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German Pages 76 [57] Year 1960
D E U T S C H E A K A D E M I E D E R W I S S E N S C H A F T E N ZU B E R L I N SCHRIFTEN
DER
SEKTION
FÜR
ALTERTUMSWISSENSCHAFT
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BEMERKUNGEN ZUR ALTGRIECHISCHEN KUNSTTHEORIE VON
E M I L UTITZf
AKADEMIE-VERLAG-BERLIN 1959
Zum Druck angenommen auf Beschluß der Sektion für Altertumswissenschaft vom 6. Juli 1956
Redaktor der Reihe: Johannes Irmscher Redaktoren dieses Bandes: Gisela Amberg und Helga Reusch
Alle Rechte vorbehalten Erschienen Im Akademie - Verlag GmbH, Berlin "W 8, Mohrenstr. 39 Copyright 1959 by Akademie-Verlag G m b H / B e r l i n W 8 Lizenz-Nr.: 202 • 100/104/59 Satz, Druck und Einband: Druckhaus „Maxim Gorki", Altenburg Bestell- und Verlagsnummer: 2067/18 Printed in Germany ES 7 M
Inhalt Einleitung I . Gegenständliche Kunstwissensehaft I I . Mimesis I I I . Arten der Mimesis IV. Harmonie, Kalokagathie und Teleiosis V. Zahlentheorie VI. Mesotes V I I . Unitas multiplex und Dialektik V I I I . Form und Gehalt I X . Abschluß Anhang Verzeichnis der Abbildungen
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Einleitung Nachfolgende Ausführungen ergänzen und berichtigen meine 1932 erschienene „Geschichte der Ästhetik". Jede Gegenwart wird hellsichtig für gewisse Züge an Vergangenem. Es gilt vom Heute aus das Gewesene zu mustern, ohne es in seiner Eigenart umzubiegen. Eine wesentliche Gefahr historischer Forschung ist falsche Aktualisierung. Ebenso aber droht Ersticken in antiquierten Kleinigkeiten, die uns überhaupt nichts mehr angehen. Da ich weder klassischer Philologe noch Archäologe bin, maße ich mir nicht an, Textstellen zu ändern oder gewaltsam umzudeuten. Allein auch die bescheidenere Aufgabe einer abwägenden kritischen Besinnung auf vorgegebenes Material erscheint, zumal in unserem Falle, durchaus nicht undankbar: bildet doch, meiner festen Überzeugung nach, altgriechische Kunsttheorie die gediegenste sachliche Einführung in die Ästhetik. Ich werde in dieser Abhandlung meine eben erwähnte Schrift nicht weiter zitieren. Aber sie gibt gleichsam den Hintergrund ab und liefert auch Belege. Doch soll alles, was ich zu sagen habe, völlig in sich verständlich sein, ohne jeden Bezug auf die ältere Arbeit.
I. Gegenständliche Kunstwissenschaft Herodot 1 ) läßt den König Kroisos von Solon sagen, er habe von ihm gehört, daß er (piXoaocpeoiv viele Länder um der Betrachtung willen •ßfMQirjg elvexev durchwandert habe. Eine solche Lebenshaltung erscheint ihm erstaunlich. Andere durchreisen die Welt in Geschäften, jener aber lediglich schauend, wie die Gäste bei heiligen Festen sich versammeln, um ihr Geschehen zu schauen. Für uns bedeutet ,Theorie' eine zwar begründete, aber noch nicht bewahrheitete Vermutung, die ihre Probe auf Wert und Fruchtbarkeit erst Vgl. E. UTITZ, Die Sendung der Philosophie in unserer Zeit, Leiden 1935, 7. 1 Utitz
Einleitung Nachfolgende Ausführungen ergänzen und berichtigen meine 1932 erschienene „Geschichte der Ästhetik". Jede Gegenwart wird hellsichtig für gewisse Züge an Vergangenem. Es gilt vom Heute aus das Gewesene zu mustern, ohne es in seiner Eigenart umzubiegen. Eine wesentliche Gefahr historischer Forschung ist falsche Aktualisierung. Ebenso aber droht Ersticken in antiquierten Kleinigkeiten, die uns überhaupt nichts mehr angehen. Da ich weder klassischer Philologe noch Archäologe bin, maße ich mir nicht an, Textstellen zu ändern oder gewaltsam umzudeuten. Allein auch die bescheidenere Aufgabe einer abwägenden kritischen Besinnung auf vorgegebenes Material erscheint, zumal in unserem Falle, durchaus nicht undankbar: bildet doch, meiner festen Überzeugung nach, altgriechische Kunsttheorie die gediegenste sachliche Einführung in die Ästhetik. Ich werde in dieser Abhandlung meine eben erwähnte Schrift nicht weiter zitieren. Aber sie gibt gleichsam den Hintergrund ab und liefert auch Belege. Doch soll alles, was ich zu sagen habe, völlig in sich verständlich sein, ohne jeden Bezug auf die ältere Arbeit.
I. Gegenständliche Kunstwissenschaft Herodot 1 ) läßt den König Kroisos von Solon sagen, er habe von ihm gehört, daß er (piXoaocpeoiv viele Länder um der Betrachtung willen •ßfMQirjg elvexev durchwandert habe. Eine solche Lebenshaltung erscheint ihm erstaunlich. Andere durchreisen die Welt in Geschäften, jener aber lediglich schauend, wie die Gäste bei heiligen Festen sich versammeln, um ihr Geschehen zu schauen. Für uns bedeutet ,Theorie' eine zwar begründete, aber noch nicht bewahrheitete Vermutung, die ihre Probe auf Wert und Fruchtbarkeit erst Vgl. E. UTITZ, Die Sendung der Philosophie in unserer Zeit, Leiden 1935, 7. 1 Utitz
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Bemerkungen zur altgriechischen Kunsttheorie
zu bestehen hat. Der Grieche aber meint mit dieser Bezeichnung etwas durchaus Gegenständliches: ich erfasse etwas, das von mir unabhängig ist, das sich mir jedoch in der Wahrnehmung enthüllt. Der theologisch-metaphysische Anklang, wenn überhaupt vorhanden, darf uns nicht beirren. Hatte doch Thaies der Überlieferung gemäß gelehrt, alles sei voll von Göttern. Wir dürfen wohl sagen: das Geschehene wie das Sehen, die Sonne wie das sie erblickende sonnenhafte Auge, um mich des weltberühmten Vergleiches zu bedienen. Alles, dem wir begegnen, ist göttlich, nicht minder als das lebendige Geschehen in uns. Erst spätere Zeit trennt scharf das Göttliche vom Irdischen und verwischt so den ursprünglichen frischen Materialismus, ohne aber alle seine Spuren tilgen zu können. Wie dem auch immer sei: ganz gewiß finden wir an der Stelle, an der uns der Terminus ,Philisophie' zum ersten Male gegenübertritt, auch die für das klassische Griechentum so überaus charakteristische gegenständliche Haltung: die von uns unabhängige Welt und unsere Fähigkeit, sie zu erkennen. Das Zwischenspiel der Sophistik hätte niemals einen derartigen Entrüstungssturm auslösen können, ohne Unterspülung jenes Grundpfeilers altgriechischer Lebens- und Weltanschauung. W. F. OTTO sagt an bedeutsamer Stelle 1 ): „Wer die Objektivität der altgriechischen Weltanschauung versteht, wer der Blickrichtung nach außen, statt nach innen . . . zu folgen vermag, wird es nur folgerichtig finden, daß man hier die Erkenntnis betont und nicht den Willen oder das Gefühl." Wille und Gefühl verweisen auf das Innenleben, Erkenntnis auf die Welt. Die intellektualistischen Übertreibungen altgriechischer Ethik und Ästetik gehen auf jene Besonderheit zurück. Sie liegt so offenkundig, daß sie nur von jenen — Heidegger z. B. — verdunkelt werden kann, die ihre eigene Mystik durch eine glorreiche Ahnenreihe aufputzen wollen. In Wahrheit ist der Kampf geradezu heroisch, wie die beginnende abendländische Philosophie immer mehr die Schleier des Mythos zerreißt, nur vergleichbar der Entwicklung moderner Naturwissenschaft, die von Stufe zu Stufe ihre Begriife von dogmatischen Vorurteilen reinigt. Jene altgriechische Grundhaltung übernimmt die gesamte europäische Klasssik, so Goethe, wenn er betont erklärt: Der „Dilettant wird nie den Gegenstand, immer nur sein Gefühl über den Gegenstand schildern. Er flieht den Charakter des Objekts." 2 ) Aber selbst Goethe bleibt noch hinter jener kristallreinen Gegenständlichkeit zurück. Ich gebe ein kleines, aber meiner Ansicht nach höchst bezeichnendes Beispiel. Die Götter Griechenlands, 3. Aufl. Frankfurt a. M. 1956, 177. ) Über den Dilettantismus, Goethes Werke, hrsg. im Auftrag der Großherzogin Sophie von Sachsen, Weimar 1887ff., Bd. 47, 314. 2
Gegenständliche Kunstwissenschaft
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Von Heraklit stammt bekanntlich die Lehre von der unaufhörlichen Bewegtheit alles Seins, und daß wir deswegen nicht zweimal in den gleichen Strom steigen können. In dem kleinen Gedicht „Dauer im Wechsel" paraphrasiert Goethe diesen Gedanken: Gleich mit jedem Regengusse Ändert sich dein holdes Tal, Ach, und in demselben Flusse Schwimmst du nicht zum zweitenmal. Bei Heraklit aber gibt es kein Ach und kein Juchhei. Er kündet ein kosmisches Gesetz. Sachlich ist es ihm ganz gleichgültig, ob wir es begrüßen oder beklagen. Goethe vollzieht eine Wendung ins Subjektive: in zarte Melancholie der Vergänglichkeit. Das mag sehr reizvoll sein; aber es ist moderne Zutat, nicht Heraklit. Aristoteles z. B. preist Homer besonders1), weil er in seiner eigenen Person so wenig wie möglich redet, da er ja insoweit kein nachahmender Darsteller ist. Von der epochemachenden Mimesis-Theorie werden wir noch eingehend zu sprechen haben; jetzt steht nur die Wendung ins Gegenständliche zur Frage. Die Kunst hat objektives Geschehen zum Thema; und das Kunstwerk steht uns gegenüber. Der Hörer oder der Zuschauer schaffen es sich nicht; sie erfassen es. Die Kunstlehre handelt also primär von Kunstwerken, und nur mittelbar von der Art, wie wir auf sie reagieren. TH. GOMPERZ, der im Jahre 1897 die Poetik des Aristoteles übersetzt und eingeleitet hat, ist der Meinung, die Eigenart Aristotelischer Kunstauffassung erschließe am besten jene Stelle 2 ), wo von der zweifachen Art dichterischer Veranlagung gesprochen wird 3 ). „Diese findet sich . . . einerseits bei Naturen, die sich vermöge ihrer bildsamen Geschmeidigkeit leicht in fremde Geistes- und Gemütszustände zu versetzen wissen, andererseits bei solchen, denen ihr zum Affekt neigendes Temperament dieselbe Fähigkeit verliehen h a t . . . Allein in beiden Fällen — dies lehrt der Zusammenhang unwidersprechlich — ist von der Darstellung fremder Gemütszustände und von dem hierfür erforderlichen Eingehen auf dieselben, ganz und gar nicht von der Selbstdarstellung des eigenen Gefühlslebens die Rede... Die gelungene Wiedergabe von etwas Gegenständlichem, dies ist für Aristoteles ... Alpha und Omega aller Kunstübung ... die Plastik ist ihr Typus." Poetik, cap. 24. ) Poetik, cap. 17. 3 ) Aristoteles' Poetik, übers, u. eingel. v. TH. GOMPERZ, Leipzig 1897,5ff. (Vorwort). 2
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Bemerkungen zur altgriechischen Kunsttheorie
Die berühmte, der Medizin entlehnte Katharsislehre bildet durchaus keine Gegeninstanz. Sie beschreibt die gesellschaftliche Funktion der dramatischen Kunst, die ganz bestimmte Eigenschaften haben muß, um jener zu genügen. Diesen Nachweis zu erbringen bemüht sich Aristoteles nicht durchaus glücklich, aber ganz in dem eben angedeuteten Sinne 1 ). A. FREIHERR VON BERGER2), der frühere Wiener Burgtheaterdirektor und selbst ein feinsinniger Dichter, irrt völlig, wenn er die Katharsislehre deshalb verwirft, weil sie die Tragödie zu einem Mittel erniedrige, jene Affekte zu beschwichtigen, die sie gerade erregt. Der Zweck der Begeisterung wäre die Nüchternheit, der Zweck der Poesie die Prosa. Vorerst: Aristoteles schränkt die Kunstwirkung keineswegs auf die Katharsis ein. Seine Ausführungen über die Würde des Inhalts oder darüber, daß die Poesie eine philosophischere und ernstere Sache sei als Geschichte 3 ), widerlegen bereits, von allem anderen abgesehen, diese Ansicht. Was ferner Berger spöttisch als Nüchternheit und Prosa belächelt, ist gerade altgriechisches Menschenideal: die ausgeglichene Harmonie. Die Katharsis weist in eine Tiefe, in der sie notwendig mit der Forderung nach Kalokagathia und Mesotes sich verbindet. Hiervon wird noch die Rede sein. Der unter der Last unerledigter, ungelüfteter Affekte Ächzende ist kein Kalokagathos. Befriedung schafft nur die Reinigung. Damit würde die Kunst zu einem vorzüglichen Mittel, jenes Gleichmaß zu stiften; wenn auch nicht alle Kunst, so doch die des Trauerspiels als ein besonders bevorzugter Fall der Kunst. Auf diese Weise gewönne das Kunst verhalten seine Bedeutung im Rahmen der Seinsvollendung (rekeiojoiQ). Es wäre ein Führer zu Maß und Ordnung, innerer Helligkeit und Sauberkeit. Berger redet als typischer Vertreter einer liberalen Epoche, die alle Kunst aus dem gesamten Lebenszusammenhange losreißt und ihr nur das Feld eines erregenden und erhebenden Vergnügens überläßt. Als Restbestand bleibt bloß der ästhetische Genuß. Eine derartige Ästhetisierung der Kunst habe ich aber in allen meinen Schriften mit Nachdruck abgelehnt. Sie macht auch das Verständnis altgriechischer Kunst und altgriechischer Kunsttheorie unmöglich, sieht sie doch vorbei an dem eigentlichen Sinn und der Aufgabe jenes Kunstlebens, das viel mehr und ganz anderes sein wollte, als erheiternder Schmuck des Daseins. Ich begrüße es, daß ein so meisterhafter Kenner wie W. JÄGER4) erklärt, daß es den Heutigen so schwer wird, altgriechische Haltung zu begreifen, weil sich die moderne Kunst von dem Moralismus der Auf!) Vgl. E. UTITZ, Die Funktionsfreuden im ästhetischen Verhalten, Halle 1911. 2 ) Vgl. Wahrheit und Irrtum in der Katharsistheorie des Aristoteles, in: Aristoteles' Poetik, übers, u. eingel. v. T H . GOMPERZ, 7 1 ff. 8 ) Poetik, cap. 9. *) Paideia, 2, 2. Aufl. Berlin 1954, 288f.
Gegenständliche Kunstwissenschaft
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klärungszeit erst kürzlich unter Schmerzen trennen mußte. Nichts stehe daher vielen von uns so fest wie der Satz, daß der Genuß eines Werkes der Kunst moralisch indifferent sei. Aber „ein Vers des Homer ist, wenn rationale Gründe fehlen, immer der beste Autoritätsbeweis, den selbst die Philosophen nicht verschmähen. Man kann diese Autorität nur mit der der Bibel und der Kirchenväter in christlichen Jahrhunderten vergleichen". Im Zeichen der Aufklärung werden die Dichter, die Träger volkstümlicher Überlieferung, von den Denkern bekämpft. Wie eifert z. B. ein Xenophanes 1 ) gegen die Unwürdigkeit Homerischer und Hesiodischer Vorstellungen: 11. Alles haben den Göttern Homer und Hesiod angehängt, was nur bei Menschen Schimpf und Tadel ist: Stehlen und Ehebrechen und einander Betrügen. 15. Doch wenn die Ochsen und Rosse und Löwen Hände hätten oder malen könnten mit ihren Händen und Werke bilden wie die Menschen, so würden die Rosse roßähnliche, die Ochsen ochsenähnliche Göttergestalten malen und solche Körper bilden, wie jede Art gerade selbst ihre Form hätte. 16. Die Äthiopen behaupten, ihre Götter seien stumpfnasig und schwarz, die Thraker, blauäugig und rothaarig. Piaton bekämpft nicht die philosophische Sophistik, um sie unter der Maske der Kunst zu dulden 2 ). Ja, Piaton wird ganz scharf, und in der Schärfe spüren wir den Grad innerer Erschütterung, die eigene nahe Gefährdung. „Es muß heraus, obschon eine gewisse Liebe und Verehrung gegen Homer, die sich von Jugend auf in mir festgesetzt hat, mir zu reden verbietet." Homer ist der Ahnherr aller tragischen Dichter, ihr unbestrittener Führer. „Aber die Person darf nicht über die Wahrheit gehen, sondern, wie gesagt, es muß heraus." Und so opfert er Homer 8 ). Der Dichter schildert z. B. die Schrecken der Unterwelt. „Bei diesem und allem Ähnlichen werden wir den Homer und die übrigen Dichter bitten, nicht böse zu sein, wenn wir es durchstreichen, nicht als wenn es nicht dichterisch und der Menge nicht angenehm zu hören wäre, sondern je dichterischer es ist, desto weniger darf es von Knaben und Männern gehört werden, die frei sein und Knechtschaft mehr als den Tod fürchten müssen." Das Ästhetische darf nicht den letzten Wertmaßstab abgeben. Es muß sich unterordnen den Forderungen der Gemeinschaft, sonst versündigt es sich an ihnen. *) Sillen 11, 15, 16 in: H. DIELS, Die Fragmente der Vorsokratiker, 1, 6. Aufl. Berlin 1961, 132f. 2 ) Vgl. E. UTITZ, Die Sendung der Philosophie in unserer Zeit, 38. 3
) V g l . E . UTITZ, ibd. 40.
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Bemerkungen zur altgriechischen Kunsttheorie
So gänzlich verschieden die Aristotelischen Kunstanschauungen und Kunstbeurteilungen von denen Piatons sind, in der Ablehnung eines vom staatlichen, politischen und ethischen Dasein isolierten Ästhetizismus stimmt Aristoteles mit seinem Lehrer überein. Eine andere Auffassung wäre ihm auch schlechthin unverständlich. Diese Leitmotive werden uns noch beschäftigen. In unserem einleitenden Kapitel kam es uns nur darauf an, zwei Grundlehren herauszustellen und durch sie gleichsam den Rahmen abzustecken. Der gegenständlichen Richtung altgriechischen Schauens und Denkens entspricht eine gegenständliche Kunstwissenschaft. Wie es eine von unserem Bewußtsein unabhängige Welt gibt, so existieren auch die Kunstwerke unabhängig von unserem Bewußtsein. Wie wir durch unsere Vernunft fähig sind, die Welt zu erkennen, so auch durch unsere Fähigkeiten die Kunstwerke zu erfassen. Unser Verhalten zu ihnen ist die Reaktion auf ihre objektive Gegebenheit, deren Analyse zur theoretischen Aufgabe wird. Ein abgeschnürter Ästhetizismus kommt gar nicht in Frage. Die Kunst steht im Gesamtzusammenhang des Lebens, und von ihm her empfängt sie Bedeutung und Wert. Hiermit wird ihre Eigenart nicht verwischt, obwohl sie gleich der Ethik eine zu starke Intellektualisierung erleidet ; aber sie wird als Kulturgut eingereiht in die Totalität des Seins und von da aus bewertet. Dies dürfte wieder manchem modernen Ohr verfänglich klingen, das sich an dem stolzen Pathos der Autonomie des Ästhetischen erbaut. Allein die Freiheit dieser Autonomie wird eben nur so weit zugestanden, als nicht andere ebenso hohe, wenn nicht gar höhere Rechte verletzt werden. Daß dabei Fehlurteile unterlaufen können, ja müssen: das ist selbstverständlich. Aber diese Aporie hat jene Denker wenig beschäftigt. Junges Denken ist wagemutig.
II. Mimesis Die gegenständliche Grundeinstellung führt folgerichtig, man könnte sagen, geradezu selbstverständlich zur Mimesistheorie: die das Kunstwerk als Nachahmung, als Widerspiegelung der Wirklichkeit ansieht. Alle antiken Künstleranekdoten haben diese Anschauung zur Voraussetzung1). Appelles soll das Pferd Alexanders des Großen so täuschend gemalt haben, *) Vgl. zum Folgenden E. U T I T Z , Grundlegung der allgemeinen Kunstwissenschaft, 1, Stuttgart 1914, 2, Stuttgart 1920.
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Bemerkungen zur altgriechischen Kunsttheorie
So gänzlich verschieden die Aristotelischen Kunstanschauungen und Kunstbeurteilungen von denen Piatons sind, in der Ablehnung eines vom staatlichen, politischen und ethischen Dasein isolierten Ästhetizismus stimmt Aristoteles mit seinem Lehrer überein. Eine andere Auffassung wäre ihm auch schlechthin unverständlich. Diese Leitmotive werden uns noch beschäftigen. In unserem einleitenden Kapitel kam es uns nur darauf an, zwei Grundlehren herauszustellen und durch sie gleichsam den Rahmen abzustecken. Der gegenständlichen Richtung altgriechischen Schauens und Denkens entspricht eine gegenständliche Kunstwissenschaft. Wie es eine von unserem Bewußtsein unabhängige Welt gibt, so existieren auch die Kunstwerke unabhängig von unserem Bewußtsein. Wie wir durch unsere Vernunft fähig sind, die Welt zu erkennen, so auch durch unsere Fähigkeiten die Kunstwerke zu erfassen. Unser Verhalten zu ihnen ist die Reaktion auf ihre objektive Gegebenheit, deren Analyse zur theoretischen Aufgabe wird. Ein abgeschnürter Ästhetizismus kommt gar nicht in Frage. Die Kunst steht im Gesamtzusammenhang des Lebens, und von ihm her empfängt sie Bedeutung und Wert. Hiermit wird ihre Eigenart nicht verwischt, obwohl sie gleich der Ethik eine zu starke Intellektualisierung erleidet ; aber sie wird als Kulturgut eingereiht in die Totalität des Seins und von da aus bewertet. Dies dürfte wieder manchem modernen Ohr verfänglich klingen, das sich an dem stolzen Pathos der Autonomie des Ästhetischen erbaut. Allein die Freiheit dieser Autonomie wird eben nur so weit zugestanden, als nicht andere ebenso hohe, wenn nicht gar höhere Rechte verletzt werden. Daß dabei Fehlurteile unterlaufen können, ja müssen: das ist selbstverständlich. Aber diese Aporie hat jene Denker wenig beschäftigt. Junges Denken ist wagemutig.
II. Mimesis Die gegenständliche Grundeinstellung führt folgerichtig, man könnte sagen, geradezu selbstverständlich zur Mimesistheorie: die das Kunstwerk als Nachahmung, als Widerspiegelung der Wirklichkeit ansieht. Alle antiken Künstleranekdoten haben diese Anschauung zur Voraussetzung1). Appelles soll das Pferd Alexanders des Großen so täuschend gemalt haben, *) Vgl. zum Folgenden E. U T I T Z , Grundlegung der allgemeinen Kunstwissenschaft, 1, Stuttgart 1914, 2, Stuttgart 1920.
Mimesis
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daß es von lebenden Pferden angewiehert wurde. Zeuxis malte Weintrauben und täuschte damit die Vögel; Parrhasios aber errang den Sieg, denn er täuschte mit einem gemalten Vorhang sogar den Zeuxis. F. L A N D S B E R G E R 1 ) erinnert an den Ausspruch des Alberti, der den Narziß, der sich in sein Spiegelbild im Wasser verliebte, als den Erfinder der Malerei bezeichnet. „Könntest Du wohl sagen, daß die Malerei etwas anderes sei, als künstlerisch ein Ebenbild zu umfassen suchen, gleich jenem, welches dort aus dem Spiegel der Quelle blickte? Und mit welchem Behagen werden die bekannten antiken Anekdoten, in denen Tiere oder gar Menschen durch Kunstwerke getäuscht werden, aufgefrischt. Daß die gemalten Gegenstände ,vive, vive, vive, vivissime, vive e naturali, veramente naturali e vivissime' erscheinen, gehört zu den immer wiederkehrenden Lobsprüchen Vasaris. Und auch Raffael meint das Selbstporträt, das Francesco Francia ihm zuschickt, nicht besser loben zu können, als mit den Worten: ,Es ist ausnehmend schön und so lebendig, daß ich mitunter wirklich irregeführt werde, indem ich mich Euch selbst gegenüber zu befinden und Eure Worte zu hören glaube.'" Wie LANDSBERGER weiter berichtet, erzählt Vasari sogar, „als Tizians Porträt Pauls III., um zu trocknen, in die Sonne gestellt wurde, hätten vorübergehende Personen dem Papst ihre Reverenz erwiesen, weil sie ihn für lebend hielten". So nimmt also die Renaissance das antike Thema voll auf. Aber das schönste Denkmal hat ihm wohl Goethe errichtet in seiner 1812 geschriebenen Abhandlung über „Myrons Kuh". Ein Löwe will die Kuh zerreißen, ein Stier sie bespringen, ein Kalb an ihr saugen; die übrige Herde schließt sich an sie an; der Hirte wirft einen Stein nach ihr, um sie von der Stelle zu bewegen, er schlägt nach ihr, er peitscht sie, er treibt sie an; der Ackermann bringt Kummet und Pflug, sie einzuspannen; ein Dieb will sie stehlen; eine Bremse setzt sich auf ihr Fell; ja Myron selbst verwechselt sie mit den übrigen Kühen seiner Herde. Allein Goethe begnügt sich nicht damit, jenen naiven Naturalismus zu verzeichnen, der, so paradox es klingen mag, ins Märchenhafte abschweift; er gibt Erklärung und Kritik. Er meint, daß offenbar ein Dichter den anderen mit rednerischen Floskeln zu überbieten trachte. Denn unmöglich könne ein Künstler vom Range Myrons eine plumpe oder raffinierte Täuschung versucht haben, kam es ihm doch vielmehr darauf an, „den Sinn der Natur aufzufassen und auszudrücken." Wir würden sagen: das Typische, das Charakteristische zu gestalten2). ') Die Naturnachahmung in der italienischen Renaissance, Zeitschrift für bildende Kunst, N. F. 26,1915, 163. 2 ) Vgl. den berühmten Brief von F. E N G E L S an Margaret Harkness, April 1888, K . M A R X , F. E N G E L S , Über Kunst und Literatur, hrsg. v. M . L I F S C H I T Z , 6. Aufl. Berlin 1953, 121 ff.
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Bemerkungen zur altgriechischen Kunsttheorie
Aber hiervon wollen wir noch ganz absehen; mag in jenen Anekdoten reichlich viel übertreibende Schmeichelei, rhetorischer Aufputz oder pointierte Formulierung enthalten sein, entscheidend ist doch, daß stets Wirklichkeitsnähe und Wahrheit als Kriterium fungieren, eben das Prinzip der Nachahmung. Das kann nicht bestritten werden. Noch heute sagt ein so gediegener Kenner wie H. KOCH : „Alles kommt darauf an, zu begreifen, daß griechische Klassik die höchste denkbare Steigerung einer verehrenden Hingabe an die Natur ist." Im gleichen Sinne äußern sich — um nur gewichtige Beispiele vorzubringen — E. LANGLOTZ2) oder B . SCHWEITZER 3 ).
Aristoteles — im Bestreben, den Hang zur Nachahmung möglichst tief und fest zu verankern — lehrt, daß wir den Nachahmungstrieb mit den höheren Tieren gemeinsam haben. Wir dürfen nicht vergessen, wie stark griechische Philosophie einerseits in Biologie und Medizin, andrerseits in Mathematik verwurzelt ist. Die Mimesis-Theorie kann nur, interpretieren wir Aristoteles angemessen, gerechtfertigt werden, wenn die Freude am Nachahmen nicht ein Vorzug einzelner Menschen ist, sondern ihnen als Gattung zukommt. Die weltberühmten Eingangsworte seiner Metaphysik künden monumental, daß alle Menschen von Natur aus ((pvaei) nach Wissen streben. Wohl gemerkt: alle Menschen, nicht etwa nur der oder jener oder eine bestimmte Gruppe. Der Trieb nachzuahmen wird zu einem Moment jenes Wahrheitsstrebens, und zwar zu einem, das, an sich prälogisch, bereits im Animalischen eingebettet erscheint. Wir haben also vor uns eine von unserem Bewußtsein unabhängige Welt und in uns das Streben, sie zu erkennen: und nicht nur das Streben, sondern auch die Fähigkeit. Hier gliedert sich nun die Kunst als Mimesis ein, als Organ der Wirklichkeitsbemächtigung und der Freude an ihr. Man mache sich nur einmal mit voller Deutlichkeit den abgrundtiefen Unterschied klar zwischen der Aristotelischen Lehre, die hier als Repräsentant für das antike Griechenland gelten mag, und der eines Kant! Bei Aristoteles eine von uns unabhängige aber erkennbare Welt; bei Kant die uns verschlossene Sphäre der Dinge an sich und die Gestaltung der Erscheinungswelt durch die Formen unserer Anschauung und unseres Denkens. Letzthin richten sich die Dinge nach uns, und nicht wir uns nach den Dingen. Der ErkenntnisbegrifFist ein so verschiedener, daß Verständigung unmöglich dünkt. Man hat nun vom Standpunkt des Kantschen Idealismus der Aristotelischen Philosophie sowie allen ihren Vorgängern und 1
) Die klassische Kunst der Griechen, Hallische Monographien 2, 1948, 9. ) Griechische Klassik, ihr Wesen und ihre Bedeutung für die Gegenwart. Ein Vortrag, Stuttgart 1932, 9; 24; 25. $ ) Das Menschenbild der griechischen Plastik, 3. verb. Aufl. Potsdam 1948, 5 ; I I S . ; 24. a
Arten der Mimesis
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Nachfolgern vorgeworfen, daß Kunst und Wissenschaft für sie nachbildende Funktionen darstellen, das ursprüngliche schöpferische Moment aber dadurch vernachlässigt werde. Erst Kant habe gezeigt, daß die eigenständigen Welten der Kunst und Wissenschaft durch diese selbst erzeugt werden. Allein eine derartige Argumentation erachte ich historisch und sachlich für höchst bedenklich. Die Entfaltung griechischer Kunst und Wissenschaft offenbart eine derartig originale, unvergleichliche Schöpferkraft, daß man sie unmöglich übersehen konnte und übersehen kann. Und in sachlicher Wendung schließt die Mimesistheorie keineswegs schöpferische Form aus. Es gilt nur diese Lehre von platten Vulgarisierungen zu reinigen und in ihrer echten Tragweite zu erfassen. Hiervon soll das nächste Kapitel handeln.
III. Arten der Mimesis Verweilen wir noch einen Augenblick bei dem Aristotelischen Versuch, die Fähigkeit nachzuahmen und die Freude an ihr im Animalischen zu verankern. Das eigentliche Erkennen zählt zu den Anlagen, die Mensch und Tier trennen; das Nachahmen aber zu jenen, die verbinden. Hier ist eine deutliche Ahnung der Goetheschen Einsicht, daß keine Kunst des Reizes der Sinnlichkeit entbehren könne, so wenig sie auch bei ihm stehen bleibe. Und das Sinnliche teilt der Mensch mit dem Tier. Eben das Sinnliche war es, das Piaton im Namen seiner Ideen degradierte, und das ihn letzthin die Kunst verwerfen ließ. Zu nahe siedelt sie dem Tierischen, zu fern dem reinen Wissen. Aristoteles denkt gar nicht daran, das Sinnliche irgendwie zu opfern, um die Kunst zu retten. Das Sinnliche reicht einerseits ins Animalische, das steht fest. Andererseits bleibt es zu untersuchen, wie weit hinauf es reicht, auf seine Eignung, sich mit anderen Anlagen zu vereinen. Volle Rechtfertigung wäre erbracht, gelänge es, die Verwandtschaft zur Philosophie aufzudecken. Denn darin begegnen einander Piaton und Aristoteles. Beide erstreben Einsicht ins Allgemeine, Gesetzliche, Notwendige und ein Handeln in diesem Sinne. Gerade deswegen glaubt Piaton weite Kunstbereiche opfern zu müssen, während Aristoteles eine ganz andere Antwort findet. Vorerst ist ihm die Einbettung ins Animalische willkommen als feste Basis, von der auch die genetische Frage angegangen werden kann. Und Nachahmen verpflichtet die Kunst auf die Wirklichkeit. Ohne Wissenschaft zu sein, wird sie hier-
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Nachfolgern vorgeworfen, daß Kunst und Wissenschaft für sie nachbildende Funktionen darstellen, das ursprüngliche schöpferische Moment aber dadurch vernachlässigt werde. Erst Kant habe gezeigt, daß die eigenständigen Welten der Kunst und Wissenschaft durch diese selbst erzeugt werden. Allein eine derartige Argumentation erachte ich historisch und sachlich für höchst bedenklich. Die Entfaltung griechischer Kunst und Wissenschaft offenbart eine derartig originale, unvergleichliche Schöpferkraft, daß man sie unmöglich übersehen konnte und übersehen kann. Und in sachlicher Wendung schließt die Mimesistheorie keineswegs schöpferische Form aus. Es gilt nur diese Lehre von platten Vulgarisierungen zu reinigen und in ihrer echten Tragweite zu erfassen. Hiervon soll das nächste Kapitel handeln.
III. Arten der Mimesis Verweilen wir noch einen Augenblick bei dem Aristotelischen Versuch, die Fähigkeit nachzuahmen und die Freude an ihr im Animalischen zu verankern. Das eigentliche Erkennen zählt zu den Anlagen, die Mensch und Tier trennen; das Nachahmen aber zu jenen, die verbinden. Hier ist eine deutliche Ahnung der Goetheschen Einsicht, daß keine Kunst des Reizes der Sinnlichkeit entbehren könne, so wenig sie auch bei ihm stehen bleibe. Und das Sinnliche teilt der Mensch mit dem Tier. Eben das Sinnliche war es, das Piaton im Namen seiner Ideen degradierte, und das ihn letzthin die Kunst verwerfen ließ. Zu nahe siedelt sie dem Tierischen, zu fern dem reinen Wissen. Aristoteles denkt gar nicht daran, das Sinnliche irgendwie zu opfern, um die Kunst zu retten. Das Sinnliche reicht einerseits ins Animalische, das steht fest. Andererseits bleibt es zu untersuchen, wie weit hinauf es reicht, auf seine Eignung, sich mit anderen Anlagen zu vereinen. Volle Rechtfertigung wäre erbracht, gelänge es, die Verwandtschaft zur Philosophie aufzudecken. Denn darin begegnen einander Piaton und Aristoteles. Beide erstreben Einsicht ins Allgemeine, Gesetzliche, Notwendige und ein Handeln in diesem Sinne. Gerade deswegen glaubt Piaton weite Kunstbereiche opfern zu müssen, während Aristoteles eine ganz andere Antwort findet. Vorerst ist ihm die Einbettung ins Animalische willkommen als feste Basis, von der auch die genetische Frage angegangen werden kann. Und Nachahmen verpflichtet die Kunst auf die Wirklichkeit. Ohne Wissenschaft zu sein, wird sie hier-
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durch zu einem Organ der Welterfassung. Diese Problematik hat sich durch Jahrtausende fortgeerbt. Als A. G. Baumgarten in der Mitte des 18. Jahrhunderts die Ästhetik als selbständige Wissenschaft begründete, erblickte er in ihr eine Art niederer Logik, weil sie es mit dem Sinnlichen zu schaffen habe und darum dem Begrifflichen den Vorzug einräumen müsse1). Und selbst Hegel, auf der Höhe spekulativer Ästhetik, sah im Schönen das sinnliche Scheinen der Idee. Im Zeichen des Sinnlichen hatte einst Piaton die Kunst verdammt und nur dem vom Makel der Sinnlichkeit befreiten Urschönen der Idee gehuldigt. Hegel rechtfertigt die Kunst: der Weg zur reinen Schönheit führt nur durch die Kunst. Aber es gibt Wege, die weiter führen. Der historische Wert der Kunst ist zwar allem Zweifel entrückt; nicht etwa bloß ihre psychologische Notwendigkeit. Aber gerade die Historie ist es, die jenen Wert in seine Schranken weist, indem die Menschheit noch mächtigerer Werte teilhaftig wird. Was nun die systematische Stellung der Kunst anlangt, als sinnliches Scheinen der Idee unterliegt sie der Gegebenheitsweise der Idee, die keinen Schein mehr anerkennt. Das Physiognomische, das alle Kunst ermöglicht, ist nicht Ziel, nur Etappe auf dem Wege. Hier allenthalben schlägt das alte Mißtrauen Piatons gegen das Sinnliche durch, die Vorzugsstellung der Idee. Nur Forscher, die empirische Wirklichkeit voll bejahen, finden die Lösung, wie z. B. Belinski2), der den Unterschied zwischen Kunst und Wissenschaft nicht im Inhalt erblickt, sondern in der Art und Weise, den gegebenen Inhalt zu behandeln, und schließlich feststellt, daß der Theoretiker beweise, der Dichter zeige, aufweise. Kehren wir nun zu Aristoteles zurück. Er ist frei von jedem Vorurteil dem Sinnlichen gegenüber. Wirklich sind für ihn die geformten Einzeldinge. Ideen gibt es nicht. Aristoteles würde sie zwar nicht als Gespensterspuk bezeichnet haben, wie mein Lehrer Franz Brentano, aber er leugnete ihr Vorhandensein. Und nichts lag ihm ferner, als nach einem unsichtbaren Urschönen auszulugen oder zu bedenken, welche Stellung der Kunst in einem utopischen Staat gebühre. Ausgangspunkt war ihm die Kunst, die er aus breiter Erfahrung kannte. Will man ihm einen Vorwurf machen, gründet er darin, daß er unhistorisch seine Erfahrungen dogmatisierte. Aber es ist ihm gelungen, das fruchtbare Mimesis-Motiv als Grundthema in mannigfachen Variationen abzuwandeln, wobei wir uns nur einige veranschaulichen wollen. Ganz primitiv klingt zunächst die Lehre ' ) A. RIEMANN, Die Ästhetik Alexander Gottlieb Baumgartens unter besonderer Berücksichtigung der Meditationes philosophicae de nonullis ad poema pertinentibus nebst einer Übersetzung dieser Schrift, Halle 1928, 31 ff. 2 ) S. SMIRNOWA, Die Hauptzüge der Ästhetik Belinskis, Sowjetliteratur 1953, 1, 167 f.
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von der Freude an der Ähnlichkeit, daß dieses jenes ist. Das ist eine intellektuelle Lust, und als solche nach Aristoteles durchaus legitim. Sicherlich sprach er damit populäre Anschauungen aus. Er konstatierte: so urteilen die Leute, und das ist der Grund ihres Vergnügens. Das Unzureichende einer derartigen Lehre beweist am besten das oft angeführte Beispiel, daß solchen Anforderungen auch ein geschickter Bauchredner oder ein gewandter Tierstimmenimitator entsprechen könne, der z.B. täuschend das Grunzen eines Schweines kopiere. Sehen wir jedoch von derartigen Trivialitäten ab, vermögen wir jenen Lehren einen positiven Sinn abzugewinnen: die Wertschätzung der künstlerischen Leistung, des Könnerischen, des Artistischen. Eine hübsche und charakteristische Anekdote erzählt Lukian von Zeuxis 1 ). Als der Meister seine Kentaurenfamilie öffentlich ausstellte, war der Beifall des Publikums groß. Worauf sich aber seine Bewunderung hauptsächlich richtete, das waren die Originalität der Erfindung und der völlig neue Einfall. Da geriet Zeuxis in Zorn und hieß seinen Schüler Mikon das Bild einpacken und wegschaffen, denn die Leute bewunderten ja doch bloß den rohen Stoff, aber für die Arbeit und für die Schönheit und Sorgsamkeit der Ausführung hatten sie kein Auge. So wichtig auch Einstellung und Ausrichtung auf das Könnerische sind, auf die künstlerische Gestaltung, sie bleiben völlig formalistisch, mustert man lediglich das Wie und nicht das Was. Aber Aristoteles weiß, daß die Künstler sich nach drei Richtungen hin unterscheiden: im Hinblick auf die Darstellungsmittel, das Material, mit dem und in dem nachgeahmt wird, auf die Darstellungsweise, das Wie der Nachahmung, und auf die Darstellungsinhalte, das Was des Nachgeahmten. Das Optimum ergibt sich offenbar dort, wo ein zum Nachahmen des Schönen möglichst taugliches Material sich auswirkt in einer tunlichst schönen Gestaltungsart im Hinblick auf ein denkbar schönes Objekt. Die Einführung des Schönheitsbegriffes widerlegt bereits einen wahllosen Naturalismus, der bloß auf sklavisches Nachahmen abzielt. Ja, es taucht die Frage auf, die wir — zugespitzt — so formulieren dürfen: vermag die Kunst an Schönheit die Natur zu übertreffen? Die Antike ist durchaus bereit, diese Frage zu bejahen, mag auch ihre Argumentation bisweilen recht bedenklich sein. Cicero berichtet 2 ), daß Zeuxis nach fünf auserwählten Jungfrauen das so berühmt gewordene Bildnis der Helena entwarf. So kann auch die Schönheit einer Venus-Statue die Schönheit lebender Frauen weit in den Schatten stellen, weil sie gesammelt umfaßt, was auf jene aufgeteilt ist: A. DRESDNER, Die Kunstkritik. Ihre Geschichte und Theorie, 1, München 1 9 1 5 , 38. 2
) De invent. 2,1, 1; vgl. A. v. SALIS, Die Kunst der Griechen, 4. Aufl. Zürich
1953, 170.
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die schönsten Arme, Beine usw. Wir wollen uns nicht dabei aufhalten, daß solches Zusammenleimen niemals ein Kunstwerk ergäbe. Vernünftig kann nur gemeint sein, daß eine sichtende Auswahl Platz greifen müsse, gespeist aus vielfacher künstlerischer Erfahrung, die der Meister nur durch die Kenntnis zahlreicher Vorbilder und nicht etwa eines einzelnen zu gewinnen vermöge. Die überaus starke Nachwirkung dieses Themas zeigt — um aus zahlreichen Beispielen nur ein sehr bezeichnendes hervorzuheben — die berühmte Rede, die GIOVANNI PLETRO BELLORI, der Freund, Gesinnungs-
genosse und Biograph Nicolas Poussins 1664 in der römischen Akademie hielt1). Gleichsam den Mittelpunkt des Vortrages bildet der Bericht Ciceros über die Art, wie angeblich Zeuxis sein gefeiertes Helena-Bild malte. Bellori ist fest davon überzeugt, daß der Künstler unter verschiedenen Körpern wählen mußte, um die feinsten und edelsten Formen zu gewinnen. „Denn er glaubte nie und nimmer, an einem einzigen Körper all die vollendeten Einzelheiten zu finden, die er für die göttliche Anmut der Helena suchte, weil doch die Natur niemals ein Einzelding in allen Teilen gleichmäßig vollkommen hervorbringt 2 )." Diese alle „natürliche Schönheit" besiegende Schönheit der Helenaoder Venus-Darstellungen ist nun aber ganz gewiß keine Idee im Sinne Piatons, mag auch Bellori daran denken: denn völlig sinnlich stehen doch die Gestalten vor uns, individuell und nicht etwa abstrakt, anschaulich und keineswegs schemenhaft. Das ist das erstaunliche Geheimnis der Kunst, im besonderen und einzelnen das Allgemeine, Gesetzliche, Vollendete zu offenbaren. Diese Problematik wird uns noch eingehend beschäftigen. Wenden wir uns jetzt einer weiteren Ausgestaltung der Mimesis-Theorie zu, von der geleitet wir schon längst die Niederungen eines flachen Naturalismus verlassen haben. Er bliebe ja kopierend stets hinter der gewöhnlichen Wirklichkeit zurück. Die Frage lautet nun, ob die Kunst — paradox formuliert — wirklicher als die Wirklichkeit sein kann? Absurd erscheint die Frage nicht mehr, wenn einmal die Diskussion entfacht ist, daß die Schönheit der Kunst die der Natur übertreffen könne. Nur nebenbei möchte ich bemerken, daß Vergleiche zwischen Natur- und Kunstschönheit bloß mit behutsamer Vorsicht angestellt werden sollten, wegen der fundamentalen Unterschiede ihrer Gegenständlichkeit3). Einer der unvergänglichen Vorzüge der Mimesis-Theorie besteht darin, daß die Kunst nicht einem ausschweifenden Spiel der Phantasie überant*) Die Idee des Künstlers. Deutsche Übertragung, Geleitwort und Erläuterungen
v o n K . GERSTENBERG, Berlin 1939.
2 ) G. P. BELLORI, Die Idee des Künstlers, 15. *) Vgl. hierzu die eingehenden Untersuchungen im ersten Band meiner „Grundlegung der allgemeinen Kunstwissenschaft".
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wortet wird, sondern als eine Auseinandersetzung mit echtem, vollem Sein erscheint und diesen Bezug nicht verlieren darf, soll sie nicht in Willkür ausarten. Auch wo sie Schönheit zeigt von einer im gewöhnlichen Alltag unbekannten Vollkommenheit, löst sie sich keineswegs vom Wahrheitsanspruche, sondern erfüllt ihn in gesteigertem Maße (Abb. 3—6). Die Definition eines Pferdes darf sich nicht orientieren an einem elenden Klepper; sie zielt auf das in seiner Art vorbildliche Pferd. Und will ich erfahren, was ein Mensch ist, wäre es abwegig, an einen Idioten oder Krüppel zu denken, oder an ein unmündiges Kind bzw. an einen klapprigen Greis. Ich muß vielmehr auf ein tunlichst vollkommenes Exemplar ausgerichtet sein. Nicht der statistische Durchschnitt entscheidet, sondern das Maßgebende, das Richtungweisende, im eigentlichen Sinne des Wortes: der klassische Fall. Seit W. Stern verwerten diesen Typusbegriff vielfach die moderne Psychologie und Psychiatrie1). Die Kunst allerdings definiert nicht, sondern überzeugt durch Anschauung. In ihr sind alle Erfahrungen intensiviert und konzentriert, gesichtet und bereinigt. Gerade wenn sie sich nicht naturalistisch erniedrigt, gibt sie Realität höherer Ordnung (Abb. 8). In diesem Sinne sagt N. HARTMANN2), der diese Fragen eingehend und besonnen erwägt, die Dichtung gebe nicht Tatsachenwahrheiten, sondern Lebenswahrheiten. Und mit wenigen Strichen umreißt H. WÖLFFLIN3) meisterhaft klassisches Lebensgefühl. Es ist die Stimmung unbedingter Sachlichkeit; der Wille, die Dinge rein und vollkommen darzustellen wie sie ihrer Natur nach sind, ohne irgendwelche malerische Aufmachung oder sentimentalische Assoziation. Aristoteles erklärt die Poesie für philosophischer als die Geschichte und damit für eine würdigere Angelegenheit. „Denn jene (die Poesie) befaßt sich mehr mit dem Allgemeinen, diese mit dem Einzelnen. Ein Allgemeines ist es, daß dem so oder so Gearteten solches oder anderes zu tun oder zu sagen notwendig oder naturgemäß ist; und das ist es, worauf die Poesie abzielt, wenn sie gleich ihren Personen individualisierende Namen beilegt 4 )." Der Dichter ist nur insoweit Dichter, als seine Darstellung nach den Normen innerer Wahrscheinlichkeit verläuft, ohne Rücksicht auf die Faktizität des bloß Zufälligen. Der Dichter muß daher Begebnisse ausschalten, „von denen das eine sich ereignen konnte, ohne daß das andere darum mit Notwendigkeit erfolgen mußte". Denn das gerade scheidet ihn von dem !) Besonders E. KRETSCHMER, Körperbau und Charakter, 22. Aufl. Berlin, Göttingen, Heidelberg 1955. 2 ) Ästhetik, Berlin 1953, 286. 3 ) Goethes Italienische Reise und der Begriff der klassischen Kunst, Kunstchronik und Kunstmarkt 58, 1923, 818. 4 ) Aristot., Poet. 9, 3, 1451 b.
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Bemerkungen zur altgriechischen Kunsttheorie
treu berichtenden Chronisten, dessen Aufzeichnungen auch dann nicht Poesie werden, wenn er sie in geschmackvolle Verse kleidet. Solch reinigende Auswahl ist dann kein Flickwerk mehr, sondern Schaubarmachung einer Gesetzlichkeit, die sich an Hand des einzelnen Falles offenbart. Darum nähert sich die Kunst der Philosophie — die hier als Repräsentant strenger Wissenschaft auftritt — denn beide werden, jede in ihrer Art, zu Werkzeugen, die eigentlichen echten Seinsbezüge zu enthüllen. Alle folgende Klassik knüpft an diesen Ursprung an: an das Allgemeine im Einzelnen, das Typische im Individuellen, das sichtbar gewordene Gesetz, das Übersinnliche im Sinnlichen. Diesen Durchstoß der Kunst vom Sinnlichen zum ,wahren Sein' hatte Piaton nicht gesehen. Ihm erschien die Kunst dem Sinnlichen ausgeliefert, und Schönheit nur zu retten durch Ablösung von der Sphäre des Sinnlichen. In frostiger Hoheit leuchtete sie dann. Jetzt aber greifen wir gerade im Sinnlichen, in dieser Gegebenheitsweise das Gesetz, die Notwendigkeit, das Wesen. Darum brauchen wir das Sinnliche nicht durchzustreichen, ja wir dürfen es gar nicht, sonst sperrten wir uns den Zugang zu jenem anderen, das uns leibhaft sichtbar wird in der Formung des Kunstwerks und durch sie. Im übrigen lehrt auch Aristoteles hinsichtlich des Denkens, daß es letzthin in sinnlichen Daten gründet. Hieraus folgt der ungemein wichtige, unendlich o f t zitierte Grundsatz ovdsv yv%rj voel ävev