Entfernung der Antike: Carl Ludwig Fernow im Kontext der Kunsttheorie um 1800 [Reprint 2011 ed.] 9783110913132, 9783484181564

In the aftermath of Winckelmann and Mengs, the late Enlightenment thinker and classicist Fernow (1763-1808) set out to d

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German Pages 366 [368] Year 2000

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Table of contents :
1. Einleitung
2. ›Das Leben des Künstlers Asmus Jakob Carstens‹: Spätklassizistische Kunstindustrie und autonomes Kunststreben
Einfache Nachahmung der Natur, Manier, Kunstgeschichte: Zum Begriff des Stils um 1800
Zeichnung zwischen Bildlektüre und Darstellung
»Wir armen Künstler dieser letzten Zeiten« – Wahl des Stoffes als Gegenstandsproblem der Moderne
»Darstellungen ohne bestimmten Moment« – Ausdruck und Ausdrucksloses
Kolorit ohne Helldunkel. Zur Pauperisierung der Bildmittel in der Moderne
Schönheit in der Verhüllung: Gewand
›Kunststreben‹ einer produktiven Einbildungskraft
3. ›Über den Bildhauer Canova und dessen Werke‹
»Al color vero« – Hebe und die Frage der Polychromie der Plastik
»Wo sonst der Apollo stand« – Perseus
»bei den Alten war die Wirklichkeit so gediegen und reich an Leben« – Das Monument für Erzherzogin Maria Christina von Osterreich
4. Schluß
Anhang
1. Zur Ikonographie Carl Ludwig Fernows
2. Zu Fernows Zeichnungen
3. Zu Fernows Bibliothek und Kupferstichsammlung
4. Fernows Editionsplan für die erste Gesamtausgabe der Winckelmannischen Schriften
5. Eine unbekannte Schrift Fernows
Literaturverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Abbildungen
Personenregister
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Entfernung der Antike: Carl Ludwig Fernow im Kontext der Kunsttheorie um 1800 [Reprint 2011 ed.]
 9783110913132, 9783484181564

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STUDIEN ZUR DEUTSCHEN LITERATUR

Herausgegeben von Wilfried Barner, Georg Braungart, Richard Brinkmann und Conrad Wiedemann

Band 156

Harald Tausch

Entfernung der Antike Carl Ludwig Fernow im Kontext der Kunsttheorie um 1800

Max Niemeyer Verlag Tübingen 2000

Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft

D 20 Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Tausch, Harald: Entfernung der Antike: Carl Ludwig Fernow im Kontext der Kunsttheorie um 1800 / Harald Tausch. - Tübingen: Niemeyer, 2000 (Studien zur deutschen Literatur; Bd. 156) ISBN 3-484-18156-7

ISSN 0081-7236

© Max Niemeyer Verlag GmbH, Tübingen 2000 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Satz und Druck: Guide-Druck, Tübingen Einband: Geiger, Ammerbuch

Inhaltsverzeichnis

ι. Einleitung 2. >Das Leben des Künstlers Asmus Jakob Carstensc Spätklassizistische Kunstindustrie und autonomes Kunststreben . . Einfache Nachahmung der Natur, Manier, Kunstgeschichte: Zum Begriff des Stils um 1800 Zeichnung zwischen Bildlektüre und Darstellung »Wir armen Künstler dieser letzten Zeiten« - Wahl des Stoffes als Gegenstandsproblem der Moderne »Darstellungen ohne bestimmten Moment« - Ausdruck und Ausdrucksloses Kolorit ohne Helldunkel. Zur Pauperisierung der Bildmittel in der Moderne Schönheit in der Verhüllung: Gewand >Kunststreben< einer produktiven Einbildungskraft 3. >Uber den Bildhauer Canova und dessen Werke< »Al color vero« - Hebe und die Frage der Polychromie der Plastik »Wo sonst der Apollo stand« - Perseus »bei den Alten war die Wirklichkeit so gediegen und reich an Leben« - Das Monument für Erzherzogin Maria Christina von Osterreich

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4. Schluß

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Anhang

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1. Zur Ikonographie Carl Ludwig Fernows 2. Zu Fernows Zeichnungen 3. Zu Fernows Bibliothek und Kupferstichsammlung

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V

4- Fernows Editionsplan für die erste Gesamtausgabe der Winckelmannischen Schriften 5. Eine unbekannte Schrift Fernows

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Literaturverzeichnis

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Abbildungsverzeichnis

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Abbildungen

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Personenregister

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VI

ι. Einleitung

Kunst ohne Theorie ist ein Unding Carl Ludwig Fernow

Carl Ludwig Fernow kann als der führende Theoretiker der >Weimarischen Kunstfreunde< um Goethe gelten. Seit er im Winter 1795/96 vor einem größeren Kreis deutscher Künstler in Rom Vorlesungen über Ästhetik gehalten hatte, gelang es ihm, sich durch seine in verschiedenen Zeitschriften, insbesondere aber im >Neuen Teutschen Merkur< publizierten Aufsätze den Ruf zu erwerben, philosophisch ambitionierte und empirisch fundierte Anschauungen von der bildenden Kunst nicht nur der Tradition, sondern auch der Gegenwart zu besitzen. Der Umstand, daß Fernow im September 1803 diese Kenntnisse von seinem neunjährigen Romaufenthalt nach Jena und Weimar mitbrachte, mußte ihn zu einer zentralen Figur für die in dieser Zeit ebenso aktuellen wie divergierenden Bemühungen um eine Philosophie der Kunst werden lassen. Schließlich arbeiteten auch Schelling und Hegel, die Fernows Schriften kannten und wie sich ihrem Briefwechsel entnehmen läßt - höchst gespannt auf den neuen Jenaer Amtskollegen waren, in genau jenen Jahren daran, >Ästhetik< nicht mehr im Sinne Baumgartens als Theorie der sinnlichen Erkenntnis, sondern als Philosophie der Kunst zu verstehen. Uber »empirische[ ] Armuth« 1 in diesen Belangen hatte Schelling sich noch im Juli 1802 zu beklagen, und das, obwohl er im folgenden Wintersemester erstmals seine Vorlesungen über die Philosophie der Kunst halten sollte. Hegel wiederum wurde durch Schiller und Goethe mit Fernow bekannt gemacht, da die Weimarer großen Wert darauf legten, die beiden Theoretiker einander näher zu bringen. Selbst Arthur Schopenhauer verdankt Fernow, der seiner Mutter persönlich nahe stand und entscheidend auf sie einwirkte, den über die begonnene Kaufmannslehre höchst unglücklichen jungen Mann Philosophie studieren zu lassen, möglicherweise mehr, als man gemeinhin weiß. Das verbindende Glied könnte auch hier die Philosophie 1

A m 16. Juli 1 8 0 2 schreibt Schelling von Jena aus an A u g u s t Wilhelm Schlegel: » V o n hiesigen Neuigkeiten giebt es nichts, als etwa daß F e r n o w hier Professor wird, der also wahrscheinlich eine Kantische Ästhetik hierherbringt, so daß ich fast dieses U m standes wegen noch mehr bedauern könnte, Ihr Manuscript w e g e n der Zerstreuungen in Berlin nicht mehr benutzt zu haben, um meiner empirischen A r m u t h so weit aufzuhelfen, als nöthig wäre selbst diese Lehre vorzutragen«, zit. nach: Friedrich W i l helm Joseph Schelling: Briefe und Dokumente. H g . von H o r s t Fuhrmans. B d . 2. Bonn: Bouvier 1 9 7 3 , S . 4 i 2 f . Schellings >Philosophie der Kunst< w u r d e erst 1 8 5 9 veröffentlicht, doch hatte Schelling Vorlesungen zu diesem T h e m a erstmals im W i n t e r semester 1 8 0 2 / 3 in Jena, dann 1 8 0 4 / 5 i n W ü r z b u r g gehalten.

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Kants sein, deren Bedeutung für Schopenhauers >Welt als Wille und Vorstellung< ja gänzlich außer Frage steht.2 Schon immer wurde gesehen, welch große Rolle der Philosophie Kants für Fernows Wendung zur Ästhetik im neuen Wortverstand einer Theorie der bildenden Kunst zukommt. Als spezifische Leistung Fernows gilt, daß er über Kant hinausgehend eine systematische Ästhetik angestrebt und in Ansätzen auch verwirklicht habe. Insbesondere Herbert von Einem hat in einer 1935 veröffentlichten Monographie über Fernow zeigen wollen, wie dieser Schüler Reinholds die transzendentalphilosophisch begründete Genieästhetik Kants aufgreife, um aus ihr objektiv gültige Gesetze der Kunst abzuleiten und auf diese Weise einen systematischen Klassizismus philosophisch zu begründen. 3 Als Denkmuster dient hier das Bild, das die neukantianisch inspirierte Geistesgeschichte von Schiller gewonnen hatte: Ähnlich wie Schiller vor dem Problem gestanden sei, ob und wie der rein an Subjektvermögen interessierten Transzendentalphilosophie Kants eine Nutzanwendung für die doch zur Objektivierung gezwungene Literatur abzugewinnen sei, habe Fernow gleichsam dem Formalismus der Philosophie Kants eine systematische klassizistische Gattungsästhetik mit stark normativen Zügen abgerungen. Der Ästhetiker Fernow wurde so vor der Folie einer sein System fundierenden Philosophie konturiert, die man ihrerseits als geschichtsfern, normativ und mit einer gewissen Affinität zum Dogmatischen behaftet einstufte. N u n ergibt sich ein gewisses Problem daraus, daß man den vorgeblich so ahistorischen Klassizismus Fernows in einer Philosophie begründet sehen wollte, der man bei genauerem Zusehen zugleich eine Einsicht in die zeitliche Verfaßtheit des gesamten Denkens des Menschen verdankt, da doch für Kant »jeder Erkenntnisakt [...] selbst ein zeitlicher« 4 ist. - Kants Philosophie ist, wenngleich oder gerade weil sie sich von Herders Bestimmungen des Historischen abgrenzt, nicht einfach unhistorisch, vielmehr ist für sie mit Manfred Riedel festzustellen: »Kant denkt historisch in einem Maße, daß ihm die Frage: wozu noch Historie? jedenfalls unverständlich gewesen wäre«. 5 In der Auseinandersetzung mit dem statischen, räumlich strukturierten Denken der Episteme des klassi-

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Auf Fernows persönliche Bezüge und theoretische Stellungnahmen zu Schelling, zu Hegel und zu Arthur Schopenhauer, wie auch zu seiner späteren Biographin Johanna Schopenhauer wird im Verlauf dieser Arbeit noch eingegangen. Herbert von Einem: Carl Ludwig Fernow. Eine Studie zum deutschen Klassizismus. Berlin: Deutscher Verein für Kunstwissenschaft 193$ (= Forschungen zur deutschen Kunstgeschichte 3). Günter Dux: Die Zeit in der Geschichte. Ihre Entwicklungslogik vom Mythos zur Weltzeit. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1992, S. 59. Manfred Riedel: Geschichte als Aufklärung. Kants Geschichtsphilosophie und die Grundlagenkrise der Historiographie. In: Neue Rundschau 84 (1973), S. 289-308, hier S. 293.

sehen Zeitalters, das als Grundlage auch für den höfischen Klassizismus Le Bruns und der Academie Royale de Peinture betrachtet werden kann, begründete Kant vielmehr eine Geschichtsphilosophie, die auf ihre Weise, wenn auch in Distanz zum Historismus des ausgehenden 18.Jahrhunderts die Zeit zur führenden Größe der Philosophie erhob, - nur daß bei Kant im Unterschied insbesondere zu Herder ein normativer Bezugspunkt in der regulativen Idee einer anthropologisch gefaßten Vorstellung davon, wohin die Gattung Mensch zu gehen habe, aus pragmatischen Gründen erhalten blieb. Doch eben diese als geschichtsphilosophisch zu beschreibende Vorstellung einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, die den Menschen in seiner Endlichkeit und damit in seiner Zeitlichkeit zu erfassen sucht, trennt Kant gleichzeitig nachhaltig von dem letztlich metaphysisch begründeten Bild einer auf das Ende aller Dinge fixierten, doch eben daher letztlich unbeweglichen Geschichte im Stillstand, die ihrerseits die Voraussetzung abgäbe und abgab für einen Klassizismus, wie er von Le Brun praktiziert und von der Fernow-Forschung für den vielleicht wichtigsten Kunsttheoretiker der Zeit um 1800 reklamiert wurde. - »Daß aber einmal ein Zeitpunkt eintreten wird, da alle Verändrung (und mit ihr die Zeit selbst) aufhört, ist eine die Einbildungskraft empörende Vorstellung. Alsdann wird nehmlich die ganze Natur starr und gleichsam versteinert: der letzte Gedanke, das letzte Gefühl bleiben alsdann in dem denkenden Subjekte stehend und ohne Wechsel immer dieselben. Für ein Wesen, welches sich seines Daseyns und der Größe desselben (als Dauer) nur in der Zeit bewußt werden kann, muß ein solches Leben, wenn es anders Leben heißen mag, der Vernichtung gleich scheinen: weil es, um sich in einem [sie] solchen Zustand hineinzudenken, doch überhaupt etwas denken muß, Denken aber ein Reflektiren enthält, welches selbst nur in der Zeit geschehen kann«,6 schreibt Kant gegen die eschatologische Vorstellung eines Endes aller Dinge. Sollte Fernow Kant einfach mißverstanden haben, wenn er in dessen Philosophie die Grundlage zu einer Neuformulierung der klassischen Gattungshierarchie der Künste erblickte? - Oder ist es möglicherweise so, daß das Bild eines ahistorischen Klassizismus, das die Forschung von Fernow zeichnet, sich seinerseits der Vorstellung eines gänzlich ahistorischen Kant verdankt, wie sie im Anschluß an Hegel bis in unser Jahrhundert hinein vorherrschend war? Erste Anhaltspunkte zur Beschreibung des Problems, wie die unausgetragene Spannung zwischen den Polen der Normativität und der Historizität, zwischen die Fernows Theorie bildender Kunst sich eingespannt findet, von der späteren Rezeption Fernows eher verdeckt als offengelegt wurde, dürften sich 6

Immanuel Kant: Das Ende aller Dinge. In: I. Kants sämmtliche kleine Schriften. N a c h der Zeitfolge geordnet. B d . 3 . Königsberg und Leipzig 1797, S . 4 9 3 - 5 1 6 , hier S. 507. Diese vierbändige Ausgabe kleinerer Schriften Kants befand sich in Fernows Bibliothek. 3

aus einer Überprüfung der Frage ergeben, welcher wissenschaftlichen Methode sich das gängige Bild Fernows in der Forschung verdankt. Und hier nun dürfte es keine Übertreibung sein festzustellen, daß es bis zum heutigen Tag eine einzige Monographie ist, die die wissenschaftliche Sicht auf Fernow geprägt hat. Herbert von Einem, um den es sich hierbei handelt, versteht seinen Versuch, eine normative Kunstlehre Fernows zu rekonstruieren, als Einlösung des sogenannten letzten, großen, unvollendeten Vorhabens dieses Theoretikers, eine philosophische Ästhetik für Künstler zu schreiben. Nur Fernows früher Tod habe diesen Plan scheitern lassen, und so müßten wir, die wir uns - wie das bei Johann Heinrich Meyer entlehnte Motto der Arbeit von Einems ausweist »in dem Fall derer [befinden], die einen neuen Glauben stiften wollen, oder welches noch viel schwieriger ist, den Aberglauben zu bekämpfen vorhaben«, 7 an die zahlreichen, verstreuten und wenig systematischen Aufsätze und Monographien Fernows halten, um aus ihnen die eigentliche Intention Fernows - den Willen zur normativen Gattungsästhetik - zu synthetisieren. Obwohl von Einem einerseits Fernows Theorien als einen maßgeblichen Beitrag zu einer Produktionsästhetik bestimmt, obwohl er das potentiell nicht Abschließbare dessen, was Fernow >Kunststreben< nennt, durchaus sieht, relativiert er andererseits die >modernen< Züge an Fernow, um in einer wie auch immer philosophisch untermauerten Wiederbegründung der klassischen Kunstlehre, die sich an der Gestalt des Menschen orientiert und daher die Plastik der Antike zur obersten Gattung der weiterhin hierarchisch gegliederten Künste erklärt, die eigentliche Leistung Fernows zu sehen. Fernows vorgebliches System einer normativen Kunstlehre wird bei von Einem fast ausschließlich auf der Kontrastfolie der Subjektphilosophie Kants entwickelt, wodurch die immense Bedeutung Kants für Fernow zwar richtig gesehen, die von Fernow aus den tieferliegenden epistemischen Umbrüchen um 1800 gezogenen Konsequenzen für eine Theorie der bildenden Kunst jedoch nur partiell erfaßt werden. Das Ausmaß, in dem das beginnende kunsthistorische Denken die von der Tradition bezogene Begrifflichkeit - wie beispielsweise die Begriffe >Stil< oder >Ausdruck< mit neuen Inhalten füllt, läßt sich indes allein von Kant her nicht zutreffend beschreiben. Fernows »Beziehungen zur älteren Kunsttheorie«, die sich bei von Einem in ein Nebenkapitel verbannt finden, dessen Plausibilität sich wiederum der Beschränkung auf die Schriften von Winckelmann, Mengs und Lessing, das heißt auf die deutschsprachige Literatur der Spätaufklärung verdankt, sind aus dieser Überlegung heraus schärfer zu konturieren und auf den Diskurs der europäischen Kunstliteratur des 18. Jahrhunderts, aber auch des zeitgenössischen Diskurses in Italien und Frankreich zu erweitern. Fernows ziviler >Klassizismus< ist, so paradox dies auch klingen mag, das Ergebnis kunsthistorischen Denkens. 7

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V o n Einem (1935), ohne Seitenzahl.

Wie philosophisch kompetent und scharfsinnig auch immer Herbert von Einem in seiner Untersuchung argumentiert, - erkauft ist die Stringenz dieses auf seine Weise unersetzlichen Buches um den Preis einer Enthistorisierung Fernows. Versucht man, Fernow nicht nur von Kant aus, sondern von der Kunsttheorie des Klassizismus und der europäischen Aufklärung her gerecht zu werden, so löst sich das Bild vom dogmatisch eine monolithische Antike vertretenden Klassizisten Fernow auf; an seine Stelle tritt eine Vielzahl bruchstückhafter Facettierungen, die hier einen das möglicherweise nur scheinbar ganz Alte der Antike predigenden Klassizisten, dort einen eminent modern argumentierenden Kunstkritiker zeigen, der weit mehr mit der zeitgleichen Frühromantik gemein hat, als es auf den ersten Blick scheinen will, und der vor allem immer in intensiver Auseinandersetzung mit der Kunst seiner eigenen Zeit steht. Die kunstpolitischen Anstrengungen der >Weimarischen Kunstfreunde* Johann Wolfgang Goethe und Johann Heinrich Meyer, zu denen sich Fernow von 1804 bis zu seinem frühen Tod 1808 zählen durfte, könnten sich als weit weniger restaurativ erweisen, als dies in der Literatur zum Thema traditionell gesehen wird. 8 Die >Antike< jedenfalls, die Fernow im Auge hat, ist nicht mehr die Antike Le Bruns und des normativen Klassizismus, sondern sie ist fast zu einer Leerformel für einen emphatischen Begriff von Kunst entsemantisiert, der in dieser Weise um 1800 alles andere mehr als selbstverständlich ist. Wenn Fernow >Antike< sagt und >Kunst< meint, ist das in einer Zeit der Pluralisierung des Begriffes von Schönheit nicht zuletzt auch aus einer stilpolitischen Motivation heraus zu verstehen. Die Konkurrenz mit der Frühromantik um den Stil der Gegenwart ist einer der Gründe dafür, daß die Antike der Klassizisten um 1800 ein höchst sentimentalisches Denkbild wird, vergleichbar etwa dem >Naiven< bei Schiller. Ein anderer mag sein, daß mit dem Ende der Ikonographie und der Rhetorik im traditionellen Sinne die normative Grundlage für einen Antikenbezug, wie er seit der Renaissance selbstverständlich geworden ist, so hochgradig problematisiert wird, daß die diskursiven Strategien, die zur Begründung eines in dieser Art neuen Rückbezuges auf das Formenreservoir der Antike nötig werden, einer in diesem Ausmaß ebenfalls neuen Rückversicherung in den avanciertesten philosophischen Konzepten der Zeit bedürfen. Wird doch die philosophische Kunstkritik, wie sie nicht zuletzt in Fernows Monographien über Carstens und Canova vorliegt, nachgerade zum notwendigen Teil jener Kunst, die sich um 1800 als ein System auszudifferenzieren beginnt, das sich selbst als autonom versteht und gerade daher der Theorie bedarf. »Kunst ohne Theorie ist ein Unding«, schreibt Fernow, »das sich nicht einmal ohne Widerspruch denken, geschweige ausüben läst; und 8

Vgl. Ines Boettcher/Harald Tausch: Johann Heinrich Meyer/Weimarische Kunstfreunde. In: Goethe-Handbuch, Bd. 4/2: Personen, Sachen, Begriffe. Hg. von HansDietrich Dahnke und Regine Otto. Stuttgart, Weimar: Metzler 1998, S. 702-706.

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kein Künstler, wenn er nicht ein gar gedankenloser Handwerker ist, kann vermeiden, sich aus den Maximen seines Verfahrens und Urtheilens eine Art eigener, individueller Theorie zu bilden, welche die Frucht des Gesichtspunktes ist, aus welchem er die Kunst betrachtet, und die auf seine Art sie auszuüben den grösten Einflus hat.«9 U m nun diesen bisher eher vernachlässigten, doch für Fernows >Klassizismus< höchst aufschlußreichen Bereich der philosophischen Kunstkritik in den Blick zu bekommen, sollen Fernows Monographien über den zeitgenössischen Maler Asmus Jakob Carstens und über den zeitgenössischen Bildhauer Antonio Canova Hauptgegenstand der vorliegenden Untersuchung sein. Der erste Teil der Arbeit unternimmt es, Fernows >Leben des Künstlers Asmus Jakob Carstens< (1806) auf begriffsgeschichtlich festzustellende Verschiebungen im Ubergang vom älteren Klassizismus zum Diskurs der Kunstgeschichte des 19.Jahrhunderts zu untersuchen. Im zweiten Teil wird die im gleichen Jahr publizierte Schrift >Uber den Bildhauer Canova und dessen Werke< - und damit die andere, sehr viel kritischere Werkmonographie Fernows - auf ihre ästhetikgeschichtlichen Voraussetzungen hin untersucht. Jenseits der hier nur in Ansätzen einbezogenen Frage, auf welche sozialhistorisch auszumachenden Verunsicherungen das Kunstsystem der Moderne mit dem Konzept der Selbstreferentialität antwortet, steht daher der sich um 1800 transformierende Diskurs über Kunst sowie Fernows Stellung in ihm im Zentrum der Untersuchung. Durch den Einbezug der französischen und italienischen Tradition der Kunsttheorie könnte die auf diese Weise perspektivierte Einbettung Fernows in die Diskussionen seiner Zeit einen Beitrag zu der These liefern, daß die ästhetische Moderne in Klassizismus und Romantik einen doppelten Ursprung besitzt. Durch die Ablösung der älteren Repräsentationsästhetik am Ende des 18. Jahrhunderts wird es schließlich möglich, das ästhetische Zeichen primär in seinem Eigenwert und nicht mehr vorrangig hinsichtlich seiner gegenstandskonstituierenden Funktion zu schätzen. Dadurch aber ist die Grundlage gegeben, die Hierarchie der Künste, die sich doch an den repräsentierten Gegenständen orientieren muß, zu verabschieden und >Kunst< im Sinne des neuen Darstellungsbegriffes von der produktiven Einbildungskraft des Künstlers her zu verstehen. Die Antike, auf die man sich um 1800 bezieht, ist nicht mehr das normative System, das die Hierarchie der Gattungen stabilisiert hatte, sondern vielmehr ein Reservoir gestalteter Bildformeln, das an die Stelle des sich lösenden Bezuges auf einen vorgängigen und nachahmbaren Naturraum tritt. Diese >Antike< wäre folglich nicht anders als

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Carl Ludwig Fernow: Römische Studien. 3 Bde., Zürich: Gessner 1806-1808; das Z i tat ist dem Aufsatz >Uber den Begrif des Kolorits< in Bd. 2 dieser Aufsatzsammlung entnommen, die im folgenden abgekürzt zitiert wird: Rom. Stud. 2 (1806), S. 173— 252, hier S. 178.

die anderen >künstlichen Paradiese< des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts eine Denkfigur der Moderne. Als Selbstvergegenständlichung der Kunst in einer höchst artifiziellen, gegen die allgemeine Tendenz zur Verzeitlichung allen Wissens geschaffenen Räumlichkeit, soll der solcherart utopisch gewendete Bezug auf eine amimetische Antike nicht nur als Befreiung vom Dogma der >NachahmungLeitbegriffe< versucht der zweite Teil der vorliegenden Untersuchung zu analysieren, indem er der begrifflichen Tektonik des Fernowschen Textes folgt, um auf diese Weise die diachrone Historizität dieser Begriffe mit ihrer synchronen Vernetzung zu vermitteln. Im Falle der Monographie über Canova hat Fernow ein anderes Darstellungsverfahren bevorzugt, indem er strenger der kunsthistorischen Entwicklung des von ihm scharf kritisierten Künstlers folgt. Anstatt nun aus heutiger Perspektive wiederum >Leitbegriffe< zu setzen, die Fernows Text selbst nicht bietet, greift der dritte Teil der vorliegenden Untersuchung wiederum auf die Gliederung der A b handlung zurück und hält sich an die besprochenen Werke des kritisierten Künstlers. Aufgrund des Bedenkens, den Leser nicht ermüden zu wollen, konzentriert die Untersuchung sich in diesem Teil auf drei paradigmatische Werke Canovas und auf die an ihnen entwickelten Problemstellungen. Implizit wird auf diese Weise versucht, die wichtigsten Motive, aber auch die grundlegenden Aporien der Fernowschen Kunstkritik in gebündelter Form darzustellen. Die Konzentration auf die theoriegeschichtlich präzise Argumentation verfolgt dabei insgesamt den Zweck, das Bild vom dogmatischen >Gips-Klassizismus< Fernows zu revidieren, das sich seit dem 19. Jahrhundert - Carl Friedrich von Rumohrs Verdikt über Fernow spielt hier eine bedeutende Rolle - etabliert hat und das noch in neueren Literaturgeschichten und literaturgeschichtlichen Arbeiten zur Zeit um 1800 weiterwirkt. Die grundlegende Fernow-Monographie von Herbert von Einem hat auch hier eher kontraproduktive Folgen für die Rezeption Fernows im 20. Jahrhundert gezeitigt, insofern sie die nicht zu verleugnende dogmatische Seite an Fernow einseitig betonte. Dieses mit starken Vereinfachungen arbeitende Bild kann indes nur revidiert werden, wenn die Genauigkeit der Textlektüre von einer historischen Kontextualisierung jener Texte Fernows begleitet wird, an denen produktive Verwerfungen zwischen dem normativen Anspruch der klassizistischen Tradition und dem kunsthistorischen Denken der Moderne zu beobachten sind. Aus diesem methodischen Grund widmen sich die beiden Hauptteile der Untersuchung jenen Arbeiten Fernows, in denen er sich Künstlern seiner Gegenwart zuwendet: den Arbeiten über Carstens und Canova. Folgt die vorliegende Untersuchung innerhalb ihrer beiden Hauptteile der Tektonik der Texte selbst, so versucht sie gerade nicht, eine Architektur oder ein System aller Schriften Fernows zu erstellen. Statt eine erschöpfende Be-

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handlung aller Schriften zu liefern, die Fernow veröffentlicht hat, wird der U n tersuchungsgegenstand weitgehend auf das Feld der Kunstkritik und der sie fundierenden Theorie eingeschränkt. Da es primär um eine Beschreibung der Historizität der klassizistischen Begriffe und Theorien, in denen Kunst prinzipiell erfaßt wird, und weniger um eine Rekonstruktion dessen gehen soll, was als Bildungs- oder Kenntnishorizont Fernows bezeichnet werden könnte, stehen jene Texte Fernows, die in einer kunsthistorisch avancierten Weise argumentieren, im Vordergrund des Interesses, während etwa seine kleineren Berichte über die kunstpolitische Situation Roms im ausgehenden ι S.Jahrhundert, die insbesondere im >Neuen Teutschen Merkur< erschienen sind, oder seine Besprechungen zeitgenössischer Graphik nur dann herangezogen werden, wenn sie für den diskursiven Kontext von Bedeutung sind. Diese Entscheidung zur Einschränkung des Untersuchungsgegenstandes hat mehrere Gründe. Zunächst wäre es schlicht anmaßend, beim derzeitigen Stand der Forschung eine alle Teilbereiche seiner wissenschaftlichen Arbeit umfassende Monographie erarbeiten zu wollen, die bei einem noch überschaubaren Umfang mehr als nur einen inhaltlich referierenden Uberblick über die von Fernow vertretenen Positionen bieten könnte. Fernows CEuvre umfaßt neben den kunsttheoretischen Schriften sprachwissenschaftliche, literaturgeschichtliche, kulturhistorische, philosophische und archäologische Arbeiten. Dazu kommen Rezensionen, Briefe und unvollendete Projekte, die noch nicht einmal bibliographisch vollständig erfaßt, geschweige denn in ihrer Bedeutung erkannt wären. Hinsichtlich des letztgenannten Punktes ist zunächst daran zu erinnern, daß Fernows Nachlaß weitgehend verloren ist. Selbst diejenigen Manuskripte, die nach seinem Tod in Weimar verblieben sind, sind teilweise nicht unter seinem Namen überliefert (so befindet sich beispielsweise der Editionsplan zur Winckelmannausgabe im bislang nur unzulänglich aufgearbeiteten Nachlaß von Johann Heinrich Meyer, vgl. Anhang), oder sind - wie der von Irmgard Fernow im Jahre 1936 erwähnte Kasten mit seinen sprachhistorischen Arbeiten - erst im Laufe des 20. Jahrhunderts zerstreut worden. Einige seiner Briefe, die von Johanna Schopenhauer und Livia Gerhardt noch eingesehen werden konnten, sind nicht mehr nachweisbar. Die Verzeichnisse der gedruckten Briefe bei Irmgard Fernow und Herbert von Einem hingegen sind nicht vollständig. Bedeutende Bestandteile seines Nachlasses, wie seine Bibliothek und seine Kupferstichsammlung, sind bisher gar nicht beachtet worden. Diese Versäumnisse systematisch aufzuarbeiten ist ein dringendes Desiderat, das nicht von einer Arbeit allein eingelöst werden kann. Anders als bei vielen anderen Autoren der Zeit um 1800 fehlen in Fernows Falle grundlegende Materialerhebungen. In der vorliegenden, theoriegeschichtlich orientierten Untersuchung wurde hinsichtlich der Bibliothek Fernows lediglich annotiert, welche Ausgaben zentraler Referenztexte des klassizistischen und philosophischen Diskurses Fer9

now besaß. Briefe wurden gleichfalls nur am Rande einbezogen. Schon Bibliothek und Kupferstichsammlung gäben je den Gegenstand für umfangreiche Einzeluntersuchungen ab, die ihrerseits jedoch eher sammlungsgeschichtlich als theoriegeschichtlich argumentieren müßten. Eine Studie zu Konzept und Geschichte von Fernows Kupferstichsammlung, die zugleich ein wenig Licht in die frühe Geschichte seines Nachlasses bringen wird, bereite ich vor, desgleichen eine Sammlung von Fernows Briefen. Erst wenn man einen vollständigen Uberblick über dieses Material und eine zuverlässige Edition der Briefe Fernows besitzen wird, wird man auf einer soliden Materialgrundlage diskutieren können, ob es möglich ist, einen inneren Zusammenhang der verschiedenen Teilbereiche von Fernows (Euvre nachzuweisen und zur Grundlage einer Monographie zu machen, die diese heute von höchst unterschiedlichen akademischen Disziplinen fortgeführten Teilbereiche wissenschaftlichen Arbeitens aufeinander abzubilden und Entwicklungslinien zwischen ihnen zu ziehen beanspruchen dürfte. Dabei darf die Frage, ob sich ein solcher Zusammenhang aus den Texten selbst überhaupt ergibt, nicht vorschnell beanwortet werden. Denn der schiere Umstand, daß sowohl literaturgeschichtliche wie kunsttheoretische, sowohl archäologische wie sprachwissenschaftliche, philosophische wie kulturhistorische Arbeiten von ein und demselben Autor stammen, ist an sich zwar bemerkenswert und er ist es um so mehr, als um 1800 längst eine Differenzierung der Wissensbereiche eingesetzt hat, die solch eine Produktivität auf den verschiedensten Bereichen wissenschaftlichen Arbeitens prinzipiell erst einmal unter den Verdacht eines dilettierenden Eklektizismus zu stellen geneigt sein könnte. Doch wird man sich nicht unbedingt auf die Einsicht der Diskursanalyse, daß der Autor als absolute Größe zu verabschieden und >Werkherrschaft< eher als historisches Phänomen zu betrachten sei, berufen müssen, um plausibel machen zu können, daß die methodische Vorannahme, die einer >endgültigenmonologischen< Monographie das geeignetere Instrument wäre, einen solchen, dann eben nicht nur biographisch relevanten Zusammenhang zu diskutieren. Als Vorbild könnte hier etwa die jüngste Neuorientierung in der Forschung zu Karl Philipp Moritz dienen, die deswegen in vieler Hinsicht vor ähnlichen Problemen steht, weil auch bei diesem im Verio

gleich zu Fernow doch ausgesprochen renommierten Autor eine Zusammenarbeit verschiedener Disziplinen eher gefordert als geleistet ist. 10 Das Problem soll an einem Beispiel verdeutlicht werden. Unter Fernows >linguistischen< Arbeiten beansprucht der Aufsatz >Uber die Mundarten der italienischen Sprache< seit einiger Zeit das Interesse der Romanistik. Fernows Pionierleistung für die Erforschung der Dialekte des Italienischen wurde gewürdigt, zugleich jedoch wegen bestimmter Grenzen kritisiert, die diese deskriptive, aufgrund einer sehr großen Fülle gedruckten Materials erarbeitete Studie denn doch noch vom Wissenschaftsverständnis des ausgehenden 19. und vor allem des 20. Jahrhunderts trenne, das in diesem Punkt auf die Erforschung des gesprochenen Wortes setzt. Als entscheidende Frage einer wissenschaftsgeschichtlichen Kontextualisierung Fernows könnte sich hier erweisen, welches Verständnis von Sprache dieser ungeheuer kenntnisreichen Studie zugrunde liegt. Sollte sich beispielsweise herausstellen, daß Fernows Zuwendung zur Vielfalt der sprachgeschichtlich bedingten Dialekte des Italienischen mit einer Abwendung vom rationalistischen Verständnis des sprachlichen Zeichens einhergeht, so wäre mit dieser Beobachtung ein Ansatzpunkt gegeben, um einen Teilbereich seines >linguistischen< (Euvres präzise auf Fragestellungen seines kunsttheoretischen QEuvres zu beziehen. Erst wenn das sprachliche Zeichen nicht mehr - wie für die deutschsprachige Tradition maßgeblich bei Wolff - unabhängig von den Bedingungen seiner Hervorbringung als Stellvertreter des zu bezeichnenden Gedankens, sondern wenn das Zeichen im Sinne einer sensualistisch argumentierenden Sprachphilosophie als vielfältig bedingtes Ergebnis der zeichenproduzierenden Tätigkeit des Menschen verstanden werden kann, wird ja eine Zuwendung zum je eigenen Werden einer Sprache dringlich und die Frage der Rückübersetzbarkeit der verschiedenen Zeichensysteme zum Problem. N u n ist Fernow gegen Ende seines Lebens zunehmend als Herausgeber von Klassikerausgaben italienischer Autoren in ihrer Muttersprache hervorgetreten und hat sich in der Abhandlung >Uber die Nachahmung des italiänischen Verses in der deutschen Poesie< zur Frage der Ubersetzbarkeit von Versdichtung äußerst skeptisch geäußert. Der Begriff des äs-

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»Daß W e r k e des 18. Jahrhunderts grundsätzlich als G a n z e s zu behandeln sind, daß die heute v o n diesen W e r k e n tangierten Fachdisziplinen zusammenarbeiten müssen, wenn die Universalität aufklärerischen Denkens begreifbar werden soll - das ist über die G o e t h e - F o r s c h u n g hinaus noch keineswegs selbstverständlich: Literaturwissenschaft und Psychologie, Kunstgeschichte und Pädagogik fangen gerade an, sich über ihre Zuständigkeit f ü r M o r i t z ' W e r k zu verständigen - Sprachwissenschaft und L i t e raturwissenschaft haben bislang noch gar nicht kommuniziert«, konstatiert A n n e l i e se Klingenberg: Editionsprobleme des Moritzschen Gesamtwerkes. In: Martin F o n tius, Anneliese Klingenberg (Hg.): Karl Philipp M o r i t z und das 18.Jahrhundert. B e standsaufnahmen - Korrekturen - Neuansätze. Internationale Fachtagung v o m 2 3 . 25. September 1993 in Berlin. Tübingen: N i e m e y e r 1 9 9 5 , S. 3 2 .

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thetischen Zeichens, den Fernow im Kontext seiner Autonomietheorie der Kunst entwickelt, könnte von daher den geeigneten Ansatzpunkt abgeben, um das Problem der Ubersetzbarkeit von Zeichen im Bereich der bildenden Kunst und im Bereich der Sprachen als strukturell verwandt zu beschreiben. Dabei wäre allerdings weiterhin zu fragen, ob diese strukturellen Ähnlichkeiten lediglich als Analogien zu beschreiben wären, die sich erst heutigen semiologischen Fragestellungen erschließen, oder ob es einen diskursiven Ursprungsort im 18. Jahrhundert gibt, an dem die bei Fernow bereits stark ausdifferenzierten und nicht explizit aufeinander bezogenen Wissensbereiche noch gemeinsam diskutiert werden. Als möglicher Referenzhorizont, von dem her Fernows unterschiedliche Tätigkeitsfelder so in ihrer Einheit verstanden werden könnten, käme meines Erachtens an erster Stelle die Sprachphilosophie der Spätaufklärung in Frage. Doch schon dieses Beispiel, in dem lediglich skizziert wird, wie man einen Teil von Fernows sprachwissenschaftlichen Arbeiten mit einem bestimmten Problem seines kunsttheoretischen (Euvres zusammensehen könnte, dürfte deutlich werden lassen, welche Bedeutung einer systematischen - und nicht allein sammlungsgeschichtlichen - Aufarbeitung seiner Bibliothek zukäme, die weitgehend in der heutigen Herzogin Anna Amalia Bibliothek aufgegangen ist. Käme so der positivistischen Aufarbeitung bestimmter Materialien einerseits zunächst ein gewisser Primat mit Blick auf künftige Forschungen zu, so zeigt das Beispiel jedoch auch, daß weitere Materialerhebungen wiederum nur im Dialog mit angrenzenden akademischen Disziplinen und mit Bezug auf eine theoretische Fragestellung, die den Klassizismus um 1800 nicht mehr als normative Lehre, sondern als höchst komplexe Schnittstelle verschiedenster Diskurse begreift, als sinnvoll zu betrachten sind. Genau diese Komplexität wäre indes eine Chance und eine Herausforderung, positivistische Methoden und theoriegeleitete Ansätze zu spannungsreichen, problembewußten und daher potentiell innovativen Fragestellungen zusammenzuführen. Sollte mit dieser knappen Skizze angedeutet werden, welche Perspektiven sich während der Arbeit sowie nach Abschluß der vorliegenden Untersuchung, die im Sommer 1996 am Institut für deutsche Philologie der Universität Würzburg als Dissertation eingereicht wurde, für mögliche weitere Forschungen ergeben haben, so soll abschließend noch einmal betont werden, wie viele Studien auch zu einzelnen der divergierenden Tätigkeitsbereiche Fernows weiterhin wünschenswert wären: zu seinen kulturhistorischen Arbeiten etwa (v.a. >Sitten und Kulturgemälde von RomUeber die Improvisatoren«), zu seiner >journalistischen< Berichterstattung in Zeitschriften (insbesondere zu der Folge seiner Berichte über Italien im >Neuen Teutschen MerkurLeben Lodovico Ariosto's des GötlichenUeber 12

die Mundarten der italienischen SpracheJenaischen Allgemeinen Literatur ZeitungRaccolta di autori classici italiani< mit kommentierten italienischsprachigen Textausgaben von Dante, Petrarca, Ariost und Tasso), zu seinen archäologischen Untersuchungen (>Ueber die beweglichen Theater des KurioStatue der Minerva zu Cori gefundenJenaischen Allgemeinen Literatur ZeitungAllgemeine Theorie der schönen Künste< und damit in das noch für Schiller, Goethe und Fernow maßgebliche ästhetische Handlexikon aufnahm. Man denke nur an das Urteil Salomon Geßners in seinem vielgelesenen, noch für Kellers >Grünen Heinrich< vorbildlichen, >Brief über die Landschaftsmahlerey< von 1770, der das »Werkgen von Mengs« als unvergleichlich über ganze Folianten stellt; vgl. Salomon Geßner: Idyllen. Kritische Ausgabe. Hg. von E. Theodor Voss. Stuttgart: Reclam 1973, S. 178.

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Das Beispiel Fesels, der sich im Vorwort auf »den Unterricht des Menschenfreundes Mengs« beruft, zeigt jedoch auch, daß die als Wissenschaft der Naturnachahmung verstandene Kunst der Malerei zu Zwecken autodidaktischer Bildung theoretisiert wird. Fesel greift hiermit eine bereits bei Mengs angelegte Tendenz auf, wenngleich er seinem großen Vorbild attestiert, lediglich für Kenner und Meister geschrieben zu haben, vgl. Mahler-Theorie, oder kurzer Leitfaden zur historischen Mahlerey für Anfänger. Hg. von Christoph Fesel, hochfürstlich-wirzburgischem Kabinets-Mahler, und wirklichem Professor der Akademie St. Luca zu Rom. Wirzburg: Rienner 1792, S. 3—5 Vgl. Karl Philipp Moritz' >Entwurf zu dem vollständigen Vortrage einer Theorie der schönen Künste, für Zöglinge einer Akademie der Künste< sowie >Uber den Einfluss des Studiums der schönen Künste auf Manufakturen und Gewerbe< in: Helmut Pfotenhauer, Peter Sprengel (Hg.): Klassik und Klassizismus. Unter Mitarbeit von Sabine Schneider und Harald Tausch. Frankfurt/M.: D K V 1995 (= Bibliothek der Kunstliteratur 3), S. 362-363 und S. 367-369. Werner Busch: Akademie und Autonomie. Asmus Jakob Carstens' Auseinandersetzung mit der Berliner Akademie. In: Kat. Berlin zwischen 1789 und 1848. Facetten einer Epoche. Ausstellung Akademie der Künste Berlin 1981, S. 81-92.

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nerakademischen Reformbestrebungen etwa Hans Christian Genellis hinaus, der zwar gleichfalls der Ansicht war, daß die »Einführung eines ausschließlichen, einseitigen Styls« 8 durch die akademische Kunstlehre »den freien, unvorschreibbaren Flug der Phantasie zu fesseln« 9 bestimmt sei, der im Gegensatz zu dem mit ihm befreundeten Carstens jedoch die Hoffnung nicht aufgeben wollte, daß eine reformierte Akademie der bildenden Künste »die Kunstindustrie allgemein zu verbreiten« 10 bestrebt wäre, denn: »hierdurch wird die Fabrikation befördert, der Handel ausgebreitet, und folglich die Nahrungszweige unter dem Volke vermehrt, und das Land vom Joch fremder Industrie befreit«. 1 1 Ein in wirtschaftlicher Hinsicht äußerst erfolgreiches und daher bald nachgeahmtes Beispiel dafür, wie gut sich klassizistische Umrißzeichnungen zur Dekoration von Gebrauchsgegenständen, etwa von Vasen, Tabletts und Porträt-Medaillons verwenden ließen, gab die Zusammenarbeit von John Flaxman mit dem Keramiker Josiah Wedgwood in England ab. 1 2 Der Klassizismus Winckelmannscher Prägung wurde so zu einer Mode, die ganz Europa erfaßte und die bis in die kleinsten Bereiche des täglichen Lebens hinein geschmacksbestimmend wurde. Gegen die Vereinnahmung der klassizistischen Formensprache durch frühindustrielle Reproduktionsverfahren grenzte sich am Ende des 18.Jahrhunderts eine Kunsttheorie ab, die den jetzt mit neuer Emphase unter dem Kollektivsingular Kunst subsumierten Bereich menschlicher Tätigkeit von allen Nützlichkeitserwägungen befreit sehen wollte. Der hohe Anspruch des neuplatonisch inspirierten Gedankens, daß das wie eine Monade selig in sich ruhende Kunstwerk nicht nützen, sondern das Ganze der Natur spiegeln solle, bot hierfür eine wesentliche Argumentationshilfe an. Insbesondere Karl Philipp Moritz bediente sich dieser stark metaphysisch aufgeladenen Begrifflichkeit, wenn er eine nicht mehr nützliche Kunst als >in sich selbst vollendet näher zu bestimmen versuchte. Doch wenngleich dieser die immanente Zweckmäßigkeit der ästhetischen Organisation des Werkes denkende Vollendungsbegriff keinesfalls mit dem älteren Vollkommenheitsbegriff der klassizistischen Regelpoetik gleich zu setzen ist, blieb bei Moritz nicht anders als in seinem Umkreis eine gewisse Verlegenheit spürbar, wie der auf diese Weise

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Hans Christian Genelli: Idee einer Akademie der bildenden Künste. Braunschweig: Vieweg 1800, S. 4.

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Ebd., S.6. Ebd., S . 1 3 . Ebd., S . 1 5 .

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Vgl. Werner Hofmann: Der T o d der Götter. In: John Flaxman. Mythologie und Industrie. Kat. Hamburger Kunsthalle 1979. München: Prestel 1979, S. 20-30, hier S. 23 f.; Robin Reilly: Josiah Wedgwood und seine vornehmen deutschen Kunden. In: Thomas Weiss (Hg.): W e d g w o o d 1 7 9 5 - 1 9 9 5 . Englische Keramik in Wörlitz. Leipzig: Seemann 1995, S. 3 9 - 4 7 , hier S.45.

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emphatisch erhöhte Bereich der Kunst genau zu denken sei. So nahm Schiller anthropologische Denkmuster auf, wenn er die Kunst zum einzigen Freiraum des in die Endlichkeit entlassenen Menschen und das zweckfreie Spiel zu seiner gültigen Signatur erklärte. Allemal aber sollte Kunst einen Bereich abstecken, der von den Zumutungen eines generellen und durch die zunehmende Verwissenschaftlichung des Lebens noch beschleunigten Verlustes von lebensgeschichtlich zu verbuchendem Sinn befreit sein und im Rückzugsraum des ästhetischen Bewußtseins diesen nunmehr »vergangenen Sinn in der kulturellen Erinnerung gegenwärtig« 13 halten sollte. Es kann daher als im allgemeinen Umbruch zur kulturellen Moderne 1 4 begründet gelten, wenn die Verfechter einer autonomen Kunst anstelle der handwerklich perfekten Nachahmung der ohnehin in die Vergangenheit des philologischen und altertumskundlichen Wissens schwindenden Antike das bloße Kunstwollen des Künstlers aufwerteten, das sich schon im Entwurf und in der Skizze, gleichsam im Spiel, entäußert. Fernow wird in seiner Monographie über Carstens die Kategorie des >Kunststrebens< einführen, die - gleichfalls nicht zuletzt in einer Reaktion auf die Vermarktung des Klassizismus zur industriell gefertigten Gebrauchskunst - den künstlerischen Einfall und mit ihm die immanente Stimmigkeit des einzelnen Kunstwerks betont. Gewissermaßen gegen die Feststellung einer Reproduzierbarkeit der klassizistischen Gebrauchskunst, die die ästhetische Erfahrbarkeit des einzelnen, in sich selbst vollendeten Werkes auflöst in eine Flut gefälligen Designs, besteht Fernow mit Carstens auf einem emphatisch auf die Antike gerichteten >KunststrebenKunststreben< nun tatsächlich eine neue Antike will oder aber von ihrer Unerreichbarkeit sehr wohl weiß, wird im einzelnen zu klären sein; festzuhalten ist jedenfalls, daß sich durch die Fundierung auf Lektüre auch die Vorstellung von der Antike radikal verändert, insofern dieses ehedem normative Referenzsystem nun als ein von Verzeitlichung nicht affizierter Raum imaginiert wird, der gerade durch den A k t dieser Imagination Bildcharakter erhält. Als Inzitament der Einbildungskraft ist die Antike jedenfalls bei Fernow unverzichtbar. Das >Kunststreben< bedarf der Idee der Antike als utopisches Telos, nicht um bei ihr anzukommen, sondern um in der Annäherung an sie, von der man sich doch radikal geschieden weiß, produktiv zu werden. In der Entfernung der Antike erfährt sich Kunst als Poiesis. U m dieses Verständnis von Kunst zu dokumentieren, eignet sich offensichtlich keine andere Literaturgattung so sehr, wie die Künstlermonographie. Un-

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Heinz Schlaffer: Poesie und Wissen. Die Entstehung des ästhetischen Bewußtseins und der philologischen Erkenntnis. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1990, S. 137. Vgl. zur Diskussion des Modernitätsbegriffs: Silvio Vietta: Die literarische Moderne. Eine problemgeschichtliche Darstellung der deutschsprachigen Literatur von H ö l derlin bis Thomas Bernhard. Stuttgart: Metzler 1992, S. 1 7 - 3 7 .

terhalb der Gattungsebene stellt die Einführung von eigenen Kategorien f ü r den >Stil< und das >Kunststreben< von Carstens, die noch im einzelnen zu untersuchen sein werden, die wichtigste Neuerung dar. Neben diesen nur begriffsgeschichtlich zu bestimmenden Bedeutungsänderungen innerhalb der kunsttheoretischen Begrifflichkeit wären jedoch auch strukturelle Verschiebungen zu beachten. Als symptomatisch kann insbesondere aufgefaßt werden, daß Fernow die langwierige und scharf kontrovers geführte Auseinandersetzung zwischen dem akademiefeindlichen Akademiestipendiaten Carstens und dem in dieser Sache zuständigen Minister von Heynitz insofern dokumentiert, als er die wesentlichen Briefe in seiner Monographie abdruckt und kommentiert. Dies kann als programmatisch für das Konfliktpotential des neuen, sich selbst autonom setzenden Künstlerselbstverständnisses mit dem in den Akademien vertretenen Anspruch auf Verwertbarkeit des Kunstprodukts aufgefaßt werden. 15 Doch noch grundsätzlicher ist es die Textsorte, die als wichtige Neuerung in dieser Hinsicht gelten darf: Fernow schreibt über Carstens die erste Künstlermonographie in deutscher Sprache. 16 Das Werk eines - zeitgenössischen - Künstlers wird als Ganzes, in seiner inneren Stimmigkeit und unverwechselbaren Individualität kritisch gewürdigt, und das in Hinsicht auf ein dem Werk vorgängiges individuelles Kunstwollen. Durch die am Ende des 18. Jahrhunderts sich vollziehende Wende von der Repräsentationsästhetik zur Produktionsästhetik wurde für die Künstlerbiographik eine neue Funktion eröffnet, die ein überkommenes Erzählmuster erheblichen Transformationen unterwarf. Die traditionelle Vitenliteratur konnte sich bis ins 18.Jahrhundert hinein des von Vasari geschaffenen Musters der 1J

Dieser Briefwechsel gilt bis heute als zentrales Dokument der Auseinandersetzung des modernen Künstlerselbstverständnisses mit dem Akademismus, ohne daß genauere Beachtung gefunden hätte, wie sehr dieser Streit von Fernow als Paradigmenwechsel inszeniert wird. Vgl. zum Aktenmaterial und zur Beurteilung der Carstensschen Position Werner Busch, Wolfgang Beyrodt (Hg.): Kunsttheorie und Malerei. Kunstwissenschaft. Stuttgart: Reclam 1982 (= Kunsttheorie und Kunstgeschichte des 19. Jahrhunderts in Deutschland. Texte und Dokumente 1), S. 13 ff.; Friedmar Apel (Hg.): R o mantische Kunstlehre. Poesie und Poetik des Blicks in der deutschen Romantik. Frankfurt/M.: D K V 1992 (=Bibliothek der Kunstliteratur 4), S.395-399; sowie die von Frank Büttner sorgfältig kommentierte Edition des gesamten Briefwechsels im Katalog Asmus J a k o b Carstens. Goethes Erwerbungen f ü r Weimar. Bestandskatalog der Kunstsammlungen zu Weimar bearb. von Renate Barth, Bestandskatalog der Stiftung Weimarer Klassik bearb. von Margarete Oppel, Kat. Schleswig-Holsteinisches Landesmuseum Schloß Gottorf 1992, Neumünster: Wachholtz 1992, S. 75-95.

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Auf diesen Umstand hat erstmals Herbert von Einem in einem Lexikonartikel über Fernow aufmerksam gemacht, vgl. N e u e Deutsche Biographie. Hg. von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Bd. 5. Berlin: Duncker und Humblot 1961, S. 98f. N a c h Abschluß der vorliegenden Untersuchung erschien Klaus Manger: Fernows Carstens. In: ders. (Hg.): Italienbeziehungen des klassischen Weimar. Tübingen: Niemeyer 1997, S. 1 8 1 - 1 9 6 .

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Künstlervita bedienen. 1 7 Wie Svetlana Alpers gezeigt hat, stellt das topisch vorgeführte >Leben< des Künstlers bei Vasari lediglich den chronologischen Rahmen dar f ü r die primär interessierenden Bildbeschreibungen. Diese ekphrastischen Abschnitte innerhalb der Künstlervita werden von Vasari zu kleinen E r zählungen ausgestaltet, wobei die beschriebenen Bilder als Repräsentationen von Handlungen aufgefaßt und daher wiederum in dramatisch verlebendigte Rede übersetzt werden. 1 8 Thomas Ketelsen hat in einer präzisen Studie über die Künstlerviten Vasaris darüber hinaus zeigen können, daß es Vasari neben der aus der antiken Rhetorik bezogenen Tradition ekphrastischer Verlebendigung auch um eine eindeutige Identifizierung des Bildgegenstandes aus mehrerlei und nicht zuletzt aus rechtlichen Gründen gehe, weswegen letztlich die Notwendigkeit entfalle, das innerbildliche Verhältnis der Figuren zueinander näher zu bestimmen. Gerade dieser Befund aber bestätigt das Ergebnis der älteren Studie von Alpers, daß Vasaris >Viten< einem >Bilderzyklus< ähneln: »Alle Beschreibungen enden abrupt und reihen sich zusammenhanglos aneinander. Jede Wiederaufnahme der Beschreibung ist in sich geschlossen und unabhängig«.' 9 D e r eigentlich biographische Rahmen um diesen Zyklus von Bildbeschreibungen hingegen variiert eine begrenzte Zahl von Topoi, mit deren Hilfe bereits antike Autoren wie Plutarch - und auf diesem aufbauend die mittelalterliche Hagiographie - das Leben herausragender Männer erzählten, wie etwa die durchgängige Verwendung einer der späteren Karriere vorgeschalteten G e schichte aus der Jugend des Porträtierten zeigt, in der sich das spätere Talent 17

Die Ablösung der Künstlervita Vasarischer Prägung scheint zeitgleich begleitet zu sein von einem Prozeß der philologischen Quellenkritik an Vasari, der sich nicht zuletzt am aufkommenden Interesse für die bei Vasari als »primitivi« geltenden Maler des Mittelalters entzündet, so etwa, wenn Aloys Hirt ausgehend von den Fresken Fra Angelicos im Vatikan deren Behandlung in den >Vite< beanstandet, vgl. [Aloys Hirt:] Uber einige Freskogemälde in einer Kapelle des vatikanischen Palastes, nebst einer vorläufigen Betrachtung über Giorgio Vasari. In: Italien und Deutschland in Rücksicht auf Sitten, Gebräuche, Litteratur und Kunst. Eine Zeitschrift. Hg. von K[arl] P[hilipp] Moritz und A[loys] Hirt. Berlin 1789, 1. Stück, S. 89-96. Verschärft wurde diese Quellenkritik an Vasari um 1800, vgl. Johann Dominicus Fiorillo: Ueber die Quellen, welche Vasari zu seinen Lebensbeschreibungen der Mahler, Bildhauer und Architecten benutzt hat. In: ders.: Kleine Schriften artistischen Inhalts. 2 Bde. Göttingen: Dieterich 1803/6, hier Bd. 1. (1803), S. 83-98. In Fernows Handexemplar von Fiorillos Kleinen Schriften [HAAB 37, i:3 a b ] findet sich in Bd. 2 auf S. 362 ein handschriftlicher Vermerk, in dem Fernow »Hn. Fiorillo's Vermuthung, daß das Wort cameus aus gemma entstanden sei« mit Hinweis auf die Bedeutung des Wortes kamen »in den slavischen Sprachen« bezweifelt; Fernow kannte also Fiorillo nicht nur, dessen »Geschichte der zeichnenden Künste< er gleichfalls besaß, sondern rezipierte auch dessen etymologische und quellenkritische Arbeiten.

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Svetlana Leontief Alpers: Ekphrasis and aesthetic attitudes in Vasari's Lives. In: Journal of the Warburg and Courtauld Institute 23 (i960), S. 190-215. Thomas Ketelsen: Künstlerviten, Inventare, Kataloge. Drei Studien zur Geschichte der kunsthistorischen Praxis. Ammersbek bei Hamburg: Jensen 1990, S. 29.

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ebenso unverhofft wie vielversprechend in einer ungewöhnlichen Situation beweist. 20 Tatsächlich beherrschte der von Vasari wiederbegründete Typus der Künstlervita als Sammelbiographie bis ins 18. Jahrhundert hinein das Feld biographischen Schreibens über Künstler. 21 Zwar lassen sich erste Ansätze zu Individualbiographien bereits im humanistischen Bemühen um das Lebensbild eines großen Gelehrten auffinden; doch handelt es sich hier weitgehend um den rhetorisch geprägten Nachweis, daß der Porträtierte die Rollenerwartungen seines Standes auf gottgefällige Weise erfüllt habe. Selbst Herders Schrift >Denkmal Johann Winkelmanns< (1777) bleibt durch ihren Gegenstand noch stark dem älteren Typus der Gelehrtenbiographie verpflichtet. Dennoch verdankt sich Herders Anliegen, die Individualität Winckelmanns der Gegenwart als einzigartig darzustellen und daher Geschichte am Fallbeispiel eines Lebens zu ästhetisieren, 22 bereits den gleichen Motiven einer Aktualität biographischen Schreibens, die dann in den Jahren nach 1800 vom beginnenden Historismus aufgegriffen wird. 23 In gewisser Weise beerbt die Biographie das spätaufklärerische Interesse am autobiographischen Schreiben, insofern beiden Gattungen ein Interesse am >ganzen Menschen< zugrundeliegt. Die Autobiographie konstituiert sich dabei stärker an dem Widerstand, den die fragmentarisierenden und dissoziierenden Kontingenzen des je eigenen Lebens der Suche des Autobiographien nach der ästhetischen Prägnanz einer sich zum Ganzen rundenden Erinnerung entgegensetzen. 24 Dahingegen zeigt die in vieler Hinsicht schlichtere Biographik beinahe schärfer, »mit welch gewaltigen Hypothesen man sich durch die Verschiebungen in der Individualitätssemantik jetzt belastet«. 25 Denn wenn »die Entdeckung der Einheit des Individuums [...] den Gedanken 20

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Die klassische Untersuchung zur topischen Verfaßtheit der Vitenliteratur ist noch immer (seit der Erstausgabe 1934) Ernst Kris, Otto Kurz: Die Legende vom Künstler. Ein geschichtlicher Versuch. Mit einem Vorwort von Ernst H . Gombrich. Frankfurt/ M.: Suhrkamp 1980; eine ausführliche Bibliographie zur F o r m der >Vita< bietet Ketelsen (1990), S. 244^, A n m . 107. Nach Abschluß der Arbeit erschienen die wichtigen Untersuchungen von T o m Holert. Vgl. im folgenden Helmut Scheuer: Biographie. Studien zur Funktion und zum Wandel einer literarischen Gattung vom 18.Jahrhundert bis zur Gegenwart. Stuttgart: Metzler 1979. Hinrich C . Seeba: Johann Joachim Winckelmann. Z u r Wirkungsgeschichte eines >unhistorischen< Historikers zwischen Ästhetik und Geschichte. In: D V j s 56 (1982), Sonderheft: Kultur. Geschichte und Verstehen, S. 1 6 8 - 2 0 1 , hier S. 183. Gerhart von Graevenitz: Geschichte aus dem Geist des Nekrologs. Z u r Begründung der Biographie im 19. Jahrhundert. In: D V j s 54 (1980), S. 1 0 5 - 1 7 0 . Helmut Pfotenhauer: Literarische Anthropologie. Selbstbiographien und ihre G e schichte - am Leitfaden des Leibes. Stuttgart: Metzler 1987 (= Germanistische A b handlungen 62). Hans-Martin Kruckis: Biographie als literaturwissenschaftliche Darstellungsform im 19.Jahrhundert. In: Jürgen Fohrmann, Wilhelm V o ß k a m p (Hg.): Wissenschafts-

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an ein schöpferisches Zentrum, das es zu erfassen gelte und das Leben und Werk als einer Substanz entstammend begreift«, 26 zu fördern beginnt, dann ist es kein Zufall, daß eine Form der Künstlerbiographie, der die Werke als Beleg des Kunstwollens des Künstlers gelten, sich am Ende des 18. Jahrhunderts als eigene Gattung ausdifferenziert. 27 Die Kunstgeschichte des 19.Jahrhunderts sollte ihr stil- und entwicklungsgeschichtliches Denken schließlich im wesentlichen an einer Form der Künstlergeschichte festmachen, die mit den Namen der großen Künstler der Vergangenheit letztlich Stile zu bezeichnen und Filiationen nachzuzeichnen suchte. D e r Strukturwandel von der älteren Form der Künstlervita zur neueren Form biographischen Schreibens läßt sich beispielsweise an Werken über A l brecht Dürer verfolgen. In einem aus Anlaß des 200. Todestages Dürers veröffentlichten >gedechtniß der ehren eines derer vollkommnesten künstler seiner und aller nachfolgenden zeiten< (1728) nimmt H . C . Arend sich vor, den N a c h weis der Vollkommenheit dieses Lebens - Arend selbst zeigt an, daß »solche gedanken [...] aus der mathesis ihre ausdrückung entlehnen« 28 - dadurch zu führen, daß er es als Erfüllung des vorgegebenen Rollenmusters der Tugend begreift: M i r deucht, es sey so richtig als vernunfftmäßig geurtheilet, daß w e n n die tugend bey einen menschen der mittelpunckt sey, um welchen das gantze leben als ein cirkel gezogen, der in einer ehrligen geburt den anfang v o n dem Zusammenhang wolanständi-

geschichte der Germanistik im 19.Jahrhundert. Stuttgart, Weimar: Metzler 1994, 26 27

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S· ί ί ° - 5 7 5 > hier S. 556. Kruckis (1994), S. 556. Kruckis (1994) nennt als frühe Beispiele einer auf A u t o r e n bezogenen, autonomen biographischen G a t t u n g [Karl A u g u s t Küttner:] Charaktere teutscher Dichter und Prosaisten. Berlin: V o ß 1781 sowie Leonard Meister: Charakteristik deutscher D i c h ter, nach der Z e i t o r d n u n g gereihet, mit Bildnissen. 2 Bde. St. Gallen und Leipzig: H u ber 1789. H i e r sei bereits die »Tradition der L e b e n - u n d - W e r k - B i o g r a p h i e , wie sie für das 19. Jahrhundert charakteristisch ist, in nuce angelegt« (ebd. S. j 5 6). In der Tat skizziert Meister in einem Artikel über Salomon G e ß n e r Zumindestens ansatzweise die Biographie eines gegen seine Lehrer revoltierenden >jungen GeniesUeber Lessingnur< chronikalischen Interesse an der Geschichte der Künstler: »Der 37

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Roettgen (1985), S. 165ff.; Steffi Roettgen sieht allerdings bereits in Mengs' >Gedanken< eine Anleitung zum akademiefernen Autodidaktentum, insofern diese Schrift »zum Vademecum derjenigen Künstler, die sich enttäuscht von der schulmäßigen und theorielosen Akademie ab- und Italien zuwandten« (S. 165), geworden sei. Doch verzichtet Mengs im Gegensatz zu Fernow nicht nur auf alle antiakademische Polemik, sondern bezieht sich m.E. durchaus noch weitgehend ungebrochen auf die Kategorien der doctrine classique und damit auf eine akademische Lehre.

Kunstgeschichte ist so wenig mit blossen Namen von Künstlern, die nichts Ausgezeichnetes geleistet haben, als der Kunst mit mittelmässigen Werken gedient. [...] Was in der Kronik eines Landstädtchens wichtig sein mag, ist unbedeutend in der Geschichte des Landes« (VII). In diese sich am Horizont abzeichnende Kunstgeschichte will Fernow Carstens, das Carstenssche >Kunststreben< und den eigenen Versuch einer schriftlichen Monumentalisierung dieses >Kunststrebens< einschreiben. Die Historisierung des allgemeinen Verständnisses von Kunst und die Aufwertung der Biographik erscheinen von daher als komplementäre Phänomene. Fernows Biographie dokumentiert, wie aus der noch stark rhetorisch geprägten, älteren Tradition der Vita eine Form des Kommentars werden konnte, die das offensichtlich von Unverständlichkeit bedrohte >Kunststreben< eines sich elitär aus der Öffentlichkeit zurückziehenden und von dieser mit Desinteresse behandelten Künstlers allein noch zu erklären beanspruchen darf. Dem an sich stummen >Monument< eines >KunststrebensunsichtbarenPhöbus< ein Werk von Carstens der Öffentlichkeit präsentieren (Abb. 1). Für Fernows Leser war in diesem Zusammenhang mit Sicherheit ausschlaggebend, daß der Text der Biographie den »Nachlas« (239) von Carstens mit der Metapher vom »Denkmal seines Künstlertums« (239) verknüpft, 39 daß die Lektüre des Textes also zum Akt pietätvollen Eingedenkens wird. Der dokumentarische Charakter von Fernows Text, der die Lebensspuren des Künstlers sichert, hat hier seinen Grund. »Doch wir lassen jezt lieber den Künstler in eigener Person erzälen, was er späterhin in Rom dem Verfasser über seinen Aufenthalt und sein Kunststudium in Kopenhagen mittheilte« (i8f.), unterbricht Fernow beispielsweise seinen Bericht, um Carstens für die Dauer von 37 Seiten das Wort zu erteilen und zur direkten Rede überzugehen: »>Da - sagt er - sah ich nun das Höchste und Vortrefflichste, von dem ich so vieles gehört und gelesen hatte [...]Kunststrebens< für die Kunstgeschichte der Zukunft, indem er dem Leser vergegenwärtigt, daß Carstens »nicht, wie sonst bei der Beerdigung der Protestanten in Rom gewöhnlich ist, Abends bei Fackelschein, sondern früh beim Aufgange der Sonne, von wenigen Deutschen, die im Leben seine Freunde gewesen waren, begleitet« ( 237), auf dem protestantischen Friedhof Roms begraben worden sei. Die von der aufgehenden Sonne ins rechte Licht gerückte Rede am Grab des Künstlers übersetzt den künstlerischen Nachlaß in einen Auftrag an die lesenden >Landsleute und Freundes da der innigste Wunsch von Carstens sich nicht erfüllt habe: »wenigstens Ein öffentliches, würdiges Denkmal seiner Kunst zu hinterlassen« (239). Das »kleine Denkmal der Freundschaft« (XIV) ist daher dazu bestimmt, sich an die Stelle eines letztlich nicht vorhandenen Werkes zu setzen, indem es das beschreibt, was Carstens nach Fernows Auskunft als »Denkmal seiner Kunst« (239), das heißt: als Ausweis einer dem Werk vorgängigen Größe Kunst empfunden haben würde, die dann im Text >Kunststreben< heißen wird. Die Parzen, die Carstens nicht nur in jener einen Zeichnung dargestellt hat, die Fernow nachgezeichnet, aber nie veröffentlicht hat (Abb. 2), spielen auch im Text der Monographie ihre bedeutsame Rolle: »Aber die Parze durchschnitt es [das Leben Carstens'] in der hofnungsvollesten Reife, und die Vorübungen seiner Kraft zu grösseren, der Unsterblichkeit würdigen Werken, sind der einzige Nachlas des auf der Mitte seiner Laufbahn dahin gerafften Künstlers« (239). »Vorübungen« als der »einzige Nachlas« werden postum durch die authentische Interpretation eines Biographen, der seinem mehrfachen eigenen Auftreten im Leben des Porträtierten geschickt das gehörige Gewicht zu geben weiß, zum >Monument< eines gerade in seinem Verschwinden erhabenen und singulären Kunstwollen stilisiert. Fernow erschreibt in einer virtuosen Engführung zweier um 1800 höchst virulenter Diskursstränge ein Denkmal für einen Gescheiterten: Sollte doch der Künstlerroman des 19.Jahrhunderts seit Wilhelm Heinses >Ardinghello< und Tiecks >Franz Sternbalds Wanderungen< einer Beobachtung Werner Hofmanns zufolReise des Hr. Professors Carstens nach Rom) liegen, sind ediert bei Frank Büttner: Der Briefwechsel zwischen Asmus Jakob Carstens und Minister Friedrich Anton von Heinitz. In: Asmus Jakob Carstens. Goethes Erwerbungen für Weimar. Bestandskatalog der Kunstsammlungen zu Weimar bearb. von Renate Barth, Bestandskatalog der Stiftung Weimarer Klassik bearb. von Margarete Oppel, Kat. SchleswigHolsteinisches Landesmuseum Schloß Gottorf 1992, Neumünster: Wachholtz 1992, S-75-952

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ge »in der Gestalt des Gescheiterten seine Grundfigur« 4 2 besitzen, der Diskurs um eine Verherrlichung großer Künstler in Denkmälern indes schon bald hypertrophe Formen annehmen: »>GeniusHeld< und >Märtyrer< bilden seit Fernows Biographie die Fixpunkte einer konsequenten Mythenbildung, die selbst vor der messianischen Verklärung des Künstlers nicht zurückschreckt«, faßt Peter Springer den »emphatischen Messianismus« der späteren CarstensRezeption etwa bei Herman Riegel zusammen. 43 Die Transformationen der Biographik, die der Fernowschen Monographie vorausgehen, lassen sich von hier aus mit analogen Entwicklungen in der Geschichte des Künstlerdenkmals vergleichen, da sich auch in diesem Bereich zeigen läßt, daß sich die Anfänge einer auf Öffentlichkeit berechneten und abbildlichen Gattung insbesondere des Dichterdenkmals zwar bereits seit dem Anfang des 18. Jahrhunderts nachweisen lassen - man denke an die Porträtgalerie von Dichtern und Denkern im englischen Landschaftsgarten Stowe 44 - , daß die zugleich einen frühen Stilpluralismus praktizierenden Denkmäler indes zunehmend individualisiert, monumentalisiert und auf Dichter der jüngeren und jüngsten Vergangenheit bis hin zu noch Lebenden bezogen werden, indem Denkmäler zunächst für einzelne Dichter errichtet werden, die Entwürfe für diese Denkmäler am Ende des 18. Jahrhunderts dann aber zunehmend erhabeneren Charakter annehmen. 45 Dem Plan, Schiller und Klopstock ein jeweils dem Charakter ihrer Dichtungen entsprechendes Denkmal zu setzen, widmete Fernow denn auch eine lange Besprechung im >Journal des Luxus und der Modens in der die Interdependenz zwischen den eingeschränkten Möglichkeiten einer prosaischen Gegenwart und den Erhabenheitsphantasien eines sich auf eklektizistische Weise bei den Stilen der Vergangenheit bedienenden Historismus immerhin registriert, wenn auch nur bedingt kritisch untersucht wird: »Da unsere Armuth an Geld und Gemeingeist sich schon öfter unvermögend erwiesen hat, das Gedächtniß unsterblicher Männer unserer Nation, nach Sitte der gebildeten Völker aller Zeiten, in Marmor und Erz zu verewigen, so bleibt freilich dem teutschen Patriotismus, der doch auf irgend eine Weise seinem edlen Drange genügen möchte, nichts anderes übrig, als ihnen Denkmäler auf 42

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Werner Hofmann: Der Künstler als Kunstwerk. In: ders.: Anhaltspunkte. Studien zur Kunst und Kunsttheorie. Frankfurt/M.: Fischer 1989, S. 9 1 - 1 0 6 , hier S.91. Peter Springer: Artis Germanicae Restitutor. Asmus Jacob Carstens als >Erneuerer< der deutschen Kunst. In: Jahrbuch des Schleswig-Holsteinischen Landesmuseums Schloss Gottorf, N . F . 3 (1990/91), S.45-82, hier S. 51. Vgl. Roland Kanz: Dichter und Denker im Porträt. Spurengänge zur deutschen Porträtkultur des 18.Jahrhunderts. München: Deutscher Kunstverlag 1993 (Kunstwissenschaftliche Studien 59), S. 124. Vgl. Rolf Selbmann: Dichterdenkmäler in Deutschland. Literaturgeschichte in Erz und Stein. Stuttgart: Metzler 1988, S. 1-47 sowie zusammenfassend Rolf Selbmann: Versteinerte Poesie oder Verkehrshindernis? Zur Geschichte der Dichterdenkmäler in Deutschland. In: Archiv für Kulturgeschichte 76 (1994), S. 365-388.

Papier zu errichten [...]«. 4 6 U n d F e r n o w fährt f o r t , indem er die Idee, PapierD e n k m ä l e r nicht nur der » V e r e w i g u n g großer H e l d e n u n d Staatsmänner«, sondern eben auch derjenigen v o n » D i c h t e r n u n d Weisen« z u w i d m e n , nachdrücklich begrüßt, dabei j e d o c h eine gewisse R a t l o s i g k e i t hinsichtlich des Stils, in dem man diese zeichnerisch darstellen solle, erkennen läßt: 4 7 »In d e m z w e i ten, d e m A n d e n k e n Schillers geweiheten Blatte [...], hat die L a n d s c h a f t einen abendländisch-nördlichen Character, der sich durch die R u i n e n eines g o t h i schen G e b ä u d e s , d u r c h die aus d e m G e b ü s c h h e r v o r r a g e n d e n T a n n e n , u n d durch das auf der f e r n e n Felsenstirne liegende D o r f mit s p i t z e m T h u r m e , als ein freundliche G e g e n d O b e r t e u t s c h l a n d s ankündigt. D a s M o n u m e n t mit geriefelten Säulen dorischer O r d n u n g , w e l c h e mit d e m K a p i t ä l n o c h nicht drei D u r c h m e s s e r H ö h e halten, scheint sich dadurch als ein W e r k altgriechischen G e s c h m a c k s zu characterisiren, w e l c h e m jedoch manches v o n d e m U e b r i g e n , so w i e der C h a r a c t e r des G a n z e n , nicht entspricht«. 4 8 G a n z o f f e n k u n d i g stellt sich unter d e m E i n f l u ß des b e g i n n e n d e n H i s t o r i s mus des 1 9 . J a h r h u n d e r t s eine K o n j u n k t i o n z w i s c h e n D e n k m a l s i d e e , I n d i v i dualitätsgedanken u n d Stilpluralismus her, die d a f ü r sorgt, daß die ü b e r h i s t o risch verbindliche A n t i k e des K l a s s i z i s m u s eine neue Q u a l i t ä t g e w i n n t . 4 9 Tat-

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F[ernow:] Schillers Denkmal, von Mechau und Klinsky erfunden und gezeichnet, und von Haldenwang in Aquatinta geätzt. Dresden in der Rittnerschen Kunsthandlung; im größten Folio-Format. In: Journal des Luxus und der Moden 22 (1807), H. 8, S.495-503, hier S.496; über die Aquatinta-Graphik und Fernows Besprechung schreibt Hilmar Frank: Landschaft apres la lettre. In: Klaus Dirscherl (Hg.): Bild und Text im Dialog. Passau: Rothe 1993, S. 189-209, hier S. 200ff. mit Abb. 1. Ebd. Fernow (1807), S.496 und 497. Ebd. Fernow (1807), S. 4 98f. Als man 1865 daran ging, Asmus Jakob Carstens ein Denkmal zunächst in Schleswig, seiner Heimat, und kurz darauf auch in Rom, über seinem unterdessen verwahrlosten Grab an der Cestius-Pyramide, zu errichten, griff man vielleicht nicht ganz ohne Grund auf Fernows >Grabrede< in der Carstens-Monographie und ihre implizite Ikonographie zurück. Gewissermaßen ein auf dem Papier errichtetes Denkmal realisierend, verband man auf dem Denkmalstein ein dem Individualitätsgedanken verpflichtetes Medaillon-Bildnis des Künstlers, für das die Porträtzeichnung von Fernows Hand (unsere Abb. 42) zum Vorbild diente, mit einem Relief nach einem Werk von Carstens, wodurch man die von Fernow metaphorisch bemühte Verbindung von Werk und Denkmal >im Stein< nachvollzog. Schon Herman Riegel hatte für den graphisch als Denkmalsentwurf konzipierten Einband des von ihm herausgegebenen Stichwerkes Carstensscher Werke genau jene auch in Fernows >Grabrede< erwähnten Parzen einbezogen, indem er für das untere Bildfeld des Denkmals ein Relief nach Carstens' >Singenden Parzen< vorschlug. Für das dann tatsächlich in Rom errichtete Denkmal wählte man allerdings, obwohl man sich im Ganzen eng an Riegels Einbandsentwurf anschloß, ein Relief nach der berühmteren Zeichnung der >Nacht mit ihren Kindern< für dieses Bildfeld; vgl. Peter Springer: Das Grabdenkmal Asmus Jacob Carstens' an der Cestius-Pyramide. In: Römisches Jahrbuch für Kunstgeschichte 17 (1978), S. 183-208, hier S. 196. 31

sächlich fand einer der ersten Versuche, die Geschichte der Kunst des achtzehnten Jahrhunderts zu schreiben und damit zugleich den Klassizismus Winckelmannscher Provenienz zu historisieren, im engsten Umkreis Fernows statt. Nachdem Goethe sich eingestehen mußte, daß das von 1799 bis 1805 verfolgte Projekt der Weimarer Preisaufgaben, dessen Ziel es war, die durch das Ende der Ikonographie ausgelöste Krise der Kunst durch einen erneuerten Rückgriff auf die griechische Antike aufzufangen, zum Scheitern verurteilt war, zog er die Weimarischen Kunstfreunde Meyer und Fernow sowie den Hallenser Altphilologen Friedrich August Wolf zur Arbeit an einem Gemeinschaftsprojekt zusammen, das dem Klassizismus des achtzehnten Jahrhunderts und dem Weimarer Versuch seiner Erneuerung seinerseits ein Denkmal setzen sollte. Für das Gemeinschaftswerk >Winkelmann und sein Jahrhundert< entwarf Johann Heinrich Meyer eine Geschichte der Kunst des achtzehnten Jahrhunderts, die den Gedanken eines ahistorisch verbindlichen Klassizismus auflöste in eine im modernen Sinn kunsthistorische Sicht auf ein Jahrhundert und seine Künstler, ohne daß Meyer doch die normativen Bewertungskriterien des Klassizismus bei der Bewertung der Verdienste einzelner Künstler aufgegeben hätte. In dieser ersten Retrospektive auf den Klassizismus des achtzehnten Jahrhunderts, zu der Fernow seine >Bemerkung eines Freundes< beisteuerte, wurde nun das Erscheinen von Fernows Carstens-Monographie ausgerechnet am Ende von Meyers historischem Abriß und damit an einem Ort angekündigt, an dem es dezidiert um die Folgen der Autonomiephilosophie für eine Theorie der bildenden Kunst geht: »Was diese Anfänge für Folgen gehabt und was von solchen Wirkungen ins neunzehnte Jahrhundert übergegangen, wird künftig näher zu entwickeln seyn. Auch können wir hoffen, daß uns Fernow selbst Aufschlüsse geben werde, indem er die Geschichte des Lebens und der Bildung seines Freundes Karstens öffentlich mitzutheilen geneigt ist«. 50 Goethe hat den größten Teil des Carstensschen Oeuvres dadurch kennengelernt, daß Fernow ihm den zeichnerischen Nachlaß seines Freundes, der 1798 in R o m gestorben war, im Oktober 1803 von Jena aus übersendete. E r scheint dann in den Zeichnungen von Carstens eine Einlösung dessen gesehen zu haben, worauf es ihm bei dem allmählich scheiternden Projekt jährlicher Preisaufgaben für bildende Künstler angekommen war. Auch trug die Einsicht, daß diese größtenteils zwischen 1792 und 1798 in R o m entstandenen Werke unabhängig von den Themenstellungen der Weimarischen Kunstfreunde entstanden waren, nicht wenig dazu bei, daß der Gedanke, dem Klassizismus durch die Gründung eines bürgerlichen Kunstvereins 51 aufzuhelfen, bald fallengelas-

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[Johann Heinrich Meyer]: Entwurf einer Kunstgeschichte des achtzehnten Jahrhunderts. In: Winkelmann und sein Jahrhundert. In Briefen und Aufsätzen herausgegeben von Goethe. Tübingen: Cotta 1805, S. 161-386, hier S-367f. Nach der Gründung einer Gesellschaft der Künstler und Kunstfreunde in Leipzig im

sen und ab 1 8 0 5 keine Preise m e h r ausgeschrieben w u r d e n . 5 2 Wenn A s m u s J a k o b Carstens in d e m v o n G o e t h e herausgegebenen R ü c k b l i c k auf >Winkelmann u n d sein Jahrhundert< als »der denkendste, der strebendste v o n allen, w e l c h e zu seiner Z e i t in R o m d e r K u n s t o b l a g e n « 5 3 bezeichnet w i r d , s o scheint diese E i n s c h ä t z u n g M e y e r s durchaus derjenigen G o e t h e s entsprochen zu haben. Schließlich setzte sich G o e t h e nicht n u r d a f ü r ein, daß der künstlerische N a c h l a ß v o n C a r s t e n s f ü r die H e r z o g l i c h e n K u n s t s a m m l u n g e n a n g e k a u f t u n d damit als geschlossene S a m m l u n g erhalten w u r d e . 5 4 V i e l m e h r b e m ü h t e G o e t h e sich auch weiterhin u m eine größere ö f f e n t l i c h e B e k a n n t h e i t dieses K ü n s t l e r s , indem er eine der 1804 a n g e k a u f t e n Z e i c h n u n g e n , >Sokrates im KorbeKunststreben< von Carstens an den Anfang seiner dann 1876 publizierten Geschichte der Kunst des 19. Jahrhunderts, indem er Fernows Monographie gewissermaßen aus der Perspektive der borussisch-kleindeutschen Historiographie nach Art H. von Treitschkes nacherzählt und zum Zeugen eines sich von französischer Überfremdung mühsam emanzipierenden nationalen Kunstwollens macht, vgl. Herman Rie-

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Mit Sicherheit kann man in der unter Goethes Namen erfolgten Ankündigung des Fernowschen Buches in >Winkelmann und sein Jahrhundert< einen der Gründe dafür sehen, daß die Kunstgeschichtschreibung des neunzehnten Jahrhunderts sich in der Tat auf Carstens als Leitfigur berufen sollte, sobald es darum ging, die Zeit seit Ausgang des achtzehnten Jahrhunderts als Anbruch einer neuen Epoche zu begreifen. Wenngleich keinesfalls übersehen werden darf, daß es zunehmend nationalistischere Tonarten sind, in denen die Kunsthistoriographie seit der Mitte des 19. Jahrhunderts die >neue< Kunst >seit Carstens< als Renaissance der Kunst nach einem Zeitalter des Verfalls imaginiert, ließe sich in dem durchgängig festzustellenden Bewußtsein für einen mit der Kunst von Carstens anzusetzenden Bruch eventuell ein Indiz dafür sehen, daß schon das neunzehnte Jahrhundert ein Bewußtsein dafür besaß, daß mit dem letzten Drittel des achtzehnten Jahrhunderts die Sattelzeit der Moderne zu datieren sei. N u r verstand man die zeitlich hier anzusetzenden Umbrüche in der Kunst und ihrer Theorie nicht als Ausdruck einer Krise, sondern war fest entschlossen, sie affirmativ als Wiedergeburt genuin deutschen Kunstschaffens nach einer moralisch dekadenten und national fremdbestimmten Epoche zu feiern. J 7 Zugleich läßt sich an jener Kunstgeschichtsschreibung im 19.Jahrhundert, die sich mit dem 18.Jahrhundert beschäftigt, ablesen, inwiefern die Ausbildung eines Epochenbegriffes für die >Renaissance um 1500< sich parallel und in erstaunlicher inhaltlicher Ubereinstimmung zur Ausbildung der Vorstellung einer Wiedergeburt deutscher Kunst >um i8oo< vollzieht. Es drängt sich beinahe der Verdacht auf, das Bild der Renaissance, wie es zwischen Goethe und Burckhardt entsteht, verdanke sich der hypostasierenden und heroisierenden Projektion des Ergebnisses sozialhistorischer Entwicklungen seit dem späten 18.Jahrhundert auf das späte Mittelalter. 58 In der Tat stellt Hans gel: Geschichte der deutschen Kunst seit Carstens und Gottfried S c h a d o w . 1. Theil: Geschichte des Wiederauflebens der deutschen K u n s t zu E n d e des 18. und A n f a n g des 19. Jahrhunderts. E i n Beitrag zur Geschichte der allgemeinen Wiedergeburt des deutschen Volkes. Hannover: Rümpler 1 8 7 6 . D i e graphische Einbandgestaltung der 2. A u f l . der von Riegel mit einer höchst pathetischen Einleitung versehenen >UmrissStiche< nach W e r k e n von Carstens (1869), deren erste A u f l a g e Christian Schuchardt herausgegeben hatte, scheint einer Beobachtung Peter Springers zufolge »ganz bew u ß t auf diese Formulierung F e r n o w s zurückzugreifen«, auf die Metapher des >Denkmals< nämlich, »denn sie zeigt nicht nur eine das ausgeführte Grabdenkmal [von Carstens an der Cestius-Pyramide in R o m , H . T . ] vorwegnehmende denkmalartige Komposition, sondern darüber hinaus auch die bildliche A u s s c h m ü c k u n g des >Denksteins< durch eine Wiedergabe v o n Carstens' Kreidezeichnung mit den drei singenden Parzen«, vgl. Springer ( 1 9 7 8 ) , S. 196. 57

V g l . zur Rezeptionsgeschichte von Carstens die vorzügliche, ebenso materialreiche wie kritische Studie von Peter Springer: Artis Germanicae Restitutor. A s m u s J a c o b Carstens als >Erneuerer< der deutschen Kunst. In: Jahrbuch des Schleswig-Holsteinischen Landesmuseums Schloss G o t t o r f , N . F . 3 ( 1 9 9 0 / 9 1 ) , S . 4 5 - 8 2 .

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F ü r eine Datierung der M o d e r n e in das späte 18. Jahrhundert plädiert insbesondere

Blumenberg fest: »Das schöpferische Selbstbewußtsein, das an der Grenze von Mittelalter und Neuzeit aufbrach, fand sich ontologisch unartikulierbar: als die Malerei nach ihrer >Theorie< zu suchen begann, assimilierte sie sich die aristotelische Poetik. [...] Verlegenheit der Artikulation angesichts des Ubergewichts der metaphysischen imitatio-Tradition und der Renaissancegestus der Rebellion gehören zusammen.«59 Aus dieser Perspektive ließe sich die Kunsttheorie um 1800 mit Baeumler als Verschriftlichung von Praktiken betrachten, die seit der Renaissance gelebt worden sind: »In der Renaissance ist nun zwar die Individualität erlebt worden; aber sie kommt noch nicht zum Bewußtsein. [...] Erst in der Epoche der Ästhetik tritt diese Reflexion ein, und damit erscheinen Verwicklungen und Konflikte, von deren Vorhandensein die im Schutze ihrer Autoritäten unbedenklich dahinlebenden Renaissancemenschen noch nichts ahnen. Was um 1500 bloße Tatsache war, wird nach 1700 zum Problem. Damit wird die moderne Seele mit ihrem unendlichen inneren Zwiespalt geboren.«60 Die Figur des >Künstlers< nun kann mit Sicherheit als ein bevorzugter Gegenstand eines sich dem Problem der Individualität widmenden Diskurses gelten, ist doch schon Sulzer zufolge »jeder Künstler ein Dichter; die vornehmste Kraft seines Genies wird angewendet, die Vorstellungen des Geistes in körperliche Formen zu bilden«.61 Für eine sozialgeschichtliche Betrachtungsweise steht seit langem fest, daß die Geschichte des modernen Künstlers im späten 18. Jahrhundert beginnt. Die Ablösung des noch immer in die Zwänge, aber auch in die sozialen Absicherungen der Kunstakademien eingebundenen Hofkünstlers durch den auf eigenes Risiko arbeitenden Ausstellungskünstler wird etwa mit Jacques-Louis Davids Ausstellung des Gemäldes >Serment des Horaces< 1785 in Rom in Verbindung gebracht.62 Mit mindestens gleichem Recht könnte man auf jene Ausstellung verweisen, die Asmus Jakob Carstens zehn Jahre später im römischen Reinhart Koselleck: Das achtzehnte Jahrhundert als Beginn der Neuzeit. In: Reinhart Herzog, Reinhart Koselleck (Hg.): Epochenschwelle und Epochenbewußtsein. München: Fink 1987 (= Poetik und Hermeneutik 12), S. 269-282. Die vielfältigen Kontinuitäten zwischen Mittelalter und der Zeit nach 1500 betont insbesondere Paul O . Kristeller: Humanismus und Renaissance. H g . von Eckhard Keßler. 2 Bde. M ü n chen: Fink 1974 (= Humanistische Bibliothek I, 21). 59

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Hans Blumenberg: »Nachahmung der Natur«. Z u r Vorgeschichte der Idee des schöpferischen Menschen. In: ders.: Wirklichkeiten in denen wir leben. Stuttgart: Reclam 1 9 8 1 , S. 5 3 - 1 0 3 , hier S.62. Alfred Baeumler: Das Irrationalitätsproblem in der Ästhetik und Logik des 1 S.Jahrhunderts bis zur Kritik der Urteilskraft. 2. A u f l . Darmstadt: w b 1967, S. 1. Artikel Künstler in: Johann George Sulzer: Allgemeine Theorie der schönen Künste. 2. A u f l . 3. Theil. Leipzig: Weidmann 1793, S. 1 0 0 - 1 0 4 , hier S. 1 0 1 . Vgl. zusammenfassend Oskar Bätschmann: Ausstellungskünstler. Z u einer G e schichte des modernen Künstlers. In: Michael Groblewski, Oskar Bätschmann (Hg.): Kultfigur und Mythenbildung. Das Bild vom Künstler und sein Werk in der zeitgenössischen Kunst. Berlin: Akademie Verlag 1993, S. 1 - 3 5 , hier S. 2. 35

Atelier Pompeo Batonis veranstaltete, denn tatsächlich treten an diesem Ereignis ungleich mehr Charakterzüge modernen Ausstellungswesens zu Tage denn je zuvor. 63 Schließlich waren bis dahin neben den regelmäßig stattfindenden Akademieausstellungen Einzelausstellungen jeweils nur eines oder ganz weniger soeben fertiggestellter Gemälde zum Zweck allgemeiner Begutachtung üblich gewesen - erst Carstens veranstaltete eine Art früher Werkretrospektive, die einen Uberblick ausschließlich über sein Schaffen und seine Intentionen geben sollte und die sich zu genau diesem Zweck stilpolitischer Strategien bediente. Schon die Wahl des Ausstellungsortes stellte in dieser Hinsicht einen Affront gegen die Überfeinerung der Spätbarockmalerei dar, da Carstens für seine Werkschau eines >strengen< Klassizismus ausgerechnet das Atelier des im Jahre 1787 verstorbenen Pompeo Batoni, des wohl wichtigsten Repräsentanten des römischen Spätbarock, wählte. 64 Daß jene Ausstellung darüber hinaus bewußt als Bruch mit einem als veraltet betrachteten Stil inszeniert wurde, erkennt man jedoch erst, wenn man betrachtet, daß Carstens und Fernow gemeinsam eine Art von Ausstellungsmanifest lanzierten, das seinerseits polemische Reaktionen beim Gros der in Rom weilenden Künstler hervorrief und damit den quasi sezessionistischen Charakter der Carstensschen Ausstellung bestätigte: Fernow veröffentlichte im Teutschen Merkur einen Aufsatz über die römische Ausstellung, in dem er ihr zuschrieb, daß »sie eine neue Epoche der Kunst zu verkündigen scheint«. 65 Vergleicht man Fernows Kritik der Carstensschen Ausstellung mit der traditionellen Form des Ausstellungsberichts, wie sie seit dem ersten >Livret< zu einer Akademieausstellung im Jahr 1673 auf-

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Vgl. Georg Friedrich Koch: Die Kunstausstellung. Ihre Geschichte von den Anfängen bis zum Ausgang des 18.Jahrhunderts. Berlin: de Gruyter 1967, S. 271; Ekkehard Mai geht in der instruktiven Abhandlung Expositionen. Geschichte und Kritik des Ausstellungswesens. München, Berlin: Deutscher Kunstverlag 1986, aufgrund einer gegenwartskritischen Fragestellung lediglich der Geschichte institutionalisierter Ausstellungen nach. Nach Abschluß der Arbeit erschien Frank Büttner: Der autonome Künstler. Asmus Jakob Carstens' Ausstellung in Rom 1795. In: »Die Kunst hat nie ein Mensch allein besessen«. Ausstellungskatalog der Akademie der Künste, Berlin 1996, S. 195-204. Vgl. Herbert von Einem: Die Kunst der Deutschrömer. In: Hans Geller (Hg.): Die Bildnisse der deutschen Künstler in Rom 1800-1830. Berlin: Deutscher Verein für Kunstwissenschaft 1952,8.3-3 6, hier S. 13 f. Jenseits des von Carstens und Fernow als Affront gegen den Barock inszenierten Charakters der Ausstellung muß man allerdings berücksichtigen, daß Batonis Ruf als Porträtist englischer Romreisender gegen 1800 rapide im Abnehmen begriffen war, also ein allgemeiner Geschmackswandel sich - nicht zuletzt in den Verkaufszahlen seiner Werke - abzuzeichnen begann; vgl. Anthony M. Clark: Pompeo Batoni. A complete catalogue of his works with an introductory text. Ed. by Edgar Peters Bowron. Oxford: Phaidon 1985, S.43. Fernow: Ueber einige neue Kunstwerke des Hrn. Prof. Carstens. In: Der Neue Ternsche Merkur vom Jahre 1795. Bd. 1, S. 158-189, hier S. 159.

gekommen war, 66 so wird man auf den ungewöhnlichen Ton in Fernows Text aufmerksam. Während beispielsweise noch Aloys Hirt in einem Bericht über die Ausstellung der französischen Akademie in R o m ein kollektives Lob für die Leistungen der jährlich ihre jüngsten Arbeiten ausstellenden zwölf Romstipendiaten ausspricht, um letztlich die Einrichtung der Akademieausstellung mit thematischen Vorgaben als solche zu würdigen, da sich hier, an der »praktis c h e ^ ] Kenntniss« - also nicht an der dichterischen Erfindung - zu beweisen habe, »ob einer ein richtiges Auge für die Farbe hat, um das Fleisch sowohl im Schatten als Lichte rein zu malen, und die Theile durch das Delikate der Ubergänge und das Beschwerliche der Wiederscheine [sie] zu runden«, 67 zählt Fernow die separat ausgestellten Carstensschen Zeichnungen gerade deswegen unter die »ächten Produkte[n] des Genie's«, 68 weil sie keine akademischen Themen aufgreifen, sondern »fast lauter neue und für die bildende Kunst noch wenig oder gar nicht genutzte Gegenstände« 69 darstellen. Dennoch seien diese »Schöpfungen der Fantasie« 70 aus sich selbst verständlich, jedenfalls für diejenigen, »die den Grad von Kultur haben, der zur Einsicht der Analogie zwischen dem Bezeichneten und dem Zeichen erforderlich ist«. 71 Das Carstenssche >KunststrebenJournaux intimesKunststreben< des Künstlers, dem er ein eigenes Kapitel widmet. Nachdem die beginnende Autonomiephilosophie die Frage, ob Kunstwerke beschreibbar seien, nur verneinend beantworten konnte, 82 verzichtet denn auch Fernow auf Ekphrasis in so weitgehendem Ausmaß, daß lediglich eine einzige Zeichnung von Asmus Jakob Carstens in beschreibenden Kategorien gewürdigt wird; es handelt sich um die letzte, unvollendete, dem Künstler vom Tod aus der Hand genommene Zeichnung >Das Goldene Zeitaltern Schon im Bericht über die römische Ausstellung von Carstens hatte Fernow, eventuell unter impliziter Berufung auf Karl Philipp Moritz, grundsätzlich befunden: »Die bildenden Künste reden eine Sprache, die sich nicht in Worte übersetzen läßt«. 83 Nicht um Beschreibung des handwerklich Vollendeten geht es Fernow; 8 4 er schreibt vielmehr eine G e -

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des 19.Jahrhunderts. Hildesheim, Zürich, New York: Olms 1988 (=Studien zur Kunstgeschichte 47), S. 84. In einer ähnlichen Situation befindet sich auch der >romantische< Schriftsteller. Über Shelley's frühen Gedanken einer Art von ecriture automatique vgl. Murray Krieger: Ekphrasis. The illusion of the natural sign. Baltimore, London: Hopkins 1992 , S. 11 o: »this aesthetics threatens to become an anti-aesthetic whose rejection of too narrow a conception of form may lead to the total abandonment of form«. Dies ist Karl Philipp Moritz' Antwort auf die selbstgestellte Frage seiner Abhandlung >Die Signatur des Schönen. In wie fern Kunstwerke beschrieben werden können?< In: Karl Philipp Moritz: Schriften zur Ästhetik und Poetik. Kritische Ausgabe, hg. von Hans Joachim Schrimpf. Tübingen: Niemeyer 1962, S. 93-103. In Fernows Bibliothek befanden sich von Moritz: Uber die bildende Nachahmung des Schönen. Braunschweig 1788; Vorbegriffe zu einer Theorie der Ornamente. Berlin 1793 sowie die Englische Sprachlehre für die Deutschen. 4. Aufl. Berlin 1796 Fernow, Ueber einige neue Kunstwerke des Hrn. Prof. Carstens (1795), S. 185. Diese Eigenart Fernows betont auch die kluge Dissertation von Christian Schuster: The work of art in german literature. Methods and techniques of description from 1755-1830. Diss. Philadelphia 1948, S.94-102, hier S. 97. Fernows >Beschreibungen< von Werken Carstens' und Canovas werden hier neben einschlägigen Passagen von Schiller sowie - mit Einschränkungen - von Ramdohr und Seume in einem den >Extreme Neo-Classical Formalists< gewidmeten Kapitel behandelt. Schuster sieht, wie jedenfalls die Einteilung der Kapitel seiner Arbeit nahelegt, daß Goethe, Moritz und Meyer als >the classicists< gewisse Gemeinsamkeiten haben, aus denen Fernows Versuch einer extremen Formalisierung des Ästhetischen dann die radikalen Konsequenzen zieht.

schichte der im >Kunststreben< sich offenbarenden kreativen Phantasie des Künstlers, der >BildungskraftGedanken< nur »eitle[ ] B e m ü hungen nach einer unbefriedigenden Classification das trennen zu wollen, was ewig zusammen gehört, und nur in Einheit wirken kann« (Friedrich Schlegel: V o m R a p h a el. In: E u r o p a . Eine Zeitschrift ( 1 8 0 3 ) , 1,2, S . 3 - 1 9 , hier S. 1 1 ) ; konsequenterweise mündete das G e m ä h l d e - G e s p r ä c h der Schlegels in den V e r s u c h , Bilder in Sonetten nachzudichten, statt ihre Kompositionen zu analysieren. D e r weniger lyrisch veran-

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Einfache Nachahmung der Natur, Manier, Kunstgeschichte: Zum Begriff des Stils um 1800 F e r n o w beginnt seine C h a r a k t e r i s t i k des C a r s t e n s s c h e n Werkes mit einem K a pitel ü b e r dessen Stil. Schon diese E n t s c h e i d u n g v e r w e i s t auf eine tiefgreifende W a n d l u n g des Kunstverständnisses, die sich als A b l ö s u n g des rhetorischen Stilbegriffes d u r c h das K o n z e p t künstlerischer A u t o n o m i e v o l l z o g e n hat. D e n n in den traditionellen K u n s t l e h r e n spielt der Stilbegriff eine, w i e man sehen w i r d , völlig anders geartete R o l l e . E s läßt sich a m K u n s t d i s k u r s der Z e i t u m 1800 beobachten, daß der Stilbegriff eine allgemeine K o n j u n k t u r erfährt. D e m kleinen A u f s a t z >Einfache N a c h a h m u n g der N a t u r , Manier, Styl< ( 1 7 8 9 ) v o n G o e t h e w u r d e in diesem Z u s a m m e n h a n g s c h o n i m m e r ein maßgeblicher E i n f l u ß attestiert. F r a g l i c h ist allerdings, ob sich die neue R o l l e des Stilbegriffes f ü r die K u n s t t h e o r i e des Weim a r e r K l a s s i z i s m u s vollständig daraus erklären läßt, daß sich in i h m das k u n s t politisch zu erklärende Ziel einer E r n e u e r u n g v o n N o r m a t i v i t ä t b e g r i f f l i c h manifestiere. Insbesondere die spezifische D i f f e r e n z i e r u n g der B e g r i f f e Stil versus M a n i e r im U m k r e i s der Weimarischen K u n s t f r e u n d e w ä r e dieser Lesart

lagte Klassizist Fernow hingegen behielt nicht anders als Luigi Lanzi oder Quatremere de Quincy die Kategorientafel bei (vgl. das Tizian-Kapitel in dem von Fernow stark benutzten Luigi Lanzi: Storia pittorica della Italia, 2. Aufl. 2 Bde., Bassano: Remondini 179$ I96, hier Bd. 2,1 (1796), S. 77ff. [Randbemerkungen ungeklärter Provenienz finden sich im Exemplar H A A B Dd,2:$2ia zur Geschichte der Florentiner Schule, Bd. 1, S. 3 - 7 1 ] oder Quatremere de Quincy: Geschichte Raphael's und seiner Werke. Quedlinburg, Leipzig: Basse 1835, S.254-269: Erfindung, Composition, Ausdruck, Zeichnung, Coloritund Manier), entkleidete sie jedoch ihres normativ-didaktischen Sinnes und verwendete sie deskriptiv zur Beschreibung eines >Stils< und eines >Kunststrebens< - beides Kategorien, die weder bei Mengs noch bei seinen akademischen Gewährsmännern verwendet werden und in dieser Form auch von Johann Heinrich Meyer oder Goethe nicht benutzt werden. Doch Fernows Verwendung des klassizistischen Kategorienspeichers geht nicht in der Deskription eines Werkes und in der Rekonstruktion des in ihm angelegten Kunststrebens auf; denn diese >kunsthistorische< Sicht auf ein spezifisches Werk ist fundiert durch eine geschichtsphilosophisch argumentierende spekulative Gattungsästhetik, die, wie Szondi für die vergleichbaren Bemühungen Schillers und Goethes formuliert hat, »den Schritt wagt vom Gegebenen zur Idee, von der Historie zur Philosophie, vom Deskriptiv-Induktiven zum Spekulativ-Deduktiven« (Peter Szondi: Poetik und Geschichtsphilosophie II: Von der normativen zur spekulativen Gattungspoetik. Schellings Gattungspoetik. Hg. von Wolfgang Fietkau. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1974 [= Studienausgabe der Vorlesungen 3], S. 10). Aus dieser Perspektive betrachtet, stellt Fernows >stilpolitische< Unterwanderung des klassizistisch-normativen Kategorienspeichers möglicherweise eine wichtige Vermittlungsleistung auf dem Weg zu den Ästhetiken der Kunst von Schelling und Hegel dar, die ihrerseits die klassizistischen Kategorien einsetzen, um auf je verschiedene Weise zur Idee der Gattungen der bildenden Kunst vorzudringen.

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zufolge Indiz für eine vom Klassizismus intendierte Erneuerung einer verbindlichen Kunstlehre. Denn man könne ausführen, wie der traditionell in der rhetorischen Dichtungslehre beheimatete Stilbegriff gezielt auf die bildende Kunst übertragen worden sei, um den hier vorherrschenden Begriff der Manier und damit künstlerische Individualität zu verdrängen. Der ursprünglich - etwa bei Vasari - wertfreie Begriff der >maniera< werde durch das Aufkommen des Neoklassizismus im 18.Jahrhundert pejorativ belegt und unter Subjektivismusverdacht gestellt, was sich etwa an Goethes Reaktion auf Diderots Malereitraktat zeigen ließe. 87 Goethes Bemühungen um eine Abgrenzung von Formen der einfachen Nachahmung der Natur, der Manier und des Stils dienten dieser Sichtweise zufolge lediglich der Abwertung des Konkreten und A n schaulichen in der Kunst. In der Tat läßt sich an den späteren, auf Goethes begrifflichen Vorstössen aufbauenden Weimarer Bemühungen um bildende Kunst zeigen, daß etwa Heinrich Meyer sich des Stilbegriffes insbesondere zu dem Zweck bedient, um die technische Fertigkeit der Umsetzung einer künstlerischen Idee ins Werk zu bezeichnen, daß Meyer also - wie Ernst Osterkamp ausführt - eine »Reduktion des Individualstils auf eine technische Fertigkeit« 88 vornimmt. Nun kann man Zweifel anmelden, ob die hier vorliegende Sicht, die sich insbesondere auf die Leitdifferenz von Stil und Manier beruft, nicht - aus der historischen Langzeitperspektive betrachtet - etwas zu kurz greift. Denn in der Tat dienten im Rahmen der rhetorischen Wissensformation beide Begriffe, sowohl >Stil< als auch >ManierStil< mehr auf Seiten der Literatur, >Manier< mehr auf Seiten der bildenden Kunst, beide Begriffe aber mit prinzipiell vergleichbarer Funktion. So konnte sich etwa Poussin für sein Konzept der >maniera magnificaOsservazioni di Nicola Pussino sulla Pittura< entwickelt, ganz im Sinne des >ut pictura poesiscarattere< unterschieden hatte: >sublimetemperato< und >tenuel'homme< nicht den subjektivistischen Künstler der Moderne, sondern den sich rein gesellschaftlich durch Weltgewandtheit und >gout< ausweisenden >honnete homme< des Ancien Regime meint.92 Angemessenheit an den Gegenstand ist daher oberstes Gebot für die Wahl des Stils, und so schreibt selbst noch Diderot im Salon von 1769: »Vous me demanderez peut-etre ce que j'entends par le style en peinture. [...] Le style, dans un sujet sacre ou profane, historique ou fabuleux, consiste ä trouver des physionomies, des caracteres de tete, des vetements analogues aux moeurs, aux coutumes, aux usages du temps.«93 Dennoch vollzieht sich bei Autoren wie Buffon und Diderot ein Bedeutungswandel des Stilbegriffs. Denn die Aufwertung der Sinnlichkeit im 18.Jahrhundert, die sich etwa in einer Ästhetik der delicatesse, in der zunehmenden Beachtung der petites sensations niederschlug und damit die niederen Seelenvermögen - wie etwa die Imagination - ins Interessenfeld einer zunehmend empirisch arbeitenden Seelenkunde geraten ließ, verursacht unter anderem eine Historisierung und Temporalisierung des Stilbegriffes. Wenn die Beurteilung von Kunst sich nicht mehr als Akt rationaler Lektüre vollzieht, sondern sich zunehmend den Unwägbarkeiten der delicatesse, den sich der Sprache entziehenden Wahrnehmungen des je ne sais quoi und den Spuren der assoziativ verfahrenden Erinnerung und Imagination anvertraut,94 wenn mithin

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Vgl. Peter-Eckhard Knabe: Schlüsselbegriffe des kunsttheoretischen Denkens in Frankreich von der Spätklassik bis zum Ende der Aufklärung. Düsseldorf: Schwann 1972, S. 444. Wolfgang G. Müller: Der Topos »Le style est Phomme meme«. In: Neophilologus 61 (1977), S.481-494, hier S.485. Denis Diderot: Oeuvres completes. Hg. von J. Assezat, Bd. 1 1 , Paris: Garnier 1876, S. 396. In Fernows Bibliothek befand sich ein Dizionario di belle lettere, composto dai Signori d'Alembert, Diderot, Marmontel etc. per l'enciclopedia metodica. Roma 1795; sowie Rameau's N e f f e in der Übersetzung von Goethe, Leipzig 1805. Erich Köhler: Je ne sais quoi. Ein Kapitel aus der Begriffsgeschichte des Unbegreiflichen. In: Romanistisches Jahrbuch 6 (1953-54), S. 21-59.

der Betrachter zur bestimmenden Instanz der als Wissenschaft der sinnlichen Erkenntnis entstehenden Ästhetik ins Blickfeld rückt und dem Glauben an die Regelbarkeit der Kunst der Boden entzogen wird, dann taugt auch der Begriff des Stils nicht mehr zur objektiven Bestimmung einer rhetorisch verstandenen Stilhöhe, in der Künstler und Rezipient übereinkämen. 95 Vielmehr wird die Fremdheit der Werke zum einen als historische Distanz empfunden - wodurch der Gedanke des >Epochenstils< bei Caylus und Winckelmann das Komplement zur allgemeinen Historisierung der Kunst im 18.Jahrhundert wurde; zum anderen aber rückt die Erfahrung des Fremdwerdens der Kunst auch das Zeitgenössische in die Distanz einer Verweigerung gegenüber lebenspraktischer Vereinnahmung: Daß ein Künstler einen >Individualstil< habe, setzt seitens des Betrachters gleichfalls die Anerkennung fremder Individualität und damit die Anerkennung ihres Andersseins voraus. Die Extrempunkte des historischen Prozesses steckt Ketelsen ab: »War im 16. Jahrhundert die künstlerische Erfahrung des Betrachters sowie sein Vermögen der Nachahmung die unabdingbare Voraussetzung dafür, die >maniera< eines Künstlers zu begreifen, so ist im 20. Jahrhundert der >unproduktive< Betrachter jene Instanz, die es allein vermag, das zu beurteilende Gemälde im Hinblick auf seinen Stil einem Künstler zuzusprechen.« 96 Das Entscheidende an dieser Entwicklung ist nach Luhmann, daß erst nach der Selbstorganisation der Kunst zum autopoietischen System im späten 18.Jahrhundert zwischen Gegenstand und Stil unterschieden und daß »die Referenz des Stils in der Autonomie der Kunst« 9 7 und nicht mehr in der Machart des Kunstwerks gesucht wird. Asthetisierung und Historisierung der Kunst verlaufen in der zweiten Hälfte des 18.Jahrhunderts parallel zueinander. 98 Das Eindringen des Gedanken der Historizität aller künstlerischen Produktionen schließt die künstlerische Überlieferung zur systematisch überblickbaren Kunstgeschichte ab. In Winckelmanns »Geschichte der Kunst des Alterthums< werden die traditionell in der Dichtungslehre beheimateten Stilbegriffe in leicht modifizierter Form auf die bildende Kunst, auf die Plastik der Antike, übertragen und dabei als

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Allerdings ruht im Adressatenbezug der Rhetorik, im expliziten E i n b e z u g des B e trachters und H ö r e r s ein in diesem Sinne produktives Element, das »in Bildern der Vergangenheit die verborgene G e g e n w a r t des A f f e k t s suchen und finden« läßt, vgl. Klaus D o c k h o r n : Epoche, F u g e und »Imitatio«. Rhetorische K o m p o n e n t e n des H i storismus. In: ders.: Macht und W i r k u n g der Rhetorik. Bad H o m b u r g , Berlin, Z ü rich: Gehlen 1968 ( = R e s p u b l i c a Literaria 2), S. 1 0 5 - 1 2 4 , hier S. 1 1 9 .

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Ketelsen (1990), S. 2 1 9 .

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Luhmann ( 1 9 8 6 ) 636.

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Vgl. den perspektivenreichen A u f s a t z von H e r m a n n Lübbe: Historisierung und A s thetisierung. U b e r Unverbindlichkeiten im Fortschritt. In: ders.: D i e A u f d r i n g l i c h keit der Geschichte. Herausforderungen der M o d e r n e v o m Historismus bis z u m N a tionalsozialismus. G r a z , W i e n , Köln: Styria 1 9 8 9 , S . 4 6 - 6 3 .

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zeitliche Abfolge verstanden." Das Eindringen des Zeitfaktors in das rhetorische Wissen von den Stilen und ihrer Aktualisierbarkeit im Dienst einer »Effektverstärkung der Kommunikation« 1 0 0 trägt als Baustein jenes umfassenden Auflösungsprozesses der klassischen Episteme dazu bei, daß die Fülle der vorhandenen Werke der Kunst verzeitlicht wird zur Folge historisch auseinander hervorgehender Stile. Daß Winckelmann in diesem Prozeß einer Entrhetorisierung des Stilbegriffs eine zentrale Rolle zufällt, ist seit der Krise der hermeneutischen Wissenschaften am Anfang des 20. Jahrhunderts und seit der durch diese Krise bedingten Rückwendung auf die eigenen historischen Voraussetzungen immer schon gesehen worden: Stil war jetzt als Terminus für die Kunstgeschichte gewonnen, aber vergebens suchen wir bei Winckelmann selbst nach einer Definition des neuen Terminus. Die griechischen Kunstwerke haben Stil, durch ihren Stil unterscheiden sie sich ebenso von den Kunstwerken der Neueren wie von den Gegenständen der Natur - das stand fest, aber worin dieser Stil bestehe, was unter ihm zu verstehen sei, das blieb eine offene Frage. 1 0 1

Offen blieb die Frage einer Definition des >Stils< in der Tat. Anton Raphael Mengs brauchte den Begriff des Stils nicht, wenn er jungen Malern in den b e danken über die Schönheit und über den Geschmak in der Malerey< erläuterte, wie man den großen Vorbildern der Malerei deren Technik der Naturnachahmung eklektisch und geschmackvoll ablernen könne. Auch für Sulzer ist >Stil< nur ein Problem der >SchreibartKritik der Urteilskraft den Stilbegriff nicht kennt, hat Herbert von Einem zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen zum Stilbegriff Fernows gemacht. 103 Bevor der Stilbegriff zu jener leitenden Größe der Kunstkritik wurde, als die er im Denken des Historismus des ^.Jahrhunderts rangiert - man denke an Heinrich Hübschs berühmtgewordene Frage von 1828: »In welchem Stil sollen wir bauen?« 104 - bedurfte es offensichtlich noch der dialektisch auf-

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Ernst H . Gombrich: Kunst und Fortschritt. Wirkung und Wandlung einer Idee. Köln: D u M o n t 1978, S. 4off.; inwiefern Winckelmann sich hierfür auf Kategorien antiker Autoren stützen konnte untersucht Max Kunze: Affinitäten über zeitliche Grenzen: Klassizistische Kunsttheorien der Antike und ihre Rezeption zu Beginn der deutschen Klassik durch J.J. Winckelmann. In: Roger Bauer u.a. (Hg.): Proceedings of the 12th congress of the international comparative literature association. München 1988, S . 3 5 9 - 3 6 3 .

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Luhmann (1986), S.634. Eduard Castle: Z u r Entwicklungsgeschichte des Wortbegriffs Stil. In: GermanischRomanische Monatsschrift 6 (1914), S. 15 3 - 1 6 0 , hier S. 15 5.

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Castle (1914), S. 154. von Einem (1935), S. 97ffVgl. Hans Gerhard Evers: Z u r Anordnung der Stile. In: Werner Hager, Norbert Knopp (Hg.): Beiträge zum Problem des Stilpluralismus. München: Prestel 1 9 7 7 (= Studien zur Kunst des neunzehnten Jahrhunderts 38), S. 20-28, hier S. 2of.

einander bezogenen Entzweiung zwischen dem klassizistischen Versuch, der Antike zu erneuter Vorbildlichkeit zu verhelfen, und der romantischen Rückwendung auf ein zunehmend als >deutsch< empfundenes Mittelalter. »Die kunsthistorische Sicht auf die Vergangenheit trennt den Stil von den Inhalten«, 105 schreibt Werner Busch über jene Verwissenschaftlichung des Denkens über Kunst, die seit Ausgang des 18.Jahrhunderts das Denken nicht nur der sich formierenden Kunstgeschichte, 106 sondern eben auch der Künstler selbst bestimmt. Jenseits des normativen Anspruches, mit dem der Klassizismus eine Vorbildlichkeit der Antike und der Hochrenaissance proklamiert, erscheint aus dieser Perspektive als wesentlich, daß im Klassizismus bestimmte historische Epochen oder Individualleistungen, die als solche überhaupt erst gedacht werden wollten, als Stilideal empfohlen werden - schließlich verfügte die Zeit um 1800 noch nicht über kunstgeschichtliche Epochenbegriffe für >BarockRenaissance< oder gar >FrührenaissanceNeueren< den Stil des späten Raffael als vorbildlich erscheinen lassen möchte, denkt den Stil von Werken der Kunst prinzipiell unabhängig von ihrem Gegenstand und ihrer Funktion: Form und Inhalt der bildenden Kunst sind damit geschieden - ein Befund, der ex negativo dokumentiert wird durch die um 1800 und nicht zuletzt von Goethe erhobene Forderung nach einer >symbolischen< Kunst, in der diese Entzweiung wiederum aufgehoben wäre. Doch die Frage, ob man die klassizistische Antwort auf die moderne Ablösung der Signifikanten von ihren Signifikaten rein als kompensatorischen A k t zu verstehen habe, wird durchaus differenzierter zu beantworten sein, als dies ein erster begriffsgeschichtlicher Uberblick aus großer zeitlicher Distanz nahezulegen scheint. Denn ungeachtet des Umstandes, daß mit dem Klassizismus um 1800 der H i storismus des 19. Jahrhunderts aus der Taufe gehoben wird, kündigt sich in ihm zugleich die antinaturalistische Produktionsästhetik der Moderne an; - und das vielleicht deswegen, weil die klassizistischen Optionen unter den möglichen Stilvorbildern angesichts der romantischen Konkurrenz unter Begrün-

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Werner Busch: Umrißzeichnung und Arabeske als Kunstprinzipien des 19. Jahrhunderts. In: Regine Timm (Hg.): Buchillustration im 19. Jahrhundert. Wiesbaden: Harrassowitz 1988 (= Wolfenbütteler Schriften zur Geschichte des Buchwesens 15), S. 1 1 7 - 1 4 8 , hier S. 129.

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Vgl. Beat Wyss: Der letzte Homer. Z u m philosophischen Ursprung der Kunstgeschichte im Deutschen Idealismus. In: Peter Ganz, Martin Gosebruch, Nikolaus Meier, Martin Warnke (Hg.): Kunst und Kunsttheorie 1400-1900. Wiesbaden: Harrassowitz 1991 (= Wolfenbütteler Forschungen 48), S . 2 3 1 - 2 5 0 .

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Johannes Jahn: Die Problematik der kunstgeschichtlichen Stilbegriffe. Berlin: Akademie-Verlag 1966 (= Sitzungsberichte der sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, phil.-hist. Klasse 112,4), S. ιγίί.

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dungsnotstand gerieten und theoretisch neu fundiert werden wollten. Der Stilbegriff spielt hierbei, wie man sehen wird, eine prominente Rolle. Wenn der Stilbegriff um 1800 tendenziell normativ aufgeladen erscheint, so liegt das nicht zuletzt daran, daß es gerade der erhabene Stil, das genus grande der Rhetorik, war, dem die Rolle zufiel, zum Stil in einem absoluten Sinne zu avancieren. 108 In Goethes Aufsatz >Einfache Nachahmung der Natur, Manier, Styl< verliert der erhabene Stil sein Epitheton und wird zum Stil schlechthin. Dem Stilbegriff wird damit einerseits aufgebürdet, jene höchste Form der Kunst zu bezeichnen, die Goethe später >symbolisch< nennen und in der er Allgemeines und Besonderes, Form und Inhalt als versöhnt denken wird. 1 0 9 N a türlich hat diese unverkennbar neuplatonisch inspirierte Befrachtung des Stilbegriffs mit dem abstrakt genug verbleibenden Hinweis auf die eigene Bedeutsamkeit einerseits eine Tendenz zu erneuter Normativität, insofern insbesondere die unter Subjektivismusverdacht gestellte >Maniereinfache Nachahmung< als inferiore Kunstbestrebungen in den Vorhof der >eigentlichen< Kunst verwiesen werden: Daß durch eine einseitige Betonung des Ideellen die eigentlich künstlerische Produktion im Falle der Malerei als geistlose Pinselei diffamiert werde, daß der Stilbegriff in seiner Verwendung bei Johann Heinrich Meyer »das Problem künstlerischer Individualität auf eines der technischen Fertigkeit« reduziere und »die künstlerische Eigentümlichkeit nur noch im Grad technischer Materialbeherrschung« 1 1 0 erfasse, ließe sich aus heutiger Sicht gegen eine solche Konzeption autonomer Kunst mit Recht einwenden. Dennoch läßt sich Goethes Stilbegriff nicht restlos auf den Neuplatonismus Shaftesburyscher Provenienz beziehen und als Versuch metaphysischer Bedeutungsstiftung abtun. Denn in der Tat besteht eine produktive Seite der klassizistischen Gegenstandslehre, wie sie von Goethe und Meyer im Anschluß an Überlegungen des Stil-Aufsatzes entwickelt wird, in der »antinaturalistischefn] Tendenz« der Vorstellung, »daß nicht alle Gegenstände der Natur und des Lebens sich in gleichem Maße zu einer künstlerischen Gestaltung eignen - worauf gerade eine naturalistische Kunstauffassung bestehen würde«. 1 1 1 Die spezifisch antinaturalistische Ausrichtung des klassizistischen Stilbegriffs seit Goethes Aufsatz »Einfache Nachahmung der Natur, Manier, Styl< stellt daher - ihren auf scheinbar konservative Weise idealistischen Implikationen zum Trotz - einen Schritt zu jener modernen »Austreibung der Natur aus der Ästhetik« dar, die Hans Robert Jauß zur zentralen Denkfigur der Moderne erhoben hat, ohne sich seinerseits von der ,o8 109

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Vgl. Ivanoff (1957), S.132. Vgl. Werner Hofmann: >Manier< und >Stil< in der Kunst des 20. Jahrhunderts. In: Studium Generale 8 (1955), S. 1 - 1 1 . Osterkamp (1991), S. 108. Hans Rudolf Vaget: Dilettantismus und Meisterschaft. Zum Problem des Dilettantismus bei Goethe: Praxis, Theorie, Zeitkritik. München: Winkler 1971, S. 105.

seit Benjamin herrschenden communis opinio lösen zu wollen, daß »die Verwerfung der auf Natur gegründeten Ästhetik überhaupt« 112 historisch gesehen erst mit Baudelaires antiromantischer Wendung eingetreten sei. Tatsächlich ist zu konzedieren, daß Goethe und Meyer am Begriff der Natur durchaus festgehalten haben, um ihr Konzept eines klassizistischen >Stils< zu erläutern. Gerade Goethe griff dankbar auf Karl Philipp Moritz' Idee zurück, die Abkehr von der Repräsentationsästhetik doch insofern mit >Natur< kompatibel zu halten, daß der Künstler nun zwar nicht mehr die Natur, wohl aber der Natur nachahmen und schöpferisch wie diese verfahren solle - eine im 19. Jahrhundert oft bemühte und zunehmend von organologischen Metaphern besetzte Denkfigur. >Stil< ist hier partiell immer noch ein »Regelablehnungskompensationsbegriff« 1 ' 3 im Sinne Niklas Luhmanns. Auch Moritz verwendete den Stilbegriff überwiegend in dieser Funktion, zudem meist - wie insbesondere in den »Vorlesungen über den Styl< von 1791/93 - in Bezug auf Literatur: »Der Styl [...] ist bloß in der Eigenthümlichkeit der Vorstellungsart eines jeden gegründet, in so fern sich dieselbe durchgängig im Ausdruck zeigt« »nun aber finden ja über das Eigenthümliche keine Regeln statt«." 4 Daß der ästhetische Diskurs bereits hiermit »Literatur von der verpflichtenden Instanz 112

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Hans Robert Jauß: Kunst als Anti-Natur: Z u r ästhetischen Wende nach 1789. In: ders.: Studien zum Epochenwandel der ästhetischen Moderne. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1989, S . 1 1 9 - 1 ^ 6 , hier S. 124. Luhmann (1986), S.635. Moritz, Schriften zur Ästhetik (1962), S. 263 und S. 270. Mit einer auf die bildende Kunst bezogenen Anwendung des Stil-Begriffs wird Moritz indes höchst bedeutsam für den späteren Klassizismus, da hier der >Stil< der Antike von der Originalität moderner >Manier< differenziert wird: »Beim Michelangelo herrscht in gewissem Sinne mehr eine große Manier, als ein großer Styl - in sofern man sich nehmlich unter Styl das Feststehende, Bleibende in dem ächten Kunstwerke denkt, wodurch es selbst über die Originalität sich erhebt. Man sagt daher auch im antiken Styl, und nicht in antiker Manier, weil Manier schon die besondere Art eines einzelnen, Styl aber keine besondere Art, sondern das wesentliche Schöne in der Kunst selbst bezeichnet« (ebd. S.220, aus den >Reisen eines Deutschen in Italien von 1786 bis 1788Un-

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Kant, K d U § 4 7 (1908), S.308.

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Stefan Majetschak: Welt als Begriff und Welt als Kunst. Z u r Einschätzung der theoretischen Leistungsfähigkeit des Ästhetischen bei Kant und Conrad Fiedler. In: Philosophisches Jahrbuch 96 (1989), S. 2 7 6 - 2 9 3 , hier S. 281.

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Majetschak (1989), S.283. Hans Blumenberg: »Nachahmung der Natur«. Z u r Vorgeschichte der Idee des schöpferischen Menschen. In: ders.: Wirklichkeiten in denen wir leben. Stuttgart: Reclam 1 9 8 1 , S. 5 3 - 1 0 3 , hier S.95.

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Winfried Menninghaus: Kant über »Unsinn«, »Lachen« und »Laune«. In: Aleida Assmann, Anselm Haverkamp (Hg.): Stimme, Figur. Kritik und Restitution in der Literaturwissenschaft. Sonderheft D V j s 68 (1994), S. 2 6 3 - 2 8 6 , hier S. 265.

sinn< frühromantischer Selbstbezüglichkeit darstellt, befindet Kant etwa, »daß man die Werke der Alten mit Recht zu Mustern anpreiset«. 149 Und obwohl kein objektives Prinzip des Geschmacks möglich sei, lassen sich manche Beispiele und Verdeutlichungen Kants durchaus mit Blick auf eine klassizistische Ästhetik lesen, so etwa wenn Kant das Zustandekommen des >Ideals< als Prozeß der Abstraktion von vorgegebenen Naturformen mit einem Seitenblick auf Polyklets >Doryphoros< I5 ° - einer Statue, die zwar nur aus literarischen Zeugnissen bekannt war, einer griechischen Statue aber immerhin - zu verdeutlichen sucht. In Fernows Begriff autonomer Kunst begegnen sich nun gewissermaßen Kants aus Subjektvermögen entwickelter Geniebegriff und jener emphatische, insbesondere von Moritz und Schiller getragene Anspruch an die Kunst, sie möge als in sich selbst vollendet ausschließlich immanenten Gesetzmäßigkeiten gehorchen. Durch diese Kontamination zweier Diskursstränge aber ergeben sich höchst produktive Modifikationen gegenüber jedem einzelnen von ihnen. Denn im Unterschied zu Kants Geniebegriff, der weitgehend auf die Erörterung von Subjektvermögen beschränkt bleibt, nimmt Fernows produktionsästhetischer Begriff vom Künstler durchaus Bezug auf das einzelne Kunstwerk. Obwohl Fernow sich Kants Definition des Genies anschließt, gilt ihm Kunstgenie daher als »Vermögen individuelle Gestalt zu erzeugen«, 1 ' 1 das sich objektivieren muß. Auf diese Weise aber wird, wie schon Herbert von Einem gesehen hat, »die musterhafte Originalität nicht nur mehr allein in der Idee gesucht«, 152 sondern wird zu einem Darstellungsbegriff erweitert, in dem »das Vermögen der Erfindung und das Vermögen der Darstellung« 1 5 3 gleichermaßen von Bedeutung sind. Auf Freiheit gegenüber der Ikonographie in der >Wahl des Stoffes< und auf den Entwurf neuer Bildgegenstände aus der produktiven Einbildungskraft zielt dieser Darstellungsbegriff. Im Unterschied zur Autonomiephilosophie von Moritz aber ist in Fernows Begriff autonomer Kunst der Gedanke der Selbstreferentialität der Kunst von der neuplatonischen Begründungsebene abgehoben. Kunst muß bei Fernow eben nicht mehr - wie noch bei Moritz - »alle jene Verhältnisse des grossen Ganzen, und in ihnen das höchste Schöne, wie an den Spitzen seiner Strahlen, in einen Brennpunkt fassen«. 1 5 4 A n die Stelle des >großen Ganzen der Naturneuen Gott< verpflichtet: der Zeit und dem durch ihr Vergehen ermöglichten Prinzip des Fortschritts von Stilen. Es zeigt sich hier, daß die etwa auch von Runge geteilte Erfahrung eines Kontinuitätsbruches gegenüber dem allegorischen Verständnis von Kunst - eine der wichtigsten »Voraussetzungen] für historisches Denken« 1 5 6 - den Klassizismus Fernows, wie überhaupt den der Weimarischen Kunstfreunde, eher an die Seite der Romantik als in die Nachfolge des normativen Klassizismus des 17. Jahrhunderts rücken läßt. Fernow erklärt den Stil der Kunst der Vergangenheit aus ihrer Indienstnahme für den religösen Kult. E r denkt damit eine Tradition der aufklärerischen Mythenkritik, die in den in Bildern und Erzählungen transportierten Mythen ein Instrument religiöser Unterdrückung gewittert und bekämpft hatte, 157 in der Weise fort, daß er das Modell der Mythenkritik deskriptiv zur kunsthistorischen Erklärung von Stileigenarten einer durch ihre Funktionen definierten Kunst einsetzt - ohne doch den kritischen Impuls dieses Denkmodells gänzlich aufzugeben. In der Absicht, den Stil von Carstens näher zu erläutern, schreibt Fernow >von dem Stile der alten MalerAlten< schreibt, »wir müssen die Kunst auf ihrem Wege, aber mit eigentümlicher Kraft wiedererschaffen, um ihnen gleich zu werden« (ebd. 40) und der ähnlich wie Fernow in seinem Aufsatz über die Begeisterung des Künstlers befindet: »Die Kunst entspringet nur aus der lebhaften Bewegung der innersten Gemüts- und Geisteskräfte, die wir Begeisterung nennen« (ebd. 4 1 ) - Ähnlichkeiten, die auch Goethe bewogen, sich brieflich an Jacobi dahingehend zu äußern, daß der Inhalt von Schellings Akademierede »im Ganzen mit dem übereinstimmend [ist], was die W.K.F. [= Weimarischen Kunstfreunde], welche freilich keine Elohims sind, für wahr halten und auch oft genug ausgesprochen haben« (ebd. Anhang, S. 73). Im Gegensatz zu Fernow sieht Schelling den wahren Künstler jedoch »dem Gesetz folgen, das ihm Gott und Natur ins Herz geschrieben« (ebd. 41). Nicht die Vielzahl der Ähnlichkeiten im einzelnen, das metaphysische System ist es, das Schelling von Fernow trennt.

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Vgl. Julius Schlosser: Die Kunstliteratur. Ein Handbuch zur Quellenkunde der neueren Kunstgeschichte. Wien: Schroll 1924, S. 200f. sowie Oskar Bätschmann: Einführung in die kunstgeschichtliche Hermeneutik. Die Auslegung von Bildern. 3. Aufl. Darmstadt: wb 1988, S. 8/ff. Auf die »überraschende Hegel-nähe« dieses wenig beachteten Textes hat m.W. erstmals Pöggeler aufmerksam gemacht, vgl. Otto Pöggeler: Die Frage nach der Kunst. Freiburg, München: Alber 1984, S. 178ff.; Pöggeler vermutet sogar einen möglichen wechselseitigen Einfluß von Fernows und Hegels Ideen, was schon von daher mög-

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Fernow als abgeschlossen, so wie die Entwicklung der Plastik in der Antike abgeschlossen wurde: »so hat man [...] Ursache zu zweifeln, ob es ihr [der Kunst] würde möglich gewesen seyn, merklich weiter zu gehen, und im Ganzen eine höhere Stufe der Vollkommenheit zu erreichen, als sie im XVIten Jahrhunderte erreicht hat«. 172 Der Malerei der Gegenwart bleibt nur, in Auseinandersetzung mit der eigenen Materialität - mit den »Ansprüche[n] des Materiellen, welche die Malerey befriedigen muß« 173 - jene »gänzliche Abstraction und Erhebung über das Wirkliche« 174 zu leisten, die einzig und allein in den Gemälden des Michelangelo zu ahnen sei.17* lieh sei, weil Goethe Fernow und Hegel zu Gesprächen zusammengebracht habe. Goethes Tagebücher vermerken für den Abend des 2 6 . 1 1 . 1803 eine Zusammenkunft mit »Dr. Hegel, Prof. Schelver, H o f r . Stark, Prof. Fernow«, vgl. Goethes Werke [Weimarer Ausgabe]. 3. Abt.: Goethes Tagebücher. Bd. 3: 1 8 0 1 - 1 8 0 8 . Weimar: Bühlau 1889, hier S. 88. Im Anschluß hieran war es Schiller, der sich darüber Gedanken machte, die beiden in Jena lehrenden Professoren »einander näherzubringen« (Schiller an Goethe, Weimar, 3 0 . 1 1 . 1803, zit. nach: Der Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe. Hg. von Siegfried Seidel. 3 Bde. München: Beck 1984, hier Bd. 2, S-459f.), und zwar in der didaktischen, wenn auch für beide wenig schmeichelhaften Absicht, Hegel zu klarerer Methode und Fernow zu vertieften Einsichten zu verhelfen. Goethe bemühte sich dann tatsächlich, Schillers Idee »ins Werk zu setzen« (Goethe an Schiller, Jena, 2 . 1 2 . 1803, ebd. Bd. 2 ,5.462). I n F e r n o w s Bibliothek befand sich Hegels Differenz des Fichte'schen und Schelling'schen Systems der Philosophie. Jena 1 8 0 1 ; sowie: System der Wissenschaft. Erster Theil: die Phänomenologie des Geistes. Bamberg und Würzburg 1807. 172 173 174 175

Fernow, Bemerkung eines Freundes (1805), S. 212. Ebd., S.208. Ebd. Die betreffende Textstelle aus Fernows >Bemerkung< wurde bereits oben (Anm. 1 1 4 ) zitiert und mit der Michelangelo-Rezeption bei Moritz verglichen. In einem frühen Aufsatz über Michelangelo schreibt Fernow 1795: »Er war der erste, der in dieser Kunst selbstständige, von der individuellen Natur unabhängige, über ihre Kleinlichkeiten gehobene, rein idealische Wesen in ihrer würdigen Gestalten darstellte. Aus ihr nahm er nur den Hauptkarakter und die allgemeine Form, die seine Fantasie, nach der Modifikazion seines individuellen Gefühls, zu Geschöpfen einer idealischen Welt umbildete, die, mit dem Geist ihres Urhebers beseelt, nach der ihm eigenen Vorstellungsweise sich gebehrden, handeln und denken«. O b w o h l Fernow halb widerwillig konzediert, daß es f ü r einen guten und nachahmbaren Geschmack eines geringeren Masses an Originalität bedürfe, als Michelangelo besessen, verselbständigt sich ihm die Bewunderung der Kraft und der aus dem Studium der Antike und der Lektüre des Dante genährten schöpferischen Phantasie dieses Künstlers: »Eine große, kühne, außerordentliche Idee, die die Kräfte seiner Fantasie auffoderte, ein Gefühl, das seine Seele hob, erzeugte plötzlich Bilder in ihm, die er mit eben der Stärke und ergreifenden Lebendigkeit wieder darstellte, womit sie vor dem innern Anschauungsvermögen seines Geistes standen« - Fernows Stilisierung der Carstensschen Bildmächtigkeit, um die man wissen muß, will man sie sehen, ist hier vorgezeichnet, vgl. [Fernow:] Michael Angelo Buonarroti. In: Der Neue Teutsche Merkur vom Jahre 1795, 3. Bd., S. 3 - 3 3 und S. 1 0 5 - 1 3 7 , die beiden Zitate hier S. 17 und S. 28. Fernows A u s f ü h rungen über Michelangelo werden bei Oberholzer (1969) gar nicht und in Joseph

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Klassizismus wäre demzufolge Kunst nach ihrem Ende. Der Loslösung der Kunst aus kultischen Zusammenhängen würde mit Notwendigkeit ihre Beschränkung auf ein Inventar von Zeichen folgen, die auf nichts mehr verweisen, sondern sich in >gänzlicher Abstraction und Erhebung über das Wirkliche< immanent zu organisieren haben. Doch wie läßt sich eine solche Kunst denken? - Zunächst einmal ist es offensichtlich einfacher zu sagen, wie sich eine solche Kunst nicht denken läßt. Daher strengt Fernow in dem Kapitel über den >Stil< von Carstens eine Polemik gegen den frühromantischen Versuch einer erneuten Fundierung der Kunst in der Religion an. Friedrich Schlegel insbesondere hatte ja in seinen im Musee Napoleon verfaßten Gemäldebeschreibungen, die zwischen 1803 und 1805 in der >Europa< erschienen waren, mehrfach darauf insistiert, daß Kunst das Göttliche andeuten müsse und nicht von der Religion getrennt werden dürfe 176 - wie es de facto gerade durch die Überführung von Gemälden, die in Italien und Deutschland noch Kultwert besessen hatten, in die Gleichzeitigkeit dieses ersten modernen Museums geschehen war, in dem nun die Bilder nach ihrem Ausstellungswert, das heißt in einer historisierenden Ordnung nach Schulen, hingen. 177 Fernow ist von der Irreversibilität dieses Prozesses überzeugt, der die Kunst aus ihrem alten Zusammenhang im Kult gelöst hat und damit im strengen Sinn zur Kunst erst hat werden lassen, was vordem Kultgegenstand gewesen war. Fernow reflektiert diesen Zusammenhang von Bild und Kult und kommt in Ubereinstimmung mit aufklärerischen Überzeugungen zu dem Ergebnis, daß die Indienstnahme der Bilder durch die Religion, insbesondere durch die katholische Kirche seit der Gegenreformation, nur Formen des Aberglaubens hervorgebracht hätten, die eine Art Scheinblüte des Kunstlebens begründeten, in Wahrheit aber der Kunst die »Lebenskraft austrocknet und verzehrt« hätten (253). Ganz ähnliche Ideen hatte etwa Lessing vertreten, wenn er im >Laokoon< dem kultisch verehrten

Gantners Dissertation: Michelangelo. Die Beurteilung seiner Kunst. V o n Lionardo bis Goethe. Beiträge zu einer Ideengeschichte der Kunsthistoriographie. Diss, masch. München 1922, S. 202f. nur am Rande erwähnt. 176

Daß die Kunst von »Religion [...] nie getrennt werden kann ohne sich selbst zu verlieren«, wird Schlegel zum Ausgangspunkt, eine Wiederbelebung des mittelalterlichen Marienbildes und des Kreuzesleidens einzufordern - Schlegel formuliert damit Ziele der späteren nazarenischen Bewegung; vgl. Friedrich Schlegel: Zweiter Nachtrag alter Gemähide. In: Europa. Eine Zeitschrift (1805), II, 2. S. 1 - 4 1 , hier S. 16. Fernow besaß lediglich den Jahrgang 1803 der Zeitschrift >EuropaAthenäum< vollständig und verfügte über eine größere Zahl selbständiger Publikationen von Friedrich und August Wilhelm Schlegel, etwa Friedrichs Geschichte der Poesie der Griechen und Römer. Erster Teil. Berlin 1798 oder die gemeinsamen Charakteristiken und Kritiken. 2 Bde. Königsberg 1801.

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Die Bedeutung Friedrich Schlegels für die späteren Nazarener betont insbesondere Keith Andrews: The Nazarenes. A brotherhood of German painters in Rome. O x ford: Clarendon Press 1964, S. i6ff.

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Bildwerk - hier allerdings im Hinblick auf die Kunst der Antike - jede Befähigung zu eigentlich künstlerischer Schönheit absprechen wollte: »weil die Kunst hier nicht um ihrer selbst willen gearbeitet, sondern ein bloßes Hülfsmittel der Religion war, die bey den sinnlichen Vorstellungen, die sie ihr aufgab, mehr auf das Bedeutende als auf das Schöne sähe«.' 78 Und auch Winckelmann überfiel angesichts des Umstandes, daß »die Geschichte der Heiligen, die Fabeln und Verwandlungen [...] der ewige und fast einzige Vorwurf der neuern Maler seit einigen Jahrhunderten« seien, eine Anwandlung von »Ueberdruß und Eckel«.' 79 Doch für Fernow und Schlegel war historische Wirklichkeit geworden, was der Aufklärung des mittleren 18. Jahrhunderts sich stets nur als Gedankenproblem gestellt hatte - oder als Gegensatz von katholischem Bilderkult und protestantischer Bildfeindlichkeit diskutierbar gewesen war. 180 Denn die Revolution hatte die gesellschaftliche Fundierung der Künste in der Tat tiefgreifend gestört. Schon die Anlage der nach 1790 im ehemaligen Konvent der PetitsAugustins eingerichteten und später Μ usee des monuments frangais genannten Sammlung von Säkularisationsgut aus französischen Kirchen und Klöstern läßt erkennen, daß die Loslösung von >Kunst< aus ihrem Entstehungszusammenhang und ihre Uberführung in ein Museum einerseits die wissenschaftliche Erkenntnis historischer Zusammenhänge zu befördern vermochte, andererseits jedoch auch die lebendige Kunstübung mit der Gefahr der Musealisierung bedrohte: Denn einerseits erfuhren Historiker wie Michelet nicht anders als Schriftsteller wie Heinrich von Kleist 181 in den Räumlichkeiten dieses Kon-

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Gotthold Ephraim Lessing: Laokoon: oder über die Grenzen der Mahlerey und Poesie. Mit beyläufigen Erläuterungen verschiedener Punkte der alten Kunstgeschichte; Erster Theil. Berlin: Voß 1766, S. 105. Fernow besaß die Lessing-Ausgabe Sämmtliche Schriften. 30 Thle. Th. 2-4 hg. von Karl Lessing, Th. 5-30 hg. von J[ohann] J[oachim] Eschenburg und Fr[iedrich] Nicolai. Berlin 1791-1794. [Johann Joachim Winckelmann:] Gedanken über die Nachahmung der Griechischen Werke in der Malerey und Bildhauerkunst. 2. Aufl. Dresden, Leipzig: Walther 1756, S. 39. Fernow edierte Winckelmanns >Gedanken< neben anderen Frühschriften in der von ihm initiierten, von Johann Heinrich Meyer und Schulze ab Band 2 fortgeführten Winckelmann-Ausgabe. Die Ausleihjournale der Herzogin Anna Amalia Bibliothek Weimar geben zu erkennen, daß Fernow bereits ab Januar 1806 fast alle greifbaren Ausgaben der Werke Winckelmanns entlieh, daß der Plan einer Winckelmann-Ausgabe also unmittelbar nach Erscheinen des gemeinsam mit Goethe unternommenen Projektes >Winkelmann und sein Jahrhundert< (1805) in Angriff genommen wurde. Hans Belting: Bild und Kult. Eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst. München: Beck 1990, S. 510-523. Im Brief an Adolfine von Werdeck vom Nov. 1801 schreibt Kleist: »Noch ein Museum [neben dem Louvre, Η.Τ.] ist hier vorhanden, das ich auch selbst in Hinsicht der äußern Einrichtung vortrefflich nennen möchte. Es ist einzig in seiner Art. Man hat nämlich alle französischen, in den Zeiten des Vandalismus ihrem Untergange nahe, Kunstwerke des Altertums aus Kirchen und Kirchhöfen nach Paris gebracht, und

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ventsgebäudes die Abfolge kunstgeschichtlich zu beschreibender Stile in ihrer zeitlichen Folge, wenn sie die Abfolge von Sälen - »beginnend mit dem 13. und endend mit dem 18.Jahrhundert« 182 - abschritten, andererseits begann die zeitgenössische Architektur genau hier, sich historisierend auf ein verlorenes Stilideal zurückzuziehen und dem sentimentalischen Impetus der Moderne das Gesicht eines bewahrenden Eklektizismus zu geben. Lenoir, der Schöpfer des Μusee des monuments frangais, schuf etwa für Abaelard und Heloi'se ein romantisches Monument, indem er Bruchstücke der frühgotischen Arkaden von St. Denis zusammentrug und zu einem neugotischen Grabmal kombinierte/ 8 3 das als erfundenes Monument die Zeitgenossen beschäftigte und einen fernen Nachhall noch in der Wiederherstellung der Kapelle der Wahlverwandtschaften »als ein Denkmal voriger Zeiten und ihres Geschmacks« 184 haben mochte. Wenngleich der protestantische Norden Deutschlands von den Säkularisationstendenzen der Zeit um 1800 weniger betroffen war, weil er sie gewissermaßen bereits in der Reformationszeit hinter sich gebracht hatte,' 85 so waren doch die katholischen Länder im Süden hiervon umso stärker betroffen. Die Säkularisation von 1802/3 setzte durch die Auflösung der Klöster unvorstellbare Mengen von Bildern frei, die teils zerstört wurden, teils auf den freien Markt gerieten und dort um ein weniges erstanden werden konnten - wodurch eine so bedeutende Privatsammlung wie die der Boisserees entstand.186 Bereits hier in einem Kloster, in seinem Kreuzgange, und in seinem Garten, aufgestellt; und so ist eine Sammlung entstanden, welche den Kunstgeschichtsforscher über den ganzen Gang der Kunst in Frankreich, aufklären kann. Immer den Produkten eines jeden Jahrhunderts ist ein eigner, seinem Geiste entsprechender Saal gewidmet - In dem Garten stehen hier und dort Urnen voll heiliger Asche. Sie würde ich zuerst in einen Winkel des Gartens führen. Da steht unter einer dunkeln Plantane [sie] ein altes gotisches Gefäß. Das Gefäß enthält die Asche Abälards und Heloisens«; Heinrich von Kleist: Sämtliche Werke und Briefe. 2 Bde. Hg. von Helmut Sembdner. München: Hanser ^1977, hier Bd. 2, S. 703. 182

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Georg Kauffmann: Die Entstehung der Kunstgeschichte im 19.Jahrhundert. Opladen: Westdeutscher Verlag 1993 (Gerda-Henkel-Vorlesung), S. 17. Vgl. Francis Haskell: Die Geschichte und ihre Bilder. Die Kunst und die Deutung der Vergangenheit. Aus dem Engl, übersetzt von Michael Bischoff. München: Beck 1995, S. 256-273 mit Abb. 148. Goethes Werke [Weimarer Ausgabe]. i.Abt., Bd. 20: Die Wahlverwandtschaften. Ein Roman. [Hrsg. von Max Freiherr von Waldberg und Bernhard Seuffert]. Weimar: Böhlau 1892, S. 209 - übrigens in beiden Fällen für ein erst im Tode vereintes Liebespaar geschaffen. Was nicht hindert, daß 1804 beispielsweise mit dem Hamburger Dom »einer der größten und bedeutendsten mittelalterlichen Komplexe Norddeutschlands nebst allen seinen Kunstschätzen der Spitzhacke zum Opfer [fiel], die Steine der heiligen Gebäude wurden in Elbdeiche und in die neue Kanalisation verbaut«, vgl. Kauffmann (1993), S. 20. Vgl. Uwe Heckmann: >Um dem Geschmack zu erstatten, was der Frömmigkeit ent-

zuvor jedoch, seit 1797, gelangten die Kunstwerke Roms und anderer Städte und Territorien der italienischen Halbinsel durch den Feldzug Napoleons in den Besitz der Revolutionstruppen, die diese für die Kunstübung angehender Künstler unverzichtbaren Werke nach Paris überführten, w o sie in den Grand Louvre gelangten und den Grundstock für das Musee Napoleon bildeten. Paris wurde durch diesen bis dahin größten systematisch angelegten Kunstraub der Geschichte zur Hauptstadt des neunzehnten Jahrhunderts; »die Kunstfreunde Europas reisten in Scharen nach Paris, um dort zu studieren«. 1 ® 7 Indem die Kunstwerke in Paris nicht mehr an ihrem angestammten Ort zu betrachten waren, sondern vielmehr als >galleria progressivaGedanken< der Fall ist. Bei Mengs verweisen Raffael, Tizian und Correggio in je verschiedenen Graden der Annäherung an das Naturvorbild einzig und allein auf die Natur als Gegenstand der Nachahmung. Bei Fernow läßt sich über der Betrachtung von Werken der Künstler Raffael, Giulio Romano und Polidoro da Caravaggio ein >Stil< bilden, der weder von einem einzelnen der lediglich als wegweisend betrachteten Künstler der Tradition, noch gar von einem wie auch immer definierten Naturvorbild vorgegeben wäre. Vielmehr wird dieser Stil, der nicht ganz zufällig über dem Studium von Künstlern, die sich aus der Perspektive der Zeit um 1800 um die Wiedergabe des menschlichen Leibes in >erhabener< Nacktheit bemüht haben, gewonnen werden will, den potentiell beliebigen, jedenfalls aber der Zahl nach unbegrenzt vielen möglichen Bildgegenständen oktroyiert, um allein aufgrund seiner Stilisierungsleistung jenes >Kunstschöne< hervorzubringen, das von nun an ausweisen soll, was Kunst sei. Indem Fernow von Kant den Begriff des >Kunstschönen< bezieht, wird es ihm möglich, mit dem >Naturschönen< zugleich das >Naturhäßliche< als zweitrangige Größe zu betrachten. Wenn man will, kann man dies als Aufwertung des >Häßlichen< betrachten - hatte doch schon Kant befunden, »die schöne Kunst zeigt darin eben ihre Vorzüglichkeit, daß sie Dinge, die in der Natur häßlich oder mißfällig sein würden, schön beschreibt«; 215 genau genommen aber setzt sich bei Fernow die immanente Ordnung des Bildes über die Ordnung der Dinge grundsätzlich primär, so daß >Schönes< und >Häßliches< wenn schon nicht gleichermaßen, so doch in vergleichbarer Weise der Stilisierung durch Kunst fähig sind.

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Günter Oesterle: Arabeske und Roman. Eine poetikgeschichtliche Rekonstruktion vn Friedrich Schlegels >Brief über den RomanKunstschöne< aber läßt sich Fernow zufolge nur subjektiv, nur v o m hervorbringenden Künstler her denken, der »seine Kunst hinfort nicht in der Religion, sondern seine Religion, d.i. den Gegenstand seiner reinsten Liebe, seines eifrigsten Strebens, seiner seligsten Gefühle, in seiner Kunst finden« (254) soll. Im scharfen Widerspruch zu der von Wackenroder und den Brüdern Schlegel vertretenen »Uberzeugung, die Kunst sei sowohl ein Produkt wie der vornehmste Ausdruck der Religion«, 2 1 7 verficht F e r n o w im Anschluß an Kant und Schiller die Position der Spätaufklärung, Kunst möge im nachmetaphysischen Denken der Moderne, in dem >Religion< nurmehr als Religiosität s e l i g ster Gefühle< und eines >eifrigsten Strebens< zu verstehen ist, Rang und Stelle des Säkularisierten einnehmen. Es scheint hier der Scheitelpunkt jener in Deutschland mit Winckelmann und - partiell - mit Mengs einsetzenden B e w e gung erreicht, die in einer eigentümlichen Doppelbewegung die Kunst auf der einen Seite aus ihrer Inanspruchnahme für die Religion herauszulösen bestrebt, ihr aber andererseits selbst einen beinahe metaphysischen Rang einzuräumen bereit ist. Die Kunstreligion der ästhetizistischen Moderne findet sich damit paradoxerweise in höchster Zuspitzung bei einem Verfechter der >Antike< formuliert. Das, was Fernow unter >Antike< versteht, ist eine sich den Verzeitlichungstendenzen der Moderne verweigernde, auf höchste Tätigkeit der Einbildungskraft angewiesene und nur in einem Prozeß der unendlichen A n näherung hervorzubringende F o r m der Verräumlichung des sich in die Tiefe der Geschichte Verlierenden, - eine Verräumlichung, der deutlich erkennbar das Bewußtsein dafür eingeschrieben ist, daß ihrem Versuch einer Aufhebung der Zeit die subjektive Leistung des Modernen, der sich von der Fülle der stehenden Gegenwart der Antike geschieden weiß, zu Grunde liegt. Die Entfernung der Antike bringt gewissermaßen den >Stil< und das auf eine klassische Antike gerichtete >Kunststreben< überhaupt erst hervor. Die Kunstkritik, die jenes sentimentalische Streben nach einer entschwindenden Antike noch einmal, und zwar durch einen Gattungswechsel in das Medium der Schrift, nacherschafft und es diskursiviert, indem sie es reflektierend in den kunsthistorischen Zusammenhang eines >Stils< einschreibt, wird damit zum integralen Bestandteil des modernen Funktionssystems >KunstStil< ist für Fernow Bestandteil seines Darstellungsbegriffes von Kunst, der Kunst zumindest der Tendenz nach von jeder Bindung an Gegenständliches befreit, das Kunstwerk also nicht mehr aus seinen Objektivierungen, sondern in der Einbildungskraft des Künstlers und im Prozeß subjektiven Schaffens allein begründet. Fernow befindet sich damit in bester Übereinstimmung mit den neuesten Tendenzen der französischen Kunsttheorie, schreibt doch auch Quatremere de Quincy in seinem sich wahrscheinlich auf Fernow beziehenden 2 1 9 und von Fernow zur Kenntnis genommenen Essai 2 2 0 >Sur l'ideal dans les arts du dessinc »le style ideal est un style produit par ^imagination ou la vue interieure, au lieu de l'etre par la vue exterieure et Limitation positive d'un modele«, 221 - ja sogar das von Fernow der bloßen Naturschönheit zugerechnete Porträt gilt Quatremere als »style vulgaire, qui est celui du portrait, du modele«. 222 Die Kunst schaltet damit - systemtheoretisch gesprochen - von Umweltreferenz auf Selbstreferenz um; künstlerische Produktion heißt, sich historisch in einem Horizont möglicher Stile zu definieren und diese Entscheidung selbstreflexiv in das Werk hineinzunehmen. Doch auch Selbstreferenz ist - rein logisch betrachtet - eine Form der Referenz, die allerdings als Uberführung jeder primären Bezeichnungsfunktion in einen potentiell unabschließbaren Prozeß der Referenz von Referenz nur gedacht werden kann. 2 2 } Daß selbstreferentielle Kunst sich auf die Geschichte der Kunst, auf die zur Abfolge 218

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»Niemand sonst macht das, was sie macht. Und nur deshalb können in bezug auf Kunst Fragen der Unabhängigkeit und der Abhängigkeit in einem kausalen Sinne auftreten«, wie Niklas Luhmann über das seit dem Ende des 18. Jahrhunderts autopoietische System der Kunst weiter ausführt, vgl. Luhmann (1995), S. 218. Der Rezensent von Fernows »Römischen Studien< in der Zeitung für die elegante Welt 6 (1806), Sp. 609-611, stellt jedenfalls eine große Ubereinstimmung der Erstfassung von Fernows Aufsatz über das Kunstschöne (1799) und Quatremeres hier zitierten Aufsatz >Sur l'Ideal< (1805) fest und vermutet - »durch die Uebereinstimmung des deutschen und französischen Kunstrichters in so vielen wesentlichen Punkten erfreut« daß Quatremere Fernow zur Kenntnis genommen habe. Den Ausleihjournalen der Herzogin Anna Amalia Bibliothek zufolge hat Fernow den Bd. 6 der »Archives Litteraires< vom 14.-21. Dez. 1805 entliehen, konnte also den Anfang von Quatremere de Quincys Aufsatz »Sur l'ideal dans les arts du dessin< für seine Carstens-Monographie benutzen. Fernow zitiert des weiteren einen Aufsatz Quatremeres aus der gleichen Zeitschrift in den Römischen Studien Bd. 1 (1806), S. 15 f. In Fernows Bibliothek befand sich zudem Quatremere de Quincy: De l'architecture egyptienne, consideree dans son origine, ses principes et son goüt, et comparee sous les memes rapports a l'architecture grecque. Paris: Barrois 1803. [Antoine Chrysostome] Quatremere de Quincy: Sur l'ideal dans les arts du dessin. In: Archives Litteraires de l'Europe 6 (1805), S.385-405, 7 (1805), S . 3 - 3 7 und S.289337, hier 7 (1805), S. 17. Ebd. Vgl. U w e C. Steiner: Resonanz und Raisonnement. Skizzen zur Theorie medientech-

von >Stilen< entleerte Tradition zurückbezieht, wird dann eine historische Konsequenz des Umbruches um 1800 sein. Hans Blumenberg beschreibt diesen Zusammenhang als »Lösung des Naturbezuges durch die historistische Selbstvergegenständlichung des Kunstprozesses, innerhalb dessen sich Kunst immer wieder an und aus Kunst generiert«.224 Fernow hingegen füllt den inhaltlich leeren Autonomiebegriff, der sich tautologisch auf die Denkfigur des Selbstreferentiellen, des >In-Sich-Selbst-Vollendetem zurückzuziehen und die Kunst der Ratlosigkeit einer reinen Negation auszuliefern droht, indem er den >nacktenVerkörperung< der Vollkommenheit, schon gar nicht deren Allegorie. In seiner völligen harmonischen Selbstzweckhaftigkeit, die kein Über-sich-Hinausweisen duldet, bedeutet er, was er wf.«225 Eines der wesentlichen Denkbilder des deutschen Idealismus wird damit von Fernow >in den Leib versenkte.226

Zeichnung zwischen Bildlektüre und Darstellung Klassizismus ist noch stets gebunden gewesen an den Primat der Zeichnung über die Farbe. Auch Fernow scheint auf den ersten Blick ganz in der klassizistischen Tradition aufzugehen, dem disegno, dem in der Zeichnung sich materialisierenden Entwurf die leitende Rolle im Bildprozeß einzuräumen, insofern hier das geistigere Prinzip der Kunst wirksam werde, und die Farbe demgegenüber abzuwerten, weil sie das sinnliche Element im Bilde darstelle. Diese nicht erst im späten 18. Jahrhundert, sondern seit der Renaissance sich abzeichnende und in der französischen Klassik normativ begründete kunsttheoretische Option läßt sich - wie noch auszuführen ist - auf das neuplatonische Denkmodell

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ischer Selbstreferenz im Musikdrama Wagners. In: Athenäum. Jahrbuch für Romantik 1 (1991), S. 1 6 3 - 1 8 7 , hier S. 186 . Blumenberg, »Nachahmung der Natur« (1981), S. 56. Georg Braungart: Leibhafter Sinn. Der andere Diskurs der Moderne. Tübingen: N i e meyer 1995 (= Studien zur deutschen Literatur 130), S. 1 1 5 . Diese auf Plessner gemünzte Formulierung verdanke ich Joachim Fischer: Spricht die Seele, so spricht, ach, die Seele nicht mehr. Der verborgene Mensch: Helmuth Plessners Anthropologie verbindet Naturwesen mit Kulturwesen zur Einheit von Leib und Geist. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 4.9.1992. 81

einer Kette der Wesen zurückführen, die alles Seiende als aus einem göttlichen Einheitsgrund emaniert vorstellt und den Kosmos vom Göttlichen her in einer absteigenden chain of being hierarchisch gegliedert denkt. 227 In Analogie zu diesem Modell, demzufolge der Mensch durch seinen Geist am Göttlichen partizipiert, durch seine Sinne jedoch dem Bereich des Tierischen und der Materie verhaftet bleibt, kommt dem geistigeren disegno absoluter Vorrang vor der Naturnähe der lediglich die Sinnlichkeit des Menschen ansprechenden Farbe zu. Der Prozeß der Aufwertung der Sinnlichkeit im 18.Jahrhundert führt daher unübersehbar zu einer Aufwertung auch von Farbe, die den Theoretikern des mittleren 18.Jahrhunderts als das Interessantere gilt. Das etwa von den Salonkritiken Diderots ins Spiel gebrachte Prinzip des >interet< weiß die Lebensnähe der Farbigkeit eines Chardin zu schätzen und bringt den disegno zunehmend in den Ruf des Akademischen, und das meint hier: auf konservative Weise dem >bon goüt< Verpflichteten. 228 Das Deutungsmodell Max Imdahls, dessen Gültigkeit für die Situation zwischen 1660 und 1760 unbestritten sei, sieht das Fortschrittsbewußtsein in der Malerei als gebunden daran, daß »die schwindende Vorbildlichkeit der Antike mit einer zunehmenden Würdigung der Farbe einhergeht«.229 Nun ist eine Rückkehr zum Primat des disegno seit etwa Winckelmanns spektakulärer Erstlingsschrift, den >Gedancken über die Nachahmung der griechischen Wercke in der Mahlerey und Bildhauer-Kunst< (1755), unübersehbar - man denke nur an die Werke Davids oder Canovas - und kulminiert in der Erneuerung klassizistischer Ideen im Umkreis nicht nur des Weimarer, sondern des europäischen Klassizismus, in den Schriften Fernows, Quatremere de Quincys und Leopoldo Cicognaras am Jahrhundertende. Man könnte daher nicht ohne Berechtigung die Frage stellen, ob sich um 1800 eine Rückkehr zum normativen Klassizismus Le Bruns und der Poussinisten der französischen Klassik abzeichnet. Hört man Fernow abschätzig vom »blossen Farbenreiz« (283 ) sprechen, oder sieht man das Gewicht, das er in der Tat der Zeichnung demgegenüber einräumt, so könnte man versucht sein zu meinen, ein Le Brun sei wiederauferstanden, um der reichen Sinnlichkeit jener aufgeklärten Ästhetik der delicatesse und überhaupt jeder lebendigen Kunstpraxis den Garaus zu bereiten - ein Vorwurf, den Carl Friedrich von Rumohr gegen

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Arthur O. Lovejoy: Die große Kette der Wesen. Geschichte eines Gedankens. Übersetzt von Dieter Turck. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1985. Karlheinz Stierle: Geschmack und Interesse. Zwei Grundbegriffe des Klassizismus. In: Herbert Beck, Peter C. Bol, Eva Maek-Gerard (Hg.): Ideal und Wirklichkeit der bildenden Kunst im späten 18.Jahrhundert. Berlin: Mann 1984 (= Frankfurter Forschungen zur Kunst 11), S. 75-85. Max Imdahl: Farbe. Kunsttheoretische Reflexionen in Frankreich. München: Fink 1987, S.44.

den Weimarer Klassizismus und gegen Fernow erhoben hat 1 3 0 und der noch im 20. Jahrhundert bisweilen nachgebetet wurde, da »in der Weimarer Kunstpraxis [...] die Antike wirklich zu einer Bedrohung der nordischen Schöpferkraft in den bildenden Künsten aufgestiegen]« 2 3 ' sei oder gar aktiv zum >Verlust der Mitte< einer entsprechend als organisch-gewachsen imaginierten Kunst Alteuropas beigetragen habe. 232 Doch Fernow steht nicht ganz alleine in der Zeit um 1800, wenn er die Malerei primär von der Zeichnung her begreift, und es sind nicht ausschließlich die Klassizisten Goethe und Meyer, Quatremere de Quincy und Cicognara, die diese Einschätzung uneingeschränkt teilen. Denn auch f ü r August Wilhelm Schlegels Theorie, daß es in den bildenden Künsten auf die ergänzende Kraft der Phantasie des Betrachters ankomme, sind nicht etwa die wie von Zauberhand in Farbe gebannten Momente eines festlichen Lebens in der venezianischen Malerei Tiepolos oder Guardis, sondern die an antiker Vasenmalerei geschulten, reinen Umrißstiche Flaxmans modellgebend. 233 Schlegel sieht in Flaxmans Umrißzeichnungen eine poetische Kunst, denn »ihre Zeichen werden fast Hieroglyphen, wie die des Dichters; die Phantasie wird aufgefodert zu ergänzen, und nach der empfangenen Anregung selbständig fortzubilden, statt daß das ausgeführte Gemähide sie durch entgegen kommende Befriedigung

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»Es gilt von solchen Versuchen, dem Schönen, welches in der Natur, wie in der Kunst, unablässig sich verjüngt und erneut, die armseligste Willkühr der Winkelgelehrsamkeit zur Grenze zu setzen, was Göthe in Bezug auf Fernow und seine Gesellschaft gesagt, doch auf seine eigene ungescheut hätte ausdehnen dürfen«, schreibt Rumohr in völliger Verkennung der engen Beziehungen zwischen Goethe und Fernow, vgl. Drey Reisen nach Italien. Erinnerungen von C . F . v. Rumohr. Leipzig: Brockhaus 1832, S. 57. Uber die enge Zusammenarbeit zwischen Goethe und Fernow berichten insbesondere Gerhardt (1908), S. 16zff.; Otto Altenburg: Goethe und Fernow. In: Unser Pommerland. Monatsschrift für das Kulturleben der Heimat 17 (1932), Heft 1/2: Goethe und Pommern, S. 27-29; Fritz Fink: Carl Ludwig Fernow. Der Bibliothekar der Herzogin Anna Amalia (1763-1808). Weimar: Fink 1934 , S. i6ff.

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Richard Benz: Wandel des Bildes der Antike in Deutschland. Ein geistesgeschichtlicher Überblick. München: Piper 1948, S. 1 1 5 . Benz nimmt in Anschluß an Kamphausen allein den >nordischen< Carstens aus seinem Verdikt über den Weimarer Klassizismus um 1800 aus. Hans Sedlmayr: Verlust der Mitte. Die bildende Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts als Symptom und Symbol der Zeit. Salzburg: Müller 1948, S. 83: »Die Abneigung gegen die Farbe hat erstaunlichen Ausdruck schon in Sätzen Schillers gefunden. Sie sind gleichsam verwirklicht in der Kunst Carstens' [...], die in der Zeichnung das plastische Element behält, aber das farbige austreibt oder es auf eine Skala reduziert, die sich der Schwarz-Grau-Weiß-Reihe eingliedert«. Aus Sedlmayrs altkatholischer Perspektive erscheinen die von ihm mit unübertrefflicher Genauigkeit ausgemachten Umbrüche um 1800 ausschließlich als Krankheitssymptome. Sarah Symmons: Flaxman and Europe. The outline illustrations and their influence. N e w York, London: Garland 1984, S. 202-206.

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gefangen nimmt«. 234 Runges frühromantische Kunst der Arabeske, die der so inthronisierten Phantasie mit einer Reflexionsform entgegenzukommen sucht, die unendliche Bezüge zwischen den Dingen herzustellen geeignet ist, arbeitet nicht minder primär mit dem Spiel der Linien. 235 Und selbst Friedrich Schlegels Option für die vor- und frühraffaelische Malerei schätzt an den alten Meistern gerade nicht vorrangig deren Farbigkeit, sondern vielmehr »strenge, ja magre Formen in scharfen Umrissen, die bestimmt heraustreten, keine Mahlerei aus Helldunkel und Schmutz in Nacht und Schlagschatten, sondern reine Verhältnisse und Massen von Farben, wie in deutlichen Accorden; Gewänder und Costume, die mit zu dem Menschen zu gehören scheinen, so schlicht und naiv als diese; in den Gesichtern (der Stelle, wo das Licht des göttlichen Mahlergeistes am hellsten durchscheint) aber, bei aller Mannichfaltigkeit des Ausdrucks oder Individualität der Züge durchaus und überall jene kindliche, gutmüthige Einfalt und Beschränktheit, die ich geneigt bin, für den ursprünglichen Charakter der Menschen zu halten«.236 Was aber versteht, angesichts einer derartigen Konkurrenz um die nähere Bestimmung von >Zeichnung< und das von ihr zu Bezeichnende, der Klassizist Fernow unter ihr? Muß sich der Weimarische Kunstfreund nicht gerade hinsichtlich der Kategorie des disegno zu einer von der romantischen Inanspruchnahme der Zeichnung provozierten >stilpolitischen< Stellungnahme herausgefordert sehen? Seit Carstens sich ganz der Kunst widmete, hat er nie mehr einen Gegenstand nachgezeichnet. E r studirte blos betrachtend, indem er den Gegenstand seines Studiums oft und alseitig aufs genaueste beobachtete; die Gestalt nebst dem Karakteristischen desselben seiner Einbildungskraft einzuprägen, und dann von dem so Aufgefassten in eigenen Arbeiten die Anwendung zu machen suchte. (S. 2 56f.)

Schon der Einbezug der Einbildungskraft an derartig zentraler Stelle läßt eine grundlegende Differenz des Klassizismus um 1800 gegenüber dem älteren akademischen Klassizismus hervortreten. Denn wenngleich auch in den normativen Kunstlehren des höfischen Klassizismus der Poussinisten im Zeitalter Louis XIV. der Zeichnung uneingeschränkter Vorrang vor der Farbe zukam, 237 so war hier doch für die Einbildungskraft des Künstlers kein diskursiver Ort vorgesehen. Fernows entschiedene Ablehnung des >Nachzeichnens< hat eine

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[August Wilhelm Schlegel:] Ueber Zeichnungen zu Gedichten und John Flaxman's Umrisse. In: Athenaeum. Eine Zeitschrift von August Wilhelm Schlegel und Friedrich Schlegel 2 (1799), 2. Stück, S. 1 9 3 - 2 4 6 , hier S. 205. In Fernows Bibliothek vorhanden.

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Busch (1985), S . 4 9 f f . Friedrich Schlegel: Nachricht von den Gemählden in Paris. In: Europa. Eine Zeitschrift (1803), I,i, S. 1 0 8 - 1 5 7 , hier S. 1 1 4 . In Fernows Bibliothek vorhanden. Vgl. Imdahl (1987), S. 3 5 ff.

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von den Künstlern und Autoren der Romantik - etwa von dem Fernow-Leser Philipp Otto Runge 238 oder Friedrich Overbeck 239 - durchaus geteilte antiakademische Spitze. Schließlich verbirgt sich hinter der Ablehnung des akademischen >Nachzeichnens< die weitaus grundsätzlichere Abkehr von der Nachahmung der NaturKonturs< und der >Anatomie< antiker Statuen in die Zweidimensionalität der Zeichnung.240 Die Antikensäle der Akademien beherbergten zu diesem Zweck eine Sammlung antiker Statuen, denen de facto der Rang eines Kanons zukam. 241 Der Akademiker Anguier erklärte in einer Konferenz des Jahres 1672 , daß es gerade im Anatomieunterricht unabdingbar nötig sei, neben dem Studium des Modells und des ecorche- des Gliedermannes - die antike Skulptur zu Rate ziehen: »En tel ouvrage difficile et important, if faut avoir recours aux savants sculpteurs antiques, lesquels nous font voir, par leurs plus belles figures, l'anatomie couverte d'une peau si delicate qu'il semble voir les muscles decouverts, ainsi comme au Laocoon, au grande Faune, au Gladiateur et aux autres figures [...]«.242 Diese meist in Rom befindlichen, spätantiken Marmorkopien nach griechischen Bronzeoriginalen waren in der Form von Gipsab-

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242

Daß Runge 1806, im Jahr der Publikation, »Carstens, des Malers, Biographie von Fernow gelesen, die mich sehr angezogen hat«, wurde oben bereits erwähnt. »Wächter hat sich nicht akademisch gebildet und der jüngst verstorbene Carstens ebenso wenig. Nennen Sie mir nicht die neuern Franzosen; wie kann mich ein Beiisar von David rühren, wo ich überall das Theater und die Gliederpuppe durchsehe?«, schreibt Friedrich Overbeck am 27. April 1808 aus Wien an seinen Vater in Lübeck (vgl. Margret Howitt: Friedrich Overbeck. Sein Leben und Schaffen. Hg. von Franz Binder, 2 Bde., Freiburg: Herder 1886, hier Bd. 1, S. 73)-möglicherweise unter Berufung auf Fernows Ablehnung der »französischen Schule, die das Theatralische liebt« (289) und sich daher »nicht nur lebensgrosser, sehr künstlich gearbeiteter Gliederpuppen mit Masken und Perrüken, sondern auch kostbarer Gewänder aller Art in mancherlei Stoffen und Farben bedient« (288). Werner Busch zufolge hat »Overbeck genau gesehen, daß seine Auffassung der künstlerischen Formproduktion sich direkt vom Carstensschen Ubercharakterisieren herleitet«, vgl. Busch (1987), S. 18. Nikolaus Pevsner: Academies of art. Past and present. N e w York: da Capo Press 1973 (Nd. der Auflage Cambridge 1940). Francis Haskell, Nicholas Penny: Taste and the antique. The lure of classical sculpture ι $00-1900. New Haven, London 1981. Conference du γ septembre 1672. Sur une methode particuliere qu'il faut tenir pour faire une figure anatomique de sculpture et comme il convient s'en servir pour la facilite du dessin, par M. Anguier. In: Andre Fontaine (Hg.): Conferences inedites de l'Academie Royale de Peinture et de Sculpture. Paris: Fontemoing [1903], S. 202-207, hier S.205.

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güssen in jeder Akademie Europas vertreten.243 In Kopenhagen etwa, wo Carstens »zum erstenmal den Vatikanischen Apollo, den Laokoon, den Farnesischen Herkules, den Borghesischen Fechter u.a.« (19) sah, überkam den jungen, sich autodidaktisch an Kunsttheorie schulenden Maler aus Schleswig angesichts des »Höchste[n] und Vortreflichste[n], von dem ich so vieles gehört und gelesen hatte, womit ich so oft meine Einbildungskraft erhizte, und wovon ich mir doch keine Vorstellung machen konte« (19) ein zwischen empfindsamem Gefühlsüberschwang und ästhetizistischer Kunstreligion schwankendes »heiliges Gefühl der Anbetung, das mich fast zu Thränen bewegte« (19). Flankiert wurden die Antikensäle im allgemeinen durch Gemmenkabinette, die Aufschluß über mehrfigurige Kompositionen antiker Bildkunst und deren Ikonographie zu geben versprachen.244 In den - freilich Antikes mit neuzeitlichen Nachbildungen vermischenden - Gemmenkabinetten und den nach ihnen angefertigten, als Stichwerke präsentierten Katalogen der großen Sammlungen schien zudem die Konzentration auf die Umrißlinie der antiken Plastik bereits vorweggenommen, zeigte diese >Kleinplastik der AItenLes Israelites recueillant la manne dans le desertconference< des Jahres 1667, die dann vom Akademiesekretär Felibien veröffentlicht und zu einem der wesentlichen Bestandteile der doctrine classique der Malerei erhoben wurde, daß Poussin die Vorzüge Raffaels, Tizians und Veroneses in sich vereinige und daher allen dreien überlegen sei. Während sich von Tizian die Harmonie der Farben und von Veronese die >facilite< des Pinsels lernen lasse, weise allein Raffael und nach ihm eben Poussin jene »grandeur des contours et [...] la maniere correcte de les dessiner«252 auf, die Le Brun aus erkenntnistheoretischen Gründen in den Rang philosophischer Würde erhebt. Denn - wie Le Brun andernorts ausführt - »le dessin imite toutes les choses reelles, au lieu que la couleur ne represente que ce qui est accidentel«.253 Der >dessindisegno< zum Vater und die >invenzione< zur Mutter aller Künste erklärt. 254 Doch weder Vasari noch jene Autoren der italienischen Renaissance, auf deren Schriften Vasari sich stützte, strebten eine schematische und tabellarisch darstellbare Hierarchisierung kunsttheoretischer Kategorien an, wie sie im Gefolge von Le Bruns Darlegungen in den Jahren 1675-79 v o n Henri Testelin veröffentlicht wurden. 255 Einen Grund für diese Differenz mag man mit Ketelsen darin sehen, daß der >disegno< bei Vasari »als außergeschichtlicher Einheitsgrund aller Formen [...] der Anfang und das Ende der bildenden Künste« 256 ist. Das einzelne Gemälde, die einzelne Zeichnung, die der Bedingtheit des Zeitlichen unterworfen ist, kann daher den >disegno< nie realisieren, sondern sich ihm stets nur annähern. Vasaris Auffassung der >maniera< des Künstlers, die ihm als eine Art reflektierten Könnens< gilt, das auf der ständigen Wiederholung von Handgriffen beruht, ist daher prinzipiell nicht aus dem >disegno< ableitbar.257 Le Brun hingegen erhebt jenen >dessin< zum Ideal, der vollständig transparent wird auf das Bezeichnete, auf die bezeichnete Handlung im besonderen, und der von daher der begrifflichen idea der Sache zu entsprechen vermag, indem er sie repräsentiert. Dem akademischen Klassizismus Frankreichs erscheint es von daher als möglich, die Künste in eine Gattungshierarchie einzuteilen, die sich an der spezifisch ontischen Position des im Kunstwerk repräsentierten Gegenstandes innerhalb der statisch und räumlich gedachten chain of being orientiert. Felibiens Vorwort zu den >conferences< des Jahres 1667 formuliert diese Gattungshierarchie, die ihre Verbindlichkeit noch am Ausgang des 18.Jahrhunderts nicht vollständig eingebüßt hat, erstmals gültig, indem er von der mechanischen Tätigkeit des Künstlers ausgeht, die ihn befähigt, »die niedrigsten und gewöhnlichsten Gegenstände wiederzugeben, also Früchte, Blumen, Muscheln, tote Gegenstände, die zur Gattung Stilleben gehören. [...] Angesehener als das Stilleben ist bereits die Landschaftsdarstellung, wertvoller als die toten sind die lebenden Gegenstände«.258 Die Historienmalerei rangiert dieser Gattungshierarchie zufolge an vornehmster Stelle, schließlich erlaubt vor allem sie es, den Menschen in der Vielfalt seiner Affekte zu repräsentieren und die Mannigfaltigkeit des Affektausdrucks von Physiognomie und Gestik in die Einheit einer nach den Geset254 255

256 257 258

88

Schlosser (1924), S. 285. Vgl. Albert Dresdner: Die Entstehung der Kunstkritik im Zusammenhang der Geschichte des europäischen Kunstlebens. München: Bruckmann 1968, S.90. Ketelsen (1990), S. 97. Vgl. ebd., S. 41 und 74. Vgl. Busch (1993), S.22.

zen des Theaters entworfenen, lesbaren Handlung zu bringen. Den Grundsatz ut pictura poesis findet Le Brun insbesondere in den Gemälden Poussins verwirklicht, in denen die vielfältigen Studien nach Bewegungsmotiven antiker Statuen präzise und unter Beobachtung der >vraisemblance< auf den Einheitspunkt einer Handlung bezogen seien, der es erlaube, diese Bilder wie einen Text zu lesen. Dem Akademiker Le Brun erscheint Poussin daher als wahrer Dichter, »ayant compose son ouvrage dans les regies que l'art de la poesie veut qu'on observe aux pieces de theatre«/ 5 9 Für die Komposition dieser Handlungen braucht der Maler die Zeichnung eher als die Farbe, doch genau genommen liegt es an beiden Bildmitteln, die eigene Materialität zum Verschwinden zu bringen und es darin der Sprache der Dichtung gleichzutun, die ihrerseits »in dem Funktionieren der Repräsentation aufgelöst« 200 wird. Da die Historienmalerei Menschen in einer Handlung repräsentiert, die - ut pictura poesis - lesbar ist, funktioniert auch der diskursive Transfer von Bildern in Texte und von Texten in Bilder, ohne daß die Eigenart der Zeichensysteme störend dazwischen träte. 201 Insbesondere der Affektausdruck des handelnden Bildpersonals macht die Handlung durch ein System von Blicken und Gesten, in das der Blick des Betrachters durch Zeigefiguren den Betrachterblick eingeführt und gelenkt wird, klar und deutlich lesbar. 202 Gestützt auf die zeitgenössische Affektelehre, bemühte sich Le Brun um eine bildliche Kodifikation der begrifflich vorgestellten passions de l'äme. 263 Als >Nachahmung der Natur< kann ein solches Kunstverständnis dennoch gelten, da auch >Natur< als lesbarer Text verstanden wurde. 264 Die aus heutiger Sicht begrifflich funktionierende Allegorie, in der Bild und Wort zusammentreten, um das Buch der Natur lesbar

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Jouin (1883), S.64.

260

Michel Foucault: Die O r d n u n g der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften. [Aus dem Französischen von Ulrich Koppen] Frankfurt/M.: Suhrkamp 1974, S.76.

261

Inwiefern diese Kommutierbarkeit von Bild und Text im System der Rhetorik verankert ist, erläutert Gerhart von Graevenitz: »Das rhetorische aptum regelt und garantiert die Ubertragbarkeit zwischen den Bedeutungen und ihrer Repräsentation. Übertragbarkeit herrscht aber auch zwischen den Medien der Repräsentation. Weil sie rhetorisch organisiert sind, können die Bilder in rhetorisch verfaßte Texte übersetzt, können die nach rhetorischen Regeln geschriebenen Texte in gesprochene Texte übersetzt werden«, vgl. Gerhart von Graevenitz: »Schreib-Ende« und »WischEnde«. Lichtenbergs zeichentheoretischer Kommentar zu Hogarths »Weg der Buhlerin«. In: Zur Ästhetik der Moderne. Festschrift Richard Brinkmann. Tübingen: Niemeyer 1992, S. 1 - 3 2 , hier S. 7.

161

Louis Marin: Zu einer Theorie des Lesens in den bildenden Künsten: Poussins »Arkadische Hirtenmimetische< Form. Da Fernow mit dem >Nachzeichnen< die >Nachahmung der Natur< verwirft und unmittelbar auf die Einbildungskraft des Künstlers zu sprechen kommt, hat auch der Kanon nachzuahmender Werke der Antike seine unmittelbare Vorbildfunktion verloren. An die Stelle der compositio von Teilen zum lesbaren Ganzen ist die inventio eines neuen Bildganzen getreten: dadurch aber wird inventio nicht mehr rhetorisch aus der Wahl der Ausdrucksmittel erklärt, sondern als Vermögen gefaßt, »neue, unbekante Gegenstände darzustellen« (264), wie Fernow unter der Uberschrift >Wahl des Stoffes< näher erläutert. Wie idealistisch diese Neufassung der inventio auch immer scheinen mag, so ist in ihr doch die für die doctrine classique selbstverständliche Unterordnung der inventio unter die imitatio naturae gelöst. Zeichnung ist damit nicht mehr eklektizistische Zusammensetzung von Teilen, sie wird aber auch nicht im Sinne der älteren idea-Lehre an ein metaphysisches Formenreich angebunden, als deren jeweilige Materialisierung der disegno ja stets verstanden worden war. Vielmehr liefert konkrete, empirische Erfahrung das Material für eigene, nicht mehr mimetisch zu verstehende Bilderfindungen des Künstlers, die in der Darstellung in einem fortschreitenden Werden hervorgebracht werden. Fernow überschreitet hier die Kunstlehre des älteren Klassizismus in eklatanter Weise, indem er an Stelle des mimetischen Repräsentationsbegriffes einen Darstellungsbegriff von Kunst setzt, der letztlich dazu führt, daß sich über der Unabschließbarkeit des Produktionsprozesses der klassische Werkbegriff auflöst. Schließlich läßt sich über das Werk, das als autonomes von der Nachahmung einer normativen Natur befreit ist, kaum mehr etwas anderes sagen, als daß es ist. Die für den Darstellungsprozeß nötige Kraft wird von Fernow als eine postmetaphysische >Begeisterung< gefaßt, die nicht mehr als >Eingebung< verstanden, sondern vom Produktionsprozeß her begründet wird: der Künstler soll nur zeichnen »und nur das bearbeiten, was ihn wirklich gerührt, und zur Darstellung begeistert hat«.265 Im Konzept dieser >Begeisterung< sind die metaphysischen Implikationen der antiken Vorstellung vom Enthusiasmus, die durch den Neuplatonismus des 18.Jahrhunderts zu neuen Ehren kamen und die beispielsweise noch von Klopstock für die Niederschrift der Ode >An den Erlöser< beansprucht wurden, um den profanen Text eines Gedichtes als durch einen Gott inspiriert auszugeben,266 für ein sich nunmehr innerweltlich auslegendes ästhetisches Bewußtsein säkularisiert, dem >Schönheit< nur noch Ziel eines Triebes - des >Darstellungstriebes< nämlich - ist:

265

166

90

Carl Ludwig Fernow: Über die Begeisterung des Künstlers. In: Rom. Stud. 1 (1806), S. 249-289, hier S. 270. Vgl. Heinz Schlaffer: Poesie und Wissen. Die Entstehung des ästhetischen Bewußtseins und der philologischen Erkenntnis. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1990, S. 3 7 L

Und wenn der Mensch erst algemeiner dahin strebt, das Göttliche in sich selbst zu suchen, und praktisch zur Erscheinung zu bringen, dann wird auch der Künstler keiner ästhetisch-religiösen, abergläubig-frommen Begeisterung mehr bedürfen um idealische Darstellungen zu bilden. E r wird die sitliche Güte, die erhabene Kraft und die Schönheit, welche fähig sind seinen Künstlerenthusiasmus zu entflammen, und musterhafte Kunstwerke zu erzeugen, im Kreise der Menschheit finden. 2 6 7

Tatsächlich kann der Grundsatz der Nachahmung der Natur, von dem Fernow seinen physiologisch fundierten Darstellungsbegriff von Kunst abhebt, als oberster Leitsatz der doctrine classique verstanden werden. Keine Kunstlehre verzichtete darauf, diesen durch die Autorität des Aristoteles beglaubigten und seit der Renaissance zum Programm erhobenen Grundsatz als ersten und obersten zu statuieren. Während die Renaissance unter Naturnachahmung noch die Hinwendung zur sinnlich wahrnehmbaren Welt verstand, die das Bild dem Draußen ähnlich machen sollte,268 bekam >Natur< in der doctrine classique selbst einen zeichenhaften Charakter, der es möglich werden ließ, daß die Differenz zwischen der nachzuahmenden Natur und dem nachahmenden Zeichen der Malerei und der Sprache eingezogen wurde. Die Zeichen wurden zur Repräsentation von Natur. Michel Foucault beschreibt, wie dem klassischen Zeichenbegriff zwischen Malebranche und dem Ausgang des 18. Jahrhunderts die Phänomene stets nur in einer Repräsentation gegeben sind, »die in sich selbst und in ihrer eigenen Repräsentierbarkeit völlig Zeichen 1st«.269 Es gibt daher Foucault zufolge keine Differenz zwischen Zeichen und Bezeichnetem: »Das Tableau der Zeichen wird das Bild der Dinge sein«.270 Es ist daher auch kein Widerspruch, daß die klassische Kunstlehre der Academie Royale einerseits das empirische Studium nach Antiken lehrte, die nachzuzeichnen und im Sinne der electio-Theorie auszuwählen und neu zusammenzusetzen waren, und daß sie andererseits eine idea-Lehre vertrat, die sich die Formen als a priori dem menschlichen Geist gegeben dachte. Die Studien nach Antiken dienten einer aus heutiger Perspektive als idealisiert zu beschreibenden Nachahmung der Natur; doch wird man davon ausgehen müssen, daß für die klassische Episteme >Natur< in der Repräsentation schlechterdings gegeben war. Obwohl mit der Lehre von der idea eine Erklärung für die Vorstellungskraft der Seele gefunden war, ist das Konzept der idea in der doctrine classique eben nur sehr bedingt als Vorform jenes Vermögens der Einbildungskraft anzusprechen, dem erst seit Anfang des 18. Jahrhunderts zunehmend Bedeutung in der Kunstlehre zuerkannt werden sollte. Mit Kant zu sprechen, liegt der zentrale Unterschied zwischen der idea-Lehre der doctrine classique, die ihre auch für den französi167

Fernow, Über die Begeisterung des Künstlers. Rom. Stud. 1 (1806), S. 278.

168

Vgl. Sven-Aage j0rgensen: Nachahmung der Natur. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd 9, Basel: Schwabe 1984, Sp. 3 3 7 - 3 4 1 , hier Sp. 339.

169

Foucault, Ordnung der Dinge (1974), S. 100. Ebd., S . 1 0 1 .

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sehen Klassizismus und noch für Anton Raphael Mengs maßgebliche Ausprägung in der berühmten Akademierede Giovanni Pietro Belloris gefunden hat, und dem Konzept der Einbildungskraft, das etwa seit Addisons SpectatorEssays 1712 langsam Eingang in die Kunstliteratur des 18. Jahrhunderts findet, in der diametral entgegengesetzten Stellungnahme zu dem Problem, ob die idea a priori in der Seele vorgebildet sei oder sich erst a posteriori der Anschauung aus den Sinnen verdanke. Bellori nun hat in der im Jahre 1664 in der römischen Accademia di San Luca gehaltenen Rede die für den französischen Klassizismus verbindliche Doppelauffassung begründet,2-71 daß die Ideen im Sinne der platonischen Urformen göttlichen Ursprungs und a priori in der Seele des Künstlers präfiguriert seien, daß aber die Auswahl aus dem empirischen Schönen der Natur unverzichtbar für die Konkretisation der Ideen in der Zeichnung sei. Erwin Panofsky hat in einem einflußreichen Traktat über die idea des Künstlers in Belloris Schrift eine Uberwindung der neuplatonischen und der »aristotelisch-scholastische[n] Richtung der spekulativ gewordenen Kunsttheorie« 272 im Vorfeld der kritischen Philosophie erkennen wollen. Doch zumindest der Eingangssatz von Belloris Akademierede zeigt,273 daß Bellori den disegno interno durchaus an das »dem Intellekte Gottes immanente Urbild« 274 anbindet, nach dessen Muster die sichtbare und einsehbare Welt hervorge271

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Belloris »Verbindung mit Frankreich und mit den französischen Kreisen in Rom macht es wahrscheinlich, daß Bellori auch die Bildanalysen der Pariser Akademie mitverfolgt hat - zumindest über die von Andre Felibien 1667 veranstaltete Publikation der Conferences«, schreibt Oskar Bätschmann: Giovan Pietro Belloris Bildbeschreibungen. In: Gottfried Boehm, Helmut Pfotenhauer (Hg.): Beschreibungskunst - Kunstbeschreibung. Ekphrasis von der Antike bis zur Gegenwart. München: Fink 1995, S. 279-3 1 hier S. 283. Belloris >Vite de' pittori, scultori ed architetti moderni< befand sich in der Ausgabe Rom 1728 in Fernows Bibliothek. Erwin Panofsky: Idea. Ein Beitrag zur Begriffsgeschichte der älteren Kunsttheorie [1924]. 6. Aufl. Berlin: Spiess 1989, S. 47. Vgl. Gio[vanni] Pietro Bellori: Le Vite de' pittori, scultori ed architetti moderni, co'loro ritratti al naturale. Edizione seconda. Roma 1728. In seinem Handexemplar Belloris [ H A A B Dd,2:53o] hat Fernow auf der Rückseite des Vorsatzblattes vermerkt: »La prima Edizione e stampata in Roma«. Hier S. 8: »Quel sommo, ed eterno intelletto autore della natura nel fabbricare l'opere sue maravigliose altamente in se stesso riguardando, costitu Je prime forme chiamate idee; [...] Ii perche Ii nobili Pittori, e Scultori quel primo fabbro imitando, si formano anch'essi nella mente un esempio di bellezza superiore, & in esso riguardando, emendano la natura senza colpa di coloro, e di lineamento.« - Ubersetzt: Giovanni Pietro Bellori: Die Idee des Künstlers. Deutsche Übertragung, Geleitwort und Erläuterungen von Kurt Gerstenberg. Berlin: Berthold 1 9 3 9 , 8 . 1 1 : »Als jener höchste und ewige Geist, der Schöpfer der N a tur, bei der Erschaffung seiner bewunderungswürdigen Werke hoch in sich selbst emporschaute, schuf er die Urformen, genannt Ideen. [...] Aus diesem Grunde bilden sich auch die edlen Maler und Bildhauer, wenn sie jenem Urschmied nacheifern, in der Vorstellung einen Begriff höherer Schönheit«. Panofsky (1924), S.48.

bracht sei. Unter Umständen überliest Panofsky im Interesse einer Aufwertung der idealistischen Kunstphilosophie jene eine Seite von Belloris Idea-Begriff, die sich durchaus auf den von Bellori befehdeten Manieristen Zuccari, der den >disegno< metaphysisch als »segno di Dio in noi« 275 bestimmen wollte, beziehen läßt. Nun soll die Berechtigung von Panofskys Lektüre Belloris gar nicht bestritten werden, schließlich hat Bellori jener dazu aus heutiger Perspektive im Widerspruch stehenden Auffassung des Klassizismus das Wort geredet, daß die Bildung von Ideen über den Weg der Auswahl aus dem einzelnen Schönen der Natur erfolgen könne, daß also eine Nachahmung der schönen Natur oder »das Studium der vollendetsten antiken Bildwerke unbedingt notwendig [ist], weil diese uns zur Schönheit als einer verbesserten Natur hinführen«.276 Indem Bellori zwei aus kantianischer Perspektive »völlig verschiedene, sich gegenseitig ausschließende Ideebegriffe identifiziert«, 277 begründete er die akademische Gepflogenheit, die eklektizistische Auslesetheorie, die das Zeichnen nach antiken Statuen und die Kom-Position von Teilen empfiehlt, mit einer metaphysisch verbleibenden zdeIdeeMeditationen< von Descartes belegt,

275

Federico Zuccaro: L'idea de' pittori, scultori ed architetti. Divisa in due libri. Roma: Pagliarini 1768, S. 164; Fernow hatte diese Auflage von Zuccaris Traktat in seiner Bibliothek. Bereits Zuccari empfiehlt dem Künstler, nicht die Natur nachzuahmen, sondern wie sie selbst schöpferisch zu verfahren, bezieht aber gerade hieraus die Handhabe, den Künstler qua disegno interno in die göttliche Schöpfungsordnung einzubinden; vgl. ebd. S. 12: »Sicche trovandosi in Dio l'idee, anche in sua divina Maestä si trova il disegno interno.« Vgl. auch Wolfgang Kemp: Disegno. Beiträge zur G e schichte des Begriffs zwischen 1 5 4 7 und 1607. In: Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft 19 ( 1 9 7 4 ), S. 2 1 9 - 2 4 0 , hier S. 232.

276

Bellori (1939), S. 22. »Ci resterebbe il dire che gli antichi Scultori avendo usato l'idea meravigliosa, come abbiamo accennato, sia perö necessario lo studio dell'antiche sculture le piü perfette, perche ci guidino alle bellezze emendate della natura«, Bellori (1728), S. 14.

277

Dieter Hönisch: Anton Raphael Mengs und die Bildform des Frühklassizismus. Recklinghausen: Bongers 1965, S. 1 1 .

278

Bätschmann (1995), S. 292.

93

kann das Wort idea »>materiell, für eine geistige Operation oder auch objektiv, für das von jener repräsentierte Ding genommen werden< (>sumi potest vel materialiter, pro operatione intellectus [...] vel objective, pro re per istam repraesentataRepräsentation< im Historischen Wörterbuch der Philosophie, Bd. 8, Basel: Schwabe 1992, Sp. 7 9 0 - 8 5 3 , hier Abschnitt >17. und 18. Jh.< von E . Scheerer, Sp. 8oof.

280

Siehe auch unten das Kapitel über >KunststrebenDe la recherche de la verite< in der 7. Aufl., Paris 1 7 2 1 .

283

Vgl. Malebranche ebd. S. 202ff.; noch in Goethes >Wahlverwandtschaften< wird die Einbildungskraft produktiv, indem sie ein Kind >erzeugtEssay on the pleasures of the imagination (1712 ) zeigt, wie die Ideenbildung zunehmend in die dadurch als positiv zu wertende Einbildungskraft verlegt wird, diese aber durch die Differenzierung von fancy und imagination sich in einen stärker empirisch bestimmten und einen eher neuplatonisch definierten Teil aufspaltet.284 In der sensualistischen Philosophie wird die Einbildungskraft in der Prozessualität der Ideenbildung verfolgt, sie wird tendenziell wahrnehmungspsychologisch bestimmt.285 Die Ersetzung der idea-Lehre durch das Vermögen der Einbildungskraft hat daher von Anfang des 18. Jahrhunderts an eine antimetaphysische Stoßrichtung, so konventionell die Bestimmungen der Einbildungskraft im einzelnen und so metaphysisch der philosophische Bezugsrahmen im ganzen auch sein mögen.286 Galt nun der cartesianischen Seelenlehre die Ubersetzungsleistung der Einbildungskraft, die die Opazität des sinnlich Mannigfaltigen in die Transparenz des Begriffs zu übersetzen hatte, als idealiter restlos möglich, so daß die Zeichen, mit denen sie zu arbeiten hat, auf das zu Bezeichnete restlos transparent zu werden vermögen, so trat mit der Aufmerksamkeit auf die Eigenleistungen der Einbildungskraft auch der Eigenwert der Zeichen ins Bewußtsein der Theorie. 287 Bereits für Malebranche lassen sich die Ideen, die wir von den Objekten der res extensa haben, als Repräsentation der Welt durch ihre Verdoppelung mithilfe willkürlicher Zeichen interpretieren, die ganz offenkundig nicht als transparent auf das zu Bezeichnende gedacht werden. Malebranche stellt eine Vereinigung von Zeichen und Bezeichnetem als religiöse Utopie für das Ende aller Tage in Aussicht, scheint sich aber bis dahin in der Entfremdung durch die Willkürlichkeit der Zeichen im Vertrauen darauf einrichten zu wollen, daß

284

In: The Spectator. A new edition, reproducing the original text. Hg. von H e n r y M o r ley. London, Manchester, N e w York: Routledge 1896, N r . 4 1 1 - 4 2 1 , S. 593-608. Fernow besaß eine nicht ganz vollständige Neuausgabe des Spectator, Glasgow 1 7 4 5 .

285

Vgl. Busch (1984), S . 1 8 2 . Daß die Aufklärung trotz ihrer - in jüngerer Zeit insbesondere von Panajotis K o n d y lis: Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus. München: dtv 1986 untersuchten - antimetaphysischen Programmatik auf einen metaphysischen Denkhorizont bezogen bleibt, betont Herbert Dieckmann: Religiöse und metaphysische Elemente im Denken der Aufklärung. In: ders.: Studien zur europäischen Aufklärung. München: Fink 1974 (= Theorie und Geschichte der Literatur und der schönen Künste 22 ), S. 2 5 8 - 2 7 4 .

286

287

Vgl. Rudolf Behrens: Problematische Rhetorik. Studien zur französischen Theoriebildung der Affektrhetorik zwischen Cartesianismus und Frühaufklärung. München: Fink 1982 (= Rhetorik 2). 95

es Gott eines Tages gefallen werde, diese Trennung aufzuheben. 288 Diesem Ansatz zufolge lassen sich - unter >idealistischem< Vorzeichen - die Bilder vom Draußen, die die Sinne liefern, von denen, die die Einbildungskraft selbst produziert, nicht streng trennen, denn konventionell ist ihre zeichenhafte Verfaßtheit allemal. Und auch wenn der Verstand nicht von sich aus Ideen hervorzubringen in der Lage ist, da Malebranche weiterhin alle Ideen in Gott beschlossen sein läßt, so hat doch die Einbildungskraft die Macht, Bilder selbsttätig zu erzeugen.289 Die sensualistische Philosophie an der Wende zum 18.Jahrhundert, die nun im Umkehrschluß den auch bei Malebranche noch primär gesetzten Verstand zur black box erklären und die Priorität aller Erkenntnis in die Sinne verlegen wird, mußte doch hinsichtlich der Frage, ob die Sinne ein für alle Menschen gleich gültiges Bild vom Draußen zu liefern vermögen, zur tendenziell mit Malebranche übereinstimmenden Einsicht gelangen, daß der Mensch - gleichviel, ob primär über seine Sinnlichkeit oder seine Vernunft definiert - sich mit den Zeichen von den Dingen bescheiden muß, daß also die >Wahrheit< der Dinge unverfügbar und nur in der Stärke des von ihnen hervorgerufenen sinnlichen Eindrucks, das heißt in Relation auf die spezifischen Wahrnehmungsstrukturen der menschlichen Sinne, zu ermessen 1st.290 Uberhaupt gewann die philosophisch rehabilitierte Einbildungskraft des Betrachters in der sensualistisch beeinflußten Kunsttheorie des frühen 18. Jahrhunderts eine nie gekannte Stellung. In einer Reihe von Aufsätzen im Spectator »verfügte Addison die Suprematie des gesunden Menschenverstandes über alle normative idealistische ästhetische Setzung«. 291 Mit dem individuellen, sich auf common sense berufenden Betrachter und seiner zwischen Geschmack und Interesse vermittelnden, je eigenen Erfahrung des Kunstwerks erlangt die Einbildungskraft als Ort des produktiven Wahrnehmungsprozesses zwischen betrachtetem Objekt und betrachtendem Subjekt jene Aufmerksamkeit, die die Kunsttheorie der doctrine classique noch allein der metaphysischen idea geschenkt hatte. Die Einbildungskraft will der sensualistischen Anthropologie zufolge durch eine größtmögliche Mannigfaltigkeit von Bildern aus den Sinnen bewegt werden, schließlich verschafft sie der Seele durch den nicht mehr als willkürlich abgewerteten Mechanismus der Assoziation Ideen und Vorstellungen vom Draußen. Der philosophische Arzt< David 288

Vgl. Malebranche (1914), Buch 3, 2. Teil, Kapitel 1.

289

Vgl. Barbara R. Woshinsky: Image, Representation, Idea. In: Papers on French Seventeenth Century Literature 12 (1986), S. 2 2 7 - 2 4 2 . Vgl. John (Nottingham: Nicolas Malebranche: Illumination and Rhetoric. In: Seventeenth Century French Studies 13 (1991), S. 2 3 9 - 2 4 5 sowie Alan Charles Kors: >A first being, of whom we have no proofc The preamble of atheism in early-modern France. In: Alan Charles Kors, Paul J. Korshin (Hg.): Anticipations of the Enlightenment in England, France and Germany. Philadelphia: Univ. Press 1987, S. 1 7 - 6 8 .

290

291

96

Busch (1984), S . 1 8 2 .

Hartley etwa, der jener Assoziationslehre einen bis dahin unbekannten Status einräumte, läßt in seinen >Observations on man< von 1749 erkennen, wie eine dezidiert materialistisch-aufklärerische Sicht auf den Menschen Kunst auf das Konzept der Naturnachahmung festschreibt. Hartley führt die menschliche Ideenbildung auf Erfahrung zurück. 2 9 2 Werden Sensationen wiederholt, entstehen einfache Vorstellungsbilder: »Sensationen, wenn sie oft wiederhohlet werden, lassen gewisse Spuren, Abdrücke oder Bilder von sich zurück, welche man einfache Ideen der Sensation nennen kan.«. 293 Komplexere Ideen entstehen nach Hartley auf der Grundlage der Sensationen allein durch Assoziation. Ahnlich wie bereits Malebranche die Gleichzeitigkeit von Eindrücken f ü r das Zustandekommen von Assoziationen verantwortlich gemacht hatte, erklärt auch Hartley die Assoziationen durch Synchronic von Sensationen. Doch war Malebranche nicht so weit gegangen, die menschlichen Ideen als rein aus Erfahrungen hervorgehende Bewußtseinsinhalte zu fassen; bei dem Okkasionalisten Malebranche stehen die Ideen vielmehr zwischen dem Menschen und Gott, sie haben reale Existenz und vermitteln qua göttlicher auctoritas zwischen uns und einer Welt, die an sich unerkennbar ist. Bei Locke, Hume und Hartley hingegen wird Geistiges aus Sinnlichem abgeleitet, indem Ideen - hier rein als Vorstellungsinhalte gefaßt - einzig und allein durch Assoziation Zustandekommen: »Einfache Ideen verwandeln sich in zusammengesetzte vermittelst der Association«. 294 Erfahrungen verschaffen dem Menschen Lust oder Unlust. In einer Wendung ins Draußen untersucht Hartley, was im Draußen jenes Vergnügen erweckt, das Voraussetzung für eine Zuwendung des Menschen zur Welt ist. Kunst genießt hier neben der schönen Natur und dem schönen Menschen eine privilegierte Stellung, innerhalb der Künste aber ist es die Malerei, der Hartleys Aufmerksamkeit gilt: Weil die Ideen des Gesichts v o n allen unsern Ideen die lebhaftesten sind, und in dem Gedächtnisse gleichsam als Schlüssel und Behältnisse f ü r alle übrige zurückgeleget werden, so müssen Gemähide, die gleichsam Mitteldinge v o n den würklichen G e g e n ständen und den Ideen, und mithin da, w o eine zureichende Aehnlichkeit erhalten worden, lebhafter als die Ideen sind, uns nothwendig angenehm seyn, weil sie unser Verlangen, eine vollständige Idee von einem abwesenden Gegenstande in uns zu erregen, befriedigen. 2 9 5

Malerei gilt also als Repräsentation abwesender Gegenstände und sie gilt Hartley als umso vollkommener, je größer die Ähnlichkeit der in ihnen repräsentierten Gegenstände mit wirklichen Naturgegenständen ist. In Korrespondenz 192

Vgl. Kondylis (1986), S.288.

293

David Hartley: Betrachtungen über den Menschen, seine N a t u r , seine Pflicht und E r wartungen. A u s dem Englischen übersetzet und mit A n m e r k u n g e n und Z u s ä t z e n begleitet. 2 Bde. R o s t o c k , Leipzig: K o p p e 1 7 7 2 / 7 3 ; zit. in Bd. 1 ( 1 7 7 2 ) , S. 1 1 .

294

Hartley B d . 1 ( 1 7 7 2 ) , S . 1 8 .

295

Ebd., Bd. 2 ( 1 7 7 3 ) , S . 8 1 .

97

zu diesem als >Aufwertung der Sinnlichkeit^ nur unzureichend beschriebenen Prozeß wird die sinnlichere Farbe gegenüber dem disegno aufgewertet. Bereits an der Wende zum 18. Jahrhundert hatten sich innerhalb der Academie Roy ale mit de Piles die >RubenistenPoussinisten< durchgesetzt; die Vorbildlichkeit der Antike wurde hierdurch so weit relativiert, daß die Partei der sich an Charles Perrault anschließenden >Modernen< die Oberhand bekam. 296 Doch eingebettet sind all diese im einzelnen zu beobachtenden Prozesse in eine umfassendere Bewegung, in der >Natur< zunehmend auf äußere Natur bezogen und ihre >Nachahmung< in ein illusionistisches Spiel mit ihrer möglichst weit getriebenen Abschrift transformiert wird. 297 Das Mimesisgebot meint daher unter der gleichgebliebenen Forderung nach >Nachahmung der Natur< nicht mehr die Ermöglichung einer rationalen Bildlektüre in der Einheit einer Handlung, sondern vielmehr die Beschäftigung des Gemüts in der Mannigfaltigkeit von realistisch wiedergegebenen Bilddetails.298 Charles Batteux, der so weit ging, den Grundsatz der Naturnachahmung zu einem allen Künsten gemeinsamen Prinzip zu erheben, verstand unter imitatio naturae, »daß unsre Augen durch die Aehnlichkeit sich täuschen lassen, daß wir überredet werden sollen, der Gegenstand sey wirklich, da indessen derselbe nur ein Bild ist«. 2 " In den »wunderlichen Gedanken über die Zeichnung< von Diderots MalereiEssai läßt sich verfolgen, wie Diderot die Kraft zur Ablehnung des akademischen Studiums nach Antiken durch die Berufung auf eine »Wahrheit der Natur« 300 bezieht, der der Künstler sich mimetisch anschließen muß, sofern er Wirkungen hervorrufen will - ein Standpunkt, von dem Johann George Sulzer nicht so weit entfernt ist, wenn er über >Zeichnung< schreibt: »Richtigkeit befriediget; Anmuthigkeit und Schönheit gefallen; aber das Leben, der mit den wenigsten wesentlichen Strichen fühlbare Charakter jedes Gegenstandes,

297

298 199

300

98

Vgl. Imdahl (1987), S. >5-73. Herbert Dieckmann: Die Wandlung des Nachahmungsbegriffs in der französischen Ästhetik des 18. Jahrhunderts. In : ders.: Studien zur europäischen Aufklärung. München: Fink 1974 (= Theorie und Geschichte der Literatur und der schönen Künste 22), S. 2 7 5 - 3 1 hier S. 293ff. Busch (1993), S. 54· [Charles] Batteux: Einschränkung der schönen Künste auf Einen einzigen Grundsatz. Aus dem Französischen übersetzt und mit einem Anhange einiger eignen A b handlungen versehen [von J. Ad. Schlegel]. Leipzig: Weidmann 1 7 5 1 , S.223. Batteux gibt in seinem 1747 in Paris veröffentlichten Werk gelassen zu verstehen, sein A b schnitt >Von der Malerey< werde »sehr kurz werden, weil der Grundsatz von der Nachahmung der schönen Natur sich auf die Malerey beynahe von sich selbst anwendet« (S. 221). Denis Diderot: Ästhetische Schriften. Hg. von Friedrich Bassenge, 2 Bde. Frankfurt/ M.: E V A 1968, hier Bd. 1, S.638.

rührt auf das lebhafteste«. 301 Gerade weil nun die Einbildungskraft durch größtmögliche Wirklichkeitsnähe und -fülle bewegt und das heißt über den Abbildcharakter der Repräsentation hinweggetäuscht werden will, wird seit etwa der Mitte des 18. Jahrhunderts die Leistung der ästhetischen Zeichen, die eigene Opazität im Blick auf einen konkreten, in allen seinen Details wiederzugebenden Naturausschnitt überwinden zu können, zum Problem der Kunsttheorie. Das Postulat eines natürlichen Zeichens«, in dem es der Einbildungskraft gelänge, die an sich toten Werke für den Moment ästhetischer Illusion zu animieren, setzt die Erfahrung der Willkürlichkeit der Zeichen voraus. Dem Traum vom natürlichen Zeichen« steht ein zunehmendes und nicht m e h r - w i e noch bei dem Oratorianer Malebranche - durch Metaphysik abgesichertes Bewußtsein für die Künstlichkeit der Zeichen gegenüber. Die Konjunktur des Pygmalion-Mythos seit 1740 zeigt, daß es dem mittleren 18.Jahrhundert durchaus um die bis ins Extrem getriebene Illusion einer Aufhebung der Grenzen zwischen Kunst und Leben geht, wie sie eben in der Geschichte von dem Bildhauer Pygmalion erzählt wird, dem sich die begehrte Marmorstatue zu Fleisch und Blut verlebendigt. Doch die Inszenierung der Unmittelbarkeit dieses Begehrens findet - und dies ist der zweite Aspekt des Pygmalion-Mythos stets nur im Medium höchster Künstlichkeit statt: im klassizistisch kalten, sich nur künstlich Farbe leihenden Marmor. 302 N o c h in Herders Tagebuch seiner Italienreise findet das Begehren daher allein über dem tastenden Nachempfinden der zusammengesetzten Marmorschönheit des Hermaphroditen zur Sprache. 303 U m die Mitte des 18. Jahrhunderts begann die Kunsttheorie zu sehen, daß Linien und Farben auch jenseits ihrer Bezeichnungsfunktion das menschliche Gemüt zu bewegen vermögen. Experimente mit dem Farbenklavier bewiesen, daß auch ungegenständliche, halb automatisch hervorgebrachte Gebilde die menschliche Einbildungskraft beschäftigen. Leonardo da Vincis Anregung für junge Maler, an der Zufallsform, die bestimmte Flecken auf alten Gemäuern

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Johann George Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. 2. Aufl., 4. Theil, Leipzig: Weidmann 1794, S. 7 51. Sulzer bezieht sich an dieser Stelle nachdrücklich auf Mengs' >GedankenAusdruck< ausführt, eröffnet diese Plastizität einen Imaginationsraum, der die Zeitstruktur einer diskursiv nachvollziehbaren Bildhandlung aufhebt in die Räumlichkeit von »stehende[n] Erscheinungen« (276). Carstens' Plastizität ist gewissermaßen eine Räumlichkeit, wo sie nicht mehr erwartet wird als »plastische[s] Vermögen« (257) simuliert sie die Naivität der Antike unter sentimentalischen Bedingungen und wird durch diese Bedingungen streng genommen erst ermöglicht: die Körperlichkeit der Antike avanciert hier gewissermaßen zum unerreichbaren Telos der autonomen Malerei nach der Pauperisierung ihrer Bildmittel. Daß Zeichnung damit von den Gesetzen perspektivischer Richtigkeit befreit ist, so wie Farbe von der Unterordnung unter das für die Illusion von Tiefe sorgende Helldunkel, versteht sich beinahe von selbst; wenn Carstens »nur eine nothdürftige Kentnis der Anatomie besas, und auch in der Perspektiv, der zweiten Grundkentnis des Malers, ohne welche keine strenge Richtigkeit der Zeichnung möglich ist, praktisch nicht hinlänglich re315

»Selbst im Reizbaren zur V e r f ü h r u n g ist das N a c k t e in beiden Künsten gar nicht dasselbe. Eine Statue steht ganz da, unter freiem Himmel, gleichsam im Paradiese: N a c h bild eines schönen G e s c h ö p f s Gottes und um sie ist U n s c h u l d . [...] M i t dem Z a u b e r der Malerei ists anders. D a sie nicht körperliche Darstellung, sondern nur Schilderung, Phantasie, Repräsentation ist, so öffnet sie auch der Phantasie ein weites Feld und lockt sie in ihre gefärbte, duftende Wollustgärten. D i e kranken Schlemmer aller Zeiten füllten ihre Kabinette der W o l l u s t immer lieber mit unzüchtigen Gemälden als Bildsäulen: denn in diesen, selbst in schlummernden Hermaphroditen, ist eigentlich keine U n z u c h t « , schreibt der Generalsuperintendent Herder in >Plastik. Einige Wahrnehmungen über F o r m und Gestalt aus Pygmalions bildendem Traume< [ 1 7 7 8 ] ; in: Bibliothek der Kunstliteratur 3 ( 1 9 9 5 ) , S. 1 1 - 9 4 , bier S. 34.

316

Brief F e r n o w s an G e r h a r d v o n Kügelgen, Weimar, 7. A u g . 1806, zit. nach: Carl L u d w i g F e r n o w ' s Leben, hg. von J o h a n n a Schopenhauer. Tübingen: C o t t a 1 8 1 0 , S. 3 5 5 360, hier S. 3 5 9 .

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gelfest war« (259), so läßt sich dieser von Carstens' Gegnern, wie etwa dem Mahler Müller, erhobene Vorwurf leicht entkräften: »Indem er [= Carstens] ihnen zugestand, dass im Einzelnen seiner Arbeiten manche Unrichtigkeit zu tadeln sein möge, zeigte er ihnen, dass ihre eigene Zeichnung im Grunde noch viel schlechter sei, weil daran, aller nach Modellen mühsam ausstudirten Korrektheit der Theile ungeachtet, das Ganze nichts tauge« (260). Klassizismus, wie Fernow ihn versteht, wäre demzufolge auch insofern Kunst nach dem Ende der Kunst, als ihm ein explizit formuliertes Bewußtsein dafür zugrunde läge, daß die Vollendung der Antike nur angestrebt, in der Gegenwart aber praktisch nicht mehr erreicht werden kann. Ähnlich wie Schiller die Naivität der Antike als Idee durchschaut, die zwar außerhalb des reflektierenden Bewußtseins des Modernen schlechterdings nicht existiert, als Idee aber notwendig ist, damit der Moderne sich im distanzierenden A k t ästhetischer Betrachtung als reflektierendes Subjekt erfahren kann, 3 ' 7 rangiert bei Fernow die Klassizität der Antike als Ideal, das wieder hervorzubringen - im vollen Bewußtsein der Unmöglichkeit des Angestrebten - der Einbildungskraft des Künstlers überantwortet wird. Nicht anders als in der weltvernichtenden Ironie der Romantik wird die so angestrebte Konzeptkunst, der es um Repräsentation primär nicht mehr zu tun ist, mit einem Verlust an Welthaftigkeit erkauft, in dessen Gefolge die Linien und Zeichen zunächst einmal sich selbst genügen. Um indes zu verhindern, daß die sich solcherart autonom in die eigene Opazität zurückziehende Malerei der Spannungslosigkeit eines reinen Formalismus verfällt, bleibt die Plastizität der Antike - gewissermaßen im Sinne einer regulativen Idee - als Inzitament der produktiven Einbildungskraft unverzichtbar. Diese Idee einer sich selbst verunmöglichenden Plastizität, das »Motiv des dreidimensionalen Schaffens als das der eigentlichsten und ursprünglichsten Betä-

517

A u c h in Schillers Abhandlung >Ueber naive und sentimentalische Dichtung< durchkreuzen sich bisweilen der transzendentalphilosophische Aspekt, der die Antike zur Idee erklärt, der außerhalb des Bewußtseins keine Existenz zukommt, und eine >historische< Perspektive, die diese Idee im Sinne des älteren Klassizismus als in der griechischen Antike >gewesen< vorstellt: »Es sind nicht diese Gegenstände, es ist eine durch sie dargestellte Idee, was wir in ihnen lieben. Wir lieben in ihnen das stille schaffende Leben, das ruhige Wirken aus sich selbst, das Daseyn nach eignen Gesetzen, die innere Nothwendigkeit, die ewige Einheit mit sich selbst. Sie sind, was wir waren; sie sind, was wir wieder werden sollen«, Schülers Werke. Nationalausgabe Bd. 20: Philosophische Schriften, 1. Teil. Unter Mitwirkung von Helmut Koopmann hg. von Benno von Wiese. Weimar: Böhlaus Nachf. 1962, S . 4 1 4 ; vgl. dazu Fischer (1994), passim. Fernow besaß Erstausgaben annähernd aller Dramen und historiographischen Werke Schillers, den >Musenalmanach auf 1797*, eine Prachtausgabe der >Huldigung der KünsteUeber naive und sentimentalische Dichtung< in Bd. 2 [1800], S. 1 - 2 1 6 ) .

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tigung des Bildnertriebes«, 318 verdankt Fernow wiederum einem von der Literatur des späten 18. Jahrhunderts bereitgestellten Deutungsmodell, denn einer Beobachtung Käte Lasersteins zufolge wird dieser für die Kunstliteratur des 19. Jahrhunderts topische Gedanke maßgeblich von der Verwendung in Goethes >Werther< bestimmt: »In dem Augenblick [...], wo sich der Drang zur Formung elementar äußert, ohne nach dem Gegenstand zu fragen, denkt Werther nicht als Zeichner oder Maler, sondern als Plastiker«. 319 Schon für Werther aber gilt, daß es gerade der »Augenblick der quälendsten Discrepanz zwischen Phantasie und Formung« 320 ist, daß es mithin das unglückliche Bewußtsein des Modernen von der Unmöglichkeit >antikerKlassischen< avancieren läßt. Bei Fernow ist das in sich Ruhende des klassischen Kunstwerks in beinahe noch größerem Maße der Stachel im Fleisch der Moderne. Seinem Carstens, dem doch die handwerklichen Grundlagen zum Maler weitgehend abgehen, mutet er postum ein Kunststreben zu, das sich nur dem der Antike, nur dem Raffaels und Michelangelos an die Seite stellen lasse. Gewinnen ließe sich solche Größe nur über der Betrachtung der >KlassikerPropyläen< erschien, schrieb Goethe an Meyer, er sei mit Schiller »diese Tage über die Wahl des Gegenstandes bey Kunstwerken sehr im Gespräch gewesen« und knüpfte daran die dringende Bitte: »sammeln Sie doch ja auch auf diesen Punkt, es ist der erste und der letzte«. 322 Man hat die Bedeutung dieser Frage für den Goethe des knappen Jahrzehnts zwischen 1796 und 1805 lange Zeit mit dem Hinweis darauf abgetan, daß Goethes guter Genius ihn hier einmal verlassen und er sich unter den Einfluß kleinerer Geister - wie eben des schon von August Wilhelm Schlegel als >Kunscht-Meyer< denunzierten Schweizers Meyer und Fernows - begeben habe. 323 Denn natürlich mußte die Frage der Gegenstandswahl des Künstlers einer Forschergeneration, die unter dem Eindruck der Malerei des späten 19. Jahrhunderts an die Herausgabe von Goethes Werk herantrat, als unglückliche Verirrung eines Dichterfürsten in die Niederungen akademischer Spitzfindigkeiten erscheinen. Wie wenig eine solche Einschätzung der Sachlage indes historisch gerecht zu werden vermag, ließe sich etwa aus dem Briefwechsel zwischen Goethe und Meyer, aber auch aus dem Briefwechsel mit Schiller ersehen. Auf den Befund, daß die Frage der Gegenstände aus keiner akademischen Verstiegenheit, sondern aus einer sehr konkreten Notlage des Künstlers der Zeit um 1800 hervorgeht, weist ein Brief hin, den Goethe anläßlich eines Besuches bei dem Bildhauer Dannecker an Schiller schrieb: »Ich sah noch kleine Modelle bey ihm, recht artig gedacht und angegeben, nur leidet er daran, woran wir modernen alle leiden: an der Wahl des Gegenstands. Diese Materie, die wir bisher so oft, und zuletzt wieder bey Gelegenheit der Abhandlung über den Laokoon besprochen haben, erscheint mir immer in ihrer höhern Wichtigkeit. Wann werden wir armen Künstler dieser letzten Zeiten uns zu diesem Hauptbegriff erheben können«. 324 322

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Brief an Johann Heinrich Meyer, [Jena], 15. Sept. 1796, zit. nach Goethes Werke [Weimarer Ausgabe]. 4. Abtl: Goethes Briefe. Bd. 1 1 : 1796. Weimar: Böhlau 1892, S. 200-207, hier S. 207. Z u r Kritik an dieser Forschungsmeinung vgl. Ernst Osterkamp: »Aus dem Gesichtspunkt reiner Menschlichkeit«. Goethes Preisaufgaben für bildende Künstler 1 7 9 9 I8OJ. In: Goethe und die Kunst. Kat. Frankfurt und Weimar 1994, S. 3 1 0 - 3 2 2 , hier S. 310. Brief an Schiller, Stuttgart den 30. A u g . 1797, zit. nach Goethes Werke [Weimarer

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Nicht als triumphale Befreiung zu sich selbst, sondern als Leiden, als Entzug von verbürgter Sicherheit durch die Dynamisierungstendenz der Moderne beschreibt Goethe im Jahr 1796 jenen Prozeß der Autonomisierung der Kunst, der dann unter anderem 1806 im Stilkapitel von Fernows Carstens-Monographie luzide analysiert und hinsichtlich seiner Konsequenzen für die Kunst der Gegenwart unter veränderten Vorzeichen durchdacht werden sollte. Das Jahrzehnt der von den Weimarischen Kunstfreunden unternommenen Anstrengungen, die bildenden Künstler der Gegenwart zur Bearbeitung von Themen aus der antiken Dichtung zu bewegen, ist daher mehr als nur ein zum Scheitern verurteilter Versuch, der Antike zu erneuter normativer Geltung zu verhelfen. Denn das intendierte Ziel Goethes, Meyers und - partiell - Schillers war es zunächst, das sich abzeichnende >Ende der Ikonographie^ durch das der Kunst die tradierten Gegenstandsfelder genommen zu werden drohten, durch eine bewußte Stilpolitik zu kompensieren: Man wollte mit der Antike ein neues Referenzsystem, dem man zutraute, aus sich selbst verständlich zu sein, installieren und auf diese Weise den Verlust der Verständlichkeit von Kunst aufhalten. Wenn Goethe und Meyer das Projekt der Propyläen daher mit einem Aufsatz >Ueber die Gegenstände der bildenden Kunst< eröffnen sollten, in dem umständlich und etwas pedantisch die Stoffe der bildenden Kunst in vorteilhaftes >gleichgültige< und >widerstrebende< eingeteilt werden, so verweist dieser Klassifizierungsversuch trotz der zahlreichen und oft banausisch anmutenden Verdikte über diesen oder jenen »Hauptirrthum gegen den Geschmack« 325 auf eine tiefgreifende Verunsicherung und auf ein Bewußtsein dafür, daß nichts, was die Kunst betrifft, mehr selbstverständlich ist. In dem historischen Moment, in dem man erkennt, daß die Verweisungskraft der Zeichen prinzipiell in Frage gestellt ist, muß ein gemeinsames Charakteristikum und ein Irrweg zugleich der neueren Kunstgeschichte darin erkannt werden, daß die neueren Maler wie Meyer schreibt - »die Bedeutung ihrer Figuren in das Attribut« 326 legten. Denn schließlich ist es die durch den Säkularisationsprozeß der Aufklärung herbeigeführte Dissoziation der Inhalte von den ihnen angestammten Formen, die die von Meyer vorgebrachte Kritik an jenen Zeichen, die nicht - im Sinne jener seit der Mitte des 18. Jahrhunderts geläufigen Unterscheidung - >natürlichwillkürlich< sind, überhaupt erst ermöglicht.327 Meyers weiteren

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326 327

Ausgabe]. 4. Abtl: Goethes Briefe. Bd. 12: 1797. Weimar: Böhlau 1893, S. 2 7 4 - 2 7 9 , hier S. 275 f. [Johann Heinrich Meyer:] Ueber die Gegenstände der bildenden Kunst. In: Propyläen. Eine periodische Schrifft, herausgegeben von Goethe. Bd. 1 , 1 . Stück, Tübingen: Cotta 1798, S. 2 0 - 5 4 , hier S. 54. Ebd. Meyer (1798), S . 5 3 . Vgl. zum Zusammenhang zwischen dem Postulat einer >symbolischen< Kunst im Sinne Goethes und den Umbrüchen im ikonographischen Gedächtnis der Zeit Bernhard Fischer: Kunstautonomie und Ende der Ikonographie. Z u r historischen Problematik

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Ausführungen zufolge hätten einzig und allein die >Alten< es vermocht, Form und Inhalt der Werke in festen Typen zur Deckung zu bringen. Über dem sich daraus ergebenden argumentativen Zwang, begründen zu müssen, warum es den >Alten< gelungen sei, jene höchste Form der Kunst hervorzubringen, reifte nach Einschätzung von Werner Busch im Jahrzehnt zwischen 1796 und 1806 die Einsicht, »daß man zwar in der Gegenwart am Beispiel der Antike erkennen könne, was die höchsten Gegenstände der Kunst seien, welche Bedingungen sie zu erfüllen hätten, daß man aber nicht mehr in der Lage sei, selbst Entsprechendes zu produzieren«. 328 Die Einsicht in das von Fernow und Hegel konstatierte Ende der Kunst scheint also gerade über dem Versuch der Jahre um 1800, die Antike als Lebensmacht in der Gegenwart zu begreifen, entstanden zu sein. Auf Dauer wird das so gewonnene Bewußtsein dafür, daß das System der Kunst seine Bezeichnungsfunktion verliere, in den Prozeß der »historistischen Selbstvergegenständlichung« auslaufen, in dem der Referenzpunkt der Malerei nicht mehr außerhalb ihrer, sondern in ihr selbst zu finden sein wird. Man könnte die Konsequenzen des >Endes der Ikonographie< anhand einer Zeichnung von Carstens erläutern, die schon immer im Interesse der CarstensForschung stand. Wenn Fernow im Kapitel über den >Stil< von Carstens betont, daß Kunst nicht mehr zur Versinnlichung der religiösen Glaubenssätze des Christentums dienen könne, da der Prozeß der Säkularisierung der christlichen Ikonographie irreversibel sei, so denkt er dabei insbesondere an die »bis zum Ekel wiederholten Darstellungen aus der katolischen Mitologie und Martirologie« (250). Doch diese Gegenstände hatten Jahrhunderte lang währende Bildtraditionen von erstaunlicher ikonischer Konstanz hervorgebracht, deren Fortfall so schnell nicht durch die Einbildungskraft und die Erfindungsgabe des Künstlers wett zu machen ist, wie Fernow dies darstellt. Meyer zufolge zählen nun Madonnenbilder durchaus unter die >vortei!haften< Gegenstände, weil sie als »rein menschliche Darstellungen« 329 des Themas von Mutter und Kind aus sich selbst verständlich seien und - wie man ergänzen mag - daher das Ende der Ikonographie zu überleben vermögen. In der am Anfang seiner römischen Zeit entstandenen Zeichnung >Die Nacht mit ihren Kindern, Schlaf und Tod< (Abb. 3) hat Carstens die sitzende Zentralfigur der >NachtAllegorie< und >Symbol< in Winckelmanns, Moritz< und Goethes Kunsttheorie. In: D V j s 64 (1990), S. 2 4 7 - 2 7 7 . Busch (1993), S. 210. Meyer (1798), S . 2 3 . Vgl. Herbert von Einem: Asmus Jacob Carstens, Die Nacht mit ihren Kindern. Köln, Opladen: Westdeutscher Verlag 1958 (— Arbeitsgemeinschaft für Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen, Geisteswissenschaften, Heft 78), S. 28.

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mensprache, die das Thema ins Allgemeinmenschliche zu transponieren versucht, indem sie alle etwaigen auf die Marienikonographie verweisenden Attribute auslöscht und die Figur in erhabener Nacktheit präsentiert. Doch an die Stelle der Marienikonographie ist eine nicht minder auf das Vorwissen des Betrachters angewiesene Einbettung des >aus sich selbst verständlichem Bildthemas in einen neuen Kontext getreten, insofern sich die Gruppierung der Nacht mit ihren Kindern, von denen das eine den Tod, das andere den Schlaf darzustellen hat, der Lektüre eher entlegener antiker Schriftsteller und Dichter und zudem dem Studium antiker Gemmen verdankt. Herbert von Einem hat in einer materialreichen Studie nachgewiesen, daß Carstens als Illustrator der Götterlehre von Karl Philipp Moritz sich nicht nur antike Quellen über Nachtdarstellungen, wie sie insbesondere in des Pausanias Beschreibung der Kypseloslade vorliegen, sondern sehr wahrscheinlich auch gelehrte Traktate - wie etwa Lessings Abhandlung >Wie die Alten den Tod gebildet - vergegenwärtigt hat, um eine für die Antike bezeugte, dann jedoch verlorene und erst im 16. Jahrhundert wiederbelebte Bildtradition von ihren >barocken< Umdeutungen zu befreien und - »gezwungen, sich seinen Weg zu den Quellen selbst zu bahnen« 331 - strenger im Sinne der Antike aufzufassen. 3 3 2 Der Umstand, daß in Carstens' Bildschöpfung der Schlaf an einem von ihm gehaltenen Mohnstengel, der Tod hingegen an einer gesenkten Fackel zu erkennen ist, beide als Kinder dargestellte Figuren aber von dem Mantel der in sich ruhenden Gestalt der >Nacht< umfangen werden, mag nun in der Tat >antikischer< gedacht sein, als etwa die Idee von Jan van den Hoecke und Peter Thys (vgl. Abb. 4), eine personifizierte und mit Flügeln ausgestattete Allegorie der Nacht durch eine illusionistische Rahmenarchitektur treten zu lassen, zwei äußerst wohlgenährte Putti auf den Armen, die sich nur der Farbe nach, nicht aber durch antikisierende Attribute unterscheiden. 333 Doch die These, daß Carstens' stärker historisierende Komposition aus sich selbst verständlich sei, kann man gerade aufgrund der Tatsache, daß die Figuren mit streng nach antiken Vorbildern entworfenen, unverständlich gewordenen Attributen ausgestattet werden, 3 3 4 kaum aufrecht 331 332

von Einem ( 1 9 5 8 ) , S. 22. In seinem U b e r b l i c k über nachantike Darstellungen der >Nacht< übersieht von Einem ( 1 9 5 8 ) allerdings die Fülle von Fresken im Mantuaner Palazzo Ducale, etwa die >Nacht< im D e c k e n f r e s k o der Sala dello Z o d i a c o v o n L o r e n z o C o s t a d. J . ( 1 5 7 9 ) , aber auch die zahlreichen >NachtDie N a c h t mit ihren Kindern, Schlaf

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erhalten. A u c h der U m s t a n d , daß der ins A n t i k e g e w e n d e t e n S c h u t z m a n t e l m a d o n n a mit der F i g u r der N e m e s i s ein zweites, die B i l d k o m p o s i t i o n parataktisch erweiterndes B i l d z e n t r u m z u g e o r d n e t w i r d , hintertreibt eher die V e r ständlichkeit des Dargestellten, schließlich läßt sich die F i g u r der N e m e s i s ebenfalls n u r ü b e r ein höchst esoterisches A t t r i b u t , nämlich die allenfalls durch eine präzise K e n n t n i s der Texte H e s i o d s verständliche G e i ß e l in ihrer H a n d , identifizieren. 3 3 5 U n d auch die drei P a r z e n im B i l d h i n t e r g r u n d u n d die ihnen v e r b u n d e n e A l l e g o r i e des Schicksals, das sein H a u p t verhüllt hält, v e r d a n k e n sich letztlich eher einer K o n t i n u i t ä t b a r o c k e n allegorischen D e n k e n s , als daß sie d e m Postulat eines n a t ü r l i c h e n Zeichens< entsprächen. 3 3 6 D a r ü b e r hinaus ist das räumliche Verhältnis der F i g u r e n zueinander grundlegend verunklärt, i n d e m an Stelle eines perspektivisch konstruierten T i e f e n r a u m e s die etwa auch f ü r F l a x m a n kennzeichnenden »neuen S t r u k t u r p r i n z i p i e n S y m m e t r i e , r h y t h mische R e i h u n g , Isolierung o d e r das A u f g e h e n der F i g u r im F l ä c h e n w e r t « 3 3 7 getreten sind. D i e F i g u r e n der >Nacht< und der >Nemesis< insbesondere sitzen in additiver R e i h u n g beziehungslos nebeneinander u n d ließen sich potentiell aus d e m K o n t e x t des Bildes isolieren, w a s etwa das E i n f i g u r e n h i s t o r i e n b i l d der >Nemesis< G e r h a r d v o n K ü g e l g e n s belegen d ü r f t e (vgl. A b b . j ) . 3 3 8 D a s B i l d und Tod< ist bekanntlich aus jener Umrißzeichnung hervorgegangen, die Carstens als einzige eigene Erfindung unter die nach antiken Gemmen entworfenen Illustrationen zur >Götterlehre< von Moritz aufgenommen hat. Nicht nur die Zugehörigkeit des Attributs des >Mohnstengels< zum Thema der Nacht, sondern auch dessen konkrete, von der Antike beglaubigte Form konnte Carstens auch seinem Studium antiker Gemmen entnehmen, zeigt doch die zweite Nachtdarstellung in Moritz' Götterlehre, die nach einer Gemme aus dem Kabinett des französischen Königs entworfen ist, wie eine zur Seite ausschreitende weibliche Figur dem links von ihr stehenden Morpheus drei Mohnstengel reicht, während rechts hinter ihr drei Figuren allmählich in Schlaf fallen, vgl. P[ierre] J[ean] Mariette: Traite des pierres gravees. 2 Bde. Paris: Mariette 1750, hier Bd. 2, Nr. 60: La Nuit distribuant ses pavots. 335

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Vgl. von Einem (1958), S. 31: »Die Geißel in der Rechten, die von Moritz nicht erwähnt wird, geht nach Fernows Bericht auf Hesiod selbst zurück, der Nemesis eine >Geißel der Sterblichem [...] nennt. Carstens kann durch den ihm freundschaftlich verbundenen dänischen Archäologen Georg Zoega auf diese Hesiodische Bezeichnung aufmerksam geworden sein. Zoega hatte 1794 (ein Jahr vor Carstens' Weimarer Karton) in seinen Anmerkungen zu Herders Abhandlung über die Nemesis< Hesiods Vers zitiert«. Vgl. zur Kontinuität im Wandel der Parzenikonographie bis hin zu Carstens: Thomas Maria Blisniewski: >Kinder der dunkelen NachtNacht mit ihren KindernGötterlehre< anfertigte, nur ein Bildzentrum - die Figur der >Nemesis< kam hier noch nicht vor und wurde dem ersten Entwurf nachträglich hinzugefügt. Daß die >Nemesis< ihrerseits als »Einfigurenhistorienbild« (vgl. zu diesem Begriff Busch 1993, S. 208) aufgefaßt werden kann und konnte, wird durch den Umstand belegt, daß Fernows Freund Gerhard von Kügelgen 1815 die Carstenssche >Nemesis
lesenmythische< Qualität dieser B i l d k o m p o s i t i o n betrachtet w u r d e , 3 3 9 die denn w o h l auch nicht zufällig als ein die H a n d l u n g stillstellendes, hebendes Bild< in einem vielgelesenen R o m a n des 19. J a h r h u n d e r t s inszeniert w e r d e n sollte. In J o h a n n a Schopenhauers R o m a n >Gabriele< w i r d als H ö h e p u n k t einer F o l g e v o n tableaux vivants ausgerechnet C a r s t e n s ' Z e i c h n u n g >Die N a c h t mit ihren K i n d e r n , Schlaf und Tod< inszeniert, das einzige d e r hebenden BilderWahlverwandtschaften< das tableaux v i v a n t der >Nacht< nach C o r reggio f ü r Ottilie reserviert w i r d , nachgebildet ist: 3 4 0 Das Tableau stellte die Nacht vor, die ihren dunkelblauen Sternenschleier über ihre Kinder, den Schlaf und den Tod, ausgebreitet hält. [...] Zu ihren Füßen schlummerten zwei liebliche, blonde Genien, der eine war mit Mohnblumen geschmückt, der andre, mit der ausgelöschten Fackel, trug einen Kranz von Zypressen. Bunte, fantastische Traumgestalten drängten sich hinter ihr, unter ihnen stand Gabriele, als ein trüber, Unheil verkündender Traum, in ihren langen, schwarzen Schleier gehüllt, unter welchem die goldglänzenden Locken tief herabrollten. Beim Lampenlicht, mitten unter rosenwangigen, schimmernden Gestalten schien sie, ohne alle Schminke noch blässer als sonst. Sie glich Pygmalions Meisterwerk bei der ersten Regung des erwachenden Lebens. So glühend strahlte ihr dunkles Auge aus dem Marmorgesicht, denn ihr Blick traf auf Ottokarn, der in einiger Entfernung in ihrem Anschaun verloren stand. 34 '

aus ihrem Kontext herauslöste und zum Gegenstand eines Ölgemäldes machte (vgl. unsere Abb. 5: Gerhard von Kügelgen, Nemesis. Dresden, Kügelgen-Haus, Museum zur Dresdner Frühromantik). 339

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Vgl. etwa Wilhelm Köhler: Die Nacht mit ihren Kindern von Jacob Asmus Carstens. In: Genius. Halbjahresschrift für werdende und alte Kunst (1920), 1. Halbbd., S. 8 5— 87, hier S. 8 5: »Eng schließen sich Felswände um das Ganze zur Höhle. Und aus ihrer Tiefe tönt, über das stille Dämmern der schlummernden Kinder und der müden Mutter hinweg, der Parzen ewiges Schicksalslied vom Leben und vom Sterben. Man muß von den geöffneten Lippen ihre Stimmen wie Rauschen des Meeres, ewig und unablässig, aus dem Bilde klingen hören, wenn man das Wesen dieser Schöpfung empfinden will [...]«. Eingebettet wird diese Szene im Roman Johanna Schopenhauers freilich in eine Diskussion, in der dem Argument mangelnder Schicklichkeit des Sich-Verkleidens ein dem Menschen angeborener >Hang zum Putz< entgegengehalten und verteidigt wird - ein etwas banaler Kontext, der nur bedingt aufgewertet wird, wenn im Anschluß an die >tableaux vivants< und als einziger Reflex auf sie dem Leser »aus Gabrielens Tagebuche« mitgeteilt wird, daß diese neue Ottilie ihr »ganzes Daseyn« als schweren, bangen Traum empfinde, vgl. Johanna Schopenhauer: Gabriele. Ein Roman. In zwei [1821: drei] Theilen. Erster Theil. Leipzig: Brockhaus 1819, S. 142. Ebd. Schopenhauer S. 140. Uber Carstens wird dann vom Architekten des lebenden Bildes Ernesto gesagt: »Lange fesselte ihn ein trübes Mißgeschick, das wie ein böser

111

Unter dem modernen Erfahrungsdruck der Verzeitlichung allen Wissens, in dessen Gefolge Kunst sich in ein Kontinuum nur historisch zu verstehender, nur historisch noch verständlicher Stile aufzulösen drohte, avanciert >die Antike< - gerade weil sie als unrettbar verloren begriffen wird - zum fernen und gleichsam >mythischen< Fluchtraum einer nur noch imaginativ einzuholenden Ganzheit, in der das Fließende der Zeit sistiert und der Tod ästhetisch aufgehoben wäre. Jene lebenden Bilder, in denen eine gesellschaftliche Mode der Zeit >antike< Bildvorwürfe im paradoxen Zugleich einer bewegten Unbewegtheit zu inszenieren liebte, verdanken sich dem gleichen Impuls, die Vergänglichkeit des Lebens imaginativ aufzuheben, indem die Dauer der Kunst für sie einzutreten bestimmt wird 3 4 2 - jedenfalls für jenen Moment ästhetischer Täuschung, für dessen epiphanische Zeitstruktur wie für die des komplementären Brauches, unbelebte Statuen nächtens bei verlebendigendem Fackelschein zu betrachten, ein so aufmerksamer Beobachter wie Moritz registrierte, daß »der Begriff von Zeit verschwindet, und alles drängt sich in einen Moment zusammen, der immer dauern könnte, wenn wir bloß betrachtende Wesen wären«. 343 Doch daß der Ästhetizismus der lebenden Bilder ebenso seinen Preis fordert wie der Carstenssche Versuch, Historiengemälde ohne Handlung vorzustellen, zeigt sich schon bei einer genauen Lektüre der zitierten Passage aus J o hanna Schopenhauers Roman. Denn tatsächlich vermag weder die vor den lebenden Bildern versammelte Gesellschaft noch ihr eigentlicher Arrangeur Ernesto, der sich doch sogar als in die Ideen »meines leider viel zu früh unter der Pyramide des Cestus zur Ruhe gegangenen Freundes, Carstens« 344 eingeweiht ausgibt, den Sinn von Carstens höchst eigenwilliger, beinahe eine kleine Privatmythologie darstellender Komposition zu entschlüsseln. Man mißversteht Carstens vielmehr gründlich, wenn man im tableau vivant die drei Parzen und Z a u b e r auf seinem Leben ruhte und ihn verhinderte, aus dem Reich der F o r m e n in das der Farben zu dringen. U n d da es endlich überwunden war, da sein hoher Gen[i]uß die Flügel freier zu regen begann, da entschwand er uns ganz. D i e Kunst w i r d ewig um ihren Liebling trauern, um so mehr, da jetzt ein dem seinen ganz entgegen gesetztes verderbliches Streben unter ihren Jüngern täglich herrschender wird« (ebd. S.141). 342

V g l . Bettina Baumgärtel: D i e Attitüde und die Malerei. Paradox der stillen B e w e g t heit in Synthese von E r f i n d u n g und N a c h a h m u n g . In: Zeitschrift des Deutschen V e r eins f ü r Kunstwissenschaft 4 6 ( 1 9 9 2 ) , S. 2 1 - 4 3 .

343

» E s ist hier allezeit ein Fest f ü r uns, w e n n eine Gesellschaft sich vereinigt, um die Statüen in Belvedere des A b e n d s bei Fackelschein zu betrachten«, leitet Karl Philipp M o r i t z diese seine als Kritik an Winckelmann gemeinte Betrachtung über den A p o l l o in Belvedere ein, vgl. M o r i t z , Schriften zur Ästhetik ( 1 9 6 2 ) , S. 2 4 3 f. A u f die Gefahr, daß Leben durch diese Stilisierung nach T o t e m potentiell davon bedroht ist, zu T o tem zu erstarren, hat dann allerdings gerade die Behandlung der lebenden Bilder in G o e t h e s >Wahlverwandtschaften< hingewiesen, vgl. Bätschmann ( 1 9 9 2 ) , S. 2 5 2 .

344

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Schopenhauer ( 1 8 1 9 ) , S. 1 4 1 .

die Figur des Schicksals durch »bunte, fantastische Traumgestalten« 345 ersetzt, da man das Ganze der Komposition im Sinne einer »stillen, heitern Sommernacht« 346 interpretiert. Offensichtlich ist es für den Künstler der Moderne nicht so einfach, einen Stoff zu wählen, der ganz aus sich selbst verständlich wäre. Nicht nur der Künstler, auch das Publikum der Zeit um 1800 zeigt sich überfordert von dem Anspruch der >symbolischen< Kunst, alle tradierten Referenzen in rein immanent sich organisierende Verweisungsgeflechte zu transformieren. Gerade auch der von den Autoren der Frühromantik unternommene und in diesem Punkt durchaus vergleichbare Versuch, eine >neue Mythologie< anstelle der alten Ikonographie zu installieren, rief Reaktionen hervor, die etwa Friedrich Schlegel dazu veranlaßten, in einem Aufsatz >Über die Unverständlichkeit< das Programm des Athenäum zu erläutern und gegen den Vorwurf des Mystizismus in Schutz zu nehmen. 347 Vor dem Hintergrund der sich auf diese Weise abzeichnenden Gegenstandsproblematik der modernen Malerei wird es umso interessanter sein zu sehen, wie Fernow zu der Frage der Wahl des Stoffes Stellung bezieht. Hinsichtlich des kulturellen Bereiches, aus dem Carstens den Stoff seiner Darstellungen entnommen habe, legt Fernow zunächst Wert auf die Feststellung, daß Carstens »nie einen Stof aus der römischen Geschichte behandelt hat, der jezt fast ausschließend das Feld der französischen Schule geworden ist« (26of.). Stattdessen habe Carstens seine Stoffe in der Ossianischen Welt, bevorzugt aber in der Welt des griechischen Altertums gefunden. Man könnte nun darauf hinweisen, daß die Orientierung an Homer, die Fernow hier für Carstens reklamiert, seit Winckelmann ein klassizistischer Glaubensgrundsatz und auch für andere Künstler maßgebend sei, etwa für den spät von Carstens begeisterten

34

' S c h o p e n h a u e r ( 1 8 1 9 ) , S. 1 4 0 ; K a r l P h i l i p p M o r i t z hatte die v i e r G e s i c h t e r a m u n t e r e n B i l d r a n d der C a r s t e n s s c h e n U m r i ß z e i c h n u n g der >Nacht< in d e r >Götterlehre< als » p h a n t a s t i s c h e [ n ] G e s t a l t e n d e r T r ä u m e « erläutert ( G ö t t e r l e h r e o d e r m y t h o l o g i s c h e D i c h t u n g e n der A l t e n . Z u s a m m e n g e s t e l l t v o n K a r l P h i l i p p M o r i t z . M i t f ü n f u n d sechzig in K u p f e r g e s t o c h e n e n A b b i l d u n g e n nach antiken geschnittnen Steinen u n d andern D e n k m ä l e r n des A l t e r t h u m s . Berlin: U n g e r 1 7 9 1 , S. 4 6 ) - d o c h gerade diese in einer A r t F e l s h ö h l e v e r b o r g e n e n T r a u m g e s t a l t e n w u r d e n v o n C a r s t e n s n i c h t in d e n später in R o m a n g e f e r t i g t e n K a r t o n der >Nacht< ü b e r n o m m e n . In J o h a n n a S c h o p e n hauers R o m a n bedient m a n sich z u r i k o n o g r a p h i s c h e n E n t s c h l ü s s e l u n g d e r n u r in d e r späten F a s s u n g im B i l d h i n t e r g r u n d z u sehenden F i g u r e n d e r drei >Parzen< u n d des v o n G a b r i e l e g e m i m t e n >Schicksals< o f f e n s i c h t l i c h d e r M o r i t z s c h e n >Götterlehre< u n d d a m i t einer B i l d e r k l ä r u n g , die anderen F i g u r e n in einer anderen B i l d k o m p o s i t i o n gilt - ein B e l e g m e h r f ü r die K o m m e n t a r b e d ü r f t i g k e i t u n d U n v e r s t ä n d l i c h k e i t d e r C a r stensschen K o m p o s i t i o n e n .

346 347

S c h o p e n h a u e r ( 1 8 1 9 ) , S. 1 4 0 . [ F r i e d r i c h Schlegel:] U e b e r die U n v e r s t ä n d l i c h k e i t . In: A t h e n a e u m . E i n e Z e i t s c h r i f t v o n A u g u s t W i l h e l m S c h l e g e l u n d F r i e d r i c h Schlegel. 3 ( 1 8 0 0 ) , 2. S t ü c k , S. 3 3 5 - 3 5 2 .

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F l a x m a n J 4 8 o d e r Tischbein. 3 4 9 Schließlich hatte W i n c k e l m a n n damit b e g o n nen, figurative Darstellungen der A n t i k e in R e l i e f s u n d auf G e m m e n , aber auch Statuen auf den griechischen M y t h o s als Inhalt zu beziehen, als Q u e l l e f ü r die griechische M y t h o l o g i e j e d o c h H o m e r zu k o n s u l t i e r e n . 3 5 0 D i e A b l ö s u n g O v i d s - des m y t h o l o g i s c h e n N a c h s c h l a g e w e r k s des B a r o c k - d u r c h H o m e r ist s c h o n bei W i n c k e l m a n n d u r c h eine historisierende B e m ü h u n g u m O r i g i n a l treue motiviert, w i e sie zeitgleich etwa bei H e y n e z u r A u s b i l d u n g der quellenkritischen M e t h o d e der Philologie f ü h r t e . D o c h nicht d e r H i n w e i s allein, daß H o m e r C a r s t e n s als S t o f f q u e l l e gedient habe, läßt F e r n o w s Statement, das imm e r h i n den f ü r Carstens tatsächlich nicht ganz u n w i c h t i g e n Bereich der >christlichen< o d e r neuzeitlichen D i c h t u n g v o n D a n t e s >Divina Commedia< bis hin zu G o e t h e s >Faust< bagatellisiert, als b e m e r k e n s w e r t e n Versuch erscheinen, den H i s t o r i s m u s v o n Carstens in einen lupenreinen K l a s s i z i s m u s f a l s c h z u m ü n z e n . 3 5 1 U n d auch die P o l e m i k gegen die H i s t o r i e n m a l e r e i D a v i d s u n d seiner Schüler, die - im T i g e r s p r u n g nach R o m - Geschichtskonstellationen der r ö m i s c h e n R e p u b l i k wiederholten, läßt sich nicht n u r aus d e m n a c h r e v o l u t i o nären B e d ü r f n i s nach A b g r e n z u n g v o m Freiheitspathos u n d machtpolitischen E x p a n s i o n s s t r e b e n F r a n k r e i c h s erklären, w i e es in der Z e i t nach J e n a und A u 348

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Anfang 1819 kaufte Henry Crabb Robinson, der Fernow aus seiner Jenaer Zeit kannte, eine Kopie der Dante-Zeichnungen von Carstens und schickte sie Flaxman, der sich am 1 1 . Feb. 1819 in einem Brief an Robinson enthusiastisch darüber und über den Künstler - »whose imagination is vivid and his conceptions poetical« - äußerte, vgl. Symmons (1984), S. 207. Heinrich Wilhelm Tischbein: Homer nach Antiken gezeichnet. Mit Erläuterungen von Christian Gottlob Heyne. Göttingen: Dieterich 1801. Nikolaus Himmelmann: Winckelmanns Hermeneutik. Wiesbaden: Steiner 1971 (= Akademie der Wissenschaften und der Literatur, Abhandlungen der geistes- und sozialwissenschaftlichen Klasse 1971, 12). Durch den latenten Historismus von Carstens läßt sich erklären, daß das 19. Jahrhundert sich auf ihn als Stammvater beziehen konnte. Ferdinand Olivier etwa legte das allegorische Blatt >Zueignung< aus der Lithographienfolge der >Sieben Gegenden< (1823), das einen »Stammbaum der neudeutschen Kunst« zeigt, so an, daß Carstens' Name als erste Blüte am Baum der wiederauferstandenen deutschen, das heißt hier: sowohl klassizistischen wie nazarenischen Kunst prangt, vgl. Peter Märker: Kunst als Erkenntnisform. Zu zwei Positionen der Romantik. In: Ludger Fischer (Hg.): Artefakten. Kunsthistorische Schriften. Annweiler: Plöger 1987, S. 1 1 1 - 1 4 6 , hier S. 116, sowie Kat. Nürnberg (1992), S.429. Tatsächlich bediente sich nicht nur etwa Joseph Anton Koch, als er von 1826-1829 im Cassino Massimo in Rom Fresken nach Dantes Divina Commedia schuf, Carstensscher Figuren (vgl. Kamphausen (1941), S. 248), sondern auch Peter Cornelius nutzte für seine Fassung von >Priamos vor Achill< für die Decke des Trojanischen Saals der Münchner Glyptothek die gleichnamige Carstenssche Zeichnung (vgl. A[dolf] Philippi: >Priamus vor Achilles< von Asmus Carstens. In: Zeitschrift für bildende Kunst j (1870), S. 38-41, hier S. 41), die ihrerseits eine Pathosformel der Antike, die auf dem trojanischen Becher aus Hoby überliefert ist, aufgriff, vgl. Dora Wiebenson, Subjects from Homer's Iliad in neoclassical art, in: The Art Bulletin 46 (1964), S. 23-37 mit Abb. 27-33.

erstädt die deutsche Tagesmeinung und so auch Fernows Briefe der Jahre nach 1806 beherrschte.352 Vielmehr ist es der ideengeschichtliche Zusammenhang, in den diese Gegenüberstellung hier der Historienmalerei Davidscher Provenienz, dort der Zeichnungen von Carstens eingebettet wird, der für das Gegenstandsproblem der Malerei von Interesse ist. Denn Fernow wird nicht müde zu betonen, daß »die Poesie der Erfindung die Hauptsache« (265) für Carstens sei, und daß Fragen der Stoffwahl also zwar von größtem Interesse für Carstens seien, der auf Ausführung gar nichts gebe, aber doch nur insofern, als die gewählten Stoffe für die Einbildungskraft unverzichtbar seien, sich zu materialisieren. Der Prozeß der Bilderfindung in der Einbildungskraft erhält damit auch hier den absoluten Primat über alle anderen Aspekte, unter denen sich die Wahl des Stoffes bei Carstens betrachten läßt. Fernow steht damit auch in einem gewissen Gegensatz zu Johann Heinrich Meyer, der von den Werken Raffaels im Vatikan bemerkte, dieser vorbildliche Künstler scheine »in seinen besten Werken nicht eigentlich zu erfinden oder zu dichten, sondern er läßt uns glauben, alles sey unmittelbar aus der Sache selbst, und gleichsam ohne sein Zuthun, entsprungen, es könne und müsse nur so und nicht anders sein«. 353 Meyer schließt sich mit dieser Beobachtung sehr eng an Mengs an, der in seinen >Gedanken< (1762) Raffael insbesondere deswegen zum vorbildlichen Künstler erhoben hatte, weil seine Zeichnung ganz in der Bedeutung aufgehe, der gewählte Stoff sich also gleichsam von selbst bezeichne: »so konnte er [= Raffael], nach seinem hohen Geiste nichts, in den Gebräuchen seiner Zeit finden, so ihn vergnügete, als die Bedeutung. Diese fand er theils in den Antiken, am meisten aber in der Kenntniß der Natur; [...] Es geben auch seine geringsten Werke Zeugnisse seines Verstandes, denn wenn er auch nur mit wenig Strichen etwas bezeichnet, so sind es gleich die Hauptsachen, und was mangelt ist allezeit wenig, gegen dem was da ist - das nöthige mangelt nie, das überflüßige immer«. 354 Die Erfindung jedenfalls bei Raffael wäre Meyer und Mengs zufolge vom gewählten Stoff her bestimmt und ergäbe sich mit Notwendigkeit aus dessen Charakter, weswegen man eben von Erfindung im strengen Sinne gar nicht sprechen könne und stattdessen im Sinne von Meyers neuplatonisch inspirier-

352

V g l . die Zusammenstellung von F e r n o w s einschlägigen Ä u ß e r u n g e n bei H . Holstein: Zeitgenössische Briefe aus W e i m a r über die Schlacht bei J e n a und Auerstädt. In: Blätter für Handel, G e w e r b e und sociales Leben (Beiblatt z u r Magdeburgischen Z e i tung), N r . j 2 , M o n t a g , 28. December 1 8 9 1 , S . 4 1 2 - 4 1 4 .

353

J o h a n n Heinrich M e y e r s A u f s a t z >Rafaels W e r k e besonders im V a t i k a n s zuerst erschienen in: Propyläen. Eine periodische Schrifft, hg. v o n Goethe. B d . 1 ( 1 7 9 8 ) , St. 1, S. 1 0 1 - 1 2 7 ; B d . 2 ( 1 7 9 9 ) , St. 2, S. 8 2 - 1 6 3 sowie B d . 3 ( 1 8 0 0 ) , St. 2, S. 7 5 - 9 6 , w i r d hier zitiert nach Heinrich M e y e r : Kleine Schriften zur Kunst. [ H g . von Paul Weizsäcker], Stuttgart: G ö s c h e n 1 8 8 6 ( = Deutsche Litteraturdenkmale des 18. und 19. J a h r h u n derts 25), S. 1 6 7 - 2 4 3 , hier S. 194.

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Mengs (1762), S-46f.

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ter Betrachtung vielleicht besser vom Auffinden der einem bedeutenden Stoff zukommenden Gestalt spräche. Daß Stoffe von sich aus zu einer bestimmten Gestalt drängen, ist ein Gedanke, der Fernow nicht ganz fremd ist - doch wird er von Fernow weniger mit Blick auf die metaphysische Würde des Gegenstandes als vielmehr vom unbewußten Seelengrund des schaffenden Subjekts her begründet: W ä r e n d des Lesens entstanden ihm ungesucht Bilder die M e n g e , unter denen er nur die festhielt, die seinen Darstellungstrieb vorzüglich reizten, und ihm zur malerischen Behandlung vorzüglich geeignet schienen. (265).

Wie man sich das vorzustellen habe, exemplifiziert Fernow an der Zeichnung >Verres entführt die Bildsäule der Diana< (Abb. 6). Carstens habe diese Zeichnung nach der Lektüre einer Rede Ciceros angefertigt, in der geschildert wird, wie Verres, ein in der Geschichte des Kunstraubs berüchtigter römischer Statthalter, eine Statue Dianas aus Segest habe entführen lassen. Dem Deutschrömer Carstens aber, der »nicht leicht in den Fall [kam], einen Gegenstand zu wählen, der ihn nicht lebhaft interessirt, dessen Bild sich ihm nicht von selbst dargeboten hatte« (266), habe sich über der Lektüre die Erinnerung an die »neueste Kunstplünderung Roms« (266) eingestellt, die Zeichnung überblende also, könnte man Fernows Gedanken ausführen, Antike und Moderne in unwillkürlicher Erinnerung: Erfahrung, Erinnerung an Erlebtes und erinnerte Formeln der Kunstgeschichte fallen Fernow zufolge in der durch Lektüre antiker Autoren mobilisierten Einbildungskraft des Künstlers ineins und lassen »ungesucht« jene Skizzen Gestalt werden, in denen der Gegensatz von Antike und Moderne aufgehoben und gerade deswegen die Naivität der Antike unter sentimentalischen Bedingungen wiedergeboren sei. Die Gegenständlichkeit der Carstensschen Zeichnungen verdanke sich keinem Nachahmungsprinzip, sondern einem unbewußt Bilder produzierenden »Darstellungstrieb« (265) des Künstlers, in dem der von der Anthropologie der Spätaufklärung so stark beachtete fundus animae - jener dunkle Grund der Seele, in dessen Exploration etwa durch Herder sich die dann nach 1800 so virulente Theorie des Unbewußten ankündigte - zur Form drängt. Doch auch wenn die in der »malerischen Behandlung« souverän gebändigte Bilderflut unbewußt entsteht - ausgelöst wird sie offensichtlich erst »während des Lesens«, also durch einen Akt, der sowohl die Spontaneität eines wie auch immer gedachten bildschöpferischen Seelengrundes an die vorgängige Kulturleistung der Schrift zurückbindet, als auch die Unmittelbarkeit einer sinnlich gewonnenen Erfahrung immer schon hinter sich gelassen hat, um allenfalls den Distanzsinn der eigenen Erinnerung zu aktivieren. 35 5 Der sich aus der Ge35 J

V g l . allgemein zu den U m b r ü c h e n im Leseverhalten um 1800: Erich Schön: D e r V e r lust der Sinnlichkeit oder Die V e r w a n d l u n g e n des Lesers. Mentalitätswandel um 1800. Stuttgart: K l e t t - C o t t a 1 9 8 7 ( = Sprache und Geschichte 12).

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sellschaft in die stille Kammer zurückziehende, von allen sinnlichen Eindrükken isolierte und auf eine in der Schrift aufgehobene Vergangenheit fixierte Leser liefert sich den Bildern aus, die die Lektüre von Texten einer bestimmten Vorzeit, hier des griechischen Altertums, in ihm zu evozieren vermag. Die während des Lesens mobilisierte Einbildungskraft hat damit von vornherein eine historistische, die Fülle einer Vergangenheit imaginativ in eine Folge von Bildern übersetzende, ungleichzeitige Vergangenheiten in die Gleichzeitigkeit der Imagination überführende K o m p o n e n t e . 3 N i c h t zufällig zeigt Carstens Zeichnung >Homer singt den GriechenArgonautica< des Apollonios von Rhodos, deren Ubersetzung durch Johann Jakob Bodmer Carstens für den Zyklus seiner Argonautenfahrt las, 357 oder etwa jener neueren Texte von Winckelmann und Lessing, die sich mit dem verlorenen >AiasDrapperie der Vestalen< zu studierende, höchste Manier im Gewandstil schreibt: »Die Drapperie der Vestalen ist in der höchsten Manier: die kleinen Brüche entstehen durch einen sanften Schwung aus den grösseren Partien, und verlieren sich wieder in diesen mit einer edlen Freyheit und sanften Harmonie des Ganzen, ohne den schönen Contour des Nackenden zu verstecken«.5'8 Zeichnet sich auf diese Weise bei Winckelmann jene bereits mehrfach für die Spätaufklärung beobachtete Aufwertung der Signifikanten ab, ohne daß der Akt der Signifikation ernstlich in Frage gestellt würde, so gilt spätestens seit Kants >Kritik der Urteilskraft nicht mehr die Funktion der Bezeichnung, sondern das reine Spiel der Linien als primär. Gerade auch die »Gewänder an Statuen«5'9 waren ja von Kant im § 14 der »Kritik der Urteilskraft als Beispiele für jeneparerga herangezogen worden, die als Formen derpulchritudo vaga schon bei Kant in gewisser Hinsicht die höchste, weil tendenziell ungegenständliche Form der Schönheit bezeichnen und die sich daher einem vorrangig an der Frage der künstlerischen Produktivität der Einbildungskraft interessierten Leser Kants wohl desto nachdrücklicher als Gegenständlichkeit einer zu sich selbst befreiten Phantasie empfohlen haben dürften. In den >Vorbegriffen zu einer Theorie der Ornamente< (1793) zog Moritz dann explizit die Analogie zwischen dem Spiel der Linien und der Musik, die ihrerseits von Kant - unter der näheren Bestimmung: »was man in der Musik Phantasieen (ohne Thema) nennt, ja die ganze Musik ohne Text« 520 - als ein Hauptbeispiel der freien Schönheit derparerga angeführt worden war. Unter dem Abschnitt >Gewand und Faltenwurf< schreibt Moritz über den vatikanischen >Apollo Musagetesnur< Spielmaterial für eine ihren eigenen Launen unterworfene Einbildungskraft, und wendet ihn ins Positive. Die Säule, die Vase, die Arabesken sind ihm würdiger Gegenstand kleiner Essays und nicht mehr lediglich Beispiele erkenntnistheoretischer Fragestellungen, wie noch bei Kant. 522 Das tendenziell Gegenstandslose,

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Winckelmann (1756), S. 20. Kant, K d U § 14 (1908), S. 226. Kant, K d U § 16 (1908), S. 229; anstelle von Phantasieen (1. und 2. Aufl.) setzt die 3. A u f l . der K d U (1799) Phantasiren. Karl Philipp Moritz: Vorbegriffe zu einer Theorie der Ornamente. Berlin: Matzdorff 1793, S. 1 1 2 . In Fernows Bibliothek. Helmut Pfotenhauer, Klassizismus als Anfang der Moderne? Überlegungen zu Karl Philipp Moritz und seiner Ornamenttheorie. In: Ars naturam adiuvans. Festschrift Matthias Winner. H g . von Victoria von Flemming und Sebastian Schütze. Mainz 1996, S. 583-597. 163

das selbstreferentiell nur noch auf sich selbst verweist, wird neben dem höchst Bedeutsamen der vergöttlichten Menschengestalt theoriewürdig und beginnt, in einer historischen Situation, in der die traditionellen Referenzen der Ikonographie ohnehin in Frage gestellt sind, die bald danach unter der Reflexionsfigur der >Arabeske< vorgestellte Phantasie zu beschäftigen.523 Hier nun vertritt Fernow einen Standpunkt, der von den sich mittelbar an Moritz anschließenden Reflexionen der Frühromantiker deutlich geschieden und weniger ambitioniert als diese ist. Wie sehr sich Fernow auch immer der Orientierung an der pulchritudo vaga der von Kant alsparerga begriffenen Ornamente anschließt, so scheint bei ihm das freie Spiel der Signifikanten doch eingeschränkt durch die von produktionsästhetischen Notwendigkeiten bestimmte Sicht, es sei dem >Darstellungstrieb< unverzichtbar, sich im Bild zu materialisieren. Zwar lehnt Fernow die von Mengs empfohlene Methode, »den Gewandstil der alten Bildwerke unverändert in die Malerei übertragen zu wollen« (286), deswegen ab, weil die Führung der Linie dadurch auf solche Weise vom Gegenstand dominiert würde, daß man das Gewand »fast nicht auf dem Nakten, das dadurch bedeckt erscheinen soll, bemerkt« (286). Schließlich legt der Biograph von Asmus Jakob Carstens, dessen gerade auch als Skizzen höchst reizvolle Gewandstudien aus dem von Fernow nach Weimar geretteten Nachlaß Goethe für die eigene Kunstsammlung reserviert hatte,524 größten Wert auf die vom Bildganzen her gedachte Linienführung der Gewänder. Doch jenseits ihres Eigenwertes müssen die Linien bei Fernow einen Gegenstand konstituieren, um nicht der Beliebigkeit bloßer Willkür anheimzufallen. Daß diese Gegenständlichkeit dennoch als eine durch die Phantasie hindurchgegangene gedacht wird, zeigen Fernows weitere Ausführungen. Dem früheren mimetischen Verständnis von Malerei sei es eine Selbstverständlichkeit gewesen, die wiederzugebenden Figuren und ihre Gewänder mit Hilfe von Gliederpuppen und Stoffen so anzuordnen, daß ihre malerische Repräsentation von dem Kantianer Fernow - nicht anders als etwa von Friedrich Schlegel - als lediglich technische Fertigkeit bewertet und abgelehnt werden kann. Jene amimetische Gegenständlichkeit, die Fernow vorschwebt, ließe sich hingegen an stark bewegten, fliegenden Gewändern, »die ganz aus der Idee gemacht werden müssen« (288), festmachen. Auflösende Bewegtheit und bändigende Form treffen hier aufeinander, indem die Erinnerung an festliche Ausgelassenheit in die Form einer Linienschrift gegossen wird. Anstelle der Naturabschrift materialisiert sich diese amimetische Bildlichkeit in Formeln, die auf die Bildsprache der Antike und der Kunstgeschichte zurückgreifen, nicht mehr jedoch, um an ihr

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* 14

Sabine M. Schneider: Das Ornament als Reflexionsfigur einer Kunsttheorie am Beginn der Moderne. Karl Philipp Moritz' >Vorbegriffe zu einer Theorie der Ornamenten In: Tausch (1996), S. 19-40. Kat. Weimar 1992, S. 200-207, N r · H>9 - H>3 8 ·

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zu erlernen, wie Natur zu repräsentieren sei, sondern um in freiem, nur durch die Einbildungskraft gelenkten Spiel Gestalt anzunehmen. In der Tat wird Fernows Ablehnung des Modellstudiums an wenigen Stellen derartig scharf formuliert wie hier, bei der Darstellung der Draperie. Fernow schildert ausführlich die akademische, vorrangig in der Nachfolge von David, aber auch im Mengs-Kreis gängige Praxis, »sich nicht nur lebensgrosser, sehr künstlich gearbeiteter Gliederpuppen mit Masken und Perrüken, sondern auch kostbarer Gewänder aller Art in mancherlei Stoffen und Farben« (288) als unmittelbarer Naturvorbilder zu bedienen. Wenn Malerei von der produktiven Einbildungskraft des Künstlers her gedacht wird, dann verspricht die noch vom Mengs-Schüler Fesel empfohlene Befolgung der »sichere[n] auf Erfahrung gegründete[n] Regeln, welche zur Nachahmung der Natur führen«, 5 2 5 noch lange keine große Kunst, sondern nur vermarktbares Kunsthandwerk, aus dem überall der tote >Gliedermann< hervorsehe - man vergleiche nur, welch großen Wert der akademisch gebildete Fesel auf den doch schon von den Literaten des >Sturm und Drang< lächerlich gemachten >Gliedermann< legt: D e r Schüler soll sich, sobald als möglich, in Brechung der Falten über einen Gliedermann üben, und z w a r auf folgende A r t : M a n nimmt ein Stück feinen Leinwands, und macht es mit Wasser naß, in welches z u v o r blaue Häfnerserde, oder etwas weisse Kreide mit etwas wenigen L e i m w a s s e r eingemischt wurde, alsdann drückt man diese Leinwand aus, breitet sie auf eine hölzerne Tafel, läßt sie ein w e n i g trocknen, doch nicht zu viel; dann reibet man sie mit einem glatten Steine, leget so halb trocken die geglättete L e i n w a n d auf den Gliedermann, und bricht alsdann die Falten , 5 2 0

Es ist nicht nur die pedantische Genauigkeit, mit der in solchen Handreichungen des Malerhandwerks zur Nachahmung der Draperie angeleitet wird, es ist vielmehr die Naturnachahmung als solche, die Fernow verwirft und der gegenüber er in der Tat die Werke Michelangelos und Raffaels als Korrektiv aus dem Fundus der Kunstgeschichte empfiehlt, - nicht jedoch im Sinne sklavischer Nachahmung, sondern als Muster zur Bildung eines Stils. 527 Denn daß Car-

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Mahler-Theorie, oder kurzer Leitfaden zur historischen M a h l e r e y für A n f ä n g e r . H g . von C h r i s t o p h Fesel, hochfürstlich-wirzburgischem Kabinets-Mahler, und wirklichem Professor der A k a d e m i e St. L u c a zu R o m . W i r z b u r g : Rienner 1 7 9 2 , S . 7 .

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Ebd., S. 23 f·

527

Man bedenke, daß Raffael in einem Teil der Kunstliteratur nach 1 8 0 0 um der Leichtigkeit und Spontaneität seiner Bildkonzeptionen wegen geschätzt w i r d und daß gerade in diesem Z u s a m m e n h a n g seine Draperien A u f m e r k s a m k e i t finden. - » C e qui le caracterise encore est l'air de facilite de toutes ses conceptions; la justesse des ses idees ne paroit point tenir ä de longues combinaisons, et elles sont d'autant plus etonnantes qu'elles semblent produites par un mouvement spontane. Ses draperies sont larges, naturelles, elles ne sentent ni le mannequin ni meme le modele pose«, schreibt beispielsweise Taillasson in einem noch von E . T . A . H o f f m a n n sehr geschätzten biographischen Künstlerlexikon, das sich insbesondere um die Charakteristik des jeweiligen Stils bemüht, vgl. Observations sur quelques grands peintres, dans lesquelles on

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stens auch diese Meister nie nachgezeichnet, sondern stets nur seiner Erinnerung einzuprägen gesucht habe, auf diese Feststellung legt Fernow größten Wert. In der Erinnerung des Künstlers überlagerten sich demzufolge die einmal gefundenen, musterhaften Bildformeln der Tradition mit konkreten Sinneseindrücken, und im Produktionsprozeß nähme diese Erinnerung die Gestalt des Neuen an. Die Malerei wäre demzufolge insofern selbstreferentiell, als sie anstelle der Naturnachahmung von den Bedingungen des Produktionsprozesses her gedacht wird, in dem Tradition und Empirie unauflöslich zu einem >Stil< verschmolzen sind. Diese Selbstreferentialität gründet zum einen im Denkmuster einer Entfernung der Antike. Ganz im Gegensatz zu Winckelmann, der die Schönheit verhüllender Gewänder an der Plastik der Antike beobachtete, relativiert Fernow um genau dieser Schönheit willen die Vorbildlichkeit der Antike und befreit die Moderne zu sich: Ein kunstmässig schönes Gewand ist eine der schwersten Aufgaben der Kunst, die nur wenige Maler glücklich gelöst haben. Die Idee dazu ist zwar in den alten Bildwerken auf mannigfaltige Weise zur höchsten Schönheit ausgebildet: da aber die Malerei ein anderes Bedürfnis der Bekleidung ihrer Gestalten hat, als die Plastik, so mus sich auch der Stil eines schönen Gewandes in beiden auf verschiedene Weise ausbilden. (284)

Was es aber für den Kontext der Kunsttheorie des Jahres 1806 bedeutet, daß Fernow diesen »Stil eines schönen Gewandes« (284) rein immanent aus den Materialgesetzen der Malerei - aus ihrem >Bedürfnis< - erklärt, wird erst deutlich, wenn man sich vergegenwärtigt, daß in den damals bereits kursierenden und in Fernows Umkreis mit kritischer Distanz betrachteten Mitschriften nach Schellings Vorlesungen zur Philosophie der Kunst 5 2 8 gerade am Paradig-

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cherche a fixer les caracteres distinctifs de leur talent, avec un precis de leur vie, par [Jean Joseph] Taillasson. Paris: Duminil-Lesueur 1807, S. 139. Eine dieser Vorlesungsmitschriften aus dem Winter 1802/3 verdankt man dem seit 1800 in Jena und Weimar weilenden jungen Henry Crabb Robinson, der den Plan hegte, die deutsche Literatur und Philosophie nach England zu vermitteln. Crabb Robinson, der nach anfänglicher Begeisterung für Schelling bald auf Kant zurückkommen sollte, wie Ernst Behler ihm attestiert (vgl. Ernst Behler: Schellings Ästhetik in der Uberlieferung von Henry Crabb Robinson. In: Philosophisches Jahrbuch 63 (1976), S. 1 3 3 - 1 8 3 , hier S. 144), lernte neben Mme. de Stael und Benjamin Constant auch Fernow kennen, dessen Jenaer Vorlesungen er gehört zu haben scheint (vgl. Hertha Marquardt: Henry Crabb Robinson und seine deutschen Freunde. Brücke zwischen England und Deutschland im Zeitalter der Romantik. 2 Bde., Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1964/67, hier Bd. 1 [ 1964], S. 261 f.) und an dessen Ausführungen über Plastik und über Mengs er sich noch 1 8 1 1 im Gespräch mit Flaxman gerne erinnerte, vgl. Henry Crabb Robinson: Diary, Reminiscenses, and Correspondence. Selected and edited by Thomas Sadler. 3rd Ed. 2 Vol. London, N e w York: MacMillan 1872, hier Bd. ι , S. 1 7 1 . Fernow, der mit Crabb Robinson und Johannes von Müller im Jan. 1804 bei Mme. de Stael eingeladen war, hat den Engländer wenig später auch bei Herzoginmutter Anna Amalia eingeführt und ihn mit Wieland zusammengebracht, vgl. Marquardt, Bd. 1 (1964), S. 158 und 196.

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ma der Malerei die idealistische Theorie begründet wurde, daß die Schönheit in der Kunst als Erscheinung einer metaphysischen Wahrheit zu begreifen sei. Wie nicht zuletzt die Vorrede in den zweiten Teil der >Römischen Studien< ausweist, versteht Fernow seine Kunsttheorie generell als Stellungnahme gegen einen »mit der Miene mistischen Tiefsinnes zuversichtlich auftretende[n] ästhetische[n] Idealismus«,529 von dem es an anderer Stelle einmal heißt, daß er »das Urschöne in Gott, oder im Universum aufsuchen, und im Absoluten erkennen wil«. 53 ° Es ist ganz im Sinne dieser kunstpohtischen Frontstellung, wenn Fernow im Gewand-Kapitel seiner Carstens-Monographie darauf besteht, daß die Schönheit eines Gewandes in der Malerei »nicht nur die Schönheiten, die es verhüllet, zu ersetzen, sondern auch durch eigenthümliche Schönheiten und Reize die Lust der Betrachtung zu erhöhen« (285) bestimmt ist. Demzufolge gibt Schönheit sich nur in der Verhüllung durch das ästhetische Zeichen zu erkennen und ist nicht, wie dies etwa bei Fernows Jenaer akademischen Amtskollegen Friedrich Ast dargestellt wird, eine Erscheinungsform des Absoluten. Fernows Konzept einer Schönheit in der Verhüllung steht nachgerade im dezidierten Widerspruch zu einer metaphysischen Ästhetik, wie sie der SchellingSchüler Ast in seinem >System der Kunstlehre< aus folgendem Grundsatz zu entwickeln versucht: »Die Kunst und die Philosophie gehen [...] von Einer gemeinschaftlichen Wurzel aus, und sind sich ursprünglich verwandt, ja ihrem Wesen nach Eins; denn das Absolute, das der Künstler sinnbildlich darstellt, ist auch das Ziel und die höchste Bestrebung des Philosophen.« 531 Für Ast ist das Gewand des ästhetischen Zeichens letztlich nur ein defizitärer Modus der Erkenntnis einer hier zudem explizit als religiös532 bezeichneten Wahrheit, über die der wahre Philosoph im Nachvollzug der Schöpfungsordnung immer schon verfügt und die im Kunstwerk daher genau genommen nicht einmal erkannt, sondern vielmehr wiedererkannt wird: »in der Kunst findet der Philosoph ein Bild und Gleichnis der Wahrheit an sich, und das Bildungsgesetz, das

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R o m . Stud. 2 (1806), S. V I I I .

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R o m . Stud. 1 (1806), S . 3 0 2 .

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Friedrich Ast: System der Kunstlehre oder L e h r - und H a n d b u c h der Aesthetik. L e i p zig: Hinrichs 1 8 0 5 , § 2 , S. 2. Diese A u s g a b e der Ästhetik v o n A s t ist in F e r n o w s B i bliothek nachgewiesen. A u c h Friedrich A s t las im Wintersemester 1 8 0 3 / 4 über Ä s thetik; schon das Vorlesungsverzeichnis der Universität Jena zeigt durch die A r t seiner A n n o n c e »Ästhetik H r . Prof. F e r n o w und H e r r D r . A s t « , wie aus dem N e b e n e i n ander eines Kantianers und eines Schelling-Schülers eine Situation kunstpolitischer K o n k u r r e n z entstehen mußte, vgl. Verzeichnis der auf der Universität zu Jena f ü r das halbe Jahr von Michaelis 1 8 0 3 bis Ostern 1804 angekündigten Vorlesungen, in: Intelligenzblatt der Jenaischen Allgemeinen Literatur Zeitung, N r . 195 ( 1 8 0 3 ) , Sp. 1593— 1 5 9 7 , hier Sp. 1296.

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Ast, System der Kunstlehre ( 1 8 0 5 ) , S. 2: »Ursprünglich also, d.h., durch die Religion, die beide in Eins verknüpft, sind sie sich gleich [...]«.

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er in der Kunst entdeckt, ist kein anderes, als das aus dem Universum selbst ihm wiederstrahlende.« 533 Der scheinbare Konservativismus, den man in Fernows Insistieren auf einem >kunstmässig schönen Gewand< vermuten könnte, erweist sich von daher als Einspruch gegen den Versuch, die ästhetische Moderne durch Metaphysik zu hintergehen. Denn als Movens dieses >klassizistischen< Beharrens auf der Schönheit des Gewandes zeichnet sich die von Winckelmann bezogene, doch anders als bei Winckelmann zugunsten der Moderne gewendete Vorstellung von der Materialität der Signifikanten ab: durch »eigenthümliche [...] Reize« des Gewandes die »Lust der Betrachtung« zu wecken (285).

>Kunststreben< einer produktiven Einbildungskraft Wenn Fernow die Kategorie des >Kunststrebens< an den Schluß seiner Monographie über Carstens stellt, so reiht er sich mit dieser Betonung eines dem Werk vorgängigen subjektiven Wollens in eine Tradition der Spätaufklärung ein, wendet jedoch einen dort durchaus problematisierten Topos ins Monumentale und überführt ihn gewissermaßen in die literarische Gattung der Biographie. Auffälligerweise war die Problematik, die bei Fernow unter der Kategorie >Kunststreben< behandelt wird, schon im letzten Drittel des 1 S.Jahrhunderts an den Kunstfiguren von >Malern< festgemacht und mit den spezifisch literarischen Möglichkeiten des Dramas und des Romans unter mehrfachen Perspektivierungen dargestellt worden. Die literarische Figur des Bilder vom Draußen herstellenden Malers bot sich an, die allgegenwärtige Frage, ob Literatur vorrangig als Mimesis oder als Poiesis zu begreifen sei, im Medium einer auch auf Unterhaltung abzielenden Literatur poetologisch reflektieren zu können. Schließlich hatte Lessing die Problematik der künstlerischen Produktivität ebenso an der literarischen Figur eines Malers verhandelt, wie das kurz nach ihm und mit noch weitreichenderen Folgen für das Selbstverständnis des modernen Künstlers Goethe tun sollte. Schon der Maler Conti in Lessings Trauerspiel >Emilia Galotti< (1772) begründet sein Selbstverständnis, großer Künstler zu sein, weniger in dem von ihm Geleisteten, als vielmehr in einem dem eigentlichen Schaffensprozeß vorgängigen Wissen und Gefühl. 5 3 4 Denn wenngleich Conti scheinbar einer naturalistischen Abbildästhetik das Wort redet, indem er bedauert, »nicht unmittelbar mit den Augen malen« 535 zu können, so bezieht er sein nicht geringes Selbstgefühl, seinen sich mit Raffael mes533 534

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Ebd., S.3. Vgl. im folgenden Hans Rudolf Vaget: Die Leiden des jungen Werthers (1774). In: Paul Michael Lützeler, James E. McLeod (Hg.): Goethes Erzählwerk. Interpretationen. Stuttgart: Reclam 1985, S. 37-72, insbesondere S.46ff. >Emilia Galotti< wird zitiert nach: Gotthold Ephraim Lessings sämtliche Schrif-

senden Stolz doch genau aus der Tatsache, »daß ich es weiß, was hier verloren gegangen, und wie es verloren gegangen, und warum es verloren gehen müssen«,536 also aus einem diskursiv faßbaren Wissen gerade um die vorgeblich notwendige Differenz von Wahrnehmung und Abbildung. Wie Peter Utz feststellt, wird für die Figur des Malers Conti das Auge damit zum rein rezeptiven Aufnahmeorgan, die Hand zum rein ausführenden Werkzeug: »Weil Conti rezeptives Auge und produktive Hand getrennt denkt, schließt er aus, Wahrnehmung als produktiven Akt zu sehen und Darstellung als Akt kreativer Rezeption«. 537 Lessing demonstriere indes die »Unhaltbarkeit dieser Künstlervorstellung«,538 wenn er Contis Ausführungen in der Behauptung gipfeln läßt, Raffael wäre auch dann »das größte malerische Genie gewesen [...], wenn er unglücklicher Weise ohne Hände wäre geboren worden«. 539 Daß Lessings genialischer Maler sich ausgerechnet auf Raffael beruft, mag insbesondere darin begründet sein, daß Raffael schon immer die kunsttheoretische Maxime zugeschrieben worden war, es habe ihm zur Korrektur des Naturvorbildes >una certa idea< vorgeschwebt. 540 Die kunsttheoretische Berufung auf eine idea-Lehre hatte jedoch - wie bereits ausgeführt wurde - im Rahmen einer Ästhetik der Repräsentation die Notwendigkeit einer Umsetzung der idea ins Bild, in den disegno esterno, nicht in Frage gestellt. Erst im Zusammenhang der Ablösung des Naturnachahmungsprinzips in der zweiten Hälfte des 18.Jahrhunderts konnte sich die idea-Lehre gegenüber der zunehmend als rein handwerklichen Prozeß verdächtigten Ausführung der Bildidee in dem Maße verselbständigen, daß die künstlerische Gestaltung letztlich überflüssig wurde und die als Fragment, Skizze oder Bozzetto sich andeutende künstlerische Idee immer stärker als eigentliches Kunstwerk gewürdigt werden konnte. Darüber hinaus wurde die idea-Lehre partiell jener metaphysischen Konnotationen entkleidet, die ihr im Bezugsrahmen der Repräsentationsästhetik stets zugekommen waren. Schließlich hatte die ältere Kunstlehre seit der Renaissance sich in der idea des Künstlers stets die platonisch gefaßten Urbilder der Dinge anwesend gedacht.54' Durch den Säkularisationsprozeß des 18. Jahrhunderts wurde nun die

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538 539 540

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ten. Hg. von Karl Lachmann. Dritte Auflage besorgt durch Franz Muncker. Bd. 2. Stuttgart: Göschen 1886, S. 383. Ebd., S.383. Peter Utz: Das Auge und das O h r im Text. Literarische Sinneswahrnehmung in der Goethezeit. München: Fink 1990, S. 51. Vaget (1985) S.46. Lessing, Emilia Galotti (1886), S. 384. Diese brieflich Castiglione gegenüber geäußerte Ansicht Raffaels war jedenfalls auch als »Kompliment an die Adresse des großen Frauenkenners« und keinesfalls im Sinne einer akademischen Doktrin gedacht, wie nicht zuletzt Panofsky feststellt, vgl. Idea (1924), S.32. Die Kunstlehre hatte dieses Theorem traditionell in dem durch Cicero als antik beglaubigten Topos veranschaulicht, daß Phidias die entscheidende Anregung f ü r sein

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idea des Künstlers als auf Erfahrung und Erinnerung angewiesene Erfindung eines neuen Bildganzen und damit letztlich als physiologisch zu erklärende Einbildungskraft gefaßt. Lessings Maler Conti, bei dem die Dissoziation zwischen disegno interno und disegno esterno bereits so weit gediehen ist, daß der disegno interno - die idea - für das Bewußtsein sorgen muß, »daß ich wirklich ein großer Maler bin«,542 auch und gerade, weil »es [...] meine Hand nur nicht immer ist«,543 formuliert doch diese Krisenerfahrung ausdrücklich im Rahmen einer illusionistischen Abbildästhetik; schließlich hält Conti so weit am Naturnachahmungsprinzip fest, daß das Porträt Emilias dem Prinzen immerhin »wie aus dem Spiegel gestohlen«544 scheinen kann. Die für die deutsche Spätaufklärung maßgebliche Gestaltung des hier skizzierten Topos eines >Raffael ohne HändeLeiden des und der griechischen Klassik unbestrittenes Hauptwerk - die Monumentalstatue des olympischen Zeus - aus Homers Schilderung des Göttervaters empfangen habe, daß aber gleichwohl das so geschaffene Kunstwerk Zeus so darstelle, wie er selbst erschiene, wäre seine Gestalt dem Menschen erkennbar. Neuplatonischer Tradition entsprechend hatte der Künstler daher das Urbild der Dinge aus der bloßen Materie, hatte der Bildhauer die Idee des Darzustellenden aus dem widerspenstigen Stein herauszuholen. Interessanterweise mehren sich gegen Ende des 18.Jahrhunderts archäologische Untersuchungen, die sich um eine Rekonstruktion des kunstphilosophisch derartig hochbedeutsamen olympischen Zeus des Phidias bemühen und dabei den besonderen Akzent auf Fragen des verwendeten Materials, der dabei zentralen Frage der Polychromie der Materialien und ihrer erhabenen Wirkung auf den Betrachter, aber auch auf die Frage der Vorbildlichkeit der Dichtung für die bildende Kunst legen. Parallel dazu übernimmt Dichtung in einem säkularen Sinn paradoxerweise eine erneute Vorbildfunktion für die bildende Kunst gerade in dem Moment, in dem das utpicturapoesis-Vr'mxnp, das ein gleiches Verfahren für Dichtung wie für Malerei postuliert hatte, endgültig seine Verbindlichkeit einbüßt: Nun aber gilt Dichtung im Verständnis der Zeit als auslösendes Moment einer autonomen Bildphantasie des Künstlers, der von hier nur die Anregung empfangen will, um Neues, nie zuvor in der Tradition abendländischer Ikonographie formulierte Bildthemen schaffen und ganz aus sich selbst zu schaffen. Doch gerade indem Dichtung zum bloßen Stimulans der Phantasie des Künstlers erklärt wird, bezieht Kunst sich in einem sehr genauen Sinn auf Dichtung zurück und droht, zu bloßer Illustration zu verkommen. 542 543 544 545

Lessing, Emilia Galotti (1886), S ^ j f . E b d , S.384. Ebd. Auf diesen Nenner bringt Peter Springer Fernows Stilisierung des »Geistigen, Abstrakten und Inhaltlichen in der »Poesie der Erfindung«< bei Carstens, vgl. Springer (1990/91), S. 5 8. In der Tat ist es Fernows Abkehr von der Naturnachahmung, die ihm schon von der zeitgenössischen Kritik vorgeworfen wurde, so etwa von dem anonymen Rezensenten seines Carstens-Monographie in den Göttingischen gelehrten Anzeigen, hinter dem Fernow einen »Hrn. v. R.« (zit. nach: Schopenhauer [1810], S. 362) vermutete: »Aber, wenn gleich, wie Lessing ganz richtig sagt, Raphael dennoch das größte mahlerische Genie hätte seyn können, auch wenn er ohne Hände geboren wäre: so waren es doch seine Hände allein, welche der Nachwelt davon die lebendigste Ueberzeugung zu geben vermogten, die Gewalt, welche diese Hände besaßen, das,

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jungen Werthers< (1774). In dem nicht erst von der neueren Forschung für zentral erachteten Brief Werthers vom 10. Mai konfrontiert Goethe die Fülle der Empfindung Werthers, die sich in rhythmisierten Beschreibungen der kleinen Welt vor Werthers Augen nach dem Muster der Idyllen Geßners niederschlägt, mit der Unfähigkeit des Malers, als der Werther sich verstanden wissen will, diese überwältigende Empfindung in gültigen künstlerischen Ausdruck umzusetzen. Gleichwohl läßt Goethe seinen Helden gerade in solchen Momenten künstlerischer Lähmung sich als größeren Künstler denn je fühlen: »Ich könnte jetzo nicht zeichnen, nicht einen Strich, und bin niemalen ein grösserer Mahler gewesen als in diesen Augenblicken«. 546 Wolfgang Kaempfer faßt das Künstlerverständnis der Figur des jungen Werther, die im Roman alles andere als ungebrochen vorgeführt wird, dahingehend zusammen, es werde »der Genuß selbst für ihn zur Produktion. Die ausgeführte Kunstübung könnte ihn nur noch einschränken.« 547 Die Ausstrahlungskraft der Werther-Figur auf die Generation der um die Jahrhundertmitte Geborenen ist durch eine Fülle literarischer Zeugnisse belegt. Karl Philipp Moritz etwa, der sich noch in seinen späten >Vorlesungen über den Styl< bemühte, im Brief vom ro. Mai das kompositorische Zentrum der >Leiden des jungen Werthers< nachzuweisen, spitzte in seinen kunsttheoretischen Hauptschriften das sich abzeichnende Problem des >KunststrebensÜber die bildende Nachahmung des Schönen< verselbständigt sich der von Moritz unter ursprünglich anderer Akzentuierung 548 untersuchte Bildungstrieb des Künstlers in einer Weise, daß das konkrete Kunstwerk vollends aus dem Blick gerät: Indem der Prozeß der Produktion wichtiger wird als das produzierte Werk, findet - so könnte man Moritz lesen - der Bildungstrieb seinen Zweck in sich und verschließt sich zugleich allen Forderungen nach Verständlichkeit für den Rezipienten. Denn daß der Rezipient angesichts des selbstgenügsamen Schaffensrausches des genialen Künstlers das Nachsehen

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was in seiner Seele so innig vorging, so meisterhaft darzustellen«; Leben des Künstlers Asmus Jakob Carstens. Ein Beitrag zur Kunstgeschichte des achtzehnten Jahrhunderts, von Carl Ludwig Fernow [Rezension], In: Göttingische gelehrte Anzeigen, 154./155. Stück, 27. Sept. 1806, S. 1 $29-1546, hier S. 1537. Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche [Frankfurter Ausgabe]. I. Abt., Bd. 8: Die Leiden des jungen Werthers. Die Wahlverwandtschaften. Kleine Prosa. Epen. Hg. von Waltraud Wiethölter, in Zusammenarbeit mit Christoph Brecht. Frankfurt/M.: D K V 1994, S. 14. Wolfgang Kaempfer: Das Ich und der Tod in Goethes >WertherWertherNützlichkeit< abstellende Wirkungsästhetik der Jahrhundertmitte wendet. W1

hat, sollte Moritz selbst und ausgerechnet am sozusagen erfahrungsseelenkundlich interessanten Fallbeispiel der Werther-Lektüre formulieren. Nicht nur die Fixierung auf diesen Roman und auf das darin gültig formulierte Ausdrucksproblem des modernen Künstlers, sondern auch die diskursive Verknüpfung dieses Problems mit der Erklärung, die eigene Unproduktivität sei durch soziologisch oder psychologisch zu bestimmende Umstände bedingt, stellt nun ihrerseits ein Muster dar, das von der neuen Künstlerbiographik aufgegriffen werden konnte. Wenn Anton Reiser, der Held in Moritz' autobiographischem Roman, von seinem Autor als Dilettant gezeichnet wird, dem die Lektüre der >Leiden des jungen Werthers< zum übermächtigen und alle eigene Produktivität lähmenden Erlebnis ausschlägt, so werden die Ursachen für das Unzureichende dieser doch so sehr ersehnten Produktivität in den bedrückenden Verhältnissen der Kindheit und Jugend Anton Reisers ausgemacht und detailgenau geschildert. 549 Fernow kann daher auf eine literarische Tradition des späten 18. Jahrhunderts zurückgreifen, wenn er in seiner »Biographie einer Begabung« 550 das bildungsferne und kunstarme Milieu vergegenwärtigt, in dem Asmus Jakob Carstens aufgewachsen ist, nicht ohne noch aus der weltabgeschiedenen Naivität dieser Jugend die Pointe zu gewinnen, gerade sie prädestiniere Carstens zum >AntikenGedanken über die Schönheit und über den Geschmak in der Malerey< ungeachtet ihrer klassizistischen Option für eine Kunst des disegno tatsächlich als noch stark jener älteren Repräsentationsästhetik verhaftet begreifen, die Kunst generell auf Nachahmung der Natur verpflichtete. Mengs steht ungebrochen in der Tradition der Kunstakademien, Kunst lehren zu wollen. Seine Winckelmann dedizierte Hauptschrift aus dem Jahr 1762, die bald schon kanonische Geltung erlangte, bietet eine systematische Anleitung zur begrifflichen Analyse von Kunstwerken zu keinem anderen Zweck als dem, junge Maler im Sehen und Auswählen der jeweiligen Vorzüge der alten Meister, insbesondere Raffaels, Correggios und Tizians zu schulen, um sie damit in Stand zu setzen, das für alle Zeiten gleich verbindliche Ziel der Kunst erfüllen zu können: in einer vom Geschmack geleiteten electio die Natur nachzuahmen. 553 Zwar empfiehlt der Klassizist Mengs keine wahllose Abschrift ei5 53

Ulrich Christoffel: Der schriftliche Nachlaß des Anton Raphael Mengs. Ein Beitrag zur Erklärung des Kunstempfindens im spätem 18.Jahrhundert. Basel: Schwabe 1918, insbesondere S. i4ff.

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nes zufälligen Naturvorbildes. Vielmehr sei die schöne Nachahmung der N a tur, zu der das später als eklektizistisch genannte Prinzip der Auswahl leite, Ziel der Malerei. Dadurch aber wird eine Instanz erforderlich, die dem Maler sage, was schön und was auf welche Weise miteinander kombinierbar sei, und diese Instanz wird in gängiger Weise als Geschmack benannt. Der eklektizistische Auswahlgedanke wird mit Hilfe des Geschmacksbegriffes an ein normatives Prinzip zurückgebunden. In diesem Zusammenhang ist es aufschlußreich, daß Mengs die Malerei einerseits auf Nachahmung der Natur verpflichtet, andererseits auf Natur in keiner Weise zu sprechen kommt und sich stattdessen auf allbekannte Gemälde bezieht, die im 18 Jahrhundert de facto den Status eines Kanons haben. Dennoch empfiehlt Mengs keine Nachahmung der Manier oder gar des Stils einzelner Künstler oder Kunstwerke. Ganz offensichtlich geht das Verständnis von Kunst als Mimesis bei Mengs so weit, daß hier Gemälde unterschiedlicher Meister aus unterschiedlichen Zeiten und Schulen ihrerseits als Repräsentationen gelingender Auswahl aus dem Schönen der Natur verstanden werden. Mengs kann den jungen Maler auf Raffael, auf Correggio und auf Tizian verweisen, ohne daß der Grundsatz der Nachahmung der N a tur gefährdet würde. Die Malerei besteht demzufolge aus bestimmten Techniken der Repräsentation, die einzeln betrachtet einen gewissen Grad der Annäherung an das Naturvorbild erlauben, dieses jedoch nie ganz erreichen. Raffael, Correggio und Tizian haben diesem Gedanken zufolge in jeweils einer oder mehreren Repräsentationstechniken Vorbildliches und Nachahmenswertes geleistet; keiner aber hat die ideale Repräsentation, in der die Zeichen völlig auf das zu bezeichnende Naturvorbild transparent würden, verwirklicht. Das also ist der Sinn der Mengsschen Kategorientafel, die auf Goethes Entscheid auch für die Weimarischen Kunstfreunde wieder verbindlich werden sollte: die begriffliche Vorarbeit zu leisten für das Erlernen jener technischen Fähigkeiten, die schon die großen Vorbilder der Tradition eingesetzt haben, um die seither gleichgebliebene Aufgabe zu erfüllen, die in der nachahmenden Repräsentation der Natur besteht. Im Gegensatz zu den Weimarischen Kunstfreunden, die Mimesis mit Moritz nicht mehr als ein Verfahren fassen sollten, bei dem die Natur, sondern bei dem der Natur nachgeahmt werde, 5 J 4 hält Mengs noch am älteren Mimesisbegriff fest und verwendet daher auch noch nicht den Begriff des Stiles. Mengs sieht keinen historischen Abstand zwischen der Kunst der Renaissance und derjenigen seiner eigenen Zeit; daher kann er die Arbeit in ihrem Stil empfehlen - ohne den Stilbegriff zu verwenden - indem er die Kunst der >primitiven< Maler des Mittelalters ebenso mit Stillschweigen übergeht, wie er die Entwicklungen der Kunst seit der Hoch- und Spätrenaissance unterder-

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Dies sind Formulierungen aus der öfter zitierten Schrift »Über die bildende Nachahmung des Schönen« von Karl Philipp Moritz, vgl. Moritz, Schriften zur Ästhetik (1962), S . 6 3 f .

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hand als Verfall, das heißt als Abweichungen von einer gleichbleibenden Norm begreift und nicht etwa in ihrer historischen Bedingtheit versteht. Für den Stil einer Epoche oder gar den Stil eines Malers hat Mengs daher keinen Begriff; um wieviel weniger scheint denkbar, daß >Kunststreben< - also eine vor aller künstlerischen Praxis angesiedelte Größe - Beachtung fände. An seiner Stelle rangiert bei Mengs die idea-Lehre, die seit Bellori aller Kunstlehre verbindlich geworden war, die von Mengs indes in einer Weise radikalisiert wird, daß sie den Beobachtungen Norbert Millers zufolge ihrerseits, gewissermaßen in einer letzten Zuspitzung der neuplatonischen Schönheits- und Vollkommenheitslehre, den »Ansatz zu einer modernen Kunsttheologie« enthält, insofern die Kunst - und nur noch sie - »uns Einblick in das Wesen des schlechthin Unbegreiflichen, des Göttlichen« 555 gewähre. Doch wird, wie Miller einschränkend feststellt, diese zwischen Belloris idea und der späteren Kunstreligion des 19.Jahrhunderts anzusiedelnde Position, die Mengs ausschließlich im ersten, hochspekulativen Teil der >Gedanken< entwickelt, letztlich nicht mit seiner für die Zeit um 1800 weitaus relevanteren praktischen Kunstlehre vermittelt, in der der Naturnachahmungsgrundsatz in keiner Weise relativiert wird. Legt Mengs die Kunstpraxis daher weiterhin auf eine als >antik< eher deklarierte, als tatsächlich auf antike Werke sich beziehende Nachahmung der Natur fest, so versucht Fernow im begrifflichen Umfeld dessen, was er als Carstens' Kunststreben beschreibt, eine amimetische Produktionsästhetik zu entfalten. Fernow will mit anderen Worten den Künstler von der als bloßer Naturabschilderung verstandenen Komposition nach Modellen befreien und ihn dazu ermutigen, wie Carstens unmittelbar mit dem Erfinden neuer Bildgegenstände zu beginnen. Die Einbildungskraft des Künstlers rückt daher an zentrale Stelle: D a s Eigene seines Kunststrebens bestand vornehmlich darin, dass er nicht den gewöhnlichen W e g der zur eigenen E r f i n d u n g almälich fortschreitenden N a c h a h m u n g ging, sondern sogleich mit dem Erfinden begann; indem er die Kunstwerke, so wie die Gegenstände der Natur, die ihm zu Vorbildern dienten, nie nachbildete, sondern blos, durch unablässiges aufmerksames Betrachten, F o r m und Karakter derselben mit der Einbildungskraft aufzufassen, und das so Gelernte dann in eigenen Erfindungen w i e der anzuwenden strebte. ( 2 9 7 )

Durch die polemische Abwertung des älteren Verfahrens als ein eher zufälliges und daher geistloses Auffinden und Abschildern eines konkreten Naturvorbildes wird das Moment der Erfindung primär gesetzt, und mit ihm gelangt das Vermögen der Einbildungskraft ins Zentrum der Fernowschen Theorie. Nun traten Vorformen des Gegensatzes von Nachahmung und Erfindung zwar bereits in der Kunsttheorie der Renaissance auf, so etwa wenn Vasari den furore

55 5

V g l . N o r b e r t Millers Kommentar zu den >Gedanken< v o n M e n g s in der Bibliothek der Kunstliteratur 2 ( 1 9 9 s ) , S . 6 0 0 - 6 7 7 , hier S . 6 4 1 .

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deWarte über eine genaue Ausführung stellte,556 doch wurde der Renaissancebegriff der invenzione, in der die idea des Künstlers sich als disegno interno formiert und als disegno esterno materialisiert,557 im akademischen Klassizismus Frankreichs durch den Begriff der composition verdrängt.5 58 Während noch Alberti unter Komposition die Zusammensetzung von Flächen und Körperteilen zu ganzen Körpern und deren Stellung zueinander verstanden hatte, 559 wird im Übergang zum französischen akademischen Klassizismus etwa durch Lomazzo die Grundlage für einen »überfiguralen« 560 Begriff der Bildkomposition geschaffen. Für die normative Kunstlehre der Academie Royale de Peinture wurde der solcherart von der Festlegung auf eine bloße Komposition von Körpern befreite Begriff der composition ganz in den Dienst der Bilderzählung gestellt. Da das Historienbild der akademischen Gattungshierarchie zufolge den obersten Rang unter den Gattungen der Malerei einnahm, wurde auch die composition nun nicht mehr vom Einzelnen, von den Teilen der abzuschildernden Körper her definiert, sondern von der Forderung nach einer Lesbarkeit der dargestellten Handlung her angegangen. Aus diesem Grunde wurde die composition zunehmend auf das Bildganze bezogen, von dem her die einzelnen mimetischen Bildmittel, wie Zeichnung und Farbe, erst ihren strukturellen Sinn empfingen: eine klare und deutliche Erkennbarkeit der in einem Lektüreakt zu erschließenden Handlung zu ermöglichen. Der akademischen Lehre zufolge umfing die composition daher sowohl die Invention wie auch die Disposition. 56 ' Von der Rhetorik empfing die Kunstlehre die Einteilbarkeit der Malerei in einen erfindenden und einen anordnenden Teil, die gemeinsam als Bildkomposition verstanden wurden. Obwohl im Rahmen der Komposition der Invention daher eine gewisse Rolle zukam, blieb die deutliche Lesbarkeit der auf diese Weise mimetisch repräsentierten Handlung oberstes Ziel der Malerei. Zudem wurde die Invention weder in der Renaissance noch im französischen 17. Jahrhundert in Verbindung mit der Einbildungskraft gebracht, galt letztere doch in der cartesianischen Philosophie lediglich als Fähigkeit der menschlichen Seele, frühere Sinneseindrücke zu wiederholen und sich so eine Vorstellung von abwesenden Gegenständen zu verschaffen. 562 Die Einbildungskraft trug also weder zur reinen Erkenntnis bei, da sie den sogenannten niederen Seelenvermögen zugerechnet wurde, noch wurde ihr eine Eigenaktivität zugestanden, die anderes als bloße Trugbilder, durch den Verstand aufzuklärende 556

558 559 560 561 562

Vgl. Kris/Kurz (1980), S. 73; Gombrich, Kunst und Illusion (1986), S. 2 1 7 . Vgl. Imdahl (1987), S. 36. Vgl. Körner (1988), S. 38ff. und S. 68. Ebd., S . i j f f . Ebd., S . 2 3 . Ebd., S . 3 3 . Silvio Vietta: Literarische Phantasie: Theorie und Geschichte. Barock und A u f k l ä rung. Stuttgart: Metzler 1986, S. 2$if.

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Simulacra hervorzubringen in der Lage sei. Denn für Descartes und die ihm folgende Schulphilosophie noch des frühen 18.Jahrhunderts galt als ausgemacht, daß der Mensch nur durch die cognitio distincta der Verstandestätigkeit an der Erkenntnis des Wahren partizipiere. $6} Sinnliche Erkenntnisse galten demgegenüber als klar, aber verworren, sofern sie noch Gegenstände zu unterscheiden erlaubten, wie es etwa in der Fähigkeit zu selektiver Erinnerung der Fall ist. Träume und Einbildungen dagegen galten als cognitio obscura, sie wurden dem dunklen Grund der Seele zugerechnet, dem keinerlei Bedeutung für den Erkenntnisprozeß zugestanden wurde. 504 Die Einbildungskraft rangiert in dieser Hierarchisierung der menschlichen Erkenntnisvermögen in einer Zwischenstellung. Indem Baumgarten - aufbauend auf Christian Wolffs >Psychologia empirica< (1732) - in seine >Metaphysica< (1739) den Zentralbegriff des analogon rationis, einen eigentlich aus der Tierpsychologie stammenden Begriff, für die ästhetische Erkenntnis einführte, schuf er die Grundlage für eine Diskursivierung der spezifischen Eigenleistungen jenes Vermögens, das die mannigfaltigen Zusammenhänge der Dinge auf sinnliche Weise vergegenwärtigt.505 Aus einem auf die Sinne hin geordneten Vermögen, das auf die Repräsentation zeitlich zurückliegender Vorstellungen festgeschrieben war, wurde die Einbildungskraft zunehmend das zentrale Anthropologicum der Erkenntnislehre des 18. Jahrhunderts. 566 Denn wenn sich der Prozeß der Aufklärung als ein Prozeß der Aufwertung der Sinnlichkeit des Menschen und seiner vormals als >nieder< bewerteten Seelenvermögen beschreiben läßt,507 in dessen Gefolge die traditionelle Hierarchisierung der Seelenvermögen geradezu auf den Kopf gestellt werden sollte und der dunkle Grund der Seele zunehmend Oberhand über die Verstandesleistungen zugestanden bekam, bis endlich in Herders Abhandlung >Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele< das cartesianische cogito zu einem sentio ergo sum mutiert war,

563

Vgl. im folgenden Alfred Baeumler: Das Irrationalitätsproblem in der Ästhetik und Logik des 18.Jahrhunderts bis zur Kritik der Urteilskraft. 2. Aufl. Darmstadt: w b 1967, insbesondere S. 188 ff.; Ernst Cassirer: Die Philosophie der Aufklärung. Tübingen: Mohr 1932, insbesondere S. 398ff.

564

Hans Adler: Fundus Animae - der Grund der Seele. Z u r Gnoseologie des Dunklen in der Aufklärung. In: D V j s 62 (1988), S. 1 9 7 - 2 2 0 .

565

Friedhelm Solms: Disciplina aesthetica. Z u r Frühgeschichte der ästhetischen Theorie bei Baumgarten und Herder. Stuttgart: Klett-Cotta 1990 (= Foschungen und Berichte der Evangelischen Studiengemeinschaft 45), S . 4 3 ff.

566

Vgl. Helmut Pfotenhauer: Literarische Anthropologie und Ikonologie. Ein Entwurf. In: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen 145 (1993), S. 1 8 32, hier S. 23.

567

Dies ist eine der zentralen Thesen von Kondylis (1986), passim; vgl. auch Waltraud Naumann-Beyer: Der Aufstieg der »Sinnlichkeit« in Deutschland. In: Karlheinz Barck, Martin Fontius, Wolfgang Thierse (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe. Studien zu einem historischen Wörterbuch. Berlin: Akademie-Verlag 1990, S. 2 8 1 - 3 1 * ·

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dann wird verständlich, daß mit den Sinnen zugleich auch die Einbildungskraft in das Zentrum der Diskussion gelangt. Im Verlauf dieses Prozesses aber änderte sich die Bestimmung der Einbildungskraft von einem der Repräsentation zugerechneten Vermögen zu einem zunehmend selbsttätigen, indem sich die produktive Seite der Einbildungskraft, die traditionell als facultas fingendi gefaßt wurde, verselbständigte.568 Aus einem Bildspeicher wurde so ein in die Nähe des dunklen - und am Jahrhundertende erstmals auch als unbewußt b e z e i c h n e t e n * ? - Seelengrundes gerücktes Vermögen, das nun auch in die spekulative Gattungsästhetik einziehen konnte, um hier zum zentralen Bestimmungsgrund der Produktionsästhetik zu werden. 570 Denn in dem Maß, in dem die Ästhetik als junge, um die Jahrhundertmitte ja als Wissenschaft der sinnlichen Erkenntnis gegründete Disziplin sich der Kunst als Gegenstandsbereich zuzuwenden begann, um gleichzeitig das einzelne Kunstwerk nicht mehr als Nachahmung der Natur zu verstehen, entstand ein Bedarf nach einem neuen Prinzip, aus dem das Kunstschaffen des Subjektes sich begründen ließe. Die Einbildungskraft bot sich hierfür an, da ihr in der poetologischen Diskussion seit dem frühen 18 .Jahrhundert zunehmend eine gewisse Tendenz auf Eigentätigkeit zugestanden worden war, insofern sie die disparaten und kontingenten Sinneseindrücke zum Bild synthetisiere, also Bilder tendenziell selbsttätig schaffe. Ein Konflikt mit der Vorstellung, daß Bilder aus einer Nachahmung der Natur entstünden, erscheint so schon früh, etwa in Breitingers >Critischer Dichtkunst^ angelegt.571 Was die Poesie angeht, konnte Lessing an dieser Stelle anknüpfen und »den Prozeß der Entmimetisierung der poetischen Einbildungskraft« 572 weitertreiben. Wenn demgegenüber in Abhandlungen über Malerei der Einbildungskraft weiterhin keine führende Rolle zukam, so mag dies nicht zuletzt daran liegen, daß man gerade in der poetologischen Diskussion über die willkürlichen Zeichen der Dichtung des Gegenbildes eines natürlichen Zeichens, in dem die Eigenschaften des Zeichens im Bezeichneten selbst gegründet wären, bedurfte und daß man hier die Malerei als Beispiel für solche Transparenz verstand. Gerade Lessings >Laokoon: oder über die Grenzen der Mahlerey und Poesie< (1766) stellt in diesem Zusammenhang einen wichtigen 6

568 569

570

571

572

Solms (1990), S.61. Ludger Lütkehaus (Hg.): »Dieses wahre innere Afrika«. Texte zur Entdeckung des Unbewußten vor Freud. Frankfurt/M.: Fischer 1989, insbesondere die prägnante Zusammenfassung S. 1 ^ff. Vgl. Götz Müller: Die Einbildungskraft im Wechsel der Diskurse. In: Hans-Jürgen Schings (Hg.): Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert. Stuttgart, Weimar: Metzler 1994 (= Germanistische Symposien Berichtsbände 15), S. 697-723, insbesondere S. 7 i 7 f f . Vgl. Hans Peter Herrmann: Naturnachahmung und Einbildungskraft. Zur Entwicklung der deutschen Poetik von 1670 bis 1740. Bad Homburg, Berlin, Zürich: Gehlen [1970] (=Ars Poetica 8). Pfotenhauer (1993), S. 24.

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Zeugen dafür dar, daß die Malerei zum Paradigma des natürlichen Zeichens und damit auf Mimesis festgelegt wurde. Denn da Lessing vorrangig daran interessiert war, die Überlegenheit der mit willkürlichen Zeichen arbeitenden Poesie über die Malerei zu begründen, und zwar gerade im Hinblick darauf, daß die Poesie der Einbildungskraft größeren Spielraum eröffnen könne, tendierte der >Laokoon< dazu, die dichtende, erzählende, an die Einbildungskraft appellierende Seite der Malerei zu verdrängen.573 Zwar sah Lessing auch in der Malerei die Einbildungskraft am Werk, insofern in ihr zeitlich auseinanderliegende Momente der Handlung zum >prägnanten Augenblick< synthetisiert werden wollen, 574 wie Lessing sich bereits in den Vorarbeiten zum >Laokoon< an den »Gemählden des Timomachus«575 zu erläutern vornimmt, doch wird auch hier die Funktion der Einbildungskraft darauf beschränkt, einer vorgängigen Historie dasjenige Bild abzugewinnen, in dem sich deren lesbarer Sinn in einem Moment kondensiert habe. Es läßt sich daher festhalten, daß der Naturnachahmungsbegriff im 18. Jahrhundert nur im Rahmen der Dichtungstheorie entmimetisiert werden konnte, ja, daß die Festschreibung der Malerei auf einen illusionistischen Nachahmungsbegriff vielleicht gerade daraus resultierte, daß man aus den Notwendigkeiten der Argumentation für die Besinnung auf den willkürlichen Charakter der Zeichen der Dichtung des Gegenbildes eines natürlichen Zeichens, bei dem Zeichen und Bezeichnetes zusammenfallen, bedurfte, und daß man dieses Gegenbild in der Malerei fand. 576 Wie wenig Beachtung die Einbildungskraft in der praktischen Kunstlehre tatsächlich fand, wird wiederum in den >Gedanken< von Mengs ersichtlich. Denn selbst unter der Kategorie der Komposition kommt Mengs nicht auf die Einbildungskraft zu sprechen, sondern definiert Komposition vielmehr in einem Rekurs auf das entsprechende Verständnis der Renaissance als »Zusammenfügung der Figuren«. 577 Komposition wird hier zunächst in einer an Alberti erinnernden Weise nicht vom Bildganzen, sondern von den im Bild dargestellten Gegenständen her gedacht. Im weiteren aber begründet Mengs die Komposition in Ubereinstimmung mit der französischen akademischen Tradition aus dem aptum der Rhetorik, wenn er dem Maler empfiehlt, bei der Auswahl und Gruppierung der Körper auf solche Weise zu verfahren, daß die Figuren eine dem Thema des Bildes entsprechende Natürlichkeit in ihren Stel573

Sabine Groß: Schrift-Bild. Die Zeit des Augen-Blicks. In: Georg Christoph Tholen, Michael O . Scholl (Hg.): Zeit-Zeichen. Aufschübe und Interferenzen zwischen Endzeit und Echtzeit. Weinheim: V C H Acta Humaniora 1990, S. 2 3 1 - 2 4 6 , hier S . 2 3 5 .

574

Vgl. U t z (1990), S.45. Gotthold Ephraim Lessing: Sämtliche Schriften. Hg. von Karl Lachmann. 3. Aufl. besorgt durch Franz Muncker. Bd. 14. Leipzig 1898, S. 376; vgl. dazu Tausch (1996),

575

s. J 4 ff. 5/6 577

Vgl. Willems (1989), S . 1 2 2 . Mengs (1762), S.60.

180

lungen zueinander aufweisen. Nicht anders als in den discours der Academie Royale de Peinture orientiert auch Mengs sich für die Erörterung der Bildkomposition am Historienbild, genauer gesagt: an Raffaels Historien, die ihm in Hinsicht auf eine gelungene Komposition als vorbildlich erscheinen. Weniger die schon im französischen akademischen Klassizismus gängige Plazierung Raffaels an oberster Stelle des Kanons nachzuahmender Maler, gerade auch was Kompositionsfragen betrifft, als vielmehr das Argument, mit dem Raffaels Vorbildlichkeit begründet wird, muß hierbei als produktiver Beitrag zur Kunsttheorie gelten. Mengs favorisiert Raffael unter den von ihm untersuchten Malern deswegen, weil die Komposition seiner Figuren als solche nicht in die Augen falle, sondern ganz dem Seelenausdruck der repräsentierten Figuren angemessen sei. Dieses nur auf den ersten Blick traditionell erscheinende Argument hat eine auf den Raffael-Kult der Zeit um 1800 verweisende Komponente: Nicht mehr die figurenübergreifende Handlung, sondern der möglichst natürlich erscheinende Seelenausdruck der Einzelfiguren erscheint als oberstes Kriterium für gelungene Komposition. Dennoch bleibt dieses Argument hier noch der Sichtweise verhaftet, daß Raffael die vollständige Transparenz der mimetischen Bildmittel auf das zu Bezeichnende hin erreicht habe. Daß dies nicht als Leistung der Einbildungskraft erscheint, sondern mit der Behandlung der Bildmittel erklärt und im übrigen allenfalls auf den Geschmack des Malers bei der Wahl seines Bildgegenstandes zurückgeführt wird, versteht sich beinahe von selbst. Wenn Fernow demgegenüber völlig auf den Kompositionsbegriff verzichtet und an seine Stelle das >Kunststreben< des Malers setzt, so erhält er damit eine Handhabe, um das spätestens seit Kant neu gefaßte Vermögen der Einbildungskraft an die zentrale Stelle der nun als Poiesis aufgefaßten Kunst rücken zu können. 578 Kant hatte die dichtende Einbildungskraft als das »Vermögen der Darstellung ästhetischer Ideen« 579 gefaßt: ein Vermögen, das insofern als produktiv anzusprechen ist, als es Gegenstände spontan erfindet, das für die Erfindung aber gleichwohl auf vorgängige Sinneseindrücke und damit auf empirische Erfahrung angewiesen bleibt.580 Wie Walter Biemel ausführt, bestand Kants entscheidende Einsicht darin, »daß es eine Möglichkeit gibt, die Erfahrung zu übersteigen, ohne hierbei von der Sinnlichkeit abzusehen. Der Uberstieg wird von einem der Sinnlichkeit zugewandten Vermögen vollzogen. Darin besteht der paradoxe Grundzug der ästhetischen Idee. Es handelt sich bei ihr um eine sinnliche Darstellung dessen, was gar nicht in der Erfahrung sinnlich

578

579 580

Vgl. Karl Homann: Zum Begriff Einbildungskraft nach Kant. In: Archiv für Begriffsgeschichte 14 (1970), S. 266-302. Kant, K d U §49 (1908), S . 3 i 3 f . Vgl. Hermann Mörchen: Die Einbildungskraft bei Kant. In: Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung 1 1 (1930), S. 3 1 1 - 4 9 5 ; hier S. 32/ff. 181

erfahrbar ist. Das ist nur möglich durch die Einbildungskraft.« 581 Damit aber war die Wachstafel-Vorstellung von der Einbildungskraft, »die vor Baumgarten im Wölfischen Rationalismus der deutschen Schulmetaphysik bestimmend war und der vor allem die Schweizer Bodmer und Breitinger mit ihrer Theorie der Einbildungskraft breite Wirkung in der deutschen Frühaufklärung verschafft hatten«,582 endgültig überwunden. Obwohl die Einbildungskraft bei Kant nicht schöpferisch im Sinne einer creatio ex nihilo verfährt, sondern durchaus an sinnlich erfahrbare Naturformen gebunden bleibt, liegt in der Sponaneität, mit der sie den Stoff empirischer Erfahrung umbildet, das entscheidende Moment vor, dessen die spätere Kunsttheorie bedurfte, um die Kunst von der Verpflichtung auf Nachahmung der Natur zu befreien und als Darstellung zu fassen. Friedrich Schlegel insbesondere überführte in den für die frühromantische Kunsttheorie so zentralen frühen Notizheften den alten elocutio-Begrlff der Rhetorik in einen Darstellungsbegriff, indem er Winfried Menninghaus zufolge »die rhetorische Trias inventio, dispositio, elocutio als >Erfinden, Anordnen, Darstellern«^ übersetzte. Hiermit aber war die rhetorische Kunstlehre im Sinne der Moderne modifiziert: »Darstellung in >moderner< Perspektive ist nicht länger nur nachträglich schmückende Ausführung, sondern setzt selbst das Feld des Dargestellten, das sonst in der inventio gefunden und in der dispositio geordnet wurde. Die elocutio wird damit theoretisch«,584 führt Menninghaus weiter aus. Eine durchaus vergleichbare Position liegt bei Fernow vor, denn wenn über Carstens gesagt wird, daß er »nicht zu denen« gehöre, »welche behaupten, in der Historienmalerei komme auf den Inhalt nur wenig, das Meiste auf die Ausführung an« (264), so verbirgt sich hinter dieser eben nur scheinbar klassizistischen Abwertung der >Ausführung< vielmehr die strikte Ablehnung des rhetorischen elocutio-Begriffs, an dessen Stelle bei Fernow der »Darstellungstrieb« (265) respektive das >Kunststreben< tritt. Statt »sich immer in dem Kreise bekanter, also auch von Meistern und Stümpern bereits bis zum Überdrus behandelter Gegenstände herumzudrehen (wozu freilich die Maler der Kirche genöthigt sind)« (264), zeichnete Carstens nicht nach, sondern ging daran, »neue, unbekante Gegenstände darzustellen«

581

Walter Biemel: Die Bedeutung von Kants Begründung der Ästhetik für die Philosophie der Kunst. Köln: Universitätsverlag 1959 (= Kantstudien Ergänzungshefte 77),

5 2

Karlheinz Barck: Poesie und Imagination. Studien zu ihrer Reflexionsgeschichte zwischen Aufklärung und Moderne. Stuttgart, Weimar: Metzler 1993, S. 66. Menninghaus stellt des weiteren fest: »Dreißig Jahre zuvor ist diese Übersetzung noch in keiner Aristoteles-Übertragung und keinem Rhetorik-Lehrbuch zu finden«, Vgl. Winfried Menninghaus: >DarstellungDarstellen