schema der Kugler’schen Schule16, auch nicht die ästhetische Phrase der noch früheren Zeit, sondern eine Richtung, die vor Allem auf wirklicher Kunstkennerschaft beruht und tina. 1875 kam er an das Österreichische Museum für Kunst und Industrie. Zuletzt arbeitete Chmelarz an der Hofbibliothek als Vizedirektor und Leiter des Kupferstichkabinetts.] 13 [Franz Wickhoff (1853–1909), der ab 1877 vor allem am Institut für Österreichische Geschichtsforschung durch den Historiker Theodor von Sickel, den Archäologen Alexander Conze sowie den Kunsthistoriker Eitelberger geprägt wurde, promovierte 1880 bei Thausing über Dürer, war 1879–1885 Kustos der Textilsammlung am Österreichischen Museum für Kunst und Industrie und ab 1885 a.o., ab 1891 ordentlicher Professor für Kunstgeschichte an der Universität Wien. Seit 1904 gab er die Kunstwissenschaftlichen Anzeigen als Beihefte zu den Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung he­raus. Wickhoff gilt als Wegbereiter der wissenschaftlichen Kunstforschung.] 14 [Hugo von Tschudi (1851–1911) studierte in Wien Jura und Kunstgeschichte, arbeitete 1878–1879 unter Eitelberger am Österreichischen Museum für Kunst und Industrie sowie am Institut für Österreichische Geschichtsforschung, wurde 1896 Direktor der Nationalgalerie Berlin und 1909 Direktor der Bayerischen Staatsgemäldesammlungen in München. Tschudi, der u.a. mit Konrad Fiedler und Alfred Lichtwark wie mit Hans von Marées und Max Liebermann in Kontakt stand, wurde an der Wende zum 20. Jahrhundert zu einem der maßgeblichen Begründer eines neuen Verständnisses der Kunst des 19. Jahrhunderts und ihrer Weiterführung in der Moderne.] 15 [Vivié scheint Direktor des Kunstgewerbemuseums in Reichenberg (Liberec) gewesen zu sein. In dieser Funktion war er Mitglied des Vereins der Zeichenlehrer.] 16 [Franz Theodor Kugler (1808–1858) gilt als zentrale Gestalt der Berliner Schule der Kunstgeschichte, der u.a. Karl Friedrich von Rumohr (1785–1843), Gustav Friedrich Waagen (1794–1868), Heinrich Gustav Hotho (1802–1873) und Carl Schnaase (1798–1875) zuzurechnen sind. Kugler, der ab 1826 in Berlin und Heidelberg studierte, 1835 zum Professor für Kunstgeschichte an der Berliner Akademie der Künste ernannt wurde und seit 1843 als Kunstreferent im preußischen Kultusministerium großen Einfluß auf die Kunstpolitik nahm, ist Vertreter eines neuen Fachverständnisses. Kugler zielte auf eine Weltkunstgeschichte, die – jenseits der damals gültigen Epochen von Antike, Mittelalter und Renaissance – alle Kunstgattungen in allen Ländern und zu allen Zeiten umfasste. Den Verlauf dieser Weltkunstgeschichte, die er im „Dienste der allgemeinen Geschichte“ sah, gliederte er in seinem Handbuch der Kunstgeschichte (Stuttgart: Ebner & Seubert 1842) in vier Hauptperioden: eine Vorstufe (gesamte außereuropäische und sogenannte vorgriechische Kunst), eine klassische (griechische und römische Antike), romantische (Mittelalter einschließlich des Islam) und eine Moderne (von der Renaissance bis zum 19. Jahrhundert).]

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die Ideale vergangener Kunstperioden nicht nach vorgefaßter Meinung aburtheilt, sondern aus den Urtheilen und Aufzeichnungen der jeweiligen Zeitgenossen zu verstehen sucht. Eine solche Richtung konnte wieder nur der intime Kenner des KünstlerAteliers und seiner Producte gründen. So zeigt sich in dieser Kennerschaft die Wurzel des literarischen und praktisch organisirenden Schaffens. Diese Kennerschaft ist aber ein Geschenk der Natur, das der große Verewigte mit in die Wiege erhielt, und so erscheint er uns als geschlossene, einheitliche Individualität mit eng damit verwachsener Lebensaufgabe. Er war Kenner von Kunstwerken und Kenner von Talenten im eminentesten Sinne, nur nicht Kenner von Charakteren, denn dazu war er selbst zu reinen Herzens und von zu idealer Selbstlosigkeit… Als Kenner von Kunstwerken hat er oft erstaunliche Proben abgelegt. So befand er sich auf der letzten Pariser Weltausstellung17 nur drei Tage, hatte aber um die gesammte Dotation Ankäufe gemacht, und jeder Ankauf war ein Treffer. Personen, welche er damals traf, forderte er auf, ihn nachträglich noch auf passende Gegenstände aufmerksam zu machen. Dieselben hatten aber nach wochenlangen Studien der Ausstellung keine Veranlassung dazu, denn Eitelberger hatte im bloßen Vorbeigehen schon Alles bemerkt. Mit derselben Raschheit und Treffsicherheit ging er bei allen Ankäufen, sei es für die Bibliothek oder für eine der zahlreichen Sammlungen des Museums vor, und die Einheit, die man empfindet im Durchschreiten der Sammlungen dieses Institutes, die ist wahrlich nicht Zufall, die ist sein Werk, das Werk seiner Kennerschaft. Schon aus seiner frühesten Jugend liegt ein frappirendes Beispiel seines Instinctes für Kunsttalent vor. Van der Nüll18 hatte als junger Mann vor einigen zwanzig Jahren sein erstes bescheidenes Kunstwerk, den Brunnen vor der Paulanerkirche19, der Öffentlichkeit übergeben. Eitelberger war ebenso jugendlicher Kunstschriftsteller und schrieb eine begeisterte Recension, in welcher er dem ihm unbekannten jungen Künstler eine große, epoche­ 17 [Weltausstellung in Paris 1878.] 18 [Der Wiener Architekt Eduard van der Nüll (1812–1868) ist ein Hauptvertreter des Historismus. Er studierte in Wien und wurde hier 1844 auf den neu geschaffenen Lehrstuhl für Perspektive und Ornamentik an die Akademie berufen. 1858 gewann er gemeinsam mit seinem Kollegen August Sicard von Sicardsburg (1813–1868) den Wettbewerb für die Anlage der Wiener Ringstraße. Nach deren Entwurf wurde 1861 die Hofoper als erstes Gebäude an der Ringstraße begonnen.] 19 [Der 1846 fertig gestellte Schutzengelbrunnen wurde 1963 auf den Rilkeplatz versetzt.] Rudolf v. Eitelberger (1885)

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machende Zukunft prognosticirte. Van der Nüll las dies, eilte zu Eitelberger, und nach kurzer Besprechung umarmten sich die beiden jungen Freunde und schwuren sich in frischer Begeisterung, gemeinsam eine neue Ära der Kunst in Österreich zu erwecken. Sie haben beide Wort gehalten. Van der Nüll ist wirklich der unbestrittene Reformator der Wiener Kunstindustrie geworden, und Beide haben in künstlerischer That einerseits und in Wort und Schrift andererseits das große Werk vollbracht: die reine, italienische Renaissance für die moderne Welt wieder zu erwecken, und das ist eine unvergängliche kunsthistorische That, die weit über die Grenzen Österreichs hinaus ihre Kreise gezogen hat, und selbst auf Italien mehrfach zurückwirkte. So stand Eitelberger wahrhaftig in einer großen, schönen Zeit des Aufschwunges heimischer Kunst im Mittelpunkte der ganzen Thätigkeit und sein Name wird unzertrennlich sein mit den Werken dieser Periode!

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Rede am Grabe Eitelberger’s (1885) Handschriftliches Manuskript. Mit handschriftlichen Redaktionen. 20. April 1885. Sign. SN: 162–367. Mit geringfügigen Änderungen unter dem Titel „Eitelbergers Leichenbegängnis“ publiziert in: Neues Wiener Tagblatt, 21. April 1885. Sign. SN: 162–368.

So schied ein Führer unter den Menschen von uns. Ein Führer und Pfadfinder gerade im Reiche der höchsten Ideale der Menschheit: in Wissenschaft und Kunst. Doppelt groß und schön war sein reiches glänzendes Schaffen durch die Reinheit dieses Zieles, dem die edle Reinheit seines Herzens, wie eigens zu diesem Zweck geschaffen, gleich war. Heute, wo der Schmerz selbst die Bewunderung der Größe übertönt, müssen wir uns fassen und sammeln zu einem letzten Lebewohl. Es sind nicht mehr Alle versammelt, dieses letzte Lebewohl zu sagen; zahlreiche der Freunde und Genossen sind vorausgeeilt den dunklen Pfad. Heute gesellt sich ihr Führer und Liebster zu ihnen. Es war eine große Zeit der Kunst voll Begeisterung, Thatendrang und voll überschwanglicher Hoffnungen auf die Zukunft, in welcher unser Meister die Geister entflammte und lenkte. Von nun an wirst Du uns nicht mehr mit liebevoller Hand weiterführen; aber auch die Kunstentfaltung, die wir an Deiner Seite erlebt neigt ihrem Ende zu. Du hast dies auch voraus empfunden und noch klingen mir Deine Worte im Ohr, als ob Du sie jetzt noch zu uns sprächest: „Ich bin froh, dass ich alt bin, denn so schöne Zeiten des Erblühens, wie ich sie erlebt, kehren nicht oft wieder, und jetzt, wo es düster um uns wird, möchte ich nicht wieder jung sein.“

Aber Dein liebevolles Herz hat sich nicht bloß erfreut an dem Gelingen

Deiner großen Werke, es hat auch warm empfunden für die Menschen, die mit Dir waren. Davon redete Dein letztes Wort, das ich noch in diesem Jahre von Deinen Lippen vernommen. Du redetest wieder von Deinem vielen Lebensglück, das Dir reichlich und herrlich beschieden war und da nanntest Du als Deine Herzensfreude das Glück, edle Freunde besessen zu haben, aber als das Höchste was das Schicksal spendete, wie es nur wenigen Menschen beschieden sein konnte, nanntest Du Deine wunderbar gütige, engelgleiche Frau. Genau so sagtest Du es selbst noch vor wenigen Wochen und Deine lieben Augen blickten so rein und vergnügt, wie verklärt in den schönen Sonnenschein.

Heute ist wieder heller Sonnenschein, sowie in jener Stunde. Aber zum

letztenmale dringt das liebe Himmelslicht in Deine Nähe aus der Welt des Rede am Grabe Eitelberger’s (1885)

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Lichtes, der alle die schönen Werke gehören, denen Deine Seele lebte. Du hattest es lieb, das Licht und scheidest ungern von ihm. Möge die Erde Dir leicht sein!

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Die Ornamentik des Islam (1889) Österreichische Monatsschrift für den Orient. Herausgegeben vom K. K. Österr. Handels–Museum in Wien, Jg. 15 (1889), Nr. 3, S. 39–41. Im Nachlass Camillo Sittes liegt nur das handschriftliche Manuskript mit Redaktionen. Manuskript und Druckfassung sind identisch. Undatiert. Sign. SN: 193–473.

Die Ornamentik des Orients ist für uns in neuerer Zeit wieder hervorragend wichtig geworden, und so sei es denn gestattet, die Bedeutung des rein künstlerischen Momentes derselben in Bezug auf unsere eigene Kunst und Kunstindustrie in dem Folgenden zu schildern.

Bekanntlich gehen hierüber die Ansichten weit auseinander, besonders

in der Frage, wie das nationale Eigenthum des Ostens und des Westens abzugrenzen sei. Vielleicht am weitesten nach der einen Richtung geht hierin Prisse D’Avennes, welcher den Arabern alle eigene Begabung für bildende Kunst abspricht, während andererseits schon fast jede Kunstübung, jede Wissenschaft des Westens einzeln auf arabischen Ursprung zurück zu führen versucht wurde, so in der bildenden Kunst: der Spitzbogen der Gothik, 

[Sittes Beitrag ist im Kontext der allgemeinen Orientmode des 19. Jahrhunderts zu sehen, die im Historismus Ende des Jahrhunderts ihren Höhepunkt erreichte: Ausgehend von der sog. Turquerie in Malerei und angewandter Kunst im 18. Jahrhundert setzte im 19. Jahrhundert ein „Traum vom Orient“ ein, der durch politische Ereignisse (Ägyptenfeldzug Napoleons 1798/99, griechische Freiheitskämpfe 1821–1830, französische Eroberung Algeriens 1830), die Dokumentation wissenschaftlicher Expeditionen, durch Reiseliteratur und wachsenden Tourismus (1848 nahm die Österreichische Lloyd den Dienst auf der Strecke Triest–Alexandria auf) sowie durch die seit 1851 abgehaltenen Weltausstellungen (besonders die orientalischen Pavillons der Weltausstellungen in Wien, 1873 und Paris, 1878) wichtige Impulse erhielt. Im Stilpluralismus des ausgehenden 19. Jahrhunderts bildete die Orientmode einen wichtigen Faktor, der in der Architektur, im Interieur, in der Mode, im Kunstgewerbe und im zeitgenössischen Nippes nachzuweisen ist. Der Ornamentik – der Verzierungskunst, die Wände und Gegenstände aller Art, ja selbst Maschinen und Maschinenteile überwuchern konnte – kommt hierbei besondere Bedeutung zu. Dies belegt beispielsweise das ein Jahr vor Sittes Beitrag publizierte Buch von Meyer, Franz Sales: Systematisch geordnetes Handbuch der Ornamentik. Leipzig: E. A. Seemann 1888, das sich laut Untertitel an „Musterzeichner, Architekten, Schulen und Gewerbetreibende“ wandte.]



[Prisse, Achille Constant Théodose Emile, genannt Emile Prisse d´Avennes (1807–1879), französischer Ingenieur, Forscher und Ägyptologe. Gründer und Herausgeber der Revue orientale et algerienne. Er entdeckte unter anderem in der Nekropole von Theben das nach ihm benannte Rollenbuch – das älteste der noch erhaltenen und beschriebenen Papyri.] Die Ornamentik des Islam (1889)

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die Cabinetschränkchen der Renaissance, die Majolikatechnik und zahlloses Andere. Die äussersten Extremen solcher Ansichten haben sich übrigens bald abgeschliffen und steht gegenwärtig der Umstand, dass die byzantinische Kunst als wichtigster Ausgangspunkt zu betrachten sei ebenso fest, wie der, dass auch entschieden Originelles hier entwickelt wurde. Im Gebiete der Architektur sei da nur erinnert an den Hufeisen-, Kleeblatt- und Kielbogen, an die Stalaktiten-Wölbungen und an die Minarete. Auch in der Ornamentik verhält es sich ähnlich. Um jedoch zu einer deutlichen Vorstellung der Beziehung dieser ornamentalen Welt zu unserer Kunst zu gelangen, ist es nöthig auch die Entwicklung der Architektur heranzuziehen und von den Wurzeln aus das grosse organische Ganze zu verfolgen. Die Wurzeln sowohl der christlich mittelalterlichen als auch der arabischen Kunst sind jedoch in der Kunst des Römerreiches zu finden. Wie in einem grossen Seebecken waren da nicht blos die Mittelmeervölker, sondern auch deren Künste und Industrien zusammen geflossen. In Architektur und Ornamentik wurde die Verbindung im ersten Jahrhunderte unserer Zeitrechnung sogar eine feste und ziemlich einheitlich geschlossene, so dass eine nahezu gleichartige Stylrichtung das ganze weite Reich beherrschte. Sobald aber das grosse Reich in zwei Hälften zerfallen war, gingen auch sofort die Kunstrichtungen immer mehr und mehr ausei­ nander, es entstand im Osten der byzantinische, im Westen der romanische Styl. Beide in vieler Hinsicht fast zum Verwechseln mit einander, wie es auch häufig geschehen, und doch schon grundverschieden. Der Westen hatte sich aus dem merkwürdigen römischen Architekturconglomerat von Säulenstellungen, Bogen und Kuppelwölbungen, den constructiven Bestandtheil der Bogen und Gurten zur Weiterentwicklung auserkoren und die consequente Entwicklung dieses constructiven Motives, bei allmäliger Vergewaltigung aller übrigen, führte endlich zum gothischen Styl. Der Osten hatte sich, vielleicht schon einer orientalischen Empfindung folgend, den decorativen Bestandtheil gewählt: die Kuppelwölbung und die musivische Bekleidung der Fussböden, welch letztere allmälig Alles überwucherten, an den Wänden hi­ nauf wuchsen und zuletzt selbst die Wölbungen und sonstigen Decken überzogen. Die letzte Phase der ganzen Entwicklung ist der arabische Styl zur Zeit seiner höchsten Blüthe. Diesem Verhältnisse der mittelalterlichen Kunst, der christlichen und islamitischen Welt entsprechen auch alle Details, sowohl in Bezug auf verwandte Züge als auch in Bezug auf das Verschiedene. Der romanisch-gothischen Bogenconstruction mit ihren scharf profilirten Rippen und Pfeilern gesellt sich reichliche Steinplastik und Holzschnitzerei,

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auch im Zusammenhange mit echt nordischem grossem Bedürfnisse nach zahlreicher Möbeleinrichtung, kirchlicher wie profaner. Zuletzt gipfelt Alles in der geschlossenen Styleinheit des Masswerkmotives. Der Orient dagegen, wie er gleich anfangs sich für die decorative Wandund Bodenfläche entschieden hat, bildet hauptsächlich die ornamentale Flächendecoration aus; das Musivische ist und bleibt der Grundton des Ganzen, dem sich Fayencen, Holztäfelungen, Stuccoarbeiten und selbst aus Gyps geschnittene Fenster, Farbe und Technik unterordnen; die zuletzt erreichte vollendete künstlerische Einheit ist die der geometrisch-musivischen Decoration. An Stelle des reichlichen gothischen Schrank- und Möbelwerkes tritt hier, wieder echt orientalisch, der Teppich mit seiner textil-musivischen Decorationsweise. Nebenher weisen die beiden Äste der Kunstentfaltung auch genug des Ähnlichen in ihrer ganzen Entwicklung auf. Beide gelangen von gedrungeneren Verhältnissen ausgehend zu immer schlankeren, höher strebenden Formen in der Architektur, zu immer zierlicheren Formen im Ornament, immer dünneren Stängeln beim Pflanzenwerk. Beide verwenden Inschriften und Sprüche immer reichlicher mitten unter ihren Ornamenten und bilden überhaupt Gesammtkunstwerke aller bildenden Künste aus: Architektur, Malerei, Plastik, Ornamentik in Eines verwebend. Beiden ist eine gewisse Vorliebe für Durchdringung der Motive, eine Art ornamentaler Contrapunktik gemeinsam, welche eine förmliche ornamentale Dogmatik zeitigt von merkwürdiger Übereinstimmung mit der religiösen und wissenschaftlichen Gesammtrichtung der Geister hier wie dort. Es sei nun erlaubt den Wellenschlag dieser grossen Entwicklung auch auf dem Gebiete der Ornamentik zu verfolgen. Zur Bloslegung des hier Geschehenen muss allerdings noch tiefer bis zu den letzten Wurzeln zurückgegriffen werden. Die Urmotive auch des complicirtesten arabischen Ornamentgebildes liegen ja weit zurück. Die einfachste ornamentale Pflanze, die Plattenpflasterung, die primitive Zackenlinie, die prähistorische C- und S-förmige Bronze-Spirale sind diese Wurzelformen von Uranfang an bis zur letzten raffinirtesten Ausbildung immer deutlich in zwei Gruppen geschieden: die Linienführung und die Flächenbildung. Lange Zeit hindurch entwickelt sich jedes der genannten Motive für sich allein weiter, nur allmälig treten sie in Combination unter einander, zuletzt, in vollendetster Entwicklung in der arabischen Kunst, sind sie zu einem einzigen organischen Ganzen verbunden. In dieser letzten Form ist die Linienführung das herrschende Motiv geworden und diese muss daher in ihrer historischen Entwicklung erklärt werden, wenn Die Ornamentik des Islam (1889)

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der Organismus des Ganzen erkannt werden soll. Die Linienzüge der ersten Zeit sind: Zickzack, Spirale und Pflanzenstängel, die beiden letzteren wegen ihrer Krummlinigkeit eng verwandt und schon früh verschmolzen. Der Zickzack hat bereits eine reiche Entfaltung in der ägyptischen und assyrischen Kunst hinter sich durch Ineinanderstecken, Dehnen und Zusammenstauen, Abnehmen der Ecken, Schiefstellen etc. Trotz grosser Mannigfaltigkeit geht durch alle diese primären Bildungen noch die ursprüngliche Hauptform des Dreieckes hindurch. Erst die Griechen in ihrer einzig dastehenden Vorliebe und Feinfühligkeit für Harmonie construirten diese Zickzack-Bänder lediglich aus Senkrechten und Horizontalen, wodurch der Mäander entstand. Vereinzelt kommt derselbe bei allen Völkern als Naturmotiv vor, als ornamentale Potenz nur bei den Griechen, seine Linienzüge sind nicht mehr im Dreieck zu suchen, sondern im Quadrat. Höchst merkwürdig ist das römische Bandwerk. Es zeigt zum ersten Male eine Verbindung der geradlinigen (Zickzack, Mäander) mit der krummlinigen (Spirale) Linienführung, jedoch noch sehr unvollkommen, indem einfach ein Zickzackstück mit einem Spiralstück stetig abwechselt. Diese römischen Bandstreifen sind durchwegs schlecht componirt. Man sieht es ihnen an, dass hier ein schwieriger Versuch zum ersten Male gewagt wurde und noch nicht glückte. Die Bahn war aber einmal betreten und rüstig schritten auf derselben ihre Nachfolger weiter, die Byzantiner und Araber. Schon die Byzantiner brachten noch andere Motive in Combination. Indem sie statt blosser Bandstreifen ganze Flächen mit solchen Linienführungen zu decoriren versuchten, kamen sie nothwendiger Weise noch auf das musivische Motiv des geometrischen Plattenbelages. Hier die früher unberücksichtigte Contour der Platten als decorative Bänder ausstattend, hatten sie mit einem Male eine neue ornamentale Welt betreten, das Fundament zur arabischen Ornamentation gelegt. An diesem Gerüste des musivischen Bandwerkes haben die Araber (respective ihre Künstler) auch nichts Wesentliches geändert, sondern nur weiter gebildet im Sinne grösserer Feinheit und raffinirterer Verschlingung. Wie weit sie es hierin gebracht haben, das ist geradezu staunenswerth. Während die Byzantiner nur solche reguläre Polygone, wie Viereck, Sechseck, Achteck zu verarbeiten vermochten, welche unmittelbar neben und über einander gestellt schon einen regelmässigen Flächenbelag geben, vermochten die Araber auch unregelmässige Grundformen, Fünfecke, Siebenecke etc. in das System zu zwingen, gingen endlich zu freien, mannigfach geschwungenen Linienzügen über, zwischen welchen sie noch hindurch die Laubwerksranke führten in einer bisher unerreichten Fülle an Bewegung bei aller geometrischen Strenge tadelloser Linienführung und Raumausfüllung.

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Dass die ganze endlich erworbene Kraft der Conception auch auf die zarten Linienzüge der Pflanzenstengel angewendet wurde, kann nicht verwundern. Geradezu selten werden in der Blüthezeit dieser Ornamentik einfache Lagen von Pflanzen; meist durchdringen sich zwei und selbst drei Ranken, meist eine zopfförmige Verschlingung bildend, zwischen deren regelmässig wiederkehrenden offenen Maschen Blätter und Blüthen sich entfalten. Die Bildung dieser Pflanzen ist von doppelter Art, entweder mehr naturalistisch, so zwar, dass Tulpe, Nelke, Rose und andere Lieblingsblumen sofort erkannt werden, oder gleichfalls streng geometrisch nur aus C- und S-förmigen Contouren gebildet, wobei jeder Versuch botanischer Bestimmung ein Unding wäre. Erinnert sei noch an die hohe Ausbildung des sogenannten reciproken Ornamentes durch die Künstler des Islams, eine Art gleichsam contrapunktisches Spiel, worin sie ebenfalls noch unübertroffen dastehen. Diese knappe Übersicht vorausgeschickt (und mehr lässt sich ohne fortlaufende Beigabe von Zeichnungen schwer bieten) kann nun an die Untersuchung des Einflusses auf unsere westländische Ornamentik gegangen werden. Schon im Mittelalter waren orientalische Arbeiten, besonders der Textil­ industrie, wegen ihrer Farbenpracht und feinen Ornamentation berühmt und gesucht. Eine zielbewusste Aufnahme, besonders der maurischen Bandverschlingungen mit zwischendurch gelegtem Rankenwerk erfolgte im Zeitalter der Renaissance. Als Hauptvertreter dieser Richtung ist Peter Flötner



[Die Maureske ist ein flächiges Ornament aus stark stilisierten Ranken, Blüten und Blättern, die im Unterschied zur Arabeske den plastischen Eindruck und die Einbeziehung von tierischen und menschlichen Wesen vermeidet. Sie hat ihre Wurzeln in der hellenistischen Pflanzenornamentik, ist aber selbst ein Produkt der islamischen Formphantasie. Im 15. Jahrhundert kam sie durch den Import islamischer Kunstgegenstände nach Italien und fand besonders um 1530 durch Francesco Pellegrino allgemeine Verbreitung. Im Ornamentstich und Kunstgewerbe der Renaissance war die Maureske besonders um 1530–1550 außerordentlich beliebt. In den Niederlanden gab beispielsweise Hieronymus Cock ein Maureskenbuch mit Ornamentvorlagen heraus, das schon 1543 von Augustin Hirschvogel in Wien benutzt wurde.]



[Peter Flötner (um 1490–1546), deutsch-schweizerischer Ornamententwerfer, Kleinplas­ tiker, Kunsttischler, Formschneider, Plakettenkünstler und Architekt, der zwischen 1523 und 1546 in Nürnberg tätig war. Flötner, in der ersten Hälfte des zweiten Jahrzehnts in der Werkstatt Adolf Dauchers in Augsburg tätig, zählt in der Generation nach Dürer zu den bedeutendsten Kleinmeistern der deutschen Renaissance. Von seiner Hand haben sich mehrere ornamentale Vorlagenblätter erhalten.] Die Ornamentik des Islam (1889)

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rühmlichst bekannt. Die genauere Untersuchung seiner Arbeiten lehrt, in welcher Weise und in welchem Umfange die Renaissancekünstler diese mauresken Werke verstanden haben und aufzunehmen vermochten. Ein Theil seiner Arbeiten ist sichtlich nach arabischen Mustern einfach copirt; manches Einfachere mag ihm auch selbstständig nachzuempfinden gelungen sein; verschiedene complicirtere Stücke zeigen aber deutlich ein mangelhaftes Verständniss der Feinheiten dieser Kunstform. Hie und da wäre nur wenig zurechtzurücken, und ein Band würde in den merkwürdigsten Verschlingungen zwei-, dreimal in einer Fläche herumlaufen, bis es sich zuletzt als endloser Faden wieder an der Ausgangsstelle schliesst. Das wäre dann echt arabisch, während Flötner dieser Anforderung entweder nicht gewachsen war oder im Sinne eines blos äusserlichen Effectes auf diesen organischen inneren Zusammenhang eben kein Gewicht legte. Bei Flötner ist auch das Laubwerk noch arabisch geometrisch. Später treten an dessen Stelle die akanthusblattartigen Formen der italienischen Intarsien. Es tritt eine Art Verdauungsprocess ein und das Ende dieses Vorganges bildet das Band und Laubwerk des Rococo, ein im Abendlande auferzogener Sprössling des Orientes. Dabei wurde allmälig auf den Ursprung dieser Ornamentation vergessen. In neuester Zeit wendete sich neuerdings die Aufmerksamkeit dieser reichen Quelle ornamentaler Schönheit zu. Wieder sind wir in eine Phase der Kunstentwicklung eingetreten, in der das Studium alter Stylformen Losungswort geworden ist, und besteht kein Zweifel, dass für rein ornamentalen Flächendecor überhaupt das Höchste in der arabischen Kunst geleistet wurde. Geradezu unentbehrlich ist sie unserer Kunstindustrie, daher überall dort geworden, wo der rein ornamentale Flächendecor in den Vordergrund tritt, d.i. in der Textilindustrie und Keramik. Überblickt man diese merkwürdigen Zeitströmungen in der Kunst, so gewahrt man leicht, wie solche Perioden des Studiums fremder Weise immer wiederkehren in fast regelmässigen Absätzen, wobei stets Perioden des Sammelns verschiedener Motive mit Perioden des Durchbildens und einheitlichen Gestaltens abwechseln. Schon die hellenische Kunst zeigt Derartiges. Zuerst eine gewisse (gerne auf orientalischen Einfluss zurück-



[Das Laub- und Bandelwerk kam ab den 1690er Jahren europaweit in Mode und verband sich u.a. mit der in den 1730er Jahren ausgebildeten Rocaille, der Oramentform des Rokoko.]



[In Wien erlebte der Historismus mit dem Bau der 1861 begonnenen und 1888 weitgehend vollendeten Ringstrasse seinen Höhepunkt.]

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geführte) Mannigfaltigkeit des Formenschatzes und dessen Anwendung; hierauf jene classische Periode des einheitlichen Gestaltens im Zeitalter des Phidias. Diesem Höhepunkte folgt eine Zeit der Aufnahme fremder (selbst egyptischer und nordischer) Motive bei möglichster Mannigfaltigkeit, welche Sinnesrichtung bis tief in’s Mittelalter vorhält, aber endlich wieder abgelöst wird durch eine Periode strengster Stylconcentrirung in der Gothik. Als diese wieder ihre Lebenskraft aufgezehrt hatte, folgte ein Suchen nach vielfältigen Motiven der Vergangenheit und des Ostens, eine Fülle mannigfachster Formen erwachte, das Zeitalter der Renaissance war entstanden. Auch diesmal hielt die Wirkung des Mannigfaltigen nicht bleibend an, sie wurde abgelöst durch das Streben nach Einheit des Ausdruckes und das endlich Erreichte, die Barocke verhält sich in diesem Sinne zur Frührenaissance ähnlich wie die Gothik zum frühen Romanismus. So scheinen naturgemäss Perioden der Mannigfaltigkeit mit Perioden der Einheit in der Kunst abzuwechseln, und wird dies begreiflich, wenn man bedenkt, dass auch für ganze Stylrichtungen die Empfänglichkeit sich allmälig abstumpft und somit bald die Mannigfaltigkeit, bald die Einheit eine stärkere Wirkung zu erzielen vermag. Auch Kunstwerke kämpfen eine Art Kampf um’s Dasein unter sich aus, die grössere Wirkung, die hier Für oder Gegen entscheidet, hängt aber nicht von ihrem absoluten Kunstwerthe allein ab, sondern auch von der frischen Empfänglichkeit, welche ihnen nach Massgabe der Zeitströmung entgegengebracht wird. Gegenwärtig stehen wir wieder seit nahezu einem Jahrhundert unter dem Zeichen der Mannigfaltigkeit, und so ist auch das Studium des Orientes wieder eine künstlerische Nothwendigkeit geworden. Unser Studium der orientalischen Ornamentik hat aber noch eine andere Bedeutung. Während Europa nach der gothischen Kunst eine Wiedergeburt auf Grundlage der Antike feierte, versank der Orient mehr und mehr in künstlerische Ohnmacht, nicht fähig, die Meisterwerke seiner Vergangenheit fortzubilden. Das constructive Element in der bildenden Kunst ist ohnehin, wie gezeigt, niemals seine Stärke gewesen, wohl aber das ornamentale, und dieses somit, durch 

[Phidias (um 490 v. Chr. – um 425 v. Chr) war Bildhauer und Toreut und gilt als Hauptmeis­ ter der hochklassischen attischen Kunst. Zu seinen bedeutendsten Arbeiten, die nur in Beschreibungen überliefert bzw. durch Kopien greifbar sind, gehörten die Kultbilder der „Athena Parthenos“ im Parthenon in Athen und die 12 m hohe Zeusstatue in Olympia, die zu den Sieben Weltwundern der Antike zählen.]



[Symptomatisch hierfür ist die Dominanz der Orientmode auf den Weltausstellungen in Wien (1873) und Paris (1878).] Die Ornamentik des Islam (1889)

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Concentrirung aller Kräfte aber in so hohem Grade, dass in mehrfacher Richtung ein absolut Höchstes hierin erreicht wurde.

Von diesem haben wir die Erbschaft angetreten. Wir sind im Stande diese

Schätze zu heben, zu erhalten und weiterzubilden, nicht mehr der Orient selbst, der vielmehr durch Aufnahme europäischer Mode sogar in bedenklicher Weise den letzten Halt zu verlieren im Begriffe steht. Daraus erwächst uns eine grosse eigenartige künstlerische Aufgabe, zu deren Durchführung es uns aber selbst an besonderen Institutionen nicht gebricht, welche jeder auf diesem Gebiete arbeitende Künstler zu würdigen weiss, unsere Museen mit ihren Schätzen an Publicationen und an echten Kunstwerken.

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Die Schönheit des Armes (1893) Beilage zur Allgemeinen Zeitung, Nr. 214, 15. September 1893. Eintragungen mit Blaustift. Sign. SN: 169–138/1.

Mitten in der Zeit eines bereits schrankenlos gewordenen Naturalismus, der sogar das Häßliche mit gieriger Hyänennase allenthalben aufschnuppert, um nur ja mit Sicherheit den letzten Staub eines verhaßten Idealismus von sich abzuschütteln; mitten in der Zeit solcher Moderichtung wiederum Erörterungen „über die Schönheit der menschlichen Gestalt“ in Fluß gebracht zu haben, das ist eine wahrhaft bedeutsame That. Ein ganzes Buch voll trefflicher Beobachtungen und Regeln ist es, das seit Jahresfrist die Künstlerkreise beschäftigt; aber dieses förmlich revolutionäre Buch, das mit erhobener Stimme das Verlassen der jetzigen Richtung in der Kunst predigt, dieses Buch voll edelster Begeisterung für das Große und Schöne, voll sprudelndem Humor und jugendlicher Frische ist nicht das Werk eines erst neu auftauchenden, nach Geltung ringenden Talents, sondern das Werk des jüngst verstorbenen Altmeisters der Physiologie, Professors E. Brücke. Es soll hier keine Recension mehr gegeben werden, denn dieses Buch hat jeder Künstler, jeder Kunstfreund gelesen oder muß es lesen, sondern die Debatte über diesen künstlerisch hochwichtigen Gegenstand, einmal eröffnet, soll hier Geltung finden und ein einzelner Lehrsatz über die Schönheit des menschlichen Armes hiezu ausgewählt sein. Brücke zeigt in wunderbar anmuthiger Form, daß es nicht nur in allen großen Kunstepochen Stil war, die menschliche Gestalt, gereinigt vom Zufälligen und Unschönen, in mustergültigen Typen vorzuführen, damit Herz und Sinn sich an der Harmonie der Verhältnisse und der Schönheit des Linienflusses erfreuen können, sondern auch, daß dieser Läuterungsproceß zu allen Zeiten in immer wieder neuer origineller Weise durchgeführt werden könnte; nur wollen und können müßte man es. Da aber das Eine, oder das Andere, oder



[Brücke, Ernst Wilhelm von: Schönheit und Fehler der menschlichen Gestalt. Wien: Braumüller 1891. Brücke (1819–1892) war ein Freund Eitelbergers und arbeitete als Kurator am Österreichischen Museum für Kunst und Industrie (heute MAK). Ab 1849 wurde er Professor für Physiologie und mikroskopische Anatomie und in Folge Leiter des Physiologischen Instituts in Wien. 1882–1885 war er Vizepräsident der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Wien. Brücke beschäftigte sich u.a. mit Fragen der Optik und der Farbenlehre an der Grenze zwischen Physiologie und Physik. Zu Brücke siehe auch Sitte, Camillo: „Über Farbenharmonie (1900)“, S. 395f., Anm. 34 in diesem Bd.] Die Schönheit des Armes (1893)

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auch Beides unserm heutigen Naturalismus abhanden gekommen ist, mußten die Beispiele denn doch wieder den alten Meistern entnommen, oder ein eigener Versuch im Idealisiren der Form gewagt werden. Dies letztere geschah unter anderem bei der Erörterung der Schönheit des Armes. Die Regel, welche Brücke hiebei aufstellt, verlangt, daß der gerade ausgestreckte Arm auch in der üblichen anatomischen Normalstellung nicht winkelig gebrochen, sondern gerade herab verlaufen soll, bei möglichst gleichmäßiger Rundung und möglichst stetiger Querschnittabnahme, soweit dies natürlich die anatomische Richtigkeit zuläßt. Zum Verständniß dieser Forderung auch für den Laien muß dazu bemerkt werden, daß man unter anatomischer Normalstellung diejenige versteht, bei welcher am gerade herabhängenden Arm und bei ausgestreckten Fingern die Hand derart nach auswärts gedreht ist, daß die Hohlhandfläche nach vorn sieht und der Daumen so viel als möglich nach auswärts steht. In dieser Stellung bilden die geometrischen Mittellinien des Oberarmes, des Vorderarmes und der Hand nicht eine einzige gerade Linie, sondern während die Mittellinie des Oberarmes und der Hand beinahe senkrecht herabfallen, weicht die Mittellinie des Vorderarmes von dieser Richtung merklich ab, indem sie sich etwas nach außen stellt und hiedurch ein schwach zickzackförmiges Aneinanderstoßen dieser drei Richtungslinien verursacht. Die citirte Regel besagt also, daß dieser natürliche Axenbruch vom Künstler nicht blindlings nachgeahmt, sondern im Sinne geometrischer Regelmäßigkeit corrigirt werden soll, damit zur Wohlgefälligkeit der Naturnachahmung im allgemeinen noch die Wohlgefälligkeit einer gleichsam architektonischen Regelmäßikeit hinzukomme und hiedurch ein Maximum von Schönheit entstehe. Das klingt allerdings sehr annehmbar; nachdem dieser Lehrsatz jedoch nur a priori aufgestellt wurde, so muß er unbedingt vorerst der Feuerprobe der Praxis unterzogen werden, damit man auch sehen könne, ob dabei wirklich größere Schönheit herauskomme; vor allem aber muß doch nachgesehen werden, wie diese Frage bisher in der Geschichte der Kunst von den großen Meistern verschiedener Stilperioden gelöst wurde, damit man zunächst gesunden, gewachsenen Boden unter den Füßen bekommt. Das geschichtliche Material hiezu ist derart umfangreich, daß nur auszugsweise das Interessanteste hier kurz angemerkt werden kann. Die vorher beschriebene anatomische Normalstellung kommt in der Kunst vor bei verschiedenen Graden der Erhebung des Gesammtarmes und auch bei Combination mit Vorwärts- oder Rückwärtsbewegung. Zur Entscheidung des vorliegenden Falles ist es offenbar gleichgültig, wie sich der Arm als Ganzes im Schultergelenk bewegt, da hier nur die Stellung der Theile des Armes unter

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einander, aber nicht zum übrigen Körper in Frage steht. Dies noch vorausgesetzt, können als ganz reine Beispiele von ungezählter Menge die Arme aller Darstellungen von Gekreuzigten angeführt werden. Diese Arme sind aber mit wenigen Ausnahmen zickzackförmig in den Axen gebrochen, und die Ausnahmen, welche den Arm nahezu geometrisch geradlinig bringen, sehen steif, hölzern, unschön aus. Zackig gebrochen sind schon die Armrichtungen der Gekreuzigten des frühesten Mittelalters, sowohl von Christus, als auch von Petrus u.s.w., ebenso die Arme des berühmten Crucifixes von Cimabue zu S. Croce; ganz deutlich die von den Kreuzigungen des Giotto zu Assisi und zu Padua, die von Albertinelli in der Certosa bei Florenz, die des Signorelli, die der Lippi’s in del Carmine ec. und so fort bis Michelangelo und auf unsre Zeit herauf, und ebenso bei Deutschen, Niederländern, Spaniern und allen Anderen. Hie und da kommt die Zickzackform geradezu übertrieben vor, wie an der Kanzel des Baptisteriums zu Pisa an einer Kreuzigung von Palmegiani und anderem. Beinahe am meisten geradlinig ausgestreckt pflegte Giov. da Fiesole die Arme seiner Gekreuzigten darzustellen, daß er aber hiebei nicht einen Schönheitserfolg mit Hülfe von geometrischer Regelmäßigkeit erstrebte, sondern daß er durch diese Streckung nur das Zerren der Körperlast andeuten wollte, erkennt man zuverlässig daraus, daß er in allen übrigen Fällen dieselbe Arm- und Handstellung mit sogar kräftigem Zickzackbruch der Axen darstellte, wie z.B. an dem aus dem Grabe emporsteigenden Christus einer Gang-Lünette zu S. Marco in Florenz. Aber auch sonst kommt diese Arm- und Handstellung noch häufig vor bei Fackelträgern, beim Speerwerfen, bei Sensenmännern (apokalyptischen Reitern ec.), bei Säenden, an einer der Niobiden, bei dem seinen Bogen prüfenden Amor, beim Apollon saurokdonos, und können die Beispiele endlos vermehrt werden, wenn Beimischungen von schwachen Handgelenk- oder



[Datierungen der genannten Kruzifixe: von Cimabue in S. Croce in Florenz, um 1272; von Giotto in S. Francesco in Assisi (Kreuzwunder), 1297–1299 bzw. in der Arenakapelle in Padua (heute Museo Civico), 1317; von Filippo Lippi in der Brancacci-Kapelle in S. Maria del Carmine in Florenz (Kreuzigung des Hl. Petrus), 1481–1482; von Mariotto Albertinelli in der Certosa bei Florenz, 1506.]



[Die Tötung der Niobiden gehört seit dem 5. Jahrhundert v. Chr. zu den geläufigen Themen der antiken Kunst. Sitte bezieht sich hier wohl auf die berühmte Niobidengruppe in Florenz (Uffizien), wahrscheinlich nach einem von Praxitiles oder Skopias beeinflussten Original, um 130–120 v. Chr.]



[Apollon Sauroktonos, der Eidechsentöter, Marmorkopie nach einem Original des Praxitiles, um 340–330 v. Chr. (Paris, Louvre).] Die Schönheit des Armes (1893)

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Ellenbogenbeugungen noch zugelassen werden, aus welcher die fragliche Normalstellung aber noch sicher und leicht abgeleitet werden könnte. Es würden dann noch hierher gehören alle die erhobenen Rechten der zahlreichen antiken Rednerstatuen, des vaticanischen Augustus, des Titus vom Louvre und wie sie alle heißen; ja sogar die drei rechten Arme der drei Figuren der Laokoon-Gruppe, welche sonderbarerweise alle drei dieselbe Stellung haben, während alle drei linken Arme ebenso sonderbarerweise wieder eine gleiche, aber entgegengesetzte Stellung haben, wodurch das in der Architektur, Ornamentik und auch Musik allgemein gebräuchliche, ja unentbehrliche Motiv der Verstärkung des sinnlichen Effectes durch Wiederholung hier auf die figurale Plastik übertragen erscheint, was wiederum sonderbarerweise



[Der sog. „Augustus von Prima Porta“ in den Vatikanischen Museen, der 1863 in der Villa Livia bei Prima Porta nördlich von Rom gefunden wurde, ist der Inbegriff einer römischen Kaiserstatue. Das monumentale, wohl kurz nach 14 n. Chr. geschaffene Marmorstandbild, dessen Haltung dem berühmten Doryphoros des Polyklet entlehnt ist, zeigt den ersten römischen Kaiser Augustus (27 v. Chr. – 14. n. Chr.) mit Tunica, Schalenpanzer und Feldherrnmantel und dem Redegestus der erhobenen Rechten, der sog. adlocutio, der Ansprache an das Heer.]



[Die Kolossalstatue des Kaisers Titus (79–81 n. Chr.) vom Ende des 1. Jahrhunderts n. Chr. gehört zu den ersten überlieferten Statuen der Sammlungen der französischen Könige; sie wurde 1609 unter Heinrich IV. in der Salle des Antiques im Louvre aufgestellt. Der Kopf (Haare und Augen) wurde in der Renaissance, die ganze Skulptur anlässlich ihrer Neupositionierung beim Wagen des Apoll in Versailles von François Girardon (um 1685) restauriert bzw. überarbeitet; seit 1798 wieder im Louvre.]



[Die sogenannte Laokoon-Gruppe wurde am 14. Januar 1506 von Felice de Fredi in Rom im Goldenen Haus des Nero gefunden und noch im gleichen Jahr von Papst Julius II. erworben, der sie im Statuenhof des Belvedere neben dem berühmten, von Camillo Sitte ebenfalls genannten Apoll aufstellen ließ. Sie zeigt den Todeskampf Laokoons: der griechischen Mythologie zufolge ein trojanischer Priester des Apoll, der die Trojaner davor warnte, das hölzerne Pferd in die Stadt zu ziehen und wenig später bei der Darbringung des Opfers mit seinen beiden Söhnen von zwei Schlangen erwürgt wurde. Die Marmorgruppe – vermutlich eine im 1. Jahrhundert v. Chr. entstandene Replik der rhodischen Bildhauer Agesandros, Polydoros und Athenadoros nach einer verlorenen Bronzeplastik aus Pergamon – erlangte große Bedeutung für die bildende Kunst und Kunsttheorie. Gotthold Ephraim Lessing widmete ihr die einflussreiche Abhandlung Laocoon oder über die Grenzen der Malerei und Poesie, mit beiläufigen Erläuterungen verschiedener Punkte der alten Kunstgeschichte. Berlin: Voss 1766. Erst 1905, also 20 Jahre nach Camillo Sittes Beitrag, wurde der rechte, im Engelbogen abgewinkelte Arm des Laokoon gefunden, den man 1960 anstelle des ursprünglich gestreckt ergänzten Armes ansetzte. Damals wurden auch neuzeitliche Ergänzungen bei den Söhnen – der rechte Arm des Sohns zu seiner Rechten und die rechte Hand des Sohns zu seiner Linken – entfernt.]

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in der unabsehbaren Flucht [Flut?] von Laokoon-Kritikern noch Niemand bemerkt hat. In allen diesen Fällen wurde die Natur mit ihrer Zickzackbrechung getreulich nachgebildet und keine geometrische Correctur vorgenommen. Man erkennt dies bei näherem Zusehen als alleinige allgemeine Regel aller Kunstschulen. Wenn aber die Stilisten aller Zeiten, die Maler von Pompeji und selbst schon die Figuralisten der altetrurischen Gräberhallen hierin der Naturanschauung folgten, was kann man da Anderes von den Realisten des Quattrocento erwarten, welche zum ersten Male vollständige Actstudien in ihre Gemälde übertrugen, und von späteren holländischen Genremalern? Das Vorkommen dieser Arm- und Handstellung in der Kunst wird noch dadurch vermehrt, daß diese Stellung nicht bloß zu gewissen Verrichtungen taugt, sondern daß sie auch als redende Geste geradezu typisch ist. Beide Arme in dieser Streckung nach aufwärts und vorwärts gehalten, geben die Stellung eines Betenden, Flehenden; der rechte Arm allein derart erhoben, wie bei Rednern, fordert auf zu Muth und frischer That; der nach abwärts gesenkte und nach rückwärts bewegte Arm drückt in dieser Stellung der Auswärtsdrehung des Daumens Erstaunen aus über ein ungeahntes Ereigniß oder über etwas, das sich gerade vollzieht und dessen Ausgang mit Spannung erwartet wird, wie z.B. die Wirkung eines eben von der Sehne abgeschnellten Pfeiles. Diese Stellung drückt daher auch eine Frage aus; Ungewißheit oder Ergebung in ein unabänderliches Schicksal, Demuth; unter Umständen: Zweifel, Verblüffung. Die innere zusammenfassende Ursache aller dieser Varianten des Ausdruckes besteht offenbar darin, daß der gestreckte Arm mit nach außen gedrehter offener Hand sich in passiv zuwartender Stellung befindet, also gerade in der entgegengesetzten von denjenigen, wenn Arm und Hand selbst etwas leisten, selbst ein Instrument oder eine Waffe ergreifen, einen Schlag führen oder sonst etwas vollbringen. In dieser Stellung wird nicht selbst gearbeitet oder gekämpft; sondern die Handlung eines Anderen erwartet, bewundert oder dazu aufgefordert. So wird diese Stellung zum typischen Ausdruck der Demuth, Ergebung, Frage und Bewunderung oder auch der Aufforderung, des Antriebes. In diesem Sinne ist offenbar auch der rechte Arm des Apoll vom Belvedere als redend



[Die monumentale Marmorstatue in den Vatikanischen Museen wurde kurz vor 1500 in der Nähe von Rom gefunden und gelangte wenig später in den Belvedere-Hof des Vatikan, nach dem sie ihren Namen hat. Vor allem durch Johann Joachim Winckelmann, der in ihr „das höchste Ideal der Kunst unter allen Werken des Altertums“ erblickte, erlangte die Die Schönheit des Armes (1893)

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zu verstehen und Reconstructionen des Zusammenhanges dieser Figur mit anderen oder sonstige Erklärungen derselben sind unbedingt zu verwerfen, wenn sie nicht mit dieser deutlich lesbaren Sprache übereinstimmen. Daß diese so ausdrucksvolle Stellung auch unter den so geistvoll ersonnenen Ges­ ten im Abendmahl des Lionardo eine bedeutungsvolle Rolle spielt, kann nicht wundernehmen. Auch hier, wie überall, ist die zeichnerische Durchbildung genau entsprechend der Naturform. Ausnahmen davon sind spärlich und schwer aufzutreiben. Ein seltenes aber auffälliges Beispiel eines geometrisch gerade ausgestreckten Armes findet sich zu Arezzo, wo in dem Bilde der HerakliusSchlacht von Piero della Francesca ein zu Boden gestürzter Krieger mit steif ausgestreckter Rechten um Schonung seines Lebens fleht.10 Diese, nichts weniger als schöne Steifigkeit ist aber auch bei Piero della Francesca ein Ausnahmsfall, neben welchem in demselben Freskencyklus die scharfausgeprägte Zickzackform ganz naturalistisch durchgebildet vorkommt an dem offenbar nach einem Modell gezeichneten Kranken, an welchem die Wunderthätigkeit des Kreuzes erprobt wird, und ebenso an der jammernden Eva bei der Bestattung Adams. Am häufigsten kommen noch solche geometrischen Geradrichtungen vor in Lehrwerken über menschliche Proportion, offenbar um einfacher messen zu können, so auch in Schadows „Polyclet“11, untermischt mit natürlich richtigen Zeichnungen. Diese wenigen Ausnahmen sind also derart, daß sie die Regel bestätigen. Kunsthistorisch hält also

Statue Weltruhm. Erst später erkannte man, dass es sich um eine römische, wohl zur Zeit Hadrians (117–138 n. Chr.) gefertigte Kopie nach einem verlorenen griechischen Bronze­ original, vermutlich aus der Zeit um 330 v. Chr., handelt. Möglicherweise ist der Apoll vom Belvedere mit einer in antiken Quellen genannten Apollo-Statue des berühmten Bild­ hauers Leochares im Heiligtum des Apollon Patroos an der Athener Agora identisch.]   [„Das letzte Abendmahl“, das Leonardo da Vinci um 1495–1497 mit Öltempera auf den trockenen Putz des Refektoriums von S. Maria delle Grazie in Mailand malte, gehört zu den bedeutendsten und bekanntesten Werken der abendländischen Malerei. Neben der strengen zentralperspektivischen Komposition, in der die zwölf Apostel annähernd symmetrisch in Dreiergruppen um die Mittelfigur Christi gruppiert sind, war das Werk aufgrund der bis dahin beispiellosen Differenzierung von Physiognomien und Gesten wie der psychologischen Charakterisierung jeder einzelnen Figur richtungsweisend.] 10 [Das Schlachtenbild gehört zum 1452–1466 im Chor von S. Francesco in Arezzo entstandenen Freskenzyklus „Legende des Heiligen Kreuzes“. Die genannte Figur mit der gestreckten Rechten kniet links im Vordergrund.] 11 [Schadow, Gottfried: Polyclet oder von den Maassen des Menschen nach dem Geschlechte und Alter. Mit einem Atlas von 30 Tafeln. Berlin: Amster & Ruthart 1866.]

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dieser Lehrsatz die Probe nicht aus, merkwürdig ist aber dabei noch folgender Widerstreit: Während beim Arm, wo es verstandesmäßig nothwendig scheint, ein wenig zu reguliren, die Künstler der Natur folgen, sind sie an anderen Stellen, wo man diese Nothwendigkeit nicht so zu Tage liegen hat, wieder mit der Naturform höchst souverän umgesprungen, wie z.B. bei der Bildung des sogen. griechischen Profils, bei der Bildung der Hüftenformen und anderem. Brücke hat sich bemüht, diese Abweichungen von der Naturform als eine Auswahl schönster Modelle darzustellen bei etwa ehemals auch schönerer Race, und hat hiezu sehr interessante Fälle gesammelt und erklärt. Trotzdem würde der Gegenbeweis, nämlich, daß hier wirklich Maßregelungen der Naturform vorliegen, nicht schwer fallen. Da man bei der Übereinstimmung aller Künstler in diesem heiklen Widerstreit offenbar annehmen muß, daß sie wieder ihrerseits einer naturnothwendigen Schönheitsempfindung folgen, so steht man vor der Nöthigung: hievon, wie von einer physiologischen Thatsache, die Erklärung zu suchen. Ein Mittel hiezu bietet die Erklärung der besprochenen Unregelmäßigkeit des Armes als ein praktisch Nothwendiges, so zwar, daß diese einen Bestandtheil seiner innersten Wesenheit ausmacht, ohne welche er ein verfehltes unbrauchbares Instrument vorstellen würde. Gelingt es, dies nachzuweisen, so kann und muß angenommen werden, daß eine so tief in unsrer Natur wurzelnde Nothwendigkeit, auch ohne Definition durch dürre Worte, bloß unbewußt empfindungsmäßig Wohlbehagen erzeugen kann, wenn das Kunstwerk damit übereinstimmt, und Mißbehagen, wenn es nicht damit übereinstimmt. Eine bloß anatomische Erklärung12 würde hier nichts nützen, denn wenn man den schiefen Ansatz des Unterarmes an den Oberarm nur dadurch erklären wollte, daß man auf die Schiefstellung der Rolle im Ellenbogengelenk verweist, so hätte man dadurch nur gesagt: „der Vorderarm steht gegen den Oberarm schief, weil er an denselben schief angesetzt ist;“ man hätte nur einen Theil einer Gesammterscheinung durch einen anderen Theil derselben zu begründen gesucht. Nicht um den bloß anatomischen Befund handelt es sich hier, sondern um den Nützlichkeitsgrund desselben, also um die sogenannte teleologische Erklärung. Um diese zu geben, muß aber ein wenig weiter ausgeholt werden.

12 [Camillo Sitte, der in den Wintersemestern 1871/72 und 1872/73 in Wien Anatomie studierte, arbeitete auch an einem anatomischen Atlas für Künstler, der nie vollendet wurde. Zu den vorbereitenden Zeichnungen hierzu siehe S. 422–427 in diesem Bd.] Die Schönheit des Armes (1893)

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Man lege die Hand leicht auf den Tisch und bewege dann die bequem gestreckten Finger tastend hin und her, bald wie auf dem Tische trommelnd, bald sie fächerförmig auseinanderspreizend und wieder zusammenziehend; so wird man finden, daß die Vorderarmmuskulatur nur sehr schwach dabei in Mitthätigkeit kommt und bei vielen dieser Bewegungen gar nicht. Man kann dies deutlich wahrnehmen durch Auflegen der anderen Hand auf den muskulösen Theil des Vorderarmes. In diesem Falle steht die Hand im Dienste des Tastsinnes und jeder Finger entspricht, so zu sagen, einem Fühlhorn oder Fühlfaden. Die freieste nach allen Seiten herumtastende Beweglichkeit der Finger, welche großentheils durch die vielen kleinen Muskelchen des Handtellers selbst hervorgebracht wird, ist hiebei der alleinige Zweck, zu einem gänzlich anderen Wesen aber wird die Hand sofort, wenn sie als Werkzeug, als Waffe, als Organ des Greifens und Festhaltens zu dienen hat. Man halte den einen Arm gerade vorwärts und bilde eine kräftig drückende Faust, so wird man dabei mit der anderen Hand das mächtige Arbeiten der Vorderarmmuskel fühlen und dasselbe auch deutlich sehen können. Damit hängen aber noch eine Menge anderer Erscheinungen zusammen, von denen man sich die wichtigsten einzeln klar machen muß. Also Eines nach dem Andern; zuerst die Finger, dann der Daumen und zuletzt der Arm. Hat man vorher beobachtet, wie man bei gerade ausgestreckten Fingern dieselben leicht fächerförmig auseinander spreizen kann, so versuche man jetzt dasselbe, während man die Finger zur Faust eingekrümmt hat. Es geht nicht, auch bei stärkster Willenskraft nicht, ja selbst bei Anwendung von Gewalt fühlt man, daß sie sich eher verrenken als auseinander biegen lassen. In der Stellung der Faust sind alle vier Finger zu einer einzigen festen Waffe aneinander gefügt, ein einziges kräftiges Zangenstück und das Tasten hat nun aufgehört mitbestimmend zu sein. Nun bewege man den Daumen wie um eine in der Hand gehaltene Kugel herum, bis in die Nähe des kleinen Fingers und beobachte dabei seine eigenartige stetige Drehung um seine eigene Längenachse. Man wird dabei sehen, wie er sich dabei genau so dreht, daß der Daumennagel stets nach außen gekehrt bleibt und der innere gegen den Druck durch eine förmliche Auspolsterung geschützte Theil sich stets dem zu fassenden Gegenstande zukehrt. Der Daumen wird so zum zweckmäßig bewegten zweiten Theil dieser starken lebendigen Greifzange. Nun noch die Stellung des Armes bei Ausübung des Greifens, Schlagens oder sonstigen Arbeitens. Man nehme einen Hammer und mache bei gerader senkrechter Haltung des Oberkörpers die Bewegung des Schlagens nach verschiedenen Richtungen hin, so wird man bemerken, daß dies am kräftigsten und sichersten gelingt in der

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Richtung von oben nach abwärts, auch noch in der Richtung von innen nach außen, aber steif und unsicher in der umgekehrten Richtung von außen nach innen, d.i. bei Auswärtsdrehung des Daumens. Die Auswärtsdrehung stimmt nicht zusammen mit der Thätigkeit des Drückens, Schlagens oder Greifens. Noch deutlicher wird dies, wenn man sich mit den Armen frei schwebend an einem Ast oder der Stange eines Turnapparats halten will; am deutlichsten aber, wenn man gegen einen solchen Aufhängepunkt springt, um ihn während des Sprunges zu ergreifen. Da ist es gar nicht anders möglich, als daß die greifende Hohlhandfläche sich nach vorwärts in der Richtung des Sehens und Springens dem zu ergreifenden Gegenstand zuwendet. Alle diese Stellungen ergeben vermöge der Richtung des Sehens und Handelns stets eine Einwärtsdrehung des Daumens als nothwendige Begleiterscheinung und dem schloß sich die Bildung der Natur an, indem sie im allgemeinen die Greifmuskel zugleich als Einwärtsdreher formte und die Streckmuskel, welche die Faust wieder öffnen, den ergriffenen Gegenstand wieder fahren lassen, zugleich als Auswärtsdreher. Die Einwärtsdrehung kommt also der Hand zu im Zustande der Thätigkeit, wenn sie ihrem Lebenszwecke dient, während die Auswärtsdrehung dem Zustande der Abspannung entspricht.

So weit vorgedrungen in der Beobachtung der sinnigen Wege und Absich-

ten der Natur fühlt man sich wie von Geisterhand auf die Schulter getupft, und der Geist Darwins mahnt uns an alle die Offenbarungen seines Forschens über das große Räthsel des Werdens und Lebens. Noch weit mehr als uns selbst müssen diese zusammenwirkenden Eigenheiten des Armes unsern frühesten Vorfahren schon von stetem Vortheile gewesen sein, und hierin liegt der Grund ihrer Bildung, ihres Werdens. Bei der Einwärtsdrehung der Hand aber wird unter Einem, vermöge der Kreuzung der beiden Vorderarmknochen, auch der zickzackförmige Axenbruch des Armes aufgehoben und die Last des Körpers hängt daran wie an einem geraden, straff gespannten Seil. Das ist es denn, worauf es ankommt, und diese Stellung ist die natürliche thätige Normalstellung. Von dieser ist die anatomische Normalstellung der Lehrbücher nur ein unvermeidliches Nebenproduct und daher stammt also die Schiefstellung des Vorderarms bei Auswärtsdrehung, die schräge Lage der Gelenksrolle und alle übrige Unregelmäßigkeit in geometrischem Sinne. Die Einsicht in die tiefe Naturnothwendigkeit des ganzen Zusammenhanges läßt nun keinen Zweifel mehr bestehen, warum diese Form der künstlerischen Naturempfindung auch so tief eingeprägt ist. Das Wesen der künstlerischen Idealisirung von Naturformen ist aber hiedurch noch nicht hinlänglich klar gestellt; es wäre denn, daß sich alle die scheinbar verschiedenartigen Formen Die Schönheit des Armes (1893)

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der Idealisierung auf einen gemeinsamen Typus zurückführen ließen. Dies ist auch thatsächlich der Fall. Das griechische Profil ist zwar eine Abweichung von der Naturform, aber nur in Bezug der Darstellungsmittel, nicht im Effect; die abweichende Hüftenbildung und Anderes, sowie vor allem die abweichende Proportionalität in so vielen Stücken liegt aber, wie hier allerdings im Detail nicht mehr nachgewiesen werden kann, stets in derjenigen Richtung, in welcher die menschliche Gestalt aus der Thiergestalt heraus weitergebildet, veredelt erscheint. Alle diese Idealbildungen liegen also auf dem Wege, auf der eigensten Fährte der Natur, und nur deßhalb vertragen wir sie, gerade deßhalb sind sie für uns schön; einen Verstoß gegen die Nothwendigkeiten und Triebe der Natur vertragen wir aber nicht, auch der äußerste Idealist nicht; denn gerade dieser ist, auf der Höhe seines Könnens angelangt, zugleich auch der größte Realist. So stellt sich also die genauer überprüfte Theorie schließlich in volle Übereinstimmung zur Praxis der Kunst und man sieht deutlich, daß es in diesem Punkte nicht angeht, eine Maßregelung der Natur vorzunehmen im Sinne bloß geometrisch-ornamentaler Regelmäßigkeit, was ja ohnehin von vornherein schon bedenklich erscheinen mußte.

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Ein stiller Mann der Wissenschaft (1897) Neues Wiener Tagblatt, 12. Mai 1897, S. 1–3. Mit geringfügigen handschriftlichen Eintragungen. Sign. SN: 171–140/1. Nachruf Camillo Sittes auf seinen Schwager, den Germanisten Ludwig Blume (1846–1897).

Im Jahre 1874 erschien in Wien eine Gustav Freytag gewidmete gelehrte Abhandlung, welche, bei uns ziemlich unbekannt, in den Fachblättern Deutschlands, wie „Germania“, „Blätter für literarische Unterhaltung“ ec., als völlig neue Richtungen einschlagend besprochen wurde; aber in Frankreich in der „Revue Critique“ und selbst in Tagesblättern mit mehr als kühl wissenschaftlichem Interesse, man kann sagen, mit einer gewissen Leidenschaftlichkeit aufgenommen wurde. Ein Erfolg, der vor Allem den Verfasser höchlich verwunderte, denn er war ein stiller, unendlich freundlich wohlwollender Gelehrter, der seiner kritisch-historischen Lebensarbeit mit poetischer, schwärmerischer Stimmung nachging, aber ohne jede Neigung zu politischer Gereiztheit.

Die aus rein idealer Begeisterung nur für die Sache selbst entstandene

Arbeit führt den Titel: „Das Ideal des Helden und des Weibes bei Homer mit Rücksicht auf das deutsche Alterthum“ von Professor Ludwig Blume.



[Ludwig Blume (1846–1897), Schwager Camillo Sittes, studierte in Wien und Berlin Geschichte, Geographie und Deutsch. Von 1872–1897 unterrichtete er am Akademischen Gymnasium in Wien.]



[Germania. Vierteljahrsschrift für deutsche Alterthumskunde, 1856 von dem Germanisten Franz Pfeiffer gegründet. Das Buch von Ludwig Blume (Das Ideal des Helden und des Weibes bei Homer mit Rücksicht auf das deutsche Alterthum. Wien: Hölder 1874) von Joseph Strobl wohlwollend rezensiert (1876, Bd. 21, S. 117–118).]



[Die Blätter für literarische Unterhaltung, die das 1818 von August Friedrich Kotzebue gegründete Literarische Wochenblatt weiterführen, wurden ab Juli 1826 bis 1898 von Heinrich Brockhaus u.a. herausgegeben. Darin erschienen – zumeist anonym – Rezensionen, Anzeigen, Zusammenfassungen von Zeitschriftenbeiträgen und Aufsätze zu diversen kulturellen Themen. Heinrich Rückert würdigt in seiner Sammelrezension Blumes Werk, der das Thema erstmals selbständig behandelt habe: Rückert, Heinrich: „Zur altdeutschen Weltanschauung, Geschichte und Dichtung“, in: Blätter für literarische Unterhaltung, Bd. 2 (1875), S. 747–749.]



[Revue critique d’histoire et de littérature, N. S. Bd. 1 (1876), S. 109–110. Die anonym verfasste Rezension kritisiert u.a. Blumes suggestive Arbeitsweise und die deutschnationale Ausrichtung des Themas.]



[Blume, Ludwig: Das Ideal des Helden und des Weibes bei Homer mit Rücksicht auf das deutsche Alterthum. Wien: Hölder 1874.] Ein stiller Mann der Wissenschaft (1897)

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Es war die erste Probe eines umfassend geplanten Werkes über deutsche Ethik aus der deutschen Dichtung von den ältesten Resten germanischer ­Literatur bis auf die neuesten Schöpfungen unserer Tage. Der Autor hatte dabei zunächst germanistische Zwecke im Auge, aber die treibende Kraft des Ganzen war der Gedanke, daß die deutsche Literatur und Kunst in allen ihren Zweigen, Musik, Malerei und Plastik inbegriffen, zu höchster Leistungsfähigkeit sich nur emporschwingen könne, wenn sie von einer großen volksthümlichen Stimmung und Grundanschauung getragen werde. Gerade dieser im Werke selbst vorläufig noch verborgen gehaltene Gedanke wurde nur von den französischen Kritikern herausgefühlt und gerade das wirkte aufreizend bei der Anfang der Siebzigerjahre vorhandenen Stimmung. Es wurde dem Autor germanischer Größenwahn vorgeworfen und die rein ideale Abhandlung als ein Zeichen nationalen Hochmuths bezeichnet. Ein Zeugniß ihres bedeutenden Werthes; ein Zeugniß, daß ihr Grundgedanke wirklich über das Maß gewöhnlicher literarischer Erscheinungen hinausging. Ganz richtig wurde erkannt, daß die homerischen Gedichte dabei eigentlich die Nebensache sind und daß die Heroen- und Frauengestalten der Ilias und Odyssee nur heraufbeschworen wurden, um den ethischen Kern der Helden- und Frauengestalten der altdeutschen Dichtung, also der Edda, des



[Der griechische Dichter Homer lebte im 8. Jahrhundert v. Chr. im ionischen Kleinasien. In der Philologie lange als fiktive Persönlichkeit angesehen, gilt er heute wieder als historische Person. Die ihm nach der antiken Tradition zugeschriebenen Epen Ilias und Odysee, in die bis ins 2. Jahrtausend zurückreichende, mündlich tradierte Vorformen eingegangen sind, stehen am Beginn der großen epischen Dichtungen des Abendlandes. Die beiden Epen umfassen zusammen 28.000 Hexameter in jeweils 24 Büchern und sind in einer Kunstsprache verfasst. Im Mittelalter trat das Interesse an Homer hinter dem an Vergil zurück. Bahnbrechend für die Homer-Renaissance wurde England (Übersetzungen von George Chapman, 1598–1616 und Alexander Pope, 1725–1726). Für die deutsche Rezeptionsgeschichte waren besonders die Übersetzungen von Johann Heinrich Voß – 1781 die Odysee, 1793 die Ilias – von nachhaltigem Einfluss.]



[„Edda“ ist die Bezeichnung zweier Werke der altisländischen Literatur, der Snorra-Edda oder Prosa-Edda und der Poetischen- oder Lieder-Edda. Die Snorra-Edda, von Snorri Sturluson zwischen 1220 und 1230 verfasst und in Handschriften des 13. und 14. Jahrhunderts überliefert, ist ein Lehrbuch für junge Skalden (altnordische Dichter), die daraus die Umschreibungen und die verschiedenen Versarten lernen sollten. Da die Umschreibungen vielfach der Mythologie entnommen sind, beginnt die Snorra-Edda mit einer Darstellung der altnordischen Mythologie. Die Lieder-Edda, eine Sammlung von etwa 30 Liedern aus

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Niebelungenliedes, des Beowulf und des Walthari-Liedes10 ec. herauszuschälen und so recht hell und leuchtend vor Augen zu stellen. Dabei wird auch das den beiden Völkern Gemeinsame hinreichend gewürdigt und nicht vergessen, auch die Lichtseiten der griechischen Frauen und Heldengestalten mit gebührender Bewunderung hervorzuheben, ihre innige Freundschaft und Liebe, ihr leidenschaftliches Zusammenhalten, die treue Gastfreundschaft und alle die kindliche Natürlichkeit, die schon so oft gepriesen und anerkennend mitempfunden wurde; aber das Originelle und Mythologie und Heldensage, ist im Codex Regius, einer Handschrift der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts, überliefert. Als man sie im 17. Jahrhundert wieder fand, wurde sie dem Sæmundr Sigfússion, einem isländischen Gelehrten des 11./12. Jahrhunderts, zugeschrieben und „Edda“ genannt, weil man sie für die Vorlage der Snorra-Edda hielt. Die Lieder stammen vorwiegend aus der Wikingerzeit, dem 8.–11. Jahrhundert. Manche sind schon von der kontinentalen Balladenform des 12. Jahrhunderts beeinflusst. Von den Heldenliedern zeigen die Lieder des Nibelungenstoffes (das „Alte Atlilied“, die „Sigurd“- und „Gudrunlieder“) gelegentlich Spuren deutscher Vorlagen. Die Eddalieder sind im Unterschied zur kunstvollen Skaldendichtung zwar dichterisch gehoben, aber in volkstümlicher Sprache verfasst.]   [Das „Nibelungenlied“, das im deutschsprachigen Mittelalter sehr bekannt und verbreitet war, ist ein mittelhochdeutsches Heldenepos, dessen Entstehungsgeschichte in das heroische Zeitalter der germanischen Völkerwanderung zurückreicht. Die überlieferte Form dürfte vermutlich im Umfeld des Bischofs Wolfger von Passau (1191–1204) – Gönner auch des Walther von der Vogelweide – entstanden sein. Das Nibelungenlied besteht aus zwei ursprünglich getrennten Hauptteilen: Siegfrieds Werbung um Kriemhild und sein Tod; und der Untergang der Burgunder am Hof König Etzels. Die Schweizer Johann Jakob Bodmer und Johann Jakob Breitinger haben das Werk Mitte des 18. Jahrhunderts wieder in den Blickpunkt der literarischen Öffentlichkeit gerückt; Christian Heinrich Müller besorgte 1784 die Erstausgabe. Mit der Romanik und ihrer Verklärung des Mittelalters setzte ein breites Interesse am Nibelungenlied ein, das im 19. Jahrhundert den Rang eines deutschen Nationalepos erlangte.]   [„Beowulf“, ein nach seinem Helden benanntes episches Gedicht, ist das bedeutendste erhaltene Einzelwerk des angelsächsischen Sprachraums, dessen Entstehungsgeschichte wohl bis in die 1. Hälfte des 8. Jahrhunderts zurückreicht. Das einzige überlieferte Exemplar des Manuskripts dürfte um 1000 entstanden sein. Den Hauptinhalt bilden zwei Abenteuer des Helden, der in seiner Jugend im Dänenland das Ungeheuer Grendel und dessen Mutter erschlägt und 50 Jahre später im Kampf gegen einen Drachen fällt. Das Gedicht vermischt nordische und lateinische Vorbilder zu einer Art christlichem Fürstenspiegel.] 10 [Die mittelalterliche lateinische Heldendichtung „Walthari poesis“ stammt möglicherweise von dem 973 verstorbenen Benediktinermönch Ekkehart I. aus St. Gallen. Sie erzählt die Geschichte des Königssohns Walther von Aquitanien und seiner Verlobten Hildegund von Burgund, die als Geiseln Attilas am Hunnenhof aufwachsen. Auf der gemeinsamen Flucht zurück nach Aquitanien besteht Walther zahlreiche Einzelkämpfe.] Ein stiller Mann der Wissenschaft (1897)

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Entscheidende gerade in Bezug auf die vorliegende Absicht beruht nicht darin, sondern in der literarisch ungewohnten Vorzeigung der wesentlichen Unterschiede zwischen dem Charakter der nordischen und der südländischen Helden, und hierin fällt das Urtheil allerdings sehr zu Ungunsten des weichen, lebensfrohen, mit allen Fibern seines Daseins an den Freuden des Lebens und daher am Leben selbst hängenden griechischen Helden aus, der nur kämpft aus peinlicher Nothwendigkeit, aber wahrhaftig keine Freude daran hat, während der nordische Held in der Bethätigung des Kampfes erst die ganze Vollkraft seiner Existenz jubelnd zur Erscheinung bringt.

Wenn dies klarzulegen als nationaler Hochmuth bezeichnet wurde, so

wurde hiemit die innerste Triebfeder der ganzen Arbeit aber dennoch verkannt, denn nicht sich zu sonnen in der Beschauung der eigenen Vortrefflichkeit ist der Zweck des Unternehmens, sondern zunächst die Ethik auf die eigene nationale Basis zu stellen und dadurch den Dichter und Künstler von der akademischen Copie der Alten zu befreien und der Pflege des eigenen Volksthums mit Bewußtsein entgegenzuführen, das ist der Zweck der Arbeit. Sie steht daher auch in einem zielbewußten Gegensatze zu den ästhetischen und künstlerischen Dogmen Lessing’s und seiner Zeit, dem es als ein Mißgriff vermerkt wird, wenn er unsere Vorfahren mit Berserkern zusammenwirft und ihnen unnatürliche Verbeißung des Schmerzes nachsagt. Allerdings weine der Grieche öfter als der Germane, aber in den meisten Fällen würde es Letzterer auch thun, wenn auch mit etwas mehr Fassung als der Grieche. Aus Angst oder statt zu kämpfen, weint der Germane allerdings nicht, wie es der Grieche thut. (Od. 11, 527 und Il. I, 13, 86 ff.)

Daß der Held der griechischen Dichtung neben dem der altgermanischen

gar so sehr abfällt, dies zu zeigen ist ja auch nicht der Zweck der Arbeit; aber wenn man diese fesselnde Reihe von Beispielen sich vorführen sieht, begreift man, daß es das drastischeste Mittel war, den altgermanischen Helden in seiner ethischen Eigenart klarzustellen.

Nur Einiges sei hier zur Probe vorgeführt.



Im 13. Gesange der Iliade heißt es: „Weithin starrte die Schlacht, die vertilgende, rauh von Lanzen, Lang emporgestreckten, zerfleischenden; und dem Gesicht war Blendend der eherne Glanz von der Helme besonnetem Spiegel, Neugeglättetem Panzergeschmeid’ und leuchtenden Schilden. Als sie sich nahten zum Kampf. Der müßt’ ein entschlossener Mann sein, Welcher mit Lust dort sähe die Arbeit und unerschüttert.“

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Eine ähnliche Stelle in den Nibelungen, da Siegfried, und zwar allein, das

Sachsenheer erblickt, lautet: „Da sah er das Heer, das große, das auf dem Felde lag Viel größer als das seine in ungefüger Menge; Es waren wohl vierzigtausend oder noch viel mehr. Siegfried in hohem Muthe sah viel fröhlich das.“ Damit man aber ja nicht glaube, nur Siegfried käme eine solche Unerschrockenheit zu, wird gleich ein paar Strophen später die Kampfesfreude der Burgunder überhaupt hervorgehoben. Der Grieche dagegen wägt seine Kräfte gegen die des Feindes ängstlich vor dem Kampfe ab und tritt zurück oder heißt den Freund zurücktreten, wenn er sich dem Gegner nicht gewachsen glaubt.

Befreundete Helden werden von gefährlichen Unternehmungen zu-

rückzuhalten gesucht. So Menelaos11 von Agamemnon. Beim Anblicke eines überlegenen Gegners zagen die Helden, auch die tapfersten; nicht nur Paris vor Menelaos, sondern auch Hector vor Aias12 und sogar von Achilles wird erzählt, er habe Hector anzugehen gestutzt! Ebenso bebt Diomedes vor Hector, Idomeneus vor Aeneas u.s.w.

Die Verzagtheit der Helden tritt bei jeder Gefahr in Erscheinung und er-

zeugt ein mitleiderregendes Schwanken zwischen Ehrgefühl und Feigheit. „Schimpflich war’s, zu weigern und anzunehmen gefahrvoll“ sagt der Dichter selbst bei einer solchen Gelegenheit, wo der Entschluß zum Nachgeben aus Eitelkeit und zum Kämpfen aus Feigheit nicht gefunden werden konnte.

Die Flucht zu ergreifen, was dem Germanen nebst der Feigheit als aller-

größter Schimpf gilt, wird bei Homer mit Erfolg und einer gewissen Vorliebe zur Anwendung gebracht. Nicht nur die Tactik, sondern selbst die Kampfweise im Einzelnen rechnet damit, denn es ist üblich, aus der Schlachtreihe hervorzuspringen, eine Lanze auf den Feind zu schleudern und sogleich hinter die bergende Schlachtreihe wieder zurückzuspringen.

11 [Die nachfolgenden Namen entstammen Homers Ilias bzw. Vergils Aeneis.] 12 [Gemeint ist hier Ajax.] Ein stiller Mann der Wissenschaft (1897)

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Alle griechischen und trojischen Helden fliehen irgend einmal, nur Achil-

les nicht, weil von diesem größten griechischen Helden geraume Zeit nichts zu erzählen ist; ein Mann wie Paris flieht dagegen schon v o r dem Kampfe, sobald er Menelaos nur sieht. Auch Hektor flieht mit den Ersten des Kampfes, Menelaos, Ajas, Idomeneus, kurz Jeder, denn: „Furcht erfüllte das Herz ihm.“ Ja, selbst Ares flieht im fünften Gesange; der Kriegsgott heiligt die Flucht! Selbst Massenflucht des Heeres kommt häufig vor, denn: „Furcht verscheucht sie Alle“ und Agamemnon steht nicht an, sogar b e i N a c h t von Troja wegzufliehen: „Nicht ja Tadel verdient’s, der Gefahr zu entrinnen. Bei Nacht auch. Besser, wer fliehend entrann der Gefahr, als wen sie ereilte.“ Im geeigneten Momente auszureißen, gehört eben eingestandenermaßen zur Kampfmethode des griechischen Helden: „Jeglicher schauet umher, zu entfliehen dem grausen Verderben.“ Aus dieser Wurzel der überwiegenden Lust am Leben und der Sorge es zu erhalten, erklären sich dann auch alle übrigen besonderen Merkmale des griechischen Helden. Er sieht im Gegner immer nur den elenden Feind, der ihm dieses kostbarste aller Güter rauben will; er haßt ihn daher aus tiefster Seele; während der Germane in ihm einen edelsten Helden erkennt, den zu übertreffen im Wettstreite der Tapferkeit seinen höchsten Ruhm bedeuten würde.

Während also der homerische Held sich vor dem Kampfe in Schmähreden

gegen seinen Feind ergeht bis zu: „Trunkenbold mit dem Blick des Hundes“ und dergleichen, wozu noch allerlei Drohungen kommen und sonstige Aufstachelungen der Kampflust, wie Aussicht auf Beute und Belohnung aller Art, während er in jauchzenden Jubel bei dessen Tod ausbricht, seinen Leichnam sogar noch schändet in unersättlichem Haß; die Gefangenen mißhandelt und Achilles sogar sein Rachegefühl nicht einmal so weit zu bändigen vermag, um den bittersten Hohn gegen den greisen, ehrwürdigen Priamos zu unterdrücken, so ehrt der germanische Held seinen Gegner schon vor Beginn des Kampfes durch Lobreden auf seine Berühmtheit, seine Untadeligkeit,

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wenn es aber in den Kampf gehen muß, liebt er es überhaupt nicht, viel zu schwätzen − „sam diu alten wîp“. Tief ergreifend ist aber die Trauer über den erschlagenen Gegner und die hohe Ehrung des Gefallenen. So fügt Waltharius den erschlagenen Feinden das abgeschlagene Haupt an den Rumpf und dieser Beweis der Pietät gegen die Feindesleiche, in irgend einer Weise ausgedrückt, ist geradezu ein nothwendiger Bestandtheil der altgermanischen Heldengesänge. Das ist nicht blutrünstiges Berserkerthum, das ist gleichfalls reine Menschlichkeit; ist auch lebenswarme Naturschilderung wie bei Homer, nur eben von einem anderen Gesichtspunkte aus. Ehre und Lebenslust werden im Heldenleben auf der Schneide des Schwertes gewogen.

Die griechische Lebensanschauung, deren Kunst die Darstellung des Schö-

nen ist, deren Ideal der schöne Mensch ist, gibt der Lebenslust den ersten Preis.

Die germanische Lebens- und Weltanschauung, deren Kunst die Darstel-

lung des Großen ist, deren Ideal der starke Mensch ist, gibt der Ehre den ersten Preis.

Eine möglichst scharfe Auseinanderhaltung dieser Gegensätze ist uner-

läßlich, wenn wir unser eigenes Volksthum verstehen wollen, wenn wir nicht stets irrend umhertasten wollen in unserem eigenen Kunstschaffen. Von diesem Standpunkte aus sind derlei ethische Untersuchungen von höchster, einschneidendster Wichtigkeit für die Formung unseres modernen socialen Lebens, für die Schaffung unserer modernen Kunst. Von diesem Grundgedanken aus ist L. Blume an die wissenschaftliche Arbeit seines Lebens, an die Herausschälung deutscher Ethik aus der deutschen Dichtung gegangen.

Eine zweite Probe seiner Funde gab er in der gleichfalls kurzen, aber herr-

lichen Arbeit über den Iwein des Hartmann von der Aue13; also eine Probe aus der zweiten Periode des Blühens deutscher Dichtkunst. Auch hierin ist es ihm gelungen, den inneren Zusammenhalt aller dieser scheinbar lose

13 [Blume, Ludwig: Über den Iwein des Hartmann von der Aue. Vorgetragen im Vereine Mittelschule am 13. April 1878. Wien: Selbstverlag des Vereins Mittelschule 1878. Hartmann von der Aue (gestorben um 1210/20), ein klösterlich gebildeter, alemannischer Ministeriale, der wahrscheinlich 1189–1190 am Kreuzzug teilnahm, ist der früheste der drei großen epischen Dichter der Stauferzeit. Er schrieb zuerst eine Minnelehre in Form eines Streitgesprächs, dann den Erec, die erste klassische Gestaltung des höfischen Lebensideals und führte die Stoff- und Motivwelt des Artuskreises in Deutschland ein. Nach den Verserzählungen Gregorius und Der arme Heinrich kehrte Hartmann von der Aue mit dem Iwein – ein Gegentypus des Artusritters Erec – wieder zum Themenkreis der höfisch-ritterlichen Welt zurück.] Ein stiller Mann der Wissenschaft (1897)

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­verbundenen Abenteuer in meisterhafter Weise bloßzulegen, rein ethisch und volksthümlich, ohne in irgend eine der Schrullen gelehrter Auslegungen zu verfallen, wie sie bei Mythenerklärungen üblich sind; eine Arbeit, die sich daher ungemein erfrischend liest und die Vorstellung von diesem schönen alten Gedicht nicht nur klärt, sondern wesentlich höher hebt. Blume war eben ganz einzig dazu wie von der Natur geschaffen, solche schwierige Probleme zu lösen. Seine liebevolle Hingebung, sein reiner wissenschaftlicher Ernst und eine seltene Unermüdlichkeit im Durchforschen seines Stoffes, im stets erneuertem Abwägen der Ansichten für und dawider, das geschickte Finden stets neuer Gesichtspunkte, das waren die so selten vereinigten Eigenschaften, die ihn befähigten, seine Aufgabe zu lösen. Ein schmerzlicher Verlust ist es daher nicht nur für seinen Freundeskreis, sondern für alle Gleichstrebenden und für Wissenschaft und Kunst überhaupt, daß es ihm nicht vergönnt war, sein groß gedachtes Werk zu vollenden. Eine ganze Bibliothek von Quellenmateriale und einen überreichen Schatz von Excerpten und Merkzetteln hat er im Laufe der Jahre um sich aufgesammelt − aber das Schicksal schenkte ihm nicht die hinreichende Dauer eines langen Lebens. Montag den 10., vormittags, hielt dem zu früh Dahingeschiedenen Professor Zitkowsky in der Aula des akademischen Gymnasiums, dessen Professor Blume war, eine tief ergreifende Gedächtnißrede vor Abhaltung des Requiems für ihn. Gerade deshalb aber, weil der Meister selbst sein Werk unvollendet verlassen mußte; weil dies aber keine Arbeit ist, die nur ihn allein freute und angenehm beschäftigte, sondern weil es sich hier um die Lösung einer Frage von allgemeiner Wichtigkeit handelt, um ein Werk, das nicht unvollendet bleiben darf, weil es die deutsche Culturwelt einfach braucht, gerade deshalb ist es nothwendig, die Absicht des Ganzen zu schildern, damit etwa jüngere Kräfte in die Lücke eintreten und die Forschung überallhin weiterführen. Blume selbst widmete sich alsbald dem Studium unserer neueren classischen Literaturperiode, also vor Allem dem Goethe-Studium. Auch hier fand er eine Fülle von neuen Erklärungen und Beziehungen, wie ein Hellsehender, der er auch war, kraft seines eigenartigen Grundgedankens, von dem aus er an Alles herantrat. So entstand eine höchst originelle und merkwürdige Ausgabe von Goethe’s Gedichten14 unter seinen Händen, eine Sammlung von

14 [Blume, Ludwig/Goethe, Johann Wolfgang von: Goethes Gedichte. Auswahl in chronologischer Folge mit Anleitung und Anmerkungen (= Graesers Schulausgaben classischer Werke, Bd. 44/45). Wien: Graeser 1892.]

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ganz besonderer Auswahl, Anordnung und Erklärung, so daß Goethe an der Hand gerade dieser Sammlung, wie neu belebt vor uns steht und tiefer mit uns verwachsen; wir sehen ihn nämlich von ungewohnter Seite her, als echt nationalen Dichter. Die Sammlung ist auch streng chronologisch geordnet, wozu vielfache Detailstudien erforderlich waren und der Grundgedanke jedes Stückes auf den Punkt seiner Entstehung zurückgeführt, so daß die Ausgabe auch nach dieser Richtung eine Fülle von Einzeluntersuchungen bietet. Seine Ausgabe des „Egmont“15 ist zwar für die Schule bestimmt, geht aber ebenso weit über deren nächste Zwecke hinaus weil sie gleichfalls der Triebkraft des leitenden großen Grundgedankens ihre Kraft und Eigenart verdankt. Nach dem ursprünglich gefaßten Plan sollte die Erklärung der Dichtungen von Richard Wagner den Schluß des Ganzen bilden. In der bunten Reihe der Erscheinungen sollte das Ideal des Helden und das Ideal des Weibes nach deutscher Sinnesart und Kunst erklärt werden, es sollte gezeigt werden, daß auch hier ein ewiger Born des Schönen und Erhabenen fließt; daß nur durch richtige Erfassung der nationalen Eigenart es möglich ist, höchste Ziele der Kunst zu stellen und in ihr zu erreichen. Nach diesem Programm zerfiel die Arbeit immer in zwei Theile, und um auch noch eine Vorstellung von der eigenartigen Auffassung des weiblichen Ideals zu geben, sei zum Schlusse dem Autor selbst das Wort gelassen. Er sagt: „Die Lebensfreude, die Heiterkeit des Daseins tritt dem Griechen gleichsam verkörpert im Weibe entgegen. Man ist beinahe versucht zu sagen, das Grundprincip der griechischen Lebensanschauung sei im Weibe, das des Germanen im Manne repräsentirt, und das griechische Heldenideal sei von den vornehmlich durch das Weib vertretenen Motiven in ähnlicher Weise beeinflußt, wie das weibliche Ideal der Germanen etwas Heldenmäßiges in sich hat. Auch das Weib sollte bei den Germanen an der Kampfesfreude, die wenigstens im heroischen Zeitalter im Mittelpunkte der nationalen Lebensanschauung stand, theilnehmen. Aus dieser Auffassung ging das hehre Ideal der W a l k ü r e hervor, das, wie die deutschen Frauennamen beweisen, tief im germanischen Volksbewußtsein wurzelte. Wenn die Griechin dagegen sozusagen weiblicher erscheint als die Germanin, so fehlen ihr gerade in einer Richtung gewisse Eigenschaften, die wir heute noch bei unsern Frauen als 15 [Blume, Ludwig: Goethes Egmont. Ein Trauerspiel. Mit Einleitung und Anmerkungen (= Graesers Schulausgaben classischer Werke, Bd. 29). Wien: Graeser 1889. ] Ein stiller Mann der Wissenschaft (1897)

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vorzugsweise weibliche Tugenden verehren. Und diese Tugenden sind ein Erbtheil der Walkürennatur des deutschen Weibes. Das deutsche Weib, das vor keiner Wunde zurückschreckte, ist die natürliche Ärztin und Pflegerin des verwundeten Kriegers. So war es bei uns im Alterthume und so ist es noch heute. Ich finde aber im ganzen Homer nicht ein Beispiel, daß die so geschickte und rührige Griechin dem Verwundeten Heilung und Pflege brächte. So hätten wir auch beim germanischen Weibe einen schönen Grundzug seiner Eigenart auf die eigenthümliche germanische Auffassung des Kampfes zurückgeführt.“ In diesem Sinne waren ihm die Idealgestalten aus den Dichtungen von Goethe und von Richard Wagner ein Gegenstand steter Betrachtung. Ganz besonders angethan hatten es ihm aber die beiden frischen Försterstöchter aus dem Freischütz,16 die sentimentale Blonde einerseits und ihre walkürenhafte Freundin anderseits. Auch eine reiche Sammlung von musikalischen Einkleidungen und bildlichen Darstellungen beschäftigte seine stets vergleichenden und abwägenden Gedanken; die bloße Absteckung des Arbeitsfeldes, wie sie hier zu geben versucht wurde, zeigt aber hinlänglich, welch’ ein schönes fruchtbares Feld da bebaut wurde und es ist somit hoffentlich die Annahme gerechtfertigt, daß es diesem Boden nicht an weiterer Pflege und schönen Früchten fehlen wird. Sie werden stets mit dem Andenken an L. Blume und seine grundlegenden Arbeiten verknüpft sein.

16 [Die Oper Freischütz von Carl Maria von Webern wurde am 18. September 1821 in Berlin uraufgeführt.]

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Über die Bemalung figuraler Plastik im griechischen Alterthume (1898) Separatabdruck aus der Festschrift für Otto Benndorf  zu seinem 60. Geburtstag. Wien: Hölder 1898, S. 301–306. Mit geringfügigen Eintragungen in Blaustift. Schlussvignette mit Darstellung eines antiken Vasenfragments handschriftlich gestrichen. Sign. SN: 195–474.

Die Frage nach der Färbungsart antiker Plastik gehört zu den schwierigeren, aber zugleich interessanteren und für die Kunst unserer Zeit lehrreichsten. Als bisheriges Ergebniss der Untersuchung kann gelten, dass der Nachahmung der Naturfarbe hier kein so breiter Spielraum gewährt wurde wie in der eigentlichen Malerei. Die mehr architektonisch-decorative Behandlung duldete hier keinen Naturalismus; dieser wäre ja auch mit der Gesammtwirkung des architektonischen Aufbaues und seiner streng schematischen Farbgebung in Widerspruch gerathen. Daher die vielen, ja hinlänglich bekannten Beispiele von üppig roth gefärbten oder gar vergoldeten Haaren, ja selbst gänzlich vergoldeten oder sogar roth gestrichenen Figuren; die so häufige Anwendung verschiedenfarbiger Marmore, sonstiger edler Steine und Bronzen, das Einsetzen von Augen aus Edelsteinen, die Verwendung von Emailflüssen zur Gewand- und Waffenzier etc. bis hinan zu der kostbaren und herrlichen Steigerung des grossen, so beliebten Gold-Elfenbeinbildes. Ganz besondere und wohl berechtigte Anregung zu allerlei Annahmen hat die berühmte Stelle in Plinius (XXXV, 11, 44) gegeben, welche besagt,



[Friedrich August Otto Benndorf (1838–1907) gründete 1898 das Österreichische Archäologische Institut und war bis 1907 dessen Direktor.]



[Mit seinem Beitrag greift Camillo Sitte ein um die Jahrhundertwende virulentes und bis heute aktuell gebliebenes Forschungsthema auf: die Frage nach der Polychromie antiker Statuen. Johann Joachim Winckelmann (1717–1768) und die Ästhetik der Klassizisten prägten nachhaltig unsere Vorstellung einer weiß schimmernden Antike. Doch schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts bemerkten Archäologen an den neu ausgegrabenen Skulpturen und Architekturteilen Farbreste. Frühe Versuche, die antike Polychromie wiederauferstehen zu lassen, wurden von wissenschaftlichen Untersuchungen begleitet. Von Bedeutung war u.a. die Programmschrift von Georg Treu (1843–1921), Gründer des Albertinums in Dresden, mit dem Titel: Sollen wir unsere Statuen bemalen? Berlin: R. Oppenheim 1884.]



[C. Plinius Secundus (23–79 n. Chr.) war Offizier, Staatsmann, der Vertraute römischer ­Kaiser, Universalgelehrter und Schriftsteller. Von den zahlreichen Schriften des älteren Plinius sind nur die 37 Bücher seiner Naturalis Historia erhalten. Diese Enzyklopädie des gesamten naturkundlichen Wissens des Altertums wurde aus hunderten von griechischen Über die Bemalung figuraler Plastik im griechischen Alterthume (1898)

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dass Praxiteles diejenigen seiner Statuen am höchsten schätzte, an welche der Maler Nikias die Hand angelegt hatte. Der zunächst hier befremdend auffallende Umstand, dass überhaupt ein Maler ersten Ranges sich zur blossen Staffirung einer Figur hergegeben habe, kam bald ausser Betracht durch die Erwägung, dass auch zur Zeit höchs­ ter Kunstblüthe im 15. und 16. Jahrhunderte solches vorkam, und dass in der ganzen gothischen Periode die Polychromirung geschnitzter Altarwerke von ersten Malern nicht verschmäht wurde. Weitaus schwieriger gestaltet sich dagegen der Nachweis, worin die Überlegenheit des Nikias bestanden haben mag, und dieses soll Gegenstand der folgenden Untersuchung sein. Zahlreiche gelegentliche Vermuthungen, wie die, dass Nikias einen besonderen Firniss gehabt habe, der einen milden, angenehmen Glanz über das Ganze verbreitet habe, sind kaum der Erwähnung werth. Was der in solchen Dingen ohnehin nicht schwerwiegende Lucian in seinem Dialog „Die Bilder“ sagt: „Woher sollen wir aber die Farbe nehmen zu den herrlichen Bildwerken; woher die Schwärze des Haares und der Augenbrauen, die Röthe der Wangen und der Lippen, die zarte, nicht allzu weisse Hautfarbe des Körpers? Woher anders als von den Meistern unter den Malern, von Polygnot, Apelles, Euphranor und Aëtion?“ ist doch nur rhetorische Phrase.

und römischen Texten zusammengetragen und ist nach Fachgruppen geordnet. Die Bände 33–37 umfassen Ausführungen zur Metallurgie, Mineralogie und Kunstgeschichte.] 

[Praxiteles (4. Jhd. v. Chr.). Griechischer Bildhauer, neben Skopas der Hauptmeister des klassischen Stils der Mitte des 4. Jahrhunderts, dessen Werk eine virtuose Naturnachahmung mit illusionistischen Effekten zeigt. Berühmt ist seine „Aphrodite von Knidos“, die als Vorbild aller nackten Aphroditen in hellenistischer Zeit gelten kann sowie sein 1877 in Olympia aufgefundener „Hermes“.]



[Nikias (2. Hälfte des 4. Jhd. v. Chr.). Griechischer Maler aus Athen. Er war in der Antike berühmt als Bemaler von Marmorstatuen und Meister der Enkaustik (antike Maltechnik mit wachsgebundener Farbe). Er war bekannt für Reiter- und Seeschlachten wie auch für Frauen- und Jünglingsdarstellungen. In einigen römischen Wandmalereien glaubt man Nachbildungen seiner Werke zu besitzen (Wandgemälde „Jo und Argos“, Rom Palatin; „Andromeda und Perseus“, Pompeji, heute Neapel, Museo Nationale).]



[Lukian von Samosta, griechischer Schriftsteller (geb. in Samosata am Euphrat um 120 n. Chr., gestorben nach 180). Er kritisierte in Dialogen, Erzählungen und Briefen mit Satire, Parodie und Ironie die Gebrechen seiner Zeit: den religiösen Wahn, die Bedeutungslosigkeit der Philosophen und Literaten, die Eitelkeit der Rhetoren und die Leichtgläubigkeit des Publikums. Das Textzitat entstammt dem Dialog „Panthea, oder die Bilder“ (Gespräch

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Das Eine ist sicher, dass hier die Bezeugung eines Unterschiedes zwischen der gewöhnlichen handwerksmässigen Arbeit und einer davon abweichenden künstlerisch empfundenen Leistung vorliegt. Und wenn selbst, was sogar wahrscheinlich ist, die Stelle bei Plinius nicht auf wirklicher Tradition beruht, sondern nur unter die Gattung der so ungeheuer überwuchernden Kunstanekdoten gehört, so muss es dennoch einen solchen Unterschied zwischen lebendiger Künstlerleistung und blosser Handwerksarbeit gegeben haben. Dieser Unterschied zwischen hartem Anstrich und wohlgefällig weicher Bemalung wird fühlbar bei bemalten tanagräischen Terracotten und Ähnlichem, ganz besonders aber bei den herrlichen Sidonischen Sarkophagen und gleichfalls wohlgefällig, wenn auch ganz anderer Art, ist der Eindruck guter vergoldeter und bemalter Altarwerke des Mittelalters. Aber wehe, wenn diese restaurirt werden! Wie die lieblichen Geister ­eines schönen Traumes entflieht die zauberische Wirkung selbst durch blosse Ausbesserung abgeschabter Stellen, durch blosse Auffrischung der Farben, durch noch so zurückhaltende Reinigung und Belebung durch neuen Firniss­ überzug. Alle Harmonie zerstört! all die herrliche Wirkung dahin! Jeder Alterthumsfreund kennt diesen traurigen Umschlag, und dies bewirkt, dass es heute sogar bei Neuherstellungen eine Methode des sogenannten „Altmachens“ gibt. Staub und Spinnweben werden künstlich aufgetragen, die hohen Stellen absichtlich mit Raspeln und Glaspapier abgescheuert bis auf den Kreidegrund, bis auf den Holzkern; die Vergoldung unbarmherzig theils abgeschabt, theils mit allerlei Lasuren gedämpft und dies Alles so lange, bis die wohlthuende Harmonie der blos vom Zahne der Zeit zusammengestimmten Alterthümer erreicht ist. Kann nun dieses Verfahren des Einlassens und wieder Abscheuerns, wie man es heute selbst an Marmorstatuen übt, zur Zeit des Praxiteles schon geübt worden sein? Möglich wäre es, weil man in dieser Zeit alte Werke schon schätzte und nachahmte, ja vielleicht für den aufkeimenden Antikhandel bereits zu fälschen angefangen hat; entschieden unwahrscheinlich aber, weil man zu allen Zeiten solche Künsteleien einem monumentalen Kunstwerke gegenüber für unwürdig gehalten hat.

zwischen Polystratos und Lykinos). Lukian/Floerke, Hanns: Lukian, Sämtliche Werke, Bd. 3. Leipzig: Georg Müller 1911, S. 97.] Über die Bemalung figuraler Plastik im griechischen Alterthume (1898)

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Es gibt aber noch eine andere Methode, feine, lebendige Wirkungen zu erzielen. Nach dieser müssen die Haupttöne stilistisch gewählt und aller Naturalismus dabei vermieden werden; jeder einzelne Ton, z.B. der eines rothen Gewandes, wird aber nicht blos eintönig angestrichen, sondern derart in zahlreichen Abschattirungen aufgetragen, dass an derjenigen Seite, an welcher dieses Gewand gegen lichtere Nachbartheile grenzt, der dunklere Ton angebracht wird und der lichtere dort, wo sich das Roth von einem noch dunkleren Nachbarton abzuheben hat. Dies hat zu geschehen, wenn die Stelle in ihrer Gesammtheit scharfe Deutlichkeit der Grenzen fordert; wenn aber das Gegentheil, nämlich ein Ineinanderfliessen verschiedener Farben zu einer grösseren gleichdunklen Masse erwünscht ist, dann muss das gerade entgegengesetzte Verfahren eintreten. Ob das Eine oder das Andere im gegebenen Falle eine bessere Wirkung ergibt, lässt sich nicht durch Regeln vorschreiben, sondern hängt genau so wie bei der Tafelmalerei vom Geschmack des Künstlers ab, und zu einer solchen Staffirung wäre dann allerdings ein vollendeter Meister der Tafelmalerei erforderlich. Aber noch mehr. Alle Farben, besonders gebrochene, werden durch ihre Nachbarfarben auch im Tone scheinbar verändert. Ein und dasselbe Grau oder Braun bekommt neben üppigem Roth einen grünlichen Stich, neben scharfem Grün einen röthlichen. Diese subjectiven Beimischungen fremder Töne wirken gelegentlich ganz gut, häufig aber verderben sie die Wirkung, was wiederum nur der feinfühlige Künstler richtig empfindet und durch zarte Lasuren beseitigt. Ferner wirkt auch die gleichmässige Reinheit eines Farbentones nicht zuverlässig weich und angenehm und muss hie und da ein Übergang zu einer gedämpfteren Abtönung gewählt werden, was besonders bei grossen Flächen nöthig ist, weil diese in grellen, reinen Tönen zu brutal wirken, während umgekehrt kleine Flächen in abgestumpften Tönen, besonders von grösserer Entfernung gesehen, undeutlich stumpf wirken und daher in der Regel nicht scharf genug im Ton gehalten werden können. Schliesslich hebt kräftige Färbung auch die Körperlichkeit der plastischen Rundung theilweise auf, weshalb diejenigen nicht ganz Unrecht haben, welche überhaupt der unbemalten Plastik vor der bemalten den Vorzug geben. Aber auch das hat nur dann seine Richtigkeit, wenn die Bemalung ohne künstlerisches Verständniss durchgeführt ist. Wenn aber die Bemalung nicht nur der Plastik entgegenkommt, sondern sogar derselben nachhilft, indem alle Vertiefungen, z.B. die tiefen Furchen des Faltenwurfes dunkler getönt werden, die hervorragenden Stellen aber lichter, so fällt auch dieser

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­Übelstand weg, und die Farbe, als treue Dienerin der Plastik, erhöht noch deren eigenste Wirkung. Wenn es sich also darum handelt, eine Vorstellung zu bekommen von der höchsten Stufe griechischer Figurenbemalung, so frägt es sich: ob sich von den oben aufgezählten Färbekünsten auch in der That Spuren in der griechischen Kunst finden lassen. Ganz im Allgemeinen kann diese Frage mit einem entschiedenen Ja beant­wortet werden; denn nicht nur geht das fein empfundene Ausgleichen schädlicher Contrastwirkungen in einer einzig dastehenden Stetigkeit sogar auch durch die Werke der altgriechischen Architektur, wie dies hinlänglich die Verjüngung und Schwellung der Säulen, deren Schiefstellung, die Curvaturen der Gebälke, allerlei Feinheiten in der Profilirung etc. beweisen, sondern auch in allen Resten classischer Malerei lassen sich die obigen Regeln als beobachtet deutlich erkennen. Wenn dies nun in der Wand- und Tafelmalerei so ist; wenn dies überhaupt dem Genius altgriechischer Kunst entspricht; wenn endlich Tafelmaler ersten Ranges es nicht verschmähten, auch Figuren zu staffiren; wie sollten sie da bei dieser Gelegenheit nicht auf derselben Fährte geblieben sein? Von entscheidendem Werthe, wenn auch vorläufig nur für eine theoretische Lösung der Frage, ist zunächst die Prüfung der wenigen erhaltenen Reste figuraler Bemalung nach dieser Richtung. Auch sie bestätigen die gemachte Annahme wenigstens im Principe. Der Grundsatz der Stilisirung durch theilweise Nichtbemalung, also Belassung des rein plastischen Gesammteindruckes, der zweifellos für die Blüthezeit griechischer Kunst feststeht, lässt sich zurück verfolgen bis zur Gigantomachie des alten Athenatempels der Akropolis aus der Zeit des Pisistratus (s. Athen. Mitth. 1897). An diesem frühen monumentalen Marmorwerke blieben die grossen Flächen des Nackten und der Gewänder unbemalt. Der Grundsatz stilistischer Wahl und Anordnung der Farben, hauptsächlich Blau und Roth wie bei der Architektur ist so allgemein gebräuchlich und auffallend, dass Erinnerung an Beispiele nicht nöthig erscheint.



[Peisistratos von Athen (ca. 607–528 v. Chr.), griechischer Politiker, der durch Staatsstreiche mehrmals in Athen an die Macht kam. Schrader, Hans: „Die Gigantomachie aus dem Giebel des alten Athenatempels auf der Akropolis“, in: Mittheilungen des Deutschen Archäologischen Instituts. Athenische Abteilung (ab Jg. 11 (1886) auch unter dem Titel: Mittheilungen des kaiserlich deutschen archäologischen Instituts), Bd. 22 (1897), S. 59–112.] Über die Bemalung figuraler Plastik im griechischen Alterthume (1898)

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Der Grundsatz der Heraushebung der Begrenzungen liegt bereits deutlich ausgeprägt vor an der altattischen Grabstele des Lyseas (s. S. Löschcke, Alt­ attische Grabstelen, Athen. Mitth. IV, 36 ff.), wo der Contour besonders breit gezogen ist an den Stellen, wo der dunkle Chiton an den rothen Grund stösst, ein Verfahren, das, wie Löschcke ganz richtig hervorhebt, vollständig dem Gebrauche der rothfigurigen Vasen entspricht, zwischen dem schwarzen Grunde und den schwarzen Haaren einen hellen Contour auszusparen. Der Grundsatz der Unterstützung plastischer Modellirung durch die Farbe ist bestätigt durch die Bemalung der Athena Parthenos, wie R. Lange (Athen. Mitth. V, 377 ff.) mitgetheilt hat, bei welcher das Roth nur in den vertieften Haarlinien des Helmbusches angebracht wurde, und zwar entschieden nicht zufällig, sondern absichtlich zur schärferen Heraushebung der Plastik. Der Grundsatz des Abtönens grösserer farbiger Flächen lässt sich bisher allerdings nur an den erhaltenen Wandmalereien und Mosaiken erkennen, aber gerade dieses Abtönen wurde schon mehrfach sogar als selbstverständlich angenommen, besonders bei den Elfenbeinflächen der chryselephantinen Werke.10 Von geradezu packender Wirkung ist die ganz eigenartige Bemalung der kleinen Schlangenköpfe von dem sehr alten Typhongiebel der Akropolis von Athen. An diesem sind die üblichen kräftigen Farben alle vorhanden, aber nur in kleinen Flächen, wodurch eine lebendig schillernde Wirkung zu Stande kommt, ganz ähnlich derjenigen moderner punktistischer Bilder. Ähnlich vertheilt sind Roth, Blau, Weiss am Leibe Echidna, und der Schlangenleib des Typhon zeigt Blau und Roth in den Streifen, Weiss und Schwarz in den Schuppen; die Schwungfedern der Flügel sind in den oberen Reihen abwechselnd weiss und roth, in den unteren weiss und blau. Es zeigt sich also im Grossen derselbe Vorgang beibehalten wie im Kleinen bei den Schlangenköpfen. Ein merkwürdiges Werk von höchst eigenartiger Wirkung.

  [Lysias, attischer Redner (um 445 v. Chr. – nach 380 v. Chr.), von dem 35 Reden erhalten sind; besonders bedeutend die gegen Eratosthenes. Die Stele, die einen Mann in reifem Alter im Priestergewand zeigt, befindet sich im Nationalmuseum in Athen. Löschke, Georg: „Altattische Grabstelen“, in: Mittheilungen des Deutschen Archäologischen Instituts. Athenische Abteilung, Bd. 4 (1879), S. 36–44; S. 289–306.]   [Lange, Konrad: „Die Athena Parthenos“, in: Mittheilungen des Deutschen Archäologischen Instituts. Athenische Abteilung, Bd. 5 (1880), S. 370–379.] 10 [Chryselephantin (von griech. chrysos, „Gold“ und elephantinos, „aus Elfenbein“), Bezeichnung für die aus Elfenbein und Goldblech gefertigten, altgriechischen Statuen.]

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Die anderen ebenfalls vorpersischen Poros-Sculpturen11 Athens enthalten hinreichende Farbspuren, um zu sehen, dass hier eine feste einheimische Schule vorliegt, nach deren Grundsätzen viel und lange gearbeitet wurde. Der Vorgang, mit bunter Strichelung eine lebendige und feine Wirkung zu erzielen, hat sich übrigens stetig erhalten und vervollkommt. So sind auch die Rücken und Köpfe der Schlangen an der Ägis der Athena aus der schon erwähnten Gegantomachie mit rothen Strichen und Tupfen belebt, und die Vorliebe, Waffen und Gewänder nur mit Linien, Punkten, Rosetten, Saumlinien und Streifenmustern farbig zu zieren und ebenso an den Ziergliedern der Architektur die Farben fein vertheilt nach Massgabe ornamentaler Motive anzubringen, beherrscht eigentlich die gesammte griechische Farbengebung. Stellt man sich nun ein so bemaltes Bildwerk recht lebhaft vor und versucht man aus diesem Phantasiebild das Räumliche auszuschneiden und nur die farbige Flächenwirkung festzuhalten, so hat man etwas vor sich, wie altgriechische Teppichmalerei ausgesehen haben mag, sei es in der uralten Knüpftechnik oder in irgend einer anderen. Zweifellos sind die noch heute angefertigten indischen Stoffe und persischen Teppiche in Technik und Wirkung dieser altgriechischen stilistischen Farbengebung vielfach ähnlich. Auch hier wird die in Europa unerreichte Weichheit und der starke sinnliche Farbenreiz dadurch erzielt, dass jede einzelne Farbe, abgesehen von dem an sich wohlgefälligen Naturton, nur in verschiedenen Abtönungen vorkommt, während unsere Fabrikschemiker einen blinden Stolz darein setzen, mathematisch gleichwerthige Töne zu erzeugen, wodurch allein schon der Gefrierpunkt künstlerischen Effects erreicht wird. Auch im Gebrauch der Farben nebeneinander setzt der Orientale heute noch zu dunkelblauen Flächen hellblaue Ränder, zu lichtrothen dunkle und umgekehrt. Noch näher als diese orientalische Farbenkunst steht der altgriechischen die byzantinische, und zwar ganz besonders auf dem Gebiete des Textilen. Die wenigen byzantinischen Reste farbig gezierter Gewänder zeigen farbige Ränder und allerlei farbige Ornamenteneinsätze, die im Wesentlichen stark an die aus altgriechischen Vasenbildern bekannten Gewandverzierungen erinnern, wenngleich im Laufe der Zeit sich da Vieles im Einzelnen geändert hat.

11 [Poros, Kalkstein, in Griechenland und auf den ägäischen Inseln allgemein verbreitet. Wurde in der Antike als Baumaterial und in der Frühzeit (Athen, Akropolis) auch als Statuenmaterial verwendet.] Über die Bemalung figuraler Plastik im griechischen Alterthume (1898)

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Das grosse Kunstwerk auf der Akropolis von Athen wird man in Bezug auf farbige Architektur und Plastik im Verhältnisse zu modernen Versuchen sich wohl so vorstellen dürfen wie einen kostbaren altpersischen Teppich neben einer europäischen Fabrikswaare. Es müsste eine entzückende Aufgabe sein, ein solches Werk neu schaffen zu können, wenn unsere Zeit nicht zu kahl wäre, um an so etwas auch nur zu denken. Nur in der Phantasie lässt sich diese Herrlichkeit wieder aufbauen, und diese lässt uns die Giebelsculpturen und Metopenbilder in gleichartigem Farbenschimmer erglänzen nach denselben Grundsätzen wie die sie tragende und umrahmende Architektur.

Ob nun Nikias oder ein Anderer den Höhepunkt hierin erreicht hat, ist

gleichgültig gegenüber der Erkenntnis, dass die gesamte griechische Kunst stetig diesem Ziele zustrebte, es auch erreichte, und dass die Formel dieses Schaffens noch heute sich erkennen lässt. Die endgültige Probe der Richtigkeit dieses Erkennens kann aber nicht durch Vermehrung von Resten erbracht werden, die immer nur ein Stückwerk bleiben werden, was eine letzte Entscheidung da nicht bringen kann, wo die Harmonie des Ganzen allein das letzte Wort sprechen kann, also ein praktischer Versuch.

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Die Moderne in der Architektur und im Kunstgewerbe Beitrag zur Diskussion im Österr. Ingenieur- und Architekten-Vereine am 6. Jänner (1899) Sonder-Abdruck aus der Zeitschrift des Österreichischen Ingenieur- und Architekten-Vereines, Nr. 11. Wien: R. Spies & Co. 1899. Mit Eintragungen in Blaustift. Sign. SN: 174−357/1.

„Hochansehnliche Versammlung! Auch ich will nicht persönlich werden, sondern nur historisch, und zwar aus dem Grunde, weil ich eine Kleinigkeit mit besten Kräften und mit bestem Willen auch in dieser wichtigen Sache beitragen zu können hoffe. Ich erinnere mich bei diesem Streben an die Zeit vor jetzt 50 Jahren, wo unser Verein gegründet worden ist − wir werden ja demnächst das Jubiläum dieser Gründung feiern − und das war merkwürdiger Weise eine Zeit, welche ebenso und in demselben Sinne bewegt war, wie heute, und zwar aus denselben Gründen. Damals war die Architektenschaft von Wien ebenso leidenschaftlich erregt und vielleicht noch mehr als heute im Punkte der Stylfrage, und damals, wo unter dem kunstsinnigen Ministerium T h u n die Welle der Kunstbewegung auch in den höchsten Kreisen durchgeschlagen hat und wirklich ein lebendiges geistiges Streben durch ganz Wien gegangen ist, ist die Bewegung gegründet worden, die heute schon erwähnt worden ist.

Der ganze Kampf hat damals begonnen mit begeisterter Schwärmerei für

einen neuen Styl, für einen Styl unserer Zeit, der unmöglich das Gewand der alten Stylgattungen tragen könne. Es sind damals geradezu wörtlich dieselben Schlagworte, wie heute, gefallen, und man hat damals gekämpft gegen den obersten Hofbaurath sachlich, und persönlich gegen den Hofbaurath S p r e n g e r . 

[Mit seinem Referat, das Camillo Sitte am 9. Januar 1899 im Rahmen einer Diskussionsveranstaltung im Österreichischen Ingenieur- und Architektenverein hielt, antwortete er auf einen am 3. Dezember 1898 von Baurat Franz von Neumann gehaltenen Vortrag über „Die Moderne in der Architektur und im Kunstgewerbe“ (publiziert in: Zeitschrift des Österreichischen Ingenieur- und Architekten-Vereines, (1899), Nr. 10, S. 145–149). Bei der Diskussionsveranstaltung im Januar 1899 sprachen u.a. auch Baurat Julius Deininger, Architekt Karl Theodor Bach, Baurat von Pelser-Berensberg, Architekt Oskar Marmorek und Architekt Hermann Helmer, deren Beiträge – gleich demjenigen Camillo Sittes – ebenfalls in der Zeitschrift des Österreichischen Ingenieur- und Architekten-Vereines, (1899), Nr. 10, S. 149–151; Nr. 11, S. 161–168 (hier das Referat Camillo Sittes, S. 166–167) und Nr. 12, S. 184–189 abgedruckt wurden.]



[Paul Sprenger (1798–1854), k. k. Hofbaurat, gilt als bedeutendster Vertreter des Klassizismus in Österreich und als wichtiger Vorläufer der funktionalistischen Architektur. Er studierte bei Peter von Nobile an der Wiener Akademie, wurde 1828 dort selbst Lehrer Die Moderne in der Architektur und im Kunstgewerbe (1899)

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Das Regiment des obersten Hofbaurathes war also der unmittelbare Vorläufer der Periode, welche das Schlachtgeschrei hatte: „Einen neuen Z u k u n f t s s t y l wollen wir; wir wollen den neuen Zug unserer Zeit; unseres Herzens“. Nun sollte der neue Styl gemacht werden, und da er sich nicht aus dem Ärmel beuteln ließ, so wurde etwas Anderes daraus, es wurde das daraus, was man später als Eklekticismus bezeichnet hat. Das berühmteste Denkmal dieser Periode ist der Nordbahnhof, der aus 20% Barock, 20% Renais­sance, 20% Gothik, 20% Romanisch, 20% Naturalismus besteht. Nachdem die ersten Früchte aus dieser Periode vorlagen, hat man gefunden, dass die an sie geknüpften Hoffnungen nicht erfüllt worden waren. Man hatte geglaubt, dass, wenn man das Schönste aus der Gothik, das Schönste aus den maurischen und noch anderen Stylen nimmt und mit einander mischt, das ziffernmäßig ausgedrückt, fortmultiplicirt eine Million von Effect erzielen wird, und nun hat man das Gegentheil gesehen, dass nämlich der Effect vermindert wird und dass die Ursache davon das Mischen war; denn die 20% Gothik konnten nicht zur Geltung kommen, weil sie durch die 20% des maurischen Styls umgebracht wurden und umgekehrt. Deshalb ist aus dieser Erkenntnis ein D o g m a hervorgegangen, und zwar von der R e i n h e i t d e s S t y l e s . Während der ganzen Sechzigerjahre bestand das Schlagwort von der Reinheit des Styles. Kein einziges fremdes Element darf dazu kommen, hieß es. In dieser Periode wurden bekanntlich alle Style der Reihe nach „wiederbelebt“, die letzten allerdings nur mehr cursorisch, weil die Begeisterung für dieses Nachempfinden bereits zu erkalten anfing.

Mit dem Interesse an der Stylreinheit verschwand zugleich die Scheu vor

dem frischen, fröhlichen Mischen, und so geriethen wir neuerdings in eine Periode von Eklekticismus und, nachdem dieser zum zweitenmale sich als

und 1842 Leiter des Hofbauamtes, in dessen Funktion er mit allen größeren staatlichen Bauaufträgen betraut wurde. Zu seinen bedeutendsten Wiener Bauten zählen das Hauptmünzamt (1835–1838), das Hauptzollamt (1840–1844), die ehemalige Finanzlandesdirektion (1842–1847), das Hofkammerarchiv (1843–1844), die Niederländische Landesregierung (1846–1847) und die Altlerchenfelder Kirche (1848, nur bis zur Sockelhöhe). Sprengers klassizistischer Entwurf für die Altlerchenfelder Kirche wurde bei der jüngeren Architektengeneration, die eine Orientierung an der mittelalterlichen Formensprache forderte, zum Auslöser einer heftig geführten Stildiskussion. In deren Folge wurde der Bau nach neuen Entwürfen Johann Georg Müllers (1822–1849) im Sinn eines romantischen Historismus weitergeführt; nach dessen Tod übernahm Franz Sitte, Camillos Vater, die Bauleitung. Die Innenausstattung wurde 1853 Eduard van der Nüll übertragen.] 

[1859–1865 nach Plänen Theodor Hoffmanns erbaut.]

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nicht haltbar erwiesen hat, erschallt wiederum allenthalben der Ruf nach einem neuen Styl unserer Zeit, unserer Gesinnung, unseres Herzens, nach dem Styl der Zukunft. Wenn man sich diese Reihenfolge im Kreise aufschreibt: − Oberster Hofbaurath, Neuer Styl, Eklekticismus, Stylreinheit, Eklekticismus, Neuer Styl, Oberster Hofbaurath − so sieht man deutlich, wie der Ring sich schließt, nur folgte Ende der Vierziger-Jahre der neue Styl als eine Gegenbewegung auf die Verknöcherung der Baurathszeit, während heute umgekehrt wieder der Baurath als Gegengewicht gegen die Verrücktheiten des neuen Styles gewunschen wird. (Allgemeine Heiterkeit.) Ich habe mir das nur als Basis für meine weiteren Untersuchungen hier vorzubringen erlaubt. Es lassen sich nämlich an der Hand dieses Kreislaufes einige Regeln, einige Lehrsätze finden, und wenn man es ehrlich in der Welt weiterbringen will, so muss man in der Geschichte etwas gelernt haben, damit es nicht heißt, man habe nichts gelernt und nichts vergessen. Wir müssen aus dieser Geschichte Nutzen ziehen, und da erlaube ich mir, auf ein Gesetz, welches diese ganze Entwicklung beherrscht hat, aufmerksam zu machen, nämlich so oft eine solche Wendung platzgegriffen hat, hat man jedesmal geglaubt, dass man dadurch den Stein der Weisen gefunden hat. Man hat jedesmal geglaubt, dass das endlich einmal das Richtige ist, und dass das nun für ewige Zeiten halten wird, und gerade das war nicht wahr, und gerade das wird jetzt wieder nicht wahr sein. Das lehrt die Geschichte. Ferner lehrt die Geschichte, dass all Dasjenige, was zu einer bestimmten Zeit in diesem verschiedenen Wandel in der Tageserscheinung als Novität den größten Effect erzielt hat, einerseits die größte Abwehr, andererseits die größte begeisterte Hingabe gefunden hat, dass gerade das im Strome der Zeiten spurlos untergegangen ist, dass dagegen alle diejenigen Dinge, welche dazu beigetragen haben, unser Fach zu heben, in unserem Fache wirkliches Wissen und Können aufzuspeichern, so dass wir heute denn doch − das können wir bei aller Bescheidenheit sagen − höher stehen als damals, wo der Eklekticismus und der neue Styl zum erstenmal erprobt wurden, dass gerade diese Dinge unvermerkt ja meist gänzlich unbeachtet geblieben sind. Wir stehen heute höher als damals zu S p r e n g e r ’ s Zeiten, wir haben in dieser Periode ein Stück Arbeit geleistet und haben wirklich etwas gelernt, und gerade diejenigen Dinge, die wir heute gelernt haben und können, und die in unseren Knochen und in unserem Blute stecken, erscheinen nicht als Tagesphrasen, gerade das, was werthvoll ist und wir uns im Schweiße unseres Angesichtes erworben haben, ist selbstverständlich, man redet nicht davon. Auch in den Zeiten der Antike haben die alten SchriftDie Moderne in der Architektur und im Kunstgewerbe (1899)

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steller nur von demjenigen geredet, was die heutigen Archäologen nicht interessirt, und gerade über das, was die Archäologie erforscht, schweigen die sämmtlichen Schriftsteller, weil das jeder gekonnt hat. Gerade von dem, was groß ist in unserem Können redet Niemand, sondern man redet von dem, was auffällt und was Mode ist, und wenn man den Regeln der Geschichte folgt, so kann man ohne Schwierigkeit prognosticiren, dass das alles mit all’ den Tagesphrasen in einigen Jahren vergehen wird und dass Dank den Talenten, die sich damit bemühen, doch aus all’ den Arbeiten sich etwas Tüchtiges herausbilden wird, und das wird als bleibendes Gut zu dem früheren hinzugefügt. Nun möchte ich noch auf eine Kleinigkeit verweisen. Es wiederholen sich solche Kreisläufe nicht nur in einigen Decennien, sondern in Jahrhunderten und da ist es wiederum eine Erfahrung der Geschichte, dass gerade dasjenige, was man an dem neuen Styl, an dem Styl der Zukunft, als neu hinstellt, nicht neu ist. Ich möchte dafür auch eine historische Probe geben. Vor heute circa 100 Jahren und noch einige Decennien später sind in Wien eine Menge Häuser entstanden, bescheidener Art, aber fein empfunden, und diese findet man leider im Centrum, wo der Verkehr ununterbrochen wogt, nicht mehr, aber in den Vorstädten findet man sie noch. Ihr Façadenstyl characterisirt sich dadurch, dass bei Vermeidung aller Pilaster und Säulenarchitektur sowohl bei Fensterumrahmungen als auch bei den Portalen alle Gliederung und Decoration blos aus Rahmenwerk und allerlei Tafeln besteht. Die damalige Zeit war eben der schulgerechten Pilaster-Architektur bereits überdrüssig geworden, und das ist heute genau ebenso. Ich glaube, wenn man in Wien in den Vororten, wo junge Zeichner für die Baumeister die Façaden erfinden, und die frisch eingelernten Pilasterstellungen anbringen wollen, die Pilaster zusammenzählen wollte, so kämen wir im Nu zu Millionen. Gewisse Motive die immerfort angewendet werden, werden aber eklig, dass man sie nicht mehr vertragen kann. So kommt man dazu, derlei zu verwerfen, und so kommt es, dass die neue Richtung kein ordnungsmäßiges Capitäl mehr verträgt, dass sie demzufolge wieder zu Rahmen-, Latten- und Tafelwerk greift. Sehr beachtenswerth ist, dass dieser Styl in den Dreißiger-Jahren in Wien noch einen eigenen Namen hatte; es hieß diese Art zu decoriren: die Michel-Angeleske Bauweise. Und in der That hat diesen Styl Niemand geringer als der große Meister der italienischen Plastik geschaffen, da er auch grundsätzlich jeder Säule und jedem Pilaster aus dem Wege gegangen ist. In der casa Buonarotti befindet sich

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eine Studie von Michel Angelo zu den Gesimsungen seiner ­Architektur und an diesen Studien sieht man, wie es den gewaltigen Mann tief in der Seele verdrossen hat, dass er dieselben Gesimse machen soll, wie jeder Andere und man sieht deutlich, wie er alle möglichen Varianten durchgegangen ist, mit der Absicht, durchaus etwas Neues zu finden, mit der Absicht, um jeden Preis die schulmäßigen Gebälkformen und Säulenstellungen in Wegfall zu bringen, und auf diesem Wege kam schon dieser Meister zu einer blossen Rahmen- und Tafel-Architektur und gerade seine Art der Lösung ist heute noch die edelste, die schönste. Also auch das ist durchaus nichts Neues. Ich komme nun zum Schlusse. Die Geschichte lehrt, dass gerade die Schlagworte sich immer wiederholen und dass gerade in den Schlagworten nicht des Pudels Kern liegt und dass gerade die Schlagworte nur Journal- und Tagesphrasen sind, wogegen der innere Werth in dem fleissigen aufopfernden Arbeiten und dem wirklichen Talent liegt. Nun komme ich noch zu einer Kleinigkeit, die auch die Geschichte lehrt. Ich habe in meiner Jugend an der Technik mir die Mühe genommen und die damalig existirenden Bauzeitungen auf der Technik-Bibliothek bis in das Jahr 1832 zurückexcerpirt. Damals hat es sich bei dem großen Stylkampf um Architrav und Rundbogen gehandelt und da war der Hauptheros Baurath 

[Sitte bezieht sich hier offenbar auf Michelangelos bekanntes Studienblatt mit Profilskizzen für die Biblioteca Laurentiana, Florenz (Florenz, Casa Buonarotti, 62 Ar.); eine vergleichbare Zeichnung zeigt das Studienblatt mit Gebälkprofilen in Haarlem, Teyler Museum, 20v. Michelangelo galt bereits den Zeitgenossen als Vertreter eines – auf novità, varietà und inventione basierenden – undogmatischen Architekturverständnisses.]



[Eines der wichtigsten Organe war die ab 1836 in Wien erschienene Allgemeine Bauzeitung. Camillo Sitte besuchte – wie in seinem eigenhändigen Curriculum vitae ausgeführt (siehe S. 14, Anm. 15 in diesem Bd.) – ab 1863 die „Collegien der technischen Abtheilung am k.k. polytechnischen Institute in Wien als ordentlicher Hörer durch 6 Semester und absolvierte die obligaten Jahresprüfungen aus: Physik, Zeichnen, Elementarmathematik, höhere Mathematik, darstellender Geometrie, Mechanik und Maschinenlehre, und praktischer Geometrie“. Parallel dazu besuchte er seit Winter 1864/65 Kollegien an der Philosophischen Fakultät der Universität Wien. 1866/67 begann er mit seinem Studium an der Bauschule des Polytechnikums.]



[Mit der Wiederaufnahme historischer Bauformen Anfang des 19. Jahrhunderts entbrannte ein Streit über die diversen Stile (symptomatisch hierfür Schinkels Alternativentwürfe für die Friedrichswerderkirche von 1824/25). Die öffentliche Diskussion über die Frage Architravstil oder Rundbogenstil eröffnete der Karlsruher Architekt Heinrich Hübsch mit seiner 1828 vorgelegten Programmschrift In welchem Style sollen wir bauen? (Karlsruhe: C. F. Müller 1828), ein – mit funktionalistischen Argumenten vorgetragenes – Plädoyer gegen Gräcoklassizismus und für Neubyzantinik und Neuromanik. Der dem Architrav Die Moderne in der Architektur und im Kunstgewerbe (1899)

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S t i e r  und sein Hauptgegner war Professor W o l f ; betheiligt waren noch der Architekt F u c h s und der Ästhetiker E n g e l ; sie wurden, weil ihre Namen an die Symbole der Evangelisten erinnerten: die vier Evangelisten der Architektur genannt.

Wenn man solche alte Jahrgänge der großen Bauzeitungen heute wie-

der vornimmt und damalige Sitzungsbeschlüsse, Congressurtheile u.dgl. liest, wird Einem ganz eigenthümlich zu Muthe. Das ist alles heute unverdaulich und nur lesbar, wenn man sich in die damalige Zeitstimmung versetzen will. konstruktiv überlegene Rundbogen sei – so Hübsch – das Kriterium des neuen Stils, der sich allein vom zeitgenössischen „Nothbehulf-Styl und Lügen-Styl“ zu lösen vermochte. 1833 begann Friedrich Eisenlohr seine Karlsruher Lehrtätigkeit mit einer Rede über den Baustyl der neueren Zeit und seine Stellung im Leben der gegenwärtigen Menschheit. 1834 äußerte sich Gottfried Semper zur stilistischen Vielfalt. Der Stilstreit, der alsbald über die Frage geführt wurde, ob jeder historische Stil für jede zeitgenössische Bauaufgabe heranzuziehen sei und sich in England ab 1835 zu einem battle of styles zuspitzte, erreichte in Deutschland in den 1840er Jahren seinen Höhepunkt. Hier setzte in diesen Jahren eine Historismuskritik ein, die von der Suche nach dem originären Zeitstil begleitet wird. Repräsentativ für diesen Stilstreit sind u.a. die Kontroversen zwischen Rudolf Wiegmann (1804–1865) und Johann Heinrich Wolff (1792–1869) wie zwischen Wilhelm Stier (1799–1856) und Carl Boetticher (1806–1889).] 

[Der königlich preußische Baurat und Architekturschriftsteller Wilhelm Stier (1799–1856) war 1815–1817 Schinkels Schüler an der Berliner Bauakademie, wo er später selbst von 1828 bis zu seinem Tod lehrte. 1831 baute sich Stier ein Wohnhaus im Stil der englischen Gotik, 1854 erhielt er den 1. Preis in der von König Maximilian von Bayern zur Gewinnung eines neuen zeitgemäßen Stils ausgeschriebenen Konkurrenz um das – ebenfalls in gotisierenden Formen entworfene – Maximilianeum. Stier, der sich in den 1840er Jahren mehrfach entschieden gegen eine stilistische Rückorientierung aussprach, plädierte für den Pluralismus als Zeitstil („mannigfache Art und mannigfache Gebilde“), wie von ihm in seiner 1843 auf der Bamberger Architektenversammlung vorgetragenen Analyse der europäischen Architektur ausgeführt wurde.]



[Der Architekt und Architekturschriftsteller Johann Heinrich Wolff (1792–1869) aus Kassel studierte ab 1814 bei Percier in Paris, ging 1816/17 nach Italien, wurde 1819 Assistent bei Johann Carl Bromeis an der Akademie, wo er selbst ab 1832 als Professor lehrte. Wolff war zunächst ein vehementer Gegner der Neuromanik. 1846 unternahm er in einem auf der Gothaer Architektenversammlung gehaltenen Vortrag den Versuch, die verschiedenen Stilparteien zu versöhnen (Boetticher hatte im gleichen Jahr die Vielfalt der stilistischen Orientierungen auf drei unterschiedliche Konzepte reduziert: den griechischen Stil, den gotischen Stil und – als „abenteuerlichsten und ärmsten Gedanken“ – die Synthese aus beiden): „Die Mannigfaltigkeit der Erscheinungen“, „der Reichthum von Gestaltungen“, sei – so Wolff – „ein charakteristisches Merkmal unserer Zeit“.]



[Siehe hierzu besonders die ab 1836 in Wien erschienene Allgemeine Bauzeitung, in der auch der Stilstreit der 1840er Jahre dokumentiert ist.]

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Auch das ist also eine historische Thatsache, dass, wenn man mit verwegener Hand in die Speichen der Zeit greift, dabei die Hand zerschmettert wird, und auf Grund dieser Erfahrung möchte ich die Vereinsgenossen warnen, solche Vereinsbeschlüsse zu fassen, welche stylgeschichtliche Processe hemmen oder fördern oder irgendwie bevormunden sollen. Derlei lässt sich ebensowenig aufhalten oder lenken, wie der Lauf der Gestirne. Sagen wir schlicht und einfach: „Wir in unserem Vereine wollen arbeiten, aber nicht blos Phrasen dreschen; wir wollen Constructionen erproben, Neuerungen bekannt machen, Talente fördern, Übelstände beseitigen, unser Fach zu Ehre und Ansehen bringen; aber nicht stylistische Abenteuer auskämpfen; wir wollen diesen Dingen aus Erkenntnis des historischen Weges freien Lauf lassen, fürchten uns nicht vor der Zukunft und wollen keine ästhetische Censur, keine architektonische Vormundschaft oder Curatelverhängung. „Wenn das in Form eines Vereinsbeschlusses eingekapselt und gedruckt wird, so gehe ich jede Wette ein, dass man uns heute in hundert Jahren darum bewundern wird, denn ein so vernünftiger Beschluss ist noch nie gefasst worden, soweit dies wenigstens die alten Bauzeitungen lehren, auf dem Gebiete des Vereins- und Congresslebens.[“]

Die Moderne in der Architektur und im Kunstgewerbe (1899)

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Brief an Ferdinand von Feldegg (1899) Brief verfasst am 6. Dezember 1899. Abschrift, nicht von Camillo Sittes Hand (oben links handschriftlicher Zusatz: „6. Brief Copie“), mit beigefügter handschriftlicher Tabelle, in der Sitte das Konzept seiner achtbändigen „Universalgeschichte“ erläutert. Sign. SN: 175−364/1 (Brief), 175−364/4 (Tabelle). Abgedruckt in: Mönninger, Michael: Vom Ornament zum Nationalkunstwerk. Zur Kunst- und Architekturtheorie Camillo Sittes. Wiesbaden, Braunschweig: Vieweg 1998, S. 198–200.

An Prof. Ferd. Feldegg! Hochgeehrter Herr Professor! Herzlichsten Dank für Ihren mir sachlich u. persönlich im höchsten Grade werthvollen Brief. Sachlich gestehe ich durch jeden solchen mündl. od. schriftlichen Gedankenaustausch wesentlich gefördert worden zu sein; persönlich ist es mir wertvoll Ihnen nochmals zu sagen, dass ich mich darauf freue, ja eine entschiedene Ungeduld bereits empfinde, Ihre sämmtlichen philos. Arbeiten gründlich durchzuarbeiten; aber wie ich schon einmal gesagt habe, trotz aller bereits vorhandenen Ungeduld, nicht jetzt; sondern unmittelbar vor Verfassung dieses Theiles meiner Arbeit, wenn ich es erlebe. Meine Arbeiten sind wie Sie wissen, stets nur Hilfsarbeiten, Training für meine projectierten national Wagnerisch künstlerischen Arbeiten gewesen.



[Der Architekt, Architekturtheoretiker und Philosoph Ritter Ferdinand Fellner von Feldegg (1855–1936) war Schüler von ‚ an der Wiener Akademie und von 1884–1919 Professor für bautechnische Fächer an der Wiener Staatsgewerbeschule. Er baute u.a. den Jägerhof in Wien, lieferte eine große Reihe kunstgewerblicher Entwürfe und war Redakteur mehrerer Zeitschriften (u.a. Der Architekt). Er verfaßte Monographien über seinen Lehrer Hansen (gemeinsam mit George Niemann: Theophil Hansen und seine Werke. Wien: A. Schroll & Co. 1893) wie über den Wiener Architekten Friedrich Ohmann (Friedrich Ohmann’s Entwürfe und ausgeführte Bauten. Wien: Anton Schroll 1906) und war Autor ästhetisch-philosophischer Schriften. In mehreren Artikeln äußerte er sich zur zeitgenössischen Wiener Architektur; siehe dazu: „Wiens zweite Renaissance“. in: Der Architekt, Jg. 1 (1895), S. 1–2; „Über Grundlagen modernen Empfindens“, in: Der Architekt, Jg. 6 (1900), S. 11–13; „Der Kampf um die Moderne“, in: Der Architekt, Jg. 9 (1903), S. 23–24; „Über innere Grundlagen moderner Architekturauffassung“, in: Bericht über den VIII. internationalen Architekten–Kongress. Wien 1908, Wien: Anton Schroll 1909, S. 442–450.]



[Ferdinand Fellner von Feldegg verfaßte u.a. folgende philosophische Abhandlungen: Gefühl als Fundament der Weltordnung. Wien: Alfred Hölder 1890; Grundlegung einer Kosmobiologie. Wien: Alfred Hölder 1891; Das psychologische Hauptproblem in seiner heutigen Phase. Wien 1892.]

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Camillo Sitte – Schriften zu Kunsttheorie und Kunstgeschichte

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Dass sich das Alles immer mehr zu geschlossenen Gruppen ausgewachsen hat, ja zuletzt zu einem completen philos. System (schrecklich!!!) wurde mir selbst erst nach u. nach klar, das Letztere erst jetzt u.zw. so wie es aus Beiliegendem zu sehen. Nach diesem nunmehr sich ebenfalls ringförmig schliessenden Zusammenhang von Anschauungen ist das ununterbrochene Werden zugleich ein stetes Wachsen, eine stete Urzeugung. Durch unbewusste Urzeugung ist das Organische in die früher unorganische Welt gekommen; dann ebenso die Empfindung, ebenso als Neuschöpfung jede einzelne Sinnesenergie, jeder einzelne Trieb; u.s.w. bis alle Eigenschaften der menschlichen Seele beisammen waren, einzeln überall naturnotwendig; nun beginnt die Entstehung der nächsthöheren Kategorie: des Völkerbildens, der verschiedenen nationalen Culturen; jede für sich und durch sich u. eine andere Begründung als die, dass es eben so ist, kann nicht gestattet werden; also eigentlich keine u. somit endet die ganze schöne Erklärung mit dem feierlichen Verzicht auf alles Erklären, jedoch aus ganz anderen Gründen wie bei der Transcendenz; auch auf ganz anderer Basis, nämlich der der historischen Forschung u. in alleiniger Übereinstimmung mit den Ergebnissen von zahlreichen Einzelforschungen, z.B. Darwinismus, Kunstgeschichte, Culturgesch. etc. Der hiemit zusammenhängende Idealismus ist ein ethischer, denn er glaubt an das stete Edlerwerden der Culturvölker; er ist ein künstlerischer, denn er glaubt an die beseeligende Wirkung grosser (nur national möglicher) Kunstwerke, er ist ein wissenschaftlicher, philosophischer, denn er verzichtet auf den ausserhalb unserer Sinneswahrnehmung liegenden experimentalen Nachweis – er fusst aber trotzdem auf realistischer, geschichtlicher möglichst 

[In der beigefügten Tabelle, die Verwandtschaft mit seinen ebenfalls tabellarisch erstellten „Weltanschauungsperioden“ von 1902 aufweist (dazu siehe S. 428 in diesem Bd.), umreißt Sitte das Konzept seiner geplanten, achtbändigen „Universalgeschichte“. „Diese 5 ersten Bände sind“ – wie Sitte unten erläutert – „Geschichtswerke“, die neben Materialerschließung, Quellenarbeit usw. primär auf „die Erkenntnis des Culturwerdens, des Kunstschaffens“ zielen. Band 3 sollte „Über Gesch[ichte] des Persp[ectivischen] Zeichn[ens]“, einen Forschungsschwerpunkt Camillo Sittes, enthalten (siehe S. 449–562 in diesem Bd.). Die Bände 6–8 sollten folgenden Themen gewidmet sein: Die physiologischen und psychologischen Ursachen von Weltanschauungen, Das deutsche Kunstwerk der Zukunft und Gesammelte Pädagogische Aufsätze. Siehe dazu auch Mönninger, Michael: „Leben und Werk Camillo Sittes“, in: Camillo Sitte Gesamtausgabe (CSG), Bd. 1: Schriften zu Kunstkritik und Kunstgewerbe, Hg. von Klaus Semsroth, Michael Mönninger und Christiane C. Collins, Wien: Böhlau 2008, S. 28−31.] Brief an Ferdinand von Feldegg (1899)

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reichlicher Anschauung, weil eben nur diese zur Verneinung des Causalitätsgesetzes führte.

Ob dieses System auch nur einen einzigen Anhänger findet, ist mir gänz-

lich gleichgültig; auch soll ja das Philosophische überall gänzlich im Hintergrund bleiben, bis zur Unmerklichkeit.

Die möglichst alle deutschen Künstler electrisierende Aufstellung eines

grossen Arbeitsprogrammes für deutsches Kunstschaffen ist der Zweck des Ganzen. In hochachtungsvollster Verehrung Camillo Sitte Titel

Inhalt

Kategorie

I. Bnd: Über die Entstehung der Grundformen der alt-griech. Baukunst u. Ornamentik

Schilderung des Griechen-Werdens bis auf den Höhepunkt unter Perikles, ohne fremder Hülfe, ohne indogerm. Abstammung u. somit ohne gleichsam blosser Auslösung einer latent vorhandenen Cultur. Das Werden griech. Cultur (Sprache, Mythe, Kunst, Wissensch., Ethik) ist eine Neuschöpfung, eine Urzeugung, ein in vielen Jahrtausenden aus Nichts Geschaffenes; ein durchaus mühsam selbst Erarbeitetes; dieser ganze, lange Entwicklungsgang ist zur sogen. mykenischen Zeit schon abgeschlossen; was von da (c. 1500 v.) bis Perikles noch folgt, ist nur mehr der allerletzte kurze Schritt. Höchster Gipfel des Erreichten: Die Nationalität.

[ Quer über die ersten fünf Bände gesetzt:] Diese 5 ersten Bände sind Geschichtswerke; enthalten sehr viel zusammengetragenes Materiale u. dabei nicht wenig aus den Quellen unmittelbar geschöpftes u. selbst bearbeitetes neues Materiale; aber der Zweck ist trotzdem nirgends das Materialherbeischleppen an sich, auch nicht das Gruppieren, Klarstellen, Interpretieren an sich (auch daran wird es nicht fehlen) sondern die Erkenntnis des Culturwerdens, des Kunstschaffens. Alle 5 Bände zusammen sind also auf höherer Erkenntnisstufe das, was fast bettelarm an Materiale, also ganz unberechtigt u. unzulänglich Herder in seinen „Ideen zur Philosophie d. Gesch. d. Menschheit“ machen wollte.

II. Bnd: Die Wurzeln der etrusc.-röm. Baukunst

Ganz dasselbe für die Italer. Gipfel des endlich Erreichten wieder die Nationalität des Italers, als eine über dem Einzelmenschen stehende nächst höhere Gruppierung; in demselben Sinne wie der Mensch schon ein organisierter Cellenhaufen genannt wurde.

III. Bnd: Geschichte des perspect. Zeichnens

Führt (nebst der an sich wichtigen Materialhäufung, Ordnung u. Erklärung) nebenbei die Idee aus, an diesem hiezu bestens geeigneten Beispiel, wie alle Völker dieselben technischen Mittel in derselben Reihenfolge unabhängig von einander fanden aber trotz aller dieser naturnotwendigen Gleichheit mit jedesmal anderer eben nationaler Kunststimmung verwendeten. Es gibt nur nationale Originalkünste, alles Abgeschriebene ist überhaupt nicht Kunst.

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Titel

Inhalt

IV.Bnd: Die Figurendarstellungen in der grossen Kunst nach Inhalt und Verwendungsart aus dem Schatze der vergleich. Mythenforschung u. der Kunstdenkmäler erklärt.

Eine Art vergleichender Mythologie zu dem Zweck, die Lücke in unserer deutschen Cultur geradezu himmelschreiend deutlich aufzuweisen, die da klafft, wie bekannt. Hierin will ich bis zur Schonungslosigkeit, bis zu einer Art furchtbarer nationaler Selbstanklage gehen zur Erzielung eines denkbarst aufregenden, erschütternden Effectes.

Kategorie

V. Bnd.: Beiträge zur Erkenntnis des Völkerwanderns und Völkerwerdens (entwickelt aus der Kritik der Kunstu. Handelssagen des Alterthums u. deren Beziehungen zu den kunst- und culturgeschichtlichen Lehrmeinungen unserer Zeit)

bricht vollständig mit der Abstammungstheorie u. bringt alles Materiale u. den ganzen Entwicklungsgang der hiezu vorbereitenden Einzelarbeiten, Anläufe, Ideen zum erstenmale vereinigt u. gesichtet. Die gewonnene neue Basis der Völkerkunde ist die nachweisbare Erkenntnis, dass das, was wir heute „Volk“ nennen, mit ehemaliger Blutsverwandtschaft nichts zu thun hat; sondern ein Gewordenes ist, ein Erarbeitetes, dessen Seele die volksthümliche Ethik ist. – Alles das kann niemals das überhaupt impotente denken lehren, sondern nur die G e s c h i c h t e .

VI. Band: Die physiolog. u. psychol. Ursachen von Weltanschauungen.

A. Entstehung (Stammtafel) der Sinnesorgane, deren Arbeitstheilung und darnach Einfluss auf unser Empfinden und Vorstellen, sowie in letzter Linie auf Kunst u. Wissenschaft.

Physiologie, Psychologie

B. Kunsteintheilung (Absteckung des ganzen Gebietes).

Ästhetik.

C. Grenzen wissenschaftlicher Erkenntnis.

Metaphysik

VII. Band: Das deutsche Kunstwerk der Zukunft.

–––

Ethik.

VIII Band: Gesammelte Pädagogische Aufsätze.

–––

Pädagogik.

}

*

* Also nahezu ein geschlossenes philosophisches System (brrrr!) Erst durch die Nötigung zu dieser Zusammenstellung zu dieser grauenhaften Erkenntnis gekommen, schaudert es mir, denn alle philosophischen Systeme stehen in der Luft wie der Clown einer Groteskmalerei, der auf einer Trapezstange steht, die auf einem Punkt hängt, den der Clown selbst in die Luft hält. Eben dieser Umstand, dass nur in der Schliessung dieses Zirkels das Kunststück so zustande kommt, dass jeder Einzelpunkt gestützt erscheint, bedingt ja das Systembauen, das Schulebilden ecc. Es ist eines denkenden Menschen einfach unwürdig. Brief an Ferdinand von Feldegg (1899)

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Über Farbenharmonie (1900) Separat-Abdruck aus dem Centralblatt für das Gewerbliche Unterrichtswesen in Österreich, Bd. XVIII. Wien: Selbstverlag 1900. Auf Seite 1 handschriftliche Widmung Camillo Sittes: „Seinem lieben Freunde Laur. I. Koch.“ Sign. SN: 199−455/3. Publiziert in: Centralblatt für das Gewerbliche Unterrichtswesen in Österreich. Im Auftrage des K. K. Ministeriums für Cultus und Unterricht. Redigiert von Sectionsrath D. Adolf Müller. Band XVIII, Wien: Alfred Hölder 1900, S. 196–227. I. Geschichtliches

Die Farbenfreudigkeit der griechischen Antike, sogar in Architektur und Plastik, ist bereits hinlänglich festgestellt. Aber auch die Art der Bemalung in künstlerischer und technischer Beziehung wurde in überzeugender Weise klargelegt durch erschöpfende Einzeluntersuchungen. Wohl aber fehlt es noch an der Nachweisung einer stetigen Entwickelungsreihe von den ers­ ten Versuchen, Farben harmonisch zusammenzuordnen, bis zum Gipfel der Vollendung, und daher auch an der scharf umgrenzten Bestimmung derjenigen Stelle, an welcher die Farbenkunst Alt-Griechenlands einzugliedern ist.

Der folgende Versuch, eine solche naturnothwendige Reihenfolge von

Grundsätzen künstlerischer Farbenharmonie herzustellen, wird zeigen, dass nur mittelst Feststellung einer solchen Reihe das Verhältnis der griechischen Farbengebung zur orientalischen und zur ägyptischen sich sicherstellen lässt. Hierdurch aber werden wieder neue Anhaltspunkte gewonnen zur endlichen Beantwortung der noch immer in Schwebe befindlichen, kunstgeschichtlich so wichtigen Frage nach der gegenseitigen Wechselwirkung zwischen Occident und Orient, und in dieser ihrer Bedeutung liegt auch die Berechtigung dieser Untersuchung, wenn dieselbe sich auch nur auf bereits bekanntem und monographisch besprochenem Materiale aufbaut.



[Camillo Sitte schließt mit diesem Beitrag an ein von ihm selbst zwei Jahre zuvor behandeltes Thema an. Siehe dazu Sitte, Camillo: „Über die Bemalung figuraler Plastik im griechischen Alterthume“, in: Festschrift für Otto Benndorf zu seinem 60. Geburtstag. Wien: Hölder 1898, S. 301–306; siehe S. 351–358 in diesem Band]

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Erste Stufe der Farbenharmonie. Als erster ältester Grundsatz, Farben neben einander zu stellen, lässt sich mit Sicherheit erkennen ihre Ordnung nach ihrer bloßen Helligkeit oder Dunkelheit. Bei den anerkannt meist kräftig und sogar auch wohlgefällig wirkenden Farbenzusammenstellungen der Naturvölker ist bisher ein Gefüge nach künstlerischen Regeln nicht nachgewiesen worden; es sei denn, dass man eine unverkennbare Vorliebe für grelles Roth, wie auch bei Kindern, operierten Blindgeborenen und bei ungebildeten Individuen, und eine theils gewohnheitsmäßige, theils durch die beschränkte Anzahl der Farbstoffe bedingte, stete Wiederholung derselben Farbverbindungen an Stelle fester Kunstregeln gelten lassen wollte. Unter anderen hat E. Grosse (in „Die Anfänge der Kunst“, 1894) diesen Sachverhalt in Bezug auf die Farbengebung der Australier dahin bestimmt, dass er erklärte, nicht im stande zu sein, darin „irgend ein leitendes Princip zu entdecken.“ Das hat seine Richtigkeit, wenn man unter leitenden Principien der Farbenharmonie eben nur solche versteht, wie sie heute üblich sind, also etwa nach complementären Farben, gesättigten und gebrochenen Tönen u. dgl. m. Solche Grundsätze der obersten Entwickelungsstufe sind Primitivvölkern allerdings noch unbekannt, da ihr Farbensinn noch zu roh, noch zu unausgebildet ist. Ihr Sinn haftet naturgemäß noch an dem unmittelbar Packenden, an dem mit größter Kraft Wirkenden, und das sind nicht die zarten Wechselbeziehungen complementärer Töne, nicht die feinen Abstufungen durch Luftperspective etc., welche nur ein geschulter, verfeinerter Sinn aufzufassen vermag, sondern starke, primäre Wirkungen, wie die des grellen Roth oder vor allem die des an sich Dunklen und an sich Lichten. Dass in der That auf dieser ganzen Entwickelungsstufe, von den Urvölkern angefangen bis einschließlich der gesammten altägyptischen Kunst, die Farben so zusammengestellt werden, dass immer dunkle auf lichte folgen und umgekehrt, oder auch in stetiger Folge von der dunkelsten an bis zu den lichtesten ein allmählicher Übergang hergestellt wird, geht aus sämmtlichen Arbeiten übereinstimmend hervor, und eigentlich hat auch Grosse selbst dieses Princip ganz gut erkannt; denn er sagt selbst, dass gelbliche Stämme das Gelb auf ­ihren sonstigen Malereien haben, aber nicht am Körper, weil es da von der Haut nicht genug abstechen würde. Sie bemalen ihren Körper meist 

[Grosse, Ernst: Die Anfänge der Kunst. Freiburg: J. C. B. Mohr 1894.] Über Farbenharmonie (1900)

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mit schwarzen Strichen oder auch mit dunkelrothbraunen. Dagegen bemalen ­Neger ­ihren schwarzen Körper mit weißen Strichen. Die Zeichnungen der Eskimos sind meist schwarz, weil auf gelblichweißem Knochengrunde ausgeführt. Auch bei sämmtlichen Flechtwerken und bemalten Schnitzereien sind die Farben so vertheilt, dass sie, auf bloß Hell und Dunkel zurückgeführt, z.B. in Photographien, einen noch immer kräftigen Eindruck machen und die Mus­ terung scharf erkennbar bleibt, was nur darin seinen Grund hat, weil eben die Farben nach diesem Grundsatze des Hellen und Dunklen zusammengestellt sind. Bei alledem wäre es verfehlt, den Urvölkern ein bloß photographisches Sehen zuzumuthen, wie es schon geschehen, aber reichlich widerlegt worden ist; denn sie sehen und bezeichnen sprachlich sogar oft die feinsten Unterschiede, wenn ihnen dies von Nutzen ist. So haben z.B. die Kaffern und Basutustämme (nach Grant-Allen: „Der Farbensinn, sein Ursprung und seine Entwickelung“, 1880) über 26 Ausdrücke zur Bezeichnung verschiedener Schattierungen ihrer Viehfarben. Das Wohlgefallen an der Farbe ist auch allgemein verbreitet; Beutel mit rother Ockererde werden auf den weitesten Wanderungen mitgetragen, und die Fundorte farbiger Erden sind oft Gegenstand blutiger Kämpfe zwischen den verschiedenen Stämmen. Obwohl also die Farben von sämmtlichen Völkerstämmen seit der Urzeit her im wesentlichen gleichartig gesehen werden, wie dies bereits mit geradezu erdrückender Menge von Beweisen und mit peinlichster Genauigkeit nachgewiesen wurde, so werden sie doch zunächst bloß nach ihrem auffälligs­ ten Merkmale, dem der Helligkeit und Dunkelheit, künstlerisch geordnet. Dies geschieht anfangs sicherlich unbewusst, lediglich dem Gefühle des stärksten Eindruckes folgend, während sich später die Gewohnheit bis zur festen Handwerksregel verhärtete. Dieser letztere Zustand liegt in der altägyptischen Kunst vor, und zwar ohne dass sich der leitende Grundsatz im mindesten verändert hätte. Die vier heiligen Farben des Tempeldienstes waren der Reihe nach: weiß, gelbgrün, hellroth, dunkelroth, und in jüngerer Periode statt hellroth hellblau. Die Teppiche, Vorhänge, Gewänder, Flaggen der Tempel mussten diese Farben haben.



[Die englische Originalausgabe erschien 1879: Allen, Grant: The colour-sense: its origin and development; an essay in comparative psychology. London: Trübner 1879.]

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Eine andere uralte, heilige Farbenreihe war (nach H. Brugsch): weiß, gelb, lichtblau, grün, roth, schwarz. Ebenso von den lichtesten angefangen und bis zur dunkelsten vorschreitend sind die Farben auf allen erhaltenen altägyptischen Malerpaletten in ihren napfförmigen Vertiefungen aufgesetzt. So auf der altägyptischen Palette des Berliner Museums: weiß, gelb, grün, hellblau, roth, schwarz. Zwischen Roth und Schwarz kommt auch noch Dunkelbraun vor. In derselben Reihenfolge pflegten auch die kostbaren Minerale und Metalle in den Schatzverzeichnissen und Tributlisten aufgezählt zu werden, nämlich: Quarz, Topas, Smaragd, Türkis, Rubin oder: Silber, Gold, Eisen, Kupfer, Blei, Schmirgel. Demselben Grundsatze folgt auch die ausübende Farbenkunst der Ägypter. Meist dunkel wirkende, farbige Linien und Flächen auf lichtem Grund oder auch umgekehrt und dazwischen hinein auch eine der eben genannten Reihen entweder ganz oder bruchstückweise, das ist das ganze Geheimnis des ägyptischen Farbencanons, die naive, prähistorische Farbengebung zunftmäßig verknöchert. Daraus erklärt sich auch die so häufige Nebeneinanderstellung von gelb und grün, grün und blau, blau und schwarz oder wohl gar gelb, grün, blau und grün, blau, schwarz − alles für einen höheren Farbengeschmack entschieden unschöne Zusammenstellungen, wie sie auch aus denselben Gründen der chinesischen Farbengebung eigen sind, obwohl dort durch allerlei raffinierte Dämpfungen annehmbarer gemacht, so dass diese greisenhaften Zwitter unserer haltlos verkommenen Farbenmischerei sogar als besonderer Hautgoût imponieren. Genau auf derselben Empfindung ist die babylonisch-assyrische Farbenharmonie aufgebaut, nur erscheint die zu grunde liegende Regel dort



[Heinrich Brugsch (1827–1894) war in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts einer der produktivsten und innovativsten Ägyptologen. Er studierte, unterstützt von König Friedrich Wilhelm IV. und Alexander von Humboldt, in Berlin Archäologie und Philosophie und unternahm seit 1853 mehrere Reisen nach Ägypten. Mit seinen wissenschaftlichen Arbeiten der Jahre 1857–1860 schuf er die Grundlagen für die gesamte Forschung der vorgriechischen Geographie Ägyptens und seiner Nachbarländer. 1864 wurde Brugsch preußischer Konsul in Kairo, 1868 Professor in Göttingen und 1870 Leiter der Ecole d’Égyptologie in Kairo. 1873 vertrat er Ägypten auf der Weltausstellung in Wien und 1877 auf der Industrieausstellung in Philadelphia. 1881 begleitete er den Kronprinz von Österreich, Rudolf von Habsburg, nach Philae, 1882–1883 den Prinzen Friedrich Karl von Preußen nach Ägypten und Syrien.] Über Farbenharmonie (1900)

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nicht so deutlich und der Gesammteindruck auf den ersten Blick als ein anderer. Dies kommt aber nur daher, weil dort die technisch beschränkte keramische Palette die Gesammtstimmung der erhaltenen Denkmäler beherrscht.

Zweite Stufe der Farbenharmonie. Alles und jedes, was von griechischer Farbengebung vorliegt, versetzt uns in eine ganz andere neue Welt von wesentlich anderer Stimmung, von durchaus eigenartigen Grundsätzen. Als besonders auffällig tritt zunächst die Erscheinung kräftiger Farbengebung auf größeren architektonischen Flächen auf, wie der Triglyphen, der Metopen- und Giebelfeldhintergrunde, von denen sich dann die figuralen Darstellungen als licht auf dunklem Grunde abheben. Regel ist schon in sehr alter Zeit hier rothe oder blaue Färbung gewesen. So waren die Metopen von Selinunt, und zwar sowohl die älteren als auch die neueren, roth; abwechselnd blau und roth oder gleichfalls nur roth (was wegen der Triglyphenfärbung wahrscheinlicher ist) die Metopen vom Zeustempel von Olympia. Blau waren die Giebelfelder des Athenatempels von Aigina, des megarischen Schatzhauses, die Figurenhintergründe des Theseionfrieses, des Harpyienmonumentes, ferner des Cäretener Giebelakroterions und der mit dem megarischen Schatzhause gleichzeitigen Reliefs aus Mergelstein in Olympia. Der Erech­theionfries hat in besonders wirksamer Weise einen schwarzen Marmorgrund zu den lichten Figuren, was in späterer Zeit mehrfach nachgeahmt wurde. Die meiste Verwunderung erregte die fast überall nachweisbare einfärbige Bemalung der Triglyphen, und zwar gerade mit Blau, einer nach heutigen Begriffen sogenannten rückspringenden Farbe (d.i. Farbe der Luftperspective), an diesem doch entschieden vorspringenden Bauglied, wozu Dörpfeld noch den interessanten Nachweis geliefert hat, dass sie eben deshalb oft wegen Ersparung aus dem geringerwertigen Poros-Kalkstein ange

[Der Architekt Wilhelm Dörpfeld (1853–1940) gilt als Begründer des wissenschaftlichen Grabungswesens in der Archäologie. Er studierte an der Berliner Bauakademie, kam 1877 als Assistent des Grabungsarchitekten Richard Bohn nach Olympia, wo er 1878 die Grabungsleitung übertragen bekam. 1882 wurde er von Heinrich Schliemann für die Ausgrabungen in Troja gewonnen, deren Leitung er nach dessen Tod übernahm. Von 1886 bis 1912 war Dörpfeld Direktor des Deutschen Archäologischen Instituts in Athen und publizierte bevorzugt in den – von Sitte häufig zitierten – Mittheilungen des Deutschen Archäologischen Instituts in Athen.]

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fertigt wurden, weshalb wieder sicher auf Bemalung überall dort geschlossen werden kann, wo dieses Material neben Marmor verwendet wurde. Blau gestrichen wurden dann auch die Tropfenplatten darüber, aber die Zwischenräume derselben dagegen roth. Dazu kommt noch reichliche ornamentale Bemalung auf allen Ziergliedern des Gebälkes und ebenso auf den dorischen und jonischen Capitälen, welch letzteren sogar ihre spätere plastische Ausgestaltung in vorpersischer Zeit farbig vorweg genommen wurde. Nimmt man dazu noch die Bemalung der Cellawände und die bunte, und zwar flächenmäßige Bemalung der schon in mykenischer Zeit vortrefflich hergestellten Stuccofußböden, so erhält man einen Gesammteindruck, wie er im wesentlichen beiläufig noch in der pompejanischen Malerei vorliegt und auch in den vielfach bekannten farbigen Reconstructionen, mögen dieselben auch noch so viel Unsicheres in Einzelheiten enthalten. Die auffällige Erscheinung dunkler Hintergründe für im ganzen lichte figurale Darstellungen hat zahlreiche Versuche hervorgerufen, für diese Neuerung eine geschichtliche Herleitung zu finden. Zunächst wurde noch auf einige ähnliche Fälle außer dem Gebiete der großen Architektur hingewiesen, nämlich auf den Übergang von der Vasen­ malerei mit schwarzen Figuren auf lichtem Grund zu lichten Figuren auf schwarzem Grund; dann aber auch auf die altattischen Grabstelen des ­Lyseas und Aristion (worüber die ganz besonders lehrreiche Abhandlung von G. Loeschke, Ath. Mitth. IV., 36 ff. einzusehen), bei welchen unzweifelhaft die im ganzen lichte Figur von einem dunkelbraunrothen Grunde sich abhob, und schließlich auch darauf, dass die archaischen Giebelreliefs von der Akropolis von Athen im ganzen dunkle Figuren hatten von sogar verhältnismäßig naturalistischer Bemalung auf entschieden lichtem Grunde. Aus alledem wurde versucht, einmal die Priorität lichter Gründe auch für die große Monumentalplastik festzustellen, was aus rein künstlerisch-technischen Gründen auch die Wahrscheinlichkeit für sich hat, ebenso wie bei der Vasenmalerei, wenngleich nicht übersehen werden kann, dass auch die dunkelfarbigen Hintergründe bis in die älteste Zeit zurückgehen, wie das bekannte Stierbändigerbild von Tiryns, und somit auch sicher noch weiter



[Loeschke, Georg: „Altattische Grabstelen“, in: Mittheilungen des Deutschen Archäologischen Instituts in Athen, Bd. 4 (1879), S. 36–44; S. 289–306.]



[Der sog. „Stierspringer“ (14.-13. Jh. v. Chr.) wurde von Heinrich Schliemann in der Nähe des sogenannten Bades im Palast von Tiryns gefunden. Das Freskenfragment befindet sich heute in Athen, Nationalmuseum.] Über Farbenharmonie (1900)

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zurück, da dieses Stück bereits mit vollkommen zielbewusster, künstlerisch ausgereifter Technik hergestellt ist und zweifellos eine einheimische Arbeit einheimischer Schule darstellt. Anderseits wurde versucht, alle dunklen Hintergründe, auch die Neuerung in der Vasenmalerei, auf die Stelenhintergründe zurückzuführen, während Klein und andere für die Vasenmalerei eine selbständige Parallelerfindung annehmen. P. J. Meier endlich (Ath. Mitth. X., 244 ff.) hält die selinuntischen Meto­ pen für das entscheidende Vorbild, womit alle drei möglichen Varianten erschöpft sind, ohne dass eine derselben eine sichere Lösung gebracht hätte. Das ist auch gänzlich unnöthig, denn vom rein technischen und künstlerischen Standpunkte aus braucht weder untereinander noch viel weniger aber im Orient oder sonstwo der Faden zur Anknüpfung gesucht zu werden, denn wenn Künstler und Techniker solche Dinge nicht fort und fort aus sich selbst schöpfen könnten und schöpfen würden, und zwar nicht bloß ein einzigesmal an einem ganz bestimmten Ort, zu einer ganz bestimmten Zeit, sondern immer wieder von neuem hunderte- und tausendemale, so gäbe es überhaupt keine Kunst. Die Quelle, aus der die altgriechischen Maler aller Art immer von neuem schöpften, liegt aber hier noch obendrein klar zu tage: es ist die griechische Landschaft, die griechische Natur. Von dem herrlich dunkelblauen Meere und dem unbeschreiblich schönen, wolkenlosen, grünlichblauen Himmel heben sich hellglänzend die goldigen Felsen der Inseln ab, die lichten Segel der Schiffe und am Strande die lichten Gestalten der Menschen. Dieses tägliche Schaustück muss sich mit zwingender Naturgewalt den Sinnen derjenigen Menschen eingeprägt haben, welchen das Glück zu theil geworden ist, unter einem solchen Himmel geboren zu sein und leben zu können. Es war ja gar nicht anders möglich, als dass dieses stets und unabänderlich gesehene Naturbild den Malern aller Art und jeder Zeit und jedes griechischen Ortes unwillkürlich von selbst aus der Hand floss. Das ist einfach naturnothwendig, und hat es dem gegenüber gar keinen Sinn überhaupt, die Fragen aufzustellen: Wo das zuerst gemacht wurde? Wer das erfunden hat? Wie es sich weitergepflanzt hat? Woher es importiert ist? und wie alle diese landesüblichen Schulfragen lauten. Das wurde nirgends zuerst gemacht, weil es überall von selbst hervorspross wie die Blumen beim Aufgehen der Frühlingssonne; das 

[Meier, P. J.: „Über das archaische Giebelrelief von der Akropolis“, in: Mittheilungen des Deutschen Archäologischen Instituts in Athen, Bd. 10 (1885), S. 237–254; S. 322–333.]

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hat niemand erfunden, weil es von Natur einem jeden in der Seele lag; das ist von nirgendher und nirgendhin weitergepflanzt worden, weil es allüberall von Anbeginn an da war; das ist vor allem nie und nimmermehr von auswärts hereingetragen worden, weil es bloß ein Spiegelbild der griechischen Natur und somit nirgends als hier überhaupt möglich war. Wenn sich so die dunklen Hintergründe als einfache Naturerscheinung und daher unmittelbare Naturnachahmung ergeben, so gilt das Gleiche von der wohl auf den ersten Blick schier noch auffallenderen Bevorzugung von Roth und Blau gerade bei der einfärbigen Bemalung größerer architektonischer Flächen. Blau und blaugrün sind die Farben des Meeres und des Himmels; roth und goldgelb und braunroth sind diejenigen sogenannten warmen Töne, aus denen sich die Farben der Felsen an den Küsten zusammensetzen, und roth, die Lieblingsfarbe für prächtige Gewänder und Stoffe, ist insbesondere diejenige am stärksten wirkende Farbe, welche immer und überall der Hauptton prunkender Farbengebung gewesen ist. Hiermit ist eine sehr stark wirkende und auch für unseren Farbensinn noch ungemein wohlgefällige Farbenzusammenstellung gegeben, eine Farbencombination aber, in welcher der Gedanke des Hellen und Dunklen beinahe gänzlich in Wegfall kommt und nur mehr der Farbenton als solcher, und zwar in seiner Zwiespaltigkeit als sogenannter kalter und warmer Ton Geltung hat. Das ist ein durchaus neuer Gesichtspunkt, von dem aus die Farbe empfunden und künstlerisch verwendet wird, und nirgends steht eine Möglichkeit offen, diese Ordnung der Farben nach kalten und warmen aus derjenigen nach ihrer Helligkeit abzuleiten. Die Unterscheidung nach kalten und warmen Tönen ist heute noch jedem Maler, jedem Decorateur geläufig, in der That auch physiologisch begründet, und rein empfindungsgemäß nach dem Hellen und Dunklen das zunächst am deutlichsten an den Farben Unterscheidbare. Es ist daher begreiflich, dass ein nächst höheres System künstlerischer Farbenharmonie sich darauf aufbauen ließ, aber entschieden muss hervorgehoben werden, dass auch rein physiologisch die Empfindung von kalten und warmen Tönen durchaus nichts gemein hat mit der von Hell und Dunkel; dass Weiß und Schwarz weder kalt noch warm sind, dass hier zwei verschiedene Sinnesenergien vorliegen. Diese nächsthöhere Art der Farbenharmonie folgte vielleicht auch in Griechenland der Zeit nach auf eine Periode, in welcher die Farben nur nach ihrer Helle oder Dunkelheit gruppiert wurden; aber diese Periode erscheint selbst an den allerältesten griechischen Denkmälern als bereits überwunden, Über Farbenharmonie (1900)

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und die specifisch griechische feinere Art, Farbenwirkungen aufzufassen und künstlerisch zu ordnen, ist sicher gleichfalls unmittelbar der Natur abgelauscht oder, besser gesagt, unwillkürlich aus der Natur in die Hand des Künstlers übergeflossen. An Beispielen aus alten Zeiten, aus denen sich Reste erhalten haben, fehlt es nirgends. Die Farbspuren der teppichartig verzierten Stuccofußböden der besseren Räume von Tiryns sind blau und roth. Rothe Estrichstücke wurden gefunden in den alten Tempeln von Korinth und von Angina. Die Putzwand des Herdes im Megaron von Mykenä ist bemalt mit grauen, weißen und rothen Dreiecken zwischen Blau und obenauf mit weißem Spiralenband zwischen blauen und rothen Streifen. An der archäischen Palmette einer Grabstele in der Eingangshalle des Centralmuseums in Athen finden sich abwechselnd Roth und Blau angewendet. Außer bei den schon genannten Giebelformen, Metopen und Triglyphen, bei denen rothe und blaue Bemalung geradezu Regel ist, trifft dies auch zu bei allen architektonischen Ziergliedern, deren kleinere Flächen fast ausnahmslos abwechselnd roth und blau bemalt sind, und ebenso bei den rein decorativ bemalten figuralen Darstellungen, wobei Gewänder oder deren Säume und Musterungen diesem Farbenspiele folgen, wie nicht minder Schilde (außen blau, innen roth), Riemenzeug, Sandalen, kurz was nur immer ohne Verstoß gegen die Naturfarbe (weißer Hautton, schwarze Haare und Augen; grüne Blätter, gelbe Blumen oder Goldschmuck etc.) blau und roth gemalt werden kann. So fanden sich blau und roth bemalte dorische Kyma an altattischen Stelen mit noch von oben nach unten laufender Schrift bei den Ausgrabungen auf der Akropolis von Athen von 1807, nördlich vom Erechtheion und an derselben Stelle zahlreiche kleine weibliche Thonfiguren mit noch häufigen Spuren von Blau, Roth und Weiß; Reste einer sitzenden Gestalt mit schmalen rothen und ursprünglich blauen Saumstreifen am Chiton; der Torso einer Figur mit rothem Mantel und grünblauem Gewand; in der Schuttmasse zwischen dem Parthenon und Akropolis-Museum ein Kopf (Triton?) mit dunkelrother Hautfarbe und ultramarinblauem Haar und Bart; bei den Akropolis-Ausgrabungen von 1888 ein Kolossalrelief mit zwei rothen Löwen, einen blauen Stier fällend; ferner zwei weibliche Figuren mit rothem Untergewand und hellblauen Kreuzen und Streifen am Obergewand die eine, und die andere 

[Wohl die griechische Insel Ägina (auch Aigina) im Saronischen Golf.]

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mit abwechselnd blauen und rothen Rosetten am weißen Obergewand, einem blauen Saumstreifen und darüber einen jetzt meist grün erscheinenden, der aber zum Theile noch seine ursprünglich hellblaue Farbe zeigt. Bei dieser Gelegenheit sei gleich bemerkt, dass Grün, wenn es an Stelle von Blau vorkommt, aus einer Kupferoxydfarbe besteht, welche wohl in den meisten Fällen, wenn nicht immer ursprünglich blau gewesen sein dürfte, so dass der heutige grünliche oder grüne Ton als Ergebnis der Verwitterung anzusehen wäre, was auch dadurch wahrscheinlich wird, dass, nebst heute noch blau erhaltenen Stellen, gerade an Helmen und Speeren diese blaugrüne Farbe vorkommt, also an Gegenständen aus Eisen, welches immer blau dargestellt zu werden pflegte. Ebenso zeigen Terracotten aus Böotien (Dioskuren, Ath. Mitth. X. 83)10 nur rothe und blaue Farbspuren und desgleichen eine Terracottagruppe aus Tanagra (Ath. Mitth. X, 173, 174)11 und die Ornamente spartanischer Figuren. Nach Wagner’s Bericht über die äginetischen Bildwerke12 waren die an denselben noch vorhandenen Farbspuren an den Helmen blau, am Helmbusch roth, an den Schilden außen blau, innen roth, an den Plinthen aller Figuren und den Sandalensohlen der weiblichen Figuren roth. In den vielleicht ziemlich alten (?) Gräbern auf Amorgos13 fanden sich 10 [Marx, Friedrich: „Dioskurenartige Gottheiten“, in: Mittheilungen des Deutschen Archäologischen Instituts in Athen, Bd. 10 (1885), S. 81–90.] 11 [Koepp, Friedrich: „Terracottagruppe aus Tanagra“, in: Mittheilungen des Deutschen Archäologischen Instituts in Athen, Bd. 10 (1885), S. 173–174.] 12 [Die berühmten „Ägineten“, die Marmorskulpturen vom Giebel des um 500 v. Chr. auf der griechischen Insel Aegina errichteten dorischen Tempels der Aphaia, wurden 1811 entdeckt. 1812 gelangten sie durch Vermittlung von Johann Martin von Wagner (1777–1858), Maler, Bildhauer, Professor an der Kunstschule Würzburg und Kunsthändler, in den Besitz des Kronprinzen Ludwig von Bayern (seit 1825 König Ludwig I.). Die stark fragmentierten Skulpturen wurden in Rom im Atelier des dänischen Bildhauers Bertel Thorvaldsen restauriert, zu dekorativen Scheingruppen ergänzt und in München in der 1830 eröffneten Glyptothek (im Auftrag Ludwigs I. nach Plänen Leo von Klenzes errichtet) aufgestellt. Dazu die von Sitte erwähnte Schrift von Wagner, Johann Martin von: Bericht über die Aeginetischen Bildwerke im Besitz Seiner Königl. Hoheit des Kronprinzen von Baiern mit kunstgeschichtlichen Anmerkungen von Fr. W. J. Schelling. Stuttgart: Cotta 1817.] 13 [Amorgos, östlich von Naxos gelegen, ist die östlichste der Kykladeninseln. 1885 entdeckte Ferdinand Dümmler in Athenischem Privatbesitz die Grabfunde von Arkesine (Westamorgos), die er im Weiteren auch erforschte. Die Ergebnisse publiziert in: Mittheilungen des Deutschen Archäologischen Instituts in Athen, Bd. 11 (1886), in denen mehrere Beitrage Dümmlers zu den Gräbern auf Amorgos und auf anderen griechischen Inseln enthalten Über Farbenharmonie (1900)

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mehrfach marmorne Gefäße mit rother und blauer Farbe und mit Farbreibsteinen (als Steinbeile verkannt) daneben, die, was sehr wahrscheinlich ist, als Todtenbeigabe wegen des Gebrauches der Körperbemalung erklärt wurden. Ein unförmlicher Marmorkopf aus Armorgos war roth und schwarz bemalt, was nichts Verwunderliches an sich hat, da Haare und Bart überhaupt entweder schwarz, was natürlicher, oder auch blau, was wohlgefälliger, bemalt zu werden pflegte. Die Farben ganzer Gemälde sind selbstverständlich weit mannigfaltiger und sicher auch mehrfach gebrochener als bei den rein decorativen Bemalungen. Die Naturfarbe der dargestellten Gegenstände drängt sich da, sicher schon in sehr alter Zeit, mehr in den Vordergrund; aber trotzdem ist aus den wenigen Resten von Mosaikgemälden und Wandmalereien mit Bestimmtheit zu entnehmen, dass auch hier die künstlerische Anordnung nach kalten und warmen Tönen und insbesondere nach den zwei starken Vertretern derselben, nach Roth und Blau, gleichfalls als leitender Grundgedanke bewusst oder unbewusst festgehalten wurde. Bei Durchsicht des Vorhandenen geht hervor, dass Blau in den Lichtern und an den Rändern, wenn die Nebenfarben wegen des Abhebens von ­einander dies nöthig machten, über Lichtblau bis zu Weiß und wegen der Schattierung bis zu Schwarz verändert wurde; während Roth aus denselben Gründen im Lichte bis zu Orange und Goldgelb, im Schatten bis zu Dunkelbraun abgetönt wurde. Die übrigen Farben wurden theils zur Contourierung (wie hauptsächlich schwarz), theils der Naturfarbe des dargestellten Gegenstandes folgend angewendet, so: Schwarz bei: Haaren, Augenbrauen, Augensternen. Gelb bei: den Hauttönen, bei blonden Haaren, bei allen Gegenständen aus Gold oder etwa vergoldeten, wie den Hörnern von Opferstieren oder dem Zeusstier etc. Grün bei: Pflanzen, Meereswellen und bei Gewändern, wenn Schattierungen oder Schillertöne nachgeahmt werden sollten.

sind („Mittheilungen von den griechischen Inseln“, S. 15–46; „Inschriften auf Amorgos und Melos“, S. 97–119.). Durch Vergleich mit anderen Funden (Troja, Phylakopi auf Melos) ordnete Dümmler die Grabfunde von Arkesine der vormykenischen Zeit zu und datierte sie zwischen Troja II und den mykenischen Schachtgräbern.]

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Orange bei: Lippen, Hautschattierungen, Goldschattierungen. Weiß bei: weißen Gewändern, lichten Hauttönen von Eroten und Frauen. Überall dort aber, wo die Wahl der Farbe frei war und daher bloß dem Wohlgefallen anheimgestellt blieb, tritt wieder Roth und Blau in seine Rechte ein. Im einzelnen kann dieser Sachverhalt nachgeprüft werden an der Hand der vorzüglichen Beschreibungen folgender Denkmäler: H. Daessel u.a. Milchhöfer: Europa, Mosaik aus Sparta, und Achilles auf Skyros, Mosaik aus Sparta (Ath. Mitth. II, 427 ff.).14 R. Weil: Europa, Mosaik aus Sparta (Ath. Mitth. I, 173).15 E. Curtius: Kybelerelief von der jonischen Küste (Ath. Mitth. II, 47 ff.).16 A. Milchhöfer: Figurale Stelenbekrönung (Ath. Mitth. V, 193).17 Durchaus im Einklange damit stehen die mehrfarbigen Vasenbilder, alle Mit­ theilungen über die Polygnot’schen Bilder und auch über die Bemalung von plastischen Werken18 sowie die noch erhaltenen Farbreste an solchen. Außer all diesen Belegen gibt es aber noch eine Quelle, sich über die leitenden Grundsätze altgriechischer Farbengebung zu belehren, nämlich die Schriften der Theoretiker, der Philosophen. Von diesen steht bereits der Älteste, nämlich Xenophanes19, der um 540 v. Chr. blühte, bereits ganz deutlich auf dem Boden des griechischen Kunstgebrauches, denn er theilt die Farben in zwei Gruppen, in die heute warm und kalt genannten, und zwar bezeichnet er roth, orange, gelb als Grundfarben und blau und grün als Schillerfarben.

14 [Dressel, Heinrich/Milchhöfer, Arthur: „Die Antiken Kunstwerke aus Sparta und Umgebung“, in: Mittheilungen des Deutschen Archäologischen Instituts in Athen, Jg. 2 (1877), besonders S. 427–429.] 15 [Weil, Rudolph: „Mosaik in Sparta“, in: Mittheilungen des Deutschen Archäologischen Instituts in Athen, Jg. 1 (1876), S. 175–176.] 16 [Curtius, Ernst: „Kybelerelief von der ionischen Küste“, in: Mittheilungen des Deutschen Archäologischen Instituts in Athen, Jg. 2 (1877), S. 48–52.] 17 [Milchhöfer, Arthur: „Gemahlte Grabstelen“, in: Mittheilungen des Deutschen Archäologischen Instituts in Athen, Jg. 5 (1880), S. 164–194, siehe besonders S. 193.] 18 [Hierzu auch Sitte, Camillo: „Über die Bemalung figuraler Plastik im griechischen Alter­ thume“ in der Festschrift für Otto Benndorf, Wien 1898, siehe S. 351–358 in diesem Bd.] 19 [Xenophanes von Kolophon, (um 580–480 v. Chr.), griechischer Philosoph und Dichter.] Über Farbenharmonie (1900)

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Empedokles20 (ca. 460−370) redet von Goldfarbe als der schönsten und von Purpurfarbe als der angenehmsten. Aristoteles (von 384−322)21 dagegen weicht von dieser Fährte wesentlich ab, indem er alle Farben sich zwischen den Gegensätzen von Schwarz und Weiß bewegen lässt, wodurch er zu der künstlerisch primitiveren Auffassung des Hellen und Dunklen an der Farbe zurückgekehrt ist. Sollte sich dies etwa aus (in Alexandrien wohl leicht möglichem) ägyptischem Einfluss herleiten? Bei Sextus Empiricus22 (um 200 n. Chr.) kommen endlich schon einige Beobachtungen über complementäre Farben vor und Olympiodor23 (um 500 n. Chr.) beobachtete die ins Dunkelgrüne neigende Farbe, wenn man lange in ein Licht hineinsieht; also wieder die Feststellung einer complementären Erscheinung. Hiemit ist aber auch schon die nächste Entwicklungsstufe erreicht.

III. Stufe: Zusammenstellung nach complementären Farben. Zur Nachweisung der allmählichen Entwickelung dieser Art, die Farben nebeneinander zu ordnen, wäre eigentlich eine förmliche Statistik nöthig, denn bloß zufällig kommen complementäre Farben nebeneinander wohl überall vor. Davon kann keine Rede sein in Anbetracht der nur äußerst spärlichen Reste antiker Malerei; aber es fühlt doch jeder heraus, dass zwischen dem Gesammteindruck der pompejanischen Architektur- und Wandmalerei und zwischen der altgriechischen Tempelmalerei ein wesentlicher Stimmungsunterschied besteht.

20 [Empedokles von Akragas (um 495–435 v. Chr.), griechischer Politiker, Arzt, Dichter und Philosoph.] 21 [Aristoteles (384–322 v. Chr.) unterscheidet zwischen den „Primärfarben“ Rot, Grün und Blau und den „Sekundärfarben“ wie Gelb. In der Meteorologica entwickelt er eine chromatische Farbenskala von Weiß (oder Gelb) über Rot, Violett und Grün zu Blau, Grau und Schwarz. In De Sensu (492a) werden diese sieben Farben auf die Wahrnehmung bezogen.] 22 [Sextus Empiricus (um 200 n. Chr.), griechischer Arzt und Philosoph in Alexandria und Athen.] 23 [Olympiodoros (5. Jahrhundert n.Chr.), griechischer Historiker aus dem ägyptischen Theben, verfaßte eine Geschichte des Weströmischen Reiches von 407–425, erhalten als Auszug des Photios.]

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Der altgriechische Tempel ist klarer und einfacher in seiner Farbengebung. Die farbigen großen Flächen der Architektur bestehen aus den weißen Säulenschäften, Stufen etc. (allerdings nicht kreidig weiß, sondern in einem Hauch von Goldton) und aus den schön blauen oder rothen Giebelfeldern, Metopenhintergründen und Triglyphen. Zu diesen Hauptwirkungen gesellt sich die dritte der fein vertheilten Ornamentation in kleinen Flächen und Strichen auf den sämmtlichen Gesimsungen und Ziergliedern der Architektur, welche alle zusammen streifenweise das Gesammtbild durchsetzen, einrahmen, gliedern. Ganz nach demselben Grundgedanken wurden die Figuren der Giebelfelder und Metopen bemalt, nämlich weiße (goldtonige) Hautflächen, abwechselnd blaue und rothe Gewand- und Schildmalerei und dazwischen hinein zur Einrahmung und Gliederung eine streifenweise Ornamentation an Waffen, Gewändern u. dgl. Das ist ein sonnig klares, echt griechisches Programm zur Bemalung. In Pompeji sind diese Grundgedanken noch deutlich vorhanden, aber doch bereits derart überwuchert von Andersartigem, dass derselbe einfache Eindruck nicht mehr zu stande kommt. Die Zusammenstellung: Blau, Roth beherrscht nicht mehr den Gesammteindruck. An deren Stelle erscheinen häufig in großen Flächen nebeneinander gesetzt: Blau und Gelb, Roth und Grün, also zwei complementäre Paare an Stelle des Binomes: Kalt und Warm. Dasselbe gilt von den kleineren Einzelheiten. Eine Menge sehr gut wirkender Zusammenstellungen wurden lediglich dem Gefühle folgend gefunden, wie das an den Sockeln so häufige Grün auf schwarzem Grund oder auch Blaugrün mit gemaltem buntglänzenden Goldton gepaart u.dgl.m. Das an sich Helle und Dunkle erscheint nach feststehender Regel so geordnet, dass die dunkelsten Töne an den Sockelstreifen verwendet werden, denen nach aufwärts zu immer hellere buntfarbige folgen, bis endlich die meist weißgründige Decke das von oben kommende Licht vertritt. Davon mag manches schon Gemeingut der altgriechischen Malerei gewesen sein, und das kleine Stierbändigerbildchen des Palastes von Tiryns gehörte vielleicht bereits einem dunkelgründigen Sockel, der schon im Gegensatz stand zu einer hellergründigen Wand. Sicher ist, dass auf den schon früher genannten altgriechischen Mosaiken und Resten von Wandmalerei gleichfalls schon vereinzelt Blau und Gelb, Grün und Roth sich zusammenfinden, und dass eine stetige Herausentwickelung dieser complementären Binome aus dem einzigen Paare: Blau, Roth, durch anfängliche Zerlegung des Roth in dunkles und helles und des Blau in reineÜber Farbenharmonie (1900)

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res und immer mehr grünliches gar wohl denkbar ist, sowie ein unbewuss­ tes Finden der complementären Farben durch Auswahl des Wohlgefälligeren aus zufälligen Zusammenstellungen, lediglich der Empfindung folgend. Die Zusammenstellung der Farben nach der urwüchsigeren Auffassung nach kalt und warm oder nach der feineren Empfindung des Complementären sind somit zu einander jedenfalls nahe verwandt und könnten auch als Untertheilung einer einzigen größeren Entwickelungsstufe aufgefasst werden; während ein Übergang von der untersten nach Hell und Dunkel ordnenden Stufe nirgends ersichtlich ist und auch schwer denkbar, weil dieses Princip die complementären Farben geradezu auseinanderreißt und somit ein zufälliges Finden und eine Geschmacksausbildung diese Feinheiten zu erkennen nicht im mindesten fördert.

IV. Weitere Entwicklungsstufen. Nur um die Stellung des griechischen Farbensystemes im Kreise aller vorhandenen Möglichkeiten und im stetigen Flusse geschichtlicher Entwickelung recht deutlich bezeichnen zu können, sei hier noch kurz die weitere Entwickelung angedeutet. Die Grundsätze des Farbenzusammenstellens, im Mittelalter etwas in Unordnung gerathen, erheben sich im Zeitalter der Frührenaissance wieder zu der in der Antike erreichten Höhe. Raphael und seine Schüler entsprechen in so vollendeter Weise allen Rücksichtnahmen auf die Wirkungen des Hellen und Dunklen, des Kalten und Warmen, des Complemetären, dass wohl die größten Meister der Antike kaum noch Vollendeteres geschaffen haben können. Eine der bewunderungswertesten Leistungen dieser Zeit ist außerdem die Durchgeistigung der keramischen Palette in der italienischen Majolicamalerei, in welcher endlich, nach langer, mühevoller Versuchsarbeit, eine Harmonie erreicht wurde, in der man von der armseligen Beschränktheit dieser keramischen Farbengruppe und von ihrer geradezu unästhetischen Auswahl: gelb, grün, blau, noch obendrein mit meist hässlich violettem Stich, nichts mehr gewahrt, ja im Gegentheile die volle Wirkung eines coloristischen Meis­ terwerkes empfängt. Solche auf nur wenige Farben beschränkte Paletten sind vor allem in den kunstgewerblichen Fächern häufig zu treffen und nicht zu umgehen, denn die gewaltsame Eingliederung materialfremder Farben wirkt unangenehm, weil eben unnatürlich, materialwidrig.

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Solche beschränkte Paletten sind die der Holzintarsien, der Ledertechnik, der Goldarbeit mit deren Emaillierung u.s.w. Den Ausgangspunkt bei der künstlerischen Bewältigung solcher einseitiger Farbenscalen bildet da immer eine einzige Hauptfarbe, meist die Naturfarbe des Materiales, so bei den Holzintarsien braun, bei den Goldemailen gelb etc. Auch in der Malerei kommen solche Einseitigkeiten vor und braucht da nur an die Aquarellmalerei mit „halben Färbelin“, wie es Albrecht Dürer24 nannte, erinnert zu werden, an den auffallenden Unterschied zwischen dem Gesammtton der Frescomalerei mit dem Vorherrschen des hellen Kalkmörteltones und dem dunklen fetten Gesammtton der Ölmalerei. Gerade dieser deutliche Gegensatz zwischen Fresco- und Ölmalerei, ein Gegensatz, wie er bisher in der Malerei noch zu keiner Zeit vorhanden war, musste nothwendigerweise die Künstler zum Nachdenken darüber bringen. Die Öltechnik führt zuerst zur Herrschaft des Schwarzen (Tintoretto); die Gegenüberstellung von Schwarz und Weiß führt zum sogenannten „Helldunkel“ (Rembrandt); die Begünstigung warmer Farben führt zu dem sogenannten „Goldton“, die von kalten Farben zum „Silberton“, und kann diese ganze Periode nach diesem Grundgedanken etwa als merochromatische bezeichnet werden. Unerschöpflich im Auffinden immer neuer Effecte, immer neuer Hilfsmittel der Harmonisierung des großen Farbenorchesters gelangt von da aus eine nächste Künstlergeneration zu dem Grundsatz des Brechens oder Abdämpfens der Farben. Darnach werden alle rothen Töne bloß sepiabraun gehalten, alle blauen und grünen Farben werden zu allerlei grauen Tönen. In dieser Technik ist Tiepolo sicher ein unerreichter und überhaupt großer Meister. Nach demselben coloristischen Grundgedanken wird aus dem Goldton die sogenannte „braune Harmonie“, wie sie von Lairesse25

24 [Albrecht Dürer (1471–1528) widmete in seinem Entwurf zum Lehrbuch der Malerei ein Kapitel den „Farben“.] 25 [Der niederländische Maler, Graphiker und Kunsttheoretiker Gerard de Lairesse (1640– 1711) widmete sich nach seiner Erblindung 1689/90 kunsttheoretischen Fragen. In seiner Jugend noch ein großer Bewunderer Rembrandts, wurde er schon bald zum Vertreter einer klassizistischen Kunstauffassung in den Niederlanden, der besonders auf eine hierarchisch geordnete Gattungs- und Genretheorie zielte. Im ersten Band seines theoretischen Hauptwerks Groot Schilderboek (2 Bde. Amsterdam: De Coup 1707), das sich als Handbuch für Maler versteht, werden u.a. Anwendung von Farbe, Clair-Obscur, Kontrastwirkung sowie verschiedene Arten des Lichts besprochen.] Über Farbenharmonie (1900)

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ausdrücklich ­bezeichnet wurde, in dessen Zeit sogar brauntönige Egalisierungsfirnisse hiefür im Handel vorkamen; aus dem Silberton wird durch Übertreibung die „weiße Harmonie“, deren Caricatur unser modernes Pleineaire26 ist. Allen diesen Verfahren ist die Abdämpfung der starken Grundfarben gemeinsam; die primäre Farbenkraft hat sich zuerst vervielfältigt; dann auf herrschende Farben zurückgezogen, um zuletzt gänzlich zu verblassen. Allen diesen Stufenfolgen einer einzigen naturgemäßen Entwickelung liegt aber doch immer die gesunde natürliche Farbempfindung zugrunde, die der großen Gegensätze, des Hellen und Dunklen, des Kalten und Warmen, des Complementären, und in jeder dieser Farbenordnungen besteht eine wirkungsvolle Verbindung des Mannigfaltigen zu geschlossener Einheit; ein hoher Idealismus des künstlerischen Schaffens, eine Sicherheit des Wollens und Könnens. Ganz anders verhält es sich mit alledem im jüngst verflossenen Jahrhundert, in dem Jahrhunderte der verloren gegangenen künstlerischen Tradition, des Verfalles handwerksmäßigen Könnens, des Mangels künstlerisch großen Wollens. Den hier in äußerster Kürze vorgeführten Zug der Gesammtentwickelung hat zu Anfang dieses Jahrhundertes niemand überblickt und den in den letzten Ausläufen sogar noch enthaltenen compositionellen gesunden Kern

26 [Pleinairismus (von franz. en plein air: „im Freien“) bezeichnet eine im Freien, d.h. unmittelbar nach der Natur (und nicht aus der Erinnerung im Atelier) ausgeübte Malweise, in der die Wiedergabe natürlicher Bedingungen von Helligkeit und Farbigkeit angestrebt wird. Nach Anfängen um 1800 in England (Constable und Bonington) breitete sich die – im scharfen Gegensatz zur akademischen Auffassung stehende – Freilichtmalerei im 19. Jahrhundert in ganz Europa aus. Einflussreich war seit den 1830er Jahren in Frankreich die Schule von Barbizon (benannt nach dem Dorf am Rande des Waldes von Fontainebleau), deren Vertreter (Rousseau, Daubigny, Dupré) als Schöpfer der Paysage intime gelten, einer aus unmittelbarer Naturanschauung erwachsenen realistischen Landschaftsmalerei (im Gegensatz zur komponierten Ideallandschaft). Einen weiteren Schritt markiert der zwischen 1860 und 1880 von französischen Malern (Monet, Manet, Degas, Renoir, Sisley, Pissaro u.a.) entwickelte, ebenfalls international rezipierte Impressionismus, bei dem die Malerei in der freien Natur ganz aus der Farbe geschaffen ist. Im Vordergrund stehen nicht mehr die Gegenstände, sondern ihr durch Sonne, Licht und Luft bestimmter farbiger Eindruck. Mittels kleinster Farbflecken, die sich erst in gewisser Entfernung im Auge des Betrachters zu einem optischen Ganzen zusammenfügen, werden Naturerscheinungen unter dem Einfluss wechselnden Lichts und wechselnder Atmosphäre wiedergegeben, was mitunter zum weitgehenden Verlust von Buntwerten führte.]

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offenbar auch niemand mehr herausempfunden. So entstand mit zwingender Nothwendigkeit zunächst ein entsetzliches Durcheinander in der Farbengebung, welches besonders auf architektonischem Gebiete unglaubliche Barbareien zu tage förderte. Vermöge der Gleichzeitigkeit des sogenannten Wiederbelebens aller alten Stile und Schuleinrichtungen und vermöge des Umstandes, dass die Farbengebung auch theoretisch auf falscher Fährte wandelte, wurde das Widerwärtige bis zur Unleidlichkeit gesteigert, und so kam es, dass trotz des Mangels aller Schulung für feinere Farbempfindung doch das Unharmonische, ja Hässliche und Gemeine aller dieser sinnlosen Farbenzusammenstellungen denn doch wenigstens gemerkt wurde. Gänzlich hilflos und ohnmächtig dem nicht mehr verstandenen Problem gegenüber, versuchte man sich wenigstens dadurch zu retten, dass man die widerspens­ tig aufeinander prallenden Farbtöne abstumpfte, wodurch ihnen allerdings die Heftigkeit des Hässlichen genommen wurde, wodurch aber zugleich alle die Aschenfarb- und Chocoladetöne entstanden, die trotz ihrer Kraftlosigkeit doch nicht zusammenpassen und bloß ein Jammerbild gänzlichen Verfalles darstellen. Eine Periode des Eklekticismus auch auf dem Gebiete der Farbe, aus der sich die Verhimmelung der sogenannten „undefinierbaren“ Töne herausgesponnen hat, der unausgesprochenen Drittel- und Vierteltöne, in denen auch heute noch das „Feine“ in der Farbengebung gesucht wird. Der Unterschied zwischen einst und jetzt ist aber sehr wesentlich. Wenn man die Arbeit eines alten Halbtonmeisters, eines Tiepolo oder anderer in der Farbe wieder steigern würde, so bekommt man ein in Ganztönen trefflich im Gleichgewichte entworfenes Farbenspiel, weil diese Meister, in der gesunden Schule üppiger Farbengebung aufgewachsen noch in ganzen Farben richtig denken konnten; wenn man aber ein feines, modernes Dämmerstück oder Plaineairstück in kräftige Ganztöne übersetzen würde, so gäbe es ein unharmonisches, schrilles Durcheinander, wie etwa das bloße Stimmen eines Orchesters. In dieser jammervollen Lage wandte man sich endlich an die mittlerweile großgewordene Wissenschaft: an Physik und Physiologie und nun kam gar die Periode der Farbenkreisel und der Katechismen für Farbenharmonie, noch obendrein in Anilinfarben! Allerdings haben unsere Maler, soweit sie doch noch über gesunde Augen verfügen, jeder einzeln sehr bald eingesehen, dass diese Farbenkreiseltheorie unmöglich richtig sein könne; denn reichlich genug abscheuliche Rathschläge gibt dieser Kreisel, und unzweifelhafte coloristische Schönheiten Über Farbenharmonie (1900)

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­vermag diese Theorie der prismatischen Farben durchaus nicht zu erklären, wie z.B. gleich den so ungemein wohlgefälligen Reiz von der Combination: Blau, Roth, ferner warum Grün und Schwarz so gut zusammenpassen, während Blau und Schwarz unausstehlich wirkt u.s.w. Es zeigt sich da vom künstlerischen Standpunkte aus, was vom physiologischen aus stets vermuthet wurde, dass die Young’sche Farbenempfindungstheorie27 eben falsch sein müsse. Gleich von Anfang an war Helmholtz ein Gegner der Young’schen Anschauung, deren Umänderung sich meist um die Wahrnehmungen bei Farbenblinden drehte, ohne zu einem befriedigenden Ende zu kommen, bis endlich die Entdeckung von einseitiger Farbenblindheit gemacht wurde. Jetzt erst konnten die Wahrnehmungen eines farbenblinden Auges durch die des anderen gesunden Auges von derselben Person sichergestellt werden, und nun zeigte sich auch alsbald die Young’sche Dreifarbenlehre als verfehlt. Das Ergebnis dieser Untersuchungen (s. W. Preyer: „Über den Farben- und Temperatursinn“, 1881)28 fasst sich, bereits der leichteren Verständlichkeit halber auf den anatomischen Apparat übertragen, dahin zusammen, dass im ganzen vier Stäbchen der Netzhaut gleichsam zu einem vollständigen Farbempfindungsgestecke zusammengehören; zwei Paare sind durch einen Ganglienmasse verbunden und jedes Paar für sich ebenfalls; das eine Paar vermittelt die Empfindungen Roth, Grün, das andere Paar die Empfindungen des Blauen und Gelben. Eine wahre Erlösung! Trotzdem aber diese That schon siebzehn Jahre hinter uns liegt, herrscht noch überall der Dreifarbenkreisel und Akademien, Zeichenschulen und Lehrbücher wissen von all dem Umsturz noch nichts. Wie schön aber stimmt diese physiologische Entdeckung mit den Thatsachen der Kunstgeschichte! Noch mehr! Nach den Untersuchungen von Graber („Grundlinien zur 27 [Der englische Augenarzt, Physiker und Naturphilosoph Thomas Young (1773–1829) studierte in Göttingen Medizin und wurde 1801 Professor für Physik am Royal Insitute in London. 1807 postulierte er die – gemeinsam mit Helmholtz entwickelte – Dreifarbentheorie (Farbenmetrik, auch Young-Helmholtz-Theorie). Dieser Theorie zufolge setzen sich alle Farbeneindrücke aus den Grundfarben Rot, Gelb und Blau zusammen, was das Farbensehen ermöglicht.] 28 [Preyer, William: Über den Farben- und Temperatur-Sinn mit besonderer Rücksicht auf Farbenblindheit. Bonn: Strauss 1881.]

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Erforschung des Helligkeits- und Farbensinnes der Thiere“ 1884)29 haben Thiere ein außerordentlich stark entwickeltes Helligkeitsgefühl; der Contrast roth-blau wirkt bei ihnen im allgemeinen am stärksten und wenn auch beim Menschen aller Racen und Culturstufen das sinnliche Empfinden der Farben im allgemeinen ein ganz gleiches ist, wie vollkommen sicher nachgewiesen wurde, so ist dasselbe durchaus nicht der Fall mit der seelischen Auffassung der Farbe, welche lediglich von der Schulung, von der willkürlichen und landesüblichen Richtung der Aufmerksamkeit, also alles zusammen vom Zeitgeschmacke abhängt. Man kann auch seelisch farbenblind sein, mit sonst ganz normalem Auge, so wie es unmusikalische Menschen gibt, die trotz fehlerlosen Ohres, doch die herrlichen Harmonien unserer Meisterwerke der Tonkunst, lediglich aus Mangel an Schulung nicht aufzufassen verstehen. Erst von diesem Standpunkte aus gewinnt die geschilderte ästhetische Entwickelung ihren natürlichen Untergrund, die physiologische Erklärung der ganzen Erscheinung. Jetzt erst wird die Übereinstimmung zwischen sprachlichem Ausdruck und künstlicher Gestaltung vollkommen klar. Sie fließen beide gleichzeitig aus der Quelle des Interesses an der Naturerscheinung, der seelischen Vertiefung in dieselbe und der allmählich immer feineren Beobachtungsfähigkeit. Jetzt wird es klar, warum gleichzeitig das homerische Epos die grüne Farbe nicht nennt, welche auch in den mykenischen Malereien nicht vorkommt und warum Gladstone30 bei seinen Untersuchungen über die Farbnamen bei Homer finden konnte, dass Homer sein Farbensystem nur auf den Gegensatz von Licht und Dunkel gründe und nicht auf den Gegensatz der Art der Farben.

29 [Graber, Vitus: Grundlinien zur Erforschung des Helligkeits– und Farbensinnes der Tiere. Prag: Tempsky u.a. 1884.] 30 [William Ewart Gladstone (1809–1898), englischer Handelsminister, Staatssekretär für die Kolonien und mehrmals Premierminister, legte zahlreiche Publikationen über Homer vor, u.a.: Studies on Homer and the homeric age. Oxford: University Press 1858; Homer’s Place in History. London 1874; Homeric synchronism: an enquiry into the time and place of Homer. London: Macmillan 1876; Homer. London: Macmillan 1878; Homer: Introduction to the Homeric Poems. London: Macmillan 1891; Kypros, the Bible and Homer; oriental civilization, art and religion in ancient times … London, Berlin: Asher & Co 1893. In deutscher Übersetzung erschienen u.a. Der Farbensinn: mit besonderer Berücksichtigung der Farbenkenntnis des Homer. Breslau: Kern 1878 („The Colour–Sense“, in: The Nineteenth Century, Okt. 1877).] Über Farbenharmonie (1900)

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Im Zusammenhang der ganzen Entwickelungsreihe aber zeigt sich, dass die altgriechische Farbenkunst thatsächlich noch hart an der Schwelle erster Entwickelung stand, auf dieser Stufe aber trotzdem Außerordentliches leistete, eben kraft der ungewöhnlichen Feinfühligkeit der Nation für sinnlich Schönes. Es zeigte sich ferner, dass die griechische Farbencomposition wesentlich verschieden von der orientalischen und ägyptischen ist und aus dieser nicht abgeleitet werden kann, wohl aber unmittelbar aus den Natureindrücken der griechischen landschaftlichen Naturbilder. Es ergab sich endlich, dass dieses System der Polychromie der Griechen bis in die ältesten Zeiten sich zurückverfolgen lässt und zu allen Zeiten, auch in denen vor dem Aufkommen des größeren Völkerverkehres, schon um eine ganze vollgemessene Entwickelungsstufe höher stand als das der Ägypter und Mesopotamier etc., dass also irgend eine Beeinflussung von dorther gänzlich ausgeschlossen ist. Die altgriechische Polychromie ist ein reines Naturproduct, konnte als solches nur in Griechenland entstehen und geht daher auch unter keiner Bedingung auf eine etwaige gräco-italische Urzeit zurück in anders gearteter, etwa gar nordisch neblischer Gegend. Das sind durchaus widernatürliche Unmöglichkeiten. Ein sicheres Beispiel hier zu sehen, wie nicht Angliederung an Vorbilder, sondern die Natur selbst unmittelbar kunstschaffend wirkte und somit an verschiedenen Orten auch ohne jeden Zusammenhang ähnliches nicht nur hervorbringen konnte, sondern hervorbringen musste, scheint selbst für die allgemeine Auffassung kunstgeschichtlicher Vorgänge nicht ohne Belang zu sein, denn der Nachweis der Naturnothwendigkeit einer ganzen Entwickelung beseitigt den blinden Zufall im Erfinden und Weiterbilden sicherer als das Verknüpfen von vermeintlichen Ähnlichkeiten zu einer Art geschichtlichem Entwicklungsgang. II. Pädagogisches Aus dem ersten Theil, der rein geschichtlichen Betrachtung von Farbenzusammenstellungen in der Kunst, hat sich ergeben, dass die Farbenharmonie durchaus keine physikalische Aufgabe ist, ja nicht einmal eine physiologische; sondern eine rein künstlerische Angelegenheit, dass die Farbenharmonie lediglich abhängt vom jeweiligen Stil, vom jeweiligen Zeitgeschmack. Daraus allein schon folgt, dass alle unsere so herrlich einfachen Schullehrsätze vom Farbenkreisel, dessen Voraussetzungen ja noch obendrein auf einer falschen Hypothese beruhen, rein nichts nützen; ja sogar nur dazu angethan sind, Unwahrheit, Unnatur und Unschönheit zu verbreiten und großzuziehen.

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Es ist eine ausgemachte Sache, die in der ganzen Welt anerkannt wird, dass es auf coloristischem Gebiete etwas noch Schlechteres als unsere gesammteuropäischen Zusammenstellungen von Farben auf den Volks- und Bürgerschularbeiten nicht gibt, nie gegeben hat und nie geben wird, weil noch widerwärtigere Töne in noch ekelerregenderen Nebeneinanderstellungen schlechterdings nicht möglich sind. Es zieht einem das Wasser im Munde zusammen, als ob man Galläpfel kauen müsste, und die Augen empfinden thatsächlich physischen Schmerz, wenn man diese kunstgeschichtlich ganz unerhörten Mischungen besehen muss. Und woher kommt das? Lediglich von der Theorie, welche, auf gänzlich falscher Basis aufgebaut, die giftig reinen, bissigen Farben unserer Anilin- und Chrom-Chemiker nicht beanständet, und welche nichts weiß von den rein künstlerischen Problemen der Farbenharmonie. Es muss hier auf diese heillose Verwechslung des Standpunktes entschieden noch näher eingegangen werden, denn die Verwirrung ist zu groß, als dass hier Wandel geschafft werden könnte, mit nur wenigen Worten. Es muss die Sache solange ins einzelne hinein durchgedacht werden, bis es unumstößlich klar geworden ist, dass es sich hier lediglich um künstlerisches Empfinden handelt, nicht um bloss physiologische Erscheinungen. Also zunächst etliche Beispiele. Elfenbein wurde in guter alter Zeit hauptsächlich farbig decoriert mit hellem Zinnoberroth und Vergoldung; so an dem berühmten Faltstuhl des Stiftes St. Peter zu Salzburg.31 Wie erklärt sich das vom Standpunkte des Farbenkreisels? Wo stecken da die „chromatischen Äquivalente“, welche Field32 31 [Der in St. Peter in Salzburg verwahrte Faltstuhl ist eine Leihgabe der Abtei Nonnberg. Er besteht aus einem Ledersitz und einem Holzgestänge aus dem 15. Jahrhundert, das mit Aufsätzen und Intarsien aus Walrossbein geschmückt ist. Sie wurden von einem älteren Stuhl übernommen, dessen Entstehung im 12. Jahrhundert am Rhein oder in England angeommen wird.] 32 [Der englische Chemiker George Field (1777–1854) verfaßte drei vornehmlich an Künstler adressierte Werke zur Farbenlehre: Chromatics, or an Essay on the analogy and harmony of colours (London: A. J. Valpy 1817), wo er auf Basis der Primärfarben Rot, Gelb und Blau eine Farbharmonie in ästhetischer Analogie zur musikalischen Harmonielehre aufstellte. 1835 folgte unter dem Titel Chromatography eine zweite Abhandlung (deutsche Ausgabe: Chromatographie – eine Abhandlung über Farben und Pigmente sowie deren Anwendung in der Malerkunst. Weimar: Landes–Industrie–Comptoir 1836) und 1850 schließlich Rudiments of the Painter’s Art, or A Grammar of Colouring (London: Weale), die u.a. über Herkunft, Zusammensetzung und Eigenschaften von Pigmenten, Farbstoffen Über Farbenharmonie (1900)

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vom Farbenkreisel abgeleitet hat und als Kunstregel aufstellte, ohne sich vorher zu fragen, ob denn dieses ganze bloss theoretisch construierte Farbengleichgewicht in der Kunst überhaupt jemals gegolten hat! Nun denn: diese Regel hat in der Kunst niemals gegolten und gilt auch heute nur in der Schule, aber nicht in der Kunst, weil jeder Maler soviel Farbensinn hat, dass er solche Mischungen, wenn er sie überhaupt je einmal versuchte, sogleich als unbrauchbar verwirft. Diese Elfenbeinbemalung erklärt sich künstlerisch aber sehr einfach, denn Weiß, Roth und Gold sind jedes für sich angenehme Farben, auch passt Roth zu Weiß sehr gut, weil es sich deutlich davon abhebt und ebenso passt Gold schön und feierlich zu Roth und ebenso frisch und glänzend zu Weiß, besonders dem weichen etwas gelblichen Elfenbeinweiß. Die heitere festliche Gesammtstimmung ist dieselbe und somit passen alle drei Töne erst recht herrlich zusammen. Mehr braucht es nicht. Ebenso passt zu Elfenbein ganz herrlich Lapis lazuli oder auch tiefes Schwarz; alles ohne dass hier irgendwie von einer Ergänzungsfarbe die Rede sein könnte. Ein anderes Beispiel. Bekannt ist die gute Farbenwirkung alter Bauernstuben mit ihrem dunkelbraunen Holzgetäfel unten und ebensolcher wo möglich noch dunklerer Tramdecke, den frisch getünchten weißen Wänden dazwischen und dem grünen Kachelofen dazu. Man erkläre das vom Standpunkte des Farbenkreisels; vom Standpunkte des Chevreul’schen Gesetzes33 der farbigen Contraste! Es geht nicht; dann das

und Malfarben informiert. In diesen Werken knüpfte Field an Arbeiten von Jakob Christof Le Blon (1667–1741) an, der 1730 einen Farbenkreis aus den drei Primärfarben Rot, Gelb und Blau und den drei Mischfarben Orange, Grün und Purpur vorschlug. Neu war, daß Field diese sechs Kreisfarben zu Primärfarben erklärte, aus denen er durch Überlagerung die Sekundär- und Tertiärfarben erhielt und denen er Bedeutung zusprach (hot, cold, retiring, advancing, high mean, low mean).] 33 [Der französische Chemiker Michel Eugène Chevreul (1786–1889) hatte großen Einfluß auf die Kunst, besonders des Impressionismus, Neoimpressionismus und Orphischen Kubismus (hier vor allem Robert Delaunay, 1885–1941). Als Direktor einer Gobelin-Teppichmanufaktur beschäftigte sich Chevreul mit der Färberei und mit Farben. In seinem 1839 erschienenen Werk De la loi du contrast simultané des couleurs (deutsche Ausgaben: Die Farbenharmonie, in ihrer Anwendung bei der Malerei. Stuttgart: Neff 1847; Die Farbenharmonie mit besonderer Rücksicht auf den gleichzeitigen Contrast in ihrer Anwendung in der Malerei, in der decorativen Kunst. Stuttgart: Neff 1878) schrieb Chevreul über die Gesetze der Farbkontraste, die er für die Herstellung von Textilien benötigte. Dazu entwarf er einen 72-teiligen Farbenkreis aus den drei Primärfarben (Rot, Gelb und Blau), den

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Holzbraun ist physiologisch eine bloße Verdunkelung von Gelb. Grün und Gelb sind aber physiologisch keine chromatischen Äquivalente; geben am Farbenkreisel auch nicht Weiß oder neutrales Grau und stehen auch in der That nicht gut zueinander. Gegenwärtig sind Gelb und Grün allerdings eine der modemäßig beliebten Secessionisten-Combinationen ebendeshalb, weil man dieser anerkannt hässlichen Zusammenstellung bisher allenthalben aus dem Wege gieng. Alles das sind aber doch deutlich Vorgänge auf dem Gebiete des Zeitgeschmackes, des rein künstlerischen Empfindens und nicht aus den Räumen physikalischer oder physiologischer Laboratorien. Die dunkelbraune Tramdecke, vielfach mit Erfolg nachgeahmt in unseren Bierpalästen, Jagdhäusern, Villen und Cottages, steht aber auch in denkbarst heftigem Contrast zu der pompejanisch-antiken Regel der Farbvertheilung, nach welcher als Nachempfindung der Lichtvertheilung in der Natur die De­ cken immer den lichtesten Ton des ganzen Innenraumes haben sollen. Dennoch gefällt uns das, noch obendrein gerade mit der kalkweißen Wand combiniert. Hier spielen offenbar eine Menge von Ideenassociationen mit; das Gefühl der Sicherheit, eine solide Deckenconstruction über sich zu wissen; das Gefühl des Behagens einer warmen holzgetäfelten Stube, des Geborgenseins vor Wind und Wetter draußen; die Erinnerung an frohe Landaufenthalte; die Verehrung der Werke unserer Väter. Das Mitwirken solcher Ideenassociation ist durchaus nichts Unkünstlerisches, sondern macht sogar einen sehr großen Vorrath der unentbehrlichen Hilfsmittel, besonders derjenigen Künste aus, die eben hauptsächlich Gefühlssache sind, wie die Farbenharmonie, wie die ihr wesensähnliche Musik. Zudem kommt bei der hier in Frage stehenden Bauernstube noch ein formal bindendes Element dazu, nämlich die Gleichheit der braunen Holzfläche unten und oben, getrennt durch das weiße Band in der Mitte. Das ist auch feste Ordnung, wenn auch nicht just die antik-pompejanische, was auch nicht nöthig, denn gefühlsmäßig nothwendig ist nur, dass irgendeine beliebige Ordnung ersichtlich wird. Rein künstlerisch compositionell könnte man es auch umgekehrt machen, nämlich: Sockel und Decke weiß; Mittelstreif braun und vom Standpunkte bloßer Neuigkeitshascherei könnte das einmal schon noch gemacht werden. Beifall dürfte es schwerlich finden, da alle vorher aufgezählten Ideenassociationen dabei in Wegfall

drei Sekundärfarben (Orange, Grün und Violett) sowie sechs sekundären Mischungen. Die dabei entstehenden Sektoren sind in jeweils fünf Zonen und alle Radien in 20 Abschnitte unterteilt, in denen sich – nach ihrem Weiß- bzw. Schwarzanteil unterschieden – verschiedene Stufen der Helligkeit finden.] Über Farbenharmonie (1900)

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kämen, was neuerdings lehrt, wie wichtig solche in der Kunst auch der bloßen Farbengebung sind. An sich, nur als Farbenzusammenstellung, ornamental verwertet, sind auch Blau und Grün nebeneinander ebenso zweifellos und allgemein anerkannt hässlich; in Landschaftsbildern, wo stets die grünen Bäume neben dem blauen Himmel stehen, aber nicht, weil es hier der Wahrheit in der Natur, der Gewohnheit des Sehens entspricht. Von solchen Wahrheiten und Gewohnheiten lehrt der Farbenkreisel wieder nichts. Grüne Kacheln können auf die höchste Stufe coloristischen Effectes getrieben werden durch schwarzes Ornament und Aufsetzen von Goldlichtern. Braune Gründe ebenso durch helles Roth und Goldlichter. Ledergelb (z.B. in Costümen altdeutscher Bilder, Zeitblom etc.) wird coloristisch am vollendetsten in Stimmung gesetzt durch schwarze Randstreifen, weiße Halskrägen und dunkel-blaugrüne Mäntel. Ein herrlicher Farben­ accord, wo jedoch jede Einzelfarbe harmonisch zu den übrigen gestimmt sein muss, allerdings entschieden nicht nach den Schulregeln von Field oder ­Chevreul oder ihrem unabsehbaren Heer von Nachtretern. Bekannt ist die üppig goldige Wirkung ungarischen Eschenholzfladers in Intarsien; bekannt die feine frische Wirkung von Blau-weiß der Delfter Fayencen; die alte Bemalung von geschmiedeten Eisengittern mit schwarz oder dunkelgrün bei Aufsetzung vergoldeter Lichter und ebenso die vielfachen prächtigen Emailfarbstimmungen auf Goldarbeiten, wie Blau und Weiß auf Goldgrund; Schwarz und Weiß auf Gold; Schwarz und Grün auf Gold; Schwarz allein oder Weiß allein zu Gold, durchaus Combinationen, welche nach den Schulregeln in keiner Weise erklärt werden können, denn sie sind alle coloristisch einseitig componiert. Gerade das ist es, was künstlerisch wirkt, nämlich gemüthserregend, Stimmung erzeugend. Gerade das Gegentheil davon ist die theoretische Regel von den Äquivalenten, dass sogar die Farbflächen ihrem Wert am Kreisel entsprechen sollen, indem es nämlich heißt (wie in den Kochbuchrecepten): „nimm 8 Orang und 8 Blau, gib zu 11 Grün 5 Roth und zu 13 Purpur 3 Gelb“. Der hier zu grunde liegende Gedanke, dass die zusammenstimmenden Farben sich auf weißes Licht genau ergänzen müssten, ist ja bloß mathematisch erfunden und niemals, von niemanden auf seine künstlerische Berechtigung erprobt worden. Der Erfinder dieses Gedankens hätte sofort nach Erfassung desselben in die nächste große Bildergallerie sich begeben und dort Bild für Bild genau ansehen müssen unter gewissenhafter Vorlegung der Frage, ob sein

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vermeintlicher Lehrsatz hier auch wirklich Geltung hat oder nicht. Da hätte er sofort erkannt, dass in der Kunst das gerade Gegentheil geschieht von seiner vermeintlichen Regel, dass man da grundsätzlich nicht auf Egalisirung ausgeht, sondern dass in dem einen Bild Grün vorherrscht, in dem andern Roth, wieder in einem andern Blaugrau u.s.w., weil jedes Bild aus einer andern Tonart geht, weil jedes Stimmung erwecken will, jedes eine andere; während Ausgleich der Farben auf gleichmäßiges neutrales Grau in sämmtlichen Bildern überall denselben Effect erzeugen würde, und zwar noch obendrein ohne Sonderstimmung. Alle die zahllosen Einzelstimmungen von Bildern lediglich nach ihrer Farbe allein schon: das Frische, das tief Traurige, das Frohe, Lustige, Großartige, Erhabene, Behagliche, Kindliche, Bösartige, der licht farbenstrahlende Engel, der schwarzrothe Teufel, die fahlgraue Hexe, der bleiche Tod alles, alles was Stimmung bedeutet in der Farbe, wäre weggewischt, es gäbe keine Farbenmusik mehr, keine Farbenkunst, nur gemüthlose, stimmungslose Farbenmathematik. Ebenso deutlich wie aus dieser Beobachtungsreihe ergibt sich die künstlerische Wertlosigkeit aller auf der Young’schen Dreifarbentheorie künstlich aufgebauten Lehrsätze aus der Unfähigkeit, daraus allgemein empfundene Unschönheiten oder Schönheiten von Farbenzusammenstellungen theoretisch zu erklären. In dieser Beziehung muss E. Brücke als entscheidende Persönlichkeit citiert werden. Seine schon 1866 erschienene „Physiologie der Farben für die Zwecke der Kunstgewerbe“34 ist nicht bloß das weitaus beste, was über diesen Gegenstand jemals geschrieben wurde, sondern auch an und für sich ein vortreffliches Buch, das jeder Künstler mit Vergnügen und Nutzen studieren wird, das jeder Lehrer unbedingt gründlich kennen sollte. Brücke, selbst Kunstfreund und Bilderkenner, von Jugend an in Künstlerkreisen aufgewachsen, verfügte über ein so großes Material feiner Beobachtungen und richtig empfundener Wirkungen von Farbenzusammenstellungen, dass es ihm gelang, aus den Werken der Kunst selbst eine ganz stattliche Reihe von Regeln wirklicher Farbenharmonie und Disharmonie abzuleiten und in klarer Eintheilung vorzutragen; die Erklärung der richtig empfundenen Erscheinungen missglückt aber, weil Brücke noch mitten in der Zeit der vollständigen

34 [Brücke, Ernst: Die Physiologie der Farben für die Zwecke des Kunstgewerbes. Leipzig: Hirzel 1866; ders.: Bruchstücke aus der Theorie der bildenden Künste (= Internationale wissenschaftliche Bibliothek, Bd. 28). Leipzig: Brockhaus 1877. Zu Ernst Brücke siehe auch: Sitte, Camillo: „Die Schönheit des Armes (1893)“, S. 331, Anm. 1 in diesem Band.] Über Farbenharmonie (1900)

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­Herrschaft der Young’schen Theorie35 lebte und sich daher von den Farbenkreisellehren nicht loszuringen vermochte. So erklärt Brücke die Unschönheit der Zusammenstellung Blau‑Violett aus der Kleinheit der Intervalle. Wenn das der richtige Erklärungsgrund wäre, so müsste die Zusammenstellung Gelb‑Orange ebenso hässlich sein, was nicht der Fall ist. Die Hilfsannahme, dass kleine Intervalle nur auf Seite der kalten Farben schlecht wirken, auf Seite der warmen Farben aber zulässig seien, fällt doch bereits vollständig aus dem Rahmen des Farbenkreisels heraus, ist aber zudem sicher wertlos; denn Brücke selbst erklärt zweierlei Blau ebenso als eine gute Zusammenstellung wie zweierlei Gelb. Der Grund liegt ganz wo anders. Violett ist nämlich eine an sich unangenehme Farbe, was wiederum Brücke gar wohl weiß und richtig empfunden hat; denn er sagt, dass Grün möglichst wenig und Violett womöglich gar nicht verwendet werden sollte, besonders nicht in Architektur und Ornamentik. Für Violett gibt es in der That nur eine einzige Verwendung, wo es sich bis zu geradezu prunkhaftem Effect emporhebt, nämlich bei dunkelvioletten glänzenden Seidenstoffen mit üppiger Goldstickerei. Das gibt jene altindischen Prachtgewänder, deren Farbengewalt allerdings alles andere übertrifft. Sonst aber ist Violett die Farbe des Alters, der Gebrechlichkeit, Krankheit, des herannahenden Todes. Physiologisch lässt sich dieser am Violetten haftenden Gefühlsinhalt gewiss nicht erklären, sondern sicher nur durch unbewusste Ideenassociationen. Roth ist die wärmste Farbe, Blau die kälteste. In dieser seiner Eigenschaft wird Blau durch Beimengung von Roth gebrochen, gleichsam ein in seinem innersten Wesen entstelltes krankes Blau, ein auf heißer Tasse serviertes Gefrorenes. Tritt nun reines Blau daneben, so wird diese Entwertung seiner Eigenheit erst recht empfunden, und da beide Farben dunkel sind und an sich die Eigenschaft haben, sich nicht scharf abgegrenzt sehen zu lassen, nicht wie grelles Roth, das in zunehmender Dunkelheit am längsten unter allen Farben noch sichtbar bleibt, während Blau und Violett zuerst verschwinden, so wird es begreiflich, dass diese Combination ein zweifaches Unbehagen erzeugt, einmal das seelische Unbehagen, die Farben nicht deutlich genug von einander unterscheiden zu können, und dann noch die Widernatürlichkeit des kalten Blau mit warmem Stich. Eines der merkwürdigsten Farbenräthsel besteht darin, dass Blau‑Schwarz in ornamentaler Verschlingung zu den abscheulichsten Verbindungen 35 [Siehe oben Anm. 27]

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­gehört, die es gibt, während Grün‑Schwarz eine vortreffliche Mischung darstellt. Beides sind Zusammenstellungen dunkler, kalter Farben von kleinem Intervall, wenn man sich nämlich das Schwarz als vollständig verfinstertes Blau denkt, und sollten daher gleich schlecht wirken. Denkt man sich aber das Schwarz als verfinstertes Roth, so hätte man die Auflösung Roth‑Grün einerseits und Roth‑Blau andererseits, also zwei gleich gut wirkende Paare. Und in der That liegt hierin vielleicht die Lösung des Räthsels; denn Grün erzeugt auf nebenstehendem Schwarz einen complementären röthlichen Stich, so dass diese Combination an das schöne Binom Roth‑Grün anzuklingen beginnt. An das Mitwirken solcher subjectiver Contrastfarben hat auch schon Brücke verschiedenemale gedacht; so, indem er die Wahl von Weiß und Schwarz als Grundlage von Isochromien für gefährlich bezeichnet, weil dabei „leicht schädliche Contrastfarben entstehen können“. Bekannt ist der vortreffliche Effect schwarzer Möbel auf olivengrünen Tapeten und ebenso die brutale Geschmacklosigkeit rother Füllungen auf schwarzen Möbeln, besonders wenn noch zarte Elfenbeineinlage dazu kommt. Gibt man aber noch mehr Farbe dazu, nämlich noch reichlich Goldbronze, Zinneinlagen mit schwarzen Gravierungen und verschiedenfarbige Holzintarsia, so entsteht auf Grundlage der Buntfarbigkeit eine neue Harmonie, das coloristisch herrliche Boullemöbel. Alles das beruht aber nicht auf bloß physikalisch-physiologischen Vorgängen, sondern auf rein seelischen der Empfindungsauslösung, die auch anatomisch getrennt von der bloßen Aufnahme des äußeren Sinnenreizes ihren Sitz nicht auf der Netzhaut des Auges haben, sondern im Sensorium, im Gehirn. Auf der Netzhaut des Auges spielen sich jene nervösen Ermüdungserscheinungen ab, welche nebst der Empfänglichkeit für vier Grundfarben (zwei kalte und zwei warme) die subjectiven Farbentäuschungen (Nachbilder, complementäre Färbungen etc.) geben. Alles übrige, was für uns an der Farbenerscheinung noch haftet, das Angenehme, Unangenehme, Fröhliche, Traurige u.s.f., das spielt sich alles nicht mehr auf der Netzhaut ab, gehört also auch nicht mehr in den engeren Kreis der physiologischen Untersuchungen der Sinnesthätigkeit, sondern ist eine rein seelische Angelegenheit und hängt ausschließlich mit der Wahrnehmung und seelischen Deutung des empfangenen Farbenreizes ab, also von ausschließlich psychologischen Erscheinungen. Auf diesem Standpunkte der grundsätzlichen Ablehnung jedweder physiologischen Farbentheorie angelangt, zeigt sich endlich freie Bahn, Über Farbenharmonie (1900)

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um, unbeirrt von falschen Vorstellungen und irrigen Annahmen, an die rein psychologische Erklärung künstlerischer Farbenwirkungen zu gehen. Das ganze große Gebiet der Erregung bestimmter Gemüthszustände durch bestimmte Farben, z.B. der Heiterkeit durch helles Blau, der Trauer durch Schwarz, höchster Energie, also der Kampflust oder auch Festesfreude, durch Roth u.s.w., dem bekanntlich schon Goethe in seiner Farbenlehre einen bedeutenden Raum gewährt hat und das man gewohnt ist, unter dem Titel „Farbensymbolik“ zusammenzufassen, muss hier zur Seite liegen gelassen werden, als zu weit abseits vom Wege führend. Nur soviel sei im Vorbeigehen erwähnt, dass es sich dabei nicht ausschließlich um Wirkungen von Ideenassociationen handelt, sondern dass in dieser Beziehung in allen Künsten derselbe methodische Vorgang eingehalten wird, in der Farbensymbolik genau so wie in der musikalischen Accord- und Tonartensymbolik, genau so wie in der Mimik und in der ornamentalen Linien- und Flächenabwägung nach Stimmungen heiteren Charakters, z.B. für einen Tanzsaal, tief ernsten und traurigen für die Proportionen und Linienführungen einer Gruft etc. Der Vorgang hiebei ist folgender: Jeder Künstler bildet sich aus dem Gesammtmateriale seiner Kunst eine fortlaufende, stetige Reihe, auf deren einem Ende alles schwermüthig Wirkende vereinigt ist, an deren anderem Ende alles Lustigste und Heiterste sich zusammenschließt, in der Mitte alles übrige in stetem Übergange. Werden in derselben Weise alle Einzelzustände unserer Gemüthserregungen geordnet und dann sämmtliche so erhaltenen Reihen genau übereinandergelegt, mit den gleichartigen Polen auf derselben Seite, so erhält man genau das, was in Leben und Kunst seit jeher üblich ist. Es fällt die Todtentrauer des Lebens mit dem C-Moll des Musikers und dem Schwarz des Farbensymphonikers und dem gesenkten Haupte und Blicke nebst schlaff herabfallendem, schwarz umflortem Haare des Mimikers übereinander u.s.f. Bloße Ideenassociationen spielen im einzelnen hiebei mehrfach mit, aber das bestimmt ausgesprochene System im ganzen ist etwas Ureigenes für sich und beruht auf der Grundlage aller Urtheile und Schlüsse, nämlich auf der Vereinigung des Gleichartigen und auf der Trennung des Ungleichartigen, also auf denjenigen ältesten, primitivsten seelischen Vorgängen, auf denen schon der uranfänglichste Gebrauch der Sinnesorgane überhaupt beruht, auf denen die Begriffsbildung, die ihr entsprechende Bildung der Sprachwurzeln, kurz unser gesammtes Denken und Fühlen aufgebaut ist.

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So erklärt es sich auch, dass alle diese Dinge in Natur und Kunst schon längst vorhanden sind, dass niemand sagen kann, wer das erfunden hat oder wie das geworden ist, weil alles in der Natur selbst so gegeben ist und mit unseren Sinnen, mit unseren Seelenkräften als deren naturnothwendige Lebens­ thätigkeit gleichzeitig so geworden ist. Vom rein kunsttechnischen Standpunkte aus muss daher in das gesammte Farbengewirre sofort Ordnung kommen, und zwar eine naturgemäße, wenn die Farben lediglich nach diesem Grundsatze der Scheidung des Gleichartigen und des Verschiedenen geordnet werden. Es ergibt sich darnach die folgende Tabelle (Siehe nächste Seite.) Die Wirkung dieser im wesentlichen sieben Gruppen von Farbenzusammenstellungen zu zweien ist sehr verschieden. Die Gruppen A und B haben infolge der Verschiedenheit von Farbton und Helligkeit die größte Deutlichkeit für sich, welche in großen Flächen und plumpen Formen eine derartige Heftigkeit des Eindruckes annehmen kann, dass derselbe bereits unangenehm wird. Dagegen bei feiner Vertheilung, z.B. feinstes Schwarz: Niello (etwa im Stile von Mignot und Birkenschulz etc.) auf Goldgrund oder Goldfiligran von feiner Linienführung auf blauem Sammt wirken bezaubernd schön. Die Combinationen A mit Schwarz wirken ernst und feierlich, die Combinationen B mit Blau äußerst lebendig. C gibt im wesentlichen den bekannten kühlen Silberton und D den warmen Goldton. Höchst merkwürdig ist die so verschiedene Wirkung der sonst so nahe verwandten Gruppen E und F Blau‑Roth, die lebendig gewordene, versinnlichte Lebensfreude; Grün‑Roth, eine gefährliche Combination, deren Empfindungsgehalt äußerst schwer mit Worten anzudeuten ist; es liegt sozusagen etwas Türkisches, etwas Mongolisch-Tartarisches in dem Wesen dieser Combination, etwas wie der unheilvolle ewige Kampf ums Dasein und dabei doch von förmlich dramatischer Farbenkraft, eine Blutlache auf üppig grünendem Anger.

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Farbenbinome, nach ihrer Verschiedenheit geordnet.

Grad der ­ erschiedenheit V

in Bezug auf Helligkeit

in Bezug auf Farbton, kalt, warm, complementär

Vollständige ­Verschiedenheit

verschieden

verschieden

Halbe ­Verschiedenheit

Keine wesentliche Verschiedenheit mehr enthaltend

verschieden

Farben­ zusammenstellungen

Gruppe

Schwarz und Gold Schwarz und Weiß

A

Blau und Gold Blau und Gelb Dunkelblau und Orange

B

Dunkelblau und ­Lichtblau Blau und Weiß oder Silber

C

Roth und Gold Braun und Gold

D

gleichartig

gleich

verschieden

Blau und Roth

E

Grün und Roth

F

gleichartig

gleichartig

Schwarz und Blau Blau und Grün Lichtgrün und Gelb Violett und Schwarz Violett und Blau Violett und Roth

G

Auch in Bezug auf die Combinationen G lässt sich eine Merkwürdigkeit feststellen. Ornamental verwendet, also etwa schwarzes Ornament auf blauem Grund oder blaues auf grünem oder gar violettes auf schwarzem Grund, wirken diese Zusammenstellungen unter aller Kritik schlecht. Dieselben Paarungen aber zu Abschattierungen von Faltenwürfen oder Schillertönen verwendet, wirken vortrefflich. Im ersteren Falle soll man nämlich die ornamentalen Formen rasch und leicht verstehen, was bei diesen in einander übergehenden Tönen nicht gut gelingt und daher eine seelische Erschlaffung, ein inneres Unbehagen erzeugt, während im letzteren Falle das Ineinanderfließen gerade günstig ist und zur Stoffeinheit bei wechselndem Lichtspiele beiträgt. Schwarz‑Olivengrün würde auch noch hierher gehören, spielt aber eine Ausnahmsrolle, wie früher schon erläutert wurde. Nach alledem zeigt sich wieder, dass den Complementerscheinungen des Farbenkreisels nur eine untergeordnete Rolle in der Rubrik Farbenton, neben der Kategorie kalt und warm zukommt. Die Entscheidung aber, ob eine Zusammenstellung angenehmen oder unangenehm wirkt, hängt von der Möglichkeit leichter, spielender Unterscheidung oder wieder Zusammenfassung

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zu einem einheitlichen Ganzen ab, so dass ein und dieselbe Farbenverbindung sogar in dem einen Fall hässlich, in dem anderen Fall schön sein kann. Man steht hier wiederum vor dem allgemeinen großen Kunstgesetz der Forderung größter Mannigfaltigkeit bei größtmöglicher Einheit und zugleich zweifelloser, leichtfasslicher Deutlichkeit. Werden diese Bedingungen gleichzeitig in hohem Grade erfüllt, so macht die Betrachtung eines derartigen Kunstwerkes auf den Beschauer den Eindruck, als ob er heute schärfer sehen und leichter denken könnte; er fühlt sich in seiner ganzen geistigen Kraft über sich selbst erhoben, und das thut wohl, innerlichst wohl, wenn auch unbewusst, und darin besteht der rein äußerlich technische Reiz jedes gelungenen Kunstwerkes, dass es dieses Behagen mittheilt, dieses geistige Kraftgefühl, das bekanntlich darin gipfelt, dass man meint, gerade die größten Kunstwerke leichtlich selber auch so machen zu können, weil alles gar so klar, gar so natürlich aussieht, dass es anscheinend gar nicht anders sein kann. Nur noch ein letztes Beispiel: Ein purpurrother Sammetmantel mit hellgrauem Pelz oder Peluche verbrämt. Herrlich! Aber warum? Hellgrau ist eine Dämpfung von Blau. Dieser Paarung liegt also die üppig lebensfreudige Gruppe: Roth, Blau zu grunde. Dazu kommt hier noch durch Verdunkelung des Roth und äußerste Aufhellung des Blauen der zweite Contrast des Hellen und Dunklen und endlich noch durch Steigerung des Roth bis zu seiner üppigsten Tönung und durch Abdämpfen des Blauen bis an die Grenze der Unkenntlichkeit der neue Contrast gesättigter und stumpfer Farbe. Also ein Beispiel von coloristischer Herausbildung eines noch merkwürdigeren Contras­ tes aus einem schon vorhandenen durch Häufung der Contraste. Kein bloß mechanisches Herabrechnen der Äquivalente liegt hier und überall vor, sondern wirkliches künstlerisches Herausmodellieren eines gesteigerten Effectes. Soll nun aber alles in eine knappe Regel zusammengefasst werden, so könnte sie etwa so lauten: Jeder farbige Gegenstand sei entweder entschieden einfarbig oder bei deutlicher Unterscheidbarkeit der Einzelfarben zweifarbig oder endlich buntfärbig bei leichter Erkennbarkeit einer beliebigen, aber fest durchgeführten Gesammtanordnung und bei derartiger Nebenei­ nanderlagerung der Farben, dass jede einzelne sich deutlich von ihren Nachbarfarben abhebt. Noch mehr in die oberste allgemeinste Regel hineinzutragen, scheint nicht zulässig, weil im einzelnen die Bedingungen, Regeln und wieder Ausnahmen zu mannigfaltig sind. Über Farbenharmonie (1900)

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Theodor Alt („System der Künste“)36 hat diesen allgemeinsten Grundsatz schon erkannt, indem er Seite 64 sagt: „Bedenklich sind Paarungen von Farben, welche sich weder als einstimmig noch als entgegengesetzt verhalten.“ Unter einstimmigen versteht aber Th. Alt nur die kleinen Intervalle des Farbenkreises und unter entgegengesetzten nur dessen Complementärfarben. Diese leidige Theorie hindert ihn also wieder, den richtigen fruchtbaren Gedanken weiter zu verfolgen. Noch schlimmer steht es mit den reinen Theoretikern, denn das ist eben das Bezeichnende aller solchen verstandesmäßigen Theorien, dass sie irgendwie einmal durch eine Kette von Verstandesschlüssen scheinbar bewiesen, dann, als unabänderlich feststehend, unablässig nachgebetet werden, wenn sich auch noch so tausendfältig an den schlechten Früchten deutlich sehen lässt, das der ganze Plunder nichts taugt. Wie wäre es möglich gewesen, bei einem einzigen vergleichenden Blick auf die praktische Farbenverwendung im Leben, in der lebendigen Kunst, soviel Zeit und Geld auf eine so von Grund aus verfehlte Sache zu vergeuden! Nie wäre es dahin gekommen, ein so kostbares Werk wie die Grammatik der Farben von E. Guichard37 mit 765 Farbentafeln (Paris 1882, Ladenpreis 120 Francs) zwecklos herauszugeben; unmöglich könnten Jahr für Jahr in allen Sprachen der gebildeten Welt große und kleine Auszüge aus diesem und den anderen bereits genannten Hauptwerken dieser Richtung erscheinen in allen denkbaren Formaten und Varianten der Ausstattung, für Schulen, zum Selbstunterricht, für Maler und Anstreicher etc. Da es doch ein aller Welt bekanntes offenes Geheimnis ist, dass in den Ateliers der Maler, auf den Gerüsten der Decorateure, in den Werkstätten der Tapezierer etc. sich keine menschliche Seele um diesen Farbenkreisel-Kribskram kümmert, denn jeder Lehrjunge weiß, dass diese Regeln nirgends angewendet werden. Nur der verbissene hochmüthige Theoretiker hält sein Dogma aufrecht und statt zuzusehen, ob es denn in der Kunst auch wirklich gilt und gelten kann, schreibt er es kategorisch der Kunst als unverbrüchliche Regel vor. So niemand Geringerer als Owen Jones, der in der Einleitung zu seiner

36 [Alt, Theodor: System der Künste – mit Rücksicht auf die Fragen der Vereinigung verschiedener Künste und des Baustils der Zukunft. Berlin: Grote 1888.] 37 [Guichard, Eduard: La Grammaire de la Couleur. 765 planches coloriées reproduisant les principales nuances obtenues par le mélange des couleurs franches entre elles. Texte explicatif en Français, Allemand et Anglais, etc. Paris: H. Cagnon 1882.]

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„Gramma­tik des Ornamentes“38 auch die Field’schen Äquivalente wie eine sichere Entdeckung behandelt und mit den Worten schließt: „Es lässt sich in den Künsten der Gegenwart kein Fortschritt erwarten, bis alle Classen: Künstler, Fabrikanten und Publicum eine vollkommene Einsicht und Kenntnis der der Kunst zu grunde liegenden Principien erlagt haben.“ Das ist die echte Anmaßung des theoretischen Dogmatikers, der nicht einmal weiß, dass die Kunstentfaltung sich niemals nach theoretischen Vorschriften gehalten hat, dass den Theoretikern immer nur Talentlose und Dilettanten aufsitzen. Dieser Hochmuth des einseitigen Theoretikers spielt im gesammten Schulfach eine leider erhebliche Rolle, und gerade die Heroen der Pädagogik waren ausnahmslos schwer erkrankt daran. Die Devise dieses Schulhochmuthes ist aber der allbekannte, berühmt gewordene Satz: „Für die Schule ist das Beste gerade noch gut genug.“ Dieser von Hochmuth und Eigendünkel strotzende Satz, wie steht er da, wenn man sieht, wie gerade die Schulliteratur auf so vielen Gebieten geistiger Erkenntnis geradezu die unterste Stufe des jeweilig Geleisteten einnimmt? So auch auf unserem hier behandeltem Gebiete der Farbenlehre. Farbendrucke z.B. wird überhaupt niemals ein Sammler von Original­ aquarellen kaufen; dabei sei gerne zugestanden, dass es auch bereits virtuose Leistungen des Farbendruckes gibt, welche dem zu grunde liegenden Originalaquarell schon bis auf Weniges nahe kommen. Frägt man sich aber um die schlechtesten Farbendrucke, so sind sie unwiderleglich in Masse unter den farbigen Schulvorlagen zu greifen. Das ist geradezu entsetzlich, was sich darunter alles an schlechtem Druck, schlechter Farbe, Unrichtigkeit gegen Natur und Original, Unverstand in der Auffassung, gedankenloser Auswahl und Geschmacklosigkeit aller Art findet. Farbendrucke sollten überhaupt als Vorlagen grundsätzlich an keiner Schule geduldet werden, denn ihre Farben sind niemals von den Druckern so fein empfunden abgetönt, wie es sein sollte, fast niemals sind die großen Localtöne spiegelnd abgetönt, fast niemals die Einzeltöne durch Textierung belebt, niemals sieht man den Pinselstrich oder die richtige Reihenfolge im Übereinanderlagern der Farben. Man braucht nur an die zahllosen Farbendrucke nach pompejanischen Wänden zu erinnern, an denen durchgängig geradezu alles falsch und verroht ist. Daher gewöhnen sich junge Leute, welche längere Zeit Copien nach Farben38 [Jones, Owen: The grammar of ornament. Illustrated by examples from various styles of ornament. London: Quaritch 1856.] Über Farbenharmonie (1900)

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drucken anfertigten, ein falsches Sehen und Auffassen und eine schlechte Pinseltechnik an, ganz abgesehen von der nothwendig dabei miteinhergehenden gründlichen Verrohung ihres Farbensinnes und all der falschen Auffassung kunstgeschichtlicher Farbenentwicklung. Daher sind tüchtige Lehrer – und es geschieht dies bereits in erfreulich zunehmender Weise – schon so weit gegangen, ihre freien Stunden, ja die Schulferien dazu aufzuwenden, Original-Aquarellvorlagen selbst anzufertigen, damit sie in der Schule den Farbendruck beseitigen können. So war es ja noch in den alten Meisterwerkstätten, wo die Lehrlinge nur nach Original-Handzeichnungen, Natur- und Farbenstudien des Meisters sich bildeten, weil einfach anderes gar nicht da war, dieses aber in Menge. Jede Schule, von der mindesten bis zur höchsten, sollte eine systematisch geordnete Sammlung guter Originalaquarelle als Vorlagen besitzen. So elend also, wie nur denkbar, sieht es mit unseren Lehrwerken zur Erziehung des Farbensinnes und der Kunst praktischer Farbenbehandlung aus. Die Lehrwerke, einerseits Katechismen der Farbenharmonie und Farbenkreisel, andererseits oft unglaublich schlechte Farbendruckvorlagen, leisten ihr Möglichstes, um die als Lehrziel vorgeschriebene Erziehung des Farbensinnes und des guten Geschmackes zu hintertreiben. Da steht also der Lehrer hilflos sich selbst überlassen da. Wenn er ein thatkräftiger junger Mann ist von genügendem eigenen künstlerischen Können, so wird er, wie gesagt, sich selbst Originalvorlagen schaffen, aber das kann doch nicht an jeder Volksschule verlangt werden! Aus dieser Massenhaftigkeit des Erfordernisses entsteht immer mit zwingender Nothwendigkeit der Ruf nach klaren, einfachen, leichtfasslichen Regeln. Je einfacher, desto besser, und das ist es, was dem unsinnigen Farbenkreisel offenbar zu seiner unerhörten Popularität verholfen hat. Um so schwerer wird es sein, diese üppig aufgegangene Saat des Unkrautes wieder auszujäten. Gesetzt auch den Fall, es würden alle Farbenkreisel und alles Verwandte vom Index der approbierten Lehrmittel gestrichen, so kann man ja nicht gleichzeitig alle diese falschen Regeln aus den tausenden von Köpfen streichen, in denen sie bereits eingewurzelt sind! Ja noch mehr! Die Farbengebung ist überhaupt eine derartig verwickelte und schwierige Angelegenheit, genau so wie die Instrumentierung eines großen Musikstückes; sie ist derart schwierig, dass selbst die Meister der monumentalen Malerei des letzten Jahrhundertes um ein ungeheures Stück hinter den alten Meistern der Renaissance und selbst des Mittelalters zurückgeblieben sind.

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Von Makart39 sagte A. Feyerbach40, und zwar nicht mit Unrecht, dass sein Farbensinn sich zu dem des Tizian verhalte wie die Domestiken zur Herrschaft. Wie weit sind die Meister, und es waren die Besten ihrer Zeit, in der Frescoausmalung der Altlerchenfelder Kirche in Wien41 hinter ihren Mustern von S. Francesco zu Assisi und der Scrovegni-Kapelle zu Padua42 besonders in Bezug auf Farbenharmonie zurückgeblieben! Ja selbst die herrliche Decke im Stiegenhause des Österreichischen Museums, ein Meisterwerk Laufbergers nach vielen gründlichen Studien, mit ihren Idealen im Vatican darf man sie nicht vergleichen.43 Wenn so selbst die Meister des Faches heute, in einer 39 [Der österreichische Historien- und Porträtmaler Hans Makart (1840–1884) studierte zunächst an der Wiener, seit 1859 an der Münchner Kunstakademie. Seine Historienbilder, die in München 1861–1865 im Atelier von Karl Theodor von Piloty entstanden, sind in ihrer dunklen Farbigkeit und theatralischen Lichtregie von diesem abhängig. 1869 berief ihn Kaiser Franz Josef I. nach Wien, wo er zum Protagonisten des gründerzeitlichen Geschmacks wurde. Seine Wiener Bilder sind in ihrer hellen Farbigkeit von der venezianischen Malerei – besonders von Tizian und Paolo Veronese – beeinflusst.] 40 [Der deutsche Maler Anselm Feuerbach (1829–1880), der in Düsseldorf, München, Antwerpen und Paris ausgebildet wurde, seit 1857 in Rom lebte und 1872–1876 als Professor an der Wiener Akademie lehrte, gilt als Hauptvertreter des Neuklassizismus. Generalthema seiner Gemälde ist die Sehnsucht nach der Antike. Im Streben nach einer Wiederfindung von Idealität steht Feuerbach – trotz aller individuellen Unterschiede – gemeinsam mit Böcklin, Marées und Hildebrandt in Opposition zur offiziellen Kunst eines Piloty oder Makart.] 41 [Die Freskenausstattung der Altlerchenfelderkirche in Wien gilt als Hauptwerk der „Nazarener“ in Österreich – einer Gruppe deutscher Künstler (Josef Wintergerst, Ludwig Vogel, Johann Konrad Hottinger und Josef Sutter), die am 10. Juli 1809 in Wien auf Initiative von Friedrich Overbeck und Franz Pforr als „Lukasbund“ mit dem Ziel der Erneuerung der Malerei auf religiösen Grundlagen gegründet wurde. Als Vorbilder wählten sie die italienische Renaissance (Perugino und Raffael) und die altdeutsche Malerei (Dürer). Den Auftrag für die Freskenausstattung der Altlerchenfelderkirche erhielt 1854 Josef Führich (1800–1876), der als Jüngster zu den Nazarenern stieß (1827–1829 Mitarbeiter Overbecks in Rom) und ab 1840 als Professor an der Wiener Kunstakademie tätig war. Das von ihm konzipierte Freskenprogramm wurde unter der Mitarbeit von Leopold Kupelwieser (Kuppel und Querschiff), Eduard Engerth (linkes Seitenschiff, Sanctuarium und Presbyterium) und Carl von Blaas (arbeitete an den Kartons und ab 1858 an Fresken) ausgeführt. Zu den Fresken siehe auch Führich, Josef: Erklärung des Bilder-Ciclus in der neuerbauten Alt-Lerchenfelder Kirche. Wien: Mayer & Compagnie 1861.] 42 [Sitte verweist hier auf die bedeutendsten Bildprogramme am Beginn der neuzeitlichen Malerei: Giottos Fresken in der Oberkirche von S. Francesco in Assisi (um 1297–1300) und in der Arenakapelle in Padua (um 1305–1307).] 43 [Ferdinand Laufberger (1829–1881) – seit 1868 Professor für dekorative Malerei an der Wiener Kunstgewerbeschule und Lehrer Gustav Klimts – schuf 1871 die (1888 teilweise Über Farbenharmonie (1900)

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Zeit ohne stilistischen Halt, ohne Handwerks- und Kunsttradition, ohne einheitliches künstlerisches Streben, es nicht vermochten, den Gipfel der Vollendung zu erreichen, ja nicht einmal durch Nachahmung dem schon einmal Erreichten wieder gleich zu kommen vermochten, wie kann man da den Muth finden, an Volks- und Bürgerschulen Farbenlehre tradieren zu lassen und Übungen im selbständigen Zusammenstellen von Farben zur Bildung des Geschmackes? Man möchte dem gegenüber lieber die entgegengesetzte Forderung ausrufen: „Hand weg vom Malkasten! Es ist Gift darin!“ In der That: wirkliche Farbenstudien im ganzen Umfange der Palette gehören nur an die Hochschule, nur an die Akademie und die höhere akademische Kunstgewerbeschule. An allen mittleren und niederen Schulen muss eine weise Beschränkung eintreten im Umfange der Farben und ihrer technischen Behandlung, im Lehrstoff, im Lehrziel; das lehrt die Geschichte, das fordern die Thatsachen. Es darf nur weniges gelehrt werden, das Wenige aber gut und richtig, dass die Schüler es verstehen und selbständig ordentlich ausführen können und bleibend behalten, damit es den Grundstock und Ausgangspunkt bilde für die weiteren Studien an der höheren Schule oder im praktischen Leben. Gerade an der höheren Staats-Gewerbeschule, wo Absolventen aller möglichen Bürgerschulen, Unterrealschulen und Untergymnasien zusammenströmen, kann man die Erfolge des bisherigen Unterrichtes auf dem Gebiete der Farbenbehandlung genau erkennen. Es ist geradezu entsetzlich, was man da bei Durchmusterung der Farbenkasten der jungen Leute alles sehen muss. Beinahe keinem fehlt es an einer Goldbronze- und Silberbronze-Knopffarbe. Unseren Lehrern muss unbedingt soviel guter Geschmack zuerkannt werden, dass sie die Besudelung der ornamentalen Zeichnungen mit diesen Metallstaubfarben selbst als hässlich empfinden und verwerfen. Trotzdem werden wieder entfernte) Sgraffito-Dekoration an der Fassade sowie die Fresken im Treppenhaus des k. k. Österreichische Museum für Kunst und Industrie (heute MAK). Bei den Fresken im Treppenhaus stützte er sich auf seine 1864 in Rom gemachten Studien, besonders auf Raffaels 1519 vollendete Loggien im Vatikanischen Palast, von denen er zahlreiche Nachzeichnungen anfertigte (diese wie der gesamte Laufberger-Nachlass im MAK). Die fünf Medaillons – in der Mitte Venus, umgeben von den Personifikationen der Architektur, Malerei, Skulptur und des Kunsthandwerks – sind der von Laufberger ebenfalls eingehend studierten Freskendekoration Michelangelos in der Capella Sistina (1508–1512) verpflichtet.]

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sie in der Schule geduldet, weil sie dem anerkannt barbarischen Farbensinn der frühesten Jugend zusagen. Ein Kind, dem man gestattet, mit dem Pinsel in diesen Goldbronzen herumzurühren und damit seine Zeichnung anzustreichen, bleibt stundenlang ruhig sitzen, ganz gefesselt von der Glückseligkeit dieses Beginnens, und der Lehrer ist der Sorge um den Kleinen glücklich los, der ihm nun auch keinerlei disciplinare Schwierigkeit bereitet. Das Vorhandensein dieser Bronzefarben ist lediglich eine Concession an die Geschmacksrichtung der frühesten Jugend. Daneben finden sich mehrerlei Grün (Zinnobergrün, hell und dunkel, Saftgrün), mehrerlei Braun (Bister-, Van Dyk-Braun) und Grau (Perlgrau); vor allem aber fehlt nie die ganze Reihe der Chromfarben. Eine solche Fülle von Farbmaterialien ist für den ersten Unterricht entschieden schlecht. Bei einer solchen Menge von Farbstoffen ist es entschieden unmöglich, dass der Anfänger sich darin zurechtfindet, sich jeden Ton merkt sammt Gebrauchsanwendung, Ergebnis von Mischungen und Auftrag etc. An diesem Fehler krankt auch die seinerzeit auf Grund langathmiger Sitzungen vom Verein österreichischer Zeichenlehrer herausgegebene Normalfarbenscala;44 sie lautet:

44 [Der Verein österreichischer Zeichenlehrer wurde 1875 unter dem Vorsitz von August Rösel, Lehrer am Comm.-Real- und Ober-Gymnasium zu Mariahilf in Wien, gegründet. Ihr erklärtes Ziel war es, „Reglements für den Zeichenunterricht […] entwerfen zu lassen, in welchen die Grundzüge für die Behandlung des Unterrichts in den verschiedenen Schulen aufgestellt werden“. Die Vorschläge für neue Methoden und Unterrichtsformen wurden in der ebenfalls 1875 gegründeten, vereinseigenen Zeitschrift des Vereins österreichischer Zeichenlehrer – ab 1893 umbenannt in Zeitschrift für Zeichen- und Kunstunterricht – vorgestellt und diskutiert. Sitte, der bereits in der ersten Ausgabe als ordentliches Mitglied des Vereins genannt ist, bekleidete von 1876 bis 1879 auch das Amt eines „Vorstandsmitglieds in der Provinz“. Verein und Zeitschrift boten Sitte offensichtlich wichtige Anregungen für seine eigene Tätigkeit, besonders für seine Abhandlung „Über Zeichen: Unterricht“ (S. 562f. in diesem Bd.). In der Zeitschrift des Vereins österreichischer Zeichenlehrer finden sich Kommentare zu vielen der von ihm genannten Publikationen, Ausstellungsbesprechungen von Schülerarbeiten, Beiträge über perspektivisches Zeichnen, Resolutionen über neue Formen des Zeichenunterrichts und auch die von Sitte genannte „Normalfarben­ scala“, die hier erstmals im 15. Jahrgang (1889), S.125 publiziert wurde (nochmals 1890, S. 112).] Über Farbenharmonie (1900)

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  1. Gummigutt.

14. Saftgrün.

  2. Indischgelb.

15. Lichtocker.

  3. Chromgelb III.

16. Dunkelocker.

  4. Krapplack, dunkel.

17. Gebrannte Sienna.

  5. Carmin II.

18. Van Dyk-Braun.

  6. Zinnober II.

19. Bisterbraun.

  7. Indisch-Roth.

20. Sepia römisch.

  8. Pariserblau oder Berlinerblau.

21. Perlgrau.

  9. Ultramarin.

22. Neutraltinte.

10. Indigo.

23. Lampenschwarz.

11. Kobalt.

24. Zinkweiß.

12. Grüner Zinnober, hell.

25. Goldbronze.

13. Grüner Zinnober, dunkel.

26. Silberbronze.

Von dieser Scala gehört aus der Schule entschieden eine Menge hinaus. Zunächst außer den schon besprochenen Bronzefarben noch das bissige, jede Harmonie zerstörende Chromgelb; dann das als Farbstoff anerkannt schlechte Gummigutt, das höchstens bei Schulen für ganz arme Bevölkerungsschichten als Ersatz für das zu theuere Indisch-Gelb geduldet werden kann; dann die vielerlei Grün und Braun und Grau, die man eben den Schülern durch Mischung herauszubringen lernen muss. Man braucht deshalb in der Säuberung der Palette nicht wieder bis zum anderen äußersten Extrem zu gehen, bis zur Beschränkung auf Indigo, rothe Sepia und ungebrannte Sienna, aus welchen Farbstoffen allein die englische Dreifarbenschule alles herstellt: Landschaft, Genre, Stilleben. Der Schüler soll ja die Farben kennen lernen, aber nur in demjenigen Ausmaße, wie es für die Erkenntnis der Farben, für den ersten Anfang eben am ersprießlichsten ist. Wenn da Perlgrau oder Paynes Grau mit in die Schule genommen wird, so ist das eigentlich nur Modesache. Es ist Thatsache, dass mit diesen Farben, rein angelegt, ohne Beimischung elegante Effecte auf Schulzeichnungen erzielt werden, dass es gute Blätter für Ausstellungszwecke gibt, ohne dass dem Schüler die Farbe vom Lehrer vorgemischt zu werden braucht, ohne dass der Schüler durch ungeschicktes Selbstmischen alles verdirbt, denn die Farbe ist so ohneweiters verwendbar, wie sie käuflich ist. Aus diesen Gründen wird die Farbe zeitweilig Lieblingsfarbe in der Schule und ebenso auch Van Dyk-Braun, Styl de grain und wie alle die bereits vom Fabrikanten auf Vorrath gemischten Modetöne heißen.

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Derlei fördert aber in keiner Weise das farbentechnische wirkliche Können und Wissen des Schülers, derlei gehört lediglich in die große Rubrik der Kunstgriffe zur Erzielung pädagogischer Scheinerfolge. Ganz etwas anderes ist es, wenn auch Ludwig Hans Fischer in seinem Lehrheft der Aquarellmalerei45 eine übergroße Palette entwickelt, mit viererlei Grün (Saftgrün, Olivengrün, Veronesergrün und Emeraldgrün) und gar sechserlei Braun und Braunroth. Für den praktischen Künstler hat jeder dieser Töne seine besondere Bedeutung und erspart bei reicherer Palette viel Zeit beim Mischen und erreicht treffsicherer den bestimmten Ton. Übrigens führt auch beim Künstler das Umgehen des steten freien Mischens zur Manieriertheit in der Farbe, und in der That sind die sonst so virtuosen Aquarelle ­Fischers aus Ägypten, der Wüste, aus Griechenland und Italien, aus unseren Alpen und der Umgebung Wiens von auffallender Gleichheit in der Farbenstimmung. Als Seitenstück zu diesem Übermaß an Farben in den Malkasten der Schüler findet man durchwegs das Fehlen einiger geradezu unentbehrlichen Sorten. So fehlen z.B. auch im Farbenverzeichnis des Vereines österreichischer Zeichenlehrer: Bleiweiß, Cadmium und Neapelgelb. Bleiweiß ist trotz aller Verschlechterung in der Fabrication unter den für Schulverhältnisse dem Preise nach erschwinglichen Sorten von Deckweiß noch immer die empfehlenswerteste. In zartesten Schraffen gut deckendes Weiß ist überhaupt im Handel nicht mehr erhältlich, weil die moderne Fabrication vor allem anderen auf rasche Erzeugung ausgeht zur Sparung an den Capitalszinsen. Die alte Methode der Erzeugung des Holländerweiß, wobei dünne Bleibleche in Gartentöpfen mit Essigzusatz in Mist eingegraben, dort monatelang einer äußerst langsamen, aber nur deshalb auch feinkörnigen Oxydation überlassen wurden, ist heute gänzlich aufgegeben und durch rasches Fällen mittelst Kohlensäure oder durch ebenfalls rasch (wenn auch schlecht) wirkende Verbrennungsprocesse etc. ersetzt. Also die besten und reinsten Präparate von heute sind schlecht, weil grobkörnig. Nachweislich ist aber die Deckkraft der Farben proportional ihrer Feinkörnigkeit. Dazu kommt noch das allgemein übliche Vermengen der Farbstoffe mit billigeren Materialien, also mit Schwerspath, Kreide, Gips, Thonerde, Kieselerde; endlich bei Weiß die

45 [Fischer, Ludwig Hans: Die Technik der Aquarell-Malerei. Wien: C. Gerold 1888. Fischer (1848–1915), der an der Wiener Akademie studierte (bei von Lichtenfels Malerei, bei Jacoby den Kupferstich, bei Unger das Radieren), wandte sich früh der Orientmalerei zu. Er machte ausgedehnte Reisen im gesamten Mittelmeerraum und nach Ostasien.] Über Farbenharmonie (1900)

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­massenhafte Beimengung des sehr billigen Barytweiß, das aber nur ganz geringe Deckkraft besitzt. Ein noch in den leider eingegangenen Keim’schen Blättern für rationelle Malverfahren geschilderter Process wegen Nichteinhaltung der contractlich eingegangenen Verpflichtung von Anstrichen von Bautischlerarbeiten mit reinem Bleiweiß ergab, dass der eingeklagte Anstreicher seinerseits wieder durch Concurrenzausschreibung an Farbfabrikanten thatsächlich wirkliches Bleiweiß unter Garantie verlangt hatte, während die Fabrikanten durch Enquête und Beibringung von Handelsproben erweisen konnten, dass man derzeit in ganz Europa unter echtem Anstreicher-Bleiweiß solches verstehe, welches thatsächlich circa 10 Procent wirkliches Bleiweiß und bloß 90 Procent Füllmaterialien enthalte. Diese Füllmaterialien sind in der modernen Fabrication eben der eigentliche Farbkörper, zu dem dann das färbende Medium bloß ebenso hinzukommt wie gleichfalls das Bindemittel. Alle modernen Erdfarben (Ocker aller Sorten, Terrasiena gebrannt und ungebrannt) sind gewöhnlicher Pfeifenthon und gewöhnlich mit irgend einem Anilinpräparat entsprechend gefärbt, ja selbst der Indigo-Rohstoff ist Thonerde, mit Indigo-Niederschlag gefärbt, oder, wie es da technisch heißt, es ist der Indigo-Farbstoff darauf projiciert. Dieser Gesammtsachlage gegenüber ist es daher doppelt schwer, eine tadellose Palette für den ersten Schulunterricht zusammenzustellen, und so wird denn auch die Aufnahme von Neapelgelb zu einer schweren Gewissensfrage. Neapelgelb ist nach alter Angabe (J. H. Pfingsten, „Farbmaterialien“, 1789)46 ein Präparat aus Spießglanz, Blei, Alaun und Kochsalz, nach neueren Angaben aus Blei-Antimoniat und Calcium-Sulphat, in Wirklichkeit aber fast durchwegs gegenwärtig nur eine mechanische Verreibung von Thonerde, Barytweiß und Chromgelb. Das könnte man sich also füglich auch selbst mischen; es ist aber Thatsache, dass die Selbstmischung besonders in der Schule schwer in zutreffender Weise gelingt, und Thatsache ist, dass dieses fahle, weißliche Neapelgelb beim Nachahmen von Goldtreibarbeiten, Goldbrocaten, Goldfiligranen, kurz allen Goldarbeiten zum Aufsetzen der höchsten Lichter schlechterdings nicht entbehrt werden kann. Falls also an irgend einer Schulabtheilung Goldarbeiten aquarellistisch zur Darstellung kommen sollen, kann Neapelgelb (auch das gefälschte) schlechterdings nicht entbehrt werden.

46 [Pfingsten, Johann Herrmann: Farbenmaterialien: eine vollständige Sammlung brauchbarer Abhandlungen und Erfahrungen für Künstler und Fabrikanten die mit Farbe zu tun haben. Berlin: Himburg 1789.]

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Dagegen ist Cadmium eine unter allen Umständen bestens empfehlenswerte Farbe, da es wegen ohnehin billiger Herstellungsweise meist echt im Handel vorkommt, da es lichtbeständig ist und sich mit sämmtlichen anderen Farben gut mischt, stets leuchtende, feine Töne gibt und ein an sich schönes, vom hässlichen Schwefelgelb durch leisen röthlichen Stich entferntes Gelb hat. Sogar zu Holztonmischungen eignet es sich und kann daher besser als Gummigutt als billiger Ersatz für Indisch-Gelb dienen. Gerade Cadmium fehlt aber fast in allen Paletten der Schul- und Handbuchliteratur. Bevor an die nunmehr wünschenswert gewordene Zusammenstellung einer Schulpalette geschritten wird, welche gleichweit entfernt ist von zu großer Beschränkung wie auch von Überfülle, muss nur noch eines Umstandes erwähnt werden aus den Erfahrungen der Schule. Gerade die für die gesammte Aquarelltechnik so grundlegend wichtige Unterscheidung aller Farben in die drei Gruppen von: I. leicht löslichen Saftfarben, welche auch bei dünnflüssigster Lösung keinen Bodensatz bilden; II. mittelschweren Erdfarben, welche in nicht allzudünner und reichlich genug mit Gummi versetzter Auflösung sich gerade noch in der Malflüssigkeit schwebend erhalten können; III. sehr schweren, im Handgewicht schon fühlbar schweren Metallfarben, welche sich, mit viel Wasser angerieben, stets rasch zu Boden setzen und daher nur unter sich allein gemischt werden können, wenn man fleckenlose Töne wünscht, mit den schon erheblich leichteren Erdfarben nur unter subtantiösem Auftrag, wie bei Gouachefarben, und mit den so vielfach leichteren Saftfarben überhaupt nur ausnahmsweise unter ganz besonderen Bedingungen verbunden werden können; gerade diese Unterscheidung ist den Schülern niemals geläufig, obwohl das Einschlägige hierüber fort und fort von den Lehrern thatsächlich den Schülern gesagt wird. Erfahrungsgemäß müssen solche Dinge einem jungen Menschen, wenn sie endlich bei ihm festhaften sollen, nicht zehnmal, nicht blos hundertmal, sondern zweihundertmal gesagt und fortwährend geübt werden. Das ist ja für alle praktischen Übungsfächer der Vortheil der Meisterlehre, dass jahrelang täglich immer ein und dasselbe geschieht, ein und dasselbe gesehen, gehört und gethan wird, bis es endlich dem jungen Menschen zur Gewohnheit, zur zweiten Natur geworden ist. Das kann aber die Schule nie und nimmer leisten, da wird sie immer schon aus Zeitmangel und wegen Überbürdung mit Sonstigem hinter der Meisterlehre zurückstehen. Gerade im Maltech­nischen Über Farbenharmonie (1900)

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wird daher selbst in der besten Schule bestenfalls immer nur ein gewisser Dilettantismus erzeugt, dass dem aber nach Möglichkeit mit aller Kraft entgegengewirkt werden muss, ist gleichfalls ohneweiters einleuchtend. Es kann dies aber nur geschehen durch weise Selbstbeschränkung im Umfange des zu Lehrenden; durch strenge klare Auseinandersetzung der Grundsätze des ganzen Zusammenhanges und durch stete Bezugnahme darauf bei der praktischen Anwendung, durch stetes Abfragen der Grundsätze und durch stetes Fragestellen an die Schüler, wie sie in jedem einzelnen Fall die Farben zu mischen und aufzutragen haben, damit ein bestimmter Erfolg herauskommt, und warum das gerade so gemacht werden muss. Das alles muss so reichlich und so stetig unermüdlich fortgesetzt werden, bis es endlich im Bewusstsein der Schüler haften bleibt. Zusammenstellung der an mittleren Schulen zu gebrauchenden Farben. Farbton

Leichte Farben, meist aus pflanzlichen und thierischen Säften

Mittelschwere Farben, meist erdig

Schwere Farben, metallisch

Blau

Indigo (Neutraltinte)

Berlinerblau

Kobalt

Roth

Carmin

Gebrannte Siena

Zinnober, Indischroth

Gelb

Kadmium [sic!] (Indischgelb)

Goldocker

(Neapelgelb)

Braun

Natürliche Sepia

Dunkelocker



Schwarz



Tusch in Stange (nicht flüssig), Lampenschwarz



Weiß





Kremserweiß

Die in Klammern angegebenen Farben sind auch noch entbehrlich, so dass sich der Gesammtbedarf auf 14 Farben stellt. Darum wird auch die vorstehende, nach den hier erörterten Grundsätzen für den Gebrauch an mittleren Schulen zusammengestellte Palette den Schülern, sobald sie überhaupt soweit vorgeschritten sind, mit diesem ganzen Farbenumfang arbeiten zu können und zu dürfen, an der Tafel vorzuschreiben und bis ins Einzelne vortragsmäßig zu erklären und darnach reichlich abzufragen sein. Neutraltinte ist entbehrlich, weil sie vorzüglich aus Indigo und Tusch gemischt werden kann, jedoch nur mit nicht angeriebenem Tusch, sondern nur

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mit solchem, der langsam und zart mit dem Pinsel streichend vom Tusch abgenommen wurde. Gerade diese Übung ist sehr ersprießlich für den Anfänger, weil sie ihm handgreiflich zeigt, wie sehr ein gutes Gelingen von der Art abhängt, wie man mit Farbe und Pinsel umgeht. Der angeriebene Tusch, weil er durch das Reiben auf hartem Gegenstand zu grobkörnig sich ablöst, setzt nämlich stets mit Indigo fein vermischt einen sandartigen Satz ab, der beim Anlegen Flecken bildet; der mit dem Pinsel abgenommene feinkörnige Tusch setzt keinen Bodensand ab und legt sich fleckenlos an. Eigentlich sollten die Schüler unter Anleitung des Lehrers beides ausprobieren, damit sie Erfolg und Misserfolg selbst entstehen sehen, die Sache gründlich begreifen und sich merken. Sie würden dabei auch einsehen lernen, dass man beim Tuschanreiben im Napf auch grundsätzlich sich Zeit lassen muss, dass man nicht rasch Erfolg haben darf durch starkes Aufdrücken beim Reiben und Beigabe von viel Wasser, weil dies alles ein grobkörniges Gereibsel gibt, was feine Striche aus der Reißfeder nicht zulässt. Sie würden dann auch begreifen, warum es bei den Chinesen überhaupt Vorschrift ist, den Tusch auf ebener Reibplatte mit sanften Langstrichen (nicht im Kreis herumwirbelnd, was auch Grobkornbildung und Luftblasenbildung begünstigt) anzureiben oder noch lieber in der weichen Hohlhand, wovon er dann langsam mit dem Pinsel abgenommen wird. Wichtig ist es, die Schüler auch dazu streng zu verhalten, dass sie den Stangentusch nach jedesmaligem Anreiben sogleich sorgfältig abtrocknen, damit er nicht rissig wird, und zwar am besten auf einem Stückchen glatten Pauspapieres oder mit dem reinen Finger, damit keine Papier- oder Stofffasern auf ihm kleben bleiben. Wichtig ist es auch, die Schüler zu belehren, dass das Bindemittel des chinesischen Tusches im Lichte erhärtet, dass sich demnach eine Tuschzeichnung, welche dem Sonnenlicht ausgesetzt war, als wasserecht bewährt und gewaschen werden kann, während eine frische Tuschzeichnung beim Waschen ausgeht, und dass man eben deshalb den Stangentusch nicht offen am Tageslicht liegen lassen darf, weil sonst sich oberflächlich eine harte Bindemittelhaut bildet, welche beim Anreiben zerbröckelnd gleichfalls zur Sandbildung beiträgt und keine Bindekraft mehr hat. In derart eingehender Weise sind die Anfänger über das Wesen und den Gebrauch aller ihrer Malrequisiten zu belehren, über die Eigenheiten jeder Farbe und ihre Behandlung, über das Durchseihen etwa sandender Farbmischungen, über Gummizusatz, durch dessen Bindekraft das Sanden gleichfalls verschwindet, über das Darstellen von Steintexturen gerade durch absichtliche heftige Erzeugung des Sandes oder „Abgrieselns“ der Farben, über die eigenthümliche Mischung von gebrannter Siena mit Berlinerblau zu diesem Über Farbenharmonie (1900)

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Zweck; ferner über Pinselhaltung, das Pinselschleifen beim Gebrauch und Zuspitzen außer Gebrauch; über die Behandlung des Papieres, das vor allem auf der Malseite nicht gewaschen werden darf (eine constante Untugend aller Anfänger), weil sonst gerade dort, wo es am nöthigsten, die heute meist nur oberflächliche Leimung weggenommen wird und dergleichen mehr. Derartig eingehend behandelt zeigt sich, dass den Schülern so umfassend viel zu sagen, zu zeigen, abzufragen und einzuüben ist, selbst bei kleinem Umfange der Palette, dass auch das schon zu viel wäre, um es gleich von vorneherein den Anfängern alles auf einmal beibringen zu wollen. Es wird daher sowohl in den Übungen, als auch in den Erklärungen auf unterster Stufe zuerst nur mit einem einzigen Farbstoff zu beginnen sein, dann, wenn dieser hinlänglich sich eingelebt hat in das Bewusstsein der Schüler, dann erst wird ein zweiter und noch später ein dritter und vierter Farbton an die Reihe kommen, bis dann erst zum Schluss die ganze hier angegebene Palette in Behandlung tritt. Diese Forderung als pädagogisch richtig zugegeben, wäre dann die Reihenfolge der allmählichen Einführung einzelner Farben in den Unterricht die folgende: I. Stufe. Nur Tuschbehandlung: Anreiben, Pflegen des Tusches, Ausziehen mit der Reißfeder und aus freier Hand mit selbstgeschnittener Kielfeder, Reinanlegen von Flächen. Zur Belebung der mündlichen Erklärungen kann auch mit Vortheil das bekannte chinesische Märchen von dem unendlich feinen Kienruß mit dem Kobold des Tusches erzählt werden, das sehr geeignet ist, den Wert feiner Malmittel und feiner Behandlung derselben recht deutlich zu machen. Auf das kommt es ja bei Anfängern zu allererst an, ihnen Aufmerksamkeit auf ihr eigenes Thun und Liebe zur Sorgfalt in allem und jedem beizubringen. (Farbenharmonie: Dunkel, Licht.) II. Stufe. Sepia und Neutraltinte (selbstgemischte, also Fortsetzung der Tuschbehandlung), und zwar am besten an der Hand des bereits begonnenen Körperzeichnens zum Behufe des Anlegens der im Selbstschatten befindlichen Flächen oder im reinen Freihandzeichnen an Schmiedeeisenarbeiten, mit deren Hilfe (Rundeisengitter etc.) auch zeichnerisch die Unterstufe des Spiralenzeichnens am zweckmäßigsten geübt wird. In Bezug auf den historischen Fortschritt in der Farbenharmonie entsprechen diese beiden Töne der Entwicklungsstufe des Kalten und Warmen, was auch im Unterrichte zur Geltung zu bringen wäre. III: Stufe. Holzfarben, eingeübt an ornamentalen Intarsiamustern. Zur ­Mischung von Holzfarben darf nur genommen werden: Indischgelb (oder

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Kadmium), Carmin, Indigo und zur Verdunklung oder Schlagschattenunterlage mit dem Pinsel abgenommener Tusch. Hier liegt ein Beispiel vor, wo stets drei Grundfarben vereinigt werden müssen, Gelb, Roth und Blau, und wo je nach der Holzfarbe, die entweder mehr ins gelbe Lichte spielt oder mehr ins rothbraune oder sogar ­einen blauschwärzlichen Schimmer bekommt, nur immer von der einen oder anderen Mischfarbe entsprechend mehr zu nehmen ist. Eine vortreffliche Übung für den Anfänger, besonders, da er hier nur mit Saftfarben und dem sich mit ihnen gut bindenden Pinseltusch zu thun hat. Den Charakter der reich und leicht sich auftragenden Saftfarben wird der Anfänger bei genügender Menge von Arbeiten und genügender Zeitdauer, in welcher diese Arbei­ten unzersplittert durch anderes fortzusetzen sein werden, fest und sicher sich einprägen und so endlich einen festen Stützpunkt gewinnen, von dem aus nun nach verschiedenen Seiten ruhig weitergebaut werden kann. Päda­­gogisch verwerflich ist es jedenfalls, um es bei dieser Gelegenheit gleich anzumerken, den Schülern angeblich, um sie nicht durch Einförmigkeit zu ermüden, allerlei bunt durcheinander abmalen zu lassen. Das Interesse am Gegenstand muss ganz im Gegentheile durch Vertiefung des Unterrichtes erweckt werden, durch Erklärung aller Schwierigkeiten, Anspannung des Ehrgeizes, sie fehlerlos zu überwinden, durch sys­ tematische Vorträge über die Geschichte und Composition der Intarsien und durch Geben von Compositionsaufgaben und Durchsprechung der erbrachten Lösungen, so dass an der Hand des immer tiefer gehenden Verständnisses und des Selbstgefühles, des Wachsens des eigenen Wissens und Könnens die Lust an der Arbeit gedeiht, nicht durch die falsche kindische Lust an bloß bunter Abwechslung der Vorlagen. Zum Schluss kann auch gebrannte Terrasiena in den Kreis der Holzfarben hier einbezogen werden und ebenso deckende schwarze Gründe. Das ist Lehrstoff und Abwechslung und Anregung zum Denken auf dieser Stufe reichlich genug. Bei Gelegenheit der Erwähnung der Ausdeckung schwarzer Gründe (hier als Ebenholz oder schwarzgebeiztes Birnholz zu denken) muss bemerkt werden, dass diese bei fast allen Volks- und Mittelschulzeichnungen constant einen groben Fehler aufweisen; sie werden nämlich entweder mit käuflichen Lampenschwarzknopffarben oder mit angeriebenem Tusch hergestellt, was beides aber Glanzflecke, und zwar nach Pinselstrichen gibt, ein ganz abscheulicher Effect, so recht eigentlich hilflos, schülerhaft, dilettantisch. Solche Schwarzgründe müssen unbedingt tadellos, sammtartig und fleckenlos erscheinen, glanzlos, gänzlich matt, was mit Tusch und mit Knopffarbenschwarz wegen des vom Fabrikanten zu reichlich beigegebenen Bindemittels nicht herstellbar ist. Um hier abzuhelfen, was alles Über Farbenharmonie (1900)

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wieder den Schülern vortragsmäßig zu erklären wäre, müsste eine schwarze Knopffarbe tagsvorher in einem Farbglas aufgeweicht und darnach die oben sich absetzende Gummilösung abgegossen werden, oder es müsste reiner Kienruß zur Verdünnung des glänzenden Bindemittels zugesetzt werden. Dies letztere ist das Einfachere, da eine kleine Menge Kienruß in einem Reibstoppelglas leicht irgendwo im Zeichensaal vorräthig sein kann, um jederzeit für den Gebrauch bereit zu sein. Es wäre übrigens gar nicht unzweckmäßig, den Schülern kleine Mengen Kienruß mittelst Anrauchgläsern sich selbst erzeugen zu lassen. Alles derlei belebt den Unterricht erfahrungsgemäß weit intensiver als das bloße tolle Wechseln mit inhaltlich und technisch zusammenhanglosen Vorlangen. Selbst der junge Mensch fühlt es ja ganz deutlich, ob er wirklich etwas lernt, was jedem Freude macht, oder ob er bloß zwecklos he­rumgeplagt wird, was jeden, auch den geduldigsten, verdrießt. Der Farbenharmonie nach wäre dies eine technische, merochromatische Stufe. IV. Stufe. Mischung von Ziegelfarbe aus gebrannter Siena, Carmin und etwas Kobalt. Letzteres zum Zwecke des „Abgrieselns“. Da dies Abgrieseln im Gegensatze zur Stufe III hier nun einmal vorkommt, so muss es gleich theoretisch und praktisch fest ins Auge gefasst werden. Es wäre hier somit die am meisten abgrieselnde oder sandende Mischung: gebrannte Siena und Berlinerblau gründlich zu erklären und durchzuarbeiten, am besten durch nasses Selbstanlegen von Naturpapiertönen zu plastischen Tuschzeichnungen mit nachträglichen Lichtaufsetzungen in weißen Schraffen; eine vor etlichen Decennien allgemein übliche schöne und sehr lehrreiche Technik bei Darstellung von ornamentalen Studien nach einfachen Gipsgüssen. Neben diesem sandenden blaugrünlichen Steinton könnten nun auch verschiedene andere Grünmischungen versucht werden, und zwar scharfgrüne aus Kobalt und Kadmium für Situationspläne, wärmere und stumpfere aus gebrannter Siena und Indigo für Baumschläge und dergleichen mehr. V. Stufe. So eingeführt in das Reich der Farbe und mit einem sicheren Grundstock auch in der technischen Behandlung der Farbstoffe ausgerüstet, mag endlich dem Anfänger die Gesammtpalette freigegeben werden, aber auch nun soll er nicht bunt durcheinander alles Mögliche copieren und vor allem nicht nach schlechten Farbendrucken arbeiten, sondern, falls die bereits geforderten Originalaquarelle noch nicht zur Verfügung stehen, höchstens nach Herdtle’s italienischen Majolicafliesen47 und dem wenigen Sonstigen, 47 [Herdtle, Hermann: Eine Sammlung italienischer Majolica-Fliesen: Vorlagen für das polychrome Flachornament. Wien: Graeser 1885. Der Architekt und Kunstgewerbler Hermann

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was da noch als gut bezeichnet werden kann. Vor allem wäre den Schülern auf dieser Stufe noch der Unterschied zwischen Saftfarbentechnik, dem eigentlichen Aquarell, und zwischen Deckfarbentechnik (Gouache) klar zu machen und schließlich vielleicht noch das Wichtigste über Schattenfarben zu erklären. Da über die Töne von Schattenfarben in der Literatur noch nirgends eine bündige Erklärung erschienen ist, auch nicht in Leonardos Tractat über Malerei48, so sei es erlaubt, zum Schluß noch das Wesentliche hierüber anzugeben. Zu unterscheiden sind bei den Schattierungsfarben viererlei Stellen, wo sich auch der Farbe nach der Localton wesentlich ändert, nämlich in den Glanzlichtern und den Schlagschatten auf je einerlei Art, in den Selbstschattenpartien auf zweierlei Art, nämlich in den verdunkelten Kernschattenstellen und den aufgehellten Reflexlichtstellen. Bei allen diesen Farbtonänderungen spielen subjective Farbentäuschungen mit, welche aber nur vermöge der starken Licht- und Farbenintensität am Naturgegenstande erscheinen, nicht aber in dem lichtarmen Bild, weshalb diese subjectiven Farberscheinungen in das Bild hinein gemalt werden müssen. Es sind dies folgende: A. Farbe der Glanzlichter. Die Glanzlichter sind nichts anderes als Stellen heftigster Beleuchtung; bei zunehmender Lichtstärke gehen aber alle Farben, auch dunkelstes Roth und Schwarzblau, schließlich in Weiß über, die kalten Töne unmittelbar, die warmen über Gelb. Dies ist die Erscheinung im physiologischen Laboratorium (vgl. Chodin: Die Abhängigkeit der Farbenempfindung von der Lichtstärke, Jena 1877).49 Nicht so in der Natur, weil da Herdtle (1848–1926), der nach seinem Studium an der Technischen Hochschule Stuttgart (1866–1870) nach Wien übersiedelte, arbeitete hier u.a. am Bau des Nordwestbahnhofs (1870–1873 von Wilhelm Bäumer erbaut), des Palais Haber und am Grabmal Eitelbergers am Zentralfriedhof. 1876–1913 lehrte er als Professor für dekorative Architektur und Kunstgewerbe an der Wiener Kunstgewerbeschule des k. k. Österreichischen Museums für Kunst und Industrie. Herdtle lieferte zahlreiche Entwürfe für alle Gebiete des Kunstgewerbes und publizierte mehrere Vorlagenwerke über Intarsien, Majoliken, Ornamente und Architekturdetails.] 48 [Ludwig, Heinrich (Hg.): Leonardo da Vinci. Das Buch von der Malerei. Nach dem Codex Vaticanus (Urbinas) 1270. Hg., übersetzt und erläutert von Heinrich Ludwig (= Eitelberger von Edelberg, Rudolf (Hg.): Quellenschriften für Kunstgeschichte und Kunsttechnik des Mittelalters und der Renaissance, Bd. 15–17. Wien: Braumüller 1882 (Neudruck Osnabrück: O. Zeller 1970).] 49 [Chodin, A.: Über die Abhängigkeit der Farbenempfindungen von der Lichtstärke. Jena: H. Dufft, 1877. Laut Chodin bietet sein – großteils aus Tabellen bestehendes – Buch die Über Farbenharmonie (1900)

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z.B. auf farbiger Stoffdraperie jedes Glanzlicht ringsherum eingebettet ist vom Localton des betreffenden Stoffes, weshalb da auf dem neutraleren, weil weißlich gewordenen Glanzlichtfleck durch subjective Täuschung die complementäre Farbe des Localtones erscheint. Dieser schwache complementäre Stich wird aber kaum wahrnehmbar bei den intensiv farbig wirkenden rothen Localtönen, weshalb bei diesen die Lichter bloß ins Goldige verlaufen. Bei den kalten Tönen aber wird das Complement gelb merklich und so kommt es, dass bei manchen Meistern (z.B. in manierirter Weise bei Kupelwieser)50 es üblich wurde, auf blauen oder blaugrünen Gewändern gelbe Lichter aufzusetzen. B. Farbe der Reflexe. Diese hängt lediglich von dem Localton der reflectierenden Fläche ab, kann also im allgemeinen jeden beliebigen Ton, auch ganz fremdartige haben. Im Falle aber, dass die reflectierende Fläche dem abschattierten Körper selbst angehört, gibt das Reflexlicht den Localton in aufgehellter und zugleich üppigster Steigerung selbst wieder, z.B. zwischen den Fingern der menschlichen Hand mehr weniger entschiedenes helles Roth; bei Rubens in Anbetracht der Wirkung auf die Entfernung und neben großen kräftigen Farbflächen sogar als reine Zinnoberstriche dargestellt. C. Die Farbe der Kernschatten stimmt mit denen der Schlagschatten im Wesentlichen überein, nur bei geringerer Betonung des Complementes. D. Die Farbe der Schlagschatten aber setzt sich zusammen aus dreierlei Tönen, und zwar aus dem selbst im Schlagschatten noch mehr weniger sichtbaren Localton, aus der reinen Verdunklung, also Schwarz, und endlich aus dem Complement des Localtones infolge derselben subjectiven Täuschung wie bei den Glanzlichtern. Diese drei Töne wirken aber jeder stärker oder schwächer, je nach der Art des Localtones. Der Ton des Schlagschattens als erste vollständige wissenschaftliche Abhandlung zu genanntem Thema. Mit Verweis auf die Arbeiten von Aubert und Helmholtz stellt er fest, daß bisherige Untersuchungen nur unvollständig und widersprüchlich seien. Hierzu siehe auch Sitte, Camillo: „Neue Methode des perspectivischen Construierens“, S. 439, Anm. 13 in diesem Bd.] 50 [Leopold Kupelwieser (1796–1862), seit 1809 Schüler der Wiener Akademie, stand besonders unter dem Einfluß der Nazarener wie auch des Wiener Klassizismus. Neben Porträts, Landschaften und Historien malte er vor allem religiöse Themen. 1831 wurde er Korrektor, 1836 Professor der Wiener Akademie. Zu seinen bedeutendsten Werken gehören die Fresken in der Johann Nepomuk Kirche am Praterstern in Wien (1844/45), in der Nieder­ österreichische Landesregierung (1848–1850) und in der Altlerchenfelderkirche in Wien (1855–1858, Kuppel und Querschiff). Seine Arbeiten aus der Spätzeit zeigen eine Hinwendung zu einem weichen, malerischen Stil, z.B. „Himmelfahrt Mariae“, Universitätskirche Wien, 1861.]

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Summe dieser drei Farbelemente ist daher nicht bloß von der Art dieser Elemente, sondern auch von der Stärke ihrer Wirkung im einzelnen Falle abhängig. Diese Verhältnisse lassen sich zu folgender Tabelle vereinen. Tabelle zur Bestimmung der Schlagschattentöne. Farbe des Gegenstandes

Im Schlagschatten sichtbare Töne Localton

Schwarz

Complement

Schlag­ schattenton

Beispiele

Gelb

schwach

schwach

sehr stark blau

stark blau

Goldgelbe Steinarchitektur im Freien

Roth

stark

stark

schwach grün

dunkel rothbraun

Rothe Stoffe, ­rothbraune Möbel

Blau

schwach

stark

sehr schwach schwarz gelb

Blaue Stoffe

Grün

schwach

stark

stark roth

Baumschlag

braun

Nach dem vorher Ausgeführten ist diese Tabelle wohl an sich verständlich. Nur weniges sei dazu noch erwähnt. Am auffälligsten und daher in weitesten Kreisen bekannt ist das heftige Vorschlagen des complementären Tones bei stark beleuchteten gelblichen Felsen oder Architekturen. Besonders unter südlichem Himmel, schon in Griechenland, noch mehr in Ägypten wird die Bläue des Schlagschattens derart intensiv und rein, dass die gewöhnlich für solche Zwecke übliche Neutraltinte nicht mehr ausreicht und zu Kobaltbeimischung, ja sogar beinahe reinem Kobalt gegriffen werden muss, um das Naturschauspiel richtig wiederzugeben. Dass dabei noch Luftperspective (d.i. die blaue Farbe trüber Medien), steigernd mithilft, ist bekannt. Diese in der Malerei so häufig wiederzugebende Erscheinung führte aber zu der Schulregel: alle Schlagschatten sind mit Neutraltinte zu unterlegen. Diese Regel, einmal aufgestellt, wurde, wie dies mit jeder Regel leider geschieht (so zwar, dass einem das Regeldrechseln schier gründlich verleidet werden könnte), von nichtdenkenden Nachtretern natürlich auch am unrechten Orte angewendet. Es wurde nicht bedacht, dass sie nur dort gilt, von wo sie herstammt, nämlich bei Architekturaquarellen; sie wurde einfach überall mechanisch angewendet und somit die Schlagschatten auch auf Holztäfelungen, Möbeln und rothen Stoffen mit Neutraltinte untermalt, selbstverständlich am häufigsten an Schulen, weil es ja immer die Schule ist, welche falschen Regeln am leichtesten unterliegt, denn die Schule kann ohne Regeln nicht bestehen, und wenn sie keine richtigen hat, nimmt sie falsche. Die so Über Farbenharmonie (1900)

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untermalten Möbel sind aber nicht mehr zurecht zu bringen, immer schimmert die falsche bläuliche Unterlage durch, und der Effect ist der, dass ein so dargestelltes Möbel in seinen Schattenpartien immer staubig aussieht. Die Untermalung des Schlagschattens sei also bei gelbem Localton selbstgemischte, also auch nach freier Mischung mehr weniger blaue Neutraltinte; bei rothem Localton etwa Pinseltusch mit etwas gebranntem Carmin (auch ungebranntem, nur weniger), bei blauem Localton reiner Pinseltusch, bei grünem Localton Pinseltusch mit etwas gebrannter Terrasiena. Auch das aber bildet bloß ein beiläufiges Regelgerüste, um den Anfänger von schlechten Sonderregeln zu befreien, zum Selbstdenken anzuspornen und ihn anzuregen, von der Natur selbst sehen zu lernen, sich selbst Rechenschaft zu geben, wie jeder Ton beschaffen ist, worin er begründet ist und wie er am richtigsten dargestellt wird. Schließlich muss man ja, um zur Meisterschaft durchzudringen, es auch verstehen lernen, jeden Ton richtig auch ohne Untermalung alla prima hinzusetzen. Zur Erlernung dieses Farbensehenlernens noch einen letzten Rathschlag: Man lasse alle Anfänger immerfort jeden Ton solange mischen, bis sie glauben, ihn richtig getroffen zu haben, dann soll der Ton in Probe neben den Ton des Originals gelegt werden, worauf die ganze Gegend mit einem weißen Papier zugedeckt wird, in dem sich zwei kleine Löcher von etwa je 25 mm2 in der Entfernung von circa 1 cm befinden, und zwar so alles gelegt, dass die eine Öffnung über dem Farbton des Originals zu liegen kommt, die andere über dem Farbton der Probemischung. Jeder Anfänger wird staunen, wie sehr er sich geirrt hat, und nach einigen weiteren Proben genau das Richtige treffen. Die Durchsprechung der Gründe des Irrthumes, die in der complementären Wirkung der Nebenfarben liegen, und der Umstand, dass bei jeder folgenden Probe immer wieder dieselben Erscheinungen zu trage treten, ermöglichen es endlich dem Schüler, die richtigen Farbtöne zu treffen, nicht wie er sie momentan zu sehen glaubt, sondern wie sie wirklich sind, ermöglichen ihm, alla prima richtig zu arbeiten. Höchst lehrreich ist gerade dieser Vorgang, weil er zu einem stets das Richtige treffenden Recept führt, was folgendes Beispiel lehren kann. Es sei der zu mischende Ton ein lichtes grünliches Grau. Steht dieses am Original zwischen dunklen blauen Tönen, so sieht es lichter und gelber aus, als es wirklich ist, und wird daher fälschlich auch lichter und gelblicher gemischt, steht es aber zwischen dunklen rothen Tönen, so wird es zu licht und zu rein grün gesehen und gemischt. Zur Richtigstellung müsste man im ersteren Falle etwas dunkles Blau, im zweiten etwas dunkles Roth, in einem dritten

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Falle, wenn dunkles Grün die Umgebungsfarbe gewesen wäre, etwas von diesem beimischen, also immer noch etwas von der Umgebungsfarbe dazu; eine einfache und stets richtige Regel von ausnahmsloser Gültigkeit, die aber trotzdem noch nirgends aufgestellt wurde. Hiemit ist es aber schon reichlich genug für mittlere Schulen, wenn nicht schon weitaus zu viel.

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Topographische Anatomie (ca. 1900/1902) „Autographie für Kunst: Anatomie von Camillo Sitte verfasst um 1900/02“. Sign. SN: 403– 330. Anatomische Darstellungen – (vermutlich) Kopien von Federzeichnungen Sittes – auf dünnem gelblichem Papier, aufgeklebt auf 41 Kartonblättern (Format: 32,2 x 24,5 cm) und zusammengebunden zu einem Buch mit Hardcover-Einband. Sämtliche Darstellungen unsigniert und undatiert. Die eingeklebten Blätter je nach Größe der Darstellung beschnitten, bei Übergröße gefaltet. Unterschiedlicher Bearbeitungsstatus, recto nachträgliche Nummerierung mit römischen Ziffern in schwarzer Tusche, einmal („XXXVI“) in Bleistift. Die Darstellungen XVII–XXII (fol. 19–24 recto) z.T. mit roter Wasserfarbe koloriert. Einband aus Karton mit Gebrauchsspuren; vorderseitig auf einem Aufkleber mit Bleistift die vermutlich nachträgliche Beschriftung: „C Autographie für Kunst: Anatomie von Camillo Sitte verfasst um 1900/02“. Die offenbar von Sitte gebrauchte Bezeichnung „Topogr. Anatomie“ findet sich vereinzelt in den Kopfzeilen der Darstellungen (XXIII, XXV, XXXIIf., XXXVI, XXXVIII). Die wiederkehrende Beschriftung „alle Rechte vorbehalten“ in einigen Fußzeilen (XXVIf., XXVII, XXXI, XXXIVf., XXXVII) legt eine bevorstehende Publikation nahe. Bis auf das erste Blatt weisen die meisten Buchseiten aufgeklebte Darstellungen auf – recto durchgehend, verso bis auf fol. 33–38 und fol. 41. Sie zeigen den menschlichen Körper in (Detail-) Schnitten und Ansichten. Auf fol. 3–41 recto sind die Darstellungen durchlaufend mit römischen Zahlen nummeriert (fol. 28–30 mit XXVIa–c) und ausführlich mit lateinischen bzw. deutschen Fachtermini beschriftet. Das „Titelblatt“ (fol. 2 recto) zeigt das Knochengerüst einer männlichen Ganzfigur in Kontrapost-Haltung mit leicht abgespreiztem linken Arm und nach rechts gedrehtem Kopf. Die Darstellung dient als Orientierungszeichnung und „Inhaltsverzeichnis“, wobei die Lage der auf den folgenden Blättern dargestellten Körperschnitte durch gestrichelte Linien ablesbar ist. Am Ende des Bands ist auf fol. 40 verso (XXXV verso) und auf fol. 41 verso (XXXVI verso) ebenfalls eine männliche Ganzfigur in Vorder- bzw. Rückansicht dargestellt. Hier liegt der Schwerpunkt – im Gegensatz zum „Titelblatt“ – aber auf der Darstellung wesentlicher Muskelgruppen und -stränge über dem Knochengerüst. Recto zeigen die übrigen Blätter horizontale Schnittbilder in absteigender Sequenz vom Hals bis zu den Füßen (I–XXVI) und vom Oberarm bis zum Handwurzelknochen (XXVII–XXXIV). Als Ausnahme von der Regel sind auf XXVIb (fol. 29) und XXVIc (fol. 30) Vertikalschnitte der Fußpartien abgebildet. Alle Zeichnungen sind recto ausführlich beschriftet. Mittels Schraffuren und roter Wasserfarbe werden einige Details hervorgehoben (XIX–XXI). Verso zeigen die Darstellungen Detailansichten von Knochen und Gelenken innerhalb der Hautsilhouette, also Fuß, Knie, Hüftknochen, Hand, Oberarm, Schulter (fol. 2–16 verso). Ab fol. 17 verso finden sich Darstellungen (Vertikalschnitte und Ansichten) von Knochen- und Muskelpartien bei unterschiedlicher Körperhaltung und -spannung. In einigen Fällen benennen Bildunterschriften in der Fußzeile die dargestellten Körperteile (fol. 16–23 verso, 26–28 verso), die durch sorgsame Ausführung von Parallel- und Kreuzschraffuren zum Teil sehr plastisch wirken.

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Topographische Anatomie (ca. 1900/1902)

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Fig. I

Fig. II

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Fig. III

Fig. XXI. Topogr. Anatomie. Fuss X Topographische Anatomie (ca. 1900/1902)

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Fig. XXII. Fuss X

Fig. XXIII. Topogr. Anatomie. Fuss Z

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Fig. XXVII. Arm X

Fig. XXVIII. Topogr. Anatomie. Arm X

Fig. XXIX. Topogr. Anatomie. Arm X

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Weltanschauungs-Perioden (1902) Tabelle mit handschriftlichem Zusatz: „Selbstverlag. Diese Tabelle wurde von Camillo Sitte als Beilage zu einem nicht geschriebenen Vortrag im Jahre 1902 verfasst“. 1902. Sign. SN: 180−363/1. Abgedruckt in: Mönninger, Michael: Vom Ornament zum Nationalkunstwerk. Zur Kunst- und Architekturtheorie Camillo Sittes. Wiesbaden, Braunschweig: Vieweg 1998, S. 172.

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Neue Methode des perspectivischen Construierens (o.J.) Datierung wohl zwischen 1879–1884. Druck und Verlag: Ch. Reisser & M. Werthner. Mit geringfügigen handschriftlichen Redaktionen bei den Buchstaben der Konstruktionsanweisungen. Sign. SN: 201−457/1 Beilage einer perspektivischen Konstruktionszeichnung mit Konstruktionslinien im Format 71,5 cm x 53 cm.

Die sogenannte f r e i e P e r s p e c t i v e , d. i. das freie Entwerfen eines Bildes aus der Phantasie nur mit Zugrundelegung perspectivischer Regeln, hat den Vortheil des unmittelbaren Bildformens nach Gutdünken, so dass man schon während der Arbeit eine entsprechende Raumfüllung und Linienführung hervorbringen kann, dagegen aber den Nachtheil einer gewissen Unsicherheit, vielfacher Willkür und Ungenauigkeit nebst zeitraubenden Wiederholungen. Die verschiedenen Methoden der g e b u n d e n e n d.i.

Perspective,

mit strenger Zugrundelegung eines vollständigen und genauen

Grundrisses gleich von vorne herein, haben den Vortheil vollkommener Genauigkeit und raschesten Arbeitens gleich mit ganzen Punktreihen auf einmal; dagegen aber wieder den Nachtheil, dass man von vorne herein, bei der zuerst nothwendigen Wahl von der Lage der Bildebene, von Horizont, Distanz und Augpunkt nur bei großer Erfahrung beiläufig ahnen kann, wie das aus dem nun beginnenden Constructionsprocess hervorgehende Bild dann schließlich aussehen wird. Gewöhnlich enttäuscht das Ergebnis selbst den erfahrensten Constructeur, denn entweder befriedigt der Linienfall oder die Raumfüllung nicht, oder es ergaben sich zu kleine Dimensionen, schlechte Verschneidungen, Unsichtbarwerdung einzelner wichtiger Theile u.dgl. mehr. Da Vortheil und Nachtheil dieser beiden Hauptwege gerade immer auf der entgegengesetzten Seite liegen, kann man annehmen, dass sich in irgend einer dritten vermittelnden Methode die beiderseitigen Vortheile vereinigen lassen bei gleichzeitiger Vermeidung der Nachtheile. Die reichliche Praxis in Atelier, Schule und beim Zeichnen nach der Natur hat es bestätigt, dass eine solche verbindende Methode möglich ist, und diese soll nach Abschluss allseitiger langjähriger Erprobung hiemit beschrieben werden. A. Zeichnen nach fertigen Plänen oder beim freien Componieren 1. Das Bild des Gegenstandes wird ganz nach Gutdünken aus freier Hand flüchtig hingezeichnet in derjenigen Größe und Raumlage, und mit ­demjeni­gen Neue Methode des perspectivischen Construierens (o.J.)

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perspectivischen Linienfall, wie man es wünscht, dass es schließlich erscheinen soll. 2. Nach dem, wie diese nur beiläufige Skizze sich darstellt, wird nun der Horizont (in Beilage die Linie D ∆ V) bestimmt und der Rand des abgeschnittenen fertigen Bildes, in Beilage die senkrechten Maßstablinien rechts und links und eine beliebige obere und untere Horizontale. 3. Der Augpunkt ∆ muss immer in der Mitte liegen, so dass o ∆ = ∆ o. Nach der linken oder rechten Seite hin verschobene Augpunkte geben stets mehr oder weniger schlechte Bilder. 4. Es wird möglichst hoch oben eine möglichst lange, perspectivisch fallende (in Wirklichkeit horizontale) Linie (Pm) gewählt und nach beiden Seiten bis zum Bildrand verlängert. Wo diese den linken und rechten Bildrand trifft, werde der Schnittpunkt mit der Nadel vorgestochen und nun von o im Horizonte bis zu diesem Stichpunkt beiderseits eine gleiche Anzahl je gleicher Theile (in Beilage 0 bis 15) aufgetragen und dieselbe Theilung nach unten und oben fortgesetzt. Verbindet man irgend einen Theilpunkt von rechts mit dem gleichbezifferten von links, so geht die Verbindungslinie nach dem nicht mehr am Brett befindlichen Verschwindungspunkt V’. Mit Hilfe dieser beiden Maßstäbe kann man daher die Reißschiene immer sehr leicht in die richtige Perspectivneigung nach der einen Seite hin einstellen, wenn nöthig, auch mittelst Untertheilungen der Maßstäbe. 5. Das Fallen der Linien nach dem andern Verschwindungspunkt V wird in der Regel ein so viel steileres sein, dass dieser, wie in Beilage, noch am Arbeitsbrett liegt. Wenn dies nicht der Fall sein sollte, so kann ein zweites Paar Hilfsmaßstäbe nach Art der eben beschriebenen eingeführt werden. 6. Nun führe man die Reißschiene so lange parallel mit dem Horizonte nach aufwärts, bis sie die beiden perspectivisch fallenden Linien P15 und PV am Brett eben noch schneidet. In Beilage geschieht dies in V’/ 4 [im Original: untereinander als Bruch geschrieben] und V/ 4 , wobei angenommen wurde, dass P V/ 4 = 1/4 PV. Hiedurch entsteht ein Dreieck V’/4 P V/4, welches ähnlich dem großen Dreieck V’ P V ist. Dieses Dreieck stellt einfach eine Verkleinerung jenes großen Constructionsdreieckes zwischen den beiden Verschwindungspunkten dar, mit dessen Hilfe man die zur weiteren Construction nöthigen Theilungspunkte und den Diagonalverschwindungspunkt D finden kann. Diese Verkleinerung (lediglich deshalb nöthig, weil mit dem großen, weit über das Brett hinausgehenden Dreieck nicht construiert werden kann) braucht nicht genau 1/4, wie in Beilage, oder 1/3 etc. zu betragen, sondern kann beliebig sein.

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7. Durch Verbindung von P mit ∆ wird ∆/4 (oder bei beliebiger Verkleinerung δ) gefunden. 8. Nun wird nach bekanntem Vorgang das umgelegte Auge ∆u/4 [im Original: Delta hoch u (Zähler) / Viertel (Nenner)] (oder δ’’) gefunden durch Halbierung von V’/4 V/4 (oder v’ v) in M, Ziehung eines Kreises vom Halbmesser M V/4 (oder Mv) und Ziehung der Senkrechten ∆/4 ∆’’/4 (oder δδu). In der Verkleinerung ergeben sich dann die Theilungspunkte T/4 (oder t) und T’/4 (oder t’) gleichfalls in bekannter Weise. 9. Der gleichfalls wichtige Diagonalverschwindungspunkt D/4 (oder d) ergibt sich am raschesten und genauesten durch Ziehen der Senkrechten M N und Verbindung von ∆u/4 [im Original: Delta hoch u (Zähler) / Viertel (Nenner)] mit N. 10. Die so gefundenen Punkte werden nun durch Verbindung mit P wieder in richtig vergrößerten Entfernungen von einander auf den wirklichen Horizont übertragen, wodurch man TT’ und D erhält. 11. Sollte T, wie in Beilage, nicht mehr am Brett sein, so führt man dafür T/2 ein, indem man diesen in der Verkleinerung gefundenen halben Theilungspunkt wieder mittelst P t/2 nach T/2 im wahren Horizonte herabführt. 12. Zu allen diesen Constructionen braucht der Scheitelpunkt P nicht, wie in Beilage, zugleich irgend ein geeignet scheinender Eckpunkt des darzustellenden Gegenstandes zu sein, sondern kann ein beliebiger Punkt der Bildebene sein, also noch weiter oben und weiter rechts angenommen werden zur Vergrößerung des Constructionskreises, etwa in Q, wo in Beilage der Durchstoss der nach vorne heraus verlängerten m P mit der Bildebene angenommen ist. 13. Diese Constructionsscheitelpunkte P oder Q werden nun so weit nach aufwärts gehoben (P’ Q’), als es die vorhandene Zeichenfläche gestattet, um über der Perspectivzeichnung den perspectivischen Grundriss auf einer über dem Gegenstande schwebend gedachten Horizontalebene zu erhalten. Nach bekanntem Vorgang werden von Q’ aus auf Q’ S’’ die wahren Breitenmaße aufgetragen und mit dem Theilungspunkt T’ verbunden, wodurch man auf P’ m’ die perspectivische Breitentheilung erhält. Dabei ist jedoch zu beachten, dass man hier zuerst eine M a ß s t a b b e s t i m m u n g vornehmen muss, damit das gewünschte, ursprünglich nach Gutdünken frei entworfene Bild an derselben Stelle in derselben Größe herauskommt, aber nur richtig gestellt und 

Die Buchstaben des kleinen Alphabetes wären bei einer Construction mit unbekannter Verkleinerung zu gebrauchen. Neue Methode des perspectivischen Construierens (o.J.)

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genau in allen Einzelheiten. Dies geschieht so, dass man irgend eine wichtige größere Breite, z.B. P S hinaufführt nach P’ S’ und durch Verbindung mit dem Theilungspunkt T’ in der Bildebene die wahre Länge P’’ S’’ dieser Strecke bestimmt. Auf diese wahre Länge müsste nun vorerst die im Plane vorhandene Strecke und nach ihr der ganze Plan gebracht werden, wenn man regelrecht auf Q’ S’’ die orthogonalen Maße auftragen wollte. Dies wäre zeitraubend und, wie alle Zwischenconstructionen, eine Quelle von Fehlern und Ungenauigkeiten, lässt sich aber leicht vermeiden, indem man P’’ S’’ parallel zu sich selbst so lange perspectivisch in die Tiefe schiebt in der Richtung nach T’, bis es in r s endlich gleich ist dem entsprechenden Maße des vorhandenen Planes, was mit bekannter Parallelconstruction sofort leicht ausführbar ist. Auf die Horizontale r s werden nun alle Einzelmaße mittelst Papierstreifenstrichelung übertragen und von T’ aus unmittelbar in Perspective gesetzt auf P’ S’’. 14. Genau ebenso wird die Tiefentheilung auf der beiderseits verlängerten X P’ aufgetragen, und zwar von X aus (als Durchstoßpunkt der V P’ mit der Bildebene) nach rechts, wie vorher von Q’ aus nach links hin. Nachdem das Dreieck X P’ Y ~ T P’ V [~ ist nicht das richtige mathem.geometr. Symbol. Vermutl. Symbol für Äquivalenz, wie ein spiegelverkehrtes umgekipptes S] ist, so muss auch die Halbierung beider durch die Gerade T/2 P’Z sie wieder in ähnliche Dreiecke zerlegen, und sonach dem halben Theilungspunkt T/2 die halbe Dimension XZ entsprechen, woraus weiter folgt, dass mit dem Dreiecke XZ T/2 auf XP’ dieselben perspectivischen Theilungen zu erzielen sind, wie mit X Y T. Es ist XY die wahre Länge von XP’ in demselben Maßstabe, wie früher P’’S’’ und XZ die Hälfte davon. Hier wäre also wieder eine Maßstabänderung des Planes vorzunehmen und dann noch eine Halbierung, was aber beides, wie vorher, vermieden werden kann, indem man X Y in die vorher gefundene perspectivische Tiefe von r s zurück schiebt und dann erst halbiert. Das Halbieren kann wieder durch ebensolches perspectivisches Vorschieben geschehen, wodurch man mit nur einer einzigen Zwischenoperation (da die Construction von r s schon von früher vorliegt) sogleich und genau die Stelle findet, auf welcher die Planmaße unmittelbar mittelst Papierstreifen können übertragen werden. 15. Sind so die Breiten- und Tiefentheile perspectivisch richtig von P’ aus aufgetragen, so kann daraus in bekannter Weise der perspectivische Grundriss rasch und genau hergestellt werden. 16. Nun werden die Tiefenmaße im Mittelschnitte m’V herabgezogen zur Herstellung des perspectivischen Aufrisses. Hiezu ist nur noch eine möglichst einfache Auftragung der Höhenmaße nöthig, was in ähnlicher Weise wie

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vorher so geschieht, dass z.B. die Höhe des Punktes m über dem Horizont so lange gegen V zu perspectivisch in die Tiefe gerückt wird (gleich mittelst der zum Horizont parallelen on) dass ihr Maß nq = op dem betreffenden Höhenmaße des Planes entspricht. 17. Aus dem so erhaltenen perspectiven Grundriss und Aufriss (in Seitenansicht oder Mittelschnitt) ist es dann weder schwierig noch zeitraubend, das perspectivische Bild zusammenzustellen; es wird genau sein und zugleich der ursprünglich gewünschten Anlage entsprechen. Schlussbemerkung Nachdem alles fertig ist, kennt man noch immer die Lage der Bildebene und die Augdistanz nicht, außer wenn man sie besonders herausconstruieren würde, weil eben diese Verhältnisse nicht willkürlich angenommen, sondern in der zu Grunde gelegten Freihandskizze gleichsam latent enthalten, sozusagen unbewusst vorhanden sind. So zeigt sich, dass diese Methode, welche zwar mit Aufriss und Grundriss arbeitet, aber nicht mit mathematisch angenommener Bildebene und festgesetztem Augpunkt, sondern diese durch den vorgefassten künstlerischen Effect ersetzt, thatsächlich ein Mittelding zwischen der bisherigen freien und der gebundenen Perspective ist. Deshalb eignet sie sich auch vortrefflich zum freien Componieren und zum Naturzeichnen. Zur Vergleichung diene folgende Tabelle:

Methode

Gearbeitet wird mit

ohne

Freie Perspective

vorher bestimmter Distanz etc.

Grundriss und Aufriss

Gebundene Perspective

vorher bestimmter Distanz etc. und mit Grundriss und Aufriss



Neue Methode

Grundriss und Aufriss

vorher bestimmter Distanz etc.

B. Zeichnen nach der Natur Hiebei wird das Skizzenbuch oder der Zeichenblock vor den Naturgegenstand gehalten, um den zeichenbaren Naturausschnitt zu finden, dann wird in der Augenhöhe der Horizont notiert, und mittelst Notieren nach Seitwärtsneigen des Zeichenblattes zwei fallende Hauptlinien. Hierauf folgt die Bestimmung der Hauptconstructionspunkte nach Augenmaß und der Perspectivmaßstäbe, worauf die Zeichnung förmlich nach der Natur abgeschrieben wird, mit steter Erinnerung an die perspectivische Construction, was nach kurzer Übung Flinkheit und Genauigkeit ungemein fördert. Neue Methode des perspectivischen Construierens (o.J.)

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Über den praktischen Wert der Lehre vom goldenen Schnitt (o.J.) Wiener Bauhütte, Jg. 24 (1930), Heft 6, S. 47–49; Heft 7, S. 53–55; Heft 8, S. 67–69. Sign. SN: 198–454/4. Dem posthum erschienenen Aufsatz, der als Folge auf drei Hefte verteilt ist, wurde von den Herausgebern der Zeitschrift folgende Bemerkung vorangestellt: „Angeregt durch die Aufsätze des Herrn Dr. Ing. M e r i n s k i in Heft 11 der ,Wiener Bauhütte’ stellte uns Herr Arch. Prof. Siegfried Sitte diese Schrift seines Vaters zur Verfügung, die vermutlich um das Jahr 1880 verfaßt und bisher noch nicht veröffentlicht wurde.“

Fast in jeder neueren Publikation auf dem Gebiete der architektonischen oder ornamentalen Formenlehre, ja selbst der elementaren geometrischen Formenlehre findet sich die Regel vom sogenannten „goldenen Schnitt“ mehr oder weniger angewendet und es gibt Theoretiker, welche hiemit Wunder zu wirken vermeinen. Demgegenüber verhalten sich praktische Künstler meist kühl und sogar ablehnend, in welch’ letzterer Richtung der Altmeister Mothes, dessen autoritativen Worten von vornherein Aufmerksamkeit geschenkt werden muß, so weit geht, daß er geradezu mit innerem Abscheu von dieser Regel spricht und sie als ein Unglück für Kunst und Kunstgewerbe bezeichnet. Man muß, um dies begreiflich zu finden, es selbst jahrelang in zahlreichen Fällen versucht haben, beim Entwerfen und Detailieren sich von dieser Regel leiten zu lassen. Wenn man dabei, oder auch beim Entwerfen im Schulunterricht beobachtet hat, wie dieser unglückselige goldene Schnitt fast ausnahmslos Resultate liefert, die nicht zu brauchen sind, so wird es verständlich, wieso es bis zum Aufflammen überzeugungsvollen Zornes kommen konnte. Steht man aber einmal auf diesem Standpunkte, dann muß man sich wieder baß verwundern, wieso über ein so nichtiges Ding so viel und so geistreich geschrieben werden konnte. Da liegt ein schweres Buch vor uns, mit vielen hunderten von Nachweisungen und 13 Lichtdrucktafeln: F. H. Pfeiffer: „Der goldene Schnitt und dessen Erscheinungsformen in Mathematik, Natur und Kunst“; J. Mathias ver­fasste 

[Die von den Herausgebern der Wiener Bauhütte vorgeschlagene Datierung von Sittes Aufsatz „um 1880“ ist nicht haltbar. Als terminus post quem ist das Jahr 1886 anzusehen, da sich Sitte in seinem Beitrag u.a. auf Abhandlungen aus diesem Jahr bezieht.]



[Siehe dazu Mothes, Oscar: „Der goldene Schnitt, eine Gefahr für die künstlerische Entwicklung“, in: Lauser, Wilhelm (Hg.): Allgemeine Kunst–Chronik. Illustrierte Zeitschrift für Kunst, Kunstgewerbe, Musik und Literatur, Bd. 10 (1886), S. 527–529; S. 550–553.]



[Pfeiffer, Franz Xaver: Der goldene Schnitt und dessen Erscheinungsformen in Mathematik, Natur und Kunst. Augsburg: Huttler 1885 (Reprint Wiesbaden: Sändig 1969).] Über den praktischen Wert der Lehre vom goldenen Schnitt (o.J.)

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ein Handbuch für Werkstatt, Schule und Haus mit 212 Abbildungen unter dem Titel: „Die Regel vom goldenen Schnitt“; Dr. Zeising wendet diese goldene Lehre auf die Proportion des menschlichen Körpers an; O. Caspari handelt sogar von der philosophischen Bedeutung des goldenen Schnittes und M. Carriere sieht ihn auch im Aufbau des Dramas enthalten, in der Verschiebung der sogen. Peripetie aus der Mitte; zahllos aber sind die kleinen Arbeiten hierüber in den verschiedensten Fachblättern und die Berührungen dieses Themas in fast allen neueren kunsttheoretischen Werken. Man sieht, die Frage ist ein Modeartikel und nur unter Wahrung ruhigen kalten Blutes wird man im Stande sein, denjenigen brauchbaren Kern wirklicher Wahrheit herauszuschälen, der tatsächlich in der Sache steckt. Zunächst muß da eine Menge von Anordnungen abgeschieden werden. So wie man dereinst alles und jedes selbst bis zu den metaphysischen Problemen mittels der neu erfundenen Regeldetri oder Anderem lösen wollte; ebenso wird heute der goldene Schnitt mit Natur- und Kunst-Objekten aller Art in Verbindung gebracht. Der Wert dieser Bemühungen kann besonders deutlich bemessen werden an Zeisings Proportionslehre, dem ersten großen Unternehmen dieser Art. Die Manipulation, entkleidet von allem 

[Matthias, J.: Die Regel vom goldenen Schnitt im Kunstgewerbe. Ein Handbuch für Werkstatt, Schule und Haus. Leipzig: Haessel 1886.]



[Zeising, Anton: Neue Lehre von den Proportionen des menschlichen Körpers aus einem bisher unbekannt gebliebenen, die ganze Natur und Kunst durchdringenden morphologischen Grundgesetze entwickelt und mit einer vollständigen historischen Übersicht der bisherigen Systeme. Leipzig: Weigel 1854.]



[Caspari, Otto: Die Urgeschichte der Menschheit mit Rücksicht auf die natürliche Entwicklung des frühesten Geisteslebens. Leipzig: Brockhaus 1877 (2. Aufl-).]



[Carriere, Moritz: Aesthetik – die Idee des Schönen und ihre Verwirklichung durch Natur, Geist und Kunst. 2 Bde. Leipzig: Brockhaus 1859 und 1885; Ders.: Die Kunst im Zusammenhang der Culturentwicklung und die Ideale der Menschheit. 5 Bde. Leipzig: Brockhaus 1877–1886 (3. Aufl.).]



[„Regeldetri“ ist der alte Begriff für „Dreisatz“ und bezeichnet ein Berechnungsverfahren für proportionale Wertepaare.]



[Der Leipziger Philosoph Adolph Zeising (1810–1876), der Begründer der mathematischen Ästhetik, widmete sein Lebenswerk der Suche nach „einem die ganze Natur und Kunst durchdringenden morphologischen Grundgesetz“. Dabei verteidigte er – gegen Gottfried Semper – die ‚ideale’ Proportion als geistige Erscheinung des Schönen. Sein Hauptwerk ist die Neue Lehre von den Proportionen. Leipzig 1854. Zeising legte auch eine auf Mess­ ergebnissen von Wilhelm von Schadow (1788–1862) und Carl Gustav Carus (1789–1869) fußende, statistische Anthropologie vor, die Sitte wohl ebenfalls konsultierte. Zeising, Adolph: „Über die Metamorphosen in den Verhältnissen der menschlichen Gestalt von

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­bestechenden Flitter, ist in ihrer ganzen Nacktheit dabei die folgende gewesen: Zuerst wurde die gesamte Standhöhe der menschlichen Figur nach dem goldenen Schnitt geteilt und hierauf diese Teilung auf einer Normalfigur aufgetragen und in der Nähe des Teilpunktes nach einem anatomischen Fixpunkt gefahndet. Es ist klar, daß man hiebei schon zwei Fälle unterscheiden kann, je nachdem man das größere Teilmaß oben oder unten annimmt. Fände man also auf die eine Art keinen passenden anatomischen Punkt, so gelingt es vielleicht auf die andere Art. Bei dieser ersten Teilung der menschlichen Figur wies schon die Länge der Beine darauf hin, das längere Maß von unten her aufzutragen und das Ende desselben fällt so in die Nähe des Nabels. Nun ist sofort klar, daß man den Nabel ganz gut um ein minimales Stückchen rücken kann, damit die Teilung vollkommen klappt und das geschieht denn auch. Wäre die Entfernung des Teilpunktes vom Nabel aber denn doch eine zu große gewesen, so hätte man in dieser Gegend sich eben um einen anderen anatomischen Nennpunkt umsehen müssen, deren es ja an allen Stellen des Körpers eine Menge gibt. Man hätte in diesem Falle z.B. den vorderen oberen Darmbeinstachel oder die Darmbeinhöhe oder einen Punkt der unteren Lendenwirbel etc. wählen können. Wenn man sich diesen Vorgang überlegt, so sieht man ein, daß in dieser Weise fortfahrend, man nirgends Schiffbruch leiden kann und nur mit etwas Phantasie und Geschicklichkeit im Kombinieren alles glücklich zu Ende geführt werden kann. Es ist auch klar, daß jedes beliebige andere Zahlensystem auf dieselbe Art über den menschlichen Körper ausgebreitet werden kann, wie denn in der Tat noch ein zweiter solcher Versuch vorliegt, nämlich das sehr ernsthaft wissenschaftlich aussehende Werk von F. Liharžik: „Das Quadrat, die Grundlage aller Proportionalität in der Natur und das Quadrat aus der Zahl Sieben, die Uridee des menschlichen Körperbaues.“10 Streng genommen sind alle solche kombinatorische Kunststücke nichts anderes als wissenschaftlicher Müßiggang. Solche willkürliche Zahlen-Phantasien sind weder geeignet das Rätsel des Lebens und des Wachstums zu lösen, noch auch den Künstler zu fördern, denn nicht einmal zur Verwertung als mnemotechnisches Hilfsmittel sind sie tauglich, weil viel zu kompliziert. der Geburt bis zur Vollendung des Längenwachsthums“, in: Nova Acta Leopoldina. Verhandlungen der kaiserlich Leopoldinisch-Carolingischen Akademie der Naturforscher, Bd. 26/2 (1858/1859), S. 781–879.] 10 [Liharžik, Franz P.: Das Quadrat die Grundlage aller Proportionalität in der Natur und das Quadrat aus der Zahl Sieben die Uridee des menschlichen Körperbaues. Wien: Herzfeld & Bauer 1865.] Über den praktischen Wert der Lehre vom goldenen Schnitt (o.J.)

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Der praktische Zeichner braucht einfachere Rezepte zu Stützpunkten der Arbeit, z.B. daß Brustbein, Schlüsselbein, innerer Schulterblattrand und der Normalabstand der Schulterblätter nahezu gleich der Handlänge sind und ähnliche, leicht im Gedächtnis zu behaltende und leicht zeichnerisch verwertbare Formeln. Alle derlei Versuche müssen als Abwege und Sackgassen links liegen gelassen werden und ist nur direkt das Wesentliche an der Sache ins Auge zu fassen. Dies ist aber rein physiologischer Natur und in diesem Sinne wurde die ganze Frage von dem großen Psychophysiker G. Th. Fechner1 1 aufgefaßt, der sie von einer willkürlichen Annahme zu einer experimentell verbürgten Empfindungsregel erhob. Fechner erkannte, daß die ganze schöne Regel so lange in der Luft stünde, solange sie nicht als Erfahrungssatz experimentell nachgewiesen wäre. Fechner wählte zu diesem Versuch zehn aus weißem Karton geschnittene Rechtecke, welche hunderten von Personen vorgelegt wurden sowohl zur Bezeichnung des jedem wohlgefälligsten Formates als auch zur Bezeichnung des am wenigsten Ansprechenden. Alle diese Wahlen nebst zugehörigen Bemerkungen wurden in geordneter Weise notiert und die schließliche Summierung aller gleichen Urteile ergab zweifellos die Anerkennung desjenigen Formates als des Schönsten, welches nach der Regel des goldenen Schnittes proportioniert war d.h., daß die kürzere Seite sich zur längeren verhielt, wie diese längere zur Summe beider. Bisher, nur a priori aufgestellt, war dieser Satz nichts als eine willkürliche Annahme, ein geistreicher Einfall; jetzt, nach dem Fechner’schen Versuch steht es fest, daß tatsächlich in der dunklen Sphäre des Unbewußten diese proportionale Reihe so abläuft und von nun an haben wir mit diesem Satz als einer physiologischen Tatsache zu rechnen.

Fechner ging nun weiter und fing auch an, die Grenzen der Gültigkeit

dieses Satzes experimentell zu bestimmen. Es wurden Visitkarten gemessen und die Bücher einer Leihbibliothek; auch Briefkuverts und Spielkar11 [Gustav Theodor Fechner (1801–1887) begann 1817 mit dem Studium der Medizin, wurde 1834 an der Universität Leipzig Ordinarius für Physik und gilt als Wegbereiter der Experimentalphysik und als Begründer der Psychophysik und experimentellen Ästhetik. Dazu siehe Fechner, Gustav Theodor: Zur experimentalen Ästhetik. Leipzig: Hirzel 1871; Ders.: Vorschule der Ästhetik, 2. Anhang, über die gesetzlichen Maßverhältnisse der Galeriebilder. Leipzig: Breitkopf & Härtel 1876. Im Vorwort des I. Teils der Vorschule der Ästhetik erwähnt Fechner außerdem eine Abhandlung – „Über die Frage des goldenen Schnittes“ in Weigels Archiv 1865 –, in der er sich gegen die Überbewertung idealer Proportionen ausspricht.]

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ten. Überall fand sich ein Schwanken in kleiner Distanz um den goldenen Schnitt herum als Mittelwert. Endlich zog Fechner auch Bilderformate in den Bereich der Untersuchung und fand, wie er selbst sagt, „ w i d e r E r w a r t e n “ , daß Galeriebilder nicht unerheblich kürzer sind. Der näheren Ergründung dieser Erscheinung widmete Fechner eine eigene umfassende Untersuchung von nicht weniger als 10.558 Galeriebildern unter gleichzeitiger Berücksichtigung von allerlei Nebenumständen, wie Stilrichtungen, Zweck der Bilder sowie Gegenstand der Darstellung und anderes. Diese Auseinandersetzungen enthalten so viele scharfe und zutreffende Beobach­ tungen, daß wohl gewünscht werden könnte, daß sie jeder Maler gelesen habe und daß an jeder Akademie ihr Inhalt Gegenstand eines Vortrages wäre.12 Das hier wichtigste Resultat ist, daß die Seiten der Bilder jeder Gattung merklich genau in dem Verhältnisse 5 : 4 stehen, wenn sie Höhenbilder sind und im Verhältnisse 3 : 4 stehen, wenn sie Breitenbilder sind. Fechner sagt selbst, daß er für diese Ausnahme von der Regel keinen Erklärungsgrund finden konnte. Hier hätten die Nachfolger einsetzen und weiterarbeiten sollen. Die offenen Fragen sind: 1. Warum haben Breitenbilder ein anderes mittleres Normalmaß als Höhenbilder? 2. Warum folgen Bilder überhaupt in Bezug auf ihr Format nicht der Regel des goldenen Schnittes? 3. Worin liegt der innere psychologische Grund für das g e f ü h l s m ä ß i g e Vo r h a n d e n s e i n d e s g o l d e n e n S c h n i t t e s überall dort, wo er experimentell nachgewiesen werden konnte? Die erste Frage hätte Fechner nicht als offen bezeichnen sollen, denn ihre Lösung war halb und halb schon gegeben in der physiologischen Optik von Helmholtz.13 Dort wird die scheinbare Erhöhung aller Quadrate erklärt als Folge der Angewöhnung des perspektivischen Sehens. Bedenkt man nun, daß in dem Verhältnis 3 : 4, um es dem anderen Verhältnis gleich zu machen, 12 [Ende Teil 1.] 13 [Hermann Ludwig Ferdinand von Helmholtz (1821–1894) war Professor für Physiologie in Königsberg, Bonn und Heidelberg, seit 1871 Professor für Physik in Berlin und hier seit 1888 erster Präses der neu gegründeten Physikalisch-Technischen Reichsanstalt. Sitte bezieht sich hier auf Helmholtz’ Handbuch der physiologischen Optik, 3 Bde. Leipzig: L. Voss 1856–1867.] Über den praktischen Wert der Lehre vom goldenen Schnitt (o.J.)

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gerade die Höhendimension 3 etwas vergrößert werden müßte und daß zu gleichem Zweck bei den Höhenformaten (Höhe : Breite = 5 : 4) gleichfalls die Höhendimension vergrößert werden müßte, so sieht man, daß diese Ausgleichung eben von selbst geschieht durch Sinnestäuschung, indem jedes der beiden Formate etwas höher aussieht als es wirklich ist. Dem unwillkürlich täuschenden Augenmaß nach müßte die Differenz der beiden Formate eine noch weit größere sein. Sie ist es aber in Wirklichkeit offenbar bloß deshalb nicht, weil die Verhältniszahlen Fechner’s eben Mittelzahlen sind und die Formate von vielen der untersuchten Bilder offenbar nicht bloß auf ihre Wohlgefälligkeit hin allein bestimmt wurden, sondern nach gebräuchlichen Normen, wobei immer einfache Verhältnisse wie 3 : 4, 4 : 5 etc. eine Rolle spielen. Auch der Fall kommt in der Praxis oft genug vor, daß ein ursprünglich für ein Breitenbild bestimmter Blindrahmen gelegentlich zu einem Höhenbild verwendet wird und umgekehrt. Unter allen diesen Einflüssen mußte sich aber die physiologisch bedeutende Differenz immer mehr verwischen und schließlich nur mehr eben noch merkbar bleiben. Die zweite Frage: warum Bildformate überhaupt nicht mit dem goldenen Schnitt stimmen, trifft so recht den innersten Kern des Ganzen. Solche Fälle, in denen der goldene Schnitt eben nicht zu brauchen ist, sind in der Kunst, in Architektur und Ornamentik geradezu die Regel und die paar von Fechner bearbeiteten Beispiele sind die Ausnahme, eine geradezu seltene Ausnahme. Es muß hier etwas weiter ausgeholt und vorerst die allgemeine Methode der Proportionierung mitgeteilt werden, welche der Autor dieses bei Gelegenheit seiner eigenen praktischen Arbeiten und im Laufe eines bereits sechzehnjährigen Unterrichtens im bau- und kunstgewerblichen Entwerfen und Detailieren allmählich gefunden und ausgebildet hat; erst dann kann gezeigt werden, daß von dieser allgemeinen Regel die Fechner’sche Frage nur ein spezieller Fall ist, dessen Lösung sich dann leicht ergibt. Zur ersten Orientierung diene ein Beispiel, dessen sinnliche Wirkung jeder mit ein paar Bogen Schreibpapier selbst erproben kann. Es liege der Fall vor, auf einem Blatt Schreibpapier (gewöhnliches Format von ca. 21 zu 34 cm) einen mittleren Raum derart abzugrenzen, daß ringsherum ein wohlgefällig dimensionierter leerer Rand von parallelen Seiten bleibt, wie dies bei Buchdruckseiten, bei Diplomen, Aquarellen, Kupferstichen, Passepartout etc. der Fall ist. Jedermann weiß, daß bei allen diesen Fällen je zwei einander gegenüberliegende Randstreifen in der Regel gleich breit gemacht werden, daß aber nicht alle vier Ränder gleich breit gemacht

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werden. Alle vier Ränder ungleich zu machen, das kommt vor, wenn ein schreiender, bizarrer oder komischer Effekt angestrebt wird. Alle vier Ränder gleich breit zu machen, das kommt bei feinen, überlegten Arbeiten nicht vor, weil dies unbedingt langweilig und plump aussehen würde. Der unbewußte Empfindungsvorgang folgt hier zweifellos den Regeln der Proportionalität. Der gute Geschmack, das Auge, der künstlerische Instinkt, oder wie immer man diese Kraft nennen will, welche hier unmittelbar, ohne lange Erwägung oder Beweisführung ihr Urteil spricht, fordert sichtlich, daß das Verhältnis der inneren Fläche gleich sei dem Verhältnis der Gesamtfläche. Folgt man dieser Forderung der Proportionalität aber geometrisch genau, so wird der obere und untere kurze Rand (das Blatt als Höhenformat genommen) zu breit ausfallen und ist dies ein Beweis, daß in dem Gefühlsurteil eben die Forderung der Proportionalität nicht bloß allein enthalten ist, sondern auch die andere entgegengesetzte Forderung der Gleichheit aller vier Ränder. Auch diese Forderung entspricht ja gleichfalls allgemein gültigen Normen der Harmonie, denn einerseits soll alles, was seinem Begriff, seiner ornamentalen Bedeutung nach gleichwertig ist, auch in seiner Dimensionierung gleich sein und andererseits soll jede Ecke für sich allein betrachtet symmetrisch gegliedert sein, also nach einer Gehrung von 45 Graden. Die Empfindung wählt nun unwillkürlich einen mittleren Durchschnitt zwischen diesen beiden verschiedenen Abmessungen. Man kann sich das deutlich vor Augen stellen, wenn man alle drei Varianten zeichnet und die eigene Empfindung dabei beobachtet. Die Variante Abb. 1, welche nur die Proportionalität allein berücksichtigt, gefällt nicht, weil der Verstoß gegen die Gleichheit und die symmetrische Eckenbildung zu groß ist und daher unangenehm wirkt, wenn auch unbewußt. Die Variante Abb. 3 befriedigt die Forderung nach Gleichheit zwar vollständig, verstößt aber gegen die Forderung der Proportionalität in merklicher und daher unangenehmer Weise. Die Variante Abb. 2 enthält nun statt eines Fehlers deren gar zwei, indem ihre Abmessungen weder der Proportionalität noch der Gleichheit entsprechen; der Fehler ist aber nach jeder Seite hin ein geringer und gerade wegen der Kombination beider Prinzipien nicht hervorstechender; er liegt so zu sagen unter der ästhetischen Reizgrenze und ist daher empfindungsmäßig gleich Null. In den meisten solchen Fällen, wie sie in der Architektur und Ornamentik hundert- und tausendfältig vorkommen, ist das Phänomen weit komplizierter z.B. bei allen Bestimmungen von Friesenbreiten unserer vielfachen Türkonstruktionen, bei Kassettierungen mit oft doppelten und dreifachen Über den praktischen Wert der Lehre vom goldenen Schnitt (o.J.)

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3 Abb.

Umrahmungen u.s.w. findet überall eine solche Mischung von Anforderungen der Gleichheit und der Proportionalität statt. Geht man alle möglichen Kombinationen durch, so erhält man nicht bloß zwei Werte, wie in obigem, einfachstem Beispiele, sondern je nach der Fülle der vorhandenen Beziehungen deren mehrere und zwischen allen diesen Werten muß dann der entsprechende Mittelwert gesucht werden. Das Resultat dieser Arbeit ist also eine Art Gefühlsresultierende, welche in ähnlicher Weise entsteht, wie die Kräfteresultante in der Mechanik. Geradeso wie in der Mechanik die Resultierende aber nicht bloß abhängig ist von der Lage der Einzelkräfte, sondern auch von deren Stärke; ebenso hängt der Ort der ästhetischen Resultante nicht nur von dem Vorhandensein verschiedener Effekte, sondern auch von deren verschiedener Stärke ab. Wenn in dem Beispiele Abb. 2 die obere Randbreite in der Mitte zwischen a und b angenommen wurde, so wurde dabei zugleich vorausgesetzt, daß hier sowohl Gleichheit als auch Proportionalität eine gleich starke sinnliche Wirkung äußern. Dies trifft aber in den seltensten Fällen zu, denn es liegen meist in der Detailbildung und Dekorierung des Mittelfeldes oder des Randes Momente, welche entweder die Proportionalität oder die Gleichheit zu stärkerer Wirkung bringen. Wäre z.B. die Ecke mit einem streng nach der Winkelteilung (Gehrung) symmetrischen Beschläge versehen, so müßten diesem zu Liebe die Ränder gleich breit gemacht werden. Die Verschiedenheit dieser Einflüsse geht so weit, daß sie auch rein subjektiver Art sein können im Sinne komplementärer Erscheinungen und sonach heute eine Dimensionsbestimmung nicht gefällt, welche gestern noch gefallen hat.

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Die hier mit der Forderung der Proportionalität kombinierte Regel der Gleichheit ist uralt. Schon Vitruv14 sagt: alle Gesimse und Profile sollen ebensoweit ausladen, als sie hoch sind. Auch diese schöne Regel steht geradeso wie der goldene Schnitt zwar in allen Lehrbüchern, wird aber gleichfalls in der Praxis nicht respektiert. Vitruv selbst hat sich in keiner Weise daran gehalten, weil auch die Befolgung dieser Regel fast nur zu handgreiflichen Unschönheiten führt. Trotzdem enthält diese Aufstellung der Gleichheits-Regel bei Vitruv den ersten Ansatz zu einer wissenschaftlichen architektonischen Formenlehre im Gegensatze zu den bis heute noch dominierenden kochbuchartigen Zahlen-Rezepten.15 Aus diesem Wenigen schon dürfte zu entnehmen sein, warum alle praktischen Künstler sich keiner dieser Regeln bedienen, sondern sich lediglich auf ihr Gefühl verlassen. So lange man nicht darauf verfällt, diese Regeln zu kombinieren und nur als ein Hilfsmittel zu gebrauchen, nützen sie auch nichts; ihre Kombination aber ermöglicht es, alle Fragen der Dimensionierung in Bezug auf Schönheit zu lösen im gesamten architektonischen und ornamentalen Formenschatz. [Der] Schreiber dieses [?] betreibt diese geschilderte Methode im Entwerfen und Detailieren sowohl in der Schule als auch in der Praxis und ist kein Fall vorgekommen, welcher in dieser Analyse unlöslich geblieben wäre. Zurückkehrend zu dem Fechner’schen Beispiel der Galeriebilder liegt es von dem nun gewonnenen Standpunkte aus nahe, zu vermuten, daß es sich auch hier um eine der zahllosen Kombinationen von Gleichheit einerseits und von wohlgefälligster Proportionalität (in diesem Falle der goldene Schnitt) andererseits handelt. In der Tat stehen die Verhältnisse 3 : 4 und 4 : 5 ziemlich genau in der Mitte zwischen dem Verhältnis der Gleichheit 1 : 1 und dem des goldenen Schnittes 1 : 1,618. Es fragt sich nur, warum spielt bei der Formatempfindung bei Bildern auch der Wunsch nach Gleichheit eine Rolle. Die bloße Stellung dieser Frage enthüllt auch schon die Antwort. Wir wissen ja, daß bei einem Bild, in seiner Totalität überblickt, nicht blos sein Format als solches allein wirkt, sondern stets und vor allem das, was auf dem Bilde vorgestellt ist und, daß darauf etwas Schönes, das Auge Erfüllendes vorgestellt

14 [Vitruvius Polio: De architectura libri decem. Buch III, Kapitel 3–5. Sitte benutzte möglicherweise die Ausgabe von Franz Reber: Der Vitruvius. Zehn Bücher über Architektur. Übersetzt und durch Anmerkungen erläutert. Berlin–Schöneberg: Langenscheidtsche Verlagsbuchhandlung 1865, S. 81–98.] 15 [Ende Teil 2.] Über den praktischen Wert der Lehre vom goldenen Schnitt (o.J.)

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ist; während die Schriftzeichen eines Buchs in ihrer Totalität aufgefaßt zu einer grauen Masse verschwimmen. Darin liegt der Unterschied; darauf beruht es, daß ein bedrucktes Blatt in seiner Totalität nur auf seine Proportion hin beurteilt wird, während ein Bild stets auch als ein d a s Sehfeld Beherrschendes und mit künstlerisch geordneten Gruppen Erfüllendes empfunden wird. Das Sehfeld oder die Basis der Sehpyramide würden aber eine Kreisfläche verlangen oder in geradliniger Begrenzung, bereits der Schwerrichtung und dem Horizont naturgemäß angepaßt: e i n Quadrat. Dies die Forderung des Bildes an sich; die Forderung des Formates ist durch den goldenen Schnitt normiert; der mittlere Durchschnitt von beiden gibt die tatsächlich üblichen Maße. So löst sich auch die zweite Frage. Die dritte Frage nach dem physiologischen Grund des goldenen Schnittes hat Göller1 6 (der auch Beispiele gegen den goldenen Schnitt zusammenstellte) dahin zu beantworten gesucht, daß er das Proportionalitätsgefühl überhaupt auf Gewöhnung zurückführte. Damit ist allerdings die richtige Fährte angegeben, nur fragt es sich dann weiter, welches denn diejenige natürliche Erscheinung oder sinnliche Reizung wäre, welche zur süßen Gewohnheit wird und den ihr entgegenkommenden goldenen Schnitt somit verlangt und angenehm findet. Richtig erkannt wurde bereits der Umstand, daß die Formel des goldenen Schnittes nur ein spezieller Fall unter vielen möglichen proportionalen Reihungen ist. Dasjenige, was man heute in der Kunsttheorie unter Proportion im Allgemeinen versteht, ist ein noch viel Allgemeineres, in welchem eine regelmäßig ablaufende Reihung selbst nur wieder ein spezieller Fall ist. In allgemeinster Fassung ist Proportion die Dimensionierung des Ungleichartigen, wie es in Architektur und Ornamentik hauptsächlich in der Wachstums-Richtung von unten nach oben abläuft; während das G l e i c h a r t i g e sich nach dem Gesetz der Symmetrie horizontal nebeneinander lagert. Eine der Grundregeln des architektonischen Aufbaues lautet: „Es sollen keine gleichen Größen und keine gleichen Formen übereinander folgen“. Wird von diesen verschiedenen Dimensionen das wohlgefälligste Größenverhältnis ermittelt, so gibt das die gesamte Lehre von der guten Proportion. Eines der bekanntesten, brauchbarsten und richtigsten Verhältnisse der RenaissanceArchitektur ist das des Postamentes zur Säule zum Gebälk wie 4 : 12 : 3. Aus diesen drei Ziffern den goldenen Schnitt herauszulesen ist ein Ding der Unmöglichkeit, weil hier vor Allem nicht einmal der Typus einer stetigen Reihe 16 [Göller, Adolf: Zur Aesthetik der Architektur. Vorträge und Studien. Stuttgart: Wittwer 1887.]

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vorliegt, wie es der goldene Schnitt ist in seiner allgemeinen Form a : b = b : c, wobei noch obendrein der ganz besondere Fall herausgegriffen ist, daß c = a + b ist. Die weitaus meisten proportionalen Fragen der Architektur und Ornamentik drehen sich gar nicht um diese so überaus beschränkte kleine Formel. Man nehme blos einen gedrechselten Stab etwa eines Stiegengeländers oder eines Spinnrades. Welche Fülle von Formen, Bewegungen und Gegenbewegungen, Dimensionen, Effekten, Kontrasten, Witzen und Einfällen! Eine ganze Welt von Harmonie und Abwechslung gegenüber diesem dürren, kargen, dürftigen „ goldenen“ Gesetz, das kaum zwei Dimensionen gegenseitig abzuwägen vermag und noch obendrein nur schnaubend und stolpernd im Schweiße des Angesichtes. Nein! Nicht allgemeine Proportionalität steckt in diesem Gesetzchen, sondern nur ein ganz spezieller Fall und die allgemeinste Formel, aus welcher sich dieser Sonderfall etwa noch herleiten ließe, lautet: a:b=b:c=c:d=d:e=e:f Mit Hilfe dieser Formel nun läßt sich eine kleine Gruppe verwandter Formen zusammenstellen. Die Hervorragendste daraus ist die der jonischen Kapitälschnecke, deren rechtwinkliges Tangentenschema beinahe genau dieser Reihe folgt. Sucht man nun nach einem sinnlichen Naturreiz, der, von selbst gegeben, durch Gewöhnung die Grundlage zu dieser Anempfindung geben konnte, so fällt der suchende Blick zunächst auf die perspektivische Reihe. Die scheinbaren perspektivischen Abstände z.B.: einer Reihe von Säulen eines Tempels oder gleich weiter Baumstämme etc. verlaufen nämlich, wenn Augdistanz und Stellung der Bildebene so angenommen werden, daß ein sinnlich deutlicher Effekt zu Stande kommt, derartig, daß die Abstände der Reihe nach sich tatsächlich beinahe wie die Glieder obiger Reihe verhalten. Der Fehler ist so klein, daß er sicher mit freiem Auge nicht mehr abgeschätzt werden kann. Bedenkt man dabei die stete Beweglichkeit des Auges, ferner die Beschränktheit des deutlichen Sehens und die Ungenauigkeit des raschen Tiefen-Visierens mit freiem Aug, so sieht man ein, daß nur ein allgemeiner Effekt kurzer, zentraler Perspektivgruppen dasjenige sein kann, was Empfindungs-Gewohnheit werden kann. Nachdem nun unser ganzes Sehen von Kindesbeinen an ein perspektivisches ist und das Moment der stetigen Verkleinerung dabei ununterbrochen Über den praktischen Wert der Lehre vom goldenen Schnitt (o.J.)

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als Hilfsmittel des unbewußten Auslegens dieser Bilder dient, so muß diese Norm endlich für alle Gesichtsschätzungen zur Naturregel werden. Selbst in rohester Form lautet das Perspektivgesetz noch immer so wie obige Formel, nämlich: Der Vordergrund verhält sich zu dem Mittelgrund wie dieser zum Hintergrund. Diese Regel üben wir immerfort, so lange wir das Auge offen haben; kein Wunder also, daß das, was stetig durchs Aug einzieht, aus ihm auch wieder hervorleuchtet. Ein Teil dieses Hervorleuchtens wurde experimentell durch Fechner entdeckt, durch seinen Nachweis, daß der goldene Schnitt (d.i. ein Sonderfall obiger Reihe) tatsächlich dem Gefühlsinventare des Auges angehöhrt. Ob es in diesem kleinen Beitrag gelungen ist, die von Fechner selbst noch unbeantwortet gelassenen drei Fragen zu lösen, sei dem weiteren Ausbaue dieser Theorien anheimgegeben.

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Autograph, ohne Titel (o.J.) Unpublizierter Autograph, Sign. SN: 259–335. Der Autograph umfasst drei Teile: Teil I: „Über Gesch[ichte] des Persp[ektivischen] Zeichn[en]s – Erste Fassung“, Teil II: „Über Zeichen-Unterricht“, sowie ein Zettelkonvolut, das ehemals „Teil I“ beigegeben war. Dieses besteht aus 19 Einzelblättern in unterschiedlichen Formaten bzw. Papierqualitäten: Einige geben frühere Textfassungen wieder, die teilweise sinngemäß, mitunter auch weitgehend wörtlich in den Teilen I und II übernommen wurden. In Sittes Text finden sich Fußnotenziffern (im Folgenden in Abänderung zum Original römisch wiedergegeben) bzw. Fußnotenhinweise mit Sternchenmarkierung, die fast ausnahmslos ohne weiterführende Hinweise gesetzt sind. Alle Fußnoten mit arabischen Ziffern dienen der nachträglichen Textkommentierung. Die Textillustrationen sind – mit Ausnahme der wenigen, direkt auf das Blatt gesetzten Handzeichnungen – nicht erhalten. Sie befanden sich auf eingeklebten Transparentpapieren, worauf Kleberückstände und Aussparungen im Schriftbild mit Figurenziffern verweisen. An diesen Stellen sind vereinzelt auch Hinweise auf die ursprünglichen Bildmotive vermerkt. Vorliegende Transkription der drei Teile gibt jeweils den letzten Redaktionsstand Camillo Sittes wieder, das heißt: Textkorrekturen bzw. -ergänzungen wurden berücksichtigt; Textstreichungen, die teilweise mehrere Absätze umfassen, blieben unberücksichtigt. Zu dieser Thematik siehe auch: Sitte, Camillo: „Geschichte und Methodik des elementaren Körperzeichnens (1884)“, in: CSG, Bd. 4, S. 162–187. I. Teil: „Über Gesch[ichte] des Persp[ektivischen] Zeichn[ens] – Erste Fassung“ Fol. 1 bis fol. 148, gegliedert in 4 „Perioden“. Altösterreichisches Kanzleiformat. Ursprünglich 157 lose, paginierte Blätter (beginnend mit fol. 2: „Einleitung“), erhalten 149 Blätter. Fehlstand von 8 Blättern: fol. 4, 5 in „Periode I“ und fol. 108, 109, 110, 117, 118, 143 in „Periode IV“. Doppelpaginierung von 9 Blättern: Die Paginierung fol. 75–82 in „Periode II“ wiederholt sich in „Periode III“. Rekonstruiert wurde die Paginierung der Blattfragmente fol. 6 und 45 („Periode I“). Verso beschrieben sind 2 Blätter: fol. 75 und 80 („Periode II“). I. Periode Umfang: Die „I. Periode“ umfasst fol. 2 (beginnend mit „Einleitung“) bis fol. 59. Zwei Blätter – fol. 4 und 5 – fehlen. Fol. 3, 6, 44, 45 sind nur fragmentarisch erhalten. Die Seitenabfolge von zwei im Bereich der Paginierung beschnittenen Blattfragmenten – fol. 6 und 45 – wurde von Roswitha Lacina aufgrund des Textzusammenhangs konstruiert. Illustrationsvermerk: Die „I. Periode“ war ursprünglich mit 41 bündig in das Schriftbild des Fließtextes integrierten Zeichnungen (im Text „Fig.“) illustriert. Erhalten sind vier kleine Textillustrationen – Fig. 14 (fol. 14), Fig. 15 (fol. 15), Fig. 16 (fol. 24) und Fig. 39 (fol. 53) –, die mit brauner Tinte und Feder direkt auf die Seiten gezeichnet sind. Alle übrigen Abbildungen, deren ursprüngliche Positionierung im Text aufgrund der Aussparungen im Schriftbild und der Abbildungsziffern zu rekonstruieren ist, sind verloren. Sie waren auf Transparentpapieren in den Text eingeklebt. An den Fehlstellen sind teilweise die ursprünglichen Bildmotive mit Bleistift vermerkt (siehe dazu auch die Autograph, ohne Titel (o.J.)

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Liste der 100 „Fig.“ auf Blatt NN02, Mappe I, des Zettelkonvoluts). Textstatus: Reinschriftmanuskript. Kurrentschrift, braune Tinte. Bearbeitungsstatus: Vereinzelte kleine Textredaktionen mit Bleistift, keine Redaktionen mit Blaustift. Beschreibmaterial: Altösterreichisches Kanzleiformat. Durchgehend hochwertiges Schreibpapier mittlerer Stärke mit Wasserzeichen. Keine Collagierungen. II. Periode Umfang: Das Kapitel umfasst 32 lose, paginierte Blätter (fol. 60 bis fol. 82). Textstatus: Werkmanuskript. Kurrentschrift, braune Tinte. Bearbeitungsstatus: Der Text wurde von Camillo Sitte mehrfach überarbeitet. Neben Streichungen bzw. Ergänzungen sowie Umpaginierungen, die jeweils in brauner Tinte ausgeführt sind, finden sich wohl aus einem späteren Redaktionsgang auch Überarbeitungen in Bleistift. Beschreibmaterial: Altösterreichisches Kanzleiformat, bevorzugt Konzeptpapier (großteils stark gebräunt), teilweise hochwertiges Schreibpapier mit Wasserzeichen. Einzelblätter sind beschnitten oder aus verschiedenen Manuskriptteilen zusammengeklebt. Gelegentlich abweichende Formate. III. Periode Umfang: Das Kapitel umfasst 20 lose, paginierte Blätter (fol. 75 bis fol. 95). Textstatus: Werkmanuskript. Kurrentschrift, braune Tinte. Bearbeitungsstatus: Der Text wurde von Camillo Sitte mehrfach überarbeitet. Alle Streichungen, Ergänzungen und Umpaginierungen sind jeweils in brauner Tinte ausgeführt. Beschreibmaterial: Altösterreichisches Kanzleiformat, bevorzugt Konzeptpapier (großteils stark gebräunt). Besonderheit: Die Paginierung überlappt sich bei fol. 75 bis fol. 82 mit der „II. Periode“; sie ist als redaktioneller Flüchtigkeitsfehler zu bewerten und zeigt, dass es sich bei der vorliegenden Abhandlung – wie von Sitte im Titel vermerkt – um „eine erste Fassung“ handelt. IV. Periode Umfang: Das Kapitel umfasst fol. 96 bis fol. 148; 7 Blätter fehlen: fol. 108–111, fol. 117–118 und fol. 143. Textstatus, Bearbeitungsstatus und Beschreibmaterial entsprechen den Perioden II und III. II. Teil: „Über Zeichen-Unterricht“ Fol. 149 bis fol. 263, gesamt 114 lose, paginierte Blätter. Altösterreichisches Kanzleiformat. Verso beschrieben (und transliteriert) 1 Blatt (fol. 175). Besonderheit: Fol. 226 enthält eine handschriftliche „Tabelle zur Gliederung im Unterrichte des Freihandzeichnens“. Zettelkonvolut [Fol. NN01 bis fol. NN19]. Gesamt 19 lose, paginierte Blätter, gruppiert in 4 Kleinmappen.

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Mappe 1: 5 Blätter – fol. NN01 bis fol. NN05 Mappe 2: 4 Blätter – fol. NN06 bis fol. NN09 Mappe 3: 4 Blätter – fol. NN10 bis fol. NN13. Vier Manuskriptblätter mit individueller Blattzählung. Mappe 4: 6 Blätter – fol. NN14 bis fol. NN19 Verso beschrieben (und transliteriert) 7 Blätter.

Autograph, ohne Titel (o.J.) Teil I: Über Gesch[ichte] des Persp[ektivischen] Zeichn[en]s – Erste Fassung [fol.] 2. Einleitung In dem Folgenden soll der Versuch gemacht werden, Bedeutungen und Ursache einiger constanter Schwierigkeiten, mit welchen sowohl die geschichtliche Entwicklung als auch die Erlernung der Zeichenkunst in nahem Zusammenhang steht, kennen zu lernen; um dann auf Grundlage dieser Erkenntniß die Mittel einer Kritik verschiedener beim Zeichenunterricht üblicher Verfahren zu erhalten, und diejenigen reichen Hülfsquellen aufzudecken, welche Geschichte und Physiologie dem Zeichenlehrer zu bieten vermögen.

Es wird sich dabei zeigen, daß diejenigen Methoden, welche an unsern

besseren Zeichenschulen, in Folge einer altherkömmlichen, mehr oder weniger bewußten Tradition, in Gebrauch stehen, meistens die geeignetsten oder auch einzigen Mittel sind, um beim Zeichnen gewissen constanten Schwierigkeiten aus dem Wege zu gehen.

Eine Erweiterung der Methodik des Zeichenunterrichtes durch ganz neue

Hülfsmittel wird sich daher nicht ergeben, wohl aber die Möglichkeit eine Menge solcher Hülfsmittel aus älterer und neuerer Zeit in Beziehung auf ihren Wert gegenseitig abzuschätzen.

Dieß wird möglich sein, wenn es gelingt, die Schwierigkeiten gegen wel-

che sie Abwehr leisten in ihren Ursachen zu erkennen.

Dabei wird sich zeigen, daß diese Ursachen in der Beschaffenheit des

mensch[fol.] 3. [Fragment, Blatt in der unteren Hälfte beschnitten]

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lichen Auges und in den Vorgängen beim Sehacte wurzeln, und dadurch wird eine rein physiologische Erklärung der wichtigsten Erscheinungen am Gebiete des Zeichnenlernens ermöglicht sein.

Literarische Vorarbeiten existiren in Beziehung auf zeichnende Künste

und Zeichenunterricht von diesem Standpunkte aus noch keine.

Es erscheint daher vorteilhaft ja notwendig zunächst einen beiläufigen

Überblick über das zu durchschreitende Gebiet zu gewinnen. Dieser dürfte am besten erlangt werden durch Erörterung eines einzelnen Falls, welcher mitten aus dem ganzen zu behandelnden Stoff herausgegriffen ist. Ich wähle hiezu ein Experiment, das ich mit Kindern angestellt, welchen noch kein Zeichenunterricht oder nur wenig zu Theil geworden war.

Dieses Experiment bestand darin, eine möglichst große Anzahl von Kin-

dern ein und das selbe Original copiren zu lassen und zwar ohne jedwede Beihülfe ganz nach eigenem Gutdünken. [fol. 4–5 nicht vorhanden] [fol. 6.] [Fragment, Blatt oben mehr als zur Hälfte beschnitten] Diese Regelmäßigkeit allein läßt schon vermuthen, daß diese Fehler auch constant wirkenden Ursachen entspringen, da sie bei jedem Anfänger ausnahmslos, wie unter dem Zwange eines Naturgesetzes stehend, vorkommen. Zum Behufe einer genauen und für den Zeichenunterricht frucht[fol.] 7. baren Einsicht in das Wesen dieser und ähnlicher constanter Fehler ist es notwendig, die ihnen zu Grunde liegende constant wirkende Ursache zu ermitteln.

Sollten die hierüber anzustellenden Untersuchungen allein auf Grund-

lage von Kinderzeichnungen durchgeführt werden, so müßte vor allem eine ungemein weitläufigere Sammlung solcher Zeichnungen zusammengebracht werden, als sie obiger Tabelle zu Grunde liegt. Es müßte auch mit den Ori-



[Die Tabelle sowie die im Folgenden genannten Figuren 1 und 5 – ehemals in den Fließtext eingeklebte Handzeichnungen, auf die sich wohl auch die Texthinweise „C bis F“ beziehen dürften – sind nicht erhalten. Sie befanden sich wahrscheinlich auf den fehlenden Seiten

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ginalen, deren auch plastische zu verwenden wären, mannigfach gewechselt werden, und die Vorbildung, Anlagen und viele zufällige Verhältnisse der zeichnenden Kinder einer genauen Untersuchung unterzogen werden. Es hat sich nämlich annähernd gezeigt, daß die Verschiedenheit der beiden Originale von Fig. 1 und Fig. 5 keinen Einfluß genommen hat auf die angegebenen constanten Fehler nicht einmal auf die von C bis F trotzdem das zweite Original unter einem näheren und tieferen Augpunkt angefertigt ist und dadurch die schief verlaufenden Linien noch schiefer unter noch spitzerem Winkel sich zeigen.

Dagegen war es von wesentlichem Einfluß auf die Richtigkeit solcher Co-

pien, ob der Zeichner mehr oder weniger im Zeichnen unterrichtet, viel oder wenig Bilder und Zeichnungen zu sehen gewohnt war und in Jahren mehr vorgerückt gewesen.

Aus diesen wenigen Angaben läßt sich ersehen, daß fast unübersteigliche

Hindernisse der Zusammen[fol.] 8. bringung des nötigen Materiales entgegen stehen, um aus Kinderzeichnungen allein die Entwicklungsgesetzte des Zeichnenlernens klar zu ersehen. Schon die Beurtheilung, von welchem Einfluß das öftere Sehen richtiger Zeichnungen auf den Anfänger oder auch vorgerückteren Schüler gewesen, könnte kaum jemals genau ausgeführt werden. Es gibt aber eine andere unerschöpfliche Fundgrube von Belegen zu derlei Untersuchungen und das sind die ungeheure Menge von Denkmälern der bildenden Kunst aller Zeiten und Länder. Auch ganze Völker haben, wie die ältesten Monumente zeigen, einstmals anfangen müssen, das Zeichnen erst mühsam zu lernen, zu erfinden, und die Schwierigkeiten mit denen die Alten zu kämpfen hatten, waren ganz dieselben, mit welchen ein Anfänger in dieser Kunst noch heute zu ringen hat. Dieser sehr merkwürdige Umstand ist ersichtlich aus der oft staunenswerten Gleichheit zwischen der Art, in welcher die Bilder ältester Culturvölker ausgeführt sind, und zwischen der Art erster Zeichnungsversuche von Kindern. Es wird sich im Verlaufe der Untersuchung auch die Ursache dieser Ähnlichkeit finden, hier ist sie zunächst durch einige Beispiele ersichtlich zu machen.

3, 4, 5 sowie dem Blattfragment fol. 6. Auch alle anderen ehemals in den Fließtext eingeklebten Handzeichnungen sind mit Ausnahme der Figuren 14, 15, 16 und 39 verloren.] Autograph, ohne Titel (o.J.) – Teil I: Über Gesch[ichte] des Persp[ektivischen] Zeichn[en]s

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In Fig. 7 ist das Wasser sammt Ufer und Baum einem assyrischen Relief entnommen, die Ruderer und Fische aber einer andern solchen Relieftafel. Fig. 8 ist die in verkleinertem Maßstabe wiederge[fol.] 9. [Der Text ist mit Ausnahme der letzten drei Zeilen durchgehend als rechte Spalte geschrieben. In der linken Spalte waren ehemals drei übereinander geordnete Abbildungen eingeklebt: „Fig. 7“, „Fig. 8“ und „Fig. 9“, deren Bildmotive („Assyr. Schiff“, „Schiff Kinder“, „Äg. pflügnd“ [sic!]) an diesen Stellen in Bleistift genannt sind.] gebene Zeichnung eines sieben Jahre alten Knaben. Der Baum b rührt aus einer zweiten Kinderzeichnung her. Er wurde hier an die Stelle eines Baumes gesetzt, welcher gerade so ausgeführt war wie der Baum a. Diese Abweichungen von der ganz strengen Wiedergabe der vorliegenden Originale haben, wie leicht zu sehen, keinerlei Einfluß auf die zu untersuchende Ähnlichkeit sondern entspringen lediglich der Absicht alles nötige in gedrängtester Kürze zusammenzubringen. Die übrigen Figuren sind genaue Copien und zwar Fig. 9 nach einer ägyptischen Wandmalerei aus der Zeit der 18.ten Dynastie. Fig. 10 nach einer Kinderzeichnung. Die Ähnlichkeiten in diesen parallel gestellten alten Bildwerken und modernen Kinderzeichnungen, welche [fol.] 10. [Der Text ist ab hier – mit Ausnahme der Aussparung für „Fig. 10“ links oben und der Bleistifteintragung „Kinderz. Soldaten“ – wieder ganzseitig.] sich auch sonst bei derlei Vergleichungen vorfinden, sind nun folgende: In Fig. 7 und 8 ist die Landschaft mit der Krümmung des Ufers zuerst nach Art einer Landkarte von oben herab gesehen, dargestellt. Die Ruderer sammt Schiff und die Bäume sind ebenfalls an den Stellen gezeichnet, auf welche sie im Sinne der Landkartenzeichnung zu stehen kämen, aber nicht von oben gesehen, wie nach Art einer richtigen Vogelperspective sondern vollkommen von der Seite, so zwar, daß nicht einmal der zweite ebene Rand der Schiffe durch irgend eine Linie angezeigt erscheint, sondern diese nur in ihrer seit­



[Die 18. Dynastie umfasst den Zeitraum zwischen 1552–1306 v. Chr.; aus diesem Zeitraum berühmt sind die Wandmalereien im Grab des Nebamun und der Wandfries am Grab des Amenemet, beide in Theben (heute Luxor).]

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lichen Längenansicht sich zeigen, wie in einer geometrischen Zeichnung. Aus den, in diese Längenansicht eingetragenen Parallelstrichen, welche das Brettergefüge oder die Bemalung des Schiffes oder beides zugleich andeuten, ist keinerlei Krümmung der Fläche des Schiffes ersichtlich, sondern die Eintheilung verläuft regelmäßig, wie wenn man aus einem Stück gemusterten Stoffes das Schiff in seiner Seitenansicht mit der Schere ausgeschnitten hätte. Die Fische sind ebenfalls vollkommen in der Seitenansicht gezeichnet und zwar wie auf dem Wasser schwimmend, so daß die Durchsichtigkeit desselben gleich jener der Luft angenommen wurde. Von den Bäumen versinnlicht der Baum a in Fig. 8 und das all[fol.] 11. [Rechts unten ein freies Feld mit der Bezeichnung: „Fig. 11“] gemeinste Schema eines solchen, der Baum b gleicht aber der Methode der Zeichnung nach vollkommen dem in Fig. 7, nur ihre Gattung ist sehr verschieden, indem der Eine etwa das Bild eines Eichbaums und der andere eines Ölbaums darstellt. In beiden Fällen wurde aber zunächst der Stamm (wie noch einzig in der Darstellung a dann die seitliche Ansetzung der Äste und zuletzt das Laubwerk so angesetzt, daß es die Anordnung der Äste nicht wieder verdeckt, wie dieß im Gegensatz zu beiden Zeichnungen in der Natur der Fall ist.

In Fig. 9 und 10 handelte es sich darum eine Anzahl Männer in einer Reihe

hintereinander darzustellen. Die Methode nach welcher dieß versucht wird ist in auffallender Weise dieselbe. In beiden Fällen wurden die Conturen der vordersten Gestallt einfach in kurzen Abständen neben einander wiederholt. Dieß entspricht in der That so ziemlich dem darzustellenden Object, ist aber in beiden Fällen von ganz denselben Unrichtigkeiten begleitet. Denkt man sich nämlich aus Fig. 9 oder 10. den letzten der Reihe allein herausgezeichnet, und die nun lückenhafte Gestalt vervollständigt, so ergibt sich eine theil­ weise ganz unnatürliche Karikatur. Siehe Fig. 11.

Welches anatomische Monstrum hätte endlich daraus hervorgehen müs-

sen, wenn eine solche Reihe noch weiter in die Tiefe verlängert würde?

Diese Zeichenmethode ist eben

[fol.] 12. [In der oberen Blatthälfte eine querrechteckige Aussparung für „Fig. 12“ und „Fig. 13“ sowie den Bleistifteintragungen „Kopf äg.“ und „Kopf Kindz.“] Autograph, ohne Titel (o.J.) – Teil I: Über Gesch[ichte] des Persp[ektivischen] Zeichn[en]s

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falsch und nur ein näherungsweise genügendes Auskunftsmittel.

Merkwürdig aber ist es, daß hierin und in so vielem Anderen, alle ältesten

Culturvölker und alle Kinder, welche ihre ersten Versuche im Zeichnen wagen übereinstimmend nur immer auf ein und dasselbe Auskunftsmittel verfallen.

Fig. 12 und 13 enthalten noch ein Beispiel solcher Ähnlichkeit. Fig. 12 ist

einer ägyptischen Wandmalerei aus der Zeit der 12.ten Dynastie entnommen. Fig. 13 ist Facsimile einer Kinderzeichnung. Beide stellen Köpfe im Profil dar aber in beiden ist das Auge von vorne eingezeichnet.

Außer diesen hauptsächlichsten Merkmalen der Übereinstimmung, ließen

sich im kleineren Detail noch viele andere angeben. Gewänder werden ohne Falten und an den Körper eng anliegend oder sackartig gebildet. Rinderköpfe werden von Kindern ebenso gezeichnet, wie auf der in Fig. 9 abgebildeten ägyptischen Darstellung, deren wesentliches darin besteht, den Kopf im Profil, die Hörner jedoch von vorne genommen zu haben.

So herrscht in Allem, was die Methode einen sichtbaren Gegenstand auf

einer Fläche darzustellen anlangt, die merkwürdigste Übereinstimmung in so täuschender Weise, daß zuweilen schon moderne primitive Zeichnungen selbst nachweisliche [fol.] 13. Kinderzeichnungen von Archäologen als hochwichtige Alterthümer angesehen wurden.I

Das ursprünglichste Stadium der Zeichenkunst ist eben dasselbe in den

ältesten Denkmälern der Kunst und in den ersten Versuchen des Einzelnen, und von diesem für alle Anfänger gemeinschaftlichen Standpunkt aus, entwickelt sich einerseits die Zeichenkunst in der Geschichte und andererseits die darstellende Kraft des Einzelnen bis zur Fähigkeit die drei Dimensionen der uns umgebenden räumlichen Gebilde auf den nur zwei Dimensionen einer Zeichenfläche so darzustellen, daß das Auge in täuschender Weise von bildlichen Darstellungen einen gleichen Eindruck empfängt, wie von den Gegenständen der Natur selbst.

Aber nicht nur das erste Stadium und das Endziel der Zeichenkunst ist in

der Culturentwicklung und auch beim Einzelnen dasselbe; sondern auch der 

[Die 12. Dynastie umfasst den Zeitraum 1991–1785 v. Chr.; berühmt ist aus diesem Zeitraum beispielsweise die bemalte Rückwand im Grab des Gaufürsten Sarenput II. Aswan.]

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Weg, auf welchem das beiden gemeinschaftliche Ziel erreicht wird, ist derselbe. Man kann sich davon leicht durch Vergleichung moderner Zeichnungen mit alten Bildern aus den verschiedenen Perioden der Kunstentwicklung überzeugen.

Auch mittelst moderner Zeichnungen läßt sich eine Stufenfolge der ver-

schiedensten Fortschritte von Kinderzeichnungen an bis zum Meisterwerk zusammenbringen; denn die höchste Meisterschaft erreicht nicht jeder, und so bleiben, wie die tägliche Erfahrung zeigt, manche Menschen so lange sie leben in der Zeichenkunst [fol.] 14. [In der oberen Blatthälfte rechts eingefügt „Fig. 14“ mit der perspektivischen Wiedergabe eines Tisches] auf der primitiven Stufe des Kindes stehen, andere wieder auf irgend ­einer der vielen Zwischenstationen.

Immer aber wird es nicht schwer

sein zu einer solchen modernen Zeichnung irgend ein Stadium der

Fig. 14

Kunstentwicklung zu finden, dessen Werke dieselben Eigenschaften in Betreff der Methode des Zeichnens aufweisen.

So ist Fig. 14 die Zeichnung eines Gehülfen bei einem Theater-Decorateur.

Dieser ist in Jahren schon sehr vorgeschritten, hat aber niemals Perspective gelernt, während ihn andererseits seine tägliche Beschäftigung hinderte ganz primitiv zu zeichnen. Seine Zeichnung ist ein Mittelding zwischen perspectivischer und unperspectivischer Zeichnung, aber ihre Unvollkommenheit ist keine zufällige, sondern eine gleichsam naturnotwendige, welche stets in derselben Form wiederkehrt. Die Zeichnung dieses Tisches ist genau mit denselben Fehlern behaftet, wie die Darstellungen ähnlicher Gegenstände auf pompejanischen Bildern und später wieder in den Werken Cimabue’s, Giotto’s und ihrer Zeitgenossen. Der wesentliche gemeinschaftliche Fehler besteht darin, daß die in die Tiefe verlaufenden am Tisch selbst parallelen



[Die pompejanischen Malereien entstanden vor dem 24. August des Jahres 79 n. Chr., dem Ausbruch des Vesuvs. Mit Cimabue (um 1240–nach 1302) und Giotto (um 1266–1337) nennt Sitte zwei der bedeutendsten Meister am Beginn der neuzeitlichen Malerei.] Autograph, ohne Titel (o.J.) – Teil I: Über Gesch[ichte] des Persp[ektivischen] Zeichn[en]s

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Linien ebenso parallel auch gezeichnet wurden, statt perspectivisch convergierend.

Ähnliche Beispiele finden sich in

[fol.] 15. [In der mittleren Blatthälfte rechts eingefügt „Fig. 15“ mit der zeichnerischen Darstellung eines Kopfes.] unübersehbarer Anzahl an den Arbeiten aller Zeichner, denen es an hinreichendem Studium oder Talent gebricht, z.B. auf gemalten Schildern von Maiereien und Milchverkäufen kann man die

Fig. 15

Hörner der Rinder oft genau so sehen, wie sie von den alten Ägyptern dargestellt wurden. Alle gemalten Wirtshaustafeln und Schildmalereien für Kaufläden besonders in kleineren Städten und Dörfern enthalten eine unerschöpfliche Anzahl von Zeichenfehlern, welche ganz den Methoden primitiver Kunstepochen folgen. Dasselbe findet statt bei illustrirten Zeitungen geringerer Sorte, zuweilen auch bei Blättern besseren Ranges, wenn gerade mehr auf den Inhalt als auf die Vollendung der Form Rücksicht genommen wird. So ist Fig. 15 ein Kopf aus der Nummer des Kladderadatsch vom 5. Juli 1874. Das Gesicht sollte vom Kinn aus gesehen dargestellt werden. Es ist aber nur die untere Nasenseite, welche vom Kinn aus ohne Verkürzung zu sehen ist, in dieser Lage dargestellt; im Übrigen hat sich der Zeichner in derselben Weise geholfen, wie es bei Zeichnern des 13. und 14. Jahrhundertes in ähnlichen Fällen zu sehen ist. Die untere Hälfte des Gesichtes mit dem Mund ist in Frontalansicht gegeben, und dazu die obere Hälfte in einer Art vollständiger Verkürzung mit vorquellenden Augen und Wimpern gerade so wie auf ältesten Holzschnittbildern. Eine reiche Ausbeute an solchen Zeichnungen würden



[Kladderadatsch ist eine von David Kalisch in Berlin gegründete Satirezeitschrift, die von 1848 bis 1944 existierte. Die ersten beiden Jahrgänge trugen den Untertitel Organ für und von Bummler; ab Heft 32 des Jahres 1849 findet sich der Zusatz Humoristisch-satyrisches Wochenblatt; seit 1908 erschien das Magazin nur mehr unter dem Titel Kladderadatsch. Alle Jahrgänge wurden von der Universitätsbibliothek Heidelberg digitalisiert.]

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[fol.] 16. auch die gelegentlichen figuralen Compositionen von Zimmermalern und Anstreichern, Darstellungen von Unglücksscenen auf Landstraßen und kirchliche Bilder ländlicher Malermeister, wie sie besonders reich an Walfahrtsorten vertreten sind, gewähren.

Die Erscheinung ist eine allgemeine und zeigt, d a ß j e d e r Z e i c h n e r

diese seine schwierige Kunst in einer Stufenfolge erlernt, welche im Allgemeinen derjenigen ähnlich ist in welcher d i e Z e i c h e n k u n s t v o n g a n z e n Vö l k e r n e r l e r n t w u r d e .

Gelingt es einem Zeichner nicht sich in seiner Kunst auf die Höhe seiner

Zeit zu schwingen, so bleibt er eben auf irgend einer der, wie sich im Folgenden zeigen wird, naturnotwendigen Zwischenstufen stehen. Es liegen also schon zwei Entwicklungsreihen vor. Die Eine in den Denkmälern der Kunst, welche einen allmäligen Fortschritt bis zur höchsten Vollendung in chronologischer Folge aufweist. Die Andere, welche jeder Einzelne durchzumachen hat.

Diese Entwicklungsreihen stehen in demselben Verhältniß zu einander

wie auf naturwissenschaftlichem Gebiete sich das Verhältniß zwischen der Entwicklung aller Organismen einerseits und der eines besonderen Individuums andererseits herausgestellt hat. Die Entwicklung des Einzelnen ist nämlich in beiden Fällen eine abgekürzte Wiederholung der Entwicklungsgeschichte aller seiner Vorfahren. A u c h a u f g e i s t i g e m [fol.] 17. Gebiete, speciell im Gebiete des Zeichnenlernens nimmt die Entwicklung des Einzelnen nach großen Grundzügen in abgekürzter Form denselben Weg den die Culturentw i c k l u n g g a n z e r V ö l k e r g e g a n g e n i s t . Der Einzelne muß dort anfangen, wo die ganze Menschheit einst auch angefangen hat, um, wenn er es vermag, endlich auf der Höhe seiner eigenen Zeit anzulangen. Vermag er es noch über diesen Punkt hinaus um ein weniges aus eigener Kraft vorwärts zu schreiten, dann gehört er in die Zahl jener Erfinder und Reformatoren, deren vereinigtes Werk eben unsere gegenwärtige Cultur ist.

Die geistige Entwicklung des Menschen ist eine Fortsetzung der physi-

schen. Beide in ähnlicher Weise abgekürzte Wiederholungen der allgemeinen historischen Gestaltung. Die Eine verändert und abgekürzt unter dem Autograph, ohne Titel (o.J.) – Teil I: Über Gesch[ichte] des Persp[ektivischen] Zeichn[en]s

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Einfluß einer natürlichen Ökonomie, die Andere gekürzt durch den Einfluß der Erziehung, sei es nun in der Schule oder im Selbstunterricht.

Diese Einsicht in das Innere aller solcher Entwicklungsvorgänge endlich

gewonnen zu haben, ist die nunmehr reife Frucht der rastlosen Bemühungen moderner Naturwissenschaft, deren bedeutungsvolles Endresultat es ist, die Descendenztheorie aus einer blos geistreichen Idee zu einem auf allen Punkten nachweisbaren Naturgesetz erhoben zu haben. Die Naturwissenschaft hat dadurch den Weg geebnet bis zu dem Punkt, von wo aus ein weiterer, freierer Blick über alle [fol.] 18. Gebiete wissenschaftlicher Erkenntniß gethan werden kann. Erscheinungen, wie die hier im Gebiete der Zeichenkunst wahrgenommen, finden in ihr einen weit verzweigten Zusammenhang und allgemeinste Bedeutsamkeit. Zugleich aber sind sie wieder ein neuer Beweis für die Richtigkeit der Descendenztheorie selbst. Es verhält sich mit den verschiedenen Zeichnungsmethoden in Betreff ihrer Entstehung und Verbreitung ähnlich, wie mit der Bildung der verschiedenen Arten lebender Wesen. Auch zwischen Zeichnungen lassen sich genetische Verwandschafts-Verhältnisse erkennen. In ältester Zeit gibt es n u r einfachste Zeichnungen. Nachdem eine lange Zeit hindurch primitivste Formen allein geherrscht haben, geht aus der Summe des Nachdenkens der Künstler und Kritiker allmälig eine neue Form hervor. Diese kommt rasch zur allgemeinen Geltung und findet massenhaft Anwendung. Einige im Drange der Zeit mißlungene Zwischenformen fanden keinen Anklang und daher auch nur geringe Verbreitung; dagegen b e s t e h e n d i e a l t e n Formen noch neben den neueren, und nur die frühesten Bildungen neuer Formen, oder die vorzüglichsten Meis­ t e r­ l e i s t u n g e n j e d e r Z e i t g e b e n e i n e c h r o n o l o g i s c h g e ordnete Reihe, in der nach organischen Bildungsgesetzen gesucht werden kann.

Hiedurch sind schon die mittelmäßigen Arbeiten und die Erstlingsversu-

che großer Meister ausgeschlossen, welche sonst die Anschauung der organischen Entwicklung so sehr trüben würden, [fol.] 19. daß ein Erkennen ihrer Bildungsgesetze schwer möglich wäre.

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Es ist aber eine noch weiter gehende Sichtung des vorliegenden histori-

schen Materiales nötig, denn auch nach Ausführung der soeben bezeichneten Sonderung bietet die Geschichte noch nicht eine einzige Entwicklungsreihe, sondern eine Mehrheit congruenter aber verschiedentlich mangelhafter Reihen. Nämlich nicht blos jeder einzelne Künstler entwickelt sich so, daß seine Fortschritte im Zeichnen einer typischen Reihe entsprechen, sondern alle einzelnen Culturvölker haben ihre Fähigkeit im Zeichnen parallel zu einander, wie nach der gleichen Musterreihe aber unabhängig von einander entwickelt.

Aus jeder dieser Reihen ist die zu Grunde liegende Musterreihe zu erse-

hen, jedoch so, daß einzelne Parthien zuweilen ganz fehlen, andere wieder an verschieden starker Mangelhaftigkeit leiden, welche theilweise mit der lückenhaften Erhaltung der Denkmäler zusammenhängt. So sind die ersten Entwicklungsstadien in Ägypten und in Niniveh in prächtiger Auswahl vertreten, aber die Weiterbildung hört mit dem Fall der Reiche bald ganz auf. Äußerst spärlich ist dagegen die Ausbeute an Werken primitivster Art von griechischen, italischen, keltischen, germanischen Ursprung. Bei der griechischen und italischen Vasenmalerei hat man zudem mehr handwerkmäßige Fabricate und nicht dasjenige in ungetrübter Gestalt vor sich, was die Kunst dieser Zeit zu [fol.] 20. leisten vermochte. Eine Menge Verzeichnungen an diesen Bildern sind offenbar nicht ein Charakteristikon ihrer Zeit, sondern nur verschlechternde Zuthat des handwerkmäßigen Copisten. Dasselbe dürfte von den pompejanischen Malereien gelten. Die besten und umfassendsten Beispiele für die ersten Stadien der Zeichnung sind unzweifelhaft die assyrischen und ägyptischen Bilder. Die späteren Entwicklungsphasen, in welchen sich die Zeichnung schon einer richtigen und freien Darstellung nähert, werden aber am besten aus den vielen Originalwerken des Mittelalters und der Frührenaissance studirt.

Die Reihe, welche also hier zur Erklärung kommt, ist die

allen einzelnen historischen Reihen gemeinschaftlich zu Grunde liegende, gleichsam typische Entwicklungsreihe.

Diese läßt sich allein lückenlos aus den verschiedenen Bruchstücken der

historischen Reihen zusammensetzen, und gewährt somit allein dasjenige auf was es hier ankommt, nämlich einen vollständigen Überblick über die organische Entwicklung der Zeichenkunst von den einfachsten Anfängen bis zur höchsten Vollendung. Diese Reihe wird zum Behufe einer leichteren Autograph, ohne Titel (o.J.) – Teil I: Über Gesch[ichte] des Persp[ektivischen] Zeichn[en]s

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Übersicht in mehreren Abschnitten eingeteilt werden, es ist aber selbstverständlich, daß die gemachten Cäsuren nur willkürlich sind und in Wirklichkeit eine constante Veränderlichkeit waltet. [fol.] 21. Grundzüge zur geschichtlichen Entwicklung der Zeichenkunst Vorstufe Die ältesten bedeutenden Denkmäler der Zeichenkunst, wie sie sich in ausgiebiger Weise in Ägypten erhalten haben zeigen eine nahe Verwandtschaft mit der gleichzeitigen primitiven Schrift. So wie die Schrift noch Bilderschrift ist, so enthält umgekehrt auch die bildliche Darstellung noch eine Menge von Elementen, welche in späterer Zeit nicht mehr durch malerische sondern immer entschiedener durch schriftliche Mittel des Ausdruckes versinnlicht werden. Von diesem Standpunkte aus gehen die Entwicklung der Schrift und Zeichnung divergirend auseinander, bis endlich das Bild keine Aufzeichnung von Begriffen und Gedankenreihen mehr anstrebt und in den Buchstaben des vollendeten Alphabetes die ursprünglichen Bilder sichtbarer Gegenstände nicht mehr erkannt werden können. Je näher ihrem Ursprunge desto ähnlicher sind sich Schrift und Zeichnung und daraus allein schon kann geschlossen werden, daß in noch früherer Zeit Schrift und Bild in Eins verwachsen waren.

So ergibt sich eine allerdings hypothetisch construirte Vorstufe, welche

der primitivsten Culturentwicklung angehört. Für Annahme derselben sprechen aber noch vereinzelte Reste von Zeichnungen auf Mam[fol.] 22. mutknochen und an Bronzen, welche aus der Bronze- und Steinzeit, also aus denjenigen Zeitaltern stammen, welchen diese primitive Vorstufe angehören müßte. Ähnliche unfertige Zeichnungen, mit dem Zweck der Schrift verbunden, finden sich gegenwärtig bei wilden Völkern. Es braucht nur auf die fast unbearbeiteten Stein- Holz- und Thonklötze hingewiesen zu werden, welche ihre Gottheiten symbolischer, begrifflicher Art halb bildlich darstellen halb nur schriftartig bedeuten; ferner auf ihre Art im Tauschhandel Zahl und Gattung von Thierfellen bildlich aufzuschreiben, welcher Modus auch bei uns noch zu Anfang des Jahrhundertes auf Steuerbögen für Viehzüchter und Händler in Gegenden Verwendung fand, in welchen Schreiben und Lesen

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noch seltene Künste waren. Endlich könnte noch auf den Sprachgebrauch hingewiesen werden, in welchem sich fortwährend die Ausdrücke für Zeichnen und Schreiben mit einander verwechseln lassen. So werden unsere Landschafter von den Landleuten als solche bezeichnet, welche die Landschaft abschreiben, während andererseits häufig von schriftlichen Aufzeichnungen gesprochen wird.

Durch alle diese Erscheinungen offenbart sich die Verwandtschaft zwi-

schen Zeichnung und Schrift und in ihren Ursprüngen sind sie sich in der That so nahe, daß eine vollständige Identität in noch früherer Zeit sehr wahrscheinlich ist. Aus einer solchen ursprünglichen Art würde sich dann einerseits das [fol.] 23. Schreiben und andererseits das Zeichnen abgezweigt haben. Erst nach Vollziehung dieser Trennung kann von Zeichnung im eigentlichen Sinne die Rede sein und dieser Bildungsphase gehören die zahlreichen älteren ägyptischen und die ältesten assyrischen Darstellungen an. I. Periode. Die Ähnlichkeit, welche zwischen ersten einfachsten Kinderzeichnungen gegenüber alt assyrischen und ägyptischen Bildern sich zeigte, läßt schließen, daß diese beiden Culturvölker des Alterthumes über das erste Entwicklungsstadium der Zeichenkunst, trotz aller Feinheit in der technischen Ausführung nicht weit hinausgekommen sind. Damit stimmt überein, daß diese alten Zeichnungen auch noch überall die Spuren einer vorhergehenden primitivsten Vereinigung mit dem Wesen der Schrift an sich tragen.

Ähnlich wie die Schrift nicht die sichtbare Erscheinung irgend eines Ge-

genstandes täuschend nachahmt, sondern nur vermöge conventioneller Formen die Vorstellung anregt, so geben die ältesten Zeichnungen noch kein Bild, welches geeignet wäre, das Aug so sehr zu täuschen, daß der Beschauer in Zweifel sein könnte, ob er ein Bild oder einen wirklichen Gegenstand vor sich habe; sondern alle ältesten Zeichnungen bringen das Ganze oder wenigs­ tens die besonderen Theile ir-

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[fol.] 24. [In der oberen Blatthälfte rechts eingefügt „Fig. 16“ mit der zeichnerischen Darstellung von Wasser.] gend eines darzustellenden Objectes mittelst conventioneller Formen hervor, welche wie die zu einem Wort vereinigten Buchstaben wirken, indem sie mehr die Vorstellung des Gegenstandes anregen als sein genaues leibhaftes Abbild

Fig. 16

vor Augen stellen. Das Wasser wird auf ägyptischen Zeichnungen stets durch Zickzacklinien dargestellt wie in Fig. 16. Oder auf der bereits vorgeschritteneren assyrischen Zeichnung in Fig. 7 durch regelmäßige Wellenlinien und auch Spirallinien zur Andeutung von sich überschlagenden Wellen. Der Erdboden wird einfach durch einen geraden Strich angedeutet, worauf Menschen, Thiere, Gebäude und alles Übrige aufstehen, wie in Fig. 9, 18, 19, 21 u.s.w., oder durch die conventionelle Furchung, wie in Fig. 7. In der Natur sind für das sehende Aug die Formen des Wassers, der Felsen, der Bäume u.s.w. von unendlicher Mannigfaltigkeit. Nicht zwei solcher Dinge gleichen sich ganz genau. Zum Behufe des übersichtlichen Denkens aber, werden ähnliche Dinge zu Begriffen vereinigt und durch Worte bezeichnet und nun ist Baum, Wasser, Erde, nur je ein Einziges mehr, mit Ausschluß der unendlichen Mannigfaltigkeit ihrer sinnlichen Erscheinung. Nicht diese sinnliche Erscheinung stellt nun die primitive Kunst vor, sondern den aufs Äußerste vereinfachten Begriff, [fol.] 25. und für diesen hat sie nur je eine Form der Darstellung, wie die Sprache nur je ein Wort zu seiner Bezeichnung. Die Einförmigkeit, welche damit zusammenhängt, wird am auffälligsten, wenn eine solche wortähnliche Zeichenform sich oft nebeneinander wiederholen muß, was unter anderen bei Darstellung der Haare und des Faltenwurfes der Fall ist. Kopf und Barthaare sind immer streng regelmäßig gekräuselt, so daß Krause an Krause in streng regelmäßigen Linien nebeneinander stehen. S.

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Fig. 34. Dieß bedeutet aber weder Perrücken, noch auch kunstvolle Kräuselung durch Brenneisen, noch gemusterte Kappen, was alles in der Description größtentheils angenommen wurde, sondern bedeutet ganz gewöhnliche Haartracht, nur in conventioneller Darstellungsweise. Daß dies so zu verstehen, ist ohne Schwierigkeit daraus zu ersehen, daß auch die Haare der Thiere, S. Fig. 21, der wilden und zahmen ausnahmslos in derselben Weise dargestellt wurden. In gleicher Art gab es nur eine einzige Zeichenform für den Begriff der Gewandfalte. Wenn die Gewänder nicht gänzlich alle Faltenanzeigung entbehren, was bei primitivsten Werken gewöhnlich der Fall, so werden die Falten durch parallele Striche angegeben in hellerer oder dünklerer oder von der des Gewandes ganz verschiedener Farbe. Hierin sind besonders die ägyptischen Künstler so manirirt, daß es oft schwer [fol.] 26. fällt zu entscheiden, ob die dünnen lichten und dünkleren parallelen Farb­ streifen den Faltenwurf andeuten sollen, oder ob damit denn doch etwa ein in farbigen Streifen gemustertef Stoff gemeint ist. Ebenso scheinen die Gewänder selbst oft nur mehr andeutungsweise über die sonst fertige Figur farbig angelegt und die hinter ihnen steckende Gestalt bleibt zwar im Widerspruch mit der sinnlichen Erscheinung, aber in Übereinstimmung mit der Vorstellung auch durch das Gewand hindurch in Umrissen und in Farbe sichtbar. In Folge dessen erhalten die Gewänder den Anschein von Durchsichtigkeit, welcher zuweilen der Zartheit des darzustellenden Stoffes entsprechen mochte, aber gewiß nicht immer die Natur genau nachahmen wollte, und es wären auch in diesem Falle die Grundsätze der ältesten Zeichenkunst mehr in Anschlag zu bringen als es gewöhnlich geschieht. Reste von durchsichtigen Stoffen haben sich noch bis heute erhalten. Auch ist aus mehrfachen Stellen alter Autoren bekannt, daß im Alterthum sehr feine durchsichtige Stoffe zu Gewändern verarbeitet wurden, und selbst die Dichtkunst bemächtigte sich dieser Thatsache und entwickelte sie weiter. Von dem indischen Kaiser Aurungzubu [sic!] wird erzählt, er habe seine



[Gemeint ist wahrscheinlich der strenggläubige indische Großmogul Aurangseb (1618– 1707), der 1658 den Thron als Alamgir („Welteroberer“) bestieg, dem Mogulreich seine größte Ausdehnung gab, aber aufgrund seiner Unduldsamkeit gegen die Hindus auch dessen Zerfall einleitete.] Autograph, ohne Titel (o.J.) – Teil I: Über Gesch[ichte] des Persp[ektivischen] Zeichn[en]s

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schöne Tochter einst bei einem Hoffeste darüber zur Rede gestellt, daß die Umrisse ihrer Körperformen auf das deutlichste durch ihre Bekleidung [fol.] 27. sichtbar seien, worauf sie sich damit entschuldigte, daß sie ohnehin sieben Kleider über einander angezogen habe. Diese Erzählung athmet freilich bereits die Überschwenglichkeit indischer Poesie und erinnert schon sehr an die aus Sonnenfäden und Blumenduft gewebten Kleider verschiedener guter Feen aber mit den bildlichen Darstellungen Ägyptens paßt sie sehr gut zusammen. Es könnte angenommen werden daß der Geschmack des Alter­ thumes ein anderer gewesen als der unsere, denn gegenwärtig werden so außerordentlich zarte Gewebe nur als Spitzen und Schleier aber nicht allein als ganze ausschließliche Gewandung verwendet. Viel wahrscheinlicher ist es aber, daß nicht in allen Fällen ein durchscheinend dünnes Gewand gemeint war, sondern in vielen, vielleicht sogar meisten Fällen ein ganz gewöhnlicher fester Stoff, und daß die scheinbare Durchsichtigkeit nur auf Rechnung der conventionellen Zeichenmethode gesetzt werden muß. Abgesehen von der Möglichkeit, daß zuerst die Figur und dann die Gewänder erst darüber gemalt wurden und nach langer Zeit endlich die untere Farbe mehr durchgeschlagen als dieß ursprünglich der Fall, so gibt es zum mindesten Ein Beispiel, bei welchem an eine Durchsichtigkeit der auch plastisch durchsichtig gearbeiteten Umhüllung dennoch unmöglich gedacht werden kann. In der Description ist ein Mann in ein Pantherfell gehüllt abgebildet, wobei die menschliche Gestalt in ganz ähn[fol.] 28. licher Weise durch das Pantherfell hindurch sieht, wie auf anderen Darstellungen durch das Leinenzeug, und die Pantherfelle sind doch im alten Ägypten trotz Schleiern und Bissus nicht durchsichtig gewesen. Dieser eine Fall muß notwendig auf andere Art als durch Annahme einer wirklichen Durchsichtigkeit erklärt werden, warum also viele oder die meisten der anderen



[Byssus (auch Byssos) ist ein faserförmiges Spinnbüschel aus dem Sekret der Byssus-Drüse vieler Muschelarten, die den Tieren zur Befestigung am Untergrund dient. Seit dem Altertum wurden daraus durchsichtige, naturfarbige Gewebe verarbeitet, die aufgrund ihrer Haltbarkeit sehr begehrt waren.]

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gleichen Fälle nicht auch? Ist es denn wahrscheinlich, daß im alten Ägypten ein so massenhafter Gebrauch von durchsichtigen Gewändern gemacht wurde, wie ihn die Bilder darstellen? Ein so feiner, leicht zerreißender Stoff, der den Körper vor keinen äußeren Einflüssen zu schützen vermag, ist doch höchstens nur als seltener Aufputz, aber nicht als Kleidung eines ganzen Volkes vom König bis zum Knecht zu verwenden. Es scheint vielmehr auch hier wieder lediglich jene Eigenthümlichkeit der ältesten Zeichenkunst vorzuliegen, derzufolge dasjenige gezeichnet wird, was man begrifflich denkt und nicht dasjenige, was rein malerisch gesehen werden kann.

Für die in Gedanken aufgebaute Vorstellung ist ja der Körper selbst der

weitaus wichtigste Bestandtheil, besonders für den Künstler südlicher Länder, welcher ohnehin größtentheils unbekleidete Gestalten darstellt. Das Gewand ist dagegen nur eine nebensächliche Umhüllung. Und so wie aus diesem Grunde der Künstler einer höchst entwickelten Kunst den Körper aus einem fein [fol.] 29. [Auf der rechten unteren Blattseite eine Aussparung für „Fig. 17“] und sorgfältig gelegten Faltenwurf herausfühlen läßt, so scheint es aus ganz gleichem inneren Anlaß nur mit sehr primitiven Hülfsmitteln der ägyptische Künstler versucht zu haben den Körper auch inner der Gewandung seiner Hauptform nach zu zeigen. Daher umriß er den Körper mittelst des Meißels mit einer ununterbrochenen Contour. Dann führte er daneben und theilweise quer über den Körper die Contouren des Gewandes, dann bemalte er beides und zwar so, daß auch die Farbe des Körpers nicht ganz durch die des Gewandes verdeckt wurde.

Demselben Systeme der Zeichnung entspricht die oft vorkommende Er-

scheinung, daß Gegenstände, welche für Bildung der beabsichtigten Vorstellung weniger wichtig sind, in der Zeichnung gänzlich ausgelassen werden, damit sie den dahinter liegenden wichtigeren Theil nicht verdecken. So ist in Fig. 17 die Fortsetzung des Pfeiles und der Sehne vor dem Gesichte des Bogenschützen unterbrochen um den Eindruck des Gesichtes nicht zu stören. Es entspricht dieß nicht der perspektivischen Ansicht, sondern nur einer schriftartigen Anregung von Vorstellungen, welche dann weiter in Gedanken zu verarbeiten sind. Wie mechanisch dabei verfahren wurde zeigt in Fig. 17 noch die Zusammenführung der Sehnen

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[fol.] 30. und des Pfeiles in einem Punkt, der nicht in der die Sehne spannenden Hand, sondern ganz frei in der Luft liegt.

In demselben Sinne einer halb bildlichen Darstellung und einer halb

schriftlichen Notirung ist es zu nehmen, wenn die Füße von Menschen noch nicht als rechter und linker unterschieden werden, sondern für Beide nur einerlei Darstellungsform existirt wie in Fig. 27; ferner wenn die Gegenstände nicht in ihrem richtigen Größenverhältniß zu einander gezeichnet werden, sondern größer oder kleiner, je nachdem der dargestellte Gegenstand, für die Gesammtvorstellung, dem Künstler von größerer oder geringerer Wichtigkeit war; und endlich, wenn Gegenstände mit gerade so viel Detail abgebildet werden, als zu einer in Worten abgefaßten Beschreibung ebenfalls notwendig wären.

In allen diesen Eigenthümlichkeiten stimmen die ältesten Zeichnungen al-

ler Völker überein, sie sind stets aus einem nicht einmal sehr umfangreichen Vorrat conventioneller gleichsam schriftartiger Zeichen zusammengesetzt, und stehen dadurch der frühesten Form in welcher Zeichnung und Schrift noch vereinigt gewesen unmittelbar nahe.

Zur Herstellung eines schriftartigen Zeichens genügte es, eine Form zu

finden, welche die Fantasie hinlänglich zur Bildung der beabsichtigten Vorstellung anregt; es genügt dem darzustellenden Gegenstand irgend ein Merkmal abgelauscht zu haben, welches ihn besonders treffend bezeich[fol.] 31. net, und hierin sind die ältesten Zeichnungen auch geradezu bewundernswert, Meisterwerke ihrer Art. Sobald aber das ganze volle Bild eines Gegenstandes geschaffen werden soll, dann treten sogleich alle die besonderen und mannigfachen Schwierigkeiten auf, welche mit der Darstellung räumlicher Dinge von d r e i Dimensionen auf der Zeichenfläche von nur z w e i Dimensionen verbunden sind. Die Aufgabe, welche die Zeichenkunst zu lösen hat, ist hiemit bereits gestellt. Rein technisch genommen und abgesehen vom Zeichenmaterial ist ja die Zeichenkunst in der That nichts anderes, als D a r s t e l l u n g d e r d r e i Raumdimensionen in den zwei Dimensionen einer Fläche und ihre Geschichte ist die allmälige Lösung dieser Aufgabe. Die Schwierigkeit um welche sich die ganze Entwicklung dreht ist immer dieselbe, nämlich immer die Darstellung

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d e r Ti e f e n d i m e n s i o n , d a s i s t d e r j e n i g e n d r i t t e n R i c h t u n g des Raumes, welche der Zeichenfläche des Malers abgeht. Das bloße Ignoriren dieser Schwierigkeit, wie es beim schriftartigen Zeichen Gebrauch, reicht nicht mehr hin zur Darstellung nur einigermaßen complicirter räumlicher Gebilde. Dennoch zieht sich diese sicherlich einfachste Methode, einer gegebenen Schwierigkeit aus dem Wege zu gehen, noch lange durch die weitere Entwicklung der Zeichenkunst hin, so daß die Auslassung von hinter einander befindlichen Gegenständen sich geradezu systematisch ausbildet, [fol.] 32. [Rechts unten eine Aussparung für „Fig. 18“] und spätere Methoden der Zeichenkunst daraus organisch hervorwachsen.

Wesentliche Fortschritte werden erzielt durch geschickte Beschränkung

dieser Auslassung auf zwei hinter einander sich befindende gleichgestaltete Körper von denen nur der Vordere gezeichnet wird und die Vorstellung des Rückwärtigen ganz der Fantasie überlassen bleibt. Dieß findet regelmäßig Anwendung bei Streitwagen. Sowohl auf ägyptischen als auch auf assyrischen und auf ältesten griechischen und italischen Darstellungen wird der zweirädrige Wagen immer nur mit e i n e m Rade dargestellt. (s. Fig. 34) Das zweite Rad muß genau dahinter gedacht werden. In gleicher Weise werden andere Bestandtheile der Wagen, die zwei Lehnen an Sesseln, die Füße an Tischen und Schämeln nur einmal gezeichnet. Auf ägyptischen Darstellungen kommen sogar sitzende und stehende Figuren mit scheinbar nur einem Fuß häufig vor. (Fig. 18) Der zweite Fuß ist wieder genau dahinter zu denken. Zu zweien und dreien zusammengespannte Pferde haben häufig zu wenig Füße, indem wieder die fehlenden hinter den gezeichneten zu denken sind. So haben auf assyrischen Zeichnungen drei Pferde zusammen nur drei Vorder und drei Hinterfüße statt sechs und nur je ein Ohr. Dieser Fall kommt in verschiedenen Variationen sehr häufig vor. Die Anwendung solcher Auslassungen [fol.] 33. ist eine sehr geschickte, denn niemals wird ein Bestandtheil ausgelassen, der zur Erzeugung der beabsichtigten Vorstellung von Wichtigkeit wäre, sondern immer nur das, durch die Fantasie leicht zu ersetzende, Mehrfache wird ausgelassen und in geringerer Anzahl gebildet. Wenn man in dieser Weise zwei Pferde mit nur drei Vorderfüßen und nur drei Hinterfüßen sieht, fällt Autograph, ohne Titel (o.J.) – Teil I: Über Gesch[ichte] des Persp[ektivischen] Zeichn[en]s

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der Abgang des vierten Fußes vielen Beschauern gar nicht auf, denn zunächst entsteht in unserem Denken die Vorstellung von m e h r e r e n Pferden. Dann zählen wir bewußt oder unbewußt die Rücken und Köpfe der Thiere ab, finden daß es gerade zwei Pferde sind, und das genügt. Auch noch das Gewimmel der Füße abzuzählen ob es auch wirklich die richtige Zahl aufweist, ist kein Act der einfachen Anschauung des Bildes mehr, sonst würde der Fehler nicht so leicht übersehen werden. Wenn es sich also hauptsächlich noch um die Erzeugung einer Wortstellung mit Hülfe eines Bildes handelt, dann genügen drei Füße gerade so wie vier oder sechs.

Dieselbe Methode wird bei Zeichnung von Thierhörnern angewandt und

zwar mit besonderer Vorliebe von den Assyrern während die Ägypter häufiger die Hörner durch Umstellung in der Vorderansicht darstellen wie in Fig. 9. Nach beiden Methoden werden die Hörner auch von den ältesten gerichtlichen und italischen, überhaupt von allen primitiven Zeichnern dargestellt. Fast durchgängig einhörnig stellten die Assyrer ihre [fol.] 34. [Rechts außen Aussparungen für „Fig. 19“, „Fig. 20“, „Fig. 21“ und „Fig. 22“] Stiere und Kühe dar, während andere Thiere, Ziegen, Schafe, Gazellen, Hirsche von ihren bald gleichfalls einhörnig (Fig. 19), bald zweihörnig (Fig. 20), bald so dargestellt wurden, daß das zweite Horn mit der Spitze hinter dem vorderen sichtbar wird, welche Form zwar schon einer späteren freieren Zeichnung angehört, aber deutlich zeigt, daß unter dem einen gezeichneten Horn das zweite noch hinzu gedacht werden müsse. (Fig. 21)

Die primitivste Darstellungsart mit dem einen Horn (Fig. 22) scheint nun

zur Entstehung eines der bekanntesten Fabelthiere, nämlich des E i n h o r n e s , Veranlassung gegeben zu haben. Merkwürdig ist dieser Fall der Bildung einer mythischen Thiergestalt aus einer rein naturalistischen Darstellung mit Hülfe eines der primitiven Kunst anhaftenden Unvermögens in bildlicher Darstellung allerdings aber noch sonderbarer, daß dieses Thier von berühmten Reisenden, wie Katte, Rüppel, Fresnel10 und Anderen   [Katte, Albrecht von: Reise in Abyssinien im Jahre 1836. Stuttgart, Tübingen: Cotta 1838.]   [Rüppell, Eduard: Reisen in Nubien, Kordofan und dem peträischen Arabien vorzüglich in geographisch-statistischer Hinsicht. Frankfurt/M.: Wilmans 1829.] 10 [Fulgence Fresnel (1795–1855) war ein französischer Orientalist. Fresnel, Fulgence: „Extraits d’une lettre de M Fulg. Fresnel…: sur certains quadrupèdes réputés fabuleux”, in: Journal asiatique, 4. Serie (1844), S. 129–159. Sitte bezieht sich auf das Kapitel „De l’Oryx“, S. 154–159.]

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­sogar unter den Lebenden gesucht wurde, bis endlich J. W. v. Müller,11 Director des [fol.] 35. Zoologischen Gartens zu Brüssel, es unternahm, seine Wirklichkeit auf Grundlage von Denkmälern, Schriften und Augenzeugen (!) darzuthun. Augenzeugen sind aber niemals die Gelehrten selbst gewesen, sondern immer nur Erzähler von derjenigen Gattung, welche als Selbstgesehenes ausgeben, was ihnen wieder nur in ähnlicher Weise erzählt wurde. Müller beschreibt seinen Augenzeugen selbst in folgender Weise: „Während meines Aufenthaltes in Kordofan stand ich in Melpesz mit einem Mann in Verkehr, welcher mir verschiedene Thiere für meine Sammlung zu liefern versprach und auch theilweise lieferte. Er nannte sich Fak-Achmed, seines Zeichens ein Schriftgelehrter und Bettelmönch, war viel im Lande umhergereist und kannte Lebensweise und Sitten von vielen Thieren. Eines Tages stellte er die Frage an mich, ob ich nicht auch ein A n a s a haben wollte. Auf meine Entgegnung, was denn das für ein Thier sei, gab er mir die folgende Erklärung, bei welcher mir das Herz vor Überraschung laut zu pochen anfing, allein die Klugheit gebot, meine innere Bewegung zu verbergen, denn einen Araber verleitet man leicht, seiner aufgeregten Phantasie freien Lauf zu lassen, sobald er wahrnimmt, daß er durch seine Erzählung großes Interesse einflößt.“ Die im Weiteren nun folgende Erzählung des Arabers ist die traditionelle Beschreibung des fabelhaften Einhorns, aber überbracht hat der Thierhändler, trotz seines Versprechens und der Aussicht auf [fol.] 36. gute Belohnung und trotz seiner lebhaften Betheuerungen, daß ein solches Thier mit großer Leichtigkeit zu bekommen sei, doch niemals ein Exemplar desselben. Die Schriften reden theils vom Fabelthier, theils vom gewöhnlichen zweihörnigen Rind und in ihnen wird allerdings Dichtung und Wahrheit

11 [Der Vogelkundler Johann (John) Wilhelm von Müller (1824–1866) unternahm u.a. ab 1847 gemeinsam mit Alfred Brehm, seinem Sekretär, eine fünfjährige Afrika-Expedition. Von ihm stammt die im Weiteren ausführlich besprochene Publikation Das Einhorn vom geschichtlichen und naturwissenschaftlichen Standpunkte betrachtet. Stuttgart: K. Hofbuchdruckerei zu Guttenberg 1852.] Autograph, ohne Titel (o.J.) – Teil I: Über Gesch[ichte] des Persp[ektivischen] Zeichn[en]s

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oft bunt genug durch einander gewürfelt, was aber natürlich nichts beweist. Die Denkmäler sind aber keine andern als die vorher angeführten aus Niniveh, und bei diesen unterliegt es auch nicht dem geringsten Zweifel, daß die einhörnig gezeichneten Thiere nichts anderes sind als das gewöhnliche damalige Rind der Assyrer, welches eine gegenwärtig ausgestorbene Büffelart zu sein scheint; denn auf diesen Bildern wird es in Herden getrieben zugleich mit Schaafen, welche theils einhörnig, theils zweihörnig dargestellt sind; dann zieht es Karren mit Säcken, Weibern und Kindern; endlich wird es rudelweise als Beute eingefangen und weggetrieben, worunter auch viele Kühe. Warum aber die Assyrer gerade bei Zeichnung der Rinder immer die Methode der einförmigen Darstellung gebrauchten, während die Ägypter größtentheils die andere Methode, wie in Fig. 9 befolgten, scheint seinen Grund in der Verschiedenheit der darzustellenden Rinderraçen zu haben. Die Ägyptischen Rinder hatten seitlich abstehende nach oben gekrümmte dünne Hörner, deren charakteristische lyraförmige Gestalt sich [fol.] 37. [Auf der rechten Seite unten eine Aussparung für „Fig. 23“] nur in der Frontalansicht bemerkbar machte, daher wählten die ägyptischen Zeichner die Drehung, durch welche sie diese bezeichnende Frontalansicht darstellen konnten. Das büffelartige Rind der Assyrer hat aber dick anlaufende, nach vorne zu stehende, über die Stirne herabgedrückte Hörner gehabt, und diese Gestaltung konnte nur in der Seitenansicht charakteristisch wiedergegeben werden, daher sie diese allein treffende Darstellungsart auch mit typischer Ausschließlichkeit wählten.

Die Stiere dieser Art werden auch gejagt. Auch kommen sie geflügelt

vor. Mit dieser phantastischen Zuthat, welche aber auch Pferden gegeben wurde, geschmückt, sind sie allerdings schon bei den Assyrern Fabelwesen, aber doch noch immer nur in der Zeichnung einhörnig in der Absicht des Zeichners und in der Vorstellung des Volkes gewiß, gleich dem gewöhnlichen Rinde zweihörnig. In dieser Art kommt es von einem Löwen zerrissen in ganz charakteristischer Gruppirung, wie der Löwe dem Stier den Nacken zerbeißt in einer Menge alter Darstellungen auf assyrischen Denkmälern vor. (Fig. 23) Ebenso auf Denkmälern Vorderasiens und auf ältesten griechischen und italischen Bronzegefäßen (Fig. 24). Es sind die letzteren Darstellungen dem Inhalte nach ganz dieselben wie die assyrischen.

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[fol.] 38. [Rechts oben und unten Aussparungen für „Fig. 24“, „Fig. 25“ und „Fig. 26“] Nur der Stier wird größtenteils aber nicht ausschließlich mit zwei Hörnern dargestellt. Beide Darstellungsarten mit einem und mit zwei Hörnern kommen neben einander vor auf der Françoisvase in den Ufficien zu Florenz, welche Vermengung keinen Zweifel übrig läßt, daß der Künstler auch unter der einhörnigen Zeichnung sich ein zweihörniges Thier dachte; denn es müßte sonst angenommen werden, daß man es hier durchgängig mit zwei verschiedenen Thieren zu thun habe, welche sich in allem und jedem gleichen, nur in der Zahl der Hörner nicht. Nach dieser Annahme müßten alle alten Völker aber nicht nur zweierlei Rindergattungen sondern auch zweierlei Arten Schafe, Ziegen, Hirsche, Gazellen u.s.w. gehabt haben. Die Griechen müßten sogar zweierlei Minothauren gehabt haben, denn auch diese kommen bald mit einem bald mit zwei Hörnern g e z e i c h n e t vor. (Fig. 25 und 26) Selbst die geflügelten, also entschieden phantastischen Stiere der Assyrer finden sich in griechischen und italischen Darstellungen wieder aber [fol.] 39. [Oben rechts eine Aussparung für „Fig. 27“] zweihörnig. (Fig. 27) Zu alle dem ist eine einhörnige Rinderspecies schon in Folge der symmetrischen Schädelbildung mit den doppelten Stirnbeinen auch eine anatomische Unmöglichkeit.

Wenn also das Einhorn der assyrischen Monumente gewiß nichts anderes

als die alterthümliche Zeichnung eines gewöhnlichen zweihörnigen Rindes bedeutet, so kann es12 sich nur mehr fragen, ob unser mythisches Einhorn gerade der Sprößling des assyrischen Rindes ist und wann und von wem zuerst diese einhörnigen Stierbilder mißverstanden wurden. Die mittelalterlichen Sagen gehen auf Plinius zurück, der es als Pferde ähnliches Thier beschreibt. Bei Aelian, Aristoteles und Anderen ist es bereits nach Indien verwiesen, so wie von seinen neuesten Erforschern nach Central-Africa, d.h. als ächtes Fabelthier immer in die terra incognita der jeweiligen Geographie. Die erste Nachricht gibt (nach Müller) Ktesias, der um 400 v. Chr. als Arzt am Hofe des 12 [Von hier bis zum Ende des ersten Absatzes von fol. 41 stimmt der Text wörtlich mit jenem des „Zettelkonvoluts“ (Blatt NN06 und NN07, Note 11) überein.] Autograph, ohne Titel (o.J.) – Teil I: Über Gesch[ichte] des Persp[ektivischen] Zeichn[en]s

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persischen Königs Artaxerxes Mnemon lebte. Diese Spur führt schon in die assyrischen Gegenden. Noch deutlicher eine andere. Im alten Testament heißt nämlich das Rind, welches hier im Bibeltexte ganz dieselbe Rolle spielt, wie das Rind in den assyrischen Bildern, Rêm, und dieses Wort wird in der Septuaginta bereits mit µονοκεροσ [monokéros] (Einhorn) übersetzt. Es scheinen also [fol.] 40. die nächsten Nachfolger und Nachbarn der Assyrer schon diejenigen gewesen zu sein, welche deren Zeichnungsmethode mißverstanden und dadurch zu dieser Mythenbildung Anlaß gegeben haben. Diese Annahme findet auch noch einen Beleg an den Monumenten, nämlich an den Stierkapitälen auf den Achämeniden-Gräbern. Die Säulen und die beiderseits am Kapitäl angebrachten Stierköpfe sind nämlich im Hochrelief ganz erhaben gearbeitet. Hier fällt also die Schwierigkeit einer perspectivischen Zeichnung gänzlich weg, und der alte assyrische Künstler hätte hier gewiß zwei Hörner angebracht. Der persische Bildhauer aber, der, nach Eroberung des ganzen Landes, die bereits weitläufig entwickelte alte assyrische Kunst vorfand und mehr prunkend als mit Verständniß nachahmte, setzte den Stieren nicht entsprechend der Natur, sondern in bereits mißverstandener Nachahmung der älteren flachen Zeichnungen ein einziges Horn in die Mitte der Stirne.

Von hier scheint also der Anstoß ausgegangen zu sein. Die letzten Rudi-

mente des ursprünglichen Rindes, welche sich an unseren modernen Einhörnern noch finden, sind, bei dem sonst ganz pferdeähnlichen Thieren, die gespaltenen Klauen und der Rinderschwanz. Das Horn hat sich in einen geraden Narwalzahn verwandelt, indem diese Zähne lange Zeit von den Apothekern statt präpariertem Einhorn als Mittel gegen Gifttränke verkauft wurden. Bei ganz gewöhnlichen Schildmalereien [fol.] 41. auf Apotheken kann man das Thier zuweilen vollständig als Pferd sehen mit Pferdeschweif und ungespaltenem Huf. Dann ist das Vorhandensein des Hornes der letzte Überrest des stammväterlichen

Rindes und das Vorhandensein nur eines einzigen Hornes die bis auf den

heutigen Tag erhaltene Spur einer uralten Unbehülflichkeit in der Kunst zu zeichnen.

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Die Entstehung des Einhorns gibt nur ein Beispiel von vielen, bei welchem die älteste Zeichnung mißverstanden wurde, da sie nicht fähig war, den darzustellenden Gegenstand allgemein verständlich zur Anschauung zu bringen; sondern wie es bei der Wort- und Schriftsprache der Fall ist nur für denjenigen verständlich, welcher Schrift und Sprache, der sie angehören, kennt.

Die Anwendung der Methode des Auslassens ist besonders in den einer

vorgeschritteneren Entwicklung angehörenden Fällen eine sehr geschickte, aber immerhin ist sie nur eine Umgehung der durch die Tiefendimension gegebenen Schwierigkeit.

Die ältesten Zeichner schlagen aber noch andere Wege zur Darstellung

räumlicher Formen ein.

Eines der Mittel, auf welches zu diesem Zweck die primitiven Zeichner

aller Völker verfallen sind, kann aus Fig. 28 ersehen werden. Die vier Rinder sind offenbar hinter einander zu denken. Der Zeichner besitzt auf seiner Fläche jedoch nur ein N e b e n - und Ü b e r e i n a n d e r, und in ein solches verwandelt er die [fol.] 42. [Rechts oben eine Aussparung für „Fig. 28“] darzustellende Tiefenrichtung. Nach der gleichen Methode werden häufig Figuren, welche sich, der ganzen dargestellten Handlung nach, nur hintereinander befinden können, einfach nebeneinander gezeichnet.

Aber auch diese Methode reicht noch nicht für alle Fälle aus. Ihre An-

wendbarkeit ist zwar schon eine allgemeinere, als die der vorigen Methode, indem sie nicht blos auf zwei gleichgestaltete Körper beschränkt ist, sie kann aber nur räumlich trennbare Körper neben und übereinander stellen, aber nicht die zusammenhängenden Theile eines einzigen Körpers zertheilen und nebeneinander abbilden. Die Schwierigkeit der Tiefendimension kommt aber nicht blos bei zweifachen und bei getrennten Körpern vor, sondern jeder Körper für sich besitzt seine richtigen drei Raumdimensionen.

Die größten Schwierigkeiten dieser Art bereitet die Zeichnung der

menschlichen Gestalt. Gebäude kann man von einer Seite sich denken, von der aus nur flache Wände zu sehen. Pflanzen können flach auseinandergelegt werden, wie für ein Herbarium. Selbst Thiere können meist von der Seite her so gesehen werden, daß kein wesentlicher Theil in Verkürzung gespeichert werden müßte, nur die menschliche Gestalt kann man weder ganz in einer Ebene ausbreiAutograph, ohne Titel (o.J.) – Teil I: Über Gesch[ichte] des Persp[ektivischen] Zeichn[en]s

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[fol.] 43. [Rechts unten drei Aussparungen für „Fig. 29“, „Fig. 30“ und „Fig. 31“] ten noch von einem Standpunkte aus betrachten, so daß kein wesentlicher Theil in Verkürzung erschiene, seine wahre Länge in die Tiefe erstreckte.

Dieser schwierigen Aufgabe gegenüber verfahren alle primitiven Zeich-

ner so, daß sie ihr Möglichstes denn doch schon durch geschickte Aufstellung der Figur leisten. Indem alle Völker bei Wahl dieser Aufstellung von demselben Grundgedanken ausgingen, nämlich die geringste Anzahl von Verkürzungen schon an der darzustellenden Figur selbst herauszubringen bestrebt waren, geriethen sie alle notwendigerweise auf dieselbe für älteste primitive Kunstwerke so bezeichnende Aufstellung der menschlichen Gestalt.

Diese Stellung ist ersichtlich aus Fig. 29, deren Original der ägyptischen Kunst

zur Zeit der fünften Dynastie angehört;13 aus Fig. 30, welche eine assyrische Zeichnung wiedergibt;14 aus Fig. 31 nach dem bekannten altgriechischen Relief von Sparta; aus Fig. 32, in welcher das nordische Alterthum durch ein primitives Siegfriedbild vertreten ist; und aus Fig. 33, welche das rohe colossale [fol.] 44. [Fragment, in der unteren Hälfte beschnitten, rechts oben eine Aussparung für „Fig. 33“] Reliefbild einer Felswand bei dem Dorfe Nymphi in der Nähe von Smyrna [Izmir] darstellt. Am allgemeinsten und längsten bekannt sind die überaus zahlreichen Gestalten solcher Art auf den ägyptischen Denkmälern. Daher galt diese Aufstellung lange und selbst gegenwärtig noch als besondere Eigenthümlichkeit der ägyptischen Kunst. Diese Anschauung ist jedoch falsch. Diese Aufstellung ist nicht specifisch ägyptisch, sondern ist überall nichts anderes, als ein Merkmal der ersten Entwicklungsstufe in der Figuren-Zeichnung. Wenn selbst Lübke noch zu dem Relief von Nymphi15 bemerkt 13 [Die 5. Dynastie umfasst die Zeit 2470–2320 v. Chr.; aus diesem Zeitraum berühmt sind beispielsweise die Reliefdarstellungen in den Gräbern des Ti bzw. des Ptahhotep in Sakkara.] 14 [Bekannte Motive assyrischer Kunst sind: Geflügelter Dämon beim Jagen eines Straußes, um 1250 v. Chr., Abdruck eines Zylindersiegels (Pierpont Morgan Library, New York); Sargon und ein Würdenträger, Ende 8. Jahrhundert, Gips (Louvre, Paris); Belagerung einer Stadt durch die Truppen Tiglathpilesers III., 745–727 v. Chr., Kalkstein (Eremitage, St. Petersburg).] 15 [Wilhelm Lübke (1826–1893), der in Stuttgart am Polytechnikum und an der Kunstschule

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[fol.] 45. [Das Blattfragment, das von Roswitha Lacina aufgrund von Papierart, Paginierung, Beschreibmodus und Inhalt als Teil des ursprünglichen fol. 45 rekonstruiert wurde, besteht aus 2 Teilen: einem etwa 1,5 cm breiten Streifen mit der Nummer 45 und einem sechszeiligen Textfragment.] Auf griechischen und italischen Werken kommt diese Aufstellung freilich nicht so häufig vor wie an den Malereien Ägyptens, auch ist die Behandlung gewöhnlich schon eine etwas freiere, man möchte sagen, talent[fol.] 46. [In der Mitte rechts eine Aussparung für „Fig. 34“] vollere, während die ägyptische Schablone sehr an ihr strenges Kastenwesen und an den starren Conservatismus dieses Volkes gemahnt. Gerade solche nationale Unterschiede aber, welche überall wiederkehren, im Ausdruck und den Zügen des Gesichtes, in der Linienführung, in der Technik, in der ganzen Empfindungsweise mit welcher gearbeitet wurde, zeigen gleichfalls, daß man es hier durchgängig mit selbstständigen Arbeiten zu thun hat. Auf griechischen Vasen finden sich die Spuren dieser ältesten Figuren-Stellung häufig, ohne aber durch irgend etwas anderes als eben diesen, jeder primitiven Kunst gemeinschaftlichen Grundgedanken der Aufstellung, mit ägyptischen Werken überein zu stimmen. (Fig. 34) In der großen Gestalt von Fig. 34 ist das Unrichtige dieser Aufstellung so geschickt gemildert, daß die verdeckten Hüften ebenfalls richtig sein könnten, und auch das Falsche in der Zeichnung der Schulter weniger auffällt. An solchen Feinheiten sind selbst die ältesten Werke des für bildende Kunst so hoch begabten griechischen Volkes reich, die Stufenfolge in der Erfindung der Zeichenkunst ist aber dieselbe wie in Ägypten, wie überall. Die älteste einfachste Figuren-Stellung ist noch an dem kleinen schwarzen Männchen der Fig. 34 zu sehen, ebenso an den bekannten ältesten Metopen von Selinunt16 u.s.w. lehrte, veröffentlichte unter anderem den – Sitte bekannten – Grundriss der Kunstgeschichte, Bd. 1: Die Kunst des Altertums. Stuttgart: Ebner & Seubert 1860 (ab dann mindestens siebzehn teilweise stark überarbeitete Auflagen. Die letzte: Esslingen: Paul Neff Verlag 1925). Das angesprochene Relief – eines der seltenen künstlerischen Zeugnisse der Hethiter – befindet sich am Pass von Karabel in der Nähe von Kemal paşa.] 16 [Der berühmte, um 540–510 v.Chr. geschaffene Metopen- und Triglyphen-Fries vom „Tempel C“ in Selinunt befindet sich heute im Museo Nazionale in Palermo.] Autograph, ohne Titel (o.J.) – Teil I: Über Gesch[ichte] des Persp[ektivischen] Zeichn[en]s

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[fol.] 47. Das charakteristische dieser primitiven Aufstellung der menschlichen Gestalt besteht nun in Folgendem: Die Beine und Füße sind stets von der Seite gezeichnet. Deßgleichen ist Ober- und Unterarm immer in wahrer Länge gegeben und die Hand und die Finger in ganzer Fläche und Länge oder die Finger vollständig umgelegt zur Darstellung einer geschlossenen Hand. Auch der Kopf ist von der Seite her aufgenommen. Alle diese Bestandtheile erscheinen nicht unnatürlich nicht verzeichnet, weil es einer menschlichen Gestalt in Wirklichkeit ja möglich wäre sich so aufzustellen. Es ist aber nicht möglich einen so vielseitigen runden Körper so zu stellen, daß a l l e Theile desselben parallel zur Bildebene zu liegen kommen. Selbst bei dieser Aufstellung bleiben noch einige Theile übrig, welche, ihrer Hauptdimension nach sich in die Tiefe erstrecken. Diese Theile, welche an der Gestalt selbst nicht mehr so verdreht werden können, daß sie parallel zur Bildebene zu liegen kommen sind: Die Hüften, die Schultern und das Aug. Zur Darstellung dieser drei Theile muß also notgedrungen ein neues Hülfsmittel verwendet werden und dieß besteht darin, daß die Drehung dieser Theile parallel zur Bildfläche, welche am lebenden Modell nicht mehr vorgenommen werden kann, willkürlich in der Zeichnung vorgenommen wird. Somit werden Hüften, Schultern und Augen in Vorderansicht gezeichnet, während alle übrigen Theile, und mit ihnen [fol.] 48. scheinbar die ganze Gestalt von der Seite her aufgefaßt erscheint. Dadurch entsteht zwar eine gänzlich unnatürliche Zusammensetzung einzelner Stücke, welche zwei verschiedenen Richtungen die Gestalt zu sehen entnommen sind, aber der primitive Zeichner konnte sich, wie die Übereinstimmung aller in diesem Punkte lehrt, nicht helfen. Die Schwierigkeit, eine Verkürzung zu zeichnen ist eine zu große, als daß ihre Bewältigung hätte auf den ersten Wurf gelingen können.

Nach demselben Grundsatz der willkürlichen Drehung sind die Hörner der

ägyptischen Rinder in Fig. 9 um 90 Grade gedreht, bis sie in Frontalansicht, parallel mit der Bildebene erscheinen. Ebenso wird ein über der Stirne befindlicher Kopfschmuck in umgedrehter Stellung gezeichnet, und dieselbe Methode, welche aushelfen mußte Schultern, Hüften und Profilaug darzustellen, wird gebraucht zur Zeichnung von noch kleineren Detailen der

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menschlichen Figur. Trotzdem im ganzen Brust und Schulter von vorne her gesehen werden, ist der große Brustmuskel, doch wieder von der Seite, also wie unter der Achselhöhle sichtbar, weil dieser nur von der Seite her gesehen seine charakteristische geschwellte Form zeigt. Aber auch dieser Theil ist wieder nicht einheitlich richtig von der Seite aufgefaßt, sondern ein noch kleinerer Bestandtheil, nämlich der kreisrunde Vorhof der Brustwarze neuerdings von vorne, weil nur in dieser Ansicht seine wahre kreisrunde Gestalt ersichtlich wird, und aus demselben Grund [fol.] 49. [Rechts in der Mitte zwei Aussparungen für „Fig. 35“ und „Fig. 36“] ein noch kleinerer anatomischer Bestandtheil, nämlich die Brustwarze selbst wieder von der Seite.

In allen diesen Eigenthümlichkeiten stimmen die ältesten Zeichnungen al-

ler Völker überein. Zu den auffallendsten gehört die Einzeichnung von frontal gesehenen Augen in Profilköpfe. Sie ist zu sehen an dem ägyptischen Kopf von Fig. 12, auf dem assyrischen von Fig. 35 und an dem griechischen von Fig. 36. Im Übrigen besteht wieder zwischen diesen Köpfen eine durchgängig bedeutende Verschiedenheit. Der Typus des Kopfes ist stets ein entschieden nationaler und speciell die Augen in der Bildung des kleinsten Detailes der Wimpern, Augenbrauen, Thränengruben so deutlich verschieden, daß jedes Aug auf den ersten Blick als ägyptisch, assyrisch oder griechisch erkannt werden kann.

Nach derselben Methode werden Theile von Gerätschaften und von allen

möglichen Naturgegenständen in umgelegter Lage gezeichnet, wenn es auf andere Art nicht möglich ist, ihre Fläche parallel zur Bildebene zu bringen. Daraus entstehen in Verbindung mit der Auslassung und im Zusammenhang mit den rein conventionellen Zeichen häufig Darstellungen, welche für uns sogar häufig schwer verständlich [fol.] 50. [In der Mitte rechts eine Aussparung für die nicht durch Abbildungsnummer ausgewiesene Fig. 37] sind, wovon die zahlreichen Mißverständnisse in der Description in modernen Bildern und Theater-Inscenirungen und in Costumewerken hinlänglich Zeugniß geben. Eines der merkwürdigsten Beispiele dieser Art bietet der Autograph, ohne Titel (o.J.) – Teil I: Über Gesch[ichte] des Persp[ektivischen] Zeichn[en]s

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­Umstand, daß auf den so zahlreichen ägyptischen Bildern, welche uns das ganze Leben und Treiben des Volkes schildern, scheinbar nirgends ein eigentlicher Sonnenschirm vorkommt. Alles was die Funktionen eines solchen nach Ort und Umständen versehen sollte, ist dem Anscheine nach ein langgestielter unpractischer Fächer. Solche Fächer werden auf langen Stangen den Königen von Dienern über das Haupt gehalten und zwar so, daß sie unter den direct von oben einfallenden Strahlen gewiß keinen Schatten geben konnten. Derlei ist bei den so praktischen und erfindungsreichen Ägyptern geradezu überraschend. Sie wären das einzige südliche Volk gewesen, das sich durch einen horizontal ausgespannten Schirm von der drückenden Sonne nicht zu schützen wußten. Schirme, welche in der Mitte an einem Stab befestigt und mittelst Spangen oder auch ohne diesen in horizontaler Fläche gehalten werden, kommen gegenwärtig bei allen Bewohnern heißer Landstriche vor. Hochgestellten Personen werden sie [fol.] 51. [In der Mitte rechts eine Aussparung für „Fig. 38“] allgemein von Dienern auf längeren Stielen übers Haupt gehalten. Diese Gepflogenheit ist häufig durch Abbildungen dargestellt. Im 16. Jahrhundert auf Reisebildern. Im Alterthum gebrauchten die Griechen und Römer solche Schirme und sehr häufig finden sie sich auf assyrischen Darstellungen. Der König steht im Wagen oder sitzt am Thron. Hinter ihm hält ein Diener einen unzweifelhaften Sonnenschirm über sein Haupt. In dieser Weise wird der König sogar in der Schlacht bedient. (Fig. 38) Ganz dieselbe Situation kommt auf ägyptischen Bildern vor, nur sieht das Ding, welches dabei dem Könige über den Kopf gehalten wird keinem Sonnenschirm ähnlich sondern eher einem Fächer, und für einen solchen wird diese Zeichnung gegenwärtig auch meist gehalten. Auf allen neueren Bildern, welche Stoffe aus dem ägyptischen Alterthum behandeln, und zwar mit der beliebten historischen Treue des Costumes, ist dieser fächerartig in der alten Zeichnung aussehende Gegenstand, als wirklicher Fächer dargestellt. In gleicher Weise erscheint er auf unseren Theatern. Da es aber zuweilen auffällt, wie wenig Schatten ein solches Ding zu geben vermag, wird es in einer Anzahl von sechs und mehr Exemplaren verwendet um beim Hin- und Herbewegen, wenn schon keinen Schatten, doch wenigstens um so mehr Wind zu spenden.

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[fol.] 52. Es ist aber die ganze Auffassung falsch, und die ihr zu Grunde liegende Zeichnung stellt keinen Fächer, sondern den auch bei den Assyrern gebrauchten Sonnenschirm vor. Dieß geht aus einer näheren Vergleichung ägyptischer und assyrischer Zeichnungen unschwer hervor. Die ägyptische Zeichnung in Fig. 37 unterscheidet sich von der assyrischen, welche, wie deutlich zu sehen, einen gewöhnlichen Sonnenschirm darstellt, hauptsächlich durch die stärkere kreisförmige Wölbung nach oben und durch das Fehlen der Spangen zum Ausspreiten des Schirmes. Beides läßt sich auf zweierlei Art erklären. Entweder hatten die ägyptischen Schirme zum Unterschied von den assyrischen wirklich eine höhere kuppelartige Wölbung und keine Ausspreitstangen, welche auch heute noch bei afrikanischen und orientalischen Schirmen zuweilen fehlen, oder es ist beides nur Manier der Zeichnung. In diesem letzteren Sinne könnte die kreisförmige Rundung nach oben, als durch eine Verwechslung der Seitenansicht mit der streng kreisförmigen Rundung des horizontal ausgespannten Schirmrandes hervorgebracht, angesehen werden. Es wäre dieß wieder einer der vielen Fälle des Umlegens einer Tiefendimension in die Bildebene. Und es ist wirklich bei Darstellung von Kreislinien diese Art der Zeichnung auf den ägyptischen Monumenten die gewöhnliche, wie die Ägypter überhaupt in vielen Fällen zur Umlegung ihre Zuflucht nehmen, wo die Assyrer von der Seite gesehen zeichnen und sich durch Auslassung behelfen. So wird der horizontale Ornamentenkreis am Halse von Gefäßen nach abwärts gelegt in seiner wahren Form und Rundung [fol.] 53. [Rechts oben „Fig. 39“ mit Darstellung einer Vase] dargestellt. (Fig. 39) Ebenso werden als reine Kreise die nahezu horizontalen Gewandränder am Hals gezeichnet. Vom Standpunkt der ägyptischen Zeichenkunst aus wäre es nicht unmöglich, daß diese Art die wahre Gestalt eines kreisförmigen Dinges darzustellen auch bei der Zeichnung des Sonnenschirmes stattgefunden

Fig. 39

hat. Die Umlegung des kreisförmigen Schirmrandes in die Fläche der Schirmstange ist also zugleich eine Umlegung in die Zeichenfläche. Das erstere würde allerdings aus einem wirklichen gewöhnlichen Sonnenschirm einen Fächer bilden; das Letztere aber verursacht nur ein fächerartig aussehendes Autograph, ohne Titel (o.J.) – Teil I: Über Gesch[ichte] des Persp[ektivischen] Zeichn[en]s

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Bild des Sonnenschirmes und steht in Übereinstimmung mit den Methoden der ägyptischen Zeichnung, obwohl dadurch dem dargestellten Gegenstande gänzlich der Eindruck eines horizontalen Schirmdaches benommen wurde und die Schirmfläche vielmehr senkrecht zu stehen scheint. Eine staunenswerte Unbehülflichkeit im Zeichnen räumlicher Formen setzt die hier angenommene Erklärung allerdings voraus. Diese Unfähigkeit richtig und daher leicht verständlich zu zeichnen ist aber gerade das charakteristische der ersten Entwicklungsstufe der Zeichenkunst, und die Annahme einer fast unverständlichen Zeichnung ist gewiß weniger gezwungen, als die Annahme daß die alten Ägypter Sonnenschirme entweder nie gezeichnet oder nicht einmal gehabt hätten. Dabei ist ja noch zu berücksichtigen, daß es nur uns Neueren schwer fällt, den dargestellten [fol.] 54. [Rechts unten zwei Aussparungen für „Fig. 40“ und „Fig. 41“] Gegenstand zu erkennen, da wir an eine richtige perspectivische Zeichnung gewöhnt sind und auch die Gegenstände selbst nicht vor uns haben, deren fremdartige Darstellung uns irre führt. In dieser Beziehung leistet die Darstellung des Sonnenschirmes, in der angegebenen Weise, freilich schon das Äußerste an Unbehülflichkeit und daher auch an Unverständlichkeit. Diese äußerste Grenze wird jedoch nicht erreicht ohne Zwischenstationen. In Fig. 40 ist der oberste Theil der Zeichnung leicht als das sonnenschirmartige Dach des Wagens zu erkennen. Ein ähnliches Dach über einem Wagen ist in Fig. 41 dargestellt, hier aber gleicht die Zeichnung bereits sehr derjenigen des gewöhnlichen tragbaren Sonnenschirmes. In beiden Fällen ist die Decorirung der Fläche eine selbstständige und besonders aus Fig. 40 ist zu sehen, daß die fächerartig gelegten Blätter nur Decoration und nicht Nachahmung eines wirklichen Fächers sind.

Es kommen aber Fälle vor, in welchen eine ähnliche Zeichnung nicht leicht

als Sonnenschirm aufgefaßt werden kann, weil das dargestellte Ding nicht so gehalten wird um Schatten zu [fol.] 55. gewähren sondern mehr wie eine Trophä herumgetragen wird, oder nach Art der römischen Legionszeichen. In diesem Sinne ist der fragliche Gegenstand aufgefaßt in der Description. Es kann sein, daß damit in einigen Fällen

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das richtige getroffen ist, denn zu allen Zeiten sind bei kriegerischen oder auch bei festlichen Aufzügen im Frieden viereckige, oder abgerundete oder noch anders gestaltete Tafeln mit Inschriften oder Bildwerk auf langen Stangen herumgetragen worden. Die Description macht aber sämmtliche Zeichnungen dieser Art zu Standarten, darunter auch alle diejenigen, welche der ganzen Situation nach kaum etwas anderes als Darstellungen von Sonnenschirmen sein können. Der Sinn der Zeichnung ist also nicht in allen Fällen mit Bestimmtheit anzugeben, nur einen Fächer bedeutet diese Form gewiß niemals, weil ein solcher nicht ruhig in der Luft gehalten wird, auf einer so überaus langen Stange gar nicht zweckmäßig gebraucht werden kann, und sowohl gegenwärtig immer unmittelbar von der Hand gehalten wird, als auch auf alten griechischen und assyrischen Bildern immer ohne Stiel oder mit kurzer Handhabe abgebildet ist.

Es liegt also der merkwürdige Fall vor, daß eine alte Zeichnung schon an

sich schwer zu deuten, und noch überdieß zwei verschiedene Gegenstände darzustellen scheint.

Außer der Beseitigung solcher Schwierigkeiten moderner Auslegung lehrt

die Betrachtung der geringen Kunstmittel, welche dem Zeichner der ersten Entwicklungsperiode zur Verfügung standen noch deutlich erkennen, in [fol.] 56. welcher Weise der ebenfalls höchst eingeschränkte Kreis von dargestellten Dingen, außer andern Ursachen, allein schon durch das Unvermögen der Darstellung gegeben ist. Aus diesem Unvermögen allein schon läßt sich begreifen, wie die monotone Aufstellung der Figuren eine notwendige Folge der noch technisch allzu beschränkten Zeichenmethode ist, und warum die älteste Kunst nur Eine Stellung für stehende und nur Eine Stellung für sitzende Gestalten kennt und diese beiden einfachsten typischen Stellungen auch in der freien runden Plastik in Folge des innigen Zusammenhanges, der zwischen Zeichnung und Plastik in Vorstellung und Ausführung obwaltet, allgemein und ausschließlich gebraucht werden.

Das Starre, peinlich Drückende, welches für unser Aug der Anblick so

gleichförmig regelmäßiger Gestalten in sich birgt, ist ein Effect, den diese einfachsten Formen gewiß nur auf den modernen Beschauer, der sich an den Anblick reich bewegter Figuren gewöhnt hat, ausüben. Die Künstler, welche diese Werke schufen, und ihre Zeitgenossen dürften von einer dämonischen Düsterkeit und ähnlichen bänglichen Empfindungen, wie sie den Ästhetiker bei Betrachtung ihrer Figuren überkommen, wenig verspürt haben. Autograph, ohne Titel (o.J.) – Teil I: Über Gesch[ichte] des Persp[ektivischen] Zeichn[en]s

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Eben so wenig berechtigt ist die Verbindung, in welche man diese typischen Stellungen der ersten Kunststufe mit der geographischen Formation des Landes bringen wollte, denn sonst müßte die ganze Welt einstens ägyptisch ausgesehen haben. [fol.] 57. Gleichfalls unrichtig ist es, wenn aus dem Vorkommen derselben Zeichenmethoden in Griechenland und Kleinasien oder in Italien ägyptischer Einfluß hergeleitet wird. Daß die thatsächlich vorhandene Übereinstimmung nicht durch einen internationalen Zusammenhang äußerer Art wie etwa durch Kunstschulen oder Handelsverbindungen zu erklären ist, geht unzweifelhaft daraus hervor, daß alle diese Eigenthümlichkeiten in modernen Kinderzeichnungen wieder gefunden werden. Es ist durch sie nichts Zufälliges sondern ein, von der Natur selbst bedingtes, erstes Stadium der Entwicklung der Zeichenkunst gegeben.

Dieser ersten Periode gehören alle ältesten griechischen, italischen, kel-

tischen, germanischen Darstellungen an, desgleichen alle ältesten orientalischen und die primitiven Bilder wilder Völkerschaften, und endlich als beste und ausgiebigste Quelle die ältesten Darstellungen am Nordwestpalast zu Nimrud,17 dessen Erbauung noch dem 10. Jahrhundert vor Chr. angehört, ferner die ältesten ägyptischen Bilder bis um die Zeit der zwölften Dynastie. Die Methoden, mittelst welchen die Zeichnung zu Stande gebracht wurde, sind folgende:

1 . M e t h o d e : D i e Ti e f e n d i m e n s i o n w i r d g a r n i c h t b e r ü c k -

sichtigt und von zwei gleichgestalteten hinter einander s i c h b e f i n d e n d e n K ö r p e r n n u r d e r Vo r d e r e g e z e i c h n e t .

2. Methode: Das in Wahrheit hinter einander Befindli-

che wird im Bild über oder nebeneinander gezeichnet.

17 [Nimrud (ehemals Kalchu), südöstlich von Mossul, war zeitweilig die Hauptstadt Assyriens. Wahrscheinlich von Salmanassar I. um 1270 v. Chr. gegründet, von Assurnasirpal II. um 870 v. Chr. neu erbaut und 612 v. Chr. beim Untergang des Assyrerreiches von den Medern zerstört, wurde das ehemalige Kalchu 1845–1851 von Austen Henry Layard entdeckt. In der von einer Mauer umgebenen Stadt (2100 x 1650 m) lagen acht Paläste assyrischer Könige, eine Zikkurat und mehrere Tempelanlagen. Zu den wertvollsten Funden zählen die Torhüterplastiken (geflügelte Mischwesen, Löwen), der schwarze Obelisk Salmanassars III. und Elfenbeinschnitzereien.]

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[fol.] 58. 3 . M e t h o d e : I n d i e Ti e f e s i c h e r s t r e c k e n d e K ö r p e r t h e i l e werden so lange gedreht oder umgelegt bis sie in die Bild­ ebene nach oben oder seitwärts zu liegen kommen.

Die erste dieser Methoden schließt sich nach der urältesten schriftarti-

gen Zeichnung an. Die zweite und dritte Methode wagen sich schon an die positive Darstellung der Tiefendimension, aber noch ist mit ihnen nicht einmal der Versuch gemacht räumliche Gegenstände so abzubilden, wie man sie sieht. Der Künstler der ersten Entwicklungsstufe scheint es vielmehr noch gar nicht bemerkt zu haben, daß wir die Dinge anders sehen, als sie sind oder als wir sie uns denken. Im Gegentheil scheint er mit der Absicht an sein Werk gegangen zu sein die Gegenstände so abzubilden, wie sie wirklich sind oder gedacht werden, das ist in ihren wahren Längen, Breiten, Höhen und ihren wahren Krümmungen.

In diesem Vorhaben hinderte ihn nur zunächst die Tiefendimension, wel-

che er in seiner Bildfläche nicht vorfand. Dieser Übelstand haftete für ihn aber gewiß nur an eben dieser Fläche. Daß in seinem Auge selbst sich eine ähnliche Fläche befindet mit deren Hülfe man sieht, und daß es deßhalb einst möglich werden könnte, auf einer bloßen Fläche die räumliche Natur täuschend wiederzugeben, davon hatte er gewiß keine Vorstellung:

Das Wesentliche dieser Zeichenstufe und ihres Fortschrittes gegen die

Vorstufe kann in kürzester Formel etwa in folgender Weise [fol.] 59. zusammengefaßt werden:

Über die nur schriftartige Zeichnung hinausgehend,

wird schon die volle Darstellung sichtbarer Dinge versucht, und hiebei macht sich bereits der Unterschied vom darzustellenden Körper und der Zeichenfläche geltend. D i e i n d e r Z e i c h e n f l ä c h e n i c h t v o r h a n d e n e Ti e f e n d i m e nsion wird so viel als möglich schon bei Wahl und Aufstellung der darzustellenden Objecte vermieden, wo sie aber durchaus nicht zu umgehen, wird sie auf mechanische Art gewaltsam in die Bildfläche versetzt.

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II. Periode [fol.] 60. Erst nachdem mit Hülfe der in der ersten Periode ausgebildeten Methoden Bilder auf der Fläche sichtbar geworden, konnte das hie und da sehr Fehlerhafte und Mangelhafte der ältesten Zeichenkunst bemerkt werden; erst jetzt konnte es auffallen, daß diese gezeichneten Gestalten auf das Aug einen andern Eindruck hervorbringen als die wirklichen Dinge, welche sie darstellen sollen. Daraus entwickelt sich das Bedürfniß zur Verbesserung und indem diese wirklich versucht wird, bilden sich neue Formen, neue Arten der Darstellung und es entsteht eine vollkommenere Einsicht in die Mittel und das Wesen der Zeichenkunst.

Neben den so neu entstandenen reicheren und richtigeren Formen erben

sich jedoch die Formen der älteren Periode fort, so daß oft die Merkmale einer weit höher entwickelten Kunst unmittelbar neben Zügen primitivster Art stehen. Sogar das Schriftartige findet noch zahlreiche Verwendung. Die kleinen Detaile Felsen, Wasserwellen, Blätter, Haarlocken, Gewandfalten u.s.w. werden noch bei sonst wesentlich höher entwickelter Zeichnung durch wenige conventionelle Zeichen ausgedrückt. Gewöhnlich ist aber die Gruppirung eine richtigere und freiere; oder die Anordnung primitivster Formen neben höher entwickelten bleibt mit Vorsicht und Geschicklichkeit auf Fälle beschränkt in welchen die alte Form nicht allzu auffällig falsch ist; oder die ältesten Figuren [fol.] 61. sind wegen ihrer Beziehung zur Religion geheiligt und so durch Gewohnheit und lange Verehrung unantastbar geworden. Aber auch eine Menge neuer Gegenstände werden in den Bereich malerischer Darstellung gezogen, und bei diesen ist es nicht zu verwundern, wenn ihre Zeichnung primitivster Art ist, indem die in andern Theilen der Zeichenkunst bereits durch lange Erfahrung weiter vorgeschrittenen Künstler, hier wieder von vorne anfangen mußten.

Beispiele hiezu bieten die Fig. 7 und 42. Derlei umfassende Darstellungen

vieler Gegenstände auf landschaftlichem Grunde gehören erst der höher entwickelten assyr. Kunst und der späteren ägyptischen um die Zeit der 18ten Dynastie an. Die Methoden der Darstellung sind jedoch noch immer die der

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vorhergehenden Periode. Das allgemeinste hierüber ist schon bei Erörterung von Fig. 7 bis 13 erwähnt worden.

Die Landkarten ähnliche Zeichnung einer Gegend, zeigt sich noch auf-

fälliger als dort in Fig. 42. Diese stellt zwei Bruchstücke der ägyptischen Aufzeichnung eines Palastes dar, aus der Zeit der XVIII Dynastie. Der untere Theil versinnlicht das Eingangsthor, der obere einen Theil rückwärtiger an einem Hofraum gelegener Gemächer. Das Verfahren, nach welchem diese Darstellung zu Stande gekommen, ist nun folgendes: Zuerst wurde dasjenige aufgezeichnet, was man gegenwärtig einen Grundriß nennen würde, also eine Ansicht von oben herunter, in welcher d a s N e b e n e i n a n d e r aller einzelnen Theile nach ihrer w i r k l i c h e n L a g e u n d E n t f e r n u n g ersichtlich ist. Dann aber wurden die einzelnen Theile nicht ebenfalls von oben gesehen abgebildet sondern alle einzelnen Bestandtheile, die Thore, Bäume und das in den Gemächern aufbewahrte Geschirr wieder von der Seite und zwar ohne einheitlichen Maßstab, jeder Gegenstand für sich ohne genauerer Rücksichtnahme auf das Ganze.

Es entspricht diese Art der Darstellung keiner der gegenwärtig gebräuch-

lichen, weder einer perspectivischen noch auch der rein geometrischen in welcher Pläne in Grundrissen und Aufrissen [fol.] 62. dargestellt werden, sondern die drei Methoden der ersten Zeichenperiode sind es durch deren gemeinschaftliches Zusammenwirken diese Darstellung entstanden. An diesem Beispiele läßt sich ersehen wie lange älteste Arten der Zeichnung sich erhalten selbst bis auf den heutigen Tage denn von ähnlicher Art sind auch alle älteren Landkarten bis ins 17. und selbst 18. Jahrhundert herauf, in welchen die Gebirgszüge noch mit ihrer Höhenentwicklung von der Seite gesehen, eingetragen erscheinen und in derselben Weise alle Gebäude in Seitenansicht statt im Grundriß. In dem Kartenwerk von MerianV sind die Häuser bereits im Grundriß aber die Berge noch in Seitensicht.18 Aber 18 [Matthäus Merian d. Ä. (1593–1650) war Kupferstecher und Verleger. Seine topographischen Landschafts- und Städtebilder besitzen herausragenden dokumentarischen Wert, besonders seine Topographia Germaniae. Frankfurt/M.: Caspar Merian, 1642–1688. Das 16-bändige, von Martin Zeiller verfasste und mit 1486 Kupferstichen ausgestattete Werk ist sachlich nach deutschen Kreisen und Ländern geordnet. Unter Merians Söhnen folgten die Nachbarländer Schweiz, Niederlande, Frankreich und Italien. Am interessantesten und künstlerisch anspruchsvollsten ist Merians Topographia Helvetiae, Rhaetiae et Valesiae.] Autograph, ohne Titel (o.J.) – Teil I: Über Gesch[ichte] des Persp[ektivischen] Zeichn[en]s

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selbst in unseren neuesten Landkarten und Situationsplänen ist noch nicht alles einheitlich von oben aus gesehen dargestellt, indem auch hier die sogenannte Cultur, nämlich Gras, Bäume, Weinstöcke, etc. in umgelegter Lage und zwar ohne Rücksicht auf Richtigkeit des Maßstabes nach conventionellen Formen eingezeichnet werden. Diese Formen welche sich also nach Art der ältesten Zeichenkunst theilweise sogar bis auf den heutigen Tag erhalten haben, gelten nämlich nicht als Abbildungen sichtbarer Dinge nach einer bestimmten geometrischen Zeichnungsregel, sondern geradezu als i n B i l d e r s c h r i f t a u f g e z e i c h n e t e W o r t e , welche nichts weiter sagen wollen, als: hier stehen Bäume, hier wächst Gras u.s.w. [fol.] 63. Die in Fig. 36 wiedergegebene Zeichnung ist aber noch in einer anderen Beziehung von Bedeutung. Sie enthält nicht nur das erste Stadium der Plan und Landkartenzeichnung, sondern auch die erste Entwicklung der Landschaftsmalerei in sich. Deutlich läßt sich verfolgen wie von solchen Zeichnungen ausgehend das malerische und technische Zeichnen durch eine ähnliche Trennung entsteht wie noch früher Schrift und Zeichnung zu gesonderten Künsten sich von einander schieden. In diesen ältesten Zeichnungen ist aber noch beides in eins vereinigt, die Methode der Darstellung ist in Fig. 7 und 42 ganz dieselbe und nur dem Gegenstande nach könnte etwa Fig. 42 eher der architektonische Plan einer Palastanlage und Fig. 7 eher eine Landschaft darstellen.

Diese älteste Landschaft besitzt aber ähnlich einem Plane oder einer

Landkarte noch nicht einmal die Aufzeichnung des Himmels und der Luft, noch nicht einmal einen Horizont.

In der Einführung des Horizontes in solche Darstellungen besteht wohl

der erste Schritt zur gesonderten eigentlichen Landschaftsmalerei. Fig. 43 stellt eine landschaftliche Zeichnung dieser Art vor, wie sie unter den assyrischen Monumenten sehr häufig gefunden werden. Der Horizont liegt in allen diesen ältesten Bildern immer hart am oberen Rande der Bildfläche und niemals am unteren Rande. Daraus geht hervor, daß er sich ausschließlich aus der landkartenartigen Darstellung des landschaftlichen Bodens wie sie in Fig. 42 gegeben, entwickelte und nicht aus der am unteren Bildrand vorkommende Andeutung des Fußbodens durch einen einfachen Strich oder einen mit den conventionellen Erd- oder Wasserzeichen versehenen Streifen. Von einem perspektivischen Verschwinden des Bodens in die Tiefe ist noch

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nirgends eine Spur. Er ist immer genau von oben gesehen und auf ihm Gebäude, Bäume, Thiere, Menschen in seitlicher Darstellung [fol.] 64. neben und übereinander ausgetheilt. Der Horizont kommt lediglich dadurch zu Stande, daß am oberen Rande des Bildes die Zeichnung aufhört und die leere Zeichenfläche als Andeutung des Himmels noch in einem schmalen Streifen übrig bleibt. Dieser Streifen wird als Luft blau gemalen, noch nirgends kommen jedoch auf den ältesten Bildern von Ninive19 und anderwärts Andeutungen von Wolken vor.

Dennoch ist in dieser wenn auch noch so beschränkten Einführung des

Horizontes bereits eine erste Annäherung zum perspektivischen Zeichnen zu erkennen und darin liegt ein wesentlicher Fortschritt gegen die selbst aller Vorahnung von Perspective gänzlich ledigen Werke der ersten Periode. Ähnliche Versuche, welche ausgehend von verschiedenen auffallenden Mängeln der ältesten Zeichnung bestrebt sind, eine richtigere Darstellung von Tiefendimensionen zu erzielen, lassen sich allenthalben wahrnehmen.

Das unmalerisch Harte und Schriftartige des nur Einmal Zeichnens zweier

hintereinander befindlicher gleicher Gegenstände wird gemildert durch Wiederholung der Conturen, womit der rückwärtige Gegenstand bereits sichtbar hinter dem Andern dargestellt wird, wie in Fig. 9. In dieser Art sind in Fig. 44 schon die Räder des Wagens doppelt gezeichnet. Die Anwendung dieser Zeichenmethode durch Wiederholung der Conturen ist in der späteren ägyptischen und assyr. Kunst eine sehr ausgebreitete und mannigfache.

Durch Auseinanderschieben der wiederholten Conturen, durch Überein-

anderlegen von Bildern hintereinander befindlicher Dinge entsteht schon manche freiere und reichere Darstellung (Fig. 45), ja selbst Veranlassung zu Gruppierungen in welchen rhythmische Bewegung und Contrastwirkungen schon mit Glück. [sic!] Auch die zweite Methode, das Neben- und Übereinander-Zeichnen von Dingen, welche sich in der Natur hinter einander befinden 19 [Ninive – zwischen den Flüssen Tigris und Zab in der Nähe des heutigen Mossul gelegen – war nach Assur und Nimrud (siehe Anm. 17) die dritte und letzte Hauptstadt Assyriens und wurde 612 von Medern und Babyloniern zerstört. Die Reste wurden 1842 von Paul Emile Botta wieder entdeckt, darunter auch der Ruinenhügel Kuyuncik mit dem Palast von Sanherib (705–681 v. Chr.). Die bekannten Reliefs von Ninive befinden sich heute im British Museum in London. Einige der Tore (Maska-, Shamask- und Nergal-Tor) wurden rekonstruiert.] Autograph, ohne Titel (o.J.) – Teil I: Über Gesch[ichte] des Persp[ektivischen] Zeichn[en]s

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erfährt eine Verbesserung durch Zusammenschieben der getrennten Bilder wie in Fig. 46, eine Darstellung, welche eine vorgeschrittenere Entwicklung des in Fig. 28 Gezeichneten enthält.

Zu noch weiter gehender Veränderung, nämlich

[fol.] 65. [ Das Blatt besteht aus drei zusammengeklebten Manuskriptteilen und ist in der Höhe beschnitten.] sogar zu richtiger Verkürzung führt die Verbesserung der dritten Methode.

Das Fehlerhafte dieser Methode mußte am ehesten dort auffallen wo die

Zeichnung am weitesten von der natürlichen Gestaltung abwich, nämlich in den gewaltsam in die Bildebene gedrehten drei Bestandtheilen der von der Seite aus gesehenen menschlichen Gestalt.∗ Die Verkürzung der Hüften, der Schulter und des Auges ist das Ziel, dem die nächsten eifrigsten Bestrebungen entgegen steuern. Zuerst scheint es den alten Künstlern aufgefallen zu sein, daß in der Seitenansicht einer Gestalt der Rücken in ganzem Verlauf zu sehen ist, nach der andern Seite aber beide Hände sich wenden. Der Versuch eine Figur diesen Beobachtungen gemäß darzustellen führte anfangs zu einer noch schlimmeren Verzeichnung, ist aber doch der nothwendige erste Schritt vorwärts. Es ist den alten Künstlern unmöglich gewesen, die Schultern in einer andern als in ihrer w a h r e n Breite zu zeichnen. Nun kamen sie wieder mit derselben staunenswerten Einstimmigkeit, wie auf diesem Gebiethe überall auf dasselbe Auskunftsmittel. Sie zeichneten die eine Schulter von vorne die andere gar von rückwärts. In auffallendster Weise [fol.] 66. ist dieß in der in Fig. 47 abgebildeten ägyptischen Gestalt von einer Wandmalerei aus der Zeit der zwölften Dynastie ersichtlich. Ganz deutlich, wenn auch weniger drastisch auf der assyrischen Gestalt in Fig. 48 und der einer griechischen Vase entnommenen in Fig. 49.

Diese Art der Darstellung wird sehr bald fallen gelassen, während die äl-

teste Darstellungsweise noch lange in Gebrauch bleibt. Die älteste Art macht auch sogar einen weniger unnatürlichen Eindruck, weil die abzubildende Person sich in der That in Hüften und Hals etwas wenigstens so drehen könnte, daß bei seitlich gesehenen Füßen und Kopf, die Brust ein wenig von vorne gesehen wird. Die Unrichtigkeit dieser zweiten Darstellungsweise fällt aber allsogleich auf. Der Erfinder dieser Art, der mit ihr den ersten Schritt zur

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perspectivisch verkürzten Darstellung der Schultern gewagt hatte, mußte es selbst sogleich empfunden haben, daß dabei die Achseln zu weit nach vorne herausstehen und sie zurückversetzt haben. Die ganz drastische Art dieser Entwicklungsstufe, wie sie aus Fig. 40 ersichtlich kommt auch nur sehr selten [fol.] 67. vor, und auf demselben Streifen dem diese Gestalt entnommen befinden sich eine Anzahl anderer, bei welchen stets wenigstens die vordere Schulter minder vorspringend gehalten ist. Durch immer richtigeres Zurückversetzen der Schulter geht allmälig aus dieser Darstellungsweise die richtige perspektivische Zeichnung hervor, wie sie bereits nicht nur von den Griechen sondern auch schon von Ägyptern und Assyrern erreicht wurde. Fig. 50 und 51 sind Beispiele hiezu. Sehr häufig bleibt dabei die Contur des fleischigen runden Theiles der Schulter also die obere Contur des Deltamuskels in rudimentärer Weise noch so geformt wie in der Ansicht von rückwärts. Ein kleiner Beigeschmack nach dieser Art ist zuweilen selbst Zeichnungen anhaftend, welche von unsern modernen Künstlern der klassischen Richtung von Genelli oder Thorwaldsen herrühren.20 Sollte dieß etwa eine Folge des fleißigen Studiums der pompejanischen Malereien der antiken Vasengemälde, Reliefs etc. sein in welchen solche Nachklänge älterer Art häufiger sich finden? [fol.] 68. [Blatt aus zwei Manuskriptteilen zusammengeklebt] Parallel mit der Entwicklung der Zeichnung der Schulter in der Tiefenstellung läuft die der Hüften, nur kommt hier nirgends ein so drastischer Fall der Zusammensetzung vor wie bei Zeichnung der Schulter.

20 [Bonaventura Genelli (1798–1868), deutscher Maler und Zeichner des Klassizismus, der zunächst unter dem Einfluss von Asmus Jakob Carstens und den Nazarenern in Rom stand und in Leipzig, München und Weimar tätig war. Öffentliche Anerkennung fand er als Meis­ ter der Umrisszeichnung. Charakteristisch für sein Werk ist eine spätklassizistische Linienmanier und eine vorwiegend antik-mythologische Thematik (u.a. Illustrationen zu Homer und Dante). Bertel Thorvaldsen (1768/70–1844), dänischer Bildhauer, Hauptmeister des Klassizismus, der 1797–1838 in Rom arbeitete und maßgeblichen Einfluss auf die Entwicklung der europäischen Plastik hatte. Er wurde zu Lebzeiten als „nordischer Phidias“ verehrt und als Vermittler zwischen Antike und Gegenwart gepriesen. Seine häufig nach Themen der antiken Mythologie geschaffenen Marmorskulpturen zeigen klare Umrisslinien und stilisierte Gesichter („antikes Profil“), teilweise – infolge des streng arbeitsteilig organisierten Werkstattbetriebs mit bis zu 40 Mitarbeitern – auch eine trockene Formelhaftigkeit.] Autograph, ohne Titel (o.J.) – Teil I: Über Gesch[ichte] des Persp[ektivischen] Zeichn[en]s

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So bleibt noch das Aug übrig unter den drei hauptsächlichsten Theilen,

welche an der ältesten Figurstellung die Richtung in die Tiefe beibehielten. Hier ist es nicht möglich die Seitenansicht aus einer vordern und einer rückwärtigen zusammenzusetzen. Die Schwierigkeit ist eine viel größere und der Weg ein noch längerer. Hier ist es den Ägyptern und Assyrern noch nicht geglückt die volle Verkürzung zu erreichen. Sie sind beide auf den ersten Stufen der Weiterbildung stehen geblieben. Diese geht so vor sich, daß die Form des frontalen Auges allmälig in ununterbrochener Reihenfolge von Übergangsformen endlich in die Gestalt des richtig gezeichneten Profilauges übergeht.

Die erste Annäherung findet dadurch statt, daß der Augstern schon gegen

die vordere Seite hinrückt im Übrigen sich aber noch nichts ändert; sondern sowohl die lange Gestalt des ganzen Auges beibehalten wird, als auch der Stern seine kreisrunde, von der Frontalansicht herrührende Form beibehält. Diese zeigt sich auf dem einer griech. Vase entnommenen Kopf von Fig. 52. Auf den späteren Reliefs und Malereien von Niniveh ist diese Art die weitaus häufigste. Ein Beispiel ist der Kopf Nimrud’s in Fig. 53. Sehr spät zeigt sich diese Form noch an dem Kopf in Fig 47.

An ägyptischen

[fol.] 69. [Blatt aus zwei Manuskriptteilen zusammengeklebt und unten bis zur Hälfte beschnitten] Malereien ist eine davon wenig unterschiedene Abart zu finden in welcher der Augstern ein wenig nach vorne gedrängt ist und dazu noch etwas nach aufwärts gehoben, wodurch das Auge einen sanften etwas sentimentalen Ausdruck bekommt. Fig. 53. Diese Art ist wieder in der späteren Zeit der ägyptischen Kunst fast allein in Gebrauch, während in den ältesten Denkmälern ausschließlich die erste Art das Auge einzuzeichnen vorkommt. Soweit gehört die Entwicklung jener Zeit an, deren Zeichnungen hier zu einer zweiten Gruppe in der chronologischen Reihe zusammengefasst sind. Die Entwicklung des Auges bleibt durchgängig hinter derjeniger anderer Körper­ theile weit zurück, so daß erst in den spätesten griechischen und römischen Werken und dann wieder im 15. Jahrhundert die richtige Darstellung des Profilauges erreicht wird

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[fol.] 70. während die richtige Seitendarstellung der Schultern und Hüften bereits den Assyrern und Ägyptern glückte und auch schon auf verhältnißmäßig frühen griechischen und italischen Werken erscheint.

Die künstlerische Bewegung, welche durch diese Versuche eingeleitet ist,

beschränkt sich aber nicht nur auf diese drei Haupttheile der Figur nach ihrer ältesten Aufstellung.

Sondern die zwangvolle Einförmigkeit dieser Aufstellung selbst wird ge-

brochen, und da man schon einmal Hand anlegte Verkürzungen darzustellen, so liegt es nahe auch Verkürzungen anderer Körpertheile nicht mehr ängstlich zu vermeiden und so treten denn nach der Reihe immer mehr Körper­ theile in den Bereich der Verkürzung. Zunächst sind es noch immer einzelne Körpertheile Nase, Ohren, Oberschenkel, Unterschenkel, Füße, Arme und Hände, deren Zeichnung in voller Verkürzung versucht wird. Der richtigen Verkürzung scheinen auch hier wieder Schwierigkeiten von sehr verschiedener Stärke zu Grunde zu liegen, denn wie dieß an Aug und Schulter sich zeigte, so wird auch bei den andern Körpertheilen das Endziel einer richtigen Verkürzung mit sehr verschiedener Schnelligkeit erreicht. [fol.] 71. Darnach scheint die wenigsten Schwierigkeiten die verkürzte Darstellung des Mundes und der Nase geboten zu haben. Der Mund wird zuerst in der Seitenansicht und zwar gleich richtig gezeichnet. Es hätte nämlich einestheils einen gar zu auffälligen Fehler gegeben wenn der Mund in einen Profilkopf in Vorderansicht gezeichnet worden wäre, andererseits aber ist die Einzeichnung des Mundes in einen Profilkopf auch von keiner allzugroßen Schwierigkeit vermöge seiner im Grundriß bogenförmigen Gestalt. An Thierköpfen ist er von der Seite aus aufgesetzt sogar entschieden leichter zu treffen. Er ist übrigens auch von vorne gesehen so wie auch die Nase in voller Verkürzung bereits von den Ägyptern und Assyrern richtig gezeichnet worden. Dieß ist aus einigen wenigen Köpfen ersichtlich welche ganz in Frontalansicht dargestellt sind. Eine solche Darstellung ist in Fig. 47 wiedergegeben. In dieser Darstellung sind auch die frontal gezeichneten Augen richtig, dagegen sollten hier die Ohren verkürzt erscheinen, was aber nicht der Fall, denn diese sind wieder in ihrer wahren Gestalt, wie sie von der Seite her ersichtlich wäre, eingezeichnet und zwar das Linke von der linken Seite das Rechte von der ­rechten Autograph, ohne Titel (o.J.) – Teil I: Über Gesch[ichte] des Persp[ektivischen] Zeichn[en]s

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Seite aus gesehen. So gut der Kopf im Ganzen gezeichnet erscheint, so ist er also doch wieder aus einzelnen Theilen zusammengesetzt, welche von drei ganz verschiedenen Seiten aus gesehen sind. Diese falsche Einzeichnung eines von der Seite her direct angesehenen Ohres in Köpfe von verschiedenster Drehung und Stellung gegen den Augpunkt ist einer der hartnäckigsten Fehler im Zeichnen. Siehe Fig. … [fol.] 72. Er kommt selbst in spätester Zeit auch bei Meistern ersten Ranges noch zuweilen vor. In der älteren Zeit aber ist dieß Regel, bei allen Zeichnern.

Eine wesentliche Schwierigkeit bildet die verkürzte Zeichnung der Ober-

schenkel sitzender oder liegender Figuren. Drastische Beispiele aus der Zeichengeschichte dieses Theiles der Figur finden sich am häufigsten an frühen mittelalterlichen Kunstwerken, aber auch schon auf äg. u. assyrischen. Einem solchen mittelalterlichen Werk ist Fig. 50 entnommen. Es ist diese Methode sich zu behelfen offenbar wieder dasselbe Zwischenstadium zwischen nicht verkürzter und vollständig verkürzter Zeichnung, wie es auf Fig. 38 bereits erklärt wurde. Der eine Fuß wird von rechts aus gesehen dargestellt der andere von links aus; beide unverkürzt und aus diesen Ansichten von entgegengesetzter Seite her wird die zwischen ihnen liegende beabsichtigte Vorstellung beiläufig faßlich zusammengesetzt. Dasjenige, was durch dieses Übergangsstadium, des nach rechts und links Auseinanderlegens der Beine zuletzt erreicht wird ist wieder die vollständige Verkürzung.

Dasselbe Mittel sich der richtigen Verkürzung zu nähern findet sich ein

mal an einer liegenden Gestalt Fig. einer assyrischen Darstellung, und an einer ägyptischen, bei der jedoch griechischer oder römischer Einfluß vielleicht denkbar ist, häufig auf griechischen Vasenmalereien, bei römischen Bildern und am häufigsten im frühen Mittelalter bei den vielen sitzenden Apostelfiguren und Heiligen, ferner [fol.] 73. [Blatt aus zwei Manuskriptteilen zusammengeklebt] bei den liegenden eingeschlafenen Wächtern am H. Grabe. Die dadurch entstehende Lage der Figur ist eine nicht ganz unnatürliche indem es bei einem Auseinanderspreitzen der Kniee möglich wird auch in der Natur einen ziemlich ähnlichen Eindruck zu bekommen. In dieser Weise liegt in Rafaels

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„Schule von Athen“ Diogenes auf den Stufen;21 ferner Heliogabalus im „Tempelraub“.22 Hier ist aber die Zeichnung eine richtige und nur durch Aufstellung der Figur eine Form bedingt, welche der alten Übergangsform ähnelt. Die eigentliche p r i m i t i v e Ü b e r g a n g s f o r m i s t a b e r i n i h r e r ausschließlichen Anordnung und in ihrer Durchführung im Detail niemals richtig.

Dieselbe Schwierigkeit war zu überwinden bei den Füßen der gekreuzig-

ten Christusgestalten. Auch hier wird wieder zunächst dasselbe Auskunftsmittel einer Umlegung der vorstehenden Kniee in die Bildfläche, wie in allen vorigen Fällen angewendet. [fol.] 74. Fig. 51 bringt eine solche Auflösung zur Ansicht. Dieses Umklappen wird auch häufig nach beiden Seiten hin vorgenommen ähnlich wie bei der sitzenden Gestalt in Fig. 50. Auch werden die Beine ganz gerade ausgespannt dargestellt wodurch die Schwierigkeit blos umgangen, aber keine der drei Arten stellt eine richtige Zeichnung dar. Dieselben Schwierigkeiten wiederholen sich bei Zeichnung der Füße und auch hier kehren bei allen alten Darstellungen dieselben Methoden der Zeichnung wieder. Fig. 49 stellt Füße vor aus den alten byzantinischen Malereien von S. Miniato.23 Hier sind die Füße nach 21 [Raffaels zwischen 1509 und 1511 entstandene „Schule von Athen“ in der Stanza della Segnatura im Vatikanischen Palast gehört zu den Hauptwerken italienischer Renaissancemalerei. Der mit blauem Umhang bekleidete Diogenes, der rechts unterhalb der zentralen Hauptgruppe von Plato und Aristoteles auf den Stufen lagert, ist in komplizierter Körperhaltung mit starken Verkürzungen im Bereich der Beine wiedergegeben.] 22 [Der Bildtitel war Sitte offensichtlich falsch in Erinnerung. Gemeint ist wohl Raffaels 1512–1514 gemalte „Vertreibung des Heliodor aus dem Tempel in Jerusalem“ in der – an die Stanza della Segnatura anschließenden – Stanza d’Eliodoro im Vatikanischen Palast. Das 2. Makkabäerbuch der Apokryphen berichtet, dass Heliodor, der vom syrischen König Seleukos nach Jerusalem gesandt wurde, um den Tempelschatz zu rauben, von drei göttlichen Streitern aus dem Tempel vertrieben wurde. Das Fresko, kompositionell eng mit der „Schule von Athen“ verwandt, zeigt rechts im Vordergrund den zu Boden gestürzten Heliodor in ähnlich komplizierter Körperhaltung und mit vergleichbar starken Verkürzungen wie Raffaels Diogenes.] 23 [S. Miniato al Monte, Florenz. Zu Beginn des 11. Jahrhunderts wurde an der Stelle einer älteren, über der Grabstätte des Hl. Minias erbauten Kirche ein cluniazensisches Reformkloster der Benediktiner errichtet. Die genauen Daten des Kirchenbaus sind bis heute ungeklärt. Er dürfte im Zusammenhang mit der Klostergründung begonnen und um 1062 in grossen Teilen fertig gestellt worden sein; die Ausstattung scheint erst im 13. Autograph, ohne Titel (o.J.) – Teil I: Über Gesch[ichte] des Persp[ektivischen] Zeichn[en]s

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rechts und links umgelegt. Sehr bekannt ist das Umklappen der Füße nach abwärts, wodurch eine Ansicht auf den Rüst [i.e. Rist] des Fußes erzielt wird, aber doch wieder die wahre Länge des Fußes ohne Verkürzung zur Ansicht kommt, und die Figuren aussehen als ob sie auf den Zehen stünden. Diese Darstellungsart spielt auch bei den Füßen von Fig. 46 und 47 mit ein. Ganz dieselben Erscheinungen treten wieder auf bei Entwicklung der verkürzten Zeichnung der Arme und der Finger. Fig. 50 zeigt an einer Hand zwei richtig gezeichnete und zwei umgelegte Finger deren Einbiegung in wahrer Gestalt dargestellt ist.

Die zuletzt besprochenen Verkürzungen der Oberschenkel, Füße und Fin-

ger kommen in ersten Versuchen auf äg. u. assyr. Werken nur sehr selten vor. Noch andere Körpertheile werden in Verkürzung aber nicht einmal noch versucht. [fol.] 75. [Blatt aus zwei Manuskriptteilen zusammengeklebt] Es ist hier bereits der Punkt erreicht, über welchen diese beiden Culturvölker nicht mehr hinausgekommen sind, und wo zur Vervollständigung der Bilder und zur Verdeutlichung des Anschlusses mittelalterlicher Formen an die gleichen Grundsätze älterer Zeichnung schon Beispiele aus christlicher Zeit verwendet werden mußten.

Der Zeit nach liegen diese Beispiele der Zeichnung weit auseinander, aber

dem ihnen innewohnenden Princip der Formbildung nach gehören sie derselben Entwicklungsstufe der Zeichenkunst an. Daß einzelne Theile in ihrer Umbildung so langsam fortschreiten, daß sich die Erreichung des letzten Zieles bis in die spätesten Zeiten verschiebt ist nichts anderes als eine Verzögerung, welche ihren Grund in der verschiedenen Zähigkeit der zu überwindenden Schwierigkeiten hat.

Der Mund wird ohne Schwierigkeit sogleich in der Seitenansicht, aber

ebensoleicht in der Vorderansicht dargestellt, weil beide Darstellungen nicht weit verschieden sind von dem g e d a c h t e n Bild eines Mundes. Die verkürzte Zeichnung der Schulter macht schon Schwierigkeiten aber das Endziel wird bald erreicht, die Zwischenstadien leichter überwunden, weil

Jahrhundert vollendet gewesen zu sein. Das in byzantinischer Tradition stehende Apsismosaik mit der Darstellung der Maiestas Domini sowie Maria und dem Hl. Minias, auf das sich Sitte beziehen dürfte, entstand wohl in der 2. Hälfte des 13. Jahrhunderts.]

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das Unrichtige dieser Zwischenformen sehr auffälliger Natur ist und seine Verbesserung sich gleichsam von selbst aufnöthigt.

Unter den Zeichnungen des Auges aber sind die alten Formen äußerst zäh

und wiederstreben mit großer Kraft einer [fol.] 76. Umbildung weil hier die Profilansicht wesentlich abweicht von der gedachten Vorstellung eines Auges und diese wieder sehr intensiv uns eingeprägt ist; denn Aug in Aug sehen sich die Menschen an, wenn sie auf einander merken, untereinander sprechen und so ist nicht zu verwundern, wenn gerade die frontale Ansicht des Auges so mächtig die Vorstellung desselben beherrscht.

Alle diese Zeichnungen haben aber das gemein, daß sie nicht die Tie-

fendimension auf mechanische Art in die Bildebene bringen sondern bereits eine perspectivische Darstellung verschiedener einzelner Körpertheile versuchen und nach kürzerer oder längerer Zeit auch wirklich erreichen.

Hierdurch unterscheidet sich diese zweite Periode wesentlich von der

Vorhergehenden. Darin aber stimmt sie überein, daß auch in ihr die Erschei­ nungen bei allen Völkern dieselben sind. Auch hier herrscht dieselbe Naturnothwendigkeit in der Entwicklung. Wohl mußte es immer irgend ein bestimmter Künstler sein der zuerst einen alten Übelstand beseitigte und damit zugleich eine neue vollkommenere Form einführte. Eine solche Veränderung kann aber nur in der von der Natur selbst vorgeschriebenen Richtung und Reihenfolge stattfinden, und selbst den genialsten Künstlern ist es nicht möglich um ein allzugroßes Stück ihrer Zeit voraußzueilen. [fol.] 77. [Blatt unten bis zur Hälfte beschnitten] Diese nothwendige Entwicklung läßt nirgends einen Stillstand merken, und es ist vollständig falsch wenn die altägyptische Kunst als so stabil bezeichnet wird, daß in ihr von einer innern geschichtlichen Entwicklung nicht einmal die Rede sein könne. Im Gegentheil ist auch in diesen Kunstwerken ein reges Leben und eifriger Fortschritt zu erkennen.

Auch hier gab es in der Kunst geniale Neuerer, welche dieselbe mit kräf-

tiger Hand weiter förderten und deren Erfindungen allmälig zu allgemeiner Anerkennung und Übung durchgedrungen sind.

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[fol.] 78. Die Künstler des alten Ägyptens haben in den uns vorliegenden Werken einen sehr weiten Weg zurückgelegt und der Fortschritt in den paar Jahrhunderten zwischen der zwölften und achtzehnten Dynastie ist ein eben so organischer und fast eben so rascher, wie er bei ziemlich gleichen Zeitabschnitten in Griechenland, Rom, Italien oder Deutschland aus der Geschichte der Kunst bekannt ist. Nur das unserm modernen Sinn sehr Fremdartige in den älteren Kunstwerken, läßt sie uns auf den ersten Blick alle gleichartig erscheinen. [fol.] 79. Es geht uns dabei so wie bei Betrachtung weit entfernter Gebirgszüge. Es erscheint dem ferne stehenden Auge alles gleichartig während diejenigen Dinge, welche uns zeitlich oder räumlich nahe liegen, als mannigfach verschieden und weit auseinanderliegend erkannt werden.

Bei näherer Betrachtung erweist sich aber das ursprünglich gleichartig

Gesehene ebenfalls in bunter Verschiedenheit und ein Historiker dem es vergönnt wäre einen Blick in wieder erwachte älteste Künstlerkreise zu thun, würde beiläufig dasselbe Schauspiel vor sich haben, wie es neuere Verhältnisse bieten. [fol.] 80 [Blatt aus zwei Manuskriptteilen zusammengeklebt] Die bedeutendsten Neuerungen, welche im Zeichnen während der zweiten Periode stattfinden, erstreben die totale Ve r k ü r z u n g e i n z e l n e r K ö r p e r t h e i l e d e r m e n s c h l i c h e n F i g u r. D i e Z w i s c h e n s t a d i e n s i n d Ve r m e n g u n g e n d e s R i c h t i g e n mit Bestandtheilen aus der älteren unverkürzten Darstellungsweise. Der Übergang aus der älteren unverkürzten Darstellungs­ w e i s e i n d i e z u l e t z t e r r e i c h t e D a r s t e l l u n g t o t a l e r Ve r k ü rzung, ist in der Weise constant und regelmäßig, daß in den älteren Zwischenformen die Elemente der unverkürzten Darstellung und in den späteren Zwischenformen die Elemente der bereits richtigen Zeichnung überwiegen.

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Die Methoden der Zeichnung entwickeln sich unmittelbar aus denen der ­ersten Periode.

Es sind folgende: 1.

Methode:

Vo n

mehreren

gleichgestalteten

hinter

e i n a n­ d e r s i c h b e f i n d e n d e n K ö r p e r n w i r d d e r V o r d e r s t e g e ­ zeichnet und die rückwärtigen durch Wiederholung der Conturen angedeutet. 2. Methode: Die Elemente zweier unverkürzter Nachbar­ stellungen vereinigen sich zu einer Mischbildung aus der s i c h a l l m ä l i g d i e v o l l e Ve r k ü r z u n g e n t w i c k e l t . 3. Methode: Die Elemente einer einzigen frontalen An­ sicht setzen sich unmittelbar mit Elementen der angestreb­ t e n v o l l e n Ve r k ü r z u n g z u s a m m e n . Diese Methoden der Zeichnung deuten schon auf die Wahrnehmung hin, daß wir die Natur anders denken als wir sie sinnlich sehen. Aber auch dieser erste grundlegende Gedanke reifte [fol.] 81. nur sehr langsam und wenn die Annahme richtig ist, daß die Einsicht, wel­ che ein Künstler in das Wesen seines Werkes hat, sich in diesem seinen Werk wiederspiegelt, so müssen die alten ägyptischen Künstler noch eine äußerst nebelhafte, unklare Erkenntniß des in ihren letzten Zeichnungen bereits er­ reichten Grundgedankens gehabt haben.

Die Darstellung einer vollen Verkürzung ist nämlich nicht blos ein äußer­

liches mechanisches Hülfsmittel um die Tiefendimension gewaltsam in die Bildebene hineinzubringen, sondern hängt bereits mit den Vorgängen des Sehens zusammen und ist die erste Errungenschaft am Boden der Perspec­ tive. Der Umstand aber, daß nur v o l l e Verkürzungen zuerst erlernt wurden und zwar durchgängig mit Hülfe fehlerhafter Zusammenstellungen aus vor­ räthigen unverkürzten Zeichnungen zeigt, daß das Beobachten des richtigen Nebeneinanders zweier gesehener Punkte, noch nicht diesen ersten Versu­ chen zu Grunde liegt.

Der Bildung der totalen Verkürzungen scheint die Erkenntnis des perspec­

tivischen Sehens vielmehr in einer noch unklareren noch dunkleren Weise zu Grunde gelegen zu haben.

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[fol.] 82. [Blatt aus drei Manuskriptteilen zusammengeklebt; Textstreichung der gesamten oberen Hälfte durch Anmerkung „gilt“ revidiert; untere Passagen in Gänze unterstrichen.] Diese Summe von theoretischer Einsicht kann hier nur aus der Analyse der Kunstwerke geschöpft werden. Schriftliche Aufzeichnungen der ältesten Künstler über ihr eigenes Schaffen, oder von Zeitgenossen welche diesen Künstlern unverfälscht nacherzählten sind nirgends erhalten. Ja es ist überhaupt kaum anzunehmen daß der ägyptische Künstler bei seinem ersten Versuch die Schulter verkürzt zu zeichnen schon begriffen haben sollte um was es sich hiebei eigentlich handelte und demgemäß sollte im Stande gewesen sein dieses sein eigenes Schaffen mit deutlichen Worten zu bezeichnen. Eine solche Formulierung zu einem Lehrsatz ist aber hier notwendig, wo es sich darum handelt zu einer deutlichen Vorstellung von dem jeweiligen Standpunkt zu gelangen auf dem sich die Zeichenkunst im Verlaufe ihrer Entwicklung von Zeit zu Zeit befunden hat. Das Wesentliche des Fortschrittes in der zweiten Periode b e s t e h t d a r i n , d a ß d i e Ti e f e n d i m e n s i o n n i c h t m e h r m e c h a nisch in die Zwischenfläche versetzt wird, sondern daß in immer ausgebreiteterer Weise ihre wirkliche perspectivis c h e D a r s t e l l u n g , j e d o c h n u r d e r v o l l e n Ve r k ü r z u n g , a l s o d e r e i n f a c h s t e n Ti e f e n r i c h t u n g s e n k r e c h t a u f d i e B i l d f l ä che versucht wird. Der theoretische Gehalt, der sich darin birgt, kann folgendermaßen begrenzt werden: Wenn irgend ein Körper von einer Seite her gesehen wird, so können zu gleicher Zeit nicht alle Theile desselben wahrgenommen werden, sondern einige Theile sind sichtbar and e r e d a g e g e n d u r c h Ve r d e c k u n g d e m B l i c k e e n t z o g e n . III. Periode [fol.] 75. [Beginn der Doppelpaginierung] Der so abgetrennten dritten Periode gehören sämmtliche Werke der spätes­ ten griechisch-römischen Kunst an und dann wieder die Werke des späteren

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Mittelalters bis ins Zeitalter der Renaissance, in welcher zum ersten Male das letzte Ziel erreicht wird.

Das volle Bewußtsein der ganzen Thätigkeit zu gewinnen und in einem

Grundgedanken zusammenzufassen, aus dem sich eine sichere Methode des perspectivischen Zeichnens jeder beliebigen Stellung eines Körpers ergeben hätte, war den Alten versagt. Sie konnten die in der Natur gelegene gemeinschaftliche Ursache aller dieser Erscheinungen nicht in vollendeter Deutlichkeit erkennen.

Die Möglichkeit auch

[fol.] 76. diese Einsicht in den innersten Zusammenhang des Ganzen zu gewinnen wäre vorhanden gewesen. Optik und Geometrie waren dazu hinreichend ausgebildet, indem zur Aufstellung des perspektivischen Grundgedankens nur wenig bekannt zu sein braucht, nämlich nur der Begriff von Körper und Fläche und die geradlinige Fortpflanzung des Lichtes, Dinge, welche den Alten längst bekannt waren und so kann man nicht zweifeln, daß sie auch diese schöne Erfindung noch gemacht hätten, wenn ihnen der Gang der Geschichte Zeit dazu gelassen hätte. So aber wurde der Baum schon gefällt, ehe auch diese Frucht noch ihre Reife erlangt hatte.

Es erging dabei der griechisch-römischen Kunst nicht anders, wie schon

früher der ägyptischen oder assyrischen nur mit dem Unterschied, daß die Weiterbildung der Kunst dieser ältesten Kulturvölker schon auf einer früheren Stufe mit dem Falle des Staates auch ihr Lebensende erreicht hatte. [fol.] 77. Der griechisch-römischen Kunst war es zwar beschieden viel weiter zu gelangen, aber die letzte Vollendung des Ganzen zu erreichen war auch ihr versagt und dem Zeitalter der Renaissance vorbehalten.

Zur Zeit der römischen Kaiser kam es am Gebiethe der Zeichenkunst zu-

erst zum Stillstand und darauf rasch zu sehr bedeutenden Rückschritten.

Die bereits große Anzahl perspectivisch richtiger Verkürzungen,24 ferner

die zahlreichen, sowohl im Charakter als auch im Rhythmus sehr sinnvoll

24 [Sitte scheint sich hier auf perspektivische Darstellungen antiker Wanddekorationen zu beziehen, wie beispielsweise in Pompeji, in der Domus Aurea oder im Haus beim Apollon-Tempel auf dem Palatin, wo die Konvergenzlinien der Scheinarchitekturen zur Mittelachse fluchten.] Autograph, ohne Titel (o.J.) – Teil I: Über Gesch[ichte] des Persp[ektivischen] Zeichn[en]s

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­erfundenen Stellungen und Gruppierungen schrumpfen sehr bald auf wenige Typen zusammen, ohne jedoch gänzlich zur allerersten Anfangsstufe herabzusinken. [fol.] 78. Die Kunst der Verfallsperiode macht nämlich nicht ganz denselben Weg in umgekehrter Folge wieder zurück, den die früheren Perioden aufwärtsgestiegen sind. Es gehen nur eine Anzahl Errungenschaften schnell nach einander wieder verloren und an deren Stelle treten wieder die älteren Darstellungsarten ohne Verkürzung mit allen den mannigfaltigen Verdrehungen und Umklappungen. Andere Errungenschaften der spätesten Entwicklungsstufe der Zeichenkunst vermögen sich aber zu halten, und hierin erhalten sich Merkmale, welche diese Periode in deutlicher Weise als eine Zeit des Verfalles charakterisiren und von den primitiven Perioden des allmäligen Aufsteigens unterscheiden. Ein Beispiel hierfür bietet die Zeichnung des Kopfes in Frontalansicht und im Viertelprofil wie sie fast als einzige Art der Darstellung auf den Zeichnungen der ersten christlichen Jahrhunderte vorkommt. Die einzelnen Theile ganzer Figuren sind alle unverkürzt, wie an den ältesten ägyptischen Figuren, die Gestalt selbst aber in ihrer Totalität nicht von der Seite sondern mit gleicher Allgemeinheit von vorne gesehen. Diese Stellung und besonders das dabei vorkommende Viertelprofil sind Rudimente der spätrömischen Kunst. Die im Werden begriffene uranfängliche Kunst zeichnet den Kopf nur im Profil. Darauf erscheint zwar schon in Ägypten und Niniveh, aber sehr vereinzelt, die vollständige Frontalansicht. Halbprofil, Viertelprofil und DreiviertelProfil sind aber erst Errungenschaften einer späteren Periode. [fol.] 79. Diese treten erst auf, nachdem eine gewisse Sicherheit im perspectivischen Sehen schon erreicht ist.

So ist denn die enorm zahlreiche Anwendung des Viertelprofiles in den

Mosaiken der Sophienkirche und von Mon Reale bei Palermo und an allen anderen gleichzeitigen Kunstwerken bei sonst ganz einförmig steifer Figur ein Denkzeichen einer vorhergegangenen weit höheren Entfaltung der

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­Zeichenkunst.25 Dasselbe gilt von den in vollständiger Verkürzung vorkommenden Oberschenkeln sitzender Figuren, verkürzten Unterarmen, der Fältelung des Gewandes und vielem Anderen. Im Ganzen hat die Zeichenkunst in der Zeit, welcher die eben genannten beiden, auf das pomphafteste ausgestatteten Kirchenbauten angehören, den niedersten Stand in ihrer retrograden Bewegung erreicht. Von hier aus steigt sie langsam wieder empor bis sie beiläufig in der ersten Hälfte des 15ten Jahrhunderts26 wieder auf dem Standpunkte anlangte, auf dem sie bereits vor mehr als tausend Jahren in Pompeji gewesen.

Dießmal sollte aber der stetige Fortschritt nicht mehr gehemmt werden,

sondern [fol.] 80. die endliche Erreichung einer deutlichen Erkenntniß des innersten Zusammenhanges gelingen.

Bei Schilderung der hieher gehörigen Vorgänge soll wieder von der Dar-

stellung der menschlichen Figur ausgegangen werden.

Zunächst ist es wieder die Verkürzung einzelner Körpertheile, welche im

Anschluß an ältere Bestrebungen die Künstler beschäftigt. Jetzt ist es aber nicht nur die volle Verkürzung, sondern die schwierigeren Halb- und Viertelverkürzungen, deren Darstellung versucht wird. Die Methode nach der hiebei verfahren wird, ist in Fig. 52 ersichtlich gemacht. In dieser Figur ist a die Darstellung des Originales. b enthält diejenigen Bestandtheile, welche der Frontalansicht angehören; während c diejenigen Bestandtheile des 25 [Die Hagia Sophia in Konstantinopel (heute Istanbul) wurde 532–537 errichtet. Viertelprofildarstellungen zeigen beispielsweise die unter Kaiserin Zoe (1028–50) entstandenen Mosaikpaneele in den Galerien (siehe die Darstellungen von Kaiser Konstantin IX. Monomachos und von Kaiserin Zoe). Der Dom in Monreale, 1174 im Auftrag des Normannenkönigs Wilhelm II. (1166–1189) begonnen, erhielt nach 1177 eine den gesamten Innenraum schmückende Mosaikausstattung in byzantinisierendem Stil. Die von Sitte angesprochenen Viertel- bzw. Dreiviertelprofile finden sich auf nahezu allen Mosaikfeldern (siehe beispielsweise „Pfingstwunder“ und „Fußwaschung“).] 26 [Der Florentiner Architekt Filippo Brunelleschi (1377–1446) gilt als Erfinder der Zentralperspektive, Masaccios (1401–1428) um 1425 gemaltes „Trinitätsfresko“ in S. Maria Novella in Florenz als erstes bedeutendes zentralperspektivisch konstruiertes Bild. 1426 entstand Donatellos perspektivische Reliefdarstellung des „Herodesmahls“ (Siena, S. Giovanni). Die ersten überlieferten perspektivischen Zeichnungen entstanden 1435/36 im Zusammenhang der dreibändigen Della pittura von Leon Battista Alberti (1404–1472).] Autograph, ohne Titel (o.J.) – Teil I: Über Gesch[ichte] des Persp[ektivischen] Zeichn[en]s

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­Originales enthält, welche der reinen ganzen Profilansicht entsprechen. Dabei sind die Bestandtheile des Originales in Strichen angegeben während die dazugehörige Ergänzung durch punktirte Linien ersichtlich gemacht ist. Profilansicht und Frontalansicht sind diejenigen Ansichten, welche dem Auge und der Hand des Künstler[s] geläufig sind. Nun versucht er es von diesem Standpunkt seiner Zeichenkunst aus ein Dreiviertelprofil zu bilden. [fol.] 81. [Auf der rechten Seite ist ein knapp 8 cm breiter Streifen abgetrennt, der als fol. 85 verwendet wurde.] Die richtige perspectivische Ansicht vermochte er nicht zu treffen.

Der Künstler vermengt also unwillkürlich die Bestandtheile von b und b

indem er bald hier bald dort ändert bis ein gewisses Gleichgewicht und eine beiläufige Darstellung der gewünschten Ansicht in a erreicht wird.

Bezeichnend ist besonders das unvermittelte Ende der Linien des fron-

talen Auges in der Profilcontur. Diese Zeichnung ist trotz aller Mühe, die sie dem Künstler gekostet haben mag dennoch durchaus falsch, es ist an der ganzen Zeichnung auch nicht ein einziger Strich, welcher perspectivisch richtig wäre. Diesem Umstand ist es auch zuzuschreiben, warum dieser Kopf so sehr den Eindruck des Mühevollen, Erzwungenen macht, welcher Eindruck allen Bildern dieser Zeit anhaftet.

Die zu bewältigende Schwierigkeit war für die darstellende Kraft eine

noch viel zu große; [fol.] 82. [Letzte Seite der Doppelpaginierung] der Fehler ist noch immer der alte, nur kehrt er in feinerer Form wieder. Wenn sich früher die volle Verkürzung in auffallender Weise gar aus Bestandtheilen zweier entgegengesetzter Ansichten zusammensetze, so stehen die Richtungen dieser entgegengesetzten Ansichten um einen Winkel von 180° von einander ab. Die Frontalansicht und Profilansicht aus denen sich nun das Halbprofil zusammensetzt divergieren nur mehr in einem Winkel von 90°. Ebenso ließen sich eine Menge Beispiele anführen bei welchen sich das Viertelprofil aus dem Halbprofil und der Frontalansicht, oder das Dreiviertelprofil aus Profil und Halbprofil combiniert, die Nachbarstellungen, welche in diesen Fällen die Elemente zur Zusammensetzung liefern sind dabei nur mehr durch einen

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Winkel von 45° von einander getrennt. Alle Zeichnungen dieser Übergangsperiode weichen in dem angegebenen Sinne von der richtigen Darstellung ab. Jede Zeichnung dieser Zeit ist ein Beispiel zu der angegebenen Regel. Aus der Summe dieser Beispiele sollen nur noch einige der interessantesten angeführt werden. Das Gewaltsame, Gezwungene haftet unter anderem in deutlicher Weise auch an den bereits früher entworfenen Figuren Signo­ rellis27. Die Schwellungen der Muskel sind alle zu stark, wodurch das Ansehen ein knopfiges wird, als ob unter der Haut harte Knollen statt elastischer schmiegsamer Muskeln lägen. Es ist dieß nichts anderes als eine Wirkung des Zeichnens nach wahren Dimensionen statt nach verkürzten. Die nach vorne heraustretenden Muskelschwellungen erscheinen hier nach seitwärts in die Hautfläche umgeklappt, wie in alten Landkarten die Gebirgszüge.

Der Hang an die Stelle der perspektivischen Verkürzung die wahren Di-

mensionen zu substituiren macht sich fortwährend geltend, und immerwährend ist der Zeichner in Versuchung einem Fehler in diesem Sinne zu verfallen. Bemerkenswert ist in dieser Hinsicht der Rand des unteren Augenliedes in Fig. 53. Bei einer Neigung des Kopfes nach oben geht die Krümmung dieses Liedrandes, welche in Frontalansicht nach abwärts concav erscheint, in eine nach oben gebogene Linie über. In dieser Art ist die Darstellung des rückwärtigen Auges in Fig. 53 richtig. In demselben Kopf aber das vordere Auge im Sinne der frontalen Ansicht mit nach abwärts gekrümmten Unterliedrand. Dieselbe Verlockung zu einem Zeichenfehler besteht bei den Augenbrauen. In frontaler Sicht erscheinen sie nach oben gebogen. In einer Verkürzung [fol.] 83. des Gesichtes von oben her gesehen, aber nach unten gekrümmt. An Stelle dieser letzteren Krümmung erscheint wieder häufig die der Frontalansicht entlehnte Krümmung nach oben. So an einer Soldatenfigur im Kindermord Rafaels.28

27 [Luca Signorelli (um 1450–1523), in Arezzo Schüler Piero della Francescas und beeinflusst von Florentiner Künstlern wie Ghirlandaio und Pollaiuolo, erlangte besondere Meisterschaft bei der Darstellung des nackten Menschen in Bewegung. Sein um 1504 vollendetes Hauptwerk der Freskenausstattung des Doms von Orvieto zeigt dicht gedrängte, auf Michelangelo voraus weisende Figurenkompositionen, die ein intensives anatomisches Interesse erkennen lassen.] 28 [Im Gegensatz zum weitaus größten Teil der druckgraphischen Arbeiten nach Raffael, die seine Altarbilder, Fresken und Tapisserien reproduzierten, ist der um 1513/15 von Marcantonio Raimondi gestochene und in den nachfolgenden Jahrhunderten vielfach wiederAutograph, ohne Titel (o.J.) – Teil I: Über Gesch[ichte] des Persp[ektivischen] Zeichn[en]s

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In Köpfen, welche halb von rückwärts gesehen dargestellt sind, so daß die Nase größtentheiles durch die Wange verdeckt erscheint, wird die Nase mit Vorliebe zu viel sichtbar gezeichnet, im Sinne des einfachen Profilkopfes.

Alle diese Fehler sind Abweichungen vom Richtigen immer in demselben

Sinne, nur die Stärke dieses Fehlers ist in stetiger Abnahme begriffen.

Fig. 54 ist ein Kopf aus einem mit 1485 datierten Bild von Pollajnolo29.

Der Kopf ist in sehr schwieriger Stellung gezeichnet. Die Contur der Stirne z.B. verläuft unmittelbar ober den Augenbrauen in einem Bogen nach rechts in vollständigstem Wiederspruch mit der gewöhnlichen Frontal- oder Profilansicht, und dennoch meint man die ganze Breite und Höhe der Stirne zu sehen. In gleicher Weise sind die übrigen Theile des Gesichtes wunderbar richtig dargestellt, nur das Ohr ist wieder frontal eingezeichnet. Hier hat den Künstler einen Moment seine Aufmerksamkeit verlassen und allsogleich macht sich der Einfluß der unperspectivischen Gestalt geltend. [fol.] 84. [Das Blatt ist nur zur Hälfte beschrieben] Das Verfahren, welches dabei unwillkürlich zur Geltung kam ist die alte Methode des Zusammenstückelns.

Außer dieser ist nur noch eine zweite Methode zu verzeichnen, welche

ebenfalls an sich falsch ist, auf welche aber die Künstler der letzten Zeit, unmittelbar bevor das Räthsel der Perspective endgültig gelöst wurde, verfielen um ganze Figuren oder überhaupt Gruppen von einzelnen Theilen gemeinschaftlich in Verkürzung zu zeichnen.

Ein Beispiel dieser Art ist der in Fig. 55 analysierte Kopf des Hl. Hieronimus

von Benozzo Gozzoli30.

holte „Bethlehemitische Kindermord“ ausschließlich für den Kupferstich entworfen. Wie in einem Programmbild zeigt Raffael hier die künstlerische Beherrschung von Anatomie, Komposition, Perspektive und Dramatik. Die von Sitte beobachteten Veränderungen von Augenlid bzw. Augenbrauen bei Unter- bzw. Draufsicht des Kopfes lassen sich an beiden Soldatenfiguren links bzw. rechts außen nachvollziehen.] 29 [Der von Sitte genannte Kopf Antonio Pollaiuolos (um 1432–1498), der zunächst in Florenz, ab etwa 1490 in Rom als Maler, Kupferstecher und Bildhauer tätig war, lässt sich nicht eindeutig nachweisen. Viele seiner Werke zeigen – bei aller Statuarik der Figuren – komplizierte Kopf- und Körperhaltungen und belegen Pollaiuolos besonderes Interesse an der medizinischen Anatomie.] 30 [Der besonders in der Toskana und in Rom tätige Benozzo Gozzoli (1420–1497), der narra-

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[fol.] 85. [Das Blatt entspricht dem von fol. 81 herausgeschnittenen Streifen] a ist wieder Copie des Originales. b die ziemlich richtige Darstellung der Hauptlinien des Kopfes mit Einzeichnung des richtigen Details. c das Gesicht ist wieder der Frontalansicht entnommen. Weil aber der Umfassungsraum des Gesichtes ziemlich richtig verkürzt ist, die Nase aber nicht auch in Verkürzung eingezeichnet wurde, sondern in dem wahren Verhältniß zwischen Länge und Breite, deßgleichen Augen und Mund, so entsteht eine falsche Verschmälerung aller dieser Theile, so daß sie thatsächlich einem in kleinerem Maßstab gezeichneten Kopf, wie in c angehören. Dieser Fehler, daß nämlich in eine ziemlich richtig verkürzte Gesammtmasse, das kleinere Detail in beiläufiger Frontalansicht eingezeichnet wird, und daher, um mit der einen verkürzten Gesammtlänge auszureichen, in allen Theilen gleichmäßig verkleinert wird, kommt außerordentlich häufig vor. [fol.] 86. Bei Gesichtern von derselben Stellung wie in Fig. 54 sind die einzelnen Theile Nase, Augen, Mund oft sogar in der richtigen Breite gehalten, der Form nach aber doch der Frontalansicht entnommen, so zwar, daß in einer solchen fehlerhaften Verkürzung eigentlich die frontalen Gesichtstheile gleichsam nur von oben nach unten zusammengepreßt und nach rechts und links auseinandergezogen erscheinen wie unter der Wirkung eines cylindrischen Spiegels. Sehr häufig ist derselbe Fehler bei Zeichnung verkürzter Arme und Beine, bei welchen die Verkürzung der ganzen Körpermasse gelungen, aber die Muskulatur unrichtig im Sinne der frontalen Ansicht eingezeichnet wird.

Dieses Z u s a m m e n s c h i e b e n d e r T h e i l e ist bei aller Fehlerhaftig-

keit doch ein weiterer Fortschritt zum perspektivischen Zeichnen. Es kommt der Zeit nach erst viel später vor als die früher angegebene Methode des Zusammenstellens aus verschiedenen Nachbarstellungen. tive, mit realistischem Detailreichtum ausstaffierte Kompositionen schuf, wählte mehrfach das Hieronymus-Thema: 1452/53 in der Ausstattung der Capella di San Gerolamo in San Francesco in Montefalco, wo zahlreiche Szenen aus dem Leben des Heiligen dargestellt sind und 1462/63 für ein Altarbild der Compagnia di Santa Maria della Purificazione e di San Zanobi, auch bekannt als Compagnia di San Marco, dessen Predella-Teil mit dem Hl. Hieronymus heute in der Londoner National Gallery aufbewahrt wird (die anderen vier Teile befinden sich in Mailand, Berlin, Washington D. C. und Philadelphia).] Autograph, ohne Titel (o.J.) – Teil I: Über Gesch[ichte] des Persp[ektivischen] Zeichn[en]s

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[fol.] 87. Diese Art der Darstellung gehört erst der letzten Zeit unmittelbar vor der gänzlichen Bewältigung aller Schwierigkeiten des perspektivischen Zeichnens an.

Das Fehlerhafte in ihr ist wieder ein Abweichen vom Richtigen im Sinne

der unverkürzten Frontalansicht. Derlei Fehler häufen sich immer mannigfaltiger und vielgestaltiger je mehr die Entwicklung ihrem Schlusse zueilt und je complicirtere Stellungen von den Künstlern versucht werden.

Ein sehr eigenthümlicher und häufiger ist der, daß verkürzte Gliedma-

ßen immer zu dünn gezeichnet werden. z.B. von zwei Oberarmen ein und derselben Figur ist der verkürzte dünner als der nicht verkürzte. Der psychische Vorgang, welcher diesen constanten Fehler veranlasst scheint folgender zu sein. Sobald die Verkürzung der Längendimension des Oberarmes in der Zeichnung fixiert ist, macht sich unwillkürlich wieder der Einfluß der nicht verkürzten Form geltend und die Dicke des Oberarmes wird in ihrem Verhältniß zur bereits gezeichneten Länge desselben gewählt so, daß das Verhältnis der Dicke zur Länge das durch keinerlei Perspective gestörte Verhältniß der wahren Dicke zur wahren Länge wird. Die Länge des Oberarmes hat sich durch die bereits angenommene Verkürzung verringert und nun wird fälschlich auch die Breite verringert, damit wenigstens das Verhältniß beider zueinander dem wahren Sachverhalte entspricht. [fol.] 88. Dieß sind die wichtigsten Erscheinungen im figuralen Zeichnen, welche hier zu einer dritten Entwicklungsstufe zusammengefaßt sind. Hierdurch sind die wesentlichsten Erscheinungen am Gebiethe des figuralen Zeichnens erschöpft, aber auch auf dem Gebiete des architektonischen und landschaftlichen Zeichnens findet in dieser dritten Periode eine bedeutende Umwälzung statt. In dem was erreicht wird und wie es erreicht wird, ist die Entwicklung in der Antike und gegen Ende des Mittelalters wieder vollkommen parallel. Der erste bedeutsame Schritt vorwärts scheint die Einführung des perspectivischen Horizontes in primitivster Form gewesen zu sein. Also der Versuch die Grundfläche perspectivisch darzustellen.

Auf den ägyptischen Bildern ist die Grundfläche entweder durch einen den

Figuren untergesetzten geraden Strich angedeutet oder die ganze ­Bildfläche

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ist selbst die Grundfläche nach Art einer Landkarte, wobei die Zeichnung nach oben gerade so wie nach unten endet, ohne daß das obere Ende des landschaftlichen Grundes eine bereits versuchte Darstellung des perspectivischen Horizontes vertritt. Diese Art der Darstellung reicht bis weit herauf in neuere Zeit. [fol.] 89. So ist, in dem großen Höllenbild des Campo Santo von Pisa, welches lange Orcagna zugeschrieben wurde und in der ganz ähnlichen Darstellung der Hölle von Orcagna in Florenz,31 die Grundfläche noch ganz nach Art einer Landkarte unperspectivisch entworfen.

Neben so spätem Vorkommen eines horizontlosen Grundes kommt eine

andere Art der Darstellung, welche bereits ein Übergangsstadium zur richtigen landschaftlichen Darstellung der Grundfläche bildet, zahlreich im Mittelalter vor. Auf den pompejanischen Landschaftsbildern ist der Horizont schon deutlich ausgedrückt und bereits eine starke perspectivische Vertiefung der Grundfläche erreicht. Seine ersten Spuren zeigen sich aber schon auf assyrischen Darstellungen, nämlich auf denjenigen Bildern, auf welchen die noch landkartenartig gezeichnete Grundfläche oben mit Thürmen und Festungsmauern bekrönt ist, über denen sich kein Land sondern nunmehr Luft befindet.

In dieser Art der Zeichnung macht der Grund häufig den Eindruck einer

nach rückwärts aufsteigenden Fläche, und es ist möglich daß in den Polygnotischen Gemälden die Grundfläche in ähnlicher Weise dargestellt war.32

31 [Die Zuschreibung des Mitte des Trecento entstandenen und im II. Weltkrieg sowie durch Natureinflüsse teilweise zerstörten „Höllenbildes“ im Campo Santo in Pisa (die abgenommenen Reste befinden sich heute im dortigen Museo della Sinopie) ist bis heute nicht eindeutig geklärt. Andrea Orcagna, eigentlich Andrea di Cione (um 1308–1368), malte zwischen 1350 und 1360 in S. Croce in Florenz den nur mehr fragmentarisch erhaltenen „Triumph des Todes“ und „Die Hölle“. Das Hauptwerk seines älteren Bruders Nardo (in Florenz nachweisbar von 1343–1365) bilden die um 1350–1355 entstandenen und von Dantes Commedia angeregten Fresken „Hölle“, „Paradies“ und „Jüngstes Gericht“ in der Capella Strozzi in S. Maria Novella in Florenz.] 32 [Der griechische Maler Polygnot (Polygnotos) aus Thasos schuf um 480–440 v. Chr. bedeutende Wandbilder in Delphi und Athen, über die wir durch Beschreibungen unterrichtet sind. Eine vage Vorstellung geben einige Vasenbilder: Die in Gruppen geordneten Figuren waren gestaffelt auf der mit landschaftlichen Versatzstücken ausstaffierten Fläche verteilt.] Autograph, ohne Titel (o.J.) – Teil I: Über Gesch[ichte] des Persp[ektivischen] Zeichn[en]s

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Bei den Werken dieser Art befindet sich der Horizont hoch am obern Rand des Bildes, er ist aber noch nicht die Verschwindungslinie der in unendlicher Tiefe verlaufenden [fol.] 90. Grundebene, sondern diese ist unverkürzt dargestellt und nur oben im Sinne einer Horizontdarstellung willkürlich abgebrochen. Erst allmälig entwickelt sich aus dieser primitiven Art der Zeichnung eine richtigere Perspective des landschaftlichen Grundes zunächst durch verkleinerte Darstellung der Gegenstände des Hintergrundes. Damit hängt dann von selbst schon der weitere Fortschritt zusammen, daß gerade in die Tiefe laufende Linien bereits geneigt, also nicht wie es in Wahrheit der Fall ist, parallel gezeichnet werden. Dieser Umstand verleiht besonders allen Darstellungen architektonischer Gegenstände ein ganz neues Ansehen und es ist dieß ein erster Schritt zur Auffindung des Verschwindungspunktes.

Unzählige Beispiele dazu bieten die pompejanischen Malereien, die rei-

chen Darstellungen an der Trajanssäule, an den römischen Triumphbogen33 und endlich in noch viel vollkommenerer ununterbrochenerer Folge die Darstellungen des 12., 13. und 14., selbst noch 15. Jahrhunderts.

Zunächst werden die Linien welche nahe am Boden in die Tiefe verlaufen

schräg nach oben gezogen.

Untereinander aber werden sie noch im Sinne des wahren Sachverhaltes

parallel gezeichnet, wie sie es wirklich sind, und noch nicht convergirend, wie sie gesehen werden. Siehe Fig. 56. [fol.] 91.

Ebenso werden hochgelegene Linien z.B. Gesims- und Dachlinien von

Gebäuden schräg nach abwärts gezogen, aber gleichfalls untereinander ­parallel. Dieser unperspectivische Parallelismus erscheint an sehr nahen Linien noch bis Ende 16tes und bis ins 17. Jahrhundert und zwar nicht nur an 33 [Die Reliefbilder der 113 n. Chr. errichteten Ehrensäule des Kaisers Trajan in Rom zeigen in einer großen Bilderchronik Szenen der 101–102 und 105–106 n. Chr. geführten Kriege Trajans gegen die Daker. Berühmt sind auch die Reliefs der Wangenmauern im Durchgang des Titusbogen (81 n. Chr.), die den „Triumph des Kaisers“ bzw. den „Abtransport der Beute aus dem Salomonischen Tempel“ darstellen. Beide Exempel vermitteln eine lebendige Raum- und Bewegungsvorstellung.]

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Meisterwerken sondern sogar in den besten Perspectivbüchern z.B. in dem hervorragenden Werk des Lorenzo Sirigatti von 159634. Der Fehler beschränkt sich aber immer mehr und mehr auf kleineres und endlich kleinstes Detail, während weit auseinanderstehende Linien bei fortschreitender Entwicklung eine immer deutlichere und immer regelmäßiger werdende Convergenz zeigen. Zuletzt vereinigen sich diese aufwärts und abwärts geneigten und convergierenden Linien in einem einzigen Punkt dem so auf practischem Wege gefundenen Verschwindungspunkt.

Ob der Verschwindungspunkt schon den Alten bekannt war ist sehr frag-

lich. Die Stelle bei Vitruv und die wenigen anderen Hiehergehörigen lassen, wie später gezeigt werden soll, auch noch eine andere Deutung zu und die Monumente scheinen dem sogar direct zu wiedersprechen. Auf den pompejanischen Bildern nämlich laufen die Linien stets regellos zusammen in den verschiedensten Schnittpuncten und nur wie zufällig findet sich zuweilen ein kleines Detail an dem sich wirklich mehrere Linien in einem Puncte schneiden. Die Zufälligkeit [fol.] 92. solcher vereinzelter Fälle gewinnt sehr an Wahrscheinlichkeit, durch Vergleichung mit den frühen Werken der Renaissance. Sobald nämlich hier, es ist dieß um die Mitte des 15 ten Jahrhunderts, der Verschwindungspunkt als neue Erfindung auftaucht,35 wird er alsbald von allen Künstlern überall verwendet.

Durch diese Vorgänge wird die Zeichnung von geraden Linien allmälig

eine immer richtigere.

34 [Sirigatti, Lorenzo: La pratica di prospettiva. Venedig: Girolamo Franceschi Sanese 1596. Englische Ausgabe von Isaac Ware: The practice of perspective. London: T. Osborne 1756.] 35 [Die Erfindung des Fluchtpunkts – von Sitte als „Verschwindungspunkt“ bezeichnet – und damit der Perspektivkonstruktion wird dem Florentiner Architekten und Bildhauer Filippo Brunelleschi (1377–1446) zugeschrieben. Nur mehr durch Schriftquellen überliefert sind seine perspektivisch gemalten Tafeln des Baptisteriums und des Palazzo Vecchio in Florenz, die lange um 1425 datiert wurden, in der jüngeren Literatur um 1413 angesetzt werden. Wichtige Anregungen zu diesen Bildexperimenten dürfte Brunelleschi von den gängigen optischen Messtechniken des Mittelalters erhalten haben, die teilweise mit dem im 7. Buch von Ptolemäus’ (um 100–um 175) Kosmografie beschriebenen Kartierungsverfahren in Zusammenhang stehen.] Autograph, ohne Titel (o.J.) – Teil I: Über Gesch[ichte] des Persp[ektivischen] Zeichn[en]s

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Größere Schwierigkeiten waren bei Zeichnung regelmäßiger krummer Linien zu überwinden und diese werden daher auch noch an späteren Werken falsch gezeichnet, an denen die geraden Linien bereits richtig dargestellt sind. Dieß betrifft vor allem die an Architecturen häufig vorkommenden Kreislinien. Das perspectivische Bild einer in ihrer Ebene gegen die Tiefe zu geneigten Kreislinie ist die Ellipse. Das Auffälligste dieser perspectivischen Gestalt des Kreises ist der Längenunterschied zwischen ihrer großen und kleinen Axe. Die kleine Axe ist die Verkürzung eines in die Tiefe laufenden Durchmessers des Kreises, während die lange Axe bei oberflächlicher Betrachtung der unverkürzte, mit [fol.] 93. der Bildebene parallele Durchmesser zu sein scheint. Als das scheinen sie wenigstens die alten Maler angesehen zu haben, und es wäre daran wenig gelegen gewesen, aber eine andere wesentliche Eigenschaft der perspectivischen Ansicht des Kreises wurde übersehen und daraus entstand die allgemein übliche Art den Kreis darzustellen wie es aus Fig. 37 b ersichtlich. Es wurde nämlich nicht bemerkt, daß die scheinbare Krümmung verschiedener Stücke eines in Verkürzung gesehenen Kreises eine verschiedene ist, daß sie bei 1 und 2 in Fig. 37 a am größten und bei 3 und 4 am kleinsten ist. Sondern statt dessen schaltete sich wieder die wahre Gestalt ein, welche sagt, daß die Kreislinie eine stets gleiche Krümmung besitzt. So ist es auch hier wieder die wahre Form, welche das Zustandekommen einer richtigen Perspektive gleich auf den ersten Wurf verhindert und eine nur theilweise Erreichung des Zieles gestattet. Der auffälligere Theil, nämlich die scheinbare Zusammendrückung des Kreises ist bereits gelungen. Das feinere Detail, die Krümmung der Linie, ist noch verfehlt. Diese Form kommt noch vor bei Fiesole, Ghiberti, Verocchio, Scheuffelein und ihren Zeitgenossen,36 in noch früherer Zeit natürlich ausnahmslos. Auf antiken Werken z.B. pompejanischen Malereien kommt sie

36 [Sitte verweist hier auf bedeutende Künstler der Frührenaissance: Fra Giovanni da Fiesole, bekannt als Fra Angelico (um 1387–1455), italienischer Maler und Dominikaner im Kloster von Fiesole; Lorenzo Ghiberti (1378–1455), Florentiner Bildhauer, Erzgießer und Goldschmied; Andrea Verrocchio (1435–1488), italienischer Bildhauer, Maler und Goldschmied; Hans Schäufelein (um 1480–1540), deutscher Maler und Zeichner für den Holzschnitt.]

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[fol.] 94. bereits gemischt mit richtiger elliptischer Darstellung vor. Fast durchgängig unrichtig bis auf den heutigen Tag werden stehende Bogenstelllungen, welche in die Tiefe verlaufen, gezeichnet. Die lange Axe der Ellipse, welche hier als perspektivisches Bild auftritt ist nämlich nicht senkrecht stehend, sondern scheint geneigt wie in Fig. 58. Dieß ist ein noch tiefer verborgener Wiederstreit mit der frontalen Ansicht und kann daher selbst einen tüchtigen Zeichner noch irre führen, wenn er aus freier Hand arbeitet und die Mühe scheut eine hinlängliche Anzahl Punkte dieser Linie auf geometrischem Weg sorgfältig zu construiren. Noch andere Fehler sind Abweichungen in demselben Sinne. z.B. Wenn eine in die Tiefe gehende Strecke halbirt ist, so wird die vordere Hälfte größer als die rückwärtige erscheinen. Dieß wird öfter übersehen und die Halbirung auch zu gleichen Theilen im perspectivischen Bilde vorgenommen. Dann: Die fallenden Linien der Architektur werden nicht sogleich auch auf die danebenstehenden Figuren angewendet und überall mangelt es an Einheit des Augpunktes.

Im Ganzen ist gegen Ende dieser Übergangsperiode auf vielen Bildern

Richtiges und Falsches bunt durcheinander gewürfelt. Dieser Anblick macht ganz den Eindruck als ob den Künstlern während ihrer Arbeit von Zeit zu Zeit die Kraft ausgegangen wäre, sich in der hoch angespannten Aufmerksamkeit zu erhalten, welche ihnen nöthig war um ohne den Besitz einer einfachen allgemeinen verwendbaren Methode aus bloßer anschauender Beobachtung heraus richtig zu zeichnen. [fol.] 95. Dieser dritten Periode gehören die letzten Zwischenstationen am Wege zum richtigen pers p e k t i v i s c h e n Z e i c h n e n a n . Es sind dies die Darstellung von Halb- Viertel- und Dreiviertel-Profilen.

Ferner

die

Ve r s u c h e

zu

gleichzeitiger

Ve r k ü r z u n g m e h r e r e r i n e i n e G r u p p e z u s a m m e n g e f a ß t e r ­T h e i l e , u n d e n d l i c h d i e j e n i g e n B e s t r e b u n g e n a m G e b i e t e der

landschaftlichen

und

architektonischen

Zeichnung,

w e l c h e e n d l i c h z u r A u ff i n d u n g d e s Ve r s c h w i n d u n g s p u n k t e s und zur Darstellung des Horizontes führten. Auch hier besteht das Falsche der Zeichnung in einer Abweichung der Form im Sinne der ursprünglichen Frontalansicht mit ihren wahren Dimensionen. Autograph, ohne Titel (o.J.) – Teil I: Über Gesch[ichte] des Persp[ektivischen] Zeichn[en]s

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Die Methoden, nach welchen die Bildung der Formen vor sich geht, sind noch immer falsch.

Eingeteilt können sie etwa in folgender Weise werden:

[Die drei folgenden Punkte sind, mit Ausnahme der in Klammer stehenden Texte, unterstrichen.] I. Methode. Es vereinigen sich die Elemente zweier bereits bekannter Stellungen zur Bildung einer zwischen ihnen liegenden Stellung des Halb- Viertelo d e r D r e i v i e r t e l - P r o f i l e s . (Beisp. Fig. ) II. Methode. Die Elemente der frontalen Ansicht setzen sich mit Elementen der verschiedensten perspectivischen A n s i c h t e n z u s a m m e n . (Beispiel: Unterer Augenliedrand, Bildung der Augenbrauen, von oben gesehene Köpfe, knollige Muskulatur etc.) III. Methode. Einzelne Theile werden zum Behufe ihr e r G e s a m t v e r k ü r z u n g n u r z u s a m m e n g e s c h o b e n . Beispiel: Fig. etc.

I V. P e r i o d e [fol.] 96. Besonders in den letzten Werken dieser Periode glaubt man einen ungemein starken Drang, ein gewaltsames äußerst angestrengtes Suchen zu verspüren; und in der That ist das deutliche Bewußtsein unverkennbar, daß es nicht genüge die menschliche Figur und ihre einzelnen Theile oder was immer für leblose Gegenstände nur in einer beschränkten Zahl von Stellungen schablonenartig zeichnen zu können, sondern daß es möglich werden müsse, jeden beliebigen Gegenstand in jeder beliebigen Stellung zu zeichnen. Diese Überzeugung ist es, welche die Künstler unablässig antrieb, ihren Figuren die verschiedensten Stellungen zu geben und immer vom Neuen darüber nachzusinnen, was sie denn eigentlich auf ihrer Tafel zu vollbringen vermöchten, [fol.] 97. worin denn ihr Schaffen bestände? Es ist dieß der Drang nach vollständig klarer d.i. auch nach theoretischer Erkenntniß des perspectivischen Problemes. Es handelte sich um das Pflücken einer reif gewordenen Frucht. Alles konnte

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bereits practisch dargestellt werden nur noch nicht mit bewußter Sicherheit aber es schien nicht anderes sein zu können als daß allen diesen mannigfachen Erscheinungen eine einzige einfache Regel zu Grunde läge.

Bei Vasari ist ein Zug dieses Ringens nach Zusammenfassung und Aus-

druck noch erhalten, wo er im Leben P. Ucellos berichtet, daß die Frau dieses Künstlers oft erzählte, wie er ganze Nächte beim Tintenfaß gestanden, um Ausdrücke für perspectivische Zeichnungen zu finden.3 7 A. Dürer wollte nach Bologna reisen, eigens um dort Geheimperspective zu lernen.38 Und mit welch stolzen Worten verkündet L. B. Alberti seine Idee von der zwischen Object und Beschauer aufzustellenden Glastafel in der er allerdings den perspectivischen Grundgedanken zuerst richtig erfaßt und ausgesprochen hat, indem er sagt: … [sic!].39

37 [Vasari, Giorgio: Le vite de� piu eccellenti architetti, pittori et scultori italiani. Florenz: Torrentino 1550 (2. Ausgabe 1568). Deutsche Ausgabe: Leben der ausgezeichnetsten Maler, Bildhauer und Baumeister von Cimabue bis zum Jahr 1567. Aus dem Italienischen von Ludwig Schorn und Ernst Förster, 6 Bde. Stuttgart, Tübingen: I. G. Cotta 1832–1849. Die Vita Paolo Uccellos (1397–1475) mit den Hinweisen auf seine Perspektivstudien in Bd. II, 1, Stuttgart, Tübingen 1837, S. 82ff.] 38 [Formuliert in dem berühmten, 1506 von Albrecht Dürer in Venedig geschriebenen Brief an den Humanisten Willibald Pirckheimer in Nürnberg. Dürers früher Kontakt mit dem Venezianer Jacopo de’ Barbari, die Vertrautheit mit dessen Proportionsstudien und seine erste Italienreise 1494–1495 weckten sein Interesse für die Antike und die neuen Kunst­ ideale der Italiener. Schon bald nach seiner Rückkehr aus Italien dürfte er mit seinen empirisch ausgerichteten Vermessungen des menschlichen Körpers und seinen Perspektivstudien begonnen haben, die Schwerpunkte seiner späteren theoretischen Arbeiten bilden: Underweysung der messung mit dem zirckel und richtscheyt. Nürnberg: Hieronymus Andreae 1525 (Nachdruck Nördlingen: Verlag Dr. Alfons Uhl 2000) und Vier Bücher von menschlicher Proportion. Nürnberg: Hieronymus Andreae 1528. Das umfassende Traktat über Malerei (Speis der Malerknaben), das unvollendet blieb, sollte u.a. Abschnitte über Perspektive, Bewegung und Farbenlehre enthalten. Dürers theoretischer Beitrag zur Zentralperspektive ist in den Schlusspassagen seiner „Underweysung“ enthalten.] 39 [Leon Battista Albertis Anleitungen zur Perspektivkonstruktion, die auf Vorleistungen von Brunelleschi und Masaccio aufbauen und in seiner um 1435/36 verfassten Della Pittura – der ersten neuzeitlichen Abhandlung über Malerei – ausgeführt sind, basieren auf empirisch gewonnenen Einsichten und mathematisch-geometrischen Annahmen. Von der Vorstellung einer rechteckigen Sehpyramide ausgehend, deren Spitze im Auge liegt, vergleicht Alberti das Gemälde mit einem Schnitt durch die Sehstrahlen. Das Bild erscheine wie ein Blick durch eine Glastafel, wie ein „Fenster“ zur sichtbaren Welt. Die Bildfläche solle man sich laut Alberti so vorstellen, als ob sie „gleichsam gläsern und durchsichtig wäre, so dass, wenn der Zentralstrahl und das Licht an ihrem Ort gegenüber in der Luft festgelegt sind, die gesamte Sehpyramdie durch sie hindurchginge“. Deutsche AlbertiAutograph, ohne Titel (o.J.) – Teil I: Über Gesch[ichte] des Persp[ektivischen] Zeichn[en]s

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[fol.] 98. Dieser Drang führte denn in der That zur gewünschten Besiegung aller Schwierigkeiten, hiermit ist aber auch schon eine neue und die letzte Stufe in der Entwicklung der Zeichenkunst erreicht und die Schilderung worin eine solche richtige Zeichnung besteht kann füglich übergangen werden. Nur das Auslaufen der immer mehr in Schwung gekommenen neuen Bewegung muß in wenigen Umrißlinien noch scizziert werden. Im übersprudelnden Eifer des so lang erwarteten und nun erreichten freien Schaffens gelangte man endlich bis zu einer Zertrümmerung aller Grenzen malerischen und architektonischen Gestaltens. Schon in der Schule Giotto’s als es zum erstenmale wieder halbwegs möglich wurde größere architectonische Hintergründe zu bewältigen,40 bemeisterte sich der Maler eine außerordentliche Begierde solche Architekturen massenhaft aufzuthürmen neben welchen die Gestalten an Bedeutung sehr verloren. Besondere Beliebtheit erreichen große hohe Treppenanlagen, wegen ihrer auffälligen Perspectivwirkung und der Möglichkeit verschieden hohe Grundebenen mit Figuren anzubringen. Es bildet sich eine eigene Kaste von Perspectivmalern unter welchen in Italien Agostino della Prospettiva4 1 besonders hervorragt. Er ist thätig zu Bologna um 1525. Peruzzi soll zuerst (nach Vasari) Theaterdecorationen gemalt haben. Nach Lomazzo hat Serlio den Nachlaß Peruzzi zu seinem eigenen Werk verwendet.42 Ausgabe von Janitschek, Hubert (Hg.): Leon Battista Albertis kleinere kunsttheoretische Schriften (= Quellenschriften für Kunstgeschichte und Kunsttechnik des Mittelalters und der Renaissance, Bd. 11). Wien: Braumüller 1877 (Neudruck Osnabrück: O. Zeller 1970).] 40 [Giotto di Bondone (um 1266–1337), der wohl bei Cimabue und Pietro Cavallini lernte und von Giovanni Pisano und der Kathedralplastik des französischen Nachbarlandes beeinflusst war, gilt als Begründer der neuzeitlichen – die byzantinische Tradition überwindenden – Malerei. Zu den Hauptleistungen seines Werkes – u.a. der bedeutende Freskenzyklus in der Arenakapelle in Padua (1304–1306) – gehören die plastische Körperlichkeit und die individuelle Darstellung der Figuren wie auch die Öffnung der Bildfläche in klar überschaubare Kastenräume, die Ansätze zur Perspektive erkennen lassen.] 41 [Agostino delle Prospettive, italienischer Maler, der um 1525 wohl in Bologna tätig war. Antonio di Masini erwähnt ihn in seinem Werk Bologna perlustrata (Bologna: Zenero 1650) als Meister architektonischer Prospekte, dessen Scheinarchitekturen Menschen und Tiere täuschten. Der Künstler wird nicht erwähnt in Malvasia, Carlo Cesare: Felsina pittrice: vite de pittori bolognesi. Bologna: Barbieri 1678.] 42 [Sebastiano Serlio (1475–1554) war von 1514 bis 1527 Assistent Baldassare Peruzzis (1481– 1536) in Rom, der ein Architekturtraktat vorbereitete und seine Vorarbeiten Serlio überließ. Diese von Serlio in seinen Traktaten auch vermerkte Tatsache brachte ihm bei den Zeitgenossen den Vorwurf des Plagiats ein.]

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­Darnach wäre es möglich daß die bei Serlio abgebildeten drei Scenen, scena tragica, comica und satyrica, von Peruzzi herrühren.43 Sie sind bei Rivius44 neuerdings abgedruckt. Als vorzüglichster deutscher Perspectivmaler kann Hans Vredemann45 angesehen werden. Er lebte von 1527 bis 1588. Es war zuerst Glasmaler, dann malte er 1569 in Antwerpen die Triumphbögen zum Einzug Karl V. C. v. Mander erzählt von ihm, daß er Serlio und Vitruv studierte, sich dann der Perspectivmalerei widmete und in die Gemälde niederländischer

43 [Baldassare Peruzzi und Sebastiano Serlio nehmen innerhalb der Geschichte des perspektivischen Bühnenbilds, das in engstem Zusammenhang mit der Wiederbelebung des antiken Dramas in der Renaissance zu sehen ist, einen erstrangigen Stellenwert ein. Auf Vorleistungen Donato Bramantes aufbauend, von dem das älteste erhaltene Bilddokument eines einheitlichen zentralperspektivischen Bühnenbilds für eine Tragödie überliefert ist (um 1495 von Philippe Thomassin als Kupferstich reproduziert), ist erstmals 1508 in Ferrara ein einheitliches perspektivisches Bühnenbild nachweisbar, das von Girolamo Genga und Giovanni da Udine stammte. Serlios drei perspektivische Bühnenbildentwürfe für die drei Formen des antiken Theaters – Tragödie, Komödie und Satyre (Schäferspiel) – wurden erstmals 1545 als Holzschnitte mit ausführlichen Kommentaren in seinem 2. Architekturbuch publiziert: Il Secondo libro d’architettura (Prospettiva), italienischer Text mit französischen Übersetzungen von Jean Martin, Paris: Barbé 1545. Das Traktat behandelt ausführlich Fragen der Geometrie, Perspektive und des Theaterbaus.] 44 [Walther Hermann Rivius (Ryff) ist der Verfasser der ersten deutschen Vitruv-Ausgabe (1548). Er übernahm die drei Bühnenbildentwürfe Serlios zur Illustration von Vitruvs Ausführungen zu den „drei Arten von Dekorationen“ im antiken Theater (Buch 5, Kapitel 7). Vitruvius Teutsch … erstmals verteutscht und in Truck verordnet durch G. Gualtherum H. Rivium Medi. & Math. vormals in Teutsche sprach zu transferiren noch niemand sonst understanden. Nürnberg: Petreius 1548 (Reprint Hildesheim, New York: Olms 1973). Sittes Textpassage steht inhaltlich teilweise in Zusammenhang mit Note 22 des „Zettelkonvoluts“, Blatt NN09.] 45 [Der niederländische Architekt, Architekturtheoretiker und Maler Hans Vredeman de Vries (um 1527–1606), der in Antwerpen, Braunschweig, Hamburg, Danzig und Prag tätig war, gehört zu den einflussreichsten Künstlern der frühen Neuzeit nördlich der Alpen. Mit seinen gemalten und in Stichserien publizierten zentralperspektivischen Architekturphantasien (Straßenfluchten, Säulenhallen, Höfe, Innenräume), die mit niedrigem Fluchtpunkt konstruiert sind, hatte er entscheidenden Einfluss u.a. auf die holländische Kirchen- und Vedutenmalerei des 17. Jahrhunderts. Von besonderer Bedeutung – auch für die frühe perspektivische Deckenmalerei – war seine Scenographiae sive Perspectivae. Antwerpen: Cock 1560 und sein in zwei Teilen erschienenes Lehrbuch Perspective. Leyden: Henricus Hondius 1604/05 (Reprint: New York: Dover 1968; deutsche Ausgabe ebenfalls Leyden 1604/05).] Autograph, ohne Titel (o.J.) – Teil I: Über Gesch[ichte] des Persp[ektivischen] Zeichn[en]s

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Meister die Architektur malte.4 6 Am Grabmal des Juwelier J. Moor47 malte er eine halboffene Thür [fol.] 99. [Das Blatt ist nur zur Hälfte beschrieben.] so täuschend, daß sie für wirklich gehalten wurde und viele Personen in Wetten große Summen verloren.

In seinem Perspectivbuch findet sich auch schon eine Construction von ei-

ner ansteigenden Architectur für Decken oder Gewölbe wie sie später in der Barrocke mit Vorliebe dargestellt wurden, und erst in dem Perspektivbuch von A. Pozzo 1785 weitläufig bearbeitet sind.4 8 Diese Art von Malerei steht aber noch in einer andern Beziehung zur Entwicklung der Perspektive als der eines ergötzlichen Curiosums. Es sind nämlich die neu entwickelten Grundsätze über die Wahl des Augpunktes und des Horizontes, welche hier maßgebend werden. Es ist schon früher erwähnt worden, daß der Horizont, in seiner primitivsten Form sich immer hart am obern Rande des Bildes befindet.

46 [Carel van Mander (1548–1606), ein niederländischer Maler und Kunsthistoriograph verfasste, dem Beispiel Giorgio Vasaris folgend, das künstlerbiographische Werk Het SchilderBoek. Alkmaar 1604 (2. Ausgabe Amsterdam 1616–1618; deutsche Übersetzung von Hanns Floerke nach der Ausgabe von 1617: Das Leben der niederländischen und deutschen Maler (von 1400 bis ca. 1615). Worms: Wernersche Verlagsgesellschaft 1991, S. 272–282 (zu Vredeman de Vries).] 47 [Jacob de Moor, der in Hamburg lebende Spross einer Antwerpener Kaufmannsfamilie, beauftragte Vredeman de Vries in den 1590er Jahren mit drei Gemälden für eine Kapelle in der St. Petrikirche. Das von Sitte genannte „Grabmal“ war laut eingehender Beschreibung in Carel van Manders Schilder-Boeck (1604) in Form einer großen Architekturperspektive gestaltet, mit Christus im Zentrum, „unter dessen Füßen Teufel, Tod und Hölle liegen“. Im unteren Bereich waren in meisterlicher Perspektive zwei halb offen stehende Türflügel gemalt, die – wie van Mander ausführt – Anlass für diverse Wetten gaben.] 48 [Der italienische Maler und Theoretiker Andrea Pozzo (1642–1709), der in Rom und Wien tätig war, gehört zu den bedeutendsten Vertretern der perspektivischen Deckenmalerei der Barockzeit. Weltweiten Einfluss hatte sein berühmtes, in viele Sprachen übersetztes Perspektivtraktat Perspectiva Pictorum et Architectorum, 2 Teile. Rom: Komarek 1693– 1700 (Reprint New York: Dover publication 1989). Lateinisch-deutsche Ausgabe: Der Maler und Baumeister Perspectiv, … 2 Teile. Augsburg: Wolff 1706–1719. Eine von Sitte genannte Pozzo-Ausgabe von 1785 existiert nicht; möglicherweise handelt es sich hierbei – infolge eines Schreibfehlers – um die lateinisch-italienische Ausgabe von 1758.]

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[fol.] 100. Im weiteren Verlauf geht der Horizont constant immer mehr nach abwärts, so zwar, daß er an älteren Werken immer meist oben, an späteren meist unten endlich gar mit Vorliebe unter der Bildfläche liegt.

Die Bilder an der berühmten Bronzethür Ghibertis49 haben nach älterer

Manier den Horizont noch hoch oben am oberen Rand des Bildes. Als der bedeutendste Neuerer am Gebiethe landschaftlicher und architektonischer Gründe muß Ghirlandajo50 genannt werden, so zwar, daß dasjenige, was z.B. P. Veronese5 1 in seinen großen Hochzeitsbildern und Raphael in der Schule von Athen und in der Disputa52 geleistet haben unmittelbar auf ihm beruht. Bei Ghirlandajo liegt aber der Horizont meist noch sehr hoch. 2/3tel der Höhe der Bildfläche liegen unter dem Horizont und nur ein Drittel darüberXIII oder es liegen 3/5 der Bildfläche unterm HorizontXIV oder die Hälfte derselben.XV Diese Verhältnisse finden auch bei den älteren Venetianern, Deutschen und Niederländern u.s.w. Anwendung. Keine hundert Jahre später gehören sie bereits zu den Seltenheiten, und immer nur dann, wenn besondere Gründe außer der Perspectivanordnung dafür sind. In dieser Zeit entwickelt sich gleichzeitig mit der Idee eines einheitlichen Augpunktes auch der Grundsatz, daß der Horizont immer dorthin gehöre, wo sich nach Art des Bildes und auch je nach seiner Aufstellung der Horizont seines Beschauers befindet.XVI 49 [Ghibertis erste Bronzetür, das heutige Nordportal am Baptisterium in Florenz, entstand 1403–1424 und zeigt 28 kleinteilige altertümliche Reliefs in gotischen Vierpassrahmen. Seine berühmten, 1430–1437 geschaffenen Paradiestüren im Ostportal, auf die Sitte hier abzielt, gliedern sich hingegen in zehn große quadratische Reliefbilder, die wie illusionis­ tische Tafelbilder behandelt sind. Ihre Perspektivkonstruktion folgt teilweise konsequent den Angaben, die Alberti in seinem 1435/46 verfassten Malerei-Traktat machte.] 50 [Domenico Ghirlandaio (1449–1494), der die Tradition Masaccios und Filippo Lippis weiterführte, gehört neben Botticelli zu den führenden Malern der Florentiner Frührenaissance. Die Arbeiten seiner Frühzeit zeigen häufig einfache, streng perspektivisch konstruierte Interieurs. 1481/82 entwickelte er aus der Zusammenarbeit mit Botticelli, Signorelli und Perugino an der Freskenausstattung der Capella Sistina in Rom einen großzügigen Landschaftsstil, der in den 1485–1490 entstandenen figurenreichen Kompositionen in der Cappella Maggiore in S. Maria Novella in Florenz seinen Höhepunkt erreicht.] 51 [Beispielsweise „Hochzeit von Kana“, 1562/63, ehemals Venedig, S. Giorgio, heute Paris, Louvre. Paolo Veronese (1528–1588) malte eine Reihe großformatiger Tafelszenen, beispielsweise „Gastmahl im Hause des Levi“, 1573, Venedig, Accademia.] 52 [Die „Schule von Athen“ und die „Disputà del Sacramento“ gehören zu Raffaels berühmter, 1508–1511 gemalter Bildausstattung der Stanza della Segnatura im Vatikanischen Palast in Rom; siehe dazu auch Anm. 21.] Autograph, ohne Titel (o.J.) – Teil I: Über Gesch[ichte] des Persp[ektivischen] Zeichn[en]s

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[fol.] 101. Diesem Grundgedanken gemäß wird der Horizont in vereinzelten Fällen wieder sehr hoch gelegt, aber die hohen Horizonte haben sich in ihrer früheren allzuhäufigen Verwendung gleichsam abgenützt, sie sind im allgemeinen so zu sagen, aus der Mode. Eines der beliebtesten Verhältnisse ist es nun ein Drittel der Bildhöhe unterm Horizont und zwei Drittel derselben oberm Horizont anzunehmen, wenn die Wahl vollständig frei ist.XVII Aber das Neueste und daher pikanteste ist es den Horizont sogar unter das Bild zu verlegen. Dieß wird fast allgemeiner Gebrauch überall dort, wo der Horizont des Beschauers sich wirklich unter dem Gemälde befindet, wie bei hoch oberm Fußboden angebrachten Wandgemälden oder bei Kuppelgewölben. Das berühmteste Beispiel dieser Art sind die Kuppelmalereien Correggios im Dom zu Parma.53 Ein näheres Besprechen dieses allgemein bekannten Werkes ist nicht nöthig, aber eines muß erwähnt werden, daß auch diese in ihrer Art vollendete ­Leistung nicht ohne Vorläufer dasteht, nicht auf ein mal, sprunghaft entstanden ist. Schon Mantegna54 hat dieselbe Idee gehabt, ohne sie jedoch so virtuos ausführen zu können.XVIII Ein Jüngstes Gericht des Melchior Lorch von 1501 ist in derselben Art versucht.55 [fol.] 102. An hochstehenden Gemälden kommt der Horizont häufig unterm Bild vor bei P. Veronese. Auch Raphael hat diese Anordnung gewählt zu den Mosaiken in S. Maria del popolo in Rom.56 Auch kommt sie gleichfalls schon bei einem 53 [Correggio (1494–1534), der Hauptmeister der Schule von Parma, freskierte 1521–1523 die Domkuppel in Parma mit konzentrischen Wolkenringen und in Unteransicht gezeigten Heiligenfiguren.] 54 [Sitte zielt hier auf Andrea Mantegnas (1431–1506) berühmtes, 1474 vollendetes Deckenbild in der Camera degli Sposi im Palazzo Ducale in Mantua. Es ist das erste illusionistische Deckenbild.] 55 [Der dänische Maler, Kupferstecher und Holzschneider Melchior Lorch/Lorich (um 1527– nach 1583) war u.a. in Nürnberg, Italien (Venedig, Bologna, Florenz, Rom), Wien, Konstantinopel und Hamburg tätig. Ein 1501 datiertes „Jüngstes Gericht“ von Lorch, der erst 1527 geboren wurde, existiert nicht. Möglicherweise bezieht sich Sitte auf einen 1550 datierten Lorch-Stich des „gekreuzigten Haman“ aus Michelangelos Deckengemälde der Capella Sistina, den er an späterer Stelle als Beleg für komplizierte perspektivische Verkürzungen nennt.] 56 [1513–1515 ließ sich der Sieneser Agostino Chigi in S. Maria del Popolo in Rom nach Ent-

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Bild von Mantegna vor in der Sacristei der Eremiten zu Padua.57 Diese Horizont-Wahl ist immer in Übereinstimmung mit dem wirklichen Horizont des Beschauers, aber die große Vorliebe für solche Darstellung hängt zugleich noch mit dem constanten Sinken des Horizontes zusammen und auch der Reiz der Neuheit und der Reiz, die darin liegenden großen Schwierigkeiten glänzend zu bewältigen, hat gewiß nicht Unbedeutendes dazu beigetragen, daß andere ernste Bedenken gegen diese Art der Darstellung nicht gehört wurden. Das Verfolgen dieser Richtungen führte endlich zu immer größerer Freiheit und zuletzt zu einem gänzlichen Ineinanderfließen aller Kunstgebiethe. Das Unrichtige mußte im erreichten Übermaß sich endlich unwiederstehlich fühlbar machen und als nothwendigen Rückschlag dagegen sucht die neueste Zeit wieder die natürlichen Grenzen der einzelnen Künste zu finden, innerhalb deren jede ihr Höchstes zu erreichen vermag. Lessing fand in diesem Sinne die Grenzen zwischen Malerei und Dichtkunst;58 Semper die Grenzen [fol.] 103. zwischen den einzelnen architektonischen Techniken;59 Berlioz zwischen den einzelnen Gebiethen der Orchesterinstrumente.60 Andere Grenzlinien z.B. zwischen Architectur und Musik, zwischen Dichtkunst und Musik, zwischen

würfen seines Freundes Raffael die Capella Chigi errichten. Luigi della Pace führte 1516 nach einem Karton Raffaels das Kuppelmosaik mit der Darstellung Gottvaters als Schöpfer des Firmaments aus.] 57 [Andrea Mantegnas Fresken in der Capella Ovetari der Chiesa degli Eremitani (SS. Filippo de Giacomo) in Padua wurden am 11. März 1944 bei einem Luftangriff zerstört.] 58 [Lessing, Gotthold Ephraim: Laokoon oder Über die Grenzen der Mahlerey und Poesie. Mit beiläufigen Erläuterungen verschiedener Punkte der alten Kunstgeschichte. Berlin: Voß 1766.] 59 [Semper, Gottfried: Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten oder praktische Ästhetik. Ein Handbuch für Techniker, Künstler und Kunstfreunde. 2 Bde. Bd. 1: Frankfurt/ M.: Verlag für Kunst und Wissenschaft 1860; Bd. 2: München: F. Bruckmann 1863 (Nachdruck beider Bände Mittenwald: Mäander Kunstverlag 1977).] 60 [Die Stellung des französischen Komponisten Hector Berlioz (1803–1869) in der Musikgeschichte ist durch die ganz neuartige Behandlung des Orchesterklangs – durch Überdimensionierung und Verfeinerung der Klangfarbenmischung sowie durch programmatische Elemente seiner Musik – gekennzeichnet. Dazu seine Schrift Grand traité d’instrumentation et d’orchestration moderne. Paris: Schonenberger 1843; deutsche Bearbeitung von Alfred Dörffel: Instrumentationslehre, eine vollständige Anleitung… Leipzig: Heinze 1864.] Autograph, ohne Titel (o.J.) – Teil I: Über Gesch[ichte] des Persp[ektivischen] Zeichn[en]s

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Architektur und Malerei warten noch auf eine genaue und richtige Untersuchung. Aber das ist gewiß, daß erst unsere Zeit, in der sich so manche unwiederstehlich vorwärts drängende Motive der Renaissance bereits verflüchtigt haben, im Stande wäre, manche Erscheinungen derselben nach ihrem wahren Wert zu beurtheilen. Dieß gilt auch von der architectonischen PerspectivMalerei.61 Sie ist nichts anderes als ein Versuch der Malerei sich im Gebiethe der Architectur zu ergehen, so wie die gleichzeitig beliebte Allegorie ein Ausflug in das Gebiet des Dichters.

Die neugewonnene Kraft der Darstellung führt also zunächst zu Über-

treibung in ihrer Anwendung. Die Grenzscheide zwischen alter aufsteigender und zwischen der in allerlei Verzerrungen und endlich in vollständiger Leerheit verlaufenden Kunst ist in hervorragendster monumentaler Weise bezeichnet durch die Werke Michelangelos. Dieß gilt sowohl dem Inhalt nach als auch in Betreff der Technik. Die Eintheilung der Decke der Sixtinischen Kapelle steht auch rein technisch mitten zwischen der älteren Art und der späteren Perspectivmalerei.62 Die architectonische Eintheilung durch Gesimse und plastische Rahmen, ferner die Figuren und Bilder in den Bogenfeldern und in den aufsteigenden Füßen der Wölbung sind dem Horizont des Beschauers entsprechend angeordnet, dagegen die Bilder im Spiegel des Gewölbes nach älterer Weise umgelegt dargestellt wodurch die bei Correggio und allen seinen Nachfolgern

61 [Die architektonische Perspektivmalerei – auch Quadraturmalerei – ist bestrebt, Innenräume, vor allem Wände und Decken, durch die illusionistische Darstellung architektonischer Teilformen (z.B. Treppen) bzw. ganzer Architektursysteme (z.B. Kuppeln an Flachdecken) scheinbar zu erweitern. Nach Vorleistungen in der pompejanischen Malerei setzt die Entwicklung der Quadraturmalerei in der Renaissance zunächst in Oberitalien (Mantegna) ein. Entscheidende Impulse erhält sie im 16. Jahrhundert durch die Verbindung mit der Scenografia (u.a. Francesco Salviati und die römische Raffael-Schule). Einen ersten Höhepunkt erreichte die architektonische Perspektivmalerei bei den oberitalienischen Quadraturisten des späten 16. Jahrhunderts (u.a. Pellegrino Tibaldi, Cherubino Alberti), die im 17. und 18. Jahrhunderts zu virtuosen Leistungen weitergeführt wurde (u.a. Andrea Pozzo, Cosmas Damian Asam, Paul Troger).] 62 [Mit Michelangelos Ausmalung der Capella Sistina (1508–1512) wurde die Deckenmalerei zu einer eigenständigen Bildgattung. Hier verbinden sich illusionistische Einzelbilder mit einem Scheinarchitektur-Gerüst zu einem System. Als besonderer Aspekt für die Perspektive erweist sich, dass das aufgemalte architektonische Gerüst die gebaute Stichkappentonne optisch festigt, während in den Leerflächen dazwischen Bildfelder bzw. perspektivische Durchblicke von unterschiedlicher Realität angelegt sind.]

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[fol.] 104. [Das Blatt ist nur zur Hälfte beschrieben.] unvermeidlichen Fußsohlenansichten vermieden werden. In diesem Werk ist auch das Höchste an Vollendung der perspectivischen Zeichnung erreicht. Alle in späterer Zeit noch vorkommenden Verbesserungen auf diesem Gebiet sind nicht mehr practischer sondern rein theoretischer Natur.

Die Entwicklung der Zeichenkunst hat hier ihr Ende erreicht und es er-

übrigt für die Zwecke des Folgenden nur noch den theoretischen Inhalt der einzelnen Perioden zu bestimmen um dadurch ein noch schärferes Bild des organischen Fortschrittes, der sich hierin kundgegeben, zu gewinnen. [fol.] 105. Bei einem Überblick über die einzelnen Fortschritte der gesamten Entwicklungsreihe ist zunächst die nahe Verwandtschaft der einzelnen Methoden des Zeichnens und ihre allmälige Umformung ersichtlich.

Die erste und zweite Methode auf der dritten Stufe sind nichts anderes als

complicirtere Anwendungen der zwei Methoden auf der zweiten Stufe.

Von diesen ist aber wieder die erste Methode innigst verwandt dem Typus

der zwei ersten Methoden der noch früheren ursprünglichsten Periode.

Endlich haben alle diese besonders abgegränzten neuen Methoden das

unter einander gemein, daß durch jede derselbe keine richtige Zeichnung sondern nur eine Mischform entsteht, welche sich aus Elementen einer beabsichtigten perspectivischen Zeichnung und aus Elementen unperspectivischer frontaler Ansichten mit wahren Längen und Breiten zusammengesetzt.

Alle

Abweichungen

vom

richtigen

perspektivischen

Zeichnen, finden somit nur immer nach einer Richtung hin statt, und kennzeichnen sich dadurch als naturnoth­ w e n d i g e F e h l e r im Gegensatz mit zufälligen Fehlern, deren Kennzeichen es ist, daß sie bald nach der einen, bald nach der anderen Seite hin Abweichungen von der richtigen Form veranlassen. [fol.] 106. Damit hängt es auch gewiß zusammen, daß es einer viele Jahrhunderte langen Bemühung bedurfte, um in der Zeichenkunst auch nur kleine ­Fortschritte Autograph, ohne Titel (o.J.) – Teil I: Über Gesch[ichte] des Persp[ektivischen] Zeichn[en]s

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zu erzielen. Die Ursache aber dieses so mühevollen und langsamen Fortschreitens in einer anscheinend einfachen Kunst liegt gewiß nur zum kleinsten Theil in der allgemeinen Zähigkeit, mit der sich überall bereits Feststehendes und ererbte Formen erhalten, sondern größtentheils in der Natur des zu bewältigenden Problems selbst. Eine Erklärung dieses inneren natürlichen Zusammenhanges wäre einer früheren Zeit unmöglich gewesen. Gegenwärtig, wo wir über bereits reiche physiologische Erfahrungen gebiethen ist sie leicht. Es verhält sich damit folgender Maßen.XX

Wir s e h e n zwar perspectivisch aber wir d e n k e n nicht perspektivisch,

denn sonst müßten wir jeden Gegenstand bei verändertem Augpunkt alle Augenblicke uns in einer veränderten Gestalt denken. Dieß ist aber nicht der Fall, sondern jede beliebige p e r s p e c t i v i s c h e A n s c h a u u n g eines Gegenstandes, wird im Augenblick des Sehens, durch eine unbewußt vor sich gehende innere Thätigkeit in ein feststehendes unwandelbares V o r s t e l l u n g s b i l d umgewandelt, in dem es keine veränderlichen perspectivischen Verkürzungen gibt, sondern nur wahre Längen, Breiten und Höhen. Gehen wir in einem Zimmer auf und ab, so ist das perspectivische Netzhautbild des Zimmers und aller Gegenstände darin in jedem Augenblick ein anderes.63 Jedes dieser unendlich [fol.] 107. vielen unter einander verschiedenen Bilder erzeugt aber immer wieder nur ein und dasselbe Vorstellungsbild des Zimmers und aller darin befindlichen Gegenstände in welchem es nur immer dieselben Lagen und Entfernungen der einzelnen Theile untereinander gibt. Wäre dieß anders, so würde uns beim Auf und Ab-gehen das Zimmer nicht als ein Gleiches ein Unverändertes, Ruhendes erscheinen. Es muß hiebei bemerkt werden, daß sich die Kantische Theorie von der Idealität des Raumes6 4 auf allen Punkten als vollständig unhaltbar erwiesen hat. Darauf kann hier nicht näher eingegangen werden, aber zum Verständnisse der Erklärungen des Sehens, wie sie hier nur in knappester Form gegeben werden können, ist es nothwendig zu wissen, daß der 63 [Zu diesem Gedanken siehe „Autograph, ohne Titel (o.J.) – Zettelkonvolut“, Blatt NN16, S. 678 in diesem Bd.] 64 [Ausgeführt in Immanuel Kants Kritik der reinen Vernunft. Riga: Hartknoch 1781. Siehe hierzu auch die zur Zeit Sittes vorliegende Abhandlung von Laßwitz, Kurd: Die Lehre Kants von der Idealität des Raumes und der Zeit im Zusammenhange mit seiner Kritik des Erkennens allgemeinverständlich dargestellt. Berlin: Weidemann 1883.]

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Raum mit seinen drei Dim[ensionen] in Wahrheit e i n e E i g e n s c h a f t d e s D i n g e s a n s i c h i s t und keine bloße Vorstellungsf o r m . Unser A u g e n m a ß ist in Wahrheit ein Maß der Dinge, wenn auch kein sehr starkes. Ein schärferes ist Maßkette und Zollstab, ein noch schärferes [Wort unleserlich] und Microscop. Der Grad der Genauigkeit ändert aber am Principe gar nichts, und mit vorläufiger Übergehung dieser Ungenauigkeit kann gesagt werden: Wir stellen uns räumliche Dinge nach ihren drei Dimensionen gerade so vor wie sie in Wirklichkeit sind. Dieser ganze innere Vorgang beim Sehacte, demzufolge u n b e w u ß t j e d e s p e r s p e c t i v i s c h e A n s c h a u u n g s b i l d s o f o r t i n e i n n i c h t p e r s p e c t i v i s c h e s V o r s t e l l u n g s b i l d verwandelt wird, ist eine unbedingte Nothwendigkeit, wenn das Sehen für ein lebendes Wesen irgend einen practischen Wert zum Behufe der Orientirung haben soll. [fol.] 107 a [Blatt unten beschnitten. Links neben der Paginierung in Bleistift die Ziffern „108“, „109“, „110“, die auf die fehlenden 108-110 verweisen. Inhaltlich bezieht sich die Textstelle teilweise auf Ausführungen im Zettelkonvolut, Blatt NN12 und NN13.] Wenn ein Vogel sich zwischen den Zweigen und Ästen eines Waldes so rasch hin und her bewegen soll, wie dieß wirklich der Fall, und ohne sich jeden Augenblick anzustoßen, so muß er eine Vorstellung von der wirklichen Lage der einzelnen Äste unter einander und zu sich selbst haben.

Diese Vorstellung der wahren Größenverhältnisse ist mit Hülfe des Ge-

sichtes keine so unmittelbare, wie mit Hülfe des Tastsinnes. Der Tastsinn hat selbst schon drei Dimensionen. Indem wir die bewegte Hand an der Oberfläche eines Körpers fortgleiten lassen, der Breite Höhe und Tiefe nach, so entsteht unmittelbar eine Vorstellung dieser drei Raumdimensionen. Mit dem Tastsinn vermag man daher nur runde und Reliefbilder aufzufassen, aber nicht vollständig glatte bildliche Darstellungen von nur zwei Dimensionen. Dieß vermag das Aug, denn mit Hülfe des Auges werden die drei Raumdimensionen nicht unmittelbar wahrgenommen, so daß auch die sinnlichen Empfindungen bereits nach drei Dimensionen verteilt wären; sondern es schiebt sich zwischen die räumlichen Dinge und zwischen die Vorstellung derselben das N e t z h a u t b i l d als Durchgangsstation dazwischen. In dem Netzhautbild sind die sinnlichen Reize aber nicht mehr nach drei Dimensionen sondern nur nach zwei Dimensionen vertheilt. Dieß ist selbst schon ein Autograph, ohne Titel (o.J.) – Teil I: Über Gesch[ichte] des Persp[ektivischen] Zeichn[en]s

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Flächenbild und zwar ein perspectivisches wie in der Kamera obscura.65 Und auf diesem Netzhautbild allein beruht die technische Möglichkeit einer Malerei einer Zeichenkunst überhaupt. Dieses Netzhautbild der Dinge ist es, das der Maler darstellt und nicht die Dinge selbst oder das ihnen bis zu einem gewissen Grad gleiche Vorstellungsbild. Von alledem wußte aber der älteste Künstler noch nichts. [fol.] 107. Er wußte nicht, daß wir die Gegenstände uns anders vorstellen als wir sie sehen. Für ihn war der Gegenstand und das Sehen desselben und das Vorstellen desselben kein Unterschiedenes sondern alle drei ein ein [sic!] und dasselbe. Er k o n n t e also gar nicht mit der Absicht den Pinsel ergreifen, um mit seinen Farben. [fol. 108–110 nicht vorhanden] [fol.] 111. [Rechts oben angeklebte Textfahne (4,3 x 19 cm) mit Einfügung von vier Textzeilen] Bei einer vollen Verkürzung verwandelt sich die Tiefendimension in einen einzigen Punkt, sie verschwindet gänzlich und es handelt sich nur darum zu bedenken, was noch gesehen wird und was bereits nicht mehr gesehen wird. Anders verhält es sich bei Darstellung halber und viertel Verkürzungen hiezu 65 [Camera obscura ist eine Lochkamera, die vor der Erfindung der Fotografie auch als Zeichenhilfe für perspektivische Konstruktionen und Proportionsstudien diente. Sie besteht aus einem lichtdichten Kasten mit einem winzigen Loch (Blende) in der einen Wand und einer Mattscheibe oder einem lichtempfindlichen Aufnahmematerial auf der anderen Wand, wo ein auf dem Kopf stehendes seitenverkehrtes, scharfes Bild entsteht. Die Camera obscura war bereits arabischen und europäischen Autoren des Mittelalters, aber auch neuzeitlichen Künstlern, wie Leon Battista Alberti und Leonardo, bekannt. Giovanni Battista della Porta empfahl sie in seiner Magia naturalis (1558) den Künstlern als Zeichenhilfe, wofür sie teilweise mit Linsen, Umkehrprisma-Spiegel und abgedunkelter Mattscheibe ausgestattet wurde. Seit dem 17. Jahrhundert diente die Lochkamera auch zur Übertragung von Vorzeichnungen auf den Bildträger (u.a. Carel Fabritius und Jan Vermeer), im 18. Jahrhundert bevorzugt zur Herstellung von Silhouettenporträts und zur perspektivisch wirklichkeitsgetreuen Wiedergabe von Architektur- und Städtebildern (u.a. Canaletto und Guardi).]

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ist schon die viel weiter gehende und complicirtere Beobachtung nothwendig, w i e e i n e b e s t i m m t e L ä n g e i n v e r s c h i e d e n e n S t e l l u n gen zum Aug stets verschieden lang gesehen wird, oder daß zwei Punkte bei Änderung des Augpunktes stets a u c h i h r e s c h e i n b a r e L a g e z u e i n a n d e r v e r ä n d e r n . Dieser theoretische Grundgedanke, in dem schon die Kenntniß des Sehwinkels also auch des geradlinigen Sehens enthalten, liegt der dritten Entwicklungsphase der Zeichenkunst zu Grunde in welcher Halb und Viertelprofile, eine Menge vorher noch unbekannter Verkürzungen und Stellungen der menschlichen Figur und auch der Thiere erfunden werden und endlich auch architektonische und landschaftliche Objecte bereits in den Bereich der Beobachtung gezogen werden. [fol.] 112. [Das Blatt ist unten beschnitten] Dieser Gedanke scheint aber in sich selbst schon die Nöthigung zu enthalten die nähere Beobachtung unmittelbar nach der Natur vorzunehmen und das noch f e h l e n d e M a ß der scheinbaren Veränderung in der perspectivischen Lage zweier Punkte zu finden. Ein solches Maß, wenn es überhaupt möglich, kann nur in einer geometrischen Construction enthalten sein. Da sich überdieß die complicirtesten Raumverhältnisse immer zuletzt auf das Verhältniß nur zweier Punkte zu einander zurückführen lassen, so muß eine solche messende Construction auch nur eine einzige Grundregel enthalten. Diese Grundregel wird denn auch als Resultat aller vorangehenden Bemühungen endlich gefunden. Mit ihr ist aber eine neue, vierte und letzte Stufe der Entwicklung erreicht, deren theoretische Erkenntnisse sie bereits in einfachster Form enthält. Sie lautet: Das perspectivische Bild ist der Schnitt irgend einer F l ä c h e m i t d e r S e h p y r a m i d e 6 6 oder Perspective ist centrale Projection.

66 [Sitte übernimmt hier Leon Battista Albertis Definition des Bildes, die für die Geschichte der perspektivischen Konstruktion von größter Bedeutung war: „Daher wird ein Gemälde nichts anderes sein als die Schnittfläche durch die Sehpyramide“ (Alberti: Della Pittura, Kap. 12)] Autograph, ohne Titel (o.J.) – Teil I: Über Gesch[ichte] des Persp[ektivischen] Zeichn[en]s

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[fol.] 113. Zuerst wurde also versucht die Dinge so zu zeichnen wie sind [sic!]; dann wurde bemerkt, daß wir sie nicht so sehen wie sie sind; darauf untersucht, worin dieses Sehen besteht und endlich das aus der Praxis gefundene Sehgesetz auf die Malerei angewendet. __________________________ Dieß ist die Geschichte der Perspective wie sich dieselbe aus den Denkmälern der zeichnenden Künste entnehmen läßt.

Parallel mit dieser practischen ist gewiß stets die theoretische Entwick-

lung gegangen, denn diese beiden sind ja nur zwei verschiedene Arten, ein und dieselbe Einsicht in das Wesen der Dinge, nach außen hin kund zu geben.

Immer aber folgt die Theorie erst aus den Bedürfnissen der Praxis. In der

Ausübung der Kunst muß sich zuerst irgend ein Übelstand unangenehm bemerkbar gemacht haben ehe sich Anstrengungen zu seiner Beseitigung also zum Erfinden neuer Formen bemerken lassen.

Zur selbstständigen Verfolgung der perspectivischen Theorie, also zur Ge-

schichte der Perspectivlehre ist das historische Material ein weitaus geringeres.

Schriftliche Abfassungen gehören erst dem Ende der dritten Periode an.

Für die langen früheren Zeiträume bleibt nur die Annahme einer immer regeren mündlichen Überlieferung und für die ältesten Zeiten ein ganz unbewußtes Arbeiten übrig, wie es Kinderzeichnungen gleichfalls zu Grunde liegt. [fol.] 114. Schriftliche Abfassungen existirten bereits in ausgebreiteter Weise bei den Alten. Sie lassen sich auch schon nach den drei Hauptgebieten der Untersuchung unterscheiden, wie sie gegenwärtig in gesonderten Disciplinen behandelt werden, nämlich als Optik, Physiologie des Sehens und malerische Perspective. Nur ist die Trennung der Arbeitsgebiete noch keine strenge, sondern in primitiver Art verfließen die Grenzen in einander und die einzelnen Sphären decken sich noch theilweise.

Die Optik führt heute noch den Namen den sie im Alterthum gehabt.

Der Standpunkt dieser Wissenschaft ist aus den optischen und katoptrischen

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­Büchern Euklid’s zu ersehen.6 7 Die Untersuchung dreht sich noch einzig um die geradlinige Richtung des Lichtstrahles und um die Gesetze unter welchen er von spiegelnden Flächen zurückgeworfen wird, also um diejenigen Elementarsätze der Optik, wie sie auch der malerischen Perspektive unmittelbar zu Grunde liegen. Euklid beschäftigt sich auch eingehend mit den Veränderungen, welche der Sehwinkel erleidet, wenn die Gerade, deren Endpunkte von seinen Schenkeln getroffen werden sich in verschiedener Lage oder Entfernung zum Aug befindet. Noch mehr ins Gebiet der malerischen Perspective streift die 10te Proposition der Optik, welche beweist, „daß auf einer unterhalb dem Auge liegenden Ebene die entfernteren Punkte höher erscheinen.“ Ähnlich verhält es sich mit der 6ten und 11ten Proposition.

Bei den Arabern, welche die antiken Traditionen weiter führen, tragen

derlei Untersuchungen den Titel: De aspectibus.68 67 [Der griechische Mathematiker Euklid (um 365–um 295 v. Chr.) – Autor der Elementa (griechisch Stoicheia), des bekanntesten systematischen Lehrbuchs der griechischen Mathematik – verfasste um 300 v. Chr. die zu den Phainomena gehörende Optica, das erste griechische Werk zur Perspektive, das auch zur Grundlage der mittelalterlichen und neuzeitlichen Perspektive wurde; in der – heute dem Archimedes zugeschriebenen – Katoptrik werden Brechungswinkel und Gesetze über Brennspiegel untersucht. Optik ist für Euklid angewandte Geometrie, in der unter Verzicht auf physikalische und psychologische Aspekte nur die perspektivischen Bilder des Sehens gerechtfertigt werden. Nach antiker Auffassung sendet das Auge einen Kegel von Sehstrahlen aus, der über Abstand, Lage, Größe, Gestalt und Farbe der Gegenstände unterrichtet. Richtungsweisend für die spätere Diskussion sind die ersten beiden Axiome in Euklids Optica: das erste stellt die geradlinige Ausbreitung der Sehstrahlen und ihre Distanz voneinander fest, das zweite behauptet die Bündelung der Sehstrahlen im Sehkegel, dessen Spitze im Auge liegt und dessen Basis durch die Oberfläche der gesehenen Gegenstände gebildet wird. Von großer Bedeutung war die Ausgabe von Zamberti, Bartolomeo: Euclidis megarensis philosophi platonici Mathematicarum…: elementorum libros. xiii. Venedig: Tacuini 1505. Siehe ebenso: Optica & Catoptrica. Paris: A. Wechel, 1557; Danti, Egnazio: La prospettiva di Evclide. Florenz: de’ Giunti 1573; Heiberg, Johann Ludwig/Menge, Heinrich (Hg.): Euklid. Opera omnia. 7 Bde. und 1 Bd. Suppl. Leipzig: Teubner, 1883–1899.] 68 [Im Unterschied zur christlichen Philosophie bewahrte die arabische Philosophie stärker das aristotelische, naturwissenschaftliche Denken und entwickelte um 1000 bemerkenswerte psychophysiologische Ansätze, wie z.B. Abu Ali al-Hasan Ibn Al-Haitham (latinisiert Alhazen, um 965–1039/41). In seiner um 1030 entstandenen Schrift De aspectibus analysierte Alhazen den Aufbau des Auges. Er erkannte die Bedeutung der Augenlinse und widerlegte in umfangreichen wissenschaftlichen Experimenten die – u.a. von Euklid vertretene – Sehstrahlen-Theorie. Seine auf Grundlage zahlreicher experimenteller Untersuchungen entstandene Große Optik (Kitab fi’l Manazir) wurde in lateinischer Übersetzung unter dem Titel Opticae Thesaurus Alhazeni Arabis libri septem. Basel: F. Risner 1572 Autograph, ohne Titel (o.J.) – Teil I: Über Gesch[ichte] des Persp[ektivischen] Zeichn[en]s

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[fol.] 115. Das Wort P e r s p e c t i v e hat zuerst Vitellion6 9 1270 gebraucht als Titel einer neuen Unterabteilung der Optik, in welcher er nur die Regeln von der geradlinigen Fortpflanzung des Lichtes mit Ausschluß der Reflexion und Brechung zusammenfaßte.

In dem zu Venedig 1505 herausgegebenen Euclid von Barth. Zamberto,

welche die erste lateinische Übersetzung aus dem griechischen ist, während die früheste Ausgabe (Venedig 1482) aus dem Arabischen übersetzt ist,70 heißen die catoptrischen Bücher Specularia und die optischen heißen Perspectiva.

Denselben Titel führen diese Euclidischen Bücher in der französischen Se-

paratausgabe von 1663.71

Die Mathematiker und Physiker vom 13ten bis 16ten Jahrhundert gebrauchen

das Wort gemeiniglich für ihre dem Euclid verwandten optischen Werke.

Als Bezeichnung für malerische Perspective kommt es zuerst vor bei Pele-

rin: De artificiali perspectiva 1505,72 wobei sie durch das Adjectiv besonders

herausgegeben. Der Einfluss seiner Arbeiten lässt sich u.a. bei Erazmus Witelo, Roger Bacon und Johannes Kepler nachweisen.] 69 [Der polnische Theologe, Wissenschaftler und Naturphilosoph Witelo, auch Erazmus Ciolek Witelo oder Vitellion (um 1230–1280/1314), studierte um 1253 in Paris, um 1260 in Padua und ging später nach Viterbo. Sein um 1270 abgeschlossenes zehnbändiges Manuskript Peri Optikes erschien 1535 im Erstdruck und wurde für Jahrhunderte das maßgebende Lehrbuch der Optik, das noch bei Kepler, Goethe und Helmholtz Beachtung fand: Vitellonis Mathematici Doctissimi peri optikes, id est de natura, ratione & proiectione radiorum visu, luminem, colorem, atque formarum quam vulgo Perspectivam vocant, libri X. Nürn­berg: Georg Tannstetter und Peter Apian 1535. Darin behandelt Witelo in der Nachfolge von Alhazen u.a. psychologische und physiologische Aspekte der Wahrnehmung und beschrieb wohl als erster die sphärische Aberration sowohl bei Linsen als auch bei Hohlspiegeln. Eine neue Ausgabe des Werkes erschien gemeinsam mit der Großen Optik von Alhazen als Opticae Thesaurus Alhazeni Arabis libri septem, nunc primum editi, item Vitellonis Thuringopoloni libri X a Federico Risnero. Basel: F. Risner 1572] 70 [Zamberti, Bartolomeo: Euclidis megarensis philosophi platonici Mathematicarum…: elementorum libros. xiii. Venedig: Tacuini 1505; die Erstausgabe: Opus elementorum Euclidis Megarensis in geometriam artem. In id quoque Campani perspicacissimi commentationes finiunt. Venedig: Erhardus Ratdolt 1482.] 71 [Euclides: La perspective d’Euclide, traduite en françois sur le texte grec, original de l’autheur, et demonstrée par Rol. Freart de Chantelou sieur de Chambray. Au Mans: Jacques Ysambart 1663.] 72 [Jean Pèlerin (um 1440–1524) verfasste das erste ausschließlich der Perspektive gewid-

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von der optischen Perspective unterschieden wird. Auch ebenda persp. positiva. Auch Perspectiva pictorum, in Deutschen Werken „Maler“perspective.73 Prospectiva heißt sie bei P. Gauricus 1504. De sculptura ubi agitur de symetria etc. … et de prospective.74

Bei L. B. Alberti kommt die Bezeichnung noch nicht vor.



Die zweite Art von Untersuchungen, welche mehr ins Gebiet der mo-

dernen Physiologie einspielen sind bei den Alten noch ausschließlich Gegenstand phylosophischer Speculation. Aber auch diese können nicht ganz übergangen werden, weil wieder manches auf das Gebiet der malerischen Perspective herüberspielt. Die Meinungen über die Art, wie das Sehen zu stande käme, gehen hauptsächlich nach zwei Richtungen auseinander. [fol.] 116. Pythagoras nahm an, daß von der Oberfläche der Gegenstände fortwährend Theilchen sich absondern und ins Auge kommen.75 Diese Meinung vertritt die peripatetische Schule und später noch Vitellion.76

Die andere Meinung geht von Empedokles und Platon aus, derzufolge

ein Ausfluß vom Auge unterwegs einem Ausfluß von den Gegenständen begegne und davon wieder zurückgeworfen werde. Dieser Meinung folgten Euclid, Ptolomaeus, Heliodorus, Larissaeus, Alchin, Galen.

Eine bloße Beschreibung gibt endlich Epikur, und ihm folgend Lukrets

und andere, wobei das Sehen dem Tasten in die Ferne mit einem Stock verglichen wird.

Daß endlich auch malerische Perspective im eigentlichem Sinne theore-

tisch behandelt wurde davon ist vor allem die Stelle bei Vitruv in der Vorrede mete Werk: De Artificiali perspectiva. Toul: Jacobi 1505 (2. Aufl. Toul: Jacobi 1509, 3. ebd. 1521).] 73 [Sitte bezieht sich hier auf den Perspektivtraktat von Pozzo, Andrea: Perspectiva pictorum et architectorum. Rom: Komarek, 1693. Deutsche Ausgabe: Der Mahler- und Baumeister Perspektiv. Augsburg: Jeremias Wolff 1708.] 74 [Gauricus, Pomponius: De Scvlptvra: ubi agitur de symetriis, de lineamentis … Florenz: P. de Giunta 1504.] 75 [Sitte referiert im Folgenden die noch in der Perspektivliteratur der Neuzeit diskutierte Streitfrage der Antike, ob die Sehstrahlen vom Auge oder vom Objekt ausgesandt werden.] 76 [Peripatetiker ist die Bezeichnung für den in einer Wandelhalle (griech. peripatos) in Athen im Gehen lehrenden Aristoteles und seine Schüler, bes. Theophrast, Eudemos, Aris­ toxenos; zu Vitellion (Witelo) siehe Anm. 69.] Autograph, ohne Titel (o.J.) – Teil I: Über Gesch[ichte] des Persp[ektivischen] Zeichn[en]s

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zum 7. Buch ein Beweis.77 Es hat sich von dieser Literatur jedoch nichts erhalten. Nur einige wenige Anmerkungen, welche die malerische Perspective nebenbei erwähnen, haben sich erhalten und sind Gegenstand eines weitläufigen Streites geworden, der in der Frage gipfelt, ob die Alten überhaupt Perspective gehabt haben oder nicht. Am bekanntesten sind gewiß die Erörterungen Lessings darüber im Laokoon und den antiquarischen Briefen.7 8 Eine Zusammenfassung dieses Streites gibt Fiorillo.XXI

Überblickt man die Entwicklung des perspectivischen Zeichnens in den

Denkmälern der Kunst, so ist diese Frage in der obigen Form eine sehr müßige. Die Ausbildung der Perspective ist eine continuierlich fortschreitende und somit läßt sich streng genommen in keinem Zeitpunkt sagen: „Von hier fäng[t] Perspective an.“ Lessing’s Ausspruch: Die Alten hätten keine Perspective gehabt, ist insofern richtig, als gleich daneben bemerkt wird, daß hiebei unter Perspective die richtige theoretische Einsicht in ihr Wesen verstanden sein solle. [fol. 117–118 nicht vorhanden] [fol.] 119. Auch die Erwähnung von Theaterdecorationen hat nichts Anstößiges. Man braucht sich nur vorzustellen, daß dieß keine Decorationen im modernen Sinne waren, sondern nach Art der Prospecte in den pompejanischen Wandmalereien verfertigte Decorationen.

Die bemerkenswerthesten Stellen sind jedoch die bei Vitruv, in welchen

von einem Zusammenneigen aller Linien zum Centrum des Zirkels, und von der natürlich fallenden Art der Linien mittelst eines zum Mittelpunkt gewählten Ortes die Rede ist.79

77 [Vitruv, De architectura libri decem, Buch 7, Vorrede.] 78 [Lessing, Gotthold Ephraim: Laokoon: oder über die Gränzen der Mahlerey und Poesie. Berlin: Voß 1766; ders.: Briefe, antiquarischen Inhalts. Berlin: Nikolai 1768/69.] 79 [Sitte dürfte sich hier besonders auf zwei Stellen in Vitruvs De architectura libri decem berufen: Buch 1, Kap. 2, wo es heißt: „Item scaenographia est frontis et laterum abscedentium adumbratio ad circinique centrum omnium linearum responsus“. (In der Sitte möglicherweise vorliegenden, unpräzisen Übersetzung von Franz Reber, Des Vitruvius Zehn Bücher über Architektur. Stuttgart: Krais & Hoffmann 1865, S. 12: „Die perspektivische Ansicht ferner ist eine die Stirnseite und die zurücktretenden Seiten darstellende Zeichnung, bei welcher die Richtungen aller Linien einem Zirkelmittelpunkt entsprechen“). Aufschlussreich ist in dem Zusammenhang

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Diese Stellen scheinen zu beweisen, daß die Alten schon den Verschwindungspunkt kannten und in diesem Sinn sind sie auch größtentheils aufgefaßt worden. Diese Annahme steht aber im Widerspruch mit den Monumenten, in denen sich nirgends der Verschwindungspunkt praktisch angewendet findet.

Es ist ganz unmöglich, daß die Alten den Verschwindungspunkt gekannt

haben sollten, ohne ihn practisch anzuwenden, dieß wiederspricht allen Erfahrungen auf diesem Gebiet welche zeigen, daß immer die Praxis der Theorie um einen Schritt vorangeht.

Wenn es daher nicht sein kann, daß unter dem „Centrum des Zirkels“ und

unter dem „zum Mittelpunkt gewählten Ort“ der Verschwindungspunkt zu verstehen ist, so muß ein anderer Punkt damit gemeint sein, und dieß ist der Mittelpunkt in dem sich alle Sehstrahlen vereinigen, nämlich der Augpunkt, aber nicht der auf die Bildfläche projicirte, sondern der wirkliche.

Die Kenntniß dieses Augpunktes in der Weise, wie sie aus Euclid ersicht-

lich ist, würde also den obigen Stellen allein zu Grunde liegen. Hiermit ist noch nicht die Kenntniß [fol.] 120. des Verschwindungspunktes gegeben sondern nur erst vorbereitet. Mit dieser Auffassung verträgt sich das Fehlen des Verschwindungspunktes in den Malereien und Reliefs und es wäre darnach aus diesen Stellen nur ein Stadium der Theorie-Entwicklung zu ersehen, welches der Erfindung des Verschwindungspunktes entgegensteuert, ohne diese Erfindung selbst aber schon gemacht zu haben.

Diese Annahme wird wesentlich dadurch bestättiget, daß sich in der That

nachweisen läßt, wie die Erfindung des Verschwindungspunktes aus der Kenntniß der Sehpyramide hervorgegangen ist.

Dasjenige was man zunächst als Erklärung des Verschwindungspunktes

­annahm ist vollständig falsch. In den Perspektivbüchern des 16ten, 17ten und auch Vitruvs – von Sitte oben bereits erwähnte – Vorrede zu Buch VII, hier weiter in der Übersetzung Rebers 1865, S. 199: „Zuerst nämlich stellte Agatharchos zu Athen, als Aeschylos der Tragödie Bahn brach, die Scena (Bühnenwand) her, und hinterließ eine Abhandlung über dieselbe. Dadurch angeregt, schrieben Demokritos und Anaxagoras über denselben Gegenstand, wie man nämlich die Linien der optischen Wirkung und dem Auseinandergehen der Radien von einem gewissen angenommenen Punkte aus in naturähnlicher Weise entsprechend machen müsse, so daß auf dem Wege der Täuschung die Darstellungen auf den Bühnengemälden (Dekorationen) den Schein der Wirklichkeit erhalten.“] Autograph, ohne Titel (o.J.) – Teil I: Über Gesch[ichte] des Persp[ektivischen] Zeichn[en]s

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zum Theil noch des 18ten Jahrhundert wird auch eine Erklärung, w a r u m sich parallele Linien in ihrer perspectivischen Darstellung in einem Punkt vereinen nicht gegeben. Eine volle und richtige Einsicht in das Wesen des Verschwindungspunktes wird erst 1796 erreicht in J. M. Rödels „Abhandlung von den zufälligen Punkten in der Perspectivkunst, mit einer Vorrede von A. G. Kästner“.80 Bis dahin wird das Verschwinden paralleler Linien in einem Punkt nur receptartig gelehrt als eine Sache die e r f a h r u n g s g e m ä ß , sich so verhält ohne daß ein Grund dafür angegeben werden könnte.

Welche Rolle hier die practische Erfahrung spielt und wie spät ihr

[fol.] 121. die Einsicht in die Gründe der Erscheinungen gefolgt ist, geht besonders deutlich aus einer Stelle in Leonardo’s Tractat hervor. Er bemerkt, daß eine Figur wenn sie doppelt so weit vom Auge ist nur halb so hoch erscheint.81 Es ist dieß ein Satz der sich aus der Lehre ähnlicher Dreiecke augenblicklich beweisen läßt. Leonardo weiß von einem solchen geometrischen Beweis nichts, sondern sagt „er hat dieß einer lang[en] Erfahrung entnommen.“

80 [Rödel, Johann Michael: Abhandlung von den zufälligen Punkten in der Perspectivkunst für Werkmeister (…) und einer Vorrede von A. G. Kästner. Leipzig: Fleischer 1796. Die Erstausgabe des Buchs erschien bereits 1784 bei Rudolph August Wilhelm Ahl in Coburg.] 81 [Leonardo da Vinci (1452–1519) war wohl der erste, der das Gesetz der Abstände in der perspektivischen Verkleinerung erkannte und in seinem Malereitraktat Libro di pittura formulierte. Ihm zufolge werden Objekte von gleicher Größe, deren Abstände sich vom Auge in arithmetischer Proportion (1:2:3:4) entfernen, im umgekehrten Verhältnis – d.h. in harmonischer Proportion (1/2:1/3:1/4) – verkleinert. Leonardo dürfte sich hier auf die – für die gesamte Renaissance bedeutende – antike Theorie der Musik, seinen Worten zufolge „la sorella della pittura“, bezogen haben. Das aus der platonisch-aristotelischen Lehre stammende Thema der arithmetischen und harmonischen Progression, das u.a. in Plu­tarchs Büchlein über die Musik der Alten ausführlich erörtert und auf der dem Vertreter der Musik in Raffaels „Schule von Athen“ beigefügten pythagoräischen Musiktafel schematisch dargestellt ist, mündete Mitte des Cinquecento in eine für die neuere mehrstimmige Musik so wichtigen, in arabischen Schriften präformierten Theorie der Konsonanzen (ausführlich diskutiert in Zarlino, Gioseffo: Le Isituzioni harmoniche. Venedig 1558). Kommentierte deutsch-italienische Ausgabe von Leonardos Malereitraktat von Ludwig, Heinrich (Hg.): Lionardo da Vinci. Das Buch von der Malerei. Nach dem Codex Vaticanus 1270. 3 Bde. (= Quellenschriften für Kunstgeschichte und Kunsttechnik des Mittelalters und der Renaissance, Bd. 15–17). Wien: Braumüller 1882 (Neudruck Osnabrück: O. Zeller 1970). Die von Sitte angesprochene Stelle in Leonardos Traktat in Bd. 15, S. 451–452.]

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Ebenso geht der Gebrauch des Verschwindungspunktes zunächst aus der

Erfahrung hervor. Hiebei sind es die einfachsten speciellen Fälle, welche zuerst entdeckt werden, also der Augpunkt und die beiden im Horizont liegenden Verschwindungspunkte. Dieß sind die drei Haupt-Punkte der ältesten Perspectivlehre. Sie heißen auch Horizonte.

Dann folgt bei Ig. Danti8 2 die E n t d e c k u n g , daß auch senkrecht ober

und unter dem Augpunkt ein solcher Distanzpunkt liegt in welchem sich Linien vereinigen können.

Darauf folgt die Entdeckung, daß außer den drei Hauptpunkten, noch

andere Punkte des Horizontes Verschwindungspunkte sein können und zuletzt erst die aus der Praxis geschöpfte Einsicht daß jeder Punkt der Bildfläche ein Verschwindungspunkt sein kann. So wenig war man sich aber über das Wesen dieser Verschwindung klar, daß man alle diese nun entdeckten Punkte z u f ä l l i g e o d e r A c c i d e n t a l p u n k t e nannte. Die Constructionen, welche mit ihnen vorgenommen werden sind meist falsch und höchstens näherungsweise richtig. [fol.] 122.

Dasjenige nun was dieser frühen Zeit als dunkler Erklärungsgrund vor-

schwebte ist am klarsten zu ersehen aus Pellerin und Dürer.83

82 [Egnazio Danti, eigentlich Pellegrino Danti de Rinaldi (1537–1586), italienischer Astronom, Kartograph und Mathematiker, gab zwei Bücher über Perspektive heraus: La Prospettiva di Euclide (Florenz 1573) und aus dem Nachlass Vignolas dessen Due regole della prospettiva pratica (Rom 1583). In der konsultierten Ausgabe der Due regole von 1611 werden die „punti della distanza“ auf S. 105 ff. behandelt.] 83 [Dürer, der die erste Ausgabe von Jean Pèlerins De artificiali perspectiva (Toul 1505) in der deutschen Übersetzung von Jörg Glockendon (Von der Kunst Perspectiva. Nürnberg: Georg Glockendon d. Ä. 1509; Faksimileausgabe mit Vorrede von Hippolyte Destailleur, Paris 1860) gekannt haben dürfte, hat seine Ergebnisse zur Perspektive im letzten Teil seiner „Underweysung der Messung“ 1525 (siehe Anm. 38) zusammengefasst. Seine umfassenden geometrischen Kenntnisse verdankte Dürer drei unterschiedlichen Quellen: Durch seine freundschaftlichen Kontakte mit Willibald Pirckheimer und den Nürnberger Mathematikern und Astronomen Bernhard Walther, Johannes Werner und Georg Hartmann, die ihm ihre umfassenden Bibliotheken zugänglich machten, bekam er Kenntnis von den griechischen Autoren bzw. von den damals verfügbaren Druckwerken. Wissenschaftliche Kontakte sind für Dürer ebenso nach Wien (u.a. zu dem Hofkartographen Johannes Stabius und dem Mathematiker Johannes Kratzer) und nach London (zum Hofastronomen Heinrichs VIII.) bekannt. Nachweislich besaß Dürer Bartolomeo Zambertis Euklidausgabe Autograph, ohne Titel (o.J.) – Teil I: Über Gesch[ichte] des Persp[ektivischen] Zeichn[en]s

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Dürer eilt in der Perspectiv-Construction seiner Zeit weit voran. Er hat zuerst alle Fälle, welche in der Perspective vorkommen können in ein einziges klares Beispiel vom beleuchteten Würfel zusammengefaßt, und zuerst eine deutliche Darstellung des Problems in zwei fehlerlos gezeichneten, orthogonalen Ansichten gegeben.84 Auch ist er der Erste, welcher die allgemein gültige geometrische Construction aufgestellt, nach welcher das Bild jedes beliebigen Punktes im Raume mit Hülfe der zwei orthogonalen Projectionen seines Sehstrahles als Schnitt mit der Bildfläche gefunden werden kann.85 Nur das Wesen des Verschwindungspunktes vermag auch Dürer trotz sichtlicher Anstrengung sich nicht zu erklären, und er schließt sich hierin der falschen Anschauung seiner Zeit an. Diese besteht in der V e r w e c h s l u n g d e s



von 1505 (siehe Anm. 70), die er 1507 in Venedig kaufte. Durch seine Italienaufenthalte 1494–1495 und 1505–1507 wurde Dürer offensichtlich auch mit den theoretischen Schriften Leon Battista Albertis, Piero della Francescas, Leonardo da Vincis und Luca Paciolis vertraut; von Albertis Malereitraktat besaß er eine lateinische Abschrift, die 1540 für den ersten Druck von De Pictura benutzt wurde. Schließlich besaß Dürer aufgrund seiner eigenen handwerklichen Ausbildung (zuerst als Goldschmied, dann als Graphiker und Maler) und seiner Kontakte zu Nürnberger Handwerkern auch handwerkliches Wissen. Sicher bekannt war ihm die zeitgenössische Bauhüttenliteratur, vor allem Roriczer, Matthäus: Geometria Deutsch. Nürnberg: um 1487/88, die er für die Abfassung der „Underweysung der Messung“ 1525 (siehe Anm. 38) benutzte. Für Sitte dürften die Arbeiten Moriz Thausings, seines Wiener Kollegen, wichtige Aufschlüsse über Dürer gegeben haben. Thausing, Moriz: Dürers Briefe, Tagebücher und Reime: nebst einem Anhange von Zuschriften an und für Dürer. (= Quellenschriften für Kunstgeschichte und Kunsttechnik des Mittelalters und der Renaissance, Bd. 3). Wien: Braumüller 1872 (Nachdruck Osnabrück: O. Zeller 1970); Thausing, Moriz: Dürer. Geschichte seines Lebens und seiner Kunst. 2 Bde. Leipzig: E. A. Seemann 1876.]

84 [Hierzu siehe Dürers „Underweysung der Messung“ 1525 (siehe Anm. 38), Fig. 52–62. Fig. 52 zeigt die Konstruktion des Schattens eines Würfels bei punktförmiger Lichtquelle nach dem Grund-Aufriss-Verfahren, Fig. 56 die Konstruktion nach dem Durchschnittsverfahren.] 85 [Die Konstruktion von Fig. 56 der „Underweysung der Messung“ 1525 (siehe Anm. 38) zeigt die korrekte perspektivische Konstruktion von Bildern mittels Zweitafelverfahren. Sie wird zumeist als Durchschnittsmethode bezeichnet, weil der Durchschnitt der Sehstrahlen mit der Bildebene konstruiert wird. Da man so im Grundriss nur die x-Koordinaten und im Aufriss nur die y-Koordinaten einzelner Bildpunkte erhält, die man in ein Bild übertragen muss (hierzu in Dürers „Underweysung der Messung“ 1525 (siehe Anm. 38), Fig. 57 und 58), ist das Zweitafelverfahren zwar das beste Mittel zur Erforschung bzw. Begründung der Gesetze der Perspektive; in der praktischen Durchführung ist es aber äußerst umständlich.]

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V e r s c h w i n d u n g s p u n k t e s m i t d e m w a h r e n A u g p u n k t .86 Dürer meint, daß sich auf der Bildfläche die Linien in ihm so vereinen, wie in Wirklichkeit die Sehstrahlen sich im Auge vereinen, weil die Vereinigung auf der Bildfläche bloß die Projektion der Vereinigung im Auge sei.

Es ist unbedingt nothwendig das Falsche und zugleich aber Bestechliche

dieser Ansicht klar einzusehen, weil nur durch genaue Analyse dieses [fol.] 123. Satzes Licht in die alte Perspectivlehre gebracht werden kann.

In Fig. 59 ist mnop die Bildfläche. A ist das Aug eines Beschauers. A’ seine

senkrechte Projection auf die Grundfläche. a seine senkrechte Projection auf die Bildfläche. 1, 2, 3, 4 ist ein in der Grundfläche liegendes Parallelogramm. Eine Seite derselben liegt in der Bildebene, eine Seite parallel zu ihr und zwei Seiten stehen darauf senkrecht. Dieß ist jene einfache Lage zur Bildebene, von der alle alten Perspektivwerke ausgehen. 1, 2, b“ b ist das perspectivische Bild dieses Quadrates.

Um das perspectivische Bild des Viereckes zu finden müssen zunächst die

perspectivischen Bilder seiner vier Eckpunkte gesucht werden. Die Bilder der Punkte 1 und 2 fallen mit den Punkten selbst zusammen, weil die Gerade 1, 2 schon in der Bildfläche liegt. Die perspectivischen Bilder der Punkte 3 und 4 sind dort, wo die Sehstrahlen dieser Punkte 3A und 4A die Bildebene schneiden, nämlich in b“ und in b. Es handelt sich nun darum diese Schnittpunkte mittelst einer geometrischen Construction zu finden.

Die älteste Construction ist die in Fig. 60 angegebene. Der untere Theil von

Fig. 60 mit den einmal gestrichenen Ziffern und Buchstaben ist der Grundriß; der obere Theil mit den zwei mal gestrichenen Ziffern und Buchstaben der Aufriß dieser Construction, deren räumlicher Zusammenhang aus Fig. 59 ersichtlich ist.

86 [Das von Dürer auf den Konstruktionszeichnungen von Fig. 56–58 eingezeichnete „nahe Auge“ bezeichnet – im Unterschied zum „fernen Auge“ (Augpunkt) – den heute so genannten Hauptpunkt. Dies ist der Fluchtpunkt aller senkrecht zum Bild stehenden Geraden. Dass er von Dürer als Auge dargestellt wurde, hat vielfach dazu geführt, dass ihm die Verwechslung von Aug- und Hauptpunkt unterstellt wurde. Wie aus Dürers Text hervorgeht, benutzt er den Hauptpunkt als Bezugspunkt für die koordinatenweise Übertragung der Bildpunkte vom Zweitafelbild in das endgültige Bild. Möglicherweise war ihm bereits bewusst, dass der Hauptpunkt auch eine erste Orientierung für die richtige Stellung des Betrachters zum Bild ermöglicht.] Autograph, ohne Titel (o.J.) – Teil I: Über Gesch[ichte] des Persp[ektivischen] Zeichn[en]s

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[fol.] 124. [Im Text eingefügt Fußnotenziffer „23“, ohne weitere Angaben; im „Zettelkonvolut“ (Blatt NN09, Seite 673 in diesem Bd.) findet sich hierzu allein der Hinweis auf den unten genannten „Sirigathi“.] Fig. 61 ist die Bildfläche in frontaler Ansicht. In ihr entsteht das perspectivische Bild des Viereckes durch Eintragung und richtige Verwertung derjenigen Hülfsgrößen, welche die Construction von Fig. 60 liefert. In dieser ist 4‘A‘ der Grundriß des Sehstrahles 4A. Ferner 4“A“ der Aufriß desselben Sehstrahles. In dem Punkte b in welchem der Grundriß des Sehstrahles die Bildfläche schneidet ist der Grundriß des gesuchten Bildpunktes b. Und in dem Punkte b“ in welchem der Aufriß des Sehstrahles die Bildfläche schneidet ist der Aufriß des gesuchten Bildpunktes b. Hiedurch ist aber der Bildpunkt b selbst schon hinlänglich bestimmt. Aus seinem Grundriß ist ersichtlich wie weit er von der Mittellinie 2a aus (Fig. 61) nach links liegt, und aus seinem Aufriß ist zu sehen wie hoch er über der Grundlinie op liegt. Auf dieselbe Art kann das Bild des Punktes 3 und jedes beliebigen anderen Punktes gefunden werden.

Der Erfinder dieser Construction ist Albrecht Dürer. Allgemeine Anerken-

nung scheint sie erst durch das prachtvoll ausgestattete Werk des Lorenzo Sirigatti gefunden zu haben,87 dessen zahlreiche sorgfältig ausgeführte Perspectivconstructionen einzig und allein auf diesem Verfahren beruhen.* Die herrschende Construction ist sie trotz ihrer Umständlichkeit noch bei Pozzo88 und selbst noch späteren Perspectivlehrern.

In dieser Construction ist aber nichts von einem Verschwindungspunkt

enthalten. Die Bilder der parallelen Linien 1,4 und 2, 3 sind 1, b und 2, b“. Diese perspectivischen Linien ergeben sich durch Construction ihrer Endpunkte. Daß sie aber in dem Augpunkt a zusammenlaufen müssen, kann aus dieser Construction heraus nicht bewiesen werden. Es ist [fol.] 125. diese Vereinigung vorläufig nur ein Satz der Erfahrung.

87 [Siehe Anm. 34.] *

Sirigathi

88 [Siehe Anm. 48 und 73.]

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Der Beweis dafür, daß die Linie 1, b in ihrer Verlängerung den Punkt a

treffen müsse liegt anderswo und dieser Beweis ist es, welcher weder von Dürer noch von seinen Zeitgenossen und nächsten Nachfolgern erbracht wurde.

Daß die Bilder aller senkrecht in die Tiefe gehenden parallelen Linien im

sogenannten Augpunkt zusammenlaufen, wußte man aus der Erfahrung, warum dieß aber so ist, wußte man nicht. Statt eines geometrischen Beweises begnügte man sich mit einer dunklen unklaren Erklärungsformel.

Diese ist aus Dürer deutlich zu ersehen, indem er sagt:



„Diese v i e r Augen (Fig. 60 A‘, A“, a‘, a“) bedeuten nur eyn gesicht, aber

diese zerspaltung pringt leichtigkeit in der arbeyt“.89

Dieß ist theilweise richtig und theilweise falsch. A‘ und A“ bedeuten

dasselbe, es sind nämlich die zwei Projectionen des wirklichen Auges. Etwas anderes aber bedeuten die in gleicher Weise als Projectionen zusammengehörigen Punkte a‘ und a“. Sie bedeuten einen neuen Punkt im Raum, den Punkt a. Dieser ist als Verschwindungspunkt etwas wesentlich anderes, als der wahre Augpunkt A. In der Verwechslung dieser beiden Punkte besteht die irrige Annahme über das Wesen des Verschwindungspunktes, sie ist in noch deutlicherer Weise aus der folgenden Stelle Dürers zu entnehmen: „So du nun die vorbeschribene meynung (Fig. 60) vor augen sihest und verstest sie, so nym ein ander papir [fol.] 126. und reiß darauf zwo kreutz linien zu rechten wincklen (Fig. 61, 2, s und HH.) und in der mit, da sie sich durcheinander schießen (Fig. 61 a) da setz den punkte des augs, d a s s t e e t h i r a n s t a t d e r v o r i g e n v i e r A u g e n , zu diesem punckten des augs müssen alle hohe niederen, tieffen und prayten auf beden seiten gepracht und gesetzt werden ( Fig. 61 1, b, 2b“ ), d i e d i e f o r i g e n s t r e y m l i n i e n (Fig. 59 3, A, und 4, A) a n z e i g e n “.90

Noch größere Deutlichkeit kann nicht verlangt werden. Die Verwechslung

der perspectivischen Linien in der Bildfläche mit den Sehstrahlen im Raum ist augenfällig.

Allerdings sehen wir gegenwärtig ein, wie der Verschwindungspunkt eine

Folge der centralen Projection ist, und insofern ist die alte Erklärungsweise 89 [Dürer „Underweysung der Messung“ 1525 (siehe Anm. 38), S. Pii.] 90 [Ebd., S. Piii verso.] Autograph, ohne Titel (o.J.) – Teil I: Über Gesch[ichte] des Persp[ektivischen] Zeichn[en]s

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der Wahrheit bereits auf der Spur, ohne sie jedoch erkannt zu haben, denn es fehlen noch alle Zwischenglieder des Beweises.

Man wußte aus Erfahrung, daß sich die Bilder von Geraden, welche auf

der Bildebene senkrecht stehen, in einem gewissen Punkt auf der Bildebene treffen, ferner wußte man aus den Untersuchungen der Optiker, daß sich ebenso alle Sehstrahlen im Auge vereinigen. Diese beiden Lehrsätze werden ohne weitere Beweisführung als identisch erklärt, und dieß genügt vor der Hand.

Dem Satz fehlen aber nicht nur alle beweisenden Zwischenglieder sondern

auch jede Allgemeinheit. Nachdem unter Augpunkt nur derjenige Punkt auf der Bildfläche verstanden wurde, in welchem das wirkliche Aug senkrecht [fol.] 127. auf die Bildebene projicirt ist, so trifft dieser Satz auch practisch nur bei Linien zu, welche senkrecht auf der Bildebene stehen, also bei Architecturen in Frontalperspective. Wirklich gibt es auch in dieser Zeit nur zweierlei Arten sich mit der Bildebene gegen ein Architekturwerk aufzustellen, nämlich die der Frontalansicht und der Ansicht genau über Eck wobei die nach rechts und links in die Tiefe laufenden Linien beiderseits unter 45° gegen die Bildebene geneigt sind.

Die weitaus häufigere Art der Aufstellung ist die erstere. Beide Arten

sind bereits bei Pellerin ausgeführt. Bei ihm heißt es: „Die Gebäude wurden entweder von vorne oder über Eck gesehen“.91 In der Ansicht über Eck dienen die beiden Distanzpunkte, wie es auch richtig ist, als Verschwindungspunkte. Dürer hat diese Art nicht in seine Perspective aufgenommen. Gekannt muß er sie wohl haben, denn abgesehen davon, daß sie zu seiner Zeit practisch verwendet wurde, ist sie in allen zeitgenössischen Perspectivwerken beschrieben und Pellerin selbst erschien in deutscher Bearbeitung 1509 zu Nürnberg.92 Dürer scheint also an dieser Art Anstoß genommen zu haben und der Grund ist wohl ein naheliegender, denn wenn der Verschwindungs91 [Siehe Anm. 72. Sitte gibt hier in sinngemäßer Übersetzung eine Stelle im sechsten Kapitel der zweiten Ausgabe von Jean Pèlerins De artificiali perspectiva (Toul: Jacobi 1509) wieder: „Ceterum/diuersitas aspectuum rerum obiectaru semper cosideranda est: presertim edificioru. Nam aut visuntur a fronte: aut ab angulo“.] 92 [Deutsche Übersetzung von Jean Pèlerins De artificiali perspectiva (Toul: Jacobi 1505) von Glockendon, Jörg: Von der Kunst Perspectiva. Nürnberg: Georg Glockendon d. Ä. 1509; Faksimileausgabe mit Vorrede von Hippolyte Destailleur, Paris 1860.]

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punkt nichts anderes ist als das Aug selbst, so wiederstreitet die Annahme dreier Verschwindungspunkte, also dreier Augen in einem Bild der Einheit des Augpunktes. [fol.] 128.

Für Pellerin bestand zwar dieselbe Schwierigkeit, aber er setzte sich eben

darüber hinaus, denn practisch führte die Methode zu hübschen Bildern und das genügte.

Pellerin hatte übrigens dieselben Ideen über diesen Fall wie Dürer. Fig. 62

ist seine perspektivische Grundfigur. Die Bezeichnung der verschwindenden Linie als l i n e a v i s u a l i s zeigt deutlich genug, daß dieses perspectivische Bild mit dem wirklichen Sehstrahl verwechselt wird. Noch in Rembold’s Perspective von 171093 heißt dieselbe Linie G e s i c h t s s t r a h l . Den Umstand, daß der Distanzpunkt als Verschwindungspunkt dienen kann erklärt sich Pelerin in demselben Sinne. Er sagt: „Wenn jemand zu dem rechtseitigen Spitz oder Winkel (rechter Distanzpunkt) d a s A u g e e i n s t e l l t , s o v e r l e g t d o r t h i n d i e S e h k r a f t d i e M i t t e l l i n i e d e r S e h p y r a m i d e “.94 (sic !) [Dieses „sic” in Rundklammern stammt von C. Sittes Hand.]

„Wenn aber zu dem linken Spitz das Gesicht verlegt wird, so wird dessen

Kraft ebendahin die Mittellinie selbst verlegen“.95

Die Sehkraft also! — Das heißt mit anderen Worten: Es ist so, aber wir

wissen nicht warum.

Daß diese Vorstellungsart im 16

ten

und 17. Jahrhundert die allgemeine

war, zeigen allein schon die Tafeln der Perspectivwerke. Bei Ign. Danti verei93 [Rembold, Johann Christoph: Perspectiva practica oder vollständige Anleitung zu der Perspectiv-Reißkunst: nutzl. Und nothwendig allen Mahlern… erstmahls durch e. unbenahmtes Mit-Glied d. Societät Jesu hrsg. Nun aber aus d. Frantz. ins Teutsche übers. durch Johann Christoph Rembold. Augsburg: Jeremias Wolff 1710 (Nachdruck Hannover: Schäfer 1986). Rembolds Übersetzung eines französischen Lehrbuchs entwickelte sich zum Standardwerk der Perspektive im süddeutschen Raum.] 94 [Diese sinngemäße Übersetzung bezieht sich auf die zweite Ausgabe von Jean Pèlerins De artificiali perspectiva (Toul: Jacobi 1509), Kapitel 7. Dort heißt es: „ut si quis ad cornu seu angulum dextrum inflexerit oculu/ illuc virtus visiua transferet piramidis diametrum/ (…)“.] 95 [Der hier ins Deutsche übersetzte Satz folgt dem vorangehenden im siebten Kapitel der zweiten Ausgabe von Jean Pèlerins De artificiali perspectiva (Toul: Jacobi 1509). Dort heißt es: „Qui vero ad leuum cornu reflexerit visum:eius virtus ibidem referet ipsum diametrum (…)“.] Autograph, ohne Titel (o.J.) – Teil I: Über Gesch[ichte] des Persp[ektivischen] Zeichn[en]s

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nigen sich die Diagonallinien des in der Grundebene construirten Quadratnetzes im Distanzpunkt. Dort ist eine ganze menschliche Gestalt stehend gezeichnet in deren Aug [fol.] 129. sich die Bilder aller Diagonallinien wie Sehstrahlen vereinigen.96 Daß zu den drei üblichen Verschwindungspunkten Augen gezeichnet werden ist ziemlich allgemein üblich. Im Text fehlt wohl in der Regel jede Erklärung. Der Vortrag der Regeln ist receptartig.

Am klarsten ist die Auseinandersetzung Dürers. Bei ihm ist auch der

Zusammenhang mit den Mathematikern am ersichtlichsten. Der erste Satz seiner Underweisung enthält eine Verherrlichung Euclids. In seiner so wunderbaren Bescheidenheit sagt er: „Der aller scharffsinnigst Euclides hat den Grund der Geometria zusammengesetzt, wer denselben wol versteht, der darff dieser hernach geschrieben Ding gar nit.“97 Der eine Theil der Theorie vom Verschwindungspunkt stammt aus der Praxis der andere Theil nämlich die Form der Sehpyramide ist ein den Mathematikern entlehntes Eigenthum. Daß sich die Theorie vom Sehstrahl und vom Gesichtswinkel im Alterthum eher bei den Optikern, Astronomen oder Feldmessern entwickelte als in den Werkstätten der Maler dürfte wohl aus der Natur der Sache selbst schon anzunehmen sein, besonders wenn man bedenkt, wie spät erst die Malerei sich Untersuchungen zuwendete, welche die Kenntniß solcher Sätze notwendig machen. In neuerer Zeit aber läßt sich dieser Zusammenhang direct nachweisen. Bei allen Perspectivlehrern des 16. und 17. Jahrhunderts werden außer Vitruv noch vornehmlich die [fol.] 130. alten und mittelalterlichen Mathematiker und Optiker citirt, besonders Euclid, Vitellius, Alhazen, Alckin u. andere.98 Auch alle Maler welche bei Bil96 [Danti, Egnazio: Due regole della prospettiva pratica di Jacomo Barozzi da Vignola. Rom 1583. In der konsultierten Ausgabe von 1611 siehe hierzu beispielsweise die Seiten 55, 65, 69, 76–78, 80, 100, 105.] 97 [Dürer „Underweysung der Messung“ 1525 (siehe Anm. 38), S. Aii.] 98 [Zu Euklid siehe Anm. 67, zu Vitellius (Witelo) Anm. 69, zu Alhazen Anm. 68. Mit Alckin meint Sitte offenbar Alkuin (um 735–804, auch Albinus), der zunächst Leiter der Kathedralschule von York war, bevor ihn Karl der Große an seine Palastschule nach Aachen

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dung des perspectivischen Grundgedankens eine Rolle spielen, stehen in enger Verbindung mit der Mathematik. So ist der berühmte Mathematiker Gion. Manetti99 Lehrer des Ucello (nach Vasari). Piero della Francesca hatte sich zuerst ganz der Mathematik gewidmet (Vas.). Peruzzi ist Architekt gewesen und daher gleichfalls näher vertraut mit mathematischen Fächern. Der Alchimist und Schöngeist Pomponius Gauricus, der in seinem 1504 erschienenen Bändchen über Sculptur100 einiges Allgemeines über Perspective erzählt ist zuerst ebenfalls der mathematischen Wissenschaft nahe gestanden.* Besonders steht der hervorragende Lehrer der Geometrie, Fra Lucca Paccioli mit einer Reihe von Künstlern in engster Verbindung.1 0 1 Nach Vasari ist er Schüler des P. d. Francesca. Während seines Aufenthaltes zu Mailand 1496–1499 steht er in regem Verkehr mit Leonardo d V. Harzen* vermuthet, daß es Paccioli gewesen, zu dem Dürer reisen wollte um Geheimperspective zu lernen.102* Barbaro in der Vorrede zu seiner Perspective103 citirt einen Venetianer Giov. berief. 796 wurde er Abt des Klosters St. Martin in Tours, dessen Schule durch ihn berühmt wurde. Ihm zugeschrieben werden die Propositiones ad acuendo iuvenes, die älteste mathematische Aufgabensammlung in lateinischer Sprache.]   99 [Der Florentiner Humanist Antonio di Tuccio Manetti (1423–1497) war tätig als Architekt, Mathematiker, Astrologe und Biograph Filippo Brunelleschis.] 100 [Siehe Anm. 74.] 101 [Der italienische Mathematiker und Euklidübersetzer Fra Luca Pacioli (1445–1517), der als Professor in Perugia, Neapel, Mailand, Florenz, Venedig und Rom lehrte und mit Alberti, Bramante, Francesco di Giorgio und Leonardo in engem Kontakt stand, ist der Verfasser der berühmten, 1509 in Venedig erschienenen De Divina Proportione. Deutsche Ausgabe von Winterberg, Constantin (Hg.): De Divina Proportione. Die Lehre vom Goldenen Schnitt (= Quellenschriften für Kunstgeschichte und Kunsttechnik des Mittelalters und der Neuzeit, N. F. 2). Nach der venezianischen Ausgabe von 1509. Wien: Graeser 1889 (Nachdruck Hildesheim: Olms 1974). Das 1497 in Mailand vollendete Traktat, das sich an Interessenten der Philosophie, Perspektive, Malerei, Skulptur, Architektur, Musik und Mathematik wendet, behandelt im ersten Teil – im Anschluss an Euklid – den goldenen Schnitt als Divina Proportione, im zweiten Teil den Trattato de l’architettura und im dritten Teil eine von Leonardo illustrierte, italienische Übersetzung von Piero della Francescas Libellus de quinque corporibus regularibus, ohne dass Pacioli hier seinen Lehrer als Verfasser angab.] 102 [Harzen, Georg Ernst: „Über den Maler Pietro degli Franceschi und seinen vermeintlichen Plagiarius L. Pacoli“, in: Naumann, Robert (Hg.): Archiv für die zeichnenden Künste II, Leipzig: Rudolph Weigel 1856, S. 242. Hierzu ebenso Sitte, Camillo: „Die Perspectivlehre des Pietro degli Franceschi“, in: Mittheilungen des k.k. Österreichischen Museums für Kunst und Industrie (Monatsschrift für Kunst und Kunstgewerbe), Jg. 14, (1. Mai 1879), Nr. 164. Siehe S. 143–150 in diesem Bd.] 103 [Daniele Barbaro (um 1514–1570), venezianischer Diplomat, Patriarch von Aquilea und Herausgeber der bedeutendsten Vitruv-Ausgaben des Cinquecento (1556 und 1567), ist Autograph, ohne Titel (o.J.) – Teil I: Über Gesch[ichte] des Persp[ektivischen] Zeichn[en]s

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Zamberto als seinen Führer bei Ausbildung in der Perspective.104 Diese Angabe dürfte vielleicht wieder zu den Bestrebungen zurückführen, welche sich in dieser Zeit der Wiederbelebung der älteren Literatur um die Werke Euclids drehen. Denn zu Venedig kam durch einen Zamberto die zweite latein. Euclidausgabe heraus 1505.105 Die nächste Venetianische Ausgabe ist die ins italienische übertragene des Luca Paccioli von 1509.106 Die erste aus dem Arabischen ins Latein übertragene Ausgabe kam zu Venedig 1482107 heraus also zu einer Zeit [fol.] 131. in welcher der Buchdruck in Italien kaum erst seit zehn Jahren in Aufschwung kam. Spätere Ausgaben folgten ziemlich rasch auf einander 1516, 1533, 1546. Es unterliegt auch keinem Zweifel, daß L. B. Alberti von diesen Bestrebungen nahe berührt wurde. Die erste Euclid-Ausgabe fällt freilich schon in sein letztes oder vorletztes Lebensjahr, aber die perspectivischen oder vielmehr optischen Bücher Euclids hat er gewiß gekannt, denn der erste Theil seiner Perspective, wie sie im ersten Buch seines Tractates über die Malerei enthalten ist, könnte geradezu als freies Excerpt nach Euclid bezeichnet werden.108 Aus den frühesten Perspectivbüchern neuerer Zeit läßt auch Verfasser eines in Italien berühmt gewordenen Perspektivtraktats: La pratica della prospettiva … opera molto utile a Pittori, Scultori et Architetti. Venedig: Camillo & Rutilio Borgominieri 1568/69.] 104 [Ein Giovanni Zamberto ist nicht nachweisbar. Möglicherweise handelt es sich hierbei um eine Namensverwechslung oder einen Verwandten des Bartolomeo Zamberti, des Herausgebers der bekannten Euklidausgabe von 1505. Siehe Anm. 67 und 70.] 105 [Siehe Anm. 67 und 70.] 106 [Pacioli, Luca: Euclidis megarensis…. Venedig: A. Paganius Paganinus 1509.] 107 [Siehe Anm. 70.] 108 [Alberti verspricht in seinem 1435/36 verfassten Malereitraktat Della Pittura, der einen radikalen Wandel im künstlerischen Selbstverständnis und in der Auffassung der künstlerischen Arbeit markiert, „die Malkunst von neuem aufzubauen“ (Alberti, Della Pittura, Kap. 26). Neu – im Vergleich beispielsweise zu Cennino Cenninis kurz vor 1400 entstandenem Libro dell’Arte – ist das wissenschaftliche Fundament der Malerei, das Alberti in der Geometrie, Optik und perspektivischen Raumkonstruktion sieht. Hierbei stützt er sich u.a. auf die Elemente des Euklid (eine Abschrift der lateinischen Übersetzung von Campana da Novara war in seinem Besitz). Entsprechend sah Alberti seine erste Aufgabe darin, die euklidische Geometrie auf die Malerei anzuwenden und die Maler von der Notwendigkeit dieses Fundaments zu überzeugen (Alberti, Della Pittura, Kap. 1). Zu den Ausgaben von Albertis Traktat siehe Anm. 39.]

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sich also soviel entnehmen, daß das Wesen des Verschwindungspunktes durchaus nicht erkannt wurde; sondern erst nachdem sich dieser in der Praxis gefunden hatte, suchte man nach einer Erklärung dieses Phänomens und glaubte sie gefunden zu haben indem man den Verschwindungspunkt ohne Weiteres mit dem Auge selbst als dem Ort, in dem sich die Sehstrahlen vereinigen, verwechselte.

Nun betrachte man von dem Standpunkte dieser gewonnenen Einsicht

aus die Stellen bei Vitruv noch einmal.109 Um auf den Standpunkt der antiken Perspective zu kommen, wie er aus den Monumenten ersichtlich, ist es nothwendig einige Schritte unter die so eben beschriebene Entwicklungsstufe der modernen Perspektivtheorie zurückzuthun. Es muß die der Praxis entnommene Kenntniß des malerischen Verschwindungspunktes weggelassen werden. Dann bleibt nur das Aug und die Sehpyramide übrig und etliche practische Handgriffe, wie sie zur Herstellung solcher noch fehlerhaften Perspectiven dienten, wie es die pompej. Malerei etc. zeigen.

Die Sehkraft, welche alle perspectivischen Wunder wirkt ist im Auge ver-

einigt. Das Aug selbst ist der zum Mittelpunkt gewählte Ort. Gewählt, weil das Bild von der Aufstellung des Beschauers abhängt. Die Zeichnung hängt vom Sehen und von der Ausbreitung der Sehstrahlen ab und dem allen entspricht eine natürliche fallende Art der Linien. In dieser Weise aufgefaßt ist es nicht [fol.] 132. nothwendig, daß diese nur im Allgemeinen fallende Art schon nach einem einzigen Punkt zu stattfindet, und nach dieser Auffassung steht die Stelle dann in keinem Wiederspruch mehr mit den Monumenten.

Die andere Stelle bei Vitruv schmiegt sich noch leichter der hier ­gegebenen

Anschauung an, als der Annahme eines Verschwindungspunktes. „Sceno­gra­ phie ist das Zusammenneigen aller Linien zum Centrum des Zirkels“.110 Wenn hier das Centrum des Zirkels den Verschwindungsp u n k t bedeuten soll, so müßte diese Ausdruckweise als eine sehr ungeschickte bezeichnet werden. Denn wenn z.B. dieser Verschwindungspunkt mit der einen Zirkelspitze 109 [Vitruv, De architectura libri decem (s. Anm. 80).] 110 [Ebd., Buch I, Kap. 2.] Autograph, ohne Titel (o.J.) – Teil I: Über Gesch[ichte] des Persp[ektivischen] Zeichn[en]s

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­markiert wird, was geschieht denn während dem mit der anderen Zirkelspitze? Ferner ist der Verschwindungspunkt allenfalls ein Centrum für die in ihm zusammenlaufenden Linien, aber doch nicht das Centrum eines Zirkels, weder einer Kreislinie noch auch des bekannten Meßinstrumentes. Das Centrum dieses letzteren ist vielmehr in dem Knopf gelegen in dem sich die beiden Schenkel derselben drehen, und dieses Centrum ist in obiger Stelle auch gemeint. Dieses Zirkelcentrum versinnlicht wieder das sehende Auge, die Schenkel sind die Sehstrahlen und der Winkel beider ist ein Sehwinkel. In dieser Weise enthält die obige Stelle eine bildliche Erklärung des Sehens wie sie der Meinung der Alten über dasselbe nach Art des Tastens mit einem Stock entspricht. Das Augenmaß mittelst Sehstrahlen und Sehwinkel ist verglichen dem Messen mit den gleichen Bestandtheilen eines Zirkels. Das Centrum der obigen Stelle ist wieder nicht der Verschwindungspunkt sondern das Aug selbst. [fol.] 133. Demnach wäre die verloren gegangene Perspectivliteratur der Alten dem Wort nach eine Art Vorstufe zu der frühesten neueren Perspectivlehre. Dieß entspricht den Monumenten und den Worten Vitruvs der das Ganze „eine noch wenig durchforschte Sache“ nennt.111 Noch vieles andere stimmt damit überein. Wenn „Agatarchus auf Angabe des Aeschylus dem Schauplatze eine dem Trauerspiel gemäße Verzierung gegeben“, so ist damit doch nicht eine moderne Bühnendecoration mit allen Hülfsmitteln der neueren Perspective gemeint und wenn er darüber „eine Beschreibung hinterlassen“, so ist diese doch kein hoch entwickeltes Lehrbuch der Linear-Perspective. Dieses munterte jedoch „den Democritus und Anaxagoras auf, ebenfalls darüber zu schreiben“, das was sie geschrieben haben wird aber gewiß sehr primitiver Natur gewesen sein, wie es Vitruv selbst andeutet und darin liegt vielleicht auch der Grund warum diese Werke, welche in ihrer Dürftigkeit keinen durchschlagenden Erfolg erzielen konnten, sich in wenigen nicht sehr hoch geschätzten Abschriften verbreiteten und somit auch nicht bis auf uns gekommen sind.

Was nun die Entstehung der neueren Perspectivliteratur betrifft, so gibt

es hierüber schon eine Anzahl Bearbeitungen, welche hierüber zunächst zu Rathe gezogen werden müssen. 111 [Dieses und die folgenden Zitate aus Vitruv, De architectura libri decem, Buch 7, Vorrede. Siehe auch Anm. 80.]

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Gewöhnlich finden sich in den Einleitungen oder in den Anfängen, Abhandlungen über die Geschichte der Perspectivlehre. Diese werden allgemein als „Geschichte der Perspective“ betitelt, als ob Perspective und Perspectivlehre ein und dasselbe wären. Es ist eben bisher noch keinem Perspectivlehrer eingefallen die Geschichte der Perspective auch an den Denkmälern der Zeichenkunst selbst zu studieren.

Das älteste und seiner Methode nach vorzüglichste Werk ist das von P.

Pfinzig.* Es kündigt sich zwar nicht als [fol.] 134. [Im Text 21 Markierungen mit Kreuzchen, ohne weitere Angaben] historische Arbeit an, ist aber in der That eine solche. Schon am Titel ist Vitruv, Alberti, Dürer, Sirigatti citiert. Seite 3 dann noch Alhacen und Vitellio. Die eigentliche Beschreibung der Perspectivbücher in chronologischer Ordnung und nach dem was in jedem Neues auftaucht, beginnt mit der Arithmetik und Geometrie des Luca Paccioli von 1494.112 Darauf folgt die Besprechung Dürer’s. Dieß ist ein neuer Fingerzeig, Dürer mit Paccioli in Verbindung zu denken. Hierauf wird Rodler* besprochen, dann Rivius*, A. du Cerceau*, H. Lautensackh*, ­Lenckher* und zum Schluß noch Sirigatti*.113 Dieses Werk ist besonders dadurch *

[Pfinzig von Henfenfeld, Paul: Optica, das ist gründtliche doch kurze Anweisung wie nothwendig die löbliche Kunst der Geometrie seye in der Perspectiv: sambt e. nutzl. Extract dreyerley Sorten u. Wege darauf d. Perspectiva zu gebrauchen; neben rühmlicher erzehlung d. Fürnembsten Alten u. unserer Zeit Authorn. Nürnberg: 1599 (2. Aufl.: Augsburg: Steffan Michelspacher 1616).]

112 [Pacioli, Luca: Summa di Arithmetica Geometria Proportioni & Proportionalita. Venedig: Paganius Paganinus 1494. Hierbei handelt es sich um das bis dahin vollständigste Handbuch der angewandten Mathematik.] 113 [Die hier genannten Perspektivbücher des 16. Jahrhunderts: Rodler, Hieronymus: Eyn schön nützlich Buechlein und Underweisung der Kunst des Messens, mit dem Zirkel, Richtscheit oder Lineal. Simeren auf dem Hausruck: Rodler 1531 (Nachdruck Graz: Akademische Drucku. Verlagsgesellschaft 1970); Rivius, Walter: Vitruvius Teutsch … erstmals verteutscht und in Truck verordnet. Nürnberg: Johan Petreius 1548 (Nachdruck Hildesheim: Olms 1973); Ducerceau, Jacques Androuet: Lecons de perspective. Paris: Mamert Patisson 1576 (Nachdruck Paris: Jardin de Flore 1978); Lautensack, Heinrich: Des Circkels und Richtscheyts, auch der Perspectiva und Proportion der Menschen und Rosse, kurtze, doch gründtliche Underweisung. Frankfurt a. M.: Feyerabend 1564; Lencker, Hans: Perspectiva, hierinen auffs kürtzte beschrieben … Nürnberg: Gerlatz 1571; ders.: Perspectiva literaria … Nürnberg: Gerlatz 1567 (Nachdruck Frankfurt/M.: Verlag Biermann und Boukes 1972); Sirigatti, Lorenzo: La Pratica di prospettiva … Venedig: Girolamo Franceschi Sanese 1596.] Autograph, ohne Titel (o.J.) – Teil I: Über Gesch[ichte] des Persp[ektivischen] Zeichn[en]s

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merkwürdig, weil es die zu ihrer Zeit sehr wichtige älteste deutsche Perspectivliteratur behandelt. Nicht lange nach P. Pfinzig weiß man von den Bemühungen der deutschen Meister nichts mehr. Das ganze Kunstgebiet wird von italienischem und französischem Einfluß beherrscht. Die deutschen Werke, zu denen noch das Buch von Jamnitzer*, Hirschvogel*, und Vredeman* gehört, sind aus den späten Geschichten der Perspectivliteratur verschwunden mit Ausnahme des Werkes von Alb. Dürer.114 Andere specielle Bearbeitungen dieses Gebietes finden sich bei Montucla* Sarcrieu*, und Priestley*.115 Aus den beiden ersteren hat Lambert* geschöpft und diese Abwandlung Lambert’s hat Kästner* benützt, auch ist sie in der deutschen Ausgabe Priestley’s* einfach an Stelle der dürftigen Bemerkungen des Originales gesetzt.116 In neuester Zeit hat die Geschichte der Perspectivlehre eine weitläufige, wenn auch oberflächliche Bearbeitung durch Pondra* erfahren.117 Die Angaben bei Libai* sind unbedeutend.118 Zwei 114 [Die hier genannte Literatur: Jamnitzer, Wenzel: Perspectiva corporum regularium. Nürnberg, 1568 (Nachdruck Graz: Akademische Druck- und Verlagsanstalt 1973); Hirschvogel, Augustin: Ein aigentliche und grundtliche anweysung in die geometria, sonderlich aber, wie alle regulierte und unregulierte Corpora in den grundt gelegt und in das Perspectiff gebracht. O.O. 1543 ; Vredeman de Vries, Hans: Perspectiva, id est celeberrima ars. Leyden: Henricus Hondius 1604/05 (Nachdruck: New York 1968; deutsche Ausgabe ebenfalls Leyden 1604/05).] 115 [Montucla, Jean Etienne: Histoire des mathematiques. 4 Bde. Paris: C. A. Jombert 1758 (Nachdruck der Ausgabe 1799–1802: Paris: Blanchard 1968). Joseph Priestley war Mitbegründer der Assoziationspsychologie. Sitte dürfte sich hier beziehen auf Priestley, Joseph: A familiar introduction to the theory and practice of perspective. London: J. Johnson and J. Payne 1770; ders.: Geschichte und gegenwärtiger Zustand der Optik vorzüglich in Absicht auf den physikalischen Theil dieser Wissenschaft. Aus dem Englischen von Georg Simon Klügel. Leipzig: Junnius 1776. Ein Autor „Sarcrieu“ lässt sich nicht nachweisen. Auch in Johann Heinrich Lamberts Die freye Perspektive findet sich kein expliziter Hinweis.] 116 [Johann Heinrich Lambert (1728–1777) war lange Zeit als Hauslehrer des Grafen Salis in Chur tätig. 1764 ging er nach Berlin, wo er Mitglied der Akademie und 1770 Oberbaurat wurde. Lambert, Johann Heinrich: Die freye Perspektive, oder Anweisung, jeden perspektivischen Aufriß von freiyen Stücken und ohne Grundriß zu verfertigen. Zürich: Heidegger 1759. (Zweite Aufl. 1774); Kästner, Abraham Gotthelf: Anfangsgründe der Arithmetik, Algebra, Geometrie, ebenen und sphärischen Trigonometrie und Perspectiv. Wien: Johann Thomas Edlen v. Trattnern 1783 (Kapitel: „Die Perspectiv“ S. 531–540) sowie Anfangsgründe der angewandten Mathematik. Zweyter Teil. Wien: Johann Thomas Edlen v. Trattnern 1783 (Kapitel: „Die Optik“ S. 212–235, „Die Katoptrik“ S. 236–257, „Die Dioptrik“ S. 258–326) Bei Kästner sind weder Priestley noch Lambert genannt.] 117 [Sitte bezieht sich hier – bei falscher Wiedergabe des Namens – auf Noël Germinal Poudra: Histoire de la perspective ancienne et moderne. Paris: Corréard 1864.] 118 [„Libai“ als Autor einer Abhandlung zur Perspektive ist nicht nachweisbar. Erneut scheint sich Sitte bei der Wiedergabe des Namens zu irren.]

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­ausgezeichnete Specialuntersuchungen müssen hier noch erwähnt werden. Die schon angeführte Untersuchung Fiorillo’s1 1 9 und die Abhandlung von E. Harzen* über den Maler Pietro degli Franceschi und seinen vermeintlichen Plagiarius den Franciskanermönch Luca Paccioli.120

Alle Angaben dieser Autoren über die erste Entstehung der modernen

Perspektivliteratur beruhen auf einigen Stellen bei D. Barbaro*, Egn. Dante*, G. P. Lomazzo* und Vasari. Diese Stellen sind folgende: [fol.] 135. [Im Text vier Markierungen mit Kreuzchen, ohne weitere Angaben]

D. Barbaro sagt in der Vorrede, nachdem er einiges Allgemeine über die

Perspective der Alten gesprochen: „Sie haben alles m i t t e l s t z u m A u g e w i e z u e i n e m C e n t r u m g e z o g e n e r L i n i e n * aufs genaueste in Perspective gesetzt. Aber auf welche Art und nach welchen Regeln man verfuhr darüber hat niemand (so viel ich weiß) in einer Schrift etwas hinterlassen, wenn wir nicht einige oberflächliche Vorschriften und practische Regeln, ohne Ordnung und Gründlichkeit und in unvollkommener Darstellung gelten lassen wollen. Dahin gehört einiges von Pietro dal Borgo S. Stefano* und a n d e r e n , welches allenfalls von ganz Unwissenden gebraucht werden kann.* Einiges hat A . D ü r e r hinterlassen, das sehr einsichtig und scharf. Viel weitläufiger ist S e r l i o . Aber beide stehen so zu sagen noch an der Thürschwelle. Die Maler unserer Zeit, auch die berühmten, die einen großen Namen haben, bedienen sich einer einfachen Methode; ihre Bilder zeigen in dieser Hinsicht nichts Bemerkenswertes, auch haben wir keine geschriebenen Regeln von ihnen. Federico Comandino hat in der Karte des [P]tolomeus* einige gelehrte Erklärungen angebracht, wie er pflegte, die sich auf Perspektive, als deren Grundregeln, beziehen und sehr geeignet sind den Lernenden Anregung zu geben.“…121

119 [Fiorillo, Johann Dominicus: Ueber die Kenntniß der alten Künstler von der Perspective und ihre Wiederauflebung in neuern Zeiten, in: Ders.: Kleine Schriften artistischen Inhalts. Bd. 1. Göttingen: H. Dieterich 1803, S. 288–329.] 120 [Siehe Anm. 101.] 121 [Federico Commandino (1509–1575), der in Padua Philosophie und Medizin studiert hatte, arbeitete teils als Arzt, teils als Mathematiker in Rom, Bologna, Venedig und Urbino, wo er sich 1565 niederließ. Neben dem Werk Ptolomaei Planisphaerium, Jordani Planisphaerium, Federici Commandini urbinatis in Planisphaerium commentarius, in quo ecc. (Venedig 1558) editierte er Schriften von Archimedes, Apollonios, Aristarch, Heron und Euklids Elemente.] Autograph, ohne Titel (o.J.) – Teil I: Über Gesch[ichte] des Persp[ektivischen] Zeichn[en]s

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Zu Ende der Vorrede heißt es dann noch: Giovanni Zamberto, ein Venetianer, habe ihm als Führer in Ausübung der Perspective gedient.122

Ign. Danti in der Vorrede zu seiner Ausgabe der Perspective von Vignola

sagt: „So eine man sich Mühe gegeben nachzuforschen, man doch kein in die Perspective einschlagendes Buch [fol.] 136. [Im Text vier Markierungen mit Kreuzchen, ohne weitere Angaben] oder Geschriebenes von den Alten habe vorfinden können, so sehr sie auch nach ihren zu Athen von den Griechen und zu Rom von den Lateinern so hochgeschätzten Theaterverzierungen zu urtheilen, vortrefflich in der Kunst müssen geübt gewesen sein. Aber zu unserer Zeit ist unter denen, welche von dieser Kunst etwas schriftlich hinterlassen haben, Pietro della Francesca der erste gewesen, der nach einer guten Lehrart und Ordnung davon geschrieben und von dem wir in drei Büchern eine Handschrift mit trefflichen Zeichnungen haben, deren Vorzüge und Schätzbarkeit man bei Daniel Barbaro nachsehen kann, da dieser einen großen Theil davon in sein Werk von der Perspective übertragen. Die gemeinen Regeln dieser Kunst hat Sebastian Serlio so wie er sie von Balthasar von Siena* erlernt, ebenfalls beschrieben. Weitläufiger haben sie die beiden Franzosen J. A. du Cerceau* und J. Cousin* vorgetragen. Pietro Cataneo ist im Vortrage dem Pietro dal Borgo gefolgt: Wir haben ferner eben diese Regeln kürzer beschrieben von Leonbattista Alberti, Leonardo da Vinci, Alb. Dürer, Giovachino Fortio, Joh. Lenker, Wenceslaus Jauniger, ­einen Nürnberger, welcher die regulären Körper und andere zusammengesetzt, so wie es Pietro dal Borgo gethan, perspectivisch aufgegriffen, ungeachtet sie nachgehends F. Luca unter seinem Namen herausgegeben. Überdieß haben wir ein anderes Buch von der Perspective, betitelt Viaton* (das will also sagen von Viaton) welches mehr Figuren als Worte enthält. Auch beweist [fol.] 137. [Im Text vier Markierungen mit Kreuzchen, ohne weitere Angaben] Commandino geometrisch, wie eine Sache in allen Fällen, perspectivisch gezeichnet aussehe“.123 122 [Siehe Anm. 67 und 70] 123 [Danti, Egnazio (Hg.): Le due Regole della Prospettiva pratica di Jacomo Barozzi da Vignola. Rom: Zannetti 1583 (Nachdruck Alburgh: Archival Facsimilies 1987).]

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Diese Stelle enthält die meisten historischen Angaben.

Die wenigsten und unsichersten sind bei Lomazzo zu finden.124 Von der

bei Dante angegebenen wichtigsten Literatur berichtet er nichts, schreibt aber über Perspective selbst so undeutlich verschwommen, daß daraus nur zu entnehmen, wie wenig er davon verstanden. Die Autoren, welche er citirt, kommen auch sonst nirgends erwähnt vor, außer in neueren Werken, deren Quelle eben Lomazzo ist. Es hat sich auch nirgends eine Arbeit von ihnen gezeigt und so scheinen es denn in der Perspectivlehre Größen zweiten Ranges zu sein, mit denen Lomazzo zufällig in Verbindung gestanden und von denen er sein Wissen über Perspective empfangen. Es ist dieß vor allen Bramantino Milano*.125 Diesem schreibt er drei Methoden der Perspective zu. 1. Mit Punkten und Lineal 2. Aus freiem Auge und 3. Durchs Netz. Diese drei Methoden hat Bramantino Milano gewiß nicht erfunden, wohl aber gekannt und geübt wie alle Maler seiner Zeit.

Ferner citirt Lomazzo noch Bernardino Zenale* und Vicenzo Foppa*.126 Den

124 [Lomazzo, Paolo: Trattato dell’arte della Pittura. Mailand: Paolo Gottardo Pontio 1584 (Nachdruck Hildesheim: Olms 1968). Lomazzos großer Traktat über die Malerei, der in aristotelisch-scholastischer Tradition steht und auch Nähe zu den Precetti des Armenini aufweist, enthält in den ersten fünf Büchern neben Hinweisen auf Farbe, Licht und Darstellung des menschlichen Körpers auch Ausführungen zur Proportionslehre und Perspektive. Hier verweist er u.a. auf Perspektivlehrer wie Foppa, Zenale und Bramantino.] 125 [Von Bramantino (eigentlich Bartolomeo Suardi, ein Schüler Bramantes) gibt Lomazzo ausführliche wörtliche Auszüge aus einer Perspektivlehre, in der drei Arten perspektivischer Konstruktion unterschieden sind: die mathematisch fundierte, die rein empirische und die mechanische mit dem althergebrachten Netz („graticolo“, „velo“). Ein Schüler des Bramantino ist der von Lomazzo ebenfalls erwähnte Agostino di Bramantino, der seit Masini mit Agostino Dalle Prospettive identifiziert wird, der um 1525 in Bologna tätig war, wo Dürer nach eigener Aussage die „heimliche Perspektive“ lernen wollte. Siehe auch Anm. 38.] 126 [Lomazzo und andere berichten, dass das Haupt der Altmailänder Malerschule, Vincenzo Foppa aus Brescia (in Mailand in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts tätig), ein Traktat über die Malerei hinterlassen habe, das u.a. „quadrature“ – die Konstruktion des menschlichen Kopfes nach geometrischen Schemen – enthalten habe, wozu Foppa von den „figure quadrate“ des alten Lysipp angeregt worden sein soll. Lomazzo wollte das Traktat veröffentlichen; heute gilt es als verschollen. Auch Bernardo Zenale (tätig bis gegen 1526) soll ein 1524 datiertes, heute gleichfalls verschollenes Traktat über Perspektive und Architektur hinterlassen haben, von dem Lomazzo ebenfalls einige Auszüge überliefert. Sie zeigen, dass Zenale, der Autograph, ohne Titel (o.J.) – Teil I: Über Gesch[ichte] des Persp[ektivischen] Zeichn[en]s

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letzteren als denjenigen von dem Albrecht Dürer einen großen Theil seiner Kenntnisse genommen habe. Vasari nennt P. Ucello als Erfinder der Perspective.127

Dieß sind diejenigen Originalstellen, auf welchen alle späteren Autoren

fußen, und welche nahezu als unmittelbare Berichte von Zeitgenossen angesehen werden können.

Eine neuere Hypothese* nennt auch v. Eyck als Erfinder der Perspective,

welche durch Antonello da Messina nach Italien übertragen worden sei.128 Im allgemeinsten Sinn kann natürlich [fol.] 138. von einem Erfinder der Perspective gar nicht die Rede sein. Die Entwicklung des perspectivischen Könnens und Wissens ist eine vollkommen stetige. Es kann nur gefragt werden, wer zuerst den perspectivischen Grundgedanken so bestimmt erschaute, daß er ihn endlich mit Worten auszusprechen vermochte. Ferner kann gefragt werden, wer diese Grundregel zuerst niedergeschrieben, und unter welchen Einflüssen dieß stattgefunden. u.a. mit Leonardo in Kontakt stand, noch teilweise veraltete Standpunkte einnahm, wie beispielsweise seine Ausführungen zur Luftperspektive erkennen lassen. Er fordert, im Gegensatz zu Leonardo und anderen, dass selbst die kleinen, entfernten Gegenstände mit der gleichen Präzision und Klarheit wie die nahsichtigen wiedergegeben werden müssten.] 127 [Vasari nennt Paolo Uccello nicht – wie von Sitte behauptet – als Erfinder, sondern als einen Meister der Perspektive. Als Erfinder der Zentralperspektive gilt hingegen seit dem Quattrocento Filippo Brunelleschi (siehe Anm. 35): Um 1460/62 schrieb Filarete in seinem Trattato di architettura, Brunelleschi habe die zentralperspektivische Konstruktion durch die Analyse des Spiegelbildes entdeckt. Manetti, der Biograph Brunelleschis, hob um 1480 dessen Leistung in der Wissenschaft der Verkürzung und Vergrößerung hervor, die von den Malern „prospettiva“ genannt werde. Ähnliches berichtet Vasari in der Vita des Brunelleschi, die aber von Sitte offenbar nicht konsultiert wurde. Dies erstaunt, da sich bereits in Ludwig Schorns grundlegender Vasari-Ausgabe zur Vita des Paolo Uccello der Hinweis findet, „Paolo sey durch Filippo Brunellesco zum Studium der Perspective veranlasst worden“ (Schorn, Ludwig: Leben der ausgezeichnetsten Maler, Bildhauer und Baumeister, von Cimabue bis zum Jahre 1567, beschrieben von Giorgio Vasari. Bd. 2, 1. Stuttgart, Tübingen: I. G. Cotta 1837, S. 83, Anm. 2).] 128 [Hubert und Jan van Eyck sind als Erfinder der Perspektive beispielsweise erwähnt in Ludwig Schorns Kommentar zu Vasaris Lebensbeschreibung des Paolo Uccello (Bd. 2, 1 Stuttgart, Tübingen 1837, S. 83, Anm. 2) (Neudruck: Worms: Werner’sche Verlagsgesellschaft 1983). Vasaris Vita von Antonello da Messina zufolge erlernte dieser bei van Eyck in Brügge die Ölmalerei (Ebd., S. 370).]

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Die Männer, welche in dieser Weise mit der geschichtlichen Entwicklung der Perspectivlehre in Zusammenhang stehen, lassen sich in drei Gruppen vertheilen. In die practischen Maler, in die Mathematiker und in diejenigen, welche theils Maler und theils Mathematiker sind und eine theoretische Erklärung des practisch gefundenen anstreben. Diese letzteren sind die eigentlichen Perspectivlehrer um welche es sich hier handelt.

Zu den spectivischen Mathematikern, deren Werke wohl die geometri-

schen Elemente zu einer Perspectivlehre enthalten, etwa wie Euclid, aber keine Perspectivlehre, d.h. keine Anwendung dieser Grundsätze zu Zwecken der Malerei wirklich sind, gehört Commandino und Luca Paccioli.129 Zu den practischen Künstlern, welche zwar schon ziemlich gut perspectivisch arbeiten, ohne jedoch die Theorie selbst auszubilden, gehört v. Eyck.130 Von beiden Seiten her geht die Anregung zur Ausbildung der perspectivischen Theorie aus. Diese Anregung ist aber nicht die Theorie selbst.

Eine Auffindung des perspectivischen Grundgedankens dem v. Eyck zuzu-

schreiben ist nicht stärker131 [fol.] 139. [Fortsetzung von fol. 138r] fehlgegriffen als wenn sie dem P. Ucello zugeschrieben wird. Denn Ucello scheint sich vergebens bemüht zu haben, den Schleier der Perspective zu lüften und zählt gleichfalls nur in die Gruppe von Meistern, welche ­dieselben

129 [Zu Commandino siehe Anm. 121, zu Pacioli siehe Anm. 101.] 130 [Im Werk von Jan van Eyck (um 1390–1441) finden sich zwar perspektivische Darstellungen, aber noch keine perspektivisch kohärent konstruierten Bildräume. Die Orthogonalen von Boden, Wänden und Decke konvergieren nämlich nicht zu einem einzigen Fluchtpunkt, sondern zu unterschiedlichen Fluchtpunkten. Siehe beispielsweise „Madonna in der Kirche“, um 1425 (Berlin, Staatliche Museen), „Arnolfini-Doppelporträt“, 1434 (London, National Gallery).] 131 [Verso weist fol. 138 zahlreiche Textstreichungen auf. Nachfolgende Passage ist nicht gestrichen: „aus der ursprünglichen frontalen in die endlich richtige perspectivische Darstellungsweise in vollständiger Verkürzung.

Da jeder Körpertheil in perspectivischer Verkürzung gesehen werden kann, so hat auch die Zeichnung eines jeden ganz diese selbe Geschichte. Endlich können auch mehrere Theile verbunden und gemeinschaftlich in Verkürzung gesehen werden, bis endlich die ganze Figur in ihrer Totalität in vollständiger Verkürzung zu zeichnen versucht wird. Auch in allen diesen Combinationen zeigt sich dasselbe Entwicklungsgesetz herrschend. Nebst dem Auge ist es die Schulter, welche auf ältesten Darstellungen wie in Fig. 14 von vorne gesehen also für die Totalität der Gestalt in gedrehter Lage gezeichnet wird.“] Autograph, ohne Titel (o.J.) – Teil I: Über Gesch[ichte] des Persp[ektivischen] Zeichn[en]s

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practisch schon ziemlich gut auszuüben verstehen. Dieß scheint aus den Stellen bei Vasari hervorzugehen, welche alle eine übermäßige aber noch fruchtlose Anstrengung verzeichnen; ferner aus dem Umstand, daß sich in der That keine Aufzeichnungen Ucello’s über Perspective und auch nirgends eine Kunde von solchen erhalten hat.

Vasari sagt von ihm, „daß er fortwährend über Bewältigung neuer perspec-

tivischer Schwierigkeiten gebrütet und damit viel Zeit verloren. Er ließ die Dächerlinien gegen den Mittelpunkt zu kürzer werden, fand die Art Bogen, Wölbungen und Fußböden zu zeichnen und Figuren die rechte Höhe geben, was früher willkürlich geschehen und stellte zuerst Landschaften wohl dar“.132

Das alles könnte ebensogut von v. Eyck oder Wohlgemuth gesagt werden,

ohne daß darunter schon die richtige Erklärung des Wesens der Perspective zu suchen wäre. Vasari erzählt weiter „daß er fünf berühmte Männer in einem Bild malte Giotto, Brunellesco, Donatello, sich selbst wegen der Perspective und Thiere und endlich noch wegen der Mathematik Giovanni Manetti, seinen Freund, mit dem er häufig sich berieth und über die Lehren des Euclid sprach“.133 Alles dieß kennzeichnet ihn als Practiker, der sich zwar müht, die einheitliche Regel seines Zeichnens zu finden, aber nirgends findet sich eine Bestätigung, daß ihm dieses auch gelungen. [fol.] 140. [Im Text zwei Markierungen mit Kreuzchen, ohne weitere Angaben] Vielmehr leiten die bestimmteren Nachrichten bei Barbaro und Ig. Dante auf Pier della Francesca hin.134 Peruzzi, Serlio, Barbaro und Vignola sollen unmittelbar oder mittelbar seine Schüler sein.

132 [Dies ist kein wörtliches Zitat nach Vasari, sondern eine Kompilation verschiedener Textstellen aus Vasaris Vita des Paolo Uccello (siehe die Vasari-Ausgabe von Ludwig Schorn, Stuttgart, Tübingen: I. G. Cotta 1873, Bd. 2,1, bes. S. 82–88).] 133 [Auch diese Stelle ist nicht wörtlich nach Vasari zitiert, sondern frei kompiliert (siehe die Vasari-Ausgabe von Ludwig Schorn und Ernst Förster, Stuttgart, Tübingen: I. G. Cotta 1837, Bd. 2,1, S. 94–95). Das Gemälde befindet sich im Louvre in Paris und wird heute – nach Uccellos Tod (1475) – Ende des 15. bzw. Anfang des 16. Jahrhunderts datiert.] 134 [Hierzu und zum Folgenden der von Sitte an verschiedenen Stellen genannte Ernst Harzen („Über den Maler Pietro degli Franceschi und seinen vermeintlichen Plagiarius L. Pacoli“, in: Naumann, Robert (Hg.): Archiv für die zeichnenden Künste II, Leipzig: Rudolph Weigel 1856, bes. S. 235 ff.) Hierzu ebenso Sitte, Camillo: „Die Perspectivlehre des Pietro degli Franceschi“ (1879), in diesem Bd. S. 143–150.]

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Luca Paccioli sagt in seiner Somma de Arithmetica 1494 daß „Pier d. Fran­ scesca soeben ein Werk über Perspective vollendet.“135 Derselbe Mathematiker sagt in seinem andern Werk Divina proportione von 1509, „daß er es fleißig studirt und ein Compendium desselben herauszugeben beabsichtigt“.136 Von diesem Compendium ist nun allerdings nirgends eine Spur wie E. Harzen angibt, aber das Originalwerk des Pier d. Francesca hat sich handschriftlich erhalten in der Ambrosianaischen Bibliothek. Es führt den Titel: „Petrus Pictor Burgensis de Prospectiva pingendi“.137 Die Identität dieses Werkes mit dem des Pier della Francesca ergibt sich aus der Übereinstimmung mehrerer Stellen mit Stellen in dem Perspectivwerk des Dan. Barbaro.1 3 8 Nach Harzen enthält die Abhandlung nur ziemlich allgemein gehaltene Grundregeln, in der Art wie Vignola die seinigen hinterließ. Der Verfasser bestimmt das Verhältniß der Distanz zum Durchmesser, ähnlich dem der Höhe des gleichseitigen Dreieckes zur Seite desselben. Auch wird bereits die Anwendung einer Schnur zur Bestimmung der Intersectionen gelehrt, eines Hülfsmittels, das lange nachher von Hans Lencker139 als eigene Erfindung geltend gemacht wurde. Es ist auch möglich, daß Lencker auf dieses Mittel neuerdings ­verfallen, denn von

135 [Hier zitiert Sitte nach Harzen, Ernst: „Über den Maler Pietro degli Franceschi und seinen vermeintlichen Plagiarius L. Pacoli“, in: Naumann, Robert (Hg.): Archiv für die zeichnenden Künste II, Leipzig: Rudolph Weigel 1856, S. 236.] 136 [Auch dieses Zitat ist von Harzen übernommen („Über den Maler Pietro degli Franceschi und seinen vermeintlichen Plagiarius L. Pacoli“, in: Naumann, Robert (Hg.): Archiv für die zeichnenden Künste II, Leipzig: Rudolph Weigel 1856, S. 236).] 137 [Bei der von Ernst Harzen in der Ambrosiana aufgefundenen Abschrift des Traktats handelt es sich um eine wohl in der 2. Hälfte des 16. Jahrhunderts entstandene Kopie, bei der die für das Textverständnis notwendigen Zeichnungen fehlen (Mailand, Biblioteca Ambrosiana, Cod. art. in fol. D. 200). Eine weitere, Harzen wohl noch nicht bekannte Handschrift von Pieros Traktat vom Ende des 15. Jahrhunderts (mit 80 Zeichnungen), die ebenfalls in der Biblioteca Ambrosiana in Mailand verwahrt wird (Cod. cart. in fol. C. 307), ist von Sittes Kollegen Hubert Janitschek genannt („Des Piero degli Franceschi drei Bücher von der Perspektive“, in: Kunstchronik. Beiblatt zur Zeitschrift für bildende Kunst, Jg. 13 (1878), S. 670–674). Pieros Traktat wurde erstmals auf Grundlage einer Handschrift in der Biblioteca Estense in Parma publiziert von Winterberg, Constantin (Hg.): Petrus pictor burgensis de prospectiva pingendi: nach dem Codex der königlichen Bibliothek zu Parma, nebst deutscher Übersetzung zum Erstenmale veröffentlicht. Straßburg: J. H. Ed. Heitz 1899.] 138 [Dieser Passus ist weitgehend wörtlich von Ernst Harzen übernommen („Über den Maler Pietro degli Franceschi und seinen vermeintlichen Plagiarius L. Pacoli“, in: Naumann, Robert (Hg.): Archiv für die zeichnenden Künste II, Leipzig: Rudolph Weigel 1856, S. 241). Zu Daniele Barbaros Perspektivtraktat siehe Anm. 103.] 139 [Lencker, Hans: Perspectiva, hierinen auffs kürtzte beschrieben … Nürnberg: Gerlatz 1571.] Autograph, ohne Titel (o.J.) – Teil I: Über Gesch[ichte] des Persp[ektivischen] Zeichn[en]s

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den Nachfolgern des Pier della Francesca wird es nicht gebraucht und sein eigenes Werk ist nicht im Druck erschienen, war also wenig verbreitet und bald vergessen.

Seine Schüler waren: Luca Paccioli (nach Angabe Vasari’s) ferner Bramante*,

worunter vielleicht der bei Lomazzo citirte Bramantino zu verstehen (nach Luca Paccioli*) und Peruzzi der erste Verfertiger großer Theaterdecorationen (nach Ig. Dante). Barbaro hat seine Arbeit viel benützt (wie Ig. Dante angibt und Harzen bestättigt), ihn aber doch bereits für veraltet angegeben.* [fol.] 141. [Fragment, am unteren Rand beschnitten] So zeigt sich denn ein schon reich verzweigter Zusammenhang einer schulmäßigen Tradition und Weiterbildung der in Pier della Francesca seinen ­ersten Kristallisationspunkt besitzt.140

Daß Pier nur wieder aus einer andern Quelle geschöpft, wird nirgends an-

gegeben, und so kann es denn sein, daß ihm dasjenige geglückt ist aufzudecken, worüber Ucello vergebens nachgesonnen. Alles war bereits vorbereitet und es bedurfte nur einer glücklichen Situation, in der sich ein geistvoller Maler, der zugleich auch mit der Geometrie und Optik seiner Zeit wohl vertraut war, befand, damit ihm die an sich einfache perspectivische Grundregel klar vor Augen trat und er sie nun zum ersten male auszusprechen vermochte.

Das Meiste hat aber Pier unter allen Umständen von seinen Vorfahren

überkommen, denn der Einzelne vermag immer nur einen kleinen Schritt über seine Zeit hinaus nach vorwärts zu thun. 140 [Piero della Francescas 1482 verfasste De prospectiva pingendi, die in verschiedenen Handschriften überliefert ist (siehe Anm. 136) und großen Einfluss auf die Geschichte der Perspektive hatte (u.a. auf Luca Pacioli und Leonardo), gilt als ältestes Grundlagenwerk und zugleich als eine der umfassendsten mathematisch-geometrischen Darlegungen der Zentralperspektive des 15. Jahrhunderts. Am Humanistenhof des Federigo Montefeltre in Urbino entstanden, wo das Verhältnis mathematischer, theologischer und künstlerisch-architektonischer (Francesco di Giorgio Martini) Gesetzmäßigkeiten mit besonderem Interesse erforscht wurde, setzt sie sich klar von den empirischen Perspektiv-Studien Leon Battista Albertis ab. Buch 1 handelt über die Punkte, Linien und Flächen, Buch 2 über die stereometrischen Körper und deren Konstruktion, Buch 3 über den perspektivischen Aufriss von Köpfen und Bauteilen. Als Hauptleistung Pieros darf gelten, dass von ihm erstmals das Distanzpunktverfahren beschrieben wurde, mit dessen Hilfe die richtige Tiefenstaffelung der Transversalen, also aller Horizontallinien, festgelegt wird. Hierzu siehe auch Sitte, Camillo: „Die Perspectivlehre des Pietro degli Franceschi“ (1879), in diesem Bd., S. 143–150.]

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[fol.] 142. [Im Text eine Markierung mit Kreuzchen, ohne weitere Angaben] Es gibt auch einen Meister, der ein Stück vor Pier della Francesca aber nach Ucello schon den Grund aller Perspective richtig entwickelte und das ist Leon Battista Alberti *. Das erste Buch seiner pittura ist das älteste Lehrbuch der Perspective, das wir besitzen.141 Seine Lebenszeit fällt geradezu zwischen Ucello und Pier della Francesca. Er ist ein jüngerer Zeitgenosse Ucello’s und ein älterer des Francesca. Ucello lebte von 1397–1479. Alberti von 1404 bis 1483 od. 84, Pier della Francesca (nach Harzen) 1426–1510. Wenn die Annahme richtig ist, daß Ucello nicht bis zu der Erkenntniß durchgedrungen, daß das perspectivische Bild nichts anderes als ein Schnitt der Bildfläche mit der Sehpyramide ist, dann steht auch der theoretischen Höhe nach Alberti genau zwischen Ucello und Francesca.142

Ucello zeichnet schon ganze Figuren in Verkürzung. z.B. sein trunke-

ner Noah erscheint ganz von unten gesehen.143 Auch scheint er die architektonisch fallenden und steigenden Linien bereits richtig in einem einzigen Punkt vereinigt zu haben. Er kannte auch die Werke Euclid’s, aber eine tiefere Einsicht als daraus zu schöpfen scheint ihn nicht gelungen zu sein.

Alberti theilt seine Demonstration in zwei Theile. Die erste Hälfte seines

ersten Buches behandelt das aus Euclid geschöpfte Wissen. Hier redet er nirgends von sich selbst oder von eigenen Erfindungen sondern nur von den Alten. Im zweiten Theil tritt er aber mit Bewußtsein ja mit Pathos als Erfinder

141 [Hierzu siehe Anm. 39.] 142 [Der Florentiner Maler und Mosaikkünstler Paolo Uccello (1397–1475), der bei Lorenzo Ghiberti ausgebildet wurde und 1425–1431 in Venedig war, dürfte in den 1420er Jahren im Umfeld Brunelleschis, Masaccios, Donatellos und Albertis mit der Perspektive vertraut geworden sein. Erst nach seiner Rückkehr aus Venedig begannen seine eingehenden wissenschaftlichen Studien über Perspektive (u.a. Freundschaft mit dem Mathematiker Manetti), die in seinem malerischen Werk (ältestes gesichertes Werk erst 1436) einen direkten Niederschlag fanden. Uccello zählt zu den ersten Künstlern, die Albertis 1435/36 verfasste Perspektivtheorie malerisch umsetzten. Siehe u.a. „Die Sintflut“ (1446, Florenz, S. Maria Novella, Chiostro Verde); „Schlacht von S. Romano“ (um 1456; die drei großformatigen Holztafeln, die sich als Zyklus ehemals im Palazzo Medici in Florenz befanden, heute in Florenz, London und Paris).] 143 [Gehört zum 1446–1448 entstandenen Freskenzyklus im Kreuzgang von S. Maria Novella in Florenz.] Autograph, ohne Titel (o.J.) – Teil I: Über Gesch[ichte] des Persp[ektivischen] Zeichn[en]s

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auf und erklärt in dieser Weise seinen Zeitgenossen das von ihm entdeckte Geheimniß der Perspective.144

Die Stelle lautet:

[fol. 143 nicht vorhanden] [fol.] 144. Im zweiten Buch wird dann des Netzes gedacht, durch welches die Maler zeichnen.145 Diese Vorrichtung theilt er wieder nicht als eigene Erfindung mit und es könnte daraus geschlossen werden, daß der Gebrauch des Netzes älter sei als die Theorie von der Glastafel.146 Die Lehre der durchsichtigen

144 [Alberti beschreibt in seinem 1435/36 in lateinischer und italienischer Sprache verfassten Malereitraktat (De Pictura/Della Pittura) das Perspektivbild als Schnitt der Sehpyramide mit der Bildebene. Von ihm stammen auch die ersten überlieferten Perspektivzeichnungen, die im Zusammenhang mit seinem Malereitraktat entstanden. Er konstruierte, noch ohne Distanzpunkt, eine perspektivisch richtige Verkürzung gleich großer, zur Grund­ebene pa­­ ralleler Quadrate. Zu Albertis Traktat siehe Anm. 39.] 145 [Alberti gilt als Miterfinder des Quadratnetzverfahrens, dem für die Entwicklung der perspektivischen Konstruktion sowie der proportionalen Vergrößerung eines Entwurfs größte Bedeutung zukommt. Als Perspektivbehelf dient hierbei das „velum“ bzw. „velo“: ein Rahmen mit Fadennetz, das den senkrechten Schnitt durch die Sehpyramide darstellt und die Vermessung der Projektion auf der Schnittfläche erlaubt. Die Messpunkte für die Gegenstände und Figuren können dann vom „velum“ auf eine entsprechend quadrierte Mal- bzw. Zeichenfläche übertragen werden. Die älteste erhaltene quadrierte Zeichnung ist Paolo Uccellos Entwurf für das Reiterdenkmal des John Hawkwood im Dom von Florenz von 1436. In der lateinischen Fassung seines Traktats rühmt sich Alberti, die Verwendung des „velum“ entdeckt zu haben; in der italienischen Fassung findet sich diese Bemerkung nicht, vielleicht weil ein Fadengitter bzw. Raster in den Werkstätten bekannt war und wohl auch bereits bei Brunelleschis um 1413 entstandenen perspektivischen Veduten zum Einsatz kam (siehe auch Anm. 35). Eine Illustration des „velum“ mit seiner Anwendung für die verkürzte Darstellung eines Körpers erschien in der zweiten Auflage von Dürers „Underweysung der Messung“ (siehe Anm. 38) von 1538 (Zeichner des weiblichen Modells, fol. Qiiiv).] 146 [Im Zusammenhang mit seiner Definition des Bildes als senkrechter Durchschneidung („intersegazione“) der Sehpyramide machte Alberti den berühmt gewordenen Vergleich des Bildes mit dem Fenster bzw. mit der Bildfläche aus Glas, die für die Sehpyramide durchsichtig erscheint (hierzu siehe auch Anm. 39.). Ähnlich wie das Quadratnetzverfahren war das Glastafelverfahren, das beispielsweise auch Leonardo im Codex Atlanticus (fol. 51) als einfache Methode zur richtigen perspektivischen Wiedergabe vorschlug, in vielen Künstlerateliers im Gebrauch. Dürer, der es seit 1514 mehrfach skizzierte, widmete

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Fläche repräsentiert auch wirklich ein vorgeschrittenes Stadium der theoretischen Einsicht. Der Gebrauch des Netzes ist möglicherweise noch rein practischer Natur, hervorgegangen aus dem Bedürfniß die Sehwinkel zu messen. In dieser Beziehung ist das Netz nur eine Verbesserung des ganz primitiven Verfahrens, den Sehwinkel mittelst Pinselstiel und daraufgehaltenen Daumen abzumessen. Die Glastafel dagegen dient nicht zum practischen Gebrauch sondern nur zur leichteren Demonstration des theoretischen Grundgedankens. Auch ist der Sprung von den einfachsten Hülfsmitteln zum Netz und von diesem zur durchsichtigen Fläche kein allzu großer; wohl aber wäre die unmittelbare Annahme einer durchsichtigen Fläche zwischen Aug und Object ein allzu großer plötzlicher Fortschritt. Es ist somit wahrscheinlich, daß Alberti diesen Fortschritt mit Hülfe des schon vorhandenen Netzes zu Stande brachte. Noch weiter vorzudringen ist ihm aber nicht möglich geworden. Er hat das Bewußtsein der großen Tragweite seiner Entdeckung, vermag sie aber selbst nicht weiter auszubauen. Perspectivische Constructionen gründet er nicht darauf, nirgends macht er den Versuch den Durchschnittspunkt des Sehstrahles mit seiner Bildfläche auf geometrischem Weg zu bestimmen.

Seine Nachfolger scheinen dann zunächst diese in ganz neuer Bedeutung

erscheinende Bildfläche mit den von früher her bekannten [fol.] 145. [Im Text eine Markierung mit Kreuzchen, ohne weitere Angaben] practischen Regeln ausgestattet zu haben, den Schnittpunkt des Sehstrahles räumlich mittelst Schnur gefunden zu haben, welches blos eine unmittelbare Übertragung der Theorie in die Praxis ist; und in Aufzeichnung dieser Vorgänge besteht eben das Werk des Pier della Francesca.

So bedeutet der Zeit und dem Wert nach das Werk Alberti’s eine Zwi-

schenstation zwischen Ucello und Pier della Francesca.147 Ob aber Francesca thatsächlich aus Alberti geschöpft, aus seiner Schrift oder in Folge mündlicher Verbreitung von Alberti’s Gedanken, läßt sich nicht nachweisen. diesem Verfahren auch eine Illustration in seiner 1525 publizierten „Underweysung der Messung“ (siehe Anm. 38) (Zeichner des sitzenden Mannes, fol. Qiiv.). Hier ist zwischen dem sitzenden Modell und dem Zeichner eine Glastafel fixiert, auf der der Porträtierte in perspektivischer Verkürzung erscheint. Seine Gestalt muss nur mit dem Schwarzlotpinsel nachgefahren werden.] 147 [Siehe Anm. 139 und 141.] Autograph, ohne Titel (o.J.) – Teil I: Über Gesch[ichte] des Persp[ektivischen] Zeichn[en]s

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Daß Alberti in der Folge so wenig geschätzt und wenig citirt wurde, beruht gewiß darin, daß sein Werk vom dem des Pier und seiner Nachfolger an practischem Wert weitaus überboten wurde. Manches mag dazu auch der Umstand beigetragen haben, daß es erst lange nach seinem Tode nämlich erst 1511 und zwar außerhalb Italien zu Nürnberg gedruckt wurde.148 In den deutschen Perspectivbüchern wird Alberti auch öfter erwähnt als in den italienischen.

Ob das sehr frühe Werk des Pellerin* mit der Gruppe italienischer Autoren

in Verbindung gebracht werden kann, ist zweifelhaft.149 Die Entwicklung der Ideen, die Form des Buches und der Beispiele ist durchaus sehr originell und vielleicht steht dieses merkwürdige Buch nur in Zusammenhang mit einer mehr selbstständigen französischen Schule von Perspectivlehrern. Gewiß ist es aber, daß Italien den anderen Ländern in der ersten Bildung der Perspectivlehre voraus geht, [fol.] 146. und es ist dieß nicht zu verwundern, denn die neuere Theorie fußt theilweise auf den Alten, besonders auf Euclid und so wie in Italien die alte Literatur zu-

148 [Sittes – an späterer Stelle (siehe S. 77, Anm. 259) wiederholter – Hinweis auf eine 1511 in Nürnberg gedruckte Ausgabe von Albertis De pictura ist falsch. Die erste lateinische Originalausgabe erschien 1540 in Basel, die erste italienische Übersetzung 1547 in Venedig. Sittes falsche bibliographische Angabe könnte auf einen Flüchtigkeitsfehler beim Bibliographieren hinweisen. 1511 erschienen in Nürnberg vier Bücher mit Holzschnittillustrationen Albrecht Dürers („Große Passion“, „Kleine Passion“, „Marienleben“ und 2. Auflage der „Apokalypse“), in denen sich im Titel der Hinweis „cum figuris Alberti [!] Dureri“ findet.] 149 [Siehe Anm. 72. Pèlerins De artificiali perspectiva, die in einer lateinisch-französischen Ausgabe erstmals 1505 in Toul erschien (erweiterte Ausgaben 1509 und 1521) und von Jörg Glockendon 1509 (Von der Kunst Perspectiva. Nürnberg: Georg Glockendon d. Ä., 1509; Faksimileausgabe mit Vorrede von Hippolyte Destailleur, Paris 1860) als deutsche Übersetzung vorgelegt wurde, ist das älteste Druckwerk über Perspektive. Zugleich ist es der erste Versuch, die Perspektiv-Entwicklung in der italienischen Malerei, von der der gelehrte Domherr von Toul – wie seine Auflistung der Künstler in der Widmung zeigt – offenbar nur ungenaue Kenntnisse besaß, im Norden zugänglich zu machen (Dürers „Underweysung der Messung“ (siehe Anm. 38) folgt erst 1525). Pèlerin scheint auch der erste gewesen zu sein, der die Bestimmung des Distanzpunktes konstruktiv bewältigte, die in Italien erst in den 1583 von Danti herausgegebenen Le due regole della prospettiva pratica Vignolas gelöst wurde. Unklar ist bis heute, ob Pèlerin möglicherweise auf Vorleis­ tungen der bei Lomazzo genannten Mailänder Theoretiker zurückgreifen konnte, deren Werke heute weitgehend verloren sind. Eine weitere Neuerung, auf die er in der Vorrede besonders aufmerksam macht, ist die konstruktive Wiedergabe von Architekturen in Schrägansicht.]

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erst wieder Wurzeln schlug, so ärndtete [sic!] Italien auch die ersten Früchte derselben.

Es ist hiemit der Standpunkt der Perspectivlehre vor Dürer charakterisiert.

Einige andere Bücher vor Dürer können nicht in Betracht kommen.

Leonardo in seinem Tractat behandelt fast nur Luftperspektive und nur

in wenigen und unbedeutenden Stellen die Linearperspective.150 Der bei Barbaro citirte Comandino gehört unter die Mathematiker und sein Werk ist auch viel später, erst von 1558.151

Der Tractat des Architekten Ant. Averolino (Filarete), der sich hand-

schriftlich in der Bibl.Magl. (nach E. Harzen) befindet,152 ist sehr früh etwa gleichzeitig mit dem Werk Alberti’s um 1460 entstanden, findet sich aber

150 [Leonardo, der ab den 1490er Jahren intensive optische Studien durchführte, gilt als Begründer der Luft- und Farbperspektive, die für ihn – wie in seinem „Libro di pittura“ (siehe Anm. 81) ausgeführt – gemeinsam mit der Zentralperspektive die Grundlage seiner Lehre des Sehens bilden. Ausgangspunkt war Leonardos Erkenntnis, dass wir nie den Gegenstand selbst, sondern immer nur ein „Scheinbild“ dieses Gegenstands wahrnehmen können, dessen sichtbare Qualitäten von der den Gegenstand jeweils umgebenden Atmosphäre (Luft, Feuchtigkeit, Sonneneinstrahlung usw.) abhängig ist. Dies führte Leonardo zur Neuartigkeit des sog. sfumato, mit dem er in der Malerei ein neues Verhältnis von Licht und Schatten, von Hell und Dunkel begründete, was in der malerischen Umsetzung zu weichen, atmosphärisch verschwimmenden Konturen führte, die Vordergrund und Hintergrund gleichermaßen betreffen und verbinden.] 151 [Commandino, Federico: Ptolomaei Planisphaerium, Jordani Planisphaerium, Federici Commandini urbinatis in Planisphaerium commentarius, in quo ecc. Venedig 1558. Diese Schrift Commandinos, der neben seinem wissenschaftlichen Interesse besonders an der künstlerischen Umsetzung der Perspektive interessiert war, war der Ausgangspunkt für das Perspektivtraktat von Daniele Barbaro (La pratica della prospettiva. Venedig: Camillo & Rutilio Borgominieri, 1568/69 (Nachdruck Bologna: Forni 1980).] 152 [Filaretes Trattato di architettura, das um 1451–1464 in Dialogform für Francesco Sforza verfasst und nach dessen Tod Piero de Medici gewidmet wurde, enthält als Anhang (Bücher 22–24) auch ein – auf Albertis De pictura (1435/36) fußendes – Traktat über die Zeichenkunst, in dem u.a. Grundsätze der Optik und Perspektive behandelt sind. Das Traktat ist in fünf Handschriften bekannt (u.a. in der von Sitte genannten Biblioteca Magliabechiana, heute Teil der Biblioteca Nationale Centrale, Florenz); von der von Matthias Corvinus in Auftrag gegebenen und von Antonio Bonfini besorgten lateinischen Übersetzung existieren sechs Codices. Eine erste problematische Teiledition mit der Mischung von italienischem Text und deutschen Paraphrasen veröffentlicht von Oettinger, Wolfgang von: Antonio Averlino Filarete’s Traktat über die Baukunst neben seinen Büchern von der Zeichenkunst und den Bauten der Medici (= Quellenschriften für Kunstgeschichte u. Kunsttechnik d. Mittelalters u. d. Neuzeit, N.F. III). Wien: C. Graeser 1890 (Nachdruck Hildesheim: Olms 1974).] Autograph, ohne Titel (o.J.) – Teil I: Über Gesch[ichte] des Persp[ektivischen] Zeichn[en]s

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nirgends beschrieben und nur Pondra153 erklärt ihn für größtentheils unbrauchbar auf welche Bemerkung übrigens wenig Gewicht zu legen ist. Von dem bei Ig. Danti citirten Cataneo und Fortio ist keine weitere Spur aufzufinden.154 Bei Du Breuil155* wird endlich noch Georg Reisch citirt. Dieses Werk ist die Margaritha philosophica von Reisch und Oronce Finée deren erste Ausgabe 1486 allerdings vor Dürer fällt aber noch nichts von Perspective enthält.156 Die zweite Ausgabe enthält einen Appendix, der betitelt ist: Architectura positiva rudimenta. Diese erschien aber nach Dürer 1535. Die Mathematiker folgen eben überall erst den eigentlichen Perspectivlehrern, welche Maler und Architekten sind, obwohl sie ihnen ursprünglich die ersten optischen Wahrheiten zur Anwendung auf malerischem Gebiete übergeben. Das bei Ersch und Gruber citirte Werk von M. Antoni Capella ist nichts anderes als die Divina proportione des Luca Paccioli, und nur der Name des Druckers der sich am Titelblatt breit ersichtlich macht mit dem des Autors verwechselt.157 Eine andere Verwechslung ist an derselben Stelle passirt, indem

153 [Siehe Anm. 117.] 154 [Zu Danti siehe Anm. 125; gemeint ist hier möglicherweise Cardano, Geronimo (Girolamo): Opus novum de proportionibus numerorum, metvvum, pondervm, sonorvm, aliarvmqve rervm mensurandarum. Basel: Henricpetri 1570; Ders.: Practica Arithmeticae generalis, omnium copiosissima et utilissima. Mailand: Calusco 1539 mit dem Schlusskapitel „De erroribus Fratris Lucae“ (Von den Fehlern bei Luca Pacioli).] 155 [Dubreuil, Jean: La perspective practique, necessaire a tous peintres, graveurs, sculpteurs, architectes, orfèvres, brodeurs, tapissiers et autres se sernans du dessein. Paris: Tavernier 1642.] 156 [Das zwischen 1489 und 1495 entstandene Werk von Gregor Reisch (1467–1525), des Beraters von Kaiser Maximilian I., wurde – entgegen Sittes Angaben – erstmals 1503 in Freiburg (bei Johannes Schott) publiziert. Es handelt sich um eine wegen ihrer Holzschnittillustrationen berühmte Enzyklopädie des Wissens der Zeit, die u.a. die mathematischen Künste Arithmetik, Geometrie, Musik, Astronomie, aber auch Astrologie und Alchimie umfasste und viele Auflagen erlebte (u.a. 1504, 1508, 1512, 1517). Bereits die 1512 in Straßburg publizierte Ausgabe enthält einen Passus zur Perspektive, die Pèlerins De artificiali perspectiva (Toul 1505, 1509, 1521; Nürnberg 1509) verpflichtet ist. Die von Sitte genannte Ausgabe von 1535 wurde nach Reischs Tod von Finé Oronce (1494–1555) herausgegeben. Reisch, Gregor/Oronce, Finé: Margarita philosophica, rationalis, moralis philosophiae principia. Basel: Resch 1535.] 157 [Johann Samuel Ersch (1766–1828) und Johann Gottfried Gruber (1774–1851) veröffentlichten zwischen 1818 und 1889 die unvollendete Allgemeine Enzyklopädie der Wissenschaften und Künste, in alphabetischer Reihenfolge in 167 Bänden (Band 1 in Leipzig: Gleditsch 1818; ab 1831 vom Brockhaus-Verlag übernommen). Diese wohl umfangreichste

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ein gewisser Debreuil genannt wird, dessen Werk vor Dürer fallen soll. Es ist dieß aber wahrscheinlich der oben [fol.] 147. citirte viel spätere Du Breuil,158 der nicht selbst vor Dür[er] erschien sondern nur fälschlich die Margaritha philosophica als ein Perspectivwerk vor Dürer angibt. Zwei andere bei Ersch u. Gruber unter den ältesten angeführte Perspectivlehre von Lebicheur und L. Carli Cigoli habe ich sonst nirgends gefunden.159 Aus dem Vorigen ist also der Stand der Perspectivlehre vor Dürer zu ersehen. Dürer scheint die wichtigen Erscheinungen vor ihm alle gekannt zu haben. Pellerin erschien ja 1509 in der deutschen Bearbeitung des I. Glogkendon zu Nürnberg. Alberti’s Abhandlung De pittura erschien 1511 zu Nürnberg,160 aus Luca Paccioli’s Divina proportione entnahm Dürer sein Alphabet und überhaupt hat er sich mit den italienischen Perspektivlehrern, während seines Aufenthaltes in Venedig gewiß angelegentlich beschäftigt, wie aus seinem Brief an Pirkheimer zu entnehmen.161 Mit Dürer beginnt eine neue Wendung zur richtigen geometrischen Construction, deren Ausbreitung und Verbesserungen bis auf den heutigen Tag fortlaufen, so daß erst der neuesten Zeit noch wesentliche Bereicherungen der constructiven Hülfsmittel z.B. die Verwendung des Theilungspunktes, angehören.

Enzyklopädie des Abendlandes wurde in drei Teilen herausgegeben. Sect. 3, Th. 18, S. 70–85 enthält einen ausführlichen, von Dr. G. O. Piper verfassten Artikel zur „Perspektive“ mit sehr umfassenden Quellen- und Literaturhinweisen, den Sitte offensichtlich eingehend konsultierte.] 158 [Siehe Anm. 154.] 159 [LeBicheur, Jacques: Traicté de perspective: faict par un peintre de l’Academie Royale. Paris: Jollain 1660; Cigoli, Lodovico Cardi da, gen. Il Cigoli (1559–1613), italienischer Maler und Architekt. Das Manuskript seines Traktats befindet sich im Zeichenkabinett der Uffizien, Florenz, Ms 2660 A und liegt in einer jüngeren Publikation vor: Profumo, Rodolfo (Hg.): Trattato pratico di prospettiva di Ludovico Cardi detto il Cigoli: manoscritto Ms 2660 A del Gabinetto dei Disegni e delle stampe degli Uffizi. Rom: Bonsignori 1992.] 160 [Zu Sittes falscher Angabe siehe Anm. 147.] 161 [Dürer besaß u.a. eine lateinische Abschrift von Albertis Malereitraktat, die 1540 zum Erstdruck von De Pictura in Basel benutzt wurde. Sitte scheint sich hier auf den berühmten, 1506 in Venedig geschriebenen Brief an Dürers Freund Willibald Pirkheimer zu beziehen, in dem er ankündigt, nach Bologna reisen zu wollen, um dort „Geheim Perspectiv“ zu lernen.] Autograph, ohne Titel (o.J.) – Teil I: Über Gesch[ichte] des Persp[ektivischen] Zeichn[en]s

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Die Geschichte dieser weiteren Fortschritte gehört aber nicht mehr in den Bereich derjenigen grundlegenden Vorgänge, deren Kenntniß unbedingt nothwendig ist, um die hier vorgesteckten Ziele zu erreichen. [fol.] 148. Es ist in raschen Schritten ein weiter Weg zurückgelegt. Nun ist es Zeit wieder zu dem eigentlichen Thema zurückzukehren. Wir haben gesehen, wie die Kunst zu Zeichnen in mühevollster Arbeit errungen wurde und meist in der Zeit in der man sie schon fast mit Vollendung praktisch auszuüben verstand, als letztes Resultat der ganzen Entwicklung die Erkenntnis der allem zu Grunde liegenden Regel eintritt.

Es ist dieß ein Schauspiel, wie es sich bei Betrachtung der Geschichte einer

jeden wissenschaftlichen Theorie darbiethet. Der Weg auf dem jedes allgemeine Gesetz gefunden wurde ist immer der synthetische und niemals der analytische. Große Wahrheiten sind niemals noch auf dem Wege der Speculation a priori gefunden worden. Dasjenige was dafür ausgegeben wird, wird eben nur dafür ausgegeben. [Mit fol. 148 endet die „IV. Periode“ der „Geschichte des perspektivischen Zeichnens“. Daran schließt mit fortlaufender Paginierung der zweite Teil der Abhandlung mit dem Titel „Über Zeichen:Unterricht“ an.]

Autograph, ohne Titel (o.J.) − Teil II: Über Zeichen – Unterricht Umfang: Der zweite Teil des „Großen Autographen“ umfasst fol. 149 bis fol. 263. Status des Beschreibmaterials: Als Schreibpapier dienten verschiedene Papiersorten, alle im altösterreichischen Kanzleiformat (häufig Konzeptpapier, teilweise stark gebräunt, teilweise mit Wasserzeichen, teilweise vergilbt). Als Schreibmittel kamen Feder mit brauner Tinte und Bleistift zum Einsatz. Häufige Blattcollagen. Textstatus: Werkmanuskript in Kurrentschrift. Einzelne Blätter. Intensive Bearbeitungsspuren, teilweise mit mehrfachen Korrekturen bzw. Überarbeitungen (Gemengelagen von Tinten und Bleistiftkorrekturen) bzw. Collagierungen. Bearbeitungsstatus: Zu unterscheiden sind 1. Sofortkorrekturen in brauner Tinte während der Textabfassung. 2. Korrekturen in brauner Tinte aus einem späteren Redaktionsprozess (teilweise mit größeren Streichungen bzw. Einfügungen neuer Textteile sowie Umpaginierungen.) 3. ein weiterer Redaktionsgang in Bleistift mit Streichungen,

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Die Geschichte dieser weiteren Fortschritte gehört aber nicht mehr in den Bereich derjenigen grundlegenden Vorgänge, deren Kenntniß unbedingt nothwendig ist, um die hier vorgesteckten Ziele zu erreichen. [fol.] 148. Es ist in raschen Schritten ein weiter Weg zurückgelegt. Nun ist es Zeit wieder zu dem eigentlichen Thema zurückzukehren. Wir haben gesehen, wie die Kunst zu Zeichnen in mühevollster Arbeit errungen wurde und meist in der Zeit in der man sie schon fast mit Vollendung praktisch auszuüben verstand, als letztes Resultat der ganzen Entwicklung die Erkenntnis der allem zu Grunde liegenden Regel eintritt.

Es ist dieß ein Schauspiel, wie es sich bei Betrachtung der Geschichte einer

jeden wissenschaftlichen Theorie darbiethet. Der Weg auf dem jedes allgemeine Gesetz gefunden wurde ist immer der synthetische und niemals der analytische. Große Wahrheiten sind niemals noch auf dem Wege der Speculation a priori gefunden worden. Dasjenige was dafür ausgegeben wird, wird eben nur dafür ausgegeben. [Mit fol. 148 endet die „IV. Periode“ der „Geschichte des perspektivischen Zeichnens“. Daran schließt mit fortlaufender Paginierung der zweite Teil der Abhandlung mit dem Titel „Über Zeichen:Unterricht“ an.]

Autograph, ohne Titel (o.J.) − Teil II: Über Zeichen – Unterricht Umfang: Der zweite Teil des „Großen Autographen“ umfasst fol. 149 bis fol. 263. Status des Beschreibmaterials: Als Schreibpapier dienten verschiedene Papiersorten, alle im altösterreichischen Kanzleiformat (häufig Konzeptpapier, teilweise stark gebräunt, teilweise mit Wasserzeichen, teilweise vergilbt). Als Schreibmittel kamen Feder mit brauner Tinte und Bleistift zum Einsatz. Häufige Blattcollagen. Textstatus: Werkmanuskript in Kurrentschrift. Einzelne Blätter. Intensive Bearbeitungsspuren, teilweise mit mehrfachen Korrekturen bzw. Überarbeitungen (Gemengelagen von Tinten und Bleistiftkorrekturen) bzw. Collagierungen. Bearbeitungsstatus: Zu unterscheiden sind 1. Sofortkorrekturen in brauner Tinte während der Textabfassung. 2. Korrekturen in brauner Tinte aus einem späteren Redaktionsprozess (teilweise mit größeren Streichungen bzw. Einfügungen neuer Textteile sowie Umpaginierungen.) 3. ein weiterer Redaktionsgang in Bleistift mit Streichungen,

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Einfügungen und Ergänzungen. Die Corrigenda teilweise mit Akkuratesse durchgeführt. Im Gegensatz zu anderen Texten fehlen Redaktionen mit Blaustift.

[fol.] 149. Die Anwendung aller dieser Erkenntnisse auf den Zeichenunterricht ergibt sich von selbst.

Nachdem die geschichtliche Entwicklung der Zeichenkunst klar geworden,

wird es nicht mehr schwer sein den Weg zu erkennen, den auch der Einzelne bei Erlernung dieser schwierigen Kunst einzig nur einschlagen kann. Auch eine richtige Beurtheilung aller Schwierigkeiten und der ihnen entspringenden constanten Fehler ist nun möglich. Um diese auszuführen muß nochmals auf die gleich anfang [sic!] besprochenen Kinderzeichnungen von Fig. 2, 3, 4 und 6. aufmerksam gemacht werden. Es wurde anfangs nur die merkwürdige Constanz aller dort angeführten Fehler hervorgehoben. Außerdem wurde beobachtet wie die Fehler der Kinderzeichnungen dieselben sind welche auch den Kunstwerken primitiver Stadien der Zeichenkunst anhängen, und die weitere Untersuchung hat ergeben, daß auch dieselben Ursachen gelten für beide, und nun gewinnen die sonderbaren Fehler an den zuerst besprochenen Schlittencopien ihre volle Bedeutung.

Es ist klar warum die Schwierigkeit, welche Anstoß erregt die perspecti-

vische Verkürzung und Veränderung der wahren Länge und der wahren Gestalt ist und warum jeder dieser Fehler nicht zufällig gemacht wird, sondern stets im Sinne der wahren Gestalt des darzustellenden Objectes, im Sinne des Vorstellungsbildes. Die Ursache dieser c o n s t a n t e n Erscheinungen liegt in der Construction unseres Auges und in den eigenthümlichen, von Natur aus gegebenen, Vorgängen des Sehactes. In Folge dieser mit gesetzmäßiger Notwendigkeit wirkenden Einflüsse wird daher das Seitentheil des Schlittens immer in seiner wahren Dicke und nicht in der perspectivisch verschmälerten gezeichnet, oder, wie dieß auch die alten Ägypter gethan hätten, ganz von der Seite aus aufgefaßt, wodurch die Dicke gar nicht ersichtlich wird. Ferner werden alle vermöge [fol.] 150. der perspectivischen Ansicht nach rechts unten mehr weniger spitzem Winkel in die Tiefe verlaufenden Linien z.B. der Verbindungshölzer, nicht unter 

[Siehe den „Autograph, ohne Titel (o. J.) – Zettelkonvolut“, Blatt NN03 sowie Anm. 10.] Autograph, ohne Titel (o.J.) – Teil II: Über Zeichen – Unterricht

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dem richtigen Winkel copirt; sondern entweder ganz senkrecht auf das Seitenstück des Schlittens gestellt, wie dieß auch in der Natur wirklich der Fall ist, oder der spitze Winkel des Originales wird in einen stumpferen verwandelt, so zwar, daß sich die Zeichnung der senkrechten Stellung wie sie in Wahrheit zwischen den beiden Hölzern existirt, doch wenigstens nähert.

Nachdem so der gemeinschaftliche Typus aller dieser constant vorkom-

menden Zeichenfehler erkannt ist, lassen sich auch die Fehler g. h. i. k. l. näher erklären. Die schief gezeichneten Verbindungshölzer werden senkrecht abgeschnitten, weil dieß in der Natur wirklich so ist. Der Befestigungspunkt der Schnur wird zu hoch oben (perspect. rückwärts) gezeichnet, indem hier die unwillkürliche Annahme zu Grunde liegt, die Schnur sei in der Mitte des Querholzes angeknüpft. Die beiden Seitentheile des Schlittens werden nicht perspectivisch hinter sondern hoch über einander [fol.] 151. gezeichnet, weil hier die Vorstellung von ihrer wahren gegenseitigen, perspectivisch nicht verkürzten Entfernung die Darstellung beherrschte. Endlich wird auch der so sonderbare Fehler l verständlich. In Wahrheit steht nämlich der Schlitten auf der horizontalen Bodenfläche auf. Es ist also der untere Rand der beiden Seitentheile gleich hoch in derselbe Horizontale. So wie sich das in Wirklichkeit verhält so wurde es auch gezeichnet. Der untere Aufstand in gleicher Höhe in einer Horizontalen. Nachdem der obere Rand des rückwärtigen Seitentheiles aber wieder nicht anders als über dem oberen Rand des vorderen Seitentheiles gezeichnet werden konnte, welcher Umstand aus dem vorliegenden Originale zu augenfällig ersichtlich ist, so blieb nichts anderes über, als die so auf verschiedenem Weg erhaltene Zeichnung des unteren und oberen Randes an ihrem rückwärtigen Ende zu verbinden und dadurch ergibt sich von selbst die so sonderbare Erhöhung des rückwärtigen Seitentheiles. [fol.] 152. Wie mächtig das Vorstellungsbild oder die wahre Gestalt eines Gegenstandes auf die gezeichnete Darstellung desselben wirkt, wird besonders daraus klar, daß hier nicht unmittelbar nach dem Vorstellungsbild eines Schlittens, also nicht aus dem G e d ä c h t n i ß gezeichnet wurde, auch nicht nach einem

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p l a s t i s c h e n M o d e l l , bei dem der Einfluß der wahren Gestalt über die perspectivische Erscheinung ein weit stärkerer, sondern es wurde nach einer bereits p e r s p e c t i v i s c h e n Z e i c h n u n g gearbeitet, bei welcher die körperliche Wirkung offenbar am geringsten. Trotzdem ist es das Vorstellungsbild mit seinen wahren Dimensionen, welches von entscheidendem Einfluß auf die Copien gewesen.

Es muß also zuerst

[fol.] 153. [Im oberen Drittel des Blattes ist ein Manuskriptteil aufgeklebt] das perspectivische Bild des Originales in das nicht perspectivische Vorstellungsbild übergegangen sein und dieses nun ist es, was zu zeichnen versucht wurde, oder die Zeichnung wenigstens unwillkürlich beeinflußte.

Auch hierin finden die jedem Lehrer bekannten Fehler der Zeichenschüler

ihre Parallele in der Kunstgeschichte. Die Holzschneider, Kupferstecher und Lythographen arbeiten nämlich häufig unmittelbar nach Meisterwerken der Zeichenkunst. Sie selbst stehen aber in der Regel nicht auf derjenigen Höhe des Könnens auf welcher der Meister gestanden dessen Werk sie copiren. Nun verfallen sie allenthalben demselben Fehler, das Vorstellungsbild in die perspectivische Darstellung einzuschmuggeln. Hochinteressant ist in dieser Beziehung die Vergleichung vieler Stiche nach ein und demselben Meisterwerk. Besonders die Werke Michelangelos und Corregio’ s sind bei mittelmäßigen Stechern zuweilen bis zur Unkenntlichkeit mißlungen und eine unerschöpfliche Fundgrube oft lächerlichster Verzeichnungen. Die von unten gesehenen Köpfe in den Kuppelgemälden Correggio’ s haben theilweise frontale Augen, gequetschte Nasen, überhaupt die Theile des Gesichtes frontal und nur wie in Fig. … [sic!] zusammengeschoben. Dabei hatten alle diese Stecher die bereits richtige Zeichnung Correggio’ s vor Augen. So schwer ist es aber



[Deutlich zu erkennen beispielsweise auf dem 1697 datierten Stich von Domenico Boniveri (nach einer Zeichnung von Giovanni Battista Vanni von 1642), der einen Ausschnitt aus der Westseite der von Correggio ausgemalten Domkuppel von Parma wiedergibt.]



[Dies ist nur bedingt zutreffend, da bei Reproduktionsstichen der Künstler des reproduzierten Bildes und der Zeichner der Stichvorlage häufig nicht identisch sind (siehe Anm. 163). Die von Sitte angesprochenen Verzerrungen bei Reproduktionsstichen nach der Domkuppel von Parma resultieren u.a. auch daraus, dass die Zeichner der Stichvorlagen Correggios Fresken nicht in Draufsicht, sondern in Untersicht wiedergeben, wie sie sich dem Betrachter präsentieren.] Autograph, ohne Titel (o.J.) – Teil II: Über Zeichen – Unterricht

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sich von dem geometrischen Vorstellungsbild zu befreien, daß auch das beste Original dadurch in der Copie verdorben wird. [fol.] 154. [Im Text zwei Markierungen mit Kreuzchen, ohne weitere Angaben] Eine in zahlreichen Copien vielverzeichnete Figur ist der gekreuzigte Haman an der sixtinischen Decke. Die Verkürzung der beiden Arme ist freilich eine der schwierigsten Aufgaben, welche sich ein Künstler stellen konnte. Die Dicke der Arme ist immer zu gering gezeichnet*, und zwar sehr variabel. Bei sieben verglichenen Copien der Albertina schwankt die Dicke des vorderen Armes zwischen 0,26 und 0,33 wobei die letztere Dicke der richtigen schon ziemlich nahe kommt. Es ist bei dieser Messung die ganze Breite der Brust in einer Linie genommen, welche gerade über die beiden Brustwarzen verläuft und diese Breite gleich 1 gesetzt. Die Dicke des Armes wurde quer über die höchste Anschwellung des Biceps gemessen. In ähnlicher Weise schwankt die Dicke des rückwärtigen Armes zwischen 0,22 und 0,3.

Häufig sind die äußeren Umrisse genau gezeichnet, die Muskeln jedoch

blos in kürzeren Dimensionen so daß ihre Conturen im Sinne der frontalen Ansicht verfehlt sind, z.B. an dem verkürzten Oberschenkel des sitzenden Adams in Raphael’s Sündenfall.* Solche Beispiele sind zahllos. Immer ist aus ihnen dasselbe Gesetz zu ersehen. A u c h p e r s p e c t i v i s c h e Z e i c h nungen wirken wie plastische Naturgegenstände, und werden geradeso wie diese in derselben Weise verfehlt nachgezeichnet. 

[Michelangelos Fresko entstand 1509–1511. Die kompliziert verkürzte Figur des mit gestreckten Armen an einen Baum gekreuzigten Haman, dessen Unterkörper frontal, dessen Oberkörper aber stark in die Diagonale gedreht ist, findet sich in einem Zwickelfeld über der Altarwand der Capella Sistina. Zu der sorgfältig vorbereiteten Figur haben sich im British Museum in London und im Teyler Museum in Haarlem mehrere Rötelstudien erhalten. Reproduktionsstiche nach Michelangelos Haman lassen sich seit dem 16. Jahrhundert nachweisen (u.a. von Cornelis Bos, Melchior Lorch).]



[Das 1509–1511 entstandene Deckenfresko in den Loggien des Vatikanischen Palasts wird heute den Raffael-Schülern Pellegrino da Modena und Tommaso Vincidor zugeschrieben. Es zeigt links die stehende Eva, in der Mitte den Baum mit der Schlange und rechts den sitzenden Adam. Reproduktionsstiche des „Sündenfalls“ stammen u.a. von Giovanni Lanfranco (1582–1647), Francesco Villamena (1566–1624), Nicolas Chapron (1612–1652/53), Pietro Aquila (um 1640–1692).]

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Eine unerschöpflich reiche Sammlung solcher Fehler könnte leicht aus den Versuchen von Anfängern zusammengestellt werden. Welcher erfahrene Zeichenlehrer sollte es nicht wissen, daß seine Schüler immer geneigt sind ein von unten gesehenes Aug zu weit geöffnet; einen verkürzten Arm zu dünn, eine verkürzte Nase zu lang, das Dach eines Hauses immer zu hoch zu zeichnen u.s.w. u.s.w. Immer ist’s derselbe Fehler, der wieder vom neuen gemacht wird. Die Kenntnis solcher constanter Fehler ergibt sich schon aus der Praxis des Unterrichtes, und ihre Kenntniß ist von wesentlichem Einfluß auf die Wahl der Vorlagen zum [fol.] 155. [Im Text zwei Markierungen mit Kreuzchen, ohne weitere Angaben] Nachzeichnen und auf die gesammte Methodik des Unterrichtes. Der Lehrer weiß schon im Vorhinein, wo der Schüler fehlen wird. Aber auch die Ursache dieser Fehler zu kennen wird von mannigfachen Nutzen für den Unterricht sein. Der Schüler wird ungleich raschere Fortschritte machen, wenn ihm der Lehrer zeigt, wie es immer nur ein und derselbe Fehler ist, dem er bei allen seinen Zeichenübungen immer vom Neuen Preis gegeben ist und worin das Verführerische zum Fehlen besteht. Ich habe aus eigener Erfahrung im Zeichenunterricht beobachtet, daß selbst die Ursachen dieser Fehler nach einiger Erklärung des Sehens und des Wesens der Verkürzung auch von sehr jungen Leuten leicht begriffen werden. Die Einführung solcher Erklärungen in den Zeichenunterricht vorausgesetzt, ergibt sich so ein großer Unterschied zwischen einem Zeichenunterricht, in dem solche Erklärungen den Schülern an die Hand gegeben werden und zwischen einem Zeichenunterricht in dem solche Erklärungen nicht gegeben werden.*

In dem letzteren Falle, der gegenwärtig noch sehr in Gebrauch ist, be-

steht die Methode des Zeichnunterrichtes darin, daß der Lehrer selbst den Griffel in die Hand nimmt aber ohne ein erklärendes Wort zu reden einfach die fehlerhaften Striche weglöscht und die richtigen an deren Stelle setzt.* Das was der Schüler auf diese stumme Art lernen kann, ist schon sehr viel. Er lernt w o u n d w i e e r g e f e h l t h a t . Dasjenige was er dabei aber nicht lernt ist auch sehr viel, er lernt nämlich nicht w a r u m e r g e f e h l t h a t . Diese Methode nennt man nach einem wahrscheinlich von den Schülern selbst erfundenen Ausdruck „das Ausbessern“. Autograph, ohne Titel (o.J.) – Teil II: Über Zeichen – Unterricht

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[fol.] 156. Dem Schüler ist ein Stein vom Herzen sobald seine Zeichnung „ausgebessert“ ist. Nun kann es wieder los gehen. Dabei wird ihm das Herz aber schon wieder schwer und schwerer bis er mit dem sehr bezeichnenden Wort „ich kenne mich nicht mehr aus“ neuerdings um eine „Ausbesserung“ ansucht.

„Ich kenne mich nicht mehr aus“ — das will sagen, ich sehe zwar, daß

meine Zeichnung nicht richtig ist, denn hier geht es nicht zusammen und hier auch nicht; aber ich bringe nicht heraus w o u n d w i e ich gefehlt habe. Dieses Wo und Wie kann der Schüler selbstständig ohne Gummielastikum und Griffel des Lehrers nicht herausbringen, weil er nicht weiß w a r u m er fehlt weil er nicht weiß daß es immer nur ein und derselbe Fehler ist der sich ihm unwillkürlich aufdrängt. Wüßte er das, dann könnte er seine Zeichnung selbst analysiren und nach einiger Übung in dieser Selbstkritik würde er lernen immer leichter das Wo und Wie seiner Fehler zu entdecken.

Dieß ist die einzig richtige, ja einzig mögliche Art die Zeichenübungen

der Schüler, auch was die technischen Schwierigkeiten anbelangt, zu durchgeistigen, wie man zu sagen pflegt, d.h. zu bewirken, daß nicht gedankenlos mechanisch sondern mit Verstand, mit Selbstkritik gezeichnet wird.

Wenn der Schüler einmal die paar Fehler, welche er immer macht, weiß,

so ist es nicht anders als ob der Lehrer beständig hinter ihm stünde, denn er kann sich selbst nach der Reihe ausfragen, ob er in den [fol.] 157. [Im Text eine Markierung mit Kreuzchen, ohne weitere Angaben] einen oder andern Fehler verfallen. Diese Methode des Ausfragens kann zuerst vom Lehrer selbst vorgenommen und auf diese Art dem Schüler practisch eingeübt werden. Die meisten Früchte trägt sie in großen Schulen in welchen Ein Lehrer sehr viele Schüler zu gleicher Zeit vorwärts zu bringen 

[Der Radiergummi (Gomme élastique, Federharz, Kautschuk) ist eine Erfindung des letzten Viertels des 18. Jahrhunderts. 1770 entdeckte der Brite Edward Nairne, dass sich Kautschuk zum Entfernen von Bleistiftstrichen eignet. Der britische Naturforscher Joseph Priestley machte diese Entdeckung publik. Noch Mitte des 19. Jahrhunderts waren Radiergummi sehr teuer und zerstörten aufgrund mangelhafter Qualität die Oberfläche des Papiers, so dass man früher entweder die Brotkrume oder die Dolage – Lederfasern, die beim Glattschaben der Innenseiten des Handschuhleders abfielen – als Radierbehelf nutzte.]

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hat. Die Methode des bloßen „Ausbessern“ reicht in einem solchen Falle mit ihren Kräften nicht aus, weil es nicht möglich ist die Arbeit jedes einzelnen Schülers so oft auszubessern als es nöthig wäre. Daher sind für verschiedene Stufen des Zeichenunterrichtes Hülfsmittel gesucht und auch gefunden worden, welche die Schüler zum eigenen Nachdenken veranlassen*, und es ist wünschenswert solche Bestrebungen auf alle Gebiete des Zeichenunterrichtes auch auf die höheren Stufen, auf welchen bereits größere perspectivische Schwierigkeiten zu überwinden sind, zu verpflanzen. Dabei wird es immer darauf ankommen gewisse constante Schwierigkeiten in ihren natürlichen Ursachen zu erkennen gleichsam eine richtige Diagnose zu stellen. Das Heilmittel findet sich dann schon.

In allem Bisherigen sind es nur Schwierigkeiten des p e r s p e c t i v i s c h e n

F o r m e n - S e h e n s gewesen, deren Bedeutung in der Zeichenkunst nachgewiesen und deren Ursache in den Vorgängen des Sehactes gefunden wurde. [fol.] 158.

Es liegt nun die Vermuthung nahe, daß es noch andere Eigenschaften

des Auges gibt, welche zu constanten Fehlerquellen werden können. Solche Fehlerquellen sind denn auch wirklich noch mehrere vorhanden und sie geben ihr Dasein in derselben Weise durch constant vorkommende Fehler zu erkennen. Sie lassen sich leicht in geschlossener Reihe vorführen.

Wenn wir z.B. einen Baum in größerer Entfernung sehen so erscheint er

nicht nur verkleinert sondern auch in der Farbe verändert, in Folge des Einflusses der zwischen ihm und dem Beschauer liegenden Luftschichten. Beide Veränderungen haften nur am Netzhautbild aber nicht am Vorstellungsbild. In der Vorstellung hat der Baum gleichgiltig wie nahe oder wie weit er sich vom Beschauer weg befindet, wenn er nur so deutlich gesehen wird daß er als ein bestimmter Baum erkannt wird, immer beiläufig seine richtige Größe und auch seine richtige Farbe.* In dem einen liegen die Schwierigkeiten 

[Im Folgenden fußt Sitte weitgehend auf Beobachtungen in Leonardos „Libro di pittura“ (siehe Anm. 81); (zum Traktat und der – Sitte zugänglichen – deutsch-italienischen Übersetzung von Heinrich Ludwig (1882) siehe „Autograph, ohne Titel (o.J.) – Teil I“, Anm. 82.]

*

Helmh[holtz]

8

[Hermann von Helmholtz (1821–1894) gilt als bedeutendste und einflussreichste Persönlichkeit der Psychophysiologie des 19. Jahrhunderts. 1856 stellte er die Theorie des Farbsehens („Young-Helmholtzsche Farbwahrnehmungstheorie“) auf, 1856–1867 gab Autograph, ohne Titel (o.J.) – Teil II: Über Zeichen – Unterricht

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der L i n e a r p e r s p e c t i v e in dem anderen die der L u f t p e r s p e c t i v e . Beide Schwierigkeiten führen zu gleichen Erscheinungen in der Geschichte der Malerei. Die ältesten Bilder haben auch keine Luftperspective. Auch in dieser Beziehung wird nach dem Vorstellungsbild gearbeitet, und daher alle Gegenstände des Hintergrundes in denjenigen Farben gehalten, welche sie in nächster Nähe bei deutlicher Beleuchtung zeigen würden, d.i. in denjenigen Farben in welchen sie zwar [fol.] 159. [Im Text zwei Markierungen mit Kreuzchen, eimal ohne weitere Angaben] nicht gesehen, aber gedacht werden. Auch dieser Fehler wird nur schwer und langsam überwunden und der richtige Farbton bleibt immer schwer zu treffen. Folgt der Künstler seiner Anschauung so wird seine Farbe immer zu wenig perspectivisch abgetönt ausfallen. Zwingt er sich gewaltsam zu einer starken Luftperspective so verfällt er leicht in Übertreibung und malt zu hellblau oder zu kreidige Hintergründe.*10

Ein anderer Fehler besteht darin daß Gegenstände des Hintergrundes

mit viel zu deutlichen scharfen Conturen gezeichnet werden. Das Undeutlichwerden der Umrisse in großer Entfernung wird immer unter der Rubrik Luftperspective abgehandelt, nur Leonardo unterscheidet es als eine selbstständige Erscheinung indem er es in seinem Tractat als eine d r i t t e Gattung der Perspective anführt.*11 Die Ursache dieser Erscheinung ist auch wirklich

er das Handbuch der physiologischen Optik (3 Bde., Leipzig: Voss 1856–1867) heraus. Zu Helmholtz siehe auch Camillo Sitte, „Über den praktischen Wert der Lehre vom goldenen Schnitt“, sowie ders., „Über Farbenharmonie“.   [Diese Unterscheidung findet sich erstmals in Leonardos „Libro di pittura“ (siehe Anm. 81) (deutsche Übersetzung von Heinrich Ludwig, Das Buch von der Malerei, Wien: Braumüller 1882), § 132, wo es heißt: „…; das sind nämlich die beiden Perspektiven, als: Abnahme der Größe und Deutlichkeit der in weiten Abständen gesehenen Dinge; und (zweitens) Abnahme der Farbe, und welche Farbe bei Gleichheit der Abstände zuerst abnimmt, welche sich am längsten erhält.“] *

Leonardo

10 [Leonardos Ausführungen zur Farbenperspektive sind nicht zusammenhängend dargestellt, sondern an verschiedenen Stellen seines Traktats verstreut. Hierzu u.a. Leonardo „Libro di pittura“ (siehe S. 532, Anm. 81, hier: Ludwig 1882, § 228, 240, 243, 258 b).] 11 [Hierzu Leonardo „Libro di pittura“ (siehe S. 532, Anm. 81, hier : Ludwig 1882, §262: „Es gibt noch eine andere Perspective, die nenne ich die Luftperspektive, weil man vermöge der Verschiedenheit des Lufttons die Abstände verschiedener Gebäude erkennen kann“).]

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verschieden von denen der Linear- und Luftperspective. Die Linearperspective beruht auf der geradlinigen Fortpflanzung des Lichtes; die Luftperspective auf den Veränderungen welche die Qualität des Lichtstrahles durch die Luft und die in ihr angehäuften Dünste erfährt; aber das Undeutlichwerden von Umrißlinien weder auf dem Einen noch auf dem Andern, sonst könnte man diese Undeutlichkeit nicht durch Augengläser und Fernrohre beseitigen, sondern sie hat ihre Ursache in den Grenzen der [fol.] 160. [Im Texte eine Markierung mit Kreuzchen, ohne weitere Angaben] Accomodationsfähigkeit des Auges. Sobald ein Punkt sich so weit von einem bestimmten Auge entfernt hat, daß dieses sich nicht mehr der großen Entfernung zu accomodiren vermag, so werden die von diesem Punkt auslaufenden Lichtstrahlen nicht mehr in einem Punkt der Netzhaut vereinigt, es entsteht ein Empfindungskreis und indem die Empfindungskreise neben einanderliegender Punkte sich mannigfach durchdringen entsteht ein undeutliches Netzhautbild mit verschwommenen Conturen. Dieses Zerfließen der Conturen muß der Maler gleichfalls darstellen, wenn er ein täuschendes Netzhautbild hervorbringen will. Es wird dieß aber erst von den Meistern der höchst entwickelten Mal- und Zeichenkunst beobachtet. Die älteren Künstler zeichnen die Conturen weit entfernter Gegenstände eben so deutlich wie die Conturen naher Gegenstände, nämlich wieder so wie die Gegenstände gedacht werden und nicht so wie sie gesehen werden.

Ohne eine eigene Abtheilung in der Perspectivlehre zu machen behandelt

Leonardo noch eingehend das Verschwinden kleinerer Detailes.*12 Daraus könnte mit ebensolchen Recht wie aus dem vorigen eine vierte Gruppe von Perspectivregeln gemacht werden. Denn dieses Verschwinden hängt wieder nicht von der

12 [Hierzu beispielsweise Leonardo „Libro di pittura“, (siehe S. 532, Anm. 81, hier : Ludwig 1882, § 517: „Erkennst du in freier Luft keine Unterschiede von Helligkeiten und Dunkelheiten (der Beleuchtung), dann bleibt die Perspektive der Schatten aus deiner Nachahmung verbannt, und du hast dich nur derjenigen Perspektive zu bedienen, die in der Körperverkleinerung, im Abnehmen der Farben, und in der Abnahme der Wahrnehmbarkeit der dem Auge gegenüberstehenden Dinge besteht. Und die Handhabung dieser Perspektive, nämlich das Verlorengehen der Wahrnehmbarkeit der Figur jeglichen Objekts, macht (je nach ihren Abstufungen) ein und dieselbe Sache entfernter (oder näher) aussehen“.)] Autograph, ohne Titel (o.J.) – Teil II: Über Zeichen – Unterricht

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[fol.] 161. Luft und auch nicht von der Accomodation ab sondern von der absoluten Größe der Retinastäbchen.13

Durch diese in unserm Aug gegebene Entfernung der nebeneinander lie-

genden Empfindungselemente ist die kleinste Entfernung gegeben welche zwei Punkte haben müssen, damit ihre Netzhautbilder noch als zweierlei von einander unterschieden werden können. Um ganz kleines Detail zu sehen muß man sich dem Gegenstande nähern, damit er in größerem Maßstabe gesehen wird. Ist dieses geschehen, so gehört das kleinste Detail in deutlich großem Maßstab gleichfalls unserm Vorstellungsbilde an, und so wird es auch auf ältesten Zeichnungen behandelt, in oft bedeutend größerem Maßstab als die übrigen Theile des Bildes damit auch das Kleinste, wenn es dem Künstler wichtig ist, noch so deutlich im Bilde gesehen werden kann, wie es in der Vorstellung haftet.

Auch das deutliche Sehen im Mittelpunkt der Netzhaut (in der macula

lutea) und das immer unvollkommenere undeutlichere gegen den Rand der Netzhaut, spiegelt sich wieder in einer Art von Zeichnungen, welche in der Mitte einen Gegenstand, auf dessen Darstellung es hauptsächlich abgesehen, genau ausarbeiten, während seine Umgebung nur flüchtig und verworren scizzirt wird. Durch diese Nachahmung des fixirenden Sehens nöthigt der Zeichner den Beschauer gerade den Theil seiner Zeichnung allein zu beschauen, zu fixiren, dessen Darstellung ihm allein wichtig ist bei Vernachlässigung des übrigen.

In allen diesen zarten Feinheiten der Zeichenkunst ist es immer das Netz-

hautbild welches vom Künstler einer späten Kunstperiode dargestellt wird mit seinen oft rein s u b j e c t i v e n Eigenheiten, während die primitive Kunst das der objectiven Natur entsprechende Vorstellungsbild darstellt. Hierin

13 [Die Netzhaut (lateinisch Retina) ist die lichtempfindliche Schicht an der hinteren Innenseite des Auges. In ihr wird das auftreffende Licht, nachdem es die Hornhaut, die Linse und den Glaskörper durchquert hat, in Nervenimpulse umgewandelt. Die Netzhaut besteht aus spezifischen Zelltypen. Eine besondere Bedeutung kommt hier den Fotoreporterzellen zu, von denen erneut zwei Typen zu unterscheiden sind: die Stäbchen, die auf das Sehen bei schwacher Beleuchtung spezialisiert sind und die Zapfen, die für das Farbsehen verantwortlich sind. Sitte hat nachweislich Helmholtz’ „Handbuch der physiologischen Optik“ (1856–1867, s. Anm. 8) eingehend studiert, wo im 1. Teil („Anatomische Beschreibung des Auges“), § 4, der Aufbau der Netzhaut behandelt ist.]

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[fol.] 162. [Im Text eine Markierung mit Kreuzchen, ohne weitere Angabe] beruht theilweise das Gewaltige gleichsam Feststehende, das unverrückbar Massive der ältesten Kunst sogar in Betreff der Methode sich auszudrücken; während die späte bis zum Äußersten verfeinerte Kunsttechnik leicht Gefahr läuft der Geziertheit und Kleinlichkeit zu verfallen. Das rechte Maß hierin zu treffen ist aber keine technische sondern eine hochkünstlerische Frage.*

Alle diese Erscheinungen hängen mit dem, was man unter Linear- und

Luftperspective nennt mehr weniger zusammen und wenn auch ihre physiologischen Ursachen verschiedene sind, so ist doch ihre Bedeutung für die Zeichenkunst eine sehr ähnliche, weshalb sie passend zu einer Gruppe vereinigt werden können.14 Diese 1. Gruppe enthält also alle mit der verschiedenen Lage eines Gegenstandes zum Beschauer in Bezug auf Entfernung zusammenhängende Erscheinungen.

2. Von wesentlichem Einfluß ist ferner das Fühlen des Senkrechten und

des Horizontalen. Hierin macht die Schwere am Gebiete des Sehens und der Raumeintheilung ihren Einfluß geltend. Von einem Punkt aus, mitten im Himmelsraum gibt es kein oben und unten. Diese bestimmte Richtung ist erst auf der Erde gegeben. Sie ist die Richtung der Schwere. Sie ist auch die natürliche Axe aller pflanzlichen Organismen. Senkrecht auf diese Schwerrichtung formirt sich die Erdoberfläche nach demselben Gesetz der Schwere, als Grundfläche oder auch Horizontfläche. In dieser Fläche entsteht für das lebende Wesen eine neue Richtungslinie, die der Bewegung und senkrecht darauf das symmetrische Rechts und Links. Durch diese Verhältnisse ist uns schon von der Natur das

14 [Sitte referiert im Folgenden verschiedene, seit Mitte des 19. Jahrhunderts besonders von dem Frankfurter Gymnasiallehrer Johann Joseph Oppel untersuchte geometrisch-optische Täuschungen. Hierzu beispielsweise: Oppel, Johann Joseph: „Über geometrisch-optische Täuschungen“, in: Jahresbericht des Frankfurter Vereins, 1854–1855, S. 37–47 sowie ders.: „Nachlese zu den geometrisch-optischen Täuschungen“; ebd., 1856–1857, S. 47–55. Siehe zu den im Folgenden dargelegten Täuschungen und Fehlern den „Autograph, ohne Titel (o.J.) – Zettelkonvolut“, Blatt NN04.] Autograph, ohne Titel (o.J.) – Teil II: Über Zeichen – Unterricht

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[fol.] 163. [Im Text drei Markierungen mit Kreuzchen, ohne weitere Angaben] orthogonale Coordinatensystem zur Bestimmung der drei Raumdimensionen an die Hand gegeben, wie es schon die Sprache aller Völker enthält durch die Bezeichnungen von oben unten, rechts links, vorwärts und rückwärts. Daß wir die Fähigkeit besitzen diese von Natur aus gegebenen Richtungen sinnlich wahrzunehmen läßt sich erkennen aus der ruhigen Orientierung welche Seefahrern auf ihren stets schwankenden Schiffen zu eigen ist*, aus den Versuchen A u b e r t ‘ s über das senkrecht Sehen von Linien,*15 aus dem Umstand, daß es wahrscheinlich sogar ein eigenes Organ ist, welchem die scharfe Empfindung der Schwerrichtung zu eigen ist*, aus der practischen Nothwendigkeit zum Behufe der Orientirung und zweckmäßigen Bewegung die Schwerrichtung zu empfinden und endlich aus der Erfahrung, welche jeden Augenblick wiederholt werden kann und welche lehrt wie deutlich wir im Stande sind eine absolut senkrechte Linie als solche zu beurtheilen auch ohne Vergleich mit einer anderen Senkrechten auch ohne Beihülfe von Schnur und Senkblei.

Noch mehr. Die Senkrechte ist sogar von so wesentlichen Einfluß auf un-

sere räumlichen Vorstellungen, daß wir uns eine menschliche Gestalt immer unwillkürlich gerade stehend denken mit gerade gehaltenen Kopf mit senkrechter Mittellinie des Gesichtes und des ganzen Körpers. Hierüber läßt sich ein einfaches Experiment anstellen. Wenn man irgend Jemanden ein kleines Bild in die Hand gibt [fol.] 164. auf welchem sich eine Figur befindet, deren Kopf nach abwärts gekehrt ist, während die Beine nach oben stehen, etwa einen Holzschnitt oder Kupferstich, auf welchem dargestellt ist, wie Petrus kopfüber gekreuzigt wird; und wenn man dann um ein Urtheil über das Gesicht oder die ganze Gestalt des Gekreuzigten fragt, so wird man jedesmal beobachten können, daß der Ge15 [Der deutsche Physiologe Hermann Rudolph Aubert (1826–1892), der besonders in Breslau und Rostock tätig war, widmete sich in seinen späteren Arbeiten besonders der Psychophysik – hier u.a. Fragen der Bewegung und Lagebestimmung. Darin beschreibt er beispielsweise die Auswirkungen der Kopfneigung auf die Einschätzung von Horizontal- und Vertikallinien. Hierzu besonders: Aubert, Hermann: Grundzüge der physiologischen Optik. Leipzig: W. Engelmann 1876.]

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fragte zuerst das ganze Bild umdreht, damit er die zu beurtheilende Figur gerade vor sich siht [sic!], in aufrechter Stellung. Dasselbe trifft häufig auch zu bei liegenden Gestalten und bei nur wenig geneigten Köpfen. Sie werden so lange gedreht bis die Mittelage senkrecht vor dem Beschauer steht. In dieser Stellung wird das Bild leicht vorgestellt und daher leicht beurtheilt, denn so werden Figuren meistens gesehen und so stellen wir sie uns ohne es selbst zu merken immer vor. Im Vorstellungsbild sind also nicht nur alle perspectivischen Verkürzungen ausgeschieden sondern auch alle schiefen complicierten Stellungen auf die einfachste Form zurückgeführt. Will man sich diese einfachste Form, in welcher das Vorstellungsbild seine Menschen aufstellt, vor Augen führen, so ist nur an die ältesten Statuen Ägyptens zu denken. Genau so, die Hände und Füße parallel, den Kopf gerade, mit Weglassung aller die höchste Einfachheit der Vorstellung verwirrenden [fol.] 165. [Im Text eine Markierung mit Kreuzchen, ohne weitere Angaben] Zufälligkeiten der Stellung, so ruhen die Figuren in unserer Vorstellung, in unserm Gedächtniß, in welchem nur alles Wesentliche enthalten ist. Man hat daher auch diesen ältesten Styl den wesentlichen genannt, weil es ihm mehr um das Wesen der Gegenstände, als um ihre Erscheinung zu thun ist.* Wo es aber darauf ankommt die Erscheinung zu erfassen und in der Zeichnung wieder zu geben, da bereitet die schiefe Stellung Schwierigkeiten und wieder ist es eine Eigenschaft des Vorstellungsbildes, welche für den Zeichner zu einer Fehlerquelle wird. Allen Zeichenlehrern muß es bekannt sein, daß Anfänger schief geneigte Köpfe immer zu wenig schief zeichnen. Sie nähern die Stellung der Senkrechten und einzelne Theile fallen nicht selten ganz im Sinne der senkrechten Aufstellung aus. Sehr gerne wird der Mund oder eines der Augen von einem sanft geneigten Kopf horizontal gezeichnet, statt, wie es sein sollte, gleichfalls etwas geneigt. [fol.] 166. [Im Text eine Markierung mit Kreuzchen, ohne weitere Angaben] 3. Alle spitzen Winkel werden von Anfängern zu groß gezeichnet. Besonders auffällig ist dieser allgemeine Fehler bei ersten Versuchen im Schattiren mittelst paralleler Strichlagen. Diese Striche haben im Original eine Neigung gegen die Contur des zu schattirenden Körpers unter einem mäßig spitzen Autograph, ohne Titel (o.J.) – Teil II: Über Zeichen – Unterricht

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Winkel. Von den Schülern wird dieser Winkel regelmäßig zu groß gewählt. Es liegt diesem Fehler eine Sinnestäuschung zu Grunde, welche zu den häufigst besprochenen physiologischen Erscheinungen gehört.16 Auf dem Umstande daß wir spitze Winkel immer für größer halten als sie wirklich sind beruhen eine Menge von Täuschungen. Eine derselben ist die aus Fig. … [sic!] zu ersehende. Die langen Linien dieser Figur erscheinen in der Mitte gebrochen und nach rechts und links convergierend. Sie sind aber wirklich nicht gebrochen sondern vollkommen parallel, wovon man sich leicht überzeugen kann indem man einen Papierstreifen oder ein Lineal an diese Linien anlegt, oder indem man die Zeichnung so gegen das Auge hält, daß diese parallelen Linien beinahe in vollständiger Verkürzung erscheinen.* [fol.] 167. [Im Text Hinweis auf Fig. 63 (nicht erhalten)] Ein anderer ähnlicher Fehler, der in eine Gruppe mit dem Vorigen gebracht werden kann, entspringt einer unrichtigen Abschätzung von Längendimensionen. Ebenso wie kleine Winkel werden auch kleine Distanzen überhaupt für größer gehalten als sie sind. Das zumeist angeführte Beispiel dieser Art ist den Maßstäben entnommen wie sie gewöhnlich in Gebrauch sind bei welchen dieser Fehler leicht bemerkt wird. Die Täuschung ist aus Fig. 63 zu ersehen. Die Strecke 0,12 scheint größer zu sein als die Strecke 0,1. Dieß ist nur eine Täuschung, denn in Wahrheit sind sie gleich groß. Versucht man aus freiem Auge die Strecke 0,1 mit der Strecke 0,12 gleich groß zu zeichnen so wird die Strecke 0,1 zu groß angenommen etwa bis zu dem Punkt der sich neben dem mit 1 bezeichnetem Strich befindet. Hierin besteht der einfache schematische Vorgang der wieder einen eigenthümlichen und gewiß jedem Zeichenlehrer bekannten Fehler aller Anfänger, als physiologische Ursache zu Grunde liegt. Wenn z.B. von einem Anfänger ein Profilkopf gezeichnet werden soll und er beginnt seine Arbeit etwa mit der Stirne, so gibt er dieser eine bestimmte Länge. Der nächste Theil, die Augen, werden schon im Sinne des Fehlers von Fig. 63 ein wenig zu groß gezeichnet. Die Nase welche 16 [Die Tatsache, dass spitze Winkel größer wahrgenommen werden als sie sind, beruht auf unserer Wahrnehmung des Zusammenspiels zwischen diagonalen Linien und horizontalen bzw. vertikalen Kanten. Dies wurde erstmals 1860 vom deutschen Physiker Johann Georg Poggendorff (1796–1877) beschrieben (Poggendorff-Täuschung). Hermann von Helmholtz behandelt das Phänomen in seinem Handbuch der physiologischen Optik, Bd. 3, Leipzig: Voss 1867, § 28, S. 564f.]

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nun wieder mit den Augen verglichen wird fällt noch etwas größer aus. Eine neuerliche Vergrößerung erfährt der Mund und endlich das Kinn, in dem sich alle diese auf einander folgenden falschen Vergrößerungen summiren, ist möglicherweise bereits doppelt so groß als es im Verhältniß zur Stirne sein sollte. Jeder Theil mußte beim Zeichnen mittelst Augenmaß auf dem noch leeren Stück Papier [fol.] 168. [Im Text Hinweis auf Fig. 63 (nicht erhalten)] ausgemessen werden, und zwar im Vergleich mit mehreren nebeneinandergesetzten mehrfach gekrümmten Linien. Diese auf der Zeichenfläche bereits befindlichen Linien wirken wie die Unterabtheilungen zwischen 0 und 12. in Fig. 63., während der zur Zeichnung neu hinzu kommende Theil immer ins Leere fällt und daher derselben Vergrößerung verfällt wie in Fig. 63 die Strecke 0,1.

Es ist dadurch wieder eine constante Fehlerquelle auf eine physiologi-

sche Eigenthümlichkeit des Sehens zurückgeführt. Schwieriger ist es diesen physiologischen Vorgang selbst, in seine Elementarbestandtheile aufzulösen. Gewöhnlich wird diese Erscheinung der Wirkung des Contrastes, welche alle Sinnesgebiete beherrscht, zugeschrieben.17 Es ist jedoch nicht möglich geworden eine befriedigende Erklärung auf Grundlage des Contrastbegriffes zu finden. Es wurde angenommen daß in Folge des Contrastes die Strecke 0,12 größer erscheine im Vergleich zu ihren kleinen Unterabtheilungen. Dieser Vergleich, ohne dem eine Contrastwirkung nicht möglich, müsse hier unwillkürlich angestellt werden, weil die Strecke 0,12 und ihre Untertheilungen ganz in einander stecken und daher zu gleicher Zeit betrachtet werden. Diese Nöthigung zu einem Vergleich mit den kleinen Untertheilungen ist bei der Strecke 0,1 nicht vorhanden, daher kommt auch der Contrast nicht zu Stande, die Strecke 0,1 erscheint vielmehr im Vergleich mit der vergrößerten Strecke 0,12 zu klein. Das Unbefriedigende dieser Erklärung wird auffallend wenn sie auf eine Menge ähnlicher Fälle angewandt werden soll. Das Schwankende

17 [Zum Folgenden besonders Hermann von Helmholtz Handbuch der physiologischen Optik, 2. Lieferung, Leipzig: Voss 1860, § 24. Siehe auch den „Autograph, ohne Titel (o.J) – Zettelkonvolut“, Blatt NN03, III.] Autograph, ohne Titel (o.J.) – Teil II: Über Zeichen – Unterricht

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[fol.] 169. solcher Erklärungen hat Helmholtz bereits constatiert, und Wund[t] hat zuletzt die gänzliche Unzulässigkeit einer Erklärung dieser Erscheinung mit Hülfe des Contrastes nachgewiesen.18 Zufolge des Contrastes müßten nämlich umgekehrt die kleineren Strecken im Vergleich mit der größeren z u klein erscheinen. Dieß ist aber nicht der Fall, sondern sie erscheinen stets größer als sie sind. Dieses tritt auch ein, wenn eine einzige kurze Strecke neben eine längere gesetzt wird. Es erscheint dann nicht wie es zufolge des Contrastes sein müßte die größere Stecke noch größer und die kleinere Strecke im Vergleich mit der größeren noch kleiner sondern umgekehrt die kleinere Strecke zu groß. Die Strecke 0,12 erscheint demnach nicht in Folge eines Contrastes mit ihren Untertheilungen zu groß, sondern diese Untertheilungen erscheinen jede für sich zu groß und daher die Strecke 0,12 als Summe aller dieser einzeln zu groß erscheinenden Stücke gleichfalls zu groß.

Es frägt sich also, warum wir geneigt sind, kleine Strecken überhaupt un-

willkürlich für größer zu halten als sie sind. W u n d t hat diesen Fall bereits in eine Classe gestellt mit der scheinbaren Vergrößerung kleiner Winkel jedoch keine weitere Erklärung gegeben.

Es ist jedoch möglich auch diese Täuschungen auf Gewohnheiten des Se-

hens zurückzuführen, wie dieß H e l m h o l t z bereits mit andern Täuschungen gelungen ist, welche gleichfalls keinen Zusammenhang mit der einfacheren allgemeineren Sinneserscheinung des Contrastes zeigten.

18 [Helmholtz (Handbuch der physiologischen Optik, 2. Lieferung, Leipzig: Voss 1860, § 24) vertritt die Anschauung, dass die optischen Kontrasterscheinungen auf Urteilstäuschungen beruhen, Wundt hingegen unterscheidet physiologischen und psychologischen Kontrast (Wundt, Wilhelm: Grundriss der Psychologie, Bd. 5, Leipzig: Engelmann 1896, bes. S. 313). Wilhelm Maximilian Wundt (1832–1920), der in Heidelberg und Tübingen Anatomie und Physiologie studierte und nach seiner Habilitation 1857 Assistent bei Helmholtz war (1858–1863), gilt als Begründer der Psychologie als eigenständiger Disziplin. Als Professor der Philosophie an der Universität Leipzig gründete er 1879 das erste Institut für experimentelle Psychologie. Wundt veröffentlichte ab den späten 1850er Jahren eine Vielzahl von Publikationen zur Physiologie, physiologischen Psychologie und Philosophie. Wichtige Werke sind: Lehre von der Muskelbewegung (Braunschweig: Vieweg 1858); Beiträge zur Theorie der Sinneswahrnehmungen (Leipzig: Winter 1862); Lehrbuch der Physiologie des Menschen (Stuttgart: Enke 1865); Handbuch der medizinischen Physik (Erlangen: F. Erbe 1867); Grundzüge der physiologischen Psychologie (3 Bde., Leipzig: Engelmann 1874); Grundriss der Psychologie (Leipzig: Engelmann 1896). Siehe auch den „Autograph, ohne Titel (o.J) – Zettelkonvolut“, Blatt NN09, Note 20.]

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[fol.] 170. [Im Text eine Markierung mit Kreuzchen, ohne weitere Angaben] Zu diesen Gewohnheiten des Sehens gehört vor allem die des perspektivischen Sehens, das ist die Gewohnheit jedes perspectivische Netzhautbild sogleich in das unperspectivische Vorstellungsbild zu verwandeln. Diese Verwandlung ist uns durch ununterbrochene Übung so zu sagen, zur zweiten Natur geworden. Wenn sie aber einen Fall beeinflußt auf den sie nicht paßt so kann sie gerade so zur Quelle von Täuschungen werden wie die Wahrnehmungsgewohnheiten anderer Art.

Wenn Jemand vor sich hin auf ein Blatt Papier ein Quadrat so genau als

möglich zeichnet so wird es immer breiter als hoch sein. Helmholtz hat diesen Fehler aus der Gewohnheit des perspectivischen Sehens erklärt.19 Alle Quadrate z.B. Fenster an Häusern und auch alle anderen Flächen, deren wesentliche Dimensionen ihre Breite und Höhe sind, sehen wir nur sehr selten in directer Ansicht meistens ober uns oder bei Gebirgsflächen ansteigenden und horizontalen von uns weg geneigt; also immer so, daß die Breite meist unverkürzt erscheint, während die Höhe der Fläche fast immer verkürzt erscheint. Daraus entsteht die Gewohnheit die Höhe sich stets ausgiebiger vorzustellen als sie im Verhältniß zur Breite wirklich gesehen wird. Diese dem plastischen Sehen entsprungene Gewohnheit macht sich dann auch beim Sehen in der Zeichenfläche geltend, wo sie nicht hingehört und daher die constante Täuschung des Augenmaßes*.

Es läßt sich leicht zeigen, daß es derselbe Einfluß ist, welcher auch kleine

Winkel und kleine Längendimensionen größer erscheinen läßt. Irgend eine Dimension eines Körpers wird selten frontal [fol.] 171. [Im Text Hinweise auf Fig. 2–5 und 64 (nicht erhalten)] gesehen; meistens mehr oder weniger verkürzt bis zum gänzlichen Verschwinden. Im Vorstellungsbild ist es aber immer dieselbe Dimension. Die Verwand-

19 [Das Phänomen, „verticale Linien für länger zu halten als gleich lange horizontale“, beschreibt Helmholtz im Handbuch der physiologischen Optik, Bd. 3, Leipzig: Voss 1867, S. 543, anhand eines nach Augenmaß gezeichneten Quadrates. Als Ergebnis seines Selbstversuchs führt Helmholtz aus, dass er im Vergleich zu den Horizontallinien eines Quadrats die Vertikallinien durchschnittlich um 1/40 zu kurz zeichnete. An dieser Stelle beruft sich Helmholtz auch auf den von Sitte vielfach zitierten Wundt, der die Differenz von Horizontal- und Vertikallinien auf ein Fünftel quantifizierte (Wundt, Wilhelm: Vorlesungen über die Menschen- und Thierseele. Leipzig: Voss 1863, S. 255).] Autograph, ohne Titel (o.J.) – Teil II: Über Zeichen – Unterricht

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lung des perspectivischen Bildes in das Vorstellungsbild besteht darin, daß man immer die verkürzten also k l e i n e r e n Dimensionen g r ö ß e r s i c h v o r s t e l l t als sie gesehen werden. Es sei in Fig. 64. das Quadrat der Grundriß eines regelmäßig viereckigen Tischbeines. Die Flächen dieses Beines stellen wir uns so vor wie sie sind, nämlich gleich breit. Gesehen werden sie aber verschieden breit. Die gesehene Breite 2, 3 entspricht ziemlich der wahren Breite, dagegen die stark verkürzte 1, 2 muß bedeutend vergrößert gedacht werden. In dieser Weise sind alle perspectivischen Verkürzungen, kleine Dimensionen welche größer gedacht werden müssen. Dasselbe findet bei kleinen Winkeln statt. Diese Gewohnheiten des räumlichen Sehens machen sich wieder bei Sehen in der Zeichenfläche geltend und daraus entsteht die Täuschung daß kleine Winkel und kleine Dimensionen immer für unverhältnißmäßig größer gehalten werden als sie wirklich sind. Wie leicht zu ersehen hängt diese Erscheinung aufs Engste mit allen vorher angegebenen und auch sehr nahe mit den Fehlern der in Fig. 2 bis 5 gegebenen Schlittencopien zusammen. Daß es sich hier gewiß um einen Gewohnheitsfehler und keine Contrasterscheinung handelt wird auch dadurch bestättigt, daß diese Fehler wieder durch Gewohnheit weggeschafft werden können. Zeichner, welche viel mit dem Zirkel arbeiten, Geometer, Architekten sind davon ziemlich frei. [fol.] 172. [Im Text Hinweis auf Fig. 65 (nicht erhalten).] 4. Im Gegensatz zu diesen Fehlern, welche in einer constanten Vergrößerung bestehen, kommt in einzelnen Fällen eine constante Verkleinerung vor. Das bekannteste Beispiel davon sind die schief zusammenlaufenden Ziffernreihen von Additionen bei Kindern. Diese Schreibweise ist gewiß so bekannt, daß ein Facsimile nicht nothwendig. Das Besondere besteht darin daß die Ziffern nicht senkrecht untereinander und die Reihen somit parallel zum Papierrand geschrieben sind, sondern daß alle Reihen der unter einander gesetzten Ziffern convergiren und sich verlängert in einem Punkt treffen würden. Dieser Punkt ist aber die senkrechte Projection des Auges des Schreibenden auf die Papierfläche. Die Richtung in der unter einander geschrieben wird ist also die Richtung des Sehstrahles in seiner Projection auf die Bildebene. Hiemit ist wieder eine Fehlerquelle entdeckt, nämlich der Einfluß des Sehstrahles und des Sehwinkels in Verbindung mit den natürlichen Bewegungen des Auges. Der Einfluß des Sehwinkels veranlaßt häufig Verkleinerungen deren System aus Fig. 65. entnommen werden kann. A und B seien zwei Punkte in der

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Fläche des Originales. In der Zeichenfläche werden dann diese Punkte gerne so copirt an Stelle von a und b., daß der Gesichtswinkel zu a. und b. gleich ist dem Gesichtswinkel zu A und B. Der Vorgang dabei ist der Folgende. Das Auge fixirt zuerst den Punkt A dann den Punkt B. und so rasch wechselnd mehrere male, bis deren Entfernung auswendig gelernt. Dann wird, nachdem der Punkt a notirt der entsprechende Punkt b gesucht. Indem nun wieder [fol.] 173. [Das Blatt ist mittig aus zwei Hälften zusammengeklebt] das Aug sich hin und herbewegt beschreibt es denselben Winkel wie früher. Daraus ist es theilweise zu erklären warum Kurzsichtige gerne in sehr kleinen Dimensionen zeichnen und warum beim Zeichnen nach der Natur unwillkürlich der Maßstab der Zeichnung schon durch die Entfernung gegeben ist in welcher man die Zeichenfläche zum Auge hält. Bei Zeichenschülern wird diese Art der Verkleinerung nach Maßgabe des Sehwinkels ebenfalls zu einer Fehlerquelle indem in Folge dieses Einflusses zuweilen plötzlich ein Theil des zu copirenden Originales in einem anderen Maßstab auftaucht als das Übrige.

5. Ein merkwürdiger Fehler schließt sich diesen noch an. Er ist einer der

ältest bekannten, indem er schon von L e o n a r d o in seinem Tractat von der Malerei besprochen wird. L e o n a r d o sagt: „Der Maler, welcher plumpe Hände hat, wird sie ähnlich in seinen Werken machen und so wird es ihm bei jedem Gliede gehen, wenn nicht langes Studium es ihn vermeiden läßt. Darum, Maler, betrachte wol den Theil den du an deiner Gestalt am häßlichs­ ten hast, und helfe dem mit allem Eifer ab, denn wenn du selbst thierisch bist, werden deine Figuren ähnlich scheinen, bist du geistreich desgleichen. Jedes Theil in guter und schlechter Hinsicht, den [fol.] 174. du an dir hast, wird sich in dem entsprechenden Theile an deinen Figuren zeigen“.20

20 [Leonardo „Libro di pittura“ (siehe S. 532, Anm. 81, hier: Heinrich Ludwig 1882, § 105: „Von der Täuschung, die Einem im Urtheil durch die eigenen Gliedmaassen zu Theil wird“); die zitierte Textpassage ist nicht wörtlich Heinrich Ludwigs deutsch-italienischer Leonardo-Ausgabe entnommen.] Autograph, ohne Titel (o.J.) – Teil II: Über Zeichen – Unterricht

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An einer anderen Stelle wieder:

„Der größte Fehler der Maler ist, dieselben Bewegungen, Gesichter und

Bekleidungen in ein und derselben Darstellung zu wiederholen, und den größten Theil der Gesichter ihrem eigenen gleichen zu lassen. Der Umstand hat mich oft zur Verwunderung gebracht, denn ich habe einige gekannt die in all ihren Figuren sich portraitirt zu haben scheinen, man siht an denselben die Geberden und Bewegungen ihres Verfertigers. Ist er rasch in Reden und Bewegungen, so sind seine Figuren ähnlich rasch; ist der Meister demüthig, so scheinen seine Figuren mit ihren gekrümmten Hälsen das gleiche; ist der Meister nicht weit her, so scheinen seine Figuren die nach der Natur gemalte Faulheit; ist der Meister unproportionirt, so ist der Meister ähnlich. Ist der Meister ein Narr, so zeigt sich das reichlich an seinen Gemälden, die aller Grundidee abhold sind und nicht durch eine Handlung zusammengehalten sind, sondern der Eine sieht hierher der andere dorthin als träumten sie, und so folgt jeder Vorfall im Gemälde der eigenen Planlosigkeit des Malers. Oft habe ich den Grund dieses Fehlers betrachtet, und es scheint mir, daß er im Urtheil läge, daß nämlich die Seele, welche jeden gemalten Körper lenkt und leitet – sie ist es die unser Urtheil bildet – vorher unser Urtheil sei. Sie hat die ganze Menschengestalt ausgeführt, wie sie meinte, daß er sich wohl befinde mit langer, kurzer oder Stumpfnase und ebenso bestimmte sie seine Höhe und Gestalt. Dieses Urtheil ist so mächtig, daß es dem Maler die Arme bewegt und ihn sich selbst wiederholen läßt, indem es der Seele scheint ihre Weise die Menschen zu bilden sei die beste, und wer es nicht macht wie sie der begehe einen Fehler. Findet [fol.] 175. [Das Blatt 175 ist auch verso beschrieben, der Text auf der Rückseite ist vollständig gestrichen.] sie aber jemand, der dem mit ihr zusammengesetzten Körper gleicht, so liebt sie ihn und verliebt sich oft darein. Deßhalb verlieben sich viele und nehmen zum Weibe die ihnen ähnlich ist und oft gleichen die von solchen erzeugen Söhne ihren Eltern“.21

21 [Leonardo „Libro di pittura“ (siehe S. 532, Anm. 81, hier: Ludwig 1882, § 108: „Vom größten Gebrechen der Maler“); die zitierte Textpassage ist nicht wörtlich Heinrich Ludwigs deutsch-italienischer Leonardo-Ausgabe entnommen.]

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Die Fälle, in welchen diese merkwürdige Übertragung der eigenen Körperform auf gezeichnete Figuren stattfindet, sind sehr mannigfach. Diese Übertragung beschränkt sich nicht allein auf menschliche Gestalten sondern erstreckt sich auch auf Thiere und selbst leblose Gegenstände.

Die Pferde auf ältesten Darstellungen z.B. assyrischen, finden sich mit Men-

schenaugen; ebenso andere Thiere z.B. selbst noch bei D ü r e r die Schweine im „verlorenen Sohn“.22 Am häufigsten werden Tiger, Löwen, Panther mit Menschenaugen dargestellt in allen Niellen und ältesten Drucken, bei M o r e t t o , M a n t e g n a , T i t i a n u.s.w.23 In Brehm’s Thierleben heißt es, die Maler hätten nie den Löwen richtig (naturalistisch richtig) dargestellt.24 In der Schöpfung der vierfüßigen Thiere des N i c . P i s a n o , einem Basrelief im Dome zu Orvieto haben alle Thiere Menschenaugen.25

An alten Werken kommt es in der Regel vor daß weiblichen Gestalten ein

männliches Scelett zu Grunde liegt mit engen Hüften und breiten Schultern. Dieß kommt vor auf allen ältesten griechischen Reliefs und Vasenbildern und bei mittelmäßigen Malern und Bildhauern bis auf den heutigen Tag. Selbst auf leblose ornamentale Formen überträgt sich noch der Typus des Künstlers, so daß der Charakter dieser Formen, was den Fluß der Linien und die Proportionalität anlangt der Gestalt des Verfertigers ähnelt.

L e o n a r d o versetzt die Ursache dieser Erscheinung ganz richtig in die

Seele.

22 [Albrecht Dürer, „Der verlorene Sohn“, Kupferstich, um 1496.] 23 [Siehe hierzu auch den „Autograph, ohne Titel (o.J) – Zettelkonvolut“, Blatt NN03, V.] 24 [Alfred Brehm (1828–1884) schrieb als freier Schriftsteller Aufsätze und Reiseberichte für populärwissenschaftliche Zeitschriften über zoologische Themen. Der Erfolg brachte ihm 1860 einen Vertrag für eine 10-bändige zoologische Enzyklopädie ein. Die ersten sechs Bände des Illustrierten Thierlebens, die beim Bildungsbürgertum großen Anklang fanden, erschienen 1864–1869 im Bibliographischen Institut Hildburghausen. Ab der zweiten Auflage (10 Bde., Leipzig: Bibliographisches Institut 1876–1879, neu gedruckt 1882–1887) hieß das Werk Brehms Thierleben, das nun mit neuen Illustrationen von Gustav Mützel und Eduard Oscar Schmidt ausgestattet war, von denen Charles Darwin äußerte, sie seien die besten, die er je in einem Werk gesehen hätte.] 25 [Die „Schöpfungsgeschichte“ mit den Darstellungen von Eber, Schaf, Ziege, Kuh, Pferd, Löwe, Kamel usw. gehört zu einem Reliefzyklus an der Fassade des Doms von Orvieto. Sie entstand um 1310–1330, weist stilistische Beziehungen zur Pisaner Schule auf und wird heute u.a. Lorenzo Maitani zugeschrieben.] Autograph, ohne Titel (o.J.) – Teil II: Über Zeichen – Unterricht

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[fol.] 176. [Das Blatt 176 ist aus drei Manuskriptteilen zusammengeklebt] Nur hat die Seele sich ihren Körper nicht nach eigenem Geschmack aufgebaut, sondern sie hat blos eine sehr genaue Vorstellung von ihm, und zwar mit Hülfe der äußern und innern Tastempfindung. Wenn wir irgend einen Punkt unseres Körpers mit dem Finger berühren wollen, so treffen wir ganz genau hin, weil wir auch ohne darauf mit den Augen zu sehen, ganz genau wissen in welche Lage zu einander sich alle Theile unseres Körpers befinden. Das Bild der eigenen Gestalt befindet sich also tief eingeprägt im Gedächtnisse jedes Menschen, und dieses Bild macht sich dann einfach mit seinem Einfluß geltend, wenn aus dem Gedächtniß gezeichnet wird und die objective Betrachtung der darzustellenden Gegenstände in anatomischer oder anderer Hinsicht eine mangelhafte ist.

Bei Zeichenschülern ist es dementsprechend häufig der Typus des eigenen

Gesichtes welcher sich bei Copiren von Köpfen in die Zeichnung einschleicht und zu Fehlern Anlaß gibt.

Endlich 1 0 .2 6 Alle Sinnesorgane unterliegen durch gleichartige langan-

dauernde Anstrengung der Ermüdung. Sie werden stumpf gegen die immer gleichen Eindrücke. Daher kommt es, daß Fehler der Zeichnung oder des Cholorites bei ununterbrochenen Arbeiten endlich dem Auge, das sich daran gewöhnt hat nicht mehr unbehaglich auffallen.

Die wichtigsten Eigenthümlichkeiten des räumlichen Sehens, wie sie von

physiologischer Seite aufgeführt werden können, sind hiermit erschöpft und es ist daher wahrscheinlich, daß auch kein constanter Zeichenfehler mehr gefunden werden kann, der nicht der einen oder anderen der vorigen Fehlergruppe zugetheilt werden müßte. [fol.] 177. [Das Blatt ist aus zwei Manuskriptteilen zusammengeklebt; im Text eine Markierung mit Kreuzchen, ohne weitere Angaben] Auf alle diese Fehlerquellen kann der Schüler aufmerksam gemacht werden und dadurch allein schon wird viel Leben und Anregung in den Unterricht gebracht werden können.

26 [Die Unsystematik der Gliederungspunkte – von Nr. 5 (fol. 173) zu Nr. 10 auf dieser Seite – erklärt sich wohl aus dem provisorischen Bearbeitungsstatus des vorliegenden Textes, der teilweise aus verschiedenen Textfragmenten zusammengeklebt wurde.]

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Es sind aber auch Methoden erfunden worden, durch deren Anwen-

dung diese Fehlerquellen unschädlich gemacht werden können, und d i e s e ­M e t h o d e n e n t h a l t e n d i e H a u p t s ä t z e a l l e r g e s u n d e n n a turgemäßen Art das Zeichnen zu lernen und außuüben.

Um den letztbesprochenen Übelstand zu bekämpfen und der Abstump-

fung und den üblen Folgen derselben für das in Arbeit befindliche Werk zu entgehen wäre es das Einfachste öfter Unterbrechungen in der Arbeit eintreten zu lassen während welchen sich das Auge erholt. Diese Unterbrechungen würden aber allen ersprißlichen Fortgang der Arbeit selbst aufhalten und daher sind andere Methoden aufgefunden worden das ermüdete Auge wieder zu einer richtigen Thätigkeit anzureizen. Diese bestehen darin, daß durch veränderte Stellung des Malers zum Bild andere Theile der Netzhaut von den Theilen des Bildes getroffen werden als vorher. Dieses Mittel beruht auf dem selben Vorgang, wie die Erhöhung der choloristischen Wirkung, wenn man eine Landschaft durch die Beine kopfüber ansieht. Gewöhnlich fallen die blauen Strahlen des Himmels auf die untere Hälfte der Netzhaut. Diese ist also gegen blau etwas abgestumpft. Dasselbe gilt von der obern Hälfte der Netzhaut für die Farben des Bodens. Sieht man die Landschaft kopfüber so fallen die farbigen Strahlen auf die entgegengesetzten, speciell für sie nun nicht ermüdeten Netzhautflächen und wirken nun stärker lebhafter. Dasselbe ist der Fall beim Ansehen im Spiegel. Hiebei wird rechts und links verwechselt. Etwas Ähnliches findet beim Zurücktreten und beim Hinund Herneigen des Kopfes statt, welches alles bei Malern in Gebrauch steht. Das Sehen durch farbige Steine bringt ebenfalls neue Eindrücke ins Auge und stärkt daher für Wiederaufnahme der alten*. [fol.] 178. Die Methode den unter N: 5 angeführten Fehler zu bekämpfen gibt Leonardo selbst an.27 Sie besteht in dem Studium des eigenen Körpers. Hiedurch bezeichnet der große Meister selbst, das W i s s e n d e s F e h l e r s als Mittel zu seiner Vermeidung. Auch die Kunst des Zeichnens selbst nennt er an vielen anderen Stellen eine Wissenschaft und erhebt sie dadurch in einer Weise, welche allein ihrem eigensten Wesen entspricht, über blos mechanische instinctive Handfertigkeit. Alle Zeichnung und Malerei setzt sich doch immer nur aus Strichen zusammen. Einen solchen Strich zu machen bedarf es nur 27 [Leonardo „Libro di pittura“ (siehe S. 532, Anm. 81, hier: Ludwig 1882, § 105: „Von der Täuschung, die Einem im Urtheil durch die eigenen Gliedmaassen zu Theil wird“).] Autograph, ohne Titel (o.J.) – Teil II: Über Zeichen – Unterricht

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einer einfachen Handbewegung aber wie aus solchen Strichen ein Gemälde zusammengesetzt ist, das kann die Hand nicht verstehen nicht lernen, das muß der Künstler fühlen und auch w i s s e n .

Das Fühlen gewisser Dinge, die sich nur selbst empfinden lassen, muß

dem Künstler angeboren sein. Aber das Wissen unzähliger anderer Dinge kann, wenn es nur ein für alle male aufgefunden, leicht mitgetheilt und gelehrt werden. Darauf beruht denn alle Möglichkeit einer guten Schule, welche rasch und sicher ihre Zöglinge dem gewünschten Ziele entgegenführt.

Manche Fehler, wie die eben besprochenen, verschwinden augenblick-

lich, sobald man sich ihrer bewußt wird: Andere haften mit mehr Zähigkeit und können nur durch Übung überwunden werden. Immer trägt aber die Kenntniß des Fehlers wesentlich zu seiner Vermeidung bei. [fol.] 179. [Im Text Hinweis auf Fig. 66 (nicht erhalten)] Die zähesten Fehler sind diejenigen, welche auf Täuschungen des Augenmaßes beruhen, denn diesen Täuschungen ist selbst der virtuoseste Zeichner noch ausgesetzt. Hierher gehören die scheinbare Vergrößerung kleiner Winkel und Längendistanzen (3) und der Einfluß des Sehwinkels (2). Gerade diese Täuschungen lassen sich aber methodisch beseitigen. Wenn in Folge des Einflusses des Sehwinkels irgend ein Detail plötzlich in einem anderen Maßstab copirt wird, als das Ganze, so entsteht dadurch eine Verschiebung der Richtungslinien, durch welche alle Detaile einer Zeichnung unter einander und mit dem Ganzen zusammenhängen. In Fig. 66 ist angenommen daß das Ohrläppchen in Wiederspruch mit der übrigen Zeichnung zu klein gehalten wurde. Dieser Fehler kann leicht bemerkt und verbessert werden durch Ziehen von Richtungslinien. Es zeigt sich hiebei sogleich, daß die Linie ab in auffallender Weise von der Richtung der Linie cd abweicht, welche tangirend an das richtige punktirte Ohrläppchen gezogen oder auch nur gedacht wird. Derlei Linien können in Gedanken verlängert werden bis sie irgend einen auffallenden Theil des Originales treffen. Dadurch bestimmt sich leicht und sicher ihre Richtung. Solche wirklich gezogene oder nur gedachte Orientirungslinien thun gute Dienste, auch zur Bekämpfung der meisten anderen constanten Fehler.

Von dem Einfluß des Sehwinkels kann das Auge auch befreit werden durch

häufiges Zeichnen in natürlicher Größe und überhaupt in großem Maßstab indem bei einer solchen Zeichnung ein Fehler im Sinne des Sehwinkels sogleich zu einer starken leicht bemerkbaren Abweichung führen würde. Diese

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Methode ist in vielen Schulen mit Vortheil in Gebrauch. Das allgemeinste und auch sonst noch vortheilhafte Mittel ist aber immer die Richtungslinie.

Zur Vermeidung der falschen Wirkung kleiner Winkel und Längendistan-

zen gibt es noch ein anderes wirksameres Mittel. [fol.] 180. [Im Text Hinweis auf Fig. 62 (nicht erhalten) und eine Markierung mit Kreuzchen, ohne weitere Angaben] Es besteht darin sehr rasch, wenn auch verschwommen und unausgeführt, das Ganze des zu zeichnenden Gegenstandes zu Papier zu bringen, und dann erst ins Detail zu arbeiten. Dadurch bilden sich nämlich in der Copie gleichfalls dieselben Täuschungen wie im Original und so wie der Anblick beider nun ein gleicher mit den gleichen Täuschungen ist, so sind sie auch untereinander gleich. Z.B. wenn jemand die Fig. 62 copiren wollte und mit den beiden horizontalen Parallellinien zu zeichnen anfinge so würde er diese in der Mitte gebrochen und gegen die Enden zu convergierend zeichnen, denn so erscheinen sie ja. Wenn diese Linien mit aller Sorgfalt vollendet sind dann zeichnet er die schiefen Linien und mit ihnen tritt die falsche Wirkung ein. Seine parallelen Linien sehen jetzt zu stark gebrochen und zu stark convergirend aus und waren doch eben vorher scheinbar richtig gezeichnet.

Nun müssen die vorher sorgfältig gezogenen Linien wieder weggelöscht

werden und neu gezeichnet und wieder gelöscht werden ohne Ende. Dieß wäre die schlechteste Art zu zeichnen, nach welcher der Zeichner unbarmherzig alle Folgen physiologischer Täuschungen Preis gegeben ist. Die richtige Art zu zeichnen nach welcher diese Täuschungen leicht bewältigt werden, besteht darin die ganze Figur rasch zu scizziren und zwar mittelst eines Materiales welches deutliche* aber leicht zu beseitigende Striche gibt. Das beste Material zu diesem Zweck ist Kohle. Während dieser flüchtigen Skizze mit Kohle soll [fol.] 181. nichts ins Detail ausgeführt und nirgends ausgebessert werden. Erst wenn das Ganze des zu copirenden Gegenstandes wenigstens beiläufig ersichtlich ist und somit die wesentlichsten Ursachen zu Täuschungen in der Skizze gleichfalls enthalten sind, kann zum Verbessern und Detailiren angefangen werden. Hiebei darf aber niemals das fehlerhafte weggelöscht werden, denn Autograph, ohne Titel (o.J.) – Teil II: Über Zeichen – Unterricht

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sonst verschwindet sofort wieder die physiologische Täuschung und die Arbeit dreht sich endlos in die Irre um denselben Punkt; sondern die richtige Linie muß neben die Falsche gezeichnet werden, wodurch allerdings ein Wust von Linien entsteht, der aber nichts schadet. Zuletzt werden die richtigen Linien fixirt z.B. durch Bleistift od. Feder und dann erst das Falsche weggewischt. Diese Methode ist aus den ersten flüchtigen Scizzen alter großer Meister zu ersehen, in welchen immer falsche und verbesserte Striche unausgelöscht neben einander stehen. Beide Methoden, die des Zeichnens mit Richtungslinien und die des Zeichnens aus dem Ganzen ins Detail können natürlich fortwährend nebeneinander gebraucht werden und finden sich auch in allen Schulen und bei allen Künstlern neben einander in Gebrauch. Probedrucke von Stechern, unvollendete Arbeiten von Radirern und die Scizzen aller Meister der zeichnenden Künste lassen erkennen, wie zuerst einzelne vorzüglichste Orientirungspunkte auf der Zeichenfläche angenommen wurden, dann rasch das ganze Bild mit schwachen flüchtigen Strichen scizzirt und dann erst ins Detail gearbeitet wurde. Preisler28 sagt darüber: „Wenn man einen, der da weiß, wie man in Linien entwerfen soll, und hingegen einen anderen, der seinen Entwurf mit allen Zierlichkeiten und Kleinigkeiten zu Papier bringt, wenn man diese, sage ich, zu gleicher Zeit eine vorgelegte Figur sollte entwerfen sehen, so würde man erst des rechten Unterschiedes gewahr werden. Jener wird in seinem Entwurf was gewisses, herzhaftes und festes weisen; dieser hingegen ein ungewiß, verzagtes und kritzelndes Wesen. 28 [Johann Daniel Preißler (Preisler, 1666–1737), Sohn des Daniel Preißler, ist Spross einer aus Böhmen eingewanderten Nürnberger Maler- und Kupferstecherfamilie. Preißler, der 1688–1696 in Italien (Rom und Venedig) arbeitete, malte Bildnisse und stach mehrere Ornamentstichfolgen. Von 1704 bis zu seinem Tod war Johann Daniel Direktor der Nürnberger Akademie und der ihr seit 1716 angegliederten Zeichenschule. Preißler darf gemeinsam mit Gerard de Lairesse als bedeutendster Zeichenlehrer des 18. Jahrhunderts gelten. Er ist der Autor folgender Zeichenvorlagenwerke: Die durch Theorie erfundene Practic oder gründlich-verfaßte Reguln derer man sich als einer Anleitung zu berühmter Künstlere Zeichen-Werken bestens bedienen kann (Bd. I–III, Nürnberg 1728–1731; Bd. IV von seinem Sohn Johann Justin, Nürnberg 1757); L´anatomia dei pittori del Signore Carlo Cesio. Das ist Deutliche Anweisung und gründliche Vorstellung von der Anatomie der Mahler … (Nürnberg: Böllmann 1706); Gründliche Anleitung, welcher man sich im Nachzeichnen schöner Landschaften oder Prospekten bedienen kann (Nürnberg 1734); Gründliche Anweisung zum richtigen Entwürffen und zierlichen Auszeichnungen der Blumen (o.O, o.J.).]

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[fol.] 182. Jener wird gleich überhaupt sehen können, ob alles und jedes an seinem gehörigen Ort stehe, oder nicht, ob etwas zu hoch oder zu nieder, und wo er allenfalls gefehlt hatte, würde er seinen Fehler ändern können; dieser hingegen kann nicht sogleich seine Nachzeichnung mit dem Originale examiniren, und wenn er gefehlt, kann er es auf keine andere Weise ändern, er lösche denn den mit großer Mühe ausgearbeiteten Entwurf aus und fange ihn wiederum von neuem an“.29

Zum Scizziren in der angegebenen Weise ist nicht jedes Zeichenmaterial

tauglich, das beste Material zum Entwerfen ist Kohle.30 Sie allein hat die beiden vorzüglichen Eigenschaften, stark sichtbare Striche zu geben, welche dennoch leicht wieder verlöscht werden können. Mit zarten kaum sichtbaren Bleistiftstrichen zu scizziren oder gar nur mit Punkten erfüllt bei weitem nicht so gut seinen Zweck. Alle physiologischen Täuschungen auf deren Bewältigung es ankommt, treten nämlich bei schwachen Linien niemals in der Stärke auf wie bei starken scharfen Linien. Es kann also sein, daß eine Scizze aus fast unsichtbar feinen Streifen richtig erscheint, während die darnach ausgeführte Zeichnung mit kräftigen Conturen und Schatten, dennoch verfehlt wird. Mit keinem Mittel als mit Kohle können auch die Schattenparthien so leicht angegeben werden. Diese aber sind ein wesentlicher Theil der Scizze, wenn die richtige Haltung und Eintheilung des Ganzen nicht doch wieder irrig beurtheilt werden soll. Die Vertheilung der Massen durch Kohlenskizze kann sogar bei Miniaturmalereien noch mit Vortheil angewendet werden.

29 [Preißler „Die durch Theorie erfundene Practic“ (s. Anm. 28), „Anderter Theil“: „Vom Entwurff“, fol. (A)3r (nach der Ausgabe Nürnberg 1775).] 30 [Zeichenkohle besteht aus verkohlten Holzstäbchen bzw. aus gepresstem Holzkohlepulver. Sie diente, da billig, leicht herzustellen und einfach zu entfernen, seit Urzeiten als Zeichenmaterial. Verfahren, handliche, stiftartige und den richtigen Härtegrat aufweisende Stängelkohle zu erzeugen, sind u.a. im Malerbuch vom Berge Athos, bei Cennini, Baldinucci und vielen anderen beschrieben. Bis ins Mittelalter war Kohle primär ein Hilfsmittel, etwa für Vorzeichnungen. Seit dem 15. Jahrhundert entstanden mit der Höherschätzung der Handzeichnung und der Entwicklung von Fixiermethoden auch selbständige Kohlezeichnungen. So notierte beispielsweise Dürer in seinem Tagebuch u.a. „mit dem Kohle conterfet“, „das thät ich mit dem Kohln“ usw. Bis in die Neuzeit hinein blieb Kohle das brauchbarste Material für Kompositions- und Studienzeichnungen, da mit ihr leichte, energische und satte Striche in großem und kleinem Maßstab hervorgebracht bzw. mit einem Lappen ebenso rasch wieder beseitigt werden konnten.] Autograph, ohne Titel (o.J.) – Teil II: Über Zeichen – Unterricht

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[fol.] 183. [Im Text zwei Markierungen mit Kreuzchen, ohne weitere Angaben] Denn durch das Dunkle und Weiche der Kohle kann mit wenigen raschen Strichen schon beiläufig der Effeckt der fertigen Malerei erzielt werden. Die bedeutenden Vortheile der Kohle werden in unseren Zeichenschulen entschieden noch zu wenig ausgenützt. Besser ausgenützt wird dieses unschätzbare Zeichenmittel in Italien. u[nd] besonders französischen Schulen. In der Scuola civica feminile di disegno industriale zu Genua31 beginnen die Schülerinnen mit dem Entwerfen einfacher Formen, groß mit Kohle auf grauem Papier und ziehen diese mit dem Pinsel in Tusche aus; in den fortgesetzten Übungen werden dann auch Flächen angelegt und die Formen mit der Feder ausgezogen. Langl* lobt die dadurch erzielten Erfolge.32 Auch in Frankreich wird in den Schulen der Freres chretiens3 3 mit Kohle gezeichnet und so lange 31 [Sitte bezieht sich hier auf die Scuola civica industriale feminile duchessa di Galliera in Genua, die 1871 als scuola di disegno industriale gegründet wurde. Die Schule vermittelte eine sowohl kaufmännisch wie künstlerisch orientierte Ausbildung, in der die Schülerinnen neben Schneidern, Töpfern und Sticken auch Zeichnen lernten. Für ihr neuartiges Lehrkonzept erhielt die seit 1880 durch das Ministerium für Landwirtschaft, Industrie und Handel finanziell unterstützte Schule mehrere Auszeichnungen (Esposizione Nazionale in Turin 1884, Esposizione Italo-americana in Turin 1892 sowie Weltausstellung in Paris 1910).] 32 [Josef Langl (1843–1920) – in Böhmen geboren und an der Wiener Akademie bei Bauer, Geiger und Führich ausgebildet – war Maler, Bildhauer und Schriftsteller. Langl unterrichtete als Professor an der k.k. Oberrealschule in der Wiener Leopoldstadt und wurde 1892 zum „Inspector des Zeichenunterrichts für Wien und Niederösterreich“ ernannt. Zudem war er Mitglied der Ministerial-Commission zur Förderung des Zeichenunterrichts. Anläss­ lich der Wiener Weltausstellung 1873 schrieb Langl den offiziellen Bericht Der Zeichenund Kunstunterricht (Wien: k.k. Hof- und Staatsdruckerei 1873), der in mehrere Sprachen übersetzt wurde. 1909 verfasste er ein Werk mit dem Titel Sechzig Jahre österreichischer Zeichenunterricht (Wien: I. Staatsrealschule), 1912 erschien seine Methodik des Zeichenunterrichts (Wien: Pichler).] 33 [Sitte zielt hier offenbar auf die Frères des Écoles Chrétiennes oder Lasalliens. Die 1684 vom – am 24. Mai 1900 heilig gesprochenen – französischen Priester, Pädagogen und Ordensgründer Jean-Baptiste de La Salle (1651–1719) gegründete Kongregation der „Brüder der christlichen Schulen“ eröffnete zunächst in Reims, 1688 in Paris Schulen, später auch Lehrerseminare mit dem Ziel, verwahrloste Jugendliche christlich zu erziehen. Dies führte zu einer Reform des gesamten französischen Schulunterrichts. Neu war, dass der Unterricht nicht einzeln, sondern in einer Klasse erteilt wurde, die Unterrichtssprache nicht Latein, sondern Französisch war und auch die Persönlichkeitsentwicklung der Kinder im Vordergrund stand. 1692 schuf de La Salle für die Schulbrüder in Vaugirard das erste

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die Formen durch Wegwischen mit Tuch oder Feuerschwamm corrigirt bis sie richtig erscheinen, worauf dann die Ausführung mit Kreide oder Bleistift folgt.*

Sehr vortheilhaft ist es beim Scizziren das kleine Detail in der Weise auszu-

lassen, daß immer eine Gruppe von Linien oder eine Anzahl kleinerer Krümmungen in einen einzigen Strich zusammengefaßt werden. Diese Striche sind dann entweder mittlere Durchschnittslinien oder umhüllende Linien.34 In dieser scizzenhaften Zurückführung einer Zeichnung auf ein einfacheres Schema kann verschieden weit gegangen werden. Ein Kopf kann allmälig so vereinfacht werden daß nur mehr eine eiförmige Umrißlinie übrig bleibt. Mit diesem einfachsten Schema kann bei der Zeichnung begonnen werden. Die charakteristische Neigung, Länge, Dicke, Zuspitzung eines bestimmten Kopfes kann in dieser allgemeinsten Abkürzung sogar porträtähnlich enthalten sein. Von hier aus [fol.] 184. [Im Text zwei Markierungen mit Kreuzchen, ohne weitere Angaben] kann so fortgeschritten werden, daß immer nur die nächst wichtigsten allgemeinsten Linien hinzu gefügt werden und somit die Zeichnung in jedem Stadium ihrer fortschreitenden Ausführung doch immer gewissermaßen ein Ganzes ein Fertiges darstellt. So genau specialisirt wurde die Methode der Scizzirung practisch in die Schule eingeführt durch Ab. Dupuis*, und sein stark detailirter Vorgang liegt heute noch der französischen Zeichenschule in nutzbringendster Weise zu Grunde, obwohl er manche Einseitigkeit im Gebrauche verloren hat.35 Noviziat, bis 1698 legte er die Ordensregeln fest. Nachdem de La Salle zu Lebzeiten gegen zahlreiche Widerstände hatte ankämpfen müssen, erhielten die Frères kurze Zeit nach seinem Tod 1724 zunächst die königliche und 1725 die päpstliche Anerkennung.] 34 [Mit der „umhüllenden Linie“ verweist Sitte auf die im Klassizismus in Mode gekommene Umrisszeichnung (bzw. den Umrissstich als Reproduktionsverfahren). Sie gibt nur die strengen Konturen der Komposition wieder, die ohne Binnenzeichnung und somit ohne plastische Modellierung und Schattengebung auskommt. Vor John Flaxman (1755–1826), der die Umrisszeichnung als neue Darstellungstechnik bei seinen Illustrationsfolgen zu Dante, Homer usw. einsetzte, verwendete sie bereits seit den 1760er Jahren der Schweizer Johann Ludwig Aberli (1723–1786) für Landschaftsfolgen, deren Blätter von ihm bzw. seinen Gehilfen getuscht bzw. koloriert wurden. Die sog. „Aberlische Manier“ fand besonders in der Kunstindustrie Verbreitung und Nachfolge.] 35 [Mit ihrer 1828 in Paris gegründeten Zeichenschule für Lehrlinge und Handwerker verAutograph, ohne Titel (o.J.) – Teil II: Über Zeichen – Unterricht

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Ziemlich allgemein werden beim Scizziren alle Krümmungen wenn sie nicht in einem deutlichen starken Bogen verlaufen, wie die Schädellinie von der Stirne bis in den Nacken, durch gerade Linien ersetzt. In diesen geraden Linien verbirgt sich nichts anderes als die in Fig. 66. dargestellte Richtungslinie, von der hiedurch eine vortheilhafte Anwendung gemacht wird. Das älteste Beispiel dieses Vorganges ist in Dürer’s „Vier Büchern menschlicher Proportion“ erhalten.36 Preisler* verwendet sie ebenfalls und sagt davon schafften die Brüder Alexandre und Ferdinand Dupuis dem Körperzeichnen internationale Bedeutung. Alexandre ersetzte das Vorlagenzeichnen durch Arbeiten nach Gipsmodellen menschlicher Körperteile, womit er die damals übliche zweite Ausbildungsstufe der Künstler – das Zeichnen nach dem „Runden“ – zur ersten machte. Den entscheidenden Schritt setzte Ferdinand nach der Mitte der 1830er Jahre, indem er Modelle entwickelte, die nicht vollplastisch, sondern aus Stäben und Drähten zusammengesetzte Formgerippe waren. Durch die vollkommene Sichtbarkeit der Kantenstrukturen sollten die Schüler die Gesetze der perspektivischen Verkürzung leichter erkennen und nachbilden können. Ferdinands Methode führte von der Darstellung von Flächenformen (Linie, Krümmung, Winkel, Dreiecke, Vierecke, Vielecke usw.) über perspektivische Studien (durch allmähliches Verdrehen dieser Formen in die Tiefe) bis zum Zeichnen stereometrischer Körper (Prismen, Zylinder, Pyramiden) und der „Modelle von Möbeln, Gewölben, Pfeilern, Säulen und Ornamenten“. Daran anschließend sollten die Schüler an den von Alexandre seit Anfang der 1830er Jahre entwickelten Gipsmodellen von Köpfen, Gliedmaßen und ganzen menschliche Figuren in verschiedenen Abstraktionsstufen und Stellungen geschult werden. Mit dieser Methode übertrug Dupuis den für zweidimensionale Vorlagen seit Jahrhunderten üblichen Schritt vom Schema zum Detail erstmals auf plastische Modelle. Von Alexandre Dupuis stammen die Traktate Exposé sommaire pour mettre en pratique la méthode de dessin de M. Dupuis,… (Paris: Impr. de David 1833); De l’Enseignement du dessin sous le point de vue industriel (Paris: Giroux 1836); Enseignement général du dessin, comprenant le dessin linéaire et la perspective,… (Sèvres: Impr. de Cerf 1847); Enseignement du dessin, méthode A. Dupuis… (Paris: Impr. de Mme de Lacombe o. J.).] 36 [Dürer, Albrecht: Vier Bücher von menschlicher Proportion. Nürnberg: Hieronymus Andreae (Formschneyder) für Agnes Dürer 1528 (siehe S. 513, Anm. 38). Sitte zielt hier offenbar auf Buch IV, fol. Y3r, das die Seiten- und Vorderansicht eines Mannes mit seitwärts ausgestreckter Rechten zeigt, dessen Konturen von geraden Linien umzeichnet sind. Durch „Zwerchlinien“ zerlegt Dürer den menschlichen Körper in zehn stereometrische Körper, die ihm eng angepasst sind; fünf weitere Corpora umschließen die Arme und die Hände sowie den Kopf. In der um 90 Grad gedrehten Seitenansicht zeigt der gehobene rechte Arm senkrecht aus dem Bild und stellt sich mit der Hand in maximaler Verkürzung dar. Dürer weist ausdrücklich darauf hin, dass die Figur zunächst gezeichnet, erst dann stereometrisch zergliedert wurde, um diesen für die Reproduktion nützlichen Vorgang von den konstruktiven Verfahren der beiden ersten Bücher zu unterscheiden.]

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ganz bestimmt: „Die Linien im Entwerffen müssen nicht buckligt sondern regulair sein“.3 7 Ferner: „Warum man aber mit Linien zeichnen soll geschieht deßwegen, dieweil ein Fehler mit Linien ehender corrigirt werden kan [sic!], als eine mit vieler Mühe ausgemachte Sache, die nachmals falsch und außer Proportion ist.“38 [fol.] 185. Die Richtungslinien schließen sich am Besten den zu zeichnenden Conturen genau an, organisch mit der Zeichnung selbst verwachsen. Es werden aber auch Hülfslinien gebraucht, welche nicht Theile der Zeichnung sind und mit ihr in keinem unmittelbaren Zusammenhang stehen. Es sind dieß die Netzlinien.

Das Zeichnen durch das Netz wird zuerst angegeben bei Leon B. Alberti,

und zwar nicht als eigene Erfindung sondern, wie es scheint, als ein von den Malern seiner Zeit bereits allgemein gekanntes und gebrauchtes Hülfsmittel.39 Später wird diese Methode des Zeichnens in fast allen Zeichenbüchern erwähnt40 und gegenwärtig noch von allen Künstlern benützt um fertige Zeichnungen zu vergrößern oder zu verkleineren oder auf Leinwand und Mauer zu übertragen. Überall gilt diese Methode als sehr brauchbares mechanisches Hülfsmittel in Ausübung der Kunst, nirgends aber wird die Anordnung des Netzes beim Zeichenunterricht gestattet. Und dieß mit Recht. Denn alle mechanischen Mittel, wie das Pausen, das Messen mit Maßstab, Schnur oder Zirkel und auch das Zeichnen mit dem Netz weichen den Schwierigkeiten des Zeichnens nur aus, ohne sie im Zeichner selbst zu bewältigen und ohne ihn in seinem Können auch nur um einen Schritt vorwärts zu bringen. Wenn die Hülfslinie

37 [Preißler „Die durch Theorie erfundene Practic“ (s. Anm. 28), 1. Teil: „Nöthiger Vorbericht an die Lehr-begierige Jugend, das erste Blat betreffend“, fol. A3r (nach der Ausgabe Nürnberg 1777).] 38 [Ebd.] 39 [Zur „Quadratnetzmethode“ Albertis siehe S. 556, Anm. 146.] 40 [Beispielsweise bei Leonardo „Libro di pittura“ (siehe S. 532, Anm. 81), § 39; Dürer „Underweysung der Messung“ 1525 (siehe S. 513, Anm. 38), fol. Q3v; Charles Antoine Jom­bert (Nouvelle Méthode pour apprendre á dessiner sans maître. Paris: Jombert 1740, Tafel 71); Christian L. Reinhold (Die Zeichen- und Mahlerschule. Münster (u.a.): Perrenon 1786, S. 87).] Autograph, ohne Titel (o.J.) – Teil II: Über Zeichen – Unterricht

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[fol.] 186. [Im Text zwei Markierungen mit Kreuzchen, ohne weitere Angaben] den Lernenden vorwärts bringen soll, so darf sie keine willkürliche sein sondern muß im Aufbau der Zeichnung selbst begründet sein. Sie muß Mittellinie oder umhüllende sein wie in den vorher angegebenen Fällen oder Symmetrieaxe wie dieß am häufigsten beim ornamentalen Zeichnen* stattfindet oder endlich Schwerlinie d.i. Senkrechte und Horizontale aber ohne sich durch Wiederhohlung in das mechanische Hülfsmittel des Quadratnetzes zu verwandeln. Die Senkrechte und Horizontale ein mal in jeder Zeichnung zu notiren ist von großem Nutzen und diese Linien sind es auch, welche in den neueren Zeichenschulen* außer den Umhüllungs- und Richtungslinien und Symmetrieaxen noch einzig in Gebrauch sind. In der Notirung dieser beiden Hauptlinien aller räumlichen Orientirung besteht auch das wirksamste Mittel um dem Fehler der zu gerade stehenden Zeichnung geneigter Köpfe oder anderer in geneigter Lage darzustellender Körper zu begegnen. Die geneigte Lage läßt sich an der als Hülfslinie gezeichneten Senkrechten oder Horizontalen wie an einem Winkelmaß vergleichen und ein Verfehlen der richtigen Neigung ist bei hinlänglicher Aufmerksamkeit nicht mehr zu befürchten.41

Die vollkommene Ausbildung und Ausbeutung der Hülfslinien, bringt

sie in unmittelbare Verbindung mit fast allen Schwierigkeiten der Zeichenkunst. [fol.] 187. Auch die Versuche das perspectivische Zeichnen zu erleichtern führen zur Construction verschiedener Netz- und Richtungslinien, und es vereinigen sich somit in diesen zuletzt Anforderungen sehr verschiedener Art. Anatomie, Perspective und Proportion haben ein Wort mitzureden.42

Besonders die Bewältigung der perspectivischen Schwierigkeiten ver-

anlaßt die Bildung constructiver Linien, denn das perspectivische Zeichnen 41 [Zum Einsatz von Horizontallinien, Vertikallinien und Winkellinien beispielsweise Dürers Vorder- und Seitenansicht einer schreitenden Frau (Dürer „Vier Bücher von menschlicher Proportion“ (s. Anm. 38), Buch IV, fol. V6v).] 42 [Anatomie, Perspektive und Geometrie/Proportion gehörten an der Accademia di San Luca in Rom (s. Anm. 102) wie der Académie royale de Peinture in Paris (s. Anm. 98) seit Anbeginn zum Kanon der theoretischen Studien.]

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ist keine instinctive Thätigkeit des Genies welche durch eine undefinirbare ­Inspiration ausgeübt wird, sondern lediglich eine Sache des Wissens. Die genialsten Künstler der ältesten Zeit haben hierin nichts zu leisten vermocht, nur weil ihnen das nöthige Wissen mangelte, dagegen kann gegenwärtig an jeden selbst mittelmäßig begabten Zögling einer Zeichenschule die Anforderung gestellt werden, daß er nach Erlernung der Perspectiv-Regeln auch richtig perspectivisch zeichne. Die Ausnutzung des Zusammenhanges dieser Regeln mit den Netzen und Hülfslinien ist eine für den Fortschritt im Zeichenunterricht hoch wichtige Sache. Hierüber einige Andeutungen.

Die Perspectivregeln beziehen sich in letzter Instanz auf die Darstellung

eines Punktes im Raume. Sehr leicht können gerade Linien durch Bezeichnung ihrer Endpunkte dargestellt werden. Schwieriger schon stetige Curven, Gewölbe von Gebäuden und ähnliches. Am schwierigsten aber sind die ungeometrischen, mannigfach gekrümmten Flächen des menschlichen Körpers einer perspectivischen Construction zugänglich und doch hilft auch hier nur das Wissen, nur die Construction weiter, wenn der Maler nicht zeitlebens auf einige auswendig gelernte Schemata oder beständig auf Modell und Gliederpuppe angewiesen sein will.43

43 [Gliederpuppen – zumeist aus Ton, Gips, Wachs oder Holz dem Menschen nachgebildete Figuren mit beweglichen Gelenken – waren bereits im Altertum bekannt und wurden seit der Renaissance in verschiedenen Größen von Künstlern anstelle eines lebenden Modells verwendet. Erwähnung finden sie bereits in Filaretes Trattato d’architettura (3. Buch: „Von der Zeichenkunst“; 1451–1464). Anfang des 16. Jahrhunderts ist die Gliederpuppe auch in Deutschland nachweisbar, wo sie u.a. von Dürer häufig verwendet wurde. Zahlreiche literarische und zeichnerische bzw. malerische Belege verweisen auf ihre besondere Bedeutung für die Malerwerkstatt. Sie dienten als Modelle für Proportions-, Bewegungs(besonders auch für kühn verkürzte fliegende oder schwebende Gestalten), Draperie- und Beleuchtungsstudien wie auch für stark bewegte Figurenkompositionen. Lautensack 1564 (siehe S. 545, Anm. 113), Tafel 45, zeigt anhand eines Paviment-Modells, wie Gruppendarstellungen auf einem Brett anzuordnen sind, die ähnlich beispielsweise auch bei Poussin oder Lairesse nachgewiesen sind. In den französischen Akademien dienten lebensgroße Modell- oder Stoffpuppen, sog. Mannequins, vorwiegend den Draperiestudien. Eine eigene Gattung bilden die sog. Muskelmänner: anatomische Modelle aus Gips, Wachs oder Bronze, die seit dem 16. Jahrhundert neben dem Skelettmann in jeder größeren Werkstatt standen und teilweise – wie in anatomischen Lehrsälen – mit zerlegbaren Muskeln ausgestattet waren.] Autograph, ohne Titel (o.J.) – Teil II: Über Zeichen – Unterricht

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[fol.] 188. [Im Text eine Markierung mit Kreuzchen, ohne weitere Angaben] Das Wesentliche der Figurenperspective besteht darin, daß die menschliche Figur zunächst in Linienschemata oder Netze aufgelöst wird und diese dann einer geometrischen Construction unterzogen werden. Zu diesem Behufe sind mehrere Verfahren versucht worden, welche sämmtlich schon von A. Dürer* angegeben werden.44 Über das von Dürer bereits geleistete ist man auch seitdem kaum hinaus gekommen.

E i n e Methode Dürers eine menschliche Figur ohne Modell in Verkür-

zung richtig zu zeichnen besteht darin, daß von den einzelnen Bestandtheilen der Gestalt Querschnitte gemacht werden.45 Die richtige Zusammenstellung solcher Querschnitte Fig. … zeigt deutlich wie sich die einzelnen Glieder gegenseitig gruppiren, überschneiden, verkürzen. Diese Methode ist aber complicirt und ungelenk für die Praxis und hat keine weitere Verbreitung gefunden. Im Detail kann jedoch die Aneinanderreihung von Querschnitten dem Künstler sehr nützlich werden und auch blos in Gedanken rasch überlegt keine Schwierigkeiten bereiten und keinerlei Zeitaufwand verursachen, wenn nur jeder Künstler ein so tüchtiger Anatom wäre, wie es unbedingt sein sollte.

Eine z w e i t e Methode Dürers besteht darin, daß er die Gestalt durch

eng anliegende Ebenen einhüllt, und sie dadurch in eine Anzahl geometrischer Körper zerlegt, welche dann als Hände und Füße bewegt werden und in den mannigfachsten Stellungen auf rein geometrischem Weg construirt werden können.46 Diese Methode, nach welcher die Figur wie eine aus Holz 44 [Dürer „Vier Bücher von menschlicher Proportion“ (s. Anm. 38)] 45 [Ebd., Buch IV, fol. Y41. Hier gibt Dürer zehn nummerierte und bezeichnete Körperschnitte wieder. In die einzelnen Rahmen sind Hilfslinien eingezeichnet, die beim nachfolgenden Wenden und Verrücken der Körperschichten die korrekte Einzeichnung der „Rundung des Leibs“ sicherstellen sollen. Ebenso sind hier die ungerahmten Schnittebenen über die Standflächen der Fußsohlen ineinander in ein Fadenkreuz projiziert. Dessen Schnittpunkt markiert die Schwerkraftlinie des Körpers und zeigt, „wie viel ein Teil den andern übertrifft“.] 46 [Diese Passage zielt auf die letzten Tafeln von Dürers Proportionstraktat (fol. Y3r und v). Sie zeigen einen von stereometrischen Körpern umzeichneten Mann in Seiten- und Vorderansicht bzw. eine Wiederholung in der Weise, dass „des Mannes Gestaltlinien heraus gelassen“ sind. „Solcher Weg“ – so Dürer im beigefügten Text – sei für die angehenden Bildhauer in Holz und Stein von Nutzen, die jetzt auf allen Ebenen in die Lage versetzt seien, „zu hauen durch die eckigen Corpora, was hinweg gehört, also

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zu schnitzende Gestalt im ersten Stadium der Bearbeitung aussieht, fand Eingang [fol.] 189. [Das Blatt ist aus zwei Manuskriptteilen zusammengeklebt; im Text Hinweis auf Fig. 40 (nicht erhalten)] in die Praxis. In den ersten Scizzen zu Gemälden finden sich häufig die Figuren in ähnlicher schematischer Andeutung. In dem 1543 zu Nürnberg herausgegebenen Zeichenbuch von E. Schön ist diese Bossenfigur noch mit der damals gebräuchlichen Eintheilung der Grundfläche in Quadrate welche nichts anderes als eine Art Perspectivmaßstab darstellt, verbunden.4 7 Dem Zeichenbuch von E . S c h ö n ist Fig. … entnommen.

Eine d r i t t e Methode Dürers besteht darin einzelne Punkte im Innern

des Körpers durch gerade Linien zu verbinden und diese Verbindungslinien nun perspectivisch zu construiren.48 Geht z.B. durch den Oberarm eine solche gerade Linie, so gibt diese die Länge des Oberarms an und zwar die wahre oder beliebig verkürzte Länge, je nach der angenommenen Stellung des Armes. Diese Linie kann aber in Verkürzung leicht perspektivisch construirt werden und so findet man mit ihrer Hülfe die Verkürzung des Oberarmes in jeder Lage. Dürer wählt als wichtigste Punkte, von denen bei Construction der Figur ausgegangen werden muß die Gelenkhöhlen an den Hüften und Schultern, worin sich bereits anatomischer Einfluß geltend macht. Auch diese Art,

daß man nicht zu viel weg hau oder da laß“. Dürer orientierte sich bei dieser Methode offenbar an der einschlägigen Bildhauerpraxis, Figuren aus dem vorgegebenen Block zu entwickeln. Auf den vorangehenden bzw. nachfolgenden Tafeln zerlegt Dürer alle Körperabschnitte („gefirte corpora“) in stereometrische Körper und lehrt, diese zu biegen bzw. zu wenden. Die Erfindung des Kubenverfahrens wird von Lomazzo (Trattato dell’arte de la pittura. Mailand: Pontio 1584) für die lombardische Schule um Bramante in Anspruch genommen. Dürer scheint dieses Verfahren als erster durchdacht und systematisch eingesetzt zu haben (hierzu auch Dürers Dresdner Skizzenbuch, fol. 143r, das einen Kuben-Mann in Form einer Gliederpuppe zeigt). Eine direkte Nachfolge von Dürers Kuben-Männern findet sich bei Schön 1538 (s. Anm. 47) und Lautensack 1564 (siehe S. 545, Anm. 113).] 47 [Schön, Erhard: Vunderweissung der Proportion vund stellung der bossen liegent vund stehent. Nürnberg 1538 (weitere Ausgaben 1542 und 1543). Siehe hier beispielsweise Fig. 10, fol. C2r, die fünf stereometrische Figuren in unterschiedlichen Stellungen zeigt.] 48 [Hierzu Dürer „Vier Bücher von menschlicher Proportion“ (s. Anm. 36), das in Seiten- und Vorderansicht eine rückwärts gebeugte, schreitende Frau zeigt.] Autograph, ohne Titel (o.J.) – Teil II: Über Zeichen – Unterricht

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auf die Perspective einer Figur die geometrischen ­ Constructionsverfahren ­anzuwenden, kommt verschiedentlich noch in späteren Zeichenbüchern vor. So ist Fig. 40. ein solches einfachstes Perspectivschema zu einer menschlichen [fol.] 190. [Das Blatt ist aus zwei Manuskriptteilen zusammengeklebt; im Text eine Markierung mit Kreuzchen, ohne weitere Angaben (Hinweis auf „Fig. …“, nicht erhalten).] Gestalt, welches einem bei Jombert in Paris im Jahre 1740 herausgegebenen Zeichenbuch49 entnommen und ganz dasselbe wie bei Dürer ist. Dasselbe Schema kommt dann weitläufiger ausgenützt in dem Zeichenbuch von J . D . P r e i s l e r vom Jahre 1783 aus Nürnberg vor, das neun Figuren enthält, welche alle über dieses Linienschema entworfen sind.50

Noch ein v i e r t e s Mittel gibt Dürer an, welches beabsichtigt einzelne

Körpertheile oder ganze Gestalten ohne Zuhülfenahme eines Modelles oder einer Gliederpuppe aus den Gedanken construiren zu können.*51 Fig. … Diese Methode ist besonders geschickt ersonnen und wurde in der Folge vornehmlich von den Franzosen mannigfach practisch ausgebeutet. Sie gründet sich auf die Erfahrung daß Frontalansichten und Profilansichten leicht zu zeichnen sind. Dieser Vortheil wird benützt und nun aus diesen einfachen Ansichten heraus die schwierige Verkürzung auf constructivem Wege gefunden. Dürer construirte auf diese Art den ganz verkürzten Grundriß eines Kopfes aus Frontal- und Profilansicht; die schwierige ganze Verkürzung eines Fußes aus der leicht zu zeichnenden Seitenansicht und ebenso leicht herzustellenden Daraufsicht; ferner ein Viertelprofil aus dem vorher construirten Grundriß und der Frontalansicht; und eine sonst sehr schwierige Neigung des

49 [Jombert 1740 (s. Anm. 40).] 50 [Der 2. Teil („Anderter Teil“) von Preißlers „Die durch Theorie erfundene Practic“ (s. Anm. 28) enthält lediglich acht Figuren, die nach dem – von Sitte so genannten – Linienschema entworfen sind (nach der Ausgabe Nürnberg 1775). Auf Tafel 3 sind in einer Übersicht die Linienschemata der Figuren zu sehen, die Preißler auf den folgenden Seiten ausführt. Die Tafeln 4–11 bestehen aus jeweils zwei Darstellungen: Die obere zeigt ein Zwischenstadium der zeichnerischen Ausführung der Figur mit noch eingezeichnetem Linienschema, die untere die vollendete Figur.] 51 [Zum Folgenden Dürer „Vier Bücher von menschlicher Proportion“ (s. Anm. 36), fol. E2v, E5v, V4r und V4v.]

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­Gesichtes nach unten und Erhebung desselben nach oben mit Leichtigkeit nur allein aus der Profilansicht. [fol.] 191. [Im Text eine Markierung mit Kreuzchen, ohne weitere Angaben] Auch diese Methode ist noch in einem späteren Zeichenbuch weitläufig ausgebeutet worden, nämlich in dem von J. C o u s i n * im Jahre 1671 in Paris herausgegebenen.52 Diesem Zeichenbuch ist Fig. 42 entnommen und stellt die Methode dar auf welche Weise die schwierig zu zeichnende Verkürzung des Fußes mit Hülfe der leicht zu zeichnenden Ober- und Seitenansicht a und b construiert werden kann. Die Construction ist aus der Zeichnung ersichtlich und ebenso ist es ohne weitere Beispiele klar, daß in dieser Weise jede beliebige schwierige Verkürzung construirt werden kann.

Ein Übelstand ist dabei zu bemerken: Daß nämlich die hiedurch erhal-

tene Verkürzung keine perspectivische sondern eine orthogonale ist, welcher Umstand übrigens wenig auffällt und leicht dadurch constructiv beseitigt werden kann, daß der Ober- und Seitenansicht, welche dieser Construction zu Grunde liegen, bereits ein richtige Verjüngung gegeben wird. Auch die vorher angegebenen zwei Methoden eine perspectivische Construction mittelst Bossen oder Mittellinien der Gliedmaßen zu ermöglichen haben noch ihre Mängel. Sie geben nämlich beide nur das perspectivische Schema einer Gestalt, und die einzelnen Theile Gesicht Muskulatur etc. sind außerhalb der Construction liegend, neuerdings dem Arbeiten nach dem Modell oder dem schon durch Übung errungenem perspectivischen Gefühl überlassen. [fol.] 192. [Im Text Hinweis auf Fig. 67 (nicht erhalten)] Dieses perspectivische Gefühl ist aber nichts anderes als die durch viele Übung zur unbewußten Thätigkeit gewordene perspectivische Construction. Das Detail wird mit Hülfe dieses sogenannten persp. Gefühles zwar nicht mit

52 [Cousin, Jean: La vraye science de pourtraicture. Paris: LeBé 1671. Das Buch, das seit seiner Erstauflage 1585 bis weit ins 19. Jahrhundert hinein 24 Auflagen erlebte, widmet sich besonders intensiv der Darstellung des menschlichen Körpers in extremen Ansichten. Dabei beginnt Cousin bei den Einzelteilen des Gesichts und baut seine Lehre so systematisch auf, dass sie auch für den Laien benutzbar ist.] Autograph, ohne Titel (o.J.) – Teil II: Über Zeichen – Unterricht

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Lineal und Zirkel sondern blos aus freier Hand gearbeitet aber nach denselben Grundsätzen wie die großen Hauptlinien der Gestalt. Die alten Meister scheinen hauptsächlich eine Erklärung des Grundgedankens einer solchen Construction angestrebt zu haben. Es ist auch ganz selbstverständlich, daß derselbe Kunstgriff, welcher das Allgemeine einer Figur ordnen hilft auch schrittweise zur Bewältigung immer kleinerer Detailes verwendet werden kann. Diese unzähligen Anwendungen der allgemein gegebenen Regel bleiben dem ausübenden Zeichner überlassen. Manches davon ist aber noch später zu verschiedenen malen wieder aus der Praxis in die geschriebene Theorie übergegangen. Am interessantesten in dieser Beziehung ist die Entwicklung derjenigen Constructionen, welche die perspectivische Darstellung des menschlichen Gesichtes bezwecken. Die Detailirung der Construction welche hieraus zu ersehen ist läßt sich natürlich auf alle Theile einer Thier- oder Menschengestalt in ähnlicher Weise anwenden. Die Methode ist dabei immer die des Zeichnens von Hülfslinien. Diese Hülfslinien stehen theils senkrecht theils liegen sie horizontal am nicht geneigten Kopf und laufen um diesen in bogenförmigen Krümmungen so herum wie die Parallelkreise und Meridiane eines Globus. Es ist damit unzweifelhaft der natürlichste Abmessungsapparat hergestellt. Die wichtigsten unter diesen Linien, welche stets vorkommen, sind drei. Eine senkrechte, welche das Gesicht in zwei symmetrische Hälften eine linke und eine rechte zertheilt, die Linie a in Fig. 67., [fol.] 193. [Im Text Hinweis auf Fig. 67 (nicht erhalten) und eine Markierung mit Kreuzchen, ohne weitere Angaben] und zwei horizontale, von welchen die eine entweder durch die Augenbrauen geht, wie Linie b in fig. 67., oder durch die Augenwinkel, wie Linie c, oder zwischen beiden liegt und durch den Rand der beiden oberen Augenlieder geht. Die andere Horizontale liegt unmittelbar unter der Nase, wie Linie d in derselben Figur. Zu diesen Hauptlinien gesellen sich mehrere andere, senkrechte durch die Mund- und Augenwinkel und horizontale durch den Mund, das Kinn und den Rand der Haare auf der Stirne.*

Diese Linien sind aus Rücksicht auf leichte Construction einfach eiförmig

von nur einer einzigen stetigen Krümmung. An einem plastischen Kopf würden sie etwa durch farbige Drähte dargestellt bald an der Oberfläche verlaufen bald sich in das Innere verlieren. Es ist also noch nothwendig die Erhöhungen der Gesichtstheile über diese construirten Hülfslinien in richtiger

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perspectivischer Lage zu finden. Dazu dienen neuerdings kleinere Hülfslinien wie sie zur Construction der Nase in Fig. 67 angegeben sind. In dieser Weise können alle Theile einer Gestalt nach und nach ausgearbeitet werden. Anfangs geschiht dieß mühsam überlegend und zeichnend, dann nur mehr in Gedanken so daß die Hülfslinien nicht mehr gezeichnet werden und endlich [fol.] 194. mit solcher Leichtigkeit daß das perspectivische Zeichnen so unbewußt mühelos ausgeübt wird, wie das Schreiben von Sätzen und Worten. Im Ziehen und Construiren dieser Linien ist das Alphabet und Buchstabiren aller Zeichenkunst enthalten; die wichtigsten Sätze der Anatomie, Perspective und Proportion finden in ihnen ihren Ausdruck. Das erste ist Anatomie. Die Linien schließen sich an wichtige anatomische Punkte an. Dann aber werden sie so gewählt, daß auch ihre perspectivische Construction nicht große Schwierigkeiten verursacht und zuletzt werden ihre Längen und Abstände gemessen und in Zahlen ausgedrückt, wodurch die in der Kunst gebräuchlichen Proportions-Schemata entstehen.53 Die größten Schwierigkeiten setzt die Anatomie einer ganz leichten Arbeit entgegen und ihr gegenüber sind die besprochenen Linienschemata auch verhältnißmäßig noch am wenigsten durchgebildet. Es ist in ihrer allgemein einfachen Form noch nirgends Rück-

53 [Proportionslehren der menschlichen Gestalt sind seit der Antike bekannt: Um 450 v. Chr. verfasste der Bildhauer Polyklet eine Lehrschrift über ideale Maßverhältnisse des menschlichen Körpers und seiner auf einem modulus beruhenden Proportioniertheit aller Teile zueinander wie zum Ganzen. Eine wichtige Grundlage für alle späteren Diskussionen boten Vitruvs De architectura libri decem. Vitruv führte einen Proportionskanon des menschlichen Körpers ein (mit der Gesichts- bzw. Nasenlänge als Modul), machte diesen zur Grundlage einer architektonischen Proportionslehre (anthropometrische Proportionen) und erreichte in seiner berühmten, in Mittelalter und Neuzeit viel diskutierten Proportionsfigur (Buch III, Kap. 1) eine Verbindung zwischen Mensch, Zahl und Geometrie. Dürer, der u.a. auf Vitruv, Alberti, Piero della Francesca, Luca Pacioli und Leonardo basierte, gab mit empirisch ausgerichteten Vermessungen des menschlichen Körpers der Diskussion über Schönheit und Proportion weitere wichtige Impulse. Seine Vorstellung von verschiedenen Menschentypen und ihren arithmetischen und geometrischen Besonderheiten hat Dürer in seinen Vier Büchern von menschlicher Proportion 1528 (Anm. 36) ausführlich beschrieben. Einflussreich war auch das Traktat von Lautensack 1564 (s. S. 545, Anm. 113). Lomazzo erläuterte in seinem Trattato dell’ Arte della Pittura, Scoltura et Architettura (Mailand: Pontio 1584) die Normalmaße des menschlichen Körpers in Abhängigkeit von Geschlecht, Alter, Charakter und Beruf.] Autograph, ohne Titel (o.J.) – Teil II: Über Zeichen – Unterricht

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sicht genommen auf die a n a t o m i s c h e n Verlängerungen, Verkürzungen und Verschiebungen bei den Bewegungen der Gliedmaßen. Die Knochen bewegen sich ja nicht um fixe Punkte in den Gelenken, wie es bei diesen Constructionen vorausgesetzt wird, was besonders von den Knie- und Ellbogengelenken gilt. Die Maße, welche durch die angeführten perspectivischen Schemata gefunden werden, sind daher nur näherungsweise zu gebrauchen. Eine vollkommen richtige Construction könnte nur durchgeführt werden, wenn zuerst das Knochengerüste richtig construirt, und dieses dann schrittweise mit Muskulatur umgeben würde.

Diese schwierigste aber allein richtige und vollkommene Art eine

[fol.] 195. Figur zu erfinden und zu zeichnen scheinen vor allen die beiden größten ­Meister in diesen Dingen, Leonardo und Michelangelo geübt zu haben. Für Michelangelo weisen einige erhaltene Studienzeichnungen darauf hin für Leonardo besonders seine Construction der richtigen Zeichnung des Beckens und verschiedene Stellen aus seinem Tractat über die Malerei.54 Wenn es also von Raphael und anderen Zeitgenossen bekannt ist, daß sie ihre bekleideten Figuren gerne zuerst nackt zeichneten um die größte Vollkommenheit bei unbehinderter Freiheit idealer Erfindung zu erreichen, so haben vor allen besonders die beiden vorher genannten Meister zuerst sogar angelegentlichst das Skelett studirt und aufgebaut und nachher dasselbe mit der Muskulatur gleichsam erst bekleidet. Dieß setzt denn allerdings eine umfassende und vollkommen geläufige anatomische Kenntniß voraus nicht nur der Oberfläche des lebenden Körpers, wie dieß häufig vom Künstler selbst für hinreichend betrachtet wird, sondern auch der inneren Theile. Dafür aber hat Michelangelo es durch diese seine Bewältigung und künstlerische Durchdringung auch der inneren [fol.] 196. [Das Blatt ist aus zwei Manuskriptteilen zusammengeklebt] Anatomie vermocht Figuren zu schaffen an denen man den innern mechanischen Aufbau gerade so mitzusehen vermeint wie bei Gewandfiguren

54 [Es ist unklar, auf welche Zeichnung sich Sitte hier bezieht; möglicherweise auf die – um 1509/10 entstandene – anatomische Studie des weiblichen Beckens mit Steißbein und unteren Extremitäten oder die zeitgleich entstandene Studie der männlichen Beinmuskulatur (beide Windsor Castle, Royal Library, RL 19004r, RL 12625r.). Siehe hierzu auch „Autograph, ohne Titel (o.J.) – Zettelkonvolut“, Teil 3, Blatt NN03, V.]

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die darunter verborgene Gestalt, wenn diese in ihrer Nacktheit der Bekleidung untergelegt wurde. Hierin übertrifft die Renaissance bei Weitem die Antike, denn keiner der großen griechischen Bildner ist im Stande gewesen mit seiner gänzlich geringfügigen Kenntniß innerer Anatomie solche Werke hervorzubringen. Gleich unübertroffen ist Michelangelo als Meister der Perspective. Es finden sich, wenn man Bildergallerien oder Handzeichnungssammlungen durchsiht nur wenige Bilder an denen nicht irgendein Fehler gegen richtige perspectivische Zeichnung wenigstens im Detail irgend wo zu erspähen wäre. Bei Raphael, selbst bei Albrecht Dürer kommen derlei Verstöße auf fast allen formenreicheren Werken vor. Niemals bei ­Michelangelo.

Mit der hier entwickelten Anschauung, daß das constructive Zeichnen,

oder nach gehöriger Übung darin, endlich das immer freiere constructive Denken beim Zeichnen und bei höchster Geläufigkeit durch fortgesetztes Üben das constructive Fühlen allein es ist, welches die von Natur aus gegebenen Schwierigkeiten der Perspective zu überwinden vermag, mit dieser Anschauung stehen die Ansichten in modernen Künstlerkreisen gar sehr in Wiederspruch. Es ist eine gegenwärtig beliebte Phrase in der Kunst alles durch das sogen[annte] Genie bewirken zu lassen.55 Das Genie allein vermag aber durchaus nichts. Genie und Wissen müssen zusammen wirken so wie [fol.] 197. [Das Blatt ist aus zwei Manuskriptteilen zusammengeklebt] Theorie und Praxis sich stets gleichmäßig unter wechselseitigem Einfluß entwickelten. Die größten Künstler waren immer auch zugleich die größten

55 [Der „Genie“-Begriff, der bereits in der Antike bei Plato und Sokrates eine Rolle spielt, findet seine besondere Prägung in der Renaissance und der Aufklärung. In der Renaissance bezeichnete der Begriff künstlerische Schaffenskraft bzw. die Quelle der Inspiration. Nach der Querelle des Anciens et des Modernes (ab 1687) breitete sich der Begriff schlagartig aus und dominierte die ästhetischen Debatten: Das „Genie“ stand nun für den aus sich selbst schöpfenden Künstler, der die Natur nicht nur nachahmt, sondern vollendet, was die Natur selbst noch nicht vollenden konnte. Großen Einfluss auf die Künstler der Romantik und der Weimarer Zeit hatte Immanuel Kants Kritik der Urteilskraft, wo das Genie als die Instanz bezeichnet ist, durch welche die Natur der Kunst die Regel vorschreibe. Während der Genie-Kult im 19. Jahrhundert allmählich abnahm und der Begriff aus der Ästhetik verschwand, diente er in der Kunstgeschichtsschreibung zur Charakterisierung des künstlerischen Ausnahmestatus beispielsweise von Raffael, Leonardo und Michelangelo.] Autograph, ohne Titel (o.J.) – Teil II: Über Zeichen – Unterricht

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Theoretiker und wenn in einem ganzen Zeitalter die Kunst blühte so gab es gleichzeitig immer eine hochentwickelte fein ausgebildete Theorie. Nur diejenigen, welche weder in der Theorie noch in der Praxis etwas Tüchtiges zu leisten vermögen wähnen durch eine Art unbewußte innere Inspiration das Höchste und Bewundernswertheste hervorzubringen.

Die Kunstschriftsteller der Renaissance berufen sich zwar gleichfalls stets

nur auf die Natur.56 Das Anschauen der Natur ist ihnen die wahre Quelle aller Kunst. W i e das Zeitalter der Renaissance aber die Natur anschaute, geht gleicherweise aus den Kunstwerken und aus den Schriften dieser so bedeutungsvollen Zeit hervor. Man lese den Tractat Leonardo’s und man wird deutlich sehen, daß dieses Anschauen der Natur wesentlich verschieden ist von derjenigen Art die Natur anzuschauen, welche dem modernen Naturalismus eigenthümlich ist.57 [fol.] 198. [Das Blatt ist aus zwei Manuskriptteilen zusammengeklebt] Ihr Anschauen war ein strenges Studiren der Natur, war Naturwissenschaft, Anatomie, Perspective u.s.w. Jede neu entdeckte Perspectivregel war ein Stück Natur, das sie dieser selbst abgelauscht hatten, und nicht graue Theorie, welche einen Gegensatz zum Leben, zur frischen Natur bildet. Diese An-

56 [Die bis in die Antike zurückreichende Vorstellung, dass Kunst Natur nachahme bzw. teilweise sogar übertreffe, gehört zu den kunsttheoretischen Dogmen der Renaissance. So schreibt beispielsweise Leon Battista Alberti in seiner Della Pittura (um 1435/36, Buch II, § 35): „Mir scheint es, dass es für den, der zu folgen bereit ist, keinen passenderen und zuverlässigeren Weg gebe als denjenigen, die Natur als Vorbild zu nehmen […]“ Seit der Renaissance galt das Naturstudium als wesentliche Grundlage und Teil der künstlerischen Methode in der bildenden Kunst. Aus dem Studium der Naturgesetze, mit dem um 1500 insbesondere Künstler (Leonardo, Dürer) begannen, wurden schließlich Lehren für die Kunst entwickelt, in denen empirische Beobachtung und künstlerische Ziele (Perspektive, Proportionslehren) zusammengefasst sind.] 57 [Leonardo sieht die Aufgabe des Künstlers u.a. darin, die im Makro- und Mikrokosmos wirkenden Kräfte der Natur sichtbar zu machen („Libro di pittura“ (siehe S. 532, Anm. 81), §13). Im Gegensatz dazu zielt der Naturalismus in der Malerei des 19. Jahrhunderts zuvorderst auf eine objektive Wiedergabe der optisch wahrgenommenen, auf Formstilisierung u.ä. verzichtenden Naturwirklichkeit. Hierzu und zu den folgenden Ausführungen der – Sitte wohl bekannte – Beitrag von Fiedler, Konrad: „Moderner Naturalismus und künstlerische Wahrheit“, in: Wissenschaftliche Beilage der Leipziger Zeitung (1881); Neuabdruck in: Fiedler, Konrad: Schriften zur Kunst. Hg. von Gottfried Boehm. München: Fink 1991, S. 82–110.]

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schauung, daß die Theorie etwas anderes als Natur, ja sogar etwas der Natur Feindliches sei, entstand erst in unserer Zeit in welcher sich die Regel so selbstständig verzopft hatte und in der That in ihrer isolirten Selbstbildung so weit von der Fährte der Natur abgekommen war, daß sie nicht mehr in organischem Zusammenhang mit den Zielen der Kunst stand und daher den auftauchenden Widerwillen auch reichlich verdiente.

Dennoch steckt selbst im schroffesten modernen Naturalismus noch genug

Idee und genug Theorie. Denn wenn der Naturalist auch nichts weiter vollbringt, als sein Modell genau ohne eigener erfinderischer Zuthat abzuzeichnen, so ist selbst ein solches kunst- und geistloses Abzeichnen nicht einmal möglich ohne vorhergehender Kenntnißnahme der perspectivischen Construction, und anderer Dinge, die tatsächlich nichts anderes als verhaßte Kunstregel sind.

In dieser Richtung ist übrigens noch kein Theoriehasser bis zu den äu-

ßersten Consequenzen seines künstlerischen Glaubensbekenntnisses vorgeschritten und wenn die modernen allgemeinen üblichen Anschauungen darüber beurtheilt und ihrem Wert nach abgeschätzt werden sollten, so frägt es sich, speciell die Perspectiv-Theorie betreffend nur, [fol.] 199. [Das Blatt ist aus drei Manuskriptteilen zusammengeklebt] ob ein flüchtiges Wissen des perspectivischen Grundgedankens zur ­Erlernung des richtigen Zeichnens allein schon genügt und alles Übrige der bloßen Übung im Abzeichnen plastischer Gegenstände überlassen werden kann, ohne daß es nöthig wäre die lineare Construction auch fortwährend im ­Detail zu üben.

Die Erfahrung, welche täglich in den Ateliers unserer Künstler gemacht

werden kann sagt dazu, daß es gar wohl möglich ist, wenn man nur im Allgemeinen weiß, was Perspective ist und worauf es dabei ankommt, richtig perspectivisch zu zeichnen. Auch diese Möglichkeit hängt mit der ganzen Thätigkeit unseres Gesichtssinnes zusammen.

Helmholtz sagt darüber in seiner physiologischen Optick, wo er auf das

perspectivische Zeichnen zu sprechen kommt, „daß es in unserer Willkür liege, bald bei dem perspectivischen Empfindungsbild bald bei der dadurch angeregten Vorstellung von der wahren Gestalt der Dinge zu verweilen“.58 58 [Zu Helmholtz siehe Camillo Sitte „Über den praktischen Wert der Lehre vom goldenen Schnitt“, S. 439, Anm. 13, sowie ders. „Über Farbenharmonie“, S. 388, Anm. 27 Autograph, ohne Titel (o.J.) – Teil II: Über Zeichen – Unterricht

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Es ist dieß eine Thatsache, die jeder kennt, der durch Übung sich die Fähigkeit des perspectivischen Zeichnens angeeignet hat. Es gehört nur viel Übung dazu. Dieser Übung braucht nichts voranzugehen als eine einmalige Kenntnißnahme des perspectivischen Grundgedankens. [fol.] 200. [Im Text eine Markierung mit Kreuzchen, ohne weitere Angaben] Anfangs gelingt es sehr schlecht, weil wir gewohnt sind die uns umgebenden Körper nach ihrer wahren Gestalt zu denken. Wir müssen erst mühsam, diese bis zur Unbewußtheit geläufig gewordene Methode zu sehen, wieder gleichsam absichtlich verlernen. Ist dieß durch vieles anhaltendes Zeichnen nach Modellen und nach der Natur erreicht dann liegt es allerdings in unserer Willkür bald die Gegenstände in wahrer Gestalt und bald wieder perspectivisch zu sehen, das eine im gewöhnlichen Leben das andere beim Zeichnen. Es ist sogar möglich, daß bei ausdauernder Übung, wenn mehrere Tage hindurch ununterbrochen perspectivisch gezeichnet und gedacht wird momentan diese Art zu denken geläufiger wird als die nach wahren Längen. So habe ich selbst nach mehrwöchentlichem ununterbrochenem Perspectivzeichnen abends beim Ausgehen die Gesimse der anstoßenden Häuser plötzlich nicht horizontal sondern fallend wahrgenommen und bedurfte einiger Augenblicke mich zu sammeln. Das perspectivische Sehen sowohl, wie auch das in wahren Längen ist eben beides Übungssache. Das Letztere von Kindheit an*, das erstere erst in Folge absichtlicher Zeichenübung. [fol.] 201. Dasjenige was durch Zeichenübung gelingt ohne einer fortgesetzten constructiven Methode ist gewöhnlich nur die Fähigkeit nach der Natur richtig zu copiren. Also zum Porträtiren, zum Malen von Blumen, und Fruchtstücken, von Stillleben, Thieren oder zum getreuen Copiren von Landschaften reicht die Übung im Zeichnen allein wohl aus ohne daß eine tüchtige fortwährende Übung in der perspectivischen Construction nothwendig wäre. in diesem Bd. Während seiner Zeit als Ordinarius an der Universität Heidelberg (1858–1871) konzentrierte sich Helmholtz u.a. auf Forschungen zur optischen und akus­tischen Physiologie. Im 3. Teil seines Handbuchs der physiologischen Optik 1867 (s. Anm. 8) führt er aus, dass Phänomene der Physiologie die Einbeziehung psychologischer Deutungsansätze notwendig machen. In § 30 („Wahrnehmung der Tiefendimension“, S. 622ff.) beschäftigt er sich auch mit perspektivischen Zeichnungen.]

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Anders verhält es sich, wenn der Künstler ideale Gestalten darstellen will.

Hiezu scheint er notwendiger Weise einer Methode zu bedürfen, nach der er unperspectivische Vorstellungen perspectivisch darstellt, und dieser aufs Höchste gesteigerten Anforderung scheint nur eine durch ausgiebigste constructive Übungen zur höchsten Vollendung entwickelte Darstellungskunst gewachsen zu sein. Vielleicht genügt in seltenen Fällen bei außerordentlicher Begabung die bloße Übung nach dem Modell. Thatsache ist aber daß unsere bedeutendsten Künstler entweder wirklich viel construirt haben, oder daß sie zeitlebens ein Modell oder die Gliederpuppe zu Rathe ziehen müssen, oder endlich daß sie nur scheinbar aus der Vorstellung arbeiten, in Wahrheit aber aus dem Gedächtniß. Im Gedächtniß können auch unzählige perspectivische Ansichten aufbewahrt werden. Aus diesem Vorrath kann immer wieder eine neue Combination zusammengestellt werden, gerade so, wie im Alterthum und Mittelalter alle Figuren aus einer Anzahl vorräthiger Schablonen zusammengestückelt wurden.59 Im Gegensatz zu einer solchen aus perspectivischen Gedächtnißtrümmern zusammengesetzten Gestalt hat das innere Vorstellungsbild einer erdichteten Gestalt alle Eigenschaften des gewöhnlichen Vorstellungsbildes, es ist gleichfalls unperspectivisch und muß erst in perspectivische Zeichnung übersetzt werden. Soll bei diesem nothwendigen Proceß nicht die Gliederpuppe und nicht das Modell und nicht die Gedächtnißschablone die in reinen Empfindungen erdichteten Linien des Ideales verwirren, so ist unbedingt eine rein constructive Zeichenmethode notwendig, welche durch Übung vielleicht bis zur Fähigkeit inneren perspectivischen Schauens gesteigert werden kann. [fol.] 202. [Das Blatt ist aus zwei Manuskriptteilen zusammengeklebt] Die primitivste Leistungsfähigkeit der Kunst besteht im Abzeichnen der äußeren Naturform. In dieser Weise ist der Naturalismus stets das erste Ent59 [Mittelalterliche Darstellungen von Menschen, Tieren, Pflanzen, Landschaften usw. waren nicht Ergebnis eines unmittelbaren Naturstudiums, sondern eines Zusammenkomponierens mustergültiger Exempla (Figuren- oder Kopftypen, Form- und Bildvorstellungen), die zumeist in Vorlagensammlungen zusammengetragen waren. Sie enthielten Nachzeichnungen vorhandener Werke oder charakteristischer Einzelformen, die dem Erlernen des Handwerks sowie der Ausführung von Aufträgen dienten. Eine Veränderung dieser Praxis setzte seit dem 15. Jahrhundert mit dem Übergang zu Natur- und Antikenstudium sowie der Individuierung des Künstlers ein.] Autograph, ohne Titel (o.J.) – Teil II: Über Zeichen – Unterricht

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wicklungsstadium einer späteren idealen Kunst gewesen. Das Arbeiten nach Schablonen oder aus dem Gedächtniß ist schon zufolge der historischen Reihenfolge als eine höhere Entwicklung leicht zu erkennen, allein, es hat noch immer seine bedeuten[den] Mängel. An modernen Idealisten welche aus dem Gedächtniß arbeiteten z.B. Genelli, Kaulbach,60 läßt sich die nothwendig damit zusammenhängende Manirirtheit, welche besonders den feinen Kenner so frostig berührt, deutlich wahrnehmen. Die früheren Werke dieser Künstler sind immer viel lebensvoller und mannigfaltiger als die späteren, und die Ursache davon ist theilweise auch das Zusammenschrumpfen des in der Jugend auf Reisen in Museen und Kunstsammlungen aufgespeicherten Gedächtnißvorrathes.61 Die Anzahl der Typen wird eine immer kleinere und auch die Detail-Formen jeder einzelnen typischen Gedächtnißfigur verlieren immer mehr an Mannigfaltigkeit. Diesem entgegen sehen wir in der Geschichte Künstler, welche mit jedem neuen Werk ein Größeres leisten, deren Kraft nach Inhalt und nach Darstellungsvermögen bis in ihr höchstes Greisenalter in stetigem Wachsen begriffen ist. Das sind diejenigen, welche gleich in der Jugend das innere Wesen der Erscheinungen zu erforschen begannen und nicht mit der blendenden und leichten Aufsammlung schöner Vorräthe sich begnügten. [fol.] 203. [Das Blatt ist aus zwei Manuskriptteilen zusammengeklebt] Was nun das äußere Darstellungsvermögen des Zeichners betrifft so ist das Trümmerwerk des Gedächtnisses nicht Natur und nicht Kunst, nicht Sehen und nicht Wissen. Das Modell und die Gliederpuppe aber geben dem Künst60 [Zu Bonaventura Genelli siehe „Autograph, ohne Titel (o.J.) – Teil I“, Anm. 20. Der Maler Wilhelm von Kaulbach (1805–1874) studierte an der Düsseldorfer Kunstakademie bei Peter von Cornelius. 1826 ging Kaulbach nach München, wo er 1837 Hofmaler Ludwigs I. und 1849 Direktor der Akademie wurde. Zu seinen bedeutendsten Werken gehörten die sechs monumentalen Wandgemälde im Treppenhaus des Neuen Museums in Berlin, die 1847–1866 ausgeführt wurden. Siehe hierzu CSG, Bd. 1: Schriften und Projekte. Hg. von Klaus Semsroth/Michael Mönninger/Christiane Crasemann Collins. Wien, Köln, Weimar: Böhlau 2008, S. 47f.; S. 51ff.; S. 157ff.; S. 184; S. 188] 61 [Zur gängigen künstlerischen Praxis gehörten – auf Reisen entstandene – Skizzenbücher, die häufig das Material für später im Atelier komponierte und ausgeführte Gemälde lieferten. Das Malen im Freien, unmittelbar nach der Natur (nicht aus der Erinnerung), dessen Ursprünge in der Romantik liegen, gehört zu den künstlerischen Postulaten besonders der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts.]

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ler nur die äußerlichste Oberfläche einer Natur, welche sich steif und spröde jeder rythmischen Anordnung und jeder andern rein künstlerischen Intention widersetzt. Das innere Wesen aller hieher gehörigen Erscheinungen ist aber schlechterdings nichts anderes als die perspectivische Theorie, die geometrische Construction. In ihr erfaßt der Künstler die innere Ursache der äußeren Erscheinung und wird so ihr Meister und Herr, der sie bei vollendeter Natürlichkeit nach Belieben zu seinen idealen Zwecken zu gebrauchen vermag. In Übereinstimmung damit zeigt sich, daß die Zeichenmethode einer idealen Kunst auch immer constructiver Natur gewesen, entweder durch Zusammenstellen und Fortbilden vorräthiger Schablonen wie im Alterthum und Mittelalter oder durch geometrische Construction wie seit Auffindung der perspectivischen Grundregel. [fol.] 204. [Das Blatt ist aus zwei Manuskriptteilen zusammengeklebt und mit aufgeklebter Textfahne ergänzt] Durch das fortgesetzte perspectivische Zeichnen, bildet sich eben hauptsächlich nur die Fertigkeit im perspectivischen S e h e n aus. Durch das fortwährende perspectivische Construiren entsteht Gewandheit im perspectivischen D e n k e n . Das eine ist die nothwendige Fähigkeit eines guten Copisten, das andere ein wichtiges Hülfsmittel für den wahrhaft e r f i n d e r i s c h e n i d e a l e n Künstler. Man wende nicht ein, daß auch in unserer Zeit die ideale Kunst eine reichliche Pflege erfahren habe. Der Unterschied zwischen unseren modernen Idealisten und Naturalisten ist ein verschwindend geringer und jedenfalls nicht so groß als man glauben sollte, wenn man auf das gewaltige Gerassel hinhört, welches der Kampf der beiden Partheien verursacht.62 Auch unsere Idealisten stellen nicht neue Ideen in neuer Form dar, auch unsere Idealisten sind nur Copisten gerade wie die Naturalisten. Nur im Gegenstand, der copirt wird unterscheiden sie sich. Der Naturalist copirt die Natur, der Idealist irgend ein altes Kunstwerk mit seinen stylistischen Eigen­ 62 [„Idealismus“ und „Naturalismus“ sind zentrale Begriffe der Geistesgeschichte. Auf die bildende Kunst übertragen bezeichnet „Idealismus“ eine – besonders im klassizistischen Akademismus vertretene – Gestaltung nach Idealen, die Steigerung und Verklärung der Wirklichkeit unter Zurückdrängen realistisch-naturalistischer Züge. Im Gegensatz dazu zielt der besonders seit Mitte des 19. Jahrhunderts in Mode gekommene „Naturalismus“ auf eine detailgetreue, möglichst präzise Wiedergabe des Naturbildes. Zu Sittes Auseinandersetzung mit diesen Begriffen siehe auch Bd. 1 dieser Edition (s. Anm. 60).] Autograph, ohne Titel (o.J.) – Teil II: Über Zeichen – Unterricht

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thümlichkeiten. Denkt man sich das Kunstwerk auch als ein Naturprodukt so fällt jeder Unterschied zwischen beiden hinweg.

Wenn wir also mit unserer gegenwärtigen entweder alte Stylformen oder

die Natur reproducirenden Kunst zufrieden sind, wenn es uns genügt, naturalistische Baumschläge, bausbäckige [sic!] Bauernjungens in trefflich abgewetzten Lederhosen,63 Modellacte und Faltenwurftraperien über die Gliederpuppe zu sehen, dann brauchen wir auch keine andere Zeichenschule als eine solche in der man gut copiren lernt.

Wenn aber die Zeichenkunst zu einem Mittel des Gedankenaustausches

werden soll, wenn wir selbst wieder einmal etwas Eigenthümliches, unserer Sinnesrichtung organisch Angehörendes auch in der bildenden Kunst oder im Kunsthandwerk hervorbringen wollen, dann benöthigen wir sogleich eine Schule in der das innere Wesen der Dinge klar gelegt und im Schüler die Fähigkeit geübt wird, seine Vorstellungen unabhängig vom Modell sich zu bilden und dieselbe richtig darzustellen.

Es zeigt sich hier, daß sich die Frage nach der besten Einrichtung einer

Schule aber durchaus nicht von den allgemeinen Strömungen der Zeit und von der Frage nach dem Ziel das die Schule im Sinne dieser Zeitströmungen erreichen soll, trennen läßt. [fol.] 205. [Das Blatt ist aus drei Manuskriptteilen zusammengeklebt; im Text Hinweis auf Tafel 61 (nicht erhalten) und zwei Markierungen mit Kreuzchen, ohne weitere Angaben] Die Opposition, welche sich sofort besonders in Künstlerkreisen regt, wenn die Nothwendigkeit tüchtigerer theoretischer Bildung betont wird, ist eben ein Product der Kunstentwicklung der letzten Jahrhunderte, und hängt eng zusammen mit dem Verfall der großen idealen Kunst und mit dem Aufkommen des modernen Naturalismus.

Ohne in solchen Vorgängen die nötige Erklärung gefunden zu haben,

müßte man sich über die sonderbare Vorliebe der Zeichner höchlich verwundern, welche das Bessere kennen und es trotzdem nicht üben, welche gute und einfache Regeln vernachlässigen und sie durch das viel mühsamere und noch überdieß unzulängliche Modellzeichnen ersetzen. Sobald man aber wahrnimmt, daß das constructive Zeichnen nur eine Notwendig63 [Hauptvertreter der bäuerlichen Genre-Malerei ist Franz von Defregger (1835–1921).]

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keit beim Arbeiten nach Ideen ist, diese Ideen selbst aber unserem Zeitalter aus anderen Ursachen, welche außerhalb des Gebietes der bildenden Künste liegen, ausgegangen sind, dann begreift man sogleich, warum das Construieren als unnötige Mühe bei Seite gelassen wird, und man sich direct an die Natur wendet, bei welcher man Idee und Form zugleich zu finden hofft.

Noch im 17. Jahrhundert steht die constructive Methode zu zeichnen in

allgemeinen Ansehen. Die Angaben Dürer’s finden mannigfache Anwendung und selbst Weiterbildung. Besonders das Werk J. Cousins 167164 erfreut sich einer guten Aufnahme bei Franzosen und Niederländern, von denen er noch heute der Dürer und Leonardo Frankreichs genannt wird.* Aber immer mehr und mehr verlieren sich die Constructionen.

An ihre Stelle tritt zunächst die Gliederpuppe,65 welche in dem Zeichen-

buch des G. v. Lairesse 1745* bereits auf Tafel 61 mit bombastischer Drapperie aufgeziert in stolzer selbstbewußter Haltung dem Beschauer gegenüber sitzt.66 Sie scheint ihre Wichtigkeit zu fühlen und war auch in der That der Kunstgenius ihrer Zeit. Dennoch birgt sich in ihr ein letzter Rest von Construction, so wie in der leeren inhaltlosen Phrase der barrocken Malerei sich noch immer der alte Idealismus, wenn auch in oft außerordentlicher Verzerrung und Entartung vorfindet.

Von Construction ist von nun an immer weniger die Rede und der Nürn-

berger Akademie-Direktor J. D. Preisler nimmt sich in seiner „Durch die Theorie erfundenen Praktik“ wo er 9 Figuren nach dem Dürer’schen Linienschema zeichnet schon ziemlich veraltet aus.67

64 [Zu Cousin siehe Anm. 52. Die Textstelle steht in Zusammenhang mit „Autograph ohne Titel (o.J.) – Zettelkonvolut“, Blatt NN14.] 65 [Zur Gliederpuppe siehe Anm. 43.] 66 [Gerard de Lairesses Groot Schilderboek (2 Teile, Amsterdam: de Coup 1707; deutsche Übersetzungen: Anleitung zur Zeichenkunst. Berlin: van Langefeld 1705; Grundlegung zur Zeichenkunst. Nürnberg: Weigel 1727 und 1780, sowie Neueröffnete Schule der Zeichnungskunst. Leipzig: Arkstee & Merkus 1745) ist die am weitesten verbreitete Zeichenlehre des 18. Jahrhunderts. Der erste Band handelt von der Technik der Zeichnung, der richtigen Proportion der menschlichen Figur, der Darstellung der äußeren und inneren Bewegungen (Leidenschaften) und der Verwendung der Farbe. Grundsätzlich besprochen und mittels Illustration verdeutlicht sind ferner Komposition, Bildinhalt, Naturähnlichkeit, Draperie, Kostüm und Faltenwurf, was anhand von Gliederpuppen demonstriert wird.] 67 [Zur Anwendung des Linienschemas bei Preißler siehe Anm. 28.] Autograph, ohne Titel (o.J.) – Teil II: Über Zeichen – Unterricht

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[fol.] 206. [Das Blatt ist aus drei Manuskriptteilen zusammengeklebt; im Text zwei Markierungen mit Kreuzchen, ohne weitere Angaben] Das 1778 von Ph. B. Parizeau* herausgegebene Zeichenbuch will schon ein Princip der Zeichnung nach der Natur sein und bringt dafür eine Reihe von akademischen Akten nach dem lebenden Modell.68 Nach dieser Richtung fortschreitend langen endlich Kunst, Theorie und Schule Hand in Hand auf dem Standpunkt unserer Zeit an. Solchen Erscheinungen gegenüber welche das Aufkeimen einer edlen großen Kunstthätigkeit schon in der Schule vernichteten, entsteht die Forderung einer bedeutenden durchgreifenden Reform. Diese wird denn auch schon von den verschiedensten Seiten her rüstig in Angriff genommen, und mit Befriedigung kann gesagt werden, daß allen den großen Anstrengungen, welche gegenwärtig in dieser Richtung gemacht werden das ernste Streben zu Grunde liegt in allen Theilen künstlerischer Thätigkeit wieder jene Vollkommenheit und Größe herzustellen, welche den Meistern des Alterthums und der Renaissance zu Eigen waren. Eine Art Programm gleichsam, in welchem die leitenden Grundgedanken dieser Bewegung vorgezeichnet sind bildet die unter dem Titel: „Die Aufgaben des heutigen Zeichenunterrichtes“ erschienene Vorlesung von Hfr. R . v . E i t e l b e r g e r 6 9 . In demselben Sinne werden die verschiedensten Detailfragen besprochen* und es kann wohl gesagt werden, daß wenigstens im Principe die Wiedereinführung der constructiven Zeichenmethode größtentheils für nothwendig gilt. Auch practisch wird die Pflege der perspectivischen Theorie in fortwährender Verbindung mit der Zeichenübung bereits auf den verschiedensten Stufen des Unterrichtes einzuführen versucht.

68 [Zwischen 1768 und 1778 gab Philippe Louis Parizeau (1740–1801) eine Folge von Radierungen „drapierter Figuren“, aber auch von Vasen und anderen Gegenständen heraus, u.a.: Recueil de figures et de groupes gravés à l’eauforte par Ph. L. Parizeau (Paris: Niquet 1768), 2eme recueil de figures drapées (Paris: Parizeau 1770–1775), 4eme suite de figures drapées dessinées et gravées par Ph. L. Parizeau (Paris: Parizeau 1777–1778).] 69 [Eitelberger von Edelberg, Rudolf: Die Aufgaben des heutigen Zeichenunterrichtes (Vorlesung, gehalten im Österreichischen Museum am 6. November 1873), in: ders.: Gesammelte Kunsthistorische Schriften, III. Band, Wien: Wilhelm Braumüller 1884, S. 1–27.]

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[fol.] 207. [Das Blatt ist aus zwei Manuskriptteilen zusammengeklebt] H . S c h ö p f e r hat es versucht die moderne Gliederpuppe wieder auf ihre ursprünglichen rein constructiven Elemente zurückzuführen in dem er sie aus geometrischen Bestandtheilen zusammensetzt, wie sie bei Dürer und Schön vorkommt und darauf dringt, sie aus dem Gedächtniß zeichnen zu lernen.70 Ferner weist er mit Bestimmtheit auf Michelangelo zurück indem er trefflich hervorhebt, daß keiner wie er die Construction des menschlichen Körpers in den verschiedensten Bewegungen so klar durchgeführt hat und wie eben diese Eigenschaft ihn zum größten Zeichenmeister und völlig unentbehrlich für ein System macht, welches lediglich auf Construction beruht.

P. S c h m i d in Berlin welcher bald beim ersten Unterricht Holzmodelle

verwendet71 und die Brüder D u p u i s in Paris, welche aus weißen Stäben zusammengesetzte Modelle auf schwarzen Hintergrund gebrauchen, halten 70 [Zu Schön siehe Anm. 47, zu Dürer siehe Anm. 43 und 46. – Heinrich Hermann Ignaz Schöpfer (1821–1899) war zunächst Major in der österreichischen Armee. Nach seiner Verwundung in der Schlacht von Novara 1849 widmete er sich in seiner Heimatstadt Bozen der Malerei. 1871 nahm er mit 24 Historienbildern an der Ausstellung des Münchener Kunstvereins teil. Große Bedeutung kommt seinem Traktat Anleitung zum Figurenzeichnen auf Grundlage des geometrischen Gliedermannes zu, den er 1863 mit 17 Vorlageblättern in Bozen herausgab. Ziel war es, dem ungeübten Zeichner innerhalb kurzer Zeit das richtige Zeichnen von Figuren zu ermöglichen. Hierzu konstruierte Schöpfer einen Gliedermann, der die menschliche Figur als Komposition einfacher geometrischer Körper wiedergab. Nachdem die Schüler diese Figur in unterschiedlichen Stellungen zeichnen konnten, sollte mit der Darstellung wirklicher Figuren begonnen werden. Schöpfers Methode war bei zeitgenössischen Künstlern (Kaulbach, Schwind) anerkannt und wurde an der Schule des Münchener Vereins zur Ausbildung der Gewerke sowie an der Vorbereitungsklasse für die Münchener Akademie nach Erscheinen des Werks versuchsweise übernommen.] 71 [Peter Schmid – 1769 in Trier geboren und u.a. in Koblenz (bei Januarius Zick), Mannheim und Düsseldorf zum Maler ausgebildet – war ab 1794 in Trier als Zeichenmeister tätig. 1809 erschien in Leipzig seine erste Zeichenlehre, die Anleitung zur Zeichenkunst (folgende Auflage Berlin 1812), ein bedeutender Schritt in den Emanzipationsbestrebungen der Zeichenlehrer der damaligen Zeit. Bedeutung erlangte Schmid in der Lehrerausbildung (u.a. in Aachen, Köln, Frankfurt am Main und Berlin). Seine Methode des Zeichenunterrichts, der er eine Weltlehre folgen ließ (Die Wege der Natur und der Entwicklung des menschlichen Geistes. Berlin: Nicolai 1827), machte ihn in den 1830er und 1840er Jahren zum berühmtesten deutschen Pädagogen. In seinem sog. „Körper-“ oder „Naturzeichnen“ hat Schmid ein ausgeklügeltes System von Lernschritten entwickelt, das er an die Anordnung einer Reihe von stereometrischen Holzkörpern bindet, die als Zeichenvorlage dienen. Naturzeichnen heißt bei Schmid also Zeichnen nach Holzklötzen.] Autograph, ohne Titel (o.J.) – Teil II: Über Zeichen – Unterricht

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es einstimmig für nöthig, die Theorie der Perspective sogleich mit dem Zeichenunterricht zu verbinden.72

Ähnlich Prof. W i e b e .73 Alle diese Bestrebungen können füglich als ein

Zeugniß mehr betrachtet werden für die Richtigkeit der Behauptung, daß das Wissen aller perspectivischen Schwierigkeiten und eine constructive Zeichenmethode wenn auch nicht das einzig mögliche so doch gewiß das wirksamste Mittel zur Bewältigung der von Natur aus gegebenen Schwierigkeiten des perspectivischen Zeichnens sind.

Im Ganzen genommen stellte sich heraus,

[fol.] 208. daß eine Menge derjenigen Regeln, welche gegenwärtig zu den wichtigsten Hausmitteln des Zeichenunterrichtes gehören, sehr geschickte Erfindungen sind um ganz bestimmten Fehlern zu begegnen, welche mit Nothwendigkeit aus der Construction unseres Auges und aus den eigenthümlichen Vorgängen des Sehactes entspringen. Durch diese Einsicht in den inneren Zusammenhang aller dieser merkwürdigen Erscheinungen, gewinnt der Zeichenlehrer neuerdings ein Mittel seine Schüler zu fördern und auch zu beherrschen. Er kann ihnen jetzt noch mehr sagen als w a r u m sie gefehlt haben. Er kann seine Schüler die richtige Methode diese Fehler zu besiegen, sogar selbst finden lassen, gleichsam nach Sokratischer Pädagogik, und das ist ein ebenso großer Gewinn als der vorige. Es gibt eine Formel, in welcher ungeschickte Lehrer häufig reden und in der sich aller Unverstand schlechter Lehrart concentriert. Diese Formel lautet: „ D a s m a c h t m a n s o “ — Beim Zeichenunterricht folgt darauf das „Ausbessern“. Diese Formel schließt i n sich das jurare in verba magistri, in schlimmster Gestalt und ein vollständiges Geständniß der Unfähigkeit, den Gegenstand zu erklären. Die verderbliche Wirkung dieser

72 [Zu den Brüdern Dupuis siehe Anm. 35.] 73 [Es ist unklar, auf welche Person sich Sitte hier beruft, die auch in modifizierter Schreibweise angeführt ist (fol. 214: „Wiebe“, sowie fol. 227: „Wiese“). Möglicherweise ist hier der deutsche Pädagoge Ludwig Adolf Wiese (1806–1900) gemeint, der von 1852–1875 Referent für das höhere Schulwesen im preußischen Kultusministerium und später Vorsitzender der Reichsschulkommission war. Wiese, ein Vertreter des Neuhumanismus, schrieb mehrere Bücher zur schulischen Erziehung wie u.a.: Das höhere Schulwesen in Preußen: historisch-statistische Darstellung. 4 Bde., Berlin: Wiegandt & Grieben 1864–1902; Pädagogische Ideale und Proteste. Ein Votum. Berlin: Wiegandt & Grieben 1884; Lebenserinnerungen und Amtserfahrungen. Berlin: Wiegandt 1886.]

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Formel und alles dessen, was ihr ähnlich, kann nicht grell genug beleuchtet werden. Gerade der talentirte, d.i. der [fol.] 209. zum eigenen Denken aufgelegte Schüler wird unter der geisttödtenden Wucht dieser Formel und ihrer Consequenzen erliegen. Denn warum macht man das so? Wer ist dieser „man“? Mit welchem Rechte verlangt er, daß alle Welt sich seinen Anordnungen fügen soll? Jeder Mensch, der nicht Idiote ist, will doch bei allem, was er beginnen soll, die Ursache wissen und wozu es taugt. Der begabte Schüler verliert mit Recht alle Lust an einem Gegenstand, den er nicht einsehen kann, in dem er fortwährend Dinge üben soll, deren Zweckmäßigkeit und Nothwendigkeit er nicht begreift und von denen er daher endlich im Übermaß seines naturgemäßen Unmuthes annimmt, daß es eben nur „Seckaturen“ des Lehrers seien. Diese Klippen des Unterrichtes werden bedeutungslos, wenn dem Schüler sein eigenes Arbeiten klar gemacht werden kann, und daraus ihm selbst die Nothwendigkeit gewisser Regeln und das Practische und Sinnvolle der gebräuchlichen Verfahren einleuchtet. Diese Regeln sind ohnehin nicht viele und ihre Zweckmäßigkeit leicht einzusehen. Hier sind nur diejenigen einer Untersuchung unterzogen worden, welche Eigenthümlichkeiten des Auges ihre Entstehung verdanken, und diese sollen denn auch, nachdem ihre Untersuchung abgeschlossen zur deutlicheren Übersicht noch einmal, in Form einer Tabelle, vereinigt vorgeführt werden. [fol.] 210. [Nicht vorhanden] [fol.] 211. [Das Blatt ist am unteren Rand beschnitten]

Noch sind nicht alle Vortheile in erschöpfender Weise ausgebeutet, wel-

che sich aus der historischen und physiologischen Betrachtung des Zeichnens gewinnen lassen. Die in voriger Tabelle enthaltenen Methoden gewisse Schwierigkeiten des Zeichnens zu bewältigen, sind das Fundament aller Zeichenkunst. Auf ihnen beruht alles Übrige, sie sind beim Zeichnen fortwährend in Gebrauch, lehren aber nicht w i e d e r Z e i c h e n u n t e r r i c h t z u beginnen und in allmäliger Entwicklung beim Einzelnen Autograph, ohne Titel (o.J.) – Teil II: Über Zeichen – Unterricht

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w e i t e r z u f ü h r e n i s t . Eine solche allgemeinste Grundregel für den Unterricht ist aber gleichfalls schon durch die Natur selbst vorgeschrieben und zwar durch die nothwendige Analogie welche zwischen Zeichenunterricht und zwischen der geschichtlichen Entwicklung der Zeichenkunst in Folge der von Natur aus gegebenen Beschaffenheit des menschlichen Auges obwaltet. Wenn derjenige, welcher diese Kunst erlernen will, immer mit denselben Schwierigkeiten zu kämpfen hat, welche auch die Erfinder des Zeichnens zu überwältigen hatten, wenn er dort anfangen muß wo das Zeichnen in ältester Zeit selbst angefangen um endlich dort anzulangen, wo auch die Entwicklung der Zeichenkunst überhaupt ihre letzten Ziele erreichte; wenn jeder Zeichner es nur auf einem ähnlichen Weg zur Vollkommenheit in seiner Kunst bringen kann, wie derjenige auf dem die Kunst selbst nach und nach fortschreitend sich bis zur Vollendung entwickelte, so ist das E r l e r nen dieser Kunst nichts anderes als eine Wiederholung ihrer Erfindung, und die einzig richtige Stufenfolge im Zeichenunterricht kann nur darin bestehen diesen von der Natur selbst vorgeschriebenen Unterrichtsgang auch w i r k l i c h e i n z u h a l t e n , und nicht darin, irgend ein willkürliches Verfahren anzuwenden. [fol.] 212. Durch diesen Grundsatz ist, wie sich gleich zeigen wird, ein Hülfsmittel für die Methodik des Zeichenunterrichtes gegeben von viel feinerer Leistungsfähigkeit als die bisher gebrauchte rein practische Erfahrung.

Der ordnende Grundsatz bei Aufstellung einer Stufenfolge für den Unter-

richt ist immer gewesen, das leichter zu Erlernende früher und das schwerer zu Erlernende später vorzutragen und üben zu lassen. Dieser Grundsatz ist allgemein anerkannt und vollkommen richtig. Schwierig aber ist oft seine Anwendung in der Praxis. Für den Zeichenunterricht entsteht daraus zunächst die Forderung alle Vorlagen, flache und plastische nach stetig zunehmender Schwierigkeit in eine Reihe zu bringen. Dieß ist leichter gesagt als gethan. Jedes der nach hunderten zählenden älteren und modernen Zeichenbücher gibt ein Bild einer solchen Entwicklungsreihe; wie schwer es aber ist hierin scharf und bestimmt zu sehen und demzufolge richtig zu ordnen zeigen die vielen Unsicherheiten und oft bedeutenden Differenzen dieser einzelnen Versuche unter einander. Die Erfahrung in der Schule auf welche sich die Verfasser unserer Vorlagewerke bisher allein gestützt haben, ist nämlich

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eine sehr getrübte Quelle ein sehr unsicheres Instrument. Dem einen Schüler gelingt heute ein Schwereres ohne Mühe, morgen, wo er villeicht zufällig etwas an Kopfschmerz leidet, oder ermüdet, schlecht aufgelegt, zerstreut ist gelingt ihm ein Leichteres nicht. Einem Andern gelingt wieder etwas Schwereres ausnahmsweise leichter weil er villeicht gerade diese bestimmte Verkürzung an einem Bilde welches etwa zu Hause im Zimmer hängt oft [fol.] 213. gesehen hat u.s.w. Bei einiger Überlegung wird es klar, wie unsicher es ist aus solchen Erfahrungen den a b s o l u t e n Grad der Schwierigkeit irgend einer Zeichenvorlage zu bestimmen, was doch zur Ordnung von allgemeingültigen normalen Vorlagereihen unerläßlich ist. Resultate von genügender Sicherheit könnten aus der practischen Erfahrung villeicht abgeleitet werden, wenn tausende von Versuchen, nach Art der Fechner’schen Experimente über Reizgrenze etc. angestellt würden.74 Derlei schärfere Untersuchungen sind aber noch von Niemanden angestellt worden, sondern jeder Autor ließ seinen Instinct walten, seine gefühlsmäßige Erinnerung an die eigene Erlernung und an die Vorfälle seiner Lehrpraxis.

Wo aber die Erfahrung des Einzelnen zu gering ist, da hilft die Erfahrung

der Geschichte aus.

Nichts anderes als nur bessere umfangreichere Erfahrung ist es, und kein

Theorem a priori, wenn gefordert wird, daß das Erlernen des Zeichnens nach einer bestimmten Stufenfolge, der historischen Entwicklungsreihe bei Erfindung des Zeichnens gleich gemacht werden solle.

Was einem Giotto in der Zeichenkunst schon gelungen ist muß offen-

bar leichter sein, als dasjenige, was ihm trotz aller Anstrengung noch stets

74 [Gustav Theodor Fechner (1801–1887), der zunächst Medizin, dann Physik studierte und ab 1834 als Professor in Leipzig lehrte, gilt als Begründer der Psychophysik. Ihr Ziel ist die exakte Feststellung von Abhängigkeitsbeziehungen zwischen physischer Welt (Reizstärke) und psychischer Welt (Empfindungsstärke), die in Fechners Werk Die Elemente der Psychophysik (Leipzig: Breitkopf & Härtel 1860) dargestellt ist. Um 1860 begann Fechner mit Experimenten zur ästhetischen Wirkung von Proportionen (z.B. des „Goldenen Schnitts“), deren Ergebnisse in seinen Schriften „Zur experimentellen Ästhetik“ (in: Abhandlungen der Königlich-Sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften zu Leipzig. Math.-phys. Classe, 9, Leipzig: Hirzel 1871, S. 553–635) und Vorschule der Ästhetik (Leipzig: Breitkopf & Härtel 1876) zusammengefasst sind.] Autograph, ohne Titel (o.J.) – Teil II: Über Zeichen – Unterricht

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­misglückte.75 Man siht, daß ja die historische Reihe im Grunde auch nur nach dem Princip der größeren und geringeren Schwierigkeit geordnet ist. Nun ist [fol.] 214. [Das Blatt ist aus vier Manuskriptteilen zusammengeklebt; im Text eine Markierung mit Kreuzchen, ohne weitere Angaben] die historische Reihe von der Natur selbst geordnet und weitläufig und untrüglich vor unseren Augen ausgebreitet und darin liegt der ungemeine Vortheil, den sie dem Lehrer zu bieten vermag. Die historische Reihe ist einfach das scharfe und bestimmte Originalbild, welches unbewußter Weise von den Autoren der Vorlagewerke undeutlich und verschwommen copirt wurde. An einzelnen Stellen decken sich einige Züge vollkommen, an anderen Stellen sind mehr weniger bedeutende Differenzen entstanden, in den allgemeinsten Umrissen aber stimmen die Copien und das Original sehr wohl überein. Am seltensten wurde es bemerkt, daß ganze Verkürzungen leichter sind als halbe und diese wieder leichter als Dreiviertel- und Viertelprofile. Dabei scheint die unbewußte Annahme, daß der Grad der Schwierigkeit mit dem Grad des Verkürztseins in gleichem Verhältniß wachse. Es ist aber wie die His­ torie lehrt merkwürdigerweise gerade das umgekehrte der Fall, und es zeigt sich hier schon wie viel schärfer die geschichtliche Entwicklung den richtigen Weg zu zeigen vermag. An einigen anderen Stellen der Entwicklungsreihe wurde es bei scharfer Beobachtung von Seite des Lehrers möglich, mit erstaunlicher Genauigkeit der historischen Entwicklung nahe zu kommen, wie dieß unter andern aus einigen vorzüglichen Bemerkungen von Prof. Wiebe+ [Kreuzchenmarkierung] hervorgeht.76 Derselbe sagt: „Die ersten Grundlagen für den Zeichenunterricht sollten schon gelegt werden, wenn die übrigen Elemente für den ferneren Unterricht gelegt werden. Das Kind ist sehr geneigt, [fol.] 215. [Das Blatt ist aus zwei Manuskriptteilen zusammengeklebt] seine Vorstellungen bildlich darzustellen, und es thut dieß, ehe es schreiben zu lernen beginnt. 75 [Zu Giotto di Bondone siehe „Autograph ohne Titel (o.J.) – Teil I“, S. 514, Anm. 40.] 76 [Hierzu siehe Anm. 73.]

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Könnte man nicht gerade Linien üben lassen, ehe man Haar und Grundstriche üben läßt? Würde dieß nicht den Unterricht im Schreiben erleichtern? Und sind dieselben wirklich ermüdender zu lernen, als die Elemente der Schriftzeichen?“ Das sind Beobachtungen unmittelbar nach der Natur, getreu und deutlich gesehen. Daß aber in ihnen zugleich der Parallelismus zwischen der Entwicklung des Einzelnen und der Gesamtheit wieder an einer verborgenen Stelle aufgedeckt ist, daß die ersten Neigungen des Kindes zum Zeichnen jenem gemeinschaftlichen Urstadium der Schreib- und Zeichenkunst gleichen, darauf ist nicht weiter Rücksicht genommen worden. Gerade die Unabsichtlichkeit der Beobachtung verbürgt aber neuerdings die Richtigkeit des Parallelismus. Der primitivsten menschlichen Culturstufe in der noch alle später getrennten Künste Wissenschaften, philosophischen Anschauungen und practischen Handirungen in ein einziges ungetheiltes Mischganzes vereinigt sind, entspricht in mehr als in diesem einen Zug die in den modernen „Kindergärten” eingeführte Methode die später getrennten Lehrgegenstände, vorzubereiten. In ähnlicher Weise ist das der Natur Entsprechende, ohne Theorie aus der [fol.] 216. Erfahrung allein, auf vielen andern Punkten der Reihe richtig getroffen worden. Im Zeichenunterricht fängt man allgemein mit Vorlagen an, in denen keine Verkürzungen vorkommen.77 Dieses ebene Zeichnen ohne alle Perspec­ tive entspricht den Stufen der historischen Entwicklung wie sie uns in den ägyptischen und assyrischen Denkmälern vorliegen. Die Pflege dieser Lehrstufe gehört der Volksschule an.

Der Mittelschule besonders der Realschule, fällt die a l l m ä l i g e Ausbil-

dung des perspectivischen und geometrischen Zeichnens in Verbindung mit den Hauptsätzen der Theorie zu, und diese gesteigerten Anforderungen entsprechen der Entwicklung in den griechischen und römischen Werken der zeichnenden Künste, mit Ausnahme der wenigen ältesten Denkmale, und in den mittelalterlichen und etwas späteren Werken Italiens etwa bis Masolino

77 [Zum Folgenden siehe Sittes „Tabelle zur Gliederung im Unterrichte des Freihandzeichnens“, S. 626f. (fol. 226).] Autograph, ohne Titel (o.J.) – Teil II: Über Zeichen – Unterricht

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und Deutschlands bis gegen Wolgemuth.7 8 Gegen Ende dieser Lernperiode bereitet sich zugleich eine strengere Sonderung der einzelnen Disciplinen vor. Während im Kindergarten Ein Lehrer alles in Allem ist, während noch in den ersten Jahren der Volksschule derselbe Lehrer Schreiben und Zeichnen lehrt so bedarf die Mittelschule schon eines eigenen Zeichenlehrers, der aber in den Anfängen wenigstens die ersten perspectivischen, geometrischen und anatomischen Grundsätze gleich an der Zeichenvorlage practisch erörtert.

Erst an der Hochschule, der Akademie, den letzten Klassen der Kunstge-

werbe und Bauschulen ist die Trennung der einzelnen theoretischen Fächer eine vollkommene [fol.] 217. [Das Blatt ist aus zwei Manuskriptteilen zusammengeklebt.] wie sie in der Geschichte gleichfalls erst zuletzt sich ausbildete.

Diesen thatsächlich vorhandenen Parallelismus zu Zwecken der Schule

auszubeuten hat nun Eine Schwierigkeit, und diese besteht darin, daß die Wiederholung der allgemeinen historischen Entwicklung keine genaue sein kann, sondern abgekürzt werden muß. Wozu die ganze Menschheit tausende von Jahren brauchte, um es zu erfinden, das muß der Lernende mit allen Hülfsmitteln einer guten Schule in zehn in sieben vielleicht sogar in fünf Jahren erreichen können. Nur der Weg ist in der allgemeinen Entwicklung der Kunst vorgezeichnet, nicht aber jeder einzelne Schritt, der beim Erlernen des Zeichnens gethan werden muß.

Vielleicht verhält es sich auch hierin ähnlich wie auf naturwissenschaftli-

chem Gebiete, zwischen Entwicklung der Arten und der des einzelnen Individuums.79 Beim Aufbau des lebenden Organismus weisen immer einzelne Teile auf die früheren und frühesten Vorfahren zurück. Die Hauptsache aber ist, d a ß d i e d i f f e r e n z i r t e r e n O r g a n e i n d e r j e n i g e n c h r o n o l o g i s c h e n R e i h e n f o l g e sich auszubilden anfangen, in welcher sie einstens bei Bildung der Arten von der Natur in allmälig immer vollkommenerer Form hervorgebracht wurden.

78 [Masolino (1383–um 1440) in Italien und Wolgemuth (1434–1519) in Deutschland sind Repräsentanten der spätmittelalterlichen Malerei.] 79 [Sitte bezieht sich hier offenbar auf Charles Darwins Entwicklungstheorie On the origin of species (London: Murray 1859).]

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Die Reihenfolge ist dieselbe, die Entwicklung aber eine außerordentlich

abgekürzte. [fol.] 218. Eine ähnliche, wohlberechnete Abkürzung muß für die Erlernung des Zeichnens gefunden werden, wenn eine natürliche Methodik des Unterrichtes aufgestellt werden soll. Die Grundsätze dieser Abkürzung ergeben sich leicht und es diene Folgendes zu ihrer Klarlegung.

Es soll z.B. erlernt werden das menschliche Auge in allen Stellungen zeich-

nen zu können. Der erste Versuch wird der sein das Auge in Frontalansicht ohne jede Verkürzung zu zeichnen. Dieß ist die erste Art in der das Auge auf ältesten Denkmälern gezeichnet vorkommt und wie es auch Kinder ganz ohne Anleitung zu zeichnen versuchen.

Wollte man nun aber im Weitern der geschichtlichen Entwicklung streng

folgen dann müßte das zweite Stadium und hierauf das dritte folgen, deren Beispiele in den früheren Figuren besprochen worden. Auf diese Art müßten die Denkmäler der ganzen Kunstgeschichte gewissenhaft durchgezeichnet werden, und nach dieser Methode müßte einer schier tausend Jahre alt werden, ehe er im Stande wäre eine richtige Figur zu zeichnen. [fol.] 219. Dieß wäre zwar eine Wiederholung des geschichtlichen Ganges aber eben keine a b g e k ü r z t e . Nun sind aber die Zwischenstadien, welche sich zwischen der Zeichnung des frontal gezeichneten, unverkürzten Körpertheiles und zwischen seiner vollständigen Verkürzung als Übergangsstufen einschalten, wie bereits gezeigt, alle fehlerhaft, eben so wie die Verbindungen von Halb- und Ganz-Profil um daraus ein gewünschtes Dreiviertel-Profil zusammenzusetzen.

Fehlerhaftes darf aber niemals gelehrt werden, sondern nur Richtiges.

Alle diese geschichtlich nothwendigen Übergangsstufen, w e l c h e f a l s c h sind müssen ausnahmslos übergangen werden, darin besteht die unumgänglich nothwendige aber auch hinreichende Abkürzung. Das Richtige muß aber in derjenigen Reihenfolge

im

Zeichenunterricht

gelehrt

werden,

in

w e l c h e r e s i n d e r K u n s t z u T a g e g e t r e t e n i s t , darin besteht die Wiederholung des geschichtlichen Ganges. Autograph, ohne Titel (o.J.) – Teil II: Über Zeichen – Unterricht

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Die Reihenfolge in [fol.] 220. [Das Blatt ist aus zwei Manuskriptteilen zusammengeklebt.] welcher Darstellungen körperlicher Dinge als Zeichenvorlagen zu verwenden sind, wird also die sein, daß zuerst Frontalansichten in denen nur wahre Längen vorkommen gezeichnet werden, dann aber sogleich dieselben Theile in vollständiger Verkürzung und erst hierauf im Halbprofil und zu allerletzt im Viertel- und Dreiviertelprofil. Die zuerst vorzunehmenden Drehungen sind die auch historisch bedeutend früheren nach rechts und links. Diesen folgen Drehungen nach oben und unten und zuletzt erst combinirte Drehungen, und Umkehrungen. Daß Drehungen nach oben und unten oder endlich gar Umkehrungen, z.B. eine Figur mit dem Kopf nach abwärts gestellt, die meisten Schwierigkeiten bereiten, kann auch nicht verwundern wenn man bedenkt, daß in solchen Fällen zur perspectivischen Verkürzung noch die Verrückung der gewohnten Stellung der Schwerlinie hinzukommt. Den Versuch, wie schwierig irgend ein Körpertheil in umgekehrter Stellung zu zeichnen ist, kann Jeder augenblicklich anstellen. Man versuche nur das einfache frontale Bild eines menschlichen Mundes [fol.] 221. in umgekehrter Stellung vor sich hin zu zeichnen und auch ein geübter Zeichner wird beobachten können, wie sich seine Vorstellungen verwirren, wie er bei jeder Krümmung eigens nachdenken muß, ob sie nach oben oder unten concav sei, und wie er sich bei der einfachen Zeichnung so sehr ungeschickt findet wie einer, der mit der ungewohnten linken Hand zu schreiben versucht.

Eine genaue detailirte Darstellung läßt sich indeß mit Worten nicht ge-

ben. D i e s e k ö n n t e a l l e i n i n e n t s p r e c h e n d k l a r e r W e i s e practisch gegeben werden, durch wirkliche Ordnung ein e s u m f a s s e n d e n Vo r l a g e n - M a t e r i a l e s n a c h d e r h i e r n u r im Princip aufgestellten historischen Methode.

Eine nur mit Worten durchgeführte Auseinandersetzung muß sich damit

begnügen den Practiker nur auf die ungemein ergiebigen Hülfsquellen zu verweisen, welche die geschichtliche Entwicklung im Verein mit der physiologischen Erklärung ihrer Ursachen zu bieten vermag. Für alle Gebiete finden sich hierin unschätzbare Fingerzeige und selbst über die schwierigsten und

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dunkelsten Fragen vermag die Betrachtung der geschichtlichen Entwicklung Licht zu verbreiten.

So würden die schwierigen Aufgaben auf welche Weise mit den Anfän-

gen des Zeichenunterrichtes bereits die Anfänge der perspectivischen Theorie der Anatomie etc. zu verbinden seien, schon längst eine entsprechende Lösung gefunden haben, wenn man in der geschichtlichen Entwicklung Rath geholt hätte.

In dem Vorhergehenden wurde gezeigt wie innig die allmälige Ausbil-

dung der Theorie mit der Ausbildung des practischen Könnens fortgeschritten ist. Ganz genau so muß es in der [fol.] 222. Schule gemacht werden, wenn sie durch Benützung des von der Natur selbst vorgezeichneten Lehrganges den höchsten Grad ihrer Leistungsfähigkeit soll erreichen können.

Während den Anfänger noch ebene unperspectivische Zeichnungen be-

schäftigen, soll die Theorie nicht vorgreifen durch Erklärung des Wesens der Perspective, sei es auch an den einfachsten Draht- und Körpermodellen. Zuerst müssen alle einzelnen Fälle erschöpft werden und aus ihnen in stetiger Folge sich zuletzt erst der allen gemeinschaftliche Grundgedanke ergeben. Wenn dann später die ganzen Verkürzungen und Überschneidungen geübt werden, ist wieder diejenige Theorie vorzunehmen, welche der gleichen Stufe der historischen Entwicklung entspricht und sich an der Hand der Zeichenvorlagen und plastischen Modelle unmittelbar ergibt. Es ist dies die Lehre vom Sehstrahl und Sehwinkel und ihren Veränderungen durch die veränderte Lage des Modelles zum Auge und auch das, was in der Optik Paralaxe heißt.80 Ein vollendetes, untadelhaftes Lehrbuch für diese Stufe würde eine einfache Übersetzung und Bearbeitung der optischen Bücher des E u c l i d abgeben mit Ausschluß der Specularia natürlich und einzelner Fehler.81

Ist der Schüler bei Erlernung der schwierigeren halben Verkürzung ange-

langt, dann kann wieder zugleich ein dem entsprechender Schritt vorwärts

80 [Parallaxe (griech. Vertauschung, Abweichung) bezeichnet den Winkel, den die Sehstrahlen zu einem Punkt von zwei verschiedenen Betrachtungsorten einer Basis bilden. Daraus resultiert die scheinbare Änderung der Position eines Objektes, wenn der Beobachter seine Position verändert.] 81 [Zu Euklids Optica siehe S. 527, Anm. 67.] Autograph, ohne Titel (o.J.) – Teil II: Über Zeichen – Unterricht

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in der Theorie gethan werden. Es kann im E u c l i d fortgefahren werden, indem alles beigebracht wird was sich auf die Verkürzung und deren Maße auf perspectivische Halbirung von Distanzen beziht und ähnliches, jedoch immer noch o h n e Z u h ü l f e n a h m e d e s V e r s c h w i n d u n g s [fol.] 223. punktes und stets nur an der Hand der Zeichenvorlage.

Werden dem Schüler hierauf Viertel- und Dreiviertelprofile und die Dre-

hungen nach oben und unten zur Übung übergeben, dann ist es Zeit den perspectivischen Grundgedanken zu entwickeln und den Verschwindungspunkt vorzuführen. Der Standpunkt der Theorie müßte der sein, wie er bei Dürer sich entwickelt hatte. Auf dieser Stufe müßten bereits nach der noch wenig complicirten und daher noch leicht faßlichen Dürer’schen Methode Übungen im perspectivischen Construiren vorgenommen werden.82 Hier wäre es auch, wo das constructive figurale Zeichnen zu beginnen hätte. Die Theorie fließt auch hier noch immer aus dem practischem Bedürfnisse die durch die Vorlage gegebenen Schwierigkeiten zu bewältigen, und wird practisch an den Modellen vom Zeichenlehrer selbst vorgetragen.

Erst wenn in dieser Weise die Theorie practisch vorbereitet ist und alle

ihre Hülfsmittel aufgeboten hat das practische Zeichnen selbst zu fördern, dann erst kann eine Sonderung der Fächer vorgenommen werden. Während nun der Zeichenlehrer die schwierigsten Combinationen und Stellungen üben läßt, kann dem Schüler eine vollständige Theorie in einem speciellen Vortrag geboten werden.

Nun kann die Perspectivlehre rein wissenschaftlich vorgetragen werden

und der Schüler wird gewiß mit Verständniß und Lust zuhören denn zu jedem noch so trockenem Lehrsatz hat er bereits von früher her eine Menge practischer Beispiele [fol.] 224. [Im Text drei Markierungen mit Kreuzchen, ohne weitere Angaben] im Gedächniß, welche ihm ein augenblickliches Verständniß ermöglichen und die practische Nutzbarkeit des theoretischen Satzes von selbst einsehen lassen. Bei so vorbereiteten Schülern, dürfte es wahrscheinlich nicht mehr 82 [Zu Dürers Perspektivkonstruktionen siehe S. 534f., Anm. 84 und 86.]

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vorkommen, daß sie, was gegenwärtig so häufig stattfindet, mit Widerwillen die vorgeschriebenen Perspectivvorlesungen besuchen und beständig über die Zwecklosigkeit dieses Studiums klagen. Auch würde der Gegenstand in wenigen Stunden mit Erfolg erledigt werden können, denn der Zeichenlehrer hat das Meiste schon practisch vorher erörtert.

In ganz ähnlicher Weise ließe sich der Anatomie-Vortrag organisch mit

der Zeichenübung verbinden.

Die Übung der Hand und des Verstandes schließt sich gleichfalls der

Übung des Auges eng an, und durch eine stufenweise Ordnung in diesen wesentlichen Theilen des Zeichenunterrichtes ergibt sich von selbst die Ordnung der ebenen und plastischen Vorlagen und im Gebrauch verschiedenen Zeichenmateriales.

Die allgemeinen Umrisse einer solchen Gliederung des Freihandzeichen-

Unterrichtes sind aus der folgenden Tabelle ersichtlich.

In der Rubrik V o r l a g e ist nur auf die Einrichtung derselben und nicht

auf den Gegenstand ob derselbe Ornament, Kopf, Figur, Blume, Landschaft sei, Rücksicht genommen. Die Wahl der Gegenstände in diesem Sinne richtet sich wohl am Besten nach den sonstigen Lehrzielen irgend einer bestimmten Schule.

Die zu zeichnenden Gegenstände werden ihrem Stoff nach andere sein

an einem Gymnasium*, andere an einer Mädchenschule*, wieder andere an verschiedenen Gewerbeschulen* etc. Dem entsprechend wird auch auf das Freihandzeichnen überhaupt in sehr verschiedener Weise Rücksicht genommen werden müssen. Sobald es aber geübt [fol.] 225. wird, können es nur immer wieder dieselben von Natur aus gegebenen Grundsätze sein, nach denen der Unterricht am vortheilhaftesten eingerichtet ist.

Eine solche vollständige typische Ordnung herzustellen ist der Zweck die-

ser Tabelle.

Die Stufen 1. und 2. entsprechen im Allgemeinen dem Lehrstoff an der

Volksschule.

Die Stufe 3. kann den letzten Klassen der Bürgerschule oder auch den

ersten Klassen der Mittelschulen zugetheilt werden.

Die 4. und 5. Stufe gehören der Mittelschule an.

Die 6. 7. und 8. Stufe der Akademie, den letzen Jahren von Kunstgewerbeschulen u.s.w. Autograph, ohne Titel (o.J.) – Teil II: Über Zeichen – Unterricht

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[fol.] 226. Tabelle zur Gliederung im Unterrichte des Freihandzeichnens

a Fingergelenk durch senkr. Linien b Handgelenk durch horiz. Li-

Sehstrahl­ einfluß beseitigt. Auf richtiges Senkrecht und Hori-

nien. Vorlagen in kleinem Maßstab gez. Straffir-Etüden

zontalstehen geachtet, und auf die Lage des Zeichenheftes. Ebene Gegenstände.

II.

Combinirte Bewegung von Fingerund Handgelenk. Schiefe Richtungen u. krumme Linien Vorlagen in kleinem Maßstab gezeichnet

a Distanzmessung. b Winkelmessung Ebene Gegenstände c . Frontalansichten plastische Gegenstände ohne Verkürzungen.

III.

Ellbogen und Schultergelenk Vorlagen in großem Maßstab copirt.

Ganze Verkürzung und Überschneidung

I.

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Verstand

Anatom. u. Prop.

Perspective

Material

Vorlage

Schiefertafel Stigmagr. und Stift. Hefte Bleistift. Pausen?

Hauptlinien der Oberfläche an den Vorlagen erklärt und mit dem eigenen Körper verglichen.

Ein Theil von Euclid’s Optik an den plastischen Modellen erklärt und darnach gezeichnet

Bleistift Scizziren durch Schwaches Aufdrücken.

Vorlage ohne Punkten? Dictat und Tafelzeichnen. Distanzen nach plast. Modell ohne Verkürzungen.

Kohle Pinsel (Conturausziehen.)

Vorlagen. Geometrische Draht und Körpermodelle.

Volksschule

Aug

Bürger- u. Mittelsch.

Hand

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Dasselbe

Verstand

Halbe Verkürzung bei Drehung nach rechts u. links

Anatom. u. Prop. Dasselbe fortgesetzt. Gesichtsnetz an der Vorlage erklärt.

Perspective

Material

Vorlage

Euclid fortgesetzt. Verkürzungen gemessen, Halbirungen etc. ausgeführt aber noch alles ohne Verschwindungspunkt

Pinsel (Flächenanlegen.) Farbe.

Vorlagen. Plastisches Original.

Mittelschule

IV.

Aug

u. an der Vorlage erklärt. V.

Dasselbe

Viertel u. DreiviertelProfil Drehung nach oben u. unten.

Schattirung in Tusch mit Pinsel u. Rohrfeder

Dasselbe fortgesetzt. Haupttheile des Scelletes. Scelletpunkte der Oberfläche.

Persp. Grundgedanke. Verschwindungspunkt An der Vorlage erklärt.

Kreide, Röthel, Rohrfeder.

Plastisches Original. Constructive Vorlagen.

VI.

Dasselbe

Combin. Schwierigkeit.

Dasselbe

Knochen und Muskellehre. Specieller Vortrag, in Verbindung mit dem Modell und der Secierübung. Secierüb.

Vollständige Theorie. Specieller Vortrag.

Dasselbe.

Dasselbe. Lebendes Modell.

VII. Dasselbe

Dasselbe. Kopfüberstellung

Stylstudium

Statik u. Proportion der Figur. Secierübung.

Leim., Fresco-, ÖlFarbe Radiernadel etc.

Lebendes Modell Meisterwerke.

VIII. Dasselbe

Auswendig Zeichnen

Composition Rythmik in Stellung u. Gruppirung. Secierübung.

Dasselbe

Dasselbe.

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Hochschule

Hand

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[fol.] 227. [Das Blatt ist aus zwei Manuskriptteilen zusammengeklebt und unten beschnitten] Wie leicht zu ersehen, ist in dieser Tabelle die fortschreitende Übung des Auges, als des wichtigsten und künstlichsten Werkzeuges des Zeichners, gleichsam die Mittelaxe um welche sich alle andere Bestandtheile gruppiren.

Der Übung des Auges schließt sich organisch die Übung der H a n d und

des V e r s t a n d e s oder vielmehr der künstlerischen Kräfte an so weit eine solche überhaupt möglich ist. Die Übung der Hand muß bis zu einem gewissen Grad der Übung des Auges vorausgehen. In Handübungen besteht auch überall das erste Stadium des Zeichenunterrichtes, das W i e s e sehr naturgemäß sogar vor den eigentlichen Schreibunterricht versetzt haben will.83 Auch die folgenden Zeichenübungen, welche zunächst das Augenmaß üben ohne daß dabei perspectivische Verkürzungen vorkommen fördern noch großenteils die Übung der Hand. Erst mit dem Beginn des perspectivischen Zeichnens tritt die Übung des Auges in den Vordergrund und erst wenn hierin eine gewisse [fol.] 228. [Im Text eine Markierung mit Kreuzchen, ohne weitere Angaben] Reife erreicht ist, kann allmälig die specivisch künstlerische Bildung des Zeichners begonnen werden. Den Übergang zu dieser letzten Stufe des Zeichenunterrichtes bildet das Schattiren. Das Schattiren ist theils schon rein künstlerischer Natur theils gehört es noch dem bloßen Sehen mit seinen Schwierigkeiten an. In den ersten Anfängen des Zeichnens ist es überall strengstens zu vermeiden und nur das Zeichnen von Conturen zu betreiben. L a n g l verwirft auch durchgängig in seinem Weltausstellungs-Bericht das minutiöse Ausführen und Ausschattiren, ebenso Frh. v. D u m r e i c h e r * und geradezu alle neueren Zeichenlehrer und zwar deßhalb, weil dabei nichts gelernt wird.84 Es hat eben keinerlei Schwierigkeit eine Fläche gleichmäßig grau auszupinseln oder auszustricheln. Dazu gehört nur Geduld. Die Schwierigkeiten des Zeichnens auch des plastischen liegen nur in der Contur und auch 83 [Siehe Anm. 73.] 84 [Zum Maler, Bildhauer und Schriftsteller Josef Langl (1843–1920) siehe Anm. 193. Armand Freiherr von Dumreicher (1845–1908), österreichischer Politiker und Schulreformer, setzte die Vereinheitlichung des berufsbildenden Schulwesens durch und gliederte die gewerblichen Schulen in die staatliche Bildungsverwaltung ein.]

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der Schatten ist hauptsächlich nur in Beziehung auf seine Grenzen also seine Conturen schwierig. Die Bestimmung seiner Dunkelheit gelingt ­ ungleich leichter. Die Führung seiner Grenzlinie gehört der Übung des Auges an, die Art seiner Herstellung durch regelmäßige oder confuse Strichlagen oder ganz in Flächen verwischt u.s.w. gehört aber schon der Kunst an. Darin hat jedes Jahrhundert jede Schule je nach verschiedenen Geschmack eine andere Methode verschieden nach dem verwendeten Materiale und der Art damit zu arbeiten. Von dieser hundertfachen Mannigfaltigkeit muß die Schule [fol.] 229. frei sein, wenn der Lernende nicht vollständig verwirrt und dadurch in seinen Übungen aufgehalten werden soll. Für die Schule ist die Schattirung das gerade Gegentheil von der Contur. Die Contur eines b e s t i m m t e n Körpers ist unwandelbar, so wie die Regeln der Perspective. Sie ist entweder richtig oder falsch, aber nicht in mannigfaltiger Weise richtig ja nach verschiedenen Stylrichtungen. Daher ist die Contur derjenige Theil der Zeichnung dessen Bildung nach festen Regeln in der Schule gelehrt werden kann, während die Art der Schattirung immer mehr oder weniger eine Angelegenheit des künstlerischen Geschmackes bleibt. Die größte Mannigfaltigkeit tritt ein, wenn Schatten mittelst Strichlagen hervorgebracht werden, wie dieß bei der Radirung, beim Holzschnitt, bei der Bleistift und Federzeichnung und ähnlichen Techniken der Fall ist. Die äußersten Gegensätze hierin sind vertreten durch die Arbeiten Dürer’s und Rembrandt’s. Dürer geht in der Art der alten Holzschnitttechnik von der Contur aus und verwandelt seine Strichlagen für den Schatten fast gleichfalls in Conturen indem er mit diesen Strichlagen genau den Krümmungen der schattirten Flächen folgt seinen Schattenstrich in der Richtung der stärksten Krümmung legt und sie dann perspectivisch richtig zeichnet.

Rembrandt dagegen ahmt in seinen Radirungen und Federzeichnungen

die Pinseltechnik nach und geht überall von der Fläche aus. Die Contur entsteht von selbst indem Helles [fol.] 230. und Dunkles aneinanderstößt. Sehr häufig ist die Contur an solchen Stellen nicht einmal durch einen eigenen Strich angegeben. Bezeichnend ist es für den verschwommenen Eklekticismus unserer Zeit, daß diese beiden energischen Gegensätze in der kraftlosen Schattirungsmanier der ­ modernsten Autograph, ohne Titel (o.J.) – Teil II: Über Zeichen – Unterricht

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Zeichenkunst vereinigt sind. Der Schatten unserer lithographirten Zeichenvorlagen besteht aus einem grauen verwischten Grund (Flächensystem Rembrandt’s) und einer einfachen oder doppelten Strichlage darüber nach der Krümmung der Fläche (Liniensystem Dürer’s) . Die Wirkung ist natürlich nach keiner Seite hin eine starke weil ein Element das andere schädigt, wie dieß bei einer eklektischen Darstellungsweise immer der Fall ist. Daß gerade diese Schattirungsart gegenwärtig fast allgemein betrieben wird, gehört mit zu den größten Fehlern; denn diese Manier ist unter allen andern, welche jemals in der Kunst üblich waren, die weitaus schlechteste und geschmackloseste. Besser wäre es die beiden Extreme, die Flächentechnik und die Strichmanier getrennt voneinander zu üben und zwar die Erstere mit dem Pinsel und die Letztere mit der Feder. Diese Trennung ist auch schon hie und da eingeführt besonders an technischen und Architekturschulen. Dieses Zweierlei wird die Übungen des Schülers noch nicht zu sehr zersplittern und wenn er die Extreme mit ihren Besonderheiten inne hat, kann er sich am leichtesten eine eigene Manier wählen. [fol.] 231. Die Schule hat ihn so weit geführt, als es ihr möglich. I n B e z i e h u n g auf Schattirung wäre also das Einschlagen ganz neuer Bahnen im höchsten Grade wünschenswert. Der allseitig gründlich bewanderte Fachmann, wenn er obige Tabelle einer genauen Prüfung unterzogen, wird aber noch an verschiedenen anderen Stellen einen Haken gefunden haben. Im Allgemeinen stimmt diese Tabelle mit den üblichen Grundsätzen des Zeichenunterrichtes gut überein, im Detail aber steht sie an einzelnen Punkten mit der gegenwärtigen Praxis in allerschroffsten Widerspruch. Es gilt dieß besonders in Bezug auf den Vortrag der perspectivischen Theorie und dessen Verbindung mit der Zeichenübung. Schon bei Aufstellung der Tabelle II, ist der Widerspruch erörtert worden, in welchem die Forderung nach einem constructiven figuralen Zeichnen, mit den in modernen Künstlerkreisen landläufigen Ideen darüber, steht. Es ist gezeigt worden, wie diese Ideen nichts anderes als die Ausflüsse unseres modernen Naturalismus in der Kunst sind und mit diesem selbst zugleich zum Fall gebracht werden müssen. Ebenso läßt sich nachweisen, daß eine Menge von Ideen, welche unsern

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modernen Zeichenunterricht beherrschen und gegenwärtig als so selbstverständlich angesehen werden, daß es gar niemanden einfällt über ihre Richtigkeit oder Unrichtigkeit erst nachzudenken, nichts anderes sind als die Consequenzen einer Jahrhunderte langen Bewegung, daß sie aber an sich vollständig falsch und für den Unterricht schädlich sind. Um auch hierüber klar zu werden, muß wieder auf die geschichtliche Entwicklung und zwar speciell des Zeichen-U n t e r r i c h t e s zurückgegangen werden. Eine Darstellung der Geschichte des Zeichenunterrichtes hat ihre ganz besonderen Schwierigkeiten. In den älteren Zeiten fand der Unterricht ausschließlich mündlich statt, später noch größtentheils. [fol.] 232. [Das Blatt ist aus zwei Manuskriptteilen zusammengeklebt.] Diese mündlichen Unterweisungen der Lehrlinge in den alten Werkstätten sind für uns verloren.

Erst im 16. Jahrhundert treten die ersten Ausgaben eigener Zeichen- und

Lehrbücher auf und diese ältesten Werke, zu denen uns aber das erklärende Wort des Meisters fehlt sind gleichsam, die Skalleta, die Petrefacta des damaligen Zeichenunterrichtes.85

Sie haben noch eine wesentlich andere Bedeutung als heutzutage. Da-

mals gab es noch keine Akademie und das Zeichnen wurde nicht in der Schule gelernt sondern im Attelier. Da war denn der Schüler ein Lehrling und der Meister theilte ihm Theorie und Praxis in einem mit gerade so wie er es selbst zu üben verstand. Das „Kunst und Lehr-Büchlein“ aber war eine

85 [1565 schrieb Alessandro Allori (1535–1607), Mitglied der 1563 von Vasari in Florenz gegründeten Accademia del disegno, der ersten Kunstakademie, seine Regole del disegno, die ausdrücklich als „Zeichenmethodus“ für Dilettanten verfasst sind. Gegenstand des Unterrichts, der auf 86 Seiten entwickelt wird, ist lediglich der Kopf des Mannes, einziges Darstellungsmittel die Umrisszeichnung. Etwa zeitgleich verfasste Benvenuto Cellini (1500–1571) – ebenfalls Akademiemitglied – Sopra i principi e’ modo d’imparare l’arte del disegno. Die erste gedruckte Zeichenlehre für Dilettanten erschien in England – Peacham, Henry: The Art of Drawing with the pen. London: Jones 1606. Eine erweiterte Fassung erschien 1612 in London unter dem Titel Graphice or the most auncient and excellent art of drawing and limming. Im gleichen Jahr kam das Werk The Gentlemans Exercise Or an exquisite practise, as well for drawing all manner of Beasts in their true Portraittures heraus (London: Browne 1612).] Autograph, ohne Titel (o.J.) – Teil II: Über Zeichen – Unterricht

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Sammlung von Mustern und Regeln, wie sie sich vor ihrer Drucklegung in den verschiedenen zunftmäßig organisirten Werkstätten mündlich und schriftlich fortgeerbt hatten.86

Die Form in welcher das Einzelne überliefert wird, ist die des Receptes,

und das Ganze gleicht sehr wenig einem Schulbuche im heutigen Sinne. [fol.] 233. Manche solcher Regelsammlungen sind niemals oder erst in neuerster Zeit gedruckt worden. Sie geben ihre Vorschriften ohne viel Ordnung. Anatomisches, Perspectivregeln, Ästhetik, Farbenchemie, Mechanik, Technisches, Alles bunt durcheinander.*87 Da war es denn die erste Aufgabe bei Drucklegung solcher Sammlungen, einige Ordnung in das vorhandene Material zu bringen. Dieß gelingt nur allmälig und in allen diesen frühesten Werken laufen einzelne Regeln gleichsam herrenlos in allerlei Gebieten des Wissens herum, wohin sie nicht gehören. So finden sich in den ältesten Perspectivbüchern eine Menge Bestandtheile, welche der reinen Geometrie, der Proportionslehre und andern gegenwärtig getrennten Fächern angehören.88 Das Abtrennen einer Gruppe von Regeln und deren Vereinigung zu einem Perspectivbuch, bezeichnet jedoch schon ein vorgeschrittenes Stadium der Theorie denn noch früher ist alles in einer einzigen ungegliederten Masse beisammen.

86 [In dieser Tradition steht noch das in Erstauflage 1538 in Straßburg publizierte Kunstbüchlein von Heinrich Vogtherr d. Ä. (s. Anm. 108), das Teilstudien von Händen, Armen, Füßen, Büsten, Kopfputz, Waffen usw. vorführt. Das Kunst- und Lehrbüchlein von Jost Amman (Frankfurt a. M.: Feyerabend 1578; s. Anm. 110) zeigt ganze Personen und Szenen.] *

Villar

87 [Der um 1220–1230 tätige französische Zeichner und Baumeister Villard de Honnecourt ist allein aufgrund seines Skizzenbuchs (Paris, Bibliothèque nationale) bekannt. Die 33 Pergamentblätter umfassende Handschrift enthält u.a. Darstellungen von Menschen und Tieren, Bauten, Bauwerkzeugen, liturgischen und militärischen Geräten. Bis heute kontrovers diskutiert wird die Frage, ob es sich hierbei um ein privates Skizzenbuch, Bauhüttenbuch oder Lehrbuch handelt. Sitte könnte die Faksimile-Ausgabe von Lassus bekannt gewesen sein (Lassus, Jean-Baptiste-Antoine: Album de Villard de Honnecourt, architecte du XIII siècle. Paris: Impr. impériale 1858).] 88 [Zur Geschichte der Perspektivbücher siehe „Autograph, ohne Titel (o.J.) – Teil I“, fol. 113ff.]

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[fol.] 234. [Das Blatt ist am unteren Rand beschnitten.] Das Erste, was die Autoren theoretischer Werke vornahmen war eine primitive Ordnung des Materiales. Die Form des Receptes wurde noch beibehalten und erst später die vielen einzelnen Regeln immer mehr und mehr auf wenige Grundsätze zurückgeführt. Dabei mag sich denn schon das Bedürfniß eingestellt haben, solche s y s t e m a t i s c h e G e b ä u d e a u c h m ü n d l i c h s y s t e m a t i s c h z u e r k l ä r e n . Das kann aber in der Werkstatt nicht mehr geleistet werden. Der Meister kann nicht seine Kunst handwerkmäßig ausüben und dabei seinen Lehrlingen Vorlesungen halten. Der Lehrling kann nicht Schüler und Arbeiter zugleich sein. Endlich der Kunstkenner, der Mathematiker, Philosoph u.s.w., welche alle dem Künstler nützen, können sich nicht in die Werkstätten begeben und hier jedem Einzelnen Vorträge halten.

So drängt denn die ganze Entwicklung notwendig zu einer Trennung der

Schule vom Atelier, welche unaufhaltsam seit dem 16 Jahrhundert vorschreitet. [fol.] 235. [Im Text eine Markierung mit Kreuzchen, ohne weitere Angaben] Die Gründung und Ausbildung der Akademien, die Umgestaltung der Lehrbücher und Vorlagenwerke endlich die Bildung eines eigenen Lehrerstandes, dessen Organisation gerade gegenwärtig zu den mannigfaltigsten Bestrebungen Anlaß gibt,89 sind Erscheinungen dieser großen Umgestaltung, welche sich naturnotwendig, einheitlich vor unseren Augen vollzieht.

Die älteste Kunstschule steht dem Atelier noch sehr nahe. Sie gehört dem

16. Jahrhunderte an.90 Schon Leonardo kann als Gründer einer Art ­Akademie

89 [Sitte zielt hier auf die in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts – u.a. von seinem Lehrer Eitelberger („Die Aufgaben des heutigen Zeichenunterrichtes“, Vorlesung im Österreichischen Museum, 6. November 1873, s. Anm. 69) – geführten Diskussionen über den Zeichenunterricht an österreichischen Schulen. Laut § 53 des österreichischen Volksschulgesetzes vom 20. August 1870 war das Zeichnen als Lehrgegenstand vorgeschrieben. In den gleichzeitigen Verordnungen über Lehrerbildung wurde das Zeichnen ebenfalls als ordentlicher Unterrichtsgegenstand wieder eingeführt. Lange Diskussionen gab es, ob Zeichnen auch an Gymnasien eingeführt werden solle.] 90 [Im italienischen Quattrocento sind neben dem Gildenunterricht eigene Zeichenschulen im Atelier von Meistern nachzuweisen, die u.a. mit Gipsabgüssen und kleinen Antiken- bzw. Autograph, ohne Titel (o.J.) – Teil II: Über Zeichen – Unterricht

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in Mailand bezeichnet werden, in welcher er das Atelierstudium durch allgemeinen wissenschaftlichen Unterricht erweiterte.91 In ähnlicher Weise gründete Squarcione eine Schule zu Padua.92 Die 1573 zu Perugia gestiftete Zeichenakademie, deren Haupt Alfani* scheint sich dieser älteren Form noch anzuschließen.93 Diese Schulen sind noch mehr Vereine jünger Männer, welche ein gemeinsames Streben um einen bedeutenden Meister und Kenner vereinigt. Die Stellung des Lehrers zum Schüler ist noch nicht die moderne presumdictirende und classificirende. Ihrer Bildung geht die Gründung der gelehrten Akademien und Universitäten theilweise anregend voraus, deren erste Anfänge sich in Italien bereits in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts zeigen.94 Seit Mitte des 15. Jahrhundertes gelangt die gelehrte ­Akademie zu

Zeichnungssammlungen ausgestattet waren. Aus diesen Meisterschulen entstanden Privatakademien (Scuole, Stanze), wo man nach einem Lehrplan gemeinschaftlich zeichnete, praktischen und theoretischen Unterricht und das Notwendige an Modellen und Vorlagen erhielt (siehe die Schule Francesco Squarciones, hierzu Anm. 92). Als erste Kunstakademie gilt die 1563 in Florenz gegründete Accademia del disegno.] 91 [Für Sittes Mutmaßungen gibt es bis heute keine Belege. Die allein durch Inschriften in sechs aus dem frühen 16. Jahrhundert stammenden Stichen überlieferte Accademia Leonardi Vinci ist die früheste bekannte Verbindung zwischen einem Künstler und der Bezeichnung Akademie. Über die Existenz dieser Akademie gibt es keine weiteren Quellen (ähnlich etwa den Akademien von Alberto Pio, Niccolò Priuli u.a.). Möglicherweise handelte es sich um eine von Leonardo gegründete oder geförderte Privatschule, vergleichbar der Pontamiana in Neapel.] 92 [Francesco Squarcione (1397–1468) betrieb in Padua eine große Malerwerkstatt, der offenbar eine Privatschule angeschlossen war. Zeitgenossen berichten von außerordentlichen Lehrmethoden des Meisters, die teilweise bis weit in das 19. Jahrhundert hinein Gültigkeit behielten: Kopieren nach Zeichnungen, Zeichnen nach Abgüssen, Zeichnen nach dem lebenden Modell; hinzu kamen Perspektive und Proportionslehre. Squarcione soll weit über 100 Schüler gehabt haben, darunter Andrea Mantegna, Dario da Udine, Marco Zoppo, Schiavone.] 93 [Die 1573 erfolgte Gründung der Akademie in Perugia gehört – ähnlich den ersten Jahrzehnten der Accademia del disegno in Florenz (1563) und der Accademia di San Luca in Rom (1593) – zur Vorgeschichte einer akademischen Künstlerausbildung, die von mangelnder Umsetzungsmöglichkeit der Programme wie noch nicht erlangter Befreiung der Kunst aus dem System der Gildenorganisation geprägt war. Die Akademie in Perugia orientierte sich am Beispiel von Florenz. Gründungsmitglieder waren u.a. der Maler Orazio Alfani, der Bildhauer Vincenzo Danti und der Mathematiker Egnazio Danti.] 94 [Akademie (griech. Akademeia) hieß ursprünglich ein dem Heros Akademos geweihter Hain bei Athen mit Anlagen für gymnastische Übungen, dessen Umgebung seit etwa 387 v. Chr. Platon und seinen Schülern als Aufenthaltsort diente. Im Laufe der Jahre wurde der Terminus auch auf die platonische Schule übertragen. Der Begriff kam erneut im 2. Drittel

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öffentlicher Geltung und Wirksamkeit, im 16. Jahrhundert ist sie bereits eine allgemeine Institution ebenso wie die Universität als Hochschule der Gelehrsamkeit, während die Kunstakademie erst in ihren Anfängen begriffen ist. Sie unterscheidet sich vom Atelier hauptsächlich erst dadurch, daß nicht auf Bestellung, sondern bereits nur zum Zwecke des Lernens gearbeitet wird. Geübt wird vorzüglich, [fol.] 236. [Das Blatt ist aus drei Manuskriptteilen zusammengeklebt. Im Text eine Markierung mit Kreuzchen, ohne weitere Angaben] wie es scheint, durch Zeichnen Meistern nach der Natur und nach dem Gypsmodell, das Verocchio zuerst zu Zwecken des Studiums nach einzelnen Körpertheilen abformte.95 Wenn man sich mitten in eine solche Zeichenschule versetzen will, braucht man nur das 1518 zu Venedig erschienene Zeichenbuch von O. Fialetti* zur Hand zu nehmen.9 6 Das Titelblatt desselben stellt das Innere einer solchen Schule mit seinem ganzen Hausrath und den im Nachzeichnen von Gipsgüssen beschäftigten Kunstjünger dar.

Als Gründer der Akademie im modernen Sinn wird mit Recht L. Caracci

angegeben. Die von ihm zu Bologna errichtete Schule ist kein Atelier mehr, das nur zum Behufe des Unterrichtes adaptirt wurde, sondern bereits eine des 15. Jahrhunderts auf, als sich eine Wiedergeburt des Platonismus anbahnte, unter dem Einfluss griechischer Gelehrter in Gebrauch, die in den Jahren 1438/39 im Zusammenhang mit Verhandlungen über eine Wiedervereinigung der griechischen und römischen Kirchen nach Italien gekommen waren. Seit dieser Zeit ist „Akademie“ in Italien eine gängige Bezeichnung für Gelehrtenzirkel bzw. gelehrte Gesellschaften, die sich um Philosophie, Dichtkunst, Sprache, später auch Musik usw. bemühten. Eine besondere Bedeutung kommt der 1470 von Cosimo de Medici in Florenz gegründeten und von Marsilio Ficino geleiteten Academia Platonica zu.] 95 [Giorgio Vasari berichtet in seinen Vite dé più eccelenti pittori, scultori e architetti (erste Fassung 1550, zweite revidierte Ausgabe 1568), dass Verrocchio häufig mit Gipsen gearbeitet habe: „Andrea [Verrocchio] nun pflegte mit derartig hergestellten Formen natürliche Gegenstände abzuformen, wie Hände, Füße, Kniee (sic!), Beine, Arme und Rümpfe, damit er sie immer bequem vor sich haben und nachbilden könnte“ (zitiert nach der Ausgabe: Vasari, Giorgio: Die Lebensbeschreibungen der berühmtesten Architekten, Bildhauer und Maler. Deutsch hrsg. von Emil Jaeschke. II. Band, Straßburg: Heitz 1904, S. 117).] 96 [Die Erstausgabe von Odoardo Fialettis (um 1573–1637) Werk erschien nicht 1518, sondern 1606: Il uero modo et ordine Per Dissegnar Tvtte Le Parti Et Membra Del Corpo Hvmano. Venedig: Sadeler 1608. Siehe auch die Erwähnung im „Autograph, ohne Titel (o.J.) – Zettelkonvolut“, Blatt NN02, Fig. 98 (nicht erhalten).] Autograph, ohne Titel (o.J.) – Teil II: Über Zeichen – Unterricht

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Schule.97 Nach ihrem Muster erfolgte dann rasch nach einander die Gründung der seither maßgebenden großen Akademien; der zu Paris 1648,98 zu Berlin 1694,99 zu Dresden 1697,100 zu Wien 1726. 101 Nach Caracci ist es C.   97 [Lodovico Carracci (1555–1619) gilt gemeinsam mit seinen beiden Vettern, den Brüdern Agostino (1557–1602) und Annibale (1560–1609) Carracci, als Begründer der bis ins 18. Jahrhundert einflussreichen Malerschule von Bologna, die sich eklektisch an den großen italienischen Meistern des 16. Jahrhunderts orientierte. Die wenigen erhaltenen Dokumente zur – wohl von Agostino angeregten – Carracci-Akademie, der Accademia degli Incamminati (der auf den rechten Weg Gebrachten), deuten darauf hin, dass es sich hierbei um eine private, aus der Werkstatt entwickelte „Accademia del disegno“ mit angeschlossenem Gelehrtenzirkel gehandelt haben dürfte. Zur Schule der Carracci gehörten u.a. Guido Reni (1575–1642) und Domenichino (1581–1641).]   98 [1648 wurde in Paris die Académie Royale de Peinture et de Sculpture gegründet, die ab 1661 unter der Leitung Colberts – dem Hauptpionier eines umfassenden akademischen Systems – zum Zentrum staatlicher Kunstpolitik und Kunstproduktion wurde. Unter Colbert erfolgte u.a. die Gründung einer römischen Zweigstelle, der Académie de France (1666) und der Académie d’Architecture (1671) in Paris.]   99 [Die Berliner Academie der Mahler-, Bildhauer- und Architectur-Kunst wurde 1696 von Kurfürst Friedrich III. von Brandenburg, dem späteren preußischen König Friedrich I., nach römischem und Pariser Vorbild gegründet. Noch unter ihrem ersten Direktor Josef Werner, der in Rom studierte und unter König Ludwig XIV. Miniaturmaler in Paris war, bezog sie ihre ausgedehnten Räumlichkeiten im Obergeschoß des kurfürstlichen Marstalls Unter den Linden, verlor aber bereits in den 1720er-Jahren unter König Friedrich Wilhelm I. ihre Bedeutung.] 100 [In der sächsischen Hauptstadt bestand seit den 1680er Jahren eine private „Zeichen- und Malschule“, die vom Hofmaler Samuel Bottschild geleitet wurde. Ihr folgte 1697 eine zweite, von dessen Schüler Heinrich Christoph Fehling geführte Privatakademie. Diese wurde 1705 auf Wunsch des Kurfürsten August des Starken zwar reorganisiert, kam aber auch unter der Leitung des 1726 berufenen Louis de Silvestre nicht über den Rang einer unentgeltlichen Zeichenschule hinaus. Eine seit 1750 erwogene neuerliche Reorganisation führte erst 1764 unter Kurfürst Friedrich Christian zur Gründung der Allgemeinen KunstAcademie der Malerey, Bildhauer-Kunst, Kupferstecher- und Baukunst in Dresden.] 101 [In Wien wurde eine 1692 von Peter Strudel (1660–1714) in seinem Haus eingerichtete private Akademie 1705 unter Kaiser Josef I. in ein öffentliches Institut umgewandelt. Die eigentliche Gründung der Wiener Kunstakademie erfolgte erst 1726 unter Kaiser Karl VI. Sie war nach Pariser Vorbild organisiert und erlebte unter Jacob von Schuppen – Schüler von Largillière und Mitglied der Pariser Akademie – eine große Blüte. Seit Mitte des 18. Jahrhunderts erhielten an Sonn- und Feiertagen auch Handwerksgesellen und Jungen an der Wiener Akademie unentgeltlich Zeichenunterricht. 1766 erfolgte unter der Leitung Jakob Schmutzers (siehe Anm. 284) die Eröffnung der K.u.K. Kupferstichakademie. 1772 wurden auf Betreiben des Staatskanzlers Kaunitz diese und weitere Kunstschulen zur K.u.K. Vereinigten Akademie der Bildenden Künste zusammengeschlossen, der man 1782 auf Betreiben Josephs II. auch die Aufsicht über das gesamte Kunstgewerbe, über große Teile des Handwerks und über den Zeichenunterricht der Schulen unterstellte.]

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Maratta, der durch seine Reorganisation der Akademie von San Luca den meisten Einfluß übte.102 Unläugbar ist mit der Akademie ein neues Element mitten in das künstlerische Leben hineinversetzt, das sich nicht mehr umgehen läßt. Die Zeichenkunst wird von nun an wohl niemals mehr in der Werkstatt gelernt werden, sondern immer nur mehr in der Schule. Es ist das Princip der Arbeitstheilung welches sich hierin geltend macht. Die strenge Durchführung desselben müßte dahin führen, daß der Zeichner anfangs n u r Schüler wäre, darnach aber entweder nur ausübender Künstler oder nur Lehrer. Dieß wäre das entgegengesetzte Extrem, welchem [fol.] 237. manche Bestrebungen unserer Zeit auch in der That entgegen steuern.

Die natürliche Entstehung solcher Vorgänge läßt sich aus dem geschicht-

lichen Zusammenhange wohl einsehen. Auch ist es bekannt, welchen Nutzen das Princip der Arbeitstheilung in der Wissenschaft und im practischen Leben gestiftet hat. Eine andere Frage ist es aber, ob dessen Einfluß auf die Kunst und auf die Schule mehr Vortheil oder mehr Schaden bringt, wie die Vor­ theile auszunützen und die nebenher von selbst entstehenden Schäden zu beseitigen sind.

Schon die Trennung der Schule vom Atelier überhaupt hat neben denjeni-

gen Vortheilen, welche eben diese Trennung herbeiführten, schon ihre Nach­ theile. In der Überwindung dieser Nachtheile besteht die richtige Organisation der Schule. Diese kann aber nicht darin bestehen, daß neuerdings zur Form das Atelierunterrichtes zurückgegriffen wird, denn geschichtliche Entwicklungen lassen sich eben nicht aufhalten oder gar zurückschrauben, sondern innerhalb der Form der Schule muß gegenwärtig dasjenige geleistet werden, was ehemals nach Art früherer Zeiten in der Werkstatt geleistet wurde.

Es kann auch gar nicht zweifelhaft sein, daß die Schule, wenn sie ihre

Aufgabe richtig erfaßt und in richtiger Verbindung mit der lebendigen Kunst 102 [Die römische Accademia di San Luca, die ihre Gründung ursprünglich einem Breve Papst Gregors XIII. von 1577 verdankt, war 1593 von Federico Zuccari neu organisiert worden. In den ersten Jahrzehnten scheiterten die ambitionierten Ausbildungsziele u.a. an den Auseinandersetzungen mit den örtlichen Gilden. Zu großer Blüte gelangte die römische Akademie erst unter der Präsidentschaft Pier Francesco Molas (ab 1662) und unter Carlo Maratti (1664–1713, mit Unterbrechungen), unter dem ein neues pädagogisches Programm und strenge, die Organisation und den Lehrbetrieb reglementierende Statuten ausgearbeitet wurden, die Papst Clemens XI. 1714 bestätigte.] Autograph, ohne Titel (o.J.) – Teil II: Über Zeichen – Unterricht

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steht, für den Unterricht gewiß auch mehr zu leisten vermag als das Ateliere. Die zu bewältigende Aufgabe ist aber keine leichte. Der notwendigste erste Schritt hiezu ist die Erkenntniß der wahren Sachlage, wie sie unter dem Einfluß des Principes der Arbeitstheilung herbeigeführt wurde. Schon in Bezug auf diese allgemeinste Erkenntniß ihres eigenen Wesens geriet die ältere Zeichen- und Kunstschule, welche in erster Linie durch die Akademie vertreten ist, auf Abwege, was ihr theuer genug zu stehen kam.*103 [fol.] 238. Man hatte vergessen, welcher Triebkraft die Akademie ihren Ursprung verdankt; daß sie nur entstanden in Folge der Trennung des Kunsts c h a f f e n s vom Kunstl e h r e n . Man betrachtete sie nicht blos als Schule für diejenigen technischen Theile der Kunst, welche überhaupt gelehrt werden können; sondern für die Erzeugerin des wahren Kunstwerkes selbst. In diesem Mißverständniß beruhen viele Unterlassungssünden, welche sich die Akademie in ihrem eigenen Berufe als L e h r e r i n zu Schulden kommen ließ während sie glaubte, ästhetische Polizeidienste leisten zu müssen. Einen ärgeren Irr­ thum konnte es nicht geben. Als Kunstschöpferin, für welche sie sich selbst ansah, verdiente sie wohl allen den bitteren Tadel der auf sie gehäuft wurde, als Schule bleibt sie aber doch eine unumgänglich nothwendige Einrichtung, welche tief in der allgemeinen Entwicklung begründet ist und durch keinerlei Hülfsmittel wieder ausgetilgt werden könnte. Gegenwärtig ist man bemüht sie ihrer eigentlichen Bestimmung wieder zurückzugeben und es werden die Früchte dieser Bestrebungen nicht ausbleiben. Aber nicht nur im Allgemeinen sondern bis in die feineren Verzweigungen des Detailes hinein bedingt die Trennung der Schule vom Ateliere eine durchgreifende Veränderung des ganzen Apparates mit dem gelehrt wird.

*

Koch

103 [Sittes Hinweis auf „Koch“ scheint sich auf den Maler Joseph Anton Koch (1768–1839) zu beziehen. Koch ist Hauptrepräsentant einer 1790 einsetzenden und um 1800 sich ausweitenden antiakademischen Position, die besonders von den deutschen Romantikern vertreten wurde. Der ehemalige Schüler der Stuttgarter Karlsakademie, der gemeinsam mit Asmus Jacob Carstens (1754–1798) und Gottlieb Schick (1776–1812) zu den überzeugtesten Akademiegegnern zählte, schloss sich in Rom dem Nazarener-Kreis um Franz Pforr (1788– 1812) und Friedrich Overbeck (1789–1869) an, die 1809 von der Wiener Akademie abgewiesen worden waren.]

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[fol.] 239. [Das Blatt ist aus zwei Manuskriptteilen zusammengeklebt; im Text zwei Markierungen mit Kreuzchen, ohne weitere Angaben)] Deutlich ersichtlich sind die Umgestaltungen an den Lehr- und Vorlagebüchern im Sinne des angegebenen Principes. Die älteren Zeichenbücher überlassen noch das Meiste dem mündlichen Vortrag und der practischen Unterweisung durch den Meister. Je weiter diese Werke in unserer Zeit heraufrücken, desto mehr sind sie bemüht den practischen Meister zu ersetzen, ja unöthig zu machen. Die kleinsten Kleinigkeiten werden in den Bereich der theoretischen Besprechung gezogen, so daß neuerlich sogar ein Buch erschienen, welches auf nicht weniger als 168 Seiten die gewöhnlichen Zeichenrequisiten und deren Benützung bespricht.*104 Bei Erklärung des Zirkelzeichnens fehlt es nicht an genauer Aufzeichnung der Instrumente und an Darstellungen wie sie in der Hand zu halten sind. Selbst Bezugsquellen werden angegeben samt Preislisten. Wie einfach ist es im Atelier den Zirkel halten zu lernen, einfach dadurch daß man es sieht, wie umständlich und unvollkommen wenn es aus dem Buch gelernt werden soll. Das gesprochene Wort wird ganz durch das gedruckte zu ersetzen gesucht. Das höchste Erreichbare ist endlich der gedruckte Zeichenlehrer, oder wie es heißt die „Die Methode ohne Lehrer zeichnen zu lernen“,105 oder die „Zeichenvorlage zum Selbstunterricht“!*106 –Das richtige Maß ist hiedurch gewiß überschritten aber die ganze Richtung könnte nicht besser gekennzeichnet werden als durch solche unbeabsichtigte Carricatur des eigenen Wesens.

So wie das gedruckte Wort an Stelle des gesprochenen tritt, so die ge-

druckte Zeichenvorlage an Stelle der in den Ateliers gebrauchten Handzeichnungen. Wie lange lernt man gegenwärtig zeichnen bis man die erste

104 [Sitte bezieht sich hier auf Fialkowski, Nikolaus: Der Zeichner und Kolorist, nebst der dazugehörigen Zeichenrequisiten und Materialien. Wien: Wendelin 1857. Fialkowskis Schrift umfasst – wie von Sitte erwähnt – 168 Seiten.] 105 [Sitte verweist hier offenbar auf das bereits genannte Werk von Jombert 1740 (s. Anm. 40). Werke mit ähnlichem Anspruch erschienen auch in Deutschland, beispielsweise Schmid 1809 (s. Anm. 71).] 106 [Sitte beruft sich hier möglicherweise auf Franz Augustin Göz’ Neues theoretisch-praktisches Zeichnungsbuch zum Selbstunterricht für angehende Künstler und Handwerker (Bregenz: Kaspar Graff 1803–1807) oder auf Reinhold Klettes Das perspektivische Zeichnen. Praktische Anleitung zum Selbstunterricht und zum Gebrauche für Architekten, Maler etc (Braunschweig: Bruhn 1868).] Autograph, ohne Titel (o.J.) – Teil II: Über Zeichen – Unterricht

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Handzeichnung eines Menschen zu Gesicht bekommt, der selbst zeichnen konnte! Hierin liegt einer der allergrößten Nachtheile des heutigen Zeichenunterrichtes. Erstens ist die virtuoseste Zeichnung eines großen Meisters immerhin noch leichter und gewiß interessanter nachzuahmen, als irgend ein schlechtes Machwerk eines ungeschickten Lithographen. Zweitens läßt sich Beistifttechnik nur wieder nach einer Bleistiftzeichnung, Pinseltechnik nur wieder nach Originalen lernen, welche selbst mit dem Pinsel gefertigt sind. Die Feinheit der Empfindung in Linienführung und Schatten lernt sich nur [fol.] 240. [Das Blatt ist aus zwei Manuskriptteilen zusammengeklebt und unten beschnitten] wieder einem Original ab, welches selbst diese Eigenschaften besitzt, die scharfe Charakteristik und Lebendigkeit nur von einer Zeichnung, welche selbst Leben und Wahrheit besitzt, kurz e s l ä ß t s i c h n u r v o n M e i s t e r werken etwas lernen, welche mit denselben technischen Mitteln hervorgebracht wurden, welche dem Schüler zu G e b o t e s t e h e n . Die gedruckte Vorlage bleibt immer ein Übelstand, der am auffallendsten wird wenn die Technik der Vorlage sehr verschieden ist von der Technik in welcher sie copirt werden soll, wenn z.B. mit Bleistift nach Holzschnitten copirt werden soll, oder nach Kupferstichen.

Dieser Übelstand ist in neuerer Zeit, in welcher die Vorlage eine immer

selbstständigere, wichtigere Bedeutung gewonnen, auch allgemein bemerkt worden, und die Geschichte der neueren Vorlagenwerke ist zugleich eine Geschichte des ununterbrochenen Kampfes gegen diesen Übelstand. [fol.] 241. Für die älteren Zeichenbücher ist die Frage nach der Ähnlichkeit mit der Technik in welcher copirt werden sollte noch nicht von solcher Bedeutung, denn sie sollten nicht die Handzeichnung nicht den Meister ersetzen. Die ältesten Werke dieser Art sind in Holz geschnitten. So die Bücher von Dürer 1528,107

107 [Dürer „Vier Bücher von menschlicher Proportion“ (s. Anm. 36)]

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Vogtherren 1538,108 Schön 1543,109 Amman 1599110 und Cousin 1671111. Der im Allgemeinen im 16. Jahrhundert zu Illustrationen verwendete Holzschnitt wird im 17 und 18 Jahrhundert durch den Kupferstich abgelöst. Gestochen und zwar größtentheils ziemlich schlecht sind die Zeichenbücher von Ianhsonius 1616,112 ein zu Nürnberg erschienenes von 1707,113 das von Herz 1723,114 Iombert 1740,115 Bloemaert 1740,116 Lairesse 1745,117 Kilian 1750,118 Preisler 1783119 und andere. Das schon erwähnte sehr frühe des Fialletti von 1518 gleichfalls.120 Die 1831 erschienenen Tafeln von Volpato und Morghen sind noch gestochen aber so weich, daß sie aus einiger Entfernung in welcher die punktirten Linien zusammenfließen wie Bleistiftzeichnungen aussehen.121 Sonst sind alle neueren Werke seit Einführung der Lithographie in dieser Technik hergestellt, welche es gestattet der Bleistift und Kreidetechnik am nächsten zu kommen. Die ältesten größeren Ausgaben darunter sind die in Kreidemanier gehaltenen Modellakte von Parizeau 1778 und die bei Bonnet

108 [Vogtherr, Heinrich: Ein frembds vnd wunderbars Kunstbüchlein allen Molern, Bildtschnitzern, Goldtschmiden, Steynmetzen, Platnern, Waffen– und Messerschmiden hochnützlich zu gebrauchen: dergleichen vor niu keines gesehen oder in den Truck kommen ist. Straßburg: Vogtherr 1538.] 109 [Zu Schön siehe Anm. 47.] 110 [Amman, Jost: Kunstbüchlein, darinnen neben Fürbildung vieler, Geistlicher vnnd Weltlicher … Personen … allerhandt Kunstreiche Stück vnnd Figuren … alles … künstlichst gerissen, durch … Jost Ammon von Nürnberg. Frankfurt a. M.: Feyerabend 1599.] 111 [Zu Cousin siehe Anm. 52.] 112 [Sitte bezieht sich hier möglicherweise auf das 1616 bei Joannes Janssonius in Arnheim verlegtes Werk des Mathematikers Samuel Marolois Géometrie contenant la Theorie et Practique dicelle nécessaire à la Fortification.] 113 [Sitte bezieht sich hier vermutlich auf Herrmann, Gottlieb: Neu vollständiges Reiß-Buch. Nürnberg 1707.] 114 [Herz, Johann Daniel: Natura artis studio feliciter repraesentata, oder Anweisung zum Zeichnen und kunstmäßige völlige Ausarbeitung menschlicher Statur. Augsburg 1723.] 115 [Zu Jombert siehe Anm. 40.] 116 [Bloemaert, Abraham: Oorspronkelyk en vermaard Konstryk tekenboek … Amsterdam: Ottens 1740.] 117 [Zu Lairesse siehe Anm. 28 und 66.] 118 [Kilian, Philipp Andreas: Der Jugend kan dis Werck die Anfangs-Gründe Zeigen, wie man muss stuffenweis zur edlen Kunst aufsteigen… Augsburg: Will (ca. 1750).] 119 [Zu Preißler siehe Anm. 28.] 120 [Zu Fialetti siehe Anm. 96.] 121 [Volpato, Giovanni/Morghen, Raffaele: Principi del disegno. Mailand: Giuseppe Valladi 1831.] Autograph, ohne Titel (o.J.) – Teil II: Über Zeichen – Unterricht

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in demselben Jahr herausgegebenen Arbeiten Huet’s.122 Sie ähneln sehr den bekannten Kreidezeichnungen Schmutzer’s.123 [fol.] 242. [Das Blatt ist aus fünf Manuskriptteilen zusammengeklebt; im Text drei Markierungen mit Kreuzchen, ohne weitere Angaben] In einer immer größeren Anpassung der Lithographie an die Bleistift*-, Kreide*-, oder Pinsel*-Technik haben die neueren Zeichenvorlagen anerkennenswerte Fortschritte gemacht. Auch die Photographie hat sich bereits auf dieses Feld geworfen, ohne aber bisher einen allseitig durchgreifenden Erfolg erringen zu können. Ihr Fehler liegt hauptsächlich in der Verdunkelung des Originales.

Das Beste wäre, noch einen Schritt vorwärts zu thun,

und statt einem Facsimile von der pedantischen Hand eines Lithographen, die wahre Handzeichnung einzuführ e n . Die großen Kosten solcher Original-Sammlungen sollten wenigstens für eigentliche Kunstschulen nicht gespart werden; sie würden sich gewiß lohnen. Schon allein die Lust nach einem so vorzüglichen Original zu arbeiten, welches an sich zu immerwährend erneutem Anblick reizt, müßte viel Nutzen bringen.

Auch der Inhalt hat seine Umwandlung erfahren in der sich die Grundzüge

des ganzen Processes gleichfalls wiederspiegeln. Auch hier sondert sich das ursprünglich Vereinigte immer mehr und mehr zu getrennten Gruppen, und diese Trennung wird eine immer festere, beständigere. Die Hauptgruppen in welche gegenwärtig das Materiale zerfällt sind: Ornamente Köpfe und Figuren, Thiere, Blumen, Landschaften. Eine ähnliche immer weiter gehende

122 [Zu Parizeau siehe Anm. 68. – Zwischen 1778 und 1780 erschienen bei Bonnet in Paris fünf Teile von graphischen Blättern des Malers Jean Baptiste Huet (1745–1811). Sitte zielt hier auf den ersten Teil, das Cahier de fragmens et de principes de desseins, das 1778 herausgegeben wurde.] 123 [Der Wiener Maler und Kupferstecher Jakob Schmutzer (1733–1811), der 1762–1766 in Paris lernte, 1766 in Wien Direktor der neu gegründeten (später mit der Akademie vereinigten) Kupferstecher-Akademie und 1767 Hofkupferstecher wurde (s. Anm. 101), arbeitete u.a. in Braunstein, einem bräunlichen, harten, rötelähnlichen Stift, der besonders im 18. Jahrhundert in Frankreich von Boucher, Robert und Greuze für Studienköpfe Verwendung fand. Durch Schmutzer, der die Braunsteintechnik bei Greuze in Paris gelernt hatte, gelangte Braunstein nach Wien, wo er u.a. von Josef Abel benutzt wurde.]

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Zerspaltung in getrennte Fächer hat in der ausübenden Kunst Platz gegriffen. Der Landschafter betreibt nur die Landschaftsmalerei, der Portraitmaler nur das Portrait, der Bildhauer [fol.] 243. [Das Blatt ist aus zwei Manuskriptteilen zusammengeklebt.] ist nicht mehr zugleich Maler, und sich noch obendrein mit Architektur zu befreunden, wie es die alten Meister gethan, fällt unseren Bildhauern und Malern nicht mehr ein. Sie sind Specialisten geworden, so wie es jetzt Specialisten unter den Heilkünstlern gibt, die sich nur mit Ohren oder Augen beschäftigen. Vielleicht bringt es die fortgesetzte Zerfahrung des Kunstschaffens auch noch zu dieser Höhe specieller Ohren- und Augen-Maler? Vom industriellen Standpunkt aus hat auch sogar das seine Vortheile. Irgend ein Maler hat es durch ausdauerndes Studium dahin gebracht einen Kuhkopf ausgezeichnet darzustellen. Etwas anderes kann er nicht einmal. Weil er aber fortwährend in jeder Ausstellung seine Kuhköpfe dem Publikum vorführt wird dieses endlich darauf aufmerksam, bemerkt die Virtuosität in der Behandlung und nun ist der berühmte Specialist fertig. Alle Mäcene Europas wollen um jeden Preis in ihren Sammlungen den berühmten Kuhkopf besitzen. Der Verfertiger desselben hat als Industrieller ein gutes Geschäft etablirt, als Künstler aber kann er nicht gelten, denn die Kunst ist ein Ganzes und keine Summe einzelner naturalistischer Stücke. Schon Leonardo sagt darüber: „Man kann von einigen ausdrücklich sagen, daß sie sich irren, indem sie denjenigen Maler einen guten Meister nennen, der blos einen Kopf oder eine Figur gut macht. Es ist sicher nichts Großes, wenn man einen einzigen Gegenstand die ganze Zeit seines Lebens studirt, daß man es da nicht zu einer gewisen Vollkommenheit bringen sollte. Da wir aber wissen, daß die Malerei alles, was die Natur hervorbringt umfaßt und einschließt, so scheint mir der ein armseliger Meister, der blos eine Figur gut macht“.124 [fol.] 244. Für die große Kunst hört eben die Theilung der Arbeit auf von Vortheil zu sein. So förderlich sie für industrielle Interessen ist, so nachtheilig wirkt sie in 124 [Leonardo „Libro di pittura“ (siehe S. 532, Anm. 81, hier: Ludwig 1882, § 73: „Wie der Maler nicht lobenswerth, wenn er nicht allseitig ist“).] Autograph, ohne Titel (o.J.) – Teil II: Über Zeichen – Unterricht

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der Kunst. Die theils widerlichen, theils lächerlichen Resultate ihres Einflusses auf künstlerischem Boden können überall an unseren modernen Monumentalbauten studirt werden. Nirgends paßt Bildnerei Malerei und Architektur zusammen. Fast stört Eins das Andere mehr, statt daß jedes die Wirkung des Andern erhöhen würde. Die bildenden Künste gehen eben jede für sich ihrer Wege und der moderne Künstler ist bereits so sehr Specialist geworden, daß keiner die Bedürfnisse des Andern mehr kennt und berücksichtigt, und zu einer gegenseitigen Verständigung, wie die Praxis lehrt, geradezu die Mittel des Ausdruckes, des gegenseitigen Gedankenaustausches fehlen. In dieser Richtung hat die moderne Schule manchen üblen Einfluß genommen. Während bis in die neueste Zeit gesonderte Fachschulen für die mannigfach auseinander gehenden Gewerbe für die verschiedenen Zweige des Kunsthandwerkes und dergleichen Gebiete, auf welchen die Arbeitstheilung von unleugbarem Vortheil ist, noch fehlten, trennten sich an den technischen Hochschulen und Akademien, und in der Praxis die auf Gegenseitigkeit angewiesenen großen Kunstzweige immer mehr. Noch andere Erscheinungen hängen mit diesem Grundgedanken der Entwicklung zusammen. [fol.] 245. [Das Blatt ist unten beschnitten.] Nicht nur dem Stoff nach findet eine Zersetzung statt, sondern auch die Elemente jeder einzelnen Zeichnung werden voneinander gelöst. Die gesonderten Theile in welche jede Zeichnung durch diese gleichsam chemische Analyse zerfällt sind: Zeichentechnik, Anatomie, Perspective, Proportion und dann ein noch nicht recht löslich gewordener Niederschlag von dem man vermuthet, daß allerlei Historisches, Ästhetisches, Ethisches, Nationales und wer weiß, was noch für Ingredienzien darin stecken mögen. Darnach zerfällt der Unterricht in einzelne getrennte Gegenstände. Kunstgeschichte, Ästhetik, Proportion, Anatomie, Perspective werden gesondert vorgetragen und d e r e i g e n t l i c h e Z e i c h e n u n t e r r i c h t b e s c h ä f tigt sich demzufolge ausschließlich nur mit Einübung d e r T e c h n i k d e s Z e i c h n e n s . Hiedurch ist die Umwandlung des alten Zeichenbuches in das moderne vollendet.

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[fol.] 246. [Das Blatt ist aus vier Manuskriptteilen zusammengeklebt.] In allen neueren Zeichenbüchern ist die Sonderung der perspectivischen Construction und des anatomischen Theiles von der Zeichenvorlage bereits vollzogene Thatsache. Die einzelnen Fächer werden von Specialisten ausgebaut und den jugendlichen Schülern bleibt es dann überlassen nach eigenem Ermessen sich die Detaile zu einem lebensvollen Ganzen zusammen zu bauen.

Die großen Nachtheile dieses Systems für den Zeichen- und Kunstunter-

richt müssen einer näheren Untersuchung unterzogen werden.

Wenn in den alten Anatomischen Werken eines Vasalius und anderer die

dem Text beigegebenen Tafeln mit allerlei künstlerischen Zierrath versehen sind;125 wenn das Skelet Uhr und Sense in der Hand hält oder wie Hamlet einen Schädel betrachtet, wenn anatomische Details an ganzen Figuren ersichtlich gemacht werden, welche sich in Zimmern oder Landschaften befinden und Stellungen nach berühmten Gemälden einnehmen, so sind das alles für den Mediciner ganz unnöthige Excursionen in das Gebiet des Künstlers. Umgekehrt sind es aber keine unnöthige Beigaben, wenn auf Übungsblättern für den angehenden Zeichner anatomische und perspectivische Erklärungen sich finden. Hier ist die Specialisierung von unverkennbar üblen Einfluß, weil die Natur der Sache eine solche nicht zuläßt.

Wenn z.B. ein Kopf gezeichnet werden soll oder auch nur ein Theil dessel-

ben ein Ohr, ein Auge, so [fol.] 247. steckt in dieser anscheinend einfachen Zeichnung schon alles darinnen, was der vollendete Figurenzeichner braucht, Proportionen, Anatomie und Perspective und es ist unmöglich diese Theile vollkommen aufzufassen und zu merken ohne hinlängliche Einsicht in das innere Wesen ihres Aufbaues. Nun werden aber gegenwärtig Köpfe und Figuren in der Regel gezeichnet ohne Erklärung ihrer Anatomie und Perspective, denn derlei geht den Zeichenleh-

125 [Mit seinen De humani corporis fabrica libri septem (Basel: Johannes Oporinus 1543) wurde Andrea Vesalius (1514–1564) zum Begründer der neuzeitlichen Anatomie. Das Werk ist reich mit Holzschnitten illustriert; die Vorlagen für die 17 ganzseitigen Tafeln werden Tizian zugeschrieben. Vesalius, der in Paris und Padua Medizin studierte und ab 1544 Leibarzt der Habsburger war – zunächst für Kaiser Karl V. in Brüssel, nach dessen Tod für Philipp II. von Spanien –, vertrat entgegen allgemeiner Überzeugung die Auffassung, dass die menschliche Anatomie nur an menschlichen Leichen gelernt werden könne.] Autograph, ohne Titel (o.J.) – Teil II: Über Zeichen – Unterricht

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rer nichts an, das ist wieder die Specialität des Anatomie- und Perspectivlehrers. Diesen Umständen analog enthalten denn auch unsere Zeichenbücher nur Vorlagen zum Copiren ohne theoretische Durchdringung, und so wird es auch von diesem Gesichtspunkte aus klar, warum die Figurenperspective, oder das constructive Zeichnen, wie es in dem Vorhergehenden genannt wurde, aus dem Unterrichte verschwunden ist, und an einer so wichtigen Stelle des Lehrgebäudes sich thatsächlich eine vollständige Lücke zeigt.

Der Zeichenlehrer bearbeitete dieses Gebiet nicht, weil es ihm zu sehr

constructiver Natur, und der Perspectivlehrer nicht, weil es ihm zu sehr zeichnender Natur ist. So wurde die Ausbildung dieses wichtigen Theiles der Zeichenkunst von beiden Seiten unterlassen und die figurale Perspectivlehre findet sich kaum noch im Gedächtniß des Historikers, in derjenigen Ausbildung vor, welche ihr Dürer gegeben.126 Bei Dürer ist sie umfangreicher und bedeutungsvoller als selbst die Perspective geometrischer und architektonischer Formen. Nach Dürer hat sie aber keine weitere Ausbildung erfahren, während die Perspective der geometrischen Formen von den Lehrern der Perspective und darstellenden Geometrie ausschließlich [fol.] 248. gepflegt und reich entwickelt wurde. So bildet denn auch die Specialvorlesung des Perspectivlehrers dem Schüler keinen Ersatz für das, was ihm der Zeichenlehrer vorenthält. Der Perspectivlehrer ist gewöhnlich Architekt, und befaßt sich als solcher wolweißlich n u r mit Lineal und Zirkel ohne sich in die Perspective der menschlichen Figur, besonders ihres inneren anatomischen Baues einzulassen. Das Handbuch der Perpective verwendet gleichfalls als Beispiele nur Häuser, Tempel, Brunnen und geometrische Körper.127 Kommen menschliche Gestalten vor, dann sind sie nur als Staffage verwendet oder aus älteren Werken copirt oder von der Hand eines Figuren- Fachmalers eingezeichnet. Die Specialisirung der einzelnen Lehrfächer hat aber noch andere wesentliche Nachtheile. Die gesonderen Disciplinen werden nicht nur von Specialis­ ten ausgebaut, sondern auch im Verlauf der Entwicklung nach Maßgabe von

126 [Zur Figurenperspektive Dürers siehe fol. 188–190 sowie insbesondere die Anm. 38 (S. 513), 83 (S. 533f.), 145 (S. 556), 146 (S. 556f.) und die Anm. 36, 41, 45f.] 127 [Eytelwein, Johann Albert: Handbuch der Perspective. 2 Teile, Berlin: Realschulbuchhandlung 1810.]

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Grundsätzen vorgetragen, welche häufig den Zusammenhang und Zweck des Ganzen nicht mehr berücksichtigen.

In dieser Beziehung muß besonders der Vortrag der darstellenden Geo-

metrie und der Perspective als durchgängig verfehlt bezeichnet werden. Der Vortrag der Perspective deßhalb, weil er in Abhängigkeit von der darstellenden Geometrie gerathen und sich vergeblich bemüht die nöthige Fühlung mit der Praxis der Kunst wieder herzustellen, wie es bis ins 18 Jahrhundert hinein noch der Fall gewesen. Der Vortrag der darstellenden Geometrie hat sich aber eigenmächtig von der Praxis losgesagt, und wandelt die Wege der zum Selbstzweck [fol.] 249. gewordenen Specialität.

Es ist notwendig hierauf näher einzugehen. Das Gerüste, welches hinter

der modernen Vortragsweise des geometrischen Zeichnens und der darstellenden Geometrie steckt, ist die Lehre von den acht Räumen oder von den sich in u n m i t t e l b a r e r N ä h e des darzustellenden Gegenstandes senkrecht schneidenden drei Projectionsebenen.128 Je zwei Projektionsebenen stehen auf der dritten senkrecht und geben auf ihr kreuzförmig unter einem rechtem Winkel sich schneidende Spuren. Diese drei Projektionsebenen werden so übereinandergelegt daß die kreuzförmigen Spuren oder Axen übereinander zu liegen kommen und nun stellt ein und dasselbe Stück Zeichenpapier überall zugleich alle drei Projektionsebenen vor. Zur Unterscheidung der drei in einander gezeichneten Projectionen werden Ziffern oder Striche verwendet.

Diese Anordnung eignet sich ohne Zweifel vortrefflich dazu, irgend ei-

nen Lehrsatz der darstellenden Geometrie an sich, ohne Rücksicht auf seine Vorkommen in der Praxis, mit den wenigsten Strichen und auf kleinster Zeichenfläche zu fixiren. Daraus entspringen eine Menge Vorzüge für die rein wissenschaftliche Behandlung der darstellenden Geometrie. Was aber hier für die Wissenschaft von Nutzen, ist für Schule und Praxis gerade hinderlich.

128 [Sitte bezieht sich hier auf das grundlegende Verfahren der Darstellenden Geometrie, die von Gaspard Monge (1746–1818) entwickelte orthographische oder Drei-Tafel-Projektion. Bei der Drei-Tafel-Projektion wird ein darzustellendes Objekt auf drei jeweils orthogonal zueinander stehende Zeichenebenen projiziert und in Grundriss, Aufriss und Seitenriss abgebildet. Zu Monge siehe Anm. 131.] Autograph, ohne Titel (o.J.) – Teil II: Über Zeichen – Unterricht

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Dem Anfänger wird es sehr schwer die mit 1, 2 und 3 bezeichneten Punkte

sich fortwährend, ohne Irrung, in drei verschiedenen Ebenen nur zu denken, während er sie spinnenwebartig verworren in einer einzigen Ebene zeichnet. Die zuweilen sehr bedeutende Schwierigkeit der Auffassung könnte leicht beseitigt werden wenn Grundriß, Aufriß und Kreuzriß gesondert gezeichnet würden. Ein Paar Zirkelstiche und Linien und ein Stückchen Papier mehr, wäre gegen die erreichte Klarheit wohl nicht in Anschlag zu bringen. [fol.] 250. Eine solche Trennung von Grundriß, Aufriß und Kreuzriß entspricht auch der Praxis und mit dieser steht die moderne Vortragsform der darstellenden Geometrie in ganz unerfreulichem Widerstreit. Man gehe in alle Ateliers und Werkstätten der Welt, so wird man nirgends finden daß Grundriß, Stirn- und Seitenansicht sammt Schnitten in Eins durcheinander gezeichnet sind. Jede Projection für sich, befindet sich sogar auf gesonderten Reißbrettern. Dadurch ist aber eine durchgreifende Verschiedenheit in der Art des Arbeitens gegeben. Zunächst fallen die kreuzförmigen Axen weg, und dem entsprechend auch die Darstellung einer Ebene durch ihre Spuren. Diese Darstellung entspricht eben nur der reinen Theorie in welcher jede Ebene stets von unendlicher Ausdehnung gedacht wird. Die Praxis in Architektur, Maschinenbau etc. kennt dagegen nur endlich begrenzte Flächen, diese stellt sie durch ihre Grenzen dar und mit diesen und nicht mit ihren Spuren auf den Projectionsebenen wird gearbeitet. Der hiedurch gegebene Unterschied ist ein sehr bedeutender. Die Folgen dieses Nichtberücksichtigens der Praxis von Seite der Schule stellen sich ein, sobald der Zögling einer polytechnischen oder ähnlichen Schule in die Praxis übertritt. Wie Vieles muß da in anderer Form erst wieder vom Neuen erlernt werden, und wie schwierig ist es Manchem sich in die ganz andere Denk- und Redeweise der Werkleute hineinzufinden, denn diese folgen heute [fol.] 251. noch theilweise uralten Traditionen teilweise practischen Erfahrungen neuerer Zeit, nirgends aber den modernsten Sistemen der rein wissenschaftlichen darstellenden Geometrie oder Perspective. Dieß gilt nicht bloß etwa von

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den Werkplätzen der Steinmetze und Zimmerleute. Auch in den Malersälen für Theaterdecoration wird sich der moderne Perspectivlehrer vergebens nach seinen Büchern umsehen. Auch hier folgt man einer mehr traditionellen handwerkmäßigen Praxis und die Theorie hat zum großen Schaden der Kunst gar sehr an Einfluß verloren. Dasselbe kann von andern Kunstzweigen gesagt werden. Wo befindet sich derjenige Bildhauer welcher die rein wissenschaftlichen neuen Arbeiten am Gebiete der sogen. Reliefperspective gelesen, verstanden und in seinen Arbeiten verwendet hätte?129 So gehen Praxis und Theorie ihre eigenen Wege, und während die moderne Theorie an sich immer feiner ausgebildet wird, entbehrt die Praxis des Notdürftigsten und steht gar sehr hinter den Leistungen vergangener Jahrhunderte zurück. Diejenigen Künstler aber, welche auch gegenwärtig in diesen Dingen Größeres leisten verdanken ihr Können nicht unseren modernen Theoretikern, sondern gerade dem Studium der älteren Literatur, und auf diese ältere Literatur müßte neuerdings zurückgegangen werden, wenn die Theorie für den Practiker verständlich und nutzbringend werden soll. Dem Specialisten werden solche Anforderungen geradezu als Entstellung und Zurückschraubung der Wissenschaft auf ihre primitiven Anfänge vorkommen. Ihm muß gesagt werden, daß es sich hier gar nicht um eine wissenschaftliche Frage, nicht um den Inhalt, sondern nur um den Vortrag, handelt [fol.] 252. und in dieser Richtung sind die Alten größere Meister als die Modernen, gerade weil die Wissenschaft bei ihnen noch nicht specialisirt ist, und die Füh-

129 [Bei der Reliefperspektive oder räumlichen Perspektive wird ein räumlicher Gegenstand durch einen anderen dreidimensionalen Gegenstand, ein Modell, dargestellt. Die Wissenschaft von der Reliefperspektive wurde durch Girard Desargues und Abraham Bosse um die Mitte des 17. Jahrhunderts begründet. 1798 schrieb der Architekt, Theatermaler und Vedutenzeichner Johann Adam Breysig den Versuch einer Erläuterung der Reliefperspektive zugleich für Mahler eingerichtet (Magdeburg: Keil 1798). Von den – zu Sittes Zeiten – neueren wissenschaftlichen Arbeiten in der Reliefperspektive sind zu nennen: Burghardt, Hermann: Beitrag für den Unterricht in der Reliefperspektive (Nordhausen 1861) und Staudigl, Rudolf: Grundzüge der Reliefperspektive (Wien: Seidel 1868). Auch Helmholtz beschäftigt sich in §30 („Wahrnehmung der Tiefendimension“) seines Handbuchs der physiologischen Optik (s. Anm. 8) mit der Reliefperspektive und der Konstruktion von Reliefbildern (Bd. 3, Leipzig: Voss 1867, S. 660–671).] Autograph, ohne Titel (o.J.) – Teil II: Über Zeichen – Unterricht

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lung mit der Kunst und dem practischen Leben noch nicht verloren hat. Die Grundzüge der alten Weise sind auch noch an den Meistern des Vortrages in neuerer Zeit unschwer zu erkennen. Es braucht blos auf Lessings wunderbare synthetische Vortragsweise oder etwa in der so schwer zu behandelnden Anatomie auf Hyrtl‘s130 Meisterleistung hingewiesen zu werden. Was nun die darstellende Geometrie und Perspective anlangt, so können die modernen Pfleger dieser Disciplinen mit Recht stolz sein auf ihr Wachsthum, aber ein Meister des Vortrages befindet sich nicht unter ihnen, und vielleicht gerade deßhalb nicht, weil sie, abgeneigt der Historie, nicht die ältere Literatur zu Rathe ziehen. Würde diese von den Specialisten des Faches nicht stets mit mitleidigen Lächeln als veraltet bei Seite geschoben, und auch mit den Ateliers und Werkstätten ein engerer Verkehr gepflegt, dann würden unsere Lehrer der darstellenden Geometrie und Perspective, so sehr verdienstvolles sie vom rein wissenschaftlichen Standpunkt aus leisten, es vielleicht selbst mit einigem Schauder empfinden, wie unpractisch sie ihr Wissen, das ja hauptsächlich zu practischer Verwerthung bestimmt ist, erweitern und mittheilen. Merkwürdig ist, daß alle Versuche, welche gemacht wurden, diese Übelstände zu heben, bisher verunglückten. Für ein unausgebildetes Verständniß wurde der Gegenstand erleichtert, durch Auswahl der einfachsten Fälle. Statt den rein abstracten Beispielen wurden Vorkommnisse aus der Praxis gewählt. Das Erstere ist eine fragliche, das Letztere eine unzweifelhaft wertvolle Verbesserung, aber in der Hauptsache nämlich in der Methode des Vortrages und der [fol.] 253. Construction blieb man festgebannt innerhalb der Grenzen der von Monge begründeten Schule.131 In dieser Richtung wäre gleichfalls eine vollstän-

130 [Josef Hyrtl (1810–1894), bei dem Camillo Sitte im Wintersemester 1871/72 und 1872/73 als außerordentlicher Hörer der medizinischen Fakultät der Universität Wien anatomische Vorlesungen und Sezierkurse besuchte, zählt zu den bedeutendsten Anatomen des 19. Jahrhunderts. Hyrtl begann 1831 in Wien mit dem Studium der Medizin. Ab 1837 war er als Professor an der Universität Prag, ab 1845 an der Universität Wien tätig, wo er 1865 zum Rektor ernannt wurde. In Wien gründete Hyrtl 1850 das Museum für vergleichende Anatomie. Sein Handbuch der Topographischen Anatomie (Wien: Wallishauser 1853) wurde weltweit zu einem der wichtigsten Lehrbücher an medizinischen Schulen. Siehe auch „Autograph, ohne Titel (o.J.) – Zettelkonvolut“, Blatt NN05 verso.] 131 [Der französische Mathematiker und Physiker Gaspard Monge (1746–1818), Freund Napo-

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dige Reform höchst zeitgemäß. N a c h U m g e s t a l t u n g i h r e r F o r m könnte dann die Projektionslehre in die Zeichenvorlage übergehen und so wieder einen fördernden Einfluß da gewinnen wo sie in ihrer gegenwärtigen Sonderstellung verhältnißmäßig unfruchtbar bleibt.

Am schlimmsten kommen aber unter der Herrschaft des zersetzenden

Principes der Arbeitstheilung diejenigen Gebiete des Zeichenunterrichtes weg, welche noch obendrein unter die Hände des unrechten Specialisten geraten sind, wie die Schattengebung und das Studium des lebenden Modelles.

Die Schattenlehre ist ein Theil der darstellenden Geometrie geworden.

Die genaue geometrische Bestimmung der Grenzlinie von Selbst- und Schlagschatten ist auch von unbestreitbarer Wichtigkeit. Die Mittel der geometrischen Construction verlieren sich aber in willkürlichen Annahmen, sobald auch überdieß die verschiedene Intensität des Schattens angegeben werden soll, einfach deßhalb, weil die Erscheinung wie sie in der Natur vorliegt für geometrische Construction bereits viel zu complicirt ist. Daher muß die Aufgabe zuerst willkürlich vereinfacht werden, indem nur eine einzige Richtung für volles directes Licht und nur eine einzige [fol.] 254. ihr entgegengesetzte Richtung für reflectirtes Licht angenommen wird. Die Beleuchtung, welche in dieser Weise zu Stande gebracht wird, läßt sich nun freilich construiren, aber sie ist unnatürlich und von geradezu die Augen beleidigender Wirkung, denn gerade die entgegengesetzte Art der Beleuchtung durch mildes zerstreutes Licht ist es, in der sich alle leisesten Übergänge der Modellirung dem Auge erkennbar und angenehm darbieten.

Demgemäß wollte auch Leonardo, der feinste Kenner des Schattens und

seiner künstlerischen Bedeutung, das Studium desselben ganz anders eingerichtet wissen, als es gegenwärtig betrieben wird, indem er sagt: leons, unter ihm Marineminister und Mitbegründer der École Polytechnique in Paris, gilt als wissenschaftlicher Begründer der Darstellenden Geometrie, der Voraussetzung für ingenieurgerechte technische Zeichnungen. Die Grundlagen finden sich in seinem Hauptwerk Géométrie descriptive (Paris: Baudouin 1798/99). Monge etablierte die Darstellende Geometrie als Hauptlehrgebiet an der Pariser Polytechnischen Schule, von wo sie sich im Laufe des 19. Jahrhunderts als „Sprache der Ingenieure“ an den technischen Bildungsanstalten aller europäischen Länder verbreitete.] Autograph, ohne Titel (o.J.) – Teil II: Über Zeichen – Unterricht

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„Beim Zeichnen mit Kerzenlicht stelle vor das Licht eine umrahmte Lein-

wand oder ein durchscheinendes Papier, oder auch ohne es zu ölen blos ­einen Bogen feines Papier und du wirst deine Schatten duftig und nicht abgegrenzt sehen.“132 Von gleichem Standpunkt geht Leonardo überall aus, wenn er auf Schattirung zu sprechen kommt. Über die Art Landschaften abzubilden sagt er: „Die Landschaften sind derart abzubilden, daß Bäume halb beleuchtet, halb in Schatten sind; doch ist es besser sie zu machen, wenn die Sonne halb von Wolken verhüllt ist, so daß dann die Bäume vom allgemeinen Licht des Himmels und vom allgemeinen Schatten der Erde ihr Licht und Dunkel empfangen. Die einzelnen Gruppen sind um so dunkler je näher sie der Erde sich befinden“.133 Von der Beleuchtung, unter welcher das Nackte zu malen, sagt er: „Die Örtlichkeit soll gegen die Luft offen sein und fleischfarbige Wände haben. Die Bildnisse mache man im Sommer wenn Wolken die Sonne bedecken, oder du machst die Wände gegen Süden so hoch, daß die Sonnenstrahlen nicht die Nordwand treffen, damit ihre Reflexe nicht die Schatten verderben“.134 [fol.] 255. Vom Lichtschirm heißt es ausdrücklich:

„gib nicht allzu durchsichtiges Papier, zwischen das Relief und das Licht

und du wirst gut zeichnen können.“135

Vom Licht selbst aber:



„Das ausgebreitete und hohe, doch nicht allzustarke Licht wird die Theile

der Körper sehr angenehm erscheinen lassen.“136

L e o n a r d o geht in diesen Vorschriften überall der scharfen centra-

len Beleuchtung mit ihren unkünstlerischen rohen Kernschatten und allen

132 [Leonardo „Libro di pittura“ (siehe S. 532, Anm. 81, Heinrich 1882, § 92: „Vom Ab­zeichnen der Schatten an den Körpern bei Kerzen- und Lampenlicht”.] 133 [Ebd., § 91: „Wie man Landschaften abzeichnen soll”.] 134 [Ebd., § 95: „Vom Licht, bei dem man die Fleischfarbe des Gesichts und des Nackten abbildet”.] 135 [Ebd., § 102: „Art und Weise etwas Rundes bei Nacht abzuzeichnen”.] 136 [Ebd., § 104: „Von der Art des Lichts”.]

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­grellen Reflexen sorgsam aus dem Wege, und darin steht seine Theorie auch im Einklange mit den Meisterwerken der zeichnenden Kunst, indem sie nur dasjenige mit Worten festhält, was der hochgebildete feine Kunstsinn seiner Zeit in den Arbeiten der Maler und Zeichner schätzte.

Ganz im Widerspruch mit diesen trefflichen Anordnungen zieht man ge-

genwärtig das grelle Sonnenlicht der zerstreuten Beleuchtung vor, verlegt das Schattenstudium am plastischen Modell absichtlich in die Abendstunden, damit bei möglichst greller centraler Gasflamme gezeichnet werden kann, welche noch obendrein statt mit einem dämpfenden lichtzerstreuenden Schirm, mit einem glattpolirten Reflector versehen wird und stellt hinter das Modell eine blendende stark reflectirende Wand. Und warum dieß alles? – Damit künstlich genau dieselbe Beleuchtung mit nur zwei Lichtstrahlenrichtungen hergestellt wird, welche der Specialist der darstellenden Geometrie willkürlich aufgestellt hat.

So ist der Zeichenlehrer auf einem Gebiete in Abhängigkeit vom Lehrer

der darstellenden Geometrie geraten, auf welchem die geometrische Construction nie hätte maßgebend werden sollen, weil ihre beschränkten Mittel [fol.] 256. ohne absichtlicher wiedernatürlicher Selbstbeschränkung nicht mehr fähig sind die natürliche wahre Erscheinung zu bewältigen.

Die Hülfsmittel der geometrischen Construction reichen eben nur hin zur

Darstellung richtiger Conturen und beim Schatten ist es die Contur allein, welche in befriedigender Weise construirt werden kann. Seine natürliche Intensität liegt ebenso außer dem Bereich der Construction, wie nach dem schon Seite … erörterten, seine technische Herstellung. Dieser Fall ist ganz besonders bezeichnend für die Verständnißlosigkeit, welche hie und da in Folge der Specialisirung eingerissen, wenn er mit dem über die figurale Perspective Gesagtem verglichen wird.

In der Darstellung von menschlichen Gestalten oder anderer lebender

Wesen handelt es sich zunächst um Conturen gerade so wie bei Darstellung geometrischer oder architektonischer Gegenstände. Dieses Gebiet auf dem die constructive Zeichnung so vieles zu leisten berufen wäre, wurde aber gänzlich vernachlässigt, während zur Bestimmung der Schattenintensität, gegenüber welcher die Construction ganz unfähig ist etwas Entsprechendes zu leisten gewaltige aber unnütze ja schädliche Anstrengungen gemacht wurden. Autograph, ohne Titel (o.J.) – Teil II: Über Zeichen – Unterricht

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Die Ursache dieser sonderbaren Verkehrtheit ist, daß im Anschluß an

die Lehre von den Schattengrenzen, auch die Lehre von der Intensität des Schattens aus den Händen des Zeichenlehrers in die des Lehrers der darstellenden Geometrie übergegangen ist. Unter den Händen dieses Specialisten konnte ja nichts anderes daraus werden, als was thatsächlich daraus geworden ist.

Der umgekehrte Fall ist eingetreten beim Studium des lebenden Model-

les. Dieses ist in den Händen des Zeichenlehrers verblieben. Der Zeichenlehrer, wenn er moderner Specialist, und [fol.] 257. er ist dieß thatsächlich noch fast überall, verwandelt das Studium des lebenden Modelles in ein reines Copiren, während es seiner Natur nach nur ein Hülfsmittel zum Studium der Anatomie ist.

In der Art der Benützung des Modelles befinden wir uns thatsächlich in

einem ähnlichen Gegensatz zu den alten Meistern wie in der Art des Schattenstudiums.

Und das Falsche im modernen Unterricht ist gleichfalls wieder eine Folge

der rücksichtslosen modernen Specialisirung des in der Kunst notwendig Zusammengehörigen. Von Rafael weiß man, daß er schreitende Figuren nicht nach einem ruhenden sondern nach wirklich schreitendem Modell studirte. Die größten Meister wie Leonardo oder Michelangelo und viele andere waren selbst Anatomen, und ihre Modellstudien bei denen es sich um die gründliche Bewältigung irgend eines anatomischen Detailes handelte, sind einfache Skizzen, aber nicht mühsam ausgeführte gedankenlose Copien im Sinne der modernen akademischen Acte.

In ähnlicher Weise ist der Vortheil, den andere abgetrennte Fächer dem

Kunstunterricht bieten, in Folge der Nichtberücksichtigung des gemeinsamen Zweckes häufig ein mehr weniger beschränkter, und die in Tabelle III aufgestellte Forderung der organischen Durchdringung der einzelnen Fächer in der Volks und Mittelschule ist mit Beibehaltung der Form, welche die einzelnen Disciplinen unter dem Einfluß der Specialisirung gegenwärtig erhalten haben, in der That gar nicht denkbar.

So zeigt sich denn, wie das Princip der Arbeitstheilung, welches die Ent-

stehung der Schule verursachte, auch aus sich heraus alle diejenigen Schwierigkeiten gebar, mit denen die natürlichste und zweckmäßigste Organisation der Schule in der Gegenwart zu ringen hat, und diese Schwierigkeiten sind

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wahrlich keine geringen. Manches ist schon trefflich gelungen, manches Andere wartet noch einer glücklicheren Lösung. [fol.] 258. [Im Text eine Markierung mit Kreuzchen, ohne weitere Angaben]

Schluß Ein weiter Weg ist in der Organisation des Zeichenunterrichtes allein schon in den letzten Decennien zurückgelegt, aber noch ist das Ziel nicht ganz, nicht in allen Theilen erreicht. Wir stehen noch mitten in der Arbeit. Die Schule hat ihre hervorragende Bedeutung erkannt und übernimmt nunmehr mit Bewustsein die ihr zufallende Aufgabe. Vor allem die Zeichenschule hat erkannt, daß sie nicht akademischer Selbstzweck sein dürfe, daß sie nur im Dienste der Kunst stehe und für das Leben und auch für den Wohlstand des Volkes zu sorgen habe, und so begann sie überall die einseitige selbstgenügsame Theorie zu beseitigen, und eine möglichst enge Verbindung mit den Anforderungen der Praxis herzustellen. Das Verhältnis von Schule und Kunst, von Lehrer und Künstler, von Schüler und Lehrling wird täglich klarer und mit ihm das Verständniß des Wesens der Schule selbst. Der Lehrer ist nicht mehr selbst Künstler und Werkmeister, wie er es ehemals gewesen. Er ist ausschließlich Lehrer. Aus dieser Trennung folgt aber schon eine zweite, denn der vom künstlerischen und industriellen Leben bereits großentheils losgelöste Lehrer verliert notwendiger Weise die Fühlung mit der Praxis und gerät in Gefahr die Schule rein pädagogisch als Selbstzweck zu organisiren*, und somit kann die O r g a n i s a t i o n d e r S c h u l e , welche nicht nur den pädagogischen Anforderungen allein, sondern vor allem den Anforderungen des Lebens entsprechen soll, dem specifischen von der Praxis losgetrennten Lehrer nicht mehr ausschließllich überlassen bleiben, und so entsteht die Forderung nach einer eigenen organisirenden Kraft, nach einem L e h r p l a n . Ursprünglich vereinigt sich auch diese Anforderung einer vorgeschritteneren Entwicklung

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[fol.] 259. in der Hand des Werkmeister[s]. Dieser ist dem Lehrling alles in einer Person: Künstler, Lehrer und Verfasser des Lehrplanes. Gegenwärtig aber folgt aus der so weit fortgeschrittenen und immer noch weiter fortschreitenden Trennung zwischen Künstler und Lehrer notwendiger Weise die weitere T r e n n u n g z w i s c h e n L e h r e r u n d V e r f a s s e r des Lehrplanes. Der Lehrplan ist der eigentliche Genius der Schule. An seiner Ausbildung kann der practische Werkmeister, der Künstler, der Gelehrte und der specifische Pädagoge arbeiten, was alles in höchster Vollendung in einer Person zu vereinigen, doch unmöglich von jedem Lehrer verlangt werden kann. Der Lehrplan stellt die vortheilhafteste Verbindung zwischen Schule und Leben, zwischen Theorie und Praxis her. Der Lehrer ist der unentbehrliche und vorzüglichste Vermittler zwischen Lehrplan und Schüler. Solchergestalt haben sich die modernen Formen des Unterrichtes einer stetigen Entwicklung zufolge endlich herausgebildet, und es entstehen dadurch eine Menge ernster Anforderungen an die Practiker, an die Lehrer, an die Regierung. Im Hinblick auf das allgemeine Wohl, das es gilt auch hierin zu fördern, ist streng genommen Jedermann, der es vermag ein aufklärendes förderndes Wort zu sprechen, verpflichtet das Seine zum allgemeinen Werk beizusteuern. Jede glückliche Lösung, selbst der kleinsten Detailfrage muß willkommen sein. In diesem Sinne mögen denn die Resultate der vorigen Untersuchungen zum Schlusse nochmals in Kürze und in Form von Vorschlägen zusammengefaßt und der Beurtheilung und Benützung der Kenner und Practiker anheim gestellt sein.

Der erste Theil dieser Untersuchungen, deren Abschluß in Tabelle II gege-

ben, kommt lediglich einer Anforderung entgegen, welche einen der Grundgedanken unserer neueren Lehrpläne für den Zeichenunterricht bildet, nämlich der

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[fol.] 260. [Das Blatt ist aus zwei Manuskriptteilen zusammengeklebt; im Text eine Markierung mit Kreuzchen, ohne weitere Angaben] Forderung, welche unter vielen andern Stellen am schärfsten in der “Instruction für den Zeichenunterricht an der Volksschule”* angegeben, wie folgt: „Wenn der Lehrer bei Durchsicht der fertigen Schülerarbeiten wahrgenommen hat, daß bei der Mehrzahl derselben der gleiche Fehler vorkommt, so wird das fehlerhaft gezeichnete Objekt mit Beibehaltung der Fehler und der G r u n d d e s F e h l e r s erklärt, auf die Ähnlichkeit mit anderen bekannten Gegenständen hingewiesen und hierauf die Correctur an der Tafelzeichnung vorgenommen.“137 Dieser eminenten Vorschrift für den Zeichenunterricht, welche auf alle Zweige desselben practisch ausgedehnt zu werden verdient entspricht durch Angabe der physiologischen Ursachen aller constanten Fehler die Tabelle II.138 Eine möglichst vollständige Ausnützung aller derjenige Vortheile, welche Geschichte und Physiologie dem Zeichenunterricht zu bieten vermögen, könnte aber erst erzielt werden, wenn ein hinlängliches Verständniß in dieser Hinsicht schon an den Bildungsanstalten für Zeichenlehrer erzielt würde. Daraus entspringt der erste unter den aus dem Vorigen resultirenden Vorschlägen: Es sind im Ganzen folgende: [Die Punkte 1 bis 9 sind, mit Ausnahme der in Klammer stehenden Texte, im Original unterstrichen.] 1. An den Bildungsanstalten für Zeichenlehrer ist ein Collegium über „Geschichte der Zeichenkunst und Methodik des Zeichenunterrichtes“ einzuführen. (Siehe Seite …) 2. Eine genauere Reihenfolge aller Zeichenvorlagen nach zunehmender Schwierigkeit ist mit Hülfe der historischen Reihe herzustellen. (S. S. …) 3. Die Ausbildung der figuralen Perspective ist auf Grundlage ihrer bereits von A. Dürer entwickelten Elementarssätze wieder aufzunehmen. (Durch Ausarbeitung eines Vorlagenwerkes für constructives figurales Zeichnen.) (S. S. …)

137 [Möglicherweise bezieht sich Sitte hier auf die 1819 von der K.K. Schulbücher-VerschleißAdministration in Wien herausgegebene Instruction für Zeichnungslehrer der Normalund Hauptschulen in den k. k. d. ö. Provinzen.] 138 [Die von Sitte erwähnte Tabelle II ist nicht erhalten.] Autograph, ohne Titel (o.J.) – Teil II: Über Zeichen – Unterricht

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4. Die gedruckte Vorlage ist wo möglich durch die wahre Handzeichnung zu ersetzen und ausnahmsweise nur dann zu gebrauchen, wenn sie als voll[fol.] 261.

kommen gelungenes Facsimile einer solchen betrachtet werden kann. (S. S. …)

5. Eine geschickte Sonderung der Fächer nach speciellen Zwecken ist bei den Gewerbeschulen durchzuführen; dagegen streng wissenschaftliche und allgemein künstlerische Bildung wenigstens in den letzten Klassen der Bildhauer- Maler- und Architektur-Schulen festzuhalten. (S. S. …) 6. Eine gänzliche Änderung im Vortrage der darstellenden Geometrie (durch ein neues Lehrbuch) und der Perspective (durch ein neues Lehrbuch) ist vorzunehmen. (S. S. …) 7. Die constructive Schattenlehre soll sich nur mit der Contur des Schattens beschäftigen;

Seine Intensität ist am Modell bei zerstreutem Lichte zu studiren (S. S. …)

8. An den höheren Maler- und Bildhauer-Schulen sind ausgiebige practische Secierübungen

und überall ein anderes System in der Benützung des lebenden Modelles einzuführen. (S. S. …)

9. Wenn diese notwendigen Vorbedingungen zur practischen Durchführung des in Tabelle III aufgestellten Systemes ausgeführt sind und sich in der Praxis bewährt haben, ist die Tabelle III in den jetzt nur in allgemeineren Normen sich bewegenden Lehrplan für Freihand-Zeichen-Unterricht aufzunehmen. Aus dieser Zusammenstellung können nun die Tragweite der in Tabelle III zusammengefaßten Forderungen und alle diejenigen Stellen ersehen werden, welche im modernen Zeichenunterricht vom historischen Standpunkt aus betrachtet zunächst eines weiteren vervollkommnenden Ausbaues bedürfen. Mit den Grundsätzen des Unterrichtes etwa der ersten Hälfte unseres Jahrhundertes mögen diese Vorschläge immerhin wenig gemein haben, umsomehr kann mit Befriedigung bezeugt werden, daß sie mit den ernsten Bestrebungen neuester Zeit gar wohl

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[fol.] 262. übereinstimmen, gleiche Ziele verfolgen, und daß diese Ziele keine geringen sind. Auf allen Gebieten der Kunst und des Kunsthandwerkes bemüht man sich unablässig wieder diejenige hohe Vollkommenheit zu erreichen, welche die alten Meisterwerke großer Kunstperioden vor den modernen Werken auszeichnet, und die Erreichung dieses bedeutenden Zieles soll uns die Mittel erringen, auch den Sinn unserer Zeit endlich in künstlerisch verklärter Form aussprechen zu können. Alle modernen Culturvölker streben in edlem Wettstreit diesem erhabenen Ziele nach und jedes wünscht mit dem Sieg auch die Früchte desselben zu erndten. Die Wissenschaft muß das Ihre beisteuern und vor allem die Schule soll eine neue Generation von Künstlern und Handwerkern heranbilden, welche ausgerüstet mit allen nötigen Kenntnissen und Fertigkeiten, im Stande sein sollen das gesteckte Ziel zu erreichen. So ist vor allem die entscheidend einfache und geringfügige Frage nach einer natürlichen und zweckmäßigen Organisation des Zeichenunterrichtes in den Vordergrund getreten und die große Wichtigkeit einer glücklichen Lösung dieses Problems allgemein erkannt worden. Vieles ist auf dem lange vernachlässigtem Gebiete rasch nachgeholt worden und wo es galt Neues zu erfinden, wurde nach verschiedenen Richtungen hin ausgespäht, das Passende, Zweckentsprechende zu finden. Größtentheils waren es bisher die Erfahrungen der Schule und theilweise des künstlerischen Schaffens, welche zu diesem Zweck zu Rathe gezogen wurden. Wenn es nun den hiermit gegebenen Untersuchungen gelungen wäre, auch auf die reichen Hülfsquellen aufmerksam gemacht zu haben, welche die Geschichte der Zeichenkunst dem Lehrer zu bieten vermag so glaubt der Verfasser des Vorliegenden seine Absicht [fol.] 263. erreicht und das Seine zum gemeinsamen Werk beigesteuert zu haben. ______________

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Zettelkonvolut [Blatt NN01] [Enthält die Disposition zum Konvolut „Geschichte des perspectivischen Zeichnens“, S. 449–562 in diesem Bd. mit einer Darstellung seiner Entwicklungsstufen in Form eines Diagramms.]

E i n l e i t u n g Stellen (bei Schreiber etc. wo schon Andeutungen) Historischer Theil V o r s t u f e

Prähistorisches Zeichensprache

I Stufe

Schriftar.



|

|

Zeichnung

Schrift

|

II Stufe

Erste wi persp. Zeichnung



|

III Stufe

erste Werkz.



/

IV Stufe

Renaissance

V Stufe

\

seit Monge



| \ Cavalierpersp. |

|

|

Practik Theorie



Gesetze



Persp. Z.

|

orthog. Z.

Mathem. Methode Practik Theorie

|

pädagogisch wissensch.

|

pädag.

|

|

wissensch.

1. Entwicklung bei allen Völkern gleich (Physiolog. Begründg.) 2. In allen Perioden bleiben Überreste der früheren Stadien übrig. (Parallele mit modernen Kinderzeichnungen) [Blatt NN02 recto] [Das folgende Figurenverzeichnis umfasst 100 teils mit Tusche, teils mit Bleistift verfasste Positionen. Darüber hinaus finden sich Korrekturen im jeweils anderen Material.



[Zu Gaspard Monge siehe S. 650, Anm. 131.]

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Das Verzeichnis ist durch drei doppelte Tuschstriche in vier Hauptgruppen eingeteilt, die vermutlich einzelnen Textkapiteln zugeordnet waren. Die letzte Hauptgruppe (Fig. 66-98) ist nochmals in vier Untergruppen gegliedert, welche demnach im Text offenbar Unterkapiteln entsprachen.

Die Tatsache, dass die ersten drei Hauptgruppen vornehmlich in Tusche,

die vierte bis auf eine Position in Bleistift ausgeführt wurden, könnte darauf hinweisen, dass Sitte zwei Textvarianten des Großen Autographen – eine „Kurzfassung“ und eine „Langfassung“ – vorsah. Möglicherweise war für eine Langfassung des Textes ein viertes Kapitel angedacht, welches aber nicht ausgeführt wurde.] Fig. 1 – 6. Schlitten. 7.

Landsch. mit Schiff (assyr.)

8.

Dtto (Kinderzeichnung)

9.

Feldarbeiter mit Ochsen (ägyp.)

10. Soldaten (Kinderz.) 11. Der Hinterste davon 12. Kopf (ägyp.) 13. „

(Kinderz.)

14. Tisch (modern) 15. Kopf (Kladderatatsch) [sic!] ============================ 16. Wasser mit Lotos (äg.) 17. Bogenschütz (assyr.) 18. Einfüßler (äg.) 19. Gazellenkopf (assy.) 20. dtto (assy.) [Gazellenkopf] 21. dtto (assy.) [Gazellenkopf] 22. Stier (assyr.) 23. Löwe einen Stier zerreissend (assyr.) 24. dtto (etrurisch) [Löwe einen Stier zerreissend] 25. Minothaur (griech.) 26. „

(griech.)

27. Geflüg. Stier (italisch) 28. Viehtrieb (ägypt.) 29. Schreitende Fig. (äg.) Zehen 30. „





(assyr.) Autograph, ohne Titel (o.J.) – Zettelkonvolut

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31. „





(griech. Perseus)

32. „





(nordisch Siegfr.)

33. „





(Hymphi) [gemeint vermutl. Nymphe]

34. Griechische Vasenfigur 35. „





(assyr.)

36. Kopf mit Frontalauge (gr.) 37. „





(ägyp.)

38. Sonnenschirm (assyr.) Kräuseln 39. Gefäß (ägyp.) 40. Wagen mit Schutzdach (ägypt.) 41. „









(äg.)

============================ 42. Palastanlage (ägyptisch) 43. Landschaft mit Horiz. (assyr.) 44. Viehtrieb (assyr.) 45. „



(ägyptisch)

46. Brustbild (ägypt.) 47. „



(assyr.)

48. „



(griech.)

49. „



(ägypt.)

50. „



(assyr.)

51. Kopf (griech.) 52. „

(assyr.)

53. Kopf (italisch) 5[?] Kopf (ägyptisch) [unleserlich, vermutlich aber: 54] 5[?]. Pauluskopf (giottesk) [klein mit Tusche dazugeschrieben: 66] 55. Kniesitzer (ägyptisch) 56. „



(mittelalter[.])

(57) Erschlagener (ägypt.) 58. Geköpfte (assyr.) 59. Erschlagener (assyr.) 60. Vom Streitwagen fallend (assyr.) 61. Füße (S. Miniato) [mit Bleistift hinzugefügt:] Monreale Figur 62. Hand (Katakomben) 63. Hand (ägyptisch) 64. „

(Wallfahrtsbild)

65. Vogel (ägyptisch)

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[mit Bleistift hinzugefügt:] Text roman. Wasser Faltenwurf Kleider Textur ============================ [Die nachstehende Aufzählung ist – mit einer Ausnahme – in Bleistift ausgeführt, d.h. von Fig. 66 bis 99, wohingegen Fig. 100 mit Tusche geschrieben wurde.] 66. Venuskopf (Raphael, Farnasina) 67. Kopf Aug (pompej.) 68. Dantekopf (Ucello) 69. Grazienkopf (pompej.) 70. Thomaskopf (giottesk) 71. Hieronimusk[opf] (Gozzoli) 72. Kopf (Pollajuolo) 73. Figur (Signorelli) 74. “

(Signorelli)

75. „

Gewand (Cactagna)

____________________________ 76. Zweiräder (antik) 77. Zweiräder (antik) 78. Landschaft mit Archit. (pomp.) 79. „







(giottesk)

80. Alexanderschlacht 81. Sündfluth (Ucello) _____________________________ 82. Ellipse u. alte Kreispersp. 83. Bogenstellung _____________________________ 84. Perspectivconstr (Dürer) 85. «



86. «



(

«

)

(

«

)

87. «

(Pellerin)

88. Würfel

(Barbaro)

_____________________________ 89. [kleine Zeichnung eines symmetrisch-geometrischen Musters] 90. [zwei Striche; der erste vermutlich nur ein Verweisungsstrich, der zweite, die eigentliche Figur, eine Art begrenzte Strecke mit mehreren Abteilungsstrichen] Autograph, ohne Titel (o.J.) – Zettelkonvolut

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91. [zwei kleine perspektivische Miniaturzeichnungen; die erste ein Deltoid, bezeichnet a ; die zweite eine Pyramide, bezeichnet b.] 92. [drei verschieden weite Spitzwinkel en miniature – vermutlich Sehstrahlkegel –, in einem Punkt – vermutlich Augpunkt – zusammenlaufend] 93. [Miniaturskizze, einen volutenähnlichen Gegenstand – möglicherweise ein Ohr – in schematischer Verkürzung darstellend] 92. Fügers Gesichtslinien. 93. Fußconstruction 94. Linienfigur. 95. Gesichtsschema aus Jombart. 96. Ohr (aus Fialetti) 97. Bossenfigur (persp.) 98. Pauluskopf. (Fig. 66) [in Tusche] [Blatt NN02 verso] [Verso enthält das Blatt mehrere Literaturnotizen und Rechnungen von Sittes Hand.] B e c k e r , Charakterbilder aus der Kunstgesch, bei Seemann. Das Buch der Wilden v. J . P e t z h o l d t , 1861, ist das Schmierheft eines deutschen Colonisten-Jungen, in der Pariser Arsenalbibliothek als „Livre des Sauvages“ aufbewahrt und unter dem Titel „Manuscrit pictographique précédé d’une Notice sur l’Idéographie des Peaux-Rouges par l’Abbé Em. Domenech, Membre de l’Academie etc.[“] auf mehr als 200 facsimilirten Seiten auf Staatskosten veröffentlicht und der französischen Akademie zur Concurre[n]z um den Volney’schen Preis vorgeschlagen. 

[Heinrich Friedrich Füger (1751–1818) – ab 1764 beim Hofmaler Nicolas Guibal an der Kunstakademie in Ludwigsburg, ab 1769 in Leipzig bei Goethes Zeichenlehrer Adam Oeser ausgebildet und ab 1774 in Wien tätig – gilt als bekanntester und einflussreichster deutscher Maler des Klassizismus. Unter Fügers Leitung konzentrierte sich die künstlerische Ausbildung an der Wiener Akademie besonders auf den klaren Umriss der Figur.]



[Zu Jombert siehe „Autograph, ohne Titel (o.J.) – Teil II“, fol. 190 sowie Anm. 40 (S. 593).]



[Zu Fialetti siehe „Autograph, ohne Titel (o.J.) – Teil II“, fol. 236 sowie Anm. 96 (S. 635).]



[Becker, A. Wolfgang: Charakterbilder aus der Kunstgeschichte in chronologischer Folge von den ältesten Zeiten bis zur italienischen Kunstblüthe: Nach d. Darstellungen der vorzüglichsten Kunstschriftsteller. Leipzig: Seemann 1862 (2. Aufl. ebd. 1865, 3. ebd. 1869).]



[Petzholdt, Julius: „Das Buch der Wilden“ im Lichte französischer Civilisation: mit Proben aus dem in Paris als „Manuscrit pictographique Américain“ veröffentlichten Schmierbuche

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Gesch. d. ital. Malerei v. Crowe u. Cavalcasell. Leipzig Verlag von S. Hirzel 1870 Sindfluth von Uccello 3. Band S. 23 [Weiters befinden sich verso mehrere Rechnungen (Additionen und Multiplikationen), teils mit Anführung von verschiedenen Warenposten bzw. Dienstleistungen, teils ohne solche. Drei Additionen werden hier in Transliteration wiedergegeben.] Mal



45.00

Verg.



75.00

Bild



65.00

Tischl.



539.80

Wilh.

8.50

__________________________________ 733.30 erhalte

730.

__________________________________ bleibt Rest aus Eig.

3.30

dazu Baum …

1.50

Steinm.

3.60

Tapezier.

12.08

Anstr.

80.00

__________________________________ 100.48 + 730.48 __________________________________ Honorar



50

Transp.

30

__________________________________

910.48

eines deutsch-amerikanischen Hinterwäldler-Jungen. Dresden: Schönfeld 1861 (2. und 3. Aufl. ebd. 1862).] 

[Crowe, Joseph Archer/Cavalcaselle, Giovanni Battista: A new history of painting in Italy, from the second to the sixteenth century. 3 Bde., London: John Murray, 1864–1866 (Deutsche Ausgabe: Geschichte der italienischen Malerei … Deutsche Originalausgabe bes. von Max Jordan. 6 Bde., Leipzig: Hirzel 1869–1876).] Autograph, ohne Titel (o.J.) – Zettelkonvolut

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[Blatt NN03] II. Contur und Schattirung (Übung der Hand, des Auges, des Verstandes.) III. Einflüsse der Contrastwirkung im Auge auf das Zeichnen. IV. Zeichenvorlagen müssen von erster Künstlerhand. (Fehler der Stecher, Unmöglichkeit ein[e oder -er] Chronologie etc.) V. Einfluß der Vorstellung auf die Zeichnung. (Jeder zeichnet sich selbst, Leonardo [Wort unleserlich] Menschenaugen bei Thierbildern, männliche Becken bei weiblichen Figuren etc.10) VI. Alle Netze müssen anatomisch oder rhythmisch sein, nicht blos quadratisch. (Gesichtsnetz [ungesichert], senkrechte, horizontale etc.) VII. Entwicklung der Facsimilirung der Bleistift-, Kreide- und Pinseltechnik. VIII. Weitere Ausführungen der Geschichte des perspectivischen Zeichnens. IX. Monographisches über einzelne bedeutende Erscheinungen am Gebiethe des Zeichenunterrichtes.

  [Zu den optischen Kontrasterscheinungen siehe „Autograph, ohne Titel (o.J.) – Teil II“, S. 577f. sowie Anm. 18.]   [Zu der hier angesprochenen Darstellung von Menschenaugen bei Tierbildern siehe ebd., S. 582f. sowie Anm. 23, 25.] 10 [Zur Darstellung des menschlichen Beckens bei Leonardo siehe ebd., S. 602 sowie Anm. 54.]

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X. Recensionen und Kritiken der neuesten Erscheinungen, der Lehrpläne, Verordnungen etc. _________________________ [Schlussstrich] [Blatt NN03 verso]11 [Verso befinden sich sechs Bleistiftskizzen eines Kinderschlittens und der Vermerk „II. Periode“.] [Blatt NN04 recto] F e h l e r 12 1. alles perspectivisch Verkürzte und Verschobene im Sinne der Nichtverkürzung der Nichtverschiebung.

in Folge des Vorstellens in wahrer Gestalt.

2. Senkrechtstehen 4. Fortschreitende Zeichnung in immer größerem Maßstab, ebenso das kleinere Detail immer gerne zu groß.

in Folge Contrast.

3. Winkel zu groß

dtto [in Folge Contrast.]

5. Linien verkleinernd von oben nach unten zusammengezogen und Zeichnung verkleinert. [Dazu zwei Miniaturdarstellungen in Bleistift, welche das Gesagte veranschaulichen]13 6. Formen an Köpfen und alles Proportionale gleicht dem eigenen Körper. Mittel dagegen Schlechte Mittel, welche den Schwierigkeiten ausweichen, statt sie zu überwinden (Pausen, Quadratnetze, Messen, unklare Zeichnung etc.) [Blatt NN04 verso] [Verso befinden sich einige flüchtige Skizzen in Bleistift und eine Rechnung, ausgeführt in Tinte.] 11 [Die Bleistiftskizzen stehen in Zusammenhang mit den Ausführungen Sittes in „Autograph, ohne Titel (o.J.) – Teil II“, fol. 149–152 (S. 563–565).] 12 [Zu optischen Täuschungen und Fehlern siehe ebd., S. 573ff. sowie Anm. 14–16.] 13 [Dieselbe Zeichnung findet sich auch auf Blatt NN02 recto unter Fig. 92.] Autograph, ohne Titel (o.J.) – Zettelkonvolut

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[Blatt NN05 recto] I. Methode. Von Gegenständen, welche im Raume hintereinander zu liegen kommen, wird der für die Vorstellung wichtigere gezeichnet, der andere ausgelassen. Verwendung bei gleichen Gegenst. Anschluß an die Schriftmethode. Tiefe ignoriert. II. [Methode.] Die Conturen verdoppelt

entwickelt sich daraus als erster Versuch die Tiefe wirklich darzustellen. Entw. aus … [unleserlich, vermutlich: der vorig[en]] V[er]wend[un]g bei gleichen Gegenst.

III. Methode. Hintereinander verwandelt in Neben und Übereinander. IV. Methode. Das Modell so lange zurecht gerichtet bis alle Tiefendim. in der Bildebene liegen am Modell oder g[e]waltsam

Entwickelt sich aus Meth. III.

[Blatt NN05 verso] Trennung der Disciplinen 3.14 Die aus der Zeichenvorlage (flach oder plastisch) abgesonderten einzelnen Disciplinen, werden ohne Rücksicht auf die Zeichnende Kunst, der sie dienen sollen, vom Standpunkte des Spezialforschers aus vorgetragen (Darstellende-Analytisch[e] Methode; 3 Ebenen übereinander; Schattierungsmethode – Leonardo) Perspective durchaus schlecht. Einführung der Theorie in den Zeichenunterricht wie sie gegenwärtig angestrebt wird, ist dem Princip nach richtig, in der Ausführung entschieden verfehlt. Haß des „Bildchenmachens“ Quälen der Kinder mit linearen Mustern. Zu frühes Vorgreifen der Theorie. Unterdrücken des Talentes. Anatomie (Hyrtl).15

Diese Strömung gleichfalls mit allen Mitteln zu bekämpfen.

4. Niedertretung des Talentes durch den Schulgeist.

14 [Die Punkte 1 und 2 wurden bei einer Textredaktion gestrichen. Die gestrichene Passage lautet:

„1. Die Zeichenvorlage wird selbstständig, daher ein Streben nach Facsimilierung. (Diese Richtung ist zu verfolgen und mit allen Mitteln das Höchste zu leisten.)



2. Aus der Zeichenvorlage sondern sich die theoretischen Bestandtheile ab (Perspective, Anatom[ie] etc.) Dieß auf alle Weise zu verhindern.“]

15 [Zu Hyrtl siehe „Autograph, ohne Titel (o.J.) – Teil II“, S. 650 sowie Anm. 130.]

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[Blatt NN06] Noten 1. abgebildet in: Layard: The monuments of Nineveh. I. Pl. 6716 2. abgeb. Layard, II. Pl. 12.17 3.) abgeb. in: Prisse d’Avennes18 4.) abgeb. in: Prisse d’Avennes 5.) Cartes géographiques, Plans topogr. et Vues de différentes villes tirès des ouvrages topographiques de M. Merian.19 6.) Siehe: Layard: The monuments of Niniveh I. Pl. 9–11, 13–14, 18, 21–23, 26–28, 31–32, 57, 64, 72, 75, Pl. II. 33–34, 42–43, 49, 68. 7.) Siehe z.B. Benndorf: Vasenbilder. T. XII,20 und: Museo Etrusco al Vaticano. II. Bnd.Tv. XIV, Tv. XLV, Tav. LXI, LXVI, LXVIII, LXXV. 8.) J. W. Müller: Das Einhorn vom geschichtlichen und naturwissenschaftlichen Standpunkt betrachtet. Stuttgart 1852.21 9.) Layard I. P. 20, 58, 66, 22, 26, 29. 35. 42. 60 10.) Layard I. P. 44. 49. 50. 11.)22 Es würde sich nur mehr fragen ob u n s e r Einhorn gerade der mythische Sprößling des assyr. Rindes ist und wann und von wem zuerst diese einhörnigen Stierbilder mißverstanden wurden. Die mittelalterlichen Sagen gehen auf P l i n i u s zurück, der es als Pferde ähnliches Thier beschreibt. Bei A e l i a n 23, A r i s t o t e l e s und andern ist es bereits nach Indien verwie-

16 [Layard, Austen Henry: The Monuments of Niniveh. From drawings made on the spot. London: J. Murray 1849.] 17 [Layard, Austen Henry: A second series of the monuments of Niniveh. Including bas-reliefs from the Palace of Sennacherib and bronzes from the ruins of Nimroud. From drawings made on the spot, during a second expedition to Assyria. London: J. Murray 1853.] 18 [Zu Emile Prisse d’Avennes siehe Sitte „Die Ornamentik des Islam (1889)“, S. 323 in diesem Bd., Anm. 2.] 19 [Zu Merian siehe „Autograph, ohne Titel (o.J.) – Teil I“, S. 485, Anm. 18.] 20 [Benndorf, Otto (Hg.): Griechische und Sicilische Vasenbilder, 4 Bde. Berlin: Guttentag 1869–1883.] 21 [Zu Müller siehe „Autograph, ohne Titel (o.J.) – Teil I“, S. 468f., Anm. 11.] 22 [Vorliegendes Textfragment ist in ebd., S. 471–473, fast wörtlich übernommen.] 23 [Mit dem Hinweis auf Aelian bezieht sich Sitte auf den um 180 n. Chr. lebenden römischen Sophisten und Naturschriftsteller Claudius Aelianus. Seine in griechischer Sprache verfassten Werke Vermischte Geschichten (Variae historiae, 14 Bücher) sowie Tiergeschichten (De natura animalium, 17 Bücher) sind fantasievolle, aus Vorgängerwerken kompilierte Sammlungen von Kuriositäten aus dem Reich der Natur und der Tierwelt. (Gesamtausgabe Autograph, ohne Titel (o.J.) – Zettelkonvolut

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sen, so wie von seinen neuesten Erforschern nach Centralafrica, d. h. als ächtes Fabelthier immer in die terra incognita der jeweiligen Geographie. Die erste Nachricht gibt (nach Müller24) K t e s i a s , der um 400 vor Chr. als Arzt am Hofe des persischen Königs A r t a x e r x e s M n e m o n lebte. Diese Σπυρ führt schon in die Assyrischen Gegenden. Noch deutlicher, eine andere. Im Alten Testament heißt nämlich das Rind, welches hier im Bibeltexte ganz dieselbe Rolle spielt wie das Rind in den assyrischen Bildern, R ê m , und dieses Wort, wird in der Septuaginta bereits mit µονοκεροσ [an den Setzer: das Epsilon mit ´] [monokéros] (Einhorn) übersetzt. Es scheinen also die nächsten Nachfolger und Nachbarn der Assyrer diejenigen gewesen zu sein, welche deren Zeichnungsmethode mißverstanden und dadurch zu dieser Mythenbildung Anlaß gegeben haben. Diese Annahme findet auch noch einen Beleg an den Monumenten nämlich an den [Blatt NN07] Stierkapitälchen auf den A c h ä m e n i d e n Gräbern. Die Säulen und die beiderseits am Kapitäl angebrachten Stierköpfe sind nämlich im Hochrelief ganz erhaben gearbeitet. Hier fällt also die Schwierigkeit einer perspectivischen Zeichnung gänzlich weg und der alte assyrische Künstler hätte hier gewiß zwei Hörner angebracht. Der persische Künstler aber der nachdem alles Land erobert war die bereits weitläufig entwickelte alte assyrische Kunst vorfand und mehr prunkend als mit Verständniß nachahmte, setzte den Stieren nicht entsprechend der Natur sondern in bereits mißverstandener Nachahmung der älteren flachen Zeichnungen ein einziges Horn in die Mitte der Stirne. Von hier scheint also der Anstoß ausgegangen zu sein. Die letzten Rudimente des ursprünglichen Rindes, welche sich an unsern modernen Einhörnern noch finden, sind, bei dem sonst ganz pferdeähnlichem Thiere, die gespaltenen Klauen und der Rinderschwanz. Das Horn hat sich in einen geraden Narvalzahn verwandelt, indem diese Narvalzähne lange Zeit von den Apothekern als präparirtes Einhorn als Mittel gegen Gifttränke verkauft wurden. Bei ganz gewöhnlichen Schildmalereien auf

der Werke: Aelianus, Claudius: De animalium natura libri XVII, varia historia, epistolae, fragmenta. Hg. von Rudolph Hercher, 2 Bde. Leipzig: Teubner 1864–1866. Unveränderter Nachdruck De animalium libri XVII. Graz: Akademische Druck- und Verlagsanstalt 1971).] 24 [Siehe Anm. 21.]

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Apotheken ist das Thier zuweilen vollständig Pferd und dann ist das Vorhandensein des Hornes der letzte Überrest des stammväterlichen Rindes und das Vorhandensein nur eines einzigen Hornes die bis auf [Blatt NN08] den heutigen Tag erhaltene Spur einer uralten Unbehülflichkeit in der Kunst zu zeichnen. 12.) Description d. … A. vol. III Pl. 51, vol IV Pl 6 u. Pl. 30. 13.) „Zacharias schreibt Johannes“ in S. Maria Novella „Maria betritt die Stufen des Tempels“ ebendaselbst.25 14.) „Geburt Johannes des Täufers“ zu S. Maria Novella. Der stark steigende Fußboden ist hier sehr glücklich durch Verdeckung mit vielen Figuren in seiner sonst mißlichen Wirkung unschädlich gemacht. „Erscheinung des Engels vor Zacharias“ ebenda. 15.) „Tod des H. Franciskus“ „Wahl des Herodes“ etwas über der Hälfte befindet sich der Horizont in: „S. Giovacchino“ in S. Maria Novella und in „Der Geburt Maria’s“ ebenda. 16.) Über einen sehr interessanten Streit wegen Wahl der Horizonthöhe zu einem Relief ober das Portal des Mailänder Domes siehe: F i o r i l l o „Kleine Schriften“ I. Bnd. X. „Über die Kenntniß der alten Künstler von der Perspective und ihre Wiederauflebung in unserer Zeit“.26 17.) So bei den niederländischen Landschaftern ein Theil Landschaft und zwei Theile Himmel, später durchschnittlich immer noch mehr Himmel im Verhältniß zur Landschaft. Bei P. Veronese „Magdalena Christus die Füße salbend“ und „Christus im Hause des Pharisäers.27 Ähnlich bei Titian und seinen Zeitgenossen. 25 [Die im Folgenden genannten Fresken gehören zu Domenico Ghirlandaios (1449–1498) um 1490 geschaffener Chordekoration in S. Maria Novella in Florenz, wo Szenen aus dem Leben der Hl. Maria, des Hl. Johannes des Täufers und anderer Heiliger dargestellt sind.] 26 [Zu Fiorillo siehe „Autograph, ohne Titel (o.J.) – Teil I“, S. 530, 547 sowie Anm. 79, 121.] 27 [Beide Bilder Veroneses (1528–1588) sind von einem tief liegenden Horizont gekennzeichnet. Beim erstgenannten Bild dürfte es sich um die „Grablegung Christi“ (Verona, Museo di Castelvecchio) handeln; das „Gastmahl im Hause des Pharisäers Simon“ befindet sich in Turin (Königlich Savoysche Pinakothek).] Autograph, ohne Titel (o.J.) – Zettelkonvolut

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18.) Mantegna Kuppeluntersicht?28 19.) H a n s V r e d e m a n d e V r i e s geboren zu Leenwarden in Friesland 1527, (nach Immerzeel) gestorben 1588. Sein bei H . H o n d i u s erschienenes Perspectivbuch dürfte das angebliche Architekturwerk sein, von dem v . M a n d e r angibt, daß er es 1604 zu Antwerpen mit einen Söhnen Paul und Salomon herausgab.29 [Blatt NN09 recto] 20.) Siehe Helmholtz physiologische Optik30 Wundt physiologische Beiträge.31 21.) F i o r i l l o 3 2 Kleine Schriften I. B[a]nd 1803 X. Über die Kenntniß der alten Künstler von der Perspective und ihre Wiederauflebung in unseren Zeiten. 22.) In interessanter Weise hat sich die Frührenaissance eine Vorstellung darüber aufgebaut, in der villeicht manches Richtige enthalten ist.33 Nach V a s a r i war P e r u z z i der erste unter den Neueren, welcher Theaterdecorationen ausführte. Nach E g . D a n t e h at S e r l i o die Regeln der Perspective so beschrieben wie er sie von P e r u z z i erlernt. Nach L o m a z z o hat S e r l i o gar schon den Nachlaß P e r u z z i ’ s als eigenes 28 [Sitte bezieht sich hier auf Mantegnas (1431–1506) berühmtes, 1474 fertig gestelltes Deckenbild in der Camera degli Sposi im Palazzo Ducale in Mantua.] 29 [Zu Hans Vredeman de Vries siehe „Autograph, ohne Titel (o.J.) – Teil I“, S. 515 sowie Anm. 45; zu Carel van Mander ebd. sowie Anm. 46.] 30 [Zu Helmholtz siehe Sitte „Über den praktischen Wert der Lehre vom goldenen Schnitt (o.J)“, S. 439 in diesem Bd., Anm. 13, sowie ders. „Über Farbenharmonie (1900)“, S. 388 in diesem Bd., Anm. 27. Siehe ebenfalls „Autograph, ohne Titel (o.J.) – Teil II“, S. 578f., Anm. 18.] 31 [Zu Wundt siehe ebd., S. 578, Anm. 18.] 32 [Johann Dominicus Fiorillo (1748–1821), der seine künstlerische Ausbildung in Prag, Bayreuth, Rom und Bologna erhielt, war ab 1781 als Zeichenmeister an der Universität Göttingen tätig, wo er ab 1799 als einer der ersten Professoren für Kunstgeschichte in Deutschland lehrte. Zu seinen publizierten Schriften gehören u.a. Geschichte der zeichnenden Künste von ihrer Wiederauflebung bis auf die neuesten Zeiten, 6 Bde. Göttingen: Rosenbusch 1798; Geschichte der zeichnenden Künste in Deutschland und den vereinigten Niederlanden, 4 Bde. Hannover: Hahn 1815–1820. Sitte bezieht sich hier auf den Aufsatz Ueber die Kenntniß der alten Künstler von der Perspective und ihre Wiederauflebung in neuern Zeiten, der sich in Fiorillos Werk Kleine Schriften artistischen Inhalts, Bd. 1. Göttingen: Dieterich 1803, S. 288–329, befindet.] 33 [Die folgende Passage steht inhaltlich mit „Autograph, ohne Titel (o.J.) – Teil I“, S. 514f., in Zusammenhang; hier auch Hinweise auf die im Textpassus genannte Literatur.]

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Werk herausgegeben. Es kann sein, daß die Bühnendecorationen wie sie in Holzschnittbildern in dem Werke des S e r l i o vorkommen die Erfindungen des P e r u z z i sind. Ganz dieselben Bilder kommen vor in dem Perspectivbuch des B a r b a r o und bei Pivius.34 Es sind drei Bilder. Die scena tragica stellt einen prachtvollen Stadtplatz, ein Forum dar. Die scena comica ist das Perspectivbild eines gewöhnlichen Stadttheiles. Die scena satirica ein Waldinneres. Alle drei sind schon so richtig perspectivisch gezeichnet, daß sie in dieser Beziehung die Leistungsfähigkeit der antiken Künstler schon um ein gutes Stück überragen. 23.) Sirigathi35 … [Blatt NN09 verso] [Folgende Passage ist im Autographen komplett gestrichen] die endliche Erreichung einer deutlichen und sicheren Erkenntniß des inners­ ten Zusammenhanges gelingen. Die in dieser neuen Übergangsphase zum perspectivisch richtigem Zeichnen und entwickelten Verkürzungen können zwanglos zu einer dritten Gruppe vereinigt werden. Die Methoden nach welchen hiebei, wie es scheint nicht systematisch sondern mehr unbewust vorgegangen wurde sind im wesentlichen zwei. Zunächst die ältere Methode des Zusammenstellens der Zeichnung einer neuen Stellung aus zwei schon vorräthigen. Es ist derselbe Vorgang nach dem schon früher die vollen Verkürzungen aus zwei entgegengesetzten Frontalansichten zusammengestellt wurden, welche Methode sich unmittelbar der ältesten Art eine Figur aus einzelnen frontalen Ansichten zusammenzustücken anschließt. Ihre Wirksamkeit reicht bis ins 15te Jahrhundert herauf. Aus dieser Zeit einem Nachfolger Giotto’s angehörig ist das in Fig 51 analysierte Beispiel. [Blatt NN10] [fol.] 62.36 Ähnlich ist das Auge in Fig. 42 eines angeblichen Danteportraits von P. U c e l l o . Es ist dies nicht die gewöhnliche und allgemein bekannte Art des Profilauges,

34 [Zu Barbaro siehe „Autograph, ohne Titel (o.J.) – Teil I“, S. 541f., Anm. 103. Mit Pivius ist vermutlich Walther Hermann Rivius (Ryff) gemeint. Zu Rivius siehe ebd., S. 515, Anm. 44.] 35 [Zu Sirigatti siehe ebd., S. 509, Anm. 34.] 36 [Zur Darstellung des Auges bei Ägyptern und Assyrern siehe „Autograph, ohne Titel (o.J.) – Teil I“, S. 490.] Autograph, ohne Titel (o.J.) – Zettelkonvolut

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wie sie bei C i m a b u e , G i o t t o und seiner Schule üblich ist. Die giotteske Art stimmt dem Stadium der perspectivischen Zeichnung nach mit der antiken Art von Fig. 41 überein.Auch die Giottisten zeichnen den Theil des Auges, der in der Profilansicht zwischen Stern [„Stern“ ungesichert; ev. auch „Kern“] und äußeren Augenwinkel in Verkürzung noch sichtbar bleibt, unverkürzt also viel zu lang, wie es der Frontalansicht des Auges entspricht. Dabei auch häufig die Augenliederränder in derselben Weise geführt wie sie es bei ganz von vorne gesehenen Augen zeichnen. Gegen diese Art des Profilauges ist das in Fig. 42 dargestellte ein weiterer merkwürdiger Fortschritt. Das Dreieck des Auges ist nämlich bereits richtig gezeichnet, aber das noch kleinere Detail im Sinne der Frontalansicht verfehlt. Den Stern conturirt nicht eine Ellipse, sondern ein Kreissegment und die Linie, welche den Ort darstellt, wo sich das obere Lied in die Aughöhle einziht, ist unrichtigerweise, aber wieder im Sinne der Frontalansicht in der Mitte ihrer Länge bogenförmig erhöht. Im Ganzen genommen können diese Formen als ein drittes Stadium der Entwicklung zusammengefaßt werden, welches jedoch von den Ägyptern und Assyrern bereits nicht mehr erreicht wurde. Als ein viertes Stadium in der Zeichnung des von der Seite gesehenen Auges könnte endlich die richtige persptectivische Zeichnung angesprochen werden. Diese Art ist wirklich an dem Kopf einer der Grazien aus Pompeji in Fig. 43 und ist bei allen neueren Meistern seit der endlichen Erfindung der richtigen Theorie der Perspective zu sehen. Fortschritte sind dann nur mehr in [der] Darstellung des kleinsten anatomischen Details von Hautfalten, Wimperhaaren Glanzpunkten, Reflexlichtern und besonders in Betreff der scheinbaren Lage der Pupille zu verzeichnen. [Blatt NN11 recto] [fol.] 65. [Verso trägt das Blatt eine Tabelle und 36 Unterschriftenproben bzw. Monogramme von Camillo Sitte.]

Zeichnung bemerkt wird, dieß ist der Keimpunkt zur künftigen Perspec-

tive. Nun beginnt dieses mühevolle Suchen bis es endlich den Künstlern immer deutlicher klar wird, daß wir die Gegenstände nicht so sehen wie sie sind und wie wir sie uns denken, und daß auch die Malerei sie nicht so darstellen muß, wie sie sind oder wie wir sie im Vorstellungsbilde uns denken; sondern wie wir sie sehen d.i. perspectivisch. Es handelt sich nämlich darum mit Hülfe der Malerei auf der Netzhaut ein nahezu eben solches Bild hervorzubringen wie dieß der darzustellende Gegenstand erzeugen würde. Ist dieß gelungen, so legt sich der Verstand, in seiner

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unwillkürlichen Thätigkeit, die beiden in der That identischen Netzhautbilder auch ganz in gleicher Weise zurecht, bildet aus ihnen dieselbe Raumvorstellung und der schließliche Erfolg ist der, daß Gemälde ganz denselben Eindruck machen können, als ob natürliche Gegenstände gesehen würden, wie dieß besonders bei guten Panoramen bekanntlich wirklich der Fall ist.

Also in der merkwürdigen von Natur aus gegebenen [der Satz findet seine

Fortsetzung auf Blatt NN12 bzw. fol. 66.] [Blatt NN11 verso] [Einige Worte der rechten Spalte sind unlesbar.] Landschaftlicher Grund I Periode von oben ohne Horizont kein Himmel. Gewänder Falten ?

Bäume

Wasser

Doppelte Gegenstände Architektur

Ungleiche Gegenstände

dünn Äste nur rechts und links, unverdeckt.

schriftartig, conventionell

umgelegt rückwärtige Wiederholung ausgelassen

Thierhörner Ohren Füße ausgelassen

Grundsatz im Modell schon allen Werkes [unleserlich, möglicherweise auch Verkü[rzungen]] aus dem Wege. III Methode Neben, Über des Getrennten IV Umklappung [d]es Zusammenhängenden an der Figur.

dtto Mon reale

dtto

umgelegt Rückwärtiges Gleiches durch Wiederholung der Conturen

Wiederholung der Conturen

Grunds: richtige Herstellung I Methode. Die Elemente zweim. unverkürzt Nachbarstellung … [zwei Worte unlesbar] II Methode Die Elemente setzen sich unmittelb[ar] mit dem Richtigen zusammen.

III Periode Horizont rückt immer tiefer herab. Gewandfalten noch nicht leise scorzirt.

Reste von dtto

umgeklap[p]te Wellen.

Rückwärtiges durch weiter abstehende Wiederhlg der Conturen und nach aufwärts od. abwärts stehend endlich auch kleiner

I. Meth dtto I früh II. [Meth] dtto II frühe III [Meth] Zusammenschieben zum Behufe verkürzter Gruppen. Antike Literatur

IV Periode Horizont anfangs unterm Bild mit Vorliebe dann dort wo der Beschauer. endlich Kritik möglich dazu nicht gekommen.

noch Reste von richtig persp. dtto in den dünnen Bäumen bei Raphael.

Richtige Verkleinerung Verschwindungspunkt

Constructives Zeichnen. Literatur

alles unschattirt II Periode von oben mit Horizont ornamentale Falten alles unschattirt

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[Im Anschluss daran Varianten des Namenszuges bzw. des Monogrammes von Camillo Sitte.] [Blatt NN12] [fol.] 66.37 [Fortsetzung von Blatt NN11 recto] Construction des Auges und in den physiologischen Vorgängen des Sehactes sind die Schwierigkeiten des perspectivischen Zeichnens schon mit enthalten, es ist aber Malerei und Zeichenkunst überhaupt nur möglich in Folge eben dieser Einrichtung des Auges.

Nur weil das Auge selbst schon ein Apparat ist, welcher die drei Dimen-

sionen des Raumes auf die zwei des perspectivischen Netzhautbildes reducirt, nur deßhalb kann die Malerei dasselbe bereits in ihre Bildfläche vollbringen. Nur deßhalb weil das Sehen von Natur aus schon ein perspectivisches ist kann die Zeichenkunst ebenfalls eine perspectivische sein.

Würde das Auge nicht nach der ihm eigenen Methode eine Wahrneh-

mung des uns umgebenden Raumes vermitteln, wäre es nicht selbst ein Raum[-]Wahrnehmungsapparat, der mit nur zwei Raumdimensionen arbeitet, sondern mit allen dreien, dann wäre wohl eine Plastik möglich, Zeichenkunst und Malerei würden [hingegen] überhaupt gar nicht existiren. Für einen Sehapparat, der mit allen drei Dimensionen des Raumes arbeitet, wäre ein Gemälde, eine Photographie gerade so unverständlich, so eigentlich [Blatt NN13] [fol.] 67 gar nicht vorhanden, wie es beim Tastsinn der Fall ist. Der Tastsinn ist ein solcher Raumsinn von drei Dimensionen. Mit Hülfe dieses Sinnes können daher keine glatten Bilder erkannt werden sondern höchstens Relief, also principiell nur solche Darstellungen, welchen selbst alle drei Dimensionen des Raumes zukommen.

In der Construction unseres Auges sind also Möglichkeit und Schwierig-

keiten der Zeichenkunst schon von Natur aus gegeben, und es treten die hieraus entspringenden Zeichenfehler deßhalb bei allen Anfängern mit solcher Regelmmäßigkeit auf, wie unter der Nöthigung eines Naturgesetzes, weil ein solches Gesetz in der That den Sehact jedes Zeichners in gleicher Weise 37 [Die auf den Blättern NN12 und NN13 wiedergegebenen Gedanken finden sich in veränderter Form in „Autograph, ohne Titel (o.J.) – Teil I“, S. 523f.]

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beherrscht. Es ist daraus ferner ersichtlich, warum Kinderzeichnungen und die ältesten primitivsten Zeichnungen aller Völker in so auffal[len]der Weise übereinstimmen und es erübrigt nun nur mehr aus der hiedurch gewonnenen Einsicht noch diejenigen Grundsätze für den Zeichenunterricht abzuleiten, welche somit ebenfalls schon von der Natur unwandelbar vorgezeichnet sind und die einzig richtigen unumstößlichen Grundpfeiler desselben bilden. [Blatt NN14]38 J. Cousin, dessen, schon erwähntes, Werk 1671 zu Paris erschien, lebte von 1530–1589.39 Er wird von Franzosen und Niederländern hoch gerühmt und der Leonardo oder Dürer Frankreichs genannt, obwohl er nur eine Art der in dem schon 1528 erschienenen Buch Dürers ausnützt, und zwar in mehrfach unvollkommener Weise. Dennoch verdanken die französischen Zeichner unzweifelhaft der fleißigen Benützung seiner Angaben sicher einen guten Theil ihrer Gewandtheit und Sicherheit. [Blatt NN15 recto]40 wird. Um das Bild dieser Formbildung nicht aufzulösen ist es nothwendig hier weiter in neuere Zeiten heraufzurücken.

Eine dritte wieder um ein deutliches Stück weiter entwickelte Form des

Profilauges ist an dem einer pompejanischen Malerei entnommenen Kopf von Fig. 47 zu sehen. Sie besteht darin, daß der Stern bereits verschmälert, wenn auch nicht immer richtig elliptisch abgebildet wird und schon am äußern Rand des im Ganzen ebenfalls verkürzten Auges steht; aber noch immer ist die stärkere Krümmung des obern und untern Augenliedes falsch und eine Entlehnung aus der ursprüngllichen Frontalansicht. Diese Art kommt auf späteren griechischen und römischen Bildern vor.

38 [Die folgende Passage steht inhaltlich mit „Autograph, ohne Titel (o.J.) – Teil II“, S. 610f. in Zusammenhang.] 39 [Zu Cousin siehe „Autograph, ohne Titel (o.J.) – Teil II“, S. 599, Anm. 52] 40 [Das Blatt ist oben abgeschnitten, deshalb beginnt es mit einem unvollständigen Satz bzw. Satzende, vielleicht als Anschluss an Blatt NN11 nach dem Satz: „Im Ganzen genommen können diese Formen als ein drittes Stadium der Entwicklung zusammengefaßt werden, welches jedoch von den Ägyptern und Assyrern bereits nicht mehr erreicht wurde“ bzw. als Einschub nach demselben.] Autograph, ohne Titel (o.J.) – Zettelkonvolut

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[Blatt NN16 recto] [Blatt oben beschnitten, daher unvollständiger Satz:] Folge … [unleserlich] Schlüsse ist eine so erstaunlich schnelle und sichere, daß uns z.B. beim Auf und Abgehen in einem Zimmer der Raum stets als der ganz gleiche unbewegliche erscheint, während sich doch sein perspectivisches Netzhautbild bei jedem Schritt verändert.

Ja, diese Veränderung wird ohne ganz besondere Aufmerksamkeit auf

die perspectivische Wandelbarkeit des Bildes gar nicht einmal wahrgenommen. Gewiß haben sehr viele [Blatt NN16 verso] [Liste von Personennamen, tw. mit Adressen; in Lateinschrift und Bleistift] Falke Ferd. Stamm

Marieng[asse]. 4.

Fröhlich

Büteng. [ungesichert] 10.

Hagel

Museum

Schwarz Prohaska

Habsburgerg. N. 1.

Schestag

Museum

Mertens Oelzelt Gr Fries August

III, Heumarkt 11.

Gr. Fries Moritz Reichsgraf.

Wipplingerstr. 30.

[Blatt NN17] [Aus einem Manuskript ausgeschnittener Satz] Wenn das Gewand aus gemustertem Stoff besteht und das Muster in geraden Linien über alle Falten hinwegstreicht, oder wenn die Falten in geradlinigen parallelen Streifen sich über die ganze Gewandfläche hinziehen.

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[Blatt NN18] [Aus einem Manuskript ausgeschnittener Satz] Eine ganz wunderbare Lösung dieser schwierigen Aufgabe hat Michelangelo in seinem schlafenden Adam in der Sixtina ausgesonnen.41 Die ganze Gruppe ist der Gruppe des Ghiberti auf seiner berühmten Bronzethüre ähnlich, welche den gleichen Gegenstand, die Erschaffung der Eva behandelt.42 Bei Ghiberti ist die Stellung der Beine des schlafenden Adam noch im Sinne der altherkömmlichen Manier. Bei Michelangelo liegt die Figur nur wenig anders und doch ist der Unterschied ein ungemeiner. [Blatt NN19] [oben beschnittene Manuskriptseite] In den ausschließlich der zweiten Periode angehörenden Werken sind es nur ganze Verkürzungen, deren Bildung vorgenommen wird, neben welchen nirgends der Versuch zur Zeichnung von Halb- oder Viertel-Profilen gewagt wird. Auch kommen noch nirgends Architekturen vor mit scheinbar ansteigenden oder fallenden Linien und nur die Erkenntniß des Horizontes scheint in einigen assyrischen Bildern aufzudämmern. Alle diese weiteren Errungenschaften am Gebiethe des perspectivischen Zeichnens gehören einer weit späteren Zeit an, deren Leistungen in dem Folgenden zu einer dritten Gruppe vereinigt werden, weil die Grundgedanken dieser Bildungen, wieder in einigen wenigen Regeln zusammengefaßt werden können. Unter Annahme dieses Eintheilungsgrundes reicht die dritte Periode bis zu der Zeit, in welcher es gelingt, das Räthsel der Perspecive endlich zu lösen, also bis zu der Zeit richtiger perspectivischer Zeichnungen einerseits und seiner richtigen theoretischen Einsicht in das Wesen der Perspective andererseits.

41 [Zu Michelangelos Ausmalung der Sixtinischen Kapelle im Vatikan siehe „Autograph, ohne Titel (o.J.) – Teil I“, S. 520, Anm. 62.] 42 [Zu Ghibertis Paradiesestür des Baptisteriums in Florenz siehe „Autograph, ohne Titel (o.J.) – Teil I“, S. 517, Anm. 49.] Autograph, ohne Titel (o.J.) – Zettelkonvolut

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Bildnachweis

S. 11:

Sign. SN: 399–598.

S. 15, 29, 63 (rechts unten): Sammlung der Abteilung Kunstgeschichte der TU Wien. S. 19:

Fliedl, Gottfried: Kunst und Lehre am Beginn der Moderne. Die Wiener Kunstgewerbeschule 1867–1918. Salzburg, Wien 1986, S. 72.

S. 21:

Mittheilungen des K. K. Österreichischen Museums für Kunst und Industrie, Bd. II (1867–1869), Heft 25, S. 18.

S. 22:

Mittheilungen des K. K. Österreichischen Museums für Kunst und Industrie, Bd. I (1865–1867), Heft 1, S. 28.

S. 25:

Mittheilungen des K. K. Österreichischen Museums für Kunst und Industrie, Bd. I (1865–1867), Heft 10, S. 145.

S. 28:

Mittheilungen des K. K. Österreichischen Museums für Kunst und Industrie, Bd. V (1874–1875), Heft 105, S. 105.

S. 32:

Mittheilungen des K. K. Österreichischen Museums für Kunst

S. 35:

Janitschek, Hubert (Hg.): Leone Battista Alberti’s kleinere

und Industrie, Bd. IV (1872–1873), Heft 87, S. 247. kunsttheoretische Schriften  (= Quellenschriften für Kunstgeschichte und Kunsttechnik des Mittelalters und der Renaissance, Bd. 11). Wien 1877, Frontispiz.  S. 38:

Mittheilungen des k. k. Österreichischen Museums für Kunst

S. 46:

Sign. SN: 200–456.

S. 48, 49:

Sign. SN: 259–335.

S. 56, 57:

Sign. SN: 258–336.

S. 61, 62, 63 (links):

Sign. SN: 403–330.

S. 63 (rechts oben):

Wagner, G. M. (Hg.): Albrecht Dürer. Vier Bücher von

und Industrie, Bd. IV (1872–1873), Heft 88, S. 283.

menschlicher Proportion. Faksimile der Erstausgabe. London 1970, o. S. S. 66:

Sign. SN: 175–364/4.

S. 71:

Koch, Julius: „Kamillo Sitte“, in: Zeitschrift des Österr. Ingenieur- und Architekten-Vereines, Jg. 55 (1903), Heft 50, S. 671.

S. 78:

Rosenauer, Artur: „Moriz Thausing und die Wiener Schule der Kunstgeschichte“, in: Wiener Jahrbuch für Kunstgeschichte, Bd. 36 (1983), S. 140.

S. 82:

Springer, Elisabeth: „Biographische Skizze zu Albert Ilg“, in: Polleroß, Friedrich (Hg.): Fischer von Erlach und die Wiener Barocktradition. Wien, Köln, Weimar 1995, S. 344.

S. 155–313:

Sign. SN: 425–585.

S. 358:

Sign. SN: 195–474.

S. 423–427:

Sign. SN: 403–330.

Bildnachweis

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683

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S. 428:

Sign. SN: 180–363/1.

S. 434:

Sign. SN: 201–457/1.

S. 442:

Sign. SN: 198–454/4.

S. 455–479:

Sign. SN: 259–335.

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Camillo Sitte – Schriften zu Kunsttheorie und Kunstgeschichte Bildnachweis

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Namenregister

Abel, Josef 642

Aristoxenos 529

Aberli, Johann Ludwig 591

Armenini, Giovanni Battista 549

Achilles 345, 346

Artaxerxes I., König von Persien 187, 192

Aelianus, Claudius 471, 669, 670

Artaxerxes Mnemon 472

Aeneas 345

Artus 347

Aeschylos (Aeschylus) 531, 544

Asam, Cosmas Damian 520

Aëtion 352

Assurnasirpal II., König von Assyrien 482

Agamemnon 345

Athenadoros 334

Agatharchos 531

Attila, König der Hunnen 343

Agesandros 334

Aubert, Hermann Rudolph 26, 418, 574

Agrippa, Marcus 105

Aue, Hartmann von der 347

Ahl, Rudolph August Wilhelm 532

August der Starke, Kurfürst von Sachsen

Alberti, Cherubino 520 Alberti, Leon Battista 22, 35, 39, 52, 53, 55, 77, 96, 145–148, 150, 501, 513, 524, 525, 529, 534, 541, 542, 545, 548, 554–559, 561,

636 Augustus, Kaiser des römischen Reichs 163, 265, 294, 297, 309, 311, 334 Aurangseb 463

593, 601, 604 Albertinelli, Mariotto 333

Bach, Karl Theodor 359

Albrecht, Erzherzog von Österreich-Teschen

Bacon, Roger 22, 528

30, 316

Baldinucci, Filippo 589

Alkuin (Alchin, Alckin) 55, 95, 529, 540

Barbari, Jacopo de’ 513

Alexander der Große 212, 225, 260

Barbaro, Daniele 97, 541, 547, 548, 552–554,

Alfani, Orazio 634 Alhazen (Abu Ali al-Hasan Ibn Al-Haitham) 55, 527, 528, 540, 545

559, 663, 673 Bauer, Franz Lukas 590 Bäumer, Wilhelm 417

Allori, Alessandro 631

Baumgarten, Fritz 103

Alt, Theodor 402

Becker, A. Wolfgang 664

Amenemet 452

Beham, Hans Sebald 97

Amenophis III., König von Ägypten 164

Belcredi, Richard Graf 45

Amman, Jost 632, 641

Bellotto, Bernardo (genannt Canaletto) 524

Anaxagoras 531, 544

Belting, Hans 86

Antoninus Pius, römischer Kaiser 297

Benndorf, Otto 40, 104, 351, 370, 381, 669

Apelles 352

Bergmann, Carl 26

Apollonios 547

Berlioz, Hector 519

Aquila, Pietro 566

Besnier, Maurice 106

Arcesius 277

Beyersdorfer 39

Archimedes 547

Bissing, Friedrich Wilhelm Freiherr von 94

Argelios 311

Blaas, Carl von 405

Aristarch 547

Bloemaert, Abraham 641

Aristion 375

Blum, Hans 96

Aristoteles 382, 471, 493

Blume, Ludwig 41, 67, 341, 347–350 Namenregister

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Boccaccio, Giovanni 96

Carriere, Moritz 436

Böcklin, Arnold 405

Carsten, Asmus Jakob 489, 638

Bodmer, Johann Jakob 343

Carus, Carl Gustav 436

Boetticher, Carl 263, 364

Caspari, Otto 436

Böhm, Joseph Daniel 16, 36, 314

Cassirer, Ernst 86

Bohn, Richard 374

Cataneo, Pietro 548

Bonfini, Antonio 559

Cato (Porcius Cato), Marcus 305

Bonington, Richard Parkes 386

Cavalcaselle, Giovanni Battista 665

Boniveri, Domenico 565

Cellini, Benvenuto 30, 316, 317, 631

Borchardt, Ludwig 94

Cennini, Cennino 542, 589

Borgo, Pietro dal 547, 548

Cerceau, Jean-Antoine du 548

Bos, Cornelis 566

Cestius 310

Bosse, Abraham 649

Chaefrê (Chefren), König von Ägypten 153

Botta, Paul Emile 173, 186, 487

Chapman, George 342

Botticelli, Sandro 517

Chapron, Nicolas 566

Bötticher, Carl 244

Chensu 158

Bottschild, Samuel 636

Chevreul, Michel Eugène 23, 392, 394

Boucher, François 642

Chigi, Agostino 518

Bracciolini, Poggio 96

Chmelarz, Eduard 317, 318

Bramante, Donato 515, 541, 554

Chodin, A. 417

Bramantino (Bartolomeo Suardi), Agostino

Choisy, Auguste 105

di 549 Brehm, Alfred 469, 583

Chufu (Cheops, Suphis), König von Ägypten 153, 157

Breitinger, Johann Jakob 343

Cicero, Gaius Marius 282

Breysig, Johann Adam 649

Cicero, Marcus Tullius 282

Brinckmann, Justus 314, 316, 317

Cigoli (Lodovico Cardi da) 561

Brockhaus, Heinrich 341

Cimabue 143, 333, 455, 674

Bromeis, Johann Carl 364

Cione, Nardo di 507

Brücke, Ernst Wilhelm Ritter von 23–27, 59,

Classen 26

73, 331, 332, 395, 396, 397

Claudius, römischer Kaiser 306

Brugsch, Heinrich 171, 373

Clemens XI., Papst 637

Brunelleschi, Filippo 55, 501, 509, 513, 541,

Cock, Hieronymus 327

550, 552, 555, 556

Cokerell, Charles Robert 215

Budge, Ernest Alfred (Wallis) 172

Colbert, Jean-Baptiste 636

Burckhardt, Jacob 33, 34, 68, 72

Colonna, Francesco 81 Commandino, Federico 547, 548, 551, 559

Cäcilia Metella 310

Condivi, Ascanio 38, 39

Caesar 272, 300

Constable, John 386

Campbell, Colen 97

Conze, Alexander 104, 318

Capella, Antoni 560

Cornelius, Peter von 30, 42, 608

Caracalla, römischer Kaiser 308

Correggio 53, 518, 565

Carlone, Künstlerfamilie 83

Corvinus, Matthias 559

Carracci, Agostino 636

Cossutius 259

Carracci, Annibale 636

Coste, Pascal 193

Carracci, Lodovico 635, 636

Cousin, Jean 548, 599, 611, 641, 677

686

Camillo Sitte – Schriften zu Kunsttheorie und Kunstgeschichte Namenregister

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Crenneville 82

Dupuis, Alexandre 591, 592, 613

Crowe, Joseph Archer 665

Dupuis, Ferdinand 591, 592, 613

Curtius, Ernst 381

Dürer, Agnes 62

Cuvier, Georges Baron de 43

Dürer, Albrecht 22, 23, 31, 39, 54, 55, 59,

Czerny, Wilhelm Ritter von 23, 24

62–64, 72, 77, 79, 80, 83, 144–147, 316, 318, 385, 405, 513, 533–537, 540, 545–550,

Daessel, Heinrich 381

556, 559–561, 583, 589, 594, 596, 597, 601,

Dante 22, 489, 507, 549, 591

603, 604, 611, 613, 624, 630, 640, 646,

Danti, Egnazio (Pellegrino Danti de’ Rinaldi)

663, 677

54, 145, 146, 533, 539, 552, 554, 558, 560,

Durm, Josef 100

634, 672

Dyck, Anthonis van 29

Danti, Vincenzo 634 Da Panicale, Masolino 619, 620

Ebers, Georg 172

Dareios I. der Große, König von Persien 187,

Einhard 95

188, 192 Dareios II., König von Persien 192

Eisenlohr, Friedrich 364 Eitelberger von Edelberg, Rudolph 9, 13–20,

Darwin, Charles 12, 26, 339, 367, 583

24, 27, 30–33, 36–39, 41, 44, 45, 59, 69,

Daubigny, Charles François 386

70, 71, 73, 74, 76–84, 94, 98, 99, 127, 148,

Daucher, Adolf 327

314–321, 417, 612, 633

Defregger, Franz von 610

Ekkehart I. 343

Degas, Edgar 386

Empedokles von Akragas 382, 529

Deininger, Julius 359

Engerth, Eduard 405

Delaunay, Robert 392

Epikur 529

Delitzsch, Friedrich 95

Ergamenes, König 154

Della Francescha, Pietro 547

Ergotimos 260

Della Porta, Giovanni Battista 524

Ersch, Johann Samuel 560, 561

Demokrit 531, 544

Eudemos 529

Desargues, Girard 649

Euklid 54, 145, 146, 527–529, 531, 540–542,

Diocletian, römischer Kaiser 298, 308, 309

547, 551, 555, 558, 623

Diogenes 493

Euphranor 352

Diomedes 345

Evans, Arthur 103

Ditscheiner, Leander 26

Eyck, Hubert van 550

Domenichino 636

Eyck, Jan van 55, 550, 551, 552

Domitian, römischer Kaiser 270, 272, 273, 301, 309

Fabritius, Carel 524

Donatello 552, 555

Fak-Achmed 469

Dondi, Giovanni 96

Falke, Jacob von 30, 678

Dörpfeld, Wilhelm 374

Faustina Livia 297

Dove, Heinrich Wilhelm 24

Fechner, Gustav Theodor 26, 438–440, 443,

Dubreuil, Jean 560, 561

446, 617

Ducerceau, Jacques Androuet 545

Fehling, Heinrich Christoph 636

Dümichen, Johannes 172

Fellner von Feldegg, Ferdinand 10, 41, 64,

Dümmler, Ferdinand 379, 380

66–68, 74, 86, 89, 106, 111, 366

Dumreicher, Armand Freiherr von 628

Fergusson, James 186

Dupré, Jules 386

Ferstel, Heinrich von 19, 21–23, 47, 64, 95 Namenregister

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687

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Feuerbach, Maler Anselm 405

Gauricus, Pomponius 529, 541

Fialetti, Odoardo 635, 641

Gegenbauer, Carl 26

Ficino, Marsilio 635

Geiger, Johann Nepomuk 590

Fiedler, Konrad 318

Genelli, Bonaventura 41, 76, 489, 608

Field, George 391, 392, 394, 403

Genga, Girolamo 515

Fiesole, Giovanni da (Fra Angelico) 333, 510

Ghiberti, Lorenzo 510, 517, 555, 679

Filarete 550, 559, 595

Ghirlandaio, Domenico 53, 503, 517, 671

Fiorillo, Johann Dominicus 671, 672

Giorgio, Francesco di 541

Fiorillo, Johann Dominik 530, 547

Giorgio Martini, Francesco di 143

Fischer, Ludwig Hans 409

Giotto di Bondone 333, 405, 455, 514, 552,

Fischer von Erlach, Johann Bernhard 83, 317

617, 618, 674

Fischer von Erlach, Joseph Emmanuel 83

Girardon, François 334

Flandin, E. 186, 193

Gladstone, William Ewart 389

Flaxman, John 591

Glockendon, Jörg 533, 558, 561

Flötner, Peter 97, 327, 328

Goecke, Theodor 85

Foppa, Vincenzo 549

Goethe, Johann Wolfgang von 23, 26,

Fortio, Giovachino 548 Francesca, Pietro della 22, 38, 39, 45–47, 54,

348–350, 528 Göller, Adolf 444

55, 77, 84, 130, 143, 144–150, 336, 503,

Goury, Jules 99

534, 541, 548, 552–555, 557, 558, 601

Gozzoli, Benozzo 504, 663

Franz Joseph I., Kaiser von Österreich 33, 405

Graber, Vitus 388, 389 Grant, Allen 372

Fredi, Felice de 334

Gregor XIII., Papst 637

Fresnel, Fulgence 468

Greuze, Jean-Baptiste 642

Freytag, Gustav 341

Grosse, Ernst 371

Friedlowsky 26

Gruber, Johann Gottfried 560, 561

Friedrich Christian, Kurfürst von Sachsen 636

Guardi, Francesco 524

Friedrich I., König von Preußen 636

Guichard, Eduard 402

Friedrich III., Kurfürst von Brandenburg 636

Gurlitt, Cornelius 74, 75

Friedrich Karl, Prinz von Preußen 373 Friedrich Wilhelm I., König von Preußen 636 Friedrich Wilhelm IV., König von Preußen 171, 373

Hadrian, römischer Kaiser 105, 284, 286, 310, 311, 336 Haeckel, Ernst 50

Fries, August 678

Hagel 678

Fries, Moritz 678

Hansen, Theophil 97–99

Frisch, Anton von 26, 27, 28

Hartmann, Georg 533

Fröhlich 678

Harzen, Georg Ernst 77, 143, 541, 547,

Frontin 264

553–555, 559

Füger, Heinrich Friedrich 664

Hasenauer, Carl 85

Führich, Josef von 29, 405, 590

Hauser, Alois 299, 308, 309

Furtwängler, Adolf 100

Hawkwood, John 556 Hecropolo von Cäre 309

Gaius Cosconius 306

Hector von Aias (Ajax) 345, 346

Galen 529

Hegemann, Werner 74

Gärtner, Friedrich von 98

Heider, Gustav Adolf 315

688

Camillo Sitte – Schriften zu Kunsttheorie und Kunstgeschichte Namenregister

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Heinrich IV., König 334

Jessen, Peter 26

Heliodorus 529

Johann Wilhelm, Kurfürst 95

Heliogabalus 493

Jombert, Charles Antoine 593, 598, 639, 641

Helmer, Hermann 359

Jones, Inigo 97

Helmholtz, Hermann Ludwig Ferdinand von

Jones, Owen 402, 403

12, 24, 26, 40, 44, 53, 77, 418, 439, 528,

Jordan, Heinrich 105

569, 570, 576, 578, 579, 605, 649, 672

Josef I., römisch-deutscher Kaiser 636

Henke, Wilhelm 27

Joseph II., römisch-deutscher Kaiser 636

Henrici, Karl 90

Jughurta 301

Herder, Johann Gottfried 9, 40, 65, 368

Julius II., Papst 334

Herdtle, Hermann 416, 417

Justinian, Kaiser von Byzanz 154

Hermogenes 277, 311 Heron 547

Kalisch, David 456

Herz, Johann Daniel 641

Kallikrates 210, 258

Hildebrandt, Adolf von 405

Kallimachos 225

Himilkon 195

Kant, Immanuel 522, 603

Hirschvogel, Augustin 96, 327, 546

Karl der Große 95, 540

Hittorff, Jacques Ignace 99, 100, 214, 216, 263

Karl V., römisch-deutscher Kaiser 645 Karl VI., römisch-deutscher Kaiser 636

Hoffmann, Josef 42

Kästner, Abraham Gotthelf 532, 546

Hoffmann, Theodor 360

Katte, Albrecht 468

Holbein, Hans 80

Kaulbach, Wilhelm von 41, 42, 76, 608, 613

Homer 103, 154, 342, 345, 347, 350, 389,

Kaunitz, Wenzel Anton Graf 636

489, 591 Hondius, Henricus 672

Kepler, Johannes 528 Kilian, Philipp Andreas 641

Honnecourt, Villard de 632

Klenze, Leo von 97, 99, 379

Hotho, Heinrich Gustav 318

Klimt, Gustav 405

Hottinger, Johann Konrad 405

Koch, Joseph Anton 30, 638

Hübsch, Heinrich 363, 364

Koch, Laurenz I. 370

Huet, Jean Baptiste 642

Koldewey, Robert 95, 172

Hülsen, Christian Carl Friedrich 105

Konstantin I., römischer Kaiser 271, 285

Humboldt, Alexander von 373

Konstantin IX. Monomachos, Kaiser 501

Huxley, Aldous 26

Kotzebue, August Friedrich 341

Hyrtl, Josef 26, 59, 73, 650

Kratzer, Johannes 533 Ktesias 471

Iktinos 210, 239, 258

Kugler, Franz Theodor 37, 318

Ilg, Albert 13, 29, 38, 39, 69, 75, 77, 81–84,

Kupelwieser, Leopold 76, 405, 418

314, 317

Kyros II., König von Persien 191, 192

Jacoby, Louis 409

Lairesse, Gerard de 385, 588, 611, 641

Jamnitzer, Wenzel 546

Lambert, Johann Heinrich 546

Janitschek, Hubert 36, 38, 39, 77, 143, 148,

Lanciani, Rodolfo Amedeo 105, 106

317, 553

Lanfranco, Giovanni 566

Janssonius, Joannes 641

Lange, Konrad 356

Jauniger, Wenceslaus 548

Langer 26 Namenregister

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689

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Langl, Josef 590

Lysipp 195

Largillière, Nicolas de 636 Larissaeus 529

Maitani, Lorenzo 583

La Salle, Jean-Baptiste de 590, 591

Makart, Hans 42, 405

Laufberger, Ferdinand 405, 406

Mallowan, Max Edgar Lucien 178

Lautensack, Heinrich 545, 595, 601

Mander, Carel van 515, 516, 672

Layard, Austen Henry 172, 178, 186, 482,

Manet, Édouard 386

669

Manetti, Antonio di Tuccio 541, 550, 555

LeBicheur, Jacques 561

Manetti, Giovanni 552

Le Blon, Jakob Christof 392

Mantegna, Andrea 518–520, 583, 634, 672

Lederer, N. 17

Maratti, Carlo 637

Leixner, Othmar von 90

Marcellus 272–275

Lenker, Johann 545, 548, 553

Marcus Agrippa, römischer Feldherr 284

Leochares 336

Marées, Hans von 318, 405

Lepsius, Carl Richard 171

Mariette, Auguste 93, 171

Lessing, Gotthold Ephraim 44, 334, 344,

Marmorek, Oskar 359

519, 530, 650

Marmurra, Lucius (siehe Vitruv)

Leuckart 26

Marolois, Samuel 641

Lichtenfels 409

Martini, Francesco di Giorgio 554

Lichtwark, Alfred 318

Masaccio 30, 55, 501, 513, 517, 555

Licinius, römischer Kaiser 271

Masini, Antonio di 514

Liebermann, Max 318

Maspero, Gaston 93, 172

Liharžik, Franz P. 437

Matejko, Jan 42

Lippi, Filippo 333, 517

Matthias, J. 435

Livius 282

Mausolus von Halikarnassos, persischer

Loeschke, Georg 375 Lo Faso Pietrasenta, Domenico, duca di Serradifalco 213, 214

­Satrap in Karien 259, 311 Maxentius, römischer Kaiser 285, 303 Maximilian, König von Bayern 364

Lomazzo, Paolo 549, 558, 601, 672

Maximilian I., römisch-deutscher Kaiser 560

Lorch, Melchior 518, 566

Maxwell, James Clark 23

Löschcke, Georg 356

Medici, Cosimo de 635

Lotze 26

Medici, Piero de 559

Lübke, Wilhelm 65, 100, 474

Meier, P. J. 376

Luca, F. 548

Men-kaw-rê (Mykerinos), König von Ägyp-

Ludwig, Heinrich 26, 37, 570, 571, 581, 582

ten 153

Ludwig, Kronprinz von Bayern 379

Menes, König von Ägypten 153

Ludwig I., König von Bayern 379, 608

Menkera, König von Ägypten 167

Ludwig XIV., König von Frankreich 636

Menzel, Carl August 140, 141

Lugues, duc de 199

Merian, Matthäus d. Ä. 485, 669

Luithlen, Martha 17

Merodach 177

Lukian von Samosta 352, 353

Mertens 678

Lukrez 529

Messerschmidt, Franz Xaver 29

Lützow, Karl von 29, 30, 45

Messina, Antonello da 550

Lysias (Lyseas) 356, 375

Metternich, Clemens Fürst von 81

Lysikrates 196, 224, 225, 259

Michaelis, Adolf 263

690

Camillo Sitte – Schriften zu Kunsttheorie und Kunstgeschichte Namenregister

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Michelangelo (Buonarroti) 17, 27, 38, 39, 59, 72, 74, 308, 316, 333, 362, 363, 406, 503, 520, 565, 566, 602, 603, 613, 654, 679

Pacioli, Luca 22, 143, 144, 534, 541, 542, 545, 547, 551, 553, 554, 560, 561, 601 Palladio, Andrea 97, 308

Milchhöfer, Arthur 381

Panckoucke, Charles Louis Fleury 171

Mnesikles 258

Paris 346

Modena, Pellegrino da 566

Parizeau, Philippe Louis 612

Mola, Pier Francesco 637

Passau, Wolfger von 343

Monarca della Pittura 144

Pausanias 211, 249, 250, 258

Monet, Claude 386

Peacham, Henry 631

Monge, Gaspard 22, 647, 650, 651, 660

Pèlerin, Jean 54, 528, 533, 538, 539, 558,

Montefeltre, Federico da 143, 554

560, 561, 663

Montucla, Jean Etienne 546

Pellegrino, Francesco 327

Moor, Jacob de 516

Pelser-Berensberg, Franz von 359

Morelli, Giovanni 80

Penrose, Francis Cranmer 246, 263

Moretto, Alessandro 583

Percier, Charles 364

Morghen, Raffaele 641

Perikles 258, 368

Mothes, Oscar 435

Perugino 517

Müller, Christian Heinrich 343

Peruzzi, Baldassare 53, 54, 514, 515, 554,

Müller, Johann (John) Wilhelm von 23, 24, 26, 469, 471, 669

672 Petrarca 96

Müller, Johann Georg 360

Petrie, William Matthew Flinders 93

Mützel, Gustav 583

Pettenkofer, Max von 23 Petzholdt, Julius 664

Nairne, Edward 568

Pfeiffer, Franz Xaver 341, 435

Nebamun 452

Pfingsten, Johann Herrmann 410

Nebukadnezar, König von Babylonien 177

Pfinzig (Pfinzing), Paul 546

Nektanebis II., König von Ägypten 164

Pforr, Franz 638

Nero, römischer Kaiser 273, 309, 334

Phidias 74, 210, 258, 329, 489

Nerva, römischer Kaiser 272, 283, 291

Philipp II., König von Spanien 645

Neumann, Franz von 359

Philipp V., König von Makedonien 205, 207

Newton, Isaac 23, 24

Photios 382

Niemann, George 366

Piloty, Karl Theodor von 42, 405

Nikias 352, 358

Pio, Alberto 634

Normand, Charles Pierre Joseph 199

Piper, G. O. 561

Novara, Campana da 542

Pirckheimer, Willibald 513, 533, 561 Pisano, Niccolò 583

Oelzelt, Franz 678

Pisistratus 355

Ohmann, Friedrich 366

Pissaro, Camille 386

Olympiodoros 382

Place, Victor 173, 186

Orcagna, Andrea (Andrea di Cione) 507

Platon 493, 529, 603, 634

Orchomenos 263

Plinius 264, 282, 284, 351, 353, 471

Oronce, Finé 560

Plutarch 258, 532

Overbeck, Johann Friedrich 42, 405, 638

Poggendorff, Johann Georg 576

Pace, Luigi della 519

Pollaiuolo, Antonio 503, 504, 663 Polydoros 334 Namenregister

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691

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Polygnot 352, 381, 507

Riegl, Alois 69, 83

Polyklet 195, 334, 336, 601

Rivius, Walther Hermann 515, 545

Polykrates 197

Robert, Hubert 642

Ponte, Gotardo da 96

Rödel, Johann Michael 54, 532

Pope, Alexander 342

Rodler, Hieronymus 545

Poudra, Noël Germinal 546, 560

Rösel, August 407

Pozzo, Andrea 54, 516, 520, 529, 536

Rosellini, Ippolito 171

Praxiteles 333, 352, 353

Rosenauer, Artur 78

Preißler, Johann Daniel 588, 611, 641

Rothacker 68

Preyer, William 388

Rougé, Emmanuel Vicomte de 172

Priestley, Joseph 546, 568

Rousseau, Théodore 386

Prisse d’Avennes, Achille Constant Théoder

Rubens, Peter Paul 29

Émile 171, 323, 669 Priuli, Niccolò 634 Prohaska 678

Rückert, Heinrich 341 Rudolf von Habsburg, Kronprinz von Österreich 373

Prospettive, Agostino della 53, 514, 549

Rumohr, Karl Friedrich von 37, 318

Protagoras von Abdera 138

Rüppell, Eduard 468

Ptahhotep 474 Ptolemäus 509, 529, 547

Sachau, Eduard 95

Ptolemäus II. 154

Salmanassar I., König von Assyrien 178, 482

Ptolemäus IV. 154

Salviati, Francesco 520

Ptolemäus VIII. Euergetes 154

Sanherib, König von Assyrien 172, 173

Pulcher, Appius Claudius 197

Sarcrieu 546

Purkinje (auch Purkyně), Jan 24, 26

Sarenput II. Aswan 454

Pythagoras 529

Sargon II., König von Assyrien 173

Pytheos (Pythios) 208, 277, 311

Satyros 311 Scamozzi, Vincenzo 97

Rabitius 309

Schadow, Gottfried 336

Raffael 17, 53, 131, 316, 384, 406, 492, 493,

Schadow, Wilhelm von 436

503, 518, 519, 532, 566, 602, 603, 654, 663

Schaubert, Eduard 100

Raimondi, Marcantonio 503

Schäufelein, Hans 510

Ramses II., König von Ägypten 164, 222

Schestag, Franz 314, 315, 678

Ramses III., König von Ägypten 158

Schiavone, Andrea 634

Ramses XI., König von Ägypten 158

Schick, Gottlieb 638

Rassam, Hormuzd 94, 172, 178

Schinkel, Karl Friedrich 97, 100, 135, 363

Regulus, Marcus Atilius, römischer Konsul

Schleiden 26

297

Schliemann, Heinrich 101, 103, 194, 223,

Reinisch, Simon Leo 172

263, 374, 375

Reisch, Gregor 560

Schlosser, Julius 54

Rembold, Johann Christoph 539

Schmid, Peter 613, 639

Rembrandt, Harmensz von Rijn 29, 385, 629

Schmidt, Eduard Oscar 583

Reni, Guido 636

Schmutzer, Jakob 636, 642

Renoir, Pierre-Auguste 386

Schnaase, Carl 37, 318

Revett, Nicholas 262

Schön, Erhard 597, 613, 641

Reynaud 217

Schöpfer, Heinrich Hermann Ignaz 613

692

Camillo Sitte – Schriften zu Kunsttheorie und Kunstgeschichte Namenregister

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22.09.2010 09:36:25

Schorn, Ludwig 55, 550

Tarchesios 277

Schott, Johannes 560

Tarquinius Superbus 281

Schrötter von Kristelli, Anton 23

Texier, Charles 215

Schuppe, Jacob von 636

Thausing, Moriz von 13, 30, 39, 69, 73,

Schwarz 678

77–81, 83, 314, 316, 318, 534

Schwind, Moritz von 613

Theophrast 529

Scipio 275

Thomassin, Philippe 515

Seleukos 493

Thorvaldsen, Bertel 379, 489

Semper, Gottfried 12, 43, 44, 72, 74, 75, 99,

Thun-Hohenstein, Graf Leopold 17

101, 436, 519 Septimius Severus, römischer Kaiser 271, 272, 301, 309 Serlio, Sebastiano 96, 97, 514, 515, 547, 548, 672

Thutmosis II. 153 Ti 474 Tibaldi, Pellegrino 520 Tiberius, römischer Kaiser 300, 309 Tiepolo, Gianni Battista 387

Sethos I., König von Ägypten 162

Tiglathpileser III. 474

Sextus Empiricus 382

Tintoretto, Jacopo 385

Sforza, Francesco 559

Titus, römischer Kaiser 270, 291, 301, 302,

Sicard von Sicardsburg, August 31, 319

308, 334

Sickel, Theodor von 54, 318

Tizian 405, 583, 645, 671

Sidonius Apollinaris 264

Trajan, römischer Kaiser 305, 508

Siena, Balthasar von 548

Treu, Georg 351

Sigfússion, Sæmundr 343

Troger, Paul 520

Signorelli, Luca 333, 503, 517, 663

Tschudi, Hugo von 318

Silvestre, Louis de 636 Sirigatti, Lorenzo 54, 509, 536, 545 Sisley, Alfred 386

Uccello, Paolo 54, 55, 150, 513, 541, 550– 552, 554–557, 663, 673

Sitte, Franz 360

Udine, Giovanni da 515

Skopas 333, 352

Udine, Dario da 634

Sokrates 603 Sprenger, Paul 359, 360, 361

Valdek, Rudolph 38

Springer, Anton 16, 65, 317

Valerius Harpokration 258

Squarcione, Francesco 634

Van der Nüll, Eduard 31, 319, 320, 360

Stabius, Johannes 533

Vanni, Giovanni Battista 565

Stackelberg, Otto Magnus Baron von 263

Vasari, Giorgio 55, 143, 513, 516, 541, 550,

Stamm 678

552, 554, 631, 635, 672

Steindorff, Georg 94

Vercingetorix 301

Stier, Wilhelm 364

Vergil 342

Stolze, Franz 95

Vermeer, Jan 524

Strabo 258

Veroli, Giovanni Sulpicio da 96

Strobl, Joseph 341

Verona, Fra Giocondo da 96

Strudel, Peter 636

Veronese, Paolo 53, 131, 405, 517, 518, 671

Stuart, James 220, 262

Verrocchio, Andrea 510, 635

Sulla, Lucius Cornelius 267

Vesalius, Andrea 645

Sulla, Publius Cornelius 283

Vespasian, römischer Kaiser 270, 273, 301

Sutter, Josef 405

Viaton 548 Namenregister

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Vignola, Giacomo Bavozzi da 146, 151, 548, 553

Wölfflin, Heinrich 317 Wolgemuth (Wohlgemuth), Michael 552,

Villamena, Francesco 566 Vinci, Leonardo da 17, 22, 27, 36, 37, 39, 54, 72, 84, 131, 316, 336, 524, 532, 534, 541,

620 Wundt, Wilhelm Maximilian 26, 50, 578, 579

548, 550, 554, 556, 559, 569–571, 581–583, 585, 593, 601, 602, 604, 611, 633, 634, 643,

Xenophanes von Kolophon 381

651, 652, 654, 666, 677

Xenophon 172

Vincidor, Tommaso 566

Xerxes 188–190, 192

Vischer, Robert 317 Vitruv (Vitruvius Pollio) 54, 75, 95–97, 109,

Young, Thomas 23, 24, 40, 388, 395, 396

145, 151, 209, 258, 264–266, 276–279, 286, 296, 302, 305, 306, 311, 443, 515, 530, 531,

Zahn, Albert von 35

540, 543–545, 601

Zamberti, Bartolomeo 528, 533, 542

Vivié 318

Zamberto, Giovanni 548

Vogel, Ludwig 405

Zauth, L. 263

Vogelweide, Walther von der 343

Zeiller, Martin 485

Vogtherr, Heinrich 632, 641

Zeising, Adolph 436

Volkmann, Alfred Wilhelm 26

Zeitblom, Bartholomäus 394

Volpato, Giovanni 641

Zenale, Bernardo 549

Voß, Johann Heinrich 342

Zick, Januarius 613

Vredeman de Vries, Hans 53, 515, 516, 546,

Zitkowsky, Ludwig von 348

672

Zoe, Kaiserin 501 Zoppo, Marco 634

Waagen, Gustav Friedrich 37, 318

Zuccari, Federico 637

Wagner, Johann Martin von 379 Wagner, Otto 12, 26, 42, 85 Wagner, Richard 42, 64, 76, 349, 350, 366 Waltharius 347 Walther, Bernhard 533 Warburg, Aby 86 Webern, Carl Maria von 350 Weil, Rudolph 381 Werner, Johannes 533 Wickhoff, Franz 54, 69, 75, 314, 318 Wiegmann, Rudolf 364 Wiese, Ludwig Adolf 614, 618, 628 Wilhelm II., König der Normannen 501 Winckelmann, Johann Joachim 98, 131, 335, 351 Winterberg, Constantin 39, 84 Wintergerst, Josef 405 Witelo (Vitellion, Vitellius), Erazmus Ciolek 54, 528, 529, 540, 545 Wolff, Johann Heinrich 364

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Camillo Sitte – Schriften zu Kunsttheorie und Kunstgeschichte

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Kurzbiographien der Herausgeber und Autoren

Die Herausgeber Klaus Semsroth (*1939), Prof. Dr. Dr. h.c.; Studium der Architektur und des Städtebaus an den Technischen Universitäten in Wien und München; 1969 Diplom; ab 1970 Univ.-Ass. am Institut für Städtebau, Raumplanung und Raumordnung der TU Wien; 1974 Promotion bei Rudolf Wurzer im Bereich Industriegebietsplanung; 1984 Venia docendi für Städtebau unter besonderer Berücksichtigung der Bebauungsplanung; 1985–2000 Mitwirkung an der Entwicklungsplanung des Regierungsviertels der Landeshauptstadt St. Pölten; 1994 Univ.-Prof. an der TU Wien; 1996 Institutsvorstand am Institut für Städtebau; seit 1998 Dekan der Fakultät für Architektur und Raumplanung. Michael Mönninger (*1958), Prof. Dr.; Studium der Germanistik, Philosophie, Soziologie und Kunstgeschichte in Frankfurt; 1995 Promotion bei Heinrich Klotz und Hans Belting an der HfG Karlsruhe mit einer Arbeit über Kunsttheorie im 19. Jahrhundert; Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin; Arbeit als Redakteur, Architekturkritiker und Auslandskorrespondent u.a. für die F.A.Z., den Spiegel und Die Zeit; seit 2007 Univ.-Prof. für Architektur- und Kunstgeschichte an der Hochschule für Bildende Künste in Braunschweig. Christiane Crasemann Collins; Studium am Carleton College, Northfield, und an der Columbia University, New York; 1980–1981 Senior Fulbright Fellowship zur Vorbereitung des Buchs „Camillo Sitte. The Birth of Modern City Planning“ (mit George R. Collins, New York 1986); seit 1993 Arbeit am Buch „Werner Hegemann and the Search of Universal Urbanism“ (New York 2005); seit 2002 Co-Herausgeberin der „Camillo Sitte Gesamtausgabe”.

Die Autoren Mario Schwarz (*1945), Prof. Dr.; Studium der Architektur, Kunstgeschichte und Klassischen Archäologie in Wien; 1975 Promotion zum Dr. phil.; 1981– 1983 Lehrbeauftragter für Kunstgeschichte an der TU Wien; 1985 Habilitation; 1994 Prof. am Institut für Kunstgeschichte der Universität Wien; Forschungen zur Architektur des Mittelalters und des 19. Jahrhunderts; Ausgrabungen und Bauforschungen in der Türkei und in Ägypten. Kurzbiographien der Herausgeber und Autoren

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Robert Stalla (*1957), Prof. Dr.; Studium der Kunstgeschichte in München und Florenz; Promotion 1986; Forschungsstipendien der DFG und der Bibliotheca Hertziana (= Max-Planck-Institut für Kunstgeschichte) in Rom; Habilitation 1994; Lehrtätigkeit an den Universitäten in München, Erlangen, Düsseldorf und der ETH Zürich; mehrere akademische Preise; seit 2003 Lehrstuhl für Kunstgeschichte an der TU Wien; seit 2008 Honorarprofessor für Kunstgeschichte an der Universität Wien; Forschungsschwerpunkte u. a. in der Architekturgeschichte und Kunsttheorie der Neuzeit.

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Kurzbiographien der Herausgeber und Autoren

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