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German Pages 669 [679] Year 2008
Kazimierz Rynkiewicz Zwischen Realismus und Idealismus Ingardens Überwindung des transzendentalen Idealismus Husserls
PHENOMENOLOGY & MIND Herausgegeben von / Edited by Arkadiusz Chrudzimski • Wolfgang Huemer Band 11 / Volume 11
Kazimierz Rynkiewicz
Zwischen Realismus und Idealismus Ingardens Überwindung des transzendentalen Idealismus Husserls
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2008 ontos verlag P.O. Box 15 41, D-63133 Heusenstamm nr. Frankfurt www.ontosverlag.com ISBN 978-3-938793-006-4 2008 No part of this book may be reproduced, stored in retrieval systems or transmitted in any form or by any means, electronic, mechanical, photocopying, microfilming, recording or otherwise without written permission from the Publisher, with the exception of any material supplied specifically for the purpose of being entered and executed on a computer system, for exclusive use of the purchaser of the work Printed on acid-free paper ISO-Norm 970-6 This hardcover binding meets the International Library standard Printed in Germany by buch bücher dd ag
Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde 2008 von der Fakultät für Philosophie, Wissenschaftstheorie und Religionswissenschaft der Ludwig-MaximiliansUniversität (LMU) München als Habilitationsschrift angenommen. Sie befasst sich mit dem Gedankengut von zwei bedeutenden Phänomenologen (Husserl und Ingarden), deren philosophisches Interesse ab einem bestimmten Zeitpunkt divergente Ausrichtungen erfahren hat. Es gibt viele Menschen, die das Entstehen dieser Abhandlung begleitet haben. Besonderer Dank gilt meinem leitenden Mentor Prof. Wilhelm Vossenkuhl, für seine kostbaren und fachlichen Hinweise, für sein Wohlwollen und seine große Geduld. Meinen zwei anderen Mentoren Prof. Thomas Buchheim und Prof. Manfred Heim danke ich für viele ermutigende wertvolle Kommentare und Verbesserungsvorschläge formaler Natur sowie menschliche Wahrheitsliebe und freundliches Entgegenkommen. Danken möchte ich ferner allen Mitgliedern des erweiteten Fakultätsrates des Fachbereichs Philosophie für die Feststellung der Lehrbefugnis, sowie der ganzen Leitung der LMU München für die Ermöglichung des Eintritts in die Dozenten-Strukturen der Universität. Vielen Kolleginnen und Kollegen im Fach verdanke ich zahlreiche Impulse und Anregungen, die sich als Ergebnis mannigfacher wissenschaftlicher Debatten herauskristallisiert haben und diese Arbeit bereichern. Ganz besonders danke ich schließlich Frau Elisabeth Freudling für ihre uneigennützige Hilfe bei der Sprachkorrektur dieser Schrift. Meinen Eltern, Geschwistern, Freundinnen und Freunden aus dem engsten Kreis, allen Bekannten sei ebenfalls für vielfache jahrelange Unterstützung gedankt. So konnte eine beständige Basis geschaffen werden, auf der die vorliegende philosophische Reflexion zum „Gedeihen kam“. Dem „Ontos-Verlag“ danke ich für die freundliche Publikation dieser Untersuchung. München, im Juli 2008
Kazimierz Rynkiewicz
Meinen Eltern und allen Menschen, die unermüdlich nach der Wahrheit suchen.
Inhaltsverzeichnis Einleitung.....................................................................................................7 1. Einführende Reflexion in Ingardens Philosophie. Bestimmung des Ziels der Untersuchung..........................................................................................7 2. „Ingardens Weg zum Realismus“...........................................................13 3. Das Erfordernis einer Untersuchung.......................................................16 4. „Ingardens Weg des Realismus“ als Versuch der Überwindung der idealistischen Position Husserls..................................................................24 5. Einige Vorbemerkungen und Gliederung der Abhandlung....................27 Teil I „INGARDENS
WEG
REALISMUS“: ANALYSE AUS ERKENNTNISTHEORETISCHER SICHT............................................................31 ZUM
Kapitel I HINTERGRUND DER ERKENNTNISTHEORETISCHEN REFLEXION BEI INGARDEN 1. Einführung..............................................................................................35 2. Ingardens Auseinandersetzung mit dem transzendentalen Idealismus Husserls. Eine kritische Darstellung...........................................................36 §1. Vorläufige Auffassung und Phasen der Entwicklung des idealistischen Standpunkts Husserls..................................................................................37 §2. Analyse der Grundlagen des transzendentalen Idealismus Husserls....45 a. „Philosophie als strenge Wissenschaft“..................................................47 b. Die transzendentale Reduktion: Phänomenologie in der Epoché...........52 c. Die eidetische Reduktion: Zur Wesenslehre in Husserls transzendentaler Phänomenologie..........................................................................................60 §3. Konsequenz der Durchführung der transzendentalen Reduktion: Transzendentales Sein und das Idealismus-Realismus-Problem................67 a. Transzendenz-Immanenz-Frage bei Husserl. Ingardens Versuch einer Überwindung..............................................................................................67 b. Transzendentaler Idealismus: Idealismus-Realismus-Problem..............76
c. Ingardens Interpretation des transzendentalen Idealismus Husserls. Die Frage nach möglichen Berührungspunkten mit Ingarden...........................88 d. Eugen Finks Interpretation des transzendentalen Idealismus Husserls. Die Frage nach den möglichen Berührungspunkten mit Ingardens............94 §4. Transzendentales Bewusstsein und Konstitutionsproblem der realen Welt.............................................................................................................98 §5. Analyse aus transzendentalidealistischer Sicht: Inwiefern ist Ingarden mit der konstitutiven Lösung Husserls einverstanden?............................110 §6. Husserls Begriff der Wahrnehmung...................................................116 a. Transzendente Wahrnehmung...............................................................117 b. Immanente Wahrnehmung....................................................................124 3. Ingarden und die neuere phänomenologische Debatte: Begründung und weitere Kritik der Auseinandersetzung Ingardens mit dem transzendentalen Idealismus Husserls..................................................................................128 §1. Begründung.........................................................................................129 §2. Kritik...................................................................................................133 4. Zusammenfassung................................................................................138 Kapitel II INGARDENS KONZEPTION DER ERKENNTNISTHEORIE 1. Einführung............................................................................................145 2. Was kann eine Erkenntnistheorie nicht sein? Ingardens Kritik der Erkenntnistheorie......................................................................................146 §1. Psychophysiologische Erkenntnistheorie...........................................148 §2. Deskriptiv-phänomenologische Erkenntnistheorie.............................158 §3. Apriorisch-erkenntnistheoretische Erkenntnistheorie.........................167 a. Erkenntnis „a priori“ bei Kant und Husserl..........................................168 b. Das Problem des Wesens des Gegenstandes. Ingardens „Überwindung“ der Position Husserls................................................................................171 §4. Ingarden contra Husserl. Kritik an Ingarden......................................180 a. Ingarden „contra“ Husserl.....................................................................181 b. Kritik an Ingarden.................................................................................182 3. Erkenntnistheorie nach Ingarden..........................................................187 §1. Begriffliche Voraussetzungen der Erkenntnistheorie Ingardens........188 a. Begriff der Idee.....................................................................................189
b. Hierarchie von Ideen und formaler Aufbau des Gegenstandes............193 §2. Auffassung der Erkenntnistheorie bei Ingarden.................................196 a. Ontologie der Erkenntnis......................................................................197 b. Kriteriologie..........................................................................................203 c. Metaphysik der Erkenntnis...................................................................205 §3. Leistung der transzendentalen Methode in Ingardens Epistemologie. Der transzendentale Idealismus................................................................210 §4. Ingarden im Kontext der philosophischen Tradition. Kritik an Ingarden....................................................................................................216 a. Idee der „strengen Wissenschaft“.........................................................217 b. Kritik an Ingarden.................................................................................222 4. Lösung des erkenntnistheoretischen Problems: Das Problem des Erkenntniswertes.......................................................................................226 §1. Objektivitätsproblem der Außenwelt..................................................230 §2. Objektivitätsproblem der inneren Wahrnehmung...............................235 §3. Objektivitätsproblem der Erkenntnis der idealen Gegenstände..........239 §4. Objektivitätsproblem in der Ästhetik. Verhältnis zu Kant.................242 §5. Abschließende Bemerkungen im Kontext des transzendentalen Idealismus Husserls..................................................................................247 5. Zusammenfassung................................................................................250 Kapitel III DAS KERNELEMENT DER ERKENNTNISTHEORIE INGARDENS 1. Einführung............................................................................................255 2. Das Problem des Selbstbewusstseins: Vorbereitende Untersuchungen........................................................................................257 §1. Formal-ontologischer Zugang............................................................258 §2. Transzendentaler Idealismus. Ingardens Kritik am zweigliedrigen Modell des Bewusstseins bei Husserl.......................................................262 3. Das Problem des Selbstbewusstseins: Theorie der „Intuition des Durchlebens“............................................................................................265 §1. Das gegenständliche Vermeinen und der rein intentionale Gegenstand................................................................................................266 §2. Das Erleben von Empfindungsdaten...................................................275 §3. Das Durchleben des Aktes: „Intuition des Durchlebens“...................282
§4. Das Iterativismus-Problem in der Erkenntnistheorie Ingardens. Internalismus und Externalismus..............................................................289 a. Zugang aufgrund des gegenwärtigen epistemologischen Diskurses.....289 b. Bestimmung der Position Ingardens.....................................................293 4. Aufgabe der „Intuition des Durchlebens“ in der Erkenntnistheorie: Überwindung von „petitio principii“ und „circulus vitiosus“..................297 §1. Andere zu erfüllende Bedingungen in der Erkenntnistheorie.............302 §2. Eine kritische Würdigung der Leistung der „Intuition des Durchlebens“............................................................................................304 5. Ingardens epistemologischer Ansatz im Lichte der philosophischen Gegenwart und Tradition. Versuch einer Konfrontation..........................306 §1. Ingardens Anregungen für Bewusstseinsphilosophie und Hermeneutik..............................................................................................308 §2. Mit dem Blick auf die Tradition: Berührungspunkte mit Aristoteles, Kant, Brentano und Wittgenstein..............................................................311 a. Ingardens Überwindung Husserls? Kritik an Ingarden.........................326 6. Idealismus-Realismus-Frage und Ingardens Erkenntnistheorie. Ein kritischer Ausblick....................................................................................331 7. Zusammenfassung................................................................................338 Teil II „INGARDENS WEG DES REALISMUS“: ANALYSE AUS ONTOLOGISCHER SICHT.........................................................................................................343 Kapitel IV INGARDENS ONTOLOGIE DES SEINS 1. Einführung............................................................................................347 2. Begriffliche Vorarbeiten.......................................................................348 §1. Ingardens Distanzierung von der Phänomenologie Husserls. Der Weg zum Realismus..........................................................................................349 §2. Ontologie als Grundlage zum Verstehen des Realismus bei Ingarden....................................................................................................351 a. Das Verhältnis zwischen Metaphysik und Ontologie...........................351 b. Der Begriff der Ontologie.....................................................................354 §3. Ingardens Begriff des Realismus........................................................359
a. Kritische Bestimmung der Position Ingardens......................................362 3. Ingardens Ontologie des Seins..............................................................366 §1. Existential-ontologische Analyse.......................................................367 a. Existenz überhaupt. Existenz ist keine Eigenschaft................................ b. Äquivozität der Existenz: Existenzweisen und existentiale Momente.372 c. Relevanz des Zeitfaktors.......................................................................379 d. Aufhören der Existenz. Berührungspunkte mit Heidegger...................381 e. Konsequenzen für die Idealismus-Realismus-Debatte: Existentialontologische Bestimmung der Position Husserls......................................383 §2. Formal-ontologische Analyse.............................................................386 a. Formale Grundkategorien.....................................................................387 b. Problematik des Gegenstandes.............................................................388 b.a. Form des Gegenstandes.....................................................................389 b.b. Form des Sachverhalts und Verhältnisses.........................................395 b.c. Typen der Form des Gegenstandes....................................................399 c. Konsequenzen für Idealismus-Realismus-Frage: Form der Welt und des Bewusstseins.............................................................................................408 c.a. Form der Welt....................................................................................409 c.b. Form des Bewusstseins. Seine Relation zur Welt. Konsequenzen....413 §3. Mereologische Probleme....................................................................417 §4. Material-ontologische Analyse...........................................................422 §5. Kausalität............................................................................................425 a.Contra Hume......................................................................................…426 b. Auffassung der Kausalität. Konsequenzen für die Welt.......................429 §6. Metaphysische Implikationen.............................................................437 4. Ingardens Ontologie aus Sicht der ontologischen Ansätze innerhalb der gegenwärtigen Philosophie. Eine kritische Würdigung............................440 §1. Aus Sicht der Substratum- und Bündel-Theorie.................................441 §2. Eine Skizze der Identitätsproblematik................................................445 §3. Ingarden und die Tropen-Theorie.......................................................451 §4. Kritischer Ausblick mit Hilfe von Putnams Argumentation..............454 5. Zusammenfassung................................................................................456
Kapitel V INGARDENS ONTOLOGIE DER KUNST 1. Einführung............................................................................................463 2. Ästhetik- und Kunstbegriff...................................................................464 §1. Ästhetik...............................................................................................464 §2. Kunst. Der Kantische Zugang.............................................................468 3. Existenz der Kunstwerke. Contra Husserl............................................471 4. Ästhetik als „ästhetische Situation“......................................................475 §1. Physizismus und Mentalismus............................................................476 §2. Konzeption der Ästhetik.....................................................................477 5. Ontologie der Kunst..............................................................................483 §1. Aufbau des Kunstwerks als rein intentionalen Gegenstandes............484 a. Über die Husserlsche Perspektive hinaus.............................................484 b. Theorie des Aufbaus des (literarischen) Kunstwerks...........................486 b.a. Das ontische Fundament des Kunstwerks..........................................488 b.b. Die Struktur des Kunstwerks.............................................................491 b.c. Unbestimmtheitsstellen. Kritik an Ingarden: „getroffen durch eigene Waffe“.......................................................................................................500 §2. Theorie der ästhetischen und künstlerischen Werte...........................503 §3. Theorie der ästhetischen Erfahrung....................................................507 §4. Intersubjektivität des Kunstwerks aus hermeneutischer Perspektive: Gadamer contra Ingarden..........................................................................511 §5. Wahrheitsfrage im Kunstwerk. Eine kritische Analyse aus Sicht der gegenwärtigen Debatte: Rückgriff auf Tarski, Davidson und Frege........516 §6. Ingarden und Aristoteles: Poetik.........................................................522 §7. Ontologie der Kunst und die Idealismus-Realismus-Frage. Kritik an Ingarden....................................................................................................527 6. Sprachliche Implikationen....................................................................532 §1. Frage, Proposition und Gegenstand....................................................533 §2. Sprachliche Implikationen mit dem Blick auf Quine: Ablehnung der Propositionen und Übersetzungsfrage......................................................539 §3. Linguistische Phänomenologie: Widersprüchlichkeit des empiristischen Sinnkriteriums. Sprache als Träger der Bedeutung..................................545 7. Zusammenfassung................................................................................554
Kapitel VI LÖSUNG DER FRAGE DER ÜBERWINDUNG DES TRANSZENDENTALEN IDEALISMUS HUSSERLS DURCH INGARDEN. BEDEUTUNG DES INGARDENSCHEN ANSATZES FÜR DIE HEUTIGE PHILOSOPHIE 1. Einführung............................................................................................561 2. Das Ergebnis der Untersuchung...........................................................562 §1. Endgültige Lösung der Frage der „Überwindung“. Eine Begründung...............................................................................................563 a. Festlegen des Begriffs „Überwindung“................................................563 b. Überwindungspunkte............................................................................565 c. Ein letzter Versuch der Bestimmung des „spezifischen“ Realismus bei Ingarden....................................................................................................575 d. Exkurs auf die Münchner Phänomenologie: Scheler und Pfänder.......579 §2. Aus Sicht der gegenwärtigen philosophischen Debatte. Kritik an Ingarden....................................................................................................582 a. Idealismus-Realismus-Frage als Pseudoproblem?................................583 b. Interpretationsfrage...............................................................................588 c. Begriffliche Konsequenzen...................................................................593 3. Bedeutung des Ingardenschen Ansatzes für die gegenwärtige Philosophie. Warum lohnt es sich heute sich mit Ingarden zu befassen?.597 §1. Hermeneutische Leistungen und Ästhetik..........................................599 a. Beispiel: Wittgenstein...........................................................................601 §2. Andere philosophische Initiativen......................................................605 a. Ontologische Elemente.........................................................................605 b. Sprachphilosophische Elemente...........................................................608 c. Epistemologische Elemente……………………………......................610 d. Metaphysische Elemente......................................................................614 §3. Eine Zukunftsperspektive?.................................................................616 4. Zusammenfassung................................................................................619 VERZEICHNIS DER VERWENDETEN LITERATUR..........................................625 PERSONEN- UND SACHINDEX....................................................................661
Vorbemerkungen 1) Die wichtigsten Schriften Ingardens werden mit folgenden Abkürzungen (Siglen) zitiert (vgl. auch Literaturverzeichnis): BM - Ein Büchlein über den Menschen ELK - Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks EKW - Erlebnis, Kunstwerk und Wert EPhH - Einführung in die Phänomenologie Edmund Husserls FSE - Frühe Schriften zur Erkenntnistheorie GAL - Gegenstand und Aufgaben der Literaturwissenschaft GE I - Zur Grundlegung der Erkenntnistheorie, Teil 1 GE II - Zur Grundlegung der Erkenntnistheorie, Teil 2 LK - Das literarische Kunstwerk SÄ I - Studien zur Ästhetik, Bd. I SÄ II - Studien zur Ästhetik, Bd. II SÄ III - Studien zur Ästhetik, Bd. III SEW I - Der Streit um die Existenz der Welt, Bd. I SEW II/1 - Der Streit um die Existenz der Welt, Bd. II/1 SEW II/2 - Der Streit um die Existenz der Welt, Bd. II/2 SEW III - Der Streit um die Existenz der Welt, Bd. III SFPh - Schriften zur frühen Phänomenologie SPhH - Schriften zur Phänomenologie Edmund Husserls TJFPL - Zur Theorie der Sprache und den philosophischen Grundlagen der Logik VDÄ - Vorträge und Diskussionen zur Ästhetik 2) Alle längeren Zitate aus den Werken Ingardens oder auch anderer Autoren werden eingerückt. 3) In doppelten Anführungszeichen sind wörtliche Zitate bzw. Termini der Autoren und andere Wörter in uneigentlichem Gebrauch geschrieben. 4) Die einfachen Anführungszeichen dienen dem Verfasser der vorliegenden Arbeit zur Akzentuierung der Relevanz eines Wortes, eines Ausdrucks oder eines Satzes.
5) Die kursive Schrift dient dem Verfasser zur Hervorhebung mancher Wörter, Formeln und Sätze. 6) Die vom Verfasser vorgenommenen Zusätze und Auslassungen in Zitaten sind mit Hilfe von eckigen Klammern durchgeführt. Darüber hinaus werden eckige Klammern auch verwendet, um eine bessere Übersicht des Textes zu ermöglichen. (Das kommt vor allem dann vor, wenn in einfachen Klammern noch die Notwendigkeit besteht, etwas in Klammern zu bringen). 7) Die in der vorliegenden Abhandlung verwendeten polnischen Zeitschriftenartikel und andere Schriften werden zumeist vom Verfasser selbst in die deutsche Sprache übersetzt. 8) Unter dem Ausdruck „unser Autor“ ist ausschließlich Roman Ingarden zu verstehen. 9) Für manche längere Ausdrücke werden Abkürzungen verwendet; sie richten sich meist nach dem ersten Buchstaben eines Ausdrucks. 10) Andere wichtige in der Abhandlung verwendete Abkürzungen: Bd. – Band / Bde. – Bände ders. – derselbe ebd. – es bezieht sich auf den vorher zitierten Autor oder das vorher zitierte Werk m.E. – meines Erachtens zit. - zitiert
„Ich habe viele Jahre gearbeitet [...], und zwar im Grunde die ganze Zeit, seit ich im Jahre 1918 zu der Überzeugung kam, dass ich den transzendentalen Idealismus Husserls bezüglich der Existenz der realen Welt nicht teilen kann“. (SEW I, VII)
Einleitung 1. Einführende Reflexion in Ingardens Philosophie. Bestimmung des Ziels der Untersuchung. Roman Ingarden (1893-1970) gehört zu den polnischen Philosophen, deren Leistung weltweit breite Anerkennung gefunden hat. Ingardens philosophische Tätigkeit, die mehr als fünfzig Jahre dauerte und sich immer nach dem Motto „primum philosophari, deinde vivere“ zu richten suchte, schlägt in ihrer Forschung grundsätzlich die phänomenologisch geprägte Richtung ein. Das hat offenkundig seine Gründe, wie es sich noch 1
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Hier seien nur einige bekannte polnische Philosophen genannt, unter deren Einfluss Ingarden – unmittelbar oder mittelbar – stand: (1) K. Twardowski – Schüler von F. Brentano, Begründer der Denkanalytik der Lemberger Schule; sein Denken ist uns insofern wichtig, als er der Lehrer von Ingarden (in Lemberg) war und seine Philosophie unseren Autor beeinflusste. Das bezeugen auch zwei Aufsätze, die Ingarden selbst über die Philosophie Twardowskis verfasste: „Die wissenschaftliche Tätigkeit Kasimir Twardowskis“ (vgl. SFPh, 53f) und „Bemerkungen über einige ontologische Thesen im Buch „Zur Lehre vom Inhalt und Gegenstand der Vorstellungen von Kasimir Twardowski“ (vgl. SFPh, 69f). Ingarden ist dem Rat Twardowskis gefolgt und hat sich für das Studium bei Husserl in Göttingen entschlossen (vgl. Majewska, Z. [1995], 20); (2) J. Lukasiewicz - Begründer der mehrwertigen Logik (vgl. dazu etwa ders. [1970]); (3) A. Tarski - bekannt durch seine ‚Wahrheitstheorie’ (vgl. ders. [1935/36]); (4) J.M. Bochenski – vgl. z.B. die Bibliographie, in: ders. (1988). Vgl. Majewska, Z. (1995), 8. Die Autorin zeigt die Stationen im Leben von R. Ingarden – aus Sicht der philosophischen Entwicklung unseres Autors, was für uns selbstverständlich von Bedeutung ist. 1
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8 in unserer weiteren Abhandlung zeigen wird. Kurzum: Ingarden war einer der Schüler Husserls und zweifellos der bedeutendste polnische Phänomenologe (vgl. WPh, 565). Deshalb schreibt J.M. Bochenski: 3
„Es gibt einen polnischen Phänomenologen, den ich sehr zu schätzen weiß, nämlich – Ingarden. Meiner Ansicht nach ist er der größte polnische Denker überhaupt, den wir jemals gehabt haben, und einer der größten Denker Europas im XX. Jahrhundert“. 4
In diesem Kontext lassen sich auch die Erinnerungen von D. Gierulanka nachvollziehen, wenn sie berichtet: „Wer einmal Zeuge war, wie Ingarden frei denkt oder diskutiert, der muss zugeben, dass seine [Ingardens] Fähigkeit zur Konzentration auf den zu untersuchenden Gegenstand augenfällig war, die ungeheure Ruhe und
Vgl. auch Lagowski, B. (1995), 321; Jagannathan, R. u.a. (1985), 181f. Für den deutschsprachigen Leser ist m.E. eine knappe biographische Skizze unvermeidbar, um das Denken Ingardens (in allen Phasen) zu verstehen: Ingarden begann sein Studium in Lemberg – unter anderem bei K. Twardowski. Um sein Studiums fortzusetzen, begab er sich für einige Jahre (1912-1917) ins Ausland: Göttingen, Wien und Freiburg im Breisgau. In Göttingen besuchte er die Vorlesungen in Philosophie bei E. Husserl (und promovierte bei ihm mit der Arbeit „Intuition und Intellekt bei Henri Bergson. Darstellung und Versuch einer Kritik“), aber auch in Mathematik bei D. Hilbert und in Psychologie bei G.E. Müller. Husserl beeinflusste Ingarden so stark, dass sich später zwischen den beiden eine Art „wissenschaftliche Freundschaft“ entwickelte: Ingarden besuchte Husserl mehrmals und korrespondierte mit ihm bis zum dessen Tode (vgl. Ingarden, R. [1968] und [1968b]; auch Ingarden, R.S. [1994]). Nach seiner Habilitation bei K. Twardowski (über das Thema: „Essentiale Fragen. Ein Beitrag zum Problem des Wesens“) bekam Ingarden 1924 eine Assistentenstelle an der Lemberger Universität, und 1933 dort einen Lehrstuhl (als „Extraordinarius“). Nach dem Zweiten Weltkrieg war Ingarden als Ordinarius an der Jagiellonen Universität zu Krakau tätig bis zu seiner Emeritierung, erhielt mehrere internationale Auszeichnungen, wie den „Herder-Preis“ in Wien und den „Jurzykowski-Preis“ in New York (vgl. Galewicz, W. u.a. [1994], 3f). Wissenschaftlich war Ingarden aber immer noch aktiv und hielt zahlreiche Kolloquien und Vorlesungen im In- und Ausland, nahm an vielen Kongressen teil (z.B. am Internationalen Philosophischen Kongress in Wien im Jahre 1968); die berühmtesten sind wohl seine Vorlesungen an der Osloer Universität, die 1967 in deutscher Sprache gehalten worden sind (vgl. Haefliger, G. [1992], IXf; auch [1992a], 297f). Bochenski, J.M. (1989), 40. 3
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9 Ungezwungenheit eines Menschen, der einen klaren Blick hat, der sich keinesfalls an eine vorher festgesetzte Argumentationslinie zu halten braucht – es genügt ihm das Hinschauen auf das Ding allein, und er ist sich dessen bewusst, was er sieht.“ 5
Ingarden war aber auch mit den anderen philosophischen Gebieten wie Ästhetik, Ontologie, Erkenntnistheorie, Anthropologie, Ethik und Sprachphilosophie sehr gut vertraut. Nach vielen Jahren rezeptiver Tätigkeit hatte er sich in die Hauptströmungen der europäischen philosophischen Tradition eingearbeitet (vgl. SEW I, XI). Seine philosophische Methode ist tief in der Überzeugung vom Wert des Wissens verwurzelt. Deshalb ist für ihn das Philosophieren zugleich eine Art und Weise des Lebens und „Überlebens“ , ein „Rezept“, dem Leben Sinn und Würde zu geben. Dies ist eine axiologische und bewusste Entscheidung unseres Autors, der sehr früh intellektuell reif geworden ist. In späteren Perioden seiner philosophischen Tätigkeit begründete Ingarden seine früheren Positionen weiter und erweiterte sie um ständig neue Forschungsgebiete. In seiner Philosophie sind daher keine grundlegenden Brüche festzustellen, abgesehen offenbar von der Tatsache, dass sich Ingarden von Husserl distanzierte, als dieser sich der idealistischen Position näherte (vgl. SEW, VII). Man könnte eher von einer Art „evolutorische Bereicherung“ um neue Gedankengänge sprechen, d.h. Ingarden griff oft die bereits früher behandelten philosophischen Probleme 6
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Gierulanka, D. (1995), 19. D. Gierulanka war lange Zeit Ingardens Assistentin. Hier müssen wir Ingardens Erinnerungen und Erlebnisse aus dem Zweiten Weltkrieg ansprechen. Ingarden schreibt: „Da aber kam der Krieg. Zunächst schien es, als ob keine weitere philosophische Arbeit mehr möglich sein würde. Trotzdem aber, nach etwa zwei Jahren, beschloss ich, gegen alle Hoffnung, weiter wissenschaftlich zu arbeiten, zunächst einfach deshalb, um mich geistig aufrecht zu halten und auf diese Weise auch durchhalten zu können“ (SEW I, X). Während des Zweiten Weltkrieges hat also Ingarden am Buch „Der Streit um die Existenz der Welt“ gearbeitet (bis Januar 1945 waren zwei Bände fertig). Vgl. Wegrzecki, A. (1990), 57. Das bezeugen zahlreiche Schriften Ingardens, vgl. etwa „Frühe Schriften zur Erkenntnistheorie“ und „Schriften zur frühen Phänomenologie“, auch sein ästhetisches Hauptwerk „Das literarische Kunstwerk“. 5 6
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10 auf und versuchte sie von einer jeweils anderen Seite her zu erläutern. Unser Autor markierte auf eine unübertreffliche Art und Weise stets neue Untersuchungsfelder und lehrte, sich auf ihnen durch eine gründliche Analyse konkreter Sachverhalte erfolgreich zu bewegen. Die zu analysierenden Probleme wurden von ihm so gezielt ausgewählt, dass sie zusammen eine Art „komplettes“ Netz bildeten, welches das Problem der Existenz der Welt umfasst. Nach unserem Autor kann man dieses Problem nur im Rahmen einer Ontologie sinnvoll diskutieren. Selbst wenn das Problem der Existenz der Welt in der gegenwärtigen Philosophie kein dominierendes Problem mehr ist, hat es keineswegs an seiner theoretischen Tragweite eingebüßt. Die philosophischen Forschungen haben vielmehr auf diesem Gebiet zur Entwicklung der Ontologie selbst beigetragen. Der Streit um Ingardens Philosophie dauert bis heute an. Zum einen wird versucht aufzuweisen, dass seine Philosophie kohärent ist, zum anderen, dass sie von vielen Rissen gekennzeichnet ist. Dennoch sind alle darin einig, dass in der Zeit des zunehmenden Irrationalismus der Bedarf an einem philosophischen System immer größer wird, das einerseits mit seiner Sprache imstande ist, dem Menschen von heute alle sich von der Ästhetik über die klassischen Fragen (Absolutheit, Seele, Welt) bis zur Naturphilosophie ausdehnenden philosophischen Probleme verständlich zu vermitteln, andererseits aber zugleich kein zu wenig komplexes und nach zu großen Vereinfachungen strebendes System ist, wie dies etwa bei zahlreichen logischen und formalisierten Systemen oder den Systemen der analytischen Philosophie der Fall ist. Und die Philosophie Ingardens ist dieser Aufgabe gewachsen, weil sie bereits im Prozess ihres Entstehens als 9
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Vgl. Majewska, Z. (1995), 89. Vgl. Ogrodnik, B. (2000), 7. Nach Ogrodnik hat auch Ingarden dazu wesentlich beigetragen. In den letzten Jahrzehnten wird Ontologie bekanntlich vor allem im englischsprachigen Raum erfolgreich betrieben, z.B. von D. Armstrong. Vgl. z.B. Gierulanka, D. (1977), 117-128; Galewicz, W. (1981), 45-57; Nowak, A. (1990). 9
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11 ein offenes System gegolten hat, und folglich sind deren Modifikationen nicht nur denkbar, sondern auch von Ingarden selbst postuliert. Die Forschung hat sich bis jetzt vor allem mit Ingardens Arbeiten zur Ästhetik, Ontologie, Existentialontologie und Erkenntnistheorie beschäftigt. Bei einer aufmerksamen Lektüre der Werke Ingardens fällt aber auf, dass die ‚meisten seiner Werke stark unter dem Einfluss der Auseinandersetzung mit Husserl stehen’, da dieser zum transzendentalen Idealismus übergegangen war. Von jenem Zeitpunkt an könnte man m.E. bei Ingarden von einem ‚Versuch der Überwindung des transzendentalen Idealismus Husserls’ reden. Eine gründlichere ‚monographische Untersuchung’ unter besonderer Berücksichtigung dieses Faktums unterblieb dennoch bis heute – sowohl im deutsch- als auch 12
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Vgl. Ogrodnik, B. (2000), 5. Hier stellt sich die Frage: Können wir von der Philosophie Ingardens als einem System reden? W. Galewicz (vgl. [1994], 1) schreibt etwa dazu Folgendes: „ [...] Can we speak of Roman Ingardens`s philosophical system? He [Ingarden] himself would undoubtedly had denied that […] Though the activities of his resarch concerned all traditional branches of philosophy […] Rather it was Ingarden`s claim due to the phenomenological origin of his philosophizing, to work out precise methods of research in order first to see and to formulate problems clearly and then to apply these methods step by step for gaining generally acceptable results. Insofar we can speak also of a methodological specifity of Ingarden`s philosophy […] ”. Einen guten Überblick über die Schriften und die Philosophie Ingardens kann man in McCormick, P.J. (1985), 181-261 finden. Die Verfasser stellen Ingardens Bibliographie sehr differenziert dar, vor allem ist die Differenzierung hinsichtlich der jeweiligen Sprache, in der die Schriften Ingardens (bzw. über Ingarden von anderen Autoren) niedergeschrieben bzw. herausgegeben sind, sehr hilfreich. Zur (Existential-) Ontologie vgl. etwa Haefliger, G. (1994), zur Erkenntnistheorie Chrudzimski, A. (1999) u.a. In „Der Brief an Husserl über die VI. Untersuchung und den Idealismus (Ende Juli 1918)“ schreibt Ingarden: „[...] wenigstens weiß ich, was ich nicht für haltbar halten kann [...] Rein theoretisch gesprochen kann mich die VI. Untersuchung [...] nicht befriedigen [...]“ (vgl. SPhH, 2f; FSE, XIV). In diesem Brief geht es also um die Untersuchungen des II. Bandes der „Logischen Untersuchungen“. Da beginnen wohl bei Ingarden die ‚ersten Schwierigkeiten mit der idealistischen Position Husserls’. 12
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12 polnischsprachigen Raum. Diese Lücke möchte ich mit der vorliegenden Abhandlung schließen. Als Ausgangspunkt lassen wir folgende Tatsache gelten: Im August 1948 schrieb Ingarden das Vorwort zum ersten Band seines Hauptwerkes auf dem Ontologiegebiet „Der Streit um die Existenz der Welt“ und machte dabei eine für unsere Abhandlung relevante Bemerkung, mit welcher er sich Husserls Philosophie gegenüber deutlich positionierte. Da heißt es, ‚Ingarden könne den transzendentalen Idealismus Husserls nicht teilen’ (vgl. SEW I, VII). Ingarden hat sich also gegen seinen Lehrer und Meister entschieden. Wie sich aber aus dem Zitat vor der Einleitungsüberschrift ergibt, ist diese Entscheidung schon längst gefallen (unser Autor nennt das Jahr 1918) und sein Werk „Der Streit um die Existenz der Welt“ ist bereits als „reife Begründung“ seiner Entscheidung zugunsten des Realismus anzusehen und somit auch als ‚Ergebnis der Überwindung der idealistischen Position Husserls’. Die vorliegende Untersuchung ist in zwei Teilen konzipiert: „Ingardens Weg zum Realismus“ (= Teil I) und „Ingardens Weg des Realismus“ (= 15
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Es gibt natürlich einige kleinere Aufsätze, vgl. etwa Galarowicz, J. (1982); Hall, H. (1968); Hempolinski, M. (1976); Jadacki, J.J. (1981); Kersten, F. (1972); Sarna, J.W. (1981); Tischner, J. (1971); Tymieniecka, A.T. (1976a) u.a. Zum Werk „Der Streit um die Existenz der Welt“ vgl. 4. (Einleitung) und Literaturverzeichnis. Da der Begriff Realismus (R) sich durch unsere ganze Abhandlung hindurch ziehen wird, ist es sinnvoll, schon zu Beginn zu erklären, was darunter in der gegenwärtigen Philosophie zu verstehen ist: R – besagt dem Wortsinn nach ‚Wirklichkeitsstandpunkt’, oft als Gegensatz zum Idealismus (I), d.h. zu dem Standpunkt, nach dem das Geistige den Vorrang hat. Der Gegensatz von R und I ergibt sich durch die verschiedene Auffassung der menschlichen Erkenntnis. Der R nimmt an, dass wirkliches Seiendes unabhängig von unserem Bewusstsein „an sich“ existiert und dass das Ziel unseres Erkennens diesem Seienden gegenüber ist, sich ihm anzugleichen, es zu erfassen, wie es an sich ist, und dass dieses Ziel – wenigstens in bestimmten Grenzen – auch erreichbar ist. Der I hingegen betrachtet das eigentliche „Objekt“ als Setzung des denkenden Subjekts, dem kein „An-sich-Sein“ zukommt (wohl aber z.B. bei Kant ein unerkennbares „Ding an sich“ zugrunde liegt) (vgl. de Vries, J. [1996f], 316 f). Ingardens Verständnis des Realismus werden wir im Laufe unserer Analyse erschließen. 15
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13 Teil II). Sie setzt sich zum Ziel, Ingardens philosophischen Weg systematisch – jedoch zugleich schwerpunktmäßig und nur auf eine ‚beschränkte Weise’ (d.h. hauptsächlich aus erkenntnistheoretischer [Kap. I – III] und ontologischer Sicht [Kap. IV – VI]) zu untersuchen. Um das Anliegen der vorliegenden Abhandlung verständlicher zu machen, ist vorab der „Ingardens Weg zum Realismus“ skizzenhaft aufzuzeigen. 18
2. „Ingardens Weg zum Realismus“ Ingarden verdankte Husserl viel, und zwar eine Art „Einführung“ in die phänomenologische Analyse. Von Husserl hat er gelernt, wie phänomenologische Analysen durchzuführen sind (vgl. LK, XIV). Trotz dieser Verpflichtung seinem Meister gegenüber hat Ingarden niemals Angst gehabt, scharfe Kritik an Husserl zu äußern, die sich nach vielen Jahren in eine reife ‚realistische’ Position umwandelte. Der Weg zu dieser realistischen Position, d.h. zu einem „speziellen“ Realismus, der in seiner 19
Ich habe mich selbst in zahlreichen Gesprächen überzeugt, dass Ingarden im deutschsprachigen Raum entweder völlig unbekannt oder nur als Schüler Husserls bekannt ist. Dass er aber auch zur Entwicklung der Phänomenologie im XX. Jahrhundert (neben A. Pfänder, E. Stein, A. Reinach, D. v. Hildebrand, H. ConradMartius, O. Becker u.a.) wesentlich beigetragen hat, wird in vielen auf dem deutschen Markt gängigen Büchern kaum hervorgehoben (vgl. etwa Hirschberger, J. [1991], oder Coreth, E. u.a. [1993]). Darum ist es kein Wunder, dass auch das Husserl-IngardenVerhältnis für die Entfaltung des philosophischen Denkens Ingardens – vor allem für seinen Weg zum Realismus – kaum beachtet (geschweige denn diskutiert) wird. So werden Husserls Beziehungen zu Ingarden etwa von R. Bernet u.a. in der von ihnen aufgestellten ausführlichen Bibliographie nicht einmal erwähnt (vgl. ders. [1989], 229f). Wie sich diese Beziehung entwickelt hat, dass sie – selbst wenn nur mittelbar – das Ansehen Ingardens und dessen Position zu (und unter) den polnischen Gelehrten der Philosophie beeinflusst hat (vgl. „Die Bestrebungen der Phänomenologen“, in: SFPh, 92), und dass Ingarden auf diese Beziehung fast in allen seinen Schriften immer wieder zurückgreift und sich jahrzehntelang mit der Philosophie seines Lehrers auseinandersetzt (vgl. Galewicz, W. [1998], VII), bleibt weitgehend unbekannt und oft übersehen. Mit der vorliegenden Abhandlung hoffen wir diese Konstellation zumindest einigermaßen zu verändern. Zur ‚realistischen’ Position selbst vgl. 4 (Einleitung) („Ingardens Weg des Realismus [...]“). Im Folgenden geht es lediglich um „Ingardens Weg zum Realismus“. 18
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14 ausgeprägten Form hauptsächlich dem Werk „Der Streit um die Existenz der Welt“ zu entnehmen ist, verläuft bei Ingarden in zwei Vorbereitungsphasen: einer ‚weiteren’ und einer ‚unmittelbaren’. Was die weitere Vorbereitungsphase anbelangt, ist sie vor allen Dingen dadurch gekennzeichnet, dass Ingarden das ganze Problem des Realismus von der ‚Seite der Erkenntnistheorie’ her zu analysieren versuchte. So arbeitete er etwa in den Jahren 1918 bis 1923 an der Analyse der äußeren Wahrnehmung und an damit zusammenhängenden konstitutiven Problemen. Aber allmählich begann ihm einzuleuchten, dass der erkenntnistheoretische Zugang zum Seinsproblem der Welt kein richtiger Weg sei, weil dadurch viele formal- und existential-ontologische Fragen unbeantwortet bzw. übersehen bleiben. So kam Ingarden zu dem Schluss, dass bevor man sich an das Idealismus-Realismus-Problem heranwagt, eine ‚Reihe von Voruntersuchungen durchzuführen’ ist (vgl. SEW I, VII). Darum fing Ingarden seit dem Jahre 1923 an, ‚systematisch’ an notwendigen Voruntersuchungen zu arbeiten. Der erste wesentliche Schritt war seine Habilitationsschrift „Essentiale Fragen“ (1925), deren Aufgabe es ist, den Gegensatz zwischen individuellem Gegenstand und Idee genauer zu bestimmen und zugleich den Sinn des Wesens eines individuellen Gegenstandes zu erfassen (vgl. TJFPL, 327f). Dann folgte der im selben Jahr veröffentlichte Aufsatz „Über die Stellung der Erkenntnistheorie im System der Philosophie“; darin versuchte unser Autor die eigentliche Problematik und mögliche Leistung der Erkenntnistheorie einzuschränken (vgl. FSE, 277f). Daraufhin sind – besonders relevant in dieser Vorbereitungsphase – zwei gleichzeitig verfasste Schriften zu nennen, nämlich „Das literarische Kunstwerk“ (1930) und „Bemerkungen zum Problem „Idealismus-Realismus“ (1929). Die erste Schrift bildete nach Ingarden den ‚ersten Schritt zu einer Gegenüberstellung realer und idealer Gegenständlichkeiten’ aufgrund der prinzipiellen Verschiedenheit ihrer Form (vgl. SEW I, VIII). Da sollte klar gemacht werden, dass die Form der rein intentionalen Gegenstände eine (radikal) andere ist als die der realen (vgl. LK, IX f). Was die „Bemerkungen“ angeht, so suchte Ingarden mit dieser Schrift, verschiedene Gruppen von Fragen, die bei der Behandlung des Idealismus-Realismus-Problems ohne jeden Unterschied gewöhnlich miteinander abgehandelt werden, zu differenzieren. Es ging also um ontologische, metaphysische und erkenntnistheoretische Fragen
15 (vgl. SPhH, 21-54). In einem weiteren Aufsatz „Einige Voraussetzungen von Berkeley`s Idealismus“ (1931) zeigte unser Autor, wie bei Berkeley gewisse thematisch ungeklärte, aber doch dogmatisch angenommene, bloß mitvermeinte ontologische Voraussetzungen seine ‚idealistische Entscheidung’ erzwingen. Der nächste Schritt auf diesem Vorbereitungswege war Ingardens Abhandlung „Vom formalen Aufbau des individuellen Gegenstandes“ (1935), in der unser Autor strebte, die Grundform eines individuellen seinsautonomen Gegenstandes herauszustellen und damit ein „Kernstück“ formaler Ontologie zu entwerfen. Schließlich folgte noch die Untersuchung „Einleitung in die Erkenntnistheorie“, deren Zweck es ist, nicht nur die erkenntnistheoretische Problematik zu klären, sondern auch die prinzipielle Möglichkeit der Erkenntnistheorie aufzuweisen (vgl. SEW I, VIII f). Die zweite Phase auf „Ingardens Wege zum Realismus“, die bereits als „unmittelbare Vorbereitung“ bezeichnet werden kann, begann etwa 1935, nachdem die „Formale und transzendentale Logik“ und die „Méditations Cartésiennes“ erschienen waren und schon bekannt war, dass sich Husserl einem ‚radikalen und alles Seiende umfassenden Idealismus’ zuwandte. Unser Autor fing zunächst an, an einem Buch zu arbeiten, welches nur eine Erweiterung seines Aufsatzes vom Jahre 1929 „Bemerkungen zum Problem „Idealismus-Realismus“ sein sollte. Aber kurz danach unterbrach er diese Arbeit und widmete sich einem anderen Problem, das sich aufgrund gewisser äußeren Umstände ergab (vgl. SEW I, IX). Es handelte sich um das Problem der Möglichkeit des intersubjektiv gesicherten Erkennens eines literarischen Textes. Dieses Problem hielt Ingarden für das ‚Problem der Möglichkeit der intersubjektiv gesicherten Wissenschaft überhaupt’ und behandelte es in seinem Buch „Vom Erkennen des literarischen Kunstwerkes“ (1937) (vgl. ELK, 1f). Als ein weiterer Schritt gilt die im Jahre 1938/39 mit seinen Schülern und „philosophischen Freunden“ vorgenommene Forschung an den Texten der aristotelischen Metaphysik – offensichtlich im Hinblick auf das zukünftige und 20
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Vgl. Ingarden, R. (1931). Vgl. Ingarden, R. (1935). Diese Umstände werden von Ingarden leider nicht genauer genannt.
16 gründlichere Behandeln des Idealismus-Realismus-Problems (vgl. SEW I, X). Ingarden hat sich also mit der Philosophie Husserls nicht bloß deswegen befasst, weil er sich von ihr eine Art Einführung in die phänomenologische Analyse erhoffte, sondern vielmehr ging es unserem Autor auch darum aufzuweisen, dass Husserl (vor allem der spätere Husserl) einen „gefährlichen“ Weg eingeschlagen habe, nämlich den des transzendentalen Idealismus, demnach – grob gesagt – die reale Welt und deren Elemente als rein intentionale Gegenständlichkeiten aufgefasst werden, die in den Tiefen des konstituierenden Bewusstseins ihren Seins- und Bestimmungsgrund haben (vgl. LK, X). Die Hervorhebung dieser Gegebenheit in der gegenwärtigen philosophischen Ingarden-Forschung erfordert durchaus eine eigene und ausführlichere Untersuchung, und als eine solche will sich auch die vorliegende Arbeit verstehen. 3. Das Erfordernis einer Untersuchung Im zweiten Teil der vorliegenden Abhandlung wird „Ingardens Weg des Realismus“ behandelt. Es gilt somit der These kritisch nachzugehen, dass Ingarden den transzendentalen Idealismus Husserls – auf ontologischer Ebene – überwunden, bzw. inwiefern er ihn überwunden habe. Das Verstehen dieser These wird durch eine knappe Klärung einiger Voraussetzungen erheblich erleichert. Diese können wir im Vorfeld auf den Punkt bringen als: (1) Mängel des transzendentalen Idealismus Husserls nach Ingarden, und (2) Stellung der Husserlschen Philosophie in der neueren phänomenologischen Debatte. Die Grundlage, auf der Husserl seine Theorie des transzendentalen Idealismus systematisch aufgebaut hat, stellt nach Ingarden dessen Auffassung der Phänomenologie ‚im weitesten Sinne’ dar (vgl. EPhH, 172). Beim transzendentalen Idealismus Husserls handelt sich um den ‚Seinszusammenhang’ zwischen dem reinen Bewusstsein (bzw. dem reinen Ich) und der realen Welt, um die ontische Stelle des reinen Bewusstseins der Welt gegenüber. Deshalb lautet Husserls These: ‚Die reale Welt ist 23
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Vgl. Ingarden, R. (1968a), 156f.
17 das Sekundäre, gewissermaßen vom reinen Bewusstsein Abgeleitete’ (vgl. EPhH, 264). Das Problem des Idealismus ist also das Problem der Wesensgemeinschaft (Identität) zwischen dem ‚Sein’ (Realität) und dem ‚reinen Bewusstsein’. So steht für Husserl fest, dass alle physischen Gegenstände „Gebilde“ von Erlebnissen des reinen Bewusstseins sind; dabei existiert die reale Welt als notwendiges intentionales „ProduktKorrelat“ des Bewusstseins nicht anders als die idealen Gegenstände (vgl. SPhH, 201). Die Welt ist das Korrelat einer komplizierten Mannigfaltigkeit von subjektiven Operationen des reinen Ich (vgl. EPhH, 29). Ist aber eine solche Position haltbar? Nach Ingarden lassen sich viele Einwände gegen Husserl erheben, auf die wir in der vorliegenden Abhandlung ausführlicher eingehen werden. Sie hängen einerseits mit den Motiven zusammen, die Husserl Ingardens Meinung nach zum transzendentalen Idealismus geführt haben sollen. In dem Kontext erscheinen andererseits manche weitere Mängel in der idealistischen Position Husserls selbst. Hier sei dies nur skizziert. Was die Motive anbelangt, handelt es sich als erstes um Husserls Auffassung der Philosophie als „strenge Wissenschaft“. Damit will Husserl einen „festen Boden“ in der Philosophie gewinnen. Epistemologisch ausgedrückt kommt es darauf an, in der Philosophie eine ‚Erkenntnis zu erzielen’, die in keiner Weise angezweifelt werden kann, mithin in ihrer Geltung und Sicherheit „absolut“ ist. Indessen fragt Ingarden: Muss die Auffassung der Philosophie als „strenge Wissenschaft“ zum transzendentalen Idealismus führen? (vgl. SPhH, 310f). Das nächste Motiv, das zu Husserls Übergang zum transzendentalen Idealismus beigetragen hat, ist das ‚Problem der Funktion und der Grenzen der Verwendbarkeit der phänomenologischen Reduktion’. Dank der phänomenologischen Reduktion will Husserl das besondere Gebiet des individuellen Seins (das reine Bewusstsein) erschließen, d.h. ein Gebiet, auf dem es möglich sei, eine absolute, unbezweifelbare Erkenntnis zu erlangen, die in der immanenten Wahrnehmung (bzw. in der eidetischen Einstellung auf das Wesen der Akte dieses Bewusstseins hin) zu gewinnen sei (vgl. SPhH, 24
Die Entwicklung des idealistischen Standpunkts bei Husserl verlief offensichtlich in vielen Phasen. Dazu vgl. 2§1 (Kap. I) der vorliegenden Arbeit. 24
18 314f; EPhH, 187f). Darüber hinaus hat die Problematik der äußeren Wahrnehmung und der konstitutiven Analyse der Gegenstände der realen Welt auf dem Husserlschen Wege zur idealistischen Position mitgespielt (vgl. EPhH, 138). Alles existiert nur für das Subjekt, das bestimmte Wahrnehmungen besitzt, „an sich“ aber existiert nichts. Die in der äußeren Wahrnehmung gegebenen Dinge sind also nur ‚intentionale Wahrnehmungskorrelate’ (Phänomene); sie sind etwas „für das Subjekt“, das die betreffenden Wahrnehmungen besitzt, nicht aber etwas „an sich“ (vgl. SPhH, 291f). Dennoch wenn man bedenkt, sagt Ingarden, dass die wahrgenommenen, existierenden, wirklichen (bzw. in der Wahrnehmung als wirklich vermeinten) Dinge in der konstitutiven Untersuchung nur als Bestandteile einer besonderen Sicht noematischer Sinne betrachtet werden, und wenn man einräumt, dass alles, was auch immer in diesem Sinn enthalten ist, seine Konstitutionsquelle in der Sicht entsprechend niedrigerer Noemata und letztendlich in den Erlebnissen des reinen Bewusstseins sowie in entsprechenden vollzogenen Noesen besitzt und von den soeben genannten Faktoren abhängig ist, so liefert uns die konstitutive Betrachtung (im Sinne Husserls) die endgültige „transzendentale Genese“ der Dinge, die in der Wahrnehmung dem Subjekt anschaulich gegeben sind. So wird die These des transzendentalen Idealismus vertreten, d.h. das ‚Sein der uns in der Erfahrung gegebenen realen Welt ist auf das Sein und den Verlauf des reinen konstituierenden Bewusstseins angewiesen’ (vgl. SPhH, 302f; OSW, 25f). Schließlich hebt Ingarden hervor, dass auch gewisse ‚formal-ontologische Argumente’ Husserl zur idealistischen Entscheidung gedrängt haben, weil sie von ihm nur mangelhaft aufeinander abgestimmt sind (vgl. SPhH, 305f; 345f). Was die weiteren Schwächen der Husserlschen Position anbelangt, fehlt bei Husserl eine nähere Bestimmung des Begriffs der für die reale Welt charakteristischen „Seinsrelativität“ - in Bezug auf das Bewusstsein hin (vgl. SEW I, 150). Außerdem bleiben bei Husserl auch andere für die Plausibilität seines Denkens relevante Begriffe ungeklärt, z.B. „absolutes Wesen“ und „Im-absoluten-Sinne-sein“, sagt unser Autor (vgl. SPhH, 218f) und schlägt als Lösung die Einführung einer Reihe existentialer 25
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Vgl. dazu auch Bruzina, R. (1997), 75-94.
19 Momente vor, nämlich Seinsheteronomie, Seinsunselbstständigkeit, Seinsabhängikeit und Seinsabgeleitetheit usw. (vgl. SEW I, 26f). Eine weitere Schwierigkeit erblickt Ingarden im Begriff der „Absolutheit des Seins“. Husserl bezeichnet damit verschiedene Momente. Dabei ist es aber unklar, ob es sich in ihnen um ‚verschiedene zusammenhängende Momente einer Seinsweise handelt, oder ob wir es da nur mit einer ‚Äquivokation’ zu tun haben (vgl. SPhH, 219f). Auch die Auffassung des Bewusstseins ist bei Husserl problematisch (vgl. OSW, 30; auch SPhH, 222f). Obwohl Husserl nicht nur die Idee einer ‚formalen Ontologie’ entworfen, sondern auch wesentliche Elemente derselben gegeben hat, hat er jedoch die ‚Form des individuellen Gegenstandes’ nicht herausgearbeitet und sich niemals die Frage gestellt, ob ein bloß intentionaler Gegenstand, dessen besonderen Einzelfall jeder reale Gegenstand und auch die Welt selbst bildet, nicht eine besondere Form haben müsse, die ihn von der Form eines „absolut“ existierenden Gegenstandes (des reinen Bewusstseins) unterscheiden würde. Da eröffnet sich nach Ingarden etwa folgendes Problem: Kann ein realer Gegenstand eine formale Struktur haben, die ihn in dieser formalen Hinsicht mit den bloß intentionalen Gegenständlichkeiten gleichsetzen würde? (vgl. SPhH, 221). Darüber hinaus wirft Ingarden Husserl vor, dieser behandle einzelne reale Gegenstände (z.B. die Dinge und die ganze reale Welt) auf eine „analoge Weise“. In dem Kontext stellen sich zwei Fragen: (1) Wie reagierte Husserl auf die Einwände Ingardens? und (2) Gibt es derartige Mängel bei Husserl, wie sie von Ingarden formuliert worden sind, auch aus Sicht der neueren phänomenologischen Debatte? Beide Fragen werden im Verlaufe unserer Analyse systematisch beantwortet. Hier sei bloß angedeutet: Was die erste Frage anbelangt, hat Husserl insbesondere gegen Ingardens ‚Vorrang der 26
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Diese Begriffe werden von uns erst im Verlaufe unserer weiteren Analyse geklärt werden. Vgl. auch Ingarden, R. (1968b), 126. Dazu vgl. Fußnote 138. Es geht vor allem um das Problem der Gefahr einer „petitio principii“ (d.h. man setzt etwas voraus, ohne weiter danach zu fragen). 26
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20 Ontologie vor der Phänomenologie’ protestiert. Im Hinblick auf die zweite Frage gilt Folgendes: Seit Descartes die Welt in die beiden Seinsbereiche „res cogitans“ und „res extensa“ (d.h. „Bewusstsein“ und „Außenwelt“) unterteilt hat, stellt sich der modernen Philosophie die Frage, wie das Bewusstsein von der sogenannten Außenwelt wissen kann. Sollten wir diese Frage auf dem Wege der Phänomenologie zu beantworten suchen, dann erweist sich dieser Weg einerseits als Versuch, den cartesianischen Dualismus zu überwinden, andererseits bringt die phänomenologische Bewegung mit ihrem Begründer Husserl, der in seinen „Cartesianischen Meditationen“ ganz der Methode Descartes` zur „transzendentalen Subjektivität“ (d.h. der Wendung zum „ego cogito“ als dem apodiktisch gewissen und letzten Urteilsboden) folgte, auch viele begriffliche Unklarheiten, Widersprüche und Fragezeichen mit sich, deren Folge die Auslösung kritischer Stimmen seitens der realistisch geprägten Kreisen war. Während die Phänomenologie mittels der phänomenologischen Reduktion zur „Wesenschau“ wird und die Außenwelt „einklammert“, bleiben alle anderen Wissenschaften bei einer natürlichen Einstellung und befassen sich mit den Tatsachen in der Realität. So eröffnete sich auf dem wissenschaftlichen Gebiet ein neues Forschungsfeld, das auf die von Husserl ins Leben gerufene philosophische Disziplin zurückzuführen war, schnell weltweit ein großes Interesse erweckte und zur ‚neueren 29
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Vgl. Ingarden, R. (1968a), 163f. Das heißt, Husserl warf Ingarden vor, dieser betreibe „Ontologismus“. Was den Begriff der „neueren phänomenologischen Debatte“ anbelangt, entscheiden wir uns aus rein sachlichen Gründen (d.h. aus der Relevanz der „Göttinger Schule“ und der nachfolgenden philosophischen Strömungen [wie der Philosophie Heideggers] für die Entwicklung des philosophischen Denkens Ingardens) für einen „weiteren“ Begriff der „neueren phänomenologischen Debatte“, d.h. wir setzen diesen Begriff in der Abhandlung – zeitlich gesehen – bereits bei einigen „älteren“ Schülern Husserls an, z.B. bei Hedwig Conrad Martius (ca. 1912), Edith Stein usf. Vgl. Descartes, Disc. IV, 2; auch Med. II, 5 sowie Med. VI, 13. Vgl. Becke, A. (1999), 7. Vgl. Husserl, E. Hua I, 7. Vgl. Becke, A. (1999), 11. 29
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21 phänomenologischen Debatte’ führte. In einem Brief vom 31. August 1923 schreibt Husserl an Ingarden: „Die Phänomenologie beginnt die jüngere Generation in Amerika, Japan, England zu bestimmen, Russland ist sehr rührig etc. In Deutschland hat sich die Wirkung überraschend erweitert, und nun habe ich gar, trotz meiner 64, einen Ruf nach Berlin für Troeltsch erhalten u. – abgelehnt“. 34
Beim Sich-Befassen mit diesem neuen phänomenologischen Forschungsgebiet ging es nicht so sehr um eine weitere Phase der Phänomenologie selbst, sondern vielmehr um eine Periode der sich entwickelnden ‚Wissenschaft über die Phänomenologie Husserls’. Eine neue Generation von Phänomenologen begann phänomenologische Probleme im Geist Husserls selbständig zu bearbeiten (vgl. EPhH, 8). Abgesehen vom polnischen philosophischen Milieu, das vor allem von Ingarden vertreten ist, lassen sich in der vorliegenden Abhandlung vor allem drei andere phänomenologische Wirkungskreise auffinden: der deutsche, der französische und der amerikanische (USA) bzw. englischsprachige. Denn sie bestimmen am stärksten nicht nur den Rahmen für den Begriff „neuere phänomenologische Debatte“, sondern sie können auch in der Analyse der Philosophie Ingardens ‚schwerpunktmäßig’ als eine Art „kritisches Instrumentarium“ eingesetzt werden. Dadurch wird in dieser Abhandlung zumindest ein doppeltes Ziel verfolgt: Zum einen sollen ‚eventuelle Mängel bzw. Fehlinterpretationen und vor allem Berührungspunkte zwischen der Ingardenschen Interpretation der Philosophie Husserls und anderen Interpretationsversuchen des Husserlschen philosophischen Denkens im Rahmen der neueren phänomenologischen Debatte’ – insbesondere hinsichtlich des transzendentalen Idealismus – deutlicher zum Vorschein kommen, zum anderen soll zur Transparenz des phänomenologischen Gedankenguts Ingardens im Hinblick auf seine ‚Verdienste für die weitere Entwicklung der Phänomenologie im XX. Jahrhundert’ beigetragen werden. 35
Husserl, E. (1968), 26. Wir sind uns im Klaren, dass zwischen Ingarden und anderen Philosophen, die wir in unserer Abhandlung als ‚Vertreter der neueren phänomenologischen Debatte’ ansprechen werden, keinesfalls eine „generelle“ Übereinstimmung bzw. einheitliche 34 35
22 Was den phänomenologischen Wirkungskreis in Deutschland anbelangt, können wir zuerst eine der bedeutendsten Schülerinnen Husserls Hedwig Conrad-Martius ansprechen mit ihrer gegen den transzendentalen Idealismus Husserls gerichteten Abhandlung „Zur Ontologie und Erscheinungslehre der realen Außenwelt“. Auch Husserls Assistenten (bzw. –in) wie E. Stein, E. Fink oder L. Langrebe waren mit der idealistischen Position ihres Meisters keinesfalls einverstanden. Hier ist für uns vor allem Fink sehr wichtig, weil er bekanntlich als ‚Schlüsselfigur’ bei der Umarbeitung der „Cartesianischen Meditationen“ Husserls gilt. Das phänomenologische Programm Husserls hat auch Heidegger vor allem in „Sein und Zeit“ einer weitreichenden Revision unterzogen. Heidegger zeigt, dass Husserls Ausgangspunkt im cartesianischen Dualismus selbst nicht phänomenologisch ausgewiesen ist und wiederum durch das ‚Sein’ unterlaufen wird, denn Bewusstsein ist auch „reales Sein“. Auch im Hinblick auf die phänomenologische 36
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Haltung hinsichtlich der vertretenen philosophischen Richtung schlechthin feststellbar ist. Das heißt, wir wollen nicht sagen, dass etwa Ingarden, Heidegger und Sartre die gleichen philosophischen Strömungen vertraten. Nein. Im Gegenteil muss man hier streng differenzieren zwischen der Position Ingardens, der deutschen Existenzphilosophie Heideggers und des atheistisch-nihilistisch geprägten französischen Existentialismus Sartres. Was wir erreichen wollen, sind eventuelle ‚Berührungspunkte im Hinblick auf den transzendentalen Idealismus Husserls’, d.h. das Beweisen einer gemeinsamen – möglicherweise kritischen – Position zu dieser Problematik. Eine Konfrontation mit der neueren phänomenologischen Diskussion ist für uns auch deswegen vorteilhaft, weil wir bei der Lektüre der Schriften Ingardens manchmal auf „gewisse Verunsicherungsmomente“ in Bezug auf die Interpretation der Philosophie Husserls stoßen (vgl. z.B. Ingarden, R. [1963], 477f). J. Makota (vgl. [1995], 286) formuliert dies folgendermaßen: „Where Ingarden is not sure whether his interpretation is right because Husserl`s wording allows of two possibilities, this is pointed out. One may ask, e.g., whether Husserl`s statement are ontological or metaphysical”. Vgl. Conrad-Martius, H. (1916). Nun war zuerst E. Stein nach dem Abschluss ihrer Promotion bei Husserl seine Assistentin (1916 bis ca. 1918) (vgl. Ingarden, R. [1994], 289); danach L. Langrebe (1928-1930) und E. Fink (1928-1938) (vgl. Huang, W.H. [1998], 1f). Vgl. Fink, E. (1966) und (1966b). Vgl. Heidegger, M., SuZ, 200f. 36 37
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23 Reduktion wirft Heidegger (im Sinne Ingardens) Husserl vor, dieser würde durch die Reduktion gerade den Boden aus der Hand geben, auf dem einzig nach dem Sein des Intentionalen gefragt werden könne. Im Rahmen der neueren phänomenologischen Debatte könnte man auch etwa auf E. Ströker hinweisen, die sich mit der transzendentalen Phänomenologie Husserls intensiv auseinandersetzt. Nach Ströker reichen Husserls analytische Mittel nicht einmal aus, um den Sinn der Unterscheidung zwischen Transzendenz und Immanenz deutlich zu explizieren. In Frankreich hat die Husserlsche Phänomenologie bekanntlich nicht nur eine große Begeisterung ausgelöst, sondern sie ist zugleich auch auf einige kritische Stimmen gestoßen. So ist etwa J.P. Sartre zu nennen, dessen Frage nach der ontologischen Grundlage der Gegebenheiten sich gegen den ‚Idealismus im Allgemeinen’ und gegen ‚Husserl im Besonderen’ richtet. Auch für M. Merleau-Ponty kommt die Husserlsche Lösung nicht in Frage, durch die Husserl die Intentionalität des Bewusstseins und das Sein alles Seienden als „Sein für das Bewusstsein“ zum Ausdruck brachte und ‚idealistisch’ interpretierte, indem er das absolute Bewusstsein als für jegliche Seinsgeltung und allen Seinssinn aufkommendes „Residuum der Weltvernichtung“ proklamierte. Die jüngste Phase der neueren phänomenologischen Diskussion ist vor allem im englischsprachigen Raum anzusetzen. Da hat sich Husserls Phänomenologie trotz eines starken Wettbewerbs seitens anderer philosophischer (vor allem sprachanalytischer) Richtungen durchsetzen können. In seinem Buch „Modern Movements in European Philosophy“ zählt etwa R. Kearney Husserl unter anderen modernen Phänomenologen wie Heidegger, Sartre, Merleau-Ponty u.a. auf und zeigt in einer bündigen Darstellung den Kern des Husserlschen Ansatzes. Abgesehen von der Akzentuierung des Hauptprinzips der Philosophie Husserls „Zu den Sachen selbst“ wird eine Diskrepanz zwischen der realen Welt und dem Bewusstsein hervorgehoben, wobei die reale Welt stets „für das 40
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Vgl. Heidegger, M. (1988), 150. Vgl. Ströker, E. (1987), 40f, 70. Vgl. Sartre, J.P. (1943), 23f , 291f. Vgl. Merleau-Ponty, M. (1966), 45, 79, 116f. Vgl. auch Derrida, J. (1987).
24 Bewusstsein“ da ist. Eine Auseinandersetzung mit der Husserlschen Phänomenologie liefert uns auch D. Welton in seinem Buch „The Other Husserl. The Horizons of Transcendental Phenomenology“. Welton verweist auf die Gefahr der Phänomenologie Husserls, indem er die Grenzen der von Husserl verwendeten phänomenologischen Methode aufweist. In vielen Punkten seiner Analyse geht er auf die gleiche Weise wie Ingarden vor. In Anschluss an J.N. Mohanty unterscheidet Welton zwischen zwei Aspekten des Begriffs „the a priori as worldbound“: „world of pure possibility“ und „possible world“. Ingardens Kritik am transzendentalen Idealismus Husserls wird auch durch die Untersuchungen von J. Seifert in „Back to ‚Things in Themselves’. A phenomenological foundation for classical realism“ umfassend bestätigt. Seifert reflektiert nahezu ganz genau wie Ingarden über die Motive, die Husserl zum transzendentalen Idealismus geführt haben und beruft sich oft auf Ingarden. Da sich zwischen der Interpretation Ingardens und der neueren phänomenologischen Debatte betreffs der These über den transzendentalen Idealismus Husserls viele weitgehende ‚Berührungspunkte und Übereinstimmungen’ nachweisen lassen, wäre es m.E. durchaus denkbar, von den ‚gleichen Grundlagen bei unserem Autor und der neueren HusserlForschung’ zu reden. Allerdings ist zuzugeben, dass es zugleich einige Differenzen im Hinblick auf das Verständnis der Husserlschen Philosophie gibt, welche aber letzten Endes nur dazu beitragen, die heutige HusserlForschung um neue Anregungen zu bereichern. 44
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4. „Ingardens Weg des Realismus“ als Versuch der Überwindung der idealistischen Position Husserls Der zweite und wesentliche Teil der Abhandlung stellt eine Untersuchung mit besonderer Berücksichtigung des „speziellen Realismus“ dar, mit dem
Vgl. Kearney, R. (1984), 13f. Dazu vgl. auch Gurwitsch, A. ( 1966) und (1974); auch Bell, D. (1990). Vgl. Welton, D. (2000), 46f; auch Mohanty, J.N. (1985), 35-39. Vgl. Seifert, J. (1987), 137f.
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25 Ingarden seine „ontologische Antwort“ auf den transzendentalen Idealismus Husserls formuliert. Dabei richten wir unser Augenmerk vornehmlich auf Ingardens Hauptwerk „Der Streit um die Existenz der Welt“ (1947 polnische und 1965 deutsche Ausgabe). Ingarden hat dieses Werk auch in deutscher Sprache verfasst, weil es – wie er sich selbst ausdrückt – für Husserl bestimmt war und ihm den Weg zur Bearbeitung des Idealismus-Realismus-Problems zeigen sollte. In „Der Streit um die Existenz der Welt“ können wir also „Ingardens Weg des Realismus“ mit verfolgen. Die ganze Arbeit an diesem vierbändigen Werk, das letzten Endes unabgeschlossen geblieben ist, war nicht zuletzt durch Ingardens feste Überzeugung geprägt, dass einerseits eine weitere Erforschung der Idealismus-Realismus-Problematik erforderlich sei, andererseits aber man einen ausreichenden Grund haben müsse, um die in Richtung des transzendentalen Idealismus tendierende Husserlsche Lösung dieser Problematik zurückzuweisen. Dazu war nicht nur eine ‚andere als bei Husserl, hinlänglich geklärte Theorie’ der Seinsweise der realen Welt und deren Seinsverhältnisses zum Bewusstsein unerlässlich, sondern man musste desgleichen über die richtigen Argumente zwecks der Begründung dieser Theorie verfügen (vgl. SPhH, 350f). Indem Ingarden diese Argumente in seinem Werk „Der Streit um die Existenz der Welt“ herauszuarbeiten versuchte, entschied er sich für einen ‚ontologischen’ Zugang zum Idealismus-Realismus-Problem (vgl. EPhH, XIVf). Die ontologisch orientierte Analyse, die wir in der vorliegenden Abhandlung auch als „Ingardens Weg des Realismus“ bezeichnen, ist als ‚reife Frucht einer mühsamen und vieljährigen Arbeit Ingardens anzusehen’, als eine Art „Krönung“ seines „Weges zum Realismus“, der – wie wir bereits oben gesehen haben - in den vielen Perioden wissenschaftlicher Tätigkeit Ingardens verlief. „Ingardens Weg des Realismus“, der im Endeffekt im „speziellen Realismus“ aufgeht, ist als endgültige Überwindung der idealistischen Position Husserls zu verstehen. 47
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Vgl. Ingarden, R. (1968a), 178; auch Gierulanka, D. (1995), 11f. Vgl. auch Fußnote 6. Vgl. Ogrodnik, B. (2000), 10f. 47
48
26 Der „spezielle Realismus“ läuft in erster Linie auf die Analyse von existential-, formal- und material-ontologischen sowie kausalen Problemen hinaus. Daher werden vorab die ‚existential-ontologischen Grundbegriffe’ (Momente) bestimmt, mit denen unser Autor im Verlaufe seiner weiteren Untersuchung arbeitet: Seinsautonomie und Seinsheteronomie, Seinsursprünglichkeit und Seinsabgeleitetheit, Seinsselbstständigkeit und Seinsunselbstständigkeit, Seinsabhängigkeit und Seinsunabhängigkeit u.a. (vgl. SEW I, 79f; auch SPhH, 25f). Dadurch eröffnen sich folgende vier Möglichkeiten der Lösung der Idealismus-Realismus-Frage: der absolute Kreationismus, der realistische Abhängigkeits-Kreationismus, der realistische Einheitskreationismus und der modifizierte realistische Einheitskreationismus (vgl. SEW I, 265f). Daraufhin differenziert Ingarden zwischen den grundlegenden Form-Materie-Begriffen: dem formal-ontologischen (= Form I und Materie I), dem aristotelischen (= Form II und Materie II) und dem relational-technischen (= Form III und Materie III), um festzustellen, dass ‚nur die Form I in seiner Analyse als eigentlicher Gegenstand der formalen Ontologie gelten kann’ (vgl. SEW II/1, 27f, 38f). Dies führt dazu, dass sich jetzt nur zwei Möglichkeiten als eventuelle Lösungen bewähren können: der absolute Kreationismus und der realistische Abhängigkeitskreationismus (vgl. SEW II/2, 373f). Selbst wenn die formal-ontologischen Betrachtungen das Idealismus-RealismusProblem in ein neues Licht stellen, lösen sie es freilich nicht endgültig (vgl. SPhH, 32f). Denn dass die vorgegebene Welt eine Welt in einem realistischen Sinn ist, leuchtet erst dann ein, wenn ein ‚System von ursächlichen Zusammenhängen’ existiert und bewiesen werden kann, an dem alle Bestandteile jener Welt teilnehmen (vgl. SEW II/2, 390). Somit ist eine Untersuchung der Kausalproblematik im Kontext ihrer Relevanz für das Problem der Form der Welt erforderlich (vgl. SEW III, 1f). Darüber hinaus weist der „spezielle Realismus“ gewisse Auswirkungen im Bereich der Kunstontologie auf, so dass die intentionale Seinsweise, die einen der drei Seinsbereiche der Ingardenschen Ontologie schlechthin (die zwei anderen sind der ideale und der reale) darstellt, ihre prinzipielle 49
All diese (und auch weitere) Begriffe werden erst im Verlauf der weiteren Untersuchung geklärt. 49
27 Verschiedenheit bewahren kann. In dem Kontext erweisen sich alle ästhetischen Schriften Ingardens als relevant, die vorwiegend ontologisch gestützt sind. Abgesehen von dem bereits in 2 (Einleitung) angesprochenen Werk „Das literarische Kunstwerk“ (1930) ist hier vor allem die Schrift „Untersuchungen zur Ontologie der Kunst“ (1962) zu erwähnen, in der Ingarden die ontologischen Probleme der Kunst im Zusammenhang mit den Grundfragen der Philosophie zu behandeln versuchte. 50
5. Einige Vorbemerkungen und Gliederung der Abhandlung Wie oben bereits angedeutet ist die vorliegende Abhandlung auf zwei Begriffen aufgebaut: „Ingardens Weg zum Realismus“ (= epistemologischer Teil) und „Ingardens Weg des Realismus“ (= ontologischer Teil). Dadurch soll nicht zuletzt der Gegebenheit Rechnung getragen werden, dass den Philosophen, die sich mit Ingarden-Texten befasst haben bzw. gegenwärtig befassen, nicht immer hinreichend aufgeht, dass zwischen Ingardens ontologischer und epistemologischer Theorie des literarischen Kunstwerks (repräsentiert in den beiden Hauptwerken „Das literarische Kunstwerk“ und „Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks“) und den allgemeinen Revieren seines Denkens (repräsentiert vor allem in seinem monumentalen Werk „Der Streit um die Existenz der Welt“) ein wesentlicher Zusammenhang besteht (vgl. ELK, X). Da diese Abhandlung vor allem für die Leser aus dem deutschsprachigen Raum gedacht ist und zumindest von folgenden zwei Zielen begleitet wird: (1) Ein weiterer Beitrag zur Erschließung des philosophischen Gedankenguts des polnischen Phänomenologen im deutschsprachigen Raum; (2) Systematische und kritische Würdigung des philosophischen Denkens Ingardens; werden die Werke und Schriften Ingardens prinzipiell Es gibt natürlich auch viele andere Schriften, die aber nicht so stark ontologisch geprägt sind. Die wichtigsten seien hier nur signalisiert: (1) „Erlebnis, Kunstwerk und Wert“ (1969); (2) „Gegenstand und Aufgaben der Literaturwissenschaften“ (1976); (3) „Studien zur Ästhetik“, 3. Bde. (1966f); (4) „Vorträge und Diskussionen zur Ästhetik“ (1981); (5) „Zur Theorie der Sprache und philosophischen Grundlagen der Logik“ (1972) u.a. 50
28 in deutscher und polnischer Fassung verwendet, es sei denn, es liegen relevante Gründe für die Benutzung anderer Fassungen vor. Jedes Kapitel der vorliegenden Abhandlung ist mit einer ausführlichen Zusammenfassung versehen. Dies soll einerseits dem Leser verhelfen, sich einen Überblick über das Ganze zu verschaffen, ohne die ganze Schrift lesen zu müssen, zumal Ingarden nur ein wenig bekannter Philosoph im deutschsprachigen Raum und das Untersuchungsfeld der vorliegenden Arbeit relativ breit angesetzt ist. Andererseits kann die folgende Skizzierung der Kapitel darin ihre ergänzende Entfaltung finden. Im ersten Kapitel wird der Versuch unternommen, den Hintergrund zum Verstehen der erkenntnistheoretischen (und ferner ontologischen) Reflexion bei Ingarden (also der weiteren Kapitel) herauszuarbeiten. Es geschieht durch eine kritische Darstellung der Ingardenschen Auseinandersetzung mit dem transzendentalen Idealismus Husserls und mit dem Blick auf die neuere phänomenologische Debatte. Dabei zeigt sich, dass zwischen Ingarden und einigen Vertretern dieser Debatte sowohl gewisse Berührungspunkte als auch Differenzen im Hinblick auf den transzendentalen Idealismus Husserl vorliegen. Das Feld des „selbstständigen“ Denkens Ingardens wird mit der Analyse im zweiten Kapitel betreten; d.h. es geht jetzt primär um die eigene Position Ingardens und nicht um seine Interpretation der Husserlschen Inhalte. Die leitende Frage ist: Was ist Erkennen für Ingarden? Nach der Beantwortung der Frage, was eine Erkenntnistheorie nicht sein kann, befasst sich Ingarden mit dem Gedanken, was eine Erkenntnistheorie sein soll. Als Ergebnis gilt unter anderem die Aufteilung der Epistemologie in reine und angewandte Erkentnistheorie sowie in Kriteriologie. Das Objektivitätsproblem darf dabei keinesfalls zu kurz kommen. Das Kernelement der Ingardenschen Erkenntnistheorie stellt die Theorie der „Intuition des Durchlebens“ (ID) dar. Durch die Einführung dieser Theorie distanziert sich Ingarden von dem zweigliedrigen Modell des Bewusstseins eines Husserls und Brentanos. Dank der ID ist eine philosophische Erkenntnistheorie nicht nur erst denkbar, sondern sie kann auch der epistemologischen Gefahr der „petitio principii“ und des „circulus vitiosus“ entgehen. Deshalb erweist sich die ID gewissermaßen als ein die Selbstkontrolle ermöglichendes „Werkzeug“. Davon handelt das dritte Kapitel.
29 Dass Ingarden zum Ontologen geworden ist, wird bereits im vierten Kapitel bewiesen. Durch die Ablehnung der Husserlschen transzendentalen Reduktion erreicht Ingarden das Feld der ontologischen Analysen, deren Hauptziel die Erforschung der Ideengehalte ist. Seine Ontologie betrifft auch ideale Qualitäten und individuelle Gegenstände. Daher kann gefragt werden: Gehört zu der Idee der realen Welt, dass sie seinsautonom, ursprünglich und –unabhängig ist? Darüber hinaus zeigt sich, dass Ingarden nicht nur im Gefolge Kants die Existenz für kein Prädikat hält, sondern auch ganz deutlich in Richtung der Substratum-Theorie tendiert sowie gewisse Elemente der Bündel-Theorie in Anspruch nimmt. Durch die Ontologie der Kunst, wie dies das fünfte Kapitel zeigt, kommt der intentionale Seinsbereich der Ingardenschen Ontologie zum Vorschein, zu der ebenfalls ideale und reale Elemente gehören. Der intentionale Seinsbereich hängt mit Ingardens Ästhetik und Kunsttheorie zusammen, wobei die erstere als eine „ästhetische Situation“ gedacht wird. Als eine der wichtigsten Leistungen der Ingardenschen Konzeption der Ästhetik wird in der gegenwärtigen ästhetischen Debatte seine Differenzierung zwischen künstlerischen und ästhetischen Werten gewürdigt. Eine exakte Sprache ist sowohl für die philosophische Ästhetik als auch die Ontologie schlechthin erforderlich. Ingardens fundamentaler Beitrag zur Sprachphilosophie besteht darin, dass die sprachliche (insbesondere die semantische) Forschung auf das Gebiet der Literatur übertragen worden ist. ‚Ingarden hat den transzendentalen Idealismus Husserls überwunden und seine Überwindung ist ontologisch fundiert.’ Das ist die endgültige Lösung der Überwindungsfrage, die im sechsten Kapitel formuliert wird, nicht zuletzt aufgrund der Ergebnisse der vorangehenden Kapitel. Durch die Erweiterung der phänomenologischen Analysen auf das Gebiet der Ontologie vollzieht Ingarden eine Art „kopernikanische Wende“ im Bereich der Phänomenologie schlechthin und begründet die „phänomenologische Ontologie“ als eine methodisch autonome Disziplin. Trotz mancher Differenzen im Vergleich mit der gegenwärtigen philosophischen Debatte lohnt es sich auch heute sich mit dem Ingardenschen Gedankengut zu befassen, da dies diverse zukunftbezogene Anregungen liefern kann.
TEIL I „Ingardens Weg zum Realismus“ : Analyse aus erkenntnistheoretischer Sicht 51
„Jedes Fragen ist ein Suchen.“
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Sollte Heidegger Recht haben, dass jedes Fragen ein Suchen sei, so können wir ohne weiteres im Hinblick auf Ingarden wagen, folgende These aufzustellen: „Da die ganze philosophische Tätigkeit Ingardens eine Art ‚Fragen nach Wirklichkeit mit ihren Problemen’ ist, das – wie in der Einleitung bereits angedeutet wurde – in zahlreichen kleineren Aufsätzen und größeren Schriften zum Vorschein kommt, kann unser Autor als „ein Suchender“ bezeichnet werden. Wer aber sucht – insbesondere auf wissenschaftlicher Ebene, der tut dies meist auf einem bestimmten Wege und mit einer bestimmten Methode.“ Der Weg, den Ingarden eingeschlagen hat, läuft m.E. ständig auf eine ‚realistische Position’ hinaus, obwohl diese bei ihm keinesfalls von vornherein als eine solche deutlich erkennbar ist. Der Mangel an der Erkennbarkeit der realistischen Position ist vor allem darauf zurückzuführen, dass unser Autor sich ursprünglich für einen erkenntnistheoretischen Zugang zum Seinsproblem der Welt entschieden hat, das auch im ‚Streit zwischen Idealismus und Realismus’ zum Vorschein kommt. Dabei bleiben, wie sich dies im ersten Teil der vorliegenden Abhandlung zeigen wird, jedoch viele formal- und existential-ontologische Fragen ungeklärt (vgl. SEW I, VII). Insofern können wir diese erkenntnistheoretische Periode in der philosophischen Tätigkeit Ingardens lediglich als „Ingardens Weg zum Realismus“ bezeichnen.
51 52
Zum Begriff Realismus vgl. auch Fußnote 17. Heidegger, M., SuZ, 5.
32 Das Charakteristische an dieser Periode, die im ersten Teil der vorliegenden Abhandlung (Kap. I – III) untersucht werden soll – im Hinblick auf die Leistung Ingardens auf dem erkenntnistheoretischen Gebiet und ferner auf die Überwindung der idealistischen Position Husserls – können wir hier folgendermaßen zusammenfassen: (1) Es geht um die maximalistische Konzeption der „absoluten“ Erkenntnistheorie Ingardens (d.h. einer allgemeinen, undogmatischen, sicheren, von anderen Theorien unabhängigen Erkenntnistheorie, die mit dem Sinn (Inhalt) der Zweifelhaftigkeiten übereinstimmt, aus denen das Bedürfnis der Entstehung der Erkenntnistheorie hervorgeht, das seinem Wesen nach keinen Verzicht auf die Problematik der Objektivität als für sich zentrale Lösung zulässt) (vgl. Kap. II); (2) Es geht um die konkrete Überwindung der Ansicht, dass man eine solche Erkenntnistheorie nicht hätte initiieren sollen, weil das Erlangen des Wissens aus einem Erkenntnisakt nach einem neuen (auf diesen Akt gerichteten) Erkenntnisakt fordert, was zu „regressus“ bzw. „petitio principii“ führt. Diese Überwindung vollzieht sich durch das Einführen der so genannten „Intuition des Durchlebens“ als Erhellung des in jedem bewussten Akt enthaltenen unselbständigen Moments des Wissens von ihm (vgl. Kap. III); (3) Schließlich geht es um die Darstellung des sukzessiven Fortschritts in deskriptiver Analyse des Verlaufs sowie der Bestimmung von Bedingungen apriorischer Erkenntnis (d.h. im Sinne des Husserlschen materialen a priori und im Unterschied zu dem Kantischen rein formalen a priori) , also des Fortschritts in der Bestimmung der Extension der Anwendung von Erkenntnis wie auch deren 53
Hier könnte man eine breiter bezogene Frage stellen: Wie verhält sich der Standtpunkt Husserls – hinsichtlich des transzendentalen Idealismus - zu dem von Kant, der auch die empirische Realität (R) der transzendentalen R gegenüber stellt. Kurzum: Trotz gewisser Anknüpfungspunkte zwischen den beiden (vgl. EPhH, 171f) bestehen dennoch folgende Unterschiede: (1) Husserl anerkennt kein unerkennbares, hinter der „Erscheinungswelt“ verstecktes „Ding an sich“; (2) Er verwirft auch Kants Auffassung des Apriori als dem Menschen angeborene Anschauungsformen und Kategorien; (3) Bei Husserl finden wir zahlreiche und tiefe Analysen der Strukturen der Bewusstseinserlebnisse und komplizierter Erkenntnisprozesse, die bei Kant nicht vorkommen usf. (vgl. SPhH, 296f). 53
33 Charakteristik und der Begründung des Erkenntniswertes (vgl. Kap. II und III). Das richtige Verständnis des „Ingardenschen Weges zum Realismus“ setzt allerdings eine gründliche Analyse des ‚Hintergrunds der erkenntnistheoretischen Reflexion’ bei Ingarden voraus. Das soll im ersten Kapitel durchgeführt werden. 54
54
Vgl. Gierulanka, D. (1995), 13f.
Kapitel I „HINTERGRUND DER ERKENNTNISTHEORETISCHEN REFLEXION BEI INGARDEN“ 1. Einführung Beginnen wir mit einer sehr einfachen Frage: Warum hat sich Ingarden mit der Philosophie Husserls überhaupt befasst? Auf der Suche nach einer Antwort auf diese Frage finden wir einen wichtigen Hinweis im Text der X. Vorlesung, die Ingarden in der Zeit vom 15. September bis 17. November 1967 an der Universität zu Oslo in deutscher Sprache gehalten hat (vgl. EPhH, IX). Da heißt es: 55
„Wie Sie wissen, habe ich gewisse Bedenken, ob dieser ganze sogenannte Idealismus Husserls haltbar ist oder mindestens auf eine befriedigende Weise von ihm begründet wurde. Dieser Idealismus bildet aber die zentrale und wichtigste Frage in den Ideen I. Gerade deswegen möchte ich betonen, dass ich diesem Buche viel verdanke; ich habe aus ihm sehr viel gelernt [...]. In diesem Werk nämlich liegt meines Wissens die erste, wirklich systematische Durchführung einer Analyse des Bewusstseins in seinen verschiedenen Kombinationen und von verschiedenen Gesichtspunkten aus vor. Es gibt da [...] eine sehr reiche Sammlung von Ergebnissen einer positiven Arbeit an den Strukturen des Bewusstseins [...] die vielen durchgeführten Analysen haben uns ad oculos gezeigt, wie man phänomenologische Analysen betreiben kann“ (EPhH, 269).
Nun können wir anhand dieses Zitates folgende Antwort formulieren: Ingarden hat sich mit Husserl in erster Linie deswegen befasst, weil er ihm viel verdankt und von ihm viel gelernt hat. Darüber hinaus konnte unser Autor bei Husserl eine systematische Durchführung der Analyse des
Wir sehen hier von Ingardens Studienzeiten in Göttingen ab, und vor allem von der Tatsache, dass Ingarden bei Husserl promovierte. 55
36 Bewusstseins in seinen verschiedenen Kombinationen vorfinden. Schließlich spielte auch die Problematik des ‚Idealismus’ eine wesentliche Rolle. All dies stellt für Ingardens eigenes Denken – bereits in der erkenntnistheoretisch geprägten Periode – einen ‚Hintergrund’ dar. Im folgenden Kapitel beschränken wir uns allerdings vor allem auf Ingardens Auseinandersetzung mit dem transzendentalen Idealismus Husserls. Die ganze Abhandlung wird auf diese Problematik zugespitzt. 2. Ingardens Auseinandersetzung mit dem transzendentalen Idealismus Husserls. Eine kritische Darstellung Ingardens philosophisches Denken steht unter dem Einfluss vieler Faktoren. Die meisten von ihnen entspringen seinem Verhältnis zu Husserl und insofern sind sie für uns von Bedeutung. Abgesehen davon, dass unser Autor in seinem eigenen Denken nicht selten Husserls „Radikalismus“ gelten lässt, der – grob gesagt – in präziser Fragestellung, in der Tendenz zum Streben nach immer letzten Quellen, in ständigen Analysen von vornherein und endlich im Herausarbeiten notwendiger Begriffsapparatur besteht, kommt der Auseinandersetzung Ingardens mit dem transzendentalen Idealismus Husserls eine besondere Rolle zu. Der transzendentale Idealismus Husserls beschäftigte unseren Autor – mehr oder weniger intensiv – die ganze Periode seiner langen philosophischen Aktivität. So schreibt Ingarden bereits Ende Juli 1918 den „Brief an Husserl über die VI. Untersuchung und den Idealismus“, also in einer Zeit, die noch stark erkenntnistheoretisch geprägt ist und die wir in der vorliegenden Abhandlung als „Ingardens Weg zum Realismus“ bezeichnen; diese erkenntnistheoretische Orientierung Ingardens wird etwa durch einen 1925 verfassten Aufsatz „Über die Stellung der Erkenntnistheorie im System der Philosophie“ bestätigt. Desgleichen lässt sich unser Autor im Jahre 1963 (sieben Jahre vor seinem Tode) noch einmal aufs Feld der kritischen Diskussion mit Husserl führen und schreibt den Aufsatz „Über die Motive, die Husserl zum transzendentalen Idealismus geführt haben“ nieder. Husserls transzendentaler Idealismus stellt also eine Art ‚Hintergrund für Ingardens Denken’ überhaupt dar, in erster Linie aber für dessen
37 erkenntnistheoretische Reflexion. Um dies in den Griff zu bekommen, ist es erforderlich, der Problematik des transzendentalen Idealismus Husserls schwerpunktmäßig nachzugehen. §1. Vorläufige Auffassung und Phasen der Entwicklung des idealistischen Standpunkts Husserls 56
Husserl ist kein „einfacher“ Autor. An seine Leser stellt er hohe Anforderungen. Den Hauptteil seines Lebens hat Husserl detaillierten Untersuchungen über Probleme gewidmet, die vor ihm meistens nicht bearbeitet worden waren. Und wenn er sich mit Fragen beschäftigt, die vorher in der Philosophiegeschichte manchmal behandelt worden waren, tut er das gewöhnlich ganz anders als seine Vorgänger und bringt zahlreiche – nicht selten „kontroverse“ – Ergebnisse hervor (vgl. SPhH, 135). Als Beispiel kann die Frage des ‚transzendentalen Idealismus’ gelten. Den Ausgangspunkt bzw. die Grundlage, auf der Husserl seine Theorie des transzendentalen Idealismus systematisch aufgebaut hat, stellt nach Ingarden dessen Auffassung der Phänomenologie ‚im weitesten Sinne’ dar. Für Husserl gilt: 57
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Hier könnte man fragen: War Husserl ein Platoniker? Nach Ingarden war Husserl zumindest in der ersten Phase kein Platoniker, weil die so genannte „Ideenlehre“ Platons bei Husserl nur ein ‚erster Anfang’ seiner Theorie ist. Was Husserl mit Platon verbindet, ist lediglich die Behauptung: Es gibt zwei verschiedene Seinsgebiete, das Reale und das Ideale; wobei in den „Ideen I“ (vgl. Husserl, E., Hua III/1) das Ideale als seinsautonom erhalten geblieben ist, die reale Welt hingegen im Sinne des transzendentalen Idealismus (trI) gedeutet wird (der Idealismus [I] bleibt also nur auf die Sphäre der Realität der Welt beschränkt), und in der „Formalen und transzendentalen Logik“ (vgl. Husserl, E., Hua XVII) werden schon beide Seinsgebiete als „in Erlebnissen konstituiert“ aufgefasst (vgl. EPhH, 263f). Zu dieser Problematik vgl. etwa Hedin, D. (1997). Vgl. etwa „Logische Untersuchungen“ (vgl. Husserl, E., XIX/1 und XIX/2) – in diesem Werk Husserls werden zum ersten Mal in der Geschichte der Philosophie in einem großen Umfang ‚deskriptive Analysen der allgemeinen Strukturen von Bewusstseinserlebnissen’ durchgeführt. Unter der von Husserl stammenden Phänomenologie versteht Ingarden zweierlei: (1) Eine ‚besondere Betrachtungsweise’ philosophischer Probleme und eine ganz 56
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38 „Das Unerkennbare streichen wir, darüber sprechen wir nicht [...]. Wenn etwas als seiend anerkannt werden soll, so muss zugegeben werden, dass es einen Weg zu seiner Erkenntnis gibt. Jede Erkenntnis [...] bleibt dann innerhalb einer Welt der Phänomene eingeschlossen [...]. Von ‚Dingen an sich’ sprechen wir nicht, mit ihnen beschäftigen wir uns nicht, weil ihr Begriff ein Widersinn ist; [...], worüber wir sprechen, was wir erkennen wollen und können, das sind ‚Phänomene’, das ist dasjenige, was dem Erkennenden irgendwie phänomenal zugänglich ist“ (EPhH, 172).
Nun was ist der transzendentale Idealismus? Es handelt sich um nichts anderes als um den „präzisen Sinn“ der Seinsweise von Realität der Welt, um den Seinszusammenhang zwischen reinem Bewusstsein (bzw. reinem Ich) und realer Welt, um die ontische Stelle des reinen Bewusstseins der Welt gegenüber. Dabei gilt die reale Welt als das Sekundäre, gewissermaßen von dem reinen Bewusstsein Abgeleitete (vgl. EPhH, 264). Das Problem des Idealismus ist das Problem der Wesensgemeinschaft (Identität) zwischen dem Sein (Realität) und dem reinen Bewusstsein. Die ‚Identifizierung dieser beiden Wesen wird Idealismus’ genannt. Husserl vollzieht die Scheidung zwischen Noesis und Noema. Er leugnet die 59
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‚besondere Technik’ der sprachlichen Darstellung der Ergebnisse, die in dieser Betrachtungsweise der Welt gewonnen werden. Es geht also um die ‚phänomenologische Methode’, die auch verschiedene Abwandlungen aufweist, je nachdem wer sich ihrer bedient (z.B. die Phänomenologie Max Schelers, die „Münchner Phänomenologie [A. Pfänder u.a.], oder auch einige phänomenologische Akzente bei M. Heidegger), wobei ihr Kern bei allen Phänomenologen unverändert bleibt; (2) Ein Bestand von Behauptungen (d.h. ein System von Theorien), die das Ergebnis phänomenologischer Betrachtungsweise sind. Nach unserem Autor kann man eher nicht von einer „phänomenologischen Schule“ (im engen Sinne des Wortes) sprechen (vgl. EPhH, 8f). Vgl. auch andere Aufsätze Ingardens: „Über die gegenwärtigen Aufgaben der Phänomenologie“ (SPhH, 224f) und „Die Hauptphasen der Entwicklung der Philosophie Husserls“ (SPhH, 134f). Vgl. Ingarden, R. (1968a), 156f. In einer Diskussion über diese Problematik müssen nach Ingarden drei eng zusammenhängende Problemgruppen unterschieden werden: ontologische, metaphysische und erkenntnistheoretische. Im Verlaufe der Untersuchung wird das genauer erklärt werden. Die Begriffe „Noesis“ und „Noema“, in die sich das reine Bewusstsein bei Husserl gliedert, werden hier wie folgt verstanden: (1) Noesis = Bewussthaben; (2) Noema = Bewusstes (vgl. Brugger, W. [1996d], 292). Dem Wortsinn nach ist also das Noema 59
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39 Wesensverschiedenheit zwischen der realen Welt und dem reinen Bewusstsein. Die Realität wird der Selbständigkeit beraubt; sie ist nicht etwas in sich Absolutes und bindet sich nicht sekundär an Anderes, sondern sie ist im absoluten Sinne „gar nichts“, sie hat gar kein absolutes Wesen, sie hat lediglich die ‚Wesenheit von etwas’, das prinzipiell nur Intentionales (Bewusstes) ist (vgl. SPhH, 5). Alles geschieht zugunsten des reinen Bewusstseins. Dadurch erfolgt der ‚idealistische Charakter’ des philosophischen Denkens bei Husserl (vgl. SPhH, 209). Diese Art Differenz in der Seinsweise, und vor allem die Relativierung des Realen auf das reine Bewusstsein gilt bei ihm als ‚Idealismus’, der sich auf dem durch das Vollziehen der phänomenologischen Reduktion gewonnenen Boden entwickelt (vgl. SPhH, 212). Husserl behauptet, dass alle physischen Gegenstände „Gebilde“ von Erlebnissen des reinen Bewusstseins seien, und die reale Welt, die ein notwendiges intentionales „Produkt-Korrelat“ des Bewusstseins ist, nicht anders als ideale Gegenstände existiere (vgl. SPhH, 201). Die Entwicklung des idealistischen Standpunkts verläuft bei Husserl in vielen Phasen. Wir differenzieren mit Ingarden folgendermaßen: (1) Bis „Logische Untersuchungen“; (2) „Ideen zu einer reinen Phänomenologie“; (3) „Formale und transzendentale Logik“, „Méditations Cartésiennes“ und „Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie“. 61
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das Produkt von Noesis; inwiefern es Produkt ist, zeigt sich erst in der konstitutiven Analyse. Zu beachten ist allerdings, dass Husserl den Begriff des Noema oft zweierlei verwendet, einmal als das volle Noema, ein andermal als Teilnoemata (vgl. Ströker, E. [1987], 109f). Nach Ingarden sind bei Husserl zwei Bedeutungen des Wortes „Noese“ scharf auseinander zu halten: (1) Hyletische Daten (= stoffliche Inhalte, qualitative Gehalte) und (2) Spezifisch noetische Komponenten (= Intentionen, Sinngebungen, Vermeinungen). Diese beiden Elemente bilden zwei Schichten des „phänomenologischen Seins“ (vgl. Ingarden, R. [1968b], 126f). In weiteren Abschnitten werden wir darauf ausführlicher eingehen. Zur phänomenologischen Reduktion vgl. 2§2b (Kap. I). Vgl. dazu auch Bouzid, K. (1999), 19. Er unterscheidet zwei entscheidende Phasen: (1) die vortranszendentale deskriptive Phänomenologie (Ph) und (2) die transzendentale Ph; vgl. auch Biemel, W. (1959). 61 62
40 Wenn man unter Realismus die Ansicht versteht, dass ‚reale Gegenstände völlig unabhängig von Bewusstseinerlebnissen existieren’, in denen sie zur Erkenntnis kommen, dann lässt sich keinesfalls problemlos nachweisen, dass Husserl in der Zeit bis einschließlich der „Logischen Untersuchungen“ [1900-1912]) ein „Realist“ bezüglich realer Gegenstände ist. Denn die „Logischen Untersuchungen“ sind noch so verfasst, dass sie beide Lösungen des Idealismus-Realismus-Problems zulassen (vgl. SPhH, 182). Die „Logischen Untersuchungen“, die übrigens eher eine „Sammlung“ von Abhandlungen sind als ein einheitliches Buch, stellen noch keine einheitliche Problematik der Philosophie Husserls dar, die unter dem Einfluss transzendentaler Ideen stünde. Hier versucht Husserl den Psychologismus in der Logik zurückzuweisen und einen skeptischen Relativismus zu verwerfen. Dadurch eröffnet er nach Ingarden weite Perspektiven – einerseits für die ‚erkenntnistheoretische Problematik, andererseits für gewisse Probleme von formaler Ontologie und Metaphysik’. Er bemüht sich auch, die Möglichkeit ‚apriorischer’ Erkenntnis aufzuweisen, sich in dieser Frage dem Empirismus entgegenzustellen und das Problem des Seins und der Beschaffenheit idealer Gegenstände zu erörtern (vgl. SPhH, 139f). Behutsam ausgedrückt: ‚Husserl neigt in dieser Zeit eher zu einer realistischen Lösung, wobei leichte idealistische Symptome nur nebenbei auftreten’ (vgl. SPhH, 183, 276f). 63
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Da Husserl der Schüler von Brentano war, kann man nach Ingarden höchst wahrscheinlich vermuten, dass er in dieser Zeit geneigt war, die vom Erkenntnisbewusstsein unabhängige Existenz der realen (insbesondere materialen) Welt anzunehmen (vgl. SPhH, 182). Dazu vgl. auch Bell, D. (1990). Der Verfasser bietet m.E. eine hervorragende Darstellung des Denkens Husserls aus einer breiteren Sicht an, d.h. auch mit Bezug auf Brentano. Uns interessiert allerdings nur das Problem des transzendentalen Idealismus. Nach Ingarden wird dies auch dadurch bestätigt, dass Husserls Schüler der ersten Generation (die sogenannten „Göttinger“ wie A. Reinach, E. Stein, R. Ingarden u.a. [1901-1914]) und auch die Münchener Phänomenologen (z.B. A. Pfänder, M. Geiger, D. v. Hildebrand u.a.) deutlich ‚realistisch’ eingestellt waren. In der HusserlForschung (z.B. einige Mitarbeiter des Husserl-Archivs in Louvain mit H. van Breda an der Spitze) wird außerdem die These vertreten, es habe gar keine Periode gegeben, in der Husserl ein Realist in Bezug auf die reale Welt war, und allein seine Schüler aus 63
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41 In den „Ideen I“ fällt jedoch bereits deutlich auf, dass Husserl einen spezifischen Sinn des realen Seins im Auge hat (vgl. SPhH, 212). Die in manchen Teilen der „Ideen“ auftretende idealistische Lösung ist Ingarden zufolge aber nur ‚halbidealistisch’. Dabei geht es jedoch keineswegs darum, dass im Text dieses Werkes neben den durch idealistische Elemente geprägten Ausführungen auch Betrachtungen zu finden sind, welche in eine entgegengesetzte Richtung tendierten. Der halbidealistische Charakter besteht vielmehr darin, dass die ‚idealistische Lösung nur für die reale Welt’ durchgeführt wird, während in Bezug auf ideale Gegenstände alles beim Alten bleibt (vgl. SPhH, 183f). Die „Ideen“ versuchen „Philosophie als strenge Wissenschaft“ aufzuweisen, welche eine absolut sichere Erkenntnis gewinnt und ihre eigene, endgültige Begründung in sich enthält. Durch die Kontrastierung der äußeren Erfahrung mit der in immanenter Wahrnehmung gewonnenen Erkenntnis (vgl. dazu 2§6 [Kap. I]) eröffnet sich für Husserl ein umfassendes Gebiet, auf dem er zahlreiche Analysen des der realen Welt gegenübergestellten reinen Bewusstseins durchführt. So kommt Husserl zu seiner ‚idealistischen’ These bezüglich der realen (besonders materialen) Welt. Nach Ingarden lautet diese These folgendermaßen: 66
„[...] dass das reine Bewusstsein auf eine ‚absolute’ Weise existiere, die die Existenz keines anderen Dinges erfordere, während die realen Gegenstände nur intentionale Korrelate gewisser Mannigfaltigkeiten von besonders strukturierten Akten dieses Bewusstseins seien, ihre Existenz somit durch die Existenz dieser Akte bedingt sei. Das Sein der realen Gegenstände sei also immer, und dies wesensmäßig, ein Sein „für“ jemanden, insbesondere für das reine Subjekt, das die Akte der äußeren und inneren Erfahrung der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg hätten Husserls Ansichten im realistischen Sinne gedeutet (vgl. SPhH, 276f). Hier konzentrieren wir uns vor allem auf die „Ideen I“ (die „Ideen“ von 1913), die am treuesten den Standpunkt Husserls abbilden. Bekanntlich gab es auch weitere Ausgaben von den „Ideen I“, die jedoch entweder von Husserl selbst oder von seinen Mitarbeitern (z.B. Langrebe) korrigiert bzw. ergänzt worden sind und insofern einer ‚differenzierteren’ Behandlung bedürften, was wir uns hier nicht leisten können. Die „Ideen II“ und „Ideen III“ erschienen erst nach dem Tode Husserls („Formale und transzendentale Logik“ und „Méditations Cartésiennes“ wurden also früher herausgegeben). 66
42 vollzieht, nicht aber ein Sein „an sich“ oder „für sich“. Die Existenz der realen Welt sei nicht notwendig, sondern zufällig, dem Wesen der (in erster Linie sinnlichen) Erfahrung nach immer unsicher, die Existenz des Bewusstseins hingegen notwendig, durch immanente Wahrnehmungen gewährleistet, unleugbar“ (SPhH, 185f). 67
Nachdem Husserl zu einem negativen Urteil über die „Ideen II“ und „Ideen III“ sowie über den Erfolg, welchen die „Ideen I“ bringen konnten, gekommen ist, lebt er immer öfter mit dem Gedanken, eine neue, tiefere und umfassendere Grundlegung der Phänomenologie und des damit zusammenhängenden transzendentalen Idealismus zu entwerfen. Seit dem Jahre 1920 unternimmt er mehrere Versuche, dies zu realisieren, vor allem in seinen Werken „Formale und transzendentale Logik“ und „Méditations Cartésiennes“. Nun spitzt sich die Lage zu. Husserl vertritt einen ‚universalen transzendentalen Idealismus’. Eine Unentschlossenheit, so wie sie noch in den „Ideen“ vorkommt, ist hier nicht mehr zu erblicken. Der Idealismus wird universal dadurch, dass sich jetzt ‚alles transzendente Seiende in der transzendentalen Subjektivität der reinen Erlebnisse konstituiere’ (vgl. SPhH, 192). Im Gegensatz zu den „Logischen Untersuchungen“ und „Ideen einer reinen Phänomenologie“, die maßgeblich nur als große Durchbruchswerke Husserls anzusehen sind, ist die „Formale und transzendentale Logik“ ein Werk voller Reife und mit allseitig tief durchdachtem Standpunkt, in dem eine vollbewusste Ausarbeitung des 68
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In der heutigen Husserl-Diskussion wird ebenfalls der Unterschied hervorgehoben, der zwei verschiedenen Einstellungen der Subjektivität entspringt: wirklichem Seienden und dem Phänomen in transzendental-phänomenologischem Sinne. Die natürlich eingestellte Subjektivität besagt, dass unabhängig von ihr eine Welt besteht. Dagegen gehört zur transzendentalen Reduktion die Einsicht, dass jede Art von Realität nur für ein Bewusstsein existiert, d.h. Phänomen ist (vgl. z.B. de Boer, Th. [1978], 386). Vgl. Ingarden, R. (1968a), 156 f. Der gleichen Meinung ist auch Tischner, J. (1964), 349. Das Problem der Konstituierung wird von uns im Laufe der Untersuchung ausführlicher behandelt. Ingarden hat sich auch mit dieser Problematik befasst (vgl. SPhH, 237f). Zur Problematik des transzendentalen Idealismus bei Husserl vgl. etwa Ströker, E. (1987); Celms, Th. (1993); Huang, W.H. (1998) u.a. 67
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43 konsequenten phänomenologischen transzendentalen Idealismus zum Vorschein kommt, stellt Ingarden fest. Die „Formale und transzendentale Logik“ führt mithin die idealistische Auffassungsweise auch bezüglich der Gegenständlichkeiten durch, die in den „Ideen“ noch ‚realistisch’ (d.h. als absolut seiende Entitäten) behandelt worden waren, nämlich bezüglich der logischen Gebilde, des Eidos und der Ideen. Husserls Idealismus hat jetzt die Gestalt einer „spiritualistischen Monadologie“: Es wird eine Vielfalt von Bewusstseinssubjekten angenommen; das Ich wird nicht mehr (wie in den „Ideen“) als eigenschaftsloser Träger von Akten aufgefasst, sondern als eine mit habituellen und (wesensmäßig) im Vollzug der Akte erworbenen Eigenschaften und Potenzen ausgestattete Entität (vgl. SPhH, 112f). Das gleiche gilt für die „Méditations Cartésiennes“, wo Husserl ebenfalls außer dem transzendentalen Ego noch eine Vielheit von „Alter ego“ (d.h. eine Mannigfaltigkeit des „reinen Bewusstseins“ und deren „egos“) einführt, mit denen das transzendentale (eigene) Ich in der sogenannten „Einfühlung“ zur Verständigung gelangt. Das Problem der Existenz anderer reiner Subjekte wird in die Problematik der Konstitution einer 70
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Dieses Werk, das nach Ingarden Husserls ‚Hauptwerk’ sein sollte, ist bekanntlich auf eine äußere Veranlassung hin entstanden, nämlich wegen einer Einladung Husserls zu den Vorträgen nach Paris (vgl. SPhH, 275). Hier ist wohl die Bemerkung interessant, dass einige Autoren mit Ingarden nicht einverstanden sind, wenn dieser behauptet, dass Husserl prinzipiell den Weg von Descartes fortsetzt und folglich von epistemologischen zu metaphysischen Problemen übergeht. Sie sind eher der Ansicht, dass das Interesse Husserls in eine ganze andere Richtung läuft, und dass vor allem Ingardens Denken von vornherein ‚metaphysisch’ geprägt ist (vgl. Tarnowski, K. [1995], 64f). Allerdings bemerkt auch Ingarden (vgl. [1961], 501), dass Husserl seiner ursprünglichen Konzeption des reinen Ich stufenweise (vor allem in seinen späteren Arbeiten) ‚gewisse Eigenschaften’ zuzuschreiben versuchte. Die Vielheit von „Alter ego“ ist zugleich problematisch, weil für Husserl das Bewusstsein ein geschlossenes System ist. Darum darf er – strenggenommen - den Begriff der „Ichvielheit“ eigentlich nicht verwenden (vgl. Horster, D. [1997], 80f). Was den Begriff des „reinen Subjekts“ bei Ingarden selbst anbelangt, so schreibt er an einer Stelle in seinen Vorlesungen: „Ich glaube nicht an das Existieren der reinen Subjekte, die – im Rahmen unserer Erfahrung – nicht irgendwie mit Personen, psychophysischen Individuen verbunden 70
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44 einzigen – allen „Alter ego“ (und dem eigenen Ego) – gemeinsamen Welt mit einbezogen (vgl. SPhH, 202, 212). Als das zuletzt verfasste Werk Husserls gilt „Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie“. Für Ingarden stellt diese Schrift vor allem eine ‚Zusammenfassung der früher erarbeiteten Hauptergebnisse’ dar, welche jetzt in einer verbesserten Gestalt erscheinen. „Die Krisis“ sollte daher in einer bündigen Gestalt die Notwendigkeit des Weges der transzendentalen Phänomenologie für die Philosophie erweisen und dadurch einen Ausblick auf eine neue und die geistige Kultur „rettende Philosophie“ eröffnen. Manchen neuen Beitrag liefert „Die Krisis“ lediglich zu den Einzelproblemen; den Hauptgedankengang des Werkes bildet aber nur eine neue Konkretisierung einer vor mehr als 25 Jahren gefassten, leitenden Grundidee. In der „Krisis“ wird zum ersten Mal ein Ausblick auf geschichtsphilosophische Probleme und auf die Geschichtlichkeit selbst des reinen transzendentalen 72
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sind“ (vgl. ders. [1989], 273f). Deswegen ist es wohl verständlich, dass Ingarden den Begriff des reinen Ich im Kontext der Seele zu erschließen sucht, was wir noch später sehen werden. Ingarden ist der Ansicht, dass es Husserl durch die Annahme der Existenz vieler Monaden und deren wechselseitiger Verständigung in der „Einfühlung“ gelungen ist, die jedem Idealisten drohende Gefahr des Solipsismus zu vermeiden (vgl. SPhH, 207). Dennoch ist es auch nicht ohne Bedeutung – vom Standpunkt des transzendentalen Idealismus, dass Husserl diese „Vielheit bewusster Monaden“ nirgendwo näher bestimmt hat. Denn je nach dem Umfang dieser Vielheit und besonders nach dem Typus der Bewusstseinssubjekte und der Abwandlung ihrer Erlebnisse könnte die Welt als ein einfaches Korrelat der Mannigfaltigkeit der konstituierenden Erlebnisse sich ganz anders konstituieren – und es ist eine relevante Frage, ob diese Konstitution bei völliger Unbeschränktheit der Grenzen der Vielheit der Subjekte sich überhaupt einstimmig vollziehen könnte (vgl. SEW I, 152). Husserl diagnostiziert die Krise des europäischen Denkens im scheinbaren Scheitern des europäischen Rationalismus, was aber nicht am Rationalismus selbst liege, sondern an seiner Veräußerung in „Naturalismus“ und „Objektivismus“. Er sieht in dieser Situation nur zwei Auswege: entweder droht der Untergang Europas, oder Europa wird aus dem Geist der Philosophie wiedergeboren (vgl. Becke, A. [1999], 68). 72
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45 Bewusstseins eröffnet (vgl. SPhH, 431f). Darüber hinaus wird jetzt von Husserl nicht nur ‚terminologisch’, sondern auch ‚begrifflich’ zwischen universaler Epoché und phänomenologischer Reduktion scharf unterschieden, was etwa in den „Ideen“ noch nicht der Fall war. Die wirkliche Größe dieser Schrift liegt nach unserem Autor vor allem darin, dass Husserl in den letzten und schwersten Jahren seines Lebens nicht verzweifelte und ruhig in wissenschaftlicher Arbeit das Recht der Philosophie verteidigte (vgl. SPhH, 435f). Was Husserls Standpunkt zum „Idealismus-Realismus-Problem“ anbelangt, bleibt alles beim Alten, d.h. im Sinne seiner früheren Werke (vgl. SPhH, 452). Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die Welt für Husserl das Korrelat einer komplizierten Mannigfaltigkeit von subjektiven Operationen des Ich ist (vgl. EPhH, 29). Ist aber eine solche Position haltbar? 74
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§2. Analyse der Grundlagen des transzendentalen Idealismus Husserls Laut Ingarden pflegte Husserl in der Zeit seiner idealistischen Einstellung wiederholt folgende Aussage zu machen: „Streichen wir das reine Bewusstsein, so streichen wir die Welt [...]. Gibt es kein reines Bewusstsein, so gibt es keine Welt [...]. Zurück zu den Sachen, zum Konkreten, nicht Abstraktionen [...]. An das Konkrete heran“ (EPhH, 28).
Es wird oft die These vertreten, dass Husserl in „Die Krisis“ ein neues Seinsgebiet untersuchte, nämlich die sogenannte „Lebenswelt“ (vgl. z.B. Langrebe, L. [1982], 125f; Fellman, F. [1987], 82; Welter, R. [1986] u.a.). Sie soll die große Entdeckung von „Die Krisis“ sein. Ingarden ist jedoch damit nicht einverstanden, weil die „Lebenswelt“ – seiner Ansicht nach – nichts anderes als die „Welt der natürlichen Einstellung“ in den „Ideen I“ ist (vgl. SPhH, 438f). Hier sind natürlich einerseits schwierige politische Umstände in Nazi-Deutschland und in Europa kurz vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges gemeint (vgl. z.B. Bernet, R. u.a. [1989], 223f), andererseits handelt es sich auch um private (vor allem gesundheitliche) Probleme Husserls (vgl. Ingarden, R. [1968a], 183f). 74
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46 Nun ist dies deutlich eine „idealistische“ Aussage, die sich gegen realistische Position richtet. Darum kann sich auch unser Autor, der sich als „Realist“ versteht, damit nicht zufrieden geben. Mit dieser Aussage kommt nur eine der zahlreichen kontroversen Stellen der Philosophie Husserls zum Vorschein. Aus dem bereits Ausgeführten ergibt sich, dass es im Streit zwischen Idealismus und Realismus nicht um die Frage geht, ob reale und speziell materielle Welt überhaupt existiert, sondern vielmehr darum, ‚in welcher Weise’ die Welt existiert und ‚in welchem Seinsverhältnis’ sie zu den Bewusstseinsakten steht (vgl. SPhH, 277). Während wir im vorangehenden Abschnitt darzustellen versucht haben, was nach Ingarden unter dem transzendentalen Idealismus Husserls zu verstehen sei und in welchen Phasen er verlaufe, wollen wir im Folgenden seine Grundlagen untersuchen, d.h. diverse einzelne Aspekte der idealistischen Position Husserls schwerpunktmäßig mitsamt deren Hintergründen kritisch prüfen vor allen Dingen aber insofern, als diese von unserem Autor als Motive behandelt werden, die Husserl zum transzendentalen Idealismus geführt hätten. Mit anderen Worten: Wir richten uns in erster Linie keinesfalls 76
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Im Verlaufe unserer weiteren Untersuchung werden wir noch sehen, dass Ingarden in seiner eigenen Konzeption hinsichtlich der Husserlschen Position viele spezielle Termini verwendet, etwa „Idealistischer Abhängigkeitskreationismus“ (vgl. SEW I, 146). Vgl. Küng, G. (1995), 46. Vgl. auch Gierulanka, D. u.a. (1964a), 477. Dass die reale Welt aus subjektiven Bewusstseinsoperationen hervorgeht, ist nach Ingarden der ‚Kerngedanke’ einer Mehrzahl der idealistischen Systeme - besonders der nachkantischen Prägung (vgl. SEW I, 154). Ingarden selbst ist der Ansicht - wie wir das noch sehen werden -, dass die Bestimmung des Verhältnisses zwischen der realen Welt und dem reinen Bewusstsein vor allem dadurch erfolgen soll, dass die Struktur des Wesens, das Modus des Existierens und die Eigenschaften des (entsprechenden) Gegenstandes geklärt werden (vgl. Ingarden, R. [1963], 588). Was die Ursprünge der kritischen Auseinandersetzung Ingardens selbst mit Husserl angeht, sind Ingardens persönliche wissenschaftliche Gespräche mit seinem Meister nicht ohne Bedeutung. Es handelt sich also um regelmäßige Besuche Ingardens bei Husserl. In „Erinnerungen an Husserl“ schreibt Ingarden: „Zwischen Husserl und mir gestalteten sich aber die Beziehungen jetzt viel näher [...]. So begann ich, Husserl nach
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47 nach den in der heutigen Husserl-Forschung geltenden Maßstäben, sondern entnehmen diese hauptsächlich Ingardens Analysen in einem möglichst kritischen Verfahren. 80
a. „Philosophie als strenge Wissenschaft“ Ein paar Jahre nach dem Erscheinen der „Logischen Untersuchungen“ beginnt Husserl mit der Ausarbeitung seiner reinen (bzw. transzendentalen) Phänomenologie. Er nimmt darin Grundprobleme der klassischen Philosophie der Neuzeit auf – in der Absicht, nicht den Anschluss an die Tradition zurückzugewinnen, sondern deren Fragestellungen in einer nicht mehr zu überbietenden Weise zu radikalisieren. Denn der sichere Gang einer Wissenschaft, wie ihn Kant für die Philosophie als dringlich erachtet hatte, war bislang nicht erreicht worden. Das sollte dank der Phänomenologie geschehen. Darum muss nach Husserl Philosophie als transzendentale Weltwissenschaft in gänzlich anderem Sinne als profane Wissenschaften verstanden werden; sie soll nicht nur deren Wissen anders und tiefer begründen, als es mit den eigenen Mitteln der Wissenschaften geschehen kann, sondern sie hat auch sich selbst eine Begründung zu geben und diese als Selbstbegründung kritisch zu rechtfertigen (vgl. SPhH, 150, 162). Erst dadurch kann die Philosophie als Garant für ein letztes Wissen um die absolute Subjektivität gelten, in der die Quelle jedweder Objektivität liegt, d.h. sowohl die Quelle von Gegenständen der Bewusstseinserlebnisse aller Art als auch jedes auf diese Gegenstände bezogene Wissen, mithin die Quelle aller Wissenschaften (vgl. SPhH, 173). Husserl schreibt: 81
jeder Vorlesung nach Hause zu begleiten, bald aber bildete sich die Gewohnheit, dass ich Husserl fast jeden Abend besuchte, um gemeinsam zu philosophieren“ (vgl. Ingarden, R. [1968b], 120). Das, worauf in der heutigen Husserl-Diskussion unabdingbar hingewiesen werden muss (d.h. die für die heutige Husserl-Forschung relevanten Aspekte) und was bei Ingarden fehlt, wird in 3 (Kap. I) signalisiert werden. Vgl. Ströker, E. (1987), 55f. Bereits 1911 hatte Husserl den Aufsatz „Philosophie als strenge Wissenschaft“ in der Zeitschrift „Logos“ veröffentlicht. 80
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48 „Die Philosophie gilt mir, der Idee nach, als die universale und in radikalem Sinne „strenge“ Wissenschaft. Als das ist sie Wissenschaft aus letzter Begründung, oder, was gleich gilt, aus letzter Selbstverantwortung, in der also keine prädikative oder vor prädikative Selbstverständlichkeit als unbefragter Erkenntnisboden fungiert“. 82
Wissenschaft bedeutet für Husserl in erster Linie ein unermüdliches Anfangen an den Ursprüngen allen Philosophierens, d.h. ein Aufheben unmittelbarer Intuition, die den letzten Sinn aller ursprünglichen Begriffe und aller Prinzipien liefert und damit das Fundament für philosophisches Denken überhaupt schafft. Die Husserlsche These von der „Philosophie als strenger Wissenschaft“ gilt für Ingarden als eines der Motive, die Husserl zum transzendentalen Idealismus geführt haben. Sie steht im engen Zusammenhang mit Husserls kritischer Stellung zu der europäischen Philosophie in ihrer faktischen Gestalt. Husserl, der von der Mathematik her zur Philosophie gekommen ist, verurteilt damit nicht nur die Vielheit von existierenden philosophischen Standpunkten unter den Philosophen, sondern auch die Art und Weise, wie man innerhalb einzelner Systeme mit Hilfe von ungeklärten Begriffen philosophiert, unbegründete Sätze aufstellt, sich um die Konstitution von Systemen als geschlossenen theoretischen Einheiten bemüht, ohne sich Gedanken über deren Bezug zur Wirklichkeit zu machen (vgl. SPhH, 268f). Durch die Einführung der „Philosophie als strenger Wissenschaft“ beabsichtigt Husserl einen „festen Boden“ in der Philosophie zu gewinnen. Erkenntnistheoretisch formuliert geht es ihm darum, in der Philosophie eine Erkenntnis zu erzielen, die in keiner Weise angezweifelt werden kann, mithin in ihrer Geltung und Sicherheit „absolut“ ist. Eine solche Erkenntnis zu entdecken und zugleich eine Methode zu finden, die ihre Gewinnung und ihren Gebrauch gewährleisten würde, ergibt sich aus der Forderung nach der „Philosophie als strenger Wissenschaft“ (vgl. SPhH, 282f). Diese Philosophie soll nach Husserl eine Wissenschaft mit 83
Husserl, E. (1965), 7. Es geht also um die Philosophie um die Jahrhundertwende, d.h. Empirismus, Psychologismus, Pragmatismus usf. Für Husserl stellen diese Denkrichtungen mit ihren relativistischen und skeptizistischen Einstellungen den „Methodenverfall des Philosophierens“ dar (vgl. SPhH, 159f.; auch vgl. Bouzid, K. [1999], 11). 82 83
49 speziellen formalen Eigenschaften sein; sie soll eine ‚absolute Erkenntnis’ liefern, deren Absolutheit sie selbst aufzuweisen hat. Im Unterschied zu allen übrigen Wissenschaften soll sie in dem Sinne absolut sein, dass sie keine Lücken zulässt, weder im Verstehen ihrer Begriffe noch in deren Begründung. Sie soll somit eine ‚universelle Wissenschaft’ sein, welche die letzten Fundamente für jedes Wissen überhaupt sichert, eine „philosophia prima et ultima“ (vgl. SPhH, 162). Husserls Übergang zur Auffassung der „Philosophie als strenger Wissenschaft“ vollzieht sich in einem engen Zusammenhang mit seinen Einzelanalysen, behauptet Ingarden und weist auf die Problematik der ‚immanenten Wahrnehmung’ hin (vgl. SPhH, 150, 314). Das ist darauf zurückzuführen, dass Husserl sich nach den „Logischen Untersuchungen“ einerseits mit erkenntnistheoretischen Problemen befasst, vor allem mit dem Problem äußerer Wahrnehmung, andererseits mit den Fragen, die sich auf Gegenstände der realen Welt beziehen – in der Sprache Kants ausgedrückt: Form der Welt (d.h. Raum und Zeit). Da für Husserl klar ist, dass äußere Wahrnehmung keine unbezweifelbare Erkenntnis liefern könne, stellt er die Frage, ob sich eine solche Erkenntnis nicht in der ‚immanenten Wahrnehmung’ gewinnen lasse. Deshalb hat das rein methodologische Ideal der „Philosophie als strenger Wissenschaft“, deren Ergebnisse unzweifelhaft sein sollten, einen Übergang vorbereitet zu einer ihrem Wesen nach metaphysischen Lösung, nämlich zum transzendentalen Idealismus (vgl. SPhH, 284f). Die „Philosophie als strenge Wissenschaft“ hat bei Husserl auch einen „programmatisch-postulativen“ Charakter, d.h. eine solche Philosophie will er tatsächlich verwirklichen. Husserl ist davon überzeugt, dass ihre Realisierung nur dann denkbar ist, wenn die Philosophie das eidetische Wissen um das reine Bewusstsein und dessen intentionale Korrelate ausmacht, d.h. ein Wissen, das schließlich in der immanenten, eidetisch eingestellten Wahrnehmung erworben wird. All dies bringt für Ingarden dennoch diverse Schwierigkeiten mit sich. Unser Autor fragt: Dürfen wir glauben, dass wir durch diese immanente 84
Hier ist ein Hinweis relevant, nämlich Husserl war der Schüler von Brentano, der den Begriff der ‚immanenten Wahrnehmung’ eingeführt hatte.
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50 Wahrnehmung der Erkenntnisakte zur Erkenntnis ihrer Gegenstände gelangen? Im Falle der realen Welt sind jedoch diese Gegenstände vor allem materielle Dinge, welche (auch nach Husserl selbst) unmittelbar dem Subjekt gegeben sind, das die Akte äußerer Wahrnehmung vollzieht. Diese Akte sind der (äußeren) Wahrnehmung gegenüber transzendent und können wesenhaft nicht anders als durch ihren Vollzug zur Gegebenheit kommen. Und das bedeutet, dass sie nicht in der immanenten Wahrnehmung gegeben sein können. Wenn also „Philosophie als strenge Wissenschaft“ die in immanenter Wahrnehmung durchgeführte Phänomenologie von reinen Bewusstseinserlebnissen (Akten) sein soll, dann müssten die Gegenstände der realen Welt, insbesondere aber räumliche (materielle) Dinge außerhalb der Forschungsdomäne der (so aufgefassten) Philosophie verbleiben. Auf welche Weise soll die Phänomenologie dann etwas über räumliche physische Dinge behaupten, d.h. etwas über deren Seinsweise, Seinsverhältnis zu dem reinen Bewusstsein, Abhängigkeit von den Verläufen der Wahrnehmungsakte? (vgl. SPhH, 310f). Ingarden ist schließlich der Ansicht, dass der subjektiv ausgerichtete Aspekt der Untersuchungen bei Husserl zu stark hervorgehoben wird. Das heißt, während sich Husserl weigert, etwas dogmatisch von Erkenntnisgegenständen zu behaupten, gerät er in eine entgegengesetzte Position, nämlich, den konstituierten Gegenstandssinn im Erkenntnisprozess lediglich als Erzeugnis der Akte aufzufassen. Folglich werden analysierte Gegenstände im voraus ‚ausschließlich als intentionale Korrelate dieser Akte’ betrachtet, welche in diesen Akten bloß ihr Seinsund Soseinsfundament haben (vgl. SPhH, 313). Trotz prinzipieller Kongruenz bezüglich der Interpretation der Husserlschen Auffassung der „Philosophie als strenger Wissenschaft“ zwischen Ingarden und anderen Husserl-Forschern müssen wir allerdings auf einige Sachverhalte kritisch hinweisen. 85
Auf diese Schwierigkeit bzw. die Unmöglichkeit dessen, was Husserl behauptet, weisen auch viele andere Husserl-Forscher hin. Hier sei etwa E. Ströker (vgl. [1987], 59f) genannt. Ihr Vorwurf lautet: Erkenntnis ist bei Husserl mit dem „Rätsel der Transzendenz“ behaftet. Das Problem der Erkenntnis ist nicht einfach das Problem von Akt und Gegenstand, sondern wesentlich ein Problem der Relation zweier Arten von Gegenständlichkeit und der Beziehbarkeit der einen auf die andere. 85
51 Ingardens Interpretation fehlt m.E. eine breitere geschichtlich bezogene philosophische Grundlage, d.h. wir finden bei ihm keinen detaillierteren Rückgriff weder auf die griechische noch auf die spätere – vor allem Kantische – Philosophie. Indessen haben bereits die Griechen nicht nur den „Geist“ entdeckt, sondern sie sind auch für das europäische Denken in Philosophie und Wissenschaft maßgeblich, was viele andere HusserlForscher mit Recht betonen. Die Relevanz des Verhältnisses zwischen Husserl und Kant hingegen braucht hier – wegen ihrer allgemeinen Bekanntheit in philosophischen Kreisen – im Hinblick auf das „Element des Transzendentalen“ nicht erörtert zu werden (indes vgl. 2§3a [Kap. II]). Auch Ingardens mehrfache Behauptung, welche der sich vermöge äußerer Wahrnehmung vollziehenden Erkenntnis bei Husserl nur eine belanglose Rolle zuschreibt, scheint problematisch. Dagegen tritt beispielsweise D. Bell auf, indem er schreibt: 86
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„Husserl never doubted that we possess objective knowledge, and he never attempted to rebut a scepticism intended to induce such doubt. His problem was, rather, to make intelligible our possession of such knowledge, given the apparent subjektivity of the mental processes that it rests upon”. 88
In diesem Zusammenhang müssen wir bereits signalisieren: Ingardens Rede über den transzendentalen Idealismus Husserls mangelt es auch an einer deutlichen begrifflichen Präzisierung dieser Problematik. In der neueren phänomenologischen Debatte wird indessen immer öfter die These vertreten, dass es sich bei Husserl einfach um ‚Solipsismus’ handelt, 89
Ingarden beruft sich offensichtlich manchmal auf Aristoteles, Kant oder einen anderen bedeutenden Denker. Dennoch tut er dies m.E. jeweils nur oberflächlich. Vgl. etwa Aristoteles, Met. VI (E) 1 f., auch I (A) 1 f. u.a. Philosophie wird als „erste Wissenschaft“ gedeutet. Vgl. auch Becke, A. (1999), 60f. Was das Verhältnis zwischen Husserl und Kant in diesem Zusammenhang angeht, vgl. dazu etwa Seifert, J. (1987), 139f. Er hebt gewisse Ähnlichkeiten zwischen beiden Denkern hervor. Auch Gumpel, L. (1995); die Autorin versucht aufzuweisen, dass Ingardens Phänomenologie zum Verständnis der kritischen Philosophie Kants beiträgt. Bell, D. (1990), 160. Wie der Begriff in der vorliegenden Abhandlung zu verstehen ist, vgl. die Einleitung. 86
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52 d.h. eine Art Idealismus, die nichts anderes als sicher gegeben anerkennt als den Akt des Denkens und das eigene Subjekt. Abschließend stellt sich die Frage: Was ist für Husserl eine Garantie der Möglichkeit der „Philosophie als strenger Wissenschaft“? Wir werden sehen, dass dies die transzendentale Reduktion leisten soll. 90
b. Die transzendentale Reduktion: Phänomenologie in der Epoché ‚Die transzendentale Reduktion ermöglicht erst wahren Radicalism, wahre Freiheit’, schreibt Husserl eines Tages an seinen Schüler aus Krakau. Inwiefern und wie Ingarden diese Behauptung seines Meisters verstanden hat, soll im Folgenden geprüft werden. Für den radikal Philosophierenden, der eine absolut letztbegründete Wissenschaft aufbauen will, gibt es nichts, so Husserl, was er als ‚selbstverständlich’ anerkennt. Vielmehr muss er sich selbst einen Ausgangspunkt verschaffen und vor allem eine Methode finden, dank welcher sich die Idee einer voraussetzungslosen Wissenschaft verwirklichen lässt. Im Gegensatz zu Descartes, der keinen anderen Weg von „ego cogito“ zu der Selbst- und Welterkenntnis als den über das transzendentale Dasein Gottes gebahnt hat, führt Husserl eine eigenartige Selbstbesinnung, einen als methodisch erfassten Rückgang auf die transzendentale Subjektivität ein. Damit wird die phänomenologische Epoché entworfen, also die „universale Infragestellung der Welt“ überhaupt, welche die Gesamtheit der Welt in Klammern setzt und die Letzt-Begründung allen Wissens enthüllt. 91
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Vgl. Santaler, J. (1996), 365. Vgl. Husserl, E. (1968), 80. Was Ingarden Husserl zufolge nicht verstanden haben soll, ist der tiefere Sinn der konstitutiven Phänomenologie (vgl. ebd.). Vgl. Hua I, 4; auch Hua Dok II/2, 136. An dieser Stelle muss bereits eine begriffliche Klärung vollzogen werden: Durch die phänomenologische Epoché wird ‚reines Bewusstsein (B) zugänglich’, das Husserl auch als „transzendentales B“ bezeichnet. Deshalb heißt die Operation, durch die das transzendentale B gewonnen wird, „transzendentale Epoché“. Weil diese Operation der „Ausschaltung“ (oder „Einklammerung“) schrittweise verläuft, spricht Husserl auch hinsichtlich ihrer Gesamteinheit von „phänomenologischer Reduktion“ (R). In der Epoché erscheint nun 90 91
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53 Ingarden differenziert bei Husserl – übereinstimmend mit der philosophischen Tradition – zwischen der transzendentalen und eidetischen Reduktion und bestimmt zunächst deren Verhältnis zur Psychologie, da Phänomenologie eine Wissenschaft vom Bewusstsein ist, mit dem sich auch andere Wissenschaften – vor allem die Psychologie – befassen. Daher ist Psychologie eine empirische Wissenschaft von den Menschen als „psychisch-physischen Realitäten“, Phänomenologie hingegen ist keine empirische Wissenschaft. Während es Psychologie mit Erlebnissen als Äußerungen des realen (psycho-physischen) Individuums zu tun hat, befasst sich Phänomenologie dagegen mit Erlebnissen, die von der Auffassung „gereinigt“ sind, dass sie Realitäten innerhalb der Welt sind. Damit diese Reinigung durchgeführt werden kann, sind ‚gewisse technische Mittel erforderlich, nämlich die (phänomenologische) transzendentale Reduktion. Wenn man aber von den Realitäten selbst, welche aufgrund der transzendentalen Reduktion keine Realitäten innerhalb der Welt mehr sind, weil sie bereits ihre Bewusstseinsunabhängigkeit verloren haben, zu deren Wesen kommen will, muss man eine Einstellung auf das Wesen hin vollziehen. Das ermöglicht die eidetische Reduktion’ (vgl. EPhH, 187f; auch SFPh, 94f), auf die wir erst im nächsten Abschnitt zu sprechen kommen. Im Folgenden geht es nur um die transzendentale Reduktion. 93
alles (die ganze Welt) nicht außerhalb, sondern innen im B. So gelangt die Phänomenologie „zu den Sachen selbst“ (vgl. Becke, A. [1999], 43f). Die phänomenologische R wird daher transzendentale R genannt. Von der Vielfalt reduktiver Maßnahmen unterscheidet sich die transzendentale R in ihrer Einzigartigkeit grundlegend und ist deshalb sprachlich nur im Singular verwendbar (vgl. Ströker, E. [1987], 65). Mit anderen Worten: Bei Husserl treten zwei Begriffe der Reduktion (Einklammerung/Epoché) (R) auf, die aufs engste mit der phänomenologischen Methode verbunden sind: (1) Eidetische R – sieht von aller Existenz des Ich, der erfassenden Akte und der Gegenstände ab und betrachtet nur deren Wesen (Eidos) in seiner ganzen Konkretion; (2) Phänomenologische (transzendentale) R – hier wird die Bewusstseinsunabhängigkeit dieser Inhalte ausgeschaltet (vgl. auch z.B. Coreth, E. u.a. [1993], 17f). 93
54 In der 8. Osloer Vorlesung finden wir eine gewichtige Bemerkung Ingardens, die uns verdeutlicht, wie unser Autor zu der phänomenologischen Methode generell eingestellt war: „Er [Husserl] wusste, dass ich kein Freund der Reduktion bin, und er war in unserer Korrespondenz sehr traurig, dass ich seine Forderung nach der Durchführung der Reduktion nicht mitmachen konnte, obgleich er die Bedeutung der Reduktion immer wieder betonte. Über einige Jahre, zwischen 1928 und 1933, zieht sich der Briefwechsel hin, [...], und da schreibt er [Husserl] immer ungefähr so: „Wenn Sie die transzendentale Reduktion mitmachen, dann erst haben Sie den Weg zur Philosophie offen. Solange man dies nicht tut, bleibt man nur an der Pforte der Philosophie stehen“ (EPhH, 211).
Diese negative Einstellung Ingardens zur Husserlschen Methode ergibt sich m.E. zum einen daraus, dass unser Autor – trotz prinzipieller Akzeptanz der Möglichkeit der transzendentalen Reduktion – skeptisch bleibt, ob die Reduktion tatsächlich das leistet, was Husserl sich von ihr erhofft (vgl. EPhH, 208). Zum anderen hält Ingarden die phänomenologische Reduktion auch für eines der Motive, die Husserl zum transzendentalen Idealismus geführt haben. Nun ist die Frage: Was erhofft Husserl von der transzendentalen Reduktion? Als Ausgangspunkt bei der Formulierung einer Antwort kann Folgendes gelten: „Ich als Person bin ein Teil eines Ganzen, das wir Welt nennen. Ich gehöre zu dieser Welt, ich bin von dieser Welt abhängig. Diese Welt, in der ich mich befinde, existiert ständig, ob ich es wahrhaben will oder nicht“. Die Überzeugung von der Existenz der Welt setze ich aufgrund der transzendentalen Reduktion „außer Aktion“, ich „klammere sie ein“; in den Klammern bleibt nunmehr die Welt mit ihrem Wirklichkeitscharakter. Mit anderen Worten: Das Bezweifelbare (die Welt) wird reduziert und das Unbezweifelbare (das reine Bewusstsein) bleibt als „Residuum“ übrig. Dennoch ist die transzendentale Reduktion kein Negieren der Existenz der Welt. Sie ist vielmehr eine ‚Operation oder Verhaltensweise des reinen Ich im Bewusstsein’ (vgl. EPhH, 199f; SPhH, 167, 379), wobei das Ich selbst 94
Wie andere Husserl-Forscher (z.B. Fink, E. [1966], 12) spricht auch Ingarden von der Reduktion als „Aufhebung der Generalthesis“ (vgl. EPhH, 200f). Ingardens These, dass die transzendentale Reduktion kein Negieren der Existenz der Welt sei, wird etwa 94
55 nicht unter die Klausel der Reduktion fällt, weil es zur Struktur des Bewusstseins gehört (vgl. EPhH, 227). Strukturell gesehen ist die transzendentale Reduktion nicht nur ein Akt, in dem sie (d.h. die Reduktion) vollzogen wird, sondern auch zugleich eine Entscheidung. Ihr Zweck ist die Enthüllung eines neuen Seinsgebietes individuellen Seins, d.h. des Seinsgebietes des reinen Bewusstseins, meines reinen Ich (vgl. EPhH, 216f). Der Akt der Enthüllung des reinen Bewusstseins geht mit einer Vielfalt von Empfindungsdaten (d.h. hyletischen Daten ) zusammen und bildet mit ihnen eine gewisse Einheit. Vermöge der Reduktion sollen auch diese Daten zur Entdeckung gebracht werden. Darüber hinaus soll nach unserem Autor noch das sogenannte „Cogitatum“ (d.h. das „Noema“, das „Vermeinte“) entdeckt werden. Das Vermeinte ist etwas, was unabtrennbar vom Akt und von den Empfindungsdaten existiert. Es ist nichts separat für sich Existierendes, obwohl es dem Akte selbst und den Empfindungsdaten gegenüber transzendent ist. Transzendent ist zunächst das wahrgenommene Ding, also Physisches, Räumliches, Gegebenes. Wenn ich die Reduktion 95
von D. Bell (vgl. [1990], 166f) bestätigt. Bezugnehmend auf die transzendentale Reduktion spricht Bell zudem einerseits (allerdings aus einer breiteren Sicht) von einem Widerspruch bei Husserl: „So here at the very threshold of transcendental phenomenology there is an apparent contradiction: we are told that reference to our own mental acts is forbidden, but also that it is mandatory. If this apparent contradiction cannot be resolved, then ‘transcendental phenomenology’ as Husserl conceived it is a nonsense. Resolution, for its part, requires that we find an acceptable sense in which it is true that (1) Reference to myself, my mental acts and their contens is outlawed by the transcendental reduction, while at the same time there is a sense in which it is true that (2) Reference to myself, my mental acts and their contents is all that is allowed by the transcendental reduction” (ebd., 167f). Andererseits hebt Bell ein sachliches Verhältnis zwischen Husserl (vgl. „Logische Untersuchungen”) und Frege (vgl. „Begriffschrift“) hervor, d.h. für den Gedankengang beider Philosophen ist der Unterschied zwischen ‚Einklammerung und Urteil’ auf der einen Seite und ‚Verneinen bzw. Negation’ auf der anderen relevant (vgl. ebd., 165f). Was hyletische Daten sind, vgl. Fußnote 60. 95
56 durchführe, bleibt alles als dasselbe weiter bestehen, und dennoch ist es schon „Noema“ (vgl. SPhH, 216f; EPhH, 241f). Die transzendentale Reduktion soll uns daher den erkenntnismäßigen Zugang zur Erfassung des reinen Bewusstseins seinem Wesen nach ermöglichen. Erst sie kann uns zu entscheiden erlauben, was reelles Bestandstück des reinen Bewusstseins sei und was nicht; sie allein kann die Entscheidung über die Reichweite ihrer selbst ermöglichen (vgl. EPhH, 231). Nachdem wir diese Reduktion vollzogen haben, befinden wir uns nun „ipso facto“ auf dem Boden des reinen transzendentalen Bewusstseins, auf dem man nicht nur alle erkenntnistheoretischen Untersuchungen durchführen, sondern auch einräumen muss, dass jedes (reale, ideale oder auch rein intentionale) Sein aus dem Wesen der Operationen (Akte) des reinen Bewusstseins abzuleiten ist (vgl. SPhH, 286). Zu dem reinen Bewusstsein, das als „Residuum“ nach der Durchführung der transzendentalen Reduktion übrig bleibt, gehören also der intentionale Akt, die Empfindungsdaten, die sich darauf aufbauenden Ansichten (Abschattungen) verschiedener Stufen und der gegenständliche Sinn (das [vermeinte] Ding-Noema) (vgl. EPhH, 235). Mit einem Beispiel erklärt Ingarden, was unter dem vermeinten (erscheinenden) Ding zu verstehen sei, und erhellt somit weiterhin die Problematik der transzendentalen Reduktion: 96
97
„Wenn man [...] Ansichten in der natürlichen Einstellung erlebt, dann ist ein Ding gegeben, z.B. diese Uhr [...], sie ist ein physisches Ding [...]. Und jetzt führe ich die Reduktion durch. Dann bleibt diese Uhr [...] weiter im Blickfeld, obwohl ich die Reduktion vollzogen habe [...] Es bleibt alles, wie es war, es fällt nichts fort. Aber das Ding selbst habe ich reduziert, ich darf jetzt darüber nichts aussagen. Was bleibt, was mir zugänglich ist, ist das ‚Phänomen’ der Uhr, und zwar Phänomen nicht im Sinne dieser oder jener
Auch vgl. Ingarden, R. (1968b), 128. Das Noema ist also nur ‚ein vermöge der Sinngebungen entstehender Überbau des Sinnes’, der sich über den Mannigfaltigkeiten der Empfindungsdaten erhebt. Dank der phänomenologischen Reduktion konnte Husserl die Gefahr einer „petitio principii“ in der Erkenntnistheorie beseitigen. Vgl. aber Fußnote 28. Sowohl diese Problematik als auch die des Bewusstseins werden wir später in einem eigenen Abschnitt behandeln. 96
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57 Ansicht, sondern der Sinn dieser anschaulich bzw. wahrnehmungsmäßig vermeinten Uhr“ (EPhH, 234).
Die transzendentale Reduktion bei Husserl ist nichts anderes als eine gewisse „reservatio mentis“ in Bezug auf die Existenz und das Sosein des zur Welt Gehörenden, insbesondere realen Dinges (vgl. EPhH, 243); sie gilt für Husserl als „conditio sine qua non“ seiner ganzen philosophischen Betrachtung (vgl. SPhH, 217). Die phänomenologische Epoché als bloße Urteilsenthaltung bzw. Ausschaltung der realen Welt führt dazu, dass der Ausschaltende den Übergang von den Gegenständlichkeiten der realen (oder irgendeiner anderen) Welt zu den bloßen Gegenstandsphänomenen vollzieht. Die Reduktion soll uns auch zu erfassen erlauben, dass die Gegenstandssinne einerseits die Korrelate bestimmter Noesen (d.h. bestimmter Intentionseinheiten des reinen Bewusstseins) sind, andererseits aber zugleich auf dem Untergrund bestimmter – aber wechselnder und mannigfacher – Ansichten (bzw. Abschattungen) erscheinen, welche im Hinblick auf ihre Funktion den Gegenstandssinnen gegenüber auch „Erscheinungen“ von diesen zu nennen sind (vgl. SPhH, 241f). Infolge der Reduktion bekomme ich also reiches Material von (oft) zusammengewachsenen Phänomenen, aus denen ich alles herauslesen und sie analysieren muss. Sobald ich die Reduktion in Bezug auf meine Umwelt (reale Welt) durchführe, bin ich mir gleich bewusst, dass ich nicht schlechthin mit Dingen zu tun habe, welche ich wahrnehme, sondern mit Dingen, die durch „Abschattungen“ erscheinen, welche ich mir dann (nach dem Vollzug der Reduktion) zum Bewusstsein bringe, selbst wenn die Abschattungen keinesfalls das Ding selbst sind (vgl. EPhH, 247f). Die Frage ist weiterhin: Wie ist das Ergebnis der Durchführung der transzendentalen Reduktion zu bewerten? Diese Methode der phänomenologischen Analyse ist weder „allmächtig“ noch hinreichend, um eine Philosophie aufzubauen, wie sie Husserl denkt (vgl. SPhH, 235). Nach Ingarden ist die ‚phänomenologische Reduktion keine reine Ausschaltung der realen Welt, sondern sie ist von vornherein in den Cartesianischen „Zweifelsversuch“ verwickelt’ (vgl. SPhH, 243). Abgesehen davon, dass viele wertvolle Analysen des Bewusstseins durchgeführt worden sind, hat diese Methode Husserl zum ‚transzendentalen Idealismus verholfen’ (vgl. SPhH, 272).
58 Da die phänomenologische Reduktion eine sachliche Entscheidung des Problems des Seinsverhältnisses der Welt und anderer Seinsgebiete zum Bewusstsein unvermeidlich nach sich zieht, obwohl sie als eine bloß methodische Maßnahme die Möglichkeit offen lassen sollte, zu allen Lösungen dieses Problems zu gelangen, wird damit eine ‚idealistische Lösung aufgezwungen’. Der Gewinn einer Lösung sollte nur von den Wesenstatsachen abhängen, die man entdecken kann, ohne irgendwelche Voraussetzungen über Struktur, Seinsweise und Eigenschaften der in Betracht kommenden Gegenstände und ganzen Gegenstandsgebiete im voraus anzunehmen. Die phänomenologische Reduktion bei Husserl bringt aber ‚sachlich nicht geklärte’ Voreingenommenheiten mit sich, welche eine rein sachliche Erforschung der Wesenstatsachen undenkbar machen. In diesem Zusammenhang entsteht deshalb eine elementare Schwierigkeit: Wie ist es möglich, einen Gegenstand zu analysieren, dabei von keinem begründeten Wissen über diesen Gegenstand Gebrauch zu machen und zugleich den Erkenntniskontakt mit der Wirklichkeit nicht zu verlieren, auf die sich die betreffende Erkenntnis bezieht? Darüber hinaus führt die transzendentale Reduktion bei Husserl (bekanntlich) zu den Sätzen über reale Gegenstände, ob sie eine realistische oder idealistische Entscheidung voraussetzen (vgl. SPhH, 314f). Das ist aber falsch, stellt Ingarden fest, da wir damit gegen die richtige Methode der Erkenntnistheorie verstoßen (vgl. SPhH, 319). Während die Ingardensche Interpretation der transzendentalen Reduktion im Allgemeinen einen einleuchtenden Charakter aufzuweisen scheint, mangelt es m.E. jedoch im Besonderen im Vergleich mit den Ergebnissen der neueren phänomenologischen Debatte zumindest am Folgenden: (1) Erstens stellt Ingarden die Struktur des Vollzugs der transzendentalen Reduktion nicht hinreichend dar, indem beispielsweise die Stadien dieser Reduktion klar auseinander gehalten würden. Denn die Verfahrensweise 98
Vgl. dazu auch Bruzina, R. (1997), 75-94. Bei der Problematik der transzendentalen Reduktion kommt also die Verschiedenheit der Positionen (im Sinne „RealismusIdealismus“) zwischen Ingarden und Husserl besonders deutlich zum Vorschein. Denn Husserl erblickt (im Gegensatz zu Ingarden) im ‚ontologischen’ Ansatz die Quelle der „philosophischen Naivität“ und hofft, durch die transzendentale Reduktion alle ontologischen Strebungen zu eliminieren. 98
59 der transzendentalen Reduktion ist zunächst ein Prozess des „Außer-sichseins“ (der Aufhebung der welthaften Menschlichkeit), sodann des „Fürsich-Werdens“ (des Zusichkommens der konstituierenden Subjektivität) und letztlich des „Für-sich-Werdens eines Für-sich-Werdens“ (der Phänomenologie der Phänomenologie). Diese dreifache Struktur der phänomenologischen Epoché bildet den inneren dynamischen Bau des Selbsterschließens der transzendentalen Subjektivität; (2) Zweitens wird die Frage nach der Motivation zum Vollzug der phänomenologischen Epoché und Reduktion nur unvollständig und undifferenziert behandelt - in dem Sinne, dass z.B. zwischen der Motivation im Aufsatz „Die Idee der Phänomenologie“ (1907) (= Bedürfnis nach einer Aufklärung des Problems der Erkenntnismöglichkeit) und der in den „Cartesianischen Meditationen“ (= Suche nach einer letzten Sinnaufklärung der Welt) nicht deutlich unterschieden wird. Angesichts der Tatsache, dass wissenschaftliche Äußerungen über Phänomene aufgrund der phänomenologischen Reduktion keineswegs erlaubt sind, wie sich dies auch aus diesem Abschnitt ergibt, kommt Husserl dazu, dass die Erforschung des Bewusstseins nicht Erfahrungs-, sondern ‚Wesenswissenschaft’ sein solle, und nur als ‚Wesensforschung’ zu wissenschaftlichen Ergebnissen gelangen könne. 99
Vgl. Huang, W.H. (1998), 31f. Darüber hinaus könnte man bei Husserl - was Ingarden nicht deutlich macht – etwas differenzierter vom ‚Weg der phänomenologischen Epoché’ reden, d.h.: (1) von „cartesianischem“ Weg (aufgrund der hervorragenden Bedeutung von „Meditationes de prima philosophia“ [eines Descartes]); (2) von „ontologischem“ Weg (bzw. „kantischem“- im Sinne Kants „Kopernikanischer Wendung“ von der alten ontologischen Thematik zur transzendentalen Sinnesdeutung der Welt als Welt der möglichen Erfahrung in der „Kritik der reinen Vernunft“; das ist vor allem für Ingardens ontologischen Ansatz von Bedeutung, wie wir es noch später sehen werden); (3) von „empirischem“ Weg (aufgrund der mit dem empirischen Empirismus [von Locke bis Hume] verknüpften Psychologie der „inneren Erfahrung“, die Husserl durch Brentano vermittelt bekam) (vgl. Bernet, R. u.a. [1989], 62f).
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60 c. Die eidetische Reduktion: Zur Wesenslehre in Husserls transzendentaler Phänomenologie Im XXVI. Brief an Ingarden schreibt Husserl etliche aufschlussreiche Sätze, die das Verhältnis zwischen Erkenntnistheorie und Phänomenologie – mit besonderer Berücksichtigung der phänomenologischen Reduktion – veranschaulichen. Demnach gehört die Erkenntnistheorie als „Theorie der Vernunft“ ganz in die Transzendentalphilosophie. In den „Cartesianischen Meditationen“ hingegen hebt Husserl bereits beide Reduktionen deutlich hervor : 100
„So erheben wir uns zur methodischen Einsicht, dass neben der phänomenologischen Reduktion die eidetische Intuition die Grundform aller besonderen transzendentalen Methode ist, dass beide den rechtmäßigen Sinn einer transzendentalen Phänomenologie bestimmen“. 101
In dem bisher Ausgeführten sind wir zu dem Ergebnis gekommen – ständig bedenkend, dass uns die phänomenologische Reflexion Husserls im I. Kapitel insofern interessiert, als sie einen Hintergrund für Ingardens erkenntnistheoretische Denkweise darstellt -, dass Ingarden der phänomenologischen Reduktion Husserls gegenüber eher eine zurückhaltende Einstellung vertritt. Er schreibt an einer anderen Stelle: „Everything is already decided if it is not allowed [...] to take a course, in which, having analyzed all the constitutive processes under the clause of a phenomenological reduction, at a certain moment the reduction would be, as it were, recalled, so that, instead of inquiring into the sense of existence one could again […] inquire into existence itself, instead of analyzing the sense of an object one could inquire into the object itself […]”. 102
Wie steht es mit der eidetischen Reduktion? Selbst wenn unser Autor die eidetische Reduktion unter den unmittelbaren Faktoren, die Husserl zum Husserl, E. (1968), 35. In der heutigen phänomenologischen Debatte wird auch von „abstrakter“ Reduktion bei Husserl gesprochen (vgl. dazu 3 [Kap. I] der vorliegenden Abhandlung). Hua I, 106. Dazu vgl. etwa Tugendhat, E. (1967), 137f; Kern, I. (1975), 273f. Beide Autoren akzentuieren die Bedeutung dieser Reduktionen für die Husserlsche transzendentale Phänomenologie. Ingarden, R. (1963), 577f. 100
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61 transzendentalen Idealismus geführt haben, nicht aufzählt, ist sie für unsere Abhandlung nicht ohne Bedeutung. Denn sie ist mit diesen Faktoren, insbesondere mit der „Philosophie als strenger Wissenschaft“ und dem Bewusstsein, aufs engste verbunden. Darum machen wir die eidetische Reduktion auch zum Gegenstand unserer Analyse. Wir wissen bereits, dass Husserl die reine Phänomenologie zur ‚Grundwissenschaft’ erheben wollte, weil er mit dem Begriff Phänomen ‚nicht einfach Erscheinung’ meinte, sondern lediglich ‚Bewusstseinsinhalt’, also das, was dem Bewusstsein erscheint. Diese Phänomenologie arbeitet nicht in natürlicher, alltäglicher Einstellung, sondern wendet sich reflektiv an das Bewusstsein und schaltet (in der transzendentalen Reduktion) die sogenannte Außenwelt aus. Dank der phänomenologischen Reduktion gelangt das „Wesen“ (d.h. die reine Erscheinung im Bewusstsein im Unterschied zur „Tatsache“) in den Blick. Die Phänomenologie wird somit zur „Wesensschau“. Während die Phänomenologie die Außenwelt einklammert, bleiben alle anderen Wissenschaften bei ihrer natürlichen Einstellung und befassen sich mit den bestehenden Tatsachen der realen Welt. Die reine Phänomenologie ist für Husserl eine Wissenschaft von den reinen transzendentalen Phänomenen, welche in ‚Wesensreinheit’ gewonnen werden sollen. Diese Reinheit ist ‚nicht bloß diejenige der reinen Reflexion, d.h. die durch die phänomenologische Reflexion ermöglichte, sondern auch zugleich Reinheit im Sinne des Apriori’. Husserls Lehre von der ‚Phänomenologie als Wesenswissenschaft’, also die Lehre von der ‚eidetischen Reduktion’, ist eng mit seiner Auffassung reiner, apriorischer Erkenntnis verknüpft. Die Phänomenologie als eidetische Lehre vom Bewusstsein arbeitet also in der Sphäre der Immanenz (vgl. EPhH, 164). Obwohl Ingarden prinzipiell an die Möglichkeit und an die Idee der Phänomenologie als einer eidetischen Wissenschaft des Bewusstseins glaubt, betont er gleichwohl, dass es sehr schwierig sei, ein solches 103
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Vgl. Becke, A. (1999), 11. Vgl. Hua XXV, 79. Das werden wir vor allem bei der Problematik der Wahrnehmung sehen. 103 104
62 „Programm“ faktisch zu realisieren (vgl. EPhH, 198). Darauf dürfte wohl auch Ingardens eher „sparsame“ Analyse der eidetischen Reduktion Husserls zurückzuführen sein. Die Schwierigkeiten liegen nach unserem Autor vor allen Dingen an der mangelhaften Behandlung der Problematik des Wesens bei Husserl, bei dem wir es mit den ‚verschiedenen Phasen der Auffassung des Wesens sowie den zum Wesen führenden, verschiedenen Auffassungen der Erlebnisse’ zu tun haben. So wird in den „Logischen Untersuchungen“ (der 2. und 6. Untersuchung) zuerst von „Species“ geredet, d.h. von idealer Qualität. Der besondere Akt, in dem die „Species“ erfasst wird, wird „Ideation“ genannt. In seinen späteren Publikationen verwendet Husserl anstelle von „Species“ den Begriff „Wesen“ und „Eidos“, spricht von der „eidetischen Phänomenologie“ und bezeichnet den Akt, in dem das Wesen zum Vorschein kommt, als „Wesensschau“. Bei der Wesenserschauung wird auf ‚Zufälligkeit und Individualität’ dessen verzichtet, was uns in empirischer Erfahrung vorliegt, also auf die Individualität des zufälligen empirischen Dinges. Denn zum empirischen individuellen Ding gehört es, dass es anders sein könnte, dass es nicht so sein muss, wie es ist, und dass es auch in einem anderen Raum und in einer anderen Zeit sein könnte, als es tatsächlich ist. Auf die Welt bezogen - es müsste nicht so eine Welt sein wie diejenige, in der wir leben, eine solche Welt, in der kausale Gesetze gelten, betont Ingarden. Hier entsteht also ein Kontrast zwischen dem individuellen zufälligen Gegenstand, der anders sein könnte, und seinem Wesen, das dem Gegenstand vorschreibt, so zu 105
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Ingarden erleuchtet die „Species“ mit einem Vergleich von zwei weißen Dingen: Beide Dinge sind gleich weiß – in Bezug auf ein bestimmtes Was (das Weiß). Das Weiß ist nicht das Individuelle, das eine oder andere Ding, sondern das ist die ‚Species’, die an den beiden verschiedenen Fällen ‚identisch’ zur Erscheinung kommt (Im zweiten Teil unserer Abhandlung wird dies uns noch mehr einleuchten, wenn wir die Problematik der Universalien ansprechen, vgl. 4 [Kap. IV]). Was die Wesensschau anbelangt, gilt es, dass sie sowohl von der ‚sinnlichen Anschauung’ als auch von der ‚immanenten Wahrnehmung’ des Individuellen radikal verschieden ist. In der neueren phänomenologischen Debatte wird meist anstatt „empirisches Ding“ ein anderer und m.E. etwas präziserer Begriff verwendet, nämlich „Tatsache“ bzw. „Faktum“ (vgl. etwa Bernet, R. u.a. [1989], 78f).
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63 sein, oder es ihm ermöglicht, anders zu sein. Die Problematik des Wesens aber wird von Husserl nicht eindeutig, sondern anhand einiger Beispiele einseitig und unklar erläutert (vgl. EPhH, 189f; auch OSW, 55). Darum bemüht sich Ingarden selbst den Begriff des Wesens zu bestimmen. So ist das Wesen das „Was“ eines Dinges, also was es eigentlich ist. Das Wort „Was“ nimmt die Form eines Substantivs an, nämlich „Washeit“. Nun ist dieses „Was“ immer generell und wird zugleich in einem Individuum verkörpert (z.B. Tisch [=Ding] und Tischheit [=Wesen]). Folglich ist ein individueller Gegenstand nicht nur überhaupt ein individueller, einmaliger Gegenstand, sondern er hat auch als in sich selbst so und so Beschaffener seine ‚Eigenart’, d.h. seinen ‚Bestand an wesentlichen Prädikabilien’, die ihm als Seiendem zukommen müssen, wie er an sich selbst sei, damit ihm andere, sekundäre, zufällige Bestimmungen zukommen können. Denn nicht alle Bestimmtheiten sind gleichwertig; nicht jede Bestimmtheit ist für ein Ding im selben Sinne konstitutiv. Nehmen wir etwa das Ding Tisch: Ein Gegenstand kann dann ein Tisch sein, wenn er rechteckig ist, als auch dann, wenn er rund ist, elliptisch usf. Er kann sowohl dann ein Tisch sein, wenn er aus Holz ist oder aus Stein usf. Wenn ich aber aus der flachen Oberfläche des Tisches z.B. „Berge mache“, dann hört er auf, ein Tisch zu sein. Es gibt also konstante und sekundäre (zufällige) Bestimmtheiten eines Tisches (vgl. EPhH, 192f). Deshalb ergibt sich für Ingarden Folgendes: Das, was das Wesen eines Dinges konstituiert, muss sich in allen Veränderungen des betreffenden Dinges als ‚identisch’ erweisen. Das Wesen selbst ist „bewusstseinsfremd“ 107
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Diese Meinung Ingardens teilen auch andere Husserl-Forscher, vgl. z.B. Ströker, E. (1987); Welton, D. (2000), 36f. Und L. Wittgenstein (vgl. PU, §593) bezeichnet ein solches Verfahren, in dem „man sein Denken nur mit einer Art von Beispielen nährt, als Hauptursache philosophischer Krankheiten, einseitige Diät“. Das gilt offensichtlich nicht nur für Husserl, sondern auch für andere Philosophen. Hier können wir einen deutlichen Rückgriff auf Aristoteles feststellen, den Ingarden m.E. nur oberflächlich und unpräzis macht. Hier begibt sich Ingarden offenkundig in die Sphäre der Irrealität, d.h. man kann sich einen solchen Tisch (eine solche Art Transformation) lediglich vorstellen. 107
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64 und in diesem Sinne transzendent (vgl. SPhH, 13). Im Kontext des Idealismus-Realismus-Problems, auf das wir (in einem weiteren Schritt) in 2§3b (Kap. I) eingehen werden, differenziert unser Autor ‚zwischen (1) absolut reinen Wesen, welchen prinzipiell keine Realisierungen entsprechen können (z.B. geometrische Gegenständlichkeiten) und Wesen, welche Realisierungen (d.h. Wesen in der Realisierung) zulassen’. Während die ersteren Wesen existieren, soweit sie in einem einheitlichen Anschauungssinn erfassbar sind, wobei die Bedingung ihrer Existenz die Gesetzmäßigkeit entsprechender Anschauung ausmacht, sind die letzteren Wesen dagegen durch das Wesen des konkreten Seins als solchen bedingt und existieren als Wesen insofern, als sie die durch das Wesen des konkreten Seins vorgeschriebenen Bedingungen erfüllen. Es gibt auch (2) Wesen, die ‚existieren müssen’, falls andere ganz bestimmte Wesen existieren (vgl. SPhH, 17f). Darüber hinaus spricht Ingarden von (3) dem Wesen der Realität (z.B. eines Dinges) und dem des Bewusstseins und erörtert deren Verhältnis zueinander. So ergeben sich folgende Möglichkeiten: (a) Wesen der Realität (WR) ist unselbstständig, Wesen des Bewusstseins (WB) hingegen ist selbstständig, d.h. dass es ohne WR existieren könnte; (b) WR und WB sind selbstständig; (c) WR ist selbstständig und WB unselbstständig; (d) WR und WB sind unselbstständig und aufeinander angewiesen (vgl. SPhH, 19). 110
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Zum Transzendenz-Problem vgl. 2§3a (Kap. I). Dass das Wesen selbst „bewusstseinsfremd“ ist, bedeutet, das Wesen sei mit dem Bewusstsein nicht zu identifizieren (und zu verkoppeln). Hier (d.h. in „Der Brief an Husserl“ [1918]) ist schon eine ganz deutlich ontologisch-orientierte Denkweise Ingardens festzustellen, die sich aber erst viele Jahre später (in „Der Streit um die Existenz der Welt“ [ab 1939]) zu einer Konzeption der Ontologie entfalten wird. In einem ganz ‚radikalen’ Sinne des Wortes gibt es nach unserem Autor überhaupt kein einziges solches Wesen, das ‚notwendig existieren müsste’ (das lässt sich m.E. wohl am besten durch das Problem der Kontingenz [der Möglichkeit des Nichtseins] erklären). Was das Problem der Wesen, die existieren müssen, falls es andere ganz bestimmte Wesen gibt, angeht, könnte man dies m.E. mit dem einfachen Beispiel der „Vater-Sohn-Relation“ verdeutlichen: Das „Wesen des Sohnes“ beginnt ‚notwendig’ zu existieren mit dem Moment der Zeugung durch den Vater, dem das „Wesen des Vaters“ zukommt.
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65 Kehren wir zu der eidetischen Reduktion Husserls zurück. Die Frage ist: Wie kann ich zum Wesen eines Dinges bzw. Gegenstandes gelangen? Kann ich das anhand der eidetischen Reduktion? Ingarden beantwortet diese Frage negativ. Denn der bloße Verzicht auf Individualität und Zufälligkeit, so wie dies Husserl in seiner eidetischen Reduktion fordert, indem er von dem „reinen Eidos“ spricht (jedes Individuelle hat ein Eidos, das „an sich“ generell zu erschauen ist), reicht längst noch nicht aus, um zum Wesen eines Gegenstandes vorzudringen. Ich muss vielmehr aus dem Ganzen eines Gegenstandes herauslesen, was das „Was“ (d.h. Wesen) dieses Gegenstandes ist, und mit Hilfe von einem neuen Verfahren (z.B. Variationsverfahren) konstante Momente (in diesem Was) entdecken, welche im Gegenstand vorhanden sein müssen, wie auch andere (zufällige), die in ihm vorhanden sein können (vgl. EPhH, 197). Als letztes gilt es noch in diesem Abschnitt kritisch zu fragen, inwiefern sich die Ingardensche Position gegenüber der eidetischen Reduktion Husserls rechtfertigen lässt. In der obigen Erörterung ist ohne weiteres aufgefallen, dass Ingarden sehr stark am Begriff des Wesens fixiert ist. Die Phänomenologie kommt bei ihm dabei als eidetische Wissenschaft in ihrem ganzen Kontext, so wie sie in der neueren phänomenologischen Debatte behandelt wird, eindeutig zu kurz. Darunter leidet ebenso die Plausibilität der behandelten Problematik. Zum einen wird Ingardens Analyse der eidetischen Reduktion in einer „sachlichen Isolierung“ von der transzendentalen Reduktion durchgeführt, so dass manches nicht klar ist: Ist für die eidetische Reduktion die Grunddifferenz zwischen „Faktum“ und „Wesen“ maßgeblich, so ist für die transzendentale Reduktion die ganz andere zwischen „Faktum“ und seinem „transzendentalen Wesen“ von Bedeutung. Während ferner die eidetische Reduktion von realen Einzelheiten zu eidetischen Allgemeinheiten führt und in der Gewinnung derselben terminiert, verbleibt die transzendentale Reduktion ganz im Bereich von Einzelheiten, so dass sie diese in ihrem Seinsmodus befragbar macht. Trotz dieser prinzipiellen Verschiedenheit sind eidetische und transzendentale Reduktion aufeinander verwiesen. Wesenseinsichten sind in der 112
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Vgl. dazu etwa Kwant, R.C. (1967); Elveton, R.O. (1970); Conrad, Th. (1968) u.a.
66 Phänomenologie Husserls nicht Selbstzweck, sondern erfüllen ihre Funktion innerhalb der transzendentalen Phänomenologie. Bei Husserl ist es auch problematisch, dass er oft die Reihenfolge beider Reduktionen gewechselt hat, was gewisse Konsequenzen mit sich brachte. Bei Ingarden finden wir aber diese wichtigen Hinweise nicht. In diesem Zusammenhang sind darüber hinaus zwei Sachverhalte bedeutsam, die von unserem Autor leider kaum erörtert wurden: Zum einen trennt Husserl die eidetischen (apriorischen) Disziplinen (von der formalen Region „Gegenständlichkeit überhaupt“) in die „formale Ontologie“ als eidetische Wissenschaft und in „materiale (oder regionale) Ontologien“. Zum anderen wird das „mathematische Element“ nicht beachtet, das bekanntlich für die Entwicklung des Denkens Husserls von erstrangiger Bedeutung gewesen ist. Indes schreibt Husserl unmissverständlich, dass jeder (Mensch) das Apriori praktisch von der reinen Mathematik her kennt, dass jeder die mathematische Denkungsart, an der wir unseren Begriff des Apriori orientieren, kennt und billigt. Das Grundlegende des der Mathematik abgeschauten „apriorischen Denkens“ erkennt Husserl darin, dass eine „Befreiung vom Faktum“ vollzogen wird, weil sich der Mathematiker prinzipiell jedwedem Urteil über die reale Wirklichkeit entzieht. Abschließend ist festzuhalten, dass Wesen für Husserl „gedachte Gegenstände“ sind. Eine Wesenswissenschaft, eine eidetische Wissenschaft zu betreiben ist also nur in einer Einstellung auf Generelles, 113
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Vgl. Ströker, E. (1987), 87f. In diesem Kontext wird oft die These vertreten, dass die Unterscheidung von Tatsachenwissenschaften und Wesenswissenschaften in Husserls Grundauffassung des Verhältnisses von Tatsachen und Wesen wurzelt, die „platonisch inspiriert“ ist (vgl. etwa Kern, I. [1975], §50). Vgl. Hua III/1, §§7f; auch XXV, 79. Man könnte noch weitere Beweise dafür liefern, dass Ingardens Kritik an Husserl - hinsichtlich der Ergebnisse der neueren phänomenologischen Forschung, trotz der Übereinstimmung in vielen Punkten – ergänzungsbedürftig sei. So wird z.B. – in der Anspielung auf Quine und noch stärker auf Wittgenstein – Folgendes hervorgehoben: (1) Husserls Philosophie als „strenge Wissenschaft“ ist ein „Mythos“; (2) Die Husserlsche Phänomenologie (HPh) ist sehr konservativ und in allen philosophischen Standpunkten ‚dogmatisch’; (3) HPh gerät (als Folge der reinen Intuition) in eine ‚Isolierung’; (4) HPh entzieht sich meistens den objektiven, rationalen, philosophischen Fragen (vgl. Bell, D. [1990], 196f).
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67 auf Bewusstsein (überhaupt) hin denkbar (vgl. EPhH, 198). Wir wollen dies weiter analysieren und somit auf der Ebene der phänomenologischen Reduktion verbleiben. §3. Konsequenz der Durchführung der transzendentalen Reduktion: Transzendentales Sein und das Idealismus-Realismus-Problem Nachdem wir eine methodische Grundlegung der Phänomenologie als Wissenschaft des reinen Bewusstseins durch die Skizzierung von drei für Husserls Denken elementaren Begriffen („Philosophie als strenge Wissenschaft“, die transzendentale und eidetische Reduktion) herausgearbeitet haben, wollen wir jetzt fundamentale Konsequenzen der Durchführung der transzendentalen Reduktion erforschen. Ingarden schreibt: „Was ist das Ergebnis der Durchführung der transzendentalen Reduktion? Es gibt unzweifelhaft sehr viel Gutes. Vor allem die sehr reichen und wirklich wertvollen Analysen des Bewusstseins, die Husserl [...] durchgeführt hat [...]. Es gibt unter all dem noch ein besonderes Ergebnis, nämlich dasjenige, was man [...] vieldeutig als Husserls „transzendentalen Idealismus“ bezeichnet“ (EPhH, 261).
In 2§1 (Kap. I) wurde bereits diese Problematik kurz umrissen. Da ging es allerdings nur um eine vorläufige Darstellung der Auffassung des transzendentalen Idealismus Husserls nach Ingarden – mitsamt seinen Entwicklungsphasen. Im Folgenden soll dies erheblich ergänzt werden. a. Transzendenz-Immanenz-Frage bei Husserl. Ingardens Versuch einer Überwindung Seit Kant hat der Begriff des Transzendentalen eine durchaus neue Bedeutung erhalten; er betrifft die Erkenntnisbedingungen im Subjekt. Der neue, phänomenologische Transzendenz-Begriff geht auf das Transzendente im Gegensatz zur Immanenz des Bewusstseins, das nunmehr nach Husserl – wie wir dies noch sehen werden – in sich geschlossen ist, im Innenbereich des subjektiven Erlebnisstromes. Erkenntnisobjekt kann nur sein, was in unserem Bewusstsein erscheint und so erlebt wird. Dagegen galt in der Tradition, dass die Bewusstseinsinhalte
68 – in Bezug auf die äußeren Dinge – das „medium quo“ der Erkenntnis der Objekte sind, nicht die Objekte selbst; denn diese sind die Dinge an sich, außerhalb des Subjekts. Für die modernen Bewusstseins-Philosophen von Kant bis Husserl bleibt das Bewusstseins-Transzendente das große Problem. Es hat nicht mehr die traditionelle Bedeutung einer vom Subjekt unabhängigen, ihm vorgeordneten Realität. Es wird auch nicht mehr ontologisch-metaphysisch als vertikal über den Dingen stehende erste Seinsursache verstanden, sondern verflacht epistemologisch zu der Bedeutung all dessen, was horizontal außerhalb des aktuellen Bewusstseins liegt und in diesem Sinne ihm „transzendent“ ist. Durch die phänomenologische Epoché und Reduktion gewinnt Husserl eine neue Position im Hinblick auf das Problem der Transzendenz. Seine Grundposition bezüglich des Transzendenzproblems könnte man aufgrund des bis jetzt Ausgeführten – folgendermaßen zusammenfassend darstellen: Die naive Behauptung eines absolut an sich seienden Weltglaubens wird zunächst eingeklammert. Durch die radikale Einklammerung der Generalthesis der Welt wird die Welt zum Weltphänomen, zum Korrelat intentionalen Lebens. ‚Transzendenz bedeutet daher für Husserl kein totales Verlassen der subjektiven Sphäre des Bewusstseins’. Durch die Epoché wird die Transzendenz zum Phänomen und ist als solche selbstgegeben. Sie wird als Phänomen des Übersteigens, als „Hinausmeinen“ des Bewusstseins verstanden, gehört zum immanenten Strukturmoment des Bewusstseins und wird im Bewusstsein konstitutiv erklärt. Wie wir noch weiter sehen werden, kommt auch Ingarden zu einer vergleichbaren Auffassung der Transzendenz bei Husserl. Da die Phänomenologie als eidetische Lehre des Bewusstseins in der Sphäre der Immanenz arbeitet, sind die Sphären des Immanenten und Transzendenten einander klar gegenüber zu stellen. Nach unserem Autor haben wir es bei Husserl mit verschiedenen Begriffen der Transzendenz zu tun, die Husserl selbst nicht ausdrücklich differenziert hat (vgl. SPhH, 10f). 115
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Seidl, H. (1992), 72f. Vgl. auch Crowell, S.G. (2001), 195 (bei ihm wird auch Aristoteles hervorgehoben). Vgl. Hua XIX/2, 574.
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69 Ingarden unterscheidet bei Husserl indes zwischen dem „Begriff der Transzendenz im erkenntnistheoretischen Sinne“ (TES) – also dem Begriff, der auf mögliche oder wirkliche Erkenntnis eines Erkenntnisgegenstandes bezogen ist, und dem „Begriff der Transzendenz im ontologischen (bzw. ontischen) Sinne“ (TOS) (vgl. EPhH, 117). Was den TES anbelangt, gliedert er sich in vier untergeordnete Begriffe, wobei die ersten drei mit dem der Wahrnehmung zusammenhängen. Es sind also: (1) „Transzendenz vom Ding aus“ – d.h. Transzendieren eines wahrgenommenen Dinges über jede einzelne Wahrnehmung hinaus, bzw. über das in der jeweiligen Wahrnehmung in erfüllten Qualitäten Gegebene. Mit anderen Worten: Während es in der Wahrnehmung schlechthin gegeben wird, dass das Ding ein Inneres und eine Rückseite hat, ist dies dagegen in einer konkreten Wahrnehmung keinesfalls in erfüllten Qualitäten gegeben, sondern es ist eine Intention in der Anschauung vorhanden, dass das Ding eine Rückseite, ein Inneres usf. hat (d.h. ich kann nicht alles an einem Ding [bzw. das ganze Ding von jeder Seite her] im selben Zeitpunkt in der gleichen Weise erfassen; ich muss vielmehr die Perspektive wechseln [mich bewegen], um das Ding z.B. von seiner Rückseite her betrachten zu können); (2) „Transzendenz vom Wahrnehmen aus“ – d.h. Transzendieren des Wahrnehmens (mit seinen Vermeintheiten auf ein Inneres usw.) über jene erfüllten Qualitäten des wahrgenommenen Dinges hinaus; (3) „Transzendenz des physikalischen Dinges“ - das physikalische Ding wird so wie in der modernen Physik verstanden, d.h. das physikalische Ding ist eine Mannigfaltigkeit von Atomen, Elektronen usf. Dieses Ding ist transzendent in dem Sinne, dass ‚es in dieser Gestalt überhaupt in keiner Wahrnehmung wahrgenommen 117
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In einer engen Verbindung zu TOS steht noch der ‚metaphysische’ Begriff der Transzendenz (T), also der ‚traditionelle’ (d.h. vorkantische) Begriff der T. Zur Wahrnehmungsproblematik vgl. 2§6 (Kap. I). Ingarden spricht auch von (1) der Transzendenz im Hinblick auf den „unmittelbaren Verkehr mit den Mitmenschen“. Wenn ich viele Jahre lang mit einem Menschen verkehre, dann habe ich nicht nur Wahrnehmungen von seinem Leib, sondern auch gewisse ‚Wahrnehmungen von seiner Person’, eine Art „Einfühlung“ (vgl. EPhH, 115), und von (2) „Gottes-Transzendenz“ (vgl. SPhH, 10). Da diese Begriffe keinen „strengen“ phänomenologischen Bezug aufweisen, haben sie für uns hier keine große Bedeutung. 117
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werden kann’. Es ist bloß aufgrund der Erfahrung begrifflich bestimmbar, wobei unter der „Erfahrung“ eine Mannigfaltigkeit von Wahrnehmungen zu verstehen ist, die man in der Physik (und in der Naturwissenschaft überhaupt) erzielt, indem man gewisse Experimente durchführt und ferner apriorisch (mittels der Hypothesen und Theorien) verfährt. Die Transzendenz des physikalischen Dinges ist durch die Zurückführung der Hypothesen auf die Erfahrung erkennbar (vgl. EPhH, 164f). Diese drei mit der Wahrnehmung zusammenhängenden Transzendenz-Begriffe könnte man nach Ingarden mit folgendem Schema ausdrücken:
K1 K2 R
K3
Erklärung des Schemas: K1 – qualitative Vollbestimmung eines Dinges; K2 – das in aktueller Wahrnehmung Gegebene; K3 – das, was in effektiven, erfüllten Qualitäten gegeben ist; das um den Kreis K gestrichelte Feld bedeutet die der Wahrnehmung unzulängliche physikalische Wirklichkeit; R – der Ring R bedeutet das, was im aktuellen Wahrnehmen nicht gegeben wird, was aber in anderen Wahrnehmungen gegeben werden kann (vgl. EPhH, 133). (4) Der vierte TES ist ein „kantischer“ Begriff – da wird also zwischen Erscheinungswelt und Welt der Dinge an sich unterschieden. Ingarden verweist durchgängig auf gewisse Anknüpfungspunkte zwischen Husserl 1
71 und Kant, wie auch zwischen Husserl und P. Natorp. Beide letzteren haben das kantische „Ding an sich“ verworfen (vgl. EPhH, 169f). Der „Begriff der Transzendenz im ontologischen Sinne“ (TOS) wird dagegen bei Husserl im Zusammenhang mit der Frage nach dem Verhältnis zwischen Bewusstsein von etwas und den physischen Dingen positiv bestimmt, wobei hier unter dem Bewusstsein – der Einfachheit halber ‚Erkenntniserlebnisse’ verstanden werden. Dieses Verhältnis wird ‚ontisch’ aufgefasst, d.h. ein materielles Ding ist kein Erlebnis; es ist ein ‚Seiendes’ von völlig anderer Seinsart und kein „reales Bestandstück“ des Bewusstseins. Der TOS bezieht sich einerseits auf die ‚Seinsart’ (Seinsweise) des materiellen Dinges (=existential-ontologisches Moment [in der Sprache Ingardens ausgedrückt]), andererseits macht er deutlich, dass ein materielles Ding ‚außerhalb des Bewusstseins’ existiert (=formales Moment) (vgl. EPhH, 177f). Dabei ergeben sich folgende Erscheinungs- bzw. Erkenntnismodi: (1) Das materielle Ding wird (im Bewusstsein) durch Abschattungen, Ansichten, Erscheinungen wahrgenommen. Das Ding („cogitatum“) ist also ‚transzendent’, d.h. es bildet weder ein Stück vom Wahrnehmen („cogitare“) noch eine wesentliche Einheit mit ihm noch ein Ganzes. Trotzdem ist das „cogitatum“ vom „cogitare“ ‚unabtrennbar’ (aber nicht umgekehrt). Nun obwohl das „cogitatum“ etwas Transzendentes ist, existiert es in der Weise, dass es ohne das „cogitare“ nicht existieren kann. Dem „cogitatum“ kommt darum kein absolutes Sein zu; (2) Meine Erlebnisse dagegen werden im Bewusstsein nicht durch Abschattungen wahrgenommen, sondern in einer ‚immanenten’ Wahrnehmung. Das immanent Wahrgenommene und das immanente Wahrnehmen bilden die ‚unvermittelte’ Einheit einer einzigen „cogitatio“ (Wahrnehmung). Mit anderen Worten: Mein sich jetzt vollziehendes Denken (das Wahrgenommene) und das Sich-zum-Bewusstsein-bringen dieses Denkens bilden eine Einheit in dem Sinne, dass das Wahrgenommene („cogitatum“) im Wahrnehmen („cogitare“) „reell beschlossen“ ist. Demnach hat das 119
Wir gehen darauf hier nicht ausführlicher ein. Vgl. dazu KrV (vor allem „Transzendentale Ästhetik“) und Natorp, P. (1912). Zum Verhältnis zwischen Husserl und Kant vgl. auch Fußnote 53, sowie Ricoeur, P. (1966) und Kern, I. (1964) u.a. 119
72 „cogitare“ der „cogitatio“ (Wahrnehmung) ein absolutes Sein und kann existieren, ohne dass das existierende Ding („cogitatum“) da ist (vgl. EPhH, 183f). Nun sehen wir, dass bei Husserl sehr verschiedene Begriffe der Transzendenz vorliegen. Der Ausdruck „transzendent“ wird nicht immer im gleichen Sinne gebraucht. Einerseits wird die äußere Wahrnehmung oft „transzendente“ oder auch „transzendierende“ Wahrnehmung genannt, andererseits wird auch ihr Gegenstand (z.B. ein Ding) als „transzendenter“ Gegenstand bezeichnet (vgl. EPhH, 99). In diesem Zusammenhang ergeben sich nach Ingarden auch gewisse Schwierigkeiten. Zum einen kommt es ganz deutlich zum Vorschein, worauf Husserl besteht, nämlich auf die ‚Seinsrelativität der Welt’: Das Reale ist nicht in sich etwas Absolutes, sondern es ist im absoluten Sinne gar nichts, es hat kein absolutes Wesen, es hat die Wesenheit von etwas, das prinzipiell nur Intentionales, Bewusstes, Erscheinendes ist (vgl. SEW I, 150). Zum anderen gibt es keine Klarheit in Bezug auf den Begriff der „Absolutheit des Seins“ und damit zusammenhängende Momente. Ingarden fragt, ob es sich dabei um ‚verschiedene zusammenhängende Momente einer Seinsweise’ handelt, oder ob wir es da nur mit einer ‚Äquivokation’ zu tun haben. Gemeint sind also folgende Momente: (1) Das reine Bewusstsein ist in einer immanent gerichteten Reflexion gegeben; das Erlebnis in dieser Reflexion ist ‚in seinem eigenen Selbst direkt’ und nicht bloß durch „Abschattungen“ (Ansichten) als eine identische Einheit derselben gegeben; (2) Jedes reine Erlebnis, das in der immanenten Wahrnehmung erfasst wird, hat eine „absolute Position“, 120
Anhand der Ingardenschen Analyse und im Hinblick auf die neuere phänomenologische Debatte könnte man m.E. hier Folgendes behaupten: Wir haben es bei Husserl mit der „Transzendenz-Immanenz-Problematik“ zu tun, die zum einen in Bezug auf den Begriff „Evidenz“ und zum anderen auf den der „Intentionalität“ gewonnen wird. Zum Begriff der Evidenz bei Husserl vgl. etwa Ströker, E. (1978), zum Begriff der Intentionalität vgl. Hopkins, B.C. (1993); Schumann, K. (1991); Hedin, D. (1997): Die Autorin schreibt (im Kontext der Problematik dieses Abschnitts): „The act as such, i.e. being open towards or in relation to, is called ‚the intentio’, and the something towards which the intentio is directed, ‚the intentum’. The intentum can be both what Husserl calls ‚transcendent’ and ‚immanent’“ (24). 120
73 welche darauf zurückzuführen ist, dass das immanent Wahrgenommene und das immanente Wahrnehmen eine „unvermittelte Einheit“ bilden; (3) Dass das reine Bewusstsein „nulla re indiget ad existendum“; (4) Wenn das Wort „absolut“ etwa in der Zusammenstellung „absolutes Wesen“ auftritt und der Wesenheit des Realen gegenübergestellt wird, das dieses absoluten Wesens entbehren soll (vgl. SPhH, 219f). Darüber hinaus wendet unser Autor gegen Husserl ein: Was sind die Gründe dafür, dass das „cogitatum“ das Transzendente sein soll und in keiner Einheit mit dem „cogitare“ steht, und trotzdem von diesem „cogitare“ unabtrennbar ist? (vgl. EPhH, 185). Angesichts dieser Unklarheiten bei Husserl und der Relevanz des Transzendenzbegriffs auch nicht zuletzt für Ingardens (vor allem) ontologisches Denken selbst stellt sich die Frage: Gibt es bei unserem Autor irgendwelche Versuche, die Husserlsche Transzendenz-Reflexion zu überwinden bzw. sie zu präzisieren oder zu ergänzen? Unsere Antwort lautet „Ja“. Denn im Werk „Der Streit um die Existenz der Welt“ finden wir einige (vor allem ontologische) Entwürfe der Transzendenzbegriffe: (1a) „Strukturelle Transzendenz (T) in abgeschwächter Gestalt“ – ein Gegenstand ist dem ihn betreffenden Bewusstseinsakt gegenüber auf abgeschwächte Weise strukturell transzendent, wenn keine seiner Eigenschaften oder kein Moment eine Eigenschaft oder ein Moment (einen reellen Teil) des betreffenden Aktes bildet. Und umgekehrt, wenn keine Eigenschaft oder kein Moment des Aktes eine Eigenschaft oder ein 121
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Das hält Ingarden für eine „kolossale Umkippung natürlicher Weltansicht“. Demnach heißt es: Das Bewusstsein braucht zu seiner Existenz gar kein Sein außerhalb des Bewusstseins; die Welt hingegen braucht, um zu existieren, das reine Bewusstsein, in dem sie ihr Sein ausweist (vgl. EPhH, 275). Die Momente (1) und (2) haben nach Ingarden einen ‘erkenntnistheoretischen’ und das Moment (3) einen ‚ontologischen’ Charakter. Wir werden immer mehr sehen, dass nicht nur Ingardens Kritik an Husserl, sondern auch sein eigener philosophischer Standpunkt wesentlich auf diese zwei Richtungen (die erkenntnistheoretische und ontologische) hinausläuft. Dies wird allerdings erst im Rahmen der vorliegenden Abhandlung als ‚ganzer’ sichtbar werden. Zur Kritik an der Position Husserls in diesem Zusammenhang vgl. etwa Seifert, J. (1987), 142f. Seifert teilt ganz deutlich die kritische Stellung Ingardens Husserl gegenüber.
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74 Moment des in ihm vermeinten Gegenstandes ist. In diesem Sinne ist nicht nur ein „äußerer“ seinsautonomer Gegenstand (z.B. ein materielles Ding) dem ihn vermeinenden Akt gegenüber transzendent, sondern auch Gegenstand einer immanenten Wahrnehmung dieser Wahrnehmung gegenüber, obwohl zugleich beide Erlebnisse (die immanente Wahrnehmung und das in ihr gegebene Erlebnis) ‚ein einheitliches Ganzes’ bilden, in dem die immanente Wahrnehmung in dem Erlebnis fundiert ist, das in ihr gegeben ist; (1b) „Strukturelle T in stärkerer Gestalt“ – ein Gegenstand ist dem ihn betreffenden Bewusstseinsakt gegenüber auf stärkere Weise strukturell transzendent, wenn nicht nur keine seiner Eigenschaften und kein Moment eine Eigenschaft oder ein Moment des betreffenden Aktes bildet, und umgekehrt, sondern wenn er außerdem ihm gegenüber einen ‚zweiten seinsautonomen Gegenstand’ darstellt; (2) „Radikale T“ – ein individueller Gegenstand ist dem Bewusstseinsakt gegenüber, in dem er gegeben oder bloß vermeint ist, radikal transzendent, wenn dieser Akt weder durch irgendeines seiner Momente noch durch die Tatsache seines Vollzugs in ihm ‚irgendeine Veränderung’ hervorzurufen imstande ist. In dieser Bedeutung ist also jeder seinsautonome Gegenstand dem (ihn) vermeinenden Bewusstseinsakt gegenüber transzendent. Die radikale T ergibt sich sowohl aus dem ‚materialen Wesen’ des betreffenden Gegenstandes als auch des Bewusstseins eines bestimmten Typus selbst. Sie liegt beim „machtlos-schöpferischen“ Bewusstsein und dem seinsautonomen Gegenstand vor (vgl. SEW II/2, 224f); (3) „T der Seinsfülle“ – durch diese Art T wird ein seinsautonomer Gegenstand dem ihn vermeinenden Bewusstseinsakt gegenüber ausgezeichnet, weil die Fülle seines Seinsbereichs, die in der ‚unendlichen’ Vielfalt seiner Eigenschaften und Momente liegt, nicht im Erkennen seiner einzelnen Eigenschaften, das sich in einem einzelnen Akt oder in einer ‚endlichen’ Vielfalt solcher Akte vollzieht, erschöpft werden kann. Die T der Seinsfülle ergibt sich sowohl aus gewissen Eigentümlichkeiten des 123
Hier sind zwei wichtige Hinweise zu machen: (1) Man kann bei Ingarden den Einfluss Husserls eindeutig feststellen; (2) Ingarden arbeitet mit seiner eigenen (ontologischen) Terminologie, die wir erst im zweiten Teil der vorliegenden Abhandlung („Ingardens Weg des Realismus“) näher kennen lernen werden.
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75 Erkenntnisgegenstandes als auch des Erkenntnisaktes; (4) „Unzugänglichkeits – T“ – hier handelt es sich um die T als eine ‚wesenhafte Unzugänglichkeit’ des Gegenstandes für die Erkenntnis eines bestimmten Erkenntnissubjekts bzw. dessen Erkenntnisakte. Solche Unzugänglichkeit kann sich aus gewissen formalen Umwandlungen ergeben, welche durch Erkenntnis im Erkenntnisgegenstand hervorgerufen werden, z.B. bei Kant, bei dem das „Ding an sich“ der menschlichen Erkenntnis gegenüber transzendent ist, weil diese Erkenntnis die apriorischen Anschauungsformen Raum und Zeit, sowie die verstandesmäßigen kategorialen Strukturen mit sich führt, denen zufolge Objekte unserer Erkenntnis immer nur „Erscheinungen“ bilden, dagegen die „Dinge an sich“ unserer Erkenntnis wesenhaft unzugänglich bleiben (vgl. SEW II/2, 226f). Abschließend halten wir fest, dass ‚Ingardens Transzendenzbegriffe aufgrund ihrer starken ontologischen Färbung die Begriffe der Transzendenz bei Husserl insofern überwinden, als dadurch einerseits das ontologische Element ausführlicher herausgearbeitet und gewürdigt wird, andererseits eine Art Bereicherung des Husserlschen TranszendenzGedankenguts vollzogen wird’, in deren Kontext deutlicher werden kann, dass für Husserl mit der neuen Bestimmung des Transzendenzbegriffs eines der entscheidenden Elemente des transzendentalphänomenologischen Idealismus gegeben ist. 124
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Nach Ingarden gehört hier auch die „Transzendenz Gottes“ unserer menschlichen Erkenntnis gegenüber. „Transzendent“ bedeutet in diesem Fall soviel wie „unbegreiflich“. Vgl. Huang, W.H. (1998), 111. Bei Ingarden geht es offenkundig um ‚existentiale’ und ‚formale Ontologie’ (vgl. SEW I und SEW II), während es sich bei Husserl um ‚transzendentale Ontologie’ handelt (vgl. Bell, D. [1990], 168f). 124
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76 b. Transzendentaler Idealismus: Idealismus-Realismus-Problem
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„Der Realismus bezeichnet sein Recht in der Sphäre empirischen Daseins und Wirkens, auf Seite des Idealismus aber steht die philosophische Wahrheit“. 127
Dass in der neueren phänomenologischen Debatte von transzendentalem Idealismus bei Husserl gesprochen wird, steht außer Zweifel. Da heißt es überdies: Für Husserl sei die Phänomenologie „eo ipso“ transzendentaler Idealismus – in einem fundamental neuen Sinne. Nun ist sie weder psychologischer Idealismus, der von der Seite der empirischen Sinnesdaten her die Mannigfaltigkeit der realen Welt zu klären versucht, noch Kantischer Idealismus, der in der Möglichkeit einer Welt und deren Verbindung mit dem Prinzip des „Dinges an sich“ eine Lösung zu suchen bestrebt ist; die Phänomenologie ist vielmehr ‚transzendentaler Idealismus im Sinne einer Selbst-Enthüllung in der Form von einer systematischen „ichhaften“ Wissenschaft’. Für Husserl ist also das, worüber wir sprechen, was wir erkennen wollen und können, „Phänomene“, nämlich dasjenige, was dem Erkennenden irgendwie „phänomenal“ zugänglich ist. Dadurch wird nach Ingarden der erste Schritt zu dem getan, was bei Husserl später als „transzendentaler Idealismus“ auftaucht (vgl. EPhH, 172), der wesentlich auf zwei Faktoren beruht: (1) Differenzierung 128
Wie die Begriffe „Realismus“ und „Idealismus“ in der gegenwärtigen philosophischen Diskussion verstanden werden, vgl. Fußnote 17. Eine gute Erläuterung dieser Begriffe liefert etwa Reininger, R. (1970), 99f. Da wird nicht nur eine ‚Mittelstellung’ zwischen Realismus und Idealismus – nämlich „Phänomenalismus“ - klar hervorgehoben, sondern auch differenziert zwischen dem natürlichen und kritischen Realismus auf der einen Seite und dem subjektiven, kritischen, logischen und Geistes-Idealismus auf der anderen. Reininger, R. (1970), 139. Dieses Zitat darf wohl nicht ohne Kommentar gelassen werden. Es muss auch gefragt werden, ob die philosophische Wahrheit auf der Seite des Realismus steht. Vgl. Kockelmans, J.J. (1994), 270.
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77 zwischen Immanentem und Transzendentem; (2) Das Real-Dingliche ist dem reinen Wahrnehmungsbewusstsein gegenüber transzendent, weil es seinem Wesen nach kein reelles Bestandstück des Erlebnisses sein kann. Das ergibt sich aus dem vorausgehenden Abschnitt. Damit aber von einem idealistischen Zustand gesprochen werden kann, muss allerdings im Hinblick auf diese zwei Faktoren noch etwas hinzugefügt werden: Bei einer naiven vorphilosophischen Einstellung hat die Sphäre des Transzendenten in der Seinsautonomie eine gewisse Priorität, während das Bewusstsein sekundär zu sein scheint. Durch die transzendentale Reduktion kehrt sich für Husserl die Sache um, und so läuft sie auf den transzendentalen Idealismus hinaus (vgl. EPhH, 264). Das wollen wir im Folgenden genauer analysieren – im Rahmen der Diskussion über das „Idealismus-Realismus-Problem“. Das Idealismus-Realismus-Problem ist für Ingarden durch die Frage bestimmt, ob und in welchen Fällen Gegenstände, die Bewusstseinserlebnissen gegenüber, in denen sie erkannt werden, ‚transzendent’ sind, autonom und unabhängig von diesen Erlebnissen existieren oder ob sie, sofern sie existieren, mit den Erlebnissen in irgendeinem Seinszusammenhang stehen. Unter den Gegenständen, die den Bewusstseinserlebnissen gegenüber transzendent sind, unterscheidet unser Autor folgende Typen: (1) Reale, in der Zeit existierende Gegenstände, wie etwa materielle Dinge, psychophysische Subjekte usf.; (2) Ideale (außerzeitliche) Gegenstände, wie z.B. Gegenstände mathematischer Forschung, logische Gebilde (Begriffe, Urteile, Schlüsse, Theorien, Ideen usw.); (3) Kulturgebilde wie z.B. Musikwerke, literarische Werke usw.; (4) Sittliche und ästhetische Werte; (5) Bloße Fiktionen, z.B. der goldene Berg, den sich jemand vorstellt. In Bezug auf alle diese Typen muss die oben formulierte Frage gestellt werden. Je nachdem, ob sie positiv oder negativ beantwortet wird, erhalten wir diese oder jene Form des realistischen oder idealistischen Standpunkts (vgl. SPhH, 178f). 129
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Das wird offensichtlich im ontischen Sinne verstanden, d.h. das Transzendente ist das, was kein reelles Bestandstück des Bewusstseinserlebnisses ist und sein kann. Dazu vgl. auch Galewicz, W. (1994a), vor allem dessen Analyse von Ingardens Lehre rein intentionaler Gegenständlichkeiten als einer spezifischen Theorie gegenständlicher Sinne (vgl. ebd., 8f).
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78 Beim Idealismus-Realismus-Problem diskutiert unser Autor bei Husserl vor allem reale und ideale Gegenstände, d.h. er fragt, wie das Verhältnis zwischen realen und idealen Gegenständen sei. Anhand der Bewertung dieses Verhältnisses wird darauf geschlossen, ob Husserl ein transzendentaler Idealist ist oder nicht. Husserl bringt bekanntlich seine Phänomenologie mit dem Ziel der Neubegründung der reinen Logik und Erkenntnistheorie auf den Weg. Ihr Gelingen ist ihm hauptsächlich eine Sache der Methode, die sich in strenger Neutralität gegen philosophische Positionen halten soll. Auch nach der transzendentalen Wende hält Husserl dafür, dass in seiner Phänomenologie ‚über Sein und Nichtsein der Welt nichts präjudiziert’ und somit keinerlei Metaphysik und Ontologie vorausgesetzt werde. Die Frage ist jedoch: Ist das Husserl tatsächlich gelungen? Ingarden beantwortet diese Frage negativ und redet deshalb vom transzendentalen Idealismus bei Husserl, welcher eben das Gegenteil bezeugt, d.h. dass Husserl doch ein Urteil über das Sein (oder besser die Seinsweise) der Welt gefällt hat. Bereits in seinem Aufsatz „Der Brief an Husserl über die VI. Untersuchung und den Idealismus“ (1918) nimmt er eine deutliche und kritische Stellung dem transzendentalen Idealismus Husserls gegenüber, indem er schreibt: 131
„Ich vermag mich diesem Idealismus nicht anzuschließen [...]. Diesen fundamentalen Unterschied in der Seinsweise vermag ich nicht zu beseitigen“ (SPhH, 6f).
Unser Autor differenziert vielmehr zwischen drei Problemgruppen: ontologischen, metaphysischen und erkenntnistheoretischen – indem er deren wesentliche Zusammenhänge miteinander betont. Das ontologische Hauptproblem des „Idealismus“ ist das ‚Problem der Wesensgemeinschaft (bzw. Identität) zwischen Sein (oder enger: Realität) und reinem Bewusstsein’. Die Identifizierung der beiden Wesen in dem Sinne, dass die Wirklichkeit mit dem Bewusstsein gleichgesetzt wird, wird „Idealismus“ genannt. Die Wesensverschiedenheit wird bei Husserl 132
Vgl. Hua II, 23, 32, 45. Hier sehen wir (und auch an weiteren Stellen), dass die Argumentation Ingardens immer mehr einen ontologischen Charakter hat.
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79 dadurch geleugnet, dass einerseits die Realität als Vermeintes und darüber hinaus als ein „Nichts“ gefasst wird, andererseits aber das Wesen des Bewusstseins auf das Noema ausgedehnt wird. Der Unterschied der Seinsweise besteht also darin, dass das außenweltliche Reale wesensmäßig ein „stummes“ (unbewusstes) Sein führt, während das Bewusstsein im „Selbst-bewusst-sein“ existiert und eine „sich selbst durchglühende Glut“, ein „sich selbst durchlebendes Meinen“ ist (vgl. SPhH, 5f). Mit anderen Worten: Die Seinsweisen dieser beiden Sphären des Seienden unterscheiden sich für Husserl voneinander darin, dass das reine Bewusstsein ‚absolut’, dagegen die reale Welt ‚relativ’ existiert. Auf den ersten Blick, sagt Ingarden, scheine dies nur ein ‚Unterschied der Gegebenheitsweise’ zu sein: Das Reale als solches wird in der Mannigfaltigkeit der „Abschattungen“ (Ansichten) als ein sich in ihnen ausweisendes Identisches gegeben, während das reine Bewusstsein „direkt“, ohne Vermittlung der „Abschattungen“, in seinem eigenen Selbst zur Gegebenheit gelangt. Dennoch kommt auch der ‚Unterschied der Seinsweise’ ins Spiel: Jedes Reale (allgemeiner jedes Transzendente) ist ein „zufälliges“, bloß „intentionales“ Sein für das Bewusstsein; es entbehrt in sich (und wesensmäßig) der Selbstständigkeit. Das reine Bewusstsein hingegen (das Immanente überhaupt) ist als solches ein notwendiges, absolutes, keine „res zu seinem Sein erforderndes“, ein „absolutes Eigensein in sich besitzendes“ Sein (vgl. SPhH, 210; EPhH, 265f). Diese Auffassung der ‚Differenz in der Seinsweise zwischen dem Realen und dem Bewusstsein, insbesondere die Relativierung des Realen auf das reine Bewusstsein wird der transzendentale Idealismus genannt’, der sich auf dem durch den Vollzug der transzendentalen Reduktion gewonnenen Boden entwickelt. Die These über die Seinsrelativität der realen Welt in Bezug auf das reine Bewusstsein kann nach Ingarden zwei Formen haben: (1) „Eidetischontologische“ Form - tritt ebenso zweifach auf: (a) In der „allgemeinen“ 133
Ingarden hat sich mit der Frage: „Was es heißt, dass Realitäten kein „absolutes Wesen“ haben, d.h. dass sie nach Husserl nicht seinsautonom, sondern bloß seinsheteronom (relativ) sind und sein sollen?“ in seinem Werk „Das literarische Kunstwerk“ befasst (vgl. 2 [Einleitung]).
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80 Formulierung lautet die idealistische These folgendermaßen: Jede nur mögliche reale Welt, wie sie auch sachhaltig (material) bestimmt sein mag, ist als solche ihrer allgemeinen Idee nach ‚seinsrelativ’ auf das reine Bewusstsein, das in sich ‚seinsabsolut’ ist; (b) In der „besonderen“ Formulierung dagegen heißt es: Eine derartige (so und so in sich material bestimmte) reale Welt wie die uns vorgegebene ist ihrem Wesen nach auf das uns zugängliche reine Bewusstsein ‚seinsrelativ’, das seinerseits ‚seinsabsolut’ ist; (2) „Metaphysische“ Form - lautet wie folgt: Die uns „tatsächlich gegebene“ reale Welt ist auf das „unsrige“ (bzw. auf das individuelle „meine“) reine Bewusstsein in ihrem Wesen seinsrelativ und existiert auf diese Weise tatsächlich (vgl. SPhH, 212f). Laut Ingarden haben wir es bei Husserl mit der ‚eidetisch-ontologischen Form in einer allgemeinen Fassung’ zu tun. Husserl glaubt, dass die Existenz des reinen Bewusstseins auch durch die Nichtexistenz der realen Welt nicht bedroht sein würde, also kein reales Sein sei für das Sein des Bewusstseins selbst notwendig. Die existentiale Beziehung zwischen der realen Welt und dem reinen Bewusstsein ergibt sich in diesem Zusammenhang aus einer doppelten Entscheidung bezüglich der Glieder dieser Beziehung: (1) Die reale Welt (bzw. deren Glieder, d.h Dinge, Tiere, Menschen, Vorgänge) ist eine intentionale Einheit, welche bestimmt gearteten Mannigfaltigkeiten von Erlebnissen des reinen Ich (und später einer Vielheit von reinen Ichs) ‚korrelativ zugehört’ und sonst ein „Nichts“ ist. Die korrelative Zugehörigkeit wird von Husserl als „Konstitution“ in entsprechender Erlebnismannigfaltigkeit gedeutet, die zumindest zweifach aufgefasst werden kann: Entweder handelt es sich um die bloßen wesensmäßigen Sinnzusammenhänge zwischen Noematen („Erscheinungen“) verschiedener konstitutiver Schichten, so dass eine Ordnung in der Abhängigkeit der Sinnbestimmung eines Noemas der jeweils höheren konstitutiven Sicht von einer Mannigfaltigkeit entsprechender Noemata der jeweils niedereren Sicht statuiert wird, oder geht es um eine Sinnabhängigkeit (Determination) der jeweiligen Noemata von den Gehalten entsprechender Akte (Noesen) – und zwar alles im Sinne 134
Die metaphysische Form wird von Ingarden allerdings keinesfalls eindeutig ausgeschlossen.
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„statischer“ Beziehungen; (2) Das Bewusstsein wird in Bezug auf die reale Welt (bzw. auf deren Glieder) entweder als bloß sinnbestimmend, sinnverleihend oder als bildend, produktiv, ins Sein rufend und schöpferisch aufgefasst. Bei Husserl handelt es sich also um einen ‚idealistischen Standpunkt, dem gemäß die reale Welt ein in ihrem Sein und Beschaffensein schöpferisch gestaltetes Gebilde des reinen Bewusstseins ist (vgl. SPhH, 214f). Was hat Husserl dazu geführt? Ingarden versucht ausschlaggebende Faktoren herauszubekommen: (1) Husserl lehnt den Begriff der Transzendenz eines „Dinges an sich“ ab, welches nicht nur zufällig, z.B. in Folge einer besonderen ‚tatsächlichen’ psychophysischen Organisation mancher Erkenntnissubjekte, sondern seinem Wesen nach unerkennbar wäre. Deshalb lässt Husserl (nur) die Existenz von Entitäten zu, die ihrem Wesen nach Erkenntnisgegenstände, letztlich aber speziell Gegenstände von Erfahrung werden können, d.h. Gegenstände von Akten, in denen das zu Erkennende in sich selbst („unmittelbar“) und nicht mittels irgendwelcher Repräsentanten gegeben ist; (2) Auch der Gebrauch der Methode der phänomenologischen Reduktion, vermöge welcher alle Gegenstände der Erlebnisse des reinen Bewusstseins lediglich als ‚intentionale Korrelate’ betrachtet werden, bleibt nicht ohne Bedeutung. Zugleich aber werden die Ansprüche dieser Methode überschritten, weil Husserl Sätze über die reale Welt aufstellt, die den Charakter von rein ontischen oder sogar metaphysischen Sätzen haben, obwohl sie unter der Klausel der Reduktion aufgestellt wurden. Husserl ist nicht nur vom letzten „Einheitszusammenhang“ des (jedes) individuellen Seienden überzeugt, sondern er behauptet gleichzeitig, dass das Gebiet des reinen Bewusstseins in sich geschlossen sei und mit der realen Welt, wenn diese als ein anderes, getrenntes und autonomes (absolutes) Seiendes verstanden werde, in keinem Notwendigkeitszusammenhang stehen und zusammen mit ihr kein Ganzes individuellen Seins bilden könne, weil die Bewusstseinserlebnisse nur zusammen mit anderen Erlebnissen eine solche Seinseinheit bilden könnten; (3) Darüber hinaus spielen bei der Husserlschen idealistischen Entscheidung die Ergebnisse seiner Analyse von äußerer und innerer – im Unterscheid zu immanenter – Wahrnehmung
82 mit; (4) Ein weiterer Faktor, der Husserl zu seiner Entscheidung bewegt, ist seine Überzeugung, dass jede „Bestimmung“ der Eigenschaften eines realen Dinges sich nur aus dem Inhalt der Erfahrungsakte ergeben könne, in denen dieses gegeben ist, sowie aus den darin fundierten Prädikationsakten; d.h. dass das Ding keine anderen Eigenschaften habe als diejenigen, welche ihm in einstimmiger Erfahrung rechtmäßig zuerkannt worden sind. Desgleichen hat Husserl den gegenständlichen „Sinn“ eines realen Dinges (so wie er sich uns nach dem Vollzug der phänomenologischen Reduktion und der Konstitution im Verlaufe der betreffenden Erfahrung darstellt) mit dem realen Ding selbst (so wie es in sich selbst ist, also unabhängig davon, ob es erkannt wird oder nicht und davon, wie es sich uns vor dem Vollzug der phänomenologischen Reduktion darstellt) gleichgesetzt; (5) Schließlich wird von Husserl sowohl die Wahrnehmung als auch die darin fundierten Akte des prädizierenden Urteilens des vorfindbaren „thetischen“ Moments (also des Moments der ‚Anerkennung’ [des Akzeptierens] der Existenz des realen Gegenstandes) mit dem Moment der „Setzung“ der Existenz eines Gegenstandes (die strenggenommen nur bei den Akten kreativer Phantasie usf. vorliegt) gleichgesetzt (vgl. SPhH, 186f, 274f). In 2§1 (Kap. I) wurde bereits angedeutet, dass der transzendentale Idealismus bei Husserl eine Art „Entfaltung“ erfahren hat – von der den „Logischen Untersuchungen“ zu entnehmenden und noch realistisch geprägten Form, über eine halbidealistische Form der „Ideen I“ bis zur radikalen idealistischen Form in den „Méditations Cartésiennes“ und der „Formalen und transzendentalen Logik“. Folglich ergeben sich nach Ingarden bei einer näheren Betrachtung einige Differenzen im Hinblick auf den idealistischen Standpunkt, vor allem zwischen den „Ideen I“ und den „Méditations Cartésiennes“ sowie der „Formalen und transzendentalen Logik“ (vgl. EPhH, 261f). Wir machen hier einige Anmerkungen hinsichtlich des Subjekts. In den „Ideen I“ wird das reine Subjekt (das reine Ich) als identisches „Vollzugszentrum“ des reinen Bewusstseins aufgefasst, das durch die Struktur dieser Akte allein bestimmt ist und sonst ‚weiterer qualitativer 135
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Zum Problem der Wahrnehmung vgl. 2§6 (Kap. I).
83 Bestimmungen’ entbehrt, welche in irgendeiner Weise über das hinausgehen würden, was sich in der Immanenzsphäre selbst befindet. Indes soll in der „Logik“ wie auch in den „Méditations Cartésiennes“ das reine Ego mit gewissen Eigenschaften oder Habitualitäten (d.h. Gewohnheiten) und Vermögen ausgestattet sein. Diese Ausstattungen des reinen Subjekts sind jedoch nicht im Sinne der sogenannten „psychischen Dispositionen“ zu verstehen, welche in der Psychologie in hypothetischer Weise zur Erklärung gewisser Vorkommnisse und Gesetzmäßigkeiten im Bereich der sogenannten psychischen Erscheinungen angenommen werden, die aber selber in der inneren Erfahrung – „ex definitione“ – niemals gegeben sind und in der Psychologie die Rolle von „qualitates occultae“ einer gewissen Art spielen. Diese Habitualitäten werden vielmehr vom reinen Subjekt im Vollzug immer neuer Mannigfaltigkeiten der reinen Bewusstseinsakte erworben. Dadurch erwirbt auch das Subjekt, das immer „anders“ wird, eine spezifische Geschichtlichkeit, die von der Geschichtlichkeit der Ereignisse und Prozesse innerhalb der realen Welt zu unterscheiden ist. Mit diesen Verwandlungen des Subjekts entsteht jedoch zugleich die reale Welt; sie wird von ihm „erzeugt“ – sowohl die Welt der bloßen Natur als auch die von Kulturgebilden aller Art – und als intentionales Korrelat von reinen Erlebnissen verstanden. Diese Welt ist somit in ihrem Sein, ihrem Aufbau und ihren Eigenschaften nicht nur auf das reine Subjekt (die Monade) relativ (oder genauer gesagt auf eine Vielheit von Monaden), sondern auch auf die jeweilige Entwicklungsphase der Monaden. Hinsichtlich dessen ist Ingarden der Ansicht, dass Husserls transzendentaler Idealismus einen ‚metaphysischen Charakter’ annimmt, den Husserl keinesfalls vorausgesehen hat, als er sich auf die Suche nach einer absoluten Erkenntnis begeben hat, und der auch darin zum Vorschein kommt, dass sich im Verlaufe der Strukturen des Bewusstseins wie auch in der konstituierten Welt (der Natur und Kultur) Perspektiven auf das Problem Gottes und Wesen Gottes auftun (vgl. SPhH, 202f). Wie bereits angedeutet, taucht in den letzten Werken Husserls - neben dem transzendentalen Ego - auch eine Vielheit von „Alter Ego“ auf. In der „Einfühlung“ gelangt das transzendentale Ich zur Verständigung mit der Vielheit von „Alter Ego“. Obwohl die „Alter Ego“ den reinen Erlebnissen eines sie erkennenden Ego gegenüber transzendent sind, stellen sie jedoch keine „Gebilde“ oder „Produkte“ der reinen Erlebnisse dieses Ego dar.
84 Vielmehr wird ihnen kein bloß abgeleitetes, relatives Sein „für jemanden“ zugeschrieben, sondern sie werden auch als gleich absolut existierend wie das Ego und dessen ursprüngliche Erlebnisse anerkannt. Das schließt offenkundig nicht aus, dass sich jedes „Alter Ego“ in den Erlebnissen eines Ego konstituiert. Diese Konstitution (z.B. in den „Méditations“) wird aber nicht als „Produktion“ betrachtet. Die Existenz von vielen Monaden (Ego und Alter Ego) hat nach Ingarden zur Folge, dass die Konstitution der realen Welt von einer Konstitutionsschicht her unter Zusammenwirkung vieler Monaden beginnt: Die reale Welt in der Fülle ihrer Realität ist erst das Korrelat eines „intersubjektiven“ Konstitutionsprozesses. Keine der Monaden wäre für sich allein fähig, eine in vollem Maße reale Welt zu konstituieren. Durch intersubjektive Konstitution erlangt also die reale Welt erst die volle Realität sowie Seinsunabhängigkeit nicht nur von Erkenntnissen einzelner Menschen, sondern auch von Erkenntnisprozessen reiner Subjekte. Auch verschiedene Eigenschaften der realen Welt (z.B. physikalische Merkmale der Materie) können erst in der Erkenntniskooperation mehrerer reiner Subjekte entdeckt werden. Die Folge von dieser komplexen Welterkenntnis ist die Existenz einer einzigen und selben Welt, die für viele oder sogar für alle in dieser Welt wirkenden und lebenden Subjekte ‚gemeinsam’ ist (vgl. EPhH, 267f; SPhH, 204f, 55f). Stellen wir jetzt einige wichtigere kritische Hinweise zusammen. Der Idealismus kann nach Ingarden im Prinzip einwandfrei begründet werden; er darf aber bei der Formulierung des Problems ‚weder vorausgesetzt werden noch den Sinn des Problems bestimmen’ – wie dies beim späteren Husserl der Fall ist (vgl. EPhH, 272). Denn im entgegensetzten Fall droht die Gefahr einer Konfrontation mit dem gleichen Vorwurf, den Husserl selbst gegen Descartes und die nach-cartesianische Philosophie macht, nämlich dass das transzendentale Problem so gestellt und formuliert werden muss, dass es weder eine realistische noch idealistische Lösung voraussetzt, noch in seinem Sinne enthält. Wenn wir aber – so wie dies der spätere Husserl tut – von vornherein behaupten, dass das transzendentale Ich keinen Teil der realen Welt bildet, so machen wir gerade den gleichen Fehler wie Descartes und seine Nachfolger. Das ist der Hauptvorwurf Ingardens gegen den späteren Husserl, vor allem gegen seine „Méditations Cartésiennes“ (vgl. SPhH, 95).
85 Darüber hinaus spricht Ingarden von gewissen ‚formal-ontologischen Argumenten’, die von Husserl nur mangelhaft aufeinander abgestimmt und geklärt worden sind: (1) Erstens handelt es sich um das Verhältnis zwischen realen Gegenständen (wie sie uns in äußerer Erfahrung zugänglich sind) und Erlebnissen des reinen Bewusstseins (insbesondere äußeren Wahrnehmungen). Die wahrgenommenen Dinge sind ihrem Wesen nach den Erkenntnisakten gegenüber, in denen sie zur Gegebenheit kommen, ‚transzendent’. Diese Transzendenz besteht also darin, dass keine Eigenschaft des Wahrnehmungsgegenstandes eine Eigenschaft des Wahrnehmungserlebnisses ist, in dem der Wahrnehmungsgegenstand gegeben ist (vgl. SPhH, 305f); (2) Zweitens liegt eine ‚prinzipielle, materiale und wesensmäßige Verschiedenheit’ räumlicher (physischer) Dinge im Verhältnis zu den Bewusstseinserlebnissen vor. Den ersteren wird die Räumlichkeit zugeschrieben, welche den Erlebnissen abgesprochen wird; außerdem sind Erlebnisse intentional, während physischen Dingen keine Intentionalität zukommt. Die Bewusstseinserlebnisse und die physischen Dinge sind daher nicht nur zueinander ‚transzendent’, sondern auch ‚wesensverschieden’; (3) Drittens geht es um die Anwendung von zwei oben genannten, formal- (bzw. auch material-) ontologischen Argumenten (d.h. Transzendenz und Wesensverschiedenheit) auf das Problem des ‚Seinszusammenhangs’, der zwischen reinem Bewusstsein und realen Gegenständen bestehen sollte. Hier sind zwei Fälle zu unterscheiden: (a) Das Verhältnis zwischen Bewusstsein und Leib des erlebenden Subjekts; (b) Das Verhältnis zwischen wahrgenommenem Gegenstand und Wahrnehmen. Unser Autor wendet gegen Husserl ein: Wenn diese beiden Fälle vorliegen, dann ist das Bewusstsein ein Bestandteil der realen Welt, weil wir Menschen zu der realen Welt gehören. Und das lässt sich nicht mit den zwei oben genannten 136
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Hier haben wir ein typisches Beispiel dafür, dass Ingarden philosophisch-relevante Begriffe in einen Zusammenhang bringt, ohne sie zu klären und nach deren Verhältnis zueinander zu fragen. Gemeint sind also die Begriffe: „Erfahrung“ und „Wahrnehmung“. Dazu vgl. 2§6 (Kap. I). In diesem Zusammenhang wendet Ingarden gegen Husserl ein, dieser habe in seinen Untersuchungen das alte traditionelle Thema der abendländischen Philosophie, das „Leib-Seele-Problem“, vernachlässigt (vgl. SPhH, 350).
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86 Husserlschen Prinzipien (Transzendenz und Wesensverschiedenheit) vereinbaren (vgl. SPhH, 345f). Auch die Behandlung einzelner realer Gegenstände (z.B. Dinge der realen Welt) durch Husserl auf eine „analoge“ Weise löst bei Ingarden viele Bedenken aus. In der Husserlschen Philosophie soll die Welt eine ganz eigene Seinsregion bilden, welche zugleich dem Bewusstseinstrom als einer anderen Seinsregion gegenüber gestellt wird. Hierbei werden wir aber von Husserl im Unklaren gelassen, ob ein einzelnes Ding und die ganze Seinsregion des Typus „Welt“ völlig dieselbe formale Struktur haben oder ob da etwa wesentliche Unterschiede vorliegen, die für die Behandlung des „Idealismus-Realismus-Problems“ von Bedeutung sein könnten. Husserl untersucht auch nicht, ob ein Bewusstseinsstrom wirklich als eine ganze Seinsregion gilt oder z.B. nur als ein eigentümlicher individueller Gegenstand, welcher dann nicht die Form einer besonderen Seinsregion zu haben bräuchte. Folglich wird die Frage nach einer ‚existentialen Beziehung’ zwischen Welt und Bewusstsein in dieser Hinsicht unbestimmt gelassen. Demnach wissen wir nicht, ob es sich um eine existentiale Beziehung zwischen zwei Seinsregionen oder nur zwischen zwei individuellen Gegenständlichkeiten oder endlich zwischen einer Seinsregion und einem einzelnen individuellen Gegenstand handelt. In jedem dieser Fälle könnten die Bedingungen des Existierens einer existentialen Beziehung völlig anders sein (vgl. SPhH, 221f). In diesem Kontext formuliert Ingarden seine Idealismus-RealismusStreitfrage. Wie sich das bereits in diesem Abschnitt herausstellte, bezieht sich die Frage auf die ‚Existenzweise der realen Welt und ergibt sich aus der Differenz in Bezweifelbarkeit des Seins beider Seinssphären (also der 138
Nach Ingarden fasst Husserl den Gegenstand philosophischer Forschung zu eng auf und entscheidet bereits im Ausgangspunkt über die Lösung einiger Probleme (vgl. Majewska, Z. [1995], 61). Durch solches Verfahren entsteht die Gefahr einer „petitio principii“ (d.h. man setzt etwas voraus, ohne weiter danach zu fragen). Das gilt vor allem im Hinblick auf die Husserlsche Problematik der Wahrnehmung (vgl. EPhH, 291). Das Problem der „petitio principii“ hat Ingarden in dem Aufsatz „Über die Gefahr einer petitio principii in der Erkenntnistheorie. Ein Beitrag zur Prinzipienfrage der Erkenntnistheorie“ ausführlich behandelt (vgl. FSE, 201f). Wir werden dies im Kap. III ausführlicher behandeln.
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87 Welt und des Bewusstseins), bzw. aus der Transzendenz der realen Welt’. Die von Husserl vorgeschlagene Lösung stellt unseren Autor jedoch keineswegs zufrieden. Wie löst Ingarden selbst dieses Dilemma? Die Antwort auf diese Frage erfahren wir aber ganz genau erst im zweiten Teil der vorliegenden Abhandlung. Da wird sich zeigen, dass unser Autor eine ontologische Richtung bevorzugt: Die ontologischen Probleme werden in drei Gruppen aufgeteilt: existential-, formal- und materialontologische. Das bedeutet, dass der Unterschied zwischen diesen Gruppen in drei Richtungen erforscht werden muss: hinsichtlich des Existenzmodus, des formalen Aufbaus und des materialen Wesens - ganz unabhängig von der Frage, ob es ein reines Bewusstsein bzw. eine reale Welt tatsächlich gibt (vgl. SPhH, 22f). Indes gilt es noch zu prüfen, ob Ingardens Ansprüche, die sich aus seiner Analyse des Husserlschen Denkens ergeben, sich im Licht der neueren phänomenologischen Debatte als akzeptabel erweisen. 139
Einige Autoren versuchen, Ingarden mit A.N. Whitehead in Zusammenhang zu bringen bzw. zu vergleichen. Denn zum einen lehnen diese beiden Denker die neopositivistische Einengung der philosophischen Analysen auf die im Voraus bestimmten Grenzlinien ab. Zum anderen sind beide mit der idealistischen Lösung unzufrieden und somit bestrebt, die Philosophie erneut aufzubauen: Whitehead will die Begriffe der gegenwärtigen Wissenschaft (insbesondere den Begriff der Relativität) aufs Neue interpretieren, Ingarden hingegen bemüht sich, den für essentiale Analysen unabdingbaren Apparat herauszuarbeiten. In beiden Fällen haben wir es mit denselben Problemen zu tun, d.h. mit dem Problem der Einheit und Vielheit, des Inhalts und der Form, der Beständigkeit und Veränderung, der Ursache und Wirkung. Außerdem heißt das, dass beide Philosophen in relevanten Punkten einig sind. Es gibt zwischen ihnen offensichtlich auch gewisse Differenzen: Was am meisten auffällt, ist die Art und Weise, wie die Probleme aufgestellt werden. Bei Ingarden, der als Ausgangspunkt die von Husserl durchgeführte Differenzierung zwischen zwei Bereichen (reines Bewusstsein und reale Welt) gelten lässt, wird das Problem so formuliert, wie wir es in diesem Abschnitt dargestellt haben, also: „ Dürfen wir die reale (von reinem Bewusstsein) ‚seinsunabhängige’ Welt annehmen, oder eher eine ‚seinsabhängige’ Welt, oder müssen wir die Existenz der Welt schlechthin ablehnen.“ Bei Whitehead hingegen ist die Position des – so genannten - „einstweiligen Realismus“ festzustellen (vgl. Michejda, H. [1964], 5f). 139
88 c. Ingardens Interpretation des transzendentalen Idealismus Husserls im Licht der neueren phänomenologischen Debatte Im vorangehenden Abschnitt hat sich herausgestellt, dass Ingarden ein „unermüdlicher“ Befürworter der These über den transzendentalen Idealismus bei Husserl ist – allerdings mit einer kritischen Haltung. Diese Position findet aber nicht immer eine Akzeptanz seitens anderer HusserlForscher. Um ein Beispiel zu nennen: Auf dem „Internationalen Phänomenologischen Kolloquium in Krefeld“ (1956) ist folgende These aufgestellt worden: Es gibt bei Husserl gar keinen Idealismus; es geht nur um eine Sinnanalyse und nicht um eine Behauptung über die Welt. Auf dem Boden der Husserlschen Phänomenologie „verschwindet“ das Idealismus-Realismus-Problem (vgl. EPhH, 280; SPhH, 209). Selbst wenn die These in der neueren phänomenologischen Debatte nicht vertreten wird, dass es bei Husserl gar keinen Idealismus gebe, wird m.E. diese Problematik heute im Vergleich zu der Ingardenschen Interpretation in einer breiteren Dimension diskutiert. Mit anderen Worten: Während Ingarden dem Begriff des transzendentalen Idealismus in einem „engeren“ Kontext verhaftet bleibt, fällt bei einer Analyse der Beiträge aus der neueren phänomenologischen Polemik auf, dass dieses Problem dort in einem eindeutig „breiteren“ und m.E. für den Leser mehr fassbaren Kontext behandelt werde. Das heißt, es wird vor allen Dingen von „Phänomenologie als transzendentalem Idealismus“ oder von „Husserls konstitutivem Idealismus und dessen Verhältnis zur transzendentalen Phänomenologie“ gesprochen - also auch begrifflich Rücksicht 140
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Es handelt sich in erster Linie um einen Professor Müller aus Freiburg (er war kein Schüler von Husserl), der eine solche These aufgestellt hat. Ingarden war offensichtlich damit nicht einverstanden. So hat er auf den Vortrag verzichtet, den er ursprünglich hätte halten sollen, und in einer kurzen Zeit einen neuen fertig gestellt, nämlich „Über den transzendentalen Idealismus bei E. Husserl“, in dem er die für die idealistische Position sprechenden Argumente zusammengestellt hat (vgl. SPhH, 209f). Vgl. z.B. Ströker, E. (1987); Huang, W.H. (1998). Nun sehen wir, dass in diesem Zusammenhang (neben dem Begriff „transzendentaler Idealismus“) auch zwei andere
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89 genommen auf einen größeren philosophischen Zusammenhang – und nicht lediglich vom transzendentalen Idealismus in einer „Absonderung“, wie dies bei Ingarden meist der Fall ist. Demzufolge stellt sich die Frage: Muss Ingardens Auslegung des transzendentalen Idealismus bei Husserl gegenwärtig nicht als eine modifizierungsbedürftige Interpretation angesehen werden? Diese Frage ist positiv zu beantworten. Denn man könnte beispielsweise nach dem Verhältnis zwischen Husserl und Descartes fragen. Ingarden hat sich nicht die Frage gestellt, ob Husserls transzendentale Phänomenologie vielleicht als „neuer Cartesianismus“ bezeichnet werden könnte. Abgesehen vom 1931 verfassten Aufsatz „Bemerkungen zu den Méditations Cartésiennes“, der eher eine „analytische Analyse“ darstellt, finden wir bei unserem Autor darüber kaum etwas mehr. Indessen heißt es ganz klar in der neueren phänomenologischen Debatte: Husserls rückhaltslose Anerkennung gilt dem Begründer der neuzeitlichen Subjektivitätsphilosophie in ihrer Entdeckung des Ego cogito als dem zweifelsfreien Erkenntnisboden, auf dem ein radikaler Neubau der Philosophie und der in ihr gegründeten Wissenschaften geschaffen werden sollte. Dieser Zielsetzung von Descartes mißt Husserl „Ewigkeitsbedeutung“ zu. Das schließt aber nicht aus, dass Husserl etwas später jedoch den Cartesianischen Ausgangspunkt der Radikalisierung bedürftig findet und durch sie zu jenen „Umbildungen und Neubildungen“ gelangt, die nicht eine Fortentwicklung der Cartesianischen Philosophie, sondern eine transzendentale Phänomenologie entstehen lassen, welche ihn 142
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(für Husserls Denken relevante) Begriffe auftreten: „Phänomenologie“ und „Konstitution“. D.h. in einer „begrifflichen Isolierung“. Dies wird deutlich etwa in den bekanntesten Aufsätzen Ingardens zu dieser Problematik: „Der Brief an Husserl über die VI. Untersuchung und den Idealismus“ (1918); „Bemerkungen zum Problem „IdealismusRealismus“ (1929); „Über den transzendentalen Idealismus bei Husserl“ (1956) usw. Diesen Ausdruck verwendet Husserl selbst, vgl. Hua I, 3, 43. Wir beabsichtigen aber hier keinesfalls, Differenzen zwischen Husserl und Descartes herauszustellen. Für unsere Zwecke reicht eine allgemeine Feststellung aus. Das heißt, Ingarden führt – quasi Satz für Satz - eine kritische Analyse des Husserlschen Textes (Fragmente von den „Méditations“ 1 bis 4) durch. 142
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90 von Descartes trennt. Das entscheidend Neue der Husserlschen Phänomenologie gegenüber Descartes liegt also darin, dass in der Epoché alle Seinssetzungen nebst allen impliziten Seinsmeinungen verboten werden und die Welt dahingestellt bleibt, so dass die Welt in ihrem Bestand nicht angetastet, auch nicht einmal vorübergehend der methodischen Fiktion des Umsturzes unterworfen wird, sondern dass sie so gerade zum Gegenstand, zum noematischen Korrelat des transzendentalen Bewusstseins wird. Mit dem Problem des transzendentalen Idealismus hängt aufs engste die Konstitutionsproblematik zusammen, was Ingarden m.E. nicht hinreichend im Hinblick auf den transzendentalen Idealismus erleuchtet. Zwar behandelt unser Autor die Konstitutionsproblematik im Aufsatz „Das Konstitutionsproblem und der Sinn der konstitutiven Betrachtung bei Edmund Husserl“, aber dieser Aufsatz wird streng genommen keinesfalls auf den transzendentalen Idealismus bezogen. Dagegen wird oft die Ansicht in der neueren phänomenologischen Diskussion vertreten, dass der transzendentale Idealismus auch als „konstitutiver Idealismus“ bezeichnet werden könne, wobei der Begriff der Konstitution als Schlüsselbegriff der transzendentalen Phänomenologie Husserls fungiert. Denn Husserl kann seinen Idealismus erweisen und präzisieren in dem Maße, wie er das, was ihm Konstitution heißt, klarzulegen und in seinen Konsequenzen auszuschöpfen vermag. Ein anderes relevantes Merkmal, das die neuere phänomenologische Debatte auszeichnet, lautet: Husserl hält seine Philosophie nicht für dazu bestimmt, das historische Problem des Idealismus zu behandeln oder überhaupt in die üblichen Verhandlungen zwischen Idealismus und Realismus – wie dies eben Ingarden haben will – einzugreifen, da sie vielmehr „die einzige absolut eigenständige Wissenschaft“ sei. Hier sei bereits angedeutet, dass es sich beim Idealismus-Realismus-Problem eigentlich um den „Streit um die Existenz der Welt“ handelt, das 145
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Vgl. Ströker, E. (1987), 220f. Es handelt sich also um einen Vortrag, der am 27. April 1957 auf dem III. Internationalen Phänomenologischen Kolloqium in Royaumont gehalten worden war. Hua Dok II/1, 178. Vgl. Ströker, E. (1987), 228f.
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91 bekanntlich unter anderen von Ingarden gründlich diskutiert wird, in der gegenwärtigen Philosophie freilich oft als „Pseudoproblem“ gilt. Denn Philosophie geht immer von der Erfahrung aus, und Erfahrung ist ein „Schon-sein-bei-der-Welt“. Hat Philosophie Erfahrung zum Ausgangspunkt, so ist eben dieses „Schon-sein-bei-der-Welt“ ihre Voraussetzung. Es wird zwar kritisch auf seine Bedingungen hin hinterfragt, jedoch niemals als Voraussetzung in Frage gestellt werden. Wir kommen erst im zweiten Teil der vorliegenden Abhandlung („Ingardens Weg des Realismus“) darüber ausführlicher zu sprechen. Gegen einen solchen „Streit um die Existenz der Welt“ wendet sich etwa Heidegger: 149
„Im Sichrichten auf [...] und Erfassen geht das Dasein (hier: Mensch) nicht etwa erst aus seiner Innensphäre hinaus, in die es zunächst verkapselt ist, sondern es ist seiner primären Seinsart nach immer schon „draußen“ bei einem begegnenden Seienden der je schon entdeckten Welt. Und das bestimmende Sichaufhalten bei dem zu erkennenden Seienden ist nicht etwa ein Verlassen der inneren Sphäre, sondern auch in diesem „Draußensein“ beim Gegenstand ist das Dasein im rechtverstandenen Sinne „drinnen“, d.h. es selbst ist es als In-der-Welt-sein, das erkennt.“ 150
Wenn aber unser Autor darauf trotzdem besteht und über das IdealismusRealismus-Problem spricht, dann wäre zu fragen, warum er bei seiner Analyse des Husserlschen Gedankenguts z.B. die (vor allem kritische) Stellung des Neukantianismus, dessen Einfluss die Husserlsche Phänomenologie ausgesetzt worden war, nicht mit berücksichtigt habe, zumal der Neukantianismus auf zwei (in diesem Kontext) relevante Faktoren verweist: (1) Die Entwicklung der Husserlschen Phänomenologie verläuft nicht kontinuierlich; (2) Husserl gerät in einen „Intuitionismus“ und damit verbundenen „Ontologismus“ (obwohl seine Phänomenologie mit dem Neukantianismus die gleichen erkenntnistheoretischen Ansätze teilt, nämlich Verzicht auf die Wendung zum Objekt zugunsten der Wendung zur Subjektivität und die Frage der Konstitution). Was also den Intuitionismus anbelangt, geht es einfach darum, dass Husserl das fundierende Bewusstsein als etwas „Intuitives“ erfasst, das als eine Art von 149 150
Vgl. Anzenbacher, A. (2002), 123f. Vgl. Heidegger, M., SuZ, S. 62.
92 „sachlicher Bestimmtheit“ verstanden wird. Beim Ontologismus hingegen handelt es sich um Folgendes: Insofern Husserl das fundierende Bewusstsein sachlich als etwas Intuitives bzw. als ein Seiendes bestimmt, sei er „metaphysischen Setzungen“, nämlich einem Dogmatismus verfallen. Husserls transzendentale Phänomenologie macht also den Fehlschritt, indem sie „Seiendes durch Seiendes“ zu erklären versucht. In diesem Zusammenhang stellt sich noch folgende Frage: Warum hat Ingarden beim Behandeln des Idealismus-Realismus-Problems keine begriffliche Differenzierung – aus einer breiteren philosophischen Sicht vollzogen? Das heißt: Warum hat er nicht methodisch deutlich gefragt, ob wir es bei Husserl z.B. mit einem subjektiven oder kritischen, einem logischen oder Geistes-Idealismus zu tun haben? Dies hätte vor allem den Lesern, die mit der Idealismusproblematik schlechthin nicht gut genug vertraut sind, zu einem tieferen Verständnis des Kerns des Problems selbst verhelfen können – aufgrund einer weiter angelegten philosophischen Nachforschung. Folgender kurzer Überblick soll uns von der Erfordernis und Relevanz einer solchen Nachforschung (auch für die vorliegende Abhandlung) überzeugen. Der subjektive oder empirische Idealismus führt seinen Namen darauf zurück, dass er von einer Selbstbestimmung des empirischen Subjekts, der psycho-physischen Einzelperson aus (nicht von einem transzendentalen Standpunkt) seine Überlegungen anstellt. Sein Prinzip lautet: Alles ist subjektiv. Womit ich es zu tun habe, sind immer meine Erlebnisse, Vorstellungen, Gedanken, geradeso wie Gefühle und Willensentschlüsse mir zu eigen sind. Jeder lebt in seiner eigenen Welt. Der Glaube an die Realität der Welt ist mein Glaube, über dessen Berechtigung ich allein zu entscheiden habe. Folglich ergibt sich daraus, dass ich es niemals unmittelbar mit den Dingen selbst, wenn es solche geben sollte, zu tun habe, sondern nur mit der Art, wie sie sich in meinem Bewusstsein abbilden. Ob sie ein Sein für sich haben, kann ich nicht wissen und nichts 151
Vgl. Zocher, R. (1932), 130f. Beim Neukantianismus handelt es sich bekanntlich vor allen Dingen um zwei Schulen: (1) Marburger Schule (Cohen, Natorp) – wandte sich den mathematischen Naturwissenschaften zu; (2) Badische Schule (Windelband, Rickert) – entfaltete die Theorie der Geisteswissenschaften (vgl. Lotz, J. [1996d], 265). In unserer Abhandlung gehen wir darauf nicht ausführlicher ein.
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93 zwingt mich zu dieser Annahme. Der Grundfehler des subjektiven Idealismus ist, dass er nicht vom Bewusstsein ausgeht, sondern vom empirischen Ich, das selbst schon Bewusstseinserscheinung ist. Der klassische Vertreter des kritischen oder transzendentalen Idealismus ist Kant. Obwohl Kants Lehre im großen und ganzen nur eine recht „künstliche“ Transzendentalphilosophie ist, deren Erfahrungsgrundlage allein die Tatsache ist, dass es ein Weltbewusstsein und Selbstbewusstsein gibt, überwindet sie – richtig verstanden – tatsächlich den subjektiven Idealismus. Kant nimmt an, dass nicht das einzelne Subjekt mit seinen Zufälligkeiten, sondern ein „transzendentales Subjekt“ den Gegenstand bestimme, d.h. ein Subjekt, dessen apriorische Anschauungs- und Denkformen für alle (gleich uns) denkenden Wesen unbedingt geltendes Gesetz sind. Der kritische Idealismus ist nicht subjektiver, sondern objektiver Idealismus. Der logische Idealismus hingegen hängt mit dem Neukantianismus zusammen und betrachtet die Denkformen deshalb nicht mehr als Bewusstseinsinhalte eines realen denkenden Subjekts, sondern als sich selbst genügenden Grund aller Geltung. So weicht er der Frage nach dem Denken all dieser Denkformen aus, indem er seine Aufmerksamkeit nur auf das logische Gefüge der Denkinhalte richtet. Was schließlich den Geistesidealismus anbelangt, geht es hier um diejenigen Richtungen des Idealismus, die in gewissem Sinne einerseits dem logischen Idealismus verwandt sind, andererseits aber zugleich auch von ihm zu unterscheiden sind, zumal sie das geistige Gebilde für das „Ansich“ der Erscheinungswelt halten. Für sie besitzt das Geistige die Priorität nicht nur vor dem Realen, sondern auch vor dem Erlebnismäßigen. Vertreter dieser Richtung sind alle platonisierenden Philosophen, vor allem diejenigen, die als Hauptfiguren des deutschen Idealismus gelten, also die Zeit von Fichte bis Hegel. Für sie fällt die Wirklichkeit des Geistes nicht mit einer begriffsbildenden Funktion zusammen, sondern der „Geist“ tritt 152
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Reininger, R. (1970), 116. Vgl. Disse, J. (2001), 222f. Vgl. Reininger, R. (1970), 125f. Dazu vgl. Fußnote 151.
94 in ihnen als ein ‚schöpferisches’ Prinzip auf und gewinnt damit außer seiner erkenntnistheoretischen auch ontisch-metaphysische Bedeutung. Auf diesem allgemeinen idealistischen Hintergrund lässt sich auch ein konkretes Beispiel aus der neueren phänomenologischen Debatte bezüglich der Interpretation des transzendentalen Idealismus Husserls besser verstehen. Dazu wählen wir Fink. Anschließend soll nach Berührungspunkten zwischen Fink und Ingarden gefragt werden. 155
d. Eugen Finks Interpretation des transzendentalen Idealismus Husserls. Die Frage nach möglichen Berührungspunkten mit Ingarden Wie bereits in der Einleitung angedeutet, ist Fink für unsere Abhandlung insofern von großer Bedeutung, als er als Hauptfigur bei der Umarbeitung der „Cartesianischen Meditationen“ Husserls gilt, in denen die Problematik des transzendentalen Idealismus stark zum Vorschein kommt. Etwa 1930 beauftragte Husserl Fink mit der Aufgabe, eine umfangreichere und tiefgreifende Umarbeitung seiner „Meditationen“ für das deutsche Publikum zu erstellen. Eine neue „I. Meditation“ wurde von Fink geschrieben, viele Teile der „II., III., IV. und V. Meditation“ wurden umgearbeitet oder durch neue Paragraphen ergänzt. Darüber hinaus wurde eine bis dahin noch nicht vorhandene „VI. Meditation“ ausgearbeitet. Allgemein betrachtet gilt nach Fink die wesentliche Absicht des phänomenologischen Idealismus Husserls einer grundlegenden Bewusstseinsforschung. Der Grundgedanke der Husserlschen Phänomenologie ist die transzendentale Subjektivität, und insbesondere das transzendentale Bewusstsein, dessen Auslegung zu einer konstitutiven 156
Es geht also vor allem um Fichte und Schelling. Vgl. Disse, J. (2001), 255f; auch Buchheim, Th. (1992) – dieser versucht einerseits den Grundbegriff der Potentialität bei Schelling zu erschließen, andererseits den Unterschied zwischen positiver und negativer Denkweise aufzweisen sowie philosophische Grundprinzipien (beim späten Schelling) zu formulieren. Huang, W.H. (1998), 3f. Fink hat offensichtlich zur Weiterentwicklung der transzendentalen Phänomenologie auch in anderen wichtigen Abhandlungen beigetragen, z.B. „Vergegenwärtigung und Bild“, „Die phänomenologische Philosophie Edmund Husserls in der gegenwärtigen Kritik“. 155
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95 Weltaufklärung führt. Die Welt wird als Leistung des transzendentalen Bewusstseins aufgefasst. Die transzendentale Subjektivität selbst wird im Vergleich zur konstituierten Welt zu einem „in sich selbst gründenden Absoluten“. Nur der transzendentalen Subjektivität kommt der Rang des absoluten Seins zu, das Sein der Welt dagegen ist eine Leistung der transzendentalen Subjektivität. Bei der Enthüllung der konstitutiven Leistung der transzendentalen Subjektivität stoßen wir jedoch auf gewisse Schwierigkeiten, d.h. die Frage nach dem ‚Sein der Intentionalität’ bleibt unaufgeklärt. Sie enthält in sich die Frage nach der Seinsweise der transzendentalen Subjektivität. Wenn wir aber den Sinn des transzendentalen Idealismus Husserls anhand der „VI. Meditation“ charakterisieren, dann könnte man bei Fink eine ‚negative und positive Richtungslinie der Auslegung’ des transzendentalen Idealismus feststellen. Was die erste Richtungslinie anbelangt, handelt es sich um eine ‚negative Destruktion’ der Voraussetzungen und Grundlagen des mundanen Idealismus und Realismus, wobei der mundane Idealismus in vier Grundformen aufgeteilt wird: (1) den ontologischen Idealismus (I); (2) den erkenntnistheoretischen I; (3) den aktivistischen I und (4) den absoluten I. In diesem Sinne liegt die transzendentale Phänomenologie „jenseits von Idealismus und Realismus“, d.h. sie ist weder Idealismus noch Realismus. Der transzendentale Idealismus steht sowohl in einer Beziehung als auch in einer Abgrenzung vom mundanen Idealismus. Das heißt: Einerseits steht 157
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Vgl. Fink, E. (1966a), 222f. Diese ungeklärte Seinsfrage bei Husserl versucht Fink im Rahmen des „me-ontischen“ Denkens zu lösen. Das heißt: Das Sein der transzendentalen Subjektivität ist weder als seiend noch als nicht-seiend, sondern als „me-ontisch“ zu verstehen. Dazu vgl. Bruzina, R. (1989), 5f. Da dies aber für unsere Abhandlung nicht relevant ist, gehen wir darauf nicht ausführlicher ein. Diese Arten von mundanem Idealismus werden hier nicht geklärt, außer dem erkenntnistheoretischen Idealismus. Was den mundanen Realismus betrifft, gilt: Während der mundane Idealismus die Verabsolutierung der Subjektivität betont, vertritt der mundane Realismus, dass das Sein des Seienden in sich eine gewisse Unzugänglichkeit für das subjektive Bewusstsein enthält. Mit anderen Worten: Die Erfahrungsbezogenheit des Seienden auf das erkennende Subjekt schließt die ontische Unabhängigkeit des Seienden von dem es erfahrenden Leben nicht aus, sondern ein (vgl. Hua Dok II/1, 176f). 157
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96 der transzendentale Idealismus in einer „intimeren Affinität“ zum ‚absoluten’ und ‚aktivistischen’ Idealismus, und vom ‚ontologischen’ Idealismus gewinnt er entscheidende Einsichten in sich selbst, andererseits ist er aber vom ‚erkenntnistheoretischen’ Idealismus abzugrenzen. Beschreiben wir jetzt kurz diesen letzteren, weil er für den ganzen ersten (erkenntnistheoretischen) Teil der vorliegenden Abhandlung relevant ist. Der erkenntnistheoretische Idealismus, der die meisten neuzeitlichen Philosophen beherrscht, gewinnt seine ontologische These in einer „Theorie der Erkenntnis“. Das Erkennen wird in ihm primär als ‚Verhalten des Menschen zu seiner Außenwelt’ verstanden. Das Hauptmotiv des erkenntnistheoretischen Idealismus ist die Bestimmung des Verhältnisses zwischen Immanenz und Transzendenz. Die Bestimmung des ImmanenzTranszendenz-Verhältnisses besagt: Das Sein der Außenwelt hat prinzipiell nur den Sinn eines ‚Korrelates subjektiver seinsmeinender, seinsbewährender Erlebnisse’; d.h. das Sein ist uns ‚nur in seinsausweisenden Erlebnissen zugänglich’. Damit ist die Idee des Seins untrennbar mit der Idee der subjektiven Zugänglichkeit verbunden. Das subjektive Bewusstsein wird also in dieser idealistischen Position als Quelle allen Seinssinnes erfasst. Es wird dabei verabsolutiert, denn jede Transzendenz wird gemäß dieser mundanen idealistischen Position als ein immanenter Teil des Bewusstseins gedeutet: Transzendenz wird auf Immanenz reduziert und damit geleugnet. Das Sein ist dem mundanen Idealismus zufolge ein immanenter Teil des Bewusstseins, die Produktivität einer weltlosen Subjektivität. Der transzendentale Idealismus hingegen vertritt nicht die Position, das subjektive Bewusstsein zu verabsolutieren und die Bewusstseinstranszendenz zu leugnen, sondern erfasst sie als Bewusstseinskorrelat und stellt sich die Aufgabe, Transzendenz durch intentionale Analyse konstitutiv aufzuklären. Obwohl die Welt durch die Epoché auf das Phänomen reduziert wird, ist das reduzierte Weltphänomen nicht als eine bloße immanente Erscheinung zu verstehen. Die Epoché ist nicht eine Methode, die Welt zu vernichten, sondern eine, zu ihr zu kommen und ihr Sein verständlich zu machen. Der transzendentale 159
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Vgl. Hua Dok II/1, 170f.
97 Idealismus leugnet also nicht die Unabhängigkeit des Seienden vom erfahrenden Subjekt, sondern hält fest, dass das wahre An-und-für-sichSein der Transzendenz nur aus der konstitutiven Leistung der transzendentalen Subjektivität zustande kommt. Was die positive Richtung der Darstellung des transzendentalen Idealismus anbelangt, hängt sie bei Fink mit dem Problem der Konstitution zusammen. Da der transzendentale Idealismus danach strebt, die Welt durch eine Konstitutionsanalyse zu erhellen, wird er auch als „konstitutiver Idealismus“ bezeichnet. Der Konstitutionsproblematik werden wir aber erst im nächsten Abschnitt nachgehen – und zwar mit Rücksicht auf die Ingardensche Interpretation, die der Finkschen nahe steht. Hier fragen wir lediglich noch nach möglichen Berührungspunkten zwischen Fink und Ingarden in Bezug auf das bisher in diesem Zusammenhang Ausgeführte. Während sich bei Ingarden keine detailliertere Analyse finden lässt, die Husserl und Descartes konfrontierend diskutiert – so wie wir dies oft aus gegenwärtigen phänomenologischen Diskursen kennen, lassen sich jedoch einige Berührungspunkte zwischen unserem Autor und dem gegenwärtigen Standpunkt der Husserl-Forschung – in diesem Abschnitt meinen wir ganz konkret Fink – nachweisen. Als erstes gilt es hervorzuheben, dass beide Denker (d.h. Fink und Ingarden) eine Differenzierung zwischen Immanenz und Transzendenz bei Husserl vollziehen. Damit hängt gleichsam auch die Behauptung über die ‚Welt als noematisches Korrelat des transzendentalen Bewusstseins’ zusammen; die Welt wird dabei nicht vernichtet, sondern durch die Epoché wird ihr Sein verständlich gemacht. Die Phänomenologie, die für Husserl „eo ipso“ als transzendentaler Idealismus gilt, schließt sowohl nach Ingarden als auch nach Fink realistische Grundannahmen von Anfang an aus. Für den transzendentalen phänomenologischen Idealismus ist „absolute Realität“ so etwas wie ein „rundes Viereck“. Husserl weist immer wieder auf den Widersinn eines philosophischen Realismus hin, der sich zu einem Sein außerhalb eines jeden Bewusstseins versteht. Realität und Sein klärt er so auf, dass die 160
160
Vgl. Hua Dok II/1, 176f.
98 Kraft realistischer Gegenargumente gebrochen wird. So heben beide Denker einstimmig das Husserlsche Urteil über das Sein der Welt hervor. Allerdings muss man auch feststellen, dass beide Philosophen im Allgemeinen jeweils andere Schwerpunkte setzen. Während Ingarden sich auf eine Differenzierung zwischen drei Problemgruppen (der erkenntnistheoretischen, der ontologischen und der metaphysischen) konzentriert, stellt Fink dagegen das Problem des mundanen Idealismus in den Mittelpunkt. Abschließend ist festzuhalten, dass bei beiden Denkern dem Begriff des reinen Bewusstseins eine zentrale Rolle zukommt. Es ist einer der fundamentalen Begriffe der Husserlschen Phänomenologie. 161
§4. Transzendentales Bewusstsein und Konstitutionsproblem der realen Welt Um die Tatsache zu erklären, dass Dinge nicht bloß existieren, sondern berichtet und gewusst werden, wird „Bewusstsein“ als notwendig angenommen. Der Begriff „Bewusstsein“ spielt z.B. in der Diskussion über das sogenannte Körper-Geist-Problem (früher „Leib-Seele-Problem“ genannt) eine wichtige Rolle. Worin besteht dieses Problem? Es geht kurz gesagt um Folgendes: Ich erlebe die Welt, empfinde dabei mancherlei, denke, vergesse, sehe, höre, rieche, habe Schmerzen, bin deprimiert usf. Darüber hinaus wird in der gegenwärtigen Philosophie einerseits die These vertreten, dass man Bewusstsein zwar nicht definieren, aber durch alle möglichen Leistungen charakterisieren kann, etwa durch Intelligenzleistungen, Intentionalität, Reflexivität, das Abgeben von Berichten über innere Zustände. Andererseits wird aber behauptet, dass 162
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164
Dazu vgl. auch Ströker, E. (1987), 226f. Vgl. James, W. (1904), 4. Vgl. Schleichert, H. (1992), 9. Vgl. Rey, G. (1988), 5f. Eine sehr interessante (selbst wenn nicht ganz problemlose) Konzeption des Bewusstseins, in der die Funktionen (Leistungen) deutlich hervorgehoben werden, finden wir etwa im Buch von K. Wojtyla „Person und Tat“. Der Verfasser spricht von drei Funktionen (F) des Bewusstseins: (1) durchleuchtend-
161 162 163 164
99 Bewusstsein keine Leistung, Funktion oder Verhaltensweise sei, sondern eine Eigenschaft von Leistungen, eine Eigenschaft, die manchmal vorhanden sei und manchmal fehle. Wenn wir uns mit dem Problem des Bewusstseins bei Husserl befassen wollen, dann sind wir bereits in diese Problematik durch obige Gedanken treffend eingeführt worden. Allerdings sind für uns vor allem Hinweise auf die Leistungen des Bewusstseins von Bedeutung, insbesondere die Intentionalität, weil sie auch für Husserl gelten, wie das sich noch weiter zeigen wird. Mit der Problematik des Bewusstseins bei Husserl hängt aufs engste das Problem der Konstitution zusammen. Es wurde schon angedeutet, dass sich alle wertvollen Analysen des Bewusstseins bei Husserl aus der Durchführung der transzendentalen Reduktion ergeben: Man muss die Reduktion durchführen, damit sich uns das reine (transzendentale) Bewusstsein enthüllt. Denn solange wir „natürlich“ eingestellt sind, haben wir noch nicht das reine Bewusstsein, sondern nur psychisches, menschliches Bewusstsein. Erst die Reduktion kann uns überhaupt die Augen dafür öffnen, was das reine Bewusstsein ist; sie kann uns das Wesen des reinen Bewusstseins zeigen (vgl. EPhH, 215f) und zu entscheiden erlauben, was ‚reelles Bestandstück’ des Bewusstseins ist (vgl. EPhH, 231). Die Frage ist daher: Ist das psychische Bewusstsein mit dem transzendentalen deckungsgleich? Nach Ingarden ist das reine Bewusstsein etwas ganz anderes als nur das durch die Reduktion „gereinigte“ psychische Bewusstsein. Auch wäre die These falsch, nach der es sich bei Husserl sowohl im psychischen als auch im reinen Bewusstsein um immer denselben Bewusstseinskern handelte, wobei am diesen Kern nur verschiedene Charaktere wie gewisse Schalen aufträten. Der wesentliche Unterschied zwischen beiden Arten von Bewusstsein besteht vor allem darin, dass dem reinen Bewusstsein ein „unendlicher, kontinuierlich verlaufender Strom“ zukommt, der dem 165
widerspiegelnde F; (2) Erlebens-F und (3) reflexive F (vgl. dazu Rynkiewicz, K. [2002], 95f.). Vgl. Smith, D.W. (1988), 26f. Wir enthalten uns hier einer Beurteilung. Uns geht es lediglich darum, die Position Husserls (bzw. einige Merkmale davon) mit anderen relevanten philosophischen Stellungen insofern zu konfrontieren, als dadurch das Anliegen der vorliegenden Untersuchung verdeutlicht wird. 165
100 psychischen Bewusstsein fehlt. Unser Autor erklärt dies mit folgendem Beispiel: Ich schlafe jeden Abend ein, und wenn ich ganz gut schlafe, habe ich gar kein Bewusstsein: Ich schlafe einfach, ich träume nicht. Es gibt da also ständig, jeden Tag oder jede Nacht Unterbrechungen (vgl. EPhH, 246). Nun sehen wir, dass es dem psychischen Bewusstsein an der Kontinuität fehle. Überdies kann man ihm das Prädikat „unendlich“ nicht zuschreiben. Zwar kann ich in meiner Erinnerung sehr weit zurückreichen, aber schließlich verschwimmt irgendwie alles, es ist ausgelöscht. Bis zu meinem zweiten Lebensjahr kann ich manchmal im Bewusstsein zurückkehren, aber weiter zurück weiß ich unmittelbar aus meinem Leben nichts mehr. Was ich weiß, weiß ich nur aus Überlieferung: Es gab das Jahr 1969, in dem ich geboren wurde. Früher gab es irgendeine Zeit, eine Welt; aber das ist für mich ein bloßer Gedanke, erlernte Geschichte, aber kein Erlebnis. Auch was auf mich zukommt, ist ganz unklar, glücklicherweise oder unglücklicherweise (vgl. EPhH, 246f). Das Fehlen der Identität zwischen psychischem und reinem Bewusstsein weist nach Ingarden auf gewisse Schwierigkeiten bezüglich der Reduktion hin. Und zwar stellt sich die Frage: Inwieweit vermag die transzendentale Reduktion uns zum reinen Bewusstsein zu führen? (vgl. EPhH, 247). 166
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Beim Sprechen über das Bewusstsein bei Husserl bedient sich Ingarden vor allem des Terminus „Strom“. Das ist aber unzureichend, um das ganze Problem umfassend zu behandeln. In der neueren phänomenologischen Debatte geht man viel weiter und spricht vom Bewusstsein auch als „Feld“. Demnach ist das Bewusstsein als ichzentrierte Einheit nicht nur „Strom“, sondern auch „Feld“. Diese beiden Ausdrücke werden offenischtlich als ‚Metaphern’ im gewöhnlichen Sprachverständnis genommen (vgl. Ströker, E. [1987], 104). Das Problem der Identität zwischen psychischem und reinem Bewusstsein ist offensichtlich vom Problem der „Identität des reinen Ichs“ (IdrI) selbst zu unterscheiden. Was das letztere anbelangt, ist es nach Ingarden wie folgt zu differenzieren: (1) IdrI, welche die Bedingung der Möglichkeit der Einheit des Bewusstseinsstroms und zugleich der Erkenntnis überhaupt ist, weil sie (IdrI) sich im Bewusstseinsstrom erhält, obwohl immer neue Bewusstseinsakte vollzogen werden; (2) IdrI, das seine eigene Identität im Bewusstseinsstrom zu erfassen sucht, indem es einen auf sich selbst gerichteten reflektiven Akt vollzieht (vgl. Ingarden, R. [1968b], 131f). 166
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101 Nach unserem Autor strebt Husserl das Wesen des Bewusstseins aus dem ‚Gegensatz zwischen Bewusstsein und transzendentem Gegenstand’ zu bestimmen, wenn er vermittels der transzendentalen Reduktion den Zugang zum reinen Bewusstsein gewinnen will. Ein solcher Versuch der Auffassung des reinen Bewusstseins ist bei Husserl jedoch problematisch. Denn es ist nicht ganz klar, was dieser für seine Philosophie fundamentale Begriff umfasst. Aus der falschen Auffassung des Wesens des Bewusstseins und aus einer unberechtigten Verallgemeinerung des besonderen Verhältnisses zwischen dem Bewusstseinsakt und seinem Gegenstand folgt Husserls ‚idealistische These’ (vgl. OSW, 30). Der Mangel an der Exaktheit der Formulierung hat zur Folge, dass drei Interpretations-Möglichkeiten zugelassen werden können: (1) Bewusstsein (B) umfasst (als weitester Begriff) alle intentionalen Akte, alle ursprünglichen „hyletischen“ Daten und Noemen (in allen Konstitutionsstufen); (2) B enthält (als engerer Begriff) alle intentionalen 168
Unter „hyletischen“ Daten sind stoffliche Inhalte bzw. qualitative Gehalte zu verstehen (vgl. Ingarden, R. [1968b], 127). Das ist aber leider nur eine unpräzise Erklärung Ingardens. Denn vielmehr heißt es in der neueren phänomenologischen Debatte: „The material components or hyletic data comprise sensations, feelings, sense data, and other non-intentional ‚sensory stuffs’, such as ‚the data of colour, touch, sound, and the like’, as well as ‘sensory impressions of pleasure, pain, tickling, etc.’, and also the sensory or quasi-sensory moments, if any, that belong to emotional feelings, desires, acts of will, memory, imagination, and so forth. These are items which are simply given to consciousness, or which, conversely, consciousness passively receives. Hyletic data are distinct from all noetic or intentional aspects in virtue of possessing the following attributes” (vgl. Bell, D. [1990], 172f). Einige Leser werden hier wohl bereits fragen, wie Ingarden selbst das Bewusstsein (B) auffasst? Wie wir das noch in weiteren Abschnitten (bzw. Kapiteln) unserer Untersuchung genauer sehen werden, „sind“ für Ingarden das B vor allem ‚Akte’. Der Akt ist das ‚Durchleben’ einer Meinung (Intention) mit einem bestimmten Inhalt, dessen Differenzierung bewirkt, dass der Akt sich auf einen Gegenstand bezieht (diesen Gegenstand meint). Das Durchleben eines Aktes und das in dem Akt Durchlebte ist ein absolut Identisches, das nur gleichsam unter verschiedenen Gesichtspunkten betrachtet wird. In Ingardens Konzeption des B ist also das „Durchleben“ das ‚wesentlichste Moment’ des B, nämlich dadurch, dass es „Selbst-Wissen“ ist. Hier sei nur noch hinzugefügt, dass Ingarden in seine Philosophie den Begriff „Intuition des Durchlebens“ einführt (vgl. OSW, 32f, 120f).
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102 Akte und ursprünglichen hyletischen Daten; (3) Dem B gehören (als engstem Begriff) nur alle intentionalen Akte an. Je nachdem, welche Auffassung des Bewusstseins in der phänomenologischen Diskussion zugrundegelegt wird, ergibt sich dementsprechend eine Lösung des „Idealismus-Realismus-Problems“. Wenn man beispielsweise die erste Auffassung ins Spiel kommen lässt, dann lässt sich keinesfalls die These Husserls über den prinzipiellen Seinsunterschied zwischen reinem Bewusstsein und realer Welt mehr aufrechterhalten (vgl. SPhH, 222f). Übereinstimmend mit den meisten philosophischen gegenwärtigen Interpretationen liefert auch Ingarden keine Definition des Bewusstseins bei Husserl. Was Bewusstsein ist, lässt sich nur anhand von dessen Struktur, Leistungen und Rolle im geistigen Leben des Menschen formulieren. Hinsichtlich der Struktur des Bewusstseins könnte man also drei Grundelemente unterscheiden: „hyletische“ Daten, Noesis (Akt) und Noema (Ding, Gegenstand, Transzendentes, im Rahmen von Ingardens Idealismus-Realismus-Diskussion: reale Welt). Es bleibt zu fragen: Wie „funktioniert“ das Bewusstsein? Bei einer allgemeinen Erklärung kann uns folgendes Schema behilflich sein: 169
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Vgl. auch Ingarden, R. (1968b), 126. Da Husserl das reine Bewusstsein so auffasst, dass er dazu sowohl den Akt als auch die Ansichten rechnet (vgl. das untere Schema), ist er gezwungen, auch den Gegenstand dazu zu zählen, auf den sich der Akt bezieht (vgl. OSW, 30). In der Ansicht ist zwischen ‚Empfindungsdaten’ und ‚Auffassung’ (=Abgrenzug der Empfindungsdaten) zu unterscheiden (vgl. OSW, 35). Vgl. auch Bell, D. (1990), 172f. Es gibt noch andere Elemente in der Struktur des Bewusstseins, die auch eine wichtige Rolle spielen, z.B. Empfindungen, Ansichten (vgl. das nachfolgende Schema in diesem Abschnitt). Auch vgl. Bernet, R. (1990), 71f - er unterscheidet drei verschiedene Bedeutungen von Husserls Noema: (1) das Noema (N) als jeweiliges Aktkorrelat (bzw. als punktuelle noematische Erscheinung); (2) N als ideal-identischer Sinn (bzw. Bedeutung) und (3) N als einheitlicher, konstituierter Gegenstand. 169
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103 (1)
(3)
(7)
(4)
(8) (5) (2) (6)
(4) (7)
Legende: (1) Ich; (2) Akt-Intention; (3) Ding (Gegenstand) – wird gegeben; (4) Ansicht (Abschattung); (5) Erleben der Ansichten; (6) „Durchleben“ des Aktes (= der Ingardensche Begriff) - im Akt selbst enthalten; Akte werden also vom Ich durchlebt (vgl. bei Kant „Selbstbewusstsein“, bei Brentano „inneres Bewusstsein“, auch Fußnote 168 und 177); (7) Empfindungsdaten; (8) das Empfinden der Empfindungsdaten; (2) + (6) = Besondere Struktur des Aktes (vgl. EPhH, 152). Im Bewusstsein sind schon Erlebniseinheiten vorhanden und Erlebnisse als Erlebnisse konstituiert. Der „schlichte“ Bewusstseinsstrom ist da „rhythmisiert“, d.h. er weist gewisse Takteinheiten auf, welche durch die sich vollziehenden Erlebnisse bestimmt werden. Diese Takteinheiten formen Phasen der Zeit, die in ihrer Aufeinanderfolge sich deutlich 171
Dass die Erlebnisse „schon konstituiert“ sind, lässt sich offensichtlich nur bei der Voraussetzung annehmen, dass Bewusstsein weder Anfang noch Ende hat. 171
104
voneinander abheben und in deren Innern eine gewisse Stabilität herrscht. Hinter diesem geordneten Milieu verbirgt sich ein „fließendes“ Bewusstsein, in dem sich Erlebnisse in einem im Werden begriffenen Fluß entfalten, und in diesem Sich-Entfalten sich (zuerst) voneinander weder klar abzeichnen noch zusammenhängen, sondern im kontinuierlichen Werden und Vorbeigehen miteinander verschwimmen. All dies geschieht in einer im Werden begriffenen, qualitativ bestimmten, durch das fließende Bewusstsein „erfüllten“ Zeit, die sich selbst nicht deutlich von den sie erfüllenden Erlebnissen unterscheidet (vgl. EPhH, 284). Im Bewusstseinsstrom, in dem ursprünglich alles zusammenfließt, beginnen sich einerseits Erlebniseinheiten zu konstituieren und korrelativ fließende Empfindungsdaten zu stabilisieren, sich qualitativ deutlicher zu differenzieren und voneinander abzugrenzen, andererseits sich zu gewissen aus einer Mannigfaltigkeit von Qualitäten (Auffassungen) bestehenden Gestaltungen zusammenzuschließen. Verläuft der ganze Prozess weiter, dann bilden sich in den Feldern der Empfindungsdaten die Ansichten (Abschattungen) von etwas. Sobald wir eine Mannigfaltigkeit von zusammengehörenden oder kontinuierlich in sich übergehenden Abschattungen erleben, ist damit schon ein ‚konstitutives Gebilde’ gegeben, welches bis zu einem gewissen Grade stabil ist. Erlebt man die Mannigfaltigkeit von solchen stabil gewordenen Ansichten, dann erscheint eine neue konstitutive Einheit: das Ding (Gegenstand), genauer „Dingsinn“ (Gegenstandsinn). Wenn dies alles genau weiter verfolgt wird, so zeigt es sich, dass es in ihm eine ganze Reihe von Konstitutionsschichten gibt, die sich übereinander aufbauen, „wie in einer Torte“ (vgl. EPhH, 285f). Die Analyse dieses Vorgangs wird als „konstitutive Betrachtung“ bezeichnet. Nun handelt es sich um die Konstitution als „statischen Aufbau“ des Aktes (Noesis) und Dinges (Noema), genauer um die Herausstellung verschiedener Momente der Noesis und des Noemas, um die Erfassung der Funktion, die einzelne dieser Momente erfüllen, sowie der Sinnzusammenhänge und Abhängigkeiten, welche zwischen den
105 Momenten bestehen. Mit anderen Worten ist zu fragen: Wie ist die NoesisNoema-Relation aufgebaut? (vgl. SPhH, 13). Ingarden spricht in seiner Husserl-Interpretation von vier Begriffen der Konstitution: (1) „Traditionelle Konstitution“ (K) (genauer gesagt: die der Tradition am nächsten liegende K) – K einer Gegenständlichkeit deckt sich mit dem Begriff des „strukturellen Aufbaus“ einer Gegenständlichkeit in ihrem eigenen Gehalt. Diese K aufzudecken heißt Elemente einer Gegenständlichkeit und deren Zusammenhänge anzugeben, so dass die Rolle und Funktion einzelner Elemente im Ganzen der Gegenständlichkeit zur Abhebung gelangen; (2) „K als intentionale Bestimmung des Gegenstandssinnes“ – durch eine statisch erfasste und dem Gegenstandssinn zugeordnete Mannigfaltigkeit von Erscheinungen und Aktintentionen, welche die Bedingung der Möglichkeit des Aufbaus dieses Gegenstandssinnes ist. Durchführung der K bezüglich eines Gegenstandes bedeutet hier: (a) den betreffenden Gegenstandssinn in seinem individuellen bzw. allgemeinen Gehalt aufzuklären und zu erfassen; (b) den aufgeklärten Sinn anzusetzen; (c) die charakteristische Mannigfaltigkeit von Erscheinungen aufzudecken und entsprechende Aktintentionen zu bestimmen und (d) sie in ihrer Zugehörigkeit zu dem betreffenden Gegenstandssinn und ihrer Funktion als Bedingung der Möglichkeit des Gegenstandssinnes zu erkennen; (3) „K als ein Prozess“ – in dem ein Gegenstandssinn sich im Verlaufe einer Erfahrung bildet und umbildet, bis er eine bestimmte Gestalt annimmt. Eine konstitutive Betrachtung durchzuführen heißt hier nicht bloß diesen Bildungsprozess des Gegenstandssinnes in seinen einzelnen Phasen zu verfolgen, sondern auch die dazugehörige, sich in der Zeit in einer bestimmten Ordnung entfaltende Mannigfaltigkeit von Erscheinungen und Aktintentionen aufzudecken und sie in mannigfachen gegenseitigen Abhängigkeiten zu erfassen; (4) „K als ursprüngliches Werden einer Erlebniseinheit“ – ergibt sich bei letzten Daten und Erlebniseinheiten, die sich im ursprünglichen 172
Husserl führt den Begriff der Konstitution nicht systemathisch ein. Zwar wird er schon früh verwendet, doch bleibt seine Bedeutung zunächst unkonturiert. Schärfer umrissen tritt er erst in der transzendentalen Phänomenologie hervor, um von da ab zum Schlüsselbegriff der Husserlschen Phänomenologie zu werden (vgl. Welton, D. [2000], 165f).
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106 zeitkonstituierenden Bewusstsein konstituieren – mit Hilfe von aktuellem Selbstbewusstsein sowie von Retention und Protention. Bei der Durchführung einer konstitutiven Betrachtung geht es hier darum, dass das eigentümliche letzte Werden (einer Erlebniseinheit) in seiner wesensmäßigen Struktur und in seiner Abhängigkeit vom ursprünglichen, aktuellen Selbstbewusstsein sowie vom (Retention und Protention enthaltenden) Bewusstseinfluss enthüllt wird (vgl. SPhH, 262f). Erläutern wir dies noch etwas ausführlicher. Das Problem der Konstitution tritt bei Husserl im Zusammenhang mit zwei weit voneinander entfernten Sachlagen auf: Die erste ergibt sich aus der Einführung der phänomenologischen Reduktion, die zweite hängt mit der Entdeckung zusammen, dass reine Bewusstseinserlebnisse, deren Feld uns durch die Reduktion zugänglich gemacht wird, kein „Letztes, Absolutes“ seien, sondern selbst das Ergebnis einer ursprünglichen Konstitution im fließenden Bewusstsein sind. Das besagt nichts anderes, als dass die festgelegten und zur Einheit eines Erscheinenden notwendig zusammengehörigen Erscheinungsreihen intuitiv überschaut und spekulativ gefasst werden können - trotz ihrer Unendlichkeit, dass sie in ihrer eidetischen Eigenheit analysierbar und beschreibbar sind, und dass die legitime Leistung der Korrelation zwischen bestimmten Erscheinenden als Einheit und einer bestimmten unendlichen Mannigfaltigkeit komplett eingesehen und erschlossen werden kann. Wie bereits angedeutet, soll die (phänomenologische) Reduktion uns zu erfassen erlauben, dass Gegenstandssinne einerseits Korrelate bestimmter Noesen (d.h. bestimmter Intentionseinheiten reinen Bewusstseins) sind, andererseits aber auf der Basis bestimmter – jedoch wechselnder und mannigfacher Ansichten (bzw. Abschattungen) erscheinen. Diese Ansichten werden aufgrund der Funktion, die sie den Gegenstandssinnen gegenüber leisten, auch deren „Erscheinungen“ genannt. Die Auffindung der zu einem Gegenstandssinn zugehörigen Noesen und Erscheinungen bildet die ‚erste Aufgabe der Konstitutionsproblematik’. Mit anderen Worten: Die Bestimmung des Gegenstandssinnes durch Zuordnungsbeziehung zwischen Aktintentionen und Erscheinungen stellt den ‚ersten Sinn des Konstituierens’ dar. Der ‚weitere Sinn der Konstitution’ besteht in der strukturellen Analyse der Ansichten von etwas (d.h. Erscheinungen) (vgl. SPhH, 239f).
107 Da Bewusstsein bei Husserl ein ‚zeitkonstituierendes’ Bewusstsein ist, handelt es sich in seiner Phänomenologie nicht nur um die Notwendigkeit der Konstitution der Erlebniseinheiten, sondern auch um die Notwendigkeit der „Konstitution der Zeit“. So kommen zwei relevante Begriffe ins Spiel: Retention und Protention (primäre und sekundäre Erinnerung bzw. Erwartung), welche die Komponenten des aktuellen Bewusstseins bilden. Nach Ingarden hat Husserl jedoch die Leistung dieser Begriffe für die Konstituierung der Zeit und Erlebniseinheiten nur ungenügend aufgeklärt. Umso dringender stellt sich die Frage: Wie verhalten sich diese Begriffe zum aktuellen Berwusstsein? 173
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Hier müsste ein Kommentar folgen, was Ingarden leider nicht macht. Terminologisch schwankt der Gebrauch dieser Grundbegriffe: Da Begriffe wie „primäre Erinnerung“ (Husserl sagt auch gelegentlich „frische Erinnerung“) und „primäre Erwartung“ leicht einem Missverständnis ausgesetzt sein können, d.h. man könnte meinen, dass es um die Erinnerung und Erwartung im gewöhnlichen Sinne (Husserl nennt sie „sekundär“) gehe, werden sie durch die Begriffe „Retention“ und „Protention“ ersetzt. Dabei sollen „Erinnerung“ und „Erwartung“ ausschließlich die Vergegenwärtigung eines nicht aktuell Wahrgenommenen bedeuten (vgl. Dumas, D. [1999], 98). Dennoch lässt sich m.E. Husserls Absicht hier ganz klar nachvollziehen. Und wir vermissen bei Ingarden in diesem Zusammenhang zumindest Folgendes: (1) Dass Husserls Untersuchung der Problematik des Zeitbewusstseins zwei Hauptrichtungen verfolgt: (a) Objektive Richtung – geht von der Frage nach der Möglichkeit der Erfassung eines Zeitobjekts (einer Dauer, z.B. der Dauer eines Tones) aus; (b) Subjektive Richtung – hat das Bewusstsein als zeitigende, alle zeitliche Erscheinung konstituierende „absolute Subjektivität“, aber auch in seiner Selbsterscheinung als konstituierter Bewusstseinsfluß zum Thema; (2) Dass Husserl in seiner Phänomenologie der Zeit zwischen gewissen Grundarten der Zeit unterscheidet: (a) die Gegenwartszeit (das wahrgenommene originäre Zeitfeld) – konstituiert im kontinuierlichen Fluß der Impression-Retention-Protention; (b) die objektive Zeit – konstituiert in der Reproduktion und der darin möglichen Identifizierung, wird aufgeteilt in die objektive transzendente Zeit (Raum- und Naturzeit) und in die objektive immanente Zeit (ein „endlosses Kontinuum von Dauern“); (c) die präphänomenale, präempirische Zeit des sich selbst erscheinenden Flusses, konstituiert in der Längstintentionalität der Retention (quasi eine zeitliche Einordnung) (vgl. Bernet, R. ua. [1989], 97, 107). Auch vgl. Brough, J.B. (1977); Sokolowski, R. (1974); Bernet, R. (1985), XL-LXVII. 173
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108 Das aktuelle Bewusstsein, das im Akt der Wahrnehmung vor sich geht und zur Erfassung eines Dinges führt (vgl. EPhH, 138), befindet sich mitsamt dem es erfüllenden „Jetzt“ (Urimpression) im stetigen Werden. Im Verlieren seiner Aktualität verwandelt sich das aktualisierende Bewusstsein in ein „Soeben-Vergangen“. In dem Sich-Verwandeln durch Retention, die selbst zur Sphäre des Aktuellen gehört, wird das Bewusstsein erfasst und wachgehalten. Dasselbe Jetzt und dieselbe Phase des Bewusstseins wird infolgedessen einer doppelten Erfassung zugänglich: Einerseits im aktuellen, im Werden begriffenen Erleben, andererseits in der Retention, dann aber noch in der „Retention der Retention“ usw. Wenn die Protention in Betracht gezogen wird, so fügt sich noch ein ‚zukunftsbezogener’ Blick auf dasselbe Erlebnis sowie dasselbe Jetzt. In dem ursprünglich „fließenden“ Bewusstsein konstituiert sich also einerseits das Erlebnis als eine Einheit für sich, andererseits aber eröffnet sich die Möglichkeit der Identifizierung desselben Jetzt von verschiedenen Standpunkten aus sowie einer zusammenhängenden Objektivierung des Zeitmoments und ferner der Zeit überhaupt. Ohne Retention könnte sich auch das aktuelle Erlebnis – als ein sich in einer über das Jetzt hinausgehenden Phase entwickelndes Erlebnis – überhaupt nicht normal entwickeln. Das Ich könnte das angefangene Erlebnis nicht zur Fortsetzung und zum Abschluss bringen. Die weitere Phase des Erlebnisses wäre für das Ich ohne die Wachhaltung der früheren Phase durch die Retention unverständlich. Denn die „Fortsetzung als Fortsetzung“ entwickelt sich störungslos nur bei einer Selbstkontrolle, welche zum Teil durch 175
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Das aktuelle Bewusstsein wird von Ingarden auch als „Aktbewusstsein“ bezeichnet. Darüber hinaus spricht unser Autor von „inaktuellem Bewusstsein“ („Non-AktBewusstsein“), durch das mir das ganze Feld noch anwesend ist, obwohl ich mich zu ihm gar nicht hinwende. Jede Retention hat also eine ‚doppelte Intentionalität’: Die Retention einer vergangenen Tonphase (z.B. des Einsatzpunktes des Tones c) ist auch die Retention der verflossenen „Retention“ dieser selben Tonphase. Nun ist die Retention, die ich aktuell von der vergangenen Tonphase habe, notwendig auch der Retention dieser Tonphase impliziert und so kontinuierlich bis zur Urimpression dieser Tonphase (vgl. Bernet, R. u.a. [1989], 105).
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109 Retention, zum Teil aber durch das Selbstbewusstsein des im Werden begriffenen Erlebnisses geleistet wird. Auch das Hineinleben in die Zukunft, die durch die Protention vorgezeichnet wird, erleichtet die Fortentwicklung des aktuellen Erlebnisses, indem es sich als Erfüllung des Vorgezeichneten erweist (vgl. SPhH, 258f). Wir haben diesen Abschnitt mit einer allgemeinen und einführenden Reflexion begonnen, die das Erfordernis des Bewusstseins und die Relevanz des Intentionalitätsproblems in philosophischen Diskursen akzentuierte, und wir wollen ihn auch geradeso abschließen. Demnach ist als erstes festzustellen, dass Ingardens Interpretation der Husserlschen Bewusstseins- und Konstitutionsproblematik, obwohl sie thematisch breit angesetzt ist, keinesfalls einen tiefgehenden Charakter beanspruchen kann. Vielmehr wird sie m.E. eher durch unvollständige Analysen gekennzeichnet. Abgesehen von den vielen bereits genannten Schwächen wird dies auch dadurch bestätigt, dass bei Ingarden deutliche Mängel auftreten im Hinblick auf die Intentionalität der Akte (Noesen), etwa deren Differenzierung. Indes gilt beispielsweise aus Sicht des 177
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Selbstbewusstsein ist bekanntlich ein traditioneller philosophischer Begriff (z.B. Kant). Ingarden verwendet statt dessen einen anderen Begriff, nämlich „Durchleben“. Nach A. Chrudzimski (vgl. [1999], 63) könnte man die Selbsterfassung des abslouten Flusses, die Husserl in seiner Theorie des inneren Zeitbewusstseins postuliert, als ein ‚Analogon des Ingardenschen Durchlebens’ darstellen. Im Laufe der weiteren Analyse (Kap. III) werden wir den Begriff „Durchleben“ klären – samt den notwendigen Zusammenhängen. Um einen Überblick zu bekommen, wie Ingarden selbst das Problem der Zeit und deren Verhältnis zum Bewusstsein auffasst, vgl. Bielawska, M. (1995). Abgesehen davon, dass Ingarden keinen großen Wert auf die Verwendung originaler Beispiele Husserls legt (z.B. Hören einer Melodie, Dauer eines Tones), was offensichtlich nur zur Unklarheit seiner Reflexion beiträgt, finden wir bei unserem Autor auch keine deutliche Akzentuierung des Zusammenhangs mit der Zeittheorie Brentanos, die für Husserl eine Ausgangsbasis zur Erläuterung der Zeitproblematik darstellt. Das wird aber in der heutigen Diskussion stark betont (vgl. Dumas, D. [1999], 95). Zum Problem des Zeitbewusstseins bei Husserl – wo auch die Sichtweise Ingardens angesprochen wird – vgl. etwa Michalski, K. (1981); Fizer, J. (1975); Tischner, J. (1982). Der letztere hebt z.B. die wesentlichen Relationen zwischen Zeitlichkeit und Zeitlosigkeit in der Husserlschen Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins hervor (vgl. 33).
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110 gegenwärtigen phänomenologischen Standpunkts, dass jeder intentionale Akt in eine der folgenden vier Klassen einzureihen sei: (1) objektivierende Akte mit eingliedriger Materie (z.B. nominale Vorstellungen); (2) mehrstrahlig-synthetische Akte (z.B. das prädikative Urteilen); (3) Gemüts- und Willensakte mit eingliedriger Materie und (4) mit gegliederter Materie. Als zweites gilt es, das in diesem Abschnitt Dargestellte weiterhin zu untersuchen – zugespitzt auf die transzendentalidealistische Richtungslinie. 179
§5. Analyse aus transzendentalidealistischer Sicht: Inwiefern ist Ingarden mit der konstitutiven Lösung Husserls einverstanden? Die transzendentalidealistische Bedeutung der Phänomenologie hängt mit ihrer konstitutiven Welterhellung zusammen, welche die Welt durch die transzendentale Subjektivität aufklärt. Die Welt ist weder Seiendes noch das All des Seienden (vgl. SPhH, 201), sondern der Universalhorizont, in dem das Seiende vorzufinden ist. Wir haben schon gesagt, dass die konstitutive Problematik die Frage beantworten will, wie das mir evident vorliegende Bewusstseinstranszendente zustande gekommen ist. Die Transzendenz kann phänomenologisch nur dann als Transzendenz betrachtet werden, wenn sie eine „immanente Transzendenz“ ist. Mit anderen Worten: Die Transzendenz ist undenkbar, falls sie von der mit ihr korrelierenden Immanenz getrennt würde. Alle Transzendenz erhält also ihr Sein durch das Bewusstsein. Die Rede vom Sein kann nur als „Bewusst-Sein“ erklärt werden. Welt und Bewusstsein gehören essentiell zusammen und bilden eine konkrete Einheit, die transzendentale Subjektivität. Es ist nicht so, dass anfangs auf der einen Seite die Welt und auf der anderen das Bewusstsein existieren, die dann eine Beziehung zueinander bilden, sondern die Welt und das Bewusstsein stehen je schon in einem korrelativen Verhältnis. Die Welt ist immer eine Bewusstseinswelt, das Bewusstsein ist immer ein welterfahrendes Bewusstsein. Die 180
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Vgl. Bernet, R. u.a. (1989), 91. Vgl. Brand, G. (1977), 48.
111 transzendentalphänomenologische Auffassung des Verhältnisses zwischen Welt und Bewusstsein als ‚Korrelationsverhältnis’ übersteigt die traditionelle Subjekt-Objekt-Beziehung. Bei der konstitutiven Analyse befasst sich der transzendentale Idealismus nicht nur mit der erkenntnistheoretischen Sinnkonstitution, sondern auch mit der Konstitution der Welt. Die Einklammerung der Welt ist keine Vernichtung der Welt, sondern führt den Phänomenologen in den Ursprung der Welt hinein. Das Werden der Welt in der Konstitution ist die Selbstverwirklichung transzendentaler Subjektivität in ihrer konstitutiven Aktivität. Dabei ist das Bewusstsein der Ort, wo sich die transzendentale Subjektivität offenbart. Nach dieser grundsätzlichen Darstellung des transzendentalidealistischen Standpunkts Husserls aus Sicht der konstitutiven Problematik gehen wir nun zu der oben gestellten Frage über: Inwiefern ist Ingarden mit der konstitutiven Lösung Husserls einverstanden? Laut Ingarden liegt der Grund dafür, dass Husserl zur Position des transzendentalen Idealismus kommt, nicht in der phänomenologischen Reduktion allein, womit er die Gefahr einer „petitio principii“ zu vermeiden sucht, sondern auch in seiner Analyse der äußeren Wahrnehmung sowie der Durchführung von konstitutiven Betrachtungen (vgl. SPhH, 287). Wir greifen hier ein Problem auf, welches mit „thetischen“ Akten zusammenhängt, also mit Akten, die in sich selbst oder in der Art und Weise, wie sie vollzogen werden, bestimmte Thesen enthalten: Feststellungen, einfache Seinssetzungen, Stiftungen usf. Husserl lässt das Prinzip gelten, dass zu jeder Modifikation im Inhalt und in der Vollzugsweise des Aktes eine streng bestimmte Modifikation in 181
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Vgl. Huang, W.H. (1998), 160f. Mit einem Wort besteht die „petito principii“ darin, dass man etwas voraussetzt, ohne danach zu fragen. Dadurch, dass die in den transzendenten Erkenntnisakten eingeschlossenen Überzeugungen suspendiert (eingeklammert) werden, soll nun die Gefahr beseitigt werden, dass man sich auf die Ergebnisse von Erkenntnissen beruft, deren Leistungsfähigkeit und damit die Möglichkeit, wahre und sichere Ergebnisse zu gewinnen, zu allererst einer Untersuchung bedarf. Durch die Anwendung der phänomenologischen Reduktion sollte zudem der Fehler des „circulus vitiosus“ vermieden werden (vgl. SFPh, 215). 181 182
112 entsprechenden Noemata gehöre. Den thetischen Akten, die in sich sehr differenziert sind, entspricht im Gehalt des entsprechenden noematischen Sinnes ein spezifischer Seinscharakter: Charakter der Realität, der Möglichkeit oder des idealen Seins. Dieser Seinscharakter besitzt seine Bewusstseinsquelle in der gemäßen Vollzugsweise des Erkenntnis-, insbesondere des Wahrnehmungsaktes. Folglich kann man von „Sein“, „Wirklich-sein“ oder „Möglich-sein“ erst dann sprechen, wenn man entsprechende Akte des Bewusstseins aufgeklärt hat. Ohne auf die entsprechenden Akte des Bewusstseins, in denen der Sinn von Wirklichkeit wurzelt, Rücksicht zu nehmen, ist es unzulässig, über die Wirklichkeit eines Gegenstandes zu sprechen oder diese Wirklichkeit einem Gegenstand in ganz freier Weise zuzuerkennen. Denn nicht nur die ‚Tatsache’ des Seins, sondern auch der ‚Sinn’ seiner Seinsweise konstituiert sich wesensnotwendig in entsprechenden Akten des reinen Bewusstseins (vgl. SPhH, 301f). Ingarden ist jedoch keinesfalls mit dieser Begründung der konstitutiven Denkart bei Husserl einverstanden. Denn er meint, dass diese Lösung eine „endgültige transzendentale Genese von Dingen“ liefere, welche dem Subjekt in Wahrnehmung anschaulich gegeben sind. Auf diese Weise wird die Hauptthese des transzendentalen Idealismus gestützt (vgl. OSW, 25f). Im Kontext der konstitutiven Reflexion nimmt diese Hauptthese folgende Form an: „Das Sein der uns in der Erfahrung gegebenen realen Welt ist auf das Sein und den Verlauf des reinen konstituierenden Bewusstseins angewiesen. Ohne das reine Bewusstsein kann die Welt überhaupt nicht existieren. Es ist widersinnig, nach dem Sein der Welt „an sich“ zu fragen, weil dies gegen den Sinn der transzendentalen Konstitution verstieße, deren Ergebnisse erst eine Grundlage für jedes Fragen ausmachen und den Sinn unserer Fragen bestimmen würden. Die ganze uns in der Erfahrung phänomenal gegebene Welt (und um so mehr die aufgrund der Erfahrung denkmäßig konstruierte Welt der Physik und der Mikrophysik) ist nichts anderes als eine ‚bestimmte Schicht’, die im Konstitutionsprozess entstehe, eine Phase der ‚Objektivation’, auf die noch andere, weitere Objektivationen höherer Ordnung folgen würden, deren Ergebnis z.B. die Welt der Mikrophysik sei“ (SPhH, 302f).
Das ist also die Folge dessen, dass die wahrgenommenen, existierenden, wirklichen (bzw. in der Wahrnehmung als wirklich vermeinten) Dinge in
113 der konstitutiven Untersuchung als nichts anderes betrachtet werden als die Bestandteile einer besonderen Schicht noematischer Sinne. Dabei ist nicht ohne Bedeutung, dass alles, was in diesen Sinnen enthalten ist, seine Konstitutionsquelle in der Schicht entsprechend niedrigerer Noemata und letztendlich in Erlebnissen des reinen Bewusstseins sowie in entsprechenden vollzogenenen Noesen (Akten) hat (vgl. SFPh, 208f). Husserl zeigt nicht, behauptet Ingarden, dass der äußerst „kreative“ Prozess der Konstituierung der Gegenstandssinne tatsächlich stattfinde. Seine (idealistische) These ist keineswegs hinreichend in den Ergebnissen seiner Analysen fundiert. Bei der Durchführung der konstitutiven Betrachtung wäre es indes erforderlich zu untersuchen, ob die Bedingungen, welche für die Konstituierung einer Sinneinheit in einer Konstitutionsschicht auf der Grundlage einer bestimmten Vielfalt noematischer Sinne der niedrigeren Schicht unentbehrlich sind, zugleich auch (bei einer entsprechenden Verhaltensweise des Erkenntnissubjekts) ausreichend seien für die Konstituierung dieser Sinneinheit (vgl. SPhH, 341f). Zu behaupten, dass die Wahrnehmung eines Dinges uns dieses (Ding) als nur „für uns“ existierend (als rein intentionale Sinneinheit) darbietet, und dass wir verpflichtet sind, Dingen ein so und nicht anders bestimmtes (intentionales) Sein zuzusprechen, ist falsch. Selbst wenn wir – im Hinblick auf alle Gegenstände äußerer Erfahrung – nachgewiesen hätten, dass alle Gegenstandssinne als Information über gewisse wirkliche Gegenstände falsch sind, dann dürften wir lediglich sagen, dass die den falsch informierenden Sinnen genau entsprechende Welt nicht existiere, nicht aber, dass ‚die so bestimmte wirkliche Welt nur ein bloß intentionales Korrelat des gesamten Erfahrungskomplexes’ sei – wie dies Husserl will. Die zweite Welt kann niemals zu der ersten werden sowie die erste niemals zu der zweiten, weil ihre Existenzweisen grundverschieden sind. Das zweite (rein intentionale) Korrelat der gesamten Erfahrung könnte zwar als die erste Welt gelten bzw. diese vortäuschen. Und wenn gesicherte Erkenntnisgrundlagen vorliegen, welche nachzuweisen ermöglichen, dass es etwas zu sein scheint, was es faktisch nicht ist, dann verwischt dies keineswegs den Unterschied zwischen ihnen, sondern lässt diesen nur noch deutlicher hervortreten. Somit gibt es keinen Grund, einen idealistischen Standpunkt einzunehmen. Vielmehr wäre es denkbar, entweder einen ‚agnostischen Standpunkt’ der wirklichen Welt gegenüber zu behaupten,
114 oder einen Standpunkt, demnach die reale Welt überhaupt nicht existiere (vgl. SPhH, 334f). Nun sehen wir, dass Ingarden seine kritische Position Husserl gegenüber ‚ontologisch’ begründet. In diesem Zusammenhang ist es aufschlussreich, darauf hinzuweisen, dass auch Husserl ein formal-ontologisches Argument in Anspruch nimmt – allerdings um seine idealistische Position zu fundieren. Demnach dürfen sich ‚keine Erlebnisse mit Dingen zu einem Ganzen zusammenschließen’. Husserl behauptet also eine prinzipielle Verschiedenheit zwischen dem Wesen des Bewusstseins und dem Wesen der materiellen Dinge, welche einen Kernbestand der realen Welt bilden, sowie dem Wesen der in dieser Welt lebenden psychophysischen Wesen (d.h. Menschen). Durch die formal-ontologische Voraussetzung und den Wesensunterschied zwischen reinem Bewusstsein und materiellen (räumlichen) Dingen wird das reine Bewusstsein nicht nur aus der Welt ausgeschlossen – dies geschieht nach Ingarden bereits infolge der phänomenologischen Reduktion, sondern es wird auch jedes Wesenszusammenhangs mit der Welt enthoben, weil es mit ihr kein einheitliches Ganzes bilden könne. Deshalb wird das Bewusstsein zu einem getrennten Faktor außerhalb der Welt (vgl. SFPh, 212). Dabei ist es rätselhaft, wie sich das Bewusstsein zur Welt selbst verhält und in welchen Kausalzusammenhängen es (als Bewusstsein der Lebewesen) mit den ablaufenden Prozessen (innerhalb der Welt) steht. Ingarden weist bei Husserl auf prinzipielle Schwierigkeiten hin, welche mit dem Cartesianischen Dualismus zusammenhängen. Gemeint sind kurzum Probleme, die bei den Okkasionalisten zur Ausschließung der Möglichkeit eines Kausalzusammenhangs zwischen „cogitationes“ und „res extensae“ geführt haben, bei Spinoza zu 183
Das Faktum der Konstitution, das viele Schichten eines Gegenstandes zum Vorschein bringt, ist auch für Ingardens (eigene) Philosophie relevant. Das wird sich erst (vor allem) im V. Kapitel zeigen, wo auch epistemologische Akzente auf der Basis ästhetischer Analysen auftauchen. Bei der Untersuchung des literarischen Werkes (=Werk der „schönen Literatur“) unterscheidet Ingarden zwischen folgenden Schichten (Sch) (1) Sch sprachlicher Lautgebilde; (2) Sch von Bedeutungseinheiten; (3) Sch dargestellter Gegenständlichkeiten und (4) Sch schematiserter Ansichten (vgl. LK, 30f). 183
115 „psychophysischem Parallelismus“ und schließlich bei Leibniz zu den „fernsterlosen Monaden“. Um dies zu lösen, hat man Gott zu Hilfe gerufen, damit er die „praestabilitam harmoniam“ (vorbestimmte Harmonie) zwischen den Monaden schaffen möge (vgl. SPhH, 306f). Festzuhalten ist, dass obwohl Ingarden nicht mit allen Aspekten der konstitutiven Betrachtungen Husserls einverstanden ist, er jedoch die Leistung Husserls im Allgemeien positiv würdigt. Das gilt unter anderem für den Husserlschen Beitrag zur Erhellung der Konstitution des physikalischen Dinges. In diesem Bereich hat Husserl durch seine konstitutiven Analysen desgleichen zur Begründung der physikalischen Wissenschaft beigetragen (vgl. SPhH, 352f). Zur Konstitution des 184
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Das wollen wir weiter nicht diskutieren. Hier seien nur folgende Begriffe geklärt: (1) Okassionalismus (O) – ist die Lehre, die den endlichen Wesen die Wirkursächlichkeit aus eigener Kraft abspricht, so dass sie für das alleinige Wirken Gottes nur „Gelegenheitsursachen“ (causae occasionales) sind. Der allgemeine O beruht entweder auf einer mechanistischen Weltauffassung oder auf einer falschen Auffassung von der Mitwirkung Gottes. Der besondere O geht aus der kartesianischen Schwierigkeit bezüglich des Leib-Seele-Verhältnisses hervor, die eine Wechselwirkung zwischen beiden verbietet (vgl. Brugger, W. [1996c], 275); (2) Parallelismus – ist in Bezug auf den Spinozismus (S) zu verstehen. Demnach gibt es nur eine einzige, notwendige, ewige und unendliche Substanz, Gott. Sie ist darum Ursache ihrer selbst. Eine Seite der Wesensfülle der göttlichen Substanz ist „Attribut“. Von den unendlich vielen Attributen Gottes sind uns nur zwei bekannt: Denken und Ausdehnung, von denen jedes - mit Gott und unter sich identisch - zwei verschiedene Seiten Gottes ausdrückt. Die „Modi“ sind die begrenzten Erscheinungsformen der beiden uns bekannten unendlichen Attribute Gottes, d.h. die endlichen Dinge, in denen sich der ‚Parallelismus der beiden Attribute offenbart als Seele und Körper’ (vgl. Rast, M. [1996], 371); (3) Monade (M) – bedeutet „Einheit“. Leibniz machte die M zum Kernbegriff seiner endgültigen Philosophie. Ihrem Wesen nach ist die M der einfache, völlig in sich geschlossene Urträger des substantiellen Seins; sie wird als etwas Seelenartiges angesetzt, auf das auch das Körperliche zurückgeht. Von Gott, der unendlichen Monade, werden die endlichen M erschaffen. Bezüglich des Wirkens der M gilt, dass sie in sich geschlossen („ohne Fenster“) sind. Zwischen den geschaffenen M selbst gibt es keine Wechselwirkung, doch entfaltet sich in jeder ein immanentes Wirken, das die in ihr angelegten Möglichkeiten entwickelt (vgl. Lotz, J. [1996b], 250). Wir gehen darauf nicht ausführlicher ein. Ingarden hat dieses Problem im Aufsatz „Husserls Betrachtungen zur Konstitution des physikalischen Dinges“ (1963) 184
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116 „physikalischen Dinges“ sowie zur Konstitution des „anschaulich gegebenen Dinges“ sind sowohl Wahrnehmungen als auch begriffliches Denken erforderlich (vgl. SPhH, 386). Den Begriff der Wahrnehmung machen wir zum Gegenstand unserer weiteren Analyse. §6. Husserls Begriff der Wahrnehmung J. Seifert schreibt in seinem Buch „Back to ‘Things in Themselves’. A phenomenological foundation for classical realism“ folgende Sätze: “Husserl`s second motive for turning to transcendental idealism derives from his remarkable phenomenology of perception and this theory of the perceptual constitution of objects […]. Husserl made important contributions to the philosophy of perception […]. Husserl generalized this fact of the innumerable aspects of the objects of sigth which are (co-) constituted by the subject of perception, and came to the conclusion that ultimately all ‘noémata’ and objects of consiousness are constituted in ‘nóesis’”. 186
Aus diesem Zitat ergibt sich für unsere Analyse zweierlei: Zum einen wird Husserls Beitrag zur Erforschung der Phänomenologie der Wahrnehmung hervorgehoben, die in der vorliegenden Abhandlung – aus Sicht der behandelt. Unser Autor versucht, zu erforschen, was Husserl zur Naturwissenschaft (insbesondere der Physik) beigetragen hat, und welche ungelösten Probleme in dem Kontext erscheinen. Darüber hinaus fragt Ingarden, ob die Ergebnisse der Physik Husserl nicht zur Preisgabe der (transzendentalidealistischen) Behauptung zwingen würden, nach der jegliches konstituierte Sein „ein Sein für das Bewusstsein“ und nicht – wie dies aus der physikalischen Auffassung der materialen Welt folgen würde – „ein Sein an sich“ sei (vgl. SPhH, 356). Auch die Frage nach dem möglichen Einfluss der Philosophie Husserls auf die Vertreter der Quantenmechanik (Bohr, Heisenberg, Schrödinger, Born, Jordan u.a.), die mit dem Göttinger Milieu in Kontakt standen, wird von unserem Autor nicht übersehen (vgl. SPhH, 376). Schließlich wird auch das Problem der sogenannten „Lebenswelt“ behandelt. Aus transzendental-idealistischer Sicht haben wir aber daran kein Interesse. Es sei hier bloß signalisiert, dass Ingarden darunter die „Welt der Dinge“ versteht, die in ursprünglicher unmittelbarer Erfahrung gegeben ist, und die zugleich (vor- und) außer-wissenschaftlich konstituiert ist, also bei jeder wissenschaftlichen Erkenntnis bereits vorgegeben ist und den Boden bildet, auf dem alle wissenschaftlichen Probleme gestellt werden (vgl. SPhH, 387). Seifert, J. (1987), 138f. 186
117 Auseinandersetzung Ingardens mit dem transzendentalen Idealismus Husserls – noch zu untersuchen ist. Zum anderen wird Ingardens These in diesem Kontext bestätigt, dass ‚bei Husserl alle Noemata und Objekte des Bewusstseins in der Noesis (der Akte) konstituiert werden’, was im Vorausgehenden bereits behandelt worden ist. Während für Ingarden das reine Bewusstsein als „Bewusstsein überhaupt“ gilt, stellen Wahrnehmen, Denken und Gefühlsakte dessen besondere Arten dar (vgl. SPhH, 347; OSW, 175). Hier interessiert uns allerdings nur das Wahrnehmen, weil es unser Autor für das Motiv hält, das Husserl zum transzendentalen Idealismus mit geführt haben soll. Bei Husserl ist generell zwischen ‚transzendenter und immanenter’ Wahrnehmung zu differenzieren. 187
a. Transzendente Wahrnehmung Wenn wir die transzendente Wahrnehnumg behandeln, betreten wir ein umfangreiches Gebiet, das für die erkenntnistheoretische Reflexion Ingardens von fundamentaler Bedeutung ist. Denn unser Autor hat dieser Problematik eine Reihe von Aufsätzen und Vorlesungen gewidmet. Allerdings muss an dieser Stelle auch gesagt werden, dass die Problematik der Wahrnehmung von Ingarden meist als ‚Problematik der äußeren Wahrnehmung’ behandelt wird, wobei das Augenmerk sich auf das Element der Objektivität richtet. Der Begriff „transzendente Wahrnehmung“ beinhaltet sowohl die äußere als auch die innere Wahrnehmung. Während sich Ingarden hauptsächlich auf die äußere Wahrnehmung konzentriert, wird von ihm die innere Wahrnehmung nur nebenbei behandelt, weil sie als Gegenstand der psychologischen Wissenschaften gilt (vgl. SFPh, 211, 151). 188
Die phänomenologische Analyse der Wahrnehmung (W) hat in Husserls Erkenntnistheorie den Stellenwert eines fundamentalen Lehrstückes (vgl. Bernet, R. u.a. [1989], 108; auch Rang, B. [1975], 105f). Ingarden selbst hat sich auch mit dem Problem der äußeren W intensiv befasst (siehe unten). Hier seien nur erwähnt „Zur Objektivität der äußeren Wahrnehmung“ (Lemberger Vorlesungen) (1926/27); “Über die Möglichkeit einer Erkenntnis der Objektivität der sinnlichen Wahrnehmung“ (1923).
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118 Da es uns in folgendem Abschnitt ebenfalls darum geht, die Grundlage zum Verstehen (in erster Linie) der Erkenntnistheorie und (in zweiter Linie) der Ontologie Ingardens herauszuarbeiten, müssen wir uns prinzipiell auf das Problem der äußeren Wahrnehmung – lediglich aus Sicht der Ingardenschen Auseinandersetzung mit dem transzendentalen Idealismus Husserls beschränken. Wir beginnen mit der Frage: Was ist die äußere Wahrnehmung aus phänomenologischer Sicht? Der Phänomenologe Ingarden schreibt: „Da ich die äußere Wahrnehmung nicht definieren kann, gebe ich nur Beispiele von ihr an: Ich sehe diesen Tisch, höre die von mir ausgesprochenen Worte, spüre beim Tasten die Rauheit eines Stoffes, rieche den Geruch einer Rose, schmecke die Bitterkeit des Chinins“ (OSW, 34f).
Nun besteht die äußere Wahrnehmung zunächst aus der ‚sinnlichen Wahrnehmung: Sehen, Hören, Tasten, Schmecken, Riechen’ usf. (vgl. OSW, 177). Bei der sinnlichen Wahrnehmung ist die Rolle des Leibes zu beachten, dessen Existenz und Beschaffenheit (vgl. SPhH, 379). Die sinnliche Wahrnehmung ist eine „Erkenntnistätigkeit“, die wir ausführen, indem wir unsere Sinnesorgane (Auge, Ohr, Tastorgan) gebrauchen, wobei dieses Gebrauchen nur dann stattfindet, wenn gewisse materielle Gegenstände bzw. gewisse Prozesse auf unsere Sinnesorgane einwirken (vgl. OSW, 178). Es handelt sich also um ein Erkennen, welches durch die ‚anschauliche Gegebenheit’ der wahrgenommenen Gegenstände zustande kommt (vgl. OSW, 45). Die äußere Wahrnehmung gehört überdies zu den erkenntnismäßigen Bewusstseinserlebnissen. Sie ist ein intentionaler Bewusstseinsakt (cogitatio), der vom Erkenntnissubjekt vollzogen wird (vgl. OSW, 4), wobei dieses Subjekt weder mit der Person noch mit dem psycho189
Nach Ingarden ist jedoch die äußere Wahrnehmung (W) keinesfalls mit der sinnlichen W allein zu identifizieren, weil das Wort „sinnlich“ den Begriff eines Sinnesorganes nahe legt, hinsichtlich dessen (als eines Gegenstands der Wahrnehmung) wir nichts präjudizieren dürfen, und weil wir nicht immer (etwa bei der Wahrnehmung von Raumausschnitten) den in Frage kommenden Sinn angeben können (vgl. OSW, 44).
189
119 physischen Subjekt gleichzusetzen ist. Im Bewusstseinsakt sind ‚Inhalt’ und ‚Moment der Intention’ zu unterscheiden. Dank dem Intentionsmoment bezieht sich der Akt mit dem Inhalt auf einen Gegenstand. Die Akte und ihre Inhalte gehören zum Strom der Bewusstseinserlebnisse, die Gegenstände der Wahrnehmung dagegen gehören nicht dazu (vgl. OSW, 45). Das äußere Wahrnehmen gehört einerseits zu den Akten „unmittelbaren“ Erkennens, d.h. der Inhalt bzw. das Intentionsmoment des Aktes richtet sich direkt auf den zu erkennenden Gegenstand und nicht auf irgendeinen Repräsentanten dieses Gegenstandes; mit dem Vollzug des Aktes kommt der Gegenstand gleichzeitig zur anschaulichen Gegebenheit. Andererseits gehört das äußere Wahrnehmen zu den „Glaubensakten“, weil es das Moment des Glaubens an die Wirklichkeit des wahrgenommenen Gegenstandes mit einschließt (vgl. OSW, 45; SFPh, 116f). Jeder Akt des Wahrnehmens hat einen Horizont der Retention und Protention: Während des Vollzugs der Akte der Erinnerung und Erwartung „verschwindet“ das Gegebene (das Aktuelle) nicht. Wir können das mit Ingarden mit folgendem Schema darstellen (vgl. EPhH, 117f): 190
Maximum der Erinnerung
Aktualität
Erwartung (Voraussehen)
Vergangenheit
Zukunft Urimpresion
Retention
Protention Gegenwart
Zur Unterscheidung der Begriffe (Person, reines Ich, psycho-physisches Ich) bei Ingarden vgl. 4§2 (Kap. II) und 2§1 (Kap. III).
190
120 Sowohl in der äußeren als auch in der inneren Wahrnehmung, die wir weiter unten auch kurz ansprechen werden, sind uns immer nur gewisse individuelle Gegenstände bzw. Sachverhalte gegeben, welche in den auf diesen Wahrnehmungen aufgebauten prädikativen Erkenntnisakten enthalten sind. Aufgrund der so gewonnenen Erfahrungen dürfen wir nur besondere Urteile fällen, niemals aber allgemeine Urteile wie „Jedes S...“ (vgl. SFPh, 118). Bei der Gegebenheit der Gegenstände in der äußeren Wahrnehmung gibt es erhebliche Differenzen. Der wahrgenommene Gegenstand kann uns entweder in einer ganz bestimmten Deutlichkeit gegeben werden, weil seine Eigenschaften oder Umstände, in denen er gerade wahrgenommen wird, diesen Modus der Klarheit hervorzubringen vermögen, oder es kann Unterschiede des Wahrnehmens geben, unter denen vor allem die ‚Unterschiede der Aufmerksamkeit und der Sehschärfe’ zu nennen sind: Ingarden differenziert zwischen den ‚Unterschieden bei gegenständlichem Vermeinen und Erfassen sowie bei Erleben von ichfremden Beständen,’ die in keiner Gegenstandsform gegeben sind (z.B. Empfindungen und Ansichten verschiedener Stufen). Den beiden Unterschiedsreihen des Wahrnehmens und des Erlebens ist eine dritte Reihe der Unterschiede im Bewusstseinsgrad des „Durchlebens“ gegenüberzustellen (vgl. FSE, 215f). Auch für Husserl, den Gründer der Phänomenologie ist jede äußere Wahrnehmung ein „thetischer Akt“, d.h. ein Akt, in dessen Vollzug die Seinsanerkennung des Wahrgenommenen vollzogen wird. Im Akt der Wahrnehmung, der ein Glied einer Mannigfaltigkeit von inhaltlich zueinander gehörenden und sich auf ein Ding beziehenden Akten ist, wird etwas „präsentiert“ (nicht „repräsentiert“), d.h. als selbstgegenwärtig gegeben in einer besonderen Art Anschaulichkeit. Jeder Wahrnehmungsakt ist ‚strukturell unselbstständig’. Das bedeutet: Einerseits wird dieser Akt von der Retention umrahmt, die sich auf das soeben Gewesene und das gerade Vorbeigehende bezieht, andererseits von der Protention, die auf das gerade Eintretende und zum Erscheinen Kommende hinweist. Beides ist 191
Die „Intution des Durchlebens“ spielt in Ingardens Erkenntnistheorie eine sehr wichtige Rolle. Sie ist die von Ingarden vorgeschlagene Lösung zum Aufbau einer Erkenntnistheorie, die von epistemologischen Gefahren frei ist (vgl. 3 [Kap. III]).
191
121 eine unentbehrliche Bedingung dafür, dass in der Wahrnehmung ein (kontinuierlich) identisches Ding gegeben wird. Jede äußere Wahrnehmung ist ‚partiell’ und ‚inadäquat’, d.h. nicht alle Bestimmtheiten des wahrgenommenen Dinges werden in der betreffenden Wahrnehmung gegeben. Denn in einzelnen Wahrnehmungen gelangen immer andere Partikel des betreffenden Dinges zur Gegebenheit, während die früher gegebenen teilweise aus dem Gesichtsfeld verschwinden. Das ist auch eine Folge der unerlässlichen Regel, dass ein materielles Ding zum gleichen Zeitpunkt nicht allseitig in allen seinen Bestimmtheiten erfasst und gegeben werden kann. Was seine Gegebenheitsweise anbelangt, werden diverse Bestimmtheiten in einer Mannigfaltigkeit von „erfüllten Qualitäten“ gegeben, andere hingegen werden nur „mitgegeben“ bzw. „mitvermeint“ – nicht in erfüllten, sondern in anschaulich intentionalen Momenten, welche über das Erfüllte hinausgehen. Für das erscheinende Ding heißt das: Einerseits ist an ihm etwas „Phänomenales“ vorhanden, andererseits ist es aber als nicht qualitativ voll erfüllt gegeben (vgl. EPhH, 131f). Demnach gilt, dass zum Wesen der äußeren Wahrnehmung gehört, dass deren Feld und Horizont immer weiter ins Unendliche gehen (vgl. EPhH, 139). Wie geht dieser Prozess des äußeren Wahrnehmens vor sich? Versuchen wir dies zu erklären, indem wir Rückblick nehmen auf das Schema in 2§4 (Kap. I). Wenn ich wahrnehme, dann ist mir ein Ding 192
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Ingarden versteht unter einer „erfüllten Qualität“ ein Element des Ansichtsgehaltes, d.h. ein Element, welches (1) durch ein Merkmal (bzw. allgemeiner: Moment) des Wahrnehmungsgegenstandes zur Darstellung gebracht wird, und (2) selbst derart aufgebaut ist, dass es im Verhältnis zu seiner Empfindungsunterlage adäquate und „eigene“ Empfindungsdaten hat (vgl. OSW, 82). Zur Problematik der Empfindungsdaten vgl. 3§2 (Kap. III). Vgl. das Schema, S. 84 der vorliegenden Abhandlung. Dieses Schema wurde von uns im Zusammenhang mit der Problematik des Bewusstseins schlechthin vorgebracht. Da aber für Ingarden die Wahrnehmung eine Art Bewusstsein ist, trifft es auch auf die Wahrnehmung zu. Hinsichtlich des Wahrnehmungsproblems steht Ingarden der gegenwärtigen Debatte nahe, indem er etwa der ‚Vorstellung’ eine wesentliche Rolle zuschreibt (vgl. EPhH, 99f) und sie auch als ‚apriorisches Erkennen’ behandelt, das (wenigstens in den letzten Elementen) aus dem Erfahrungsmaterial der Außensinne stammt (vgl. SFPh, 148f). Denn Vorstellung (etwa) „in engerer“ (psychologischer) Bedeutung ist das ‚Sichvergegenwärtigen von Sinnesgegebenheiten, nicht aufgrund 192
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122 gegeben. Ich vollziehe den Akt der Wahrnehmung; dabei achte ich aber auf die Wahrnehmung selbst nicht. Um Dinge sehen zu können, muss ich allerdings eine Abschattung (d.h. Ansicht) erleben. Wenn das Ding bereits gegeben ist, ist die Ansicht nicht mehr gegeben, obwohl sie auch nicht ganz verschwindet. Ein Ding wird gegeben und eine Ansicht erlebt. Dieses Erleben ist quasi eine „zweite Form des Bewusstseins im Prozess des Wahrnehmens“, aber kein Ziel einer Intention, welche auf das Ding als ganzes bzw. auf eine seiner Eigenschaften abzielt. Hinter der Ansicht befindet sich die fließende Vielfalt von Daten, welche nicht erlebt, sondern empfunden werden. Da ich durch diese Daten in bestimmter Weise „affiziert“ (berührt) werde, wende ich mich ihnen zu und vollziehe zugleich einen Wahrnehmungsakt. Da sich mir sofort eine Ansicht konstituiert hat, sehe ich das Ding und erfasse es in seinen Eigenschaften, und nicht Empfindungsdaten. Wenn ich die Gegebenheit von Empfindungsdaten erzielen will, muss ich zusätzlich eine Reflexion vollziehen, d.h. einen Akt, den Husserl „immanente Wahrnehmung“ nennt (vgl. EPhH, 153f) Wie bereits angedeutet, spricht Ingarden auch von der ‚inneren Wahrnehmung’ bei Husserl. Sie ist von der immanenten Wahrnehmung, die Gegenstand unserer Analyse erst im nächsten Abschnitt sein wird, zu unterscheiden. Eine innere Wahrnehmung liegt etwa dann vor, wenn ich plötzlich erfasse, dass mir etwas passiert ist, wovon ich nichts wusste; aber es ist bereits passiert und erst jetzt weiß ich davon. Es handelt sich dabei nicht um meine Bewusstseinserlebnisse, sondern um gewisse „Tatsachen in mir“, die sich hinter meinen Erlebnissen verbergen (vgl. EPhH, 75). In der inneren Wahrnehmung sind wir auf unsere eigenen Attribute gerichtet, auf gewisse in uns als psychischen Subjekten eine Zeitlang dauernde Zustände oder in uns auftretende Veränderungen. Das in den inneren Wahrnehmungen Gegebene geht über die Wahrnehmungserlebnisse hinaus, erscheint durch einzigartige Ansichten und konstituiert sich in 194
unmittelbar einwirkender Sinnesreize, sondern aufgrund der von früheren Wahrnehmungen zurückgebliebenen „Spuren“ (vgl. Willwoll, A. [1996a], 446). Hier geht es also um einen konkreten Fall der äußeren Wahrnehmung, nämlich „Sehen“. 194
123 diesen Ansichten als „Inhalt des Psychischen“, der von äußeren Dingen verschieden ist. In dem Kontext sehen wir auch ganz deutlich, dass nach Ingarden zwischen dem „reinen Ich“ (Subjekt), das die Akte des reinen Bewusstseins vollzieht, und dem „Ich im Sinne eines realen psychophysischen Individuums“ (Person) zu differenzieren ist. Das „Ich im Sinne einer realen menschlichen Person“ ist dem jeweiligen Bewusstseinsstrom und dem die Akte dieses Bewusstseins vollziehenden „reinen Ich“ gegenüber transzendent wie alle Gegenstände der Außenwelt. Der Unterschied zwischen ihnen betrifft einerseits den Gehalt ihres gegenständlichen Sinnes, andererseits die Art und Weise, wie ihr Sinn sich konstituiert (vgl. SFPh, 210f). Abschließend ist zu fragen: Welches Kriterium lässt Ingarden bei der Aufstellung seiner These gelten, dass Husserls Auffassung der äußeren Wahrnehmung ihn zum transzendentalen Idealismus mit geführt habe? Wir haben oben gesehen, Ingarden zufolge ist für Husserl jede äußere Wahrnehmung, in der etwas gegeben ist, ein „Herausfassen des Gegebenen“ aus dem Wahrnehmungsfeld, in dem es gegeben wird (vgl. EPhH, 138). Die in der äußeren Wahrnehmung gegebenen Gegenstände (Dinge, Prozesse) sind dieser Wahrnehmung gegenüber ‚transzendent’, d.h. sie bilden keinen reellen Teil des Wahrnehmungserlebnisses (vgl. SPhH, 320). Dessen ungeachtet existiert alles nur für das Subjekt, das bestimmte Wahrnehmungen besitzt, „an sich“ aber existiert nichts. Die in der äußeren Wahrnehmung gegebenen Dinge sind also nur ‚intentionale Wahrnehmungskorrelate’ (Phänomene); sie sind etwas „für“ das Subjekt, das betreffende Wahrnehmungen besitzt, nicht aber etwas „an sich“ (vgl. SPhH, 291f). Das Reale ist somit für Husserl nichts anderes als eine konstituierte noematische Sinneinheit, welche in ihrem Sein und Sosein aus einer Vielfalt von Erfahrungen einer besonderen Art (Wahrnehmungen) hervorgeht und ohne diese überhaupt nicht möglich ist (vgl. SPhH, 297). Husserls Behauptung, dass ein Gegenstand nicht als „Sein an sich“, sondern nur als ‚intentionales Korrelat’ des Wahrnehmungsaktes betrachtet werden müsse, ist die ‚Konsequenz seiner Durchführung der transzendentalen Reduktion’, d.h. des Übergangs von der natürlichen zu der phänomenologischen Einstellung. Ingarden bezeichnet diesen
124 Übergang als „Neutralisierung der Überzeugungen von der realen Welt“ (vgl. OSW, 54, 181) und wendet gegen Husserl ein, dass es dabei nicht klar sei, welche Merkmale die Wahrnehmungsgegenstände aufweisen (vgl. OSW, 69). Auch die Trennung zwischen „Dingen an sich“, welche ganz unabhängig vom Erkenntnissubjekt existieren, und Gegenständen, welche (bloß) als intentionale Korrelate von Bewusstseinsakten betrachtet werden, hat zur Husserlschen Entscheidung beigetragen. Dadurch, dass die Annahme einer Existenz von „Dingen an sich“ für Husserl erkenntnismäßig unbegründet ist, weil dies ein nicht existentes Wissen um das (von der Wahrnehmung verschiedene) „Ding an sich“ voraussetzt, existieren für ihn nur wahrgenommene Gegenstände. Diese sind aber ‚nichts anderes als intentionale Korrelate von Wahrnehmungsakten’ (vgl. OSW, 22). Aus der Struktur der verschiedenen Erkenntniserlebnisse ergibt sich folgender Seinsunterschied: Das reale dingliche Sein ist in Bezug auf das äußere (sinnliche) Wahrnehmen zufällig – es muss nicht bestehen, wenn das erfassende Bewusstsein existiert. Das Sein des Bewusstseins ist hingegen in Bezug auf das immanente Wahrnehmen notwendig (vgl. EPhH, 267). 195
b. Immanente Wahrnehmung Als erstes ist hier – in Anknüpfung an das Vorausgehende – die Frage zu stellen: Wie verhält sich die immanente Wahrnehmung zu der transzendenten? In der immanenten Wahrnehmung kann man eine ‚Erkenntnis des Inhalts des Wahrnehmungsaktes’ gewinnen (vgl. OSW, 7). Der Akt der immanenten Wahrnehmung liefert nach Husserl ein absolut wahres und sicheres Ergebnis. Das, was im betreffenden Akt der immanenten Wahrnehmung erfasst (zur Gegebenheit gebracht) wird, kann nicht „nicht
Dazu vgl. auch Seifert, J. (1987), 152f. Das „Ding an sich“ ist ein Begriff, den (bekanntlich) vor allem Kant geprägt hat. Bei ihm ist es also das ‚wirklich Seiende’, wie es unabhängig von unserer Erkenntnis besteht, im Gegensatz zur Erscheinung, die nicht „an sich“, sondern „für uns“ besteht (vgl. de Vries, J. [1996], 70).
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125 existieren“ und es kann nicht anders sein, als es gegeben ist. Demgegenüber kann das, was in einer transzendenten (äußeren oder inneren) Wahrnehmung gegeben ist, trotz der Existenz von Wahrnehmungsakten, in denen sein Sinn sich konstituiert, auch ‚nicht existieren’. Da es uns zugleich immer nur durch Ansichten gegeben ist, die es nur von einer bestimmten Seite her zur Erscheinung bringen, und da es immer nur in verschiedenen perspektivistischen Verkürzungen zur Gegebenheit kommt, braucht es nicht so zu sein, wie es gerade gegeben ist. Mit anderen Worten ausgedrückt heißt das: ‚Die in einer immanenten Wahrnehmung gewonnene Erkenntnis ist immer absolut, die in einer transzendenten Wahrnehmung gewonnene Erkenntnis ist dagegen immer relativ und nicht sicher’ (vgl. SFPh, 211). Wahrend die äußere Wahrnehmung dem Versuch gleicht, irgend etwas von außen her zu fassen, aber das Fassende ist nicht so konstruiert, dass ihm das Erfasste nicht doch entschlüpfen und überhaupt ganz ilusionär sein könnte, steht es mit der immanenten Wahrnehmung meines momentanen Erlebens ganz anders. Denn hier ist das Wahrnehmen auf dem Wahrgenommenen so aufgebaut, dass es dem Wahrgenommenen gegenüber seinsunselbständig ist: Es ist nur ein Etwas des ganzen aus dem Wahrgenommenen und dem Wahrnehmenden zusammengesetzten Erlebnisses, das sich nur abstraktiv hervorheben lässt. Das immanente Wahrnehmen könnte nicht sein, wenn es das immanent Wahrgenommene nicht gäbe (vgl. EPhH, 266). In der immanenten Wahrnehmung wird ein eigenes aktuelles Bewusstseinserlebnis (z.B. einer soeben vollzogenen äußeren Wahrnehmung eines bestimmten Dinges) nicht nur „immanent gerichtet“, sondern das Bewusstseinserlebnis wird geradezu „immanent – stricto sensu“. Das, was in dieser Wahrnehmung erfasst wird, ist etwas, was sich nicht erst in einer Ansichtsmannigfaltigkeit „konstituiert“, was nicht durch die Ansichten zur Erscheinung kommt, sondern was ‚ohne Ansichten erfasst wird’ und selbst ein Bewusstseinserlebnis ist, welches zu demselben Strom gehört wie der Akt, in dem es erfasst wird, und zusammen mit diesem Akt eine „unvermittelte Einheit“ bildet (vgl. SFPh, 209f). Mit anderen Worten: Das immanent Wahrgenommene und das immanente Wahrnehmen bilden eine „unvermittelte Einheit“, d.h. ein Ganzes, so dass das Wahrgenommene – genauer gesagt: mein jetzt sich vollziehendes
126 Denken – und das Sich-zum-Bewusstsein-bringen dieses Denkens in dem Sinne eine Einheit sind, dass das Wahrgenommene in dem Wahrnehmen „reell beschlossen“ ist. Das wahrgenommene Denken bildet einen Untergrund, auf dem sich das immanente Wahrnehmen meines Denkens aufbaut (vgl. EPhH, 183). Dank der immanenten Wahrnehmung kann das reine Bewusstsein untersucht werden. Dies kann auf zwei grundverschiedene Weisen geschehen, behauptet Ingarden: (1) Entweder dadurch, dass wir eine immanente Wahrnehmung vollziehen, die auf unser eigenes aktuelles Erlebnis gerichtet ist. Dann haben wir es mit einer besonderen Erfahrungswissenschaft zu tun, nämlich mit der Erforschung der individuellen Erlebnisse des reinen Bewusstseins in ihrem konkreten Verlauf; (2) Oder wir können die immanente Wahrnehmung auch nicht in der Einstellung auf die individuelle Tatsache eines sich abspielenden Erlebnisses vollziehen, ‚sondern diese Einstellung gegen eine für die unmittelbare apriorische Erkenntnis charakteristische (Einstellung) tauschen’. Folglich können wir die ideale Struktur des Bewusstseinserlebnisses, welche sich auf der Grundlage des gerade in der immanenten Wahrnehmung erfassten Erlebnisses zeigt, „in specie“ erfassen. Dann erreichen wir die „eidetische“ Phänomenologie der Bewusstseinserlebnisse, die uns zu apriorischen Behauptungen verschiedener Allgemeinheitsstufen führt. Gemeint sind also Behauptungen, welche nicht nur die Struktur von Bewusstseinsakten selbst, deren notwendige und mögliche Verbindungen betreffen, sondern 196
Vgl. dazu auch Fink, E. (1966) und (1966b). Er meint, dass die Absicht des transzendentalen Idealismus Husserls in einer grundlegenden ‚Bewusstseinsforschung’ besteht, wobei die Welt als „Leistung des Bewusstseins“ aufgefasst wird, und die transzendentale Subjektivität selbst im Vergleich zur konstituierten Welt zu einem in sich selbst gründenden Absoluten wird. Bei Husserl ist auch die Frage nach dem Sein der Intentionalität, die in sich die Frage nach der Seinsweise der transzendentalen Subjektivität enthält, ein ungeklärtes Problem (vgl. ders. [1966], 222f). Fink behauptet weiter gegen Husserl: Die These, dass die apodiktische Evidenz der Weltausschnitte bedenklich ist, bedeutet noch nicht, dass die der Welt im Ganzen auch fragwürdig sei (vgl. Hua Dok II/2, 164). Durch seine (kritischen) Analysen hat Fink den Weg Husserls „entcartesianisiert“ (vgl. z.B. Bruzina, R. [1987], 76).
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127 auch die Struktur ihrer Verläufe in der Zeit und des damit verbundenen Prozesses des Sich-Bildens, des Sich-Umgestaltens und der Synthesen von verschiedenartigen „Sinnen“ (Vermeintheiten [=Intentionen]) sowie von „gegenständlichen Sinnen“ als Erzeugnissen all dieser Operationen (vgl. SFPh, 213f). Die von Husserl in seiner Phänomenologie aufgestellte These über die immanente Wahrnehmung bringt nach Ingarden jedoch diverse Probleme mit sich. Nun könnte man diese These folgendermaßen zusammenfassen: „Wenn ich eine immanente Wahrnehmung von meinem sinnlichen Wahrnehmen habe, dann ist es ganz zweifellos, dass dieses sinnliche Wahrnehmen, das ich jetzt immanent erfasse, existiert. Es wäre widersinnig, daran zu zweifeln“. Die Frage ist: Wo liegt das Problem? Ingarden akzeptiert Husserls These nur insofern, als man klar beweisen könne, dass ich eine immanente Wahrnehmung von meinem sinnlichen Wahrnehmen vollzogen habe, dass dies wirklich eine immanente – und nicht transzendente – Wahrnehmung sei, dass ich auf das reine Bewusstsein und nicht auf das psychische (also reale, zur Welt gehörende Bewusstsein) gerichtet bin. Von daher ist nach unserem Autor zu fragen: Woher soll ich wissen, dass ich jetzt tatsächlich eine immanente Wahrnehmung vollziehe? Husserls Lösung, die darin besteht, dass eine ‚immanente Wahrnehmung der immanenten Wahrnehmung’ durchgeführt werden könne, ist für unseren Autor keinesfalls zufriedenstellend, und zwar aus zwei Gründen: Entweder hat man dadurch einen „regressus in infinitum“, d.h. wenn man eine „immanente Wahrnehmung der immanenten Wahrnehmung von der immanenten Wahrnehmung“ zu vollziehen strebt, dann muss an irgendeinem Punkt Schluss gemacht werden, wo ich sage, dass nichts weiter zu machen und diese „n-te“ immanente Wahrnehmung richtig sei. Oder hat man eine „petitio principii“, d.h. man hat vorausgesetzt, dass die Wahrnehmung immanent sei und existiere, ohne weiter danach zu fragen (vgl. EPhH, 290f). Abschließend ist festzuhalten, dass der immanenten Wahrnehmung – prädikativ – nicht mehr und nicht weniger als ein „Ich nehme wahr, wenn ich wahrnehme“ entspricht. Die immanente Wahrnehmung ist dadurch gekennenzeichnet, dass sie eine „unvermittelte Einheit“ mit ihrem Wahrgenommenen – also dem schlicht vollzogenen Akt – bildet, so dass
128 dieser nur als wesentlich unselbständiges Moment aus dieser Einheit abzusondern ist. Während Ingarden dieses Faktum ganz deutlich hervorhebt, scheint bei ihm m.E. doch die Feststellung zu kurz zu kommen, dass Husserl die immanente Wahrnehmung von Bewusstseinserlebnissen nicht immer genug von der Erlebnisreflexion Das gibt uns ebenfalls den Anlass, eine geschieden hat. schwerpunktmäßige Konfrontation mit der neueren phänomenologischen Debatte abzuwickeln. 197
3. Ingarden und die neuere phänomenologische Debatte: Begründung und Kritik an der Auseinandersetzung Ingardens mit dem transzendentalen Idealismus Husserls 198
„I have been accused of denying consciousness, but I am not conscious of having done so. Consciousness is to me a mystery, and not one to be dismissed. We know what it is like to be conscious, but not how to put it into satisfactory scientific terms”. 199
Dass wir diesen Abschnitt mit einer Behauptung Quines beginnen, ist kein Zufall. Denn ihr Sinn trifft auch für Ingarden zu – vor allem hinsichtlich ihrer Extension. Während Quine vom Bewusstsein als einem Mysterium spricht und die Schwierigkeiten an dessen terminologischer Präzisierung beklagt, könnte man in Bezug auf Ingardens Auseinandersetzung mit dem transzendentalen Idealismus Husserls, die sich nicht nur auf das Problem des Bewusstseins allein beschränkt, gleichwohl die These gelten lassen, dass es bei unserem Autor oft auch an präziser Terminologie mangelt. Die gewichtigste Konsequenz davon ist, dass einige Sachverhalte entweder gänzlich übersehen oder anders als in der neueren phänomenologischen Debatte aufgefasst werden. Vgl. Ströker, E. (1987), 96, 228f. Zum Problem der Wahrnehmung bei Husserl vgl. etwa Melle, U. (1983); Asemissen, H.U. (1957); Bernet, B. (1978). Vgl. Fußnoten 29 und 35 (Hinweise zum Begriff der „neueren phänomenologischen Debatte“ in der vorliegenden Abhandlung). Quine, W.V.O. (1987), 132f.
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129 Der folgende Abschnitt läuft auf die Frage hinaus: Was hat Ingarden in seiner Husserl-Auslegung möglicherweise übersehen? Dies ist aber in einem „objektiven“ Rahmen zu beantworten und erfordert deswegen zwei Schritte: ‚Begründung und Kritik’. Das heißt, selbst wenn es uns hier primär um die Enthüllung (Kritik) eventueller Mängel der Ingardenschen Husserl-Auslegung im Lichte der neueren phänomenologischen Debatte und bezüglich dieses Kapitels geht, dürfen wir dabei gleichzeitig – um der Objektivität unserer Untersuchung willen – nicht aus den Augen verlieren, dass es auch doch gewisse Berührungspunkte zwischen unserem Autor und dem gegenwärtigen Diskurs gibt, welche Ingardens Vorhaben zumindest zu rechtfertigen (begründen) scheinen, indem sie ganz klar bezeugen, dass es sich bei Husserl um einen transzendentalen Idealismus handelt, und ihn im Sinne unseres Autors deuten. 200
§1. Begründung So hebt etwa R. Kearney eine Diskrepanz zwischen der realen Welt und dem Bewusstsein hervor, wenn er schreibt: „The world ist disclosed accordingly as a world that is always for consciousness […] its meaning being constituted only in and through consiousness […]. And likewise consiousness is disclosed as a consiousness of something other than itself – consiousness of the world […] We exist in the world before we are reflectively aware of either our own separate existence or the world’s separate existence.” 201
Wir sehen, dass dieses Zitat gleichzeitig eine eindeutige Kritik Kearney’s an der das Bewusstsein bevorzugenden Einstellung Husserls enthält. Das Bewusstsein kann nicht für ein „box“ gehalten werden, das alle möglichen Wahrnehmungen oder Vorstellungen von Objekten der realen Welt in sich enthält, stellt Kearney fest. Im Sinne Ingardens und der
Sowohl zwecks der Begründung als auch der Kritik werden offensichtlich nur einige ausgewählte Beispiele genannt. Kearney, R. (1984), 15. Vgl. auch andere Beiträge aus der neueren HusserlForschung, z.B. in: Orth, E.W. (1991).
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130 existentialorientierten Philosophen fährt er fort, der Mensch sei in erster Linie „a being-in-the-world“. Husserls strenge Differenzierung (im Sinne der Interpretation Ingardens) zwischen der realen empirischen Welt und der reinen idealistischen Sphäre des Bewusstseins wird auch von D. Welton betont. Das Interessante bei ihm ist, dass er den Begriff „worldbound“ bzw. „transworld a priori” einführt und gleichzeitig zwischen zwei Aspekten unterscheidet: „world of pure possibility“ und „possible world“. In diesem Kontext „meldet sich“ sofort Heidegger zu Wort: Die Frage, ob überhaupt eine Welt sei und ob deren Sein bewiesen werden könne, ist die Frage, welche das Dasein als „In-der-Welt-sein stellt. Sollte sie jemand anders stellen, wäre sie sinnlos. Wenn also Heidegger sich dafür einsetzt, dass das Sein den Sinn von Realität enthalte, und wenn er sich an die Realität als ‚ontologisches Problem’ heranwagt, so nähert er sich m.E. 202
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Vgl. Kearney, R. (1984), 15f. Unter den zahlreichen amerikanischen Phänomenologen ist A. Gurwitsch sehr angesehen (vgl. ders. [1966] und [1974]). Er tritt entschieden gegen idealistische Positionen auf, welche in Solipsismus münden. So entwickelt er eine Art „Wir-Phänomenologie“, die auch im Gegensatz zur „IchPhänomenologie“ Husserls und zu den verschiedenen Arten von Solipsismus steht (vgl. Choi, Z. [1997], 230f). Vgl. Welton, D. (2000), 44. Vgl. dazu auch Kockelmans, J.J. (1994) – der Verfasser erblickt gewisse Einflüsse von Leibniz, wenn es um die Verwendung des Begriffs „Ontologie“ bei Husserl geht, d.h. Husserl führt den Begriff „universale Ontologie“ (in Encyclopaedia Britanica) ein (vgl. 257). Auch vgl. Crowell, S.G. (2001), 182f. Vgl. Welton, D. (2000), 46f. Nach Welton bewegt sich Husserl in seinen Analysen im Rahmen des ersten Begriffs d.h. „world of pure possibility“. Dazu vgl. auch Mohanty, J.N. (1985), 37f. Vgl. auch Seifert, J. (1987), 137f. Seifert beruft sich oft in seinen kritischen Ausführungen unmittelbar auf Ingarden und macht sich dessen Position zu Eigen. Er bereichert sie allerdings in vielen Fällen um einige Exkurse aus der Geschichte der Philosophie (Platon, Aristoteles, Kant usf.), wodurch das Ganze an Plausibilität gewinnt (vgl. 142f). Zur Problematik der Philosophie Husserls im amerikanischen Raum vgl. auch etwa Barber, M.D. (2001), 21f; Margolis, J. (2000), S. 39f; Reeder, H.P. (1986). Vgl. Heidegger, M., SuZ, 200f. In diesem Kontext scheint eine Erläuterung von H. Rombach (vgl. [1980], 67) sehr behilflich zu sein: „Das reine Ego wird von Heidegger nicht als ein Weltgegensatz aufgefasst, sondern eher als Konzentrationspunkt, von dem aus eine Weltmannigfaltigkeit auf die Einheit ihrer Realitätstypik versammelt wird. 202
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131 deutlich Ingarden an, dessen ontologisches Profil in seinem Buch „Der Streit um die Existenz der Welt“ zum Vorschein kommt. Heidegger wirft (im Sinne unseres Autors) Husserl vor, dieser würde durch die phänomenologische Reduktion gerade den Boden aus der Hand geben, auf dem einzig nach dem Sein des Intentionalen gefragt werden könne. Ein anderes Beispiel, das die Adäquatheit der Ingardenschen Analyse begründet, finden wir bei Sartre. Ähnlich wie Ingarden bemüht sich Sartre um den Realismus in Erkenntnistheorie und Ontologie. Da Husserl das Sein von Realität samt deren Formen in seiner transzendentalen Reduktion auf eine bloße „Reihe von Bedeutungen“, auf nichts als einen „Sinn“ beschränken will, hält Sartre ihn für einen Idealisten. Was Sartre unter Idealismus versteht, lässt sich bereits manchen Bemerkungen in der Einleitung und auch in anderen Teilen von „L’être et le néant. Essai d’ontologie phénoménologique“ entnehmen. Im Idealismus werden ‚Sein und Denken identifiziert’. Der Idealismus bemisst nach ihm immer das Sein an der Erkenntnis und beschränkt es so auf die Gesamtheit von kognitiven Vollzügen der Subjektivität. Seine kritische Einstellung dem 206
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Nicht im Absehen von Welt, sondern gerade im Hinsehen auf sie wird das reine Ego fassbar; allerdings nicht so, dass es die Welt selber wäre, sondern so, dass es das ‚Inder-Welt-sein’ ist“. Dass Heidegger der phänomenologischen Reduktion einen anderen Wert (und Sinn) zuschreibt, gesteht Husserl selbst in einem Brief an Ingarden zu (vgl. Husserl, E. [1968], 43). Was Heidegger selbst angeht, sei hier noch angemerkt, dass Heideggers Philosophie eigentlich auch noch ‚dualistisch’ bleibt, und zwar darum, weil ‚Heidegger mit der ontisch-ontologischen Differenz zwischen Sein und Seiendem arbeitet’ (vgl. Becke, A. [1999], 12f). Vgl. Heidegger, M. (1988), 150; vgl. auch Crowell, S.G. (2001); Conrad-Martius, H. (1916), 345f – sie plädiert für eine realistische Auffassung der Welt und deren Seinsautonomie und versucht, die Mannigfaltigkeiten von Empfindungsdaten deskriptiv zu bearbeiten. Ingarden beruft sich oft auf Conrad-Martius. Man könnte noch auf Max Scheler zurückgreifen, der auch über Husserl kritisch hinausgeht, sowie auf D. von Hildebrand und seine deutlich realistischen Tendenzen (vgl. dazu etwa Vendemiati, A. [1992]). Vgl. Sartre, J.P. (1943), 23f, 291f. Beim Konfrontieren der Vertreter des französichen phänomenologischen Milieus mit Husserl ist es sinnvoll, „relevante“ Aktivitäten Husserls in Frankreich nicht aus dem Blick zu verlieren. Es geht also um die Doppelvorträge, die Husserl am 23. und 25. Februar 1929 an der Sorbonne im Amphithéâtre Descartes gehalten hat (vgl. dazu Waldenfels, B. [1983]). 206
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132 „subjektiven Idealismus“ gegenüber hat Sartre ganz interessant unter anderem in einer sarkastischen Form formuliert: Er bezeichnet den Versuch, das Seiende als eine gewisse Vereinigung von Bewusstseinsinhalten zu erklären, als „Ernährungs-“ oder „Verdauungsphilosophie“ und „schwächliche Philosophie der Immanenz,“ wo alles durch Vergleich, protoplasmischen Austausch, durch eine Zellchemie geschieht. Für Ingardens Analyse der Problematik der Wahrnehmung erweist M. Merleau-Ponty mit seinem Werk „Phänomenologie der Wahrnehmung“ einen wertvollen Dienst. So scheidet nach Merleau-Ponty der Leib anders als bei Husserl nicht infolge der Anwendung des Prinzips phänomenologischer Reduktion von vornherein aus der Betrachtung aus. Der Leib gilt nicht als ein „Gegenstand unter anderen für ein selbst weltloses Denksubjekt“, sondern als „metaphysische Notwendigkeit“, als das, wodurch es Gegenstände überhaupt erst gibt. Während sich in Husserls Philosophie das in der Reflexion zu gewinnende und als Rückbezug des Bewusstseins auf sich selbst verstandene Bewusstseinsimmanente (cogitatio) als Grundlage aller Erkenntnis zeigt, vertritt Merleau-Ponty eindeutig eine ‚realistische’ und vor allem ‚ontologische’ Position und erblickt darum alle Erkenntnismöglichkeit begründet in der Zugehörigkeit des Leibes zur Welt. Zusammenfassend können wir sagen, dass die Schwerpunkte der Analysen phänomenologischer Schriften Husserls sowohl bei Ingarden als auch in der neueren phänomenologischen Diskussion so angesetzt sind, dass sie 208
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Vgl. Sartre, J.P. (1981), 109f. Sartre hat auch einige Elemente der Husserlschen Philosophie übernommen. So beruft er sich etwa auf Husserl: „Alles Bewusstsein, Husserl hat es gezeigt, ist Bewusstsein von etwas“ u.ä. (vgl. ders. [1943], 17). Merleau-Ponty, M. (1966), 45, 79, 116f. Bereits der Titel des Werkes „Phänomenologie der Wahrnehmung“ lässt Vermutungen zu, dass die Position Merleau-Pontys in der Nähe von Ingarden einzustufen ist, zumal Ingarden sich bekanntlich mit der Problematik der Wahrnehmung auch intensiv auseinandersetzt (vgl. OSW). Vgl. Pieper, H.J. (1993), 195. Vgl. dazu auch Dillon, M.C. (1988). Mit der Philosophie Husserls haben sich auch andere französische Denker kritisch befasst, z.B. Derrida, J. (1987). Dennoch nehmen sie keine klare Stellung zum transzendentalen Idealismus Husserls. 208
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133 eng mit der Problematik des Welt-Bewusstsein-Verhältnisses, der phänomenologischen Reduktion, des Bewusstseinsbegriffs u.ä. zusammenhängen. Allerdings ist auch zuzugeben, dass es einige kleinere Differenzen im Hinblick auf das Verständnis der Husserlschen Philosophie gibt, welche aber letzten Endes doch dazu beitragen, dass die heutige HusserlForschung um neue Anregungen bereichert wurde. Diese Differenzen dürften m.E. vor allen Dingen mit folgenden Faktoren zusammenhängen: Erstens war Ingardens unmittelbarer Kontakt mit seinem Meister in der Periode, in der sich sein philosophisches Denken kristallisierte, vielfach erschwert – auch wegen der politischen Umstände im damaligen Europa – und nahm fast lediglich die Form schriftlicher Korrespondenz an. Zweitens konnte unser Autor im polnischen philosophischen Milieu zu jenem Zeitpunkt keine Unterstützung seitens anderer Phänomenologen erfahren, bzw. keine Gesprächspartner finden, die seine Position hinsichtlich der Husserlschen Reflexion hätten teilen und möglicherweise auch korrigieren können. Drittens – was Ingarden selbst vielerorts zugesteht – stand er meist vor einem „verschlossenen Fenster“ auf der philosophischen Welt, d.h. es gab während des Zweiten Weltkrieges und viele Jahre danach praktisch keine Möglichkeit, die eigene Position mit der westlichen philosophischen Literatur zu konfrontieren. §2. Kritik Im vorangehenden Abschnitt haben wir anhand einiger Beispiele gezeigt, dass sich Ingardens These vom transzendentalen Idealismus beim späteren Husserl begründen lässt, weil sie wesentlich mit der Position der neueren phänomenologischen Debatte in Einklag steht. Jetzt wollen wir versuchen herauszubekommen, was Ingarden wohl doch aus Sicht der neueren phänomenologischen Debatte übersehen hat. In erster Linie ist festzustellen, dass Ingarden – wie er selbst in einem Satz zugesteht, dessen (für uns) wesentliches Fragment wie folgt lautet: „Wovon ich nur einen Bruchteil kenne“ – nicht mit der ganzen Problematik der Schriften Husserls konfrontiert war (vgl. EPhH, 288). Da spielten wohl einige Faktoren mit, die wir am Ende des vorangehenden Abschnitts genannt haben. Als unser Autor aber diese Behauptung
134 formulierte (im Jahre 1967, in „Osloer Vorlesungen“ [die X. Vorlesung]), dürfte die Lage nicht mehr so dramatisch gewesen sein, zumal er selbst ins Ausland zwecks der Vorlesungen in Oslo verreisen durfte. Nach dieser allgemeinen Bemerkung gehen wir zu den sachlichen Elementen über. In der neueren phänomenologischen Debatte wird zunächst nicht nur von der eidetischen und transzendentalen, sondern auch von der „abstrakten Reduktion“ bei Husserl gesprochen. Die abstrakte Reduktion finden wir aber bei Ingarden nicht. Nun schreibt D. Bell: „The materials which Husserl is prepared to allow himself in his escape from ‘the solipsistic predicament’ are severely restricted; and in order to set limits to them he introduces another reduction: ‘the abstractive reduction’ or ‘the reduction of transcendental experience to the sphere of ownness”. 211
Die Funktion der abstrakten Reduktion besteht in Folgendem: „The function of the abstractive reduction is, precisely, to ‘abstract’ from the intersubjective sense that normally characterizes elements present in transcendental subjectivity, thereby revealing (we are told) the existence of a prior, primordial, ‘transcendental sphere of peculiar ownness’. This revelation is to be achieved as a result of my ignoring everything in transcendental subjectivity that is tainted by reference to what is ‘alien’, ‘other’, ‘belonging to the surrounding world’, ‘not-mine’, and so on”. 212
Wenn Ingarden über das Idealismus-Realismus-Problem bzw. über den transzendentalen Idealismus bei Husserl spricht, entwirft er m.E. keine durchsichtige Verständnisgrundlage, auf der eine sachliche Differenzierung dieser Problematik hinreichend erfolgen könnte. Indes gilt es heute – was etwa Fink nachgewiesen hat – in einem Diskurs doch streng zu unterscheiden zwischen ‚mundanem und transzendentalem Idealismus, und innerhalb des ersteren zwischen ontologischem, erkenntnistheoretischem, aktivistischem sowie absolutem Idealismus (vgl. 2§3d [Kap. I]). Darüber hinaus wäre es durchaus sinnvoll, einen Bezug auf traditionelle (klassische) philosophische Strömungen zu nehmen, ohne die sich das richtige Verständnis des Idealismus-Realismus-Problems kaum vorstellen – geschweige denn behandeln lässt. Demnach wären kurzum zumindest
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Bell, D. (1990), 216. Bell, D. (1990), 217.
135 folgende Fälle denkbar: (1) Übergewicht des Realismus (R): natürlicher (praktischer, emotionaler) und kritischer R; (2) Vorrang des Idealismus (I): subjektiver, kritischer (transzendentaler), logischer I und Geistesidealismus. Darauf hin fällt es auf, dass Ingarden beim Behandeln des Husserlschen Gedankenguts die Beziehung zwischen Husserl und Heidegger völlig missachtete – abgesehen von ein paar Bemerkungen eher unwissenschaftlicher Art. Indessen konnte für Heidegger das Sein erst im Kontext einer Kritik an der idealistischen Konzeption Husserls Thema der Phänomenologie werden. Heidegger charakterisiert die erste Bestimmung der Phänomenologie, welche sich aus der kritischen Darstellung der Husserlschen Phänomenologie ergibt, als einen „Anfang“, aus dem eine radikalere Fassung der Phänomenologie entwickelt werden soll. So wird in „Sein und Zeit“ ein Begriff der Phänomenologie dargebracht, der eine radikale Verschärfung des Husserlschen Begriffs der Phänomenologie darstellt. In unserer bisherigen Reflexion wurde oft die Frage nach den Motiven diskutiert, welche Husserl Ingarden zufolge zum transzendentalen Idealismus geführt haben. Hier können wir aus Sicht des gegenwärtigen Standpunkts feststellen, dass die von unserem Autor vorgeschlagenen Motive einer Ergänzung bedürfen. Zum einen geht es um die Art und Weise, wie Husserl das Verhältnis zwischen „bedeutungsverleihenden“ und „bedeutungserfüllenden“ Akten bestimmt. Nach Seifert kommt den bedeutungsverleihenden Akten (meaning-giving acts) die Priorität zu, weil sie den Akten vorausgehen, in denen die Bedeutungsintentionen erfüllt werden. Zum anderen handelt es sich um eine Art Unklarheit in Husserls „Philosophischen Untersuchungen“, wo keine klare Differenzierung zwischen „Spezies“ (Wesen) und „Begriff“ durchgeführt worden ist. Husserl stellt nun „Wesen“ so dar, als ob es dem „Begriff“ gleich wäre. Während Begriffe jedoch durch den Verstand geformt werden und auf die 213
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Vgl. Reininger, R. (1970), 99f. Vgl. Heidegger, M., SuZ, 27f; auch ders. (1988), 109f sowie (1989). Vgl. dazu auch andere Autoren, z.B. von Herrmann, F.W. (1981) und (1991).
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136 Abstraktion angewiesen sind, sind „Spezies“ hingegen „Wesen“ und werden keinesfalls durch den Verstand gebildet. Als notwendige Konsequenz der transzendentalen Umgestaltung der Phänomenologie erweist sich in der neueren phänomenologischen Debatte als äußerst wichtig die ‚Frage nach der Beziehung zwischen der transzendentalen Reduktion und der Konstitution der Intersubjektivität’. Das Problem der Intersubjektivität bzw. die Theorie der „Einfühlung“ wird aber von Ingarden nicht ausführlich behandelt. Wir finden bei ihm lediglich einige Hinweise auf den Begriff der Einfühlung. Es ist umso merkwürdiger, als man heute klar beweisen kann, dass Husserl ab 1905 (also bereits nach der Einführung der Reduktion) beginnt, eine systematische Theorie der Einfühlung aufzubauen, der gemäß nicht mehr das Medium der Sprache, sondern ‚dasjenige des (nicht-intellektiv wahrgenommenen) fremden Leibes die Vermittlungsfunktion zwischen eigenen und fremden Erlebnissen übernimmt. Auch dem Begriff „Lebenswelt“ bei Husserl, der für eine gegenwärtige Diskussion relevant ist, widmet Ingarden kaum seine Aufmerksamkeit. Im Aufsatz „Was gibt es Neues in Husserls Krisis?“ tritt Ingarden bloß gegen alle Behauptungen auf, welche die „Lebenswelt“ für eine große Entdeckung von Husserls Werk „Die Krisis“ halten. Denn die „Lebenswelt“ ist nach unserem Autor für Husserl nichts anderes als die „Welt der natürlichen Einstellung“ in den „Ideen I“, d.h. als die in der natürlichen Einstellung ständig vorhandene „Generalthesis“ der Welt (vgl. SPhH, 438f). In diesem Punkt stimmt unser Autor doch auch mit der neueren phänomenologischen Debatte überein. 215
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Vgl. Seifert, J. (1987), 141f. Vgl. Dastur, F. (1989), 43f. Vgl. Dumas, D. (1999), 117. Man kann bei Husserl von fünf Stufen der Einfühlung sprechen: (1) Wahrnehmung (W) des Leibes; (2) W der Erscheinungen, in denen sich das Transzendente darstellt; (3) W der Akte des fremden Subjekts; (4) „Seele und das empirische Subjekt. Zustände des Subjekts als bekundende“. Es geht also um die Zustände des fremden Subjekts, welche durch seinen Leib „ausgedrückt“ werden; (5) Schichten der andersartigen Geistigkeit, die sich auf habituelle Eigenschaften bezieht (Gehen, Sehen, Tanzen, Sprechen usw.) (vgl. Hua XIII, 62f). 215 216 217
137 Dennoch scheint Ingarden dabei übersehen zu haben, dass die Funktion des Begriffs „Lebenswelt“ eigentlich darin besteht, einen besseren Weg in die Sphäre der transzendentalen Subjektivität zu öffnen: im Gegensatz zum cartesianischen Weg soll nur schrittweise, d.h. mittels der lebensweltlichen und der transzendentalen Epoché, das ‚Phänomen der Welt’ als Korrelat des konstituierenden „Ur-Ich“ aufgedeckt werden. Husserls Anliegen ist es daher aufzuweisen, dass die Natur im Sinne der anschaulich vorgegebenen (alltäglichen) Welt in der Neuzeit zum ersten Mal „vergessen“ wird. Unsere alltägliche Lebenswelt stellt indes das Fundament jeder praktischen sowie theoretischen Tätigkeit dar. Die Frage ist: Was ergibt sich für die ganze Idealismus-RealismusDiskussion aus der Behauptung, dass „Lebenswelt“ mit „anschaulicher“ Welt gleichgesetzt wird, mit der Welt vorwissenschaftlicher Erfahrung, d.h. mit einer „vorgegebenen“ Welt des Alltags, oder anders ausgedrückt: mit der konkreten, allen Menschen zugänglichen Welt? Die Antwort lautet: Die Bestimmung der alltäglichen Welt als „Fundament der Wissenschaft“ bricht mit der bisherigen Haltung der Phänomenologie seit den „Ideen“, deren erster Schritt bekanntlich in der Ausschaltung aller Geltungen natürlicher Einstellung bestand. Hätte Ingarden das mehr 218
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Vgl. Dumas, D. (1999), 152, 141f. Dazu vgl. auch etwa Gadamer, H.G. (1986), 249; Crosson, F. (1966), 455f – beide sprechen von einem „Weltbegriff“ bei Husserl, der sowohl die ontologisch-objektive (bzw. „regionale“) als auch die horizonthaftige Dimension enthält. Man muss zudem klar sagen, dass in Polen auch verschiedene kritische Meinungen zu hören sind, was Ingardens Interpretation der Husserlschen Philosophie angeht. So sieht etwa J. Tischner (vgl. [1972], 142) in Husserls Ausführungen – anders als Ingarden - lediglich eine ‚transzendental-phänomenologische Ontologie’, oder deutlicher ‚eine allgemeine Theorie des Objekts und Subjekts’. J.J. Jadacki (vgl. [1981], 203f) ist der Ansicht, dass der von Ingarden als idealistisch interpretierte Standpunkt Husserls sich nicht auf die reale Welt bezieht, sondern auf deren ‚Vorstellung’. Schließlich interpretiert J. Szewczyk (vgl. [1987]) Husserls Philosophie als eine ‚faszinierende Vision’ des Subjekts, die über die Grenze der Welt hinausgeht. Die Welt der subjektiven Aktivität ist ein Produkt des Bewusstseins. Ingarden gelingt es bei seiner Husserl-Interpretation nicht, über die phänomenologische Reduktion hinauszugehen; die Folge davon ist, dass er das Wesen der Philosophie Husserls nicht ganz umfassen könne. 218
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138 beachtet, dann hätte auch seine Position dem Husserlschen transzendentalen Idealismus gegenüber an Plausibilität gewinnen können. 4. Zusammenfassung Zum Wesen des natürlichen Realismus gehört das Vertrauen in die sinnliche Wahrnehmung, heißt es bei einigen Philosophen der Gegenwart. Dass sich Ingarden mit dem Problem der Wahrnehmung befasst, kam im vorliegenden Kapitel, dessen Anliegen in erster Linie das Herausarbeiten eines Hintergrundes zum Verstehen der erkenntnistheoretischen (und ferner auch der ontologischen) Reflexion bei Ingarden war, deutlich zum Vorschein. Nach einer einführenden Reflexion, in der wir die Frage zu beantworten suchten, warum sich Ingarden mit dem transzendentalen Idealismus Husserl befasst, konzentrierte sich unser ganzes Bemühen zunächst auf Ingardens Auseinandersetzung mit dem transzendentalen Idealismus Husserls selbst, welche einen Hintergrund bzw. eine Grundlage bildet, auf der sowohl die erkenntnistheoretisch als auch die ontologisch geprägte Analyse Ingardens erst einmal richtig interpretiert werden kann. Als erstes haben wir eine vorläufige Auffassung und die Phasen der Entwicklung des idealistischen Standpunkts Husserls skizziert. Was die Auffassung anbelangt, zeigte sich, dass für Husserl alle physischen Gegenstände „Gebilde“ von Erlebnissen des reinen Bewusstseins sind, und die reale Welt, die ein notwendiges „Produkt-Korrelat“ des Bewusstseins ist, nicht anders als die idealen Gegenstände existiert (vgl. SPhH, 201). Die Entwicklung des idealistischen Standpunkts bei Husserl verläuft in vielen Phasen, die wir mit Ingarden folgendermaßen aufteilten: (1) Bis einschließlich „Logische Untersuchungen“ – eine noch realistisch geprägte Phase; (2) „Ideen zu einer reinen Phänomenologie“ – eine halbidealistische Phase; (3) „Formale und transzendentale Logik“, „Méditations Cartésiennes“ und „Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie“ – beherrscht schon von universellem Idealismus. 220
220
Vgl. Reininger, R. (1970), 101.
139 Daraufhin wurden die Grundlagen der idealistischen Behauptung Husserls, dass die ‚Welt das Korrelat einer komplizierten Mannigfaltigkeit von subjektiven Operationen des Ich sei’, schwerpunktmäßig mitsamt deren Hintergründen analysiert (vgl. EPhH, 29). Zum einen ging es um das Prinzip der „Philosophie als strenger Wissenschaft“, demnach die Philosophie als transzendentale Weltwissenschaft in gänzlich anderem Sinne als die weltlichen Wissenschaften verstanden werden müsse; sie solle nicht nur deren Wissen anders und tiefer begründen, als das mit eigenen Mitteln geschehen kann, sondern sie habe auch sich selbst eine Begründung zu geben und diese selbst kritisch zu rechtfertigen (vgl. SPhH, 150). Eine Garantie für die Möglichkeit der „Philosophie als strenger Wissenschaft“ erhofft Husserl durch die phänomenologische Reduktion zu gewinnen, die von uns anschließend untersucht wurde. Es stellte sich dabei heraus, dass die Überzeugung von der Existenz der Welt dank der Durchführung der transzendentalen Reduktion „außer der Welt“ gesetzt (d.h. „eingeklammert“) wird. Das Bezweifelbare (die Welt) wird reduziert, und das Unbezweifelbare (das reine Bewusstsein) bleibt als „Residuum“ übrig. Die transzendentale Reduktion ist kein Negieren der Welt. Sie ist vielmehr eine „Operation“ des reinen Ich im Bewusstsein (vgl. EPhH, 199f), wobei das Ich selbst nicht unter die Klausel der Reduktion fällt, weil es zur Struktur des Bewusstseins gehört (vgl. EPhH, 227). Die transzendentale Reduktion gilt für Ingarden als Beweggrund, der Husserl zum transzendentalen Idealismus verholfen hat (vgl. SPhH, 272). In diesem Zusammenhang zeigte sich auch, dass das „Wesen“ (d.h. die Erscheinung im Bewusstsein im Unterschied zur „Tatsache“) durch die phänomenologische Reduktion in den Blick gelangt. Die Phänomenologie wird somit zur „Wesensschau“ und arbeitet als eidetische Lehre vom Bewusstsein in der Sphäre der Immanenz (vgl. EPhH, 164). Da wir es bei Husserl mit verschiedenen Phasen der Auffassung des Wesens und verschiedenen Auffassungen der zu diesem Wesen führenden Erlebnissse zu tun haben, die nicht ganz klar sind (vgl. EPhH, 189f), bemüht sich Ingarden selbst den Begriff Wesen zu deuten. 221
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Vgl. Ingarden, R. (1963), 577f.
140 Nach der Darstellung der methodischen Grundlegung der Phänomenologie als Wissenschaft vom reinen Bewusstsein, indem wir drei für Husserls Denken elementare Begriffe („Philosophie als strenge Wissenschaft“, die transzendentale und eidetische Reduktion) skizziert hatten, fragten wir nach den fundamentalen Konsequenzen der Durchführung der transzendentalen Reduktion. So ergab sich die Transzendenz-ImannenzFrage bei Husserl und Ingardens Versuch, sie zu überwinden. Laut Ingarden haben wir es bei Husserl mit verschiedenen Begriffen der Transzendenz zu tun: (1) „Begriff der Transzendenz im erkenntnistheoretischen Sinne“ – also dem Begriff, der auf mögliche bzw. wirkliche Erkenntnis des Erkenntnisgegenstandes bezogen ist, und (2) „Begriff der Transzendenz im ontologischen (bzw. ontischen) Sinne“ (vgl. EPhH, 117). Damit sind einige Schwierigkeiten wie z.B. das Problem der „Seinsrelativität der Welt“ verknüpft. Anschließend wurde die These aufgestellt: ‚Ingardens in seinem Werk „Der Streit um die Existenz der Welt“ herausgearbeitete Transzendenzbegriffe überwinden gleichsam aufgrund ihrer starken ontologischen Färbung die Begriffe der Transzendenz bei Husserl.’ Da für Husserl die Phänomenologie (aus Sicht der neueren phänomenologischen Debatte) „eo ipso“ transzendentaler Idealismus ist – in einem fundamental neuen Sinn, suchten wir, diese Problematik im Rahmen der Idealismus-Realismus-Diskussion weiterhin zu vertiefen. So stellte sich unter anderem heraus, dass für Ingarden das IdealismusRealismus-Problem durch die Frage bestimmt ist, ob und in welchen Fällen Gegenstände, die Bewusstseinserlebnissen gegenüber (in denen sie erkannt werden) transzendent sind, autonom und unabhängig von diesen Erlebnissen existieren, oder ob sie, sofern sie existieren, mit den Erlebnissen in irgendeinem Seinszusammenhang stehen (vgl. SPhH, 178). Unser Autor differenziert zwischen drei Problemgruppen: ontologischen, metaphysischen und erkenntnistheoretischen – und betont deren wesentliche Zusammenhänge miteinander. Darüber hinaus zeigte sich noch deutlicher, dass es sich bei Husserl um einen idealistischen Standpunkt handelt, demgemäß die reale Welt ein in ihrem Sein und Beschaffensein 222
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Vgl. Kockelmans, J.J. (1994), 270.
141 schöpferisch gestaltetes Gebilde reinen Bewusstseins sei (vgl. SPhH, 214f). Hinterher wurde die Frage gestellt: Sind Ingardens kritische Ansprüche, welche sich aus seiner Analyse des Husserlschen Denkens ergeben, im Licht der neueren phänomenologischen Debatte akzeptabel? Trotz prinzipieller Akzeptanz kam zum Vorschein, dass die Problematik des transzendentalen Idealismus bei Husserl in der neueren phänomenologischen Debatte in einer „etwas breiteren Dimension“ behandelt wird als dies Ingarden gestaltet (wir sprachen von einer Art „Isolierung“ bei Ingarden). Anschließend wurde ein konkretes Beispiel aus der neueren phänomenologischen Debatte aufgegriffen, nämlich Fink, und genauer in Bezug auf die Problematik des transzendentalen Idealismus bei Husserl untersucht, um schließlich nach möglichen Berührungspunkten zwischen Fink und Ingarden zu fragen. So ergab sich, dass beide Denker eine Differenzierung zwischen Immanenz und Transzendenz bei Husserl durchführen, die reale Welt als „noematisches Korrelat“ des transzendentalen Bewusstseins auffassen und dem Begriff des Bewusstseins eine zentrale Rolle zukommen lassen. In einem weiteren Abschnitt wurden die Problematik des Bewusstseins und der damit zusammenhängenden Konstitution untersucht. Da zeigte sich, dass sich alle wertvollen Analysen des Bewusstseins bei Husserl aus der Durchführung der transzendentalen Reduktion ergeben (vgl. EPhH, 215f). Dennoch ist es nicht immer klar, sagt Ingarden, was der Begriff des Bewusstseins bei Husserl umfasst. Aus einer nach Ingarden irrigen Auffassung des Bewusstseins und aus einer unberechtigten Verallgemeinerung des besonderen Verhältnisses zwischen Bewusstseinsakt und Gegenstand folgt Husserls idealistische These (vgl. OSW, 30). Hinsichtlich der Struktur des Bewusstseins wurden drei Elemente unterschieden: „hyletische“ Daten, Noesis (Akt) und Noema (Ding, Gegenstand, reale Welt) (vgl. EPhH, 152). Bezüglich der Konstitutionsproblematik spricht Ingarden von vier Begriffen der Konstitution (vgl. SPhH, 262f). Die Auffindung der zum Gegenstandssinn zugehörigen Noesen (Akte) und Erscheinungen stellt die erste Aufgabe der Konstitutionsproblematik dar (vgl. SPhH, 242). Da das Bewusstsein bei Husserl ein „zeitkonstituierendes“ Bewusstsein ist, handelt es sich in seiner Phänomenologie nicht nur um die Notwendigkeit der Konstitution von
142 Erlebniseinheiten allein, sondern auch um die Notwendigkeit der Konstitution der Zeit. So kamen zwei für Husserl relevante Begriffe ins Spiel: Retention und Protention. Die Bewusstseinsund Konstitutionsproblematik wurde anschließend aus transzendentalidealistischer Sicht untersucht: Wir stellten die Frage, inwiefern Ingarden mit der konstitutiven Lösung Husserls einverstanden sei. Da für Ingarden Wahrnehmen, Denken und Gefühlsakte besondere Akte des Bewusstseins darstellen (vgl. SPhH, 347) und unser Autor das äußere Wahrnehmen für das Motiv hält, das Husserl zum transzendentalen Idealismus mit geführt hat, wurde der nächste Abschnitt der Wahrnehmungsproblematik gewidmet. So kam zutage, dass bei Husserl zwischen transzendenter und immanenter Wahrnehmung zu differenzieren ist. Der Begriff „transzendente Wahrnehmung“ beinhaltet sowohl die äußere wie auch innere Wahrnehmung. Ingarden konzentriert sich hauptsächlich auf die äußere Wahrnehmung und behandelt die innere Wahrnehmung nur nebenbei, weil sie vor allem als Gegenstand psychologischer Wissenschaften gilt (vgl. SFPh, 211). Während die äußere Wahrnehmung in erster Linie aus sinnlicher Wahrnehmung wie Sehen, Hören, Tasten usf. (vgl. OSW, 177) besteht und zu den erkenntnismäßigen Bewusstseinserlebnissen gehört (vgl. OSW, 4), handelt es sich bei der inneren Wahrnehmung nicht um Bewusstseinserlebnisse, sondern um gewisse „Tatsachen in mir“, welche sich hinter meinen Erlebnissen verbergen (vgl. EPhH, 75). In dem Zusammenhang haben wir die Frage gestellt: Welches Kriterium lässt Ingarden in seiner Begründung gelten, dass Husserls Auffassung der äußeren Wahrnehmung ihn zum transzendentalen Idealismus mit geführt hat? Was die immanente Wahrnehmung anbelangt, zeigte sich, dass man in ihr und dank ihr eine Erkenntnis des Inhalts des Wahrnehmungsaktes gewinnen kann (vgl. OSW, 7). Der Akt der immanenten Wahrnehmung liefert für Husserl – so Ingarden – ein absolut wahres und sicheres Ergebnis. Das, was im betreffenden Akt der immanenten Wahrnehmung erfasst wird, kann nicht „nicht existieren“ und nicht anders sein, als es gegeben ist (vgl. SFPh, 211). Das immanent Wahrgenommene und das immanente Wahrnehmen bilden eine „unvermittelte Einheit“ (vgl. EPhH, 183).
143 Der letzte Abschnitt des ersten Kapitels läuft auf die Frage hinaus: Was hat Ingarden in seiner Husserl-Auslegung möglicherweise übersehen? Da gingen wir in zwei Schritten vor: „Begründung und Kritik“. Im ersten Schritt suchten wir aufzuweisen, dass es zwischen Ingarden und einigen Vertretern der neueren phänomenologischen Debatte gewisse Berührungspunkte im Hinblick auf den transzendentalen Idealismus Husserls gibt, etwa M. Heidegger, J.P. Sartre, R. Kearney u.a. Als Schwerpunkte gelten für beide Seiten: Welt-Bewusstseins-Verhältnis, phänomenologische Reduktion und Bewusstseinsbegriff. Im zweiten Schritt wurde die Frage behandelt: Was hat Ingarden übersehen? Da zeigte sich etwa, dass bei Ingarden der Begriff „abstrakte Reduktion“ ganz fehlt und der Begriff „Lebenswelt“ wesentliche Mängel aufweist.
Kapitel II „INGARDENS KONZEPTION DER ERKENNTNISTHEORIE“ „Metaphysische Welt. – Es ist wahr, es könnte eine metaphysische Welt geben; die absolute Möglichkeit davon ist kaum zu bekämpfen“. 1
1. Einführung Nietzsche entscheidet sich an dieser Stelle zweifellos für die Position Ingardens: Es könnte eine metaphysische Welt geben. Für Ingarden gibt es aber auch eine reale Welt (vgl. GE I, 27; auch SEW I-III), in der der Mensch seine Aufmerksamkeit nicht nur auf das richten kann, was ihm begegnet oder womit er sich abgibt, sondern er vermag sie auch im Erkennen auf sein Tun und Erleben selbst zu lenken. Das haben wir bereits im ersten Kapitel festgestellt – allerdings im Kontext der Auseinandersetzung Ingardens mit dem transzendentalen Idealismus Husserls. Das zweite Kapitel unserer Untersuchung wird von der Frage geleitet werden, was Erkennen für Ingarden sei. Ist das Erkennen eine jener letzten Gegebenheiten, die sich nicht auf irgendetwas anderes reduzieren lassen, die wir darum nicht „definieren“, auf die wir nur indirekt hinweisen können? Ist es weiterhin eine „einseitige Berührung“, in der das Objekt von dem Subjekt erfasst wird, d.h. eine Berührung, die nur eine Veränderung im Subjekt, nicht im erkannten Objekt bedeutet? Wie lässt sich das eigentliche Wesen des Erkennens erfassen? 2
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Nietzsche, F., Ne. We. Bd. I, 452. Vgl. Keller, A. (1990), 9. Vgl. Seifert, J. (1976), 47f.
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Mit der Analyse im zweiten Kapitel betreten wir das Feld des „selbständigen“ Denkens Ingardens, das sich bis auf das letzte Kapitel der vorliegenden Abhandlung ausstrecken wird und primär nicht seiner unmittelbaren Auseinandersetzung mit Husserl entspringt – selbst wenn die Rolle des Husserlschen transzendentalen Idealismus nicht unterschätzt werden darf -, sondern in Ingardens Streben nach dem Erforschen von Welt und Wahrheit über sie verankert ist. In „Ein Büchlein über den Menschen“ lesen wir: „[...] Ich bin die Kraft, die – einmal in die fremde Welt geworfen – sich mit dieser Welt vertraut macht und überdies, was sie vorfindet, neue und für ihr Leben unabdingbare Werke erzeugt. Ich bin die Kraft, die sich verewigen will – in sich selbst, in ihrem Werk, in allem, wem sie begegnet [...]“ (BM, 73f).
Dennoch gilt nach wie vor, dass Ingardens Konfrontation mit der transzendental-idealistischen Position seines Meisters sich wie ein roter Faden durchs ganze Denken unseres Autors – oft in aller Verborgenheit – zieht und schließlich danach strebt, diese zu überwinden. Dies eben weiterhin aufzuweisen bleibt unsere Aufgabe nicht nur im folgenden Kapitel, sondern auch in allen weiteren. Das folgende Kapitel gliedert sich in drei Teile: (1) Was kann eine Erkenntnistheorie nicht sein? Ingardens Kritik der Erkenntnistheorie; (2) Erkenntnistheorie nach Ingarden und (3) das Problem des Erkenntniswertes. 2. Was kann eine Erkenntnistheorie nicht sein? Ingardens Kritik der Erkenntnistheorie Ingarden bleibt in der Phase seiner philosophischen Tätigkeit, die wir in der vorliegenden Abhandlung als „Ingardens Weg zum Realismus“ bezeichnen, noch ein „echter Husserlianer“. Seine Untersuchungen zur Erkenntnistheorie stehen unter dem deutlichen Einfluß Husserls. Der Geist der Ingardenschen Epistemologie ist nun der Husserlsche Geist der absolustischen, selbstbegründenden, strengen Wissenschaft, die ihre Rechtfertigung prinzipiell aus den Quellen des reinen Bewusstseins
147 schöpft. Dennoch während das reine Bewusstsein beim späten Husserl die einzige Quelle zu sein scheint, lässt Ingarden – wie wir dies weiter sehen werden – auch andere Faktoren zu, etwa aus dem Gebiet seiner Kriteriologie und angewandten Erkenntnistheorie. Für den Schüler bedeutet somit die Nähe zu seinem Meister keineswegs, dass er sich scheut, die Ideen seines Meisters in zahlreichen Punkten zu korrigieren und durch seine eigenen Lösungen zu ersetzen. Vielmehr macht es Ingarden furchtlos im Laufe seines ganzen lebenslangen Bemühens mit der Erkenntnistheorie – angefangen mit dem Aufsatz „Über die Gefahr einer Petitio Principii in der Erkenntnistheorie“ (1921), um mit dem Werk „Zur Grundlegung der Erkenntnistheorie“ (Bd. I, [1971]) abzuschließen. Mit dem Fortschritt der ontologischen Analysen wird der Erkenntnistheorie eine gesonderte Stellung anderen 4
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Vgl. Chrudzimski, A. (1999), 7. Vgl. Küng, G. (1982), 225. Kriteriologie und angewandte Erkenntnistheorie (Eth) sind - neben der reinen Eth – Elemente der Konzeption der Eth Ingardens (vgl. 3 [Kap. II]). Natürlich gab es noch viele andere erkenntnistheoretische Werke. Hier können wir sie alle nicht aufzählen. Es seien nur die wichtigsten genannt: (1) „Intuition und Intellekt bei Henri Bergson“ (1921); (2) „Über die Stellung der Erkenntnistheorie im System der Philosophie“ (1925); (3) „Vom Erkennen der fremden psychischen Zustände“ (1947); (4) „Bemerkungen zum Problem der Begründung“ (1962); (5) „Bemerkungen zum Problem der Objektivität“ (1967). Um einen ausführlichen Überblick zu bekommen, vgl. etwa McCormick, P.J. (1985), 185f. Was Ingardens erkenntnistheoretisches Hauptwerk in seiner letzten Redaktion anbelangt (dem gehen noch fünf frühere Redaktionen voraus), wurde es noch von Ingarden selbst als „Zur Grundlegung der Erkenntnistheorie“, Teil 1 in polnischer Sprache zum Druck vorbereitet und 1971 - kurz nach seinem Tod - herausgegeben. Das Anfangsstück des (von Ingarden geplanten) 2. Teils ist 1995 als „Studien zur Erkenntnistheorie“ erschienen. Die deutsche Fassung (1996) hingegen umfängt zwei Halbbände: „Zur Grundlegung der Erkenntnistheorie. Das Werk“, Teil 1 (es entspricht dem 1. Teil der polnischen Fassung) und „Zur Grundlegung der Erkenntnistheorie. Ergänzende Texte“, Teil 2 (es handelt sich einerseits um die von Ingarden nachgelassenen und in polnischer Originalversion 1995 editierten „Studien zur Erkenntnistheorie“, andererseits um eine Auswahl der Fragmente und größerer Textstücke aus früheren Redaktionen des Grundtextes, die bis auf die ersten Jahre der selbständigen Forschungs- und Lehrtätigkeit Ingardens zurückreichen). 4 5 6
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148 philosophischen Wissenschaften gegenüber zugeordnet und der Ontologie einige Jahre später (in „Der Streit um die Existenz der Welt“) ein „theoretischer Vorrang“ zuerkannt. Bei der Bestimmung jeder Wissenschaft, insbesondere der Erkenntnistheorie, gilt für Ingarden, dass dem objektiven Element vor dem methodischen die Priorität einzuräumen sei. Darüber hinaus ist unser Autor der Meinung, dass sich kein Gegenstand einer Wissenschaft „auf einmal“ bestimmen lasse; man müsse vielmehr eine Reihe von verschiedenen systematischen und immer genaueren Abgrenzungen vollziehen. Anhand dieses Prinzips kann man bei Ingarden folgende Konzeptionen der Erkenntnistheorie (Eth) unterscheiden: (1) psychophysiologische Eth; (2) deskriptivphänomenologische Eth; (3) apriorisch-phänomenologische Eth; (4) logizistische Eth und (5) autonome Eth. Die kritische Analyse all dieser Konzeptionen führt zu einer allmählichen Bestimmung des Gegenstands der Erkenntnistheorie (vgl. GE I, 20). Ingarden hat nur die ersten drei Konzeptionen systematisch und kritisch behandelt. Sie sollen im Folgenden untersucht werden. 8
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§1. Psychophysiologische Erkenntnistheorie Wie im Falle jeder Wissenschaft erfordert nach Ingarden auch die Bestimmung einer Erkenntnistheorie die Beantwortung von folgenden Es handelt sich um folgende Wissenschaften: Psychologie, Naturwissenschaften, Metaphysik und Ontologie (vgl. FSE, 277f). Diese Methode wird von Ingarden als „Methode der Idealisation“ bezeichnet. W. Galewicz, Mitherausgeber von „Roman Ingarden. Gesammelte Werke“ (vgl. ders. [1996], XXXVIII) spricht bei Ingarden in Bezug auf die II. und III. Redaktion von „Zur Grundlegung der Erkenntnistheorie“ auch von der ‚transzendentalen Erkenntnistheorie’ (Eth), die als letzte Eth in dem von Ingarden aufgestellten System gelten soll. Um Ingardens Konzeption der Erkenntnistheorie richtig zu verstehen, ist es notwendig, die Reihe der Konzeptionen zu bewahren. Denn jede weitere Konzeption soll die Unzulänglichkeiten der vorangehenden überwinden; sie soll also jeweils eine Art ‚Verbesserung’ darstellen (vgl. GE I, 19). Auch Ingardens Stellung zur autonomen Erkenntnistheorie ist bloß fragmentarisch bekannt. Sie wird aber von uns erst im 3. Kapitel im Zusammenhang mit der Theorie der „Intuition des Durchlebens“ angesprochen. 8
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149 miteinander verknüpften drei Fragen: (1) Von welchen Gegenständen hat eine Erkenntnistheorie zu handeln? (2) Welche Erkenntnismittel können (und sollen) in ihr gebraucht werden? und (3) Zu welchem Zweck wird sie betrieben? (vgl. GE I, 6). Wenn wir fragen, wie das Problem der psychophysiologischen Erkenntnistheorie (PphE) „geboren“ wird, stoßen wir nicht nur auf diese obigen drei Fragen, sondern auch auf die Notwendigkeit der Aufdeckung ihres „Hintergrundes“, welchen für Ingarden das alltägliche menschliche Leben darstellt. Unser Autor schreibt: „Der Mensch bebaut die Erde und züchtet Pflanzen, errichtet Häuser, baut Brücken [...]. überdies stellt der Mensch Gegenstände [...] her, wie Kunstwerke, wissenschaftliche Theorien, metaphysische oder theologische Systeme, Sprachen [...], Staaten, öffentliche Institutionen [...]“ (BM, 30).
Auf einem ebenfalls auf alltägliche menschliche Tätigkeiten ausgerichteten „Hintergrund“ versucht Ingarden die ‚Voraussetzungen der PphE’ zu formulieren (vgl. GE I, 40f) , um schließlich – in Anspielung auf den Neupositivismus – festzustellen, dass die besten Rahmenbedingungen für das Entstehen einer PphE dann vorhanden seien, wenn die „Spannung des philosophischen Geistes“ nachlässt, bzw. wenn auf dem Wege zur Lösung 12
Von den richtigen Voraussetzungen hängt es wesentlich ab, ob man die richtige Untersuchungsmethode auswählt, von dieser hingegen, ob man unerlässliche Erkenntnismittel gewinnt, stellt Ingarden fest und unterscheidet wie folgt: (1) existentiale Voraussetzungen (V) - das Existieren von realen Erkenntnissubjekten (Menschen), wirklichen psychischen Prozessen der Menschen (Erkenntniserlebnissen) und Erkenntnisobjekten mit sämtlichen Zusammenhängen; (2) sachliche V - reale Erkenntnissubjekte sind psychophysische Individuen (Menschen), die einen realen Körper und eine reale Seele besitzen. Sowohl die Seele als auch der menschliche Körper sind mit einem System von Fähigkeiten und Eigenschaften ausgestattet und können verschiedenen Veränderungen unterliegen usf.; (3) spezifisch epistemologische V - alle der realen Welt angehörenden Gegenstände können unter gewissen Umständen zu den Gegenständen menschlichen Erkennens werden. Jeder erkenntnismäßige psychische Prozess enthält (oder erwirbt) einen Inhalt, der sich auf den Gegenstand der Erkenntnis bezieht. Wenn das in einem Erkenntnisprozess gewonnene Wissen nicht mit „Wirklichkeit übereinstimmt“, so bedeutet dies, dass es falsch ist, d.h. dass es keine Erkenntnis ist. Wir haben hier nur einige Beispiele von Voraussetzungen angegeben. Ingarden hat sie aber ausführlich herausgearbeitet. 12
150 von philosophischen Problemen immer neue Schwierigkeiten und Gefahren auftauchen (vgl. GE I, 23f). Wollen wir die PphE bündig definieren, dann heisst das: „Die PphE ist diejenige Form erkenntnistheoretischer Reflexion, die sich uns gleichsam selbst aufdrängt, wenn wir in natürlicher (alltäglicher) Einstellung beginnen, uns über die Erkenntnisprobleme zu besinnen“ (vgl. GE I, 21). Die natürliche Einstellung ist durch ‚vorepistemologische Überzeugungen’ gekennzeichnet. Darunter versteht Ingarden praxisbezogene Überzeugungen von uns selbst und von der uns umgebenden Welt, in der wir leben, handeln und zahlreiche Erfahrungen machen. Wir tragen diese Überzeugungen – oft unkritisch und nicht immer ausreichend bewusst – in den Bereich epistemologischer Untersuchungen. Gemeint sind etwa folgende Überzeugungen: (1) Ursache-Wirkungs-Prinzip – bezogen auf den Ablauf von Prozessen und den Vollzug von Ereignissen; (2) Psychisches Leben – auch von Ingarden als „Bewusstsein schlechthin“ bezeichnet, verknüpft mit den Faktoren menschlichen Daseins wie Denken, Trauer, Freude, Begehren, Hass, Liebe usf. (vgl. GE I, 27f) und (3) Phänomen der Täuschung – welchem unser Autor seine besondere Aufmerksamkeit widmet, indem er z.B. schreibt: 13
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Zum Problem der psychophysiologischen Erkenntnistheorie (PphE) bei Ingarden vgl. Hempolinski, M. (1976). Auch vgl. Galewicz, W. (1996), XVIIIf. Ingarden ist der Ansicht, dass die PphE auch von vielen bedeutenden Denkern betrieben wurde: Locke, (teilweise auch) Descartes und Kant, Bergson, die englischen Empiristen des XIX. Jahrhunderts wie Mill, die Vertreter der Psychologie der Erkenntnisprozesse wie Helmholtz (dessen Position unser Autor im Aufsatz „H. Helmholtz`erkenntnistheoretische Auffassungen“ gründlich untersucht hat [vgl. OSW, 193f]), Neupositivisten u.a. All diese Denker – so Ingarden – haben versucht, die PphE in konkreten Analysen zu realisieren, ohne sich deren charakteristische Züge und Voraussetzungen deutlich zum Bewusstsein zu bringen; d.h. die erkenntnistheoretischen Forschungen wurden zuerst getrieben und erst später ihr Gegenstand und ihre Aufgaben formuliert. Während man die Erkenntnistheorie von Helmholtz zweifellos als ein klares Beispiel für die PphE im Sinne Ingardens bezeichnen könnte, ergeben sich m.E. im Hinblick auf viele andere von Ingarden ins Spiel gebrachte Positionen ernsthafte Bedenken, die ein Diskussionsbedarf aufweisen. Ingarden bringt oft das Beispiel der Täuschung ins Spiel, um gewisse epistemologische Probleme zu erläutern (vgl. z.B. EPhH, 88). Denn Täuschungen 13
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151 „Wir stehen z.B. am Ufer eines Teiches und angeln. In einem bestimmten Augenblick tauchen wir die Angelrute schräg ins durchsichtige Wasser ein und sehen, dass sie in diesem Augenblick plötzlich auf sonderbare Weise ihre ursprüngliche Gestalt verändert hat: Sie hat sich gleichsam verbogen oder ist an der Linie „gebrochen“, die das Wasser von der Luft trennt. Es überkommt uns zunächst Verwunderung: Wir verstehen nicht, was eigentlich passiert ist [...]. Wir ziehen die Rute aus dem Wasser heraus und bemerken, dass sie an dieser Stelle, an der sie soeben „gebrochen“ war, wieder gerade ist“ (GE I, 31).
Was bedeutet, dass „wir einer Täuschung unterliegen“? Was sind die Bedingungen dafür, dass wir etwas erkennen? Was sind die charakteristischen Merkmale des Erkennens? Angenommen, dass die PphE diese Fragen beantworten könnte, bemüht sich Ingarden, deren Ziel und Untersuchungsgegenstand zu präzisieren. Das Ziel der PphE ergibt sich für unseren Autor vor allem aus der Tatsache, dass ‚Täuschungen und von uns begangene Irrtümer’ vorliegen. Daher kommt es darauf an, die Frage zu beantworten, ob wir im Vollzug eines psychischen Erkenntnisprozesses tatsächlich etwas erkennen oder uns darin (dass es so ist) bloß täuschen. Nun ist das Ziel der PphE die Beseitigung des Zweifels- und des Unsicherheits-Zustands, mithin die Beantwortung der Frage, welchen Wert unser Erkennen hat im Hinblick darauf, ob wir darin die Erkenntnis (Wahrheit) erzielt haben (vgl. GE I, 38f). Was den Untersuchungsgegenstand der PphE anbelangt, bilden ihn ‚physiologisch bedingte psychische Erkenntnisprozesse’. So tut sich ein sehr umfangreicher Bereich auf, den Ingarden in zwei Klassen aufteilt: ‚Klasse der mittelbaren’ und ‚Klasse der unmittelbaren Gegenstände epistemologischer Forschung’. Zu der ersten Klasse gehören die sinnlichen Wahrnehmungen von materiellen Körpern (auch meines Körpers) wie Sehen, Hören, Tasten, Riechen usf. Auch Erlebnisse, in denen wir über 15
stellen nach ihm – wenn nicht eine unentbehrliche Bedingung – dann doch die ‚einfachste Weise’ dar, erkenntnistheoretische Probleme zum Bewusstsein zu bringen (vgl. GE I, 34). Zum Objektivitätsproblem vgl. 4 (Kap. II). Wir werden noch weiter sehen, dass es Ingarden um eine ‚absolute’ Sicherheit in der Erkenntnistheorie geht. 15
152 materielle Dinge „urteilen“, oder auch in der gleichen Weise etwas über unsere eigenen psychischen Zustände (Denken, Traurigkeit, Freude) sowie Attribute erfahren, sind diesem Gebiet zuzurechnen. Darüber hinaus kommen die Gegenstände mathematischer Forschung in Betracht, wie Zahlen mitsamt den zwischen ihnen bestehenden Beziehungen, geometrische Figuren usf., ferner auch logische Gebilde wie etwa Urteile, Schlussfolgerungen, Theorien. Die zweite Klasse der Gegenstände umfasst den Menschen als ‚psychophysisches Wesen’, d.h. ‚ein mit Leib und Seele ausgestattetes Wesen’ (vgl. GE I, 35f). Nachdem wir einen Überblick über die PphE gewonnen haben, können wir jetzt fragen, ob diese Erkenntnistheorie das leisten kann, was Ingarden von ihr fordert. Die Antwort fällt eindeutig negativ aus. Sie ergibt sich bereits aus drei grundlegenden gegen die PphE erhobenen Einwänden Ingardens: (1) Eine zu enge Bestimmung des Forschungsgebietes; (2) Einseitige empirische Methode und (3) Dogmatischer Charakter. Will sich die PphE – so wie wir dies oben gesehen haben – allein auf das Erforschen von psychischen Erkenntniserlebnissen und deren physiologischen Bedingungen beschränken, ist ihr ‚Forschungsgebiet zu eng abgegrenzt’. Denn eine Erkenntnistheorie muss nach Ingarden darüber hinaus sowohl noch die ‚zwischen dem Erkennen und dem zu erkennenden Gegenstand bestehende Erkenntnisbeziehung’ als auch das ‚im Erkennen erzielte Erkenntnisergebnis’ als auch ‚erkenntnistheoretische 16
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Ingarden schließt nicht aus, dass psychische Prozesse zugelassen werden könnten, in denen wir etwa „Gott erkennen“ oder auch ethische und ästhetische Werte. Hier gebraucht Ingarden lediglich den Begriff „Körper“, was m.E. manchmal falsch ist. Darum lassen wir an einigen Stellen, um die Klarheit der Reflexion zu gewährleisten, auch einen anderen Begriff ins Spiel, nämlich „Leib“. Zum Begriff der Seele bei Ingarden vgl. 3§2c.b (Kap. IV). Was Ingarden von einer Erkenntnistheorie fordert, werden wir erst im Abschnitt 3 (Kap. II) in einer umfassenden Analyse untersuchen. Hier werden lediglich (für das Verstehen des behandelten Problems) relevante Einzelheiten angesprochen. Es gibt offenbar mehrere „kleinere“ Einwände, welche sich jedoch auf diese drei grundlegenden zurückführen lassen. Deswegen beschränken wir uns hier auf diese drei grundlegenden Einwände. 16
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153 Grundbegriffe und Erkenntniskriterien’ analysieren (vgl. GE I, 222f; auch GE II, 592f). Der zweite Einwand bezieht sich auf den rein ‚empirischen Charakter’ der PphE. Der empirische Charakter ergibt sich nach Ingarden aus der Tatsache, dass diese Erkenntnistheorie vor allem eine ‚physiologisch fundierte Psychologie’ sei, die ihre Analyse so durchführt, dass sie einzelne Erfahrungen sammelt, Experimente anstellt, (auf dieser Grundlage) eine Reihe von Einzelurteilen fällt und erst danach diese Ergebnisse statistisch mit Hilfe einer unvollständigen Induktion – die nur ‚mögliche Ergebnisse liefert – verallgemeinert. So können die Ergebnisse der PphE den Zweifel nicht endgültig ausschließen und folglich auch keine Objektivität garantieren (vgl. GE I, 54f). Einen besonderen Fall solcher (nur möglichen) Ergebnisse stellen nach unserem Autor die sich auf ‚unsere eigenen psychischen Zustände und Vorgänge’ beziehenden Erkenntnisprozesse dar. Sie können nicht als wahr und sicher gelten, obwohl viele Psychologen und Philosophen seit Descartes (z.B. Brentano) das Gegenteil behaupten (vgl. SFPh, 17f). Das gleiche gilt auch für die 20
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Das ist aber nur ein ‚schwaches’ Argument Ingardens. Denn dass die Erkenntnistheorie auch die Erkenntnisbeziehungen und –ergebnisse mit zu berücksichtigen hat, lässt sich von einem Befürworter der psychophysiologischen Erkenntnistheorie (PphE) ohne weiteres akzeptieren: er könnte etwa das Gebiet der PphE einfach erweitern, ohne es verlassen zu müssen. Es ist auch missverständlich, die Erkenntniskategorien und –kriterien als gleichberechtigte Objekte der Erkenntnistheorie in eine Reihe mit Erkenntnistätigkeiten und –ergebnissen setzen zu wollen. Wenn das richtig wäre, dann stünde wohl auch nichts im Wege, etwa – im Arithmetik-Bereich – die Begriffe von Zahlen „neben den Zahlen“ als gleichberechtigt gelten zu lassen (vgl. Galewicz, W. [1996], XIX). Selbst wenn Ingarden zufolge die psychophysiologische Erkenntnistheorie von vielen Philosophen tatsächlich als eine ‚empirische Theorie’ betrieben wurde, lässt er generell auch die Möglichkeit einer ‚apriorischen psychophysiologischen Erkenntnistheorie’ zu (dazu vgl. 2§3 [Kap. II]). Was die Induktion (I) anbelangt, so sehen wir, dass Ingarden ganz klar von der „unvollständigen“ (d.h. von der „eigentlichen) I spricht, die von wenigen beobachteten Fällen auf alle gleichartigen Fälle schließt – im Gegensatz zur „vollständigen“ I, die in der Beobachtung sämtlicher Fälle besteht (vgl. Fröbes, J. u.a. [1996], 182f). Da Ingarden hier vor allem das Problem der sogenannten „Introspektion“ (Reflexion) vor Augen hat, ist es nicht ganz klar, ob er auch Descartes – ganz gezielt – meint. 20
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154 Erkenntnisprozesse von fremden psychischen Zuständen, weil uns – wie dies Ingarden in seinem Aufsatz „Vom Erkennen der fremden psychischen Zustände“ deutlich macht – prinzipiell nur das (von anderen Menschen) zugänglich ist, was sich augenfällig in „Phänomenen“ zeigt, welche auf der Basis von äußeren jede Täuschung ausschließenden Faktoren auftreten (vgl. PTP I, 423f). Was den dritten Einwand (d.h. den dogmatischen Charakter) anbelangt, hängt er stärker als die zwei vorangehenden mit dem Objektivitätsproblem der Erkenntnis zusammen. Ingarden unterscheidet drei grundlegende Fälle des epistemologischen Objektivitätsproblems (OP): (1) OP der Erkenntnis äußerer (vor allem sinnlicher) Wahrnehmung; (2) OP der inneren Wahrnehmung und (3) OP der Erkenntnis irrealer (insbesondere mathematischer bzw. logischer) Objekte (vgl. GE I, 57f). Wie bereits oben mehrfach angedeutet, richtet sich Ingardens erkenntnistheoretisches Interesse ‚hauptsächlich auf das OP der Erkenntnis sinnlicher Wahrnehmung’. In Bezug auf die PphE heißt das für unseren Autor ganz konkret, der Frage nachzugehen, welche Momente (d.h. Eigenschaften, Form, Existenz), die uns in der Wahrnehmung eines Gegenstandes anschaulich gegeben sind, diesem Gegenstand „an sich“ (d.h. unabhängig von der Wahrnehmung) zukommen. Als Resultat dieser Ermittlung ergeben sich (nur) ‚vier erkenntnistheoretische’ Standtpunkte: (a) der radikale (vollständige) Realismus (R) – erhebt Objektivitätsanspruch für ‚alle anschaulich gegebenen Momente des Wahrnehmungsgegenstands’; (b) der kritische (eingeschränkte) erkenntnistheoretische R – erhebt Objektivitätsanspruch ‚nur für einige Momente des erscheinenden Wahrnehmungsgegenstands’; (c) der 23
Jedenfalls könnte man - bezüglich des Ganzen - eine solche These ohne weiteres aufstellen, was uns gleichwohl erlaubt, den Eindruck zu gewinnen, dass sich unser Autor ‚teilweise’ gegen Descartes` „cogito ergo sum“ (vgl. ders. Disc. IV) stellen will. Was Brentano angeht, befasst sich Ingarden mit seiner Philosophie im Aufsatz „Die Auffassung der Philosophie bei Franz Brentano“. Brentano hält bekanntlich die „innere Wahrnehmung“ für das grundlegende Erkenntnismittel. Wegen der Relevanz dieses Problems für Ingardens erkenntnistheoretischen Ansatz werden wir es ausführlicher in einem einzelnen Abschnitt behandeln (vgl. 4 [Kap. II]). Hier sei nur Einiges angemerkt. 23
155 skeptische R – behauptet, dass die Sinneswahrnehmung ‚nur hinsichtlich der Existenz des darin gegebenen Gegenstands objektiv ist’, während die gesamte qualitative Beschaffenheit wie auch die Form, die uns der Gegenstand in der Wahrnehmung mitteilt, völlig anders sei als die, die er „an sich“ hat; (d) der erkenntnistheoretische Idealismus – meint, dass ‚keinem von den anschaulich gegebenen Momenten des Wahrnehmungsgegenstandes (nicht einmal dem Moment seiner Existenz) etwas in Wirklichkeit entspricht’ (vgl. GE I, 66f). Anhand der Analyse dieser vier erkenntnistheoretischen Positionen stellt Ingarden fest, dass sie alle sich auf der Basis der PphE nicht begründen lassen, weil sie logische Fehler enthalten, nämlich einen „circulus vitiosus“ oder eine „petitio principii“ (vgl. FSE, 201f). 24
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Bei der Analyse dieser erkenntnistheoretischen Standtpunkte greift Ingarden die Positionen anderer - sowohl westlicher wie auch polnischer - Denker kritisch an, z.B. die von E. Mach, von T. Kotarbinski (vgl. GE I, 70f), und bedient sich oft deren Beispiele bei der Erläuterung der Probleme (z.B. von Berkeley „ein Stück Zucker“). Es ist noch hinzuzufügen, dass unser Autor auch von einem ‚pragmatischen Standpunkt’ redet (es werden Namen wie James oder Bergson ins Spiel gebracht), der allerdings den gleichen Einwänden wie der kritische erkenntnistheoretische Realismus ausgesetzt ist (vgl. GE I, 174). Diese logischen Fehler führen auf zwei Voraussetzungen der psychophysiologischen Erkenntnistheorie (PphE) zurück: (1) PphE deutet die Erkenntnistätigkeiten als ‚Äußerungen von physiologischen Vorgängen’, welche im Organismus des psychophysischen Individuums (Menschen) ablaufen; (2) PphE setzt voraus, dass in diesen Erkenntnistätigkeiten der ‚psychische Charakter des erkennenden Menschen’ zur Erscheinung kommt. Diese beiden Voraussetzungen haben gravierende Implikationen zur Folge: Die erste Voraussetzung schließt die Existenz des menschlichen Organismus ein (und damit die Existenz der materialen Welt, in die der Organismus durch ein Netz von kausalen Abhängigkeiten eingeflochten ist), die zweite hingegen die Existenz des psychophysischen Individuums. Wenn man diese Implikationen anerkennt, dann wird zugleich der ‚positive Erkenntniswert von der äußeren (bzw. inneren) Wahrnehmung ‚zu Beginn oder im Laufe der Analyse’ mit anerkannt. Das ist aber Ingarden zufolge nicht erlaubt, weil erst die Ergebnisse epistemologischer Analysen entscheiden sollen, ob die äußere (oder innere) Wahrnehmung imstande ist, eine echte Erkenntnis zu gewähren (vgl. Galewicz, W. [1996], XXII). Diese logischen Fehler werden genauer erst im Kap. III behandelt. 24
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156 Das OP der inneren Wahrnehmung lässt sich ebenso nicht auf dem Fundament der PphE lösen. Denn bei diesem OP rückt die Frage nach dem Erkennen von Erkenntniserlebnissen selbst (d.h. von Wahrnehmen, Sicherinnern, Vergleichen, Denken, Urteilen, Schließen usf.) in den Vordergrund. Der Voraussetzung der PphE gemäß müssen aber diese Erkenntniserlebnisse in ‚innerer Erfahrung’ erkannt werden, welche jedoch für Ingarden aufgrund ihrer Belastung durch die psychologische Sichtweise nichts anderes als „Reflexion“ bzw. „Introspektion“ ist (vgl. GE I, 217f). Schließlich kommen wir zum dritten epistemologischen Objektivitätsproblem, nämlich zum OP der Erkenntnis von irrealen Objekten, dessen Lösung auf dem Boden der PphE nach Ingarden letzten Endes ebenfalls scheitern muss. Hier werden vor allem Objekte der Mathematik und Logik in Betracht gezogen. Unser Autor differenziert einerseits zwischen verschiedenen ‚Auffassungen mathematischer Objekte’, welche etwa behaupten, dass die Objekte der mathematischen Forschung (z.B. Dreiecke, Zahlen, Funktionen usw.) nicht existieren und somit irreal sind, oder auch, dass sie doch existieren. Andererseits werden verschiedene Mathematik-Interpretationen ins Spiel gebracht, wie psychologistische und formalistische (physikalistische). Während die erstere Interpretation vor allem in der These besteht, dass die Objekte der Mathematik bloß ‚Begriffe und keine Gegenstände’ seien, plädiert die 26
Das Objektivitätsproblem der inneren Wahrnehmung hängt also mit dem zweiten Einwand Ingardens gegen die psychophysiologische Erkenntnistheorie (dem empirischen Charakter) zusammen. Da es auch (ebenso wie das OP der Erkenntnis irrealer Objekte) der Gegenstand unserer Analyse in einem einzelnen Abschnitt sein wird, wird es hier nur kurz angesprochen – mit der Hervorhebung des Endergebnisses der Untersuchungen Ingardens im Rahmen der psychophysiologischen Erkenntnistheorie. Was die Reflexion anbelangt, gilt es bekanntlich: Die Wahrheit des Urteils findet ihre letzte Begründung nicht in einem Beweis, sondern in der unmittelbaren Evidenz, dem Sichzeigen des Seins, das ursprünglich in der vollkommenen Rückkehr des Geistes zu sich selbst (Reflexion) vorliegt. Diese Reflexion ist Bedingung der Möglichkeit jeder anderen Wahrheitserkenntnis, die darum auch von ihr her reflex als Wahrheit erwiesen werden kann, wie es die Aufgabe der Erkenntniskritik ist. In diesem Sinne ist die Methode der Erkenntniskritik ‚introspektiv’ und ‚transzendental’ (vgl. de Vries, J. [1996b], 94). Zur Erkenntniskritik bei Ingarden vgl. 3§2 (Kap. II). 26
157 letztere hingegen dafür, dass diese Objekte nur ‚Symbole und mathematische Zeichen’ seien (vgl. GE I, 189f). Abschließend ist die Frage zu stellen: Was hat Ingarden durch seine Kritik erreicht und was nicht? Mit A. Chrudzimski können wir das von Ingarden aufgrund seiner Analyse der PphE Erreichte in drei Postulaten zusammenfassen: ‚Voraussetzungslosigkeit, Allgemeingültigkeit und Endgültigkeit der Ergebnisse’. Eine Erkenntnistheorie muss also von den Einzelwissenschaften unabhängig sein; sie darf von ihnen ‚keine Voraussetzungen’ übernehmen. Folglich darf die Erkenntnistheorie weder die von ihr untersuchten Akte des Erkenntnissubjekts als Wirkungen von Prozessen auffassen, welche im psychophysichen Idividuum ablaufen, noch das Bestehen eines Kausalzusammenhangs zwischen diesen Akten und dem Erkenntnisgegenstand fordern. Darüber hinaus sollen die Ergebnisse der Erkenntnistheorie ‚allgemein’ (d.h. auf alle Erkenntnisse einer bestimmten Art oder alle Erkenntnisse überhaupt bezogen) und ‚endgültig’ (d.h. definitiv und nicht provisorisch) sein. Das Gebiet der Erkenntnistheorie muss nicht nur das Erkenntnissubjekt selbst und die von ihm vollzogenen Erkenntnisakte, sondern auch das Erkenntnisergebnis mit einschließen. Auch die zahlreichen erkenntnistheoretischen Begriffe (z.B. Erkenntnisprozess, Erkenntnisgegenstand, Erkenntniswert usf.) müssen geklärt werden, damit eine Lösung des Objektivitätsproblems erzielt werden kann. 27
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Für Ingarden ist die psychologistische Mathematik-Interpretation eine ‚empirische’ und mit Namen wie Ch. Sigwart und Th. Lipps verknüpft. Die formalistische Interpretation hingegen identifiziert unser Autor mit den Wiener Positivisten und dem Kreis der Warschauer Logiker. Der formalistischen Interpretation wirft Ingarden vor, statt von Sätzen (oder Begriffen), von „Aufschriften“ zu sprechen und diese aus realen Objekten zusammenzusetzen. Ingardens Beispiel lautet: „’Wenn’ (geschrieben, d.h. Kreide an der Tafel) ein Haufen Sand (im Garten), ‚dann’ ein Pferd im Stall“ (vgl. GE I, 208f; Ingarden, R. [1963], 643f; TJFPL, 191f). Vgl. Chrudzimski, A. (1999), 18f. Nach dem Verfasser gilt bei Ingarden die ‚sprachliche Verständigung’ als eines der Haupterkenntnismittel in der psychophysiologischen Erkenntnistheorie. Er konfrontiert Ingarden auf eine ‚positive’ Weise (d.h. Ingardens These über die Rolle der Sprache in der Erkenntnistheorie wird bestätigt) mit vielen gegenwärtigen Denkern, etwa mit Quine (vgl. [1960]) und dessen 27
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158 Was Ingarden aber noch nicht erreicht hat, ist das Herausfinden einer Erkenntnistheorie, die diese Bedingungen erfüllt. Jedenfalls kann dies die PphE nicht bewerkstelligen. Darum versucht es unser Autor mit der deskriptiven Phänomenologie der Erkenntnis. 29
§2. Deskriptiv-phänomenologische Erkenntnistheorie Die Phänomenologie aller Richtungen will das Gegebene „bescheiden“ hinnehmen wie es sich von sich selbst her zeigt. Statt Theorien über die Sachen will sie diese selbst präsentieren und hofft, damit dem Irrtumsrisiko zu entrinnen, das jede spekulative Theorie mit sich führt. Es kommt ihr also darauf an, die „Sache selbst“ freizulegen und sich den Blick auf sie nicht verstellen zu lassen, sondern sie so zu sehen, wie sie sich dem schauenden Blick ganz unmittelbar bietet. Anknüpfend an die sich aus der Phänomenologie ergebenden Aussichten versucht Ingarden seine erkenntnistheoretische Reflexion weiterhin zu entfalten, indem er einer ‚deskriptiv-phänomenologischen Konzeption der Erkenntnistheorie’ nachgeht. Diese Konzeption kann sich – wie wir dies noch weiter sehen werden – bereits ‚einigen Einwänden’ entziehen, welche gegen die psychophysiologische Erkenntnistheorie erhoben wurden. So entgeht sie z.B. der Gefahr einer „petitio principii“ dadurch, dass jede naturalistische Apperzeption der beschriebenen Erkenntniserlebnisse zurückgestellt wird (vgl. GE I, 262). Durch die deskriptiv30
„Theorie der Unbestimmtheit der Übersetzung“, mit Davidson (vgl. [1987]) und dessen „Rechtfertigung der Kohärenztheorie der Erkenntnis“, mit Sellars (vgl. [1975]). In der gegenwärtigen Diskussion über die Problematik der psychophysiologischen Erkenntnistheorie kann man m.E. auf dem Standpunkt Ingardens nicht mehr stehen bleiben. Vielmehr sind noch andere Aspekte dieser Problematik mit zu berücksichtigen, z.B. die „evolutionäre Erkenntnistheorie“ (EE), deren Gedankengang übrigens auch aus dem Ende des 19. Jahrhunderts stammt. Die EE im engeren Sinne wurde von K. Popper, K. Bühler u.a. entwickelt. Sie ermöglicht mittels der wissenschaftlichen kritischen Methode ein besseres Verständnis der Evolution wie auch der Erkenntnistheorie als einer besseren logischen Anpassung der Erkenntnis an eine faktische und empirische Umwelt (vgl. Popper, K. [1973], 81f; auch Konrad, A. [1997]). Vgl. Hoeres, W. (1969), 13. Vgl. auch Husserl, E., Hua III/1, 44f. 29
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159 phänomenologische Analyse der Erkenntnis kommt zum Vorschein, dass Ingarden einerseits buchstäblich ein „Husserlianer“ ist, andererseits zugleich durch seine Kritik Husserl zu überwinden strebt. Die deskriptiv-phänomenologische Erkenntnistheorie (DphE), die Ingarden für eine „solipsistische Theorie“ hält, weil sie sich nur mit der Existenz des „eigenen Ich“ und seinen Erlebnissen befasst, stellt ihre Untersuchungen auf dem Boden der ‚phänomenologischen Reduktion’ an (vgl. GE II, 540f). Durch diese „Erkenntnishaltung“ dem Gegenstand gegenüber, die unser Autor auch als „Erkenntnisreserve“ bezeichnet, wird dessen Existenz und Beschaffenheit weder anerkannt noch verworfen, sondern eingeklammert. In der phänomenologischen Reduktion werden also die Bewusstseinserlebnisse von den verschiedenen „Charakteren“ befreit, die ihnen in der natürlichen Einstellung zugeschrieben werden, um den Status von „Erlebnissen des reinen Bewusstseins“ zu erreichen (vgl. GE II, 654f). Die Aufgabe der DphE besteht nach Ingarden in (1) „quaestio facti“ (Phänomenologie der Erkenntnis) und (2) „quaestio iuris“ (Kritik der Erkenntnis). Wir gehen auf einige Punkte ein. Die erste Gruppe von Problemen der DphE, die Ingarden als „Phänomenologie der Erkenntnis“ (quaestio facti) bezeichnet, gliedert sich nach den Elementen, die sich im ‚gesamten Erkenntniserlebnis’ unterscheiden lassen. So haben wir es nach unserem Autor in erster Linie mit „Noetik“ zu tun, d.h. mit der Analyse von Erkenntnisakten und deren Rolle beim Erzeugnis der Erkenntnis. Die Bewusstseinsakte, also auch Erkenntnisakte, haben sowohl einen ‚statischen’ als auch einen ‚dynamischen Aufbau. Ein Erkenntnisakt ist folglich nicht etwas, was sich 31
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Die Vertreter der deskriptiv-phänomenologischen Erkenntnistheorie sind nach Ingarden z.B. Husserl (vor allem in der Zeit der „Logischen Untersuchungen“), Brentano und Twardowski. Zum Problem der phänomenologischen Reduktion vgl. 2§2b (Kap. I). Seine dynamische Struktur verdankt der Bewusstseinsakt vor allem dem „Moment der Intentionalität“ (des Vermeinens von etwas durch einen Inhalt), aber auch anderen aktiven Momenten wie dem ‚Moment des Behauptens oder Schaffens’. Im statischen Aufbau hingegen spielen verschiedene Typen des „Durchlebens des Aktes durch das 31
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160 „auf einmal“ abspielt. Er hat vielmehr seine Phasen von Entwicklung, Kulmination, Vergehen und auch eine Phase des „Nachklangs“. Darüber hinaus werden einerseits verschiedene Vollzugsformen des Erkenntnisaktes durch das Bewusstseinssubjekt unterschieden, vor allen Dingen Formen der Aktivität (z.B. Moment der Intentionalität, des Vermeinens) und der Passivität (z.B. Empfindungsmoment), andererseits aber auch Abhängigkeiten zwischen diesen Formen sowie Übergänge von einem Erkenntnisakt zu einem anderen geklärt (vgl. GE II, 486f). Um den gleichen Fehler wie in der psychophysiologischen Erkenntnistheorie zu vermeiden, werden die Erkenntnisakte in der DphE nicht mit psychischen Prozessen gleichgesetzt. Während die Erkenntnisakte durch das reine Erkenntnissubjekt, das ‚ebenfalls in der Phänomenologie der Erkenntnis zu erforschen ist’, vollzogen werden, gehören die psychischen Prozesse zur Kompetenz des menschlichen Individuums, der menschlichen Person. Im Anschluss an Husserl behauptet Ingarden, dass das reine Ich keine anderen Eigenschaften besitze, außer dass es das Vollzugssubjekt von Bewusstseinserlebnissen sei. Einer menschlichen Person hingegen kann man verschiedene Merkmale wie gut oder böse, leidenschaftlich oder besonnen, intelligent oder stumpf usf. zuschreiben (vgl. GE I, 252f). Beim ständigen Wandel der Erkenntnisakte bleibt die ‚Identität’ des reinen Subjekts aufrechterhalten (vgl. GE II, 511). Die Phänomenologie der Erkenntnis (quaestio facti) umfasst zudem „Noematik“, d.h. die Analyse des „Darstellungsgehalts“, welche sowohl hinsichtlich seiner Darstellungsart als auch seiner Elemente durchzuführen ist. Hierzu gehört ferner die Analyse der „anschaulichen Inhalte“ und deren Verhältnis zum Darstellungsgehalt. Während Ingarden mit dem Begriff 34
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Subjekt“ und verschiedene Formen des „Vollzugs des Aktes durch das Subjekt“ eine Rolle. Zur Problematik des „Durchlebens“ vgl. 3 (Kap. III). Hier unterscheidet sich Ingarden etwas von Husserl: Während Husserl unter „noematischen Untersuchungen“ nicht nur „Darstellungsgehalt“, sondern auch „Sinne von Erkenntnisgegenständen“ versteht, werden diese von Ingarden getrennt behandelt. Unser Autor schließt sich eher H. Conrad-Martius (vgl. [1916]) an. Anknüpfend an Hume differenziert Ingarden zwischen den anschaulichen Inhalten, die bei der Darstellung eines Gegenstandes in der Wahrnehmung auftreten (=der 34
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161 „anschaulicher Inhalt“ eine Reihe von verschiedenartigen Elementen bezeichnet, welche miteinander nur das gemeinsam haben, dass sie alle „anschaulich“ sind, stellt der Begriff „Darstellungsgehalt“ hingegen ein ziemlich komplexes Gefüge dar. Denn er beansprucht eine Differenzierung zwischen „adäquater“ und „inadäquater Darstellung“. Diese Differenzierung hängt mit der Unterscheidung zwischen „erfüllten“ und „unerfüllten Qualitäten“ zusammen (vgl. GE II, 492f), die unser Autor folgendermaßen erläutert: „Ich nehme den Tisch wahr, indem ich auf den Darstellungsgehalt aufmerksam werde. Der wahrgenommene Tisch besitzt [...] eine mir zugewendete Seite wie auch eine von mir abgewendete Seite. Diese abgewendete Seite sehe ich nicht in der Weise, wie ich die mir zugewendete Seite sehe; dennoch nehme ich den Tisch als die beiden Seiten besitzenden wahr. Das [...], was in diesem Darstellungsgehalt der „Vorderseite“ des Tisches entspricht, ist sowohl seiner Gestalt als seiner Farbe nach mit Qualitäten ausgefüllt [...]. Dagegen tritt die „Rückseite“ im Darstellungsgehalt nicht mit derartigen Qualitäten auf“ (GE II, 494). 36
In der Struktur des Darstellungsgehalts, der das Erzeugnis eines sich in mehreren Akten vollziehenden Erkenntnisprozesses ist (vgl. GE II, 519), erblickt Ingarden außer den ‚materialen Momenten’ (d.h. den erfüllten und
engere Begriff), und den anschaulichen Inhalten, die als begleitendes Element beim Denken an den Gegenstand oder beim Vorstellen des Gegenstands vorkommen (=der weitere Begriff). Für seine Analyse ist vor allem der engere Begriff relevant. Natürlich darf Ingardens Begriff „erfüllte und unerfüllte Qualitäten“ mit Lockes Begriff „primäre und sekundäre Qualitäten“ nicht gleichgesetzt werden. Bei Locke (vgl. [2000], 155) sind die primären Qualitäten bekanntlich solche, die in sich selbst vorhanden sind, ob wir sie wahrnehmen oder nicht (d.h. Größe, Gestalt, Zahl, Lage, Bewegung oder Ruhe ihrer festen Teile), die sekundären dagegen entstehen durch „die einem Körper innewohnende Kraft, aufgrund seiner sinnlich nicht wahrnehmbaren primären Qualitäten in eigentümlicher Weise auf irgendeinen unserer Sinne einzuwirken und dadurch in uns die verschiedenen Ideen von mancherlei Farben, Tönen, Gerüchen, Geschmacksarten usw. zu erzeugen“. Bei Ingarden hingegen werden sowohl die „erfüllten“ wie auch „unerfüllten Qualitäten“ ständig wahrgenommen (bloß in unterschiedlichem Ausmaß). 36
162 unerfüllten Qualitäten) noch die ‚formalen Momente’. Beide stehen in einer mannigfachen ‚Abhängigkeit’ von Empfindungsdaten’. Der Darstellungsgehalt muss nach unserem Autor in der Phänomenologie der Erkenntnis einerseits „für sich“ (d.h. getrennt) sowohl einer ‚statischen’ wie auch einer ‚dynamischen’ Betrachtung unterzogen werden, andererseits hinsichtlich seiner Zusammenhänge und Abhängigkeiten von dem Erkenntnisakt. Was das erste anbelangt, heißt das: Wird der Gehalt des dargestellten Gegenstandes in der statischen Analyse ‚auf seine Merkmale hin’ beschrieben, befasst sich hingegen die dynamische Erwägung mit der ‚Aufeinanderfolge seiner Aktualisierungsphasen und den sich in ihm abspielenden Veränderungen’. In Bezug auf das zweite (d.h. Zusammenhänge und Abhängigkeiten des dargestellten Gegenstandes vom Erkenntnisakt) gilt: In der statischen Betrachtung wird herausgefunden, ‚welche Elemente des Aktes welchen Elementen des Darstellungsgehalts speziell zugehören’. In der dynamischen Betrachtung hingegen geht es um die ‚Festellung der Abhängigkeit des Erscheinens gewisser noematischer Momente vom Auftreten gewisser noetischer Momente und umgekehrt’ (vgl. GE II, 503f). Schließlich muss sich die DphE mit der Analyse der ‚Sinne von Erkenntnisgegenständen als Korrelaten der Meinung von Erkenntnisakten’ befassen (d.h. mit der Analyse der Inhalte von Erkenntnisakten). Diese Analyse spielt sich Ingarden zufolge nicht nur auf der Ebene der Phänomenologie der Erkenntnis (quaestio facti), sondern auch auf der Ebene der Kritik der Erkenntnis (quaestio iuris) ab; beide Analysen stehen in einer engen Verbindung zueinander. Denn während durch die erstere grundlegende Merkmale der vermeinten Gegenstände (aufgrund der Erforschung des Meinungsinhalts) aufgefunden werden, abgesehen davon, ob solche Gegenstände existieren oder nicht, wird dank der letzteren eine 37
Die formalen Momente beziehen sich einfach auf die Form des dargestellten Gegenstandes. Es sind Momente wie „Subjekt von Merkmalen“, „Merkmal“, „Natur des Gegenstandes“, „Identität des Gegenstandes“, „Ding“, „Sachverhalt“, „Individualität“, „Allgemeinheit“ usw. (vgl. GE II, 510). Die Problematik der Empfindungsdaten wird von uns erst in 3§2 (Kap. III) ausführlicher untersucht werden.
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163 Verifikation der zuvor festgelegten Gegenstandssinne vollzogen (vgl. GE II, 508f). Die zweite Gruppe von Problemen in der DphE, die in diesem Abschnitt noch kurz zu besprechen ist, wird von Ingarden als „Kritik der Erkenntnis“ (quaestio iuris) charakterisiert. Die Erkenntniskritik ist ein Teil der DphE, in dem sämtliche in der Phänomenologie der Erkenntnis gewonnenen Ergebnisse ausgewertet werden. Darum erfordert jede „quaestio iuris“ die vorgängige Formulierung der „quaestio facti“. Folglich umfasst das Untersuchungsfeld der Erkenntniskritik folgende Elemente: Erkenntnisakt, Gegenstandssinn, Darstellungsgehalt und anschauliche Inhalte. Diese Elemente sind (in ihrer Bezogenheit aufeinander) im Hinblick auf ihre Objektivität zu prüfen (vgl. GE II, 517f). Da außer der ‚Meinung im Erkenntnisakt die Funktion der Setzung des Seins des entsprechenden (realen oder idealen) Gegenstandes’ auftritt, wird nach Ingarden die Erkenntniskritik vor zwei prinzipielle Fragen gestellt: (1) die Frage nach der transzendenten Wahrheit oder Falschheit der Erkenntnis insofern, als in dieser (Erkenntnis) den Erkenntnisgegenständen bestimmte Merkmale zugeschrieben werden und (2) die Frage nach der transzendenten Wahrheit oder Falschheit der Erkenntnis bezüglich der Setzung von (realem oder idealem) Sein entsprechender Erkenntnisgegenstände (vgl. GE II, 527f). 38
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Da wir uns mit dem Problem der Objektivität ausführlicher in 4 (Kap. II) befassen werden, lassen wir uns hier darauf nicht detalliert ein. Was die Bezogenheit der genannten Elemente aufeinander angeht, gilt: (1) Der Meinungsinhalt des Aktes passt sich an die Elemente des Darstellungsgehalts und an die zwischen ihnen bestehenden Zusammenhänge an; (2) Der Erkenntnisakt passt sich vermöge seiner rezeptiven Seite (d.h. des Empfindens) seinem Inhalt nach an die anschaulichen Inhalte an; (3) Der Darstellungsgehalt passt sich mit seinen Elementen an den Meinungsinhalt des Aktes an. Durch die Setzungsfunktion unterscheidet sich erst (strenggenommen) der Erkenntnisakt von dem Akt einer bloßen Vorstellung, und nur so entsteht korrelativ das Problem des Erkenntniswertes (Objektivitätsproblem) der in den Erkenntnisakten gewonnenen Ergebnisse. Gäbe es die Setzungsfunktion nicht, dann könnte man nicht behaupten, dass sich die Erkenntnisergebnisse auf irgendwelche „existierende Gegenstände“ beziehen. 38
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164 Ungeachtet ihres grandiosen Aufwands beim Versuch der Beantwortung dieser Fragen muss die Erkenntniskritik letztendlich einräumen, so unser Autor, dass ‚sie im Rahmen der DphE keinesfalls imstande ist’, ein ‚plausibles Kriterium für die Objektivität von Erkenntnisresultaten’ zu geben, weil das durch die Phänomenologie der Erkenntnis gelieferte Material mangelhaft ist. Die Folge ist, dass auch die Forderung der DphE nach der Akzeptanz des von ihr Dargestellten als gleichwertig mit dem Erfüllen der für eine Erkenntnistheorie prinzpiellen drei Postulate (Voraussetzungslosigkeit, Allgemeingültigkeit und Endgültigkeit der Ergebnisse) scheitern muss. Wir wollen jetzt darauf eingehen, indem wir Ingardens Einwände gegen die DphE erwägen. Es wurde bereits angedeutet, dass die von Ingarden formulierten Einwände gegen die DphE, die wesentlich auf Husserl als „Begründer der Phänomenologie“ zurückgeht, eine ‚Art „Überwindung“ der Husserlschen Position’ sichtbar machen, obgleich manche ihrer Elemente von unserem Autor auch übernommen werden. Der erste Vorwurf Ingardens der DphE gegenüber hat den gleichen Charakter wie in der psychophysiologischen Erkenntnistheorie; es geht nämlich darum, dass die ‚DphE ihr Forschungsgebiet zu eng bestimmt’. Denn sie nimmt – wie wir dies oben gesehen haben – lediglich das reine Ich, die Erkenntniserlebnisse, die ihnen entsprechenden „Phänomene“ (Erkenntnisgegenstände) und die Erkenntnisbeziehungen in Anspruch. Nach unserem Autor hätte sie aber noch die ‚Erkenntnisergebnisse und Erkenntniskategorien’ mit einbeziehen müssen, um zu einer Lösung des Objektivitätsproblems kommen zu können (vgl. GE I, 263f). Unter den Erkenntnisergebnissen versteht Ingarden vor allem ‚prädikative Urteile und Existentialurteile’ (Sätze im logischen Sinne, Aussagen). Sie werden vom Erkenntnissubjekt in den Erkenntnisakten bezüglich der Erkenntnisgegenstände gewonnen. Urteile und Sätze haben in einer 40
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Das wird uns erst dann einleuchten, wenn wir Ingardens eigene Konzeption der Erkenntnistheorie untersuchen. Und dies wird in 3 (Kap. II) geschehen. Es sei daran erinnert, dass nach Ingarden die Erkenntniserlebnisse in der DphE unter anderem folgende Elemente umfassen: Erkenntnisakt(e), reines Erkenntnissubjekt, Darstellungsgehalt (mit anschaulichen Inhalten), Gegenstandssinn, Relationen zwischen Erkenntnisakt und Darstellungsgehalt. 40
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165 Erkenntnistheorie einen identisch bleibenden und unveränderlichen Inhalt (Sinn) zu bewahren. Denn das ist notwendig für die Feststellung, in welcher Bedeutung und inwiefern sie „wahr“ sind. Um dies festzustellen, müssen die Urteile und Sätze mit einem Gegenstand bzw. einer Wirklichkeit, die sie zu entdecken und zu „beurteilen“ beanspruchen, konfrontiert werden (vgl. TJFPL, 222f). Wenn wir die Beurteilung des Wertes einer vom reinen Ich in den Erkenntniserlebnissen gewonnenen Erkenntnis vollziehen wollen, brauchen wir dazu grundlegende Erkenntniskategorien wie „Wahrheit“ („Objektivität“), „Begründung“, „Wahrscheinlichkeit“ usf., deren Klärung uns die DphE nicht verschaffen kann. Der zweite Einwand bezieht sich auf eine ‚zu eng formulierte Aufgabe und Methode’ der DphE. Die Beschreibung, die nur eine Art Vorbereitung des Dinges für eine Kritik (Beurteilung des Wertes) ist, reicht für sich allein nicht aus, zumal diese Kritik ein anderes Verfahren erfordert (vgl. GE II, 542f). Mit anderen Worten: In der reinen Beschreibung eines Gegenstandes (z.B. eines Bewusstseinserlebnisses) wird nur ein „Komplex“ von anschaulich auftretenden Zügen dieses Gegenstandes gegeben. Folglich stellt sich die Frage, ob damit genügend Aufschluss über 42
Der Problematik der Urteile und Sätze hat Ingarden unter anderem folgende Aufsätze gewidmet: (1) „Vom kategorischen Urteil und seiner Rolle im Erkennen“, „Analyse des Konditionalsatzes“, „Vom Konditionalurteil“ (vgl. TJFPL, 260f). Hinsichtlich des ersten Einwands liegt die Vermutung nahe, dass unser Autor (auch auf der Ebene der Erkenntnistheorie) unter dem Einfluss von N. Hartmann steht, wenn er den Erkenntnisergebnissen und vor allem den ‚Erkenntniskategorien’ eine wesentliche Rolle in der Erkenntnistheorie zukommen lässt (im ontologischen Bereich ist es noch deutlicher zu sehen – darauf werden wir im Teil II der vorliegenden Abhandlung eingehen). Bei N. Hartmann (vgl. [1964], [1965], [1966]), der eine immer unabgeschlossene Tafel der Kategorien vertritt, gibt es Fundamentalkategorien, die durch alle Schichten des Seienden hindurchgehen, d.h. „Einheit und Mannigfaltigkeit“, „Einstimmigkeit und Widerstreit“, „Gegensatz und Dimension“, „Element und Gefüge“, „Form und Materie“, „Determination und Abhängigkeit“ u.a. Der Erkenntnischarakter der Welt wird durch sie verständlich gemacht (vgl. auch Konrad, A. [1997]). Vgl. auch Makota J. (1995a) – die Autorin spricht von vielen Berührungspunkten zwischen Ingarden und N. Hartmann, z.B. bezüglich der Einheit des menschlichen Wesens. 42
166 die eigentliche Natur des Gegenstandes erreicht wird. Da die Methode der DphE vor allem in der Sphäre des Individuellen verbleibt, ist diese Erkenntnistheorie keinesfalls imstande, zu streng allgemeinen und allgemeingültigen Urteilen und Sätzen zu gelangen (vgl. GE I, 266f). Damit befinden wir uns bereits beim dritten und letzten Einwand Ingardens gegen die DphE. Es handelt sich nun um die Forderung, dass die Erkenntnistheorie eine „Wissenschaft“ sein soll. Dazu sind aber folgende Postulate unbedingt zu erfüllen: Allgemeinheit (Allgemeingültigkeit) und Endgültigkeit der Erkenntnisergebnisse. Daher muss man von der Erkenntnistheorie fordern, dass ihre Erkenntnisergebnisse (insbesondere die Sätze) einerseits ‚streng allgemein’ sind, d.h. sie treffen nicht nur auf alle ‚tatsächlichen Fälle des Erkennens’ zu, sondern auch auf alle ‚grundsätzlich möglichen’ Fälle. Andererseits müssen die Erkenntnisergebnisse für alle entsprechend qualifizierten Subjekte ‚allgemeingültig’ sein. Außerdem müssen die epistemologischen Sätze, sofern die Epistemologie ein „definitives Urteil“ über den Wert dieser oder jener Erkenntnis abgeben soll, auf eine ‚absolute und unbezweifelbare Weise’ begründet sein (vgl. GE I, 268f). 43
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Nun sehen wir, dass hier das Postulat der Voraussetzungslosigkeit – im Vergleich zur psychophysiologischen Erkenntnistheorie - fehlt. Denn die DphE kann diesem Postulat dank der phänomenologischen Reduktion Rechnung tragen. Es ist klar, dass nicht ‚jeder Satz’ innerhalb der Erkenntnistheorie (E) streng allgemein sein muss. Im Gegenteil muss die E – so Ingarden - auch Sätze enthalten, deren Allgemeinheit beschränkt ist. Nur ‚alle grundlegenden Sätze müssen streng allgemein’ sein, z.B. die Sätze über den Aufbau des Erkenntnisaktes als solchen, weil sie unter anderem über den ‚Umfang’ der Forschungsgegenstände der E und zugleich über alle weiteren Sätze, in denen der Terminus „Erkenntnisakt“ vorkommt, entscheiden (vgl. GE II, 542f). Hier ist noch eine Bemerkung relevant, die gegen die DphE spricht: Sätze über meine Erkenntniserlebnisse, die eine unzweifelhafte Begründung besitzen, können sich – im Rahmen der DphE - ausschließlich auf das von mir ‚aktuell’ vollzogene Erlebnis beziehen, das mir (in der immanenten Wahrnehmung) in dem Augenblick gegeben ist, in dem ich diesen Satz ausspreche. Das sind also ‚immer individuelle Sätze’. Wenn ich etwas über viele meiner Erlebnisse behaupten will, muss diese Behauptung auch diejenigen meiner Erlebnisse mit umfassen, die schon vergangen sind oder sich erst in der Zukunft abspielen werden. Ich muss mich also auf die Wiedererinnerung oder auf 43
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167 Als Fazit könnte man in diesem Abschnitt Folgendes zur Sprache bringen: In der Erkenntnistheorie kann man nicht auf den Gewinn von ‚streng allgemeinen und völlig begründeten’ Sätzen über ihre Forschungsgegenstände verzichten. Sätze, die nur ‚wahrscheinlich’ sind, wie sie in der DphE – ausgehend von individuellen Beschreibungen einzelner Erkenntniserlebnisse – gewonnen werden können, erweisen sich in der Erkenntnistheorie als unzureichend (vgl. GE I, 274). Es bleibt nichts anderes übrig als die Ermittlung einer neuen Erkenntnistheorie. Der Weg führt jetzt zum „Apriori-Gebiet.“ §3. Apriorisch-phänomenologische Erkenntnistheorie Durch die apriorisch-phänomenologische Erkenntnistheorie (AphE) macht Ingarden einen weiteren Schritt auf der Ebene seiner epistemologischen Analysen. Die AphE berücksichtigt die Ergebnisse, welche sich aus der Betrachtung sowohl der psychophysiologischen Erkenntnistheorie (PphE) als auch der deskriptiv-phänomenologischen Erkenntnistheorie (DphE) ergaben, und bedient sich ebenfalls der phänomenologischen Reduktion. Dennoch ist sie mehr als nur eine Modifikation der DphE, wie dies auf den ersten Blick scheinen mag, obgleich auch hier die gleichen Elemente wie in der DphE auftreten: Erkenntnisakte, Erkenntnissubjekt, Erkenntnisgegenstände und Beziehungen zwischen Erkenntnisakten und Erkenntnisgegenständen. Im Rahmen der AphE wird allerdings – und das ist der gewichtigste Unterschied zu der DphE – in der „eidetischen Erkenntnis“ erforscht, die unser Autor letzten Endes als „Erforschung von Ideengehalten“ auffasst. Damit wird der Unterschied zu Husserl immer deutlicher, dessen Untersuchungen sich lediglich einerseits auf ‚einzelne 46
die Voraussicht berufen. Obwohl mein vergangenes (und zukünftiges) Erlebnis zu demselben Bewusstseinsstrom wie mein (gerade) aktuelles Erlebnis gehört, geht er jedoch über den vollen Gehalt des letzteren hinaus und ist der aktuell vollzogenen Erinnerung gegenüber ‚transzendent’. Folglich muss seine in dieser Erinnerung gewonnene Erkenntnis (in der DphE) durch die phänomenologische Reduktion ausgeschaltet werden. Husserl verwendet auch andere gleichwertige Begriffe, etwa „Ideation“ (vgl. „Logische Untersuchungen“), „Wesensschau“ (vgl. „Ideen I“). 46
168 individuelle’ Erlebnisse (Irrealitäten) beziehen, andererseits deren ‚Wesen’ umfassen. Die letzteren werden in der „eidetischen Erkenntnis“ (Wesensschau) durchgeführt und als Erkenntnisse „a priori“ bezeichnet (vgl. GE I, 275f). Nichtsdestoweniger fängt Ingarden – der anerkannten These gemäß, dass kritisch-philosophisches Denken nach Kant nicht mehr ohne Kant möglich sei - mit einem Ausblick auf Kant an und versucht in erster Linie, das Kantische Verständnis der Erkenntnis „a priori“ mit dem Husserlschen zu konfrontieren. 47
a. Erkenntnis „a priori“ bei Kant und Husserl Die Tatsache, dass sich Husserl von Kant hinsichtlich der Verwendung des Begriffs Erkenntnis „a priori“ nicht genug distanziert hat, lässt uns zumindest zwei Fragen stellen: (1) Inwiefern hat Husserl den Kantischen Begriff der Erkenntnis „a priori“ übernommen? Gibt es irgendwelche Zusammenhänge? Und (2) Was sind die wesentlichen Unterschiede zwischen diesen beiden Positionen? Kants Gegenüberstellung von Erkenntnis „a priori“ und Erkenntnis „a posteriori“, die den Unterschied zwischen den „Wissenschaften der Vernunft“ mathematischer Art und den „empirischen“ Wissenschaften von den Naturtatsachen hervorheben sollte, hängt nach Ingarden gleichzeitig auch mit einer „genetischen Theorie“ zusammen. Es handelt sich um eine Theorie über die verschiedenen Erkenntnisvermögen des „Gemüts“ (Sinnlichkeit, Verstand, Vernunft) sowie deren Funktionen. Unser Autor meint hier also nichts anderes als apriorische Formen der sinnlichen Anschauung (Raum und Zeit) und Kategorien (reine Verstandesbegriffe). Die Kantische Konzeption der Erkenntnis „a priori“ sollte auch – so Ingarden – die Grenzen möglicher apriorischer Erkenntnis abstecken und vor der Überschreitung dieser Grenzen warnen, die oft in der herkömmlichen Metaphysik vorkommt (vgl. GE I, 277f). Für Kant ist eine Erkenntnis „a priori“, wenn sie „unabhängig von der Erfahrung“ ist; dabei handelt es sich sowohl um die äußere (sinnliche) als 47
Vgl. Coreth, E. u.a. (2000), 160.
169 auch innere Erfahrung. Nach Ingarden bedeutet der Ausdruck „unabhängig von der Erfahrung“ bei Kant zweierlei: (1) Zum einen besagt dieser Ausdruck etwas, was „vor aller Erfahrung“ existiert, also nicht durch Erfahrung hervorgerufen und somit nicht deren Folge ist, wobei die Erfahrung aus zwei heterogenen Teilen besteht: dem Inhalt (d.h. einer ‚Vielfalt von Empfindungsdaten, welche der „Affektion“ des Subjekts durch physische Dinge entspringen) und der Form (d.h. einem System von apriorischen Formen: Zeit, Raum und Kategorien). Nun damit eine Erfahrung vorliegt, sind sowohl deren Inhalt als auch Form unentbehrlich. Die Erfahrung ist etwas „Abgeleitetes“ (Sekundäres) dem Inhalt und der Form gegenüber, die im Verhältnis zu ihr gleichsam ursprünglicher sind. Dabei ist die apriorische Form nicht nur vom Inhalt (von der Mannigfaltigkeit der Empfindungsdaten) unabhängig (d.h. sie wird durch diese nicht erzeugt), sondern auch ihrer Natur nach etwas Ursprüngliches, das sich nur aktualisiert, wenn eine Vielheit von Empfindungsdaten erscheint; (2) Zum anderen bedeutet der Ausdruck „unabhängig von der Erfahrung“ (und nur das ist für einen Phänomenologen relevant), dass die Erkenntnis „a priori“ in ihrem Erkenntniswert dem Erkenntniswert der Erfahrung gegenüber ‚autonom’ ist; d.h. der Wert der Erkenntnis „a priori“ stellt deren eigentliche Eigenschaft dar und wird mit dem Wert der Erfahrung weder verändert noch durch ihn bestimmt (vgl. GE I, 289f). Das von Kant aufgestellte Prinzip der ‚Unabhängigkeit apriorischer Erkenntnis von der Erfahrung’ ist der Grund dafür, dass Husserl den Begriff der Erkenntnis „a priori“ auch für seine Zwecke übernommen hat und in dieser (zweiten) Bedeutung in seiner Philosophie gelten ließ. Darüber hinaus ist das Prinzip der ‚Allgemeingültigkeit apriorischer Erkenntnis’ gemeinsam für Kant und Husserl. Es führt, so Ingarden, zur Entdeckung von „Notwendigkeitszusammenhängen“. Die Notwendigkeit der Erkenntnis „a priori“ ist so zu verstehen, dass die Leugnung eines apriorisch entdeckten Resultats zu einem Widerspruch führe (vgl. GE II, 561f). 48
Die Berührungspunkte zwischen Kant und Husserl beziehen sich vor allen Dingen auf das, was bei Hume vorkommt und Kant beeinflusst hat (vgl. ders. [1993], vor allem den Abschnitt „Über Freiheit und Notwendigkeit“ [96f]). Dennoch liegt 48
170 Dennoch gibt es auch wesentliche Differenzen zwischen beiden Positionen. So heißt es bei Husserl, die apriorische Erkenntnis sei keine Erkenntnis, die das Erkenntnisobjekt – in Gegenüberstellung zu einem unerkennbaren „Ding an sich“ – erzeugt, sondern sie sei eine das Erkenntnisobjekt vorfindende Erkenntnis wie die aposteriorische. Darüber hinaus ist dem Subjekt – bei den Phänomenologen – das Erkenntnisobjekt in der unmittelbaren Erkenntnis „a priori“ im „Original“ (d.h. als selbstgegenwärtig) gegeben, auf eine ähnliche – aber nicht gleiche – Weise wie in der Erfahrung. Diese Differenz der Gegebenheitsweise des Objekts der Erkenntnis „a priori“ gegenüber derjenigen der Erkenntnis „a posteriori“ macht einen entscheidenden Unterschied zwischen den beiden Arten der Erkenntnis aus. Aus phänomenologischer Sicht ist ferner die apriorische Erkenntnis in „reiner Gestalt“ eine Erkenntnis, die dem Erkenntnissubjekt gewisse „irreale“ Erkenntnisgegenstände (allgemeine und besondere Ideen, ideale Qualitäten und Zusammenhänge zwischen ihnen) enthüllt. Kommt sie aber in einer „besonderen Gestalt“ vor, der die aposteriorische Erkenntnis „beigemischt“ wird, dann betrifft diese angewandte Erkenntnis „a priori“ nur ‚das Wesen’ individueller (insbesondere realer) Gegenstände. Schließlich ist die Erkenntnis „a priori“ weder mit der allgemeinen Form jeder menschlichen Erkenntnis noch mit 49
offensichtlich zwischen Kant und Husserl ein unterschiedliches Verständnis vor. So gilt z.B. für die Phänomenologen: (1) Im Hinblick auf das „Autonomie-Prinzip“ der apriorischen Erkenntnis (AE): (a) Die AE ist zeitlich nicht früher als die Erkenntnis „a posteriori“; (b) Der Umfang von Gegenständen, welche der AE eines besonders organisierten Erkenntnissubjekts (z.B. des Menschen) zugänglich sind, ist durch die faktische Organisation dieses Subjekts (z.B. seine psychophysische Natur) bestimmt, womit auch eine Begrenzung des Anwendungsbereichs der Erkenntnis „a posteriori“ einhergeht; (c) Die Resultate der AE werden gewöhnlich zeitlich später gewonnen als die Resultate der Erfahrung; (2) Im Hinblick auf das „Allgemeingültigkeits-Prinzip“: (a) Kants anthropologische Deutung der Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit ist beiseite zu lassen; (b) Allgemeingültigkeit ist als Gülltigkeit für jedes Subjekt zu verstehen, das dazu qualifiziert ist, das Objekt der betreffenden AE zu erkennen; (c) Die AE ist insofern notwendig, als sie in der Beschaffenheit des Objekts (und nicht des Subjekts wie bei Kant) gründet. Bei Kant haben wir es hingegen mit einem unerkennbaren „Ding an sich“ zu tun. 49
171 der Form des Erkenntnisgegenstandes noch mit der Form des Urteils verbunden, wie dies Kant behauptet (vgl. GE II, 563f). Abschließend ist festzuhalten: Dass es eine apriorische Erkenntnis im Rahmen der mathematisch-formalen Untersuchungen (d.h. eine formale Erkenntnis „a priori“) gibt, so wie dies Kant beweist, steht außer Zweifel. Es gibt aber auch zahllose in einer Erkenntnistheorie zu untersuchende Gegenstände, die nicht von mathematischer Art und somit nicht von formalen Strukturen sind. Für sie gilt – und das hat eben Husserl eingesehen – eine apriorische Erkenntnis im Hinblick auf ihre ‚qualitative’ Bestimmung (d.h. materiale Erkenntnis „a priori“). Man kann nicht nur die Zusammenhänge zwischen Qualitäten, sondern auch das Wesen eines Gegenstandes „a priori“ erkennen (vgl. GE II, 557f). 50
b. Das Problem des Wesens des Gegenstandes. Ingardens „Überwindung“ der Position Husserls Nachdem wir skizzenhaft umrissen haben, was Erkenntnis „a priori“ (in der phänomenologischen Sprache „eidetische Erkenntnis“) ist, stellt sich die Frage: Worauf bezieht sich die eidetische Erkenntnis? Diese Frage ist offensichtlich im Rahmen der AphE zu erörtern. Demzufolge haben wir es in Ingardens Analyse mit einem erheblichen Rückgriff auf Husserl zu tun, insbesondere auf dessen Begriffe Spezies und Wesen. Ingardens Rückgriff auf diese Begriffe schlechthin hängt mit seiner Einstellung zu deren Relevanz für eine Erkenntnistheorie zusammen. Entweder leugnen wir die Die Notwendigkeit von formal-apriorischer Erkenntnis (E) wurde von Kant nur auf die Natur des Subjekts bezogen – unabhängig davon, ob das Subjekt „anthropozentrisch“ oder „allgemeiner“ (transzendental) aufgefasst wird. Wenn man aber – so die Phänomenologen (als erster Scheler, vgl. GW II) - diese Notwendigkeit noch auf das Objekt der Erkenntnis bezieht, dann wird sowohl die formal-apriorische E als auch die material-apriorische E zugelassen. Ingarden schlägt noch – das werden wir weiter sehen – die ‚existential-apriorische’ E vor (vgl. Ogrodnik, B. [2000], 96). Für die material-apriorische Erkenntnis gibt unser Autor folgende Beispiele an: (1) Verwandtschaft der orangen Farbe zu Rot und Gelb; (2) Jede Farbe ist ausgedehnt (auf einer Fläche, Oberfläche oder im Raum), aber nicht jede Ausdehnung ist farbig; (3) Das intentionale Erlebnis „bestimmt“ einen Gegenstand; (4) Eine Farbe kann man nicht nass machen (wie man einen Gegenstand nass machen kann). 50
172 Existenz von reinen Wesen, so müssen wir auf die Erkenntnistheorie verzichten, oder wir wollen eine Erkenntnistheorie aufstellen, dann sind wir genötigt, reine Wesen anzuerkennen (vgl. FSE, 154). Was den Begriff „Spezies“ anbelangt, gilt für Husserl - so schreibt Ingarden – folgende Auffassung: 51
„Das, im Hinblick worauf zwei oder mehrere Dinge hinsichtlich einer gewissen Eigenschaft einander genau „gleich“ sind, macht [...] Spezies aus“ (GE I, 298).
Mit anderen Worten: Husserl hat eingesehen, dass es uns in gewissen Fällen von Erkennen nicht etwa um ein weißes Hemd oder um ein weißes Pferd geht, nicht einmal um das Weiß dieses Hemdes oder das Weiß des Fells dieses Pferdes, sondern vielmehr um das „Weiß überhaupt“, d.h. das Weiß, im Hinblick auf welches sowohl das Hemd wie auch das Pferd „weiß“ sein können. Die Spezies können nicht als Entitäten angesehen werden, die sich in der Zeit befinden und solche Veränderungen erfahren, welche z.B. ein weißes Hemd erfährt, wenn es mit der Zeit und unter dem Einfluß gewisser Umstände grau wird. Husserl interessiert das Faktum nicht, auf welche Weise die Spezies existieren, sondern vielmehr ihre ‚Eigenartigkeit im Verhältnis zu individuellen Bestimmtheiten von spezifischen (vor allem realen) Gegenständen’ (vgl. GE I, 297f). In seinen späteren Publikationen (ab den „Ideen I“) nimmt Husserl den Begriff „Wesen“ anstelle von „Spezies“ in Anspruch; manchmal wird auch 52
Hier sehen wir von platonischen Aspekten und Konotationen ab. Nach Ingarden tritt Husserl gegen die Behauptung von Locke auf, dass man durch „Abstraktion“ die Spezies erreichen könne (Abstrahieren heißt im Sinne der englischen Empiristen [vgl. die von ihnen durchgeführte Gliederung in einfache, abstrakte und allgemeine Ideen] soviel wie Abtrennen, d.h. gewisse Ideen von einer zusammengesetzten Idee „abtrennen“ – dazu vgl. Locke, J. [2000], 107f). Dadurch kann man lediglich das ‚individuelle Weiß’ des gegebenen Dinges (z.B. des weißen Hemdes) erlangen, nicht aber die Spezies. Husserl hält jedoch das Erkennen der Spezies für möglich im Prozess der sogenannten „Ideation“ (in den „Ideen I“ verwendet Husserl immer öfter den Begriff „Wesensschau“ statt „Ideation“), d.h. eines besonderen Akts des „Meinens“ oder „Schauens“, der von Husserl nicht ganz erläutert wurde, so Ingarden. Heute wird diese ganze Problematik offenbar auch unter dem Stichwort „Universalien“ diskutiert (vgl. 4 [Kap. IV]). 51 52
173 das Wort „Eidos“ nebenbei verwendet (vgl. EPhH, 189). Einleuchtend formuliert ist für Husserl das Wesen eines Einzeldinges als „etwas“ in diesem Ding, was keine zufälligen Sachverhalte (Merkmale) umfasst. Zum Wesen eines Dinges gehören nur ‚nicht-zufällige Merkmale’ dieses Dinges. Nun ist das Wesen eines individuellen Gegenstandes ‚ein Bestand an wesentlichen Prädikabilien’, die ihm zukommen müssen, damit ihm andere, sekundäre, relative Bestimmungen zukommen können (vgl. GE I, 304f). Hinsichtlich des Husserlschen Begriffs „Wesen“ könnte man m.E. bei Ingarden gleichfalls von einer Art „Überwindung“ reden. Denn unser Autor versucht – erst einmal im Anschluß an J. Hering - die Unzulänglichkeiten dieses Begriffs bei Husserl durch eine Reihe von Präzisierungs- und Erweiterungsanalysen zu verringern. So vollzieht er bereits in „Essentiale Fragen“ (1925) eine Einschränkung des Begriffs „Wesen“, indem dieser Terminus den Termini „Idee“ und „Wesenheit“ (ideale Qualität: z.B. Rotheit, Geradheit) gegenübergestellt wird. Das Wesen eines Gegenstandes kann man auf zweifache Weise erforschen: entweder in einem unmittelbaren Erkenntniskontakt mit dem „fraglichen“ Gegenstand oder durch eine ‚Analyse des Gehalts einer entsprechenden Idee’ (vgl. GE II, 583). Für diese zweite Variante der Erforschung – hier setzt also Ingardens „Überwindung“ an – plädiert unser Autor und geht dadurch über Husserl hinaus. Durch eine ontologisch-bezogene Analyse 53
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Vgl. Hua III/1, 12f. Zum Hintergrund des Wesensproblems im Kontext der eidetischen Reduktion vgl. 2§2c (Kap. I) der vorliegenden Abhandlung. Vgl. Hering, J. (1921). Hering spricht von Wesen, Wesenheit und Idee (498). Ingarden führt diese Analyse weiter, wie wir dies noch sehen werden. Vgl. Ingarden, R. (1925), 125f. Zum Begriff der Idee bei Ingarden vgl. 3§1 (Kap. II). Da werden wir auch sehen, wie weit Ingarden über Husserl hinausgeht. Auch mit dem Problem des Wesens hat sich Ingarden im Kontext seiner Auseinandersetzungen mit Bergson (vgl. „Intuition und Intellekt bei Henri Bergson“) befasst. Da stellt unser Autor etwa fest: „[...] Eine Philosophie aber, die einerseits sich zur Aufgabe die Begründung der absoluten Erkenntnis stellt, und deren Möglichkeit behauptet, und welche andererseits die Existenz der reinen Wesen (vom Bewusstsein, von der Erkenntnis) leugnet, eine solche Philosophie ist mit einem Widerspruch behaftet und kann nicht wahr sein [...]“ (FSE, 153).
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174 wird diese „Überwindung“ endgültig vollzogen. Was ist also für Ingarden das Wesen? In „Der Streit um die Existenz der Welt“ (1948) begegnen wir bei Ingarden einer Auffassung des Wesens, welche ontologische Merkmale und einen – im Vergleich zu Husserl – ergänzenden (bzw. hinausgehenden) Charakter aufweist. Sie entspringt Ingardens schöpferischer Reflexion, der ein Rückblick auf die in der philosophischen Tradition auftretenden prinzipiellen Auslegungen des Wesens vorausgeht. Dadurch kann sich Ingarden eine Basis für den Entwurf seiner eigenen Auffassung herausarbeiten. Folgende Wesensauffassungen werden aufgegriffen: (1) Absolutistische und relativistische Auffassung des Wesens (AW) – die erstere AW sucht das Wesen eines Gegenstandes in ihm selbst zu finden und hält es für etwas von dem erkennenden Subjekt völlig Unabhängiges, die zweite hingegen (z.B. W. James) leugnet die Existenz eines solchen Wesens, sucht es aber trotzdem irgendwie zu bestimmen, und zwar mit der Betonung seiner Abhängigkeit von dem erkennenden und insbesondere von dem handelnden Subjekt. Auch H. Bergson vertrit eine relativistische Position, wenn er das Wesen des Gegenstandes überhaupt für eine Fiktion des Intellekts hält; (2) AW – welche entweder im Wesen eines Gegenstandes ein qualitatives Moment bzw. mehrere miteinander verflochtene qualitative Momente sieht, oder das Wesen (des Gegenstandes) auf gewisse Verhältnisse bzw. Gesetzmäßigkeiten in der Verhaltensweise des Gegenstandes oder in den sich in ihm abspielenden Vorgängen zurückführt (z.B. Lotze); (3) Aristotelisch-thomistische und skotistische AW – während die erstere unter dem Wesen des Gegenstandes einen Inbegriff seiner art- und gattungsmäßigen Momente versteht, so dass es viele Individuen desselben Wesens geben kann, sieht die zweite dagegen das Wesen des Gegenstandes in einem spezifischen (weil einzigen) Moment, aufgrund dessen die Möglichkeit der Existenz mehr als eines individuellen Gegenstandes eines bestimmten Wesens ausgeschlossen wird; (4) AW – dergemäß einerseits das Wesen eines Gegenstandes im materialen Beschaffensein des Gegenstandes (im Gegensatz zu seiner Existenz) zu suchen ist, andererseits gehört auch die Existenz zum Wesen des Gegenstandes (vgl. SEW II/1, 382f). Ingarden übernimmt einige Impulse aus der Tradition. Das Wesen ist für ihn generell etwas, (1) was nicht nur im Gegenstand selbst, dessen Wesen
175 es ausmacht, enthalten ist, sondern auch (2) was seiner Seinsform nach ebenso individuell ist wie der Gegenstand selbst, dessen Wesen es ausmacht, und (3) was bei einer entsprechenden Erkenntniseinstellung im Gegenstand ‚unterschieden’ werden kann, sich aber vom Gegenstand nicht (realiter) abtrennen lässt. Darüber hinaus versteht Ingarden unter dem Wesen eines Gegenstandes die volle konstitutive, durch eine abgeleitete (aber spezifische) ideale Qualität bestimmte Natur des Gegenstandes mit dem ganzen Komplex seiner Merkmale, deren Qualitäten in ihrer Koexistenz und Verbindung ein System bilden, das der die Natur des Gegenstandes bestimmenden abgeleiteten Qualität äquivalent ist (vgl. GE II, 581f). Das Wesen eines Gegenstandes G ist ‚unveränderlich’, sofern der Gegenstand G dieselbe Natur beibehält. Die Natur bestimmt die Momente, welche in ihrem Gesamtbestand und ihrer Verknüpfung ihr äquivalent sind. Keines dieser Momente kann wegfallen oder durch ein anderes ersetzt werden. Denn sein Wegfallen aus dem Gefüge würde die Vernichtung von Natur und Gegenstand nach sich ziehen. Da die Natur eines Gegenstandes 56
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Hier wäre es wohl sinnvoll, den Ingardenschen Begriff des Wesens mit dem von Aristoteles zu vergleichen. Aristoteles (vgl. Met. V 8.) gebraucht bekanntlich Wesen in zwei Bedeutungen, einmal als das letzte Subjekt, das nicht weiter von einem anderen ausgesagt wird, sowie als dasjenige, welches ein bestimmtes Seiendes und ‚abtrennbar’ ist; solcherart aber ist es eines jeden Dinges Gestalt und Form. Man könnte die Frage stellen: Wie versteht Ingarden den Begriff „Natur“? Nun geht es Ingarden um ‚das Erfassen eines Dinges unter dem Gesichtspunkt seiner Qualität’ (z.B. Quadratheit), die das Ding „konstituiert“ und entscheidet, was es ist. Dieses Erfassen, d.h. ein solches qualitatives Moment mit der Rolle des „Konstituierens“ (des „Bildens“) des Gegenstandes nennt Ingarden (im Anschluss an Aristoteles) „Natur“. Mit anderen Worten: Wenn wir von einem Ding sagen, das sein „Was“ durch die „Quadratheit“ konstituiert wird, geben wir seine „Natur“ an (vgl. GE I, 308). Demnach kann man feststellen, Ingardens Auffassung der Natur stehe der in der gegenwärtigen philosophischen Debatte geltenden Auffassung dieses Begriffs sehr nahe (vor allem im Hinblick auf das ‚dynamische Moment’), wenn es dort heißt: „[...] Obwohl man oft Natur nicht von Wesen unterscheidet, so fügt doch, streng genommen, Natur ein dynamisches Moment zum Wesen hinzu; dieses wird nämlich als Prinzip der Entwicklung des Seienden, als innerer Grund seines Wirkens und Erleidens ‚Natur’ genannt [...]“ (vgl. Lotz, J. [1996c], 256). Das gilt in erster Linie für ein „radikales“ und „exaktes“ Wesen, die unten noch erläutert werden. 56
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176 in seinem Wesen enthalten ist und ohne sie der betreffende Gegenstand nicht existieren würde, ist das Wesen des Gegenstandes – für den betreffenden Gegenstand – ‚etwas Notwendiges’ (vgl. SEW II/1, 441f, 402). Aus ontologischer Sicht gilt ferner für Ingarden, dass zum Wesen des Gegenstandes nicht nur seine Form und Seinsweise gehört, sondern auch seine Materie. Dabei entscheidet vor allem die Materie stets darüber, was und wie der betreffende (individuelle) Gegenstand beschaffen sei; sie differenziert die Gegenstände (vgl. SEW II/1, 389). Das Wesen eines Gegenstandes wird durch viele Faktoren gebildet: Da sind also sowohl die konstituierende Natur des Gegenstandes als auch der ihr äquivalente Bestand an Qualitäten zu nennen, wie endlich die allgemeinen, den Gegenstand mitkonstituierenden Momente, welche durch seine Natur gefordert werden, d.h. insgesamt „unbedingt eigene“ Bestimmtheiten bzw. Eigenschaften des Gegenstandes. Die Gesamtheit der zum Gegenstand gehörenden Bestimmtheiten bildet in ihm einen konstanten Faktor (vgl. SEW II/1, 399f). 59
Diese dominierende Rolle der Materie im Wesen eines Gegenstandes wird wohl einleuchten, wenn man berücksichtigt, dass Ingardens Begriff der „Materie“ (in diesem Zusammenhang jedenfalls) viel weiter ist als der übliche Begriff der „Qualität“ (Materie). Nun schließt der Begriff der „Materie“ bei Ingarden sowohl gewisse „effektive Qualitäten“ (Formen) als auch gewisse Fähigkeiten (Vermögen: Möglichkeit des Besitzens von gewissen Eigenschaften oder des Vollzugs von gewissen Vorgängen) ein, sofern dieselben auf notwendige Weise mit der konstitutiven Natur des Gegenstandes verbunden sind. Für die hier behandelte Problematik ergibt sich also, dass nach Ingarden zum Wesen des Gegenstandes auch manche ‚Vermögen’ gehören. Als Beispiel nennt Ingarden die Fähigkeit des Metalls (z.B. des Eisens) zur gesetzmäßigen Vergrößerung seines Volumens bei einer beschränkten Erhöhung der Temperatur. Weder das größere Volumen noch seine Vergrößerung gehört zum Wesen des Eisens, da beides durch das Sich-Erhöhen der Temperatur bedingt ist. Dagegen gehört die Fähigkeit, das Volumen auf bestimmte Weise infolge der Erhöhung der Temperatur zu vergrößern, zum Wesen des Eisens (vgl. SEW II/1, 451f). Im zweiten Teil der vorliegenden Abhandlung werden wir sehen, dass Ingarden bezüglich der Begriffe Materie, Form und Seinsweise noch viel strenger differenziert. 59
177 Anhand dieser von uns kurz skizzierten Wesensauffassung ergeben sich für unseren Autor fünf konkrete Typen des Wesens eines individuellen Gegenstandes: (1) radikales Wesen (W) – tritt dann auf, wenn die (nur eine Konkretisation zulassende) Natur des Gegenstandes eine Gestaltqualität (z.B. Quadratheit oder Kreisförmigkeit) ist, welche (von sich aus) bestimmt: (a) einen ihr äquivalenten Bestand notwendig mit ihr existierender, harmonisch mit ihr verbundener und radikal schlechthin eigener Eigenschaften, (b) einen spezifischen einmaligen Bestand formaler Momente, die sich über der gegenständlichen Grundform aufbauen, und (c) einen spezifischen einmaligen Existenzmodus des Gegenstandes. Keine anderen Eigenschaften werden zugelassen; (2) exaktes W – kommt dann vor, wenn die (mehrere Konkretisationen ihrer Materie zulassende) Natur des Gegenstandes eine Gestaltqualität ist, welche (von sich aus) bestimmt: (a) einen ihr äquivalenten Bestand notwendig mit ihr zusammen existierender, mit ihr harmonisch verbundener, (im gemäßigten Sinne) schlechthin eigener Eigenschaften, (b) einen gewissen Typus von formalen Momenten, und (c) einen gewissen Typus der Seinsweise des Gegenstandes. Das exakte W lässt keine erworbenen und äußerlich bedingten Eigenschaften zu, sondern nur relative Momente im strengen Sinne. Als Beispiel gelten hier individuelle geometrische Gegenstände; (3) im gemäßigten Sinne exaktes W – unterscheidet sich vom exakten W dadurch, dass die in ihm auftretende Natur die Existenz von erworbenen und äußerlich bedingten Eigenschaften im Gegenstand zulässt; (4) rein materiales W – unterscheidet sich von dem im gemäßigten Sinne exakten Wesen des Gegenstandes dadurch, dass zu ihm weder eine besondere (sich über der allgemeinen gegenständlichen Grundform) aufbauende Form noch eine spezifische Existenzweise gehört; und (5) einfaches W – tritt dann auf, wenn die Natur (a) weder ‚monadisch’ (d.h. nur eine Konkretisation zulässt) noch eine Gestaltqualität ist, sondern vielmehr entweder eine schlechthin einfache Qualität oder ein Zusammenhang von gattungsmäßig miteinander verbundenen und einander übergeordneten Qualitäten ist, (b) gewisse schlechthin eigene Eigenschaften des Gegenstandes bestimmt, welche zu ihr gehören, aber in ihrer Gesamtheit ihr nicht äquivalent sind, (c) die Existenz von erworbenen und äußerlich bedingten Eigenschaften im Gegenstand sowie endlich die von relativen Merkmalen zulässt. Das einfache W kommt dort vor, (d) wo im Gegenstand schlechthin eigene
178 Eigenschaften im gemäßigten Sinne vorhanden sind, die aber sich aus dem Wesen des Gegenstandes nicht ergeben, und (e) wo weder die Form noch die Existenzweise des Gegenstandes zu dessen Wesen gehört, aber entweder in ihren besonderen Momenten durch das Wesen bestimmt oder von ihm überhaupt unabhängig ist (vgl. SEW II/1, 419f). Das Ingardensche Verständnis des Wesens eines Gegenstandes weist einen viel expliziteren Aufbau auf als dies bei Husserl der Fall ist. Es entspricht auch der unmittelbaren Gestalt des „Gehalts einer speziellen exakten Idee“ – samt dem Komplex der Konstanten dieses Gehalts. Wie wir das in 3§1 (Kap. II) noch sehen werden, macht Ingarden im Prozess der Erforschung der Ideengehalte einen weiteren Schritt, indem er – außer der Analyse des Gehalts von speziellen exakten Ideen, in der nur Urteile über alle Exemplare einer „niedersten“ Art (einer speziellen exakten Idee) untersucht werden – auch von der Analyse des „Gehalts von allgemeinen exakten Ideen“ spricht. Diese Analyse kann man aber am Beispiel von Gegenständen durchführen, die unter die betreffende allgemeine exakte Idee fallen. Eine Bedingung dafür ist allerdings, dass man in einem individuellen Gegenstand die Schicht von Momenten unterscheidet, welche sowohl der unmittelbaren Gestalt (Morfe) der betreffenden allgemeinen Idee als auch dem Komplex der Konstanten, die dieser unmittelbaren Gestalt äquivalent sind, entsprechen. Die übrigen Momente und Elemente des analysierten Gegenstandes kann man hingegen verändern (vgl. GE II, 583f). 60
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Nun sehen wir, dass der Begriff „Eigenschaft“ beim Wesensproblem eine besondere Rolle spielt. Ingarden unterscheidet folgende (allgemein aufgefasste) Eigenschaften (E) von Gegenständen (die unter eine besondere exakte Idee fallen): (1) E - die zum Wesen des Gegenstandes gehören; (2) E – die aus dem Wesen des Gegenstandes folgen; (3) E - welche durch das Wesen des Gegenstandes zugelassen werden, aber aus ihm nicht folgen; (4) Relative Merkmale (vgl. SEW II/1, 436). D.h., sowohl das Wesen wie auch der Gehalt der Idee ist eine Konkretisation ‚derselben’ idealen Qualitäten (z.B. Rotheit). Wenn wir das Wesen eines Gegenstandes (schon) aufgefunden haben, dann haben wir nach Ingarden damit die Wesen aller Gegenstände aufgefunden, welche Individuen derselben exakten speziellen Idee sind. Ingarden vertritt eine realistische Position: Das Wesen eines Gegenstandes darf nicht in einer Isolierung von der Umwelt und deren Aktivitäten betrachtet werden (vgl. SEW II/1, 454). 60
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179 Damit kommen wir zum Problem der Methode der eidetischen Erkenntnis. Die Frage ist: Wie können wir die idealen Qualitäten (die reinen Spezies) erkennen? An dieser Frage entscheidet sich für unseren Autor, ob wir eine Erkenntnistheorie schlechthin (in seinem Sinne) betreiben können. Das positive Resultat dieser Problemstellung ist durch den Zugang zu den idealen Qualitäten bedingt (vgl. GE I, 335). Im Anschluss an Husserl unterscheidet Ingarden zwischen der ‚eidetischen Erkenntnis einer einfachen idealen Qualität’ und der ‚eidetischen Erkenntnis, die eng mit einer Denkoperation verbunden ist’. Diese zweite können wir ferner als „Variationsmethode“ bezeichnen (vgl. GE I, 349). In Bezug auf die eidetische Erkenntnis einer einfachen idealen Qualität behauptet Ingarden, dass diese eidetische Erkenntnis in einer äußeren, oder inneren Wahrnehmung oder sogar in einer Phantasievorstellung „fundiert“ sein kann, und unterscheidet dabei zwei Züge: Erstens besteht die eidetische Erkenntnis in einem „anschaulichen“ Kontakt mit der Spezies. Zweitens tritt sie beim gleichzeitigen Vollzug eines Aktes, z.B. des schlichten Sehens, ein; der Akt des Sehens bildet also eine Grundlage, auf der es uns erlaubt wird, einen weiteren (ihm gegenüber in gewissem Maße unselbständigen) Akt des „Unterscheidens“ eines Einzelzuges am Ganzen des Dinges zu vollziehen (vgl. GE I, 324f). Was die „Variationsmethode“ anbelangt, besteht sie darin, dass wir – ausgehend von einer idealen Qualität (z.B. der „Höhe“ eines Tones) – versuchen, von einer bestimmten Qualität einer Art (also etwa von einer bestimmten Tonhöhe) zu anderen Qualitäten derselben Art fortzuschreiten, und diese auf einen gegebenen qualitativen Komplex anzuwenden. Dieses Vorgehen ist dann und nur dann möglich, wenn eine Qualität j einen Spezialfall einer Gattung von Qualitäten J ausmacht, die viele Spezialfälle zulässt. Die „Variationsmethode“ ist am einfachsten durchzuführen, so Ingarden, wenn die Gattung einer gegebenen Reihe von Qualitäten gestattet, dass ‚zwischen diesen Qualitäten Größenverhältnisse bestehen’, und wenn die ‚Vielheit dieser Größen ein Kontinuum’ bildet. Dann können wir z.B. sagen, dass jede uneingeschränkte Länge der Seiten eines Dreiecks ohne Verlust seiner „Dreieckigkeit“ auftreten kann, sofern nur das Gesetz aufrechterhalten bleibt: a + b > c (also a + b ist größer als c) (vgl. GE I, 350f).
180 Es ist festzuhalten, dass die Erkenntnistheorie als AphE das ‚Wesen von Erkenntniserlebnissen, deren intentionale Korrelate sowie mögliche Relationen zwischen Erlebnissen und Korrelaten’ – offenkundig auf dem Boden der phänomenologischen Reduktion – untersucht. Dadurch, dass wir uns dem ‚Wesen’ eines Erkenntniserlebnisses zuwenden, können wir bereits streng allgemeine Sätze über alle Erlebnisse dieser Art erlangen, ohne dass wir gezwungen werden, die unmittelbare Erfahrung (die immanente Wahrnehmung) zuerst „aller“ eigenen Erlebnisse (der „fraglichen“ Art) und dann aller „fremden“ Erlebnisse derselben Art zur Grundlage zu nehmen. Dennoch können nach Ingarden die Schwierigkeiten, auf die wir in der DphE gestoßen sind, durch die Bestimmung der Erkenntnistheorie als AphE – so wie dies eben Husserl tut – nur ‚teilweise’ überwunden werden (vgl. GE II, 586f). Es gilt nach den Konsequenzen zu fragen. §4. Ingarden „contra“ Husserl. Kritik an Ingarden Im vorangehenden Abschnitt haben sich bereits ganz deutlich zwei Wege abgezeichnet, die Erkenntnistheorie als apriorische Wissenschaft zu bestimmen. Während man eine Erkenntnistheorie nach Husserl als „Wesensphänomenologie von Erkenntniserlebnissen und restlichen Elementen einer Erkenntnisbeziehung“ betreiben kann, plädiert Ingarden hingegen für eine Erkenntnistheorie als „phänomenologische Ontologie“, welche auch den Ideengehalt der Erkenntnisbeziehung sowie aller Elemente dieser Beziehung (also auch der Erkenntniserlebnisse) analysiert. Ingardens phänomenologisch-ontologische Position ergibt sich als Konsequenz seiner „Überwindung“ des Husserlschen Ansatzes, der sich lediglich auf die Analyse von einzelnen Erlebnissen und deren Wesen, welche notabene nur unzureichend geklärt sind, beschränkt. Sie wird ausführlich erst in 3 (Kap. II) als „Ingardens Erkenntnistheorie“ behandelt. Hier soll nur der Rahmen skizziert werden, in dem diese Ingardensche Haltung „fundiert“ ist; er ist in Ingardens kritischer Stellung Husserl gegenüber innerhalb der apriorisch-phänomenologischen Erkenntnistheorie (AphE) verankert. Anschließend soll Ingardens Kritik an drei Konzeptionen der Erkenntnistheorie (d.h. PphE, DphE und AphE) gewürdigt werden.
181 a. Ingarden „contra“ Husserl Husserl scheidet individuelle ideale Gegenstände nicht von Ideen ab (vgl. SEW II/1, 437). Im Rahmen der AphE könnte man die Position Husserls – angesichts des bereits oben Ausgeführten – mit dem Begriff „Phänomenologie des Wesens der Erkenntnisbeziehungen und deren Elemente“ wiedergeben. Vom Standpunkt dieser Position aus lässt sich jedoch nach Ingarden keine solche Erkenntnistheorie aufbauen, die alle für ihre ‚Klassifizierung als Wissenschaft’ notwendigen Postulate erfüllen könnte. Denn diese auf Husserl zurückgehende Konzeption der Erkenntnistheorie setzt vor allem voraus, dass alle bei der erkenntnistheoretischen Forschung in Betracht kommenden Erkenntnisbeziehungen und deren Elemente ‚ihr Wesen’ haben; mit anderen Worten ausgedrückt: dass sie alle ‚Individuen gewisser exakter spezieller Ideen’ sind. Das ist aber nach Ingarden keineswegs selbstverständlich. Darüber hinaus erschöpft das Wesen eines Gegenstandes niemals die konkrete Fülle dieses Gegenstandes, sondern es macht darin nur eine wichtige Schicht aus (vgl. GE II, 588f). Die Einschränkung der Erkenntnistheorie auf die Untersuchung des Wesens der Erlebnisse (usf.) wäre ähnlich unangemessen wie z.B. die Einschränkung der mathematischen Forschung auf Gebilde der gleichen Art, wie nach ihrer Seitenlänge eindeutig bestimmte Quadrate, Dreiecke u.ä. Wir wollen nicht nur wissen, so Ingarden, ob eine Wahrnehmung in einem bestimmten Moment t und mit einem bestimmten Inhalt I objektiv ist, sondern auch ob die (z.B. visuelle) Wahrnehmung ‚überhaupt objektiv’ ist. Daher müssen wir nicht das Wesen eines individuellen Erlebnisses einer rein ontologischen Analyse unterziehen, sondern eher den ‚Gehalt einer allgemeinen Idee’. Nun ohne sich einen Einblick in den Gehalt der Idee zu verschaffen, in die allgemeine Idee von Erkenntnisbeziehung überhaupt, lassen sich auch keine grundlegenden ‚Kriterien 62
Ingarden distanziert sich von der These (die z.B. von Hering vertreten wird), dass jeder individuelle Gegenstand sein Wesen besitze. Im Verlaufe unserer weiteren Analyse werden wir sehen, dass unser Autor noch eine weitere Einschränkung des Begriffs „Wesen“ vollzieht: „Ein Wesen kommt nur den Gegenständen zu, die unter die exakten allgemeinen Ideen fallen“ (vgl. Ingarden, R. [1925], 250).
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182 erkenntnistheoretischer Objektivität’ gewinnen. Indes müssen wir über einen Bestand an epistemologischen Grundbegriffen und Kriterien verfügen, um erst etwa das Problem aufwerfen zu können, ob in einem faktischen Erlebnis X, dessen Wesen W(X) ist und das sich auf einen Gegenstand Y mit dem Wesen W(Y) bezieht, eine Erkenntnis von dem und dem Wahrheitswert erlangt wird (vgl. GE II, 590f). Hätte Ingarden Husserls Haltung akzeptiert, wäre seine Erkenntnistheorie als eine Untersuchung des Wesens der Erlebnisse „zu wenig allgemein“ gewesen. Denn es ist ganz zufällig, welche individuellen Erlebnisse als eine Grundlage für die Wesenserkenntnis zur Verfügung stehen. Bei einer Wesenserkenntnis kann ebenso eine „falsche Grundlage“ ausgewählt werden. Wir könnten z.B. das Wesen der Erkenntnis am Beispiel von etwas untersuchen wollen, was eigentlich keine Erkenntnis wäre. Denn bevor wir die epistemologischen Untersuchungen durchführen, wissen wir oft nicht, was eine Erkenntnis in der Tat ist. Diesen Fehler hat eben Husserl begangen: Er untersuchte das, was die Konstitution von Noemata ist, und meinte, er untersuche das Erkennen. Wir halten fest: Eine Erkenntnistheorie kann sich nicht mit dem Wesen unserer Erkenntnistätigkeit begnügen, weil immer die Gefahr besteht, dass das, was wir für Erkenntnis halten, gar keine Erkenntnis ist. Sie muss vielmehr unabhängig davon, was wir unter dem Begriff „Erkenntnis“ verstehen, die wahre Idee der Erkenntnis analysieren. Bevor wir uns darauf gründlicher einlassen, gilt es kritisch vorzugehen. 63
b. Kritik an Ingarden Der Ausdruck „Erkenntnistheorie“ wird bekanntlich in der gegenwärtigen Philosophie in einem weiteren und einem engeren Sinne verwendet. „Erkenntnistheorie im engeren Sinne“ fragt transzendentalphilosophisch nach den apriorischen Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung, des Erkennens, der Gewissheit usf. und urteilt aufgrund dieser Bedingungen über die Geltung der Erkenntnis und ihre Grenzen. „Erkenntnistheorie im weiteren Sinne“ betreibt hingegen jeder, der das Erkennen selbst zum 63
Vgl. Chrudzimski, A. (1999), 23f.
183 Gegenstand der Erkenntnis macht. Dabei gilt heute im Anschluss an Kant, dass die Erkenntnis nicht entweder eine schauende Hinnahme des vorgegebenen Seins der Dinge oder eine setzende, tathafte Konstruktion des Gegenstandes ist, sondern dass sich beide Anschauungen notwendig ergänzen. Im Kontext dieser gegenwärtigen philosophischen Einstellung wollen wir nun Ingardens erkenntnistheoretischen Weg, den wir in den vorangehenden Abschnitten als Analyse der psychophysiologischen, deskriptivphänomenologischen und apriorisch-phänomenologischen Erkenntnistheorie zu verfolgen versucht haben, kritisch anschauen. Bei der Lektüre der Ingardenschen Überlegungen könnte man als erstes den Eindruck gewinnen, als ob die meisten Philosophen (bewusst oder unbewusst) die psychophysiologische Erkenntnistheorie betrieben hätten, und als ob unser Autor als einziger davon befreit gewesen wäre. Gab es aber tatsächlich zur Zeit von einem Descartes oder Kant ungenügend Empfindlichkeit für Probleme, von denen Ingarden hier redet (d.h. die Bestimmung des Forschungsgebietes, die empirische Methode, den dogmatischen Charakter), oder ist dies eher nur eine subjektive Einbildung unseres Autors? Eine solche Behauptung, welche anderen Positionen etwas zu unterstellen bestrebt ist, erfordert jedenfalls eine sorgfältige Begründung und lässt sich keinesfalls nur mit hinweisenden Andeutungen oder einer wenig durchschaubaren Ansammlung von Inhalten auf einer „oberflächlich konstruierten Grundlage“ zufrieden stellen. Denn ein solches Verfahren ist nichts anderes als „Verletzung“ philosophischer Kompetenz. Wir haben in 2§1 (Kap. II) auch gesehen, dass Ingarden an der psychophysiologischen Erkenntnistheorie ihre induktiv-empirische Methode bemängelt, auf die sie als physiologisch fundierte Psychologie angewiesen sei. Die Ergebnisse, die die psychophysiologische Erkenntnistheorie mit dieser Methode erreichen kann, seien immer nur mehr oder weniger wahrscheinlich, niemals aber sicher. Sie könnten somit nicht auf eine endgültige Weise alle Bedenken „zerstreuen“, für deren Beseitigung die Epistemologie ins Leben gerufen wurde. Die Forderung 64
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Vgl. Hüttenhoff, M. (1991), 13. Vgl. Hoeres, W. (1969), 11.
184 jedoch, dass die Epistemologie diese Bedenken beseitige, ergibt sich nach Ingarden notwendig aus dem Charakter des Objektivitätsproblems von Erkenntnis selbst. Diese Konstelation ist aber deswegen problematisch, weil der von Ingarden angeführte Einwand in sich ein bestimmtes „absolutistisches“ Ideal der Erkenntnis birgt, das unserem Autor schon immer vorschwebte. Ein Befürworter der psychophysiologischen Erkenntnistheorie ist aber offenbar nicht gezwungen, diesem Ideal zu folgen. Er könnte gleichwohl den Standpunkt vertreten, dass die uns (ursprünglich) zu erkenntnistheoretischer Reflexion anregenden Zweifel an der Objektivität der Erkenntnis nicht notwendig auf eine absolute Weise gelöst werden müssen, um überhaupt lösbar zu sein. Von diesem Standpunkt aus könnte er Ingardens Kritik sogar für unrichtig halten: Es sei allzu leicht, der psychophysiologischen Erkenntnistheorie Inkohärenz nachzuweisen, nachdem man ihr unerfüllbare Strebungen unterstellt habe. Ingardens einseitige und kritische Position der psychophysiologischen Erkenntnistheorie gegenüber steht also im charaktervollen Gegensatz zu gegenwärtigen Ansichten. Es gilt heute nicht mehr nur der „harte“ Standpunkt, der die Autonomie der Philosophie gegenüber der Psychologie als ein ‚Zeichen des methodologischen Fortschritts’ versteht, sondern auch derjenige, der die „Verteidigung“ des Psychologismus in der Erkenntnistheorie zulässt mit der Behauptung, dass die Psychologie für die Lösung erkenntnistheoretischer Probleme relevant sei. Um ein Beispiel zu 66
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Vgl. Galewicz, W. (1996), XIXf. Die Trennung von Philosophie und Psychologie setzte sich endgültig gegen Ende des vorigen Jahrhunderts durch, vor allem auf dem Gebiet der analytischen Philosophie. In Bezug darauf wird die These vertreten, dass der Verdienst der Philosophie der Gegenwart vor allem darin bestehe, dass sie Historisches und Systematisches, Psychologisches und Logisches, Genesis und Gültigkeit zu unterscheiden gelernt hat (vgl. Feigl, H. [1929], 115). Vgl. Koppelberg, D. (2001), 328f. Was den Psychologismus anbelangt, verstehen wir darunter eine Position, die durch die Vermengung von vermeintlich oder auch tatsächlich verschiedenen philosophischen und psychologischen Fragen gekennzeichnet ist. Die Vertreter dieser Position betonen, dass die epistemischen Eigenschaften unserer Meinungen nicht unabhängig von den für diese Meinungen verantwortlichen mentalen oder psychologischen Prozessen sind (dazu vgl. etwa Kutsch, M. [1995]). Ingarden differenziert auch ganz deutlich zwischen Psychologie 66 67
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185 nennen: Th. Grundmann spricht in seinem Aufsatz von „psychologischer Verteidigung“ des erkenntnistheoretischen Realismus. Dass die moderne Philosophie vor Frege nicht nur die große Wichtigkeit erkenntnistheoretischer Probleme betonte, sondern auch sich oft und explizit auf die Begriffe und Ideen verschiedener Wissenschaften wie Physik, Biologie und Psychologie bezog, würde Ingarden wohl nicht bestreiten wollen. Das ist aber heute in der Zeit der Gehirn- und Genforschung eindeutig viel zu wenig. Auch ein nach strengen Regeln verfahrender Philosoph wie Ingarden könnte sich dieser Konfrontation nicht mehr entziehen. Daher müssen wir immer ernsthafter auch andere Sichtweisen (zumindest) erwägen, welche keine „unüberwindbaren Barrieren“ zwischen der Erkenntnistheorie und der physiologisch fundierten Psychologie mehr – so wie dies unser Autor tun will – um jeden Preis aufrechterhalten wollen. Demnach wäre es sinnvoll, aufs Neue etwa über den Vorschlag von Ph. Kitcher nachzudenken, der von einer ‚neuen naturalistischen Erkenntnistheorie’ unserer Tage spricht, welche nicht für einen radikalen Bruch mit der modernen Tradition vor Frege plädiert. Vielmehr betrachtet er diese Erkenntnistheorie als Rückkehr und Weiterführung von häufig eingeschränkten Versionen des Naturalismus, den er bei Descartes, Locke, Hume, Kant und Mill auffindet. Dabei gilt heute desgleichen, dass eine angemessen konzipierte psychologistische 69
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und Psychologismus. Problematisch ist bei ihm nur, dass während die Psychologie seine Anerkennung genießt, dem Psychologismus jede positive Würdigung abgesprochen wird (vgl. SÄ III, 45f). Vgl. Grundmann, Th. (2001b), 188f. Der erkenntnistheoretische Realismus wird hier im Sinne von C. Wrigth (vgl. [1992], 2) verstanden, d.h. es geht um die These, dass es Wissen überhaupt oder Wissen über einen bestimmten Bereich von Gegenständen gebe. Vgl. Kitcher, Ph. (1995), 54. Unter Naturalismus (N) verstehe ich jene Denkrichtungen, die der Natur (in einer ihrer verschiedenen Bedeutungen) eine ausschlaggebende oder gar ausschließliche Rolle zuschreiben. Als eine allgemeine philosophische Auffassung wendet sich N einseitig der untermenschlichen, insbesondere biologischen Natur zu und betrachtet das eigentlich Menschliche, das geistige Geschehen und die Geschichte als bloße Fortsetzung des Physischen, Biologischen und nach dessen Maßgabe (vgl. Brugger, W. [1996b], 257f). 69
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186 Erkenntnistheorie der erste und entscheidende Schritt zu einer naturalistischen Erkenntnistheorie ist. Ingardens „eiserne“ Gegenposition der Psychologie gegenüber kann m.E. weder der Konfrontation mit den gegenwärtigen philosophischen Bedürfnissen noch dem Rückblick auf viele relevante Standpunkte philosophischer Tradition schlechthin standhalten. Hier seien etwa Hegel und sein „begriffliches Vorgehen“ genannt. Das Wechselverhältnis der drei zentralen Kategorien (Vernunft, Intelligenz, Erkennen) bildet bei Hegel in der enzyklopädischen Psychologie den zentralen Rahmen sowohl für seine Erkenntnistheorie als auch für seine „Philosophy of Mind“. Hegel arbeitet also stark mit der Begrifflichkeit der traditionellen „Psychologia rationalis“. Auch in Bezug auf Kant werfen sich manche Fragen auf. Wenn Ingarden beispielsweise im Kontext seiner Einwände – wie wir dies oben gesehen haben – ständig von „einer zu engen Bestimmung des Forschungsgebietes“ der Erkenntnistheorie redet, scheint er eine Grenze ziehen zu wollen, welche diese Bestimmung leisten könnte. Die Frage ist also: Birgt das ganze (darauf abzielende) Verfahren Ingardens in sich vielleicht nicht eine Art „stillschweigende (und m.E. ungeschickte) Gefolgschaft“ dem Kantischen Versuch gegenüber, die Grenze der Erkenntnis zu bestimmen, 71
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Vgl. Kornblith, H. (1980), 119. Auch A. Bezuidenhout (vgl. [1996], 743) plädiert für den Psychologismus in der Erkenntnistheorie. Dabei stimmt sie zu, dass es erforderlich sei, die einschlägigen psychologischen Prozesse zu untersuchen, obwohl den Resultaten der empirischen Psychologie keinesfalls ein besonderer Platz in der Erkenntnistheorie gegeben werden müsse. Vgl. Hegel, W.G., E, §440, §482, §441. Die Psychologie als ganze unterscheidet sich bei Hegel von der Phänomenologie dadurch, dass die Vernunft „nicht bloß an sich“, sondern auch „für sich“, also Gegenstand des Wissens sei (vgl. Halbig, Ch. [2002], 89). Was Kant angeht: Nachdem Kant im ersten Teil der „Transzendentalen Deduktion der reinen Verstandesbegriffe“ die Reichweite der Verstandesbegriffe bestimmt hat, legt er im zweiten Teil die Grenze ihres Gebrauchs dar. Diese Grenze besteht bekanntlich darin, dass es jenseits der Gegenstände möglicher Erfahrung keinen Gebrauch der Kategorien gibt. Kategorien können sinnvoll nur auf Erfahrungsgegenstände bezogen werden. Sie sind unabhängig von der Erfahrung völlig leer (vgl. KrV, B 147f). 71
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187 zumal sich Ingarden auch mit der Kantischen Auffassung der Erkenntnis „a priori“ befasst hat (vgl. GE II, 558f; GE I, 277f). In dem Zusammenhang stellt sich eine weitere Frage: Warum nimmt Ingarden keine Stellung zum Begriff „transzendentale Erkenntnistheorie“, ohne den ein epistemologischer Diskurs heute kaum vorstellbar zu sein scheint? Das Problem des Wesens wäre noch anzusprechen. Obwohl Ingarden dieser Problematik seine besondere Aufmerksamkeit widmet, und die Folge davon ist, dass wir die These über „Ingardens Überwindung der Position Husserls“ aufgestellt haben, bleibt sie jedoch ergänzungsbedürftig, etwa im Hinblick auf die Frage nach dem ‚phänomenologischen und realistischen Unterschied zwischen Begriff und Species’. Denn es ist in der heutigen Husserl-Forschung längst klar geworden, dass Husserl (zumindest in den „Logischen Untersuchungen“) behauptet, dass Begriffe ‚überzeitliche ideale Bedeutungseinheiten’ seien, welche nicht durch das Bewusstsein, sondern durch den Intellekt gebildet werden. Sie werden aber nicht genug deutlich von „Species“ unterschieden, so dass die falsche Ansicht entstehen kann, dass der Intellekt nicht nur die Bedeutungen von Begriffen, sondern auch die von Species in gewissen Grenzen konstituiert. 74
3. Erkenntnistheorie nach Ingarden „Die Erkenntnis ist ein Werkzeug, das dem entsprechend anzupassen ist, wozu es gebraucht werden soll“ (GE I, 297). Im 2. Abschnitt des vorliegenden Kapitels wurde gezeigt, was Erkenntnistheorie nach Ingarden nicht sein kann. Es hat herausgestellt, dass eine Erkenntnistheorie weder psychophysiologische noch deskriptiv-phänomenologische 75
eine sich eine noch
Vgl. Seifert, J. (1995), 30f; vgl. auch ders. (1982), 461f. Die Erkenntnislehre (oder Erkenntnistheorie) entsteht nicht vor der Neuzeit. Ihr Name stammt aus dem 19. Jahrhundert (vgl. Diemer, A. [1972], 683). Zum Problem der Erkenntnistheorie im Allgemeinen vgl. etwa Hamlyn, D.W. (1970); Hönigswald, R. (1997); Kutschera, F.v. (1982); Chisholm, R.M. (1979) u.a. 74 75
188 apriorisch-phänomenologische Erkenntnistheorie sein kann. Mit all diesen Konzeptionen ist unser Autor unzufrieden, obgleich einige ihrer Eigenschaften gewisse von ihm aufgestellte Anforderungen bereits erfüllen. Das Ziel dieses Abschnitts ist hingegen aufzuweisen, was eine Erkenntnistheorie sein soll. Nun geht es um das Bild der Erkenntnistheorie, deren Entwurf Ingarden selbst zu verdanken ist. Er ergibt sich vor allen Dingen aus Ingardens kritischer Analyse der drei oben genannten Konzeptionen. Die repräsentativen Merkmale der Ingardenschen Erkenntnistheorie sind folgende: (1) Dreifache Aufteilung: reine Erkenntnistheorie (E), Kriteriologie und angewandte E; (2) Auffassung der reinen E als Ontologie; (3) Den Kern der Ingardenschen Konzeption stellt seine Theorie der „Intuition des Durchlebens“ dar. Während der Punkt 3 erst im III. Kapitel einer ausführlichen Analyse unterzogen werden soll, sind die Punkte 1 und 2 in den folgenden Abschnitten zu erforschen. Dazu sind gewisse begriffliche Vorarbeiten nötig. 76
§1. Begriffliche Voraussetzungen der Erkenntnistheorie Ingardens Damit ein Unternehmen wie die Darstellung von Ingardens Erkenntnistheorie gelingen kann, müssen zuvor einige begriffliche Voraussetzungen geklärt werden. Den Hintergrund dafür bildet Ingardens (sich aus dem bis jetzt Ausgeführten ergebende) Forderung nach einer klaren Absonderung der Erkenntnistheorie von den empirischen Wissenschaften einerseits, wie etwa Physik, Physiologie und Psychologie, und von den nichtempirischen Formalwissenschaften andererseits, wie etwa Mathematik, Logik und Wissenschaftstheorie als angewandter Logik. Wir beschränken uns nur auf zwei Probleme: den Begriff der Idee und den formalen Aufbau des Gegenstandes. Natürlich werden manche relevanten Details bzw. Problemenkomplexe der Ingardenschen Erkenntnistheorie auch in den weiteren Abschnitten (z.B. Objektivitätsproblem) und Kapiteln (z.B. Intuition des Durchlebens) erörtert werden. Zur Konzeption der Erkenntnistheorie bei Ingarden überhaupt vgl. etwa Gierulanka, D. (1968); Stepien, A.B. (1964). 76
189 a. Begriff der Idee Die Relevanz des Begriffs der Idee ergibt sich aus der Tatsache, dass die reine Erkenntnistheorie nach Ingarden notwendig die Gestalt einer ontologischen Analyse des Gehalts von Ideen annehmen muss. Der Begriff der Idee wird durch zwei wesentliche Faktoren charakterisiert: ‚Doppelseitigkeit der Idee’ und ‚Gliederung des Ideengehalts’ (vgl. SEW II/2, 380). Was den ersten Faktor anbelangt, besitzt jede Idee, so Ingarden, einen doppelseitigen Aufbau. Einerseits hat die Idee eine Struktur „qua idea“, d.h. einen „Komplex von Merkmalen“, der sie „qua idea“ kennzeichnet und ihr unabhängig von dem Bewusstsein zu existieren erlaubt, andererseits kommt ihr ein „Gehalt“ zu, durch den sie die „Idee von etwas“ ist, z.B. die Idee eines Dinges, eines Vorgangs usf. Die Idee enthält in ihrem Gehalt ‚ideale Korrelate’ sowohl qualitativer (materialer) Eigenschaften als auch formaler Struktur und existentialer Momente von Gegenständen (bzw. eines Gegenstandes), deren (bzw. dessen) Idee sie ist. Die Gesamtheit dieser Korrelate bezeichnet unser Autor als „Gehalt der Idee“. Die Bestandteile des Gehalts einer Idee sind ‚nicht deren Merkmale’, selbst wenn sie ideale Korrelate der Merkmale von den Gegenständen sind, welche unter die betreffende Idee fallen. In Anspielung auf Platons Behauptung, dass die Idee eines Gegenstandes X ein „Urbild“ des Gegenstandes X sei, nennt Ingarden – umgekehrt – den Gegenstand 77
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Die Problematik der Ideen aus ontologischer Sicht wurde von Ingarden vor allem in „Essentiale Fragen“ und „Der Streit um die Existenz der Welt“ (Bd. II/1) untersucht. Zur Einführung der doppelseitigen Struktur der Idee durch Ingarden hat auch die Position von K. Twardowski (vgl. [1894], 105) beigetragen, die Ingarden jedoch im Anschluss an S. Lesniewski (vgl. [1992], 49f; [1992a], 198f) und T. Kotarbinski (vgl. [1920], 149f) ablehnt. Genauer gesagt handelt es sich um Twardowskis Auffassung von „allgemeinen Gegenständen“, die zum Widerspruch führt (vgl. GE II, 567). Im „Komplex der Merkmalen“ sind also folgende Merkmale entscheidend: (1) dass jede Idee „doppelseitig“ ist; (2) dass jede Idee einen „doppelseitigen“ Gehalt hat; (3) dass jeder Gehalt zwei Bestandteile hat: Konstante und Variable usw. Vgl. Platon, etwa Politeia 596a6 f.; Kratylos 389a-d u.a. 77
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190 eine „Konkretisation“ der entsprechenden Idee (vgl. GE II, 568f; SEW II/1, 231f). Der zweite Faktor bringt zum Vorschein, dass im Ideengehalt jeder Idee zweierlei Bestandteile auftreten, nämlich „Konstanten“ und „Variablen des Ideengehalts“. Versuchen wir es anhand von Beispielen zu erläutern. Nehmen wir etwa ein Parallelogramm. Zu den Gehaltskonstanten der Idee „Parallelogramm überhaupt“ gehört die Parallelogrammheit, die Parallelität der gegenüberliegenden Seiten, die Gleichheit der gegenüberliegenden Seiten, die Gleichheit der gegenüberliegenden Winkel usf. Daraus können wir noch eine Reihe von anderen Konstanten folgern, wie z.B. das Vorhandensein zweier sich halbierender Diagonalen. Zu den Variablen dieser Idee gehört es hingegen, dass jede der Seiten irgendeine absolute Länge besitzt, wobei nur die Gleichheit zur gegenüberliegenden Seite erhalten sein muss. Auch die Innenwinkel haben irgendeine Größe, wobei die Variabilität ihrer Größe durch das Gesetz beschränkt ist, dass die Summe dieser Winkel immer gleich 360° ist. Diese Variable bedeutet also die Möglichkeit, dass ein Innenwinkel in einem bestimmten Parallelogramm einen durch die Konstanten zugelassenen Wert annimmt. Ein anderes Beispiel, das Ingarden ins Spiel bringt, ist die „Idee des Menschen überhaupt“. Unter den Konstanten des Gehalts dieser Idee wäre etwa aufzuzählen, dass der Mensch ein lebendiges und zugleich sterbliches Wesen ist, das Herz und Blutkreislauf besitzt, dass er beim normalen Funktionieren des Zentralnervensystems Bewusstsein hat usf. Eine Variable des Ideengehalts des Menschen stellt dagegen etwa die Haar- und Hautfarbe, die Stufe der intellektuellen Entwicklung, die Konzentrationsfähigkeit, die Empfindlichkeit im Bereich des Gesichts- und Tastsinns oder das Unterscheidungsvermögen in Bezug auf Töne dar. Im Ideengehalt treten nach Ingarden nicht nur qualitative Variablen und Konstanten auf, welche die Materie der unter die betreffende Idee fallenden Gegenstände bestimmen, sondern auch formale und existentiale. Zwischen ihnen bestehen gewisse Zuordnungen und Abhängigkeiten. So gehört z.B. zu der Konstanten, welche die Materie der Natur des 81
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Zum Begriff der Natur in diesem Zusammenhang vgl. 3§1b (Kap. II).
191 Gegenstandes bestimmt, die konstante Form der Natur, nicht aber die Form des Merkmals oder der Eigenschaft (vgl. GE I, 316f). Im Hinblick auf ihren Gehalt werden die Ideen wie folgt aufgeteilt: die ‚Ideen von Gegenständen’ (Gegenstandsideen), die ‚Ideen von Ideen’ und die ‚Ideen von idealen Qualitäten’, wobei die Gegenstandsideen noch in die ‚besonderen (speziellen) Ideen’ und die ‚allgemeinen Ideen’ zu differenzieren sind. Uns interessieren hauptsächlich die Gegenstandsideen. Eine Idee ist ‚speziell’, wenn ein individueller Gegenstand ihre Konkretisation bildet, d.h. wenn ‚keine qualitative Variable in ihrem Gehalt auftritt’ und der Komplex von Konstanten des Ideengehalts die volle qualitative Ausstattung des Gegenstandes der Idee erschöpft, z.B. die Idee „Sokrates“, „Herr X“ usf. ‚Allgemein’ ist eine Idee hingegen dann, wenn sie in ihrem Gehalt ‚zumindest eine qualitative Variable enthält, z.B. die Idee „Parallelogramm“, „Mensch“ usw. (vgl. GE II, 570; auch TJFPL, 372f). Unter den allgemeinen (eine materiale Variable enthaltenden) Ideen sind noch „exakte“ und „unexakte“ Ideen zu unterscheiden. Sie unterscheiden sich durch ihre Struktur bzw. durch den Aufbau ihrer Gehalte: Wenn im Ideengehalt „Äquivalenz“ zwischen der Konstanten der Natur und dem Komplex von konstanten Merkmalen der unter diese Idee fallenden Gegenstände besteht, haben wir es mit einer „exakten“ Idee zu tun. Wenn 82
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Zum Gehalt der Idee gehören also nicht nur die abstrakten Qualitäten (d.h. etwas, was als Merkmal eines Gegenstandes vereinzelt werden kann), sondern auch gewisse formale und existentiale Momente. Die formalen Momente entscheiden darüber, ob das Individuum, das unter eine bestimmte Idee fällt, ein individueller Gegenstand und nicht etwa ein Vorgang oder ein Sachverhalt ist (vgl. dazu Jadacki, J.J. [1980], 73f). Was die existentialen Momente anbelangt, ist bei Ingarden das Kriterium der Existenz der Ideen nicht ganz klar. Die Frage: Welche Ideen existieren? hat erst die Metaphysik zu beantworten (vgl. SEW I, 50). Auch das Problem der Konkretisierung von reinen Qualitäten im Gehalt der Idee wurde m.E. leider nicht hinreichend geklärt. Die Variablen des Gehalts einer speziellen Idee sind: (1) zeitliche und räumliche Momente; (2) Momente, die den „modus existentiae“ bilden und (3) das individuelle Moment. „Äquivalent“ besagt hier eine ‚unentbehrliche und ausreichende Bedingung für das Auftreten dieser Natur in einem Gegenstand.
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192 dies nicht der Fall ist, dann liegt eine „unexakte“ Idee vor (vgl. GE I, 319f). Erläutern wir dies wieder anhand von Beispielen. Zuvörderst eine unexakte Idee: Wir haben einen Teller. Ein „Teller“ ist ein Etwas, dessen qualitatives Moment konstitutiver Natur die „Tellerhaftigkeit“ ist. Wir fragen: Was ist diese „Tellerhaftigkeit“? Wir können keine solche einfache und ursprüngliche ideale Qualität finden. Um das zu beantworten, müssen wir uns deshalb den qualitativen Konstanten und Variablen des Ideengehalts zuwenden, welche die ‚Eigenschaften von Gegenständen’ bestimmen, die unter die Idee „Teller“ fallen. Also sagen wir: ein „Teller“ ist etwas, was z.B. ziemlich flach, rund, eingetieft, aus einem festen Stoff gemacht ist usf. (vgl. TJFPL, 408f). Dennoch ist es unmöglich, eine ‚erschöpfende Übersicht’ von den Variablen des Gehalts einer unexakten Idee und damit auch von den weniger allgmeinen Ideen, welche der betreffenden Idee untergeordnet sind, zu erlangen. Folglich gilt: Bei den unexakten Ideen ist die unmittelbare Form des Ideengehalts ein ‚Gemenge von zusammenhangslosen Qualitäten’. Eine exakte Idee hingegen stellt etwa ein „Quadrat“ dar. Da die exakte Idee eine Konkretisation von einer idealen Qualität ist, ist es denkbar, sie ‚unabhängig’ von den Konstanten und Variablen des Ideengehalts (vollständig) zu erkennen. Bei den exakten Ideen bildet also die unmittelbare Form des Ideengehalts eine spezifische Qualität, wobei im Gehalt der Idee ein ‚ganz bestimmter Komplex von qualitativen Gehaltskonstanten’ auftritt (vgl. GE II, 577f). Festzuhalten ist, dass Ingarden durch die Einführung von Konstanten und Variablen als Elementen des Ideengehalts eine seit Platon bekannte Position überwindet, welche Ideen für „ideale Muster“ bzw. „Urbilder“ von individuellen Gegenständen hält und somit zu einer Antinomie führt. Die Antinomie in Bezug auf Urbilder besteht darin, dass die Urbilder die Ganzheit der sich ausschließenden Merkmale von den unter sie fallenden 85
Warum ist ein solches Verfahren notwendig? Weil es unmöglich ist, eine Analyse des Gehalts einer unexakten Idee durchzuführen, ohne die weniger allgemeinen Ideen und schließlich die unter die betreffende unexakte Idee fallenden Gegenstände zu erforschen, an denen wir als Beispielen von möglichen (unter die betreffende Idee fallenden) Gegenständen uns die möglichen Spezialfälle und deren Kombinationen veranschaulichen.
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193 individuellen Gegenständen enthalten (müssen). Das Auftreten von Variablen ermöglicht zudem, dass gewisse ontologische und logische Grundsätze betreffs der Ideengehalte außer Kraft gesetzt werden, z.B. der „Satz vom ausgeschlossenen Dritten“ oder das „Widerspruchsprinzip“. Daher kann man keineswegs behaupten, dass alles, was existiert, eine Eigenschaft besitzen und zugleich nicht besitzen kann: etwa können wir von einem Quadrat nicht sagen, die absolute Länge seiner Seiten betrage oder betrage nicht 2 cm. Derartige Behauptungen sind nur in Bezug auf individuelle Gegenstände sinnvoll, bei Ideen dagegen lassen sie sich lediglich auf deren konstante Momente anwenden. Der Gehalt der Idee macht nach Ingarden ein ‚geordnetes’ System aus: „Das Quadrat ist das gleichseitige, rechteckige Parallelogramm“. 86
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b. Hierarchie von Ideen und formaler Aufbau des Gegenstandes Die ‚Hierarchie von Ideen’ stellt bei Ingarden ein höchst interessantes Problem dar, zumal der Gehalt einer Idee durch die Sätze expliziert wird, in denen sich formale Zusammenhänge zwischen Momenten und Elementen des Gegenstandes widerspiegeln. Wir haben einen Satz: „Ein Quadrat Ù ist Ù ein gleichseitiges, rechteckiges Parallelogramm“ Auf der linken Seite des Satzes befindet sich der Begriff „Quadrat“, der den gesamten Gehalt einer Idee unter dem Gesichtspunkt der den Gegenstand „Quadrat“ konstituierenden Natur auffasst. Auf der rechten Seite hingegen tritt eine ‚Explikation der Konstanten im Gehalt derselben Idee auf’: Dabei wird eine endliche Anzahl von qualitativen Konstanten Vgl. Szczepanska, A. (1989), 44f. G. Haefliger (vgl. [1994], 89f.) spricht (aus ontologischer Sicht) von drei Ebenen: (1) Ebene idealer Qualitäten (Gleichseitigkeit, Parallelogrammität). Ideale Qualitäten entsprechen nahezu dem, was in der zeitgenössischen Philosophie bekanntlich als „Universalien“ betrachtet wird; (2) Ebene der Ideengehaltsanalyse (Gehalt der Idee „Quadrat überhaupt“: [Konstanten: Quadratheit, Gleichseitigkeit, Parallelogrammität usw.; Variablen: „Von-einer-absoluten-Seitenlänge-sein“ usw.]) und (3) Ebene der Anwendungssätze (x ist ein Quadrat: x ist gleichseitig, x hat parallele Seiten usw.). 86 87
194 genannt, welche von vornherein in gewissen besonderen formalen Funktionen erfasst werden, in denen sie in den entsprechenden Gegenständen auftreten. Insbesondere trifft dies im Hinblick auf den Begriff „Parallelogramm“ zu, der denselben Gehalt unter dem Gesichtspunkt einer gattungsmäßigen „Quasi-Natur“ (d.h. einer qualitativen Konstanten) erfasst. Diese Konstante ist das ideale Korrelat eines Moments, ‚das in der Natur des Gegenstandes „Quadrat“ unterschieden und zur Rolle einer „Quasi-Natur“ erhoben wird’. Die „Quasi-Natur“ spielt allen anderen Konstanten (d.h. „gleichseitig“ und „gleicheckig“) gegenüber die Rolle eines qualifizierten ‚Subjekts von Merkmalen und die eines Trägers’ („Substanz“). Deshalb wird sie als „Gehaltskern der Idee“ bezeichnet. Wir können desgleichen sagen, dass die Idee A der Idee B untergeordnet ist und umgekehrt, dass die Idee B der Idee A übergeordnet ist. Das ist dann der Fall, wenn ein qualitatives Moment („Parallelogrammheit“), welches den Gehaltskern der Idee A („Quadrat“) bestimmt, ein qualitatives Moment ausmacht, das den ‚gesamten Gehalt’ der Idee B („Parallelogramm“) konstituiert. Darüber hinaus gilt hier noch, dass eine qualitative Konstante des Gehalts von der Idee A ein Spezialfall einer bestimmten qualitativen Variablen sei, die im Gehalt der Idee B auftritt (vgl. GE II, 574f). Mit einem Beispiel dargestellt heißt das: Im Ideengehalt eines Vierecks ist die Variable mit „irgendeiner Anzahl von Paaren paralleler Seiten“ enthalten. Die weniger allgemeinen Ideen beinhalten die Konstanten mit „einem Paar paralleler Seiten“, mit „zwei Paaren paralleler Seiten“ und mit „keinem Paar paralleler Seiten“ – bei derselben Konstante „Viereckigkeit“. Folglich gilt, dass die Ideen „Parallelogramm“, „Trapez“, „Trapezoid“ der Idee „Viereck“ untergeordnet sind (vgl. GE I, 318). Mit dem Problem der Ideen und idealen Qualitäten ist nach Ingarden ferner die Möglichkeit des Auftretens von dem „eigentümlichen Kern“ in einem individuellen Gegenstand verknüpft (vgl. SEW II/1, 380). Diese Behauptung stellt uns aber vor die Frage nach dem formalen Aufbau eines Gegenstandes, der mit dem Begriff „Natur“ zusammenhängt, wie wir dies weiter sehen werden. Es gibt einen prinzipiellen Unterschied zwischen den Ideen und den individuellen Gegenständen. Während im Gehalt einer Idee neben
195 Konstanten immer irgendwelche Variablen auftreten müssen, können in Einzelgegenständen dagegen keine Variablen vorkommen (vgl. GE I, 318). Jeder Gegenstand ist Subjekt einer unendlichen Vielfalt von miteinander kontinuierlich verbundenen wesentlichen Eigenschaften und bildet zusammen mit seinen Eigenschaften, von denen er sich offensichtlich nicht abtrennen lässt, eine einheitliche, abgeschlossene und getrennte Seinssphäre. Eine wesentliche Eigenschaft erfüllt ihre „Rolle“ im Gegenstand dadurch, dass sie das Subjekt der Eigenschaften durch ihre Qualität bestimmt, indem sie mit anderen Eigenschaften auftritt. Die Qualität der Eigenschaft bestimmt ‚indirekt’ den Gegenstand als Subjekt der Eigenschaften und ‚direkt’ die Eigenschaft selbst. Ingarden behauptet, dass das Subjekt der Eigenschaften nicht nur durch die ihm zukommenden Eigenschaften, sondern auch ‚unmittelbar durch die ‚Qualität des Subjekts’ qualifiziert werde. Die das Subjekt der Eigenschaften unmittelbar qualifizierende Qualität bezeichnet unser Autor als „Natur des Gegenstandes“. Jeder Gegenstand hat seine Natur, weil sich bei jedem die Frage „Was ist das?“ stellen und so oder anders beantworten lässt. Die Natur des Gegenstandes bezeichnet daher die ganze Seinssphäre, deren Subjekt das durch diese Natur qualifizierte Subjekt ist. Die Natur eines Gegenstandes lässt sich bezüglich ihres qualitativen Elements folgendermaßen differenzieren: (1) Absolut einfache und ursprüngliche Qualität – der Gegenstand lässt sich hinsichtlich seiner Natur in keine Klasse einordnen, deren konstitutives Moment eine von der Qualität der Natur verschiedene Qualität ist; (2) Abgeleitete Qualität – in der Natur des Gegenstandes lassen sich einfachere qualitative Momente 88
Ingarden spricht nicht nur von individuellen Gegenständen, sondern auch von rein intentionalen Gegenständen. Dies ist vor allem in seinen ästhetischen Analysen der Fall. Hier sind für uns zwei Dinge relevant: (1) Doppelseitigkeit der formalen Struktur eines rein intentionalen Gegenstandes: (a) Gehalt – wird durch den unanschaulichen Inhalt des Meinungsaktes sowie durch den betreffenden Modus des (im Meinungsakt enthaltenen) Moments der Erfassung seiner Existenz (=Seinssetzungsmoment) bestimmt; (b) Intentionsmoment und der Modus des Vollzugs des Aktes; (2) Unbestimmtheit im Gehalt eines rein intentionalen Gegenstandes: seinem Wesen nach ist der rein intentionale Gegenstand immer ‚unbestimmt’ (vgl. SEW II/1, 211, 219; auch LK, 121f). Zu dieser Problematik vgl. 5§1b.c (Kap. V).
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196 unterscheiden, welche sich auf besondere Weise bedingen und hierarchisch geordnet sind, z.B. Quadratheit, Parallelogrammheit, Vieleckigkeit usf. (vgl. GE II, 571f). Die Begriffe Natur und Idee finden ihre brauchbare Vollendung in der Frage nach der Auffassung der Erkenntnistheorie. §2. Auffassung der Erkenntnistheorie bei Ingarden Das richtige Verständnis der Auffassung der Erkenntnistheorie setzt die Klärung der Frage „Was ist Erkennen?“ voraus. Bei Ingarden können wir kurzum zwei Bedeutungen von „Erkennen“ unterscheiden. Zum einen bedeutet „Erkennen“ etwas kennenzulernen, was für uns vollkommen unbekannt ist; von diesem Etwas haben wir noch „keine Idee“. Zum anderen heißt „Erkennen“ etwas, wovon wir bereits „eine Idee“ (einen Begriff) haben, zu erfassen oder besser wiederzuerfassen. Das Erkennen im ersten Sinn ist als ‚ursprüngliches’ Erkennen zu bezeichnen. In ihm werden neue Erkenntnisse gewonnen, während wir im zweiten Falle schon früher „erkannt“ haben mussten, um gegenwärtig die frühere Erkenntnis nur zu wiederholen und zu erforschen, ob das Gegebene die Begriffsintention erfüllt oder nicht (vgl. FSE, 240). Im Vorangehenden kam bereits deutlich zum Vorschein, dass Ingarden über den ‚Gehalt von Ideen’ spricht. Der Begriff „Idee“ spielt nun eine zentrale Rolle in der Ingardenschen Konzeption der Erkenntnistheorie. Wenn wir von formalen Momenten absehen, ist der Ideengehalt nichts anderes als die Konkretisierung von reinen Qualitäten, wobei die reinen Qualitäten „bloße“ abstrakte Gegenstände wie z.B. ‚Rot’ (in Species) sind. Den Gehalt von Ideen können wir nur im Rahmen einer ‚reinen Erkenntnistheorie analysieren, die ein Glied des epistemologischen Systems bei Ingarden darstellt – neben der Kriteriologie und der angewandten Erkenntnistheorie’. Bevor wir uns auf die Analyse dieser Elemente der Ingardenschen Erkenntnistheorie im Einzelnen einlassen, versuchen wir das Verhältnis zwischen ihnen zu bestimmen. Die reine Erkenntnistheorie analysiert die ‚allgemeinste Erkenntnisidee’, die Idee der „erkenntnismäßigen Begegnung“. Aufgrund dieser Analyse formuliert sie grundlegende, rein formale Grundsätze, die den Sinn des intentionalen Gerichtetseins in
197 formaler Reinheit auffassen. In der Kriteriologie kommt anstatt dieser allgemeinsten Erkenntnisidee eine Reihe von weniger allgemeinen Ideen vor. Dabei werden gewisse Variablen der Idee „Erkenntnis überhaupt“ durch bestimmte Konstanten ersetzt. Anhand der Analyse dieser Ideen werden weitere Prinzipien formuliert, die etwa besagen, was für eine Art von Subjekt in einer bestimmten Welt gilt. Schließlich erlaubt uns die angewandte Erkenntnistheorie, zu entscheiden, was für eine Art Subjekt der Mensch ist und was für eine Art Welt unsere Welt ist. 89
a. Ontologie der Erkenntnis Nach Ingarden zielt jede Erkenntnistheorie letztendlich auf eine Kritik der faktisch gewonnenen Erkenntnis ab. Das Ziel dieser Kritik ist die Bestimmung des Erkenntniswertes der Ergebnisse von Erkenntnisprozessen. Diese Bestimmung setzt aber die Beantwortung einer ganzen Reihe von essentiellen Fragen des Typus „Was ist x?“ voraus, welche sich immer auf das ideale Wesen von entsprechenden Gegenständen beziehen und durch eine Analyse des Gehalts der Ideen dieser Gegenstände beantwortet werden können. Die Analyse der Gehalte von den einen bestimmten Gegenstandsbereich umfassenden Ideen bezeichnet Ingarden als „Ontologie“ dieses Gegenstandsbereichs. Desgleichen gilt für die Analyse der Gehalte von ursprünglichen Erkenntnisideen. 90
Vgl. Chrudzimski, A. (1999), 146. Der Verfasser führt in seine Analyse der Epistemologie Ingardens eine Reihe von Begriffen ein, z.B. „F-Regeln“ (= rein formale Grundsätze der reinen Erkenntnistheorie) und „Kond. – M-Regeln“ (= Prinzipien der Kriteriologie und der angewandten Erkenntnistheorie, die einen materialen Charakter haben). Nach G. Haefliger (vgl. [1994], 100) sind in der Ingardenschen Ontologie drei Ebenen der Beschreibung zu unterscheiden: (1) Beschreibung der Relationen zwischen den reinen Qualitäten; (2) Notwendige Wahrheiten, die für alle Individuen gelten und (3) Beschreibungen der Inhalte der Ideen. Ausführlich werden wir darauf erst im zweiten Teil der Arbeit eingehen. Zur Analyse der Relationen zwischen reinen Qualitäten vgl. auch Żeglen, U. (1984). Im Hinblick auf die „Ontologie der Erkenntnis“ findet Ingarden in N. Hartmann (vgl. [1952]) einen Verbündeten, wenn dieser schreibt: „Erkenntnisrelation samt dem ihr eigentlichen transzendentalen 89
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198 Das Hauptelement der Konzeption der Erkenntnistheorie Ingardens bildet die ‚Ontologie der Erkenntnis’, also die ‚reine Erkenntnistheorie’. Die allgemeinsten Normen und die erkenntnistheoretischen Hauptkategorien müssen im Rahmen der Ontologie der Erkenntnis festgelegt werden. Das Charakteristische an der reinen Erkenntnistheorie ist ihr struktureller Aufbau, den Ingarden als „Erkenntnisbegegnung“ bezeichnet. Die „Erkenntnisbegegnung“ wird anfangs durch die Analyse des Gehalts von zwei grundlegenden Erkenntnisideen gekennzeichnet: Zum einen hat die reine Erkenntnistheorie den ‚Gehalt der allgemeinen regionalen Idee der Erkenntnis (des Erkenntnisergebnisses) überhaupt’ zu erforschen. Dabei muss es vollkommen unbestimmt bleiben, was für ein Subjekt sie vollzieht, in wie geformten Bewusstseinsakten sie zustande kommt, welche Gegenstände sie betrifft und aus welcher Erkenntnisbeziehung sie hervorgeht usf. Zum anderen handelt es sich um die Analyse des ‚Gehalts der allgemeinen regionalen Idee der Erkenntnisbeziehung überhaupt’, ebenfalls ganz ohne Rücksicht darauf, durch welches Subjekt diese Erkenntnisbeziehung realisiert wird, und unabhängig davon, in Bezug auf welchen Gegenstand und in welcher Art Akt sie zustande kommt u.ä. Durch die Analyse von diesen zwei grundlegenden Erkenntnisideen erhalten wir eine Antwort auf die folgenden Fragen: „Was ist das Ekenntnisergebnis überhaupt?“ und „Was ist die Erkenntnisbeziehung überhaupt?“ (vgl. GE II, 592). Dies führt uns aber auch zur Analyse anderer Erkenntnisideen wie der allgemeinen Idee des Erkenntnissubjekts, 91
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Charakter bestimmter Akte ist prinzipiell eine ontologische Relation, und noch mehr – eine reale“ (136). Vgl. dazu etwa Tischner, J. (1971), 33f; auch Küng, G. (1975), 158f. Der letztere behandelt die erkenntnistheoretische Problematik bei Ingarden im Zusammenhang nicht nur mit dessen Ontologie, sondern auch Metaphysik. Vgl. Galewicz, W. (1996), XXVIf. Ingardens Begriff „Erkenntnisbegegnung“ wird von B. Ogrodnik (vgl. [2000], 83f) ausführlich analysiert. Der Verfasser behauptet: Damit die Erkenntnisbegegnung überhaupt möglich sein kann, muss das Bewusstsein des Erkenntnissubjekts „offen“ sein – sowohl für seine eigenen Erlebnisinhalte als auch für das, was über das Bewusstsein und seine Gehalte hinausgeht. Es wird auch Bezug zu Kant genommen. Ingarden versteht unter „regionaler“ Idee die oberste Idee einer Region im Sinne Husserls (vgl. Hua III/1, §19). 91
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199 des Erkenntnisobjekts und des Wertes eines Erkenntnisergebnisses überhaupt. Folglich werden die essentiellen Fragen der Art beantwortet: Was ist das Erkenntnissubjekt? Was ist das Erkenntnisobjekt? usf. (vgl. FSE, 278). Auch weniger allgemeine Ideen können nach Ingarden den Forschungsgegenstand der reinen Erkenntnistheorie ausmachen, z.B. die Idee verschiedener Arten von Erkenntnissubjekten, verschiedener prinzipiell möglicher Erkenntnisobjekte, verschiedener möglicher Erkenntniswerte und Relationen zwischen ihnen. Dabei darf man jedoch keineswegs auf den Gedanken verfallen, dies auf irgendeinen ‚faktischen’ Fall von Erkenntnis bzw. von Erkennen anzuwenden. All diese Antworten erlauben uns, ein System von Erkenntniskategorien aufzustellen und eine Reihe von Grundverhältnissen zwischen ihnen zu bestimmen. Als Endresultat ergibt sich ein System von rein „erkenntnistheoretischen letzten Axiomen“ (vgl. GE II, 593). In 2 (Kap. II) wurde bereits gesagt, dass Ingarden drei Postulate in seiner Kritik an der Erkenntnistheorie aufgestellt hat, nämlich 94
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Wir haben schon gesagt, dass das erkenntnistheoretische Hauptwerk Ingardens „Zur Grundlegung der Erkenntnistheorie“ mehrere Redaktionen erfahren hat. Es fällt auf, dass bereits in der ersten Redaktion eine Reihe von Erkenntniskategorien aufgestellt worden war – allerdings noch in einem engen Verhältnis zu Husserls „Ideen I“. In den späteren Redaktionen stehen ganz deutlich zwei Kategorien im Vordergrund: „Erkenntnisergebnis“ und „Erkenntniswert“. Damit wird Ingardens Unabhängigkeit von Husserl immer deutlicher. Die reine Erkenntnistheorie bedient sich offensichtlich der immanenten und apriorischen Erkenntnis, um die genannten Prinzipien herauszustellen (vgl. FSE, 279, 166). Die auf den letzten Grundprinzipien aufgebaute Epistemologie Ingardens dient manchmal in der philosophischen Reflexion als ein Instrument zur kritischen Prüfung anderer philosophischer Sachverhalte. So vollzieht etwa J. Fizer (vgl. [1995], 121f) die „Dekonstruktion des Subjekts“ im Lichte der Epistemologie Ingardens, d.h. Ingardens Erkenntnistheorie wird in einem Zusammenhang mit der modernen Theorie der Dekonstruktion (ThD) betrachtet. Was die ThD anbelangt, geht es – kurzum - um die Ansichten, dass zur Natur des Menschen gehört, das zu sein, was er nicht ist; dass seine Nicht-authentizität, seine sozial-kulturelle Situation, seine inneren Konflikte (als Faktoren der Instabilität) den Ausdruck seines relativen Charakters, der Mannigfaltigkeit oder der Nichtigkeit seiner Existenz sind. Das Ego, das Subjekt, das psychische Zentrum stellen für die Strukturalisten lediglich das Erzeugnis der geometrischen oder sprachlichen Archäologie dar. 94
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200 ‚Allgemeingültigkeit und Endgültigkeit der Ergebnisse’ wie auch ‚Voraussetzungslosigkeit’. Diese Forderung vertritt er auch in seiner eigenen Konzeption der Erkenntnistheorie. Während das bereits in diesem Abschnitt Ausgeführte ohne Zweifel den Postulaten der ‚Allgemeingültigkeit’ wie auch der ‚Endgültigkeit von Erkenntnisergebnissen’ Rechnung tragen kann, bleibt dagegen die Frage nach dem Postulat der Voraussetzungslosigkeit in der Erkenntnistheorie offen. Sie wird aber von Ingarden gründlich in seinem Aufsatz „Über die Stellung der Erkenntnistheorie im System der Philosophie“ gelöst. Dort heißt es, dass die reine Erkenntnistheorie, was ihre Abhängigkeit bzw. Unabhängigkeit von anderen Wissenschaften anbelangt, diesen gegenüber zumindest ‚gleichgeordnet’ sei. Eine Sonderstellung der reinen Erkenntnistheorie anderen Wissenschaften gegenüber wird allerdings darauf zurückgeführt, dass sie allein von „Dogmatismus“ frei sein kann und muss, d.h. dass sie allein nicht bloß Behauptungen aufstellen kann, sondern auch verpflichtet ist, sowohl deren Objektivität wie auch die der eigenen Erkenntnismittel auszuweisen (vgl. FSE, 308f, 281). Wenn reine Erkenntnistheorie überhaupt möglich sein soll, darf sie keinerlei Behauptungen anderer Wissenschaften als Voraussetzung eigener Forschungen unkritisch annehmen, d.h. sie muss von allen anderen Wissenschaften unabhängig sein. Ingarden erwähnt zuerst die Psychologie. Die reine Erkenntnistheorie kümmert sich um psychologische Analysen deswegen nicht, weil es zum Gehalt der regionalen Idee der Erkenntnis überhaupt nicht gehört, dass die Erkenntnis durch reale psycho-physische Individuen in ihren realen Lebensäußerungen vollzogen werden muss, welche uns Menschen in der inneren Wahrnehmung tatsächlich gegeben sind (vgl. FSE, 290f). Obwohl 96
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Wir erinnern uns: Das geschah im Zusammenhang mit der psychophysiologischen, deskriptiv- und apriorisch-phänomenologischen Erkenntnistheorie. Diese Forderung wird aber heute allgemein als zu streng angesehen, weil sie unser gesamtes Wissen als ‚vermeintliche’ Erkenntnis und somit als bloßen Schein verwirft. Perfektes Wissen über die Welt gibt es nicht (vgl. Vollmer, G. [1987], 88). Gleichordnung bedeutet, dass die Grundbehauptungen der Erkenntnistheorie von den Behauptungen anderer Wissenschaften unabhängig sind und umgekehrt. 96
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201 sich das Forschungsgebiet der reinen Erkenntnistheorie hinsichtlich der Bewusstseinserlebnisse teilweise mit dem der Phänomenologie deckt, ist die erstere von der letzteren ebenfalls ganz unabhängig. Denn die reine Erkenntnistheorie nimmt die Bewusstseinserlebnisse nicht „konkret“, wie das in der allgemeinen Phänomenologie der Fall ist, sondern analysiert die allgemeine Idee vom erkenntnismäßigen Bewusstseinsakt und dessen möglichen Abwandlungen. Die Bewusstseinsakte stellen für die reine Erkenntnistheorie keine Entitäten dar, welche man in ihrer konkreten Fülle und aus bloßem Interesse, was sie in sich sind und wie sie beschaffen sind, zu erkennen und zu beschreiben sucht. Sie treten in ihr vielmehr ausschließlich als ein Element auf, das zum Erreichen von Erkenntnis unentbehrlich ist (vgl. FSE, 295f). Auch von den Naturwissenschaften der realen Außenwelt ist die reine Erkenntnistheorie unabhängig, stellt Ingarden fest. Der Grund dafür ist, dass sich die reine Erkenntnistheorie mit allgemeinen Ideen und mit den zwischen ihnen bestehenden Sachverhalten befasst, und dass die Existenz von Ideen keinesfalls durch die Existenz von mittelbar unter die Ideen fallenden Gegenständen bedingt ist. Da die Metaphysik ihre Forschungsgegenstände – ebenso wie die empirischen Naturwissenschaften (z.B. die Physik) – als ein ‚Sein’ behandelt, d.h. dessen Existenz behauptet und dessen Beschaffenheiten erforscht, wird auch sie von unserem Autor in dem Sinne „verworfen“, dass die reine Erkenntnistheorie ihr gegenüber Autonomie zugesichert bekommt. Denn die reine Erkenntnistheorie untersucht nicht das Sein selbst oder die seienden Gegenstände, sondern die Idee von den seienden Gegenständen, auf die (=Gegenstände) sich der Erkenntnisakt bezieht. 98
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Aufgrund der Tatsache, dass die reine Erkenntnistheorie „gezwungen“ ist, das Gebiet phänomenologischer Untersuchungen des reinen Bewusstseins zu betreten, wird sie von Ingarden auch als „Phänomenologie der Erkenntnisakte“ bezeichnet. Die metaphysischen Urteile sind nach Ingarden entweder existential oder kategorisch, wobei ein Begriff, dessen Gegenstand real ist, oder wenigstens als real vermeint wird, den Subjekt-Terminus ihrer Urteile bildet. Wenn die metaphysische Forschung in einem bestimmten Fall zu der Behauptung führt, dass ein Gegenstand X, dessen Existenz man zunächst annahm, in Wirklichkeit nicht existiert, so bedeutet das nichts anderes, als dass er aus der Region des Seins, die in der Metaphysik nur als ein ‚Sein’ in Betracht kommt, gestrichen wird (vgl. FSE, 161f). 98
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202 Schließlich hebt Ingarden die Souveränität der reinen Erkenntnistheorie gegenüber der Ontologie hervor. Die Ontologie untersucht bekanntlich die Gehalte von zu einer bestimmten Gegenstandsregion gehörenden Ideen samt den Beziehungen, die zwischen den Gehalten von einzelnen Ideen oder zwischen den Elementen des Gehalts einer und derselben Idee bestehen. Während also ein Ontologe fragt, was zum Ideengehalt eines Gegenstandes X gehört und welche Beziehungen sich da aufweisen lassen, interessiert einen Erkenntnistheoretiker hingegen, welche Bedingungen der Erkenntnisakt und dessen Inhalt erfüllen muss, wenn er einen Gegenstand betreffen soll, und wie dieser Gegenstand erkannt werden soll (vgl. FSE, 299f). 100
In dem Kontext könnte man fragen, ob wir es hier bei Ingarden nicht vielleicht mit einem Widerspruch zu tun haben? Einerseits ruft er die reine Erkenntnistheorie (RE) als „Ontologie der Erkenntnis“ (OE) ins Leben, andererseits behauptet er die Unabhängigkeit der RE von OE. Die Sache wird uns etwas einleuchten, wenn wir z.B. die von B. Smith (vgl. [1995], 116f) vorgeschlagene Unterscheidung annehmen. Smith differenziert bei Ingarden zwischen zwei Arten von (Un-)Abhängigkeit: (1) Nicht destruktive Abhängigkeit (NA) – A ist von B abhängig, wenn der Gegenstandsbereich von B oder ein Teil von ihm ein dem Gegenstandsbereich von A eigentlicher Teil ist; (2) Destruktive Abhängigkeit (DA) – Wissenschaft A (WA) ist von Wissenschaft B (WB) abhängig, wenn es Behauptungen von WB gibt, deren Objektivität ausschließlich mit den Mitteln von WB auszuweisen ist, und welche als notwendige Voraussetzungen für WA gelten. Wenn Ingarden also von OE spricht, bedeutet das nach Smith, dass RE von der Ontologie im Sinne von NA abhängig ist, d.h. Gegenstände, welche durch verschiedene Ontologien untersucht werden, gehören zugleich zum Gegenstandsbereich der Epistemologie. DA kommt aber nicht in Frage, weil ein Erkenntnistheoretiker keine ontologischen Urteile annehmen muss. Dennoch muss man klar sagen, dass dieser Schritt nur ein schwaches Argument Ingardens ist. Denn durch diese Ausnahme (Zulassen der ontologischen Idee der Erkenntnis) wird auch der Weg für viele andere ontologische Begriffe eröffnet, z.B. Frage, Problem, Satz, Behauptung usf. Dieser Versuch der Erklärung von Smith wird allerdings auch nicht immer anerkannt. Dagegen tritt etwa G. Haefliger (vgl. [1990], 119) auf, indem er bei Ingarden keine Veränderung des Verhältnisses zwischen der Erkenntnistheorie und Ontologie zulässt. Es geht eher um einen terminologischen Charakter dieser Differenz, d.h. einmal wird die Ontologie (enger) als ‚Wesenslehre der Gegenstände’ verstanden, ein andermal hingegen (weiter) als ‚Wesensanalyse’ überhaupt. 100
203 Die Gehaltsanalyse von den oben genannten epistemologischen Kategorien, von dem strukturellen Aufbau der Erkenntnistheorie wie auch von den drei (obigen) Postulaten erfordert offensichtlich eine klare und evidente Sprache. Die reine Erkenntnistheorie muss daher auch das Problem der Sprache in Erwägung ziehen, so Ingarden, zumal eine Kritik der Erkenntnisergebnisse den Einfluss der Sprache auf deren Gestalt und Wahrheitswert mit berücksichtigen muss. Darum ergibt sich im Rahmen der reinen Erkenntnistheorie die Notwendigkeit, auch den ‚Gehalt der allgemeinen Idee der Sprache und deren Relationen zu allen oben genannten Ideen zu analysieren’. Inwiefern die Beurteilung von rein theoretischen epistemologischen Resultaten für eine Erkenntnistheorie relevant ist, zeigt die Tatsache, dass Ingarden im Rahmen seiner Konzeption ein spezielles Gebiet der Epistemologie errichtet, das an der Grenze zwischen allgemeiner (reiner) Erkenntnistheorie und Metaphysik der Erkenntnis (angewandter Erkenntnistheorie) liegt, nämlich die „Kriteriologie“. 101
b. Kriteriologie In der philosophischen Tradition hat schon immer gegolten, dass Erkenntnistheorie das entweder Wahre oder Falsche von Anbeginn „festzuhalten“ strebe. Ob dies dann näherhin als Urteil, Behauptung, Gedanke, Satz, Theorie oder Erkenntnis zu verstehen sei, blieb eine Frage zweiten Ranges, sofern es sich dabei nur immer um etwas handelt, was
Vgl. Ingarden, R. (1995), 35, 25. Die Rolle der Sprache für das Gestalten der Erkenntnisergebnisse hat Ingarden oft auch in anderen Kontexten hervorgehoben. Hier sei etwa sein Werk „Das literarische Kunstwerk“ herangezogen. In §16 schreibt unser Autor, dass dasselbe Wort (mit derselben Bedeutung) in verschiedenen Fällen auf verschiedene Weise verwendet werden kann, so dass trotz der Identität der Bedeutung doch eine deutliche Wandlung der letzteren feststellbar ist. Als Beispiel: Das Wort „Quadrat“ bedeutet (hat den folgenden materialen Inhalt) (1) ein gleichseitiges, rechtwinkliges Parallelogramm. Wir können aber auch sagen: (2) ein gleichseitiges, rechtwinkliges Paralellogramm mit Seiten von irgendwelcher Länge; oder auch (3) ein gleichseitiges, rechtwinkliges Viereck mit zwei Paaren von parallelen Seiten von irgendwelcher Länge (vgl. LK, 86f). 101
204 entweder wahr oder falsch ist. Platon war einer der ersten, die eine Grundstruktur der Erkenntnis entdeckt haben: Ein jedes Erkenntnisgebilde, sei es etwa nur ein einzelnes grundlegendes Urteil, oder bereits eine umfassende Theorie der Wissenschaft, verbindet in sich doch jeweils zumindest folgende beide Wesensmerkmale: „Etwas über etwas“ oder „etwas von etwas“ auszusagen. Auch Ingarden ist immer bestrebt, wie wir mittlerweile sehen, seine Erkenntnistheorie hinsichtlich ihrer Struktur möglichst genau herauszuarbeiten. Das ist für ihn übrigens auch deswegen wichtig, um zu „definitiven“ Erkenntnisergebnissen zu gelangen. Der Weg dazu führt aber unter anderem über die „Verwirklichung des Auszusagenden“, über das Hervorheben des Erkenntniswertes. Dazu sind gewisse Kriterien nötig. Wie kommt unser Autor dazu? Er ruft eine erkenntnistheoretische Disziplin ins Leben, nämlich die ‚Kriteriologie’. Diese stellt somit das zweite Element der Konzeption der Ingardenschen Erkenntnistheorie dar. Ingarden schreibt ihr eine Mittelstelle zwischen der Ontologie der Erkenntnis und der Metaphysik der Erkenntnis zu. Im Vergleich zu der reinen Erkenntnistheorie, die rein ontologischen Charakter hat, ist die Kriteriologie gewissermaßen durch ein unverkennbares Gewicht von Faktizität belastet. Auf der Grundlage der Ergebnisse der reinen Erkenntnistheorie, die die allgemeinen Erkenntniskategorien liefert, setzt die Kriteriologie mit ihrem Versuch an, ein ‚System von Erkenntniskriterien’ aufzustellen. Das sind also Sätze, welche die Bedingungen festlegen, die z.B. das Erkenntniserlebnis E und seine Erkenntnisbeziehung B (zum Gegenstand 102
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Vgl. Prauss, G. (1980), 6. Vgl. Platon, Kratylos 385b f.; auch Sophistes 262b f. Dazu vgl. auch Prauss, G. (1966). Zum Problem des Erkenntniswertes vgl. 4 (Kap. II) der vorliegenden Arbeit. Ingardens These über die Relevanz der Kriterien für eine Erkenntnistheorie wird heutzutage auch bestätigt. Zu nennen wäre etwa F. v. Kutschera (vgl. [1982], 9f), der deutlich betont, dass es in der Erkenntnistheorie weniger um Akte des Erkennens als um Kriterien für die Unterscheidung von Erkenntnissen von bloßen Annahmen oder Überzeugungen (also von Wissen und Glauben) geht. Vgl. Galewicz, W. (1996), XXVIII. 102 103
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205 einer bestimmten Art K) zu erfüllen haben, damit das durch den Vollzug von E gewonnene Erkenntnisresultat R einen bestimmten Wert besitzt (vgl. GE II, 593). Nach dieser Formel wird offensichtlich eine ganze Reihe von erkenntnistheoretischen Kriterien zugelassen, je nachdem, ob es sich dabei um die Bedingungen für dieses oder jenes Element der Erkenntnissituation handelt, z.B. um das Erkenntnissubjekt oder um den Erkenntnisprozess, und ob von diesen Bedingungen dieser oder jener Erkenntniswert des Erkenntnisresultates abhängig sein soll. Die Kriteriologie zielt nach Ingarden darauf ab, neben der Aufstellung von Kriterien diese auf die Tatsachen anzuwenden und deren Beurteilung durchzuführen. Unser Autor differenziert zwischen ‚allgemeiner’ und ‚spezieller Kriteriologie’. Während die aufgrund der Analyse allgemeinster Erkenntnisideen gewonnenen Kriterien der allgemeinen Kriteriologie den Charakter ‚formaler’ Entscheidungen haben, kann die spezielle Kriteriologie dagegen auch ‚materiale Kriterien’ konstruieren, welche sich in den Fällen anwenden lassen, in denen gewisse spezielle Voraussetzungen erfüllt sind. Die materialen Kriterien berücksichtigen die Typen des Inhalts von Erkenntnisresultaten oder die Typen der Erkenntnisgegenstände. Es sind die Kriterien, die auch für die Erkenntnisse von physischen Gegenständen gelten (vgl. GE II, 594f). Aufgrund dieses Kriteriensystems ist es weiterhin denkbar, ein System der ‚Erkenntnisnormen aufzubauen’, deren Befolgen bei einer konkreten „Erkenntnisarbeit“ geboten wäre (vgl. GE II, 593). Dies geschieht vor allen Dingen im Rahmen der Metaphysik der Erkenntnis. c. Metaphysik der Erkenntnis Das dritte Glied der Ingardenschen Konzeption der Erkenntnistheorie bildet – neben der reinen Erkenntnistheorie und der Kriteriologie – die ‚angewandte Erkenntnistheorie’, oder mit anderen Worten: Die ‚Metaphysik der Erkenntnis’. Streng genommen spricht Ingarden auch im Plural, d.h. von verschiedenen ‚angewandten Erkenntnistheorien’, obwohl von ihm deutlich nur die Theorie der menschlichen Erkenntnis schlechthin genannt wird, deren Struktur folgende Elemente umfasst: Erkenntnissubjekt, Bedingungen, unter denen sich Erkenntnis abspielt und
206 Gegenstände, auf welche sich menschliche Erkenntnis bezieht (vgl. GE II, 595). Wir beginnen mit der Frage, wie sich diese drei Glieder des epistemologischen Konzepts zueinander verhalten. Während die reine Erkenntnistheorie mitsamt der Kriteriologie – wie wir dies oben gesehen haben – uns ein System von letzten Prinzipien liefert, wenden die angewandten Erkenntnislehren hingegen diese Prinzipien auf besondere, faktisch vorgefundene Fälle an (vgl. GE II, 607). Bei der Herausstellung dieser letzten Prinzipien muss sich die reine Erkenntnistheorie bekanntlich einer absolut unbezweifelbaren und adäquaten Erkenntnisweise bedienen, somit der immanenten und apriorischen Erkenntnis. Die angewandten Erkenntnislehren sind dagegen Disziplinen, welche ihr Forschungsmaterial auch in der Erfahrungswelt vorfinden, auf dem empirischen Wege erfassen und folglich selbst bis zu einem hohen Grade empirisch sind. Darüber hinaus muss die reine Erkenntnistheorie letzte, unbezweifelbare und durch neue Forschungsresultate keineswegs zu verändernde Antworten liefern; die Antworten von angewandten Erkenntnislehren dagegen sind – wegen einer Beimischung des empirischen Faktors – immer nur vorläufig und an die bisherigen Erfahrungen angepasst (vgl. FSE, 279f). Hinsichtlich der Struktur der zu erfüllenden Aufgaben umfasst die angewandte Erkenntnistheorie zwei Typen von Fragen: Einerseits soll sie analysieren, wie beschaffen die ‚Erkenntnisergebnisse und die zu ihnen führenden Erkenntnisoperationen’ sind. Wir können das als „Untersuchungsphase“ der angewandten Erkenntnistheorie bezeichnen. Andererseits soll sie herausfinden, welchen ‚Erkenntniswert’ diese Erkenntnisergebnisse bzw. Erkenntnisoperationen besitzen; in diesem 106
Die Antworten von angewandten Erkenntnislehren besitzen also denjenigen Erkenntniswert, den die psychischen Individuen, die die betreffende Erkenntnislehre betreiben, bei ihrer faktischen psycho-physischen Organisation erreichen können. Das Verhältnis zwischen der reinen Erkenntnistheorie (E) und der angewandten E könnte man nach einigen Autoren gewissermaßen mit dem Verhältnis zwischen der reinen und angewandten Mathematik vergleichen (vgl. etwa Smith, B. [1995], 116). 106
207 zweiten Fall wird die angewandte Erkenntnistheorie ‚Erkenntniskritik’ genannt, die wir auch als „Kritik-Phase“ bezeichnen können. Im Hinblick auf die Untersuchungsphase gilt es vor allen Dingen zu betonen, dass es sich in der angewandten Erkenntnistheorie sowohl um einen Einzelfall als auch um eine ganze Reihe von Fällen handeln kann, d.h. um eine Art von Tatsachen, genauer um die Feststellung der Existenz von Individuen. In erster Linie kommt es jedoch nicht auf die Faktizität der wirklichen Welt eines lebenden psychophysischen Subjekts an, sondern auf die Faktizität einer besonderen Art des ‚reinen Subjekts und die Faktizität der diesem Subjekt erscheinenden Phänomene.’ Hierbei geht es vor allem darum, ‚Wesenserkenntnisse’ der in Betracht kommenden Elemente zu erzielen, nämlich der Erkenntnisoperationen und Erkenntnisergebnisse. Dies kann aber in einer Erkenntnistheorie vollzogen werden, welche die Wesen von Erkenntniserlebnissen und deren Korrelate untersucht (vgl. GE II, 595). Die Erkenntnisoperationen und – ergebnisse bilden ein Seiendes einer ganz bestimmten Art und müssen deswegen in der Metaphysik der Erkenntnis (in der angewandten Erkenntnistheorie) auch im Hinblick auf ihre ‚Tatsächlichkeit’ erfasst werden. Alles sonstige tatsächliche Sein bleibt 107
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Vgl. Galewicz, W. (1996), XXIXf. Die Begriffe „Untersuchungsphase“ und „KritikPhase“ werden vom Verfasser der vorliegenden Abhandlung eingeführt, um das behandelte Problem deutlicher zu erläutern. Dazu vgl. auch etwa Küng, G. (1975). Küng interpretiert Ingardens Erkenntniskritik, indem er drei Stufen unterscheidet: (1) Erfassung des Wertes der Intuition des Durchlebens (ID) (vgl. dazu 3 [Kap. III] der vorliegenden Abhandlung) und der immanenten Wahrnehmung (IW); (2) Bestimmung des Wertes der äußeren Wahrnehmung (ÄW) aufgrund von ID und IW; (3) Kritische Bewertung der Erkenntnis des in der Welt auftretenden Lebewesens „Mensch“ aufgrund von IW und ÄW (vgl. 165). Hier ist also Ingardens Abhängigkeit von Husserl deutlich spürbar, vor allem von dessen ‚transzendentaler Reduktion’. Ingarden hat irgendwie Angst, die rein ontologische Ebene (auch auf der Ebene der angewandten Erkenntnistheorie) gänzlich zu verlassen. Hier ist also das gemeint, was z.B. von der Ontologie oder Naturphilosophie zu untersuchen ist. Nur die Erkenntnistheorie hat zu fragen, ob X wahr oder falsch sei. Das werden wir in 4 (Kap. II) genau behandeln. Bereits Leibniz (vgl. [1966], 15f) hat ganz deutlich unterschieden, als er von Erkenntnisgebilden nicht nur als von bloßen 107
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208 außerhalb der Reichweite der (angewandten) Erkenntnistheorie (vgl. SEW I, 56). Erst in zweiter Linie ist also nach Ingarden die angewandte Erkenntnistheorie in dem für sie festgelegten Rahmen (d.h. ihren Gegenstand bilden nur Erkenntnisoperationen und – ergebnisse) auf ‚empirische Untersuchungen’ – im üblichen Sinne des Wortes – „angewiesen“; die Folge davon ist, dass wir es mit Resultaten von einem nicht sehr hohen Erkenntniswert zu tun haben. Die Beurteilung des Erkenntniswertes dieser Resultate gehört zu den Aufgaben der angewandten Erkenntnistheorie als Erkenntniskritik (vgl. GE II, 596). Die Voraussetzung dieser Beurteilung bildet die (oben genannte) objektiv gültige ‚Wesenserfassung von tatsächlich vollzogenen Erkenntnisoperationen und deren Ergebnissen’, auf welche erst die (in der reinen Erkenntnistheorie und Kriteriologie) herausgestellten Kriterien angewendet werden sollen (vgl. SEW I, 54). Diese Beurteilung wird nach unserem Autor geradeso vollzogen, dass sie ‚definitiv’ und ‚allgemein’ ist (vgl. GE II, 596). Hier beginnt aber Ingardens epistemologischer Weg etwas zu schwanken. Denn die Frage ist: 110
Sinngebilden sprach, sondern auch von Geltungsgebilden, die entweder wahr oder falsch sind. Man muss bei Ingarden zwischen Beurteilung und Begründung unterscheiden. Anhand der epistemologischen Beurteilung einer Wissenschaft werden die Urteile noch nicht begründet. Es wird bloß gezeigt, ob der Wahrheitsanspruch, den diese Urteile erheben, ‚gerechtfertigt ist oder nicht’ (vgl. FSE, 308). Wie ist aber das zu verstehen? Sind die Erkenntnisergebnisse (in der Erkenntniskritik) nicht hinsichtlich ihrer Objektivität, sondern allein hinsichtlich ihres Gerechtfertigtseins zu bewerten? Diese Vermutung ist offensichtlich falsch. Denn für Ingarden ist ein Urteil wahr oder falsch – unabhängig davon, ob wir davon eine Erkenntnis haben oder nicht. Es besteht zwischen den Urteilen „S ist p“ und „Es ist wahr, dass S p ist“ in keiner Richtung ein Begründungszusammenhang, sondern – vorausgesetzt, dass diese beiden Urteile wahr sind – ein Wahrheitszusammenhang. Den eigentlichen Grund, warum die Erkenntnistheorie nicht fähig ist, den nicht-epistemologischen Disziplinen gegenüber eine Begründungsrolle zu erfüllen, liegt nach unserem Autor nicht darin, dass sie nicht imstande wäre, zu einem Urteil über die Wahrheit (sondern lediglich über dessen Gerechtfertigtsein) eines nicht-epistemologischen Satzes zu kommen, sondern vielmehr darin, dass zwischen dem Urteil über die Wahrheit des Satzes und dem Satz selbst ‚kein Begründungszusammenhang’ bestehe (vgl. Galewicz. W. [1996], XXXII). 110
209 Wie verhält sich die Definitivität der Beurteilung des Erkenntniswertes von (in der Erkenntniskritik erzielten) Resultaten zu deren Beeinflussung durch empirische Faktoren? Kann man eine Beurteilung als definitiv bezeichnen, wenn sie durch empirische Elemente geprägt ist? Anders formuliert: Ist die angewandte Erkenntnistheorie eine empirische Wissenschaft? Ingarden versucht m.E. einen „Rettungsweg“ einzuschlagen, indem er ein „metaphysiches Argument“ in einer besonderen Form geschickt ins Spiel bringt. Demnach bleibt für ihn die philosophische Erkenntniskritik, selbst wenn sie sich auch mit tatsächlicher Erkenntnis befasst, trotzdem eine ‚philosophische’ Disziplin, d.h. eine solche, die in das ‚Wesen’ ihrer Forschungsgegenstände einzudringen hat. Denn unser Autor überlässt den „Tatsachenwissenschaften“ nicht alles Tatsächliche, wie das bei Husserl in den „Ideen I“ der Fall ist. Vielmehr postuliert er spezielle ‚metaphysische und von der angewandten Erkenntnistheorie durchzuführende Untersuchungen’, welche sich insofern auf Tatsachen beziehen sollen, als sie das ‚tatsächliche Wesen’ aufzudecken haben. Allerdings bleibt es aber unklar, wie wir mit unseren menschlichen Erkenntnismitteln zu einer solchen metaphysischen Erkenntnistheorie vorstoßen können (vgl. GE II, 597). Nichtsdestoweniger besteht Ingarden eindeutig darauf, dass die angewandte Erkenntnistheorie als philosophische und sich um eine ‚universelle Kritik an der Objektivität von Erkenntnis’ bemühende Disziplin zugleich beauftragt ist, einzelwissenschaftliche (empirische, faktisch vorgefundene) Erkenntnisergebnisse auszuweisen. Das ist also der Moment, wo in der Ingardenschen Epistemologie die ‚empirische 111
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Vgl. Galewicz, W. (1996), XXX. Es ließen sich wohl in dem Kontext gemeinsame Züge zwischen Ingarden und Simmel feststellen. Bei den beiden Denkern vollzieht sich ein Übergang zum Metaphysischen. Zur Position von G. Simmel vgl. etwa Heinrich A. (2002). Zum Problem der Metaphysik in der Erkenntnistheorie vgl. Popper, K. (1994), vor allem Band II (Erfahrung und Metaphysik). Die Brennpunkte dieser ganzen Abhandlung, die auch zur Erhellung einiger Thesen bei Ingarden verhelfen, stellen Induktions- und Abgrenzungsprobleme dar. 111 112
210 Wissenschaft’ – insbesondere als ‚deskriptive Phänomenologie – doch ihren richtigen Standort zugewiesen bekommt. Ginge das freilich in Erfüllung, ergäbe sich ein weiteres und noch schwierigeres Problem. Da stünde nämlich die Frage nach der Autonomie der Erkenntnistheorie von den anderen Wissenschaften erneut zur Debatte. In 3§2a (Kap. II) wurde bereits gesagt, dass das Prinzip der Unabhängigkeit der Erkenntnistheorie von den anderen (auch empirischen) Wissenschaften in Bezug auf die reine Erkenntnistheorie ohne weiteres gelten kann. Wie steht es aber mit der angewandten Erkenntnistheorie? Darf sie sich der den empirischen Einzelwissenschaften eigenen Erkenntnismittel bedienen, um deren Erkenntnisergebnisse nachzuprüfen? Falls sie dies täte, dann könnte man nicht mehr von ihrer völligen Unabhängigkeit von den Einzelwissenschften reden. Nun ist festzuhalten, dass die Ergebnisse der angewandten Erkenntnistheorie keinesfalls eine völlige Sicherheit gewährleisten können. Kann vielleicht die Einführung der transzendentalen Methode diese Lage verändern? 113
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§3. Leistung der transzendentalen Methode in Ingardens Epistemologie. Der transzendentale Idealismus Aus dem bis jetzt Ausgeführten bezüglich der Konzeption der Ingardenschen Erkenntnistheorie ergibt sich, dass die Erkenntnistheorie in einem Teil ihrer Betrachtungen ontologisch (die reine Erkenntnistheorie Vgl. den nächsten Abschnitt. Dabei bleiben die reine Erkenntnistheorie und Kriteriologie als logisch-begriffliche und vollkommen reine Analysen offensichtlich unangetastet. Dadurch lässt Ingarden auch das Husserlsche Ideal der „strengen Wissenschaft“ völlig fallen. Nach Galewicz könnte man dieses Dilemma etwa folgendermaßen lösen: Entweder nimmt man an, dass die angewandte Erkenntnistheorie (als Erkenntniskritik) keine Resultate der geprüften Einzelwissenschaften betreffe, sondern nur deren Methoden (z.B. Erfahrungsarten, Folgerungsweisen), mit welchen diese Resultate erarbeitet werden, weil die Einzelwissenschaften selbst (in dem Sinne) an sich positive Kritik üben, oder das Postulat der Autonomie der Epistemologie ist insofern herunterzuspielen, als es ausschließlich für die reine Erkenntnistheorie gilt (vgl. ders. [1996], XXXIII). 113
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211 und Kriteriologie), in einem anderen aber metaphysisch (die angewandte Erkenntnistheorie) ist. Das entspringt dem Charakter ihrer Probleme und ihrer Aufgaben (vgl. SEW I, 54). Was interessiert uns also in der Erkenntnistheorie überhaupt? Wenn wir die Erkenntnis eines Gegenstandes untersuchen, so interessiert es uns grundsätzlich nicht, sagt Ingarden, ob dieser Gegenstand real existiert, ob er „objektiv“ so oder so beschaffen ist, oder nicht. Der Gegenstand fällt in den Bereich epistemologischer Probleme keineswegs als ‚Sein’ (Realität). Wenn wir fragen, ob eine Erkenntnis X von einem Gegenstand Y wahrhaft eine Erkenntnis ist oder nur ein Schein, so wollen wir die Frage entscheiden, ob der ‚Inhalt der Erkenntnis X mit dem Sinn des Gegenstandes Y’ (wie wir ihn als Y wahrnehmen) identisch ist oder nicht. Das heißt: Es kommt nicht der Gegenstand „an sich“ mit seinem Dasein in Betracht, sondern der ‚Sinn’ eines als „an sich“ seienden (und dem Erkenntnissubjekt bewussten) Gegenstandes wie auch der ‚Modus’, in dem dieser Sinn zur Gegebenheit kommt und das leibhafte Dasein erhält (vgl. FSE, 162). Die Grundlagen für den Vollzug des Aktes der Erkenntnis X vom Gegenstand Y werden uns durch die reine Erkenntnistheorie und Kriteriologie geliefert. Dazu werden also grundlegende Erkenntnisideen, Erkenntniskategorien und Erkenntniskriterien erarbeitet (vgl. 3§2a und b [Kap. II]). Zu komplizieren beginnt sich aber die Sache erst im Hinblick auf das Prinzip der Tatsächlichkeit der Erkenntnis X, das im epistemologischen Konzept Ingardens ebenfalls zugelassen wird und – genauer gesagt – im Rahmen der auch durch das empirische Element belasteten angewandten Erkenntnistheorie einzulösen ist. Mit anderen Worten: Die angewandte Erkenntnistheorie hat nicht nur in das Wesen der Forschungsgegenstände einzudringen, sondern sie wendet auch die in der reinen Erkenntnistheorie und Kriteriologie erarbeiteten Kategorien auf die ‚faktisch vorgefundenen Fälle der Erfahrungswelt’ an, was offensichtlich zur Folge haben muss, dass die von ihr erbrachten Ergebnisse durch einen hohen ‚empirischen’ Erkenntniswert gekennzeichnet sind. Dessen ungeachtet erhofft sich Ingarden eine deutliche Verbesserung dieser durch Unsicherheit geprägten Lage dank einem speziellen methodischen Verfahren, das in sich deutliche phänomenologische
212 Akzente birgt, und das man mit dem „Begriff der transzendentalen Methode“ zusammenfassen kann (vgl. GE II, 602). Um die transzendentale Methode besser in den Griff zu bekommen, werden wir sie in einem weiteren epistemischen Kontext darzustellen versuchen, d.h. als einen ‚weiteren’ Begriff. Demnach sind bei Ingarden zwei Phasen dieser Methode zu unterscheiden: (1) die existenzialkategorische und (2) die transzendental-phänomenologische Methode. In der ersten Phase wird entschieden, dass nur ‚existentiale und kategorische’ Urteile (im Rahmen der Metaphysik der Erkenntnis) zulässig sind (vgl. SEW I, 55). Es handelt sich aber ausschließlich um die ideale (eventuell bloß mögliche, aber nicht reale) Existenz nur derjenigen Erkenntnisidee, die eine Reihe von Ideen wie „Erkenntnissubjekt“, „Erkenntnisprozess“, „Erkenntnisergebnis“ u.ä. involviert. Denn die Erkenntnistheorie interessiert sich vor allem für die Korrelativität zwischen dem Aufbau des Erkenntnisaktes und der Struktur und Beschaffenheit von unter bestimmte Ideen fallenden Gegenständen. Sie fragt daher, wie ein Bewusstseinsakt und sein Inhalt gebaut werden müssen, wenn z.B. die Erkenntnis eines realen Gegenstandes realisiert werden soll, wobei der reale Gegenstand den ‚Gehalt einer bestimmten Idee’ besagt, deren Existenz die Erkenntnistheorie keinesfalls ohne weiteres voraussetzen muss. Die Erkenntnistheorie braucht also ‚keine bedingungslose Feststellung der Existenz von betreffenden Ideen – offenkundig, wie bereits oben angedeutet, die Idee der Erkenntnis’ ausgenommen (vgl. FSE, 304). In der zweiten Phase haben wir es mit der transzendentalphänomenologischen Methode zu tun, die eben wieder aus zwei Schritten 115
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Der Versuch, die transzendentale Methode bei Ingarden als einen weiteren und engeren Begriff zu denken, kommt vom Verfasser der vorliegenden Abhandlung. Wenn in der gegenwärtigen Ingarden-Forschung von transzendentaler Methode gesprochen wird, entspricht das meist nur dem, was hier als der engere Bergiff verstanden wird und der „transzendental-phänomenologischen Phase“ gleichkommt. Die hier vorkommenden Urteilsbegriffe werden wie folgt verstanden: (1) Existentiale Urteile – sagen unmittelbar etwas über die Existenz eines Gegenstands aus; (2) Kategorische Urteile – sagen unmittelbar etwas über einen Gegenstand aus, nicht bloß über die Verbindungen von Aussagen.
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213 besteht: phänomenologischer Reduktion und Konstitutionsanalyse. Beide Schritte sind in der Erkenntnistheorie Ingardens notwendig, um das Wesen von den zu untersuchenden Gegenständen genau zu erforschen. Sie bilden auch die letzte Grundlage, auf die sich alle Forschungen der angewandten Erkenntnistheorie zu stützen haben (vgl. GE II, 604). Hiermit erweist sich Ingarden erneut als ein Husserlianer, indem er behauptet, dass eine einwandfreie Erkenntnistheorie mit Hilfe der phänomenologischen Reduktion aufzubauen sei (vgl. SPhH, 317). Das Erfordernis der phänomenologischen Reduktion in der Erkenntnistheorie Ingardens führt vor allem auf das Postulat der Voraussetzungslosigkeit epistemologischer Analysen zurück, das wiederum dem Anspruch der Erkenntnistheorie auf universelle (objektive) Kritik entspringt. Das heißt, die in der immanenten Wahrnehmung fundierte Erkenntnistheorie müsse sich in Bezug auf die Objektivität aller transzendenten Erkenntnisse des Urteils enthalten, um den Fehler einer „petitio principii“ zu vermeiden. Darin besteht für Ingarden eben die phänomenologische Reduktion. Das zweite Element (bzw. der zweite Schritt) der transzendentalphänomenologischen Methode, die Ingarden in seiner Erkenntnistheorie verwendet, ist eine Art „Konstitutionsanalyse“. Sie setzt offensichtlich die phänomenologische Reduktion voraus und stellt – sozusagen – quasi deren „Fortsetzung“ dar. Die Konstitutionsanalyse wird von unserem Autor als „Rekonstitution des Gegenstandssinnes“ bezeichnet. Es kommt nämlich darauf an, dass wir den Sinn eines Objekts, das in einer Anzahl von Erkenntnisakten konstituiert wurde, im ‚Rückgriff auf die ursprüngliche Erfahrung und unter genauer Ausschaltung aller Vorurteile’ gleichsam zu rekonstituieren versuchen. Vom jeweiligen Ergebnis des Rekonstitutionsprozesses hängt es ab, ob der zu rekonstituierende Gegenstandssinn als gültig oder ungültig erklärt werden kann (vgl. GE II, 603f). 117
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Dazu vgl. SPhH, 237f, 320f; auch 2§4 und 2§5 (Kap. I). Die auch von Ingarden in Anspruch genommene transzendentale Methode ist eindeutig eine Husserlsche Methode. Sie unterscheidet sich von vielen anderen transzendentalen Methoden, z.B. von der transzendentalen Methode, welche innerhalb der Erkenntnistheorie als einer allgemeinen Methodenlehre der empirischen Wissenschaft ihre Geltung findet und ihre Aufgabe darin sieht, das tatsächliche 117 118
214 Freilich ist auch nicht zu übersehen, dass zwischen Ingarden und Husserl gewisse Unterschiede bestehen – etwa im Hinblick auf das Anwendungsfeld der phänomenologischen Reduktion und das Verständnis der Rekonstitution des Gegenstandssinnes. Während Ingarden die phänomenologische Reduktion für seine epistemologischen Zwecke (im weiteren Sinne) verwendbar machen will, ist sie von Husserl entworfen worden, um das reine Bewusstsein als besonderes Gebiet des individuellen Seins zu erforschen. Was die Rekonstitution des Gegenstandssinnes anbelangt, hat Husserl nach Ingarden vor allem das ‚graduelle Sich-Bilden des Gegenstandssinnes’ nicht genügend hervorgehoben (vgl. 2§5 [Kap. I]). Indes ist für unseren Autor der Sinn eines Gegenstandes keinesfalls etwas sofort Vorgefundenes, Fertiges, sondern vielmehr etwas, was sich im Laufe der Entwicklung einer Mannigfaltigkeit von Akten der ursprünglichen Erfahrung konstituiert (d.h. aufbaut), welche nicht zufällig aufeinander folgen, sondern deren anschaulicher und unanschaulicher Inhalt die Stelle des jeweiligen Aktes in der ganzen Reihe von Akten bestimmt, die durch diesen sich bildenden Gegenstandssinn verbunden sind (vgl. GE II, 603). Im Hinblick darauf könnte man m.E. auch über eine ‚Überwindung des transzendental-idealistischen Husserlschen Standpunkts durch Ingarden’ sprechen. Obwohl unser Autor durchaus dafür plädiert, die transzendentalphänomenologische Methode in der angewandten Erkenntnistheorie sowohl zwecks der Ermittlung der faktischen Sachlage als auch zwecks der Festlegung der Gehalte von konstituierten Gegenstandssinnen anzuwenden, warnt er jedoch vor der damit verbundenen Gefahr, nämlich vor einer zu weiten Auffassung dieser Methode wie auch vor einer „metaphysischen Entscheidung“, d.h. dem ‚transzendentalen Idealismus’. Dieser Gefahr ist nach Ingarden eben Husserl erlegen. 119
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methodische Verfahren in befriedigender Weise darzustellen. Diese zweite transzendentale Methode ist ein „Analogon“ zur empirischen Methode (vgl. Popper, K. [1994], 423f), deren Geeignetheit sich wohl aufgrund der Zulassung des Empirischen in der angewandten Erkenntnistheorie Ingardens für diese nicht ausschließen lässt. Vgl. Ingarden, R. (1963), 589. Auch vgl. EPhH, 241f, 198f. Zur Problematik der phänomenologischen Reduktion vgl. 2§2b (Kap. I). Dazu vgl. vor allem 2§3b (Kap. I). Vgl. auch EPhH, 261f. 119
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Die Vertreter des transzendentalen Idealismus (wie Husserl) behaupten indes, sagt Ingarden, dass es sinnlos sei, so wie er (d.h. Ingarden) vorzugehen, d.h. zwischen den Problemen der deskriptiven Erkenntnistheorie, der Erkenntniskritik, der reinen Erkenntnistheorie, der Kriteriologie wie auch der angewandten Erkenntnistheorie und –kritik zu differenzieren, weil all diese Probleme letzten Endes auf das Problem der transzendentalen Rekonstitution des Sinnes des Erkenntnisgegenstandes zurückgehen. Die Rekonstitution des Sinnes eines Gegenstandes ist aber nach ihnen etwas anderes als das Nachweisen der Rechtmäßigkeit (oder Unrechtmäßigkeit) des zu rekonstituierenden Sinnes – aufgrund eines Rückgriffs auf die ursprüngliche Erfahrung (vgl. SPhH, 285f). Diese transzendental-idealistische Argumentation ist aber der Ansicht Ingardens nach falsch. Unser Autor gibt einerseits zu, dass das letzte (theoretischpraktische) Ziel der Erkenntnistheorie darin bestehe, eine ‚Beurteilung von tatsächlich vorkommenden Erkenntnisvorgängen und –ergebnissen’ durchzuführen, so wie dies auch etwa Husserl will, andererseits ist Ingarden aber nicht bereit, die Aufgabe der Erkenntnistheorie darauf zu beschränken. Falls wir dies aber trotzdem täten, würde unser rein theoretisches Interesse nicht befriedigt werden können; d.h. einerseits gewännen wir keine allgemeinen Erkenntniskategorien, welche für die transzendental-phänomenologische Methode als Richtschnur notwendig sind, andererseits bekämen wir keine Ergebnisse in Bezug auf allgemeine Erkenntnisideen (vgl. GE II, 607f). Darüber hinaus behauptet Ingarden, dass die transzendentalphänomenologische Methode selbst keinesfalls vom Gebrauch epistemologischer Kriterien frei sei. Im Gegenteil setzt die in der transzendentalen Reflexion als Ausgangspunkt geltende Gegenüberstellung von ursprünglicher Erfahrung und Meinungen des Subjekts die ‚Notwendigkeit eines erkenntnistheoretischen Kriteriums’ voraus. Das heißt, es wird vorausgesetzt, dass die ursprüngliche Erfahrung eines Gegenstandes grundsätzlich einen höheren Wert hat als alles unanschauliche Vermeinen von etwas. Dieses Kriterium kann im Rahmen der transzendentalen Methode, so wie sie die Befürworter der transzendental-idealistischen Richtung mit Husserl an der Spitze verstehen,
216 nicht gewonnen werden (vgl. SPhH, 314f). Es kann aber in einer Kriteriologie erzielt werden. Das setzt allerdings voraus, dass die epistemologischen Analysen mit Hilfe einer ‚streng differenzierten Erkenntnistheorie’ durchgeführt werden, d.h. nach dem Ingardenschen Modell: reine Erkenntnistheorie, Kriteriologie und angewandte Erkenntnistheorie. Abschließend ist festzustellen, dass sich Ingarden auf ein „gefährliches Spiel“ einlässt. Einerseits bewegt er sich selbst an der Grenze zum transzendentalen Idealismus, indem er die transzendentalphänomenologische Methode in seiner Erkenntnistheorie gebraucht; eine nur wenig plausible Rechtfertigung kann ihm lediglich die angewandte Erkenntnistheorie mit ihrem empirischen Element abgeben. Andererseits tritt er entschieden gegen die transzendental-idealistische Position auf. Das gibt uns einen ausreichenden Grund sowohl zu einer Konfrontation mit der philosophischen Tradition als auch zu einem kritischen Vorgehen. 121
§4. Ingarden im Kontext der philosophioschen Tradition. Kritik an Ingarden Eine der Krankheiten des Verstandes, die eine richtig verstandene Philosophie heilen soll, so Wittgenstein, ist das „Streben nach Allgemeinheit“. Dafür ist insbesondere „unsere Voreingenommenheit für die naturwissenschaftliche Methode“ verantwortlich, d.h. die Methode, die Naturerscheinungen auf eine möglichst kleine Zahl von Gesetzen zurückzuführen. Diese Behauptung Wittgensteins müsste Ingarden wohl beunruhigen, wenn er dem Allgemeinheitsprinzip in seiner Erkenntnistheorie „huldigt“. Bei Quine finden wir auch eine Stelle, wo die Relation zwischen Erkenntnistheorie und empirischen Wissenschaften diskutiert wird. Der Hauptgedanke läuft darauf hinaus, klar zu machen, dass wenn wir darauf verzichten, die Wissenschaft aus Beobachtungen zu deduzieren oder aus 122
Sie wollen also die Aufteilung der Erkenntnistheorie im Sinne Ingardens nicht anerkennen (vgl. oben). Vgl. Wittgenstein, L., BIB, 37, 39.
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217 Sinnesdaten-Begriffen zu rekonstituieren, d.h. die „Trägfähigkeit der Grundlagen der empirischen Wissenschaften“ nachzuweisen, und wenn wir dabei einfach die „Verbindung zwischen Beobachtung und Wissenschaft“ erfassen wollen, dann können wir die Erkenntnistheorie wie die empirischen Psychologen betreiben und werden uns in ‚keinen fundamentalen Zirkel’ verwickeln, weil dann die Erkenntnistheorie in den empirischen Wissenschaften und die empirischen Wissenschaften in der Erkenntnistheorie enthalten sind. So verlangen wir nicht mehr, dass das erkenntnistheoretische Verständnis der Wissenschaft „richtiger“ ist als sein Gegenstand, die Wissenschaft. Auch hier erblicken wir eine klare Gegenposition zu der eben den „circulus vitiosus“ bzw. die „petitio principii“ befürchtenden epistemologischen These Ingardens, die sich aus dem bisher Ausgeführten ergibt. Bevor wir uns auf das kritische Element ausführlicher konzentrieren, wollen wir den Hintergrund des Ingardenschen Ansatzes etwas erläutern. Es muss zweifellos mit dem Blick auf die erkenntnistheoretische Tradition in der Philosophie schlechthin und nicht zuletzt auf die Akzentuierung der „Idee der strengen Wissenschaft“ geschehen. 123
a. Idee der „strengen Wissenschaft“ Ingardens Erkenntnistheorie hat bereits von ihrem strukturellen Entwurf her den Charakter einer strengen Wissenschaft. Stark geprägt durch ontologische Impulse will sie auch Prinzipien erarbeiten, welche ihrem anspruchsvollen Ziel eine sichere Grundlage liefern sollen. Mit anderen Worten: Auch Ingarden, obwohl er sich selbst dazu nicht ganz deutlich bekennt, geht es m.E. um ein erkenntnistheoretisches Projekt, das nicht nur mit platonischen Begriffen arbeitet, sondern auch gewissermaßen auf das Konzept zurückgeht, das von Descartes und Locke ins Leben gerufen worden ist, und das schließlich darauf abzielt, die Funktionsweise unseres Erkenntnisvermögens ‚streng wissenschaftlich’ zu analysieren, um Vgl. Quine, W.V.O. (2003b), 98f. Der gewichtige Vorteil einer solchen Deutung ist sicherlich, dass die Erkenntnistheorie als ein ‚Bestandteil der Gesamttheorie der Natur’ aufgefasst wird (vgl. Rutte, H. [1987], 168).
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218 Sicherheit darüber zu erlangen, was als unzweifelhafte Erkenntnis gelten kann und was nicht. Bei der Erwägung des epistemologischen Ansatzes Ingardens und im Rückblick auf die abendländische Tradition fällt als erstes die begriffliche Kohärenz in Bezug auf die „Idee“ auf. In 3§1 (Kap. II) wurde gezeigt, wie relevant dieser Begriff für die Ingardensche Erkenntnistheorie ist. Das ergibt sich vor allem daraus, dass die Erkenntnistheorie nach unserem Autor notwendig eine ‚ontologische Analyse des Gehalts von Ideen’ sein muss. Daher ist der Begriff der Idee bei Ingarden durch zwei Faktoren gekennzeichnet: Doppelseitigkeit der Idee und Gliederung des Ideengehalts. So liegt wohl die Frage nahe: Gibt es irgendwelche platonische Implikationen? Ohne uns hier auf eine ausführliche Analyse der Texte Platons einlassen zu wollen, müssen wir diese Frage eher negativ beantworten. Zwei Hinweise seien bloß angesprochen: Zum einen bezieht Ingarden den Begriff der Idee keinesfalls so stark wie Platon auf die Wirklichkeit. Bei unserem Autor kann man sicherlich nicht von einer „Zwei-Welten-Lehre“ sprechen. Während die geläufigste Interpretation im Hinblick auf Platon lautet, dass es bei ihm Ideen von allem gebe, was in der Sinnenwelt existiere, mit Ausnahme von Individuen, behandelt Ingarden diesen Begriff einerseits vor allem in seiner Bezogenheit auf den rein intentionalen und andererseits auf den realen individuellen Gegenstand hin. Zum anderen richtet sich das Interesse Ingardens nicht etwa auf die mit dem platonischen Begriff „Teilhabe“ zusammenhängende Problematik, sondern er versucht die innere Struktur der Idee aufzuweisen (vgl. LK, 321f; SEW II/1, 229f). 124
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Vgl. etwa Politeia 596a6 f. - wo Platon jeder Klasse von Dingen, die wir mit demselben Namen bezeichnen, jeweils eine Idee zuschreibt. Als Beispiele gelten hier Tische und Stühle; Kratylos 389a-d - hier gebraucht Platon etwa das Beispiel eines Weberschiffchens; auch Timaios 38e – den klassischen Elementen (Feuer, Wasser, Erde, Luft) wird eine Idee zugesprochen u.a. Vgl. Disse, J. (2001), 31. Zum Problem der Realität der Ideen bei Platon vgl. z.B. Natorp, P. (1961). Zum Problem der Ideen überhaupt vgl. etwa Patzig, G. (1970); Ross, W.D. (1951) u.a. 124
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219 Mit Descartes beginnt im abendländischen philosophischen Denken die Wende zu einer modernen Erkenntnistheorie. Durch die Unterscheidung zwischen der ausgedehnten Materie (res extensa) und dem denkenden Ding (res cogitans), durch die Lehre von „angeborenen inneren Ideen“ und die Erfindung des Mentalen schuf Descartes die Bedingung der Möglichkeit einer auf rein geistige Vorgänge bezogenen Erkenntnistheorie. Er fasste das Mentale als eigene, separate Größe, von der allein, weil sie dem Ich von innen her zugänglich sei, Gewissheit zu erreichen sei. Seiner wegweisenden These „ich denke, also bin ich“, die ihm als unerschütterlicher Ausgangspunkt seines Skeptizismus diente, lag die Überzeugung zugrunde, dass sichere Evidenz als Grundlage für die Wissenschaft nur von unserem geistigen Erleben zu erwarten ist. Lässt sich die Sicherheit dieses geistigen Ansatzes nachweisen, dann kann man erst von ihm aus auf die körperliche Außenwelt schließen. Der eigentliche Begründer einer Theorie der Erkenntnis, der auch den Hintergrund erhellen kann, in dem der epistemologische Ansatz Ingardens verankert ist, ist aber Locke. Er glaubt an die Möglichkeit einer Analyse der Funktionsweise von mentalen Prozessen, indem er alle Erkenntnis auf die Erfahrung des ‚inneren und äußeren Sinnes’ zurückführt, und tritt gegen Descartes Lehre von den angeborenen Ideen auf. Seine These lautet, dass die Fähigkeit des Erkennens in einer bestimmten Weise festgelegt (angeboren) sei, aber alle Erkenntnisse selbst erst durch Erfahrungen erworben werden müssen. Die Vorgehensweise eines Lockes ist für unsere Abhandlung insofern relevant, als Ingardens epistemologische 126
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Denn bei den Griechen war das Leib-Seele-Problem noch ein ganz anderes als in der Moderne. Sie unterschieden lediglich zwischen der Vernunft als dem Erfassen von Universalien und dem lebenden Körper, der für Empfindungen und Bewegungen verantwortlich ist. Der „Nous“ (Denken, Intellekt, Einsicht) war bei Aristoteles „Spiegel“ (Bewusstsein) und „Auge“ (Erkenntnis) in Eins (vgl. NE, VI 6, u.a.). Vgl. Descartes, R. Princ. I, 51; Med. II, 3; Disc. III. Vgl. Locke, J. (2000), 29f. Locke bedient sich einer Metapher von der Seele als „tabula rasa“ (unbeschriebene Tafel). 126
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220 Position ebenfalls auf die Leistung (vor allem) äußerer Sinne angewiesen ist (vgl. OSW, 1f). Bei unserem Versuch, den Kontext der Entfaltung der Epistemologie Ingardens aufzuklären, kommt Kant eine besondere Rolle zu, auch nicht zuletzt deswegen, weil seine Lösungsvorschläge so originell sind, dass der Erkenntnistheoretiker sowohl aus seinen richtigen als auch aus seinen falschen Antworten etwas lernen kann. Die berühmte kopernikanische Wende, nach der unsere Erkenntnis sich nicht nach den Gegenständen, sondern umgekehrt, die Gegenstände sich nach unserem Erkenntnisvermögen richten, ermöglichte es Kant, über sein postuliertes „a priori“ der Erkenntnis nachzudenken. Mit anderen Worten: Wenn man das bis jetzt Angenommene: „das Objekt bestimmt das Subjekt“ gelten lässt, sagt Kant, dann ist das Apriori des Erkennens, worin allein die ‚allgemeine und notwendige’ Geltung begründet sein kann, nicht zu fassen. Darum schlägt er vor: ‚Nicht das Objekt bestimmt das Subjekt, sondern das Subjekt bestimmt das Objekt’. Da aber das Subjekt bei Kant nur ein endliches Subjekt und somit auf hinnehmende Erkenntnis des Objekts angewiesen ist, scheint sich hier ein Widerspruch zu Wort zu melden, welchen Kant durch die Einführung des Begriffs „Ding an sich“ lösen will. Das heißt, das Subjekt bestimmt das Objekt nicht, wie es an sich ist, sondern wie es ihm (dem Subjekt) erscheint. Eine weitere Konsequenz des Kantischen Vorgehens ist die Unterscheidung zwischen zwei prinzipiellen Vermögen der Erkenntnis, und zwar der Sinnlichkeit und dem Verstand bzw. der Vernunft. Erst in Verbindung von Sinnlichkeit und 129
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Bei Ingarden handelt es sich offensichtlich in erster Linie um die äußere Wahrnehmung. Das wird auch im nächsten Abschnitt (4 [Kap. II]) hervorgehoben – allerdings im Hinblick auf das Objektivitätsproblem. Man könnte auch das Problem der Ideen bei Locke und Ingarden erwägen, dennoch können wir uns dies hier nicht leisten. Vgl. Vollmer, G. (1987), 95. Hier ist es nicht nötig, zu entscheiden, welche Vorschläge richtig und welche falsch sind. Darin unterscheidet sich Kant bekanntlich von dem nachfolgenden Idealismus, der das endliche Subjekt in ein absolutes Subjekt (Fichte), einen unendlichen Geist (Hegel) aufhebt. Vgl. Coreth, E. u.a. (2000), 174f. 129
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221 Verstand (Anschauung und Denken) kommt Erkenntnis zustande. Mit all dem hängt offensichtlich noch eine sehr wichtige Kantische Frage zusammen: Während Locke den Erkenntnisvorgang empirisch zu beschreiben versucht, fragt Kant ‚nach den Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung’, d.h. was alles vorausgesetzt werden müsse, wenn so etwas wie Erfahrung möglich sein soll. Was resultiert aus dieser Position Kants für unsere Ingarden-Analyse? Es sind zumindest drei Dinge, die wir hier nur andeutungsweise ansprechen können: Erstens geht es um die Feststellung, dass wir bei den beiden Denkern auf den Begriff „Konstituieren“ bzw. „Bestimmen“ stoßen. Nach Kant ‚bestimmt das Subjekt das Objekt,’ Ingarden dagegen spricht vom ‚Konstituieren des Gegenstandssinnes’. Zweitens spielt das ‚Prinzip der Allgemeinheit und der Notwenigkeit’ eine entscheidende Rolle. Während z.B. Kants Wissenschaftsbegriff unter der Wesensbestimmung ‚allgemeiner und notwendiger Erkenntnis’ steht, sind in der reinen Erkenntnistheorie bei Ingarden ‚allgemeinste Erkenntnisideen’ zu analysieren (vgl. 3§2 [Kap. II]). Drittens darf bei den beiden der Gebrauch der apriorischen Methode nicht übersehen werden – allerdings müssen gewisse Differenzen berücksichtigt werden. In Anlehnung an Kant haben die Neukantianer im 19. Jahrhundert die Erkenntnistheorie zur Fundamentalwissenschaft erklärt, die alle anderen Erkenntnisansprüche zu begründen habe. Im 20. Jahrhundert haben Russell und Husserl diese Obsession nochmals erneuert: Die Philosophie muss strenge Wissenschaft sein, wenn sie ernst genommen werden will. Auch Wittgenstein und Heidegger suchten in ihrer Frühzeit nach überzeitlichen Fundamenten des Denkens, erkannten aber später, dass sie einer Selbsttäuschung erlegen waren. 133
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Vgl. Kant, KrV, B 29, 33f. Vgl. Kant, KrV, B 25, 1f. Dazu vgl. etwa Baumgartner, H.M. (1991); Höffe, O. (1983); Heidegger, M. (1998). Vgl. Kant, KrV, B 5f. Vgl. dazu 2§3a (Kap. II), wo der Unterschied zwischen der Erkenntnis „a priori“ bei Kant und Husserl behandelt wurde. Da Ingarden – was seine epistemologischen Ansichten anbelangt – ein „Husserlianer“ war, trifft dies auch für ihn grundsätzlich zu. Vgl. Werner, S. (2000), 63.
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222 Wenn also das quasi ganze philosophische Denken der Neuzeit von einer Art „Sehnsucht nach einer strengen Wissenschaft“ mehr oder minder getrieben worden war, so ist es kein Wunder, dass auch bei Ingarden gewisse Akzente in diese Richtung zu finden sind, etwa in seiner ‚reinen Erkenntnistheorie’. Inwiefern lässt sich dies heute noch rechtfertigen? b. Kritik an Ingarden Dass die epistemologische Reflexion Ingardens der Beeinflussung von grundlegenden philosophischen Strömungen – wenn auch in aller Verborgenheit – ausgesetzt worden war, lässt sich gleichwohl nachvollziehen. Immerhin ist das aber noch kein Grund, die Ergebnisse seiner erkenntnistheoretischen Anstrengungen vor Kritik zu verschonen. Uns geht es also jetzt darum, auf einige Unklarheiten in der Ingardenschen Konzeption der Erkenntnistheorie – nicht zuletzt aus Sicht der gegenwärtigen Philosophie – hinzuweisen. Schwerwiegende Bedenken erscheinen vor allem im Hinblick auf die Rolle der transzendentalen Reduktion in der Erkenntnistheorie. Sie wird von Ingarden bekanntlich als eine ‚universelle’ Methode aufgefasst, die eine ‚Zurückhaltung’ gegenüber allen transzendenten Erkenntnissen von positiven Wissenschaften wie auch den Leistungen der Ontologie ermöglichen soll – übrigens nicht nur im Rahmen der reinen Erkenntnistheorie, sondern auch in der angewandten Erkenntnistheorie (insbesondere der Erkenntniskritik). Dem ungeachtet postuliert Ingarden in seiner reinen Erkenntnistheorie die ideale Existenz von Erkenntnisideen, genauer gesagt eine ganze Gruppe von Ideen wie Erkenntnissubjekt, Erkenntnisprozess, Erkenntnisresultat usf. (vgl. 3§2a [Kap. II]). Liegt hier aber nicht ein Widerspruch vor? Die Frage ist daher, ob die Ontologie die Existenz dieser Ideen voraussetzen muss oder nicht, wenn ihr Beitrag in der Erkenntnistheorie durch die phänomenologische Reduktion so wie so ausgeschlossen wird. Das 138
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Vgl. Galewicz, W. (1996), XXXVIII. Das Problem der Existenz der Ideen hat nach Ingarden erst die Metaphysik zu entscheiden. Sie ist aber für unseren Autor problematisch (vgl. SEW I, 32, 50f). Das
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223 Existenzkriterium von Ideen ist bei Ingarden völlig unklar, weil nicht jeder Gehalt, den wir denken können, sofort Gehalt einer entsprechenden Idee ist. Darum erscheint auch eine weitere Frage: Für den Fall, dass die Ideen existieren sollten, wie sind sie dann zu identifizieren? Die sinnvollste Antwort wäre offensichtlich diejenige, dass die Ideen aufgrund ihres Gehalts identifizierbar seien. Angesichts der Unklarheit des Existenzkriteriums der Ideen kann man aber diese Antwort nicht ins Spiel bringen. Wir geraten nun bei Ingarden in einen Zirkel: Die Idee der Erkenntnis ist genau die Idee, deren Gehalt gewisse Elemente enthält. Wir wissen aber nicht, welche Elemente es sind, bevor wir nicht die erforderlichen Analysen im Rahmen der reinen Erkenntnistheorie durchgeführt haben. Wir können logischerweise auch nicht wissen, welche Idee die ‚Idee der Erkenntnis ist, bevor wir wissen, was Erkenntnis ist’. Das können wir aber nur im Rahmen der reinen Erkenntnistheorie feststellen, und diese soll nach Ingarden den Ideengehalt analysieren. Verbleiben wir mit unserer Kritik weiterhin im Bereich der reinen Erkenntnistheorie, so fällt eine „begriffliche Verwirrung“ in Bezug auf die Ontologie auf. Denn einerseits wird die reine Erkenntnistheorie als „Ontologie der Erkenntnis“ bezeichnet, andererseits spricht Ingarden aber von der ‚Autonomie der Erkenntnistheorie der Ontologie gegenüber’, ohne zuvor eine begriffliche Grundlage vorbereitet zu haben. Indes liegen hier zwei verschiedene Begriffe der Ontologie vor: Zum einen wird Ontologie 140
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werden wir erst im zweiten Teil der vorliegenden Arbeit („Ingardens Weg des Realismus“) behandeln. Hier sei nur Folgendes gesagt: Der Unterschied zwischen Ontologie und Metaphysik besteht vor allem darin, dass die erstere Ideengehalte, die zweite dagegen individuelle Gegenstände bzw. auch Ideen – aber nur „qua Idee“ – analysiert. Vgl. Chrudzimski, A. (1999), 27f. Manche Autoren sind geneigt zu behaupten, dass Ingarden kein „Pionier“ der ontologischen Konzeption der Epistemologie sei. Denn eine solche Konzeption wurde bereits von anderen Anhängern Husserls (Daubert, Reinach) und durch die Münchener Schule der Phänomenologie noch vor Ingarden entwickelt. Dass sie Ingarden in der frühen Periode seiner philosophischen Tätigkeit nicht akzeptiert hat, ist wohl auf seine strenge kartesianische Einstellung zurückzuführen (vgl. Schumann, K. u.a. [1985], 763f). 140 141
224 auf Erkenntnistheorie bezogen, zum anderen tritt sie als philosophische Disziplin auf, welche der „Lehre vom Seienden“ gleich kommt. An einigen Stellen wird sogar der Ausdruck „verschiedene bzw. einzelne Ontologien“ gebraucht (vgl. FSE, 303f). Auch im Hinblick auf die angewandte Erkenntnistheorie könnte man gegen Ingarden eine Reihe von Einwänden erheben. Sie ließen sich alle folgendermaßen zusammenfassen: Einerseits kritisiert Ingarden die psychophysiologische und deskriptiv-phänomenologische Erkenntnistheorie, weil sie es mit dem Empirischen zu tun haben und dadurch der Gefahr einer „petitio principii“ oder eines „circulus vitiosus“ ausgesetzt sind, andererseits lässt er aber selbst in seiner EpistemologieKonzeption die angewandte Erkenntnistheorie zu, die keineswegs vom Empirischen vollkommen frei ist (vgl. 2§1, §2 und 3§2c [Kap. II]). Woher kommt diese Inkonsequenz? Ich bin der Ansicht, dass Ingarden als einer von denjenigen Denkern, die in der traditionellen (nach den Bedigungen des sicheren faktischen Wissens fragenden) Epistemologie verwurzelt sind, nicht immer genug Mut hatte einzuräumen, dass auch die traditionellen Erkenntnistheorien von empirischen Fakten ergiebig Gebrauch machen. Sie gebrauchen also nicht nur wissenschaftliche Erkenntnisse, sondern auch Alltagswissen, Kenntnis der Umgangssprache usf. Wie könnte man herausfinden, unter welchen Bedingungen Aussagen wahr, Argumente gültig oder Erkenntnisse objektiv seien, ohne auf eine empirische Verfassung des Menschen Bezug zu nehmen? Darüber hinaus wird heute oft die These vertreten, dass die Aufgabe der Erkenntnistheorie keinesfalls darin besteht, ‚absolute Rechtfertigungen’ für Erkenntnis- und Wahrheitsansprüche zu liefern. Eine solche Rechtfertigung ist weder ‚möglich’, weil wir den archimedischen Punkt nicht besitzen, mit dem sie beginnen müsste, noch ‚nötig’, weil wir auch mit hypothetischem Wissen ganz gut zurechtkommen, im Alltag, in der Wissenschaft und auch in der Philosophie. 142
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Vgl. dazu auch Fußnote 100 (Kap. II) (das Argument von Smith). Vgl. Vollmer, G. (1987), 103. Es gibt offensichtlich auch andere Standpunkte im epistemologischen Diskurs, z.B.: (1) Die Vertreter eines radikalen Naturalismus reduzieren das Phänomen der Erkenntnis auf einen objektiven Gegenstand naturwissenschaftlicher Forschung; (2) In der Philosophie des Geistes - wird das
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225 Im Hinblick auf die gegenwärtige epistemologische Debatte muss ebenfalls gesagt werden, dass sich einerseits Ingardens Konzeption der Erkenntnistheorie beim Leser von heute effizienter hätte durchsetzen können, hätte sie mehr mit den modernen epistemologischen Begriffen gearbeitet, d.h. in erster Linie mit dem Begriff „Wissen“ (statt „Erkennen“) und „Rechtfertigung“. Andererseits können wir aber auch bei Ingarden manche relevante Impulse für den modernen Diskurs gewinnen. Was ist Wissen? Welche Struktur hat unser Wissen? Gibt es Grenzen dieses Wissens? Das sind klassische Fragen der Erkenntnistheorie, die etwa das Denken eines Descartes und Kant maßgeblich geprägt haben und bei Ingarden lauten: Was ist Erkennen? Welche Struktur hat unser Erkennen? Gibt es Grenzen dieses Erkennens? All diese Fragen beinhalten die Problematik der Möglichkeit apriorischen Wissens und die Bedeutung des Subjekts für Wissen und Wissenschaft. Heute gelten sie eher als ergänzungsbedürftig. Abgesehen von gescheiterten Versuchen seitens der Wissenschaftstheorie oder Hermeneutik verdient die ‚Position der analytischen Philosophie’ an dieser Stelle eine besondere Aufmerksamkeit, wenn diese eine ‚Akzentverschiebung zugunsten der Metaepistemologie’ vollzieht. Dadurch erhält nicht nur die Frage nach der Bedeutung epistemischer Begriffe den Vorrang, sondern es wird auch immer deutlicher, dass bevor man die Frage nach der Struktur oder dem Umfang des Wissens wie auch nach dem epistemischen Status der Erkenntnistheorie beantwortet, zu klären ist, was notwendige und hinreichende Bedingungen für Wissen sind. Und hier kann eben Ingardens „Kriteriologie“ sehr wohl behilflich sein (vgl. 3§2b [Kap. II]). Überdies wenn es nicht selten in der heutigen erkenntnistheoretischen Diskussion heißt, dass die Rechtfertigung innerhalb der Erkenntnistheorie eine absolute Priorität habe und man der Rechtfertigungstheorie etwa folgende Aufgaben zuordne: (1) Klärung der Natur der Rechtfertigung; (2) 144
traditionelle Bild durch die Thesen des Gehalt-Externalismus und die Diskussion über die Möglichkeit eines nicht-begrifflichen Wahrnehmungsgehalts beeinflusst; (3) Kontextualismus (vor allem vom späten Wittgenstein ausgehend) - betont die Interessenrelativität erkenntnistheoretischer Probleme und klagt die traditionell vernachlässigte soziale Dimension des Wissens ein (vgl. Grundmann, Th. [2001a], 9). Vgl. etwa Gettier, E. (1963), 121f. 144
226 Analyse des Umfangs der Rechtfertigung von Meinungen; (3) Legitimierung der Quellen und Kriterien der Rechtfertigung, dann kann auch hier Ingardens Erkenntnistheorie etwas leisten – trotz ihrer anscheinenden begrifflichen „Entfernung“, z.B. zur Lösung des Problems des Erkenntniswertes und der Rekonstruierung des Begriffs von Außenwelt und Wahrnehmung. 145
4. Lösung des erkenntnistheoretischen Problems: Das Problem des Erkenntniswertes In der gegenwärtigen epistemologischen Debatte gilt oft als Ausgangspunkt folgender Lehrsatz: Obwohl wir die Existenz von Wirklichkeit, von objektiver Erkenntnis, von Wahrheit nicht beweisen können, gehen wir doch in Alltag und Wissenschaft von der Annahme aus, dass sie existieren. Konvergenz ist dabei – wie Invarianz und Intersubjektivität – ein notwendiges Wahrheitskriterium. Die Idee der Wahrheit ist von grundlegender Bedeutung für eine Theorie der Erkenntnis, und insbesondere der wissenschaftlichen Erkenntnis. Wissenschaft ist das ‚Suchen nach Wahrheit’, nicht Besitz von Wissen. Wenn aber überhaupt „Wahrheiten“ von uns erkannt werden können, so kann dies nicht die einzige Art der Rechtfertigung sein. Es muss Urteile geben, deren Rechtfertigung auf etwas anderem beruht, wenn sie überhaupt einer solchen bedürfen. Und hier liegt eben die Aufgabe der Erkenntnistheorie. Mit anderen Worten: Die zentrale Frage jeder 146
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Vgl. Grundmann, Th. (2001a), 12f. Vgl. Vollmer, G. (1987), 104. Vgl. Popper, K. (1994), XXII. Es gibt prinzipiell drei Standpunkte in der Erkenntnistheorie: (1) Einen optimistischen Standpunkt – wir können die Welt erkennen; (2) Einen pessimistischen Standpunkt – dem Menschen ist Erkenntnis versagt (Skeptizismus) und (3) Einen Standpunkt der Skepsis – wir haben kein Wahrheitskriterium, kein sicheres Wissen. Aber wir können suchen und im Laufe der Zeit das Bessere finden. Hier ist also ein Forschritt des Wissens möglich (vgl. XVI). Bei Ingarden kommen vor allem (1) und (3) ins Spiel. Vgl. Prauss, G. (1980), 7.
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227 Erkenntnistheorie ist nicht nur das ‚Geltungsproblem’ , sondern auch noch mehr das Rechtfertigungsproblem. Die Erkenntnistheorie diskutiert die prinzipielle Möglichkeit oder Unmöglichkeit der Rechtfertigung. Der Erkenntnistheoretiker rekonstruiert den Begriff der Außenwelt oder den der Wahrnehmung und untersucht, ob und wie sich der Glaube an die Außenwelt oder an die Wahrnehmung rechtfertigen lässt. Für unsere weitere Ingarden-Analyse ist diese epistemologische Einstellung nicht ohne Bedeutung. Im letzten Teil des vorliegenden Kapitels wollen wir uns mit dem Problem des Erkenntniswertes in der Erkenntnistheorie befassen, d.h. mit dem Problem der Objektivität (=Wahrheit). Die Frage nach der Objektivität von Erkenntnis gilt für Ingarden als erkenntnistheoretisches Grundproblem. Das Objektivitätskriterium können wir erst einmal vorübergehend so formulieren: „Die Erkenntnis ist dann objektiv, wenn das in ihr gewonnene Wissen mit der Wirklichkeit übereinstimmt“ (vgl. GE I, 48; FSE, 231). In dem Kontext lautet Ingardens Geltungsprinzip: „Jede 149
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Vgl. Engels, E.M. (1985), 62. Vgl. Rutte, H. (1987), 148f. Zu Beginn dieses Abschnitts müssen wir notwendig das Verhältnis dieser grundlegenden Begriffe zueinander (zumindest skizzenhaft) klären, weil sie von Ingarden leider abwechselnd verwendet werden: Erkenntniswert (E), Objektivität (O) und Wahrheit (W). Es gilt also: (1) Verhältnis von E und O - der Begriff des E ist allgemeiner als der Begriff der O (vgl. GE II, 600); (2) Verhältnis von O und W – wird in drei Schritten geklärt, durch folgende Begriffe: (a) „Objektiv“ – besagt ‚vom Gegenstand her bestimmt, im Gegenstand begründet’ (im Gegensatz zu „subjektiv“, d.h. nicht im Gegenstand begründet, sondern nur durch willkürliche Setzungen des Subjekts bestimmt). In diesem Sinn wird die O (Sachlichkeit) für die Wissenschaft gefordert; (b) „Objektive Gewissheit“ – gewährleistet dann die ‚Wahrheit der Aussage’, wenn die Voraussetzung erfüllt ist: Die logische Seite der Gewissheit wird durch die Worte „in der Evidenz des Sachverhaltes begründet“ bezeichnet; (c) „W“ – tritt als W der Erkenntnis hervor, d.h. als Erkenntniswahrheit (logische W); sie kommt im Urteil zur Vollendung und besteht darin, dass sich das Denken dem seienden Sachverhalt angleicht, insofern es den Sachverhalt als seiend, bestehend zum Ausdruck bringt (vgl. de Vries, J. [1996c], 146; [1996e], 272; [1996g], 448). Vgl. Galewicz. W. (1996), XVI. Nun sehen wir, dass dieses Objektivitätskriterium sich mit der „Korrespondenztheorie der Wahrheit“ von Tarski deckt, die bekanntlich lautet: „Ein 149 150 151
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228 Erkenntnis trägt das ihr eigentümliche Geltungsrecht in sich selbst ohne Rücksicht darauf, ob sie selbst Gegenstand einer gültigen Erkenntnis ist oder nicht“ (vgl. FSE, 158). Als grundlegende Basis für unsere Reflexion gilt Ingardens eigene Konzeption der Epistemologie, die wir in 3 (Kap. II) dargestellt haben. Anhand dieser Konzeption können wir bereits klar machen, was Ingarden von einer Erkenntnistheorie schlechthin erwartet. Allerdings weisen diese Erwartungen vor allem einen ‚strukturellen’ Charakter auf und zielen deshalb noch auf die Ergänzung durch ‚eine (vor allem auf die angewandte Erkenntnistheorie ausgerichtete) praktische Dimension’ ab, nämlich durch eine ‚endgültige Lösung des erkenntnistheoretischen Problems’. Diese Forderung trifft nach Ingarden sowohl für seine eigene als auch für jede denkbare Erkenntnistheorie notwendig zu, weil sie eine ‚endgültige Aufgabe’der Erkenntnistheorie bezeichnend formuliert (vgl. GE I, 228). Die Aufgabe der Erkenntnistheorie besteht nach Ingarden daher nicht in der Begründung der in Wissenschaften oder anderswo gewonnenen Erkenntnisergebnisse, sondern in der ‚Beurteilung (Bestimmung) des Erkenntniswertes von diesen Erkenntnisergebnissen.’ Diese Beurteilung beschränkt sich aber keineswegs nur auf die Bewertung von ‚Wahrheit oder Falschheit’ der Erkenntnisergebnisse – das ist in erster Linie die Aufgabe von Einzelwissenschaften, vielmehr bezieht sie sich außerdem auf die Bewertung von vielen anderen abstrakten Erkenntniskategorien wie ‚Wahrhaftigkeit, Adäquatheit, Objektivität und Gewissheit der Erkenntnisergebnisse’. Wie oben schon angedeutet, interessiert uns hier nur die Objektivität. Für die Behandlung des Objektivitätsproblems sind nach Ingarden folgende 154
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Satz ist wahr, wenn er mit den Tatsachen oder der Wirklichkeit übereinstimmt (korrespondiert)“ oder mit Tarskis berühmtem Beispiel ausgedrückt: „es schneit“ ist eine wahre Aussage, wenn es schneit“ (vgl. Tarski, A. [1935/36], 268). Das Problem der Wahrheit ist sehr kompliziert, wir können uns hier nicht ausführlicher darauf einlassen. Das heißt, es geht jetzt um eine – wie wir weiter sehen werden – ‚konkrete Aufgabe’ der Erkenntnistheorie, die es mit äußeren und inneren Wahrnehmungen, idealen Gegenständen und ästhetischen Werten zu tun hat. Vgl. Ingarden, R. (1995), 11f, 47f. Auch vgl. FSE, 316f, 323f. 154
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229 Sachverhalte relevant: (1) Differenzierung zwischen zwei Fragen: (a) Möglichkeit einer Definition der Objektivität (d.h. Bestimmung des Sinnes von Objektivität der Erkenntnis) und (b) Möglichkeit einer Kritik des Objektivitätswertes (d.h. Entscheidung [aufgrund des bestimmten Sinnes von Objektivität der Erkenntnis] über die Objektivität der Erkenntnis in einem konkreten Fall) (vgl. FSE, 231) ; (2) Bedeutung des „transzendentalen“ Kriteriums. Hinsichtlich dieses Kriteriums schreibt Ingarden: 156
„Das neue [transzendentale] Kriterium der Objektivität würde also lauten: Eine Erkenntnis nennen wir ‚objektiv’, wenn der intentionale Gehalt des Erkenntnisaktes zur identifizierenden Erfüllung gelangen kann, der unter dem Ausschluß jeder konstruktiven bzw. durch andere als rein erkenntnismäßige Motive beeinflussten Aktivität zustande gekommen ist (konstituiert ist)“ (FSE, 271).
Nach diesem transzendentalen Kriterium der Objektivität, das den Sinn der konstitutiven Betrachtung bestimmt, müssen wir also im Aufbau des in Frage stehenden Noemas so weit zurückgehen, bis wir auf Elemente stoßen, welche als „ursprüngliche Gegebenheiten“ (d.h. als dem reinen Ich gegenüber auftretende Daten) hinzunehmen sind. Nachdem wir diese Daten ihrem Wesen und ihrem Gehalt nach erfasst haben, erforschen wir weiter, ob der auf ihrer Unterlage ‚faktisch’ zur Konstituierung kommende oberste noematische Sinn „rechtmäßig“ konstituiert sei, d.h. dem Kriterium gemäß und somit unter dem Ausschluß jeder konstruktiven, bzw. durch andere als rein „erkenntnismäßige“ Motive beeinflussten Aktivität Im Hinblick auf (a) und (b) werden in der Ingarden-Forschung (z.B. Galewicz) oft zwei Argumente in den Vordergrund gerückt: Das erste Argument – plädiert für die Abhängigkeit (a) und (b) voneinander. Es führt die Unmöglichkeit einer Kritik des Objektivitätswertes auf die Unmöglichkeit einer Definition der Objektivität (überhaupt) zurück und umgekehrt. Das zweite Argument – dagegen betrifft den Status von (a) und (b) ‚unmittelbar’ und teilt sich in zwei „Aporien“ auf: „Aporie der erkenntnistheoretischen Begriffsbildung“ – richtet sich direkt gegen die Möglichkeit einer Definition der Objektivität; „Aporie der erkenntnistheoretischen Nachprüfung“ – richtet sich direkt gegen die Möglichkeit einer Kritik des Objektivitätswertes (vgl. Galewicz, W. [1994b], XXXVIIIf). Beide Argumente hängen mit dem Problem der „Intuition des Durchlebens“ zusammen und werden von uns daher erst in Kap. III behandelt.
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230 konstituiert sei. Wenn uns eine solche konstitutive „Ausweisung“ gelingt, besagt dies, dass der betreffende Gegenstandssinn existiert, und dass wir ihn rechtmäßig setzen dürfen. Bis zu diesem Zeitpunkt muss er aber ‚seinem Setzungscharakter nach neutralisiert werden’ (vgl. FSE, 271f). Die Objektivitätsfrage der Erkenntnis ergibt sich für Ingarden aus der Alltagssituation. Erkenntnisergebnisse, die jeder Mensch für sich selbst erlangt, sind im Vergleich zu den in kollektiver wissenschaftlicher Arbeit erreichbaren Resultaten verhältnismäßig ‚primitiv’ und auch für die Bedürfnisse des Alltagslebens ‚unzureichend’. Darüber hinaus lassen sich viele wissenschaftliche Ergebnisse nur durch eine koordinierte Mitwirkung von vielen Forschern erzielen (vgl. GE I, 227). Bei Ingarden können wir folgende grundlegende Fälle des Objektivitätsproblems (OP) unterscheiden: (1) OP der Außenwelt, d.h. der äußeren und insbesondere der sinnlichen Wahrnehmung; (2) OP der inneren Wahrnehmung; (3) OP der irrealen Wahrnehmung, vor allem mathematischer und logischer Objekte und (4) OP in der Ästhetik. All diese Arten von OP sind jetzt kurz zu analysieren. §1. Objektivitätsproblem der Außenwelt Wir erinnern uns daran, dass wir bereits in 2§6a (Kap. I) auf die Problematik der äußeren Wahrnehmung gestoßen sind. Da haben wir – zumindest in allgemeiner Hinsicht – nicht nur ausfindig gemacht, was Ingarden selbst unter diesem Begriff versteht, sondern auch inwiefern er mit der Husserlschen Betrachtung dieses Problems einverstanden ist. Hier wollen wir uns hingegen auf das Problem der ‚Objektivität der Außenwelt, d.h. der äußeren Wahrnehmung’ konzentrieren, das Ingarden für eine der wichtigsten und zugleich schwierigsten Fragen der neueren Erkenntnistheorie hält (vgl. OSW, 1), und dem er eine besondere Rolle in seinen Objektivitätsüberlegungen zukommen lässt. Das Problem der Objektivität bzw. Nichtobjektivität des Erkennens überhaupt besteht nach Ingarden darin zu ermitteln, wann eine subjektive Modifikation vorliegt und wann nicht. Mit anderen Worten: Da aus der allgemeinen Idee von wahrem Wissen folgt, dass dieses nur dann wahr ist, wenn in seinem Gehalt allein Elemente auftreten, welche auf Merkmale hinweisen, die dem Gegenstand autonom zukommen, so kommt es bei dem
231 Objektivitätsproblem darauf an, im Inhalt des gewonnenen Wissens zwischen Elementen zu differenzieren, die auf Merkmale hinweisen, welche dem Gegenstand autonom zukommen, und Elementen, die ihm nur Merkmale zuschreiben, welche er nicht besitzt (vgl. OSW, 164f). Auch das Problem der Objektivität des Erkennens der Außenwelt muss analog – allerdings auf drei verschiedenen Ebenen - betrachtet werden: (1) Individuelle Ebene: Wahrnehmen meiner gesamten Umgebung; (2) Intersubjektive Ebene: Erkennen der uns anschaulich gegebenen Welt und (3) Ebene der „an sich seienden Welt“: Erkennen der „an sich seienden Welt“. Während es sich auf der individuellen Ebene um die Objektivität des Wahrnehmens allein handelt, was uns hier in erster Linie interessiert, kommt auf den zwei anderen Ebenen zudem die Objektivität anderer sich beim Erkennen der Außenwelt vollziehender Erkenntnisoperationen ins Spiel (vgl. OSW, 166). Wie sieht dies aber tatsächlich aus? Obwohl das Objektivitätsproblem der äußeren Wahrnehmung „an sich“ zu einer bestimmten angewandten Erkenntnislehre gehört, weil es sich bei ihm um die Herausstellung von Fragen handelt, welche den Erkenntniswert einer wirklichen Erkenntnisoperation betreffen (vgl. OSW, 171f) , setzt seine Erforschung jedoch nicht nur die Kenntnis von der Idee der Objektivität überhaupt voraus, sondern spielt sich auch letzten Endes – wie wir dies unten sehen werden - auf der ‚transzendentalen Ebene’ ab. 157
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Für die intersubjektive Ebene gilt etwa das Erkenntnisverfahren von Husserl. Allgemein gesagt: Es geht um die Frage, ob die Ergebnisse der äußeren Wahrnehmung wahr sind. Diese Formulierung ist aber zweideutig: (1) Sind die Ergebnisse der äußeren Wahrnehmung ‚immer wahr’? oder (2) Sind diese Ergebnisse in der „Regel“ wahr? (Ist die äußere Wahrnehmung eine erkenntnismäßig „zuverlässige Quelle“?). Nach A. Chrudzimski (vgl. [1999], 147) handelt es sich bei Ingarden um die letztere Frage. Nun müssen wir zuerst wissen, was die Objektivität einer Erkenntnis überhaupt ist, d.h. ihre Idee erkennen. Das können wir nach Ingarden in der reinen Erkenntnistheorie erlangen. Durch die Anwendung der „Intuition des Durchlebens“ kann man diese Idee erkennen, ohne den Fehler der „petitio principii“ zu begehen. Das wird von uns allerdings erst im nächsten Kapitel ausführlicher behandelt werden. Was die Methode der Analyse der Objektivität der äußeren Wahrnehmung anbelangt, bezeichnet sie Ingarden (im Anschluss an N. Hartmann [1949], 474f) als „real-apriorische“ Erkenntnisweise. 157 158
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232 Verfügen wir über das Wissen um die Idee von Objektivität überhaupt, dann können wir erst prüfen, ob eine ‚objektive’ Erkenntnis in einem Erkenntnisakt zu gewinnen sei. Wir beginnen damit zuerst anhand des Identitäts-Objektivitätskriteriums, das bei Ingarden lautet: „Der gesamte Inhalt des Aktes stimmt mit ‚denjenigen Eigenschaften’ des Erkenntnisgegenstandes überein, auf die der Aktinhalt bezogen ist“. Außer dem Wahrnehmungsgegenstand und Wahrnehmungsakt selbst sind nach Ingarden hierbei für die äußere Wahrnehmung noch das ‚Verhältnis der Transzendenz zwischen ihnen’ und die sich im Wahrnehmungsakt vollziehende ‚Überzeugung vom Wirklichsein des Gegenstandes’ bedeutsam (vgl. OSW, 34f). Mit Hilfe von diesem Kriterium können wir insbesondere das Objektivitätsproblem der ‚sinnlichen Wahrnehmung’ erforschen. So ergeben sich für Ingarden vier Lösungen: (1) Der vollständige (radikale) erkenntnistheoretische Realismus – alle Momente, die in einer Sinneswahrnehmung eines Gegenstandes X als seine Merkmale oder als Momente seiner Form oder als seine Existenz dem wahrnehmenden Subjekt anschaulich gegeben sind, sind identisch mit denen, die diesem Gegenstand an sich (d.h. unabhängig davon, ob er wahrgenommen wird) zukommen; (2) Der kritische (naive) Realismus – nur einige der Momente, die in einer Sinneswahrnehmung eines Gegenstandes X als seine Merkmale oder als Momente seiner Form dem wahrnehmenden Subjekt anschaulich gegeben sind, sind identisch mit denen, die dieser Gegenstand an sich besitzt; hinsichtlich des Moments der Existenz gilt aber: die Wahrnehmung ist objektiv; (3) Der skeptische Realismus – keines der Momente, die in einer Sinneswahrnehmung eines Gegenstandes X dem wahrnehmenden Subjekt als sein Merkmal oder als Moment seiner Form anschaulich gegeben sind, ist identisch mit einem eines derjenigen Momente, welche dieser Gegenstand an sich besitzt; in Bezug auf das Moment der Existenz gilt es auch hier: die Wahrnehmung ist objektiv; und (4) Der erkenntnistheoretische Idealismus – keinem der Momente, die in einer Sinneswahrnehmung eines Gegenstandes X als sein Merkmal oder als Moment seiner Form oder als seine Existenz dem wahrnehmenden Subjekt gegeben sind, entspricht etwas in der Wirklichkeit (GE I, 66f). Der nächste Schritt Ingardens besteht in der Befragung der Objektivität der äußeren Wahrnehmung auf die Gefahr einer „petitio principii“. Da zeigt
233 sich sofort, dass die oben genannten vier Lösungen scheitern müssen. Um diese Gefahr zu vermeiden, muss nach Ingarden das konstituierende Moment der äußeren (insbesondere sinnlichen) Wahrnehmung (d.h. die Überzeugung vom Wirklichsein des Gegenstandes) im Prozess der Erforschung der Objektivität „neutralisiert“ (ausgeschaltet) werden. Folglich erweist sich auch das „Identitäts-Objektivitätskriterium“ als ungeeignet (vgl. OSW, 35). Unser Autor ist also gezwungen, nach einem anderen Kriterium zu suchen und findet es im Gefolge Husserls. Dieses Kriterium weist bereits eindeutig „transzendendentale“ Dispositionen auf. Demgemäß ist nicht die ‚Idee der Objektivität zu ändern, sondern vielmehr das Kriterium für deren Existenz in einem Einzelfall’, d.h. das Kriterium, das es erforderlich macht, die Eigenschaften des erkenntnisunabhängigen Gegenstandes mit dem Inhalt des Wahrnehmungsaktes zu vergleichen. Somit darf Ingarden keine faktische Existenz des wahrzunehmenden Gegenstandes voraussetzen. Vorausgesetzt werden dagegen einerseits die Ideen der Erkenntnis überhaupt, von deren Objektivität und vom Gegenstand der Erkenntnis, andererseits die Existenz des reinen Bewusstseins samt seiner Struktur wie auch des Erkenntnissubjekts und schließlich die Möglichkeit einer immanenten Erkenntnis (des reinen Bewusstseins). Das ganze Verfahren verläuft jetzt gerade so wie beim Husserlschen Konstitutionsproblem: Es wird zuerst zwischen dem Aktinhalt, dem Ansichtsgehalt und dem Komplex von Merkmalen des wahrgenommenen Gegenstandes differenziert und auf die apriorischen Zusammenhänge zwischen ihnen hingewiesen. Darüber hinaus heißt es jetzt (nach der oben signalisierten Änderung des Kriteriums für die Existenz der „Idee der Objektivität im Einzelfall“): Wenn die äußere Wahrnehmung objektiv sein soll, muss der wahrgenommene Gegenstand als Korrelat des Aktes hinsichtlich ‚aller seiner Merkmale’ (also nicht nur hinsichtlich derjenigen, auf die der Aktinhalt bezogen ist) mit dem 160
Diese Lösungen werden vor allem im Rahmen der psychophysiologischen Erkenntnistheorie (PphE) vorgeschlagen, die Ingarden eindeutig verwirft. Bei der Analyse der PphE (vgl. dazu 2§1 [Kap. II]) wurden sie von uns bereits angedeutet, hier kommen sie in einer erweiterten Form vor. Zum Problem der Gefahr der „petitio principii“ vgl. 4 (Kap. III).
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234 Gegenstand identisch sein. Auch diese Identität setzt voraus, dass die Elemente des wahrgenommenen Gegenstandes dem Wahrnehmungsakt (bzw. dem Erkenntnissubjekt) gegenüber ‚seinsautonom’ sind. Daraus ergibt sich für Ingarden folgende Bedingung der Objektivität der äußeren Wahrnehmung: „Kein Element und kein Moment des wahrgenommenen Gegenstandes ist ein Erzeugnis des Wahrnehmungsaktes bzw. des Erkenntnissubjekts. Eine Ausnahme stellen offenbar nur diejenigen Momente dar, welche dem wahrgenommenen Gegenstand ‚infolge einer intentionalen Beziehung zwischen Akt und Gegenstand’ zukommen“ (vgl. OSW, 8f). Unter Beibehaltung dieser Bedingung und mit Rücksicht auf das Element des Ansichtsgehalts resultiert für Ingarden folgendes Objektivitätskriterium der äußeren Wahrnehmung: „Die Wahrnehmung eines Gegenstandes X ist objektiv, wenn in jeder Ansicht, die vom Erkenntnissubjekt beim Vollziehen der Wahrnehmung des Gegenstandes X erlebt wird, kein einziges Element (Moment) vorhanden ist, das eine subjektive Beimischung (Modifikation) wäre“ (vgl. OSW, 37). Das Objektivitätsproblem der äußeren Wahrnehmung weist nach unserem Autor drei verschiedene Aspekte auf, nach denen eine subjektive Modifikation vorliegen kann. Diese Aspekte sind einerseits auf die im Inhalt der endgültigen Wahrnehmungsmeinung auftretenden Elemente zurückzuführen, welche zum einen auf den ‚formalen Aufbau’ des 161
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Nun sehen wir, dass die transzendentale Ebene Ingarden erlaubt, von der Indentität bezüglich ‚aller Merkmale’ zu sprechen (und nicht nur derjenigen, auf die der Inhaltsakt bezogen ist, wie dies im Falle von „gewöhnlichem IdentitätsObjektivitätskriterium“ vorkommt). Darüber hinaus gilt aus allgemeiner Sicht: Ingarden spielt auf die in der Tradition (Locke, Hume, Kant) längst diskutierte Frage an: Ob der Gegenstand, auf den sich die Wahrnehmung bezieht, ein „von der Erkenntnis unabhängiger existierender Gegenstand“ ist, sofern ein solcher überhaupt existiert, und ob dieser Gegenstand für sich selbst einen formalen Aufbau besitzt oder dieser nur ein „Gewand“ ist, das dem Gegenstand von uns fiktiv übergeworfen wird. Der Begriff „subjektive Beimischung“ bedeutet hier: Die Existenz der in der Ansicht erlebten Elemente (Momente) ist nicht hinreichend durch Empfindunggsdaten (vgl. dazu 3§3 [Kap. III]), deren gleichzeitige und sukzessive Ordnung und durch ihr rein passives Erleben (vom Erkenntnissubjekt) bedingt, sondern zu deren Zustandekommen trägt eine ‚Aktion des Erkenntnissubjekts’ bei. 161
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235 Wahrnehmungsgegenstandes und zum anderen auf seine ‚materiale Ausstattung’ verweisen, andererseits auf den Existenz-Modus des Wahrnehmungsgegenstandes (vgl. OSW, 165f). Die subjektive Modifikation weist bereits von ihrer Begrifflichkeit her auf eine Kohärenz mit der inneren Wahrnehmung hin. 163
§2. Objektivitätsproblem der inneren Wahrnehmung Beim Betrachten der Objektivität der inneren Wahrnehmung stoßen wir auf andere Schwierigkeiten als bei der Analyse des Objektivitätsproblems der äußeren Wahrnehmung. Wir können uns hier weder auf fremde äußere Erfahrung berufen noch „sinnvolle“ Objektivitätskriterien aufstellen. Nur aufgrund des gegebenen individuellen Aktes der inneren Erfahrung können wir überhaupt ‚Auskunft über das Erlebnis der äußeren Wahrnehmung’ gewinnen (vgl. GE I, 221). Hier rückt also die Frage nach dem Erkennen von Erkenntniserlebnissen selbst in den Vordergrund. Ingarden erläutert dies mit einem Beispiel: 164
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Was den formalen Aufbau anbelangt, haben wir es hier mit Kants Frage zu tun: „Machen die Momente, die auf Kategorien (d.h. Momente des formalen Aufbaus) hinweisen, eine subjektive Modifikation aus?“ Als Beispiel für materiale Ausstattung kann man hingegen nach Ingarden z.B. die Position des „kritischen Realismus“ nennen: „Sind Elemente von Wissensinhalt, die auf Merkmale qualitativer Ausstattung hinweisen, eine subjektive Modifikation?“ Mit dem Existenz-Modus hängt schließlich die Streitfrage zwischen Idealismus und Realismus zusammen: „Stellt ein Inhaltsmoment von dem in der Wahrnehmung gewonnenen Wissen, das auf das reale Sein des Wahrnehmungsgegenstandes hinweist, eine subjektive Modifikation dar?“ Zum Problem der inneren Wahrnehmung vgl. auch 2§6a (Kap. I). Beim Betrachten des Objektivitätsproblems der äußeren Wahrnehmung kann ich durchaus sagen: „Ich sehe einen Gegenstand X. Falls ich irgendwie unsicher bin, ob das, was ich sehe, so und so ist, kann ich es gewissermaßen nachprüfen lassen, indem ich etwa ein anderes Subjekt (bzw. auch Subjekte) frage, das denselben Gegenstand X sieht (unter gleichen Umständen wie ich).“ Im Falle der inneren Wahrnehmung kann ich aber in dieser Weise nicht argumentieren. Denn keinem anderen Subjekt ist mein Erleben des äußeren Wahrnehmens des Gegenstandes X (d.h. hier des Sehens) so zugänglich wie mir. Wie wir dies noch weiter sehen werden, könnte man in dem Fall lediglich vom „Erkennen von fremden psychischen Zuständen“ reden. 163
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236 „So nehme ich [...] eine Blumenvase auf dem Tisch, an dem ich schreibe, wahr, ich sehe die Schreibmaschine, höre das Geräusch ihrer Tasten [...]. Wenn ich das tue, kann ich zugleich Urteile fällen, z.B. dass die Lettern der Maschine schon mit Tusche beschmutzt sind und die Schrift beginnt, sich zu verwischen [...]. Ich erlebe alle diese Wahrnehmungen und Urteile, indem ich sie aber erlebe, bin ich mit dem beschäftigt, worauf sich diese Erlebnisse beziehen und nicht mit diesen Erlebnissen selbst. Um zu wissen, wie sie beschaffen sind, wie sie verlaufen [...], muss ich meine Erkenntnistätigkeiten wiederholen, diesmal aber so, dass ich, wenn ich sie ausführe, zugleich [...] einen anderen wahrnehmungsmäßigen Erkenntnisakt vollziehe, der sich auf mein Sehen der Schreibmaschine oder der Blumen richtet. Dieser andere Akt ist [...] „innere Erfahrung“ (GE I, 218f).
Was ist diese innere Erfahrung bzw. Wahrnehmung? Sie ist nach unserem Autor nicht mehr ein Sehen oder Hören (d.h. die äußere Wahrnehmung), sondern ein Akt, welcher aber dem Sehen oder Hören „verwandt“ ist, und dank welchem ich „intim“ mit dem sich in mir gerade vollziehenden Sehen verkehren kann. Dieser Erkenntnisakt ist also einerseits eine Wirkung dessen, was seinen Gegenstand ausmacht (d.h. eine Wirkung der äußeren Wahrnehmung: des Sehens der Schreibmaschine), andererseits ist er aber durch einen Prozess in meinem Nervensystem bedingt, weil es kein Bewusstseinserlebnis ohne eine physische Grundlage geben kann. Während bei der äußeren Wahrnehmung (Sehen der Schreibmaschine) das sinnliche Organ (Auge) bekannt ist, wissen wir dagegen bei der inneren Wahrnehmung (dieses Sehens) – in philosophischer Hinsicht - eigentlich nicht, welche Organe bzw. Teile des Nervensystems es sind, die in einen aktiven Zustand gebracht werden müssen, damit ein Akt der inneren Wahrnehmung erfolgt (vgl. GE I, 219). Wie steht es mit der Frage nach der Objektivität der inneren Wahrnehmung? Ingarden stellt fest, dass wir im Grunde nicht wissen, 166
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Ingarden verwendet die Begriffe „Erfahrung“ und „Wahrnehmung“ abwechselnd (vgl. SFPh, 118). Streng genommen ist aber zwischen diesen Begriffen zu differenzieren. Bereits Aristoteles sagt, dass die Erinnerung aus der Wahrnehmung entsteht, und erst aus der Zusammenfassung mehrerer gleichartiger Erinnerungen eine „empeiría“ (Erfahrung) entsteht (vgl. ders., Met. I 1). Aus medizinischer Sicht lassen sich wohl heute hier einige Ergebnisse erzielen. Für eine philosophische Abhandlung ist dies aber eher belanglos. 166
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237 welchen Wert die innere Wahrnehmung habe. Folglich wissen wir auch nicht, ob das erkannte Erlebnis (z.B. das Sehen der Schreibmaschine) überhaupt existiert und so ist, wie es erkannt wird. Wenn wir behaupten, dass das erkannte Erlebnis eine Ursache der inneren Wahrnehmung sei, nehmen wir schon im voraus an, dass diese Wahrnehmung uns über ihren Gegenstand richtig informiert, während dies erst mit Hilfe dieses Verfahrens (der inneren Wahrnehmung) zu entscheiden ist. Wir begehen also den Fehler der „petitio principii“ (vgl. GE I, 221). Darüber hinaus ergeben sich hier noch andere Probleme. So ist etwa für das Objektivitätsproblem der inneren Wahrnehmung eine Differenzierung zwischen innerer und immanenter Wahrnehmung bedeutsam. Während die innere Wahrnehmung sich auf psychische Prozesse und Zustände sowie auf Eigenschaften des psychischen Individuums bezieht, richtet sich dagegen die immanente Wahrnehmung auf Bewusstseinserlebnisse selbst und deren Elemente oder Momente und wird von demselben Subjekt wie diese Erlebnisse vollzogen. Das, was in der immanenten Wahrnehmung gegeben ist, ist keineswegs transzendent dieser Wahrnehmung gegenüber. Darum ‚existiert die innere Wahrnehmung – sofern sie sich auf die Gegenwartsphase beschränkt – nur unter der Bedingung, dass das immanent Wahrgenommene existiert’. Denn wenn wir unsere Bewusstseinserlebnisse aufgrund der inneren Wahrnehmung anerkennen, dann können die anerkannten Erlebnisse unmöglich nicht existieren. Damit hängt nach Ingarden desgleichen die Unterscheidung zwischen psychophysischem Individuum (insbesondere der menschlichen Person) und reinem Subjekt zusammen. Während das psychophysische Individuum einen möglichen (Erkenntnis-) Gegenstand der inneren Wahrnehmung sowie der Erkenntnis von fremden, anderen psychischen Individuen und deren Zustände darstellt, ist das reine Subjekt dagegen zur Zeit des Vollziehens des bewussten (erkenntnismäßigen) Aktes kein Gegenstand der Erkenntnis, sondern vielmehr die Quelle, aus der der Erkenntnisakt entspringt (vgl. GE II, 648f). Mit dem Objektivitätsproblem der inneren Wahrnehmung ist daher das Problem des Erkennens von fremden psychischen Zuständen verbunden, zumal beide Probleme das psychische Individuum als Gegenstand ihrer Erkenntnis haben. Freilich liegt hier folgender Unterschied vor: Im Falle der inneren Wahrnehmung bin ich mir selbst (als psychisches Individuum)
238 als Erkenntnisgegenstand gegeben, beim Erkennen von fremden psychischen Zuständen dagegen kommen andere Menschen (als psychische Individuen) als Gegenstände meiner Erkenntnis ins Spiel. Bezüglich fremder psychischer Zustände kompliziert sich aber das Objektivitätsproblem. Deswegen fragt Ingarden: Inwiefern und auf welche Weise kann ich psychische Fakten erkennen, welche in anderen Menschen vor sich gehen und bei ihnen den Gegenstand innerer Wahrnehmung bilden. Seine Antwort lautet: Wir schließen meist von der Verhaltensweise der Menschen auf deren psychische Zustände und Eigenschaften, z.B. wie sich jemand kleidet, ob er auf andere im Straßenverkehr Rücksicht nimmt, wie sich jemand äußert oder verhält usf. (vgl. PTP I, 409). Wenn es nicht so wäre, dass wir etwas über fremde psychische Zustände in unmittelbarer und anschaulicher Wahrnehmung erfahren, dann würden wir selbst auch vor anderen Menschen weder Angst haben, dass sie unter gewissen Umständen mitbekommen, was wir erleben, noch uns vor ihnen durch „verschiedene Masken“ bzw. Verhaltensweisen verbergen wollen, um unsere Privatsphäre zu schützen (vgl. PTP I, 426). Aus Sicht der Objektivitätsfrage gilt es weiterhin klar zu machen, dass die sinnliche (äußere) Wahrnehmung eine notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung für die Wahrnehmung von fremden psychischen Zuständen ist. Darum wenn wir fremde psychische Zustände erleben (bzw. uns in diese einfühlen), erleben wir sie keinesfalls genauso wie eigene psychische Erlebnisse innerer Wahrnehmung. Daher erfahre ich die Qualität von Schmerzerlebnissen anderer Menschen nicht unmittelbar, wenn etwa ein X mir seine Schmerzen zu beschreiben versucht. Ich kann nur aufgrund von physiologischen Daten (des Körpers) darauf schließen, dass die Schmerzen von X ähnlich wie meine sind, welche ich selbst einst unter vergleichbaren 168
Dass dieses Problem für das menschliche Leben von großer Bedeutung ist, steht außer Zweifel. Man könnte viele Beispiele angeben: die Mutter, die ihr Kind großzieht; den Lehrer, der junge Menschen ausbilden will; den Arzt, der etwas von der Gesundheit seiner Patienten wissen will; den Künstler, der die Einstellung anderer durch seine Werke beeinflussen will usw. Für all diese Menschen ist das Erkennen von fremden psychischen Zuständen relevant (vgl. PTP I, 407). 168
239 Umständen erfahren habe (vgl. PTP I, 423f). Das Schließen konfrontiert uns mit der Problematik des Erkennens idealer Objekte. 169
§3. Objektivitätsproblem der Erkenntnis idealer Gegenstände Da Ingardens erkenntnistheoretische Überlegungen sich auch auf ideale Objekte beziehen, muss hier ebenfalls nach der Bestimmung des Wahrheitswertes von dem im betrachteten Erkennen gewonnenen Erkenntnisergebnis gefragt werden, d.h. ob und gegebenenfalls in welchem Maße uns die Erkenntnis idealer Objekte erlaubt, eine Erkenntnis in Bezug auf den Gegenstand zu gewinnen, den sie betrifft (vgl. GE I, 227). Wir beginnen mit der Frage: Wie fasst Ingarden ideale Objekte bzw. Gegenstände auf? Ideale Gegenstände existieren weder in der Zeit noch im realen Raum. Sie sind auch unveränderlich, d.h. es ist nicht möglich, dass ein Gegenstand S dasselbe Merkmal P besitzt und nicht besitzt. Ideale Gegenstände können auch in keiner Kausalbeziehung stehen. Die Verhältnisse zwischen ihnen sind nur durch ihre Qualitäten, nicht durch die Tatsache ihrer Existenz bestimmt. Die Existenz von idealen Gegenständen ist nicht durch die Existenz von realen Gegenständen bedingt und zieht die Existenz der letzteren ebenfalls nicht nach sich (vgl. SFPh, 163). Unter idealen Gegenständen versteht Ingarden vor allem die Objekte der Mathematik (Zahl, Raum) und Logik (Begriffe, Urteile, Schlüsse, Theorien). Es geht also in erster Linie um ein deduktives System, d.h. ein System von Sätzen, die mit Hilfe von rein logischen deduktiven Operationen aufgrund eines Axiomensystems gewonnen werden (vgl. GE I, 190). Um die Axiome eines Systems überhaupt zu erfassen, ist nicht nur die sinnliche Wahrnehmung von Bezeichnungen erforderlich, sondern auch das ‚Verstehen von den betreffenden Axiomen samt dem in Bezeichnungen enthaltenen Sinn’. Bei der Analyse von idealen Objekten haben wir es nun
Ingarden kritisiert deswegen verschiedene Theorien, welche dies eben leugnen, z.B. „Theorie des Schließens per analogiam“ (Mill), „Theorie der Einfühlung“ (Lipps) u.a.
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240 mit apriorischer Erkenntnis zu tun (vgl. GE I, 215f). Darum können wir desgleichen fragen: Wie steht es mit der Objektivität der apriorischen Erkenntnis? Im Aufsatz „Die Bestrebungen der Phänomenologen“ beschreibt Ingarden zwei Welten: 170
„Wenn ich mich mit meinem Alltagsleben beschäftige oder sogar wenn ich an theoretischen Problemen arbeite, nehme ich gegenüber der realen Welt eine natürliche Einstellung ein. Diese Welt ist mir dann – ob mich das interessiert oder nicht – immer gegenwärtig als wirklich, und zwar nicht nur der ausgewählte Teil von ihr, wo ich mich gerade befinde, sondern überhaupt die Welt auch in den Teilen, die außerhalb meines Gesichtsfeldes liegen. Wenn ich mich z.B. mit gewissen idealen Gegenständen, sagen wir mit mathematischen Funktionen befasse, befinden sich andere mathematische Objekte nur in einem gewissen Maße im Umkreis meiner Gedanken. Sobald ich aber aufhöre, mich mit diesen Problemen zu beschäftigen, verschwindet die Welt der mathematischen Objekte überhaupt aus meinem Denkfeld und ist mir weder gegenwärtig noch als seiend gegeben. Indessen existiert für mich die reale Welt sogar dann, wenn ich mich z.B. mit unendlichen Mengen befasse“ (SFPh, 196).
Im zitierten Text, der einen idealistisch-realistischen Charakter aufweist, macht Ingarden deutlich, dass die Welt der idealen Gegenstände, und somit der apriorischen Erkenntnis eine andere ist als die reale Welt. Während die reale (äußere) Welt vor allem den Gegenstand der äußeren Wahrnehmung darstellt, bilden mathematische Funktionen dagegen den Gegenstand der apriorischen Erkenntnis. Die apriorische Erkenntnis bestimmt also die Grenzen, in denen gewisse Qualitäten miteinander zu einem Ganzen verbunden werden können, sowie andere einander gegenüber seinsunselbständige Qualitäten im Rahmen eines Ganzen zusammen auftreten müssen. Durch das Zusammenfügen von verschiedenen derartigen apriorischen Feststellungen kann man gewisse Sätze über das Wesen von Gegenständen einer bestimmten Art gewinnen, ohne dabei zu präjudizieren, dass diese tatsächlich existieren (vgl. SFPh, 192). Die Nichtnotwendigkeit des tatsächlichen Existierens ist
Ingarden spricht hier von „unmittelbarer apriorischer Erkenntnis“, d.h. von der Erkenntnis, die dem Subjekt selbst „im Original“ erscheint.
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241 offenbar für die Objektivitätsfrage der apriorischen Erkenntnis und somit der idealen Gegenstände von entscheidender Bedeutung. Man kann es mit einem Beispiel verdeutlichen: Wir haben drei Qualitäten: Orange, Rot und Gelb. Sofern diese Qualitäten konkret zur Erscheinung gelangen, behält die apriorische Erkenntnis, welche die „Verwandtschaft“ von diesen drei Qualitäten betrifft, ihre Geltung – und zwar unabhängig davon, ob die gegebenen Dinge tatsächlich so gefärbt sind oder nicht, und ob sie überhaupt existieren (vgl. SFPh, 187). Wir können festhalten: Im Bereich der idealen Gegenstände erfährt das Objektivitätsproblem bei Ingarden im Vergleich zum Objektivitätsproblem der äußeren Wahrnehmung eine Art „Akzentverschiebung“, d.h. im Mittelpunkt steht nicht mehr das Problem des Erkennens von idealen Objekten selbst, sondern das ihrer tatsächlichen Existenz. Das geschieht vor allem aus zwei Gründen: Zum einen begibt sich unser Autor bei der Analyse dieser Problematik auf die Ebene der apriorischen Erkenntnis und folglich der Nichtnotwendigkeit der tatsächlichen Existenz. Zum anderen wird hier auch mit den auf Konventionen beruhenden Axiomen gearbeitet, d.h. mit den ersten, allen Beweisen zugrunde liegenden nicht abgeleiteten Sätzen, welche sowohl durch sich einsichtig als auch vorausgesetzt sind. Deswegen könnte man durchaus behaupten, dass Ingarden hier der Kantischen These deutlich zu folgen scheint: „Aus lauter Erkenntnissse a priori besteht die Mathematik insgesamt, bzw. die Welt der mathematischen Objekte“. 171
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Vgl. de Vries, J. (1996a), 92 ; auch Brugger, W. (1996e), 392. Vgl. Kant, KrV, B 14f. Was ergibt sich also letztendlich für Ingardens Objektivitätsfrage? Einerseits kann man das Problem positiv lösen, indem man etwa im Bereich der Mathematik oder Logik verbleibt und mit Hilfe von Axiomen arbeitet: Es steht außer Zweifel, dass sowohl für einen X als auch einen Y notwendig gelten muss „2 x 3 = 6“, wenn beide von denselben Axiomen richtig Gebrauch machen (und nach richtigen mathematischen oder logischen Regeln verfahren). Andererseits kompliziert sich die Sache, wenn wir uns auf andere apriorische Gebiete begeben, z.B. im Farbenbereich. Selbst wenn wir es auch hier mit einer Erkenntnis „a priori“ zu tun haben, etwa beim Versuch, Rot und Grün aufeinander zu beziehen, wird die Objektivität durch ein stärkeres Engagement von subjektiven Faktoren belastet, so dass die Ergebnisse dieses Beziehens bei einem X und einem Y vermutlich weit auseinander lägen. 171 172
242 §4. Objektivitätsproblem in der Ästhetik. Verhältnis zu Kant Ingarden befasste sich mit dem Erkenntnisproblem auch im Hinblick auf die Ästhetik. In Anspielung auf den berühmten Satz von Heraklit von Ephesus, der lautet: „Man kann nicht zweimal in denselben Fluß hinabsteigen“, behauptet Ingarden: „Man kann nicht zwei identische oder gleiche ästhetische Konkretisationen desselben Werkes realisieren“ (vgl. ELK, 351). Indes werden vielfältige Kulturgebilde wie Kunstwerke, Werte, soziale Erzeugnisse, positives Recht, staatliche Institutionen usf. notwendig „realisiert“, weil sie im Leben eines einzelnen Menschen und jeder menschlichen Gesellschaft zweifellos eine bedeutende Rolle spielen (vgl. GE I, 227). Offenbar hängt damit auch das Objektivitätsproblem zusammen. Wenn wir von der Ästhetik bei Ingarden sprechen, dann richten wir unser Augenmerk in erster Linie auf das ‚literarische Werk’, wobei auch andere Elemente wie Musikwerk, Film, Bild, und Architekturerzeugnisse als ästhetische Gegenstände nicht zu übersehen sind. Im folgenden Abschnitt 173
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Die Ästhetik, die – wie wir das noch sehen werden - anders als bei Kant in KrV zu verstehen ist, stand im Mittelpunkt des Denkens Ingardens. In unserer Abhandlung werden wir uns darauf erst im Kap. V genauer einlassen – im Zusammenhang mit ontologischen Fragekomplexen. Hier können wir nur schwerpunktmäßig auf einige für unsere Analyse relevante Aspekte eingehen. Als wichtigste ästhetische Werke Ingardens gelten: LK, ELK, EKW, GAL, UOK, SÄ I-III, VDÄ. Die ästhetische Konkretisation eines literarischen Kunstwerks (= in erster Linie das Werk der sogenannten „schönen Literatur“, aber auch andere etwa „wissenschaftliche Werke“ [vgl. ELK, 5]) ist (kurzum) ein „individueller Gegenstand“ als Ergebnis von berichtenden Urteilen und Bewertungen eines Subjekts (bzw. mehrerer Subjekte), wobei über denselben Gegenstand unzählige Urteile gefällt werden (können) (vgl. ELK, 466). Das ist nicht zuletzt deswegen denkbar (und zugleich notwendig), weil jedes Ding, jede Person, jeder Vorgang im literarischen Werk eine Reihe von „Unbestimmtheitsstellen“ enthält (vgl. ELK, 55). Nach M. Rozewicz (vgl. [2002], 10) ist Konkretisation ein besonderer Fall des Abhängig-Machens des realen Seins von einem idealen Objekt. D.h. sie ist ein reales Faktum, welches die Verkörperung von idealen Gegenständen in einem anderen Modus der Existenz darstellt. Vgl. dazu auch 5§3 (Kap. V) der vorliegenden Abhandlung. 173
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243 beschränken wir uns allerdings nur auf die Betrachtung literarischer Werke (bzw. Kunstwerke) aus Sicht der Objektivitätsproblematik. In seiner Ästhetikforschung geht Ingarden von der Alltagssituation aus: Wir beschäftigen uns fast täglich mit literarischen Werken, wir lesen sie, wir werden durch sie gerührt, sie entzücken oder mißfallen uns, wir bewerten sie, fällen über sie verschiedene Urteile, führen über sie Diskussionen, schreiben Abhandlungen usf. (vgl. LK, 1). Wie oben bereits angedeutet geht es ihm dabei sowohl um die Werke der sogenannten „schönen Literatur“ als auch um wissenschaftliche Werke. In beiden Fällen sind drei Erkenntnisfaktoren relevant: (1) vorästhetisches betrachtendes Erkennen; (2) ästhetisches Erleben, welches zur Konstitution der ästhetischen Konkretisation führt und (3) kontemplatives Erkennen der ästhetischen Konkretisation in ihrer werthaften Gestalt (vgl. ELK, 324, 376). Beim vorästhetischen Erkennen handelt es sich darum, so unser Autor, diejenigen Eigenschaften und Elemente im literarischen Werk aufzufinden, welche es zum Kunstwerk machen. Dieses Erkennen setzt erst dann ein, wenn das betreffende Werk von einem Leser bereits in „gewöhnlicher Einstellung“ gelesen worden ist. Im Erkenntnisprozess werden hier nicht nur die Ergebnisse dieser ersten Lektüre berücksichtigt, sondern auch gewisse analytische und synthetische Erwägungen durchgeführt. Das Ziel des vorästhetischen Erkennens eines literarischen Kunstwerks ist dessen objektive Erkenntnis. Die Erkenntnis ist dann objektiv, wenn es ihr gelingt, die dem literarischen Werk selbst zukommenden Eigenschaften und strukturellen Merkmale zu entdecken, welche als solche von den Wandlungen unabhängig sind, denen das Erkennensverfahren unter verschiedenen Umständen unterliegt – je nachdem, wer dieses Erkennen durchführt und unter welchen äußeren Bedingungen es geschieht (vgl. ELK, 266f). Im Verlaufe der Lektüre des literarischen Kunstwerks entwickelt sich ein ästhetisches Erlebnis. Es hat nicht zur Aufgabe, uns die 175
Hier müssen wir uns nur auf das Problem des Erkennens eines literarischen Werkes konzentrieren. Wie ein solches Werk aufgebaut ist, vgl. dazu 5§1 (Kap. V). Zur Methode der Ästhetik bei Ingarden vgl. Morawski, S. (1975), 173f. Zum Verstehen von ästhetischen Werten vgl. Galewicz, W. (1995), 249f; Tyszczyk, A. (1995), 279f; auch 5§2 (Kap. V). 175
244 Erkenntnis eines ästhetischen Gegenstandes zu liefern, sondern diesen Gegenstand zu konstituieren, d.h. erst den Ausgangspunkt einer Erkenntnis zu bilden. Dem Erlebenden kommt es entweder nur darauf an, dieses Erlebnis (im Kontakt mit einem Kunstwerk und durch die Konstituierung eines ästhetischen Gegenstandes) einfach zu haben, oder in diesem Erlebnis zur Erschauung und folglich zur Erkenntnis bestimmter Werte zu gelangen, die am konstituierten ästhetischen Gegenstand erscheinen. Im zweiten Fall stellt das ‚ästhetische Erleben eine Vorbereitung und ein Mittel zur ästhetischen Erkenntnis eines werthaften Gegenstandes’ dar (vgl. EKW, 3f). Der Unterschied zwischen dem ästhetischen Erleben und dem kontemplativen Erkennen der ästhetischen Konkretisation besteht darin, dass während das ästhetische Erleben weitgehend schöpferisch (oder zumindest mitschöpferisch) ist, indem es erst zur Konstituierung der ästhetischen Konkretisation des literarischen Kunstwerkes führt, hat es das kontemplative Erkennen dagegen mit einem bereits fertigen vorgefundenen Gegenstand zu tun und ist grundsätzlich nicht schöpferisch (vgl. ELK, 373). Beim Erkennen der ästhetischen Konkretisation eines literarischen Kunstwerks geht es nach Ingarden vor allem um die ‚Entdeckung des ästhetischen Wertes, welcher sich in der ästhetischen Konkretisation konstituiert und erscheint’. Genauer gesagt handelt es sich einerseits um das (auf Anschauung gegründete) ‚Verstehen des Seinszusammenhangs zwischen den in betreffender Konkretisation erscheinenden ästhetisch wertvollen Qualitäten’, andererseits geht es um das ‚Verstehen des Seinszusammenhangs zwischen der Mannigfaltigkeit dieser ästhetisch wertvollen Qualitäten und dem gegebenenfalls erscheinenden qualitativ eigenartig bestimmten ästhetischen Wert’ (vgl. EKW, 143f; ELK, 462). Was resultiert daraus für das Objektivitätsproblem? Die ästhetische Konkretisation eines literarischen Kunstwerks ist – wie oben bereits angedeutet – schlicht und einfach ein „individueller Gegenstand“. Über denselben Gegenstand fällt man eine Reihe von 176
Zum Begriff des Verstehens aus epistemologischer Sicht vgl. etwa D. Gierulanka, (1964), 141f. Als Assistentin von Ingarden vertritt sie m.E. eindeutig auch seine Position, der gemäß dem Verhältnis zwischen dem Verstehen und verschiedenen anderen Erkenntnisprozessen eine wichtige Rolle zukommt.
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245 berichtenden Urteilen und Bewertungen. Die individuellen Gegenstände kann man einerseits entweder hinsichtlich ihrer „gemeinsamen“ Eigenschaften erkennen, welche vielen Individuen derselben Art zukommen, oder hinsichtlich ihrer „individuellen“ Eigenschaften, die nur dem betreffenden Gegenstand zustehen. Andererseits lassen sich die individuellen Gegenstände (G) in zwei Klassen aufteilen: (1) intersubjektive G – können ihrem Wesen nach als dieselben von vielen entsprechend befähigten Erkenntnissubjekten unmittelbar erkannt werden (z.B. psychische Dinge und Vorgänge), und (2) monosubjektive G – sind dem unmittelbaren Erkennen eines und nur eines Erkenntnissubjekts zugänglich (z.B. alle Bewusstseinserlebnisse). Während die sich auf intersubjektive Gegenstände beziehenden Urteile sich hinsichtlich ihrer Objektivität entweder direkt durch Berufung auf eine entsprechende unmittelbare und durch mehrere Subjekte zu vollziehende Erkenntnis beweisen lassen, oder unmittelbar mit Hilfe von logischen Operationen, ist dies bei den Urteilen, in denen monosubjektiven Gegenständen eine individuelle Eigenschaft zuerkannt wird, nicht möglich, weil diese Urteile sich durch kein anderes Subjekt unmittelbar nachprüfen lassen (vgl. SÄ I, 229f). 177
In dem Kontext darf Ingardens Theorie der „Quasi-Urteile“ nicht übersehen werden, die den Unterschied zwischen einem literarischen und wissenschaftlichen Werk in Bezug auf Aussagesätze hervorhebt. Die Aussagesätze unterscheiden sich in beiden Werken trotz derselben Form und manchmal auch trotz anscheinend desselben Inhalts. Während die Aussagesätze im wissenschaftlichen Werk echte Urteile im logischen Sinne sind, in welchen etwas ernst behauptet wird und die nicht nur den Anspruch auf Wahrheit erheben, sondern auch wahr oder falsch sind, können die Aussagesätze im literarischen Werk, welche zwar keine reinen Aussagesätze sind, nicht für ernstgemeinte Behauptungssätze bzw. Urteile gehalten werden. Das bedeutet, dass die Behauptungssätze im literarischen Werk einer „Quasi-Modifikation“ unterliegen. Diese „Quasi-Modifikation“ trifft nach Ingarden auch für andere Sätze zu, z.B. für Fragen, dann haben wir es mit „Quasi-Fragen“ zu tun, für Wünsche („QuasiWünsche“), Befehle („Quasi-Befehle) usw. (vgl. LK, 169f, 192). Sie trägt zum Entfalten des ästhetischen Erlebnisses bei (vgl. SÄ I, 464). Diese Theorie Ingardens wurde aber auch oft stark kritisiert, z.B. von K. Hamburger ([1957], 14f). Dazu vgl. auch Ströker, E. (1994); Seifert, J. u.a. (1994); Seifert, J. (1995a). In 5§5 (Kap. V) wird diese Kritik genauer erläutert. 177
246 Das Erkennen des literarischen Kunstwerks, das zu einer bestimmten Rekonstruktion desselben führt, bildet gewissermaßen nur einen ‚Spezialfall von empirischem Erkennen’ schlechthin, in ‚welchem wir niemals eine absolute Garantie für die Objektivität von erzielten Ergebnissen gewinnen können’ (vgl. ELK, 404). Und das ist eben entscheidend für die Bestimmung des Verhältnisses der Ingardenschen Position zu Kant. Während Ingarden bei der Behandlung der Objektivitätsproblematik idealer Objekte dem Kantischen Standpunkt noch nahe steht, liegen zwischen den beiden hinsichtlich der Objektivitätsfrage der Ästhetik hingegen klare Differenzen vor: Bewegt sich Ingarden im Bereich des Schönen, das im literarischen Kunstwerk – also im Werk der sogenannten „schönen Literatur“ – zum Ausdruck kommt, und scheint gleichsam einem Baumgarten zu folgen, geht es Kant dagegen um die ‚transzendentale Ästhetik’. Ästhetik hat bei Kant nichts mit dem Schönen zu tun, sondern ist von der griechischen Grundbedeutung „aísthēsis“ (d.h. Wahrnehmung, Anschauung) her zu verstehen. Anschauungen erhalten wir durch unsere Sinne, durch die Sinnlichkeit. Daher will Kant zeigen, dass der Sinnlichkeit die Strukturen a priori (d.h. Raum und Zeit) zugrunde liegen. Von den ästhetischen Überlegungen Ingardens wird auch der Standpunkt Husserls betroffen. 178
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Dem liegt Ingardens Behauptung zugrunde, dass das literarische Kunstwerk als das zu fassen ist, was zwar aus subjektiven Bewusstseinsoperationen hervorgeht, das aber sowohl allem Bewusstsein als auch allem Psychischen ‚transzendent’ bleibt (vgl. LK, 186f). Der Begriff Ästhetik wurde erst von A. G. Baumgarten (vgl. [1750]) geprägt und weist gewisse ontologische Akzente auf. Obwohl es Baumgarten – so wie Kant – auch um eine Wissenschaft von der Sinneswahrnehmung geht, bezeichnet er den Zweck der Ästhetik als „Vollkommenheit der sinnlichen Erkenntnis als solcher, in der die Schönheit besteht“. Das wird von Kant kritisiert (vgl. ders., KrV, B 35). Vgl. Kant, I., KrV, B 33f. Dazu vgl. etwa Disse, J. (2001), 224f. Wir können uns hier leider auf die Kantische Position nicht ausführlicher einlassen. 178
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247 §5. Abschließende Bemerkungen im Kontext des transzendentalen Idealismus Husserls Seit dem Tod Ingardens (1970) wird in den philosophischen Kreisen betont, dass Ingardens Beitrag zum philosophischen Gedankengut in erster Linie auf dem Felde der Ästhetik zu suchen ist. Was seine Analysen der Husserlschen Philosophie – insbesondere das Problem des transzendentalen Idealismus – anbelangt, gelten diese aus Sicht des gegenwärtigen Standpunkts zum Teil als ergänzungsbedürftig. Das schließt aber m.E. noch keinesfalls aus, dass wir bei Ingarden von einer „Überwindung der idealistischen Position Husserls“ sprechen können. Im Gegenteil finden wir bei unserem Autor diverse Impulse bzw. Elemente, welche dies belegen. Allerdings hat diese Überwindung – das will übrigens die vorliegende Abhandlung aufweisen – keinen „radikalen“, sondern eher einen schwerpunktmäßigen Charakter, der im Rahmen der von Ingarden herausgearbeiteten Begriffe zu verstehen ist. In Bezug auf das Problem des Erkenntniswertes (mtihin der Objektivitätsfrage) wollen wir zwei Überwindungspunkte benennen, die bereits in den vorangehenden Abschnitten angesprochen bzw. ausgeführt worden sind: den ästhetischen Gesichtspunkt und das transzendentale Kriterium. In 4§4 (Kap. II) haben wir von der Ästhetik bei Ingarden kurz berichtet, insbesondere vom literarischen Werk. Auf diesem Hintergrund kommen manche Differenzen – offenbar trotz gewisser Berührungspunkte – zwischen Ingarden und Husserl zum Vorschein. Erstens, während Husserl 181
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Vgl. Mitscherling, J. (1997), 6f. Hier geht es also um Ingardens Werk „Das literarische Kunstwerk“ und um Husserls Schrift „Formale und transzendentale Logik“. Die gemeinsame Position lautet zunächst einmal: Wortbedeutungen, Sätze und höhere Sinneinheiten sind Gebilde, die aus den subjektiven Bewusstseinsoperationen hervorgehen. Darüber hinaus besteht die Verwandtschaft im Hinblick auf: (1) die Auffassung der subjektiven satzbildenden Operation und die Unterscheidung zwischen dem reinen Aussagesatz und dem Urteil; (2) die Unterscheidung zwischen dem materialen und formalen Inhalt der nominalen Wortbedeutung und die Gegenüberstellung der vollen Bedeutung eines isolierten Wortes und der syntaktischen Momente, welche seine Bedeutung im Satze annimmt; 181 182
248 alle (einst für ideal gehaltenen) Gegenständlichkeiten jetzt (d.h. in der späteren Phase seiner Tätigkeit, vgl. dazu 2§1 [Kap. I]) für intentionale Gebilde besonderer Art hält und dadurch zu einer universalen Erweiterung des transzendentalen Idealismus gelangt, erhält Ingarden die strenge Idealität der verschiedenen idealen Gegenständlichkeiten (ideale Begriffe, ideale individuelle Gegenstände, Ideen und Wesenheiten) aufrecht und erblickt in den idealen Begriffen ein ‚ontisches Fundament’ von Wortbedeutungen, welches den Begriffen ihre intersubjektive Identität und seinsheteronome Seinsweise ermöglicht. Zweitens entspringt die Auffassung von den logischen Gebilden beim späteren Husserl vor allem seinen phänomenologischen Untersuchungen und allgemeinen transzendental-idealistischen Motiven, die Betrachtungen bei Ingarden sind dagegen ontologisch geprägt und bestrebt, an den logischen Gebilden selbst eine Reihe von Tatbeständen aufzuweisen, welche ihnen das Idealsein im strengen Sinne unmöglich machen und zugleich auf ihren Seinsursprung aus subjektiven Operationen zurückverweisen. Drittens enthält sich Ingarden – im Gegensatz zu Husserl – des Urteils bezüglich des transzendental-idealistischen Standpunktes, insbesondere der realistischen Auffassung von Welt (vgl. LK, XII). Da auf das Problem des transzendentalen Kriteriums bereits in 4 (Kap. II) eingegangen wurde, sei hier bloß hinzugefügt, dass obwohl sich auch Husserl von diesem Kriterium leiten lässt, er ihm jedoch keine exakte Formulierung verleiht (vgl. FSE, 270). Deshalb kann die Ingardensche Formulierung dieses transzendentalen Kriteriums gleichwohl als „Überwindungsversuch“ der Husserlschen Position angesehen werden. Will man versuchen, Ingardens Methode zu verfolgen und zu bestimmen, dank der nicht nur diese zwei letztgenannten Überwindungsaspekte zustande gekommen sind, sondern auch durch die das philosophische Denken Ingardens größtenteils geprägt ist, dann scheint das zweite Kapitel der vorliegenden Untersuchung dazu ganz besonders geeignet zu sein. B. Smith bezeichnet diese Methode als „Zusammensetzung der zugänglichen ontologischen Optionen und Eliminierung derer, welche sich als und (3) die Analyse der Konstituierung einer rein intentionalen Gegenständlichkeit in einer Mannigfaltigkeit von zusammenhängenden Sätzen (vgl. LK, XIIf).
249 ungeeignet erweisen“. So fragt Ingarden, was eine Erkenntnistheorie nicht sein könne, und beseitigt der Reihe nach die einzelnen Konzeptionen (d.h. die psychophysiologische, deskriptivund apriorischphänomenologische), um schließlich zu seinem eigenen Entwurf der Epistemologie zu kommen. Inwiefern ist dies ihm aber – mit dem Blick auf die gegenwärtige erkenntnistheoretische Reflexion – gelungen? Verweisen wir noch kritisch auf einige Punkte. Als bedenkliches Ergebnis von Ingardens epistemologischer Analyse, welcher wir im zweiten Kapitel auf die Spur gekommen sind und welche mit seiner „Zusammensetzungs-Eliminierungs-Methode“ verkettet ist, ist zunächst seine pauschale Behauptung zu bezeichnen, dass die meisten Philosophen (Locke, Hume, Kant u.a.), die zweifellos heute als Hauptvertreter der philosophischen Tradition des Abendlandes gelten, gravierende Fehler begangen haben, die Ingarden selbst jedoch vermieden haben will (vgl. OSW, 10f). Ingardens erkenntnistheoretische Reflexion als ganze tendiert m.E. jedoch oft – infolge mangelhafter Präzisierungen – in Richtung eines „hypothetischen Realismus“ (vgl. etwa 4§1 [Kap. II]), der behauptet, dass „objektive Erkenntnis prinzipiell möglich und auch für uns endliche Vernunftwesen erreichbar sei, und dass wir sogar durchaus objektive Erkenntnis besäßen“. Indes wird auch heute die These vertreten, dass die Rede von objektiver Erkenntnis ‚erkenntnistheoretisch naiv’ ist. Denn wir können niemals wissen, wie die Welt „an sich“ ist. Wir wissen allenfalls, wie die Welt uns erscheint, wie wir sie erleben, wahrnehmen, erfahren; die objektive Wahrheit kann von uns nie gesehen werden. Objektive Erkenntnis als Erkenntnis der Welt, wie sie ist, und nicht, wie sie uns erscheint, ist deshalb unmöglich. Von ihr zu sprechen, was Ingarden – wie wir das im zweiten Kapitel gesehen haben – eben doch wagt, sei unsinnig, sie feststellen zu wollen, erkenntnistheoretisch naiv, sie zu behaupten, tautologisch. In seiner Erkenntnistheorie bedient sich Ingarden – sozusagen – der „Realismus-Thesen“ („es gibt die Außenwelt“, 183
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Vgl. Smith, B. (1985), 111. Hier können wir darauf nicht ausführlicher eingehen. Vgl. Stroud, B. (1981), 463. Vgl. Weizsäcker, C.F.v. (1977), 187f.
250 „wir nehmen Außendinge wahr“). Diese Thesen sind aber und bleiben (aus Sicht der gegenwärtigen Epistemologie) Hypothesen, die nicht gerechtfertigt werden können und nicht gerechtfertigt zu werden brauchen – sie sind nicht rechtfertigbare, aber auch nicht rechtfertigungsbedürftige Rahmen-Annahmen. Im Kontext dieser „Realismus-Thesen“ zeigt sich weiterhin, dass sich Ingarden intensiv im Bereich der Wahrnehmungsproblematik bewegt (vgl. z.B. 4 [Kap. II]), die aber die auffallendste Einbruchstelle der naturalistischen Betrachtungsweise in die Erkenntnistheorie markiert. Daher könnte man wohl mit Recht fragen: Inwiefern ist unser Autor ein Naturalist? Indes gilt es festzustellen, dass Ingardens erkenntnistheoretische Bemühungen, die wir im zweiten Kapitel darzustellen versucht haben, noch viel fassbarer hätten durchgeführt werden müssen. Nicht zuletzt geht es sowohl um eine detallierte Präzisierung des Kernelements seiner Erkenntnistheorie als auch um eine adäquate Formulierung von damit verbundenen Gefahren. Damit wollen wir uns im dritten Kapitel befassen. 187
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5. Zusammenfassung In der Einführung haben wir bereits deutlich gemacht, dass das zweite Kapitel als ganzes von der Frage geleitet wird: Was ist das Erkennen für Ingarden? Mit diesem Kapitel wurde das Feld des „selbständigen“ Denkens Ingardens betreten, d.h. es ging in erster Linie um seine eigene Position und nicht so sehr um seine Interpretation der Husserlschen Inhalte, wobei das Ganze auf das Problem der Überwindung des transzendentalen Idealismus Husserls hinausläuft. Das zweite Kapitel besteht aus drei Teilen. Im ersten Teil sind wir der Frage nachgegangen, was eine Erkenntnistheorie nach Ingarden nicht sein könne. Es ging also um Ingardens Kritik an der Erkenntnistheorie, die als dreischrittiges Verfahren dargestellt wurde. Erstens wendet sich Ingarden gegen die Wir werden im II. Teil der vorliegenden Abhandlung sehen, dass sich Ingarden letzten Endes für eine realistische Position entschieden hat. Vgl. Rutte, H. (1987), 155f.
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251 psychophysiologische Konzeption der Erkenntnistheorie, welche diejenige Form erkenntnistheoretischer Reflexion sei, die sich uns gleichsam selbst aufdrängt, wenn wir in natürlicher Einstellung beginnen, uns über Erkenntnisprobleme zu besinnen (vgl. GE I, 21). Seine Einwände lauteten: eine zu enge Bestimmung des Forschungsgebietes, einseitige empirische Methode und dogmatischer Charakter. Folglich waren drei von einer Erkenntnistheorie zu erfüllende Postulate das Ergebnis: Voraussetzungslosigkeit, Allgemeingültigkeit und Endgültigkeit der Ergebnisse. Zweitens knüpft unser Autor an die sich aus der Phänomenologie ergebenden Aussichten an, indem er die deskriptivphänomenologische Konzeption der Erkenntnistheorie einer zweistufigen Analyse („quaestio facti“ und „quaestio iuris“) unterzieht (vgl. GE II, 508f). Es stellte sich heraus, dass obwohl diese Konzeption einigen Einwänden, die gegen die psychophysiologische Konzeption erhoben wurden, entgehen kann, sie jedoch gewissen Mängeln verhaftet bleibt: einer zu engen Bestimmung des Forschungsgebietes, einer zu eng formulierten Aufgabe und Methode sowie dem Fehlen des Wissenschaftsstatus. Drittens, wenn Ingarden zur Analyse der apriorischphänomenologischen Konzeption der Erkenntnistheorie (AphE) übergeht, so zeigte sich, dass deren wesentlicher Unterschied zu der deskriptivphänomenologischen Konzeption darin besteht, dass in der AphE in der „eidetischen Erkenntnis“ erforscht wird. Aber die „eidetische“ Erkenntnis fasst unser Autor als „Erforschung von Ideengehalten“ auf und unterscheidet sich damit von Husserl (vgl. GE I, 275f). Unsere Analyse im Rahmen der apriorisch-phänomenologischen Konzeption konzentrierte sich auf zwei Fragen: (1) Inwiefern hat Husserl den Kantischen Begriff der Erkenntnis „a priori“ übernommen? und (2) Worauf bezieht sich die „eidetische“ Erkenntnis? Da zeigte sich sofort, dass wir es mit dem Problem des Wesens zu tun haben. In dem Kontext haben wir die These aufgestellt, dass man bei Ingarden hinsichtlich des Begriffs „Wesen“ von einer „Überwindung“ der Position Husserls sprechen kann. Diese Überwindung setzt bei der Erforschung des Wesens an, oder genauer gesagt bei der durch ontologische Akzente geprägten Analyse des Gehalts einer entprechenden Idee (vgl. GE II, 583). Der Unterschied zwischen Husserl und Ingarden in Bezug auf das Wesensproblem wurde in einem eigenen Abschnitt ausgearbeitet. Während
252 man nach Husserl Erkenntnistheorie als „Phänomenologie von Wesen und Erkenntniserlebnissen“ betreiben kann, plädiert Ingarden dagegen für eine Erkenntnistheorie als „phänomenologische Ontologie“. Anschließend wurde Ingardens Vorgehen bezüglich der drei oben genannten Konzeptionen der Epistemologie gewürdigt. Im zweiten Teil des II. Kapitels ging es um die Frage, was eine Erkenntnistheorie nach Ingarden sein solle. Es zeigte sich, dass die Erkenntnistheorie, die unser Autor vorschlägt, durch drei repräsentative Merkmale gekennzeichnet ist: (1) dreifache Aufteilung: reine Erkenntnistheorie (E), Kriteriologie und angewandte E; (2) die Auffassung der reinen E als Ontologie und (3) den Kern der ganzen Konzeption der E stellt die Theorie der Intuition des Durchlebens dar. Bevor wir mit der ausführlichen Analyse dieser Merkmale begannen, musste eine Klärung begrifflicher Voraussetzungen durchgeführt werden. Es handelte sich um den für Ingardens Konzeption der Erkenntnistheorie zentralen Begriff der Idee, der durch zwei Faktoren charakterisiert wird: Doppelseitigkeit der Idee und Gliederung des Ideengehalts (vgl. SEW II/1, 231f). In dem Zusammenhang sind wir auch dem Problem der Hierarchie der Ideen und der Frage nach dem formalen Aufbau des Gegenstandes nachgegangen. Was die oben genannten Merkmale anbelangt, stellte sich in den einzelnen Abschnitten heraus, dass die reine Erkenntnistheorie (Ontologie der Erkenntnis) vor allem die allgemeinste Erkenntnisidee analysiert und die grundlegenden rein formalen Grundsätze formuliert. In der Kriteriologie hingegen kommt bereits eine Reihe von weniger allgemeinen Ideen vor und es werden weitere Prinzipien aufgestellt, welche etwa besagen, was für eine Art von Subjekt in einer bestimmten Welt gelte. Schließlich erlaubt uns die angewandte Erkenntnistheorie (Metaphysik der Erkenntnis) zu entscheiden, was für eine Art Subjekt der Mensch ist, sowie was für eine Art Welt unsere Welt ist. Da die Ergebnisse der angewandten Erkenntnistheorie keinesfalls eine völlige Sicherheit gewährleisten können, versucht Ingarden m.E. dem 189
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Im Kapitel II ging es nur um die Punkte (1) und (2). Der dritte Punkt wird im Kapitel III untersucht. Vgl. Chrudzimski, A. (1999), 146.
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253 durch die Einführung der transzendentalen Methode abzuhelfen, was in einem weiteren Abschnitt gezeigt wurde. Diese Methode wurde von uns als ein weiterer Begriff gefasst. Die Folge war die Unterscheidung zwischen zwei Phasen: der existential-kategorischen und der transzendental-phänomenologischen. Darüber hinaus kam zum Vorschein, dass sich Ingarden hier erneut als ein Husserlianer erweist, indem er z.B. behauptet, dass eine einwandfreie Erkenntnistheorie (nur) mit Hilfe der phänomenologischen Reduktion aufzubauen sei (vgl. SPHH, 317). Dadurch wurden jedoch wesentliche Unterschiede zwischen Ingarden und Husserl keinesfalls beseitigt, etwa im Hinblick auf das Anwendungsfeld der phänomenologischen Reduktion und das Verständnis der Rekonstruktion des Gegenstandssinnes. Das führte uns zu der These, dass man auch in diesem Zusammenhang von einer „Überwindung“ der transzendental-idealistischen Position Husserls durch Ingarden sprechen kann. Daraufhin wurde in einer kritischen Reflexion und im Kontext der philosophischen Tradition auf damit verbundene Gefahren hingewiesen. Da Ingarden die Frage nach der Objektivität von Erkenntnis für ein erkenntnistheoretisches Grundproblem hält, haben wir dies im dritten Teil des II. Kapitels behandelt. Es zeigte sich, dass zwei Sachverhalte für die Behandlung des Objektivitätsproblems (OP) relevant sind: (1) Differenzierung zwischen zwei Fragen: Möglichkeit einer Definition der Objektivität sowie einer Kritik des Objektivitätswertes; (2) Transzendentales Kriterium (vgl. FSE, 231, 271). Dabei haben wir bei Ingarden vier Fälle des Objektivitätsproblems unterschieden und in den einzelnen Abschnitten darzustellen versucht: Erstens handelte es sich um das OP der äußeren Wahrnehmung, dessen Erforschung nicht nur die Kenntnis der Idee überhaupt voraussetzt, sondern sich auch auf der transzendentalen Ebene abspielt. Es wurden hier zwei Kriterien genannt, deren Bedeutung Ingarden für seine Erkenntnistheorie m. E. der Reihe nach abwägt: „Identitäts-Objektivitätskriterium“ und „Objektivitätskriterium mit transzendentalen Dispositionen“ (vgl. OSW, 8f). Zweitens ging es um das OP der inneren Wahrnehmung, weil wir nach Ingarden Auskunft über das Erlebnis der äußeren Wahrnehmung nur 191
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Vgl. Ingarden, R. (1963), 589.
254 aufgrund des gegebenen individuellen Aktes der inneren Erfahrung überhaupt gewinnen können (vgl. GE I, 221). Damit ist auch das Problem des Erkennens von fremden psychischen Zuständen verbunden (vgl. PTP I, 409). Drittens war das OP der Erkenntnis idealer Gegenstände zu analysieren. Da wir es hier mit apriorischer Erkenntnis zu tun haben, fragten wir nach deren Objektivität. Es kam auch zum Vorschein, dass nach Ingarden vor allem die Nichtnotwendigkeit von tatsächlichem Existieren hervorzuheben ist. Viertens stießen wir auf das OP in der Ästhetik. Dabei stellte sich heraus, dass hier drei Faktoren relevant sind: (1) vorästhetisches Erkennen; (2) ästhetisches Erleben, welches zur Konstitution der ästhetischen Konkretisation führt und (3) kontemplatives Erkennen der ästhetischen Konkretisation in ihrer werthaften Gestalt (vgl. ELK, 324f). Anschließend wurde die Differenz zwischen Ingarden und Kant im Hinblick auf den Begriff „Ästhetik“ angesprochen. Im letzten Abschnitt haben wir versucht, einerseits zwei „Überwindungspunkte“ der transzendental-idealistischen Position Husserls durch Ingarden zu beleuchten, andererseits einige kritische Hinweise bezüglich des Ingardenschen Vorgehens zu formulieren.
Kapitel III „DAS KERNELEMENT DER ERKENNTNISTHEORIE INGARDENS“ „Wir müssen hier eine Arbeit ausüben, die der Arbeit eines Mathematikers analog ist.“ (FSE, 328) 1. Einführung Ingarden will seine Forschung auf dem Gebiet der Epistemologie mit der Arbeit eines Mathematikers vergleichen – allerdings nur bis zu dem Zeitpunkt, wo dieser noch nicht begonnen hat, zu deduzieren, sondern sich vor allem darum bemüht, die Elemente zu erfassen, deren er sich in seiner Deduktion bedienen wird. Und so wie die Mathematik (z.B. Geometrie) aller empirischen Wissenschaft vom Raum sowie deren Anwendungen für die Zwecke der Technik systematisch vorausgeht, muss nach unserem Autor auch die Erkenntnistheorie aller faktischen Wissenschaft von der Erkenntnis und deren Anwendungen für die Zwecke der Aufstellung von Erkenntnisnormen vorausgehen. Aufgrund des im II. Kapitel Ausgeführten können wir bereits behaupten, dass dies nur die reine Erkenntnistheorie bewältigen kann, weil sie sich allen (gegen eine Erkenntnistheorie erhobenen) Einwänden zu entziehen vermag. Die reine Erkenntnistheorie (bzw. Ontologie der Erkenntnis) ist für Ingarden aber auch eine „absolute Erkenntnistheorie“, in der nicht nur die Ausgangserkenntnis ‚absolut unbezweifelbar’ sein muss und kein Ergebnis ‚dogmatisch’ vorausgesetzt werden darf, sondern auch ein Erkenntnisakt vorhanden sein muss, der selbst nur durch einen Akt von „absolut identischem Wesen“ erkannt werden könne (vgl. FSE, 314f). 1
Diese Einwände fasst Ingarden unter dem Begriff „petitio principii“ auf. Sie werden von uns im zweiten Teil des vorliegenden Kapitels behandelt. 1
256 Abgesehen von der Tatsache, dass wir es bei Ingarden (im Rahmen seiner reinen Erkenntnistheorie) mit einem „Ausschnitt aus der Welt der Ideen“ zu tun haben (vgl. FSE, 328), wurden im Kapitel II drei charakteristische Eigenschaften seiner Konzeption der Epistemologie formuliert: (1) Aufteilung in reine und angewandte Erkenntnistheorie [E]; (2) Auffassung der reinen E als „Ontologie der Erkenntnis“ und (3) Theorie der „Intuition des Durchlebens“. Die zwei ersteren Eigenschaften wurden in dem II. Kapitel auch behandelt. Im Kapitel III wollen wir uns hingegen mit der letzteren Eigenschaft befassen, also mit der Theorie der „Intuition des Durchlebens“. Dieses Kapitel stellt zugleich den letzten Schritt unserer Analyse im erkenntnistheoretischen Teil der vorliegenden Abhandlung dar, den wir bekanntlich mit dem Begriff „Ingardens Weg zum Realismus“ bezeichnen. Im ersten Teil des III. Kapitels soll nicht nur gezeigt werden, dass nach Ingarden eine philosophische Erkenntnistheorie nur dank der „Intuition des Durchlebens“ denkbar ist und erst durch diese möglich gemacht wird, sondern auch wie das Problem in der Erkenntnistheorie zu lösen ist, dass jede ihrer Erkenntnisse einer „erkenntnistheoretischen Kontrolle“ unterzogen werden muss. Im zweiten Teil dieses Kapitels werden wir dagegen einerseits versuchen, die mit der Erkenntnistheorie zusammenhängenden und durch die „Intuition des Durchlebens“ zu überwindenden Gefahren zu analysieren, andererseits die Ingardensche Position mit manchen Positionen aus der heutigen Forschung zu konfrontieren. Das Ganze soll auch auf die These zugespitzt werden, von der sich die vorliegende Arbeit im Gesamten leiten lässt, nämlich auf die „Überwindung des transzendentalen Idealismus Husserls durch Ingarden“. Das Verfolgen der genannten These erhält in dem III. Kapitel insofern eine (im Vergleich zu den vorangehenden Kapiteln I und II) günstigere Basis, als nach Ingarden der transzendentale Idealismus Husserls im Bereich des Bewusstseins fundiert ist. Die Tatsache, dass sich Ingarden mit der nach wie vor für eine philosophische Reflexion bedeutsam bleibenden Bewusstseinsproblematik befasst, spricht zweifellos dafür, dass es sich auch heute noch lohnt, sich mit seinen „originellen“ philosophischen Impulsen vertraut zu machen, die im Begriff der „Intuition des Durchlebens“ kulminieren.
257 Wenn wir die „Theorie der Intuition des Durchlebens“ zum Gegenstand unserer Analyse machen, so gilt es ebenfalls aus methodischer Sicht darauf hinzuweisen, dass wir uns hier lediglich auf das „Kernelement der Ingardenschen Erkenntnistheorie“ konzentrieren wollen. Nichtsdestoweniger sind dazu noch gewisse vorbereitende Untersuchungen erforderlich. 2. Das Problem des Selbstbewusstseins: Vorbereitende Untersuchungen Die erste Antwort auf die philosophische Frage nach dem Bewusstsein oder Geist hat zweifellos die klassische Metaphysik gegeben, die von Platon und Aristoteles über die aristotelische Scholastik des Mittelalters bis zum Zwei-Substanzendualismus von Descartes reicht. Während z.B. in der „Nikomachischen Ethik“ darauf hingewiesen wird, dass Wahrnehmen und Denken jeweils mit dem „Bewusstsein“ ihrer selbst verbunden sind, lässt sich hingegen die Bewusstseinsproblematik bei Descartes folgendermaßen auf den Punkt bringen: Das Bewusstsein oder der Geist ist eine immateriale, unzerstörbare, mit sich selbst identische Substanz. Nach der Descarteschen Periode nahm die Relevanz des Bewusstseinsproblems immer stärker zu – auf verschiedenen philosophischen Gebieten. Abgesehen von den allgemein bekannten Verdiensten Kants führen wir hier etwa Schelling an, der dafür plädiert, „dem Menschen das Bewusstsein dessen zu geben, was er ist, er wird bald lernen, zu sein, was er soll“. Im 20. Jahrhundert erschien auf der „philosophischen Bühne“ der Gedanke eines Brentanos, der das Bewusstsein nicht als Geist (im metaphysischen Sinne) einer immateriellen mit sich identischen unzerstörbaren Substanz auffasst, sondern (erneut) als „Intentionalität“. 2
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Vgl. Aristoteles, NE IX 1170a29-32. Vgl. auch (vor allem) die Problematik von „cogito ergo sum“ bei Descartes (vgl. Med. II, 3, 6). Vgl. Schelling, F.W.J., SW I, 37 (“Vom Ich als Prinzip der Philosophie“). Wir wollen hier keinesfalls geschichtlich vorgehen. Es geht lediglich um die Hervorhebung der Relevanz des Bewusstseinsproblems. Vgl. dazu Brentano, F. (1925). Bei Brentano, der der „inneren Erfahrung“ (bzw. dem inneren Bewusstsein) eine entscheidende Rolle im Erkennensprozess zukommen lässt, könnte man von drei Klassen der Intentionalität sprechen: (1) Vorstellung; (2) Urteil 2
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258 Diese zwei Komponenten bzw. Eigenschaften des Bewusstseins stellen eine Grundlage für die Erwägung der Ingardenschen Konzeption des Bewusstseins dar, welche in der „Intuition des Durchlebens“ kulminiert. Zuvor wollen wir uns einen Zugang zu diesem Problem verschaffen. §1. Formal-ontologischer Zugang Das Verständnis der Theorie der „Intuition des Durchlebens“, die das Hauptelement der Epistemologie Ingardens darstellt, erfordert eine formalontologische Beleuchtung, die uns die prinzipiellen Hintergründe der Ingardenschen Distanz von dem zweigliedrigen und die Positionen von Husserl und Brentano prägenden Modell des Bewusstseins erhellen soll. In seinem ontologischen Werk „Der Streit um die Existenz der Welt“ macht Ingarden folgende Bemerkung: „Unser Ergebnis steht mit der Auffassung Husserls in der „Formalen und transzendentalen Logik“ bis zu einem gewissen Grade in Einklang, obwohl unsere Begründung [...] über das von Husserl in dem genannten Buch Gegebene hinausgeht [...], indem wir uns da mancher formal-ontologischer Einsichten bedient haben“ (SEW II/2, 305).
Als erstes stellt sich die Frage: Was steht bei Ingarden mit der Auffassung Husserls in Einklang, bzw. was übernimmt Ingarden von Husserl? Es ist der Begriff des reinen Bewusstseins. Das reine Bewusstsein, das zu den zeitbestimmten Gegenständlichkeiten gehört, wird von Ingarden – so wie bei Husserl – als „Bewusstseinsstrom“ gedacht. Es ist ein „Vorgang aufgrund der reinen Erlebnisse“ (vgl. EPhH, 157f; SEW II/2, 265). Im Bewusstseinsstrom treten Erlebnisse auf, welche keinesfalls als „fertige Teile“ – im Sinne etwa der „Ideen“ der englischen und (3) Gefühl (vgl. ebd., 194f). Diese Vorstellung der Intentionalität des Bewusstseins wurde bereits bei den Scholastikern diskutiert. Hier können wir aber darauf nicht ausführlicher eingehen. Es sei noch angemerkt, dass sich Ingarden auch mit der Problematik der Philosophie von Brentano befasste, um schließlich zu betonen (trotz vieler kritischen Hinweise), dass ein Verdienst Brentanos darin liege, die Erkenntnismittel der Psychologie systematisch zu analysieren wie auch die Möglichkeit und den Wert von psychologischer Erkenntnis als einer Art empirischer Erkenntnis zu begründen (vgl. SFPh, 20f).
259 Philosophie – anzusehen sind, die sich nur in Bewegung setzen, d.h. ihre Position im Bewusstseinsstrom ändern, sonst aber unverändert bleiben. Vielmehr „werden“ die Erlebnisse erst im Moment ihres Auftretens im Bewusstseinsstrom und in ihrem Sich-Vollziehen. Mit ihrem Werden wird zugleich eine immer neue Phase des Bewusstseinsstroms, während die bereits vollzogenen Phasen mit den sie erfüllenden Erlebnissen vergehen, um nie wieder aktuell zu werden. Die Erlebnisse selbst sind – im Gegensatz zum Bewusstseinsstrom – keine in der Zeit verharrenden Gegenstände. Sie sind nach Ingarden sich vollziehende Vorgänge, ‚in denen das Sich-Vollziehende nicht von vornherein ist, sondern erst in dem Vollziehen selbst wird’. Nur dadurch, dass Erlebnisse werden (sich vollziehen), wird auch der sich in ihnen realisierende Bewusstseinsstrom. Das bewusste Erlebnis, so wie der ganze Bewusstseinsstrom, ist nun ‚in einem Vorgang begriffen’; es ‚ist’, indem es sich vollzieht, indem es wird und vergeht (vgl. SEW II/2, 266f). Wenn zum Wesen des Erlebnisses überhaupt gehört, dass es in ein anderes Erlebnis übergeht, dass es sich ohne Unterbrechung in das andere verwandelt, folgt für Ingarden daraus, dass der Bewusstseinsstrom nicht als Gebiet der Erlebnisse aufzufassen ist, sondern vielmehr als ein „organisches Ganzes“ (vgl. SEW II/2, 279). Die Einheit des Bewusstseins im „Strom“ ist erst aber dann gesichert, wenn ihr einerseits der Bestand 5
Der Begriff „Strom“ gilt für Ingarden als eine spezifische Sphäre des „priviligierten Zugangs“ zum Bewusstsein. Im gegenwärtigen philosophischen Diskurs wird behauptet, dass der (so aufgefasste) Strom des Bewusstseins eng mit dem „epistemologischen Fundamentalismus“ zusammenhängt, der in zwei Thesen zum Vorschein kommt: (1) Für jedes Subjekt S existieren gewisse Überzeugungen (=Basisüberzeugungen), die keine anderen Überzeugungen als ihre Rechtfertigung benötigen, um für S gerechtfertigt zu sein; (2) Die Rechtfertigung aller anderen Überzeugungen des Subjekts S besteht in einer gewissen Relation, in der diese Überzeugungen zu seinen Basisüberzeugungen stehen (vgl. BonJour, L. [1985], 26f). Die Basisüberzeugungen werden in zwei Klassen aufgeteilt: (1) die „introspektiven“ Wahrheiten; (2) die Wahrheiten „a priori“. Es ist eine traditionelle Aufteilung, die sowohl von Descartes und Leibniz als auch von Brentano, Husserl, Russell, C.I. Lewis und Ingarden akzeptiert wird (vgl. Chrudzimski, A. [1999], 69). Zur Relevanz dieser Problematik für die Ingardensche Epistemologie vgl. 3§4 (Kap. III) der vorliegenden Arbeit. 5
260 zusammenhängender Erlebnisse zugrunde liegt, andererseits die Einheit des erlebenden Ich (vgl. SEW II/2, 289). Auf der Ebene des reinen Bewusstseins kommt nur dem reinen Ich eine besondere Rolle zu, weil es sowohl mit den Bewusstseinserlebnissen als auch mit den Bewusstseinsakten am innigsten vereinigt ist. Das reine Ich ist weder ein „reelles Bestandstück“ noch ein ‚unselbständiges Moment des Bewusstseinsaktes bzw. des erlebten Inhalts’. Es ist aber durch die wesensmäßige Struktur des Bewusstseinsaktes als ein zum Bewusstseinsakt und zum Bewusstseinsstrom im Ganzen notwendig zugehöriges Sein eindeutig bestimmt. Selbst wenn das reine Ich als solches zu einem jeden Bewusstseinsakt gehört, erschöpft sich seine Existenz nicht im Vollzug dieses Aktes, sondern verbleibt als das Identische beim Übergang von einem Akt zu dem anderen. Das reine Ich ist ein in der Zeit und in den Wandlungen des Bewusstseinsflusses verharrendes Sein, das weder für den Zeitwandel noch für die völlige Neuheit des gerade vollzogenen Aktes empfindlich ist, was man ‚über das (reale) Ich nicht sagen kann’ (vgl. SEW II/2, 295). Soweit scheint Ingarden Husserl zu folgen. Unser Autor stellt sich jedoch entschieden gegen seinen Meister, wenn dieser behauptet, dass das reine Bewusstsein sowie das reine Ich „absolut“ in dem Sinne existieren, dass sie „nulla re indigeant“, um existieren zu können. Das heißt: Ingarden tritt gegen die Husserlsche Auffassung auf, welche dem reinen Bewusstsein und dem reinen Ich die „absolute Seinsselbständigkeit“ zuerkennt (vgl. EPhH, 179f) , und analysiert die 6
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Unser Autor unterscheidet zwischen folgenden Auffassungen des Ich: (1) das reine Ich – als Vollzieher von Bewusstseinsakten; (2) das Ich – als strukturierter Kern der menschlichen Person und (3) das Ich – welches unser ganzes Wesen umfasst. Dieser Begriff des Ich ist bei Ingarden sehr breit angelegt. Man kann also darunter sowohl die Person in ihrer vollen (aber nur seelischen und geistigen) Bestimmtheit verstehen, aber auch das „Ich“ als konkreten, einzig vorhandenen Menschen, das psychophysische Wesen (vgl. SEW II/2, 294f). Zum Begriff des Bewusstseins bei Husserl vgl. etwa Ströker, E. (1987); Bernet, R. u.a. (1989) usf. Natürlich geht es Husserl nicht um ‚rein ontologische’ Gründe, sondern lediglich im Hinblick auf die ‚Gegebenheitsweise einerseits der reinen Erlebnisse, andererseits der 6
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261 Problematik des reinen Ich in einem weiteren Kontext, indem auch die Begriffe des Ich, der Person und der Seele eingeführt werden. Das reine Ich lässt sich von der Seele, in die es hineingewachsen ist, nicht ‚realiter’ abtrennen, sagt Ingarden. Es bildet eine eigentümliche Struktur, welche die menschliche Seele notwendig aufnimmt, sobald sie zum Selbstbewusstsein und zur Auswirkung in der Vielfalt von Erlebnissen und bewussten Handlungen gelangt. Das reine Ich bildet das „Zentrum des Wesens der Seele“, d.h. ein Dispositionszentrum, aus dem die Erlebnisse hervorschießen und sich in einem Strom entfalten. Es bildet auch eine „Achse“, um die herum seelische Kräfte und Eigenschaften „angewachsen“ sind. Ohne diesen durch die Seele gelieferetn „Boden“ würde das reine Ich nur eine bloße Abstraktion sein, die weder existieren noch verstanden werden könnte. Dadurch, dass sich das reine Ich im komplizierten Aufbau der Seele in den Vordergrund schiebt und in ihrer Verfassung die hierarchisch oberste Stelle einnimmt, dass es das Subjekt eines Selbstbewusstseins und der Quellpunkt von Erlebnisakten sowie bewussten Handlungen ist, wächst die Seele zu einer ‚Person’. Das reine Ich übt die Rolle eines ordnenden und somit verantwortlichen Faktors im Aufbau der zu einer bewussten Person gereiften Seele aus (vgl. SEW II/2, 320f). Diese Bestimmung des Verhältnisses zwischen dem reinen Ich und der Seele entspringt bei Ingarden offenbar seiner realistischen Tendenz. Unser Autor geht also über Husserl hinaus, indem er intensiver als dieser die zeitliche Struktur des Bewusstseins (insbesondere des ursprünglichen reinen Bewusstseins) in einem breiteren Zusammenhang diskutiert. Damit will Ingarden klar machen, dass Husserl die „Reinheit des Bewusstseins“ zu weit getrieben hat. Indes sollte es nach Ingarden heißen, dass das reine 9
in der äußeren Erfahrung gegebenen Dinge’ – also in dem Sinne, wie Ingarden den Husserlschen transzendentalen Idealismus deutet (vgl. Kap. I). Die Begriffe: Ich, Person und Seele werden von Ingarden im Allgemeinen abwechselnd verwendet. Sie werden jedoch im Besonderen, d.h. im Hinblick auf den Begriff des „reinen Ich“, streng differenziert. Ingarden schreibt: „’Ich’ als Person, diese psychische Realität, die sich nicht wegleugnen lässt und nicht auf meine Erlebnisse und deren reines Ich reduzieren lässt [...] Das reine Ich ist im Verhältnis zu der Seele bzw. der Person des Menschen [...]“ (SEW II/2, 314, 322). Vgl. dazu auch 3§2c.b (Kap. IV). 9
262 Bewusstsein seinem Wesen nach auf das Sein (innerhalb der aktuellen Gegenwart) angewiesen und somit keinesfalls als ‚seinsursprünglich’, sondern vielmehr als ‚seinsabgeleitet’ (wie die reale Welt) zu bezeichnen ist (vgl. SEW II/2, 392). Abgesehen von der Frage, ob diese Ingardensche Interpretation des Husserlschen Gedankenguts heute akzeptabel ist, lässt sich nicht übersehen, dass sich Ingarden auf einem für die gegenwärtige Philosophie interessanten Gebiet bewegt, nämlich auf dem Gebiet der „Bewusstseinsphilosophie“, welche seit etwa 1980 weltweit an Bedeutung gewinnt. Unser Autor setzt gewisse Impulse in der Bewusstseinsproblematik noch vor dieser Zeit. Indes gilt es jedoch nach den Konsequenzen des formal-ontologischen Ansatzes Ingardens zu fragen. 10
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§2. Transzendentaler Idealismus. Ingardens Kritik am zweigliedrigen Modell des Bewusstseins bei Husserl Es wurde oben bereits angedeutet, dass Husserls Auffassung des reinen Bewusstseins und des reinen Ich auf Ingardens Ablehnung stößt. Ingarden will sich damit nicht zufrieden geben, dem reinen Bewusstsein eine „absolute“ Existenz im Sinne „nulla re indigeant“ (wie dies Husserl möchte) zuzuerkennen. Denn ein solches Zugeständnis verursacht die Gefahr des transzendentalen Idealismus, so wie ihn Ingarden erfasst. Die Husserlsche idealistische These: „Das reine Bewusstsein (und das reine Ich) ist völlig außerweltlich. Es ist mit der realen Welt nur vermöge der intentionalen Beziehung einer gewissen Aktmannigfaltigkeit verbunden, aber nicht rein ‚ontisch’, und zugleich besteht eine radikale Differenz zwischen der Seinsweise des reinen Bewusstseins als eines ‚absoluten’ Seins und dem ‚bloß intentionalen’ (seinsheteronomen) Sein der realen Welt“ genießt bei Ingarden keine Anerkennung. Vielmehr glaubt unser 12
Das wird endgültig erst im Kapitel VI der vorliegenden Abhandlung entschieden werden. Vgl. dazu 4 (Kap. III). Zur Problematik der Bewusstseinsphilosophie heute vgl. etwa Rager, G. u.a. (2000); Metzinger, Th. (1995); Beckermann, A. (1999) u.a. Vgl. dazu 2 (Kap. I). 10
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263 Autor, diese Position Husserls (d.h. die völlige Außerweltlichkeit des reinen Bewusstseins und des reinen Ich) in Frage stellen zu können, indem er ‚dem reinen Bewusstsein (B) eine doppelte Gestalt’ zuschreibt: (1) das reine B – ist zum einen das reine konstituierende B, dem alle konstituierten Gegenständlichkeiten (darunter auch die reale Welt als Gesamtheit aller realen Gegenständlichkeiten) radikal gegenübergestellt sind; und (2) das reine B – ist zum anderen der Bewusstseinsstrom des „realen“ Ich, das sich mit seiner Seele (Geist) und seinem Leib innerhalb der konstituierten Welt befindet. Dabei gilt, dass das reine Bewusstsein im innersten Kern des realen Ich enthalten ist und sich von ihm nur rein abstraktiv (gedanklich) abgrenzen lässt (vgl. SEW II/2, 369f). Die Husserlsche Auffassung des reinen Bewusstseins bringt für Ingarden nicht nur Schwierigkeiten mit sich, welche mit dem Existenz-Modus des reinen Bewusstseins zusammenhängen und die Gefahr des transzendentalen Idealismus auslösen können, sondern auch manche „strukturelle“ (bzw. formale) Probleme sowie die Selbstbewusstseinsfrage. Die strukturellen Probleme ergeben sich daraus, dass Husserl das reine Bewusstsein als ein „einziges und in sich verbundenes Ganzes“ auffasst, zu dem folgende Komponenten gehören: (1) Akt – gilt als eigentlicher Träger der Intentionalität, er wird erlebt; (2) anschauliche Inhalte (= Ansichten und Empfindungsdaten) – werden in diesem Akt „aufgefasst“ oder „apperzipiert“, sie werden auch erlebt; und (3) Gegenstand – auf den der Akt bezogen ist, er wird im betreffenden Erlebnis erfasst oder vermeint. Selbst wenn Ingarden diese drei Komponenten in seiner Bewusstseinskonzeption ebenfalls akzeptiert, werden sie von ihm jedoch etwas anders als bei Husserl bestimmt, d.h. der Akt wird „durchlebt“, die 13
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Man könnte mit Recht fragen, ob Husserl diese doppelte Gestalt des Bewusstseins (B), in der das B einmal als rein und außerweltlich, ein anderes Mal als „realisiert“ und innerweltlich auftritt, bekannt war. Die Antwort ist positiv. Allerdings gilt bei Husserl: Das Bewusstsein muss von dieser „Realisierung“ als einer bloß intentionalen Auffassung „gereinigt“ werden, und das reale Ich wird (samt seiner Leiblichkeit) als ein rein intentionales, konstituiertes Gebilde mit der gesamten realen Welt existential herabgesetzt (vgl. Hua III/1, 93f). Vgl. Hua III/1, §36, auch XIX/1 (V. Untersuchung).
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264 anschaulichen Inhalte werden erlebt und der Gegenstand wird vermeint. Während unser Autor also hinsichtlich des Gegenstandes mit Husserl übereinstimmt, schreibt er dem Akt eine andere Funktion zu und positioniert ihn somit auf einer anderen Ebene als die anschaulichen Inhalte (Empfindungsdaten, Ansichten). Man kann dies mit folgenden Schemata darstellen: 15
Schema 1: Bewusstsein bei Husserl Bewusstsein Empfindungsdaten Akt (des Subjekts [des Ich])
Ansichten
Gegenstand
Schema 2: Bewusstsein bei Ingarden Akt (des Subjekts [des Ich]) + Gegenstand Empfindungsdaten Bewusstsein
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Vgl. Galewicz, W. (1994b), XXIf.
(gehören nicht zum Bewusstsein)
265 Erklärung der Schemata: Im Schema 1 – haben wir es mit ‚einem zweigliedrigen Modell des Bewusstseins’ zu tun: Akt und Gegenstand stellen zwei getrennte Entitäten dar. Darum werden auch die anschaulichen Inhalte (Empfindungsdaten und Ansichten) in die Bewusstseinsstruktur notwendig mit einbezogen. Die Empfindungsdaten haben keine Struktur des Bewusstseinsaktes; sie enthalten also in sich auch keine Intentionalität. Sie nehmen lediglich sekundär (als aufgefasste Inhalte) an der Intentionalität des Aktes teil. Im Schema 2 – tritt dagegen ‚ein eingliedriges Modell des Bewusstseins’ auf, in dem Akt und Gegenstand, oder besser das „Durchleben des Aktes“ und das „im Akt Durchlebte“ ein ‚absolut Identisches’ bilden. Hier verbleiben folglich die Empfindungsdaten außerhalb des Bewusstseins und sind „in Bezug auf den Gehalt etwas Verschiedenes“ im Verhältnis zu dem Ich als Quellpunkt des Aktes (vgl. FSE, 220f; EPhH, 258). Nach Ingarden lässt sich die Frage des Selbstbewusstseins anhand des (Husserlschen) Schemas 1 keineswegs zufriedenstellend lösen, sondern erst aufgrund des Schemas 2. Das Problem des Selbstbewusstseins kulminiert bei Ingarden im Begriff der „Intuition des Durchlebens“. 3. Das Problem des Selbstbewusstseins: Theorie der „Intuition des Durchlebens“ Das Problem des Selbstbewusstseins hängt mit dem geistigen Erkennen zusammen: geistiges Erkennen ist selbstbewusstes Erkennen. Dies war in der philosophischen Tradition längst bekannt. Nehmen wir z.B. einen Aristoteles: „Sich selbst erkennt die Vernunft in Ergreifung des Intelligiblen; denn intelligibel [d.h. durch den Intellekt wahrnehmbar] wird sie selbst, den Gegenstand berührend und erfassend, so dass Vernunft und Intelligibles dasselbe sind“. 16
Vgl. Aristoteles, Met. XII 1072b. Was andere bedeutende Denker des Abendlandes anbelangt, vgl. etwa: (1) Augustinus (Trin. X, 8) - stellt die Frage: „Was ist so sehr im Geiste wie der Geist selbst?“ (Quid enim tam in mente quam mens est?); (2) Thomas von Aquin (Sth I 14, 2 ad 1) – spricht vom Wesen des Geistes: „Der Geist steht in sich 16
266 Diese aristotelische Formulierung des Selbstbewusstseinsproblems spiegelt grundsätzlich das wider, worauf es auch Ingarden ankommt, wenn er von der „Intuition des Durchlebens“ spricht. Behandelt unser Autor die Frage des Selbstbewusstseins, so macht er dies jedoch in einem weiteren (der Kritik an Husserl zugehörigen) Kontext, d.h. auf der Grundlage einer Differenzierung zwischen drei Arten von Bewusstsein: (1) das gegenständliche Vermeinen; (2) das Erleben von Empfindungen und Ansichten verschiedener Stufen (d.h. das „Erleben von ichfremden Beständen, die nicht in der Gegenstandsform gegeben sind“); und (3) das Durchleben des Aktes (d.h. Selbstbewusstsein) (vgl. FSE, 216f, 251). Hinsichtlich des letzteren Typus schreibt Ingarden: „Wir können ganz wohl ein „Wissen“ von der unreflektierten immanenten Wahrnehmung haben, und sogar ein Wissen, besser, ein Erkennen, das in vielen Richtungen wichtige Vorzüge der immanenten Wahrnehmung gegenüber aufweist. Wir wollen dieses Erkennen „Intuition“ nennen [...]“ (FSE, 213f). 17
Das richtige Verständnis der „Intuition des Durchlebens“, d.h. des Selbstbewusstseins (vgl. GE II, 618) erfordert offensichtlich eine vorangehende Untersuchung von zwei anderen Arten des Bewusstseins: dem gegenständlichen Vermeinen und dem Erleben von Empfindungsdaten. §1. Das gegenständliche Vermeinen und der rein intentionale Gegenstand Das gegenständliche Vermeinen ist ein Akt des Bewusstseinssubjekts (vgl. SEW II/1, 183). In Bezug auf diese durch ein aktives Element gekennzeichnete Form des Bewusstseins bleibt Ingarden noch stark selbst, indem er ‚auf sich selbst vollständig zurückkommt’ (reditio completa)“; (3) Descartes (vgl. Med. II, 3) – formuliert seinen berühmten Gedanken: „Cogito ergo sum“; (4) Kant (vgl. KpV, B 132) – bei ihm ist die „transzendentale Einheit des Selbstbewusstseins“ die Voraussetzung aller Erfahrungssynthesen, u.a. In diesem Zitat lässt sich bereits Ingardens Kritik an Husserl erkennen, genauer gesagt an dessen ‚immanenter Wahrnehmung’. Unser Autor will alle Unzulänglichkeiten der Husserlschen immanenten Wahrnehmung durch den Begriff der „Intuition des Durchlebens“ überwinden. 17
267 Husserl verhaftet. Der charakteristische Unterschied besteht allerdings darin, dass unser Autor statt des Husserlschen Begriffs „Noema“ den Begriff „rein intentionaler Gegenstand“ ins Spiel bringt und insofern die Position Husserls „überwindet“. Es sei daran erinnert, dass das Noema (als Korrelat des Aktes) beim späteren Husserl der Gegenstand ist – so wie er vermeint wurde. Dieser Gegenstand ermöglicht den Zugang zu dem eigentlichen Referenzobjekt, das als ein bloßes X ‚möglicher Bestimmungen’ verstanden wird. Das Noema ist also unterschiedlich, wenn der Akt z.B. „intuitiv erfüllt“ ist und wenn er „leer“ ist. Mit dieser ganzen Problematik sind jedoch gewisse ontologische Schwierigkeiten verbunden. Einerseits ist das Noema ein gemeinsames Moment, welches in vielen Akten vorkommen kann: Wenn X und Y den Gegenstand G meinen, meinen sie denselben Gegenstand G in 18
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Sowohl beim „Noema“ als auch beim „rein intentionalen Gegenstand“ geht es um „postulierte Gegenstände“. In der philosophischen Reflexion werden diese Gegenstände noch anders bezeichnet, z.B. bei Frege (vgl. [1892], 26f) als „Sinne“, bei Chisholm (vgl. [1989], 143f) als „Sachverhalte“ und „Eigenschaften“. Bei Husserl muss aber auch eine Differenzierung vollzogen werden: (1) Der frühe Husserl („Logische Untersuchungen“) – führt den Begriff der „idealen Bedeutung“ als Spezies der Materie der Intention (d.h. als allgemeine Entität) ein. Die idealen Bedeutungen vermitteln also unsere Intentionen und sind Entitäten von der Art der „Spezies“. Das heißt: Sie sind etwas (so wie abstrakte Eigenschaften, z.B. „das Rot“), was in vielen Gegenständen „exemplifiziert“ werden kann. Jeder Bewusstseinsakt enthält nach Husserl: (a) „Materie“ (= das, was entscheidet, worauf sich der Akt bezieht), (b) „Qualität“ (während die Sätze: „Es regnet“ und „Ob es regnet?“ dieselbe Materie haben, besitzen sie verschiedene Qualitäten: Behauptung und Frage) und (c) „Fülle“ (entscheidet, ob ein Akt leer oder „anschaulich“ erfüllt ist). Für die Bedeutung des Aktes sind aber nur Materie und Qualität relevant; sie bilden das „intentionale Wesen“ des Aktes (vgl. Hua XIX/1-2 [1. Untersuchung, §31 und §5. Untersuchung, §§20f]); (2) Der spätere Husserl („Ideen I“) – hier stoßen wir auf zwei Begriffe der Bedeutung (B): (a) phänologische (phansische) B – entspricht dem Begriff der Bedeutung aus den „Logischen Untersuchungen“); (b) phänomenologische (ontische) B – entspricht dem Noema (das als dritte Kategorie des Seienden neben den realen und idealen Gegenständen gilt) (vgl. Hua III/1, 301f). Dazu vgl. auch Küng, G. (1977). Vgl. Hua III/1, 301f. Auch die Qualität (im Sinne der „Logischen Untersuchungen“) entscheidet, mit welchem Noema wir es zu tun haben (vgl. die vorangehende Fußnote). 18
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268 derselben Weise. Der Kern vom Noema ist folglich derselbe; unterschiedlich sind hingegen die Intentionen von X und Y. Andererseits – und das ist für uns relevant im Hinblick auf Ingarden – erhebt sich die Frage nach dem ontologischen Status von Gegenständen: Wenn das Noema der Gegenstand (so wie er vermeint wird) ist, dann kann es ebenso heißen, dass wir es hier mit „möglichen und unmöglichen“ Referenzobjekten zu tun haben. Mit anderen Worten: das, was wir vermeinen, kann existieren oder auch nicht existieren. Selbst wenn Ingarden die Theorie der Intentionalität vom späteren Husserl grundsätzlich übernimmt, will er sie ‚ontologisch präzisieren’. Es geht ihm also vor allen Dingen darum, die mit dem Begriff des Noema zusammenhängenden Schwierigkeiten zu vermeiden. So führt unser Autor den Begriff des ‚rein intentionalen Gegenstandes’ ein. Da der rein intentionale Gegenstand seine Existenz dem Bewusstseinsakt verdankt, wird ausgeschlossen, dass die intentionalen Gegenstände keine Form möglicher oder unmöglicher Referenzobjekte haben können. Sie sind vielmehr ‚einfache, aktuelle und durch entsprechende Akte erzeugte Gegenstände mit einer doppelseitigen Struktur’: Einerseits sind sie erzeugt und somit vom Bewusstsein abhängig, andererseits haben sie einen Gehalt, der die Richtung und Art der gegenständlichen Beziehung bestimmt. Die intentionalen Gegenstände sind „an sich“ immer aktuell und somit möglich, ihr Gehalt aber kann auch manchmal widerspruchsvoll sein. So ergibt sich folgendes Schema: 20
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Vgl. Smith, D.W. u.a. (1982), 35f. Vgl. Gurwitsch, A. (1982), 63f. Dazu vgl. auch Mohanty, J.N. (1982). Zu der Theorie der Intentionalität beim späteren Husserl vgl. Chrudzimski, A. (1999), 94f; Sepp, H.R. (1995); Bielawka, M. (1995) u.a. Vgl. Küng, G. (1972), 57f. 20 21 22
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Intention (Teil I)
Gehalt
Struktur
Intention (Teil II)
Realer Gegenstand
„qua intentionaler Gegenstand“ Subjekt (vollzieht den Akt)
Rein intentionaler Gegenstand (mit seiner doppelseitigen Struktur)
Die Erläuterung der Elemente dieses Schemas beginnen wir mit dem Bewusstseinssubjekt. Das Subjekt vollzieht einen Bewusstseinsakt, indem es eine Intention (Teil I) vollzieht. Jeder Bewusstseinsakt ist nach Ingarden ein Erlebnis, ein bewusstes Durchleben von etwas durch das Subjekt. Indem das Subjekt etwas an dem bewirkt, was es erlebt oder was es in der umgebenden Welt vorfindet, durchlebt es zugleich dieses Bewirken, d.h. es hat ein ‚Selbstbewusstsein’ davon (vgl. dazu 3§3 [Kap. III]). Durch diese zwei Momente heben sich alle Bewusstseinsakte von allen anderen „Entitäten“ (Ansichten, Empfindungsdaten) ab (vgl. OSW, 121). In jedem Bewusstseinsakt unterscheidet Ingarden folgende Momente: (1) intentionales Moment; (2) unanschaulichen Inhalt und (3) Moment der Seinsanerkennung (des gemeinten Gegenstandes). Das intentionale Moment (Intentionsmoment) ist ein ursprüngliches, nicht weiter zerlegbares Moment eines jeden Bewusstseinsaktes, das sich als das „Sich-beziehen-auf-etwas“ fassen lässt. Diesem Moment verdankt das Subjekt, dass ihm ‚überhaupt ein Gegenstand zugeordnet ist’. Das Intentionsmoment des gegenständlichen Meinens hat also zur Folge, dass der Gegenstand (d.h. das, worauf sich der Akt bezieht) im Sinne des Korrelates des Aktes „abgesetzt“ ist (vgl. SEW II/1, 194). Der
270 unanschauliche Aktinhalt hingegen ist ein Komplex von Meinungen, welche die Natur bzw. die Eigenschaften des Gegenstandes bestimmen. Sie bestimmen die ‚Richtung des intentionalen Momentes’, das ihnen gegenüber unselbstständig ist und gleichsam durch sie getragen wird. Der unanschauliche Inhalt des Aktes entscheidet darüber, mit welchen Eigenschaften, mit welcher Form und schließlich was für ein Gegenstand von ihm „bezielt“ wird (vgl. OSW, 122f). Das Intentionsmoment macht gemeinsam mit dem unanschaulichen Inhalt die im Akt „eingeschlossene Meinung“ (Intention) aus, so dass zwischen den beiden eine Relation besteht: Während das Intentionsmoment dem unanschaulichen Inhalt des Aktes die ‚Fähigkeit’ verleiht, auf einen bestimmten geschaffenen und geformten Gegenstand hinzusteuern, schießt dagegen der Inhalt dem Intentionsmoment die (ein- oder mehrdeutige) qualitativ determinierte Richtung und Weise vor, in welcher sich das den Akt vollziehende Bewusstseinssubjekt wendet und dadurch die Bestimmung des Gegenstandes herbeiführt (vgl. SEW II/1, 197f). Das dritte Moment des Bewusstseinsaktes stellt das Moment der Seinsanerkennung des wahrgenommenen Gegenstandes dar. Dieses Moment geht in seinen weiteren Phasen in das Moment der ‚Überzeugung von diesem Sein’ über, die als eine Art Synthese des Anerkennungsmoments resultiert (vgl. OSW, 123). Mit all diesen Momenten des Bewusstseinsaktes können (müssen aber nicht) noch andere Momente auftreten, wie z.B. Lieben oder Hassen, Begehren oder Verabscheuen, Streben oder Fliehen, Wollen oder NichtWollen usf. Diese Momente umhüllen dann das reine Meinen und beeinflussen oft fühlbar die Gestaltung seines Inhalts. Sie werden von dem reinen Meinen getragen und durch dasselbe auf den entsprechenden Gegenstand hingesteuert und „färben“ erst dadurch diesen Gegenstand auf 24
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Ingarden spricht auch vom ‚anschaulichen Inhalt’, dessen besonderer Fall mit den sinnlichen Empfindungen zusammenhängt (vgl. dazu auch den nächsten Abschnitt). Als grundsätzliche Beispiele könnte man hier aber Folgendes nennen: (1) anschaulicher Inhalt – kommt beim Vorstellen vor; (2) unanschaulicher Inhalt – kommt beim (abstrakten) Denken vor (vgl. SEW II/1, 209). Nach Ingarden ist das gegenständliche Meinen insbesondere in Wahrnehmungsakten enthalten.
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271 eine vorwiegend „emotionale“ Weise. Aus diesen (sich zu dem reinen Meinen hinzugesellenden) Momenten erwächst nach Ingarden erst die ‚spezifisch tätige Verhaltensweise’ des Bewusstseinssubjekts gegenüber dem Gegenstand, die sich nicht nur in effektiven leiblichen Handlungen auswirkt, sondern auch im Rahmen des Bewusstseins abspielt (vgl. SEW II/1, 198f). Das Subjekt vollzieht also eine Intention (Teil I), wodurch ein rein intentionaler Gegenstand erzeugt wird. Der intentionale Gegenstand wird in dem Akt vermeint. Er stellt dessen unabtrennbares Korrelat dar und hat in ihm sein „Seinsfundament“. Der intentionale Gegenstand ist ‚seinsheteronom’ und verdankt seine Existenz dem entsprechenden Bewusstseinsakt des Subjekts (vgl. SEW I, 79f). Wenn die Intention ‚erfüllt’ (d.h. wahr) ist, verlängert sich die Intention (Teil I) mit Hilfe der Intention (Teil II) und erlangt dadurch einen unabhängig existierenden realen Gegenstand. Im Falle einer Halluzination oder Phantasie tritt keine solche Verlängerung auf (d.h. Intention [Teil II] fällt aus). Dann haben wir auch keinen „eigentlichen“ Referenzgegenstand; die Intention hat jedoch ihr notwendiges Korrelat (das, was gemeint wird) im ‚rein intentionalen Gegenstand’, der das eigentliche Objekt der Intention (den realen Gegenstand) „vertritt“. Da der rein intentionale Gegenstand für Ingarden eine so wichtige Rolle spielt, müssen wir ihn auch etwas genauer erläutern. Mit dem Problem des rein intentionalen Gegenstandes befasst sich Ingarden ursprünglich in seinem Buch „Das literarische Kunstwerk“. Indem er die Wesensstruktur und Seinsweise des rein intentionalen 26
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Aufgrund der Tatsache, dass der Akt des reinen Meinens mit diesen anderen Momenten des Aktes und folglich mit den sich aus ihnen ergebenden Verhaltensweisen des Subjekts nicht verbunden sein muss, folgt für Ingarden, dass man auch von anderen charakteristischen Eigenschaften des Intentionsmoments (bzw. des ganzen Meinens) sprechen kann, nämlich von einem ‚völlig neutralen (gleichgültigen) Verhalten des Subjekts’ dem vermeinten Gegenstand gegenüber und von einem ‚untätigen Verhalten’. Vgl. Chrudzimski, A. (1999), 106. Diese Ingardensche Deutung der Intentionalitätsproblematik wird von einigen Denkern kritisiert, z.B. von G. Haefliger (vgl. [1994], 20f). Er spricht von einer „Mischform der Gegenstands-, der Inhalts- und Mediators-Theorie“ bei Ingarden. 26
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272 Gegenstandes am Beispiel des literarischen Werkes herausarbeitet, versucht er, seine Stellung zu der idealistischen Position Husserls und dessen Bewusstseinsanalysen zu formulieren (vgl. LK, X). Unser Autor schreibt: 28
„Unter einer rein intentionalen Gegenständlichkeit verstehen wir eine Gegenständlichkeit, welche durch einen Bewusstseinsakt bzw. eine Mannigfaltigkeit von Akten oder endlich durch ein Gebilde (z.B. Wortbedeutung, Satz), das die verliehene Intentionalität in sich birgt, ausschließlich vermöge der ihnen immanenten ursprünglichen oder nur verliehenen Intentionalität in einem übertragenen Sinne „geschaffen“ wird und in den genannten Gegenständlichkeiten den Ursprung ihres Seins und ihres gesamten Soseins hat“ (LK, 121f). 29
Aus diesem Zitat ergibt sich ganz klar, dass der Begriff des rein intentionalen Gegenstandes keine einfache Entität ist. Die Sache wird aber noch schwieriger, wenn wir uns daran erinnern, dass der rein intentionale Gegenstand eine „doppelseitige“ Struktur besitzt: den Gehalt und die Im Zusammenhang mit dem Begriff des „rein intentionalen Gegenstandes“ spricht Ingarden von dem Begriff des „auch intentionalen Gegenstandes“. Wenn ich an einen goldenen Berg denke, dann ist der goldene Berg ein „auch intentionaler“ Gegenstand, der tatsächlich nicht existiert, der aber, falls er überhaupt existieren würde, gleichermaßen real und „in sich“ wie z.B. der Mount Everest wäre. Als ein „rein intentionaler“ Gegenstand gilt hier bloß „der goldene Berg“ in Anführungszeichen, d.h. der gegenständliche Sinn des betreffenden Denkaktes (vgl. Galewicz, W. [1994a], 11). Zur Problematik des intentionalen Gegenstandes aus ästhetischer Sicht bei Ingarden vgl. Barski, J. (1992), 201f. Vgl. auch 5§1 (Kap. V) und 2§1b (Kap. VI) der vorliegenden Abhandlung. Ingarden unterscheidet zwischen aktiver und passiver Intentionalität (I). Die aktive I wird auch in zwei Formen aufgeteilt: (1) primäre I – kommt den Bewusstseinserlebnissen zu, die im Hinblick darauf „intentionale Erlebnisse“ (oder Akte) genannt werden. Die Bewusstseinsakte tragen nicht nur in sich eine Intention, sondern können eine solche auch anderen Gebilden (vor allem sprachlichen Ausdrücken) verleihen. So kommt den letzteren (2) sekundäre (geliehene) I zu (vgl. LK, 104). Die passive I nimmt ebenfalls zwei Formen an: (1) als ursprünglich und abgeleitet intentionale Gegenständlichkeiten (G), die ersteren werden direkt durch Aktintentionen, die letzteren durch Sprachintentionen entworfen; und (2) als „rein intentionale“ und „auch intentionale“ G (vgl. LK, 122f). Vgl. dazu die vorangehende Fußnote. 28
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273 intentionale Struktur (= die Struktur „qua intentionaler Gegenstand“) (vgl. auch das Schema oben). Während der Gehalt durch die vermeinten Eigenschaften gebildet wird, besteht die Struktur „qua intentionaler Gegenstand“ im „Durch-einen-Akt-erzeugt-sein“. Sowohl im Gehalt als auch in der intentionalen Struktur lässt sich nach Ingarden die „Dreieinigkeit“ von Form, Materie und Seinsweise belegen. Da der Gehalt nur das enthält, was wir meinen, d.h. die durch den unanschaulichen Inhalt der Intention bestimmten Momente wie auch den (im Meinungsakt enthaltenen) betreffenden Modus des Seinssetzungsmoments, enthält er folglich auch ‚gewisse Unbestimmtheitsstellen“ (vgl. SEW II/1, 211f; LK, 123f). Der rein intentionale Gegenstand ist in seinem Gehalt – seinem Wesen nach – immer nach verschiedenen Richtungen ganz unbestimmt. Bestimmt sind nur diejenigen Seiten seines Gehalts, welche durch ausdrückliche Intentionsmomente des unanschaulichen Inhalts des zugehörigen Meinungsaktes intentional entworfen werden. Alles dagegen, was im Meinungsakt nur mitvermeint oder gar nicht vermeint wird, was aber seinem Wesen nach zu dem vermeinten Gegenstand gehört, bleibt im Gehalt des zugehörigen intentionalen Gegenstandes ‚vollkommen unbestimmt’. Die Unbestimmtheitsstellen bilden nach Ingarden die zweite 30
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Mit einem Beispiel ausgedrückt: Nehmen wir den rein intentionalen Gegenstand eines schlichten Meinungsaktes, in welchem wir uns einen bestimmten „Tisch“ „bloß vorstellen“. So gehört nach Ingarden zu dem Gehalt dieses Gegenstandes: (1) formale Dingstruktur; (2) Gesamtbestand von materialen Bestimmtheiten, die (in dieser Struktur stehend) das Ganze zu einem „Tisch“ qualifizieren und (3) irgendein Charakter des Seins, je nachdem ob wir uns einen „realen“ (als real vermeinten) oder einen ganz fiktiven „Tisch“ vorstellen (vgl. LK, 123f). Was Form und Materie anbelangt, geht es um die Form I und Materie I (vgl. dazu 3§2a [Kap. IV]). Hier haben wir es also ganz deutlich mit ontologischen Akzenten zu tun, die von uns erst im zweiten Teil der vorliegenden Arbeit („Ingardens Weg des Realismus“) ausführlicher behandelt werden. Man könnte das mit einem Beispiel erläutern: „Ich meine in einem Akt einen Herrn X, der ein Auto fährt, der modern angezogen ist usf. Im Verlaufe dieses Bewusstseinsaktes bleibt irgendwie (zumindest auf den ersten Blick) unbestimmt: welche Farbe die Augen von Herrn X haben, welche Automarke aus welchem Jahr er fährt, durch welche Modefirma sein Anzug entworfen ist usw.“ Zum Problem des intentionalen Gegenstandes bei Ingarden vgl. Poltawski, A. (1964), 71f. Er behandelt 30
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274 formale Eigentümlichkeit rein intentionaler Gegenstände (vgl. SEW II/1, 219f; LK 261f). Abschließend ist noch die Frage kurz zu beantworten, wie Ingarden Husserl im Bereich der Intentionalitätsproblematik verhaftet bleibt und wie er ihn überwindet. Nun ergab sich in diesem Abschnitt, dass wir es bei unserem Autor bezüglich der Intentionalitätsproblematik – so wie bei Husserl – mit einem zwei- bzw. dreigliedrigen Modell des Bewusstseins zu tun haben. Darüber hinaus übernimmt Ingarden die Husserlsche Auffassung, dass Merkmale, die ein konkreter Gegenstand „hat“, genau so konkret sind wie der Gegenstand selbst. Sie sind die Vereinzelungen von reinen, idealen Qualitäten. Was Ingarden von Husserl unterscheidet, ist vor allem sein Begriff des rein intentionalen Gegenstandes mit einer spezifischen Doppelstruktur. Er wurde von unserem Autor deswegen postuliert, damit die ontologischen Schwierigkeiten des Husserlschen Begriffs des Noemas vermieden werden. Denn für Ingarden gilt: Alle Entitäten, die in seiner Ontologie auftreten, existieren entweder aktuell, oder sie existieren gar nicht. Was „bloß möglich“ oder „auch unmöglich“ ist, existiert nach Ingarden – im 32
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dies in einem weiteren (d.h. hier ontologischen) Kontext, der für unsere weitere Analyse von Bedeutung ist, nämlich im Kontext der Begriffe Seinsautonomie und Seinsheteronomie, Seinsursprünglichkeit und Seinsabgeleitetheit, Seinsselbstständigkeit und Seinsunselbstständigkeit, Seinsunbahängigkeit und Seinsabhängigkeit (vgl. ebd., 75). Hier sei auch auf die „klassische“ Stellung von W.V.O. Quine (vgl. [1953]) hingewiesen, der Positionen kritisiert, welche „fiktive“ (intentionale) Gegenstände als „Ideen der Vernunft“ bzw. „nicht-verwirklichte Möglichkeiten“ betrachten wollen. Die Auffassung der Intentionalität (I) bei Ingarden bringt nach manchen Autoren auch gewisse Schwierigkeiten mit sich. So versucht etwa W. Galewicz (vgl. [1994a], 13f) die Ingardensche I mit drei Eigenschaften zu charakterisieren (Aktdependenz, Zeitlichkeit, intersubjektive Identität), die miteinander kaum kompatibel sind. Indes stellt nach Heidegger (vgl. [1989], §19) die Zeitlichkeit die Bedingung der Möglichkeit der Intentionaliät dar. Die Position von Galewicz scheint m.E. fragwürdig zu sein, weil für Ingarden der Zeitfaktor doch eine Rolle spielt, was wir noch sehen werden (vgl. 3§1c [Kap. IV]). Wenn man den realen Gegenstand mit einbezieht, dann sind es drei Elemente: Subjekt, rein intentionaler Gegenstand und realer Gegenstand (vgl. das obige Schema). 32
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275 Gegensatz zu Husserl – einfach nicht. Über die bloß möglichen Gegenstände können wir nur sprechen. Überdies zieht das Problem der Empfindungsdaten eine Grenze zwischen den beiden Denkern. 34
§2. Das Erleben von Empfindungsdaten Entscheidet sich Ingarden Husserl auf der Ebene der Intentionalitätsproblematik noch gewissermaßen zu folgen, wie sich das im vorangehenden Abschnitt zeigte, so entfernt er sich von seinem Meister immer deutlicher bei der Betrachtung des Problems der Empfindungsdaten – vor allem im Hinblick auf deren ontologischen Status. Diese Tendenz lässt sich durch eine (in der Ingarden-Forschung mittlerweile als „klassisch“ zu bezeichnende) Stelle belegen: „Ich habe gehofft, dass Husserl zugibt, dass die Empfindungsdaten von den spezifisch noetischen Komponenten der Erlebnisse seinsunabhängig sind, dass sie vom Ich nur vorgefunden werden und mit ihnen nicht in einer so innigen Einheit zusammenbestehen, wie das aus den „Ideen“ zu folgen scheint. Was ich aber von Husserl erreichen konnte, war nur, dass er zugegeben hat, dass die Empfindungsdaten ‚ichfremd’ und nicht ‚ichichlich’ sind“. 35
Aus diesem Zitat ergeben sich zwei unterschiedliche Haltungen bezüglich der Position der Empfindungsdaten im Bewusstseinsbereich. Dabei spielt das Verständnis des Begriffs „Ichfremdheit“ eine entscheidende Rolle. Während Husserl darunter versteht, dass die Empfindungsdaten selbst nicht die Struktur von Bewusstseinsakten haben und folglich in sich keine Intentionalität enthalten, sondern nur als „anschauliche Inhalte“ an der Intentionalität der Akte teilhaben, plädiert Ingarden – offensichtlich unter Beibehaltung der Husserlschen These über die Empfindungsdaten als „anschauliche Inhalte“ – außerdem dafür, dass die Empfindungsdaten dem 36
Vgl. Chrudzimski, A. (1999), 108. Ingarden, R. (1968b), 131. Dazu vgl. auch EPhH, 160. Der Unterschied zwischen Ingarden und Husserl, der durch dieses Zitat zum Vorschein gebracht wird, wird noch mehr einleuchten, wenn man die zwei Schemata des Bewusstseins in 2§2 (Kap. III) vergleicht. Vgl. auch Hua III/1, 74f. 34 35
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276 Ich gegenüber etwas in Bezug auf den Gehalt Verschiedenes darstellen. Wir wollen diese Auffassung Ingardens ausführlicher analysieren. Im Gegensatz zum gegenständlichen Vermeinen, das für Ingarden als „aktive“ Form von Bewusstsein gilt, stellen die Empfindungsdaten einen „passiven“ Typus von Bewusstsein dar, weil ‚sie (nur) erlebt werden’. In dem Fall haben wir es nach unserem Autor in erster Linie mit einem „primitiven Bewusstsein des Geschehens“ zu tun, ohne dass uns die Wahrheit des Empfundenen aufleuchtet (vgl. SEW II/1, 177). Dem ungeachtet lässt das Erleben auch verschiedene Stufen zu. So kann man von einem „unbewussten“ oder „dunklen“ Erleben stufenweise zu Erlebensarten übergehen, die immer mehr „bewusst“, immer „heller“ sind, um endlich zu einem Erleben zu gelangen, welches die höchste Stufe von Bewusstheit aufweist (vgl. FSE, 219). Die Empfindungsdaten sind vor allem anschauliche Inhalte – neben Ansichten bzw. Abschattungen (vgl. GE II, 504; SPhH, 321).39 Der 37
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Ingarden fühlte sich in dieser Meinung gestärkt - auch nicht zuletzt aufgrund seiner Analysen der Schriften von Bergson (vgl. EPhH, 159; Ingarden, R. [1968b], 130). Das Erleben mit höchster Bewusstheitsstufe nennt Ingarden – wie wir dies weiter sehen werden - „Intuition des Durchlebens“ (vgl. dazu den nächsten Abschnitt). Zum Problem des passiven Bewusstseinselements (bzw. der passiven Konstitution) vgl. Langrebe, L. (1982), 71f. Die Ansichten, die offensichtlich auch zum Bewusstsein gehören, wachsen aus den Empfindungsdaten heraus. Sie sind nur das, was sich auf der Unterlage von Empfindungsdaten im Laufe der Erfahrung (bzw. der fortlaufenden Wahrnehmung) als ein gegenständlicher Sinn, als eine Qualität konsitituiert (vgl. EPhH, 158; vgl auch die Rolle der Momente des Bewusstseinsaktes [vor allem des unanschaulichen Inhalts] aus dem vorangehenden Abschnitt). Die sich ständig wandelnden Empfindungsdaten stellen in jeder Ansicht eine letzte qualitative Gestalt dar. Wie kann man diese Empfindungsdaten entdecken, ohne eine besondere Analyse durchzuführen? Ingarden schreibt: „Wenn ich z.B. jetzt ganz ruhig in den Saal blicke und die Anwesenden erblicke, und dies eine gewisse Zeit dauert, dann [geschieht] etwas Merkwürdiges [...]. Das, was ich jetzt erlebe, beginnt unkonstant zu werden; es ist in jedem neuen Augenblick schon etwas verändert, und vor allem ändert sich die Intensität der gerade erlebten Daten [...], ich kann die ganze Zeit meine Augen und meinen Kopf unbewegt halten, das Erlebte ist immer aber im Fluß [...]. Wenn ich z.B. am Steuer eines Autos sitze und plötzlich leuchtet irgendetwas rechts auf und bewegt sich, dann gucke ich hin. Das aber heißt: Schon früher hat sich im Feld meiner Empfindungsdaten etwas 37
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277 anschauliche Inhalt muss aber nicht unbedingt vorhanden sein, damit eine intentionale Beziehung möglich wird. Wenn kein anschaulicher Inhalt vorkommt, dann haben wir es mit einem „leeren“ Akt zu tun: Das Subjekt meint freilich etwas, dieses etwas ist aber anschaulich nicht gegeben. Sollte indessen ein anschaulicher Inhalt vorliegen, so kommt diese anschauliche Gegebenheit dadurch zustande, dass der anschauliche Inhalt vom Subjekt erlebt wird. Bei diesem Erleben wird der Akt (Intention) anschaulich „erfüllt“. Der anschauliche Inhalt erfüllt die Intention, indem er vom Subjekt (Ich) „aufgefasst“ wird (vgl. SEW II/1, 197f). Was ist diese Auffassung? Ingarden erklärt sie wie folgt: 40
„Die wahrgenommene einheitliche rote Farbe einer Billardkugel hat ihr Korrelat in einer Ansicht, die gleichsam zweischichtig ist. Ihre obere Schicht umfasst das einheitliche Rot, die ‚Schatten’, die ‚Beleuchtung’, die ‚Lichter’. Die untere Schicht bildet eine Mannigfaltigkeit von Farbflecken, die sich fortwährend verändern, auf kontinuierliche Weise ineinander übergehen, die einen dunkler, die anderen heller. Die erste Schicht baut sich gleichsam auf der zweiten als ihrer Unterlage auf. Die relativ einfachen Elemente der zweiten Schicht nennen wir ‚Empfindungsdaten’. Das die ‚einheitliche Färbung des Gegenstandes’ darstellende Element, das auf einer Mannigfaltigkeit von Empfindungsdaten aufgebaut ist, nennen wir [...] die ‚Auffassung’“ (OSW, 78).
Die Auffassung (durch das Subjekt) ist also für Ingarden ein (sich auf den Empfindungsdaten aufbauendes) Element, das die „einheitliche Färbung des Gegenstandes“ darstellt. Mit anderen Worten: Die Auffassung erfolgt verändert, das mich ‚angezogen’ hat“ (EPhH, 146). Was die Ansichten anbelangt, gehen wir auf sie hier nicht ein, weil sie keinen Unterschied zwischen Ingarden und Husserl verdeutlichen. Zum Verhältnis zwischen Intention und Erfüllung vgl. etwa Held, K. (1995), 22f. Der Verfasser spricht (bezogen auf Husserl) vom Doppelsinn des Begriffs „Erfüllung“, der für das phänomenologische Verständnis des Begriffs „Intention“ unentbehrlich ist: (1) theoretischer Erfüllungsbegriff (EB) – bedeutet die originäre Anschauung (die Selbstgebung) dessen, was bei einer Wahrnehmung oder beim Verstehen einer Bedeutung intentional „vermeint“ ist; (2) praktischer EB – bezeichnet die affektive Befriedigung , die sich einstellt, wenn eine Handlung ihr Ziel erreicht. Interessant ist vor allem sein Vorschlag, den praktischen Erfüllungsbegriff mit Hilfe von Heideggers Denken zu klären. 40
278 nur dann, wenn das Ich beim Erleben gewisser Bestände des anschaulichen Inhalts (d.h. einer Mannigfaltigkeit von Empfindungsdaten) zugleich einen bestimmten mit einem unanschaulichen Inhalt ausgestatteten Akt des gegenständlichen Meinens vollzieht. Das Zusammenwirken des Erlebens eines anschaulichen, ichfremden Inhalts mit dem Hinzielen einer intentionalen Meinung auf einen Gegenstand hin führt erst zu einer „greifbaren Selbstgegenwart“ des Gegenstandes im sinnlichen Wahrnehmen (vgl. SEW II/1, 197). Das aus einer Mannigfaltigkeit von Empfindungsdaten und einer darauf aufgebauten Auffassung zusammengesetzte Ganze bringt eine gegenständliche Qualität (eines Merkmals des Gegenstandes) zur Darstellung (vgl. OSW, 79f). Die Empfindungsdaten werden von Ingarden folgendermaßen differenziert: (1) Reines Empfindungsdatum (bzw. reine Qualität des Empfindungsdatums) – ist ein Datum, dessen Qualität von allen Modifikationen (Änderungen) frei ist, welche durch sein Auftreten im Empfindungsfeld gleichzeitig mit anderen Daten verursacht oder bedingt sind. Wir können nicht genau wissen, welche Qualität ein solch reines Empfindungsdatum besitzen würde, ‚weil es tatsächlich niemals vorkommt’; (2) Quasi-Empfindungsdatum – je tiefer die Empfindungsdaten in die Vergangenheit versinken, desto mehr vermindert sich ihre Lebhaftigkeit und Sättigung, und damit hören sie allmählich auf zu existieren. Die Seinsform der Empfindungsdaten in der Phase, in die sie unmittelbar von derjenigen der lebendigen Aktualität übergehen, wird als „Quasi-Sein“ bezeichnet und die Empfindungsdaten in dieser Phase als „Quasi-Empfindungsdaten“; und (3) Konkrete Qualität des Empfindungsdatums – ist eine Resultante von drei verschiedenen Faktoren: (a) reiner Qualität des Empfindungsdatums, die de facto in ihrer Reinheit von uns niemals erlebt wird; (b) Modifikationen, die sich daraus ergeben, 41
Diese Ansicht hat Ingarden von Husserl übernommen (vgl. dazu Hua III/1, 74f). Den Prozess des (so begriffenen) Zusammenwirkens der Empfindungsdaten (der anschaulichen Inhalte) mit der intentionalen Meinung könnte man m.E. gewissermaßen mit dem vergleichen, was Aristoteles in „Über die Seele“ (vgl. II 12,424a) schreibt, nämlich dass die Sinne (hier Empfindungsdaten) die Gestalten (hier Intention) ohne Stoff empfangen, so wie das Wachs das Zeichen des Siegelringes ohne Eisen oder Gold aufnimmt.
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279 dass in der Empfindungsunterlage gleichzeitig andere Daten auftreten; und (c) Modifikationen, die dazu führen, dass im Vergangenheitshorizont die und die Quasi-Daten auftreten (vgl. OSW, 88f). Die Empfindungsdaten sind zweifellos im Bewusstseinsbereich platziert. Allerdings wird die Situierungsfrage von Empfindungsdaten bei Husserl und Ingarden unterschiedlich beantwortet. Um das in den Griff zu bekommen, bringen wir den (phänomenologischen) „Begriff des Bewusstseinsfeldes“ ins Spiel: Das Bewusstseinsfeld umfasst alles, was sich zwischen dem reinen Ich und dem Gegenstand als Korrelat des Bewusstseinsaktes befindet. So können wir im Bewusstseinsfeld aufgrund der Ingardenschen Erwägungen, die wir bisher analysiert haben, drei Gebiete unterscheiden: (1) Unabhängiges Gebiet der Empfindungsdaten; (2) Konstitutives Gebiet der Zwischenentitäten (Ansichten, zeitliche Phasen usw.) und (3) Gebiet der intentionalen Gegenstände. Auf dem ersten (unabhängigen) Gebiet treten die anschaulichen Inhalte (Empfindungsdaten) auf. Sie werden vom Subjekt mit Hilfe der 42
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Man könnte fragen, wie ein einzelnes Empfindungsdatum „in sich“ strukturiert sei. Ingarden erblickt in ihm folgende Momente: (1) Seinsweise „in actu“ (=eine Modifikation, die zu Quasi-Daten führt): Lebhaftigkeit, Aufdringlichkeit, Aktualität, Intensität des Datums; (2a) Qualitative Momente: Qualität, Intensität der Qualität; (2b) „Reine Qualität“, primäre und sekundäre Modifikationen; (3) Präsenzweise: (a) als Ansichtsunterlage beim Vollzug des Wahrnehmungsaktes und der Konzentration auf den Gegenstand; (b) als Empfindung selbst und (c) als Ansichtsunterlage beim Vollzug des Wahrnehmungsaktes und der nachträglichen Konzentration auf das Datum; (4) Auftretensweise: (a) im Zentrum des Gesichtsfeldes; (b) am Rande befindlich. All diese Momente des Empfindungsdatums sind in ihrer Undifferenziertheit zu einem Ganzen verschmolzen, das Ingarden als „Gestalt des Empfindungsdatums“ bezeichnet (vgl. EPhH, 99f). Vgl. dazu die Schemata des Bewusstseins in 2§2 (Kap. III). Die Empfindungsdaten kann man also bei Ingarden (aber auch bei Husserl) als „Urelemente der Konstitution“ bezeichnen. Sie machen die letzte Grundlage des empirischen Wissens aus. Darum könnte man wohl die Frage nach dem Verhältnis zwischen Ingarden und den klassischen Empiristen wie Locke und Hume stellen. Was Locke anbelangt, scheinen vor allem dessen „einfache Ideen“ gewissermaßen das auszudrücken, was Ingarden mit den Empfindungsdaten meint. Bemerkenswert ist, dass die einfachen und ursprünglichen Ideen (Inhalte) bei Locke, die aus der Erfahrung stammen, auch einen ‚rein passiven Charakter’ haben. Sie werden dem 42
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280 unanschaulichen Inhalte der Intentionen aufgefasst. Das hat zur Folge, dass die Zwischenentitäten der Konstitution aufgestellt werden, um auf dem zweiten (konstitutiven) Gebiet aufzutreten. Dadurch, dass sie ebenfalls aufgefasst werden, werden die rein intentionalen Gegenstände mit ihren Gehalten konstituiert. Das Bewusstseinsfeld umfasst also das ganze konstitutive Leben des Subjekts, das nach Ingarden mit zwei sich einander ergänzenden Vermögen (V) ausgestattet ist: (1) Passivitäts-V, das erlaubt, etwas passiv zu empfinden, es bezieht sich auf Empfindungsdaten; und (2) Aktivitäts-V, das eine gewisse Aktivität auf der Ebene der Intentionalität ermöglicht; es gilt für die ganze konstitutive Genese und bewirkt letztlich, dass einem Gegenstand eine Eigenschaft oder eine Struktur und zugleich eine Seinsweise zugeschrieben werden (vgl. GE II, 408). Nun ergibt sich aus dem bereits Ausgeführten, dass sich die Empfindungsdaten nach Ingarden nur ‚im Bewusstseinsfeld’ befinden, und nicht im Bewusstsein selbst. Das steht offensichtlich im Gegensatz zu Husserl, der die Empfindungsdaten im ‚Bewusstsein selbst’ positionieren will, obwohl er ihnen auch einen anderen Status (als etwa den Akten) 45
Geist als Material der gesamten Erkenntnis durch Sensation (äußere Wahrnehmung [W]) und Reflexion (innere W) geliefert. Die einfachen Ideen entstammen im Bereich der äußeren W entweder einem einzelnen Sinnesvermögen wie Empfindungen der Farbe, der Töne, des Geruchs, des Geschmacks usw. oder mehreren Sinnesvermögen (etwa dem Gesichts- und Tastsinn) wie Ausdehnung, Gestalt oder Bewegung. Die innere W erzielt die Ideen des Denkens oder Vorstellens und des Wollens oder Strebens. Darüber hinaus entspringen aus äußerer und innerer W zugleich die einfachen Ideen der Lust (Freude) oder Unlust (Schmerz), der Kraft, des Daseins usw. (vgl. Locke, J. [2000], 126f). Der Lockeschen Position folgt Hume, indem er behauptet, dass die einfachen Ideen ‚rein passiv’ aufgenommene Eindrücke oder Abbilder der Gegenstände sind. Hume differenziert dabei zwischen „impressions“ (Eindrücken) und „ideas“ (Ideen, Vorstellungen). „Impressions“ sind für ihn aktuelle Empfindungen, die wir haben, wenn wir hören, sehen, fühlen, lieben usw., und „ideas“ sind – sozusagen - „reproduzierte Sinneserkennntnisse“ (d.h. Vorstellungen, die durch die Erinnerung oder die Einbildungskraft in uns wiedergeweckt werden) (vgl. Hume, D. [1993], 17f). Während Locke und Hume streng empiristisch vorgehen, dominiert bei Ingarden hingegen die phänomenologische und ontologische Tendenz, welche den empirischen Aspekten eine zweitrangige Funktion zuschreibt. Vgl. dazu das Schema in 3§1 (Kap. III). 45
281 zuschreibt. Damit stellt sich die Frage nach dem ontologischen Status von Empfindungsdaten. Hinsichtlich dessen stimmt Ingarden mit Husserl insofern überein, als er sagt, dass die Empfindungsdaten an sich keine Intentionalität haben. Er tritt aber gegen seinen Meister auf, bzw. geht über diesen hinaus, indem er darlegt, dass ‚die Empfindungsdaten keine reellen Bestandstücke des Bewusstseins ausmachen, dass sie dem Bewusstsein gegenüber fremd sind und lediglich vom Subjekt vorgefunden werden’ und dass sie selbst „in sich“ nicht bewusst sind. Wollen wir all dies auf den Punkt bringen, dann heißt es: Für unseren Autor ist bei Husserl die Frage nach dem Seinsgrund von Empfindungsdaten problematisch (vgl. FSE, 220f). Dessen ungeachtet lässt Ingarden selber den ontologischen Status der Empfindungsdaten ungeklärt. Darum stellt sich gleich die Frage, wie sich das auf eine dritte Reihe der Unterschiede im Bewusstseinsgrad auswirkt, nämlich auf die „Intuition des Durchlebens“. 46
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Auch Ingardens Interpretation der Husserlschen Analyse des Bewusstseins – konkret der Empfindungsdaten – ist aus Sicht der heutigen Forschung ergänzungsbedürftig (wenn nicht fraglich). Es sei darauf hingewiesen, dass diese Problematik heute im Kontext der ‚Wahrheitslehre’ Husserls diskutiert wird, was wir bei Ingarden nicht finden. Das, was für Husserl in dem Zusammenhang in erster Linie von Bedeutung war, ist, dass das eigentliche Denken notwendig in der ‚sinnlichen Anschauung’ (mit den Worten Ingardens: in den Empfindungsdaten) fundiert ist, und nicht so sehr wie (bzw. wo) diese anschaulichen Inhalte im Bewusstsein positioniert sind. Darüber hinaus wird heute über die Fundiertheit anschaulicher kategorialer Akte (bei Ingarden = Empfindungen) im doppelten Sinne geredet, je nachdem ob man den Begriff der Fundierung „logisch“ oder „phänomenologisch-genetisch“ fasst (vgl. Bernet, R. u.a. [1989], 177f; auch Ströker, E. [1987], 159f). Vgl. auch Ingarden, R. (1968b), 129f. Nach A. Chrudzimski (vgl. [1999], 162f) versucht Ingarden durch diese Interpretation der Empfindungsdaten eine Art „Verbindung“ mit der realen Welt wiederherzustellen, die bei Husserl als Folge seiner transzendental-idealistischen Einstellung verloren gegangen ist. Chrudzimski erblickt schwerwiegende Probleme in der Ingardenschen Theorie (bzw. Interpretation) der Empfindungsdaten. Es geht ihm vor allem darum, dass nach Ingarden das Wissen von den Empfindungsdaten gewissermaßen in der (oder durch die) „Intuition des Durchlebens“ zu erlangen ist (vgl. ebd., 212). Im nächsten Abschnitt werden wir sehen, inwiefern diese Behauptung akzeptabel ist. 46
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282 §3. Das Durchleben des Aktes: „Intuition des Durchlebens“ Das Erleben der Empfindungsdaten kann man als ‚schlichtes Erfassen (Anschauung) des vorfindlichen Kategorialen’ bezeichnen. Das Kategoriale erfasst konkrete Bestände, welche dem Bewusstsein gegenüber fremd sind. Das ist die Position Ingardens, die sich aus dem vorangehenden Abschnitt ergibt und sich gewissermaßen in Richtung eines Heideggers wendet, der die Anschauung phänomenologisch wie folgt erklärt: ‚Die Anschauung ist schlichtes Erfassen von leibhaftig Gegebenem, wie es sich zeigt’. Ingarden geht aber phänomenologisch viel weiter, indem er den Begriff der „Intuition des Durchlebens“ (ID) einführt. Im Kontext seiner epistemologischen Betrachtungen heißt es vorab, die Existenz der ID sei die Bedingung der Möglichkeit einer absoluten (reinen) Erkenntnistheorie (vgl. FSE, 228). Ein weiteres Erfordernis der Einführung dieses Begriffes hängt für unseren Autor mit den Bewusstseinsakten zusammen. Die Bewusstseinsakte existieren in der Weise, dass sie das ‚Durchleben eines aktiven Verhaltens von etwas sind’. Die Aktivität des verschiedene Klarheitsstufen durchlaufenden Durchlebens stellt eine Modifikation der Seinsweise von Bewusstseinsakten dar, und die Bewusstseinsakte allein zeichnen sich durch dieses aktive Durchleben aus. Das Subjekt, das etwas an dem bewirkt, was es erlebt bzw. in der umgebenden Welt vorfindet, durchlebt zugleich dieses Bewirken – und somit ‚hat ein Selbstbewusstsein davon’ (vgl. OSW, 121). Im Folgenden wollen wir dieser Problematik genauer auf die Spur gehen. Beginnen wir mit einer rein begrifflichen Analyse, dann fällt sogleich auf, dass der Begriff der ID aus zwei Teilen besteht: „Intuition“ und „Durchleben“. Den ersten Teil, d.h. den Ausdruck „Intuition“ übernimmt Ingarden vor allem unter dem Einfluss der Philosophie Bergsons, mit der er sich in seiner Dissertation befasste. Das Wort „Durchleben“ enthält 48
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Vgl. Heidegger, M. (1988), 64. Vgl. auch SEW II/1 186f. Bei Husserl hingegen werden die Akte (nur) „erlebt“. Der Titel der (unter der Leitung Husserls geschriebenen) Dissertation lautet „Intuition und Intellekt bei Henri Bergson“ (vgl. FSE, 1f). Der Bergsonsche Begriff „Intuition“ kann vieldeutig verstanden werden. Die Bedeutung, die Ingarden in 48 49 50
283 hingegen Kantische Implikationen: Ingarden will damit das gleiche ausdrücken, was Kant in seiner „Kritik der reinen Vernunft“ mit dem Begriff „Selbstbewusstsein“ meint (vgl. EPhH, 156f). Nun steht also fest: Die ID lässt sich ohne den Bewusstseinsbegriff nicht begründen. In 2§2 (Kap. III) wurde bereits angedeutet, dass Ingarden – im Gegensatz zu Husserl – mit einem „eingliedrigen“ Modell des Bewusstseins arbeitet. Nach diesem Modell bilden der Akt und der von ihm vermeinte Gegenstand eine Einheit. Die Frage ist: Worauf ist das zurückzuführen? Ingarden hat dieses Modell des Bewusstseins von H. Conrad-Martius übernommen. Es ist ein Modell, das dem klassischen Akt-GegenstandModell des Bewusstseins (z.B. bei Brentano ) gegenüber gestellt wird. Während das Bewusstsein im klassischen Sinne als eine Relation dargestellt wird, wird es dagegen nach dem eingliedrigen Modell als eine spezifische „Qualität“ aufgefasst, welche gewisse Erlebnisse auszeichnet und sie dadurch zu „Bewusstseinserlebnissen“ macht, obgleich sie mit Bewusstsein im Sinne der intentionalen Beziehung nichts zu tun haben. 51
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Anspruch nimmt, ist „Intuition in engerem Sinne“, d.h. eine Art von „de la conscience“ (Bewusstsein), welche in die „reine Dauer“ eingetaucht ist und sich nicht von außen her statisch fassen lässt. Das entspricht dem, was Ingarden unter dem „Durchleben des Aktes“ versteht (vgl. EPhH, 156f). Vgl. KrV, B 131: „Das: Ich denke, muss alle meine Vorstellungen begleiten können […]“. Vgl. Brentano, F. (1925), 134. Der Einfluss von Conrad-Martius auf Ingarden hat einen (zumindest) doppelten Charakter: (1) Durch die teilweise Übernahme der Unterscheidung zwischen dem Durchleben der Akte, dem Erleben von (ursprünglichen) Empfindungsdaten und dem gegenständlichen Vermeinen durch Ingarden (vgl. Ingarden, R. [1968b], 131); (2) Durch die Übernahme des eingliedrigen Bewusstseinsmodells (Bewusstsein als „Qualität“) – hier ist die Sache etwas komplizierter, d.h. Conrad-Martius (vgl. [1916], 540f) hat dieses Modell des Bewusstseins als eine mögliche Lösung für das Problem der Empfindungsdaten erwogen. Sie schreibt: „Wir hätten [...] zweierlei ‚Bewusstsein’ zu unterscheiden: das [...] einem Vorgang ‚imprägnierte’ und ihn in sich selbst durchleuchtende und das einen Vorgang [...] gegenständlich aufnehmende“ [...]. Das Empfundene, insofern es empfunden ist, gibt sich nicht als bewusstes und damit irgendwie ‚erhelltes’, sondern eben als ‚empfundenes’“. Ingarden hat aber dieses Modell für die Lösung des Problems des ‚urprünglichen Selbstbewusstseins’ 51
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284 So ist für Ingarden das Bewusstsein – im Gegensatz zu dem unbewussten (z.B. materialen) Sein – nicht nur eine Art Sein, das verschiedene Gegenstände vermeinen und erfassen kann, sondern auch ein Sein, das „für sich selbst“ existiert und in seinem puren Sein „von sich selbst“ ein Wissen hat. Indem das Bewusstsein andere Gegenstände erlebt, ‚durchlebt es sich zugleich selbst’ und ist somit nichts anderes als das „Sich-selbstDurchleben“ (vgl. OSW, 31). Unser Autor schreibt: 54
„Man könnte es [das „Sich-selbst-Durchleben“] mit dem sich selbst durchglühenden Eisen vergleichen, wenn man nur sowohl von der Materialität wie von der Ausdehnung des Eisens abstrahieren und ausschließlich auf die sich selbst durchglühende Glut achten könnte“ (FSE, 214f).
Das „Sich-selbst-Durchleben“ (Selbstbewusstsein) wird auch die ID (oder das „intuitive Durchleben des Aktes“) genannt, wenn es bei dem „Durchleben der (Gegenstände) vermeinenden Akte“, die „dunkler“ oder „heller“ durchlebt werden können, den höchsten Grad an „Helligkeit“ erlangt (vgl. EPhH, 156; FSE, 222). Man kann dieses Verhältnis mit folgendem Schema verdeutlichen: 55
(Selbstbewusstsein)
Bewusstsein
„Sich-selbst-Durchleben“
(B)
(SB)
Subjekt weiß, dass es den Akt durchlebt
Subjekt weiß, dass es weiß, dass es den Akt durchlebt
Intuition des Durchlebens (ID) Ermöglicht dem Subjekt das „klarstmögliche“ Wissen von SB ohne einen neuen Akt zu vollziehen
angewendet (vgl. FSE, 214f). Zu dieser Problematik vgl. Galewicz, W. (1994b), XXVIIIf. Dieses „Sich-selbst-Durchleben“ ist also – mit den Worten der (philosophischen) klassischen Begrifflichkeit ausgedrückt – einfach „Selbstbewusstsein“. Nach Ingarden gibt es keine völlig „dunklen“ Akte. Ein solcher Akt wäre ein „Unding“: Würde der (uns erkenntnistheoretisch interessierende) Akt auf ganz dunkle Weise vollzogen, so wären wir der Möglichkeit vollkommen beraubt, ihn intuitiv zu erkennen (vgl. auch FSE, 221, 225). 54
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285 Die ID ist also nach Ingarden ein Zustand des Bewusstseins, der einen Bewusstseinsakt begleiten kann, selbst aber ‚kein neuer Akt ist’. Sie stellt ein konstitutives und unentbehrliches Moment des Bewusstseins dar, das ihm einerseits erlaubt, sich nicht nur der von ihm verschiedenen Gegenstände, sondern auch seiner selbst „bewusst“ zu sein (d.h. auch das „Von-sich-selbst-Wissen“ zu haben), andererseits ausschließlich bei den Bewusstseinsakten vorhanden ist (d.h. selbst kein neuer Akt ist). Das Erwerben des Wissens von sich selbst durch das schlichte Erleben des Aktes, das nichts anderes als das Durchleben selbst ist, ist „etwas schlechthin Einfaches“, das ‚keine Dualität aufweist’, wie sie z.B. zwischen dem Akt und seinem Gegenstand vorkommt, oder auch zwischen dem Akt der Reflexion (etwa der immanenten Wahrnehmung bei Husserl) und dem Akt, auf den die Reflexion sich richtet. Das Durchleben eines Aktes und das im Akt Durchlebte sind ein „absolut Identisches“, das nur gleichsam unter verschiedenen Gesichtspunkten betrachtet wird. Die Gliederung in „durchlebten Akt“ und „Durchleben des Aktes“ ist eine Trennung, die in der Konkretheit des Erlebnisses gar nicht vorkommt (vgl. OSW, 32f). 56
Mit Recht könnte man hier zwei Fragen stellen: (1) Kommt der „Intuition des Durchlebens“ (ID) überhaupt Intentionalität zu? Obwohl nach Ingarden der ID keine „normale“ Intentionalität zuzuschreiben ist, kann man ihr jedoch eine „gewisse“ Intentionalität nicht absprechen (vgl. FSE, 236); (2) Hat die ID einen deskriptiven (phänomenologischen) Charakter? Die Antwort lautet negativ. Denn der ID wird eher ein ‚normativer’ Charakter zugeschrieben, d.h sie präsentiert keinen Gehalt, sie zeigt aber die formale Struktur der Intentionalität, die – im allgemeinsten Sinne – die Begriffe der Wahrheit und der Rechtfertigung enthält (vgl. den nächsten Abschnitt). Diese Tatsache (d.h. der normative Charakter der ID) bedeutet, dass Ingarden ganz deutlich über die phänomenologische Grenze hinausgeht und sich in seiner Analyse keinesfalls durch methodologische Dogmen beeinflussen lässt. Eine Art Verwirrung entsteht allerdings dann, wenn wir die (normative) ID in den Zusammenhang mit den Empfindungsdaten bringen wollen, die eine repräsentative Funktion ausüben (oder besser als „repräsentierendes Material“ [anschauliche Inhalte] gelten) und somit einen ‚deskriptiven’ Charakter voraussetzen, um qualitativ erkennbar zu sein. Dann ließe sich Ingardens These, dass das Wissen von den Empfindungsdaten in der ID zu erwerben ist, ganz schwierig nachvollziehen, weil zwei verschiedene Ebenen (Zugangsweisen) vorlägen (vgl. Chrudzimski, A. [1999], 210f). 56
286 Durch die Einführung der ID will Ingarden eine „strenge Grundlage“ für seine Erkenntnistheorie gewinnen – aufgrund der Tatsache, dass die ID sich selbst erfasst. Da kein Akt „an sich“ selbstbewusst ist, muss er entweder reflexiv erfasst oder intuitiv durchlebt werden. Wenn man die Bewusstseinsakte nur mit Hilfe der Husserlschen Reflexion untersucht, bleibt der Akt der Reflexion selbst epistemisch ‚unüberprüft’ und bedarf dazu eines neuen Aktes; folglich kann die Erkenntnistheorie nicht als „voraussetzungslos“ gelten. Nur die ID liefert das Wissen über den betreffenden Akt, das die Ingardensche Erkenntnistheorie braucht, ohne einen zweiten reflexiven Akt vollziehen zu müssen. Betrachten wir diesen Begriff jetzt aus epistemologischer Sicht. Selbst wenn man bei den intuitiv durchlebten Akten zwischen „Akt“ und „Gegenstand“ im Sinne selbständiger Einheiten nicht scheiden kann, gilt nach Ingarden die ID als eine Erkenntnis dieser Akte. Aus dem Wesen der ID schöpfen wir die letzte anschauliche Grundlage der Idee von Erkenntnis überhaupt. Die ID bildet eine eigentümliche Erkenntnisart, die sich allen anderen Erkenntnisarten radikal gegenüber stellt. Denn während bei allen anderen Erkenntnisarten die Unterschiedlichkeit zwischen dem Erkannten und dem Erkennen vorkommt, weil beide zwei selbstständige Einheiten darstellen, sind hingegen das Erkannte und das Erkennen bei der ID ‚identisch’ und die Erkenntnis ist in diesem Fall eine „Sich-selbstErfassung“. Aufgrund dieser Identität ist jede Möglichkeit einer Täuschung prinzipiell ausgeschlossen. Die ID, die nur ‚intuitiv erkannt werden kann, ist für Ingarden eine ‚absolut unbezweifelbare und vollkommen adäquate Erkenntnis’. Deswegen ist es unmöglich, dass das intuitiv Durchlebte anders sei, als es durchlebt wird. Um die ID zu erkennen, braucht man keinen neuen Akt, sondern es bedarf nur einer „Prozedur der Aufhellung“, d.h. der ‚Verwandlung eines dunkel durchlebten Aktes in einen (hellen) intuitiven Akt’. Wollen wir eine Erkenntnis bestimmter Art erkennen, dann 57
Damit sind die Postulate erfüllt, die Ingarden für die Erkenntnistheorie aufgestellt hat, insbesondere das Postulat der Voraussetzungslosigkeit und der Endgültigkeit der Ergebnisse (vgl. 2§1 [Kap. II], Ende des Abschnitts). Das, was Ingarden mit dem Begriff der Intuition des Durchlebens sagen will, könnte man noch mit der Begrifflichkeit der gegenwärtigen Diskurse verschärfen: „Bewusstsein ist der Jäger, das Jagen und das Gejagte“ (vgl. Panikkar, R. [2000], 129).
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287 müssen wir in der Reihe der Erkenntnisse immer höherer Stufe so weit gehen und alle bis dahin gewonnenen Ergebnisse ihrem Geltungsrecht nach so lange neutralisieren, bis wir den Punkt erreicht haben, an dem sowohl die zu erkennende Erkenntnis als auch die, deren wir uns bedienen, intuitiver Natur sind. ‚Dieser Punkt ist also das (absolute) Kriterium, an dem wir alle bisher erreichten Resultate samt der Erkenntnisidee prüfen können und müssen’. Folglich können wir die Gefahr einer „petitio principii“ und eines unendlichen Regresses vermeiden (vgl. FSE, 223f), was unser Autor Husserl vorwirft. Mit der Freilegung der ID, mit der Endeckung eines nicht mehr reduzierbaren, präreflexiven und vorprädikativen Bereichs des Bewusstseins, dessen wissenschaftliche Erkenntnis als „Erfassen seiner selbst“ unfehlbar und stets adäquat ist, ‚überwindet Ingarden die vor allem von Husserl postulierte Universalität der Intentionalität, die mit seinem Begriff der immanenten Wahrnehmung zusammenhängt’. Unser Autor schreibt: 58
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„Ich gebe zu, dass es so etwas wie eine ‚immanente Wahrnehmung gibt [...] Aber brauche ich das? Brauche ich das, um zu wissen, dass ich etwas erlebe? Ehe ich [...] diese immanente Wahrnehmung zu vollziehen beginne, da lebe ich schon früher bewusst; meine immanente Wahrnehmung verspätet sich in gewissem Sinne [...]. Ja, woher weiß ich es, dass ich vor
Vgl. dazu 4 (Kap. III). B. Smith (vgl. [1995], 112) erklärt das mit folgendem Beispiel: Stellen wir uns vor, dass wir einen Apfel sehen. Wir haben hier den Akt und den Gegenstand, die in einer gewissen Relation zueinander sind. Nun machen wir diese Relation in einem weiteren Akt der Reflexion zum Gegenstand und versuchen diesen (Gegenstand) als Verwirklichung bzw. Verkörperung des Wesens der „Erkenntnis“ zu fassen. Die Frage ist: Wie können wir dadurch irgendwann bestimmen, dass wir dieses Wesen tatsächlich gefasst haben und dass es tatsächlich das richtige Wesen ist. Das kann sicherlich keinesfalls durch einen neuen Akt der Reflexion des dritten Grades geschehen, weil uns sonst ein unendlicher Regress droht. Vgl. Barski, J. (1992), 344. Nach Barski stellen die Begriffe „Ansicht“ und „Gestalt“ den Schlüssel zum Verstehen von „Durchleben“ dar. Er macht darauf aufmerksam, dass die „Intuition des Durchlebens“ (ID) von Ingarden auch als „lebendiges Ich“ (vor allem in der früheren Periode seines Denkens [d.h. in unmittelbarem Kontakt mit Husserl]) bezeichnet wird (vgl. ebd., 399f). Vgl. dazu auch PTP I, 371. Zum Problem der immanenten Wahrnehmung bei Husserl vgl. 2§6b (Kap. I). 58
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288 dem Moment, wo ich zu reflektieren beginne, schon bewusst gelebt habe, ohne mich auf mich selbst zurückgewandt zu haben? Ich brauche nicht auf mich zu reflektieren, ich brauche gar keine immanente Wahrnehmung zu vollziehen [...]. Denn dieser Akt da, der erste Akt des Wahrnehmens, das ist eine schon ganz besondere Weise zu leben, ein Selbstdurchdringen“ (EPhH, 155).
Das Bewusstsein ist also für Ingarden vor allem „bewusst (wissentlich) leben“ und „nicht reflektieren“. Wenn unser Autor vom Durchleben – oder besser von der ID – als Selbstwissen spricht, erblickt er darin kein Erfordernis von Reflexion, damit der vollzogene Akt „durchlebt“ wird (vgl. OSW, 32). Mit anderen Worten: Die (Husserlsche) Behauptung „Zur Erkenntnis einer Erkenntnis ist immer ein ganz neuer Erkenntnisakt notwendig“ ist nicht stichhaltig. Eine Alternative wäre hier die Leistung des Ingardenschen Begriffs der ID: Selbst wenn es bei jeder Erkenntnis zwischen dem Erkenntnisakt und dem Erkannten als „solchen“ zu unterscheiden gilt, schließt das keinesfalls aus, dass diese Unterscheidung in einem konkreten Fall nur ‚ein Betrachten desselben identischen Etwas von zwei verschiedenen Gesichtspunkten aus’ sei. Das Erkennen und das Erkannte bildeten dann ein einheitliches Ganzes, in dem sie nur abstraktiv und beim Verbleiben außerhalb des aktuellen Vollzugs des betreffenden Erkennens als unselbständige („abstrakte“) Momente zu unterscheiden wären (vgl. FSE, 210). Diese 60
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Das bedeutet offenkundig nicht, dass Ingarden bezweifelt, dass man dank der immanenten Wahrnehmung (durch Reflexion) den Zugang zu dem reinen Bewusstsein gewinnen kann, so wie es Husserl will. Unser Autor erkennt prinzipiell das Husserlsche Verfahren an und weist lediglich auf gewisse Probleme hin, welche mit dem Begriff der immanenten Wahrnehmung zusammenhängen, und versucht diese durch den Begriff der „Intuition des Durchlebens“ zu überwinden. Ingardens Einwände gegen Husserl - genauer gegen die Husserlsche Lösung des Problems des Selbstbewusstseins durch den Begriff der ‚immanenten Wahrnehmung’ (IW) – könnte man im wesentlichen auf zwei zurückführen: (1) Verspätung der IW – vgl. das obige Zitat; und (2) Doppelheit der IW – Differenzierung zwischen dem Akt (dem Erkennen) und dem Gegenstand (dem Erkannten). Nach W. Galewicz (vgl. [1994b], XXIIIf) lässt sich aber der erste Einwand Ingardens entkräften, weil Husserl dieses „Verspätungs-Problem“ keinesfalls entgangen ist. Husserl versucht dieses Phänomen nur mit anderen Mitteln zu lösen, nämlich durch die Unterscheidung 60
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289 Leistung verdankt ihr Fundament nicht zuletzt der Fähigkeit der ID zur Selbstrechtfertigung. §4. Das Iterativismus-Problem in der Erkenntnistheorie Ingardens. Internalismus und Externalismus Aus dem vorangehenden Abschnitt ergibt sich, dass Ingarden in der „Intuition des Durchlebens“ (ID) ein Medium erhofft, welches die Postulate seiner Erkenntnistheorie sichern kann. Wie bereits oben angedeutet, geht es ihm vor allen Dingen um das Postulat der ‚Voraussetzungslosigkeit’ in der Erkenntnistheorie. Genauer gesagt darf eine Erkenntnis (auf alle Fälle innerhalb der reinen Erkenntnistheorie) keine weitere Erkenntnis beanspruchen, um ihre eigene Objektivität begründen zu können. Daher handelt es sich um nichts anderes als eine Art „Selbstrechtfertigung“ (Selbstreferenz, Selbstkontrolle) der Erkenntnisakte, die vor epistemologischen Gefahren schützen soll. Ingardens Lösung besteht also einerseits im Verneinen der These, dass jede Erkenntnis von ihrem Gegenstand verschiedenartig sein muss, andererseits in der Behauptung, dass gewisse Bewusstseinszustände existieren bzw. existieren können, die absolut ‚selbstbewusst’ sind, ohne dass ein anderer Bewusstseinsakt überhaupt auftreten muss. Dieser über das Selbstrechtfertigungs-Vermögen verfügende Bewusstseinszustand wird die ID genannt. Im Folgenden gilt es die Selbstrechtfertigungs-Eigenschaft der ID im Hinblick auf die gegenwärtige Diskussion zu erforschen. 62
a. Zugang aufgrund des gegenwärtigen epistemologischen Diskurses Die Tatsache, dass Ingarden die „Intuition des Durchlebens“ (ID) für den „Kern seiner Erkenntnistheorie“ hält und ihr eine spezifische zwischen dem ‚aktuellen’ (expliziten) und ‚inaktuellen’ (potentiellen) Bewusstsein (B). Vom aktuellen B sprechen wir im Falle der Wahrnehmung des ‚vordergründig’ beachteten Dinges, vom inaktuellen B hingegen kann im Falle der Hintergrundanschauungen (beim Beachten dieses Dinges) die Rede sein (vgl. Hua III/1, 71f, 95). Wir werden diese Gefahren im nächsten Abschnitt ausführlicher behandeln. 62
290 „Selbstreferenz“ zuschreibt, muss noch keinesfalls bedeuten, dass damit gleichsam die Begründungsfrage der ID erledigt wird. Wir können also mit Recht fragen: Warum soll jede erkenntnistheoretische Erkenntnis nicht nur gültig sein, sondern auch als gültig anerkannt werden? Gehen wir beispielsweise davon aus, dass es im Wesen jeder Erkenntnis liegt, dass ‚sie nicht nur gültig sei, sondern auch als gültig anerkannt werden müsse’, so fällt vor allem die Position aus dem Bereich der gegenwärtigen Debatte auf, die von Alston als „iterativistische“ Position bezeichnet worden ist. Gelangen kann man zu dieser Position auf einem „internalistischen“ Wege, d.h. dann wenn sich die eine Erkenntnis rechtfertigenden Gründe innerhalb des Bewusstseins des Erkenntnissubjekts befinden. Versuchen wir das in einem ‚weiteren’ Kontext aufzuweisen, indem wir zwei Begriffe nebeneinander aufstellen, nämlich „Internalismus“ und „Externalismus“, die in der gegenwärtigen Erkenntnistheorie und im Rahmen von Theorien epistemischer Rechtfertigung für eine Divergenz sorgen. Es geht schlicht und einfach um die Frage, ob und in welchem Maße die Bedingungen, die eine Meinung als gerechtfertigt ausweisen, aus Sicht des betreffenden epistemischen Subjekts interne oder externe Bedingungen sind. Oder anders formuliert, ob das epistemische Subjekt „kognitiven Zugang“ zu den Gründen haben muss, die seine Meinung als epistemisch auszeichnen. In der heutigen epistemologischen Diskussion gibt es viele Möglichkeiten zwischen Internalismus und Externalismus zu differenzieren. Wir folgen B. Kim und unterscheiden somit mit Hilfe von folgenden Kriterien: (1) 63
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Vgl. Alston, W.P. (1976), 165f. Alston differenziert zwischen dem ‚einfachen’ und ‚iterativen’ Fundamentalismus (F). Wahrend der einfache F besagt, dass gewisse Überzeugungen existieren, die zu ihrer Rechtfertigung keine anderen Überzeugungen benötigen, weil sie sich selbst rechtfertigen können, meint der iterative F zudem, dass auch die „Metaüberzeugungen“, die sich auf diese selbstrechtfertigenden Überzeugungen beziehen, keine anderen Überzeugungen brauchen, um gerechtfertigt zu sein. Allerdings ist zu bemerken, dass Alston diese iterativistische Einstellung, die das Wissen zu erklären strebt, für nicht notwendig hält. Problematisch sind für ihn auch „Metaüberzeugungen“. Vgl. Brendel, E. (2001), 90f. Die rechtfertigenden Gründe sind dem epistemischen Subjekt (S) dann „kognitiv zugänglich“, wenn sie ihm bekannt sind und es sie bei Bedarf selbst vorbringen kann, um seine Meinung zu rechtfertigen. 63
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291 Kriterium I: „Gründe der Rechtfertigung“ – daraus ergibt sich der Internalismus (IG) bzw. der Externalismus (EG) (d.h. bezüglich der Gründe der Rechtfertigung); und (2) Kriterium II: „Adäquatheit der Gründe der Rechtfertigung“ – aus dem geht der Internalismus (IA) bzw. der Externalismus (EA) (d.h. bezüglich der Adäquatheit der Gründe der Rechtfertigung) hervor. Beginnen wir mit der Erläuterung der Differenzierung aufgrund des Kriteriums I. Das grundlegende Postulat des IG lautet, dass ein epistemisches Subjekt nur dann in seiner Meinung, „dass p“, gerechtfertigt ist, wenn das Subjekt kognitiven Zugang zu ‚allen Gründen hat, die die Meinung, „dass p“, rechtfertigen’. Von dem EG wird hingegen nicht gefordert, dass dem Subjekt die rechtfertigenden Gründe der Meinung, „dass p“, kognitiv zugänglich sein müssen, damit das Subjekt in seiner Meinung, „dass p“, gerechtfertigt ist. Denn selbst wenn das Subjekt über die Gründe, die seine Meinung, „dass p“, rechtfertigen, weder implizit noch explizit verfügt, ist diese Meinung jedoch „von außen betrachtet“ gerechtfertigt. Was die Unterscheidung aufgrund des Kriteriums II anbelangt, gilt es vorab festzustellen, dass ein rechtfertigender Grund ‚dann als adäquat angesehen wird, wenn er „wahrheitsindikativ“ ist’, d.h. wenn der Grund die betreffende Meinung als sehr wahrscheinlich „wahr“ rechtfertigt. Daraus resultiert für uns: Der IA behauptet, dass ein epistemisches Subjekt nur dann die gerechtfertigte Meinung habe, „dass p“, wenn ihm die Adäquatheit der Gründe für diese Meinung in Form weiterer Gründe, die die Wahrheitsindikativität der Meinung, „dass p“, rechtfertigen, kognitiv 65
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Vgl. Kim, B. (1993), 307f. Eine genauere Differenzierung finden wir etwa bei Alston: perspektivischer Internalismus (I), Zugänglichkeits-I, „Consiousness Internalism“ (vgl. ders. [1989], 185f). Innerhalb des IG wird noch unterschieden: (1) Starker IG – dem Subjekt sind ‚alle rechtfertigenden Gründe tatsächlich aktuell präsent gegeben’; und (2) Schwacher IG – das Subjekt muss zumindest ‚potentiellen Zugang’ zu den rechtfertigenden Gründen einer Meinung besitzen, damit diese Meinung als epistemisch gerechtfertigt gelten kann.
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292 zugänglich sei. Im EA ist hingegen bedeutsam, dass selbst wenn das Subjekt weder implizit noch expilizit über Gründe verfügt, die die Adäquatheit der Gründe für „p“ rechtfertigen, das Subjekt die gerechtfertigte Meinung haben kann, „dass p“ – nämlich genau dann, wenn es (von außen betrachtet) Gründe gibt, die die Adäquatheit der Gründe für „p“ rechtfertigen. Stellen wir jetzt die Frage nach dem Gebrauch der Begriffe „Internalismus“ und „Externalismus“ in der gegenwärtigen Diskussion, die wir hier nur skizzenhaft berühren können. In den meisten traditionellen Theorien epistemischer Rechtfertigung werden die Versionen entweder des IG oder IA oder eine Kombination von beiden vertreten. Für die Ingarden-Forschung ist von großer Bedeutung, dass die Vetreter dieser Positionen der Ansicht sind, dass wir ‚tief verwurzelte internalistische Intuitionen’ besitzen, die in unserem alltagssprachlichen Gebrauch von „Rechtfertigung“ zum Vorschein kommen. Diese Intuitionen beruhen auf „deontologischen“ Konzeptionen epistemischer Rechtfertigung. Mit anderen Worten ausgedrückt: Ein epistemisches Subjekt wird als in seiner Meinung, „dass p“, gerechtfertigt angesehen, wenn man dem Subjekt nicht vorwerfen kann, besser diese Meinung nicht zu besitzen, bzw. das Subjekt sich mit der Bildung und Aufrechterhaltung der Meinung, „dass p“, nicht rational grob fahrlässig verhalten und keine rationalen Verpflichtungen verletzt hat. Darüber hinaus steht fest, dass wir nicht nur über internalistische, sondern auch über externalistische Intuitionen verfügen. Nehmen wir etwa eine der einflussreichsten externalistischen Theorien epistemischer Rechtfertigung, 67
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Auf der Ebene des IA wird auch differenziert: (1) Starker IA – das epistemische Subjekt besitzt tatsächlich die Metameinung, dass die rechtfertigenden Gründe für die Meinung, „dass p“, auch adäquate Gründe sind und diese Metameinung durch rechtfertigende Gründe explizit vertritt; und (2) Schwacher IA – im Gegensatz zum starken IA kann das Subjekt diese Bedingung auch dann erfüllen, wenn das Subjekt nicht über die begriffliche Ausrüstung verfügt, um explizit die Meinung zu vertreten, dass die rechtfertigenden Gründe für „p“ adäquat sind. Vgl. Brendel, E. (2001), 91f. Vgl. Brendel, E. (2001), 93f. Epistemisch gerechtfertigte Meinungen werden oft als „rationale Meinungen“ betrachtet. Internalistische Theorien epistemischer Rechtfertigung bringen offensichtlich auch gewisse Schwierigkeiten mit sich, die von uns bei der Verifikation der Position Ingardens signalisiert werden. 67
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293 den „(Prozess-)Reliabilismus“. In dieser Theorie ist ein epistemisches Subjekt in seiner Meinung gerechtfertigt, wenn diese Meinung durch einen „zuverlässigen Meinungsbildungsprozess“ entstanden ist. Das Subjekt muss jedoch – im Gegensatz zu den internalistischen Ansätzen – keinen kognitiven Zugang zu diesem Meinungsbildungsprozess und den ihn ausweisenden Gründen besitzen. Daher wird eine Meinung im Rahmen der externalistischen Theorie aus der „Dritten-Person-Perspektive“ bestimmt. Der externalistische Begriff epistemischer Rechtfertigung ist kein „intellektuell überfrachteter“ Begriff. Die epistemische Rechtfertigung fordert hier also von den betreffenden epistemischen Subjekten keine intellektuellen Leistungen und kein kritisches Reflexionsvermögen. Darum könnte man auch kleinen Kindern, die (noch) nicht in der Lage sind, über die Rechtfertigung ihrer Meinungen zu reflektieren, gerechtfertigte Meinungen zuschreiben. Wie verhält sich der Ingardensche Begriff der ID zu den Begriffen „Internalismus“ und „Externalismus“? Ist er als „internalistisch“ oder „externalistisch“ zu bezeichnen? 70
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b. Bestimmung der Position Ingardens Nachdem wir einen skizzenhaften „Internalismsus-ExternalismusRahmen“ aus Sicht der gegenwärtigen Debatte herausgearbeitet haben, können wir jetzt versuchen, die Position Ingardens zu bestimmen.
In den internalistischen Theorien vollzieht sich das hingegen aus Sicht der „ErstenPerson-Perspektive“. Vgl. Fumerton, R. (1995), 109f. Natürlich gibt es auch zahlreiche Probleme in den externalistischen Theorien. Zum einen ist es ungeheuer schwierig, den Begriff des verlässlichen Meinungsbildungsprozesses befriedigend zu bestimmen, zum anderem wird oft behauptet, dass ein verlässlicher Meinungsbildungsprozess keinesfalls für epistemische Rechtfertigung hinreichend sei (vgl. dazu etwa BonJour, L. [1985]). Als eine mögliche Lösung der Frage nach dem Verhältnis zwischen Internalismus und Externalismus wird etwa die „kontextualistische Theorie epistemischer Rechtfertigung“ vorgeschlagen (vgl. Brendel, E. [2001], 101f). Hier können wir diese Theorie leider nicht darstellen. 70
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294 Zunächst sei aber noch daran erinnert, dass der Begriff der „Intuition des Durchlebens“ (ID), oder besser die Zustände der ID eine Art „Grundlage“ der Ingardenschen Erkenntnistheorie bilden. Sie sind durch zwei Merkmale gekennzeichnet: epistemische Sicherheit und Selbstreferenz. Wenn die Zustände der ID „selbstreferierend“ sind, heißt es auch, dass sie völlig „selbstbewusst“ sind. Die Folge ist, dass, sobald ein solcher Zustand vorliegt, es undenkbar ist, dass das betreffende Subjekt kein Wissen darüber hat. Darüber hinaus muss die ID imstande sein, in der Reihe der Rechtfertigung (der Erkenntnisakte) auftreten zu können. Ingardens Postulat erkenntnistheoretischer Selbstkontrolle (Selbstreferenz) wie auch sein „meta-epistemologischer“ Lehrsatz von der Notwendigkeit der ID finden auf dem Boden des ‚erkenntnistheoretischen Iterativismus einen „Verbündeten“’. Das gilt insbesondere dann, wenn die Iterativität einer Erkenntnis kurz gesagt darin besteht, dass ‚diese Erkenntnis zugleich eine Erkenntnis ihrer eigenen Gültigkeit mit einschließt’. Gäbe es keine Möglichkeit, der Erkenntnis das Prinzip der „Iterativität“ zuzuschreiben, dann stünden wir (zumindest) vor dem folgenden Dilemma: Damit wir überhaupt sagen können, dass wir eine Erkenntnis besitzen, müssten wir die Gültigkeit dieser Erkenntnis in einer anderen Erkenntnis erfassen, die wieder in Bezug auf ihre Gültigkeit nachzuprüfen wäre. Beim Betrachten des Begrfffs der ID lassen sich bei Ingarden deutliche „iterativistische“ Merkmale nachweisen. Damit will unser Autor erzielen, dass die ganze Reihe von Erkenntnissen durch eine „sich-selbstnachprüfende Intuition“ (d.h. die ID) abgeschlossen wird. Ingarden geht dabei „internalistisch“ und nicht „externalistisch“ vor. Denn es geht ihm – so interpretiere ich Ingarden – zweifelsohne darum, dass die Gründe, welche eine mit der ID „versehene“ Erkenntnis rechtfertigen, sich innerhalb des Bewusstseins des Erkenntnissubjekts befinden; eine andere Möglichkeit wird durch das Postulat der Voraussetzungslosigkeit (in der Erkenntnistheorie) ausgeschlossen. Nur eine mit der ID „ausgestattete“ 72
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Vgl. Galewicz, W. (1994b), XLVIf. Was die externalistische Vorgehensweise anbelangt, dürften nach A. Chrudzimski (vgl. [1999], 204) gewisse Elemente des epistemologischen Externalismus in der angewandten Erkenntnistheorie Ingardens auftreten, wo unser Autor auf absolutistische Postulate verzichtet und einige empirische Faktoren zulässt.
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295 Erkenntnis kann ihren eigenen Objektivitätswert in sich selbst erfassen, was für eine philosophische Erkenntnistheorie im Sinne Ingardens unentbehrlich ist, zumal ihre Aufgabe (in erster Linie) darin besteht, eine „absolute Erkenntnis aller Erkenntnisse“ zu erreichen. Die ID ist somit eine ‚Bedingung der Möglichkeit der philosophischen Erkenntnistheorie als einer „absoluten“ Theorie der Erkenntnis’, die von epistemologischen Problemen vollkommen frei sein muss. Hier liegt also die Begründung der Notwendigkeit einer erkenntnistheoretischen Selbstkontrolle wie auch der Unentbehrlichkeit der ID. Darüber hinaus wäre es in Bezug auf die Ingardensche Erkenntnistheorie durchaus sinnvoll zu behaupten, dass dem epistemischen Subjekt die rechtfertigenden Gründe – im Sinne der gegenwärtigen Debatte – „kognitiv zugänglich“ seien, weil sie ihm bekannt sind (in der „reinen“ Erkenntnistheorie, so wie sie Ingarden denkt, gäbe es wohl dazu keine Alternative, vgl. 2§2a [Kap. II]) und es sie bei Bedarf selbst vorbringen kann, um seine Meinung zu rechtfertigen. Die rechtfertigenden Gründe sind dem Subjekt „intuitiv“ bekannt, d.h. aufgrund der ID. Allerdings hängt damit die Frage zusammen, ob die ID (bei Ingarden) auf der „deontologischen“ Konzeption epistemischer Rechtfertigung beruhe, wie dies von den gegenwärtigen internalistischen Theorien (hinsichtlich der internalistischen Intuitionen) betont wird. Eine diese Frage bejahende Antwort ließe sich m.E. grundsätzlich nicht ausschließen, sofern man das Ziel der ID (etwa das Vermeiden des „regressus in infinitum“ usf.) in Betracht zieht: Die ID „soll“ nach Ingarden dazu führen, dass fundamentale Gefahren in der Erkenntnistheorie ausgeschlossen werden. Durch dieses Streben des Subjekts werden offensichtlich auch keine rationalen Verpflichtungen verletzt. Wollen wir die internalistische Position Ingardens unter dem Gesichtspunkt der (im vorangehenden Abschnitt skizzierten) gegenwärtigen Debatte präzisieren, dann scheint uns das Kriterium I, nämlich die „Gründe der Rechtfertigung“ von Bedeutung zu sein. Demnach könnte man bei Ingarden von „Internalismus bezüglich der Gründe der Rechtfertigung“ (IG) sprechen, für den gilt: „Ein 74
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Wir werden diese Gefahren im nächsten Abschnitt behandeln.
296 epistemisches Subjekt ist in seiner Meinung, „dass p“, gerechtfertigt, weil es kognitiven Zugang zu allen Gründen hat, die die Meinung, „dass p“, rechtfertigen.“ Nach einer Umformung im Sinne des Ingardenschen Ansatzes könnte es etwa heißen: „Das Subjekt X ist in seiner Meinung, „dass Y der Fall in der Welt W sei“, gerechtfertigt, weil es aufgrund der Intuition des Durchlebens (die einen Akt [Meinungsakt] begleitet, selbst aber kein neuer Akt ist) kognitiven Zugang zu allen Gründen hat (d.h. weiß um diese Gründe, sie sind ihm „intuitiv“ bekannt), die die Meinung, „dass Y der Fall in der Welt W sei“, rechtfertigen“. Eine andere Frage ist, ob wir es hier mit einem starken oder schwachen IG zu tun haben, d.h. ob dem Subjekt alle rechtfertigenden Gründe tatsächlich aktuell präsent gegeben sind, oder nur potentiell. Die Antwort ergibt sich je nachdem, welcher Modus der ID (d.h. aktuelles oder potentielles [inaktuelles] Erlebnis) beim Beantworten dieser Frage herangezogen wird. Ich bin der Ansicht, dass beide Möglichkeiten durchaus denkbar sind. Mit viel größeren Schwierigkeiten hätten wir rechnen müssen, wollten wir das Kriterium II, d.h. „Adäquatheit der Gründe der Rechtfertigung“ einzusetzen versuchen, um die internalistische Position Ingardens zu bestimmen. Denn es stellte sich sofort die Frage nach der „Wahrheitsindikativität“ der rechtfertigenden Gründe, d.h. wann ein Grund die betreffende Meinung als sehr wahrscheinlich „wahr“ rechtfertigt. Es wäre bestimmt problematisch zu sagen, dass wir es bei Ingarden mit „Internalismus bezüglich der Adäquatheit der Gründe“ zu tun haben, weil wir aufgrund der Schriften Ingardens keine „Eventualität weiterer (relevanter) Gründe“ vermuten können, durch welche die „Wahrheitsindikativität“ der den Gebrauch der ID rechtfertigenden Gründe fundiert wäre. Ingarden konzentriert sich vielmehr bloß auf seine grundlegenden Postulate, die – wie bereits öfter erwähnt – in seinem Versuch der Begründung einer „absoluten Erkenntnistheorie“ aufgehen, die aber nicht zuletzt davon abhängt, dass sich in ihr die Gefahr einer „petitio principii“ vermeiden lässt.
297 4. Aufgabe der „Intuition des Durchlebens“ in der Erkenntnistheorie: Überwindung von „petitio principii“ und „circulus vitiosus“ Die Position Ingardens könnte man zweifelsohne als „internalistisch“ explizieren. Auf diese Weise wäre das Ergebnis des vorangehenden Abschnitts zusammenzufassen. Folglich könnte man sagen, dass unser Autor gleichsam dem Kreis von Philosophen zuzuordnen sei, deren intuitiv fundierte Ansicht, dass dem Subjekt selbst Gründe und Rechtfertigungen im Prinzip zugänglich sein müssen, unaufgebbar zu sein scheint. Die intuitive Meinung, dass es wünschenswert, vernünftig und möglich sei, mentale Zustände und ihre Inhalte – bei Ingarden also die „Intuition des Durchlebens“ (ID) – auf eine internalistische (individualistische) Weise zu verstehen, stellt das Fundament einer solchen Haltung dar. Mit dieser epistemologischen Haltung sind bei Ingarden gewisse Aufgaben verknüpft. Sie werden an das „internalistische“ Axiom der ID im Rahmen seiner Erkenntnistheorie gestellt. Wie in 3§3 (Kap. III) bereits angedeutet, wurde von Ingarden die ID als ein „Werkzeug“ eingeführt, dessen Aufgabe vor allem darin besteht, den unendlichen Regress immer neuer Reflexionen aufzuhalten. Zu einem solchen Regress kommt es nämlich dann, wenn jede Erkenntnis, die in der Erkenntnistheorie verwendet werden darf, notwendigerweise einer epistemischen Kontrolle unterliegt. Da jede Kontrolle auch eine neue Erkenntnis ist, muss sie wieder einer neuen Kontrolle unterliegen usw. Dieser Vorgang darf sich aber weder in einem Kreis bewegen noch ins Unendliche gehen. Falls dies aber doch geschähe und wir auf die Kontrolle an einer gewissen Stelle verzichteten, dann hätten wir unbegründete Voraussetzungen, was mit einer „petitio principii“ gleichbedeutend wäre und mit dem (für eine absolute Erkenntnistheorie 75
Vgl. dazu etwa Spohn, W. (2001), 33f; auch Chomsky, N. (1995); Lewis, D. (1994); Perry, J. (1988); BonJour, L. (1985). Der letztere schreibt etwa: „For a belief to be epistemically justified for a particular person requires that this person be himself in cognitive possession of such a reason […] The only way to be in cognitive possession of such a reason is to believe with justification the premises from which it follows that the belief is likely to be true” (32). 75
298 notwendigen) Prinzip der Voraussetzungslosigkeit im Widerspruch stünde (vgl. FSE, 202f; GE I, 102f). Ingardens Forschungen über dieses epistemologische Problem finden sich einerseits in der gegenwärtigen Diskussion wieder – allerdings in einer etwas anderen begrifflichen Gestalt, nämlich ‚bezogen auf den Begriff der Rechtfertigung’. Andererseits liegen jedoch gewisse Differenzen vor. Wollen wir das Ingardensche Problem mit modernen Begriffen formulieren, so ergibt sich etwa Folgendes: Um die Frage der Rechtfertigung zu beantworten, die sich für Meinungen stellt, führen wir oft weitere Meinungen an. Auf der Grundlage bestimmter Meinungen können wir auf die Wahrheit anderer Meinungen schließen, und Wahrheit ist das Ziel epistemischer Rechtfertigung. Die Frage der Rechtfertigung stellt sich aber auch für die Prämissen des Schlusses, denn nur, wenn sie selbst gerechtfertigt sind, können sie zur Rechtfertigung der Konklusion beitragen. Es muss gefragt werden, wie dies vor sich gehen kann. Angenommen, dass die Prämissen wiederum durch einen Schluss gerechtfertigt werden, so fragt sich, wie dessen Prämissen gerechtfertigt sind, und bei deren Rechtfertigung ergibt sich dasselbe Problem, d.h. ein unendlicher Regress. In der gegenwärtigen epistemologischen Debatte gibt es grundsätzlich drei Möglichkeiten, diesen Regress zu beenden: (1) Erstens könnte er mit Meinungen enden, die nicht weiter gerechtfertigt werden können. Aus epistemischer Sicht wäre das aber sehr unbefriedigend, weil die epistemische Rechtfertigung ein Indikator für die Wahrheit einer Meinung sein soll. Doch wenn eine Meinung nicht rechtfertigbar ist, spricht nichts für ihre Wahrheit; (2) Zweitens könnten an irgendeiner Stelle Meinungen auftreten, die schon bei früheren Inferenzen (Schlüssen) eine Rolle gespielt haben. Jedoch diese zirkuläre Struktur bietet ebenfalls keinen Grund, die beteiligten Meinungen auch für wahr zu halten; (3) Drittens gäbe es die Möglichkeit, den Regress nicht an irgendeiner Stelle abzubrechen, sondern 76
Die Ursprünge der Ingardenschen Untersuchungen der „petitio principii“ gehen auf seine Auseinandersetzung mit der Philosophie Bergsons zurück. Da konzentriert sich Ingarden auf das rein kategoriale Problem und behauptet, dass Bergson eine „petitio principii“ begeht. Unser Autor fragt, ob der Bergsonsche Versuch der Relativierung der Kategorien durchführbar sei (vgl. FSE, 125f).
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299 bei Meinungen mit einem besonderen Rechtfertigungsstatus. Es geht also um sogenannte „basale Meinungen“, d.h. solche, die auf nicht-inferentielle Art und Weise gerechtfertigt sind, und deren Rechtfertigung nicht von weiteren Prämissen abhängt. In dem Kontext wäre meine These, dass diese dritte Lösung (d.h. die basalen Meinungen) gewissermaßen der Ingardenschen ID verwandt ist. In beiden Fällen wird im Prozess der Rechtfertigung eindeutig von weiteren Prämissen abgesehen, so dass die Behauptung ohne weiteres gelten kann: „Es ist nicht notwendig, zwecks der Erkenntnis des Wertes einer Erkenntnis X eine (neue) Erkenntnis Y zu vollziehen, deren Gegenstand die Erkenntnis X mit ihrem (positiven oder negativen) Wert wäre. Es ist auch nicht notwendig, zwecks der Nachprüfung des Wertes der Resultate, zu denen die Erkenntnisoperation X führt, in jedem Fall eine Erkenntnisoperation Y zu vollziehen (wobei Y ≠ X), deren Gegenstand X wäre“. Ingarden geht aber m.E. deutlich über die Ebene von basalen Meinungen hinaus, indem er die ID als eine Art Selbstbewusstsein (bewusstes Durchleben) denkt. Somit kann er sowohl die Gefahr einer „petitio principii“ als auch die eines „regressus in infinitum“ vermeiden, während die basalen Meinungen sich hauptsächlich auf die Überwindung des Regresses ins Unendliche konzentrieren (vgl. GE II, 614f.). Nichtsdestoweniger ist kritisch darauf hinzuweisen, dass unser Autor mit einem „schwachen“ Begriff der „petitio principii“ arbeitet, wenn er seine Überlegungen an den Begriff des „Problematischen“ anknüpft. Dadurch verliert seine Argumentation erheblich an Plausibilität. Er schreibt: 77
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„Sie [die Gefahr einer petitio principii] besteht, der Hauptsache nach, in folgendem Gedankengange: Die erkenntnistheoretische Arbeit vollzieht sich zuletzt in Erkenntnisakten, die auf Erkenntnisakte gerichtet sind. Zugleich bildet das Zu-erkennende, also das selbst mit einem Fragezeichen Vgl. Misselhorn, C. (2001), 126f. Der Begriff des Problematischen bedeutet für Ingarden Folgendes: (1) Es ist etwas „problematisch“, weil wir noch nicht wissen, was es ist; (2) „Problematisch“ nennt man etwas, dessen Existenzsetzung (bzw. Geltungsrecht) neutralisiert ist; (3) „Problematisch“ heißt etwas, was fraglich, zweifelhaft ist (vgl. FSE, 203f). Der Ausdruck „schwacher Begriff der petitio principii“ kommt vom Verfasser der vorliegenden Abhandlung. 77 78
300 Behaftete, ‚die Erkenntnis überhaupt’, d.h. das reine Wesen jeder nur möglichen Erkenntnis überhaupt. Die bei der erkenntnistheoretischen Arbeit in der Ausübung begriffene Erkenntnis fällt also in das Gebiet des Problematischen. Entweder [...] sind die gewonnenen Resultate selbst problematisch, oder die Geltung der in der Ausübung begriffenen Erkenntnis wird ununtersucht vorausgesetzt. [...] Es bleibt freilich der Ausweg übrig, die in der Ausübung begriffene Erkenntnis einer neuerlichen Erkenntnis zu unterziehen. Das aber verbesserte [...] die Situation [...] nicht’. Wenn nämlich die neuerliche Erkenntnis eben Erkenntnis sein soll, so fällt auch sie in das Gebiet des Problematischen. [...] Die Erkenntnistheorie in der oben festgelegten Gestalt führte somit zum Widersinn und wäre unmöglich“ (FSE, 202).
Aus diesem Zitat könnte man eine vieldeutige Formulierung des Begriffs „petitio principii“ folgern, welche uns keinesfalls zufrieden stellen kann. Die Verantwortung dafür trägt vor allem der (nicht genug präzisierte) Begriff des „Problematischen“. Dessen ungeachtet können (und müssen) wir das „Problematische“ – angesichts der uns bereits bekannten Ingardenschen These über die „absolute Erkenntnistheorie“ – „stärker“ erfassen, d.h. als etwas, dessen Objektivität noch nicht ausgewiesen ist. Mit anderen Worten: Es handelt sich darum, ob die Erkenntnistheorie in der Lage sei, die Erkenntnis der Objektivität zu erlangen, ohne die Objektivität ihrer eigenen Erkenntnis dogmatisch voraussetzen zu müssen. 79
Vgl. Galewicz, W. (1994b), XXXVIII. Was das Problem der „petitio principii“ anbelangt, könnte man m.E. aus Sicht der gegenwärtigen epistemologischen Debatte Folgendes gelten lassen: Ingardens Verdienst liegt nicht so sehr darin, dass dieses Problem von unserem Autor hinreichend oder erschöpfend analysiert wurde, sondern eher darin, dass er dessen Relevanz (bzw. negativ gesagt: dessen Gefahr) für einen philosophischen Diskurs überhaupt erblickte: „Aber die Gefahr der petitio principii, die der Erkenntnistheorie seit Jahrhunderten den Weg verlegt und ihren Fortschritt immerfort aufzuhalten droht, ist hartnäckig und kehrt, in einer Gestalt beseitigt, in einer anderen wieder“ (FSE, 229). Dass diese Ingardensche Mahnung auch in der gegenwärtigen Diskussion ernst genommen werden muss, können wir etwa am Begriff der „Triangulation“ (T) bei Davidson (vgl. [1993a], 12) sehen. T heißt für Davidson, dass sich ein Sprecher, ein Hörer und ein Gegenstand in einer Dreieckbeziehung gegenüberstehen: „Jemand spricht mit jemandem über etwas“. Seine Erörterung des TBegriffs bezieht Davidson meist auf eine Lernsituation: Auf einer Seite steht z.B. ein Stuhl. Dem Stuhl gegenüber steht ein Kind, dem der Gebrauch des Wortes „Stuhl“ 79
301 Die Lösung dieses Problems erblickt Ingarden einzig und allein in der ID, deren Existenz die notwendige Bedingung der Möglichkeit einer absoluten Erkenntnistheorie ist. Daher wenn das Axiom der ID von uns anerkannt wird, dann werden wir auch aufgefordert, alle Erkenntnisse und deren Resultate solange zu neutralisieren, bis wir imstande sind, eine absolut unbezweifelbare und als solche in sich selbst erfassbare Erkenntnis, welche unser Autor die ID nennt, aufzuweisen (vgl. OSW, 6f). Die Vermeidung einer „petitio principii“ erfordert also das Zurückgehen (in den Bewusstseinserlebnissen) bis auf die „Intuition“ (ID), die das Recht auf Objektivität beanspruchen darf. Die Objektivität stellt somit das wesentliche Merkmal der ID dar (vgl. FSE, 251). Damit sind auch die anderen zu erfüllenden Bedingungen verknüpft. 80
beigebracht werden soll. Sowohl dem Stuhl als auch dem Kind gegenüber steht der Lehrer, der dem Kind das Wort „Stuhl“ beibringen will. Damit ein sprachlicher Lernvorgang in Gang kommt, sind nach Davidson drei Bedingungen zu erfüllen: (1) Das Kind muss Stühle in relevanter Hinsicht ähnlich finden; (2) Der Lehrer muss die Stühle ähnlich finden; (3) Der Lehrer muss die Reaktionen des Kindes auf die Stühle ähnlich finden. Die Basis des Spracherwerbs sind also geteilte Ähnlichkeitsstandards in Bezug auf das, was wahrgenommen wird sowie ähnliche Reaktionsmuster. Indem Davidson Ähnlichkeit in Bezug auf Erkennen und Verhalten zu den Grundlagen einer Theorie des Spracherwerbs zählt, setzt er das voraus, was er hätte beweisen müssen, nämlich dass externe Gegenstände (bzw. Ereignisse) die Ursachen und damit die Bedeutungen sprachlicher Äußerungen sind und nicht z.B. Netzhautreizungen oder das auf den Gegenstand fallende Sonnenlicht. Davidson selbst bezeichnete diesen Vorgang als „petitio principii“ (vgl. ders. [1993], 69). Falls wir versuchen würden, das Bild des Subjekts in der Epistemologie Ingardens aus Sicht der Rolle des Axioms der „Intuition des Durchlebens“ (ID) – zu bestimmen, so wäre es durchaus denkbar, von einem individuellen Subjekt, das in Bezug auf erkenntnistheoretische Fragen ‚völlig autonom’ ist, zu sprechen. Ein Subjekt wäre in diesem Sinne ‚epistemisch autonom’, wenn es in der Lage ist, zu jedem beliebigen Zeitpunkt rational zu entscheiden, ob die ihm zur Verfügung stehenden Gründe hinreichen, um die fraglichen Meinungen zu rechtfertigen. Im Falle der Erkenntnistheorie Ingardens wäre (theoretisch) das Prinzip der ID ein Garant dafür. Denn ein solches Subjekt wäre dadurch sowohl von externen Autoritäten als auch von empirischen Meinungen über die Welt unabhängig; es müsste vielmehr aufgrund reiner Vernunfterwägungen, die bei Ingarden in der ID zu fundieren wären, urteilen können (Allerdings ist das Reden über das Subjekt im Kontext der ID insofern 80
302 §1. Andere zu erfüllende Bedingungen in der Erkenntnistheorie Wir haben schon wiederholt akzentuiert, dass es sich bei Ingarden in erster Linie um eine ‚absolute (reine) Erkenntnistheorie’ handelt. Wenn unser Autor fragt, welche Bedingungen eine Erkenntnistheorie erfüllen müsse, um von prinzipiellen formalen Denkfehlern frei zu sein, hat er vor allem die absolute Erkenntnistheorie vor Augen. Denn er ist der Ansicht, dass uns nur eine solche Erkenntnistheorie die absolute Erkenntnis von Gegenständen liefern könne. Damit dies aber tatsächlich vor sich gehen kann, muss die absolute Erkenntnistheorie nicht nur die „Intution des Durchlebens“ (ID), der im ganzen Erkennensprozess die Rolle des Hauptelements zukommt, sondern auch noch weitere Faktoren involvieren. Diese werden durch die ID quasi „ermöglicht“. Als erstes geht es darum, dass die ‚absolute Erkenntnistheorie von allen sonstigen wissenschaftlichen und philosophischen Theorien unabhängig sein muss’. Sie muss überhaupt von jeder Theorie unabhängig sein und vor jeder Theorie liegen, welche durch eine fragwürdige Erkenntnis „begründet“ wird, wenn eine „petitio principii“ vermieden werden soll. Insbesondere muss aber ihre Ausgangserkenntnis unbezweifelbar sein. Die Ausgangserkenntnis muss zudem mitsamt allen weiteren Erkenntnissen, deren wir uns in der Erkenntnistheorie bedienen, absolut zu erkennen sein. So wird die Ausgangserkenntnis stufenweise zu einer absoluten Erkenntnis, d.h. einer Erkenntnis, bei der es widersinnig wäre, ihre Geltung zu bezweifeln. Diese absolute Erkenntnis selbst (in ihrem Sinne und in ihrer Geltung) kann aber – zwecks einer epistemologischen Untersuchung – wieder nur in einer absoluten Erkenntnis erfasst werden. Demnach sind problematisch, als wir bei unserem Autor auf eine Art „Abwertung des Subjekts“ stoßen, was im Verlaufe unserer weiteren Untersuchung gezeigt werden soll). An diesem Ideal haben sich auch viele (große) Philosophen orientiert, etwa Descartes und Kant. Für Descartes (vgl. Med. §1) gilt: Die Evaluation der eigenen Meinungen soll in „einsamer Zurückgezogenheit“ erfolgen, ohne sich auf etwas Ungeprüftes (wie die empirischen Meinungen über die Welt) zu verlassen. Für Kant (vgl. [1968], Bd. 8, 146 FN) hingegen steht fest: Selbstdenken heißt den obersten Probierstein der Wahrheit in sich selbst (d.i. in seiner eigenen Vernunft) suchen.
303 sowohl die erkannte wie auch die erkenntnisleistende Erkenntnis von demselben Wesen (vgl. FSE, 157f, 314f; GE II, 612f). Insofern kann die absolute Erkenntnis auch als eine ‚immanente und adäquate Erkenntnis’ bezeichnet werden. In der immanenten und adäquaten Erkenntnis ist die letzte Erkenntnissquelle der absoluten Erkenntnistheorie fundiert. Somit stellt diese Erkenntnis einen weiteren Faktor dar, der die Existenz der absoluten Erkenntnistheorie begründet. Bei der immanenten und adäquaten Erkenntnis deckt sich zudem der gemeinte Gegenstand (im weitesten Sinne des Wortes) nach allen seinen Komponenten in schlechthin unmittelbarer Gegebenheit vollkommen mit dem erkannten Gegenstand. Eine immanente und adäquate Erkenntnis bezweifeln zu wollen, wäre widersinnig, weil man dadurch der letzten Begründungsgrundlage jeder vernünftigen Erkenntnisstellungnahme beraubt sein würde – einer Grundlage, die für den vernünftigen Zweifel unentbehrlich ist (vgl. FSE, 316f). Die absolute Erkenntnis ist für Ingarden auch ‚apriorische’ Erkenntnis. Als eine solche ist sie dauernd bestrebt, endgültige und prinzipiell nicht mehr zu verändernde Resultate zu liefern, welche für ‚jedes nur mögliche Erkenntnissubjekt’ gültig sein müssen. Da sie von allen in anderen Erkenntnisakten erreichten Erkenntnissen unabhängig ist, verdankt sie ihr Geltungsrecht ausschließlich sich selbst (vgl. FSE, 158). Sie betrifft nur das von einem Gegenstand, was zu ihm notwendig gehört, d.h. dessen reines Wesen. Schließlich gilt, dass eine absolute Erkenntnistheorie nicht nur über absolute Erkenntnis zu verfügen, sondern auch deren reines Wesen zu erforschen habe. Sie muss das reine Wesen ‚jeder nur möglichen Erkenntnis bzw. der „Erkenntnis überhaupt“ erfassen’, d.h. sie muss etwas erreichen, was über ‚jede Erkenntnis ausgesprochen werden kann’. Die Folge ist, dass sich die absolute Erkenntnistheorie mit ihrer apriorischen Lehre keinesfalls auf die menschliche Erkenntnis allein beschränken darf (vgl. FSE, 324f). 81
Diese immanente und adäquate Erkenntnis darf nicht mit der immanenten Erkenntnis bei Husserl identifiziert werden. Zur immanenten Erkenntnis (Wahrnehmung) bei Husserl vgl. 2§6b (Kap. I) der vorliegenden Arbeit. 81
304 All diese absolutistischen Tendenzen Ingardens entspringen seinem Axiom der ID. Es bleibt zu fragen, ob die ID das tatsächlich leisten kann. Wir werden sehen, dass es auch schwerwiegende Bedenken gibt. §2. Eine kritische Würdigung der Leistung der „Intuition des Durchlebens“ Die Frage, die uns bei diesem Abschnitt leitet, heißt: Kann die „Intuition des Durchlebens“ (ID) das leisten, was Ingarden von ihr erwartet? Die Antwort hängt generell davon ab, ob wir mit der Ingardenschen These übereinstimmen, dass einerseits dem Erkennenden die intuitiv durchlebten Akte im Durchlebtwerden zum Bewusstsein kommen (dazu bedürfte es nur der Verwandlung des dunkel durchlebten Aktes in einen intuitiven), und dass andererseits die Erkenntnis und das Erkannte keine selbständigen Einheiten, sondern ein schlechthin ‚Identisches’ sind. In dem Zusammenhang scheinen drei Dinge problematisch zu sein. Wir müssen uns im Klaren sein, dass je intensiver wir in der Erkenntnis (vor allem in der Anschauung) leben, umso weniger uns der Erkenntnisakt selbst gegenwärtig ist. Auch wenn wir annehmen, dass das Durchleben – so wie es Ingarden will – kein eigener intentionaler Akt ist, so stimmen wir doch darin mit ihm überein, dass beide, Durchleben und Akt, etwas zur Gegebenheit bringen. Da es sich bei Akt und Gegenstand zwar um korrelative, aber gerade deshalb inhaltlich gänzlich verschiedene Gegebenheiten handelt, ist es undenkbar, dass die deutliche und klare, anschauliche Gegebenheit des Aktes kraft des Durchlebens mit der deutlichen und klaren Gegebenheit des Gegenstandes verträglich sein kann. Das „Wesensgesetz“, dem gemäß der gegenwärtigende Akt nicht selbst gegeben sein kann, wird dadurch nicht außer Kraft gesetzt. Darüber hinaus ist nicht zu übersehen, dass die Ingardensche Epistemologie stark durch die phänomenologische Erfahrung geprägt (oder sogar belastet) ist, deren Grundlage die phänomenologische Methode bildet. Diese Methode will das Gegebene als solches hinnehmen. Das hat aber zur Folge, dass ‚die Vorstellung, dass alles Gegebene für ein Subjekt 82
82
Vgl. Hoeres, W. (1969), 38.
305 gegeben ist, abgewertet wird’. Mit Sicherheit kann ich eine Erkenntnis während ihres Vollzugs sehr bewusst in verschiedenen Klarheitsstufen durchleben, so wie es sich unser Autor vorstellt. Dennoch kann ich in diesem Vollzug ganz dem Gegenstand zugewandt sein, weil im ‚Durchleben nicht der Erkenntnisakt selbst, sondern das erkennende Ich gegeben ist’. Während es evidentermaßen unmöglich ist, dass der den Gegenstand präsentierende Erkenntnisvollzug explizit gegenwärtig ist, zeigt uns die Erfahrung, dass das erkennende Ich in der Erkenntnis unmittelbar den Gegenstand vor sich hat. Daher kann man sagen, dass ich mich selbst im Erkennen erlebe. Aber dieses „Ich“ ist nicht der phänomenologische Betrachter, der lediglich das Gegebene durch sich selbst transparent macht oder aktualisiert. Dass „ich mich selbst“ erkennend erlebe, ist vielmehr selbst eine Gegebenheit. Mit anderen Worten: Daraus, dass das Ich sich ständig in seinem Erkennen erlebt, kann man keinesfalls auf das Erleben des Erkenntnisaktes schließen, so wie aus der Tatsache, dass ein Handelnder stets um sich als Handelnden weiß, keineswegs folgt, dass ihm deswegen seine Handlung deutlich und klar gegenwärtig sein muss. Dadurch, dass das Ich und der Erkenntnisakt als innerlich verschmolzene Handlungseinheit erlebt werden, ‚kann ich zwar ein intensives, aber nicht unbedingt ein deutliches und klares Bewusstsein’ und in diesem Sinne keine Anschauung meiner Erkenntnis haben. Das Ingardensche Durchleben kann auch nicht mehr leisten. Schließlich ist Ingardens These fraglich, dass man den Gegenstand dunkel und unklar wahrnehmen, den entsprechenden Akt hingegen sehr bewusst durchleben könne. Man müsste hier nicht so sehr vom Akt selbst reden, ‚sondern eher vom wahrnehmenden Ich’: Je vollkommener ich den Gegenstand erkenne, umso selbstvergessener ruhe ich in seiner Anschauung. Je mühsamer ich mir den Zugang zum Gegenstand erkämpfen muss, umso mehr ist dieses mühsam tätige, allererst nach Erfahrung suchende Ich dabei gegeben, obwohl es auch möglich ist, dass ich in der Anschauung eines Gegenstandes lebe und gleichzeitig das anschauende Ich intensiv erfahre. 83
Vgl. Hoeres, W. (1969), 39f. In 5§2a (Kap. III) werden wir noch sehen, dass die Leistung der Intuition des Durchlebens auch im Hinblick auf Husserl (bei dem
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306 Diese epistemologischen Schwierigkeiten des Ingardenschen Ansatzes fordern uns zu einer weiteren Konfrontation mit anderen philosophischen Positionen auf. 5. Ingardens epistemologischer Ansatz im Lichte der philosophischen Gegenwart und Tradition. Versuch einer Konfrontation Wie wir dies oben gesehen haben, enthält Ingardens Epistemologie eine Reihe von Theorien – an der Spitze die Theorie der „Intuition des Durchlebens“ - welche auch für einen gegenwärtigen Diskurs zahlreiche Anregungen liefern können. Wenn Ingarden seine Erkenntnistheorie in die „reine“ und „angewandte Erkenntnistheorie“ aufteilt, gewinnt er dadurch die Möglichkeit, sowohl ‚apriorisch’ als auch ‚empirisch’ (hypothetisch) zu verfahren. Dieses Verfahren kann als eine Alternative zur zeitgenössischen Epistemologie betrachtet werden, die sich zwischen zwei Extremen bewegt: Es wird entweder behauptet, dass die erkenntnistheoretische Forschung völlig empirisch und induktiv (hypothetisch) sei; die Folge davon ist die Reduktion der Erkenntnistheorie auf die ‚empirische Psychologie’. Als Beispiel könnte man hier etwa Quine nennen. Oder man will alle erkenntnistheoretischen Probleme in der Sphäre des priviligierten Zugangs erledigen. Als Befürworter dieser Lösung sei z.B. Chisholm erwähnt, der die Begriffe der Notwendigkeit und des Apriori verbinden will. Betrachten wir die Ingardensche Epistemologie als ganze, können wir zweifelsohne den Eindruck gewinnen, dass es einerseits unvernünftig wäre, zu glauben, dass sich irgendwelche substantiellen erkenntnistheoretischen Fragen ohne empirische, hypothetische Forschung beantworten ließen. Andererseits wäre es auch widersinnig, die allgemeinsten normativen Probleme mit empirischen Methoden lösen zu wollen. Ingardens Analyse scheint beiden Positionen entgegen zu kommen. Der reine, formale Teil 84
85
Ingarden die Evidenz im Bewusstseinssystem unproblematisch ist. Vgl. Quine, W.V.O. (1969), 82. Vgl. Chisholm, R.M. (1989), 26f. 84 85
bemängelte)
keinesfalls
307 der Erkenntnistheorie Ingardens, der den Begriff der „selbstreferierenden Intuition des Durchlebens“ hauptsächlich enthält, ‚steht in einem engen Zusammenhang mit dem Wittgensteinschen Problem der Unausdrückbarkeit der Semantik und des besonderen Charakters der Erkenntnis’, die wir trotzdem von den semantischen Beziehungen haben. Ohne dieses Problem zu lösen – es ist übrigens auch von Wittgenstein nicht gelöst worden – stellt es die Theorie Ingardens von einem anderen, phänomenologischen Standpunkt aus dar. Ingardens Methode ist vor allem die eines deskriptiven Phänomenologen, dem an der Enthüllung der Wesensstrukturen von untersuchten Phänomenen gelegen ist. Die Lösung des Erkenntnisproblems ist jedoch alles andere als einfach – weder von einem phänomenologischen Standpunkt aus noch durch die Einführung des Begriffs der „Intuition des Durchlebens“. Denn es kann nicht so sein, dass wir auf einmal und ohne vorherige epistemologische Operationen vermögen, die Art von Erkenntnis zu identifizieren, welche uns als Grundlage für das Erfassen des Wesens des Erkennens dienen kann. In dem Kontext erhebt sich ein Einwand gegen Ingarden, nämlich dass der ganze Akt im Verlaufe seines notwendigen Übergangs vom dunklen Zustand in das Maximum der intuitiven Erfüllung (d.h. in den Zustand der „Intuition des Durchlebens“) einer Modifikation unterliegt. Demnach gilt, dass der „Wille des Erkennens“, der irgendwie zum intuitiven Durchleben hinzugefügt wird, die Naivität und Ungezwungenheit des ursprünglichen Aktes erheblich zerstören muss. Außerdem ist jeder Akt in sich und für sich unwiederholbar, zumal für den Übergang in einen intuitiven Erfüllungszustand eine gewisse Zeit nötig ist und deswegen kein Akt in seiner ursprünglichen Erfüllung erfasst werden kann. Ingarden versucht dieser Schwierigkeit bekanntlich dadurch zu entgehen, dass er behauptet, das Interesse der Erkenntnistheorie richte sich in erster Linie keinesfalls auf das Erfassen des Erkenntnisaktes in seiner Individualität (d.h. mitsamt der ursprünglichen Färbung seines faktischen 86
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Diesem Problem werden wir noch unten nachgehen. Vgl. Chrudzimski, A. (1999), 213. Vgl. Fieguth, R. u.a. (1997), XII.
308 und intentionalen Inhalts), sondern auf das Wesen der Akte auf verschiedenartigen Allgemeinheitsstufen. Wir haben gesehen, dass unser Autor gerade deswegen auf den Begriff der „absoluten Erkenntnistheorie“ angewiesen ist. Jetzt wollen wir kurz der Frage nachgehen, wie sich diese Ingardensche Stellungnahme zur gegenwärtigen philosophischen Diskussion verhält. Wir müssen uns offenbar auf einige Punkte beschränken und können uns keinesfalls erlauben, ausführlich vorzugehen. Der erste Schritt wird eindeutig durch positive Elemente dominiert, welche nicht zuletzt als Anregungen Ingardens für die gegenwärtige Philosophie betrachtet werden können. 89
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§1. Ingardens Anregungen für Bewusstseinsphilosophie und Hermeneutik Dass der Ingardensche Ansatz vielerlei Anregungen für die gegenwärtige philosophische Reflexion liefern kann, steht außer Zweifel. Das zeigt sich im Verlaufe unserer Untersuchung immer deutlicher. Im Folgenden berühren wir zwei Aspekte denkbarer Anregungen, nämlich einen bewusstseinsphilosophischen und einen hermeneutischen Aspekt. Am bewusstseinsphilosophischen Diskurs beteiligen sich nicht nur Philosophen, sondern auch Naturwissenschaftler, vor allem Biologen, Neurowissenschaftler, Kognitionstheoretiker, Psychologen und Physiker. Das, was in der Bewusstseinsphilosophie erklärt werden soll, wird bekanntlich meist mit dem Begriff „Qualia“ bezeichnet. Die Qualia sind Zustände, denen eine bewusste Qualität zukommt, d.h. Zustände, die (1) einen phänomenalen Gehalt aufweisen (z.B. Zahnweh, ein akustisches Erlebnis usf.); die (2) durch aktuelle Erlebnishaftigkeit gekennzeichnet sind (d.h. ein Organismus hat dann mentale Zustände, „wenn es irgendwie ist, dieser Organimus zu sein“); die (3) intentional sind (d.h. Bewusstsein von etwas); die (4) eine subjektive Perspektive haben (d.h. ich erlebe sie in Vgl. Smith, B. (1995), 114f. Wir beginnen mit einem knappen Bezug auf die philosophische Gegenwart. Der Begriff der Gegenwart wird hier allerdings ganz eng verstanden; d.h. er umfasst einerseits die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts, andererseits bezieht er sich auf die auch für unsere Abhandlung relevanten klassischen Positionen (Aristoteles, Kant u.a.). 89 90
309 der Perspektive der ersten Person) und die (5) präsent sind (d.h. sie zeichnen sich aus durch zeitliche Gegenwart und fundieren so unser subjektives Zeitbewusstsein). Ingarden lässt sich auf dem bewusstseinsphilosophischen Feld hauptsächlich als Philosoph erkennen. Obwohl wir bei unserem Autor den Begriff „Qualia“ selbst nicht auffinden, weil er eher ein moderner Begriff ist, stoßen wir bei ihm jedoch auf zahlreiche philosophische Analysen, welche sich m.E. inhaltlich mit den Qualia nahezu decken. Das zeigen bereits Ingardens Forschungen über die psychophysiologische Erkenntnistheorie, die wir in 2§1 (Kap. II) kurz umrissen haben. Unser Autor behandelt hier erkenntnistheoretische Probleme, die erheblich mit dem Empirischen zusammenhängen und somit auch als Gegenstand der Analyse von Naturwissenschaftlern und Psychologen gelten können. Er schreibt: 91
„Die psychischen Erlebnisse seien in ihrem Sein, ihren Eigenschaften und ihrem Verlauf durch physiologische Prozesse bedingt, die sich im Organismus des gegebenen psychophysischen Individuums abspielten. Der Aufbau und die Funktionsweise der Sinnesorgane sowie des ganzen Nervensystems bewirkten, dass kein Erkenntniserlebnis, das sich auf (vermeintliche) physische Gegenstände bezieht, in irgendeiner Hinsicht mit irgendeinem Merkmal dieser Gegenstände übereinstimmt“ (GE I, 152).
Die psychophysiologischen Untersuchungen, die Ingarden aus philosophischer Sicht durchführt, um ihre Geeignetheit für den Aufbau einer Erkenntnistheorie zu prüfen (vgl. GE I, 21f), könnten durchaus einige Vgl. Anzenbacher, A. (2002), 156f. Grundsätzlich gibt es zwei Richtungen des bewusstseinsphilosophischen Diskurses: (1) Naturalismus (N) (bzw. Physikalismus) – Qualia lassen sich durch die Naturwissenschaften hinreichend erklären, sie werden auf neurobiologisch bzw. chemisch beschreibbare Gehirnprozesse reduziert (=Reduktionismus); (2) Gegenposition zu N – Qualia des bewussten Erlebens lassen sich nicht naturwissenschaftlich bzw. physikalistisch reduzieren. Was Ingarden anbelangt, würde er m.E. für diese zweite Position plädieren. Dazu vgl. auch Rager, G. (2000), der schreibt, Bewusstsein sei charakterisiert durch phänomenale Qualitäten oder Qualia, welche das subjektive Leben ausmachen, objektiv aber nicht erfassbar sind. Rager weist auch auf Zusammenhänge zwischen Selbst, Ich und Person (im Rahmen des Bewusstseins) hin (vgl. 11, 16f). Vgl. auch Levine, J. (1983); Ramachandran, V.S. u.a. (1997). 91
310 Impulse für den gegenwärtigen bewusstseinsphilosophischen Diskurs liefern, indem sie etwa zum Herausarbeiten eines philosophischen Zugangs zu diesem Problembereich beitragen. Hier müssen wir auf eine weitere Erörterung dieses Sachverhalts verzichten, damit der Rahmen der Abhandlung nicht gesprengt wird. In diesem Zusammenhang dürfen zudem keinesfalls Ingardens Analysen der äußeren Wahrnehmung, akustischer und nicht-akustischer Momente des Musikwerkes und damit verbundener psychischer Erlebnisse übersehen werden, da wir es hier ebenso mit Zuständen zu tun haben, denen eine bewusste Qualität zukommt. Abgesehen von einfachen Beispielen für die äußere Wahrnehmung wie „Ich sehe diesen Tisch, höre die von mir ausgesprochenen Worte, spüre beim Tasten die Unebenheit eines Stoffes, rieche den Geruch einer Rose“ gilt nach unserem Autor, dass unter den Gegenständen der äußeren Wahrnehmung ebenfalls mein Leib als lebendiger Organismus auftritt, an den das Seelenleben meiner Person gebunden ist (vgl. OSW, 34f, 6). Aus ästhetischer Sicht, ganz konkret bezüglich der Untersuchungen über das Musikwerk oder auch über das literarische Kunstwerk könnte man bei Ingarden desgleichen von einer Art „Hermeneutik“ sprechen, die für die heutige Philosophie von großer Bedeutung ist. Um ein Beispiel zu nennen: Nach Ingarden ist das, was ein Autor beim Schaffen eines (Musik-) Werkes erlebt hat, was er sich als sein Werk vorgestellt hat, mit seinen Erlebnissen vorbeigegangen. Was er uns überlässt, ist nur eine Vorschrift, die bestimmt, welche realen Prozesse man hervorbringen müsse, um in den Hörern gewisse Gehörsempfindungen und andere mit ihnen assoziierte Erlebnisse hervorzurufen, welche seinen eigenen Erlebnissen ähnlich sind. Aufgrund dieser Vorschrift und der Erlebnisse, die wir beim Hören des Musikwerkes haben, können wir nur vermuten, wie sich der Autor sein Werk vorgestellt hat, ohne in dieser Richtung volle Sicherheit erlangen zu können (vgl. UOK, 17). 92
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Auch Merkmale, durch die der Begriff der „Qualia“ gekennzeichnet ist, lassen sich bei Ingarden ohne weiteres feststellen (vgl. 3 [Kap. III]). Zum Problem des Leibes im Kontext des „Leib-Seele-Problems“ bei Ingarden vgl. SEW II/2, 326f. Zu demselben Problem in der gegenwärtigen Diskussion vgl. hingegen etwa Brüntrup, G. (1996). 92
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311 Dass die Ingardensche Meinung nicht ohne Echo geblieben ist, zeigt etwa H.G. Gadamer ganz eindeutig in „Truth and Method“, wenn er kritisch schreibt: „Although I think his analyses on the ‘schematism’ of the literary work of art have been too little noted, I cannot agree when R. Ingarden (in his ‘Bemerkungen zum Problem des ästhetischen Werturteils’, Rivista di Estetica, 1959) sees in the process of the concretisation of an ‘aesthetic object’ the area of the aesthetic evaluation of the work of art. The aesthetic object is not constituted in the aesthetic experience of grasping it, but the work of art itself is experienced in this aesthetic quality through the process of its concretisation and creation”. 94
Dieses Zitat offenbart zwischen den beiden Denkern gewisse Differenzen. Kurz und bündig formuliert: Während Ingarden zwischen dem Kunstwerk und dem ästhetischen Objekt unterscheidet, um die Identität des (von vielen unterschiedlichen Subjekten zu konstituierenden) Kunstwerkes zu gewährleisten, wird dies von Gadamer, der dem persönlichen Beitrag des Subjekts eher eine fundamentale Rolle im Konstituierungsprozess zuschreibt, bestritten. Lassen sich auch manche Kohärenzen bzw. Berührungspunkte mit dem Blick auf die Tradition nachweisen? 95
§2. Mit dem Blick auf die Tradition: Berührungspunkte mit Aristoteles, Kant, Brentano und Wittgenstein Damit kein Missverständnis entsteht, sei eingangs geklärt, mit welchem Begriff der Tradition hier gearbeitet wird. Unter Tradition verstehen wir all das, was an philosophischen „Gewohnheiten“ von einer Generation an die andere weitergegeben wird. Eine weitere Präzisierung begrenzt das Weitergegebene auf das Problem des Selbstbewusstseins (bzw. Bewusstseins) – bezogen lediglich auf (1) Aristoteles, (2) Kant, (3) Brentano und (4) Wittgenstein. Dabei soll schließlich nur nach eventuellen Berührungspunkten zwischen Ingarden und den benannten Denkern gefragt Gadamer, G.H. (1975), 511. Vgl. Mitscherling, J. (1997), 200f. Dazu vgl. auch 5§4 (Kap. V) der vorliegenden Abhandlung. 94 95
312 werden. Eine erschöpfende Analyse des Gedankenguts von diesen Denkern wird hier keinswegs beabsichtigt. „Selbstbewusstsein“ im Sinne von „Bewusstsein seiner selbst“ ist ein philosophischer Kunstausdruck. Im Deutschen wird jemand „selbstbewusst“ genannt, wenn er ein positives Selbstwertgefühl und somit ein sicheres Auftreten hat. Auch der Ingardensche Begriff der „Intuition des Durchlebens“ (ID), der so viel wie „Selbstbewusstsein“ bedeutet, ist m.E. ein philosophischer Kunstausdruck. Er vermag jedoch auch positive Leistungen zu erbringen. Als solcher erweist er sich zunächst ganz deutlich im Kontext aristotelescher Reflexion, z.B. über die Seele bzw. den Geist oder sogar auch Gott. Zu (1). Nach Aristoteles denkt sich der Geist selbst und ist insofern Wissen des Wissens, wissendes Bei-sich-sein. Er wird selbst der Gedachte, wenn er an die Sache rührt und denkt, so dass denkender Geist und Gedachtes dasselbe sind. Der menschliche Geist besteht nach Aristoteles aus zwei Momenten, denen eine je verschiedene Funktion im menschlichen Erkenntnisakt zukommt. Das erste Moment ist ein ‚passives Vermögen’, der erleidende Geist (noũs pathētikós), der die jeweils erkannte Form des Gegenstandes in sich aufzunehmen vermag und selber keine Form ist, sondern die bloße Offenheit, Potenz, Rezeption der Formen von Dingen. Das zweite Moment kommt im ‚aktiven Geist’ (noũs poiētikós; intellectus agens) zum Vorschein, der die Formen der Gegenstände von dem sinnlich wahrgenommenen Gegenstand abstrahiert und in den passiven Geist überführt. In Bezug darauf stellt sich die Frage: Wie verhält sich der Ingardensche Begriff der ID zu dem Begriff des Geistes bei Aristoteles? Gibt es 96
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Vgl. Tugendhat, E. (1979), 12. Vgl. Aristoteles, Met. XII 7,1072b. Natürlich können wir uns hier keine ausführliche Analyse der aristotelischen Texte leisten. Es werden bloß Stichpunkte genannt, die uns im Hinblick auf Ingarden interessieren. Ingarden selbst hat sich mit den Texten des Aristoteles (vor allem mit dessen Metaphysik) auch befasst, z.B. im Jahre 1938/39 in einem freien Seminar (vgl. SEW I, X). Vgl. Aristoteles, De anima III, 4 und 5. Eine besondere Schwierigkeit ist mit der Interpretation des aktiven Geistes verbunden. Die Aristotelesforscher vertreten verschiedene Meinungen (vgl. Disse, J. [2000], 100). 96 97
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313 irgendwelche Berührungspunkte? Diese Frage ist vor allem deswegen gerechtfertigt, weil die ID bei Ingarden das Erkennen und das Erkannte für dasselbe (identisch) hält, was der aristotelschen Auffassung ganz nahe zu stehen scheint, dass denkender Geist und Gedachtes dasselbe seien. Allerdings könnte man hier fragen, mit welchem Teil des aristotelischen Geistes die ID stärker verbunden ist: mit dem aktiven Geist, weil sie sich selbst durchlebt, oder mit dem erleidenden Geist, weil sie den Gegenstand durchleuchtet. Wir wollen hier keinesfalls eine verbindliche Position beziehen, sondern vielmehr zu einer Reflexion anregen. Von der begrifflichen Ebene her scheint weiterhin die Position des Aristoteles bezüglich der Frage nach Gott interessant zu sein, insbesondere sein Gedanke, dass „Gott sich selbst denkt“, d.h. dass Gott das sich selbst denkende Denken ist. Inwiefern könnte der Ingardensche Begriff des „sich selbst durchglühenden Eisens“ zum Weiterdenken dieses Gedankens beitragen? (vgl. FSE, 214f). Unsere Aufmerksamkeit verdient noch der Begriff „Wahrnehmung“, der sowohl bei Aristoteles als auch bei Ingarden eine merkwürdige Beachtung findet. In „De Anima“ schreibt Aristoteles, dass es außer den fünf Sinnen – also Gesicht, Gehör, Geruch, Geschmack und Tastsinn – keinen anderen gibt. Interessant ist aber für uns Folgendes: 99
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„Da wir wahrnehmen, dass wir sehen und hören, müssen wir entweder mit dem Gesichtssinn wahrnehmen, dass er sieht, oder mit einem anderen. Aber (dann) wird derselbe Sinn sich auf das Sehen und auf die gegenständliche Farbe richten, so dass sich entweder zwei Sinne auf denselben Gegenstand richten oder der eine auf sich selbst. Ferner, wenn auch die Wahrnehmung vom Sehen eine andere wäre, so würde dies entweder ins Unendliche gehen, oder eine würde sich auf sich selbst richten [...]. Offenbar ist [...] das Wahrnehmen mit dem Gesichtssinn nicht Eines; denn auch wenn wir nichts sehen, unterscheiden wir mit dem Gesichtssinn sowohl das Dunkel als auch das Licht, aber nicht auf dieselbe Weise [...]. Die Wirklichkeit des Wahrnehmbaren und der Wahrnehmung ist ein und dieselbe, das Sein ist aber für sie nicht dasselbe. Ich meine z.B. den Ton in Wirklichkeit und das Gehör in Wirklichkeit, denn man kann das Gehör haben und nicht hören, und was Ton besitzt, tönt nicht immer“ (De anima, III, 2, 425b). 99 100
Vgl. Aristoteles, Met. XII 8,1074b34. Zum Begriff der Wahrnehmung bei Ingarden vgl. 2§6a (Kap. I) und 4§1 (Kap. II).
314 In dem zitierten Text erwägt Aristoteles das Verhältnis zwischen dem Wahrnehmbaren und der Wahrnehmung und kommt zum Schluss, dass diese beiden Komponenten der Wirklichkeit nach ein und dieselben seien, dem Sein nach aber nicht. Die Frage ist, ob diese aristotelische Differenzierung aufgrund der zwei Kriterien „Wirklichkeit“ und „Sein“ auch nicht etwas zur Erhellung des Ingardenschen Begriffs der ID beitragen könnte, zumal wir es bei diesem Begriff ebenfalls mit der Identifizierung des Erkennens mit dem Erkannten zu tun haben. Ist diese Identität tatsächlich dem Sein nach oder nur der Wirklichkeit nach? Denn ich kann über das Erkennensvermögen verfügen und trotzdem nichts erkennen. Meine These würde eher in Richtung der Identität aufgrund der Wirklichkeit tendieren, was Ingarden vermutlich mißfiele. Schließlich berühren sich die Positionen von Ingarden und Aristoteles insofern, als beide in ihren epistemologischen Gedankengängen vor dem Regress ins Unendliche warnen. Noch deutlicher wird das im Vergleich mit Kant. Zu (2). Wenn wir Kant ansprechen, dann wird dies – abgesehen von der allgemeinen Relevanz der Kantischen Philosophie – dadurch gerechtfertigt, dass Ingarden selbst schreibt, sein Begriff des „Durchlebens“ meine so viel wie das Wort „Selbstbewusstsein“ bei Kant (vgl. EPhH, 156). Um das nachzuprüfen, müssen wir kurz die Kantische Position skizzieren. Gemeint ist hier offensichtlich die „Transzendentale Analytik“ in der „Kritik der reinen Vernunft“, insbesondere der Abschnitt „Transzendentale Deduktion der reinen Verstandesbegriffe“. Das, was wir mit dem Wort „Selbstbewusstsein“ meinen, wird von Kant mit dem Begriff der 101
Sprechen wir hier von Berührungspunkten, so beabsichtigen wir keinesfalls, Ingarden und Aristoteles (oder später auch Kant und andere Philosophen) auf die gleiche Ebene zu stellen bzw. ihnen gleiche Verdienste zuzuschreiben. Dies leuchtet wohl von selbst ein. Was wir erreichen wollen, ist lediglich das Nachweisen, (1) dass auch bei Ingarden relevante philosophische Probleme vorzufinden sind, die von den Klassikern der Philosophie – wenn auch mit der Verwendung anderer Begrifflichkeit – diskutiert worden waren; sie wurden von unserem Autor nicht selten originär aufgegriffen und (2) dass traditionelle Lösungsversuche oft zur Erhellung der Ingardenschen Gedanken beitragen wie auch deren Schwächen aufweisen können. 101
315 „transzendentalen Apperzeption“ benannt. Genauer gesagt kommt es Kant auf die ursprünglich-synthetische Einheit der Apperzeption an. Die Verbindung der Mannigfaltigkeit dessen, was uns durch die empirische oder reine Anschauung gegeben ist, kann nicht zugleich in der reinen Form der sinnlichen Anschauung mit enthalten sein, sondern sie ist vielmehr ein Akt der Spontaneität des Verstandes. Der Verstand verbindet also das Mannigfaltige in der Anschauung zu einer Einheit. Was ermöglicht diese Verbindungsfunktion im Verstand? Kant beantwortet diese Frage, indem er den Begriff der transzendentalen Apperzeption einführt. Diese Apperzeption ist die Quelle aller Verbindung, aller Synthesis. Sie bewirkt im Menschen eine Einheit, welche die Voraussetzung für alle Einheit ist, die wir in Bezug auf die Gegenstände unseres Erkennens hervorbringen. Es ist die „transzendentale Einheit der Apperzeption“ und ‚besagt so viel wie Selbstbewusstsein’. Das transzendentale Selbstbewusstsein garantiert erst die durchgängige Einheit 102
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Den Begriff „Apperzeption“ übernimmt Kant bekanntlich von Leibniz, der von der Perzeption als Wahrnehmung (Gegenstandsbewusstsein) die Apperzeption (Selbstbewusstsein) unterscheidet (vgl. ders., Monad. 7 und 17). Vgl. Kant, I., KrV, B 130. Vgl. Kant, I., KrV, B 139, 157. Die Einheit, die aller Synthesis zugrunde liegt, ist also das reine „Ich denke“. Kant meint damit die Identität des Ich-Bewusstseins, die in allem Wandel mannigfaltiger Erfahrung beibehalten wird. Man könnte fragen, wie sich hier die Position Kants zu der von Descartes verhält? Der Unterschied zwischen beiden besteht vor allem darin, dass Kant das Ich weder als reines noch als gegenstandsloses Bewusstsein zum Ausgangspunkt macht, sondern es erst reduktiv als transzendentale Bedingung des gegenständlichen Bewusstseins erreicht (vgl. Coreth, E. u.a. [2000], 186f). So unterscheidet Kant einen dreifachen Begriff des Ich: (1) das empirische Ich – auch „empirische Apperzeption“ genannt, entstammt der Selbsterfahrung des Subjekts. Es beruht auf empirischer (sinnlicher) Wahrnehmung, begleitet alle äußeren Erscheinungen, die „ich“ wahrnehme, verbleibt selbst im Bereich der Erscheinung und ist somit – in der zeitlichen Abfolge der Erfahrungen – veränderlich. Das empirische Ich kann darum nicht den letzten Grund der Identität des Selbstbewusstseins bilden; (2) das transzendentale Ich – ist das reine „Ich denke“, das aller Erfahrung als „transzendentale Einheit des Selbstbewusstseins“ vorausliegt. Es interessiert uns eben im Hinblick auf Ingarden; (3) das metaphysische Ich – entspricht dem Begriff der Seele, der geistigen Substanz im Sinne der Tradition (vgl. KrV, B 132f). 102
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316 des Subjekts. Erst dank diesem Subjekt sind die verschiedenen Vorstellungen, die mir gegeben sind, ‚meine Vorstellungen’. Nur aufgrund dieses Selbstbewusstseins gibt es desgleichen überhaupt so etwas wie Objekte. Das heißt, die Einheit des Selbstsbewusstseins vermag erst zu gewährleisten, dass das erkennende Subjekt eine Mannigfaltigkeit in der Anschauung zu einem Objekt zusammenfassen kann. In diesem Sinn ist diese transzendentale Einheit der Apperzeption der Ursprung allen Erkennens, „der höchtse Punkt“, die letzte Bedingung der Möglichkeit aller Erkenntnis. Während nun der oberste Grundsatz der Möglichkeit aller Anschauung in Bezug auf die Sinnlichkeit ist, dass alles Mannigfaltige derselben unter den formalen Bedingungen des Raums und der Zeit steht, gilt hingegen als der oberste Grundsatz derselben in Bezug auf den Verstand, dass alles Mannigfaltige der Anschauung unter den Bedingungen der ursprünglich-synthetischen Einheit der Apperzeption steht. Überdies schreibt Kant der transzendendentalen Einheit der Apperzeption hinsichtlich der Urteile eine bedeutende Funktion zu. So steht für Kant fest, dass nur ein solches Urteil von objektiver Gültigkeit ist, welches in den Kategorien und in der transzendentalen Einheit der Apperzeption gründet. Dieses Urteil ist deswegen objektiv, weil die transzendentale Einheit der Apperzeption ein Selbstbewusstsein ist, das über die Zeit hinweg mit sich selbst identisch ist. Es ist aber als mit sich selbst identisches Selbstbewusstsein notwendig, weil es sich nie ändert, und allgemein, weil es sich über alle Zeiten hinweg gleich bleibt. Das bedeutet, der Verstand, der aus der Einheit des Selbstbewusstseins heraus verschiedene Wahrnehmungen zu einer Einheit verbindet, unterwirft sich diese Wahrnehmungen, indem er sie mit der Notwendigkeit und Allgemeinheit ausstattet, die das transzendentale Selbstbewustsein selbst auszeichnet. 105
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Vgl. Kant, I., KrV, B 132f. Vgl. Kant, I., KrV, B 136. Vgl. Kant, I., KrV, A 108. Die Eigenschaften der Notwendigkeit und der Allgemeinheit treten bei Kant bekanntlich als gemeinsames Merkmal einer Erkenntnis „a priori“ auf (vgl. Konrad, A. [1997], 11f). Dazu vgl. auch Baumgartner, H.M. (1991). 105 106 107
317 Was ergibt sich für unsere Analyse aus diesen Kantischen Überlegungen? Für unsere Ingarden-Interpretation sind vor allem zwei Dinge relevant: Zum einen spricht Kant vom (transzendentalen) Selbstbewusstsein als dem „höchsten Punkt“, der letzten Bedingung der Möglichkeit aller Erkenntnis. Eine solche Auszeichnung verdient bei Ingarden die Intuition des Durchlebens (ID) als Selbstbewusstsein. Auf der Ebene verschiedener Bewusstseinsgrade, welche durch Unterschiede der Klarheit und Helligkeit gekennzeichnet sind, stellt die ID ebenfalls den „höchsten Punkt“ dar. Denn sie ist nach Ingarden die größtmögliche Aufhellung des im Vollzug begriffenen Bewusstseinsaktes und somit eine eigene Erkenntnisart, die sich allen anderen Erkenntnisarten aufgrund ihres „Einigungsvermögens“ radikal gegenüberstellt. So wie erst das ‚transzendentale Selbstbewusstsein bei Kant der Garant der durchgängigen Einheit des Subjekts ist, so gewährleistet erst die ID bei Ingarden die Einheit des Erkennens mit dem Erkannten schlechthin’ und vermag dabei sich selbst zu erfassen. Das intuitive Durchleben (d.h. ID) ist eine absolut unbezweifelbare Erkenntnis, eine vollkommen adäquate und vollkommene Erkenntnis und schließlich eine Erkenntnis, welche die Existenz des Erkannten absolut verbürgt. Da die ID nur intuitiv zu erkennen ist und keinen neuen Akt benötigt, entzieht sie sich – wie wir es bereits oben gesagt haben – der Gefahr einer „petitio principii“ und stellt deshalb für Ingarden den „gesuchten Punkt“ dar (vgl. FSE, 223f). Zum anderen ist das transzendentale Selbstbewusstsein bei Kant insbesondere durch zwei Begriffe gekennzeichnet, nämlich „Allgemeinheit“ und „Notwendigkeit“. Diese Begriffe, vor allem aber den Begriff der „Allgemeinheit“ greift auch Ingarden in seiner Epistemologie auf und macht ihn zu einem von den drei wesentlichen Postulaten seiner reinen Erkenntnistheorie (vgl. 2 [Kap. II]). Die reine Erkenntnistheorie muss im Sinne Ingardens durch Allgemeinheit der Ergebnisse gekennzeichnet sein. Diese Allgemeinheit wird nicht zuletzt durch die Leistung der ID ermöglicht, so dass Ingarden von absoluter Erkenntnistheorie sprechen kann. Darum ist die Existenz der ID auch die 108
Zwei weitere Postulate sind – wie wir uns erinnern - Voraussetzungslosigkeit und Endgültigkeit der Ergebnisse.
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318 Bedingung der Möglichkeit der absoluten Erkenntnistheorie (vgl. FSE, 228). Die notwendige Konsequenz ist jedoch, dass die Ingardensche ID nur die allgemeinste Form der intentionalen Beziehung vermittelt, und die Weise dieser Vermittlung zu einer deskriptiven Leerheit zu führen scheint. Im Kontext der Position von Brentano kommt dies noch deutlicher zum Vorschein. Zu (3). Bei Brentano sind für unsere Analyse vor allen Dingen zwei Sachverhalte bedeutsam: Zum einen sind nach Brentano die logischen Axiome und die Tatsachen der inneren Wahrnehmung (bzw. des inneren Bewusstseins) unmittelbar evident, d.h. die innere Wahrnehmung der eigenen psychischen Phänomene ist die erste Quelle der Erfahrungen, welche für die psychologischen Untersuchungen unentbehrlich sind. Zum anderen hat Brentano den Begriff der Intentionalität für die zeitgenössische Philosophie „neu entdeckt“. Das innere Bewusstsein zeichnet sich also bei Brentano durch direkte und unbezweifelbare Evidenz aus und hängt mit dem psychischen Phänomen zusammen, dessen Bewusstsein es ist. Das innere Bewusstsein tritt in dreifacher Form auf: als Vorstellung, Urteil und Gefühl des psychischen 109
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Vgl. Chrudzimski, A. (1999), 65. Vgl. Brentano, F. (1925), 48. In „Erinnerungen an Franz Brentano“ versucht C. Stumpf (vgl. [1919], 100) die Position Brentanos zu umreißen, indem er einerseits auf die Brentano beunruhigende Erkenntnisaporie hinweist: „Meiner Erkenntnisfähigkeit kann ich weder blind vertrauen, noch kann ich sie prüfen. Um sie zu prüfen, müsste ich mich derselben Erkenntnisfähigkeit bedienen, deren Zuverlässigkeit ich prüfen will. Also kann ich niemals einer Erkenntnis mit Zuverlässigkeit gewiss sein“. Andererseits bringt Stumpf die von Brentano vorgeschlagene Lösung vor: „Ich kann auch sehend vertrauen. Ist ein Satz unmittelbar evident, so bedarf er zu seiner Erkenntnis keiner Prüfung, auch nicht der Erkenntniskräfte. Wir stützen uns allerdings in gewissem Sinne auf die Zuverlässigkeit unserer Erkenntniskräfte, indem wir uns ihrer bedienen, aber nicht bedienen wir uns ihrer als Prämisse. Somit kann von einem Zirkelschluss keine Rede sein“. Das gilt nicht für das äußere Bewusstsein, d.h. die „Vorstellungen der physischen Phänomene“.
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319 Phänomens. Diese dreifache Form kann von uns hier nicht genauer erläutert werden. Wir können lediglich fragen, warum Brentano einen so komplizierten Aufbau des psychischen Phänomens postuliert. Eine denkbare Antwort kann etwa lauten: Brentano will die Gefahr des „regressus in infinitum“ vermeiden. Diese liegt für ihn kurzum vor allem dann vor, wenn der psychische Akt dadurch bewusst wird, dass ‚er in einem anderen Akt vorgestellt wird’. Und hier „berührt Brentano sich“ mit Ingarden, der das gleiche mit dem (nicht weniger komplizierten) Begriff der „Intuition des Durchlebens“ (ID) anstrebt. Beide Denker wollen also eine Lösung finden, welche diese epistemologische Schwierigkeit bewältigt, wobei ihre Lösungen extrem unterschiedlich sind. Während Brentano behauptet, dass die psychischen Phänomene von drei Arten des inneren Bewusstseins begleitet werden, besteht Ingarden hingegen darauf, dass der Bewusstseinsakt als „Durchleben“ (d.h. als ein spezifisches Vonsich-selbst-Wissen) zu erfassen sei, ohne dass dabei auch eine Reflexion, eine Vorstellung oder ein Urteil erforderlich wäre. Dank der Leistung der ID will Ingarden bekanntlich die Gegenüberstellung von Akt und Gegenstand auflösen (vgl. SFhP, 43). Diese Divergenz beider Positionen ist mit dem Problem der Intentionalität verknüpft. Auf diesem Gebiet kommt allerdings Brentano – aus Sicht der Relevanz seiner Vorschläge für die gegenwärtige philosophische Diskussion – eine beherrschende Rolle zu. Im Anschluss an Aristoteles sagt er, dass jedes psychische Phänomen dadurch gekennzeichnet ist, dass es seinen Gegenstand hat, auf den es intentional gerichtet ist. Jedes psychische Phänomen setzt – wie wir oben gesehen haben – eine 112
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Vgl. Brentano, F. (1925), 194f. Unter einem Urteil versteht Brentano ein „einfaches Anerkennen“ oder „Verwerfen“, nicht aber Verknüpfen der Begriffe im Sinne der Verbindung des Subjekts mit einem Prädikat. Darum betrachtet Brentano auch die Wahrnehmung als ein Urteil. Hier ist offensichtlich der frühere Brentano gemeint. Der spätere Brentano hat seine frühe immanentistische Theorie der Intentionalität verworfen (vgl. ders. [1977], 119f). Vgl. Brentano, F. (1924), 124f. Brentano war ein ausgezeichnter Kenner von Aristoteles. Der aristotelische Text, auf den Brentano anspielt, ist z.B. in „Über die Seele“ (II 12,424a) zu finden. Brentano verwendet auch den Ausdruck „mentale Inexistenz des Vorstellungsgegenstandes“, der auch „Inhalt“ genannt wird. 112
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320 Vorstellung voraus, die ihrem Wesen nach immer einen Gegenstand hat, d.h. das, was vorgestellt wird. Der Gegenstand ist dem Vorstellungsphänomen gegenüber „immanent“. Die Vorstellung stellt nur etwas vor, sie „macht“ aber keine Aussagen darüber, ob das Vorgestellte (außermental) existiert oder nicht. Erst im Urteil, das sich auf der Vorstellung aufbaut, sind Aussagen über die reale Existenz denkbar. Brentano hat darauf hingewiesen, dass bei intentionalen Relationen das zweite Glied der Relation nicht zu existieren braucht: Ich kann jemanden fürchten, lieben, begehren, obwohl dieser jemand nicht existiert. Ich kann etwa den Teufel fürchten, ohne dass er existiert, aber nicht ohne zu meinen, dass er existiert. Dass der Gegenstand einer intentionalen Bewusstseinsweise nicht zu existieren braucht, ist eine Folge des Umstands, dass man sich auf einen Gegenstand nur in der Weise beziehen kann, dass ‚man ihn für existent hält’. Dass ein Gegenstand existiert, ist eine „Proposition“ (Sachverhalt); zu meinen, dass er existiert, ein ‚propositionales Bewusstsein’. Ingarden fasst die Problematik der Intentionalität natürlich ganz anders auf. Das zeigte sich schon in 3§3 (Kap. III), wo der Begriff der ID behandelt worden war. Hier wollen wir dies nicht wiederholen. Es sei bloß daran erinnert, dass es sich bei unserem Autor – aufgrund des Begriffs der ID – um eine „spezifische“ Intentionalität handelt, d.h. um eine solche, in der Akt und Gegenstand eins und dasselbe sind. Wir sprachen folglich vom „eingliedrigen Modell des Bewusstseins“ bei Ingarden. Sowohl Ingarden als auch Brentano haben nun insofern ein gemeinsames Interesse, als sie einerseits auf die Überwindung der epistemologischen Gefahr des „regressus in infinitum“, andererseits auf eine optimale Auslegung der intentionalen Relation abzielen – allerdings auf verschiedenen Wegen. Zu (4). Auch in Bezug auf Wittgenstein lassen sich manche Berührungspunkte nachweisen. Hier greifen wir den folgenden Gedanken aus den „Philosophischen Untersuchungen“ auf: 115
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Vgl. Brentano, F. (1925), 34f. Vgl. Tugendhat, E. (1979), 19f. Zur Philosophie Brentanos vgl. z.B. Albertazzi, L. (1996); Smith, B. (1994) u.a.
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321 „Jedes Zeichen scheint allein tot. Was gibt ihm Leben? – Im Gebrauch lebt es.“ 117
Dieser Gedanke ließe sich im Kontext unserer Analyse folgendermaßen umgestalten: „Jede Intuition des Durchlebens scheint allein tot. Was gibt ihr Leben? Im Gebrauch lebt sie“. Mit dieser Paraphrase wollen wir lediglich zum Ausdruck bringen, dass der Ingardensche Begriff der „selbstreferierenden“ Intuition des Durchlebens (ID) in einem engen Zusammenhang mit dem Wittgensteinschen Problem der Unausdrückbarkeit der Semantik und des besonderen Charakters der Erkenntnis steht. Mit anderen Worten: Der Begriff der ID lässt sich nur in dem von Ingarden postulierten Rahmen und Gebrauch (d.h. in der reinen Erkenntnistheorie) sinnvoll denken. Anders bringt er zahlreiche Probleme mit sich. So wird etwa die Natur der ID und des Wissens, das durch sie zustande kommen soll, betroffen. Die ID ist nach Ingarden offenkundig ein Begriff der Erkenntnis. Darum muss sie gemäß der klassischen Definition ‚einen Inhalt haben, der wahr und gerechtfertigt sein muss’. Was die Rechtfertigung der ID anbelangt, gibt es grundsätzlich keine Bedenken. Wir erinnern uns daran, dass unser Autor der ID die Fähigkeit zur Selbstrechtfertigung zuschreibt (vgl. 3§4 [Kap. III]). Die Sache kompliziert sich dagegen im Hinblick auf den Inhalt der ID und das Prädikat „wahr“, weil Ingarden hier nicht mehr konsequent vorgeht. Einerseits schreibt er der ID einen gewissen Inhalt zu; dieser soll wenigstens das Wesen des Aktes als solchen umfassen. Andererseits behauptet er aber, dass das ‚Wahrheitsverhältnis in der Identität des Aktes mit dem Objekt bestehe’, 118
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Wittgenstein, L., PU, §432. Vgl. Chrudzimski, A. (1999), 213. In der Sprachphilosophie wird der Begriff „Semantik“ wie folgt verstanden: (1) im weiteren Sinne – gemeint ist der Untersuchungsbereich, in dem die Frage nach der Bedeutung sprachlicher Ausdrücke behandelt wird; (2) im engeren Sinne – es geht lediglich um die Theorie der Referenz, d.h. der Beziehung oder Zuordnung zwischen sprachlichen Zeichen und den durch sie bezeichneten Gegenständen (vgl. Runggaldier, E. [1990], 28). Vgl. Brugger, W. u.a. (1996a), 90f. 117 118
119
322 und daher die ID keinen Inhalt haben könne, der vom Inhalt des durchlebten Aktes verschieden wäre. Das Problem wird erst im Kontext der Korrespondenztheorie der Wahrheit von Tarski deutlich. Berühmt wurde die folgende Formulierung: „>Es schneit< ist eine wahre Aussage, wenn es schneit“. Tarski schlägt bekanntlich vor, die semantischen Prädikate wie „wahr“ oder „falsch“ einer jeweiligen Metasprache vorzubehalten, die sie den Aussagen einer von ihr zu unterscheidenden Objektsprache zuschreibt. Die Metasprache enthält einerseits die Namen der Sätze der Objektsprache, andererseits die entsprechenden Sätze der Objektsprache selbst. Angenommen, dass wir es auch bei Ingarden mit einer Objektsprache (=Akt) und Metasprache (=das mit den Akten Gemeinte) zu tun hätten, so müssten wir nach dem Verhältnis zueinander fragen: Lässt sich dieses Verhältnis mit Hilfe des Begriffs der ID sinnvoll klären, zumal die ID (d.h. die höchste Stufe des intuitiven Durchlebens) keine zusätzliche vom betreffenden Akt verschiedene Entität ist, sondern nur einen (abstraktiv abtrennbaren) Aspekt dieses Aktes bildet und ein Wissen um diesen Akt liefert, ohne sich eines zweiten reflexiven Aktes bedienen zu müssen? Die Antwort fällt negativ aus. Denn wir können hier keine Differenz zwischen der mentalen Sprache (Metasprache) und ihrem Objekt (Objektsprache) vollziehen, weil keine Gegenüberstellung Akt-Objekt vorliegt. Nach Ingarden braucht das Bewusstsein kein zusätzliches Mittel, um sich präsentieren zu lassen. Vielmehr gehört das Bewusstsein zu den Gegenständen, die sich ‚selbst präsentieren’. Das Gleiche gilt auch dann, wenn das intuitive Durchleben selbst zum Objekt gemacht wird. Denn das Durchleben ist nicht etwas anderes als der Akt, den es betrifft. Es bildet nur einen abstraktiven Aspekt dieses Aktes. Wenn also das Durchleben diesen Akt „durchdringt“, dann durchdringt es notwendigerweise auch sich selbst. Folglich muss dieses Durchleben in der höchsten Stufe seiner Entfaltung (d.h. als die ID) auch unmittelbar 120
121
122
Vgl. Chrudzimski, A. (1999), 178f. Vgl. Tarski, A. (1935/36), 268. Die Korrespondenztheorie wird auch „Adäquationstheorie der Wahrheit“ genannt (veritas est adaequatio rei et intellectus). Natürlich haben wir es bei Ingarden – streng genommen - mit den Akten und dem, was mit ihnen gemeint ist, zu tun.
120 121
122
323 ‚selbstreferierend’ sein, und für ein zweites Durchleben, das etwa dem Akt der Reflexion gleich wäre, bleibt kein Platz mehr. Eine solche Konstellation würde allerdings bedeuten, dass ‚die ID ihre eigene Metasprache mit dem Wahrheitsprädikat enthalten muss’. Das führt aber zu semantischen Paradoxien. Wenn eine Sprache ihr Wahrheitsprädikat enthält, kann man einen anderen „pathologischen“ Satz konstruieren. A. Chrudzimski nennt ihn „Wahrheitssager“. Er zeigt es folgendermaßen: 123
(w)
(w) ist wahr.
Obwohl dieser Satz (an sich) nach Chrudzimski nicht absurd ist und zu keinem Widerspruch führt, schreiben wir ihm jedoch einen ‚rein konventionellen Wahrheitswert’ zu. Dadurch entstehen aber Schwierigkeiten. Der Grund für die „semantische Pathologie“ besteht also darin, dass die Zuschreibung des Wahrheitswertes in keinem Satz endet, der keine semantischen Prädikate enthalten würde. Denn Wenn:
(w) wahr ist, dann (gemäß der Definition) (w) (w) lautet aber: „(w) ist wahr“, also haben wir: (w) ist wahr, dann aber (gemäß der Definition) (w) ……… ……… ……...usw.
Angesichts der Tatsache, dass die obige Struktur sich ins Unendliche verlängert, sagt man, dass die Sätze solcher Art „ungrounded“ sind. In dieser Situation liegt – so Chrudzimski – der Gedanke nahe, der ID überhaupt die Selbstreferenz im Sinne eines Gerichtetseins auf sich selbst abzusprechen. Die Informationen, die die ID liefert, enthalten zwar eine allgemeine Form der Rationalität, d.h. die Form des intentionalen Gerichtetseins. Aber es ist nicht klar, ob diese Form überhaupt explizit beschrieben werden kann. Der Grund besteht einerseits darin, dass jede Beschreibung dieselbe Form des Gerichtetseins voraussetzen muss, um 123
Vgl. Chrudzimski, A. (1999), 180f.
324 überhaupt als eine Beschreibung auftreten zu können. Der Inhalt, der seine Form beschreibt, wäre also gewissermaßen zirkulär. Andererseits besteht aber der Grund auch darin, dass eine Beschreibung der Form des intentionalen Gerichtetseins ‚notwendig semantische Prädikate enthalten muss’. Sie wäre in derselben Sprache nicht realisierbar. Redet man über die Sprache, könnte man noch etwa eine Metasprache einführen, um das Problem zu lösen. Ist das aber möglich im Fall von Akten? Könnte man annehmen, dass das Bewusstsein in viele „Sprachebenen“ aufgeteilt ist? Angenommen, dass diese These aufgewiesen werden könnte, wäre sie jedoch – vom Standpunkt der Ingardenschen Erkenntnistheorie her einem neuen Regress gleichzusetzen, vor dem gerade der Begriff der ID schützen sollte. Gibt es dafür eine Lösung? Einige Ideen lassen sich im „Tractatus logico-philosophicus“ nachweisen. Wittgenstein schreibt: 124
„Das Bild kann jede Wirklichkeit abbilden, deren Form es hat […]. Seine Form der Abbildung aber kann das Bild nicht abbilden; es weist sie auf“. 125
Nach Wittgenstein kann man also die Form der Intentionalität nicht abbilden, sondern man muss sie gewissermaßen „zeigen“. Das bedeutet, dass sie in der Objektsprache nicht ausdrückbar sei, aber dennoch gewissermaßen zugänglich, sie zeige sich in jedem Satz. Um den Begriff 126
Vgl. Chrudzimski, A. (1999), 183f. Wittgenstein, L., TLP, 2.171f. Der Begriff des Zeigens bei Wittgenstein wird etwa im Aufsatz von W. Vossenkuhl erläutert (vgl. ders. [2001a]). Der Autor macht – in einem weiteren Kontext - deutlich, dass die Begriffe „Sagen“ und „Zeigen“ komplementär sind. Sie ergänzen sich in ihrer wechselseitigen Abhängigkeit, in mehrfach asymmetrischer Weise. Einerseits hängt das Sagen davon ab, dass sich im Satz all das zeigt, was eine Darstellung der Wirklichkeit möglich macht; das Zeigen ermöglicht das Sagen. Andererseits ist das Zeigen nur indirekt über das Sagen thematisierbar; ohne das Sagen wüssten wir nicht, was Zeigen heißt (vgl. 58). Was das Zeigen im Unterschied vom Sagen kennzeichnet, ist an Beispielen leicht erkennbar: Dass eine Person z.B. moralisch gut ist, kann zwar gesagt werden, aber auch die wiederholte Bejahung oder Verneinung ändert nichts daran, dass sie es tatsächlich ist; denn das hat sich in ihrem Handeln gezeigt (vgl. 48). In gewisser Weise ist das Zeigen eine Bedingung der Möglichkeit des Sagens (52). Dazu vgl. auch 3§1a (Kap. VI). Zur Problematik der Philosophie Wittgensteins vgl. etwa Vossenkuhl, W. (1992). 124 125 126
325 der Form des intentionalen Gerichtetseins einzuführen, gilt es vorab zwischen Folgendem zu unterscheiden: (1) einem deskriptiven Zugang zu den Inhalten, die im Rahmen der Intentionalität gegenständlich zu erfassen sind; und (2) einem normativen Zugang zu der Form der Intentionalität selbst. So heißt es bei Wittgenstein an einer anderen Stelle: „[…] Der Satz selbst ist ein Ausdruck […]. Ausdruck ist alles für den Sinn des Satzes Wesentliche […]. Der Ausdruck kennzeichnet eine Form und einen Inhalt. Der Ausdruck setzt die Formen aller Sätze voraus“. 127
Wollen wir dies auf den Ingardenschen Begriff der ID beziehen, so ergibt sich, dass die ID sich vor allem in ihrer formalen Struktur des intentionalen Gerichtetseins zeigt, was mit normativer Zugangsweise zu tun hat, nicht mit deskriptiver. Denn die ID beschreibt sich nicht. Sie gilt für Ingarden so wie gewisse Sätze der Logik (bei Wittgenstein) – aufgrund ihrer Form. D.h. sie wird (wie die Form) definitorisch vorausgesetzt. Während die Inhalte in der Form der Intentionalität gedacht, angenommen oder verworfen werden können, gilt das für die Form selbst in demselben Sinn nicht – aus logischen Gründen, die mit der Unausdrückbarkeit der semantischen Prädikate in derselben Sprache zusammenhängen. 128
Wittgenstein, L., TLP, 3.31f. Zum Problem der Intentionalität bei Wittgenstein vgl. etwa E. Ammereller (2001). Der Verfasser versucht zu zeigen, worin die Intentionalität in (bzw. aufgrund von) Wittgensteins Auffassung der Zuordnungen besteht, welche die abbildende Beziehung zwischen Bildelementen und Gegenständen konstituieren. Es geht also um das Problem, wie ein Bild darstellen kann, was der Fall ist, unabhängig von dessen Wahrheit oder Falschheit. Das ist dank der Form der Abbildung denkbar – betont Ammereller. Die die abbildende Beziehung konstituierenden Zuordnungen, welche die intentionalen bzw. semantischen Eigenschaften der Bildelemente bestimmen, werden von ihm „intentionale“ bzw. „semantische Zuordnungen“ genannt (vgl. 116f). Das ist auch für die von uns in diesem Abschnitt unternommenen Analysen von Bedeutung. Um zu verstehen, was bedeutet: „diese Form gilt“, muss man zuerst diese Form als geltend voraussetzen. Das Gleiche gilt für die ID (vgl. Chrudzimski, A. [1999], 184). Auch Wittgenstein selbst behauptet, dass um die Bedeutungen der Urzeichen erklären bzw. verstehen zu können, man die Bedeutungen der zu erläuternden Zeichen bereits kennen muss (vgl. TLP, 3.263). Um sie aber zu kennen, muss man zuvor voraussetzen, dass es sie gibt – aktuell, potentiell usw. Mit einem anderen Beispiel ausgedrückt: Der Erwerb einer Sprache setzt diese Sprache bereits voraus. Diese „scheinbare“ 127
128
326 Dank dem Zugriff auf Wittgenstein scheint die These Ingardens über die ID an Plausibilität gewonnen zu haben. Kann das aber für eine Konfrontation mit dem Husserlschen Ansatz ausreichen? a. Ingardens Überwindung Husserls? Kritik an Ingarden Während das Verhältnis zwischen Ingarden und Brentano durch die Begriffe der Intuition des Durchlebens (ID) und der inneren Wahrnehmung gekennzeichnet ist, was sich bereits im vorangehenden Abschnitt zeigte, stoßen wir dagegen bei Ingarden und Husserl vor allem auf die Begriffe der ID und der immanenten Wahrnehmung; wir wollen das Verhältnis der beiden zueinander aus Sicht der Selbstbewusstseinsfrage erörtern. Als Ingarden seine Analysen über den Begriff der Intuition des Durchlebens (ID) und dessen Rolle in der Erkenntnistheorie entwirft, ist Husserl sich schon längst im Klaren, was er unter der immanenten Wahrnehmung verstehen will. Husserl glaubt, aufgrund der immanenten Wahrnehmung das reine Bewusstsein erforschen zu können. Die immanente Wahrnehmung ist nach ihm dadurch gekennzeichnet, dass sie eine „unvermittelte Einheit“ mit dem schlicht vollzogenen Akt bildet – mit der Folge, dass dieser Akt nur als wesentlich unselbständiges Moment aus dieser Einheit abzusondern sei. Der Akt der immanenten Wahrnehmung liefert nach Husserl ein absolut wahres und sicheres Ergebnis. Das in der immanenten Wahrnehmung Erfasste konstituiert sich nicht erst in einer Ansichtsvielfalt, sondern wird ohne Ansichten erfasst und stellt das Bewusstseinserlebnis selbst dar, welches zu demselben Strom gehört wie der Akt, in dem es erfasst wird (vgl. SFPh, 209f). In 2§6b (Kap. I) haben wir gesehen, warum Ingarden die Husserlsche Lösung problematisch findet. Es geht ihm hauptsächlich um die Frage: Woher weiß ich, dass eine immanente Wahrnehmung (meines sinnlichen Wahrnehmens) vorliegt? Husserls Antwort, dass ich wieder eine neue 129
130
Zirkularität kann dann aufgelöst werden, wenn man auch eine andere Sprache (Metasprache, d.h. hier Sprache des Denkens) ins Spiel bringt (vgl. Summerfeld, D.M. [1992], 224f; auch Malcolm, N. [1986]). Vgl. Fink, E. (1966), 222f. Vgl. Ströker, E. (1987), 228f. 129 130
327 immanente Wahrnehmung (der immanenten Wahrnehmung) durchführen kann, endet nach Ingarden entweder in einem „regressus in infinitum“ oder in einer „petitio principii“; d.h. ich muss entweder ständig (ins Unendliche) eine neue Wahrnehmung vollziehen, oder schlicht und einfach voraussetzen, dass die Wahrnehmung immanent ist (vgl. EPhH, 290f). Dazu kommt noch eine weitere Schwierigkeit. In 2§2 (Kap. III) wurde nämlich festgestellt, dass wir es bei Husserl mit einem „zweigliedrigen“ Modell des Bewusstseins zu tun haben. Denn die immanente Wahrnehmung ist ein neuer Akt, der vollzogen werden muss, damit das ganze Bewusstseinssystem (im Sinne Husserls) „funktioniert“. Obwohl Ingarden das Husserlsche Prinzip der sich in der immanenten Wahrnehmung vollziehenden Reflexion keinesfalls in Frage stellt (vgl. EPhH, 155) und dessen Theorie der Intentionalität grundsätzlich übernimmt (vgl. vor allem 3§1 [Kap. III]), will er diese jedoch „ontologisch“ präzisieren, indem er den Begriff des „rein intentionalen Gegenstandes“ einführt, der die Unzulänglichkeiten des Husserlschen Noemas überwinden sollte. Ontologische Differenzen treten zwischen den beiden Denkern etwas stärker in Bezug auf Empfindungsdaten auf. Der Kern der Differenz betrifft jedoch die Struktur des Bewusstseins selbst. Während Husserl am klassischen Akt-Gegenstand-Modell des Bewusstseins festhält, indem er für das Element der immanenten Wahrnehmung plädiert, entscheidet sich Ingarden dagegen für ein „eingliedriges“ Modell des Bewusstseins, das als eine „spezifische Qualität“ aufgefasst wird und im Begriff der ID fundiert ist. Dank der ID, die sich auch selbst erfasst, will Ingarden eine „strenge Grundlage“ für seine Erkenntnistheorie gewinnen. Das Erfordernis dieser Grundlage 131
Ingarden bezweifelt also nicht die Erkenntnisbedeutung der Reflexion. Hätte er das getan, so würde er dem Widersinn verfallen, von dem bereits Thomas von Aquin (vgl. De veritate, q.1, a.9) sprach, nämlich dass ohne Reflexion gar kein Erfassen der Wahrheit einer Erkenntnis und damit praktisch überhaupt keine begründete Erkenntnis möglich wäre. Aber auch Husserl (vgl. Hua III/1, 189) schreibt: „Wer auch nur sagt: ‚ich bezweifle die Erkenntnisbedeutung der Reflexion’, behauptet einen Widersinn. Denn über sein Zweifeln aussagend, reflektiert er, und diese Aussage als gültig hinstellen, setzt voraus, dass die Reflexion den bezweifelten Erkenntniswert wirklich und zweifellos […] habe“. 131
328 entspringt der Tatsache, dass kein Akt „an sich“ selbstbewusst ist; er muss entweder reflexiv – so wie bei Husserl – erfasst oder intuitiv durchlebt werden. Nimmt man die Husserlsche Reflexion der immanenten Wahrnehmung bei der Analyse der Bewusstseinsakte in Anspruch, so bleibt der Akt der Reflexion selbst unüberprüft und bedarf dazu eines neuen Aktes. Ingarden kann das deswegen nicht akzeptieren, weil damit das Postulat der Voraussetzungslossigkeit in seiner Erkenntnistheorie angegriffen worden wäre. Er besteht vielmehr auf dem Begriff der ID, die das Wissen über den betreffenden Akt liefert, ohne einen zweiten reflexiven Akt durchführen zu müssen (vgl. FSE, 201f). Insofern könnte man m.E. bei unserem Autor von einer ‚Überwindung Husserls’ sprechen. Dessen ungeachtet stellt sich die Frage: Ist die Reflexion (der immanenten Wahrnehmung) bei Husserl der einzige Zugang zum Bewusstsein? Aus Sicht der gegenwärtigen Husserl-Forschung lautet die Antwort: Nein. Was Ingarden in seiner Husserl-Forschung völlig außer Acht lässt, ist, dass im Husserlschen Bewusstseinssystem auch eine andere Eventualität vorzufinden ist, welche der Gefahr des Regresses entgegentritt, obwohl Husserl selbst diese nicht so sehr hervorhebt; gemeint ist hier nämlich die „Selbsterfassung des Bewusstseins als absoluten Flusses“. Die Selbsterfassung des Bewusstseins als absoluten Flusses tritt also neben der Reflexion als eine konstituierende Quelle der transzendentalen 132
133
Ingarden versucht das auch mit dem Begriff der (strukturellen) „Transzendenz“ (in abgeschwächter Gestalt) zu erklären: „In diesem Sinne ist nicht nur der ‚äußere’ seinsautonome Gegenstand […] dem ihn vermeinenden Akt gegenüber transzendent, sondern auch der Gegenstand einer immanenten Wahrnehmung dieser Wahrnehmung gegenüber, obwohl zugleich die beiden Erlebnisse: die immanente Wahrnehmung und das Erlebnis, das in ihr gegeben ist, ein einheitliches Ganzes bilden […], in welchem die immanente Wahrnehmung in dem Erlebnis […] fundiert ist. Trotzdem sind es zwei Erlebnisse, zwei Subjekte von Eigenschaften. Das Durchleben hingegen und der durchlebte Bewusstseinsakt stehen nicht in der Beziehung zueinander, dass das durchlebte Erlebnis dem Durchleben gegenüber transzendent wäre. In diesem Fall haben wir es auch nur mit einem Subjekt der Eigenschaften zu tun“ (vgl. SEW II/1, 224f). Dazu vgl. auch 2§3a (Kap. I) der vorliegenden Arbeit. Einige Autoren z.B. O. Muck (vgl. [1964], 158f) sprechen beim späteren Husserl von Tautologie bzw. vom tautologischen Charakter seiner transzendentalen Rechtfertigung. Vgl. Tymieniecka, A.T. (1976a), 249.
132
133
329 Letztbegründung auf. In „Zur Phänomenologie Zeitbewusstseins“ schreibt Husserl Folgendes:
des
inneren
„[1] Es ist der eine, einzige Bewusstseinsfluss, in dem sich die immanente zeitliche Einheit des Tons konstituiert und zugleich die Einheit des Bewusstseinsflusses selbst […]. [2] Die Selbsterscheinung des Flusses fordert nicht einen zweiten Fluss, sondern als Phänomen konstituiert er sich selbst. Das Konstituierende und das Konstituierte decken sich, und doch können sie sich natürlich nicht in jeder Hinsicht decken. Die Phasen des Bewusstseinsflusses, in denen Phasen desselben Bewusstseinsflusses sich konstituieren, können nicht mit diesen konstituierten Phasen identisch sein […]. Was im Momentan-Aktuellen des Bewusstseinsflusses zur Erscheinung gebracht wird, das sind in der Reihe der retentionalen Momente desselben vergangene Phasen des Bewusstseinsflusses […]. [3] Man darf dieses Urbewusstsein, diese Urauffassung […] nicht als einen auffassenden Akt mißverstehen […]. Sagt man: jeder Inhalt kommt nur zum Bewusstsein durch einen darauf gerichteten Auffassungsakt, so erhebt sich sofort die Frage nach dem Bewusstsein, in dem dieser Auffassungsakt, der doch selbst ein Inhalt ist, bewusst wird, und der unendliche Regress ist unvermeindlich. Ist aber jeder ‚Inhalt’ in sich selbst und notwendig ‚urbewusst’, so wird die Frage nach einem weiteren gebenden Bewusstsein sinnlos“. 134
Das Zitat lässt keinen Zweifel daran, dass wir bei Husserl auch einen anderen Zugang zu den Bewusstseinsinhalten als die Reflexion finden, der nicht unbedigt in unendlichem Regress enden muss. Diese Husserlsche Lösung, die mit der Selbsterfassung des Bewusstseins und der „selbstbewussten“ Konstitution zusammenhängt, wäre – zumindest essentiell gesehen - gewissermaßen mit dem Ingardenschen Begriff der ID vergleichbar. In seinen Analysen der zeitkonstituierenden Schichten des Bewusstseins verfasst also Husserl eine Theorie des absoluten Bewusstseinsflusses, der nicht nur die tiefste Sicht der Konstitution erschafft, sondern auch als ‚konstituierend’ und ‚selbstbewusst’ bezeichnet wird. Darüber hinaus spricht Husserl auch von der Gefahr des 135
Hua X, 80, 83, 119. Bei der Behandlung der Problematik des inneren Zeitbewusstseins unterscheidet Husserl bekanntlich vor allem folgende Stufen: (1) Dinge der Erfahrung in der objektiven Zeit; (2) die konstituierenden Erscheinungsmannigfaltigkeiten 134 135
330 unendlichen Regresses, dessen Vermeidung Ingardens ID gewährleisten soll. Da wir uns in diesem Abschnitt keinesfalls eine ausführliche Analyse des Gedankenguts Husserls leisten können, wollen wir lediglich einige Bemerkungen formulieren, welche das Verhältnis zwischen Ingarden und Husserl differenzierend abbilden. Erstens ist zwischen epistemologischem und transzendentalem Regress zu unterscheiden: Während wir es also bei Ingarden mit einem ‚rein epistemologischen Regress’, der sich ausschließlich auf die Grundlage unseres Wissens bezieht, zu tun haben, geht es Husserl zugleich um einen ‚transzendentalen Regress’, der auch das Fundament des Seins berührt. Zweitens schreibt Husserl (vgl. den II. Teil des obigen Zitats), dass sich das Konstituierende und das Konstituierte nicht in jeder Hinsicht decken und somit keinesfalls vollkommen identisch sein können, d.h. sie bilden nur eine „unvermittelte Einheit“ aber kein „identisches Ganzes“, so wie dies bei der Ingardenschen ID der Fall ist. Drittens darf man nicht übersehen, dass Ingarden auch von angewandter Erkenntnistheorie spricht. Die Folge ist, dass er gewisse empirische Elemente einführt und dadurch das Husserlsche „Ideal der strengen Wissenschaft“, das nicht zuletzt in der Auffassung des Bewusstseins als absoluten Flusses verankert ist, fallen lässt (vgl. 3§2c [Kap. II]). Viertens gilt, dass während Husserl eher eine offene Möglichkeit des unendlichen Verlaufs der Reflexion akzentuiert, Ingarden dagegen an der Tatsache des selbsterfassenden Bewusstseinszustands der ID festhält. Fünftens wirft Ingarden schließlich Husserl vor, dass dieser die Seinsweise an der Gegebenheitsweise der betreffenden Gegenständlichkeit orientiert (vgl. 136
verschiedener Stufen, die immanenten Einheiten in der präempirischen Zeit; und (3) den absoluten zeitkonstituierenden Bewusstseinsfluss (vgl. Hua X, 73). Hier ist vor allem die ganze Diskussion über die Konstitution der zeitlichen Objekte gemeint, die sich auf jeder Stufe des inneren Zeitbewusstseins (vgl. vorangehende Fußnote, auch in 2§4 [Kap. I] wurde dies zum Teil behandelt) abspielt. Es geht also um zwei Arten der Intentionalität des Bewusstseins (IB): (1) (gewöhnliche) objektive IB – gerichtet auf ein Objekt; (2) „strukturelle“ IB – jedes Jetzt-Bewusstsein (das, was gerade kommt) enthält (a) das phänomenologisch reduzierte Objekt in einer primären Erinnerung (=Retention) und (b) etwas Kommendes in der primären Erwartung (=Protention) (vgl. Hua X, 29f). 136
331 SEW II/2, 371). Dieses letzte hängt für unseren Autor mit dem IdealismusRealismus-Problem zusammen. 6. Idealismus-Realismus-Frage und Ingardens Erkenntnistheorie. Ein kritischer Ausblick Der Neukantianismus wirft Husserl vor, dieser stelle gar nicht die Frage, wie die synthetische Einheit des Bewusstseins und damit die gegenständliche Erkenntnis überhaupt möglich sei. Dagegen setzt die transzendentale Phänomenologie Husserls das Apriori voraus, unter dem auch sie selbst steht, nämlich als syntethische Einheit des Bewusstseins, ohne den Versuch einer Ableitung zu machen. Die Neukantianer gehen von dem Axiom aus, dass durch eine „direkt aufweisende Erfahrung“ – so wie dies bei Husserl der Fall ist – nur ein „Seiendes“ (d.h. Ontisches) erkannt werden könne. So bleibt nach ihnen Husserl nichts anderes übrig, als die reine und transzendentale Subjektivität wieder in der Art des Seienden zu denken. Hier könnte man allerdings fragen, ob bzw. inwiefern Husserl dies tatsächlich getan hat. Wir werden sehen, dass es sich bei Husserl in erster Linie um das reine Bewusstsein handelt, das in einem Verhältnis zu der realen Welt steht, was gewisse idealistische Konsequenzen nach sich zieht. Folglich wird dem Vorwurf der Neukantianer widersprochen. Dies wird sich klar zeigen, 137
138
139
Vgl. Seebohm, Th. (1962), 166f. Vgl. auch Kern, I. (1964). Zum Begriff des Neukantianismus vgl. auch Fußnote 151 (Kap. I). Vgl. Wagner, H. (1953/54), 21. Die Neukantianer werfen Husserl vor, dieser erkläre „Seiendes durch Seiendes“. Es geht also um die Vorwürfe des Intuitionismus (das fundierende Bewusstsein wird als etwas Intuitives [bzw. Seiendes] erfasst) und somit des Ontologismus (vgl. 2§3c [Kap. I]). Dieser Meinung ist auch E. Fink (vgl. [1966], 100f), der gegen die neukantianische Position auftritt und darauf hinweist, dass der phänomenologische Anschauungsbegriff sich nicht auf die Wahrnehmung beschränkt, sondern auf alle Arten von Evidenzen, von Selbstgegebenheiten, erstreckt. Die Phänomenologie verengt ihren Blick nicht auf das innerweltlich Seiende. Allerdings ist zu beachten, dass die Wandlung der Terminologie beim späteren Husserl eingetreten ist. So spricht er etwa nicht so sehr von Bewusstsein, sondern von transzendentaler Subjektivität, nicht von 137
138
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332 wenn wir das Ingardensche Idealismus-Realismus-Problem aus Sicht seiner Erkenntnistheorie aufgreifen. Damit wird verdeutlicht, dass die Frage nach dem Sein der Welt – phänomenologisch gesehen – zugleich die Frage nach dem Sein der transzendentalen Subjektivität ist. Das Ganze hängt notwendig mit dem Ingardenschen Vorwurf gegen Husserls transzendentalen Idealismus zusammen. Diese Lage schildert z.B. J. Seifert folgendermaßen: „Husserl makes a striking and never warrented transition from the mere ‘methodological’ bracketing of really and autonomously existing beings in the world and from the thesis that the real world as autonomously existing is merely believed in the uncritical ‘natural attitude’, to the entirely different ontological thesis that there is no existence and world except as ‘phenomena’ constituted by transcendental consciousness. This implies, in effect, the denial of the real world as it is held to be real in the ‘natural attitude’. Ingarden has very acutely analyzed the nature and unjustified character of the Husserlian transition from epoché as a methodological prescinding from the real autonomous existence of the world (bracketing this existence with the methodological motive of searching for absolutely indubitable knowledge of ‘philosophy as a rigorous science’), to the ontological assumption and thesis that there is no such autonomously existing world, but only a world as heteronomous nóema constituted be (human) transcendental subjectivity”. 140
Der transzendentale Idealismus stellt für Ingarden den Kernpunkt der Idealismus-Realismus-Debatte überhaupt dar. Eine strukturelle Übersicht dieser Debatte können wir etwa dem Aufsatz „Bemerkungen zum Problem Bewusstseinserlebnissen, sondern von intentionalen Leistungen (vgl. Ströker, E. [1987], 229f). Seifert, J. (1987), 162. Seifert kann als ein kritischer Befürworter der Position Ingardens angesehen werden. Er macht auf folgende Faktoren aufmerksam: (1) Wenn Husserl die autonome Existenz der realen Welt in Frage stellt, so widerspricht er sich selbst, weil er gegen seine eigenen Kriterien auftritt, die mit der Philosophie als „strenger Wissenschaft“ zusammenhängen; (2) Husserl identifiziert die epistemologische Heteronomie des Bewusstseins mit der ontologischen Heteronomie der realen Objekte selbst. Das ist aber falsch (vgl. 164); (3) Der transzendentale Idealismus und die transzendentale Phänomenologie begehen Fehler, welche mit der Auffassung der grundlegenden Natur der Erkenntnis zusammenhängen (vgl. 173f). Vgl. auch 2§3b und 2§3c (Kap. I) der vorliegenden Abhandlung. 140
333 ‚Idealismus-Realismus’“ entnehmen, den Ingarden Husserl zum 70. Geburtstag gewidmet hat. Abgesehen von ontologischen Aspekten, die wir hier außer acht lassen müssen, weil sie erst im Teil II der vorliegenden Abhandlung ausführlich zu analysieren sind, befasst sich unser Autor mit metaphysischen und erkenntnistheoretischen Elementen. Darüber hinaus erinnern wir uns daran, dass das dritte Glied der Ingardenschen Konzeption der Erkenntnistheorie „Metaphysik der Erkenntnis“ genannt wird. Diese zwei Faktoren scheinen m.E. bereits ganz deutlich darauf hinzuweisen, dass die ‚metaphysisch-erkenntnistheoretische Untersuchung in der Analyse des Idealismus-Realismus-Problems keineswegs zu kurz kommen darf’. Insofern bleibt es auch hier erforderlich, nach der Relevanz von metaphysischen und erkenntnistheoretischen Aspekten im Rahmen der Idealismus-Realismus-Diskussion zu fragen. Das Idealismus-Realismus-Problem ist nach Ingarden zweifelsohne ein metaphysisches Problem. Die Begründung ist sehr einfach: Nehmen wir etwa an, dass wir im Laufe der erkenntnistheoretischen Betrachtungen zu einem definitiven Resultat gelangt sind, dass nämlich eine Erkenntnis X bezüglich eines Gegenstandes Y einen Erkenntniswert Z besitzt (wobei die Erkenntnis X absolut wahr ist). So entsteht die Frage, was man dann vom Gegenstand Y behaupten kann. Nun wenn Z absolut wahr ist, dann ‚existiert Y und hat tatsächlich genau die Merkmale, die ihm X zuweist’ (vgl. GE II, 596f). Bei einer metaphysischen Betrachtung handelt es sich deshalb um eine „wesens-faktische“ Entscheidung. Während eine ontologische Analyse – was wir noch im IV. Kapitel sehen werden – die Gehalte der betreffenden Ideen klarzulegen sowie die in ihnen gründenden reinen Möglichkeiten herauszustellen und den notwendigen Begriffsapparat zu liefern hat, befasst sich eine metaphysische Reflexion hingegen mit dem Existenzmodus, mit der Form wie auch mit dem materialen Wesen der uns in der Erfahrung tatsächlich gegebenen, vermeintlich realen Welt und des individuellen, tatsächlich daseienden reinen Bewusstseins, um schließlich nach den existentialen Beziehungen 141
Die zwei anderen Glieder sind also die reine Erkenntnistheorie und die Kriteriologie. Die Metapysik der Erkenntnis wird auch angewandte Erkenntnistheorie genannt (vgl. dazu 3§2c [Kap. II]). 141
334 zueinander zu fragen. Bündig formuliert: Es geht um die Frage, ob es tatsächlich in diesem oder einem anderen Sinn eine reale Welt und ein reines Bewusstsein gibt (vgl. SPhH, 42). Auch die erkenntnistheoretische Analyse darf man nach unserem Autor bei der Betrachtung der Idealismus-Realismus-Frage nicht unterbewerten. Zwar hat die Erkenntnistheorie nicht die Aufgabe, die Existenz oder Nichtexistenz von diesen oder jenen Gegenständen der Erkenntnis festzustellen, dennoch kommt ihr zu, den Erkenntniswert von Gegenständen zu erkennen und auszuweisen. Sie hat also ihre Ergebnisse auf metaphysische Probleme anzuwenden (vg. GE II, 483). Erkenntnistheoretische Probleme sind mit dem Idealismus-RealismusProblem auf dreifache Weise verwoben: (1) Der Antrieb zu der Einberufung des Idealismus-Realismus-Problems hat seine Quelle in der erkenntnistheoretischen Untersuchung der empirischen Erkenntnisweise der realen Welt; (2) Jede sowohl positive wie negative Entscheidung über ontologische und metaphysische Probleme ist solange mit einem Fragezeichen behaftet, solange bezüglich des Wertes von entsprechenden Erkenntnisweisen Unklarheit vorliegt; und (3) Zur Durchführung erkenntnistheoretischer Erwägungen werden wir durch eine Verkoppelung der Frage nach der Existenz der realen Welt mit der Frage nach der Ausweisbarkeit dieser Erkenntnis genötigt (vgl. SPhH, 44). Selbst wenn prinzipielle Differenzen zwischen der erkenntnistheoretischen und metaphysischen Erkenntnisweise vorliegen, gibt es nach Ingarden dessen ungeachtet einen Punkt, in welchem sowohl die erkenntnistheoretischen als auch die metaphysischen und ontologischen Probleme zusammenkommen und dadurch die Möglichkeit einer idealistischen Entscheidung nahe bringen. Es ist der Punkt der Äquivalenz (im Husserlschen Sinne) zwischen etwa folgenden Urteilen: „A existiert“ und „Es ist ein Weg zur Ausweisung der Existenz von A prinzipiell möglich“. Diese Äquivalenz besagt daher, dass nur ein solches A sinnvoll 142
Die Frage nach der tatsächlichen Existenz geht über jede rein ontologische Fragestellung hinaus. Ontologische Analysen leisten uns lediglich eine Art Vorarbeit. Insofern sind sie hier unentbehrlich. Im II. Teil der vorliegenden Arbeit („Ingardens Weg des Realismus“) werden wir sehen, dass den ontologischen Untersuchungen im Denken Ingardens (doch) eine Schlüsselrolle zukommt.
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335 als existierend angenommen werden kann, das prinzipiell erkennbar und letzten Endes erfahrbar ist. Wenn dieses A aber ein zu der realen Welt gehörender Gegenstand ist, so erfordert die Äquivalenz, dass ‚es als identisch dasselbe für viele Erkenntnissubjekte erfahrbar’ sei. Darum verlangt diese Erfahrbarkeit die Existenz des reinen Bewusstseins. Damit sind wir nach unserem Autor nur einen Schritt von der idealistischen Behauptung entfernt, dass die Existenz der realen Welt die Existenz des reinen Bewusstseins voraussetzt (vgl. SPhH, 48f). Selbst wenn die idealistische Behauptung in Bezug auf Husserl, bzw. die These über den transzendentalen Idealismus bei Husserl, in der gegenwärtigen Forschung inzwischen grundsätzlich als anerkannt gilt, wodurch sich auch Ingardens im Rahmen seiner „Idealismus-RealismusDiskussion“ erhobener Einwand gegen Husserl rechtfertigen lässt, müssen wir zugleich feststellen, nachdem wir in unseren Analysen ein weiteres Stück Weg zurückgelegt haben, dass es bei unserem Autor – im Vergleich zu den Ergebnissen der heutigen Husserl-Forschung – evident an begrifflichen Bewertungen mangelt. Bringen wir einige Beispiele vor: Dass es möglich ist, sich begrifflich expliziter als Ingarden zu äußern, zeigt uns etwa D. Bell, indem er vom transzendentalen Idealismus bei Husserl als vom „solipsistischen Idealismus“ spricht. Bell differenziert zwischen dem ‚methodologischen und dem transzendentalen Solipsismus’ bei Husserl. Diese Differenzierung ist für uns auch deswegen erläuternd, weil 143
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Aus Sicht der gegenwärtigen phänomenologischen Debatte ist diese idealistische Position jedoch generell nicht in dem Sinne zu verstehen, dass der transzendentale Idealismus die Welt in reelle Bewusstseinsimmanenz auflöst, oder dass die Unabhängikeit und Eigenständigkeit der Welt vom erfahrenden Subjekt geleugnet werden. Vielmehr geht es darum, dass der transzendentale Idealismus die Aufgabe hat, die Welt durch eine Konstitutionsanalyse zu erhellen (vgl. Hua Dok II/1, 178). Eine solche Auslegung kommt bei Ingarden leider viel zu kurz. Die heutige HusserlForschung spricht eher von „Phänomenologie als transzendentalem Idealismus“, d.h. dieser Begriff wird viel breiter als bei Ingarden aufgefasst (vgl. etwa Huang, W.H. [1998], 155f; Ströker, E. [1987], 226f). Vgl. dazu auch die kritischen Bemerkungen in 2§3c (Kap. I) der vorliegenden Arbeit. Hier wollen wir sie bloß ergänzen. Was das Verständnis des Begriffs „Solipsismus“ angeht, gilt hier: „The term ‚solipsistic’ I shall use in a weak sense, to describe any theory in which ultimate 143
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336 sie eine starke Kohärenz zu der von Ingarden vorgeschlagenen Aufteilung des Verlaufs der Entfaltungsphasen des Husserlschen transzendentalen Idealismus aufweist (vgl. 2§1 [Kap. I]). Während wir nach Bell bei Husserl von methodologischem Solipsismus (MS) lediglich in Bezug auf „Logische Untersuchungen“ sprechen können, ist die Rede von transzendentalem Solipsismus (TS) hingegen nur bezüglich der „Ideen I“ folgerichtig. Der Begriff des MS entspricht – so Bell – genau der Auffassung von H. Putnam, der behauptet, dass nicht-psychologische Zustände das Existieren eines Gegenstandes voraussetzen, der vom diese Zustände beschreibenden Subjekt verschieden ist. Unter dem Begriff des TS ist dagegen eine Form des transzendentalen Idealismus zu verstehen, dergemäß mentalen und als isoliert betrachteten Akten, Zuständen oder Vermögen eines Individuums eine nicht-naturale erklärende Rolle zugeordnet ist. In diesem Sinne gälten auch Kant in „Kritik der reinen Vernunft“ und Wittgenstein in „Tractatus logico-philosophicus“ als Solipsisten. Eine beachtliche Ergänzung zum Erhellen der Problematik des Husserlschen transzendentalen Idealismus liefert uns auch J. Mitscherling, indem er die von Ingarden formulierten Motive aufgreift, die Husserl zu seiner idealistischen Position geführt haben (sollen) (vgl. SPhH, 274f). Dabei versucht er einerseits klar zu machen, dass Ingarden bei Husserl den epistemologischen mit dem metaphysischen Idealismus „vermischt“ hat. Andererseits erklärt er, dass zwischen dem metaphysischen transzendentalen Idealismus (MTI) Husserls und dem metaphysischen subjektiven Idealismus (MSI) eines Berkeley zu unterscheiden ist. 146
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primacy, or priority, or independence is ascribed to mental acts, states, or abilities of individuals in isolation“ (vgl. Bell, D. [1990], 156). Vgl. Bell, D. (1990), 156f. Auch Putnam, H. (1975a). Das Problem des Solipsismus stand oft im Mittelpunkt der philosophischen Debatte und führte zu unterschiedlichen Einstellungen. A. Schopenhauer vergleicht etwa den Solipsismus mit einer „unbezwinglichen Festung“, aber seine Vertreter will er zwecks einer Kur ins „Tollhaus“ schicken (vgl. ders. [1993], §19). R. Reininger spricht dagegen vom Solipsismus als „schlechtem Gewissen der Erkenntnistheorie“ (vgl. ders. [1970], 79f). Es gilt darauf hinzuweisen, dass der Ausdruck „subjektiver Idealismus“ (I) in der philosophischen Diskussion nicht immer im gleichen Sinne verstanden wird. Oft 146
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337 Während also der MTI behauptet, dass die reale Welt zweifelsohne unabhängig vom Bewusstsein existiert und wir diese Welt mit voller Sicherheit nur dann erkennen können, wenn sie durch das (reine) Bewusstsein konstituiert ist, besagt dagegen der MSI, dass die reale Welt nur als Konstruktion des Bewusstseins existiert. Der Einwand Ingardens bezieht sich nach Mitscherling nur auf MSI. Abschließend muss klar gesagt werden, dass weder metaphysische noch erkenntnistheoretische Elemente die von Ingarden behandelte IdealismusRealismus-Problematik ausschöpfen können. Durch die Beleuchtung aus Sicht der gegenwärtigen Forschung leisten sie lediglich eine brillante Vervollständigung. Zwar vermag die metaphysische Betrachtung das faktische Wesen einer Sache zu erfassen, sie kann jedoch nicht die Notwendigkeit von wesensfaktischen Sachlagen einsehen, ohne eine ontologische Voruntersuchung in Anspruch zu nehmen (vgl. SPhH, 43). Außerdem heißt das für Ingarden, dass die Ontologie sich nicht in der Epistemologie aufhebt, sondern umgekehrt auf dem Kerngebiet der Epistemologie beständig in Erscheinung tritt. Sie dient als Rahmen, der die Erforschung entsprechender Erkenntnisstruktur sowohl ermöglicht als auch 148
versteht man darunter auch den empirischen I (vgl. de Vries, J. [1996d], 175). In diese Richtung scheint m.E. auch Mitscherling zu gehen, wenn er vom subjektiven I bei Berkeley spricht. Berkeley wird im Allgemeinen die Position des „akosmistischen“ I zugeschrieben, weil er die These des empirischen I auf die Körperwelt einschränkt und deren denkunabhängiges Dasein leugnet (vgl. Berkeley, G. [1710]). Vgl. Mitscherling, J. (1997), 47f. Man könnte aus Sicht der gegenwärtigen Forschung folgende Positionen über den transzendentalen Idealismus (TI) Husserls und dessen Interpretation durch Ingarden formulieren: (1) Ingarden hat den TI Husserls mißverstanden und ihn als metaphysischen Idealismus bezeichnet. Somit ist seine Kritik irrelevant. Dieser Ansicht sind etwa Holmes R. (1975), Sokolowski R. (1977), Wallner I.M. (1987), Hall H. (1984). Sie behaupten, dass Ingarden die phänomenologische Reduktion und das Problem der Konstitution falsch verstanden hat; (2) Husserl hat die metaphysische Dimension seines TI nicht erkannt. Folglich ist Ingardens Kritik gerechtfertigt. Diese Position wird ganz besonders von Haefliger G. (1990) vertreten. Er zeigt - anknüpfend an Ingardens „Osloer Vorlesungen“, dass Ingarden Husserl doch richtig verstanden hat; und (3) Die Positionen (1) und (2) werden ins Spiel gebracht, wobei die Position (2) maßgebend ist. Der Vertreter ist hier etwa J. Mitscherling (vgl. [1997], 41f) (vgl. dazu auch 2§2b [Kap. VI]). 148
338 begrenzt. All dies soll im zweiten Teil der vorliegenden Abhandlung „Ingardens Weg des Realismus“ untersucht werden. 149
7. Zusammenfassung Für jeden transzendentalen Ansatz gilt bekanntlich das methodische Prinzip, dass jeder Gegenstand nur als vollzogener Gegenstand erfasst werden könne. Im dritten Kapitel der vorliegenden Abhandlung haben wir versucht aufzuweisen, welchem Element Ingarden in seiner Erkenntnistheorie eine primäre Rolle in diesem Erfassungsprozess zuschreibt, oder anders gesagt, was das Kernelement seiner Erkenntnistheorie darstellt. Das Kernelement der Ingardenschen Erkenntnistheorie wurde von uns bereits in einer einführenden Reflexion formuliert. Da zeigte sich, dass es um die Theorie der „Intuition des Durchlebens“ geht, die als eine von drei charakteristischen Eigenschaften der Konzeption der Epistemologie Ingardens anzusehen ist. Es wurde auch darauf hingewiesen, dass das dritte Kapitel den letzten Schritt unserer Analyse im erkenntnistheoretischen Teil der vorliegenden Abhandlung „Ingardens Weg zum Realismus“ darstellt. Bevor wir mit der Analyse der Theorie der „Intuition des Durchlebens“ selbst angefangen haben, wurden gewisse vorbereitende Untersuchungen durchgeführt. In erster Linie ging es um eine formal-ontologische Beleuchtung, durch die prinzipielle Hintergründe der Ingardenschen Distanz vom zweigliedrigen und die Positionen von Husserl und Brentano prägenden Modell des Bewusstseins klar werden sollten. Es zeigte sich, dass Ingarden einerseits den Husserlschen Begriff des reinen Bewusstseins übernimmt, andererseits aber ihn keinesfalls im Sinne von „nulla re indigeant“ deuten will (vgl. SEW II/2, 392). In zweiter Linie wurde auf Konsequenzen hingewiesen, die sich aus dem formal-ontologischen Ansatz ergeben. So kam etwa zum Vorschein, dass es sich um den transzendentalen Idealismus wie auch um gewisse strukturelle Probleme und schließlich um das Problem des Selbstbewusstseins handelt. Mit Hilfe Vgl. Fieguth, R. u.a. (1997), XIII. Fieguth bezeichnet Ingardens Phänomenologie als „realistisch“ und weist auf deren Kohärenz mit Aristoteles hin. 149
339 von zwei Schemata wurde der prinzipielle Unterschied zwischen Ingarden und Husserl dargestellt. Der nächste Schritt unserer Untersuchung zielte auf die Erörterung des Problems des Selbstbewusstseins ab, das mit der Theorie der „Intuition des Durchlebens“ zusammenhängt. Da diese Theorie von Ingarden auf der Grundlage einer Differenzierung zwischen drei Arten des Bewusstseins (dem gegenständlichen Vermeinen, dem Erleben der Empfindungsdaten und dem Durchleben des Aktes) ausgeführt wird, haben wir diese nacheinander behandelt. Was das gegenständliche Vermeinen anbelangt, zeigte sich, dass Ingarden Husserl gewissermaßen noch verhaftet bleibt. Um die Husserlsche Theorie der Intentionalität ontologisch zu präzisieren, führt er aber zugleich den Begriff des „rein intentionalen Gegenstandes“ ein, der die Mängel des Husserlschen Begriffs „Noema“ beseitigen soll. Mit diesem Begriff, den wir auch mit einem Schema darstellten, will Ingarden über Husserl hinausgehen bzw. ihn „überwinden“. Bei der Behandlung des Problems der Empfindungsdaten stellte sich deutlich heraus, dass zwischen Ingarden und Husserl eine im Verständnis des Begriffs der „Ichfremdheit“ fundierte Differenz vorliegt. Während nach Husserl die Empfindungsdaten selbst keine Struktur der Bewusstseinsakte haben und somit in sich keine Intentionalität enthalten, sondern nur an der Intentionalität der Akte teilhaben, plädiert Ingarden dafür, dass die Empfindungsdaten dem Ich gegenüber in Bezug auf den Gehalt etwas Verschiedenes darstellen (vgl. EPhH, 160). Als notwendige Bedingung der reinen und absoluten Erkenntnistheorie gilt für Ingarden jedoch in erster Linie die Intuition des Durchlebens (ID) (vgl. FSE, 228). Die ID ist ein Zustand des Bewusstseins, der einen Bewusstseinsakt begleiten kann, selbst aber kein neuer Akt ist. Das Durchleben eines Aktes (bzw. das Erkennen) und das im Akt Durchlebte (bzw. das Erkannte) sind ein „absolut Identisches“ (vgl. OSW, 32f). Dank der ID will Ingarden alle Postulate seiner (reinen) Erkenntnistheorie erfüllt und die Husserlsche Position, die vor allem im Begriff der immanenten Wahrnehmung verankert ist, engültig überwunden haben. In dem Zusammenhang wurde auch die Fähigkeit der ID zur Selbstrechtfertigung und Selbstkontrolle der Erkenntnisakte in Bezug auf die gegenwärtige Diskussion analysiert. Wenn für die Position Ingardens zutrifft, dass im Wesen jeder Erkenntnis liegt, sie sei nicht nur gültig,
340 sondern sie müsse auch als gültig anerkannt werden, dann könnte man bei unserem Autor von einer „iterativistischen“ Position sprechen, zu welcher man auf einem internalistischen Weg gelangt. Ingarden findet also im erkenntnistheoretischen Internalismus einen Verbündeten. In einem weiteren Abschnitt haben wir versucht, die Aufgabe der ID zu bestimmen, d.h. aufzuweisen, zu welchem Zweck sie Ingarden in seine Erkenntnistheorie aufgenommen hat. Schnell stellte sich heraus, dass die ID als ein gewisses „Werkzeug“ eingeführt wurde, um den epistemologischen Gefahren der „petitio principii“ und des „circulus vitiosus“ zu entgehen. Dank der Leistung der ID erhofft sich Ingarden, den unendlichen Regress immer neuer Reflexionen aufzuhalten und das für seine reine Erkenntnistheorie notwendige Postulat der Voraussetzungslosigkeit zu sichern (vgl. FSE, 202f). Wir haben auch darauf hingewiesen, dass Ingardens Forschungen über diese erkenntnistheoretischen Probleme sich in der gegenwärtigen Epistemologie unter dem Begriff der Rechtfertigung wiederfinden. Es kam außerdem zutage, dass unser Autor nur mit einem schwachen Begriff der „petitio principii“ arbeitet und die ID bei der Bewältigung ihrer Aufgabe noch durch andere Faktoren gestützt wird. Im Anschluss daran wurde eine kurze kritische Würdigung der Leistung der ID durchgeführt. Durch die Aufteilung seiner Konzeption der Epistemologie in reine und angewandte Erkenntnistheorie gewinnt Ingarden die Möglichkeit, sowohl apriorisch als auch empirisch vorzugehen. Es ist eine Alternative zur zeitgenössischen Epistemologie, welche sich meist zwischen zwei Extremen der apriorischen oder empirischen Einstellung bewegt. Dies forderte die Durchführung einer Konfrontation mit der gegenwärtigen philosophischen Debatte. Zunächst einmal wurden einige Merkmale genannt, welche als Ingardens Anregungen für den heutigen philosophischen Diskurs gelten könnten. Für die Bewusstseinsphilosophie, deren zentraler Begriff „Qualia“ ist, könnten etwa gewisse Analysen Ingardens aus dem Bereich der psychophysiologischen Erkenntnistheorie interessant sein (vgl. GE I, 21f). Aus ästhetischer Sicht, insbesondere bezüglich der Untersuchungen von Musikwerken und des literarischen Kunstwerkes, könnte man bei Ingarden von einer Art Hermeneutik sprechen, deren Relevanz nicht zuletzt durch einige Bemerkungen Gadamers bestätigt wird.
341 Daraufhin kam die Frage nach eventueller Kohärenz bzw. Berührungspunkten zwischen Ingarden und manchen Vertretern der klassischen Philosophie – eingeschränkt auf das Problem des Selbstbewusstseins. Im Vergleich mit Aristoteles zeigte sich beispielsweise, dass der das Erkennen und das Erkannte für eins und dasselbe haltende Ingardensche Begriff der ID dem aristotelschen Begriff des Geistes nahe steht, in dem der denkende Geist und das Gedachte dasselbe bilden. Beide Denker warnen ganz konsequent vor der epistemologischen Gefahr eines Regresses ins Unendliche. Seine Beziehung zu Kant bestimmt Ingarden selbst, wenn er schreibt, dass sein Begriff des Durchlebens so viel wie das Wort „Selbstbewusstsein“ bei Kant meint (vgl. EPhH, 156). Außerdem stellte sich hier heraus: Wie erst das transzendentale Selbstbewusstsein bei Kant der Garant der durchgängigen Einheit des Subjekts ist, so gewährleistet erst die ID bei Ingarden die Einheit des Erkennens mit dem Erkannten schlechthin. Manche Berührungspunkte bestehen auch zwischen Ingarden und Brentano, so war das Resultat unserer weiteren Untersuchung. Beide Denker zielen etwa darauf ab, den „regressus in infinitum“ zu vermeiden. Sie versuchen es allerdings auf unterschiedlichen Wegen. Während bei Ingarden der Begriff der ID im Mittelpunkt steht, will sich Brentano dagegen mit dem Begriff der inneren Wahrnehmung durchsetzen. Danach zeigte sich, dass der Ingardensche Begriff der „selbstreferierenden“ ID in einem engen Zusammenhang mit dem Wittgensteinschen Problem der Unausdrückbarkeit der Semantik und des besonderen Charakters der Erkenntnis steht. Dabei hieß es auch, dass der Begriff der ID sich nur in dem von Ingarden postulierten Rahmen und Gebrauch (in der reinen Erkenntnistheorie) sinvoll denken lässt. Die ID gilt bei Ingarden so wie gewisse Sätze der Logik bei Wittgenstein – aufgrund ihrer Form. Anschließend kamen wir nochmals auf Husserl zu sprechen. In erster Linie ging es darum, Ingardens Einwände gegen Husserl zu formulieren, mit denen er die Husserlsche Position zu „überwinden“ strebt. Ingarden wirft also Husserl vor, dieser könne keinesfalls prinzipiellen epistemologischen Schwierigkeiten entgehen, wenn er in seinem System der Epistemologie ständig eine neue immanente Wahrnehmung sich vollziehen lässt und dem „zweigliedrigen“ Modell des Bewusstseins verhaftet bleibt (vgl. EPhH, 290f). In zweiter Linie war unser Ziel, auch Ingarden gegenüber kritisch
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vorzugehen. Nun ergab sich, dass bei Husserl die Reflexion (der immanenten Wahrnehmung) doch nicht der einzige Zugang zum Bewusstsein ist. Eine Alternative stellt etwa die Selbsterfassung des Bewusstseins als absoluten Flusses dar, was Ingarden zu übersehen scheint. Im letzten Abschnitt des dritten Kapitels handelte es sich um die Idealismus-Realismus-Debatte aus Sicht der Ingardenschen Erkenntnistheorie. Den Kernpunkt dieser Debatte stellt Ingardens Vorwurf gegen den Husserlschen transzendentalen Idealismus dar. Unser Augenmerk richtete sich insbesondere auf die metaphysischen und erkenntnistheoretischen Elemente und deren Beitrag zu der IdealismusRealismus-Diskussion. Während die Metaphysik fragt, ob es tatsächlich in diesem oder anderem Sinne eine reale Welt und ein reines Bewusstsein gibt (vgl. SPhH, 42), stellt sich die Erkenntnistheorie hingegen die Aufgabe, den Wert der Erkenntnis von Gegenständen zu erkennen und auszuweisen (vgl. GE II, 483). Anschließend wurde anhand einiger Beispiele aus der gegenwärtigen Husserl-Forschung gezeigt, dass es in der Ingardenschen Rede über den transzendentalen Idealismus Husserls evident an begrifflichen Bewertungen mangelt.
TEIL II „Ingardens Weg des Realismus“: Analyse aus ontologischer Sicht Aristoteles schreibt in seiner Metaphysik von einer Wissenschaft, welche das Seiende als Seiendes untersucht. Damit meint er offenkundig die Ontologie. Die Ontologie fragt nicht nach diesem oder jenem Seienden, sondern nach dem Seienden schlechthin bzw. nach dem Seienden, sofern es ein Seiendes ist. Der hier gemeinte Text lautet: 1
„Es gibt eine Wissenschaft, welche das Seiende als Seiendes untersucht und das demselben an sich Zukommende. Diese Wissenschaft ist mit keiner der einzelnen Wissenschaften identisch; denn keine der übrigen Wissenschaften handelt allgemein vom Seienden als Seienden, sondern sie grenzen sich
Ontologie ist hier noch im engen Kontext der Metaphysik zu verstehen. Was die begriffliche Differenzierung anbelangt, so gilt in der gegenwärtigen Diskussion: Während - im klassischen Sinne – Seinslehre (Ontologie) und Gotteslehre (natürliche Theologie) zusammen die allgemeine Metaphysik (M) bilden, weil sie alles Seiende betreffen und sich dem metaphysischen Sein selbst zuwenden, stellt die philosophische Lehre von der Welt (Kosmologie) und vom Menschen (Psychologie und Anthropologie) die besondere M dar, weil sie besondere (im Sinne Ingardens – faktische) Gebiete des Seienden durch Anwendung des Seins und seiner Gesetzlichkeiten in ihrer innersten Struktur durchleuchtet (vgl. Lotz, J. [1996a], 243). Wir werden weiter sehen, dass für Ingarden Ontologie theoretisch früher als Metaphysik in dem Sinne ist, dass das, was sich in ihr als unmöglich erweist, automatisch aus dem Programm metaphysischer Analysen gestrichen werden kann. Die Ontologie selbst kann jedoch nicht über das Dasein und das Eintreten von irgendetwas entscheiden, sondern sie legt der Metaphysik alle durch sich selbst entdeckten möglichen Beziehungen zur Entscheidung vor. Darin besteht gerade Ingardens originelle und in „Der Streit um die Existenz der Welt“ entwickelte Idee, nämlich bei der erneuten Behandlung des alten philosophischen Problems „Idealismus oder Realismus“ mit einer systematischen ontologischen Untersuchung zu beginnen (vgl. Gierulanka, D. u.a. [1964a], 476). 1
344 einen Teil des Seienden ab und untersuchen die für diesen sich ergebenden Bestimmungen, wie z.B. die mathematischen Wissenschaften“.2
Als sich Ingarden in den Jahren 1938/39 (in einem Seminar) mit der aristotelischen Metaphysik befasste, wollte er sich nur für die Analyse ontologischer Grundfragen vorbereiten, wie er selbst zugesteht (vgl. SEW I, X). Aber später zeigte es sich, dass unser Autor noch viel weiter gegangen ist. In seinen Analysen hat er nämlich die Ontologie für ein Feld (bzw. Instrument) erklärt, auf dem das Seinsproblem der Welt und somit das „Idealismus-Realismus-Problem“ diskutiert werden müssen, damit auch eine Entscheidung denkbar wäre. Im Hintergrund stand bei Ingarden die Absicht, Husserls idealistische Position noch tiefer zu durchschauen. Denn das von Husserl umrissene und immer wieder durch transzendentale Aspekte geprägte Phänomenologiefeld konnte keinesfalls den „metaphysischen Hunger“ Ingardens stillen. Während Husserl den formalkategorialen Apriorismus Kants nur auf das synthetische Erkennen „a priori“ bezüglich der materialen Gehalte von Phänomenen erweitert, lässt Ingarden außerdem das synthetische Erkennen „a priori“ der Existenzmodi und der sie aufbauenden existentialen Momente zu und geht insofern über seinen Meister hinaus. Da Ingarden zu den Philosophen gehört, die unermüdlich nach der „absoluten“ Wahrheit suchen, an die Möglichkeit ihrer Entdeckung glauben und dabei überzeugt sind, dass die Lösung dieses oder jenes philosophischen Problems nur eine Frage der Zeit und einer 3
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Aristoteles, Met. III 1,1003a. Es wird sich auch zeigen, dass Ingarden den Begriff der Ontologie weiter als Husserl (in seinen „Ideen“) auffasst. Darunter versteht unser Autor ‚jede apriorische Untersuchung der Gehalte von Ideen’ (vgl. dazu 3§1 [Kap. II]), welche zu einem durch eine regionale Idee geeinten Gebiet gehören und Ideen von „Seins-Entitäten“ sind. Unter Ontologie in diesem Sinne fällt also auch die Phänomenologie des reinen Bewusstseins, das für sich selbst – ungeachtet der Unterschiede, die es vor allen sonstigen Seinsregionen auszeichnen – auch eine bestimmte ‚Seins-Region’ bildet (vgl. SPhH, 24f). Zur Ontologie bei Ingarden vgl. etwa Swiderski; E.M. (1995); Stepien, A.B. (1995); Wolenski, J. (1995); Szczepanski, A. (1995); Smith, B. (1995) u.a. Vgl. Ogrodnik, B. (2000), 100f. 2 3
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345 entsprechenden Methode ist, kehrt er oft im Laufe seiner philosophischen Tätigkeit zu den bereits früher behandelten Problemen zurück, um sie nochmals zu durchdenken. Das ist aber für unsere Untersuchung nicht so entscheidend. Das Entscheidende ist vielmehr, dass sich in den einzelnen Perioden des Ingardenschen Denkens dauernd gewisse leitende Akzente unterscheiden lassen, die wir (in der vorliegenden Abhandlung) bekanntlich auf zwei grundlegende zurückgeführt haben: „Ingardens Weg zum Realismus“ und „Ingardens Weg des Realismus“. Während „Ingardens Weg zum Realismus“ durch epistemologische Analysen gekennzeichnet ist und von uns im ersten Teil der vorliegenden Arbeit (Kap. I – III) untersucht wurde, hat „Ingardens Weg des Realismus“ dagegen durchaus einen ontologischen Charakter und ist im zweiten Teil (Kap. IV – VI) zu behandeln. Durch die Ontologie formuliert Ingarden in erster Linie seine klare Stellung zu der phänomenologischen Reduktion Husserls. Die Notwendigkeit dieser Reduktion, die das reine Bewusstsein innerhalb der Phänomenologie zweifellos zu entdecken hilft, beschränkt Ingarden gleichsam auf die Erkenntnistheorie. Durch seine ontologischen Analysen macht unser Autor in zweiter Linie deutlich, dass die Erkenntnistheorie allein nur das Erkenntnisvermögen der Erkenntnismaßnahmen und den Erkenntniswert der Erkenntnisergebnisse beurteilen kann. Dabei bleibt sie stark der durch Ungewissheit gekennzeichneten äußeren Wahrnehmung verhaftet. Um den andauernden Streit zwischen dem idealistischen und realistischen Standpunkt zu entscheiden, d.h. die Frage zu beantworten, ob die reale Welt vom Bewusstsein abhängig oder unabhängig sei, erweist 5
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Vgl. Lagowski, B. (1995), 321. So verläuft generell das Ingardensche Denken. Als Beispiele können hier Ingardens erkenntnistheoretische und phänomenologische Überlegungen genannt werden. In den letzteren befasst sich Ingarden (noch wenige Jahre vor seinem Tod) nochmals mit den Motiven, die Husserl zum transzendentalen Idealismus geführt haben könnten. Diese Ungewissheit besteht kurzum darin, dass die in der äußeren Wahrnehmung (W) gegebenen Gegenstände dieser Wahrnehmung gegenüber transzendent sind, d.h. sie sind in dieser W nicht vollkommen (d.h. von allen Seiten) mit allen ihren Eigenschaften gegeben. 5 6
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346 sich das aber als unzureichend. Deswegen ist es nach Ingarden erforderlich, alle für diese Problematik relevanten Begriffe neu ontologisch zu definieren. So schlägt er vor, die Begriffe der möglichen Existenzmodi in einer existential-ontologischen Analyse herauszuarbeiten und deren Verhältnis in Bezug auf die reale Welt und das Bewusstsein ohne Widersprüche zu bestimmen. Ferner sind diese Begriffe im Rahmen einer formal- und material-ontologischen Untersuchung zu prüfen, um als Stoff für eine metaphysische Entscheidung gelten zu können. Das Kausalitätsproblem darf dabei nicht unberücksichtigt bleiben (vgl. Kap. IV). Dieses ontologischen Fundaments bedienen sich nicht nur Ästhetik und Kunsttheorie, welche sich dadurch einen begrifflichen Apparat von großer Präzision erhoffen, sondern auch zahlreiche logische Analysen (vgl. Kap. V). Die ontologischen Bestimmungen haben auch eine nicht zu übersehende Auswirkung für die endgültige Formulierung der Lösung der Frage der „Überwindung“ des transzendentalen Idealismus Husserls durch Ingarden und für die Würdigung Ingardens im gegenwärtigen philosophischen Diskurs (vgl. Kap. VI). Daraus ergibt sich, dass die ontologischen Analysen Ingarden zu einem „spezifischen Realismus“ führen, der auch „metaphysischer Realismus“ genannt werden kann, und dessen Anliegen darin besteht, die Husserlsche These zu widerlegen, dass die reale Welt nicht unabhängig vom transzendentalen Bewusstsein existiere, bzw. dass die reale Welt rationaliter nur im Rückgang auf die transzendentale Ebene philosophisch befriedigend thematisiert und metaphysisch nur qua Sinn-Einheit einer bestimmten Stufe der transzendental-intersubjektiven Konstitutionsleistungen anerkannt werden könne. 8
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Vgl. Gierulanka, D. (1995), 14f. Vgl. Haefliger, G. (1994), 33.
Kapitel IV „INGARDENS ONTOLOGIE DES SEINS“ „Was ‚Sein’ heißt, lässt sich nicht definieren, sondern nur erleben“. 10
1. Einführung Dass das „Sein“ sich tatsächlich nicht definieren lässt, lässt sich auf den ersten Blick nur schwer nachvollziehen, wenn man auf dem Feld der Ontologie Ingardens recherchiert. Bereits sein monumentales Werk „Der Streit um die Existenz der Welt“ (SEW) scheint uns viele gute Gründe zu liefern, eher das Gegenteil zu behaupten. Wir wollen hier allerdings keine feste Position zu dieser Frage beziehen. Unser Ziel besteht vielmehr darin, aufzuweisen, dass man von dem Sein zumindest „sinnvoll“ reden kann. 11
Reininger, R. (1970), 7. Folgende Bemerkung ist hier relevant: „Der Streit um die Existenz der Welt“ war, wie Ingarden selbst zugesteht, für Husserl bestimmt, um ihm seinen Weg zur Bearbeitung des Idealismus-Realismus-Problems zu zeigen (vgl. Ingarden, R. [1968a], 178; auch Gierulanka, D. [1995], 11f). Als Ingarden dieses Werk „fertig stellte“ (vgl. unten), war Husserl nicht mehr am Leben (es war also die Zeit des Zweiten Weltkrieges). Allerdings glaubte Ingarden damals, seine Untersuchungen in absehbarer Zeit abschließen zu können. Es dauerte aber sehr viel länger. Und Husserls früher Tod (1938) verunmöglichte die weitere Sachdiskussion zwischen dem Meister und seinem Schüler (vgl. EPhH, XV). Dennoch fühlte sich Ingarden seinem Meister gegenüber immer noch verpflichtet, das Versprechen, das Idealismus-RealismusProblem genauer zu erörtern (vgl. SEW I, IX), einhalten zu müssen. „Der Streit um die Existenz der Welt“ (Bde. I und II) wurde also in polnischer und deutscher Sprache verfasst. Etwa die Hälfte der beiden Bände hat Ingarden während des Zweiten Weltkrieges zugleich polnisch und deutsch geschrieben. Später hat er zuerst die polnische Redaktion allein zu Ende gebracht und in den Nachkriegsjahren den deutschen Text fertig gestellt (vgl. SEW I, XII). Der Band III wurde nur in deutscher Sprache verfasst. Er blieb aber wegen des Todes Ingardens (1970) unabgeschlossen. 1974 wurde er vom Max-Niemeyer-Verlag herausgegeben. 10 11
348 Wenn sich Ingarden in seinem epistemologischen Ansatz noch gewissermaßen als ein Husserlianer erweist (vgl. Kap. I-III), wird er in seiner Ontologie immer mehr zu einem „selbständigen“ Denker, der sich von der Husserlschen Perspektive erheblich entfernt. Dies wird auch von Husserl selbst in dem Brief vom 21. Dezember 1930 bemerkt. Husserl schreibt an Ingarden: „[…] Leider scheinen auch Sie, lieber Freund, Ihrer eigenständigen Ontologie sicher geworden zu sein […] Vielleicht wird Ihnen – wenn Sie sich nicht gar zu festgelegt haben auf den Ontologismus […]“. 12
Dieser Ingardensche Standpunkt, der sich also schon in SEW kristallisierte, soll im Kapitel IV der vorliegenden Abhandlung bezüglich seiner Grundlinien untersucht werden. Wir werden in folgenden Schritten vorgehen: (1) Begriffliche Vorarbeiten; (2) Existential-ontologische Analyse; (3) Formal-ontologische Analyse; (4) Mereologische Probleme; (5) Material-ontologische Analyse; (6) Kausalität; (7) Metaphysische Implikationen; und (8) Ontologie Ingardens aus Sicht der ontologischen Ansätze innerhalb der gegenwärtigen Philosophie. 13
2. Begriffliche Vorarbeiten Bevor wir uns in diesem Kapitel auf die ontologische Analyse „stricto sensu“ einlassen, müssen wir zuvor gewisse begriffliche Vorarbeiten durchführen. Dadurch wollen wir einerseits auf das „neue“ Verhältnis Ingardens zur Husserlschen Phänomenologie hinweisen, andererseits werden zwei prinzipielle ontologische Begriffe geklärt, nämlich Ontologie und Realismus.
Husserl, E. (1968), 63f. Ergänzende (und mehr praxisbezogene) Analysen werden im Kapitel V durchgeführt.
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349 §1. Ingardens Distanzierung von der Phänomenologie Husserls. Der Weg zum Realismus Als Ingarden während seines Aufenthalts bei Husserl im März 1928 diesem das Manuskript seines Werkes „Das literarische Kunstwerk“ vorlegte und damit die Absicht äußerte, es als eine Vorarbeit zur Diskussion über den Idealismus gelten zu lassen, warnte ihn Husserl vor einer zu schnellen „Bindung“ an eine feste Position. Der nächste Schritt, der die realistischen Tendenzen Ingardens bestätigte, war also damit schon getan. Das hatte gewisse Konsequenzen. Ingarden geht gleichsam auf Distanz zu der (hauptsächlich) auf zwei Reduktionen beruhenden Husserlschen Methode. Ob er diese Reduktionen nicht erfasst hat, so wie dies nach Husserls Ansicht bei Heidegger der Fall war, kann hier offen bleiben. Während nun unser Autor bezüglich der eidetischen Reduktion („an sich“), nach der wir uns nur auf das Wesen oder die Idee zu konzentrieren haben und dabei sowohl die Individualität als auch Faktizität des Aufgefassten beiseite gelassen wird, noch mit Husserl grundsätzlich einig ist, will er dagegen die Husserlsche Einführung der transzendentalen Reduktion nicht akzeptieren. Denn die transzendentale Reduktion ist eine rein subjektive Einstellung, welche dazu führt, dass alles, was im reinen Bewusstsein erscheint, eingeklammert bzw. neutralisiert wird. Das im Bewusstsein Erscheinende ist dann als das Sichim-Bewusstsein-Konstituierende erfahrbar. Damit sind alle Bereiche des Seins betroffen – mitsamt der realen und idealen Welt. Darüber hinaus müssten nicht nur die Einzelwissenschaften, sondern auch die Ontologie 14
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Vgl. Ingarden, R. (1968a), 159f. Ingarden hat Husserl auf seiner Rückreise aus Paris besucht und bei ihm drei Tage lang gewohnt. Ingarden signalisierte Husserl seine realistischen Ansichten offensichtlich viel früher, z.B. in „Der Brief an Husserl über die VI. Untersuchung und den Idealismus“ (1918) (vgl. SPhH, 1f). Vgl. Husserl, E. (1968), 43. Dazu vgl. 2§2 (Kap. I) und 3§2 (Kap. I) der vorliegenden Abhandlung. Es sei daran erinnert, dass der frühe Husserl (vgl. die Zeit der „Logischen Untersuchungen“ [vor 1901]) noch zwischen Wesen und Ideen nicht unterschieden hat. 14
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350 „stricto sensu“ eingeklammert werden, was für Ingarden undenkbar wäre. Für ihn gilt deshalb die Husserlsche Phänomenologie nur als „Analyse der Ideen der reinen Erlebnisse“. Das ist aber viel zu wenig. Unserem Autor kommt es auf die ‚Analyse der Ideengehalte’ an, wie wir es im nächsten Abschnitt genauer sehen werden. Die Ablehnung der transzendentalen Reduktion durch Ingarden ergab sich aus seinem Vorwurf gegen den Husserlschen transzendentalen Idealismus (vgl. 2§3 [Kap. I]). Wollen wir dieses Problem aus ontologischer Sicht betrachten, so geht es hier um die Frage nach der ‚Grundheterogenität zwischen realer Welt und Bewusstsein’. Mit anderen Worten: Es geht um den Unterschied der Seinsweise. Dieser besteht nach Ingarden darin, dass das außenweltlich Reale wesensgemäßig ein „unbewusstes“ Sein führt, während das Bewusstsein im Selbst-bewusst-sein existiert. Geprägt vor allem durch seine transzedentale Reduktion stellt Husserl diese Grundheterogenität in Frage, wobei das Reale „abgewertet“ wird. Denn das (reale) Ding ist nach Husserl nur Korrelat einer unendlichen Wahrnehmungsmannigfaltigkeit, ein „noematischer“ Sinn. Es hat die Wesenheit von etwas, bindet sich sekundär an Anderes (vgl. SPhH, 5f). Mit seinen folgenden Behauptungen wird Ingarden zu einem Anwalt der Realität. Er schreibt: 18
„Die Realität ist nur, soweit sie etwas „in sich“ ist. Das, wofür sie vermeint werden kann, ist ihr eigentlich irrelevant. Sie ist das, was sie „in sich“ ist, und als solche ist sie ein in sich jederzeit vollendetes, allseitig bestimmtes Sein. In der Welt gibt es keine Unbestimmtheit, es sei denn als Unbestimmtheit einer Potenz, die selbst voll bestimmt ist. Schon dadurch […] kann ich das Ding nicht als die unendliche, sich einstimmig ausweisende und motivierende Wahrnehmungsmannigfaltigkeit der Dingnoemata […] betrachten“ (SPhH, 8).
In diesem Zitat tritt Ingarden eindeutig gegen Husserl auf. Wollen wir das Verhältnis der beiden zueinander aus ontologischer Sicht auf den Punkt bringen, so heißt: Während Husserl davon überzeugt ist, dass die „strenge“ Philosophie (d.h. Phänomenologie) mit einer gründlich herausgearbeiteten Erkenntnistheorie beginnen muss, um dann eventuell von diesem
18
Vgl. Ogrodnik, B. (2000), 15f.
351 Standpunkt aus zur Ontologie und Metaphysik überzugehen, meint Ingarden dagegen, dass eine Ontologie oder Metaphysik, welche von der idealistischen Erkenntnistheorie abgeleitet wird, von der Gefahr bedroht ist, selbst idealistisch determiniert zu werden. Angesichts dieser Differenz stellt sich dringend die Frage nach der Auffasung der Ontologie bei Ingarden. 19
§2. Ontologie als Grundlage zum Verstehen des Realismus bei Ingarden Die Kritik an Husserl ist für Ingarden kein Ziel „an sich“. Vielmehr geht es ihm um die Betrachtung des Idealismus-Realismus-Problems als ganzen Komplexes. Dazu ist eine Grundlage erforderlich, welche unser Autor in der Ontologie findet. Es wäre auch keineswegs falsch, die These aufzustellen, dass die Ontologie für ihn ein Hauptinstrument der Behandlung der Problematik des Realismus darstellt. Der Begriff der Ontologie bei Ingarden ist unbedingt im Zusammenhang mit dem der Metaphysik zu erörtern. 20
a. Das Verhältnis zwischen Metaphysik und Ontologie Das begriffliche und inhaltliche Gestalten des Verhältnisses zwischen Metaphysik und Ontologie verlief in der philosophischen Tradition bekanntlich in vielen Phasen, auf die wir in unserer Abhandlung im Einzelnen nicht eingehen können. Betont werden muss freilich die sich in der Neuzeit unter dem Einfluss des cartesianischen Rationalismus einsetzende Differenzierung der Metaphysik in eine „besondere“ und eine „allgemeine“. Die allgemeine Metaphysik wird Ontologie genannt, während die besondere Metaphysik aus Kosmologie, Psychologie und philosophischer Gotteslehre besteht. Die Ontologie wird also zu einer abstrakten Prinzipienlehre, weil ihre Aufgabe ist, allgemeinste Fragen zu
19 20
Vgl. Mitscherling, J. (1997), 65. Vgl. Mitscherling, J. (1997), 80.
352 behandeln, die für alle Teile der metaphysica specialis vorauszusetzen sind. Als allgemeine Seinslehre ist sie eine abstrakte philosophische Disziplin. In dieser Tradition steht auch Ingarden. Dabei lässt er sich von zwei grundlegenden Prinzipien leiten: Zum einen besteht die Aufgabe der Ontologie, der Metaphysik das Feld vorzubereiten. Zum anderen zielt die Metaphysik darauf ab, die Faktizität des Seienden auszuweisen. Wollten wir jedoch versuchen, eventuelle Differenzen festzustellen, so gäbe es m.E. einen einzigen generellen Unterschied, der einen theoretischen Charakter hat und sich eher auf die Extensionsfrage bezieht: Wenn unser Autor von Ontologie spricht, dann meint er damit das, was die philosophische Tradition unter der allgemeinen Metaphysik versteht, wenn er dagegen von der Metaphysik redet, dann geht es ihm vor allem um das, was in der philosophischen Tradition die besondere Metaphysik genannt wird. Die Behandlung des Idealismus-Realismus-Problems setzt nach Ingarden eine Differenzierung verschiedener Fragen voraus, nämlich wissenschaftlicher, erkenntnistheoretischer, ontologischer und metaphysischer (vgl. SEW I, 18f). In diesem Abschnitt wollen wir lediglich das Verhältnis zwischen ontologischen und metaphysischen Fragen berühren, d.h. die Rolle der Metaphysik bezüglich der Ontologie bestimmen. Während die Ontologie sich mit reinen Möglichkeiten bzw. reinen Notwendigkeitszusammenhängen zwischen bloß möglichen Momenten oder ganzen Tatbeständen von solchen Momenten befasst, geht es der Metaphysik hingegen um die Entdeckung von Wesenstatsachen, die in der 21
22
Vgl. Weissmahr, B. (1991), 9f. Natürlich darf hier der Name eines Aristoteles nicht fehlen (vgl. Met IV 1,1003b). Aber auch eines Ch. Wolff (vgl. [1962], V-IX), dem die Anbahnungen einer Einteilung der theoretischen Philosophie (in dem von uns hier gemeinten Sinne) zu verdanken ist. Zur erkenntnistheoretischen Problematik vgl. Kap. II-III der vorliegenden Abhandlung. Was die wissenschaftlichen Fragen anbelangt, haben wir daran kein großes Interesse. Hier sei bloß bemerkt, dass Ingarden damit die Einzelwissenschaften meint, also „Tatsachen-Wissenschaften“ (Naturwissenschaften) und „apriorische Wissenschaften“ (wie Matemathik usf.). All diese Wissenschaften bedienen sich der ihnen eigenen Methoden, die von der Methode der Philosophie verschieden sind (vgl. SEW I, 21). Auf die metaphysische Problematik werden wir in einem eigenen Abschnitt eingehen (vgl. 3§6 [Kap. IV]). 21
22
353 Notwendigeit ihres tatsächlichen Bestehens im Wesen betreffender Gegenständlichkeiten gründen und sich durch die Einsicht in die abstrakten Zusammenhänge zwischen reinen Qualitäten komplett verstehen lassen (vgl. SEW I, 29f). Wenn die Ontologie Behauptungen über Ideen und deren Eigenschaften, formale Struktur wie auch Möglichkeits- und Notwendigkeitszusammenhänge zwischen ihren Momenten und Ideen selbst macht, ist die Metaphysik dazu aufgefordert, die Existenz von Ideen im Allgemeinen bzw. in dieser oder jener Art festzustellen (vgl. SEW I, 45). Deshalb geht die Metaphysik nicht nur über den Bereich der Untersuchungen und der Ergebnisse von Einzelwissenschaften hinaus, indem sie das „tatsächliche“ Wesen ihres Untersuchungsgegenstandes zu erfassen und das Sein als ganzes zu umfassen bestrebt ist, sondern auch über den der Ontologie, indem sie das Gebiet der Ideengehalte und der sich aus ihnen ergebenden reinen Möglichkeiten verlässt und in die Sphäre des tatsächlichen Seins eintritt (vgl. SEW I, 33). Für die Ingardensche Streitfrage „Idealismus-Realismus“ bedeutet das: Die Metaphysik fragt, ob es tatsächlich eine reale Welt in diesem oder einem anderen Sinne gebe (vgl. SPhH, 42). Verdeutlichen wir dies mit folgenden Beispielen: (1) Wenn die Ontologie (mit eidetischer Notwendigkeit) behauptet, dass ein Bewusstsein nicht ohne Leib existieren könne, dann könnte es der Metaphysik etwa um die Feststellung gehen, dass in der Tatsachensphäre ein Bewusstsein mit Leib tatsächlich existiere. Die Tatsache, dass dieses existierende Bewusstsein hier notwendigerweise zusammen mit dem Leib existiert, wäre dann eine „wesensnotwendige Tatsache“; (2) Sollte die ontologische Analyse zeigen, dass zwar jede Rose farbig sein muss, aber in eidetischer Hinsicht etwa nicht rot sein muss, könnte die Metaphysik z.B. sagen, dass dieses Rotsein der Rose zwar eine Tatsache ist, aber keine „wesensnotwendige Tatsache“. Festzuhalten ist, dass der Unterschied zwischen Ontologie und Metaphysik vor allem darin besteht, dass die erste Ideengehalte, die zweite dagegen individuelle Gegenstände bzw. auch Ideen, aber nur „qua Ideen“ (d.h. ohne Gehalte) genommen, analysiert. Die Metaphysik stellt daher einerseits eine notwendige Ergänzung der Ontologie dar, andererseits aber hat sie in 23
23
Vgl. Haefliger, G. (1994), 65.
354 dieser ihre unentbehrliche Vorbereitung und in gewissem Sinne auch Voraussetzung (vgl. SEW I, 50f). b. Der Begriff der Ontologie Das Ergebnis des vorangehenden Abschnitts hebt insbesondere zwei Dinge hervor: Erstens ist Ingarden in seinen ontologischen Analysen auf den Begriff und die Leistung von Metaphysik angewiesen. Auch hier schreibt er der Metaphysik gegenüber der Ontologie eine ergänzende Rolle zu. Dadurch stoßen wir bei unserem Autor auf das gleiche Verfahren wie in seiner Konzeption der Epistemologie, wo der „Metaphysik der Erkenntnis“ (d.h. der angewandten Erkenntnistheorie) der „Ontologie der Erkenntnis“ (d.h. der reinen Erkenntnistheorie) gegenüber eine ergänzende Aufgabe zukommt (vgl. 3§2 [Kap. II]). Zweitens arbeitet Ingarden überwiegend mit allgemeinen Begriffen, wenn er in seinem Denken sowohl der reinen Erkenntnistheorie als auch der Ontologie, die allgemeine Disziplinen sind, den Vorrang beimisst. Im Folgenden interessiert uns die Ontologie von ihrer begrifflichen Seite her. Ontologie ist für Ingarden eine ‚rein apriorische Analyse von Ideengehalten’. Die Gehalte der Ideen sind Konkretisationen von idealen (reinen) Qualitäten. Das Erfassen der idealen Qualitäten erlaubt uns nicht nur notwendige Kohärenzen zwischen ihnen, sondern auch „reine Möglichkeiten“ zu ergreifen. Das Problem der ‚tatsächlichen Existenz sowohl der in eidetischer Einstellung zu erfassenden Ideen selbst wie auch der unter sie fallenden Gegenstände’ ist hier völlig irrelevant. Dafür ist die Metaphysik kompetent. Freilich gilt dabei, dass das in eidetischer Einstellung Erfasste im „Rahmen dieses Erfassungsprozesses“ tatsächlich existiert. Daher haben wir es in der Ingardenschen Ontologie grundsätzlich mit drei Entitäten zu tun:
355
↓ Ideale Qualitäten (1)
Ontologische Betrachtung ↓ ↓ => Ideen (-Gehalte) => Individuelle Gegenstände (Seiende) (2) (3)
Bp: a. „Tellerhaftigkeit“ => „Teller überhaupt“ => „Der kleine rote Teller im Schrank“ b. „Quadratheit“
=>
„Quadrat überhaupt“
c. „Menschheit“ => „Mensch überhaupt“
=>
„Das Quadrat A“
=> „Der Herr X aus München“
d. „Röte“ (Rotheit) = > „Rote Rose überhaupt“ => „Die rote Rose in der grünen Vase“
Aus diesem Schema ergibt sich also: Die ontologische Betrachtung besteht in der apriorischen Analyse der Ideengehalte (2). Ihre letzte Begründung hat sie in der reinen Erfassung der letzten idealen Qualitäten (d.h. reinen Wesenheiten) und der zwischen ihnen bestehenden Zusammenhänge (1). Darüber hinaus geht sie zur Analyse der reinen Möglichkeiten über, welche sich für das individuelle Sein aus den in den Ideengehalten festgestellten Beständen ergeben (3) (vgl. SEW I, 33f). Erläutern wir kurz diese drei Entitäten. Nun sind ideale Qualitäten bei Ingarden gleichsam das, was in der philosophischen Tradition als „Universalien“ diskutiert wird. Wir können also sagen, dass etwa „Röte“ ein singulärer abstrakter Term sei, d.h. Eigenname einer idealen oder abstrakten Objekt-Entität. Die idealen Qualitäten treten in drei Formen auf: (1) als reine Qualitäten (RQ) – sind eine Art von Objekt-Entitäten, die „in sich selbstständig, abgeschlossen und unveränderlich“ sind; (2) als ideale Konkretisationen: RQ „konkretisieren“ sich als „Konstanten“ im Gehalt von bestimmten („materialen“) Ideen, z.B. im Falle von der Idee „Quadrat überhaupt“ als „Quadratheit“ (vgl. dazu 3§1 [Kap. II]); und (3) als aktuelle Konkretisationen: RQ „konkretisieren“ sich als „individuelle 24
Mit K. Campbell (vgl. [1998], 357f) können wir dieses Problem wie folgt formulieren: „The Problem of Universals ist the problem of how the same property can occur in any number of different instances”. 24
356 Bestimmungen“ von (idealen oder realen) individuellen Objekt-Entitäten, z.B. „Quadratheit“ ist sowohl in Quadrat A als auch in Quadrat B aktuell konkretisiert. Zwischen den idealen Qualitäten gibt es notwendige Zusammenhänge, die für mögliche aktuelle Konkretisationen idealer Qualitäten (IQ) nicht ohne Bedeutung sind. Es sind etwa folgende: (1) wechselseitige Verknüpfung der IQ - z.B. die Farbigkeit und die Oberflächlichkeit, jeder farbige Gegenstand hat notwenigerweise eine Oberfläche und umgekehrt; (2) Einschließung der IQ - die IQ A schließt die IQ B ein, z.B. das Rot schließt die Farbigkeit ein, d.h. jeder rote Gegenstand ist notwendig farbig; (3) Ausschließung der IQ - die IQ A schließt die IQ B aus, z.B. das Rot schließt das Blau aus, d.h. jeder vollständig rote Gegenstand ist notwendig nicht blau; (4) Äquivalenz der IQ - z.B. die Quadratheit ist äquivalent mit der Summe der IQ: Gleichseitigkeit, Rechtwinkligkeit, Parallelität, d.h. jeder quadratische Gegenstand ist notwendigerweise ein gleichseitiges, rechtwinkliges Parallelogramm, und jedes gleichseitige, rechtwinklige Parallelogramm ist ein Quadrat (vgl. SEW II/1, 234f; TJFPL, 201f, 361f). 25
Vgl. auch Haefliger, G. (1994), 68f. Er sieht bei Ingarden in diesem Zusammenhang zwei Probleme in Bezug auf: (1) Identifizierung von Universalien (idealen Qualitäten) mit der Bedeutung (Intension) genereller Terme, die in der gegenwärtigen philosophischen Diskussion vollzogen wird. Da werden Bedeutungs-Entitäten (Proposition, Individualbegriff) und Objekt-Entitäten (Eigenschaft, „n-stellige Relation“) unter „Intension“ aufgeführt (vgl. etwa Carnap, R. [1968], 42). Haefliger beruft sich vor allem auf J. Searle (vgl. [1969], 105f), dessen These Ingarden „theoretisch“ nicht akzeptiert, weil er (Ingarden) sich als Vertreter einer phänomenologischen Bedeutungstheorie sieht. Die Folge ist, dass er einerseits „Bedeutungen“ im Zusammenhang mit dem Inhalt von Akten erörtert, und andererseits ideale Qualitäten (Universalien) als Objekt-Entitäten auffasst. „Tatsächlich“ akzeptiert aber unser Autor doch die „Searlsche“ These, wenn er etwa von „(ist) ein Quadrat“ zu „Quadratheit“ übergeht. Das Problem ist allerdings, dass Ingarden keine Kriterien für die Zulässigkeit dieses Vorgehens angibt; (2) Ontologie – macht nach Ingarden einerseits bezüglich (der idealen, realen) Gegenstände, die (möglicherweise) unter eine bestimmte Idee fallen, weder explizit Existenzbehauptungen noch impliziert solche. Andererseits behauptet unser Autor, dass die idealen Qualitäten sich im Gehalt von (materialen) Ideen „ideal konkretisieren“ (vgl. ebd., 82f). 25
357 Eine weitere Art von Objekt-Entitäten, die für den Ingardenschen Ontologiebegriff bestimmend ist, sind die Ideen. Sie unterscheiden sich sowohl von von idealen Qualitäten als auch von den (idealen oder realen) individuellen Gegenständen. Die Ideen sind nach Ingarden durch eine doppelte Struktur gekennzeichnet: Einerseits haben sie einen Bestand an Eigenschaften, die sie „qua Ideen“ charakterisieren, andererseits einen Gehalt (Inhalt). Nehmen wir als Beispiel die Idee „Mensch überhaupt“: Zu ihren Eigenschaften „qua Idee“ gehören also die Unveränderlichkeit, die Außerzeitlichkeit, die Doppelseitigkeit, die Allgemeinheit, die Doppelseitigkeit ihrer formalen Struktur, die Eigenschaft, dass sie einen Gehalt besitzt usf. Die Elemente des Gehalts dieser Idee teilen sich dagegen in Konstanten und Variablen auf. Während als Konstanten z.B. gelten: die Lebendigkeit, die Sterblichkeit, die Zweifüßigkeit, die Vernünftigkeit (des Menschen) usw., könnte man als Variablen folgende Eigenschaften nennen: irgendeine Haut- und Haarfarbe, irgendeine Intelligenzstufe, irgendeine musikalische Begabung usf. Je allgemeiner die Ideen sind, desto größer ist die Anzahl der materialen Variablen des Gehalts (vgl. SEW I, 39f; TJFPL, 374f). Das Ziel der ontologischen Analyse bei Ingarden ist auch die Aufklärung des eidetisch Möglichen (bzw. Notwendigen) in Bezug auf individuelle (ideale oder reale) Gegenstände. Damit sind wir bei der dritten ObjektEntität. Individuelle (insbesondere individuelle reale) Gegenstände zeigen sich in direkter Erfassung als eine eigentümliche, letzte, nicht mehr differenzierbare Ausgestaltung des Seienden. Eigenschaften, welche ihnen zukommen, überschneiden einander und überlagern sich gegenseitig. Dadurch wird eine direkte Erkenntnis erschwert (vgl. SEW II/1, 67, 73f). Jeder individuelle Gegenstand hat Eigenschaften nur dadurch, dass er ihr Subjekt ist. Er hat sie aber nicht als „irgend etwas“, sondern als so und so unmittelbar qualifiziertes Subjekt, und wird dadurch, dass er sie hat, durch sie „näher“ bestimmt (vgl. SEW II/1, 85f). Im Anschluss an die Beispiele des obigen Schemas heißt das: (Es ist) „nicht bloß Teller, sondern der kleine rote Teller im Schrank“, „nicht bloß Quadrat, sondern das Quadrat 26
Dem Begriff der Idee haben wir schon in 3§1 (Kap. II) unsere Aufmerksamkeit gewidmet. Deswegen werden wir hier bündiger vorgehen.
26
358 A“, „nicht bloß Herr, sondern der Herr X aus München“ usw. Individuelle Gegenstände sind in existentialer, formaler und materialer Hinsicht zu analysieren. Den Begriff der Ontologie bei Ingarden, der durch das System von kohärenten Objekt-Entitäten (inbesondere Ideen) geprägt ist, können wir – von seiner Struktur her – gewissermaßen mit der Mathematik (Geometrie) vergleichen. Die Geometrie ist auf bestimmten Intuitionen grundsätzlicher Ideen aufgebaut, d.h. der Idee des Punktes, der Geraden, der Ebene usw. Jede dieser Ideen ist im Grunde einfach intuitiv zu erfassen. Dennoch wird ihr Inhalt seit mehreren Jahrhunderten erforscht, so dass auch heute immer noch gilt, dass die Geometrie kein (endgültig) abgeschlossener Bereich sei. Das Charakteristische daran ist außerdem, dass der Mathematiker sich keineswegs durch die Tatsache, dass er nicht weiß, wie die von ihm zu forschenden Objekte existieren, beunruhigt fühlt. Wenn also Geometrie möglich ist, dann gilt dies umso mehr für die Ontologie. Es gibt offensichtlich prinzipielle Differenzen zwischen Mathematik und Ontologie. Bereits einfachste ontologische Ideen (z.B. die Idee des Gegenstandes) sind unvergleichbar schwieriger zu erfassen als „komplizierte“ mathematische Objekte. Diese Schwierigkeit geht vor allem auf die theoretische Ursprünglichkeit der ontologischen Problematik gegenüber der Problematik einer apriorischen Einzelwissenschaft zurück. Die Folge ist, dass während die prinzipielle Methode der Ontologie in der Beschreibung besteht, welche mehrere Stadien im Prozess des Erlangens des Wesens durchläuft, dagegen das Erreichen des Wesens in der Mathematik keine speziellen erkenntnistheoretischen Maßnahmen erfordert, weil hier verschiedene (axiomatische) Definitionen „einspringen“. Abschließend ist darauf hinzuweisen, dass in der Rede über den Begriff der Ontologie bei Ingarden noch zwei weitere Aspekte keinesfalls zu kurz kommen dürfen, nämlich der mereologische und der ästhetische Aspekt. 27
28
Diese Analysen werden wir in weiteren Abschnitten durchführen. Vgl. Ogrodnik, B. (2000), 17f. Eine weitere Konsequenz ist, dass die Mathematik sich der Deduktion systematisch bedient, was aber in der Ontologie nur selten vorkommt.
27 28
359 Wir haben bereits oben gesehen, dass Ingarden in seinen ontologischen Analysen von idealen Qualitäten, Ideen und individuellen Gegenständen spricht. Das läuft m.E. ganz deutlich auf eine der in der klassischen Mereologie geltenden Aufteilungen hinaus: in Individuen, Klassen und Massen. Darüber hinaus befasst sich unser Autor mit dem Problem der Identität und Kontinuität, die ebenfalls als grundlegende Merkmale der Mereologie zu bezeichnen sind. Hinsichtlich des ästhetischen Aspekts des Ontologiebegriffes sei dagegen nur soviel gesagt, dass wir es hier mit einer Ebene zu tun haben, welche einerseits in den ontologischen Grundlagen der Kunst fundiert, andererseits mit dem Idealismus-Realismus-Problem verknüpft ist (vgl. LK, Xf). Im ontologischen Teil unserer Abhandlung ist dazu vor allem eine Erläuterung des Begriffs „Realismus“ erforderlich. 29
§3. Ingardens Begriff des Realismus In der Sprache der gegenwärtigen Philosophie formuliert stellt die Ontologie zwei zusammenhängende Fragen und versucht diese zu beantworten: Was sind die Kategorien der Welt? Und was sind die Gesetze, die diese Kategorien beherrschen? In seinen ontologischen Analysen ist Ingarden bestrebt, diesem Problem nachzugehen. Im Mittelpunkt seiner Analysen steht der Begriff des Realismus, der sich freilich außerhalb seiner „Idealismus-Realismus-Diskussion“ kaum bestimmen lässt (vgl. dazu 2§1 und 2§3 [Kap. I]). Die Folge ist, dass dieser Begriff einerseits als Gegensatz zu dem des Idealismus zu verstehen ist, also zu dem Standpunkt, demnach das Geistige (die Idee) den Vorrang hat, 30
Die klassische Mereologie befasst sich mit formalen „Teil-Ganzheit-Theorien“ und damit zusammenhängenden Konzeptionen. Sie wird auch „classical extensional mereology“ (CEM) genannt. Nach P. Simons (vgl. [1987], 1f) kommt CEM unter allem als „Calculs of Individuals“ (vgl. Leonard, H.S./Goodman, N. [1940]) und als „Mereology“ (vgl. Lesniewski, S. [1916]) vor. Zur Problematik der Mereologie vgl. 3§3 (Kap. IV), und zum Problem der Ontologie der Kunst vgl. Kap. V der vorliegenden Abhandlung. Vgl. Grossmann, R. (2002), 11. Mit „Kategorien“ meinen wir hier nicht nur die verschiedenen Weisen des Aussagens, sondern auch die des Seins, weil immer irgendwie das Sein „ausgesagt“ wird. 29
30
360 andererseits als „Anwalt“ der unabhängigen Existenz der realen Welt auftritt. Die Einführung dieses Begriffs soll nicht nur der Ingardenschen These Geltung verschaffen, dass neben der Existenz vom (reinen) Bewusstsein auch die „von ihm unabhängige“ Existenz der realen Welt angenommen wird, sondern damit sollen auch die existentialen Beziehungen zwischen den beiden geklärt werden. Gemeint ist die Existenz der Welt, die uns in der Gestalt unzähliger Dinge, Prozesse und Ereignisse gegeben ist, und die sowohl rein materielle Gegenständlichkeiten als auch psycho-physische Individuen umfasst (vgl. SEW I, 3f). Bei Ingarden haben wir es daher ganz deutlich mit einer Position zu tun, welche annimmt, dass wirkliches Seiendes unabhängig von unserem Bewusstsein „an sich“ existiert, dass das Ziel unseres Erkennens diesem Seienden gegenüber ist, sich ihm anzugleichen, es zu erfassen, wie es an sich ist, und dass dieses Ziel, wenigstens in bestimmten Grenzen, erreichbar ist. Aus Sicht der gegenwärtigen philosophischen Debatte können wir diese Position als „Außenweltrealismus“ bezeichnen. Es handelt sich also um eine allgemeine Denkrichtung, welche – von der Möglichkeit einer echten Transzendenz des Erkennens überzeugt – die Annahme einer außerhalb jedes Bewusstseinszusammenhangs stehenden Realität zur Erklärung des bewusst Gegebenen in letzter Entscheidung für unentbehrlich hält. Im Hinblick auf ihre Gegenposition kann man sagen, dass der Realismus die Wirklichkeit aus dem Realen erklärt, während der Idealismus das Reale aus dem Wirklichen. Wollen wir bezüglich des 31
32
Vgl. de Vries, J. (1996f), 316f. Vgl. Reininger, R. (1964), 99f. Hier kommen also zwei Begriffe vor: Wirklichkeit (W) und Realität (R), die in der Alltagssprache gleichbedeutend sind – allerdings mit der Akzentuierung, dass R eher die Seinsweise der materiellen Dinge bezeichnet. Darüber hinaus besagen W und R das Dasein im Gegensatz sowohl zum Schein (Erscheinung) wie auch zum Möglichen (vgl. de Vries, J. [1996h], 470f). In diesem Kontext wird es verständlich, weswegen Ingarden vom „Idealismus-RealismusProblem“ (und nicht etwa „Idealismus-Wirklichkeit-Problem) spricht. Nicht zu übersehen ist hier der Kantische Wortgebrauch: (1) W bedeutet das Dasein; (2) die R gehört zu den Kategorien der Qualität, die W dagegen zu den Kategorien der Modalität (vgl. KrV, B 95). In diesem Sinne können wir auch die Definition des Idealismus (I) formulieren: Unter I ist eine ganz allgemeine Denkrichtung zu verstehen, welche - die 31 32
361 Außenweltrealismus expliziter verfahren, so können wir von einem „metaphysischen“ (MR) und einem „erkenntnistheoretischen Realismus“ (ER) sprechen. Während nach dem MR eine reale (materiale) Wirklichkeit unabhängig von der (menschlichen) Erfahrung existiert, behauptet der ER dagegen, dass diese Wirklichkeit der (menschlichen) Erfahrung zugänglich sei, obwohl niemals komplett. Ingarden entfaltet seinen Realismus-Begriff vor allem in der Auseinandersetzung mit Husserl. Als starker Befürworter des MR tritt unser Autor gegen Husserl auf, der die These über den MR ablehnt – unter der gleichzeitigen Beibehaltung einer bestimmten Form des ER. Durch seine transzendental-idealistischen Tendenzen beeinflusst ist Husserl der Ansicht, dass die reale Welt nicht unabhängig vom transzendentalen Bewusstsein existiert (vgl. SPhH, 209f, 178f). Dadurch fühlt sich Ingarden „gezwungen“, nach dem Prinzip der faktisch vorgefundenen Welt (oder besser „Realität“) zu fragen, indem er überwiegend ontologisch vorgeht. Deshalb kommt er zu der Feststellung, dass „Realität“ – mit dem Blick auf Husserl ausgedrückt – etwas mehr als nur „im Erfahrungsverlauf genügend motivierte Vermeintheit“ bedeutet. Die Realität ist vielmehr etwas dem Bewusstsein Fremdes und für sich Seiendes, was sich als solches in jedem Glied der Erfahrungssynthesen offenbart. Sowohl dem Sinne der Erfahrung wie dem der Wahrheit nach ist sie ein vom Bewusstsein verschiedenes Sein, eine „in sich“ seiende Entität. Der Sinn der Realität geht notwendig über den Erfüllungssinn jeder „endlichen“ Mannigfaltigkeit von Wahrnehmungssynthesen hinaus. Der Seinsmodus der Realität darf nach Ingarden keinesfalls mit dem (in „endlicher“ Erfahrungsmannigfaltigkeit erreichbaren) Setzungswert vermengt werden, so wie dies bei Husserl der Fall war. Denn der erste reicht über den zweiten hinaus (vgl. SPhH, 9f). 33
34
Transzendenz des Erkennens erachtend - in letzter Entscheidung das bewusst Gegebene aus sich selbst erklären will. Zum Prozess des Übergans zum idealistischen Standpunkt bei Husserl vgl. etwa 2 (Kap. I), insbesondere §1. Der Ingardensche Standpunkt des MR kann gewissermaßen durch die Position unterstützt werden, für welche „Wirklichkeit an sich“ der Erkenntnis prinzipiell nicht zugänglich ist (vgl. SEW I, 184f). Hier denken wir vor allem an Kant, der zwischen 33
34
362 All diese sich auf die reale Welt beziehenden Hinweise erlauben uns zwei Fragen zu stellen: Inwiefern ist der Ingardensche Realitätsbegriff ein Realitätsbegriff der Naturwissenschaften? Wie verhält er sich zum Universalienproblem? a. Kritische Bestimmung der Position Ingardens Die Realismusproblematik wird in der gegenwärtigen philosophischen Debatte generell in zweierlei Form diskutiert: Einerseits geht es um die ‚realistische Auffassung der menschlichen Erkenntnis von der sinnlich wahrnehmbaren Welt, andererseits um die des Allgemeinen’. Im ersten Falle haben wir es mit einem „Außenweltrealismus“ zu tun, der im Gegensatz zu dem das Sein einer Körperwelt überhaupt leugnenden „akosmischen Idealismus“ und zu dem ihre Erkennbarkeit bestreitenden „Phänomenalismus“ steht. Im zweiten Fall handelt es sich um einen philosophischen Standpunkt, welcher „Realismus bezüglich des Allgemeinen“ (bzw. der Universalien) genannt werden kann. Dieser Realismus steht nicht im Gegensatz zum Idealismus, sondern zum Nominalismus, der das Allgemeine für einen bloßen „Namen“ hält, und zum Konzeptualismus, der im Allgemeinen nur einen bloßen Begriff erblickt. Deswegen nimmt er nicht nur an, dass es allgemeine Begriffe gibt, sondern auch dass ihr Inhalt im Seienden verwirklicht ist. Auffallend sind hier die Analysen von D. Wiggins, welche den Realismus im Kontext des Konzeptualismus und Essentialismus aufrollen. 35
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der „Erscheinungswelt“ und der Welt der „Dinge an sich“ unterscheidet. Beide Welten existieren nach Kant unabhängig voneinander (vgl. KrV, B 59). Dadurch wird konsequenterweise die Position Husserls abgeschwächt, die die unabhängige Existenz der realen Welt in Frage stellt (vgl. SPhH, 206f). Vgl. de Vries, J. (1996f), 317f. Als Vertreter des akosmischen Idealismus gilt vor allem G. Berkeley (vgl. „Treatise concerning the principles of human knowledge“), mit dem Phänomenalismus dagegen sind die Namen von I. Kant (vgl. KrV [in der Erscheinung erscheint dem - in seinem Sosein unerkennbaren - realen Subjekt ein – ebenfalls unerkennbares – Seiendes]) und E. Mach (vgl. [1905] und [1918], das Wort „Erscheinung“ wird aufgrund der rein empirischen Einstellung vermieden) verbunden. Vgl. Wiggins, D. (1980), 103f. Diese Analysen sind aber stark durch sprachanalytische Elemente geprägt. 35
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363 Im letzten Abschnitt wurde angedeutet, dass Ingardens Position als „Außenweltrealismus“ bezeichnet werden könne, zumal ihr Augenmerk sich stets auf die reale Welt richtet. Dabei wollen wir allerdings nicht behaupten, dass unser Autor Husserl einen akosmischen Idealismus oder Phänomenalismus unterstellt, gleichwohl aber einen transzendentalen Idealismus, der die reale Körperwelt vom reinen Bewusstsein abhängig machen will. Es bleibt keineswegs ausgeschlossen, dass diese reale Welt dadurch an ihrer Erkennbarkeit einbüßt. Im vorletzten Abschnitt sind wir dagegen bei der Analyse des Ingardenschen Begriffs der Ontologie auf die idealen Qualitäten gestoßen, die auf das Universalienproblem in der gegenwärtigen philosophischen Diskussion hinweisen. Dabei ist aber zu bemerken, dass wir bei unserem Autor von Universalien insofern sprechen können, als wir diesen Begriff in erster Linie mit dem des Realismus in Verbindung setzen. Die Folge ist, dass man bei Ingarden – das ist meine These – nicht nur einen „Außenweltrealismus“ vermuten kann, sondern auch gewissermaßen einen „Realismus bezüglich des Allgemeinen“ (d.h. „Universalienrealismus“). Gehen wir kurz darauf ein. Der Begriff des Außenweltrealismus tritt bei Ingarden vor allen Dingen als metaphysischer Realismus auf, der sich für die unabhängige Existenz der realen (materialen) Welt (und somit gegen Husserl) einsetzt. Damit werden wir einerseits der Frage ausgesetzt, ob hier ein Verhältnis zum „Realitätsbegriff der Naturwissenschaften“ besteht, der kurzum sagt: „Darüber, was Realität überhaupt ist, muss man sich keine Gedanken machen, denn das weiß man schon. Das ist der sinnlich wahrnehmbare, immer als einzelner vorkommende Gegenstand“. Ohne dieses Verhältnis näher zu beschreiben, sei nur darauf hingewiesen, dass wir diese Frage durchaus positiv beantworten können. Eine Begründung dafür liefern uns die zahlreichen Analysen der sinnlichen Wahrnehmung, die Ingarden permanent beschäftigten (vgl. dazu OSW, 1f; auch 2§6 [Kap. I] und 4 [Kap. II]). Andererseits können wir hier fragen, ob wir es bei Ingarden mit einem „naiven“ oder „kritischen“ Realismus zu tun haben. 37
Vgl. dazu Reininger, R. (1970), 101f; auch Weissmahr, B. (1991), 75. Eine Antwort auf diese Frage wird sich offensichtlich erst am Ende unserer Abhandlung ergeben. 37
364 Viel interessanter scheint die These über den „Realismus bezüglich des Allgemeinen“ (RA) bei Ingarden zu sein. Deshalb stellen wir die Frage: Wäre unser Autor mit der Ansicht einverstanden, dass es nicht nur allgemeine Begriffe gibt, sondern auch deren Inhalt im Seienden verwirklicht ist? Darauf könnte jedenfalls die Auffassung des Ingardenschen Begriffs der Ontologie deuten. In 2§2 (Kap. IV) wurde schon gesagt, dass die ontologische Analyse nach Ingarden sich ebenso mit den reinen Möglichkeiten befasst, welche sich für das individuelle Sein (d.h. die idealen oder realen Gegenstände) aus den in den Ideengehalten festgestellten Beständen ergeben. Damit werden zwei Faktoren hervorgehoben: Zum einen anerkennt Ingarden den Bereich von reinen Möglichkeiten und Ideengehalten, womit seinem RA die Existenz eingeräumt wird (denken wir hier etwa an Ingardens Beispiele für die Ideen: „Teller überhaupt“, „Mensch überhaupt“ usf.); zum anderen spricht er auch von realen Gegenständen und der realen Welt, was mit der These über den RA keinesfalls in Einklang steht. Folgerichtig ergibt sich die Frage nach dem Verhältnis des Ingardenschen RA zum Platonismus, der behauptet, dass das Universale in der Wirklichkeit selbst (außerhalb der Einzeldinge) bestehe. Obwohl Ingarden selbst sich gegen den Vorwurf des Platonismus wehrt (vgl. SEW I, 1f; SEW II/1, 229f), scheint er m.E. dennoch in diese Gefahr geraten zu sein, zumal seine ontologischen Analysen keine hinreichende Grundlage beweisen können, welche die Kohärenz der beiden Bereiche (d.h. der Ideen und der realen Welt) tatsächlich sichert. Bereits das einfache Argument eines Aristoteles könnte hier eine Art Verunsicherung auslösen, d.h. seine These, dass wenn man den Ideen (Universalien) eine von Dingen abgetrennte selbstständige Existenz zuschreibe, beraube man damit die Einzeldinge ihrer Wirklichkeit, weil deren „Wesen“ in eine von ihnen verschiedene Sphäre versetzt werde. Die Akzeptanz des RA (d.h. des Universalienrealismus), der sich Ingarden aufgrund seines Ontologiebegriffs zuschreiben ließe, erscheint auch sprachanalytisch orientierten Philosophen bedenklich. Nehmen wir etwa 38
Vgl. Aristoteles, Met. I 9,990b. In Bezug auf Ingarden wollen wir dies nicht ohne Vorbehalte gelten lassen (vgl. dazu auch 3§4 [Kap. II]). 38
365 Wittgenstein und seine Äußerungen über die „Sprachspiele“ an, mit denen er seine Auffassung der Sprache verdeutlichen will. In den „Philosophischen Untersuchungen“ spricht Wittgenstein von Brettspielen, Kartenspielen, Ballspielen usw. und fragt, was allen diesen Spielen gemeinsam sei. Er fährt fort, dass man eigentlich nicht sagen sollte, dass diesen Spielen etwas gemeinsam sei, sondern „schauen“, ob ihnen etwas gemeinsam sei. Auch Quine argumentiert gewissermaßen gegen eine die Unabhängigkeit der Tatsachen (oder Wahrheiten) von deren Erkenntnis behauptende „realistische“ Position, indem er (vor allem) in seinem Aufsatz „Zwei Dogmen des Empirismus“ gegen die Thesen des logischen Empirismus auftritt. In diesem Sinne behauptet er, dass es in der empirischen Erkenntnis keinen isolierbaren Gehalt gebe, welcher die Welt so repräsentiere, wie sie tatsächlich sei. Damit meint er, dass sich eine epistemologisch relevante „analytisch-synthetische“ Unterscheidung, also die Unterscheidung zwischen begrifflicher Wahrheit und Wahrheit aufgrund von Tatsachen, keineswegs verteidigen lässt. Abschließend lässt sich bezüglich des Begriffs des Realismus bei Ingarden – aus Sicht der gegenwärtigen philosophischen Debatte – Folgendes sagen: Der Begriff Realismus dient einerseits zur Bezeichnung einer erkenntnistheoretischen Position, wonach es eine unabhängig von unserer Erkenntnis existierende Wirklichkeit gibt. Insofern deckt sich dieser Standpunkt einwandfrei mit der Ingardenschen Position. Innerhalb der erkenntnistheoretischen Debatte wird aber zwischen einem metaphysischen (MR) und internen Realismus (IR) differenziert. Während nach dem MR unser begriffliches System die Welt so abbildet, wie sie an sich beschaffen 39
40
Vgl. Wittgenstein, L., PU, §66. Vgl. Quine, W.V.O. (1951), 29f. Quine tritt also gegen zwei Voraussetzungen (Dogmen) des logischen Empirismus auf: (1) Unterscheidung zwischen analytischen und synthetischen Sätzen und (2) Reduktionismus, d.h. den Glauben, dass Aussagen sich als einzelne verifizieren lassen und als solche auf unmittelbare Erfahrung referieren. Quine´s Angriff gilt eigentlich nicht nur diesen zwei Dogmen selbst, sondern auch letzten Endes dem Bedeutungsbegriff, der diesen zugrunde liegt. Seine Position wird auch als „Holismus“ bezeichnet (vgl. dazu Coreth, E. u.a. [1993], 199f). Reden wir von Realismus, so müssen wir auf den Beitrag von Putnam hinweisen, der von „metaphysischem“ und „internem Realismus“ spricht (vgl. 4§4 [Kap. IV]).
39 40
366 ist, sagt der IR dagegen, dass die Erkenntnis der Wirklichkeit von den dabei zur Anwendung kommenden Mitteln abhängt. In semantischen Kontexten bezeichnet Realismus andererseits die Auffassung, wonach es neben sprachlichen Zeichen und den durch sie bezeichneten Gegenständen oder Eigenschaften noch ein drittes, begriffliches Reich gibt, das seinen Platz entweder im Geist oder in einem nicht näher bestimmten Gedankenreich hat. In diesem Sinne ließe sich bei unserem Autor kaum von Realismus sprechen. Er will vielmehr seinen Realismusbegriff im Rahmen der Ontologie des Seins entwickeln – in erster Linie mit der Akzentuierung von existential-, formal- und material-ontologischen Gesichtspunkten. 41
3. Ingardens Ontologie des Seins Vordringlicher noch als die Frage „Was ist der Mensch?“ ist für mache Philosophen die Frage „Was ist das Sein?“ Das Sein des Seienden und sein Verhältnis zum Dasein und Sosein dessen, was ist, waren seit jeher Gegenstand einer Grundfrage der Philosophie, die einen ganzen Komplex verschiedener Einzelfragen in sich enthält. Damit ist nichts anderes gemeint, als dass es in der Welt Grundlegenderes und weniger Grundlegendes gibt – nicht nur in unserem alltäglichen Tun, sondern auch in ontologischer Reflexion. Viel schwieriger ist es freilich zu bestimmen, worin dieses Grundlegende besteht. Dieses Ziel verfolgte auch Ingarden in seinen vielfältigen ontologischen Analysen, die in unserer Abhandlung (vor allem in Kap. IV – V) nicht einmal in aller Kürze erörtert werden können, was von uns notwendig ein schwerpunktmäßiges Vorgehen erfordert. 42
43
44
Vgl. Blume Th. u.a. (1998), 276. Vgl. Hengstenberg, H.E. (1998), 13. Seifert, J. (1996), 21. Vgl. Löffler, W. (2002), 7. Der Verfasser meint hier etwa die mit den antischen Substanzontologien konkurrierenden ontologischen Projekte der Gegenwart wie „Tropentheorien“ als Ontologien partikulärer Eigenschaften oder individueller Qualitäten. Darauf werden wir später eingehen.
41 42 43 44
367 In den vorangehenden Abschnitten haben wir den Begriff der Ontologie bei Ingarden zu erfassen versucht. Mit dem Blick auf die philosophische Tradition können wir behaupten, dass die Ontologie auch bei unserem Autor eine „Kategorientheorie“ ist, wobei Kategorien allgemeinste Bestimmungen der Wirklichkeit sind. Die Ontologie untersucht die grundlegendsten Strukturen der Wirklichkeit; sie ist eine Theorie von den allgemeinsten Arten. Ihr Untersuchungsziel ist die Zusammenstellung und Bestimmung der ontologischen Kategorien der Wirklichkeit und eventueller Zusammenhänge zwischen diesen. Von welcher Relevanz und welchem Kraftaufwand dieses Unternehmen ist, zeigt uns Ingarden, indem er sein monumentales ontologisches Werk „Der Streit um die Existenz der Welt“ betitelt. Der Begriff des Streits, der Schlacht oder wie auch immer ist eine „Schlacht“ um abstrakte Dinge oder Kategorien wie Individuen, Eigenschaften, Beziehungen, Strukturen, Tatsachen usf. All dies hat bei Ingarden allerdings einen besonderen Charakter. Wir dürfen nämlich nicht vergessen, dass unser Autor beim Betreiben seiner Ontologie in erster Linie das Idealismus-Realismus-Problem im Auge hat, das in Verbindung steht mit dem die Abhängigkeit der realen Welt vom reinen Bewusstsein behauptenden transzendentalen Idealismus Husserls. Unser Autor will zeigen, dass das von Husserl Behauptete doch nicht ganz der Fall ist. Dazu ist in erster Linie das Problem der Existenz zu klären. 45
46
§1. Existential-ontologische Analyse Jeder Gegenstand (Ding, Mensch, Welt) kann von drei verschiedenen Gesichtspunkten aus betrachtet werden: hinsichtlich seiner Existenz, seiner Form und seiner materialen Ausstattung, sagt Ingarden. Bei den existentialen Problemen geht es grundsätzlich um zwei Fragen: (1) Existiert ein Gegenstand tatsächlich auf die ihm eigene Weise? (2) Welche Seinsweise ist es, die durch sein Wesen vorbestimmt ist, unabhängig davon, ob er tatsächlich existiert oder nicht? Während die erste Frage entweder metaphysisch oder einzelwissenschaftlich ist (vgl. 3§6 [Kap. 45 46
Vgl. Zdunek, A. (2004), 44, 135. Vgl. Fußnote 11 (Kap. IV).
368 IV]), erfordert hingegen die zweite Frage einerseits eine rein ontologische Analyse von der ‚Idee der Existenz überhaupt und den Ideen besonderer Existenzweisen’, was im folgenden Abschnitt auszuführen ist, andererseits eine Analyse des betreffenden Gegenstandes hinsichtlich sowohl seiner Form (vgl. 3§2 [Kap. IV]) als auch seiner Materie (vgl. 3§4 [Kap. IV]) (vgl. SEW I, 58f). Die existential-ontologischen Analysen betreffen auch verschiedene mögliche Seinsmodi des Seienden überhaupt und deren Momente. Sie dürfen sich also nicht nur auf die Erfassung des Realen und des reinen Bewusstseins allein beschränken (vgl. SPhH, 25). 47
a. Existenz überhaupt. Existenz ist kein Prädikat Wenn wir es mit einem existierenden Gegenstand zu tun haben, haben wir es auch mit seiner Existenz zu tun, lautet Ingardens These. Den Begriff „Existenz“ gebraucht unser Autor im Zusammenhang mit dem Begriff des Seins bzw. der Seinsweise, jedenfalls noch ganz eindeutig im Sinne Heideggers, der schreibt: 48
„Das Sein selbst, zu dem das Dasein sich so oder so verhalten kann und immer irgendwie verhält, nennen wir ‚Existenz’“. 49
Eine sehr gute und ausführliche Analyse der Existenzproblematik bei Ingarden liefert etwa G. Haefliger (1994). In unserer Abhandlung können wir nicht so ausführlich verfahren. Ingarden verfährt eher allgemein, d.h. er spricht von Sein „seinem Ursinn nach“. Darum heißt für ihn sein soviel wie „real existieren“. Daran werden wir uns (aus methodischen Gründen) auch halten. Indes müsste man zwischen Sein (Vollkommenheit, durch die etwas ein Seiendes ist) und zwei anderen das Seiende konstituierenden Grundmomenten differenzieren, d.h. zwischen Dasein ([=Existenz] drückt aus, ‚dass’ etwas ist) und Sosein ([=Wesen] sagt, ‚was’ etwas ist) (vgl. Lotz, J. [1996f], 345 und [1996], 55). Heidegger, M., SuZ, 12. Eine ergänzende Anmerkung zu dieser Problematik – aus sprachanalytischer Sicht finden wir etwa bei B. Russell (vgl. [1964], 449): „Sein ist das, was zu jedem denkbaren Begriff gehört, zu jedem möglichen Gegenstand des Denkens […]. Sein gehört zu allem, was gezählt werden kann […]. Deshalb ist Sein ein allgemeines Attribut von jeglichem, und irgendetwas zu erwähnen, bedeutet zu zeigen, dass es ist. Im Gegensatz dazu ist Existenz das Vorrecht nur einiger Seiender“. 47
48
49
369 Ein existierender Gegenstand ist uns niemals ohne sein Sein und seine Seinsweise gegeben. Aber es gilt auch umgekehrt: das Sein bzw. die Seinsweise eines Gegenstandes kann uns niemals ohne diesen Gegenstand gegeben werden. Das Sein ist nicht getrennt vom Gegenstand und für sich zu erfassen. Die Folge ist, dass das Sein eines Gegenstandes und dieser Gegenstand selbst keinesfalls zwei verschiedene nebeneinander bestehende Entitäten sind, auch nicht so wie etwa die rote Farbe einer Rose und die konkrete Ausdehnung dieser Farbe. Denn obwohl diese in der Weise miteinander verschmolzen sind, dass jeder Teil der Ausdehnung von roter Farbe erfüllt ist, durchdringt die Ausdehnung die rote Farbe (und umgekehrt) jedoch nicht so, wie der seiende Gegenstand von seinem Sein durchdrungen ist. Da man das Gegenteil nicht behaupten kann, nämlich dass ein Gegenstand sein Sein (seine Existenz) durchdringe, hält Ingarden das Sein und das Seiende für keine stricto sensu ‚gleichgeordneten Momente’. Von dem Sein darf man also nicht sagen, es sei, es existiere (vgl. SEW I, 69f). Mit dem Existenzproblem ist das Nicht-Existenzproblem verbunden. Anknüpfend an Hume und Kant weist Ingarden auf die damit zusammenhängenden Schwierigkeiten hin. Er bedient sich des Beispiels einer Lampe: 50
„Wir nehmen […] eine individuell bestimmte […] Lampe wahr und stellen uns vor, dass sie eben in diesem Augenblick zu sein aufhöre und somit ‚nicht vorhanden wäre’ […]. Geschähe es tatsächlich, dann gäbe es an ihrer Stelle einfach ein ’Nichts’ […]. [Dann] halten wir die genau mit denselben Eigenschaften ausgestattete und formal auf bestimmte Weise gestaltete ‚Lampe’, die nicht existiert, gedanklich fest und stellen sie einer hinsichtlich ihrer ganzen Ausstattung und Form genau gleichen, aber existierenden Lampe gegenüber“ (SEW I, 70f).
Kant schreibt etwa: „Sein ist offenbar kein reales Prädikat, d.h. ein Begriff von irgend etwas, was zu dem Begriffe eines Dinges hinzukommen könne […]. Und so enthält das Wirkliche nichts mehr als das bloß Mögliche. Hundert wirkliche Taler enthalten nicht das Mindeste mehr, als hundert mögliche“ (KrV, B 626f). In diesem Zusammenhang steht bekanntlich Kants Kritik an dem sogenannten „ontologischen Gottesbeweis“. 50
370 Unserem Autor geht es vor allem um die Frage, was die nichtexistierende Lampe von der existierenden unterscheidet. Seine Antwort hat einen doppelten Charakter: Zum einen gilt der Kantische Hinweis, dass zu jener nichtexistierenden Lampe keine neue Eigenschaft und kein neues FormMoment hinzukommen kann. Zum anderen, was für Ingarden noch wichtiger ist, kommt es auf die Existenz selbst an, d.h. die existierende Lampe unterscheidet sich von der nicht-existierenden dadurch, dass sie ‚existiert’. Das, wodurch sich die existierende Lampe von der nichtexistierenden – bei gedanklicher Festhaltung aller formalen und materialen Momente derselben – unterscheidet, bezeichnet er als ihre „Existenzweise“. Die Existenzweise gilt nun für Ingarden als Kriterium zur Differenzierung zwischen Realem und Möglichem (oder auch Idealem), zwischen einer realen und einer möglichen Lampe, die zwei verschiedene Gegenständlichkeiten darstellen. Darüber hinaus ist ein Problem von mereologischer Natur nicht zu übersehen. Wenn sich eine (existierende) Lampe beim Verbrennen in Schutt und Asche verwandelt, existiert sie nicht mehr als Lampe. Was zurückbleibt, ist nur ein Klumpen Messing, Glas usf. Im Prozess der vernichtenden Verwandlung vollzieht sich nach Ingarden ein radikaler Abbruch des Seins, ein „Sprung“ von der Lampe (Moment 1) zu einem Nichts (Moment 2) (vgl. SEW I, 71f). In dem Kontext könnten wir aber noch weiter reflektieren und fragen: Ist die Lampe ohne Glühbirne weiterhin eine Lampe? Oder ist hier die Funktionsfähigkeit der Lampe 51
52
Man könnte die Frage stellen: Wenn die Existenz kein Prädikat ist, dann was ist sie denn? In einer gewissen Periode denkt etwa G. Frege (vgl. „Dialog mit Pünjer über Existenz“, in: ders. [1971]), dass Existenz nichts anderes als ‚Selbstidentität’ ist. D.h. wenn man sagt „dies und jenes existiert“, sagt man nach Frege nichts anderes, als dass dies und jenes selbstidentisch sind. R. Grossmann (vgl. [2002], 151f) ist dagegen der Ansicht, dass ‚Existenz das Substratum der Welt ist’ (d.h. das letzte, zugrundliegende Subjekt aller Zuschreibungen). Sie steht also dem Ding, das existiert nicht gegenüber wie eine Eigenschaft. Existenz ist nicht etwas außerhalb des Dinges, nicht etwas, das dem Ding von außen hinzugefügt wird’, sondern sie ist das Ding selbst. Sie ist mit dem Ding auf die engste Weise verbunden. Diese Position ließe sich m.E. mit der Ingardenschen wesentlich in Einklang bringen. Ingarden bringt auch andere Beispiele vor, z.B. die Verwandlung einer Raupe in einen Schmetterling, eines Baumstammes in einen Tisch.
51
52
371 entscheidend? Angenommen, dass wir die Glühbirne wechseln. Bleibt die Lampe dieselbe? Verwandlungsprozess ↓ (?) Moment 1………...................………Moment 2 (Lampe [L])
=>
(L ohne Glühbirne; L mit neuer Glühbirne) (Klumpen Messing usw.)
(Raupe)
=>
(Schmetterling)
(Baumstamm)
=>
(Tisch)
Nun sehen wir, dass mit dem Existenzproblem bei Ingarden aufs engste ein mereologisches Problem verknüpft ist. Die mereologische Frage könnte etwa lauten: Wie verhält sich das Moment 2 zu dem Moment 1? Könnte man hier fundierend argumentieren, indem man z.B. im Sinne des bekannten Beispiels vom „Schiff von Theseus“ verfährt? Um die Relevanz des Problems bereits hier hervorzuheben, fassen wir mit P. Simons dieses Beispiel zusammen: „A ship is built and sails the seas. In the course of time, it needs repair, and its parts are successively and gradually replaced over a period, so that at the end of this time none of the parts is original. But a man keeps the original parts and reassembles them in the original order. So now there are two ships, and the question is, which of them is identical with the ship which we started? The problem is precisley that there are competing claims: one side favours continuity of function despite flux of parts (provided the flux is not too considerable at any refit), while the other side favours material continuity despite the intervening period in which the original parts are together in the form of ship”. 53
Dieses Problem ist offensichtlich ziemlich kompliziert. Hier können wir ihm nicht nachgehen. Es geht uns bloß darum aufzuweisen, dass die Simons, P. (1987), 198f. In 3§3 (Kap. IV) werden wir noch darauf zurückkommen. Zur Problematik vom „Schiff des Theseus“ vgl. etwa Wiggins, D. (1980), 92f; Burke, M.B. (1980), 405 u.a. 53
372 gleichen Probleme in Bezug auf Ingardens Philosophie (z.B. mit dem Beispiel der Lampe und im Kap. V mit dem des literarischen Werkes) diskutiert werden können/müssen. Außerdem bleibt der Begriff des Verwandlungsprozesses zu klären. Wir könnten gleichwohl fragen: Was kommt (während des Verwandlungsprozesses) zwischen den Momenten 1 und 2 vor? Ließe sich dies vielleicht aufgrund der Differenzierung zwischen der Existenzweise und den existentialen Momenten begrifflich genauer bestimmen? b. Äquivozität der Existenz: Existenzweise und existentiale Momente Die Existenz (d.h. Seinsweise) eines Gegenstandes X ist von jeglicher materialen und formalen Bestimmtheit von X zu unterscheiden; sie ist also keine Eigenschaft des Gegenstandes X. Das haben wir im vorangehenden Abschnitt festgestellt. Mit diesem Abschnitt begeben wir uns hingegen aufs Feld der ontologischen Analysen bei Ingarden, welche dieses Problem noch weiter entfalten und gleichsam für die gegenwärtige Philosophie einen Beitrag leisten. Im Rahmen seiner Idealismus-Realismus-Debatte führt Ingarden eine detallierte Analyse der Existenzweisen und existentialen Momente durch. Wie kommt unser Autor auf die Differenzierung zwischen der Existenzweise und den existentialen Momenten? Erklären wir dies wieder mit dem uns bekannten Beispiel. Wir haben oben von einer existierenden und einer nichtexistierenden Lampe gesprochen. Die erste ist eine reale Lampe, die ich sehen, antasten usf. kann. Ihr kommt also eine reale Existenz zu. Die zweite ist dagegen eine nur vorgestellte (gedachte) Lampe, die ich keinesfalls empirisch erfahren kann. Für diese gilt nur eine mögliche Existenz. Daraus ergibt sich, dass wir es hier mit zwei verschiedenen Existenzweisen zu tun haben: dem Real-sein und dem 54
Vgl. Simons, P. (1987), 296. Vgl. auch ders. (1995), 63f, 75f. – der Verfasser weist zugleich auf die Schwierigkeiten hin, welche mit dem Ingardenschen Wege verbunden sind, und bezeichnet diese als „dogmatischen Intuitionismus“. Ingardens Beitrag wird nicht nur im Licht von Aristoteles und Ockham gewürdigt, sondern auch (obwohl nur ganz knapp) auf semantische Analysen bezogen, die nach Simons auch gescheitert sind.
54
373 Möglich-sein. In dem Zusammenhang können wir noch weiter fragen, ob in der existierenden Lampe alle Eigenschaften, alle Teile, Beziehungen zwischen ihnen usw. auf dieselbe Weise in der Zeitspanne A….B existieren; ob z.B. die Metallteile der Lampe sich im Zeitpunkt A auf dieselbe Weise hinsichtlich ihrer Stabilität zu den Glasteilen der Lampe verhalten wie im Zeitpunkt B. Die Antwort ist offenbar verneinend. Die Lampe im Zeitpunkt B ist schon „anders“ als die Lampe im Zeitpunkt A. Denn in der Zeit zwischen A und B könnten durchaus verschiedenste Veränderungen an der Lampe auftreten; die Lampe im Zeitpunkt B ist überdies etwa „älter“ als die im Zeitpunkt A. Dieses einfache Beispiel zeigt uns, dass bereits hier verschiedene existentiale Momente vorliegen. In ihrem ganzen Umfang werden sie von Ingarden systematisch herausgearbeitet. Bevor wir die grundlegenden existentialen Momente und Existenzweisen im vorliegenden Abschnitt der Reihe kurz besprechen, müssen wir die Frage beantworten, wie sich beide zueinander verhalten. Ingarden schreibt: „Nimmt man irgendeinen individuellen Gegenstand und sucht […] die volle ‚existentiale Seite’ desselben zu erfassen, so findet man immer eine bestimmte Seinsweise vor, die existentialen Momente dagegen jeweilig nur als etwas in ihrem Gesamtbestande. Und zwar lassen sich in einer jeden Seinsweise immer mehrere existentiale Momente intuitiv erschauen“ (SEW I, 78).
Jede Existenzweise besteht also aus mehreren intuitiv zu erschauenden Momenten. Unser Autor unterscheidet grundsätzlich vier verschiedene Gegensatzpaare existentialer Momente, welche „methodisch“ miteinander verknüpft werden: 55
Was hier Ingardens Methode anbelangt, besteht sie in einer „Kombination“ der existentialen Momente. Dabei ist allerdings die Voraussetzung, dass diese Momente sich nicht ausschließen. Es ist zudem darauf hinzuweisen, dass Ingarden in seinen existential-ontologischen Analysen gewissermaßen mit Begriffen arbeitet, die noch nicht ganz präzis sind (z.B. Gegenstand, Ganzheit). Sie werden erst in seinen formalontologischen Untersuchungen präziser bestimmt. Die vier Gegensatzpaare der existentialen Momente bezeichnet dagegen G. Haefliger (vgl. [1994], 219) als „minimale logische Basis“ für jede erfolgreiche existential-ontologische Analyse von Seinsweisen. 55
374
I. Seinsautonomie Seinsheteronomie III. Seinsselbständigkeit Seinsunselbständigkeit
II. Seinsursprünglichkeit Seinsabgeleitetheit IV. Seinsunabhängigkeit Seinsabhängigkeit
Ein Gegenstand existiert autonom (bzw. ist seinsautonom), wenn er in sich selbst sein Seinsfundament hat. Das ist dann der Fall, wenn er in sich selbst etwas immanent Bestimmtes ist. Dagegen existiert ein Gegenstand heteronom (bzw. ist seinsheteronom), wenn er sein Seinsfundament außerhalb seiner selbst hat. Als seinsautonom gelten für Ingarden reale Gegenstände (z.B. ein rotes Tuch) und ideale Objekte, d.h. mathematische Gegenstände, reine Qualitäten (z.B. „Röte an sich“). Hinsichtlich der Seinsautonomie liegt also zwischen einem realen Ding und dem Idealsein einer reinen Qualität kein Unterschied vor. Für seinsheteronom hält unser Autor dagegen alle intentionalen Gegenstände wie Literatur-, Musik- oder Malerei-Werke. All diese Gegenstände haben ihr Fundament außerhalb ihrer, weil sie ihr gesamtes Beschaffensein aus dem Vollzug eines intentionalen Bewusstseinserlebnisses schöpfen und ohne ihn nicht existieren würden (vgl. SPhH, 27f). Seinsursprünglich ist ein Gegenstand, wenn er seinem Wesen nach durch keinen anderen Gegenstand geschaffen werden kann. Ein Gegenstand ist dagegen seinsabgeleitet, wenn er so geschaffen werden kann. Wenn ein seinsursprünglicher Gegenstand existiert, dann existiert er deshalb, weil er seinem Wesen nach nicht vermag, nicht zu existieren. Das Wesen „zwingt“ ihn zur Existenz. Ein solcher Gegenstand enthält die Quelle seines Seins in sich selbst. Die Konsequenz ist, dass der seinsursprüngliche Gegenstand durch keinen anderen Gegenstand vernichtet werden kann. Wenn dagegen ein Gegenstand seinsabgeleitet ist, so liegt es auch in seinem Wesen, dass er nur dank dem Geschaffensein durch einen anderen Gegenstand existiert. Dies ist die absolute (unbedingte) Seinsabgeleitetheit eines Gegenstandes, die von der zufälligen zu unterscheiden ist. Unser Autor behauptet ferner, dass während ein seinsursprünglicher Gegenstand offenbar gleichzeitig seinsautonom sein muss (aber nicht umgekehrt), kann hingegen ein
375 seinsabgeleiteter Gegenstand entweder seinsautonom oder seinsheteronom sein (vgl. SEW I, 87f). Das drittte Gegensatzpaar der existentialen Momente ist stark „mereologisch“ geprägt. Nach Ingarden ist ein Gegenstand seinsselbständig, wenn er seinem Wesen nach zu seiner Existenz die Existenz keines anderen Gegenstandes erfordert, welcher ‚ mit ihm innerhalb der Einheit eines Ganzen zusammensein müsste’. Seinsunselbständig hingegen ist ein Gegenstand, wenn das Gegenteil der Fall ist. Verdeutlichen wir dies mit zwei Beispielen: (1) Das Moment „Rot“ ist im Ganzen „rote Farbe“ seinsunselbstständig enthalten, weil es mit dem im demselben Ganzen auftretenden Moment „Farbigkeit“ zusammen sein muss. Es gibt keinen „roten“ Gegenstand, in welchem zwar das „Rot“, aber nicht die „Farbigkeit“ – beides als individuelle Momente genommen – auftreten; (2) Die „rote Farbe“ kann nicht abgesondert für sich ohne den betreffenden Gegenstand, dessen Eigenschaft sie ist, existieren, sondern nur im Zusammensein mit ihm. Ingarden differenziert zwischen mehreren Arten von Seinsunselbstständigkeit (SU) (vgl. SEW I, 115f). 56
57
Hier müssen wir einige Bemerkungen machen: (1) Seinsabgeleitetheit ist keinesfalls mit dem Ursache-Wirkung-Verhältnis gleichzusetzen (vgl. dazu 3§5 [Kap. IV]); (2) Ingarden betont ganz deutlich den Unterschied zwischen seinen eigenen Begriffen und denen der Scholastik, unter deren Einfluss auch Descartes, Spinoza und Leibniz standen („esse a se“ [Seinsursprünglichkeit], „esse ab alio“ [Seinsabgeleitetheit]). Die von ihm gebrauchten Begriffe sind also rein ontologisch und setzen deshalb keine tatsächliche Existenz des seinsursprünglichen bzw. seinsabgeleiteten Gegenstandes voraus. Die scholastischen Begriffe haben dagegen einen metaphysischen Charakter, d.h. wenn sie verwendet werden, treten sie in Sätzen auf, die ein derartiges Seiendes als etwas tatsächlich Vorhandenes feststellen; (3) Nach J. Wolenski (vgl. [1995], 79f) müssen die Ingardenschen Begriffe „Seinsursprünglichkeit“ und „Seinsabgeleitetheit“ noch präzisiert werden. Als geeignetes Mittel dazu schlägt er die „modale Logik“ vor. Es sind also: (1) SU höherer und niedrigerer Stufe – das Moment „rote Farbe“ als Eigenschaft eines individuellen Ganzen ist von einer niedrigeren Stufe der SU als das in ihr auftretende „Rot- oder Farbigkeit-Moment“; (2) Eindeutig und vieldeutig relative SU – während das „Rot-Moment“ ganz eindeutig das Moment der „Farbigkeit“ erfordert, bedarf das Moment der „Farbigkeit“ nur irgendeiner der verschiedenen Farbqualitäten („rot“, „gelb“ usw.) zu seiner Ergänzung und damit 56
57
376 Schließlich spricht Ingarden von seins-(un)abhängigen Gegenständen. Ein Gegenstand ist seinsunabhängig, wenn er nicht nur seinsselbständig ist, sondern überdies zu seiner Existenz – ihrem materialen Wesen nach – keines anderen seinsselbständigen Gegenstandes bedarf. Dagegen ist ein Gegenstand seinsabhängig, wenn er trotz seiner Seinsselbständigkeit die Existenz eines anderen seinsselbständigen Gegenstandes (und zwar eines seinem materialen Wesen nach entsprechend bestimmten) wesensmäßig fordert (vgl. SPhH, 30). Als Beispiel könnte man hier etwa das Verhältnis zwischen dem menschlichen Organismus und dem Sauerstoff vorbringen. Obwohl beide (Organismus und Sauerstoff) seinsselbständig sind, hängt die Existenz des menschlichen Organismus vom Sauerstoff ab. Hier liegt also eine einseitige Seinsabhängigkeit vor (vgl. SEW I, 122). Mit der Hilfe der oben genannten grundlegenden existentialen Momente kann man nach Ingarden die Existenzweisen von Gegenständen bestimmen. Unser Autor unterscheidet zwischen zwei Ebenen der Existenzweisen (A und B), wobei B noch weiter zu präzisieren ist. Wir können dies mit folgendem Schema darstellen: 58
Absolute Existenz bzw. Sein (E)
Ideale E
Reale (zeitlich bestimmte) E Gegenwart
Ereignisse
Relative E
(rein) Intentionale E
+ Vergangenheit +
Zukunft
Vorgänge In der Zeit verharrende Gegenstände
Erklärung des Schemas: Ein Gegenstand kann entweder eine absolute oder eine relative Existenzweise haben. Er hat eine absolute (überzeitliche) seiner Existenz; (3) Materiale und formale SU – SU hat ihren Grund entweder in qualitativer (materialer) Eigenheit (eines Moments) oder in der reinen Form des Gegenstandes; (4) Einseitige und gegenseitige SU – wenn sowohl X relativ zu X’ als auch X’ zu X ist, dann liegt gegenseitige SU vor. Sollte das nicht der Fall sein, so ist es nur einseitige SU. Andere Beispiele stellen das Vater-Sohn-, Ehemann-Ehefrau-Verhältnis usw. dar. 58
377 Existenzweise, wenn er zugleich seinsautonom, -ursprünglich, -selbständig und –unabhängig ist. Wenn er dagegen in seiner Seinsweise mindestens einen Gegensatz aufweist, ist seine Existenzweise relativ (vgl. SEW I, 123). Die relative Existenzweise eines Gegenstandes kann wiederum in dreierlei Form auftreten: ideale, reale und (rein) intentionale Existenzweise. Ideale (außerzeitliche) Existenzweise kommt nach Ingarden mathematischen Gegenständen, logischen Gebilden, Ideen, idealen Qualitäten (Wesenheiten) zu. Entscheidend sind hier folgende existentiale Momente: Seinsautonomie, Seinsursprünglichkeit, Nicht-Aktualität (Potentialität), Seinsselbständigkeit (oder Seinsunselbständigkeit) und Seinsunabhängigkeit (oder Seinsabhängigkeit). Im Falle der (rein) intentionalen (möglichen) Existenzweise geht es dagegen vor allem um literarische (Kunst-)Werke, die durch Seinsheteronomie, Seinsabgeleitetheit, Inaktualität, Seinsselbständigkeit (und Seinsunselbständigkeit) und Seinsabhängigkeit gekennzeichnet sind (vgl. dazu 3 [Kap. V]). Die letzte Abwandlung der relativen Existenzweise stellt schließlich die reale (zeitlich bestimmte) Existenzweise dar. Sie ist für Ingarden deswegen von besonderer Bedeutung, weil sie fest mit seiner Idealismus-Realismus-Frage zusammenhängt (vgl. dazu 3§1e [Kap. IV]). Die reale Existenzweise kann folgende (miteinander zu verknüpfende) existentiale Momente beinhalten: Seinsautonomie (oder 59
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Wenn man den Zeit-Faktor mit einbezieht (vgl. dazu zwei weitere Abschnitte), so kommen der absoluten Existenz noch folgende existentiale Momente zu: Aktualität, Nicht-Spaltbarkeit und Dauerhaftigkeit. Wir erinnern uns nochmals daran, dass wir bei der Besprechung der Existenzweisen nur allgemein vorgehen können. Sonst würden wir uns vom Hauptziel der vorliegenden Abhandlung zu weit entfernen. Folglich gehen wir nicht im Einzelnen auf alle Ingardenschen „Kombinationen“ der existentialen Momente ein. Ingarden schließt prinzipiell nicht aus, dass statt der Seinsursprünglichkeit die Seinsabgeleitetheit vorkommen kann. Dann müsste man etwa Gott im Sinne der christlichen Philosophie ins Spiel bringen, der alle Gegenstände schafft. An dieser Stelle sei nochmals an das wesentliche Prinzip der Ingardenschen Methode erinnert, demgemäß sich die existentialen Momente (als Elemente der Begriffe der Existenzweisen) im Rahmen eines bestimmten Begriffs der Existenzweise nicht ausschließen dürfen. 59
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378 Seinsheteronomie), Seinsabgeleitetheit, Aktualität (oder Post-Aktualität, d.h. rückwärtige Abgeleitetheit, oder empirische Möglichkeit), Spaltbarkeit, Gebrechlichkeit, Seinsselbständigkeit (oder Seinsunselbständigkeit) und Seinsunabhängigkeit (oder Seinsabhängigkeit). Das Signifikante der realen Existenz besteht jedoch darin, dass sie durch ‚drei zueinander gehörende Momente notwendig hindurchgehen muss’, d.h. Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft. Das Gegenwärtige kann nicht „wie der Blitz“ nicht vergangen sein, und vor einem Augenblick konnte es keinesfalls nicht zukünftig sein. Das Vergangene musste zuvor gegenwärtig und noch vorher zukünftig sein. Und endlich kann auch das Zukünftige nicht zukünftig sein, ohne dass es einmal gegenwärtig und nachher auch vergangen sein wird (vgl. SEW I, 256f). Aus dem obigen Schema ergibt sich noch, dass die durch eine zeitbestimmte reale Existenzweise gekennzeichneten Gegenstände in folgende Grundtypen zu differenzieren sind: Ereignisse, Vorgänge und in der Zeit verharrende Gegenstände (vgl. SEW I, 193). Festzuhalten ist, dass nicht nur dieselben existentialen Momente (z.B. Seinsautonomie) für verschiedene Existenzweisen (z.B. die absolute und reale) charakteristisch sind, sondern auch verschiedene Bestimmtheiten eines (gemäß einer bestimmten Seinsweise) existierenden Gegenstandes durch verschiedene Seinsmomente charakterisierbar sein können. Dadurch 61
62
Wir werden diese Begriffe ausführlicher in der formal-ontologischen Analyse behandeln. Hier sei indes noch im Hinblick auf die heutige Ingarden-Forschung angemerkt: (1) Die Grundbegriffe der Ingardenschen Existentialontologie werden oft mit anderen Begriffen ausgedrückt, nämlich „Existenzweise“ mit „Vermeintem“ und „existentiale Momente“ mit „Meta-Vermeintem“. Existentiale Momente werden zudem als „Abstraktion zweiten Grades“ bezeichnet (vgl. Barski, J. [1992], 125f); (2) J. Wojtysiak (vgl. [1995], 87) ist sogar der Meinung, dass die Ingardensche These über die Vielfalt der Seinsweisen falsch ist. Entweder geht es um etwas Sekundäres der Existenz gegenüber, oder um etwas, was es überhaupt nicht gibt. Vgl. Haefliger, G. (1994), 207. Nach Haefliger könnte man die Ingardensche Analyse der Existentialproblematik auf folgende drei Thesen reduzieren: (1) „Existenz“ ist keine Eigenschaft von Realia; (2) „Existiert“ ist als äquivoker Term zu klassifizieren und (3) „Existenz“ ist kein gewöhnliches Klassifikationsprinzip (vgl. ebd. 10). 61
62
379 kann Ingarden auch die mit der realen Welt zusammenhängenden Faktoren mit einbeziehen. c. Relevanz des Zeitfaktors Aus dem vorangehenden Abschnitt ergibt sich, dass Ingarden bei der Formulierung der Existenzweisen desgleichen auf den Zeitfaktor angewiesen ist. Dies kommt insbesondere ganz deutlich bei der realen Existenzweise (RE) vor, die einerseits durch drei Abwandlungen (Gegenwart, Vergangengeit, Zukunft) notwendig hindurchgehen muss, andererseits in drei Formen (Ereignissen, Vorgängen, in der Zeit verharrenden Gegenständen) in Erscheinung tritt (vgl. BM, 176f). Auf die Frage: Welche Konsequenzen hat diese ontologische Entscheidung? antworten wir, unser Autor wolle damit seine realistische Position der idealistischen Position Husserls gegenüber unterstreichen. Daher gilt es das Element der Zeit bei Ingarden aus existential-ontologischer Sicht genauer zu erfassen. Das Vorhandensein des lebendigen Gedächtnisses, die sich vollziehenden willkürlichen und unwillkürlichen Erinnerungen sowie die Einstellung des Bewusstseinssubjekts auf die Zukunft hin haben zur Folge, dass wir unsere Gegenwart immer als eine in das einheitliche Ganze der Zeit eingefügte Phase (als Kontinuum) erleben. Wir leben nach Ingarden in einer „phänomenalen“ Zeit, von der es stets verschiedene Abwandlungen gibt, wie etwa „monosubjektive“ (private) oder „intersubjektive“ (gemeinsame) Zeit usf. Die phänomenale Zeit hat grundsätzlich mit der mit Uhren gemessenen Zeit (d.h. der allgemeinen Zeit) nichts gemeinsam, selbst wenn sie auf die Uhrzeit bezogen wird und dadurch neue Aspekte gewinnt (vgl. ELK, 117f). Die phänomenale Zeit, die auch die „konkrete“ Zeit genannt wird, unterscheidet sich außerdem sowohl von der abstrakten, bloß 63
Vgl. Swiderski, E.M. (1994), 183f. Swiderski versucht die zentralen Punkte der Auseinandersetzung Ingardens mit dem Idealismus Husserls hervorzuheben, die für die Existenz-Frage entscheidend sind (wir haben uns mit diesen prinzipiell im Kap. I befasst). Er weist auch auf die Relevanz des Menschen als personalen Wesens für die Explikation der Existenzproblematik (vor allem für die Klärung der existentialen Momente wie „Seinsunabhängigkeit“ und „Seinsselbständigkeit“) hin. 63
380 mit mathematischen Symbolen bestimmten als auch von der physikalischen Zeit. Die konkrete Zeit ist eine erfüllte Zeit durch das, was in ihr geschieht, sich ereignet oder verharrt. Sie ist also für unseren Autor im bestimmten Sinne „absolut“, d.h. sie ist die Zeit der jeweils in Betracht kommenden Gegenstände selbst, nicht aber eine bloß subjektiv bedingte, den Gegenständen lediglich „aufgedrängte“, aber ihnen selbst fremde Zeitform, wie etwa die Zeit im kantischen Sinne. Die konkrete Zeit ist den Gegenständen immanent, wesensmäßig zugehörig, obwohl gerade die Gegenstände sich in der Zeit befinden, entfalten usf. – und nicht umgekehrt (vgl. SEW I, 192f). Darum kann sie auch von dem Sich-in-ihrEreignenden, Sich-in-ihr-Vollziehenden oder In-ihr-Verharrenden nicht abgelöst werden (vgl. SEW I, 198). Ingarden differenziert zwischen zwei Auffassungen bzw. Erfahrungen der Zeit, welche auch verschiedene Deutungen (des Aufhörens) der Existenz (des Seins) erlauben. Nach der ersten Erfahrungsart der Zeit ist jedes zeitlich Seiende auf das Jetzt (Gegenwart) beschränkt, außerhalb dessen zwei Abgründe des absoluten Nichtseins offen stehen. Die Zeit und die sich in ihr vollziehenden Veränderungen stellen hier die einzige Wirklichkeit dar, der Mensch dagegen unterliegt entweder einer Vernichtung in diesen Veränderungen oder existiert im besten Fall nur als „reines Phantom“, als Ergebnis dieser sich in der Gegenwart abspielenden Veränderungen. Die zweite Erfahrungsart der Zeit fasst indes die Zeit nicht mehr als eine die Existenz vernichtende Macht auf. Hier existiert vielmehr sowohl das Vergangene als auch das Zukünftige. Im Mittelpunkt steht folglich der Mensch mit seiner sich fortsetzenden Existenz, die Zeit wird hingegen als etwas Abgeleitetes begriffen (vgl. BM, 43f; auch SEW I, 195). 64
Im Hinblick auf die Literaturproblematik spricht Ingarden noch von einer „dargestellten Zeit“, in welcher – trotz grundsätzlicher Modifikationen – die Grundstrukturen der Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft vorhanden sind (vgl. LK, 335). Was die Zeit bei Kant anbelangt, ist sie bekanntlich (in erster Linie) im Zusammenhang mit Raum zu verstehen. Beide bilden zusammen einen „formalen Rahmen“ für alle sinnlichen Anschauungen. Daher bezeichnen sie keine Beschaffenheit der Gegenstände selbst, sondern sie sind die spezifischen Bedingungen, unter denen der Mensch die Dinge wahrnimmt (vgl. KrV, B 35f). 64
381 All diese Gegebenheiten ermöglichen Ingarden die Formulierung von zwei weiteren existentialen Momenten: Aktualität, die mit der Aktivität der realen Existenz verbunden ist, und Dauerhaftigkeit (vgl. SEW I, 196f, 207f). Wie wir aber weiter sehen werden, erschöpfen diese keinesfalls das Problem der realen Existenzweise. d. Aufhören der Existenz. Berührungspunkte mit Heidegger „[…] ein ‚sterbliches Individuum muss ‚sterben’, also aus dem aktuellen Sein austreten […]“. (SEW I, 240) Das Charakteristische an der realen (zeitlichen) Existenz ist, dass sie einst aufhört zu existieren. Dieses Faktum erlaubt Ingarden zu zwei weiteren die Unvollkommenheit der realen Existenz zum Vorschein bringenden existentialen Momenten zu gelangen, nämlich zu Gebrechlichkeit und Spaltbarkeit. Während Gebrechlichkeit - kurzum - signalisiert, dass das reale Sein (in erster Linie) aus seinem Wesen heraus seine Vernichtung zulässt, besagt Spaltbarkeit dagegen, dass die Aktualität des realen Seins nur einen Moment seiner „konkreten Zeit“ erfüllt. Spaltbarkeit setzt Gebrechlichkeit voraus, aber nicht umgekehrt (vgl. SEW I, 256). Damit lässt sich unser Autor – hinsichtlich der in der Zeit verharrenden Gegenstände, hier ganz konkret hinsichtlich der menschlichen Lebewesen – auf die Ebene der Existentialphilosophie ein. Insbesondere lassen sich deutliche Merkmale feststellen, welche Ingarden in die Nähe eines Heideggers bringen, wenn dieser über das Phänomen des Todes reflektiert. Nach Heidegger ist der Tod eine Weise zu sein, die das Dasein übernimmt, sobald es ist. Sobald ein Mensch zum Leben kommt, ist er alt genug zu sterben. Der Tod, den Heidegger als „Enden des Daseins“ oder auch als „das Sein zum Ende“ u.ä. bezeichnet, ist im weitesten Sinne ein Phänomen des Lebens. Das Sein zum Tod entsteht nicht erst durch eine zuweilen 65
Vgl. Ogrodnik, B. (2000), 29. Hier interessiert uns vor allem die Gebrechlichkeit, weil sie deutlicher mit dem Phänomen des Todes zusammenhängt. 65
382 auftauchende Einstellung, sondern gehört ‚wesenhaft’ und ‚ursprünglich’ zur Geworfenheit des Daseins. Das Dasein stirbt faktisch, solange es existiert, aber zunächst und zumeist in der Weise des Verfallens. Die Existenz, die Faktizität, das Verfallen charakterisieren das Sein zum Ende und sind konstitutiv für den existentialen Begriff des Todes. Redet Ingarden über den Begriff der Gebrechlichkeit, begibt er sich zweifelsohne in dieselbe Richtung wie Heidegger. Das ganze Existenzsystem z.B. eines Menschen befindet sich nach unserem Autor in einem unstabilen Gleichgewicht. Es gibt zwei Elemente dieses Existenzsystems: (1) das zugrunde liegende verharrende selbständige Kernwesen; und (2) das sich erst konstituierende, die obere Sicht seines Bestandes bildende, dem zeitlichen Vorübergehen unterworfene und von der Umgebung Seinsabhängige. Beide Elemente halten einander ständig (bis zu einem gewissen Zeitpunkt) insofern Gleichgewicht, als das Erste im Übergewicht bleibt, obwohl es stets durch das Zweite bedroht ist. Bleibt das Übergewicht des Kernwesens in längeren Lebensphasen aufrechterhalten, so wird die „organische Entwicklung“ des menschlichen Individuums gesichert. Diese Entwicklung besteht darin, dass eine strenge Ordnung in der Aufeinanderfolge der Verwandlungsphasen eingehalten wird, und zwar von der keimhaft andeutungsmäßigen Verkörperung der die individuelle konstitutive Natur bestimmenden Qualität an, über ihre immer weiter fortschreitende Entfaltung bis zu ihrer Vollendung des gesamten Seins des Individuums. Das Ausmaß des Übergewichts des Kernwesens unterliegt stets verschiedenen Schwankungen. Es kann allezeit dazu kommen, dass die Bedrohung seitens des zeitabhängigen Elements das zulässige Maß überschreitet – mit der Folge, dass das Gleichgewicht zerstört wird, und ein kürzer oder länger währender Zersetzungsvorgang anfängt, in dem das Individuum untergeht. Darin zeigt sich die Gebrechlichkeit der realen Existenz (vgl. SEW I, 239f). 66
67
Vgl. Heidegger, M., SuZ, 245f, 251f. Ausführlicher können wir leider nicht darauf eingehen. Der Begriff „Natur“ ist bei Ingarden keinesfalls eindeutig. Er spricht auch von der Natur als immerwährender Bemühung, die Grenzen der im Menschen steckenden „Tierheit“ zu überwinden, indem sich der Mensch als Schöpfer der Werte betätigt (vgl. BM, 26). 66
67
383 Diese Gebrechlichkeit ist jedoch nicht nur auf die prinzipielle im Wesen des Individuums gründende Möglichkeit seiner Vernichtung allein zurückzuführen, sondern auch auf die Störung seiner organischen Entwicklung durch äußere Faktoren. Die prinzipielle Sterblichkeit des Individuums schließt die Gebrechlichkeit seiner Existenz ein. Ein sterbliches Lebewesen kann früher sterben, bevor es sich organisch entwickelt und die Vollendung seiner Natur erlangt hat. Der faktisch eingetretene Tod ist dann auf äußere Bedingungen zurückzuführen und wird durch sein Wesen lediglich zugelassen. Das Wesen des Individuums ist also einerseits auf die „organische Entwicklung“ seines Selbst angelegt, andererseits entfacht es zugleich von sich aus einen Rückbildungsprozess. Dieser besteht zum einen im sukzessiven Zurücktreten der das Ganze des Individuums durchdringenden Qualität der individuellen Natur, zum anderen in den anschließenden Zersetzungsvorgängen und schließlich in der Selbstauflösung des Individuums, d.h. in dem Tode. Das „tote“ Ding geht graduell zugrunde, bis eine Einwirkung es völlig vernichtet (vgl. SEW I, 240f). Festzuhalten ist, dass sowohl für Ingarden als auch für Heidegger eine ständige Unabgeschlossenheit des Daseins im ‚Wesen seiner Grundverfassung’ liegt. Welche Konsequenzen ergeben sich daraus für die Idealismus-Realismus-Debatte? e. Konsequenzen für die Idealismus-Realismus-Debatte: Existentialontologische Bestimmung der Position Husserls Die existential-ontologischen Analysen stellen für Ingarden einen Hintergrund dar, auf dem er die Idealismus-Realismus-Frage erörtert. Diese Frage beinhaltet zwei Elemente: die reale Welt und das reine Bewusstsein. Sobald nach dem Verhältnis zwischen den beiden gefragt wird, erhält sie erst in dem in der Auseinandersetzung mit Husserl wurzelnden Ansatz Ingardens ihren kompletten „Sinn“. Unserem Autor geht es in erster Linie um das Sosein der realen Welt. Er fragt: Ist die Existenz der realen Welt auf das reine Bewusstsein angewiesen (so wie es Husserl will) oder nicht? (vgl. SPhH, 22f). Mit Hilfe der oben genannten existentialen Momente (Kategorien) kann Ingarden dieselbe Frage viel expliziter (rein ontologisch) formulieren,
384 etwa: Gehört es zur Idee der realen Welt, dass sie seinsautonom, ursprünglich, -selbständig und –unabhängig ist? Oder gilt eher das Gegenteil: zur Idee der realen Welt gehört, dass sie seinsheteronom, abgeleitet, -unselbständig und –abhängig ist? Kommen überdies die existentialen Momente zu dem reinen Bewusstsein? (vgl. SPhH, 31). Wir können und wollen nicht alle von Ingarden vorgebrachten Möglichkeiten berühren, geschweige denn analysieren. Wir beschränken uns lediglich auf die Skizzierung der idealistischen Position Husserls, die der Gegenstand der Ingardenschen Kritik ist, und auf die Zusammenstellung von prinzipiellen Begriffen, die unserem Autor für die Formulierung der endgültigen Ergebnisse seiner existential-ontologischen Analyse unentbehrlich sind. Den transzendental-idealistischen Husserlschen Standpunkt kann man aus existential-ontologischer Sicht als „idealistischen Abhängigkeitskreationismus“ bezeichnen. Dabei müssen freilich zwei differenzierende Faktoren ins Auge gefasst werden: Zum einen haben wir es bei Husserl mit einer metaphysichen Entscheidung zu tun, während es sich bei Ingarden um eine ontologische Entscheidung handelt. Zum anderen sind die Husserlschen Begriffe nicht immer ohne weiteres im Sinne der Ingardenschen Begrifflichkeit zu deuten. Trotzdem ließe sich nach Ingarden behaupten, dass die reale Welt – so wie sie Husserl im Rahmen seines transzendentalen Idealismus auffasst – seinsheteronom, abgeleitet, -selbständig und –abhängig von dem reinen Bewusstsein sei (vgl. SEW I, 151f). Die reale Welt ist seinsheteronom, weil sie so im Verhältnis zum reinen Bewusstsein steht, dass das Sein des Bewusstseins die Bedingung der Existenz der Welt ist. Der realen Welt mangelt es also an Seinsautonomie. Zugleich ist die reale Welt vom reinen Bewusstsein seinsabhängig, aber nicht umgekehrt. Dafür spricht einerseits, dass Husserl die Möglichkeit von Bewusstseinserlebnissen voraussieht, in welchen es überhaupt zu keiner Konstituierung realer Gegenstände kommt, 68
69
Da die Ingardensche Methode (durch „Kombination“ der existentialen Momente) ausführlich vorzugehen erlaubt, ergeben sich für unseren Autor zahlreiche Möglichkeiten (zu Beginn 64), die später reduziert werden. Zur Problematik des transzendentalen Idealismus vgl. 2§3b (Kap. I) der vorliegenden Arbeit. Was Husserl anbelangt, vgl. Hua III-V, XVII und Hua Dok II/2. 68
69
385 andererseits, dass er dem reinen Bewusstsein das „absolute“ Sein im Sinne „nulla re indiget ad existendum“ (=Seinsautonomie und Seinsunabhängigkeit) zuschreibt. Darüber hinaus ist die reale Welt seinsabgeleitet, weil sie für Husserl – so wie jeder reale Gegenstand – ein intentionaler Gegenstand ist, der sich in den Bewusstseinsakten konstituiert. Dass die reale Welt für Husserl seinsselbständig ist, führt Ingarden auf den Husserlschen Gebrauch des Begriffs „Transzendenz“ zurück. Das Transzendente ist „eo ipso“ den Bewusstseinsakten gegenüber (vgl. SEW I, 146f; EPhH, 99f). Da der „idealistische Abhängigkeitskreationismus“ von Ingarden abgelehnt wird, stellt sich die Frage, welche Lösung unser Autor als Alternative auf der existential-ontologischen Ebene vorschlägt. Mit der Beachtung aller (in den vorangehenden Abschnitten genannten) existentialen Momente beinhaltet seine realistische Lösung vier Möglichkeiten (A, B, C, D). So ergibt sich folgendes Schema: 70
Die reale Welt (RW) ist von dem reinen Bewusstsein (RB) 1. seinsautonom 1. seinsautonom * B + (RW + RB = Ganzes) * A außer (statt 2 2. –selbständig 2. –selbständig => beiderseitig3. –unabhängig 3. –abhängig seinsunselbständig) 4. –abgeleitet 4. –abgeleitet ↓
↓
↓
↓
(A) Absoluter (B) Realistischer
(C) Realistischer
(D) Modifizierter
Kreationismus Abhängigkeits-
Einheitskreationismus
realistischer
Kreationismus
Einheitskreationismus
Erklärung des Schemas: Zu (A) – RW ist von RB, dem eine schöpferische Kraft zugeschrieben wird, (im strengen Sinne) geschaffen. Die Anerkennung bzw. Verwerfung dieser Position hängt vor allem von material-ontologischen oder metaphysischen Annahmen über das Wesen von RB ab; Zu (B) – RW ist nicht nur von RB geschaffen, sondern sie
70
Zum Begriff der Transzendenz vgl. 2§3a (Kap. I) der vorliegenden Abhandlung.
386 bildet auch RB gegenüber ein in sich abgeschlossenes Ganzes, das jedoch von RB seinsabhängig ist. RW braucht also zu ihrem Fortbestehen RB; Zu (C) – dieser Auffassung gemäß gelten alle Faktoren von (B) und zusätzlich, dass RW mit RB ein Ganzes bildet; Zu (D) – RW verhält sich zu RB so wie in (A) – mit dem Unterschied, dass hier eine beiderseitige Seinsunselbständigkeit zwischen den beiden vorliegt (vgl. SEW I, 266; 141f). All diese existential-ontologischen Existenzweisen der realen Welt und des reinen Bewusstseins, die eindeutig realistische Anzeichen haben, müssen jedoch notwendig in einer formal-ontologischen Analyse weiter untersucht werden. 71
72
§2. Formal-ontologische Analyse Es wurde oben bereits angedeutet, dass die Seinsweise eines Gegenstandes in einem notwendigen Zusammenhang mit seinem formalen und materialen Aufbau steht. In diesem Abschnitt gilt es der Frage nachzugehen: Welchen formalen Aufbau muss ein Gegenstand und dessen Elemente haben, wenn sie in einem bestimmten Seinsmodus existieren sollen, insbesondere wenn sie real sein sollen? (vgl. SPhH, 37). Wir beginnen mit der Erläuterung formaler Grundkategorien, die hier eine grundlegende Rolle spielen.
Man könnte fragen: Gab es solche Auffassungen tatsächlich innerhalb der abendländischen Philosophie? Es ließe sich wohl in Bezug auf (A) und (B) vermuten: (A) liegt der „objektive Idealismus“ Hegels nahe – allerdings – in einer metaphysischen Umwendung. Denn das reine Ich Hegels ist mit dem „reinen Ich“ von konkreten reinen Bewusstseinserlebnissen nicht zu identifizieren. Es gilt vielmehr in Hegels Philosophie des Geistes die bekannte Aufteilung (subjektiver, objektiver und absoluter Geist) (vgl. Hegel, W.G., E, §381f; auch VPhW, I 69f und VÄ I, 130f). (B) ist in der christlichen Metaphysik zu finden. Es zeigt sich immer deutlicher, dass die reale Welt sich mit dem reinen Bewusstsein nur im Sinne der „Verbindung aufgrund der intentionalen Akte“ verbinden lässt. Eine Art „ontische Verbindung“ kommt dagegen (zumindest aus Sicht des bisherigen Standpunkts unserer Analyse) nicht in Frage (vgl. Hanneborg, K. [1966], 407). 71
72
387 a. Formale Grundkategorien Aufgrund der Ergebnisse unserer bisherigen Analyse können wir durchaus sagen, dass ein Gegenstand X (so oder so) existiert. Wir können aber noch nicht sagen, was (bzw. wie) dieser Gegenstand X ist. Ganz allgemein ausgedrückt handelt es sich um die Fragen: „Was ist das?“ „Was ist X?“ „Was ist das, das X?“ (vgl. TJFPL, 343). Wie es sich noch herausstellen wird, kommt Ingarden einerseits bei der Behandlung dieser Fragen nicht ohne die aristotelischen Begriffe „Form“ und „Materie“ aus. Andererseits vollzieht er jedoch eine „spezifische“ dreifache Differenzierung zwischen den grundlegenden ontischen Begriffspaaren: (A) Form I/Materie I, (B) Form II/Materie II, (C) Form III/Materie III ↓ a+b ↓
↓
Spezialfall
Spezialfall
1 +2
1+2+3
↓ Spezialfall
↓ Spezialfall
Das Begriffspaar (A) besteht aus „formal-ontologischen Begriffen“. Unter Form I versteht Ingarden das „radikal Unqualitative als solches“, in dem das „Qualitative im weitesten Sinne“ (= Materie I) steht. Es gibt zwei Fälle der Form I: (1) das Bestimmen von etwas und (2) das Subjekt von Bestimmungen (Träger, Substanz) usf. Die Form I wird auch „analytische“ oder „kategoriale“ Form des Gegenstandes genannt. Was das Verhältnis zwischen Form I und Materie I anbelangt, gilt: Es gibt keine Form I, ohne dass sie die Form einer Materie I wäre, und umgekehrt: es gibt gar keine ungeformte Materie (vgl. SEW II/1, 38, 5f, 52). 73
Hier sind zwei Hinweise wichtig: (1) Diese beiden Spezialfälle erschöpfen nicht alle möglichen Abwandlungen der Form I, die bereits bei Aristoteles und Kant im Begriff „Kategorie“ aufzuleuchten beginnt, jedoch erst bei Husserl zu einer relativ vollkommenen Ausprägung gelangt. Sie sind nach Ingarden bloß die bekanntesten Formen; (2) Ingarden gebraucht die Begriffe „Materie“ und „Inhalt“ abwechselnd. 73
388 Im Begriffspaar (B) treten aristotelische Akzente auf. Die Form II und Materie II bezeichnet Ingarden daher als „aristotelische Begriffe“. Bezüglich der Form II, die dem Bestimmenden als solchem (morphe) gleicht, sind drei Spezialfälle zu unterscheiden: (1) Eigenschaft von etwas (poion einai); (2) die Natur von etwas (ti einai) und (3) das Wesen von etwas (to ti en einai). Dagegen hat die Materie II erst einmal zwei Abwandlungen: (a) das in sich jeder Bestimmung Bare, aber nicht der Bestimmung Unterliegende (= die reine „erste“ Materie im Sinne von Aristoteles) und (b) das der (weiteren) Bestimmung Unterliegende, wobei in (b) ein Spezialfall hervorzuheben ist, nämlich das seiner Natur nach qualitativ bestimmte Subjekt von Eigenschaften. Nach Ingarden können sowohl die Form II als auch die Materie II in ihrer Materie I anders bestimmt sein. Sie unterscheiden sich voneinander lediglich hinsichtlich ihrer Form I: Während die Form II in der Form I/Spezialfall 1 steht, befindet sich hingegen die Materie II in der Form I/Spezialfall 2. Trotzdem gehören die Formen II und Materien II generell zusammen. Ihr Verhältnis zueinander gestaltet sich aufgrund dessen, welche Materie I sie in sich enthalten (vgl. SEW II/1, 38f, 54). Schließlich haben wir es nach unserem Autor beim Begriffspaar (C) mit „relational-technischen Begriffen“ zu tun. Als Form III gilt hier die Anordnung der Teile eines Ganzen. Unter dem Spezialfall der Form III ist dagegen die „organische“ Form zu verstehen. Der Bestand der Teile eines Ganzen wird Materie III genannt (vgl. SEW II/1, 39). Abschließend ist festzuhalten, dass für die formal-ontologische Analyse Ingardens in erster Linie das Begriffspaar (A) von Bedeutung ist (vgl. SEW II/1, 56). Dies wird beim Betrachten der Gegenstandsproblematik besonders deutlich. 74
b. Problematik des Gegenstandes Das Begriffspaar (A) bringt gewisse Probleme mit sich, welche vor allem mit der Form I zusammenhängen. Die Form I ist nämlich nur ein im Das Begriffspaar (C) weist darauf hin, dass wir bei Ingarden auf mereologische Probleme stoßen (vgl. dazu 3§3 [Kap. IV]).
74
389 Konkretum zu unterscheidendes Abstraktum. Sie ist mit jeder Materie (Materie I) „mitgegeben“. Die Bestimmung der Form I ist daher eine zentrale Aufgabe der Ontologie. Da es viele Typen von Gegenständen gibt, gibt es auch viele Formen, die sowohl mit deren Materie als auch mit deren Existenzweise übereinstimmen müssen. Dies wollen wir aufweisen, indem wir in drei Schritten vorgehen: (1) Form des Gegenstandes; (2) Form des Sachverhalts und Verhältnisses und (3) Typen der Form des Gegenstandes. 75
b.a. Form des Gegenstandes Dass die Rede über die Gegenstandsproblematik umfassend ist, lässt sich bereits mit einem einfachen Beispiel aufweisen: „Ich betrete ein halbdunkles Zimmer, in dessen linker Ecke sich ein Tisch befindet. Auf dem Tisch sehe ich etwas stehen. Dieses Etwas – nennen wir es Gegenstand X – kann ich aufgrund der großen Entfernung (das Zimmer ist groß) nicht ganz erkennen. Darum frage ich einen Freund von mir (er kennt sich hier ganz gut aus): Was ist das? Ich frage zuerst nicht: Wie ist das? Mir geht es also in erster Linie nicht um die Eigenschaften des auf dem Tisch stehenden Gegenstandes X, sondern um dessen ‚Washeit’. Der Freund antwortet: Das ist eine Lampe“ (vgl. TJFPL, 344). Nun sehen wir, dass ein Gegenstand keinesfalls nur ein bloßes Gebilde aus Merkmalen bzw. Eigenschaften ist. Seine Struktur ist viel komplizierter: Vgl. Ogrodnik, B. (2000), 37f. Man könnte hier schon die allgemeine Frage nach dem Verhältnis der Form zu der Materie stellen: Muss der Veränderung der Materie die Veränderung der Form notwendig folgen? Die Antwort ist offensichtlich verneinend. Bereits ein einfaches Beispiel kann das verdeutlichen: Stellen wir uns vor, wir haben ein mit Wasser gefülltes Glas. Das Wasser stellt die Materie dar, die Form ist dagegen auf die Gestalt (Größe, Umfang usf.) des Glases zurückzuführen. Jetzt füllen wir dasselbe Glas mit (der gleichen Menge) Bier. Dann gilt Bier als die Materie, die Form bleibt aber unverändert. Wie wirkt sich dieses Experiment auf die formale Ontologie aus? Hat die Möglichkeit der formalen Ontologie zur Voraussetzung, dass überhaupt keine Veränderung der Form im Falle der Veränderung der Materie auftritt? Nach Ingarden würde es ausreichen, dass sich nicht alles in der Form bei einer bestimmten Veränderung der Materie verändert, z.B. gewisse formale Momente bleiben unverändert. Um dies aber festzustellen, muss eine Analyse des Gegenstandes durchgeführt werden. 75
390
„Ich sehe ein Etwas, was die ‚Form einer Lampe’ hat“. Nach Ingarden sind hier folgende grundlegende Begriffe entscheidend: Subjekt von Eigenschaften, Eigenschaft (-en), konstitutive Natur und Wesen. Versuchen wir dies auch mit einem Schema darzustellen: Gegenstand
(A) Struktur des Gegenstandes
SE
+
Form + Materie (= TE)
E
(B) Formale Aspekte (Züge) in der S
VAG
EGO
VG
Form + Materie
(= KN) Individualität Wesen
1,2,3,4,5,6
Seinsautonomie Intentionalität Idealität
Legende: SE – Subjekt der Eigenschaften, E – Eigenschaften, TE – Träger der Eigenschaften, KN – konstitutive Natur, S – Struktur des Gegenstandes, VAG – Vollbestimmtheit und Abgeschlossenheit des Gegenstandes, EGO – Einfachheit des Gegenstandes im ontischen Sinne, VG –Verborgenheit des Gegenstandes. Die Problematik des Gegenstandes – Ingarden denkt in erster Linie an einen ursprünglich individuellen seinsautonomen Gegenstand – beinhaltet die Analyse von zwei fundamentalen Bereichen (A + B), d.h. der formalen
391 Grundstruktur des Gegenstandes und der formalen Aspekte in der Struktur dieses Gegenstandes. Die grundlegende Struktur des Gegenstandes besteht aus dem Subjekt der Eigenschaften (SE) und den Eigenschaften selbst. Da beide einander notwendig ergänzen, ist es undenkbar, den Begriff des Subjekts ohne den der Eigenschaften zu definieren (und umgekehrt). Das SE bildet den „identischen Beziehungspunkt“ aller Eigenschaften, aus dem sie gewissermaßen hervorgehen und auf den sie alle seinsmäßig angewiesen sind. Sowohl das SE als auch die Eigenschaften zerfallen in Form und Materie. Im SE wird die Materie durch die konstitutive Natur gebildet, während die Form darin besteht, Träger der Eigenschaften zu sein (vgl. SEW II/1, 60f) Das Bestimmtwerden des Gegenstandes durch eine Eigenschaft erfordert von sich aus eine bestimmte Struktur des Subjekts der Eigenschaften (d.h. des Selbst des Gegenstandes). Und diese verlangt von sich aus die unmittelbare Bestimmung durch die konstitutive Natur (KN) des Gegenstandes (durch „unmittelbare µορφή“). Die KN ist die tiefste Schicht des Gegenstandes. Sie stellt die unmittelbare Qualifizierung des Subjekts dar. Die KN des individuellen Gegenstandes ist also die Materie, welche das Gegenstandssubjekt vollständig bestimmt. Das die Natur bildende Moment (d.h. die Materie der KN) ist ein nicht mehr differenzierbares, qualitativ selbstständiges Moment. Die KN ist – im 76
77
Ingarden differenziert zwischen „ursprünglich individuellen Gegenständen“ (= eine bestimmte Person im psychologischen Sinne, z.B. Immanuel Kant) und „individuellen Gegenständen höherer Stufe“ (=eine bestimmte Familie, z.B. die Familie Kants). Andere Arten von Gegenständen (d.h. Idee und rein intentionaler Gegenstand) wurden von uns bereits (bzw. werden noch später in einem anderen Kontext) kurz behandelt (vgl. 3§1 [Kap. II], 3§1 [Kap. III] und 3 [Kap. V]). Das muss für die Zwecke der vorliegenden Abhandlung ausreichen. Hier beruft sich Ingarden auf Aristoteles (vgl. Form II und Materie II im Abschnitt 3§2a [Kap. IV]). Ingarden will noch strenger als Aristoteles vorgehen (vgl. SEW II/1, 451). Er kann dies aber nicht ohne aristotelische Begriffe tun. Deshalb liegt die Behauptung nahe, dass es unserem Autor hier in erster Linie darum geht, was Aristoteles als „zweite Substanz“ (=Form als Washeit [eines Gegenstandes]) und „zweite Materie“ (im Sinne etwa der Bronze einer Statue) bezeichnet (vgl. Met. VII, 1f). 76
77
392 Gegensatz zu den Eigenschaften, von denen es ihrem Wesen nach im Gegenstande mehrere geben muss – für jeden Gegenstand nur eine. Jeder individuelle, seinsautonome Gegenstand ist also von einer und nur einer Natur. Es gibt verschiedene Arten von KN, je nachdem, welche Materie sie ausmacht (vgl. SEW II/1, 79f; TJFPL, 347). Mit der KN ist das Wesen des Gegenstandes eng verbunden. Was durch die KN im Gegenstand postuliert wird, bildet desgleichen das Wesen des Gegenstandes (vgl. TJFPL, 384). Das keinen Veränderungen unterliegende Wesen stellt im Gegenstand einen „kompakten Kern“ dar, der den Gegenstand unbedingt bestimmt. Daher beinhaltet das Wesen das, was im Gegenstand notwendig ist, damit dieser „selbst“ sein kann. Das durch das Wesen bestimmte Ausmaß der Notwendigkeit deckt sich mit dem Bereich der notwendigen Verhältnisse zwischen den verschiedenen Elementen des Gegenstandes (d.h. seinen unerlässlichen Eigenschaften, den formalen und existentialen Momenten) und der KN (vgl. SEW II/1, 398f). Ingarden unterscheidet 6 Fälle des Wesensbegriffes, die wir bereits in 2§3b (Kap. II) ausführlicher behandelt haben. Hier werden sie nur samt ihren Beispielen erwähnt: (1) radikales Wesen (W) – Gegenstand ist mit 78
79
80
Dagegen kann es nach Ingarden viele „Quasi-Naturen“ geben, entsprechend den verschiedenen Allgemeinheitsstufen der in der KN enthaltenen unselbständigen qualitativen Momente, denen die Funktion des Naturseins intentional verliehen wird. So haben wir: (1) KN (im Sinne von „das Element-einer-Klasse-sein“) – ist eine volle individuelle Natur; und (2) Quasi-Natur (im Sinne von „dem Etwas-Sein“) – ist ein in KN synthetisch enthaltenes qualitativ unbestimmtes allgemeines Moment. Wir haben den Begriff des Wesens bei Ingarden einerseits im Zusammenhang mit der Analyse der Grundlagen des transzendentalen Idealismus Husserls behandelt. Da sprachen wir von zwei Deutungen des Wesens (vgl. 2§2c [Kap. I]). Andererseits sind wir darauf in 2§3b (Kap. II) ausführlicher eingegangen – im Kontext der Überwindung der Position Husserls durch Ingarden. Das werden wir hier nicht wiederholen. Vgl. auch dazu Ogrodnik, B. (2000), 48. Aber auch D. Wiggins (vgl. [1980], 120) scheint hier in die gleiche Richtung zu gehen, wenn er sagt: „Individuals have essences without which they would not ‚be what they are’ – would not exist […] The claim that Caesar is necessarily a man, that he cannot not […] be a man, is founded then, acocording to our elucidations of these matters, in Ceasar’s being such that it is impossible to envisage with respect to him his having any attribute or sortal property exlusive of his being a man“. 78
79
80
393 seinem Wesen ‚identisch’. Als Beispiel könnte man nach Ingarden gewissermaßen Gott nennen; (2) exaktes W – Beispiele der Gegenstände mit solchem Wesen sind die geometrischen Figuren; (3) im gemäßigten Sinne exaktes W – hier gehören gewisse reale Gegenstände, z.B. der Mensch; (4) rein materiales W – kennzeichnet reale Gegenstände mit schwacher Einheit, etwa Gas, Flüssigkeit; (5) einfaches W und (6) charakteristische Merkmale des Gegenstandes – wenn wir es mit einem Gegenstand zu tun haben, der weder innere Einheit noch die ‚eine’ KN aufweist (die KN ist hier also bloß eine Mischung von Qualitäten), können wir weder von Gegenstand stricto sensu noch von seinem Wesen sprechen. Alle sich im Zerfallprozess befindenden Gegenstände gelten als Beispiel (vgl. SEW II/1, 419f). Das Wesen des Gegenstandes erschöpft den ganzen Gegenstand nicht, weil er auch Eigenschaften haben kann, welche durch die Natur zwar nicht gegeben, aber durch sie zugelassen werden. Die Eigenschaften stellen in der formalen Struktur des Gegenstandes das grundlegende Element dar – offenbar neben dem Subjekt der Eigenschaften. Das ist aus dem obigen Schema ersichtlich. Eine Eigenschaft ist nach Ingarden das dem Gegenstand Zukommende, z.B. „das Braunsein von…“. Es gibt keine Eigenschaft ohne Gegenstand, dessen Eigenschaft sie ist, und es gibt keinen Gegenstand ohne dessen Eigenschaften. Jede Eigenschaft ist dem Gegenstand gegenüber, dem sie zukommt und den sie bestimmt, ‚seinsunselbständig’. Das eigentümliche Wesen der Eigenschaft eines Gegenstandes erschöpft sich jedoch nicht in ihrer Seinsunselbständigkeit und in ihrer „Funktion“ des Bestimmens. Alles, was es an einer Eigenschaft zu unterscheiden gilt, gehört letzten Endes zu dem betreffenden Gegenstand („entis“, und nicht „ens“). Zu unterscheiden sind drei Elemente: Materie, Form und Seinsweise, welche eine „Dreieinigkeit“, d.h. drei Seiten der „Eigenschaft von etwas“ bilden. Alle formalen und materialen Momente der Eigenschaft gehen auf Rechnung des Gegenstandes, so dass die Eigenschaft kein eigenes Subjekt von 81
D.h. sie sind nicht „unbedingt eigene“ Eigenschaften, sondern andere, vgl. nächste Fußnote. Mit dem Problem des Wesens hängt offensichtlich das Problem der Identität zusammen (vgl. dazu 4§2 [Kap. IV]). 81
394 Eigenschaften ist. Die Form der Eigenschaft ist also der Form des Subjekts der Eigenschaften gegenüber seinsunselbständig. Die Materie der Eigenschaft (=Beschaffenheit) dagegen, die nicht anders als „geformt“ sein kann, ist darüber hinaus der Form der Eigenschaft gegenüber seinsunselbständig (vgl. SEW II/1, 86f). Für einen Gegenstand sind darüber hinaus drei formale Aspekte relevant (vgl. das obige Schema), die vor allem etwas über seine Existenzweise aussagen. Darum hat Ingarden sowohl den individuellen seinsautonomen als auch den intentionalen wie auch idealen Gegenstand untersucht. Der seinsautonome individuelle und gänzlich konstituierte Gegenstand ist vollbestimmt und abgeschlossen. Alle Eigenschaften zusammen bilden – neben der konstitutiven Natur – die volle Bestimmung des Gegenstandes. Die Vollbestimmung gibt dem Gegenstand dessen allseitige Abgrenzung. Das ermöglicht ihm, getrennt von anderen Gegenständen zu existieren. Die Folge ist, dass der Gegenstand eine in sich abgeschlossene Seinssphäre bildet, in der er zugleich eine konkrete und unteilbare Einheit ist. Der Gegenstand ist auch durch Einfachheit im ontischen Sinne gekennzeichnet. Das steht vor allem im Gegensatz zu intentionalen Gegenständen und Ideen, welche eine „Doppelseitigkeit“ des Aufbaus aufweisen: einerseits den Gehalt, also das, was sie (= intentionale Gegenstände und Ideen) dem Inhalt der sie bildenden Intention nach sein sollen, andererseits ihre eigene, sie als intentionale Gegenständlichkeit konstituierende Struktur. 82
Für Ingarden sind Eigenschaften (E) auch Träger von ästhetischen Werten (vgl. LK, 303). Er differenziert E des individuellen Gegenstandes folgendermaßen: (1) wesentliche (d.h. zum Wesen des Gegenstandes gehörende) E: (a) unbedingt eigene E – sind durch die Natur des Gegenstandes gegeben und weder in ihrem Entstehen noch weiterem Zukommen für den Gegenstand durch äußere Faktoren bedingt; (2) unwesentliche E: (a) erworbene E – erscheinen im Gegenstand ab einem gewissen Zeitpunkt aufgrund äußerer Faktoren, bleiben in ihm eine gewisse Zeit, obwohl die äußeren Faktoren nicht mehr existieren, z.B. Sonnenbräune; (b) äußerlich bedingte E – gehören zum Gegenstand, sind aber ständig durch äußere Faktoren bedingt, z.B. Gestalt des Wassers im Glas; und (c) relative E – sind intentionale Gebilde, beruhen einerseits auf bestimmten Relationen, andererseits auf konkreten Gegenständen, welche die Glieder dieser Relationen „abstrakt“ bilden (vgl. SEW II/1, 362f; TJFPL, 465). 82
395
Schließlich ist der Gegenstand teilweise verborgen, d.h. nicht alle seiner Eigenschaften sind auf der Oberfläche zu erblicken. Man muss sie aus dem Inneren des Gegenstandes „herausfinden“. Es bedarf besonderer Umstände (z.B. der Beteiligung des betreffenden Gegenstandes an den Geschehnissen der Umwelt oder der bewussten entdeckerischen Aktivität des Erkennntissubjekts), dass einige verborgene Eigenschaften „ans Licht kommen“ und sich nach außen auswirken (vgl. SEW II/1, 66f). Das zeigt sich ganz deutlich insbesondere in der Problematik des Sachverhalts und des Verhältnisses. b.b. Form des Sachverhalts und Verhältnisses In „Essentiale Fragen“ bezeichnet Ingarden die relativen Eigenschaften eines Gegenstandes als „relative Quasi-Eigenschaften“ (RQE), wenn sie die Größe des Gegenstandes „im Verhältnis zu…“ bestimmen. Gemeint sind damit sowohl die zueinander gehörenden Paaren von RQE wie z.B. „groß-klein“ als auch die mehrgliedrigen Systeme des Typus „großkleiner-am kleinsten“ (vgl. TJFPL, 467f). Dadurch werden wir mit zwei anderen für Ingardens Ontologie relevanten Begriffen konfrontiert: Sachverhalt und Verhältnis, deren Analyse für die weitere Auslegung der Gegenstandsproblematik erforderlich ist. Durch die Hervorhebung des Begriffs „Sachverhalt“ kommt Ingarden in seiner Ontologie an die Position eines Wittgenstein heran, ohne den die heutigen philosophischen Disputen über Sachverhalte nicht mehr denkbar sind. Wittgenstein differenziert bekanntlich in seinem „Tractatus logicophilosophicus“ zwischen Tatsachen und Sachverhalten. Sachverhalte sind in bestehende Sachverhalte (Tatsachen) und nicht bestehende Sachverhalte (bloße Sachverhalte) zu unterscheiden. Die Gesamtheit der bestehenden Sachverhalte ist die Welt. Der Sachverhalt ist eine (mögliche) Verbindung von Gegenständen (Sachen, Dingen). Im Sachverhalt verhalten sich die Gegenstände in einer bestimmten Art und Weise zueinander und bilden damit die Struktur des Sachverhalts. Sie hängen im Sachverhalt aneinander wie die Glieder einer Kette. Die Form des Gegenstandes ist die Möglichkeit seines Vorkommens in Sachverhalten. Wenn ich den
396 Gegenstand kenne, so kenne ich auch sämtliche Möglichkeiten seines Vorkommens in Sachverhalten. Diese letzten zwei Sätze scheinen uns bereits erklärt zu haben, weshalb auch Ingarden seine Aufmerksamkeit dem Begriff des Sachverhalts im Zusammenhang mit der Gegenstandsproblematik widmet. Für unseren Autor sind Sachverhalte wie „Fenster“, durch die er in ein und dasselbe Haus – jedes Mal von einem anderen Standpunkt aus – hineinblicken kann, um sich bei der Enthüllung des Gegenstandes samt allen Zusammenhängen zu behelfen. Daher haben Sachverhalte Gegenständen gegenüber eine Darstellungsfunktion (vgl. LK, 201f). Wenn wir aber über einen Gegenstand etwas aussagen, enthüllt sich uns ein Sachverhalt, und wenn wir diese Prozedur vielmals an denselben Gegenstand in immer neuer Hinsicht anwenden, so entfalten sich uns der Reihe nach verschiedene Sachverhalte. Wollen wir den Begriff des Sachverhalts mit Ingarden bündig definieren, so gilt, dass der „Sachverhalt das Korrelat des kategorischen Urteils bzw. des Aussagesatzes ist“. Im Sachverhalt lassen sich Form und Materie unterscheiden. Verdeutlichen wir dies mit folgenden Beispielen: 83
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(A) Die goldene Feder, mit der ich schreibe, ist hart (B) Diese Lokomotive da fährt schnell auf dem Eisenbahngleis (C) Die Holunderzweige, die ich gerade im Garten sehe, werden vom Wind bewegt Aufgrund dieser Beispiele können wir drei Formen des Sachverhalts formulieren: (1) Zukommen einer Eigenschaft (A); (2) Vollzug einer Handlung (B) und (3) Erleiden einer Wirkung (C). Was die Materie des Sachverhalts anbelangt, ist sie in den Beispielen A, B, C ebenso unterschiedlich. Infolge seiner Form ist der Sachverhalt immer formal unselbständig im Verhältnis zu dem Gegenstand, in dessen Seinsbereich er
83 84
Vgl. Wittgenstein, L., TLP, 2.01f, 2.0123f, 2.03f. Der Sachverhalt erfüllt für Ingarden einfach die Funktion der (heutigen) Proposition.
397 besteht (vgl. SEW II/1, 279f). Im Sinne Wittgensteins behauptet Ingarden, dass uns die Einheitlichkeit des durch die Natur konstituierten Gegenstandes zu verstehen erlaubt, wie alle in einem Gegenstand bestehenden Sachverhalte zu ihm gehören und dadurch untereinander verknüpft sind. Nach unserem Autor kann man also Sachverhalte (S) grundsätzlich auf zwei Weisen differenzieren: (1) aufgrund ihrer Bewertung: (a) positive S – z.B. die „Feder, mit der schreibe, ist aus Gold“ und (b) negative S – die „Feder, mit der ich schreibe, ist nicht aus Stahl“; und (2) aufgrund ihrer Form: (a) eigenschaftliche S – der „Mensch ist ein Säugetier“, (b) S gemäß einer Handlung – der „Hund bellt“ und (c) S gemäß eines Erleidens – das „Boot wird durch das Meerwasser getragen“ (vgl. SEW II/1, 292f, 315f). Eine besondere Art des Sachverhalts stellt das Verhältnis (Relation) dar, weil an ihm mehr als ein Gegenstand teilnimmt. Als Beispiele können etwa gelten: „Berlin ist größer als München“, „Peter schlägt Paul“, „der Esel ist dem Pferde ähnlich“. Das Verhältnis bildet also einen mehrere Subjekte in sich bergenden Sachverhalt. Es unterscheidet sich material von dem nicht-relationalen Gegenstand sowohl durch spezifische Momente seiner konstitutiven Natur als auch durch seine Eigenschaften (z.B. Symmetrie, Transitivität, Mehrgliedrigkeit), die keinesfalls nichtrelationalen Gegenständen zugeschrieben werden können (vgl. SEW II/1, 339). Da die Struktur des Verhältnisses komplex ist, bedienen wir uns wiederum eines Schemas, um sie zu erklären: 85
das Zwischen (C)
Gegenstand (=Glied) (A) =>…........…..
Vorgänge
=> In der Zeit verharrende Gegenstände
= Form der realen Welt
die wir hier im Einzelnen nicht behandeln können. Nehmen wir nur etwa Leibniz (vgl. [1960-1] II, 486), der schreibt: „Ich glaube nicht, dass Sie ein Akzidenz [Eigenschaft] zulassen werden, das in zwei Subjekten gleichzeitig ist. Deshalb behaupte ich in Hinsicht auf Relationen, dass die Vaterschaft in David die eine Sache ist und die Sohnschaft in Salomon eine andere, doch die gemeinsame Beziehung ist lediglich eine mentale Sache“.
400 Schema 2: „Form der realen Welt“ (RW) RW
Ereignisse
In der Zeit verharrende Gegenstände Vorgänge
Wir beginnen mit der Erläuterung des Schemas 1. Ingarden unterscheidet drei Formen des Gegenstandes: die Form der Idee, die Form des reinintentionalen und die des realen Gegenstandes. Was die Form der Idee anbelangt, haben wir uns damit bereits im Zusammenhang mit den epistemologischen Analysen befasst und deren Begriff erklärt (vgl. 3§1 [Kap. II]). Hier wollen wir noch lediglich gewisse formal-ontologische Akzente hervorheben, welche vor allem auf die „Doppelseitigkeit der Idee“ zurückzuführen sind. Auf die Frage: Was ist eine Idee? können wir – Bezug nehmend auf unsere alltägliche Erfahrung – schlicht und einfach antworten, sie sei „etwas Identisches“, von dem viele Exemplifizierungen realiter möglich sein können (aber nicht müssen) (vgl. TJFPL, 367). Aus ontologischer Sicht ist der Begriff der Idee jedoch viel komplexer. Für Ingarden ist die Idee zum einen ein allgemeiner Gegenstand, welcher durch die Struktur „qua Idea“ gekennzeichnet ist. Zum anderen hat die Idee einen Gehalt, der aus variablen und konstanten Elementen besteht, welche auf den Begriff der ‚Konkretisation’ angewiesen sind. Während also die konstanten Elemente des Ideengehalts Konkretisationen von reinen Qualitäten sind (z.B. in der Idee „Mensch überhaupt“ kann die Konstante lauten: „Der Mensch ist ein psychophysisches Wesen“), sind die variablen Elemente dagegen die 87
Oft stellen wir uns selbst bzw. wird an uns die Frage gestellt: Hast du eine Idee, wie dies und jenes gemacht werden soll? Dem Fragenden geht es also darum, ob wir einen Plan (Entwurf) haben, welcher realiter (auch auf vielerlei Weisen) in die Tat umgesetzt werden kann (aber nicht muss). Nach A. Rygalski (vgl. [1995], 99) kann man von gewissen Zusammenhängen zwischen Ingarden und Frege sprechen – vor allem in Bezug auf allgemeine Gegenstände (d.h. Ideen). 87
401 „Konkretisation der reinen Möglichkeit“ der Konkretisierung im individuellen Gegenstand (z.B. „jeder Mensch hat irgendeine Statur“) (vgl. SEW II/1, 232f; GE II, 568f). Sowohl im Gehalt der Idee als auch in ihrer Struktur „qua Idea“ tritt derselbe Modus der Existenz auf, nämlich der des „Idealseins“. Die Idee ist daher kein Duplikat des individuellen Gegenstandes. Sie unterscheidet sich von ihm prinzipiell sowohl in ihrer Seinsweise als auch in ihrer Form, sowohl ihrem Gehalt als auch ihrer eigenen Struktur „qua Idea“ nach. Insbesondere lässt sich dies am Gehalt der Idee deutlich erkennen. Denn das den Ideengehalt charakterisierende formale Schema hat nicht die gegenständliche Grundform „Subjekt von Eigenschaften – Eigenschaft“, sondern die Struktur „Ganzes – Bestandteil des Ganzen“ (GBG) (vgl. SEW II/1, 251f). Die Struktur GBG des Ideengehalts gewährleistet den prinzipiellen Unterschied zwischen der Form der Idee und der Form des rein intentionalen Gegenstandes (IG), obwohl beide einen doppelseitigen Aufbau aufweisen. Zwei weitere zwischen den beiden differenzierende Faktoren sind: radikale Transzendenz der Idee Bewusstseinsakten gegenüber und das Auftreten von Variablen im Ideengehalt. Auch bezüglich der Form des IG wollen wir hier keinesfalls ausführlich vorgehen, weil diese Problematik schon im Kontext des 88
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Es sind also verschiedene Staturen des Menschen möglich (groß, klein usf.). Ingardens Begriff der idealen Gegenständlichkeiten steht nach J. Zycinski (vgl. [1995], 107f) mit den gegenwärtigen Einzelwissenschaften im engen Zusammenhang, wenn Ingarden sich auf die abstrakte Wirklichkeit idealer Gegenstände konzentriert, welche zwar in konkreten Gegenständen erscheinen, jedoch im Verhältnis zu allen konkreten Seienden als ontisch ursprüngliche Gegenstände gelten. Nach Zycinski erscheinen die mit der Anerkennung der realen Existenz der allgemeinen Gegenstände verbundenen Hauptschwierigkeiten (also Intuitions- und Vorstellungs-Probleme) – hinsichtlich der rasanten Entwicklung der modernen Physik – in einem neuen Licht. D.h. die menschliche Vorstellung und die „gesunde“ Vernunft sind nach ihm keine grundlegenden epistemologischen Kriterien mehr. Das ist m.E. jedoch problematisch, vor allem in Bezug auf die Vernunft. Es ist nicht klar, was Zycinski unter „gesunder“ Vernunft versteht. Das schließt jedoch nicht aus, dass man anhand des Ideengehalts gewissermaßen ablesen kann, welche Eigenschaften, formalen Momente und Seinsweisen für die unter die betreffende Idee fallenden Gegenstände charakteristisch sind. 88
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402 Selbstbewusstseinsproblems behandelt worden ist (vgl. 3§1 [Kap. III]). Zu akzentuieren ist nur deren formal-ontologische Relevanz, die sowohl auf dem doppelseitgen Aufbau des IG als auch auf dessen Verhältnis zum Subjekt beruht. Der IG ist einerseits das Korrelat und das Gebilde eines Bewusstseinsaktes, bzw. einer Reihe von Bewusstseinsakten. Selbst wenn der IG dem ihn bildenden Akt gegenüber („nicht radikal“) transzendent ist, liegt er dessen ungeachtet prinzipiell im Einflussbereich dieses Aktes (vgl. LK, 123). Das ist die eine Seite des IG, die auch seine „intentionale Struktur“ genannt wird. Andererseits hat der IG (so wie die Idee) einen Gehalt, der sich dann zeigt, wenn wir ihn entweder im schöpferischen oder nachbildenden intentionalen Akt vermeinen. Sowohl in der „intentionalen Struktur“ als auch im Gehalt des IG lassen sich Existenzweise, Form I und Materie I unterscheiden (vgl. SEW II/1, 216f). Die „Doppelseitigkeit“ des IG ist im Vergleich zu der der Idee allerdings viel radikaler. Denn es treten bei ihm zwei verschiedene „Subjekte von Eigenschaften“ auf, welche zwei völlig unterschiedlichen Systemen angehören (d.h. dem Gehalt und der „intentionalen Struktur“) (vgl. LK, 124f). Deshalb sind die beiden Subjekte von Eigenschaften des IG auch nicht gleichwertig. Das eigentliche Subjekt ist das der „intentionalen Struktur“, also das Subjekt des IG als solchen. Als Träger der Eigenschaft „Haben des Gehalts“ umspannt es das Ganze des IG, also auch den Gehalt. Das andere Subjekt bezieht sich dagegen nur auf ein bestimmtes Moment des Gehalts (vgl. SEW II/1, 218). 90
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Da zeigte sich, dass Ingarden gerade durch die Einführung des Begriffs des intentionalen Gegenstandes Husserl „überwinden“ will. Aus ästhetischer Sicht wird diese Problematik in 5§1 (Kap. V) analysiert. Der intentionale Gegenstand (IG) ist also einfach das Ergebnis des Bewusstseinsaktes, genauer gesagt einer „einfachen“ „Vor- oder Darstellung“. Das einfache Beispiel stellt etwa das Lesen eines Buches dar. Nehmen wir an, dass dieses Buch vom „Herrn X“ handelt. Führen wir jetzt die ontologische Analyse durch: Formal genommen ist Herr X ein Gegenstand. Aus materialer Sicht hat er eine Reihe von bestimmten Eigenschaften (gesund, freundlich, erfolgreich, schlau usf.). Endlich ist er auch als ein „realer“ Gegenstand vermeint, der selbst in der Seinsweise des Realseins existiert. Auch „Unbestimmtheitsstellen“, welche jeder rein intentionale Gegenstand notwendig besitzt, stellen sein formales Moment dar. Da wir dies aber im Kap. V (vgl. 5§1b.c) aufgreifen werden, lassen wir es hier unberührt. Indes vgl. dazu 3§1 (Kap. III). 90
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403 Die dritte im Schema 1 auftretende Form des Gegenstandes ist schließlich die Form des realen Gegenstandes (RG). Die Analyse der Form des RG kann man nach Ingarden aufgrund von zwei Kriterien durchführen: (1) Zeit und (2) Mereologie. In diesem Abschnitt interessiert uns nur das erste Kriterium. Demnach besteht die Form des RG aus Ereignissen, Vorgängen und in der Zeit verharrenden Gegenständen, wobei diese drei zusammen die reale Welt bilden. Damit sind wir gleichsam beim Schema 2. Was hier auf den ersten Blick auffällt, ist, dass diese drei Elemente in einer Relation zueinander stehen, die wir mit drei Kreisen (bzw. kreisförmigen Figuren) skizziert haben. Zwei von diesen Elementen, nämlich Ereignis und Vorgang sind ferner die elementaren Gegenstände der sogenannten „Philosophy of Change“, auf die wir noch später im Kontext der gegenwärtigen Diskussion zurückkommen werden. Den kleinsten Kreis (E) des Schemas 2 stellt das Ereignis dar. Ingarden definiert diesen Begriff als „Ins-Sein-treten“ eines Sachverhalts. Es ist der „engere“ Begriff des Ereignisses. Als Beispiele gelten „Zusammenstoß 93
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Das zweite Kriterium, d.h. Mereologie (Ganzheit-Teil-Analyse) wird von uns in einem besonderen Abschnitt behandelt werden – wegen der Komplexität und Relevanz für Ingardens ontologisches Projekt (vgl. 3§3 [Kap. IV]). Die kreisförmige Gestalt des Schemas will uns keinesfalls sagen, dass E, V und ZVG problemlos ineinander enthalten sind, gleichwohl aber dass zwischen ihnen einerseits ein enger Seinszusammenhang besteht (sie alle bilden die reale Welt), andererseits wesentliche Unterschiede vorliegen. Die Größe des Kreises entspricht jeweils der Kompliziertheit des Begriffes. Vgl. dazu etwa Campbell, K. (1998), 361f. Sie spricht darüber im Zusammenhang mit dem Problem der „Tropen-Theorie“. Was ist aber der „weitere“ Begriff des Ereignisses? (Diese begriffliche Differenzierung kommt vom Verfasser der vorliegenden Abhandlung). Blieben wir der Denkweise Ingardens verhaftet, so müssten wir nach dem weiteren Begriff in unserem alltäglichen Sprachgebrauch suchen. Dann gälte z.B.: „Im Dezember 2004 erlebten Menschen in Süd-Ost-Asien ein schreckliches („Tsunami“-) „Ereignis….“. Es ist klar, dass diese Katastrophe (die Ereignis genannt wird) nicht auf den Moment allein einzuschränken ist, in dem die Menschen in Berührung mit den Wasserwellen kamen, sondern sie weist auch viele „Vorbereitungsphasen“ auf, z.B. Verschiebung von Erdplatten, Entstehen des Wasserdrucks usf. Diese Vorbereitungsphasen kommen noch deutlicher zum Vorschein, wenn wir etwa an die (nach dem Ende des Regimes 93
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404 zweier Körper“, „Tod eines Menschen“, „Aufleuchten einer Lampe“ usf. Das Charakteristische an diesen Beispielen ist, dass sie durch das Moment der Aktualität gekennzeichnet sind. Daraus ergibt sich, dass das Ereignis nicht über die Spannweite eines konkreten Jetzt hinausgeht, dass es seinem Wesen nach nicht dauern kann. Die logische Konsequenz ist, dass das Ereignis in dem Moment des „Ins-Sein-tretens“ vorübergeht (vgl. SEW I, 193f). Hinsichtlich seiner Form hat das Ereignis, als ein ins Sein eintretender Sachverhalt, die Struktur des letzteren (vgl. SEW II/2, 11). Diese Auffassung des Ereignisses hebt daher die feste Relation zwischen dem Ereignis und der Zeit hervor. Dadurch steht m.E. Ingarden Wiggins nahe. Auch die punktuelle Dimension dieses Phänomens steht keinesfalls im Widerspruch zu den Ansichten aus der gegenwärtigen Debatte. Bevor die formale Struktur des mit dem mittleren Kreis (V) dargestellten Vorgangs (d.h. Prozesses) erläutert wird, muss das Verhältnis zwischen dem Ereignis und Prozess geklärt werden. Trotz des engen Seinszusammenhangs zwischen diesen Begriffen – einerseits sind Ereignisse unentbehrlich, damit es überhaupt zu Prozessen kommt, andererseits führen Prozesse immer zu irgendwelchen Ereignissen – liegt zwischen ihnen ein Wesensunterschied vor. Deshalb wäre es falsch zu meinen, dass Ereignisse nur kurz andauernde Prozesse sind, und dass ein Prozess nur eine Vielheit von aufeinander folgenden Ereignissen ist. Denn jeder Prozess entfaltet sich nicht nur in seinen Phasen in der Zeit, sondern er braucht auch Zeit, um sich zu konstituieren – im Gegensatz zu einem Ereignis, das als sofort fertiges Gebilde ins Sein eintritt und verschwindet. 97
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Saddams H.) ersten freien Wahlen in Irak (also ein wichtiges politisches Ereignis) denken. Vgl. Wiggins, D. (1980), 25f. Wiggins betont allerdings auch die Relation des Ereignisses zu dem Raum, was bei Ingarden viel zu kurz kommt. Vgl. etwa Simons, P. (1987), 132. Er schreibt jedoch: „Occurrents comprise what are variously called events, processes, happenings, occurrences, and states […]“ (vgl. ebd., 129). Dadurch wird eine Präzisierung erzielt, und es wird mereologisch vorgegangen, wobei auch der (zeitliche) Unterschied zu dem Begriff „Prozess“ auftaucht. Was Ingarden hier interessiert, ist vor allem im Begriff „events“ enthalten. Auch F. Dretske (vgl. [1967]) stimmt mit der Position der punktuellen Dimension des Ereignisses prinzipiell überein. Das Problem des Ereignisses werden wir noch im Zusammhang mit der Kausalproblematik ergänzend behandeln. 97
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405 Während also ein Prozess ein Sein im Sich-Verwandeln, im Übergehen von Einem zu einem Anderen „in sich“ ist, enthält dagegen ein Ereignis kein solches Moment (vgl. SEW I, 213f). Als Beispiel für einen Prozess gelten für Ingarden „Entwicklung eines Organismus“, „Leben eines Menschen“, „eine konkrete Bewegung eines materialen Körpers im Raum“ usf. Formal gesehen ist der Prozess durch zwei Dimensionen gekennzeichnet: dynamische Dimension (DD) und gegenständliche Dimension (GD) (vgl. SEW I, 198f). Die DD stellt das Sich-Konstituieren des Prozesses in der Zeit dar. Es besteht aus kontinuierlich vorübergehenden Phasen (vgl. ELK, 105f). In der Seinsweise des Phasenganzen des Prozesses prägt sich das Wesen der Zeit viel stärker als in der Seinsweise des Ereignisses aus, weil das Phasenganze – über die jeweilige Jetztphase hinausreichend – sowohl einen Abschnitt der Vergangenheit als auch einen der Zukunft umspannt. Die GD besagt dagegen, dass ‚jeder Prozess das Subjekt von Eigenschaften’ ist. Gemeint sind etwa: folgende Eigenschaften: (1) Phasen, aus denen das in seinem Verlauf wachsende Ganze besteht, gehen kontinuierlich vorüber (vgl. SEW I, 200f); (2) dem Subjekt kommen ständig neue Eigenschaften zu – bis es in der letzten Phase die Vollendung seiner Konstitution erreicht u.a. Aufgrund der DD und GD fasst Ingarden die Existenz des Prozesses ontologisch auf: „Die Existenz des Prozesses ist das im stetigen Vorübergehen aller seiner Phasen fundierte Werden seiner selbst als eines vollbestimmten Subjekts von Eigenschaften“ (vgl. SEW II/2, 17, 21). 99
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Die „Phasen“ bei Ingarden sind m.E. „logische Konstrukte“. In dem Sinne erinnern sie gewissermaßen an das, was R.M. Chisholm (vgl. [1973], 581f) als „variable Kontinuitäten“ bezeichnet und durch seine Theorie „Entia Successiva“ erklären will. Die Aufeinanderfolge (Kontinuum) der Phasen wird von Ingarden auch aus äesthetischer Sicht analysiert. Selbst wenn dies von der ontologischen Analyse prinzipiell zu unterscheiden ist, lassen sich hier doch gewisse ontologische Akzente finden (z.B. seins- und soseinsfundierende Elemente) (vgl. LK, 333f), welche die These bestätigen, dass wir es auch bei unserem Autor mit Ontologie der Kunst zu tun haben (vgl. dazu Kap. V der vorliegenden Arbeit). Der Prozess muss aber die letzte Phase nicht unbedingt haben. In dem Fall hätten wir es mit einem „unendlichen“ Prozess zu tun. Die Problematik des Prozesses beinhaltet in der gegenwärtigen philosophischen Diskussion die Analyse des Kontinuitätsproblems. Zwar vollzieht auch Ingarden eine 99
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406 Da Prozesse offenbar nur seinsabhängige (und oft –unselbständige) „Gegenstände“ sind, erfordert ihre Existenz als Seinsgrundlage „in der Zeit verharrende Gegenstände“ (ZVG), welche wir im obigen Schema mit dem größten Kreis bezeichnet haben. Es sind verschiedene Dinge wie z.B. Stein, Haus, Berg, Baum, Tier, Mensch usw. (vgl. BM, 132f). Die ZVG unterscheiden sich einerseits von den Ereignissen dadurch, dass sie länger als diese existieren, weil die Ereignisse nur in einzelnen Aktualitätsmomenten eingeschlossen bleiben. Andererseits gibt es wesentliche, der stets vollkonstituierten Existenz zu verdankende Unterschiede zwischen den ZVG und den Prozessen, wenn die letzteren sich im Laufe der Zeit konstituieren und erst „werden“. Die ZVG sind also von dem ersten Augenblick ihrer Existenz an voll konstituierte Gegenstände (vgl. SEW I, 215f). Trotz dieser Differenzen bestehen zwischen diesen drei zeitlichen Elementen (der realen Welt) gewisse gegenseitige Beziehungen. So sind etwa die Veränderungen in den ZVG nicht ohne sich in ihnen abspielende und mit ihnen ein einheitliches Ganzes bildende Ereignisse und Prozesse begründbar. Aber auch umgekehrt: ohne die ZVG gäbe es keine Ereignisse und Prozesse (vgl. SEW II/2, 15). Die Problematik der ZVG umfasst desgleichen zwei für eine philosophische Diskussion grundlegende Problemkreise, nämlich das ‚Substanz- und Identitätsproblem’, die wir wegen ihrer Relevanz an einer
Differenzierung zwischen einfachen Prozessen, in welchen alle Teile des Phasenganzen ohne gegenseitige Abgrenzung ineinander übergehen, und zusammengesetzten Prozessen, welche durch zumindest zwei voneinander abgegrenzte Teile des Phasenganzen gekennzeichnet sind (vgl. SEW I, 199). Er geht jedoch darauf nicht ein. Das ist heute kaum akzeptabel, zumal auch viele Einzelwissenschaften (vor allem die Medizin, in der etwa Herztransplantationen nahezu auf der Tagesordnung stehen) auf einer viel präziseren Ebene arbeiten und dadurch an die Philosophie neue Herausforderungen stellen. Durch den Begriff „Abgrenzung“ signalisiert Ingarden nur dieses Problem. Indes macht schon Locke (vgl. [2000], 410) auf dieses Problem aufmerksam, wenn er schreibt, dass „weder ein Ding einen doppelten Anfang seiner Existenz noch zwei Dinge einen einzigen Anfang haben können“. Vgl. auch Wiggins, D. (1968), 91. Wir werden darauf noch später bei der Behandlung des Identitätsproblems eingehen.
407 gesonderten Stelle behandeln werden. Hier wollen wir noch lediglich die damit zusammenhängende formal-ontologische Struktur des ZVG kurz erläutern. Wir haben also den Begriff: 102
ZVG =
In der Zeit verharrende ↓ ↓ (1) Variablen
(Gegenstand)
(2) Konstante ↓
(2a) statische Konstanz
↓ (2b) dynamische Konstanz
Die formale Struktur des ZVG lässt sich von dem Begriff „ZVG“ selbst her auslegen. Der ZVG besteht aus zwei Elementen: einer Konstanten (2) und mehreren Variablen (1). Während die Konstante den Wesenskern (d.h. die Substanz) des ZVG bildet, stellen die Variablen hingegen die Eigenschaften (bzw. Zustände) des ZVG dar. Sowohl (2) als auch (1) sind in einer Zeitrelation aufzufassen: Unterliegt (2) keinem Wandel aufgrund zeitlicher Faktoren und verharrt dadurch in der Zeit dauernd als dieselbe, sind (1) dagegen von der Wirkung zeitlicher Umstände ständig betroffen und lassen gewisse Modifikationen zu – bis zu ihrer völligen Vernichtung, welche dann die Zerstörung von (2) nach sich zieht. Das konstante Element des ZVG wird von Ingarden präzisiert, indem er es in (2a) und (2b) aufteilt. (2a) liegt dann vor, wenn das gegenständliche Moment (2) in vollkommener Unveränderlichkeit seiner qualitativen Bestimmung im Gegenstande immer auftritt. (2b) ist hingegen dann der Fall, wenn die qualitative Bestimmung des gegenständlichen Moments (2) zwar einem Wandel unterworfen wird, aber ‚nur hinsichtlich der Weise und dem Grad ihrer seins- und erscheinungsmäßigen Ausprägung im Ganzen dieses Moments’. Bei (2b) geht es also darum, dass das Spezifische dieser Bestimmung am Anfang nur keimhaft, nachher aber immer ausgeprägter
Zum Substanzproblem vgl. etwa 3§4 (Kap. IV); und zur Identitätsproblematik vgl. 4§2 (Kap. IV). Einen wichtigen Aspekt der ZVG-Problematik stellt das Ende (Aufhören) der Existenz dar. Für unsere Zwecke ist es jedoch ausreichend, was darüber bereits in 3§1d (Kap. IV) gesagt wurde.
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408 und in vollkommener Entfaltung im betreffenden Moment (2) enthalten ist. Daraus ergibt sich nichts Neues, sondern dass (2) „streng Dasselbe – nur in einem entfalteten Zustand“ bleibt (vgl. SEW I, 234f; auch BM, 125f). Abschließend gilt es festzustellen, dass Ingarden in seinen formalontologischen Analysen immer anschaulicher auf Fragenkomplexe stößt, welche auch die gegenwärtigen philosophischen Debatten in Spannung halten. Wie wirkt sich dies für die Idealismus-Realismus-Frage aus? 103
c. Konsequenzen für Idealismus-Realismus-Frage: Form der Welt und des Bewusstseins In seinem Aufsatz „Ontologische Relativität und andere Schriften“ schreibt Quine, dass was ontologische Fragen sinnlos mache, ihre Zirkularität sei. Eine Frage der Form: „Was ist ein F?“ kann man nach ihm nur mit Rückgriff auf einen weiteren Term beantworten: „Ein F ist ein G“, wobei dann G unkritisch zu akzeptieren ist. Ob diese Behauptung Quines als ganze richtig ist, lassen wir hier offen. Sie interessiert uns nur in Bezug auf ihre Referenz – und zwar von der methodischen Seite her, weil Ingarden mit der genau gleichen ontologischen Methode zu arbeiten scheint. So wohnen nach unserem Autor Gegenständen formale Strukturen tatsächlich inne, wenn diese überhaupt existieren (vgl. FSE, 127). Und der Gebrauch dieser ontologischen Methode zieht gewisse Konsequenzen bezüglich der Idealismus-Realismus-Frage (IRF) nach sich. Denn so kann desgleichen gesagt werden: „Die Form der Welt ist eine summative Ganzheit“ und 104
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Nun sehen wir, dass damit komplizierte Substanz- und Identitätsprobleme verknüpft sind, auf die wir uns hier nicht einlassen können. Es sei aber angedeutet, dass während sich (2a) m.E. in dieser Fassung auf ein Wesen wie Gott beziehen kann, obwohl dies Ingarden keinesfalls klar macht, lässt sich (2b) Wesen wie den Menschen ohne weiteres zuschreiben. Problematisch scheint m.E. Ingardens Behauptung „streng Dasselbe – nur in entfaltetem Zustand“ zu sein. Wir kommen noch darauf zurück. Vgl. Quine, W.V.O. (2003c), 69. Aus Sicht des ganzen ontologischen Projekts Ingardens (d.h. Existenz-, Formal-, Material-Ontologie, Metaphysik) könnten wir wohl nicht sagen, dass er die Existenz der Gegenstände unkritisch akzeptiert. Das Nachweisen ihrer eventuellen Existenz ist das Anliegen der Metaphysik. 103
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409 „die Form des Bewusstseins ist ein Bewusstseinsstrom“. Es gilt nun diese beiden Formen zu analysieren. Die formal-ontologischen Analysen machen klar, dass Ereignisse, Prozesse und in der Zeit verharrende Gegenstände (ZVG), die wir auch der Reihe nach kurz besprochen haben, zusammen die reale Welt bilden. Dadurch kann eine weitere Präziserung der IRF erzielt werden. Mit anderen Worten: Aufgrund der Ergebnisse der formal-ontologischen Untersuchungen kann Ingarden die IRF und gegebenenfalls mögliche Lösungsversuche weiterhin ontologisch verschärfen, indem die Form der Welt und die des Bewusstseins bestimmt werden. c.a. Form der Welt Unter verschiedenen Seinsgebieten (Zahlen, geometrischen Gebilden, Kunstwerken, Werten usf.) gibt es ein Seinsgebiet, dessen Elemente miteinander in verschiedenen Seinszusammenhängen stehen und insbesondere Glieder eines einheitlichen Systems kausaler Zusammenhänge sind. Dieses Gebiet bezeichnet Ingarden als Welt, vor allem aber als reale Welt (vgl. SEW II/2, 97, 124). Um die Welt formalontologisch zu analysieren, müssen wir vor allen Dingen Begriffe wie Kausalität, Gattung, Art, Wesen usf. klarlegen. Die Welt ist ein „Gegenstand höherer Ordnung“, d.h. „individuell abgeleitet“. Sie baut sich auf dem Untergrund ihrer selbständigen Elemente auf und erschafft aus diesen eine summative Ganzheit; sie existiert nur insofern, als ihre Elemente existieren. Daher ist die Welt ihren Elementen gegenüber ‚unselbständig’(vgl. SEW II/2, 152f). In jeder Welt muss alles, 106
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Andere Welten sind nach Ingarden die ideale Welt (d.h. Welt der Ideen) und die intentionale Welt (d.h. die Welt der literarischen Kunstwerke). In der heutigen Sprache wird immer öfter der Begriff „virtuelle Welt“ gebraucht. Aus philosophischer Sicht ist für uns vor allem der Begriff „Kausalität“ von Bedeutung. Darum werden wir dieser Problematik noch später in einzelnen Abschnitten nachgehen müssen. Zum Begriff des Wesens vgl. indes 3§2b.a (Kap. IV). Die Welt ist jedoch anderen Seinsgebieten gegenüber seinsselbständig und -autonom – das gilt vor allem für die reale Welt. Es ist jedoch nicht ausgeschlossen, dass eine
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410 was in ihr existiert, unabhängig davon, ob es ein Gegenstand oder nur ein unselbständiges Moment an diesem ist, ein Glied oder ein Moment eines Gliedes irgendeines Seinszusammenhangs bilden (vgl. SPhH, 35). Unter vielen Beispielen gibt Ingarden das Beispiel einer Pflanze an: „So fällt auf die Pflanze das Licht und trägt zur Produktion des Chlorophylls in ihr bei. Es erhebt sich z.B. die Temperatur der sie umgebenden Luft, und damit kommt es zu einer Vergrößerung ihres Volumens und zu verschiedenen Wandlungen im Aufbau ihrer Zellen. Es kommt auch zur Erhöhung der Verdampfung der in ihr enthaltenen Flüssigkeiten usw. Andererseits tritt die in der Pflanze enthaltene Kohlensäure aus ihrem Körper in die freie Luft und mischt sich mit ihr, so dass sie sowohl die Zusammensetzung der Luft verändert als auch gewisse […] Strömungen in ihr hervorruft […]. Indem die Pflanze aus dem Boden Wasser und andere verflüssigte Substanzen ‚zieht’ (saugt), verbraucht sie dieselben zum Aufbau des eigenen Organismus, aber zugleich wirkt auf die chemische Zusammensetzung und die physikalischen Eigenschaften des Bodens […]. […] eine große Menge von Pflanzen bestimmter Art […], z.B. große Wälder, […] übt einen Einfluss auf das Klima des betreffenden Erdteils aus“ (SEW II/2, 138f).
Das Vorhandensein eines Netzes von kausalen Zusammenhängen spielt nun eine wesentliche Rolle bei der Konstituierung der inneren (und formalen) Einheit der Welt. Dabei ist noch wichtig, dass der kausale Zusammenhang nur zwischen zwei Gegenständen derselben Welt A bestehen kann. Wenn dagegen der eine Gegenstand zur Welt A und der andere zur Welt B gehört, dann liegt nach Ingarden nur eine existentiale Beziehung vor (vgl. SEW II/2, 182, 225f). 109
Welt (z.B. die intentionale Welt) von einem anderen Seinsgebiet (z.B. der realen Welt) seinsabhängig sein kann. Anknüpfend an das vorangehende Beispiel: Pflanze und Boden müssen zu der Welt A (z.B. der realen Welt) gehören. Es wäre undenkbar, von kausalen Zusammenhängen zu sprechen, wenn die Pflanze zu der Welt A und der Boden zu der Welt B (z.B. der intentionalen Welt) gehörten. Es sei noch etwas hinzugefügt: Im Pflanzen-Beispiel können wir folgende Elemente unterscheiden: (1) In der Zeit verharrende Gegenstand (ZVG) (z.B. Pflanze, Boden); (2) Prozess (z.B. Wachstum der Pflanze, Saugen des Wassers) und (3) Ereignis (z.B. der erste Kontakt der Pflanze mit dem Boden). Und viele Pflanzen bilden den Wald. Der Wald enthält offenbar auch andere ZVG, z.B. dort lebende Tiere. Daher gibt es noch mehr ZVG (Pflanzen, Tiere usf.), welche in 109
411 Zu der Welt, welche ein nichtkompaktes Gebiet darstellt, gehören Gegenständlichkeiten wie Ereignisse, Vorgänge und in der Zeit verharrende Gegenstände. Damit ist also buchstäblich eine durch Realität und Zeitlichkeit gekennzeichnete Welt gemeint, in welcher sowohl zukünftige als auch gegenwärtige und vergangene Gegenständlichkeiten auftreten. Die Prinzipien, nach denen diese Elemente zur Welt gehören, geben die Naturgesetze an. Im Weltbereich gibt es eine bestimmte „Konfiguration“ von Bedingungen, welche die Existenz eines individuellen Gegenstandes hervorbringen kann. Diese Konfiguration ist nicht so sehr durch die Grundgattungen der zur Welt gehörenden Gegenstände bestimmt, sondern ergibt sich aus dem Zusammentreffen einer Anzahl von Gegenständen in einem bestimmten Weltteil, welche über eigene, erworbene bzw. äußerlich bedingte Eigenschaften verfügen, die zum Entstehen eines anderen Gegenstandes führen (vgl. SEW II/2, 182f, 252). Die Gattung entscheidet darüber, welche Gegenstände zu einem summativen Ganzen (also auch zur Welt) gehören. Sie ist ein ‚abstraktes, in der Natur der Gegenstände enthaltenes und ihnen allen gemeinsames Moment’. Da die Natur des Gegenstandes das in ihm bildet, was über das System der Gattungen, unter welche der betreffende Gegenstand fällt, entscheidet, darf sie nicht absolut einfach und monadisch sein. Anhand des Gattungsbegriffes differenziert Ingarden zwischen: (1) realen Gegenständlichkeiten (G) (z.B. reale Welt), also einem Gebiet, zu welchem G verschiedener „oberster, material bestimmter Gattungen“ gehören und dessen Einheitlichkeit durch die Zugehörigkeit aller realen Gegenstände zu dem einen System kausaler Seinszusammenhänge bewahrt wird; (2) dem Gebiet idealer G (z.B. geometrische Gegenstände) und (3) dem Gebiet intentionaler G (z.B. die Welt der literarischen Kunstwerke). Über die Existenz von (2) und (3) entscheidet ausschließlich die qualitative Verwandschaft zwischen ihren Elementen, d.h. die Tatsache, dass alle 110
kausaler (hierarchisch geordneter) Verbindung miteinander stehen – in erster Linie durch verschiedene Prozesse. Und dieses ganze System bezeichnet B. Ogrodnik (vgl. [2000], 58) als „relativ isoliertes System“. Ein Gegenstandsgebiet ist dagegen kompakt, wenn seine Bestandteile ein exaktes Wesen (vgl. 2§3b [Kap. II]) haben. 110
412 Elemente nur zu einer und derselben „obersten, material bestimmten Gattung“ gehören (vgl. SEW II/2, 101f). Dass ein Gegenstand Glied einer Welt sein kann, ergibt sich aus der Form seines Wesens. Das Wesen erlaubt den Gegenständen zudem erworbene bzw. äußerlich bedingte Eigenschaften zu haben. Zum Wesen eines Gegenstandsgebietes hingegen gehört, dass alle zu dem Gebiet gehörenden Gegenstände unter eine oberste Gattung fallen, z.B. unter die Welt (vgl. SEW II/2, 146f, 187f). Schließlich gehört zum formalen Wesen der realen Welt, dass sie nicht nur ein nichtkompaktes Gebiet ist, dessen Elemente Glieder eines Kausalnetzes bilden, welches die Grenzen der Welt bestimmt, sondern auch dass deren Elemente in ihrem Gehalt keine Unbestimmtheitsstellen (im Gegensatz etwa zu intentionalen Gegenständen) aufweisen (vgl. SPhH, 36f). Wie bereits angedeutet ist nach Ingarden die Welt, insbesondere die reale Welt, nur ein Seinsgebiet unter vielen. Alle Seinsgebiete können jedoch – trotz ihrer existentialen, formalen und materialen Ungleichheit – zusammen existieren. In dem Fall kommt es zu einer „Durchflechtung“ von Seinsgebieten, z.B. der realen Welt mit der intentionalen. Die Grundlage der Durchflechtung bilden die Beziehungen zwischen den Elementen der Seinsgebiete (vgl. SEW II/2, 242f). Insofern stellt sich die Frage nach dem Verhältnis des Seinsgebietes der realen Welt zu dem des Bewusstseins. 111
Man kann also nach Ingarden wesentliche und zufällige Gattungen unterscheiden. Während die ersteren aufgrund der Analyse der Ideengehalte oder der konstitutiven Natur des Gegenstandes zu bestimmen sind (sie können auch mit den charakteristischen Eigenschaften des Gegenstandes zusammenhängen), werden die anderen dagegen durch die Materie der erworbenen bzw. äußerlich bedingten Eigenschaften des Gegenstandes bestimmt. Art- und gattungsmäßige Systematisierung stellt aber keinesfalls die einzige formale Struktur der Welt dar. Zu berücksichtigen sind noch etwa chaotische Vermischungen von Gattungen und Arten wie auch Entstehung und Aufhören derselben. 111
413 c.b. Form des Bewusstseins. Seine Relation zur Welt. Konsequenzen Aus dem vorangehenden Abschnitt ergibt sich, dass Ingarden die (reale) Welt (W) für ein aus vielen (hinsichtlich der Gattungen „chaotisch“ geordneten) Elementen (E) zusammengesetztes Gegenstandsgebiet hält: W = E1 + E2 + E3 …EN. Damit das Verhältnis des Bewusstseins zu der Welt formal-ontologisch bestimmt wird, müssen wir vorab die Form des Bewusstseins klären. Die Form des Bewusstseins fasst Ingarden im Anschluss an Husserl als „Bewusstseinsstrom“ auf. Das Bewusstsein ist also ein Vorgang und gehört zu den zeitbestimmten Gegenständlichkeiten. Es ist somit kein Gegenstandsgebiet, sondern ein ‚organisches Ganzes, das zum einen aus dem Fluß der Erlebnisse, zum anderen aus dem reinen mit diesen notwendig verbundenen Ich besteht’ (vgl. SEW II/2, 264f). Die Erlebnisse, die im „Werden“ existieren und sich in Momente, Seiten und Phasen aufteilen, sind wie einzelne Wellen im Bewusstseinsstrom. Ingarden vergleicht das werdende Erlebnis mit einem Musikwerk, das sich in der Zeit entwickelt: Die Klänge und Tongebilde entstehen in dem Moment, in welchem man sie gerade spielt. Sobald aber ein Erlebnis sich vollzogen hat, versinkt es in der Vergangenheit als das, was sich im Vollzug gestaltet hat. Innerhalb des Bewusstseinsstroms bilden die Erlebnisse einerseits einen Bestand von Zusammenhängen miteinander, andererseits eine Einheit im Sinne des „Kontinuums“ (vgl. EPhH, 118f). Dieser Einheit des Bewusstseinsstroms liegt eine „ursprüngliche“ Einheit des erlebenden reinen Ich zugrunde (vgl. SEW II/2, 285; OSW, 30). Erlebnisse, die vermöge ihrer Form Vorgänge sind, wachsen aus dem Ich heraus und sind ihm gegenüber seinsunselbständig. Das Ich ist dagegen seiner Form nach ein in der Zeit verharrender Gegenstand. Die Erlebnisse 112
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Vgl. dazu auch 2§1(Kap. III) der vorliegenden Arbeit. Es ist jedoch eine andere Einheit als etwa die der Zeit, wie dies schon das einfache Beispiel des Schlafens zeigen kann. Denn obwohl wir eine Unterbrechung in unseren Erlebnissen erfahren, erfahren wir keinerlei Unterbrechung in unserer Existenz selbst. Ingarden spricht auch von ästhetischen Erlebnissen und stellt fest, dass ihr Objekt nicht dasselbe sei wie das der Erkenntnis oder der praktischen Betätigung (vgl. EKW, 3f). 112 113
414 treten in zwei verschiedenen Abwandlungen auf: Entweder bilden sie ein passives Erleiden des Ich in bestimmten Sachlagen, oder dessen aktives Verhalten. Im zweiten Fall sind die Erlebnisse die Akte des Ich, das zu einem tätigen handelnden Subjekt wird: „Ich denke“, ich erkenne“, „ich liebe“, „ich helfe“ usf. (vgl. EPhH, 227f). Damit wird deutlich, dass das Ich der Träger und das notwendige Seinsfundament der Erlebnisse ist. Dennoch besteht zwischen dem Ich und den Erlebnissen zugleich eine tiefe Verschiedenheit, welche keine Relation im Sinne „Rot-Farbigkeit“ zulässt. Sie wurzelt darin, dass jedes Erlebnis ein reines und bloßes Phänomen bildet, welches sich völlig in den Erscheinungsmomenten erschöpft und somit nur ein rein „immanentes“ Gebilde ist, während das Ich diese rein phänomenale Sphäre der Immanenz erheblich überschreitet (vgl. SEW II/2, 300f). Und hier geht Ingarden über Husserl hinaus. Im Gegensatz zu seinem Meister führt er noch den Begriff der Seele ein, um das Ich in seiner Vollständigkeit erscheinen zu lassen. Damit stimmt er ganz deutlich mit R. Swinburne überein. Mit anderen Worten: Unser Autor will das Ich keinesfalls auf das reine Ich reduzieren. Vielmehr behauptet er, dass zwischen der menschlichen Seele, dem reinen Ich, dem Bewusstseinsstrom (den Erlebnissen) und der sich herauskristallisierenden und – organisierenden Person nicht nur Seinszusammenhänge der Seinsunselbständigkeit bestehen, sondern auch verschiedene funktionelle Abhängigkeiten. Sie alle sind nur gewisse Momente eines innerlich kompakten Wesens, einer „Monade“: Das reine Ich, aus dem sich die Erlebnisse entfalten, stellt das Zentrum (die Achse) der Seele dar. Die Seele steigert sich zu einer Person, weil das reine Ich seiner Funktion gemäß der in der Seele vorherrschende Faktor ist. Es bringt die verschiedenen Eigenschaften der Seele wie auch ihre Akte des bewussten Verhaltens der umgebenden Welt gegenüber zum Vorschein und erlangt dadurch die Bedingungen der Möglichkeit der Verantwortung für das 114
Vgl. Swinburne, R. (1998), 329f. Dieser schreibt: “The soul ist the essential part of person, and it is its continuing which constitutes the continuing of the person” (329).
114
415 Leben der Person (vgl. SEW II/2, 319f; EPhH, 247f). Schematisch könnte man das Ganze folgendermaßen zum Ausdruck bringen: 115
das reine Ich die Seele (=das reale Ich) (wird zur Person)
Erlebnisse (miteinander verbunden)
Nachdem wir die Form des Bewusstseins bestimmt haben, gehen wir jetzt kurz auf die Frage nach dessen Relation zur Welt und den sich daraus ergebenden Konsequenzen ein. Aufgrund des oben Ausgeführten können wir folgende These aufstellen: „Die völlige Außerweltlichkeit des Bewusstseins wird von Ingarden abgelehnt“. Denn das reine Ich befindet sich nach ihm samt seiner Seele und seinem Leib innerhalb der konstituierten Welt. Es ist von der Seele nur rein „abstrakt“ ablösbar. Auch die Husserlsche „radikale“ Differenzierung in der Seinsweise zwischen dem reinen und realen Ich wird von unserem Autor nicht akzeptiert. Aufgrund der formalen Struktur des Ich (vgl. das obige Schema) wäre es kaum möglich, so Ingarden, dem reinen Ich absolute Seinsweise zuzuschreiben, während das reale Ich nur relativ existierte. Beiden kommt die gleiche Seinsweise zu (vgl. SEW II/2, 371). Den Grund des Scheiterns bei Husserl sieht Ingarden im Verbleiben in der Immanenzsphäre: Solange Husserl auf diesem Standtpunkt bleibt, solange schneidet er sich den Weg zu der realen Welt ab und vertritt die Position des transzendentalen Idealismus (vgl. EPhH, 277f). Der transzendentale Idealismus in der Form, welche die seinsautonome Existenz der realen 116
Aus methodischen Gründen können wir hier leider nicht ausführlicher vorgehen und uns auf die Problematik der Person einlassen. Es sei lediglich hinzugefügt, dass Ingarden auch die Rolle des Leibes für relevant hält. Das ist auch ein wichtiges Ergebnis seiner formal-ontologischen Analysen. Es sei daran erinnert, dass Husserl die Seinsweise des Gegenstandes an seiner Gegebenheitsweise orientiert (vgl. auch EPhH, 179). 115
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416 Welt überhaupt leugnet und die existentiale Priorität des reinen Bewusstseins fordert, wird von Ingarden entschieden verworfen. Dank seinen formal-ontologischen Analysen kommt unser Autor vielmehr zur Feststellung, dass jede Welt einerseits ‚seinsselbständig’ sein müsse, nicht zuletzt aufgrund ihrer seinsautonomen Bestandteile, andererseits aber von einem äußeren Faktor (z.B. vom reinen Bewusstsein, falls dieses nicht zur Welt gehören würde) ‚seinsabhängig’ sein könne (aber nicht müsse). Dies kann auf zwei Positionen zurückführen: (A) absoluten Kreationismus – die Welt ist in ihren Bestandteilen seinsautonom, als Ganzes aber seinsselbständig und –unabhängig und zugleich vom reinen Bewusstsein seinsabgeleitet; und (B) realistischen Abhängigkeitskreationismus – unterscheidet sich von (A) nur dadurch, dass die Welt hier vom reinen Bewusstsein seinsabhängig ist. (A) und (B) sind also zwei Abwandlungen des Kreationismus, in welchen einerseits der realistische Charakter der Welt bewahrt, andererseits der Welt eine schwächere Seinsweise als dem reinen Bewusstsein zugeschrieben wird (vgl. SEW II/2, 383f). Welche dieser zwei Positionen zur Geltung kommt, hängt davon ab, ob die reale Welt durch das reine Bewusstsein im Sein erhalten werden muss, auch nachdem sie einmal durch dasselbe erschaffen worden war, oder ob sie von dem reinen Bewusstsein in dieser Hinsicht seinsunabhängig ist. Um das zu entscheiden, reichen aber die formal-ontologischen Analysen noch nicht aus. Es ist eher die Aufgabe von material-ontologischen und metaphysischen Analysen, welche das Wesen sowohl der realen Welt als auch des reinen Bewusstseins erforschen (vgl. SEW II/2, 383f). Bevor wir uns jedoch darauf einlassen, wollen wir noch einige mit der formalontologischen Analyse zusammenhängende mereologische Probleme bei Ingarden behandeln. 117
Im Vergleich mit dem Ergebnis der existential-ontologischen Analysen kommen hier die Positionen (C) realistischer Einheitskreationismus und (D) modifizierter realistischer Einheitskreationismus nicht mehr ins Spiel (vgl. 3§1e [Kap. IV]). 117
417 §3. Mereologische Probleme Dass schlüssige ontologische Analysen kaum denkbar sind, wollen sie mereologische Probleme beiseite lassen, zeigt schon etwa S. Lesniewski. In seiner Konzeption der Mereologie sind unter anderem folgende Terme zu unterscheiden: Eigener Teil, Teil, Überlappen, Differenz, Summe usw. Diese Konzeption führt nämlich auf die axiomatische Theorie zurück, welche auf dem ursprünglichen Term beruht, der in den Sätzen des Typus „Gegenstand G ist Teil von Gegenstand G1“ vorkommt. Auf dieser Grundlage definierte Lesniewski den (für Russells Antinomie relevanten) Term, der in den Sätzen des Typus „Gegenstand G ist Klasse von Gegenständen m“ auftritt. Aber auch D. Lewis, der uns zeitlich näher steht, scheint diese Position zu teilen, wenn er z.B. von der „Unschuld der Mereologie“ spricht. Was heißt das für unsere Untersuchung? In der gegenwärtigen Ingarden-Forschung wird erstaunlicherweise kaum von der Mereologie gesprochen, abgesehen von gewissen Anzeichen, welche im Rahmen ontologisch geprägter Analysen sehr „vorsichtig“ 118
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Vgl. Lesniewski, S. (1916). Der Begriff „Klasse“ im kollektiven Sinn (im Unterschied zu dem im distributiven Sinn) erlaubte erst Lesniewski, eine neue deduktive Theorie zu entwerfen, die er „Mereologie“ nannte. Beim Beweisen der Thesen dieser Theorie nahm er ein „intuitv unwiderlegbares Gefühl der Korrektheit“ und die Tatsache des „konsequenten Gebrauchs von einzelnen und allgemeinen Sätzen“ an (vgl. Rogalski, A.K. [1995], 12f). Mereologie hängt bei Lesniewski aufs engste mit Protothetik und Ontologie zusammen. Das Ganze führte ihn zum Aufstellen eines modernen Systems über die Grundlagen der Mathematik (vgl. Henkin, L. [1963], 323f; auch Sobocinski, B. [1954]. 34f und [1960], 52f). Was Russells Antinomie anbelangt, geht es um die Annahme, dass Klassen eine Spezies von Individuen sind. Diese Annahme führt in die Antinomie der Klasse der Klassen, die nicht Glieder ihrer selbst sind (vgl. Russell, B. [1956], 254f; [1919], Kap. 13 und 17). Vgl. Lewis, D. (1991), 82. Er schreibt: „The ‚are’ of composition is, so to speak, the plural of the ‘is’ of identity. Call this the thesis of Composition as Identity. It is virtue of this thesis that mereology is ontologically innocent: it commits us only to things are identical, so to speak, to what we were committed before”. Wir wollen weder die Mereologie von Lesniewski noch die von Lewis analysieren, wenn wir hier auf diese beiden Denker hinweisen. Wir wollen lediglich den „Boden für Ingardens mereologische Anzeichen“ schaffen, auf dem sie deutlicher begreifbar sind. 118
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418 auftauchen. Indessen liefert uns – so ist meine These – das ontologische Denken Ingardens eindeutige und anschauliche Anstöße sich mit der Mereologie zu befassen. Hauptsächlich erfordern das seine formalontologischen Analysen. Deswegen behaupte ich, dass die mereologische Analyse als eine notwendige Ergänzung der formal-ontologischen Untersuchung bei Ingarden anzusehen ist, was vor allem die Problematik des Gegenstandes ganz deutlich zeigt. Denn die Gegenstände werden nicht nur durch ihre Eigenschaften gekennzeichnet, sondern auch anhand ihrer Eigenschaften klassifiziert. Darüber hinaus sei daran erinnert, dass Ingarden vom Begriffspaar „Form III/Materie III“ spricht, das einen „relational-technischen“ Charakter aufweise und die Anordnung der Teile eines Ganzen bezeichne (vgl. 3§2a [Kap. IV]). Allerdings muss sofort gesagt werden, dass wir weder beabsichtigen, eine gründliche mereologische Analyse bei Ingarden anzustreben, noch eine solche im Sinne der „klassischen“ (d.h. streng mit logischen Symbolen wie bei Lesniewski oder Russell arbeitenden) Mereologie darzustellen. Dies würde nicht nur den Rahmen der vorliegenden Abhandlung sprengen, sondern könnte auch Gegenstand einer Untersuchung „für sich“ sein. Vielmehr wollen wir hier lediglich das Problem formulieren und Grundlinien eventueller mereologischer Analysen knapp skizzieren, welche über die Grenzen des „Teil-Ganzes-Begriffes“ nicht hinausgehen sollen. Aus dem (in den vorangehenden Abschnitten) Ausgeführten ergibt sich, dass die Welt für Ingarden eine komplexe Entität ist. Sie enthält also Individuen (Gegenstände), Eigenschaften, Relationen, Strukturen, Tatsachen usf. Sprachphilosophisch ausgedrückt heißt das, die Welt ist eine Tatsache, die aus anderen Tatsachen besteht, die miteinander verbunden sind. Analoges gilt für die Aufteilung der Welt in Ereignisse, Prozesse und in der Zeit verharrende Gegenstände: Die reale Welt ist ein Ganzes, das sich in diese Elemente aufteilen lässt, wobei sie wiederum 120
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Vgl. z.B. Ogrodnik, B. (2000), 42 – er verwendet jedoch nicht den Begriff “Mereologie”. Auch Haefliger, G. (1994), 452f – dieser spricht von „mereologischen Haufen von Konkreta“. In Anschluss an G. Frege (vgl. [1972], 93) unterscheidet Haefliger zwischen den „Klassen im kollektiven Sinne“ (=mereologische Haufen) und „Klassen im distributiven Sinne“ (Klassen bzw. Mengen). Vgl. Grossmann, R. (2002), 121f.
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419 aufteilbar sind usf. Nehmen wir z.B. einen Gegenstand an: „Gegenstand X ist Y mit den Eigenschaften a, b, c…“. Und das bedeutet nichts anderes, als dass die Eigenschaften a, b, c…die Teile von Y sind, wobei Y mit X gleichzusetzen ist (vgl. TJFPL, 381f, 476f). So könnte man aufgrund der mereologischen Teil-Ganzes-Relation durchaus behaupten, dass z.B. Napoleon sich aus dem Kind Napoleon, dem Jüngling Napoleon, dem Mann Napoleon zusammensetze (vgl. SEW I, 227). Oder ein anderes Beispiel: eine Armee zerfällt in (gleichgeordnete und dennoch von verschiedener Art seiende) Divisionen, die wiederum aus einzelnen „Einheiten“ bestehen, diese aber in einzelne Soldaten aufzuteilen sind (vgl. SEW II/1, 14f). Nun ist die Mereologie bei Ingarden signifikant auf die Begriffe „Teil“ und „Ganzes“ angewiesen. Der zweite Begriff setzt offenbar den ersten voraus. Die Ingardensche Mereologie ist jedoch viel komplizierter, weil sich nicht jedes Ganze gleichermaßen in Teile zerlegen lässt. Die Folge ist, dass wir bis jetzt – sozusagen – den Begriff des Ganzen im „weiteren“ Sinne gebraucht haben. Dagegen behauptet unser Autor, dass ein Ganzes im „strengen“ Sinne nur das ist, ‚was sich mittels einer realen Tätigkeit in effektive, für sich bestehende Teile auseinanderlegen lässt, und sobald es der Teilung unterliegt, hört es auf, realiter zu sein, und an seiner Stelle entsteht eine Menge von anderen „Ganzen“, welche aus ausgeschiedenen Teilen gebildet werden’ (vgl. SEW II/1, 30). Deshalb ist generell zwischen zwei Begriffen des Ganzen zu differenzieren: (1) das innerlich zusammenhängende Ganze – z.B. Organismus, Erlebnis, Gegenstand in 122
Im Sinne des neuzeitlichen Positivismus heißt es dagegen, dass der Gegenstand ein Bündel von Eigenschaften ist. Dieses Bündel stellt eine „Summe von Eigenschaften“ dar. Obwohl Ingarden kein Befürworter von (strengen) Theorien ist, welche den Gegenstand als eine Klasse (Menge, Bündel, Komplex) von Elementen auffassen, weil dadurch der Unterschied zwischen Substanz, Subjekt von Eigenschaften und Natur des Gegenstandes erheblich verwischt wird (vgl. SEW II/1, 164f), finden wir bei ihm dessenungeachtet sichtbare Hinweise auf „kollektionsartige“ (=mereologische) Bündel, welche mit Hilfe der „Teil-Ganzes-Beziehung“ definiert werden, was der folgende Abschnitt zu zeigen versucht. In ihrer modernen Formulierung tritt die Bündeltheorie bekanntlich im englischen Empirismus auf (inbesondere bei Hume). Als spätere Vertreter gelten etwa B. Russell, A.J. Auer, D.C. Williams u.a. 122
420 „formal-ontologischem Sinne“ (d.h. als Zusammensetzung von Form I/Materie I [=Subjekt von Eigenschaften/Eigenschaft]) und (2) das innerlich nicht-zusammenhängende Ganze, d.h. das summative Ganze (SG) – z.B. materielle räumliche Dinge der sogenannten „toten“ Materie wie eine Maschine, Computer usw. Nur das SG stellt das Ganze „im strengen Sinne“ dar und wird durch das Begriffspaar „Form III (= Anordnung der Teile) /Materie III (= Teile)“ zum Vorschein gebracht (vgl. SEW II/1, 16f). Der Begriff des Ganzen lässt sich bei Ingarden durch den der Einheit (E) verdeutlichen: 123
↓ (TE)
GANZES (der weitere Begriff [B]) ↓ ↓ (WE)
(FE)
↓ (HE)
Legende: TE – tatsächliche Einheit (= der strenge [mereologische] B), WE – wesensmäßige Einheit (= der formal-ontologische B), FE – funktionelle Einheit (= WE + funktionelle Abhängigkeit), HE – harmonische Einheit (= der qualitative B). In diesem Abschnitt interessiert uns hauptsächlich der Begriff der TE: Wenn X und Y zusammen so zu einem Ganzen verbunden sind, dass sie zwar in ihm bestehen, aber nicht notwendigerweise, und dass sie durch das Faktum des Zusammenbestehens nicht wesentlich oder überhaupt nicht verändert werden, dann ‚liegt eine TE vor und wir haben es mit einem strengen (d.h. mereologischen) Begriff des Ganzen zu tun’. Die TE, die etwa unter den Teilen einer Maschine besteht, kann zu jeder Zeit aufgelöst werden (vgl. SEW II/1, 40f). 124
Vgl. 3§2a (Kap. IV). Was die anderen Begriffe anbelangt: (WE) - X und Y bilden ein Ganzes, lassen sich ihrem formalen und materialen Wesen nach nicht voneinander ablösen (= der formalontologische Begriff), z.B. konkrete Ausdehnung und konkrete Farbigkeit einer farbigen Oberfläche eines Dinges; (FE) - Speziallfall der WE, liegt dann vor, wenn X und Y wesensmäßig miteinander verbunden und funktionell voneinander abhängig sind, d.h. die Veränderung eines Faktors zieht eine bestimmte Veränderung des anderen mit ihm vereinten Faktors nach sich, z.B. Qualität der Farbe, die ohne 123 124
421 Ingardens „Teil-Ganzes-Mereologie“ kann m.E. zu der gegenwärtigen mereologischen Debatte vor allem deswegen beitragen, weil sie viele mereologische Probleme auf eine einfache Art und Weise und mit phänomenologischer Exaktheit darzustellen vermag. Auch wenn sie auf den Gebrauch der Symbol-Sprache (der klassischen Mereologie) eigentlich verzichtet, kann sie gleichwohl aufgrund ihres „bescheidenen“ begrifflichen Instrumentariums diverse Impulse liefern, welche in vielerlei Fällen die Bearbeitung von mereologischen Fragen erheblich erleichtern könnten. Dass dies keine leeren Worte sind, sei am Paradigma „Schiff von Theseus“ angedeutet. Da haben wir es also mit einem Schiff zu tun, dessen Teile im Lauf der Zeit ausgewechselt werden. Darauf ließe sich etwa der Ingardensche Begriff der TE (bzw. der strenge mereologische Begriff des Ganzen) unkompliziert anwenden. Daher haben wir: 125
Schiff Elemente des Schiffes => Klassifizierung
Das „Schiff von Theseus“ stellt ein Ganzes dar, welches sich in verschiedene Elemente zerlegen lässt: Rumpf, Motor, Segel usw. Da diese Elemente für sich bestehen (d.h. außerhalb des Ganzen selbstständig existieren können, abgesehen von ihrer Funktionsfähigkeit) und wiederum auseinander gelegt werden können, werden sie „effektive Teile“ genannt, und wir haben es mit dem strengen mereologischen Begriff des Ganzen zu tun. Dieses ganze mereologische Verfahren kann (muss aber nicht) zur Klassifizierung der Elemente des Schiffes führen, d.h. die Elemente werden in Klassen aufgeteilt. Es kann unterschiedlichste Kriterien der
irgendeine Helligkeit der Farbe nicht auftreten kann; (HE) - hat einen qualitativen Charakter, besteht zwischen X und Y, wenn diese zwar nicht zusammen sein müssen, aber tatsächlich in der Einheit eines Ganzen zusammen existieren. Ihr Zusammenbestehen zieht das dritte Moment Z in demselben Ganzen notwendig nach sich, wobei Z einerseits beide (X und Y) umspannt, andererseits aber deren Eigenart unberührt lässt (vgl. etwa emotionales Leben). Da dieses Beispiel in 3§1a (Kap. IV) kurz skizziert wurde, verzichten wir hier auf dessen erneute Darstellung. Hier sehen wir von anderen damit zusammenhängenden Problemen ab, z.B. vom Identitätsproblem. 125
422 Klassifizierung geben, z.B. Art des Materials der Elemente (Holz, Eisen), Funktion, Alter usf. (vgl. TJFPL, 385). Die Analyse der Zusammenhänge zwischen den Elementen eines Ganzen, sei es bei einem Gegenstand wie ein Schiff, sei es bei der Welt, muss nach Ingarden dringend auf material-ontologischer Ebene weiter geführt werden (vgl. SEW II/2, 198). §4. Material-ontologische Analyse Aufgrund des oben Ausgeführten sind wir bereits in der Lage, sowohl zu sagen, wie ein Gegenstand X existiert (d.h. welche Seinsweise ihm zukommt) als auch was er ist (d.h. welche Form er hat): Ist er z.B. eine Lampe oder ein Tisch? Im Folgenden gehen wir noch weiter und fragen nach seinem ‚materialen’ (d.h. qualitativen) Aufbau. Dies ist das Ziel von material-ontologischen Untersuchungen. Zugespitzt auf die IdealismusRealismus-Frage heißt es: Ist das reine Bewusstsein ‚wesensmäßig’ in Bezug auf das reale Ich, insbesondere in Bezug auf die Seele seinsunselbständig oder zumindest seinsabhängig? Ist es auch – so wie das Husserl will – „immanent“ gegeben? Das Gleiche gilt ebenfalls für die reale Welt: Ist die reale Welt ‚wesensmäßig’ in Bezug auf das reine Bewusstsein seinsunselbständig bzw. seinsabhängig? Da Ingarden das Erfordernis einer material-ontologischen Analyse (im Rahmen seines „Weges des Realismus“) lediglich signalisiert, diese aber ausführlich nie vollzogen hat, bleiben wir durchgängig im Dunklen. Wir wissen nicht ganz genau, wie unser Autor dieses Vorhaben in die Tat hätte umsetzen wollen. Wir wissen nur, dass damit grundsätzlich das ‚Wesens- bzw. 126
Ingarden hat also keine material-ontologischen Analysen in dem Sinn verwirklicht, dass er ihnen eine eigene Untersuchung – wie dies etwa bei der formal- oder existential-ontologischen Problematik der Fall war – gewidmet hätte (manche material-ontologische Aspekte werden lediglich im Zusammenhang mit der formalontologischen Problematik berührt, und außerdem im Aufsatz „Bemerkungen zum Problem „Idealismus-Realismus“ [vgl. SPhH, 38f]). Woher kommt diese Inkonsequenz bei Ingarden? Der Grund dafür ist wohl vor allen Dingen in den intensiven Forschungen Ingardens auf anderen Gebieten (vor allem der Ästhetik) zu suchen. Dadurch dürfte also unser Autor von den „streng-ontologischen“ Analysen 126
423 Substanzproblem’ gemeint ist (vgl. SEW II/2, 372f). Diese Sachlage fordert von uns, bis zu einem gewissen Grade hypothetisch zu verfahren. In 3§2a (Kap. IV) sind wir auf drei Begriffe der Materie (M) gestoßen: M I, M II und M III. Dabei zeigte sich, dass Ingarden nur die M I, also „das Qualitative im weitesten Sinne“ in Anspruch nehmen will. Als erstes folgt daraus, dass Materie nichts anderes als „Qualität“ ist. Dieser Begriff ist aber bei unserem Autor völlig unklar, sagt A. Poltawski. Aus den gesamten, in verschiedenen Aufsätzen zerstreuten Skizzen ließe sich m.E. freilich folgern, dass damit im Allgemeinen ‚jede zum Wesen gehörende Beschaffenheit’ gemeint ist. Als besondere Kategorie ist „Qualität“ dagegen eine innere, absolute Bestimmung der Substanz (z.B. Röte, Quadratheit usf.). Dadurch erweitert sie den Seinsbestand der Substanz – im Gegensatz zu den äußeren Bestimmungen, wie Ort und Zeit – jedoch ohne Änderung ihres Wesens (vgl. SEW II/1, 245f). Über den Begriff der Materie bei Ingarden können wir desgleichen zwei weitere Dinge behaupten: Zum einen ist auch die Materie – offenbar im Anschluss an die aristotelische Tradition – ausschließlich im Kontext des Begriffs der Form aufzufassen. Daher gilt, dass jede Form von Etwas ‚wesensmäßig’ Form einer material (irgendwie) bestimmten 127
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abgelenkt worden sein (vgl. Majewska, Z. [1995], 62). So erlauben wir uns folgende Frage zu stellen: Inwiefern ist Ingarden sein Realismus und somit die Überwindung der Husserlschen idealistischen Position gelungen? Diese Frage werden wir aber wohl erst am Ende unserer Abhandlung beantworten können. Vgl. Mitscherling, J. (1997), 88. Was andere Begriffe der Materie anbelangt, sei daran erinnert, dass die M II der aristotelische Begriff ist, dessen sich Ingarden m.E. oft auch bedient, selbst wenn er das nicht zugeben will (vgl. Met. VII 3, 1029a [erste Materie: „etwas völlig Unbestimmtes, das jeder Bestimmung zugrunde liegt“] und Phys. I 9, 192a 31f [zweite Materie: „das Material, woraus etwas besteht“]), und dass die M III der relational-technische Begriff ist, der – so war unsere These im vorangehenden Abschnitt – in der Mereologie Ingardens seine Anwendung findet. Vgl. Poltawski, A. (1995a), 117f. Vgl. dazu auch Brugger, W. (1996f), 309. Dadurch, dass sich Ingarden in erster Linie (wenn nicht ausschließlich) auf die Materie I konzentriert, lässt er m.E. „Qualität als Akzidens“ doch zu kurz kommen, die zum Wesen nur hinzutritt und die Substanz in Bezug auf sich selbst bestimmt (nicht unmittelbar in Bezug auf etwas anderes). Zum Begriff des Wesens bei Ingarden vgl. etwa 2§3b (Kap. II). 127
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424 Gegenständlichkeit ist. Ohne eine qualitative Bestimmung wäre jede Form nur ein künstlich geschaffenes Abstraktum, das für sich nicht vorhanden sein könnte, und umgekehrt kann auch die qualitative Bestimmung nicht ohne die Form für sich bestehen (vgl. SEW I, 59). Zum anderen baut sich die qualitative Bestimmung im Zusammenhang mit gewissen „logischen“ Konsequenzen auf, so dass wir sagen können: (1) Röte => (2) Farbigkeit => (3) Ausgedehntheit Mit anderen Worten: Der Begriff (1) setzt (2) voraus, und (2) setzt (3) voraus; es gibt etwa keinen roten Gegenstand, ohne dass er nicht farbig wäre, und es gibt keinen farbigen Gegenstand, ohne dass er nicht ausgedehnt wäre. Dennoch schreibt Ingarden dem Begriff „Röte“ (d.h. „Röte an sich“) eine seinsautonome Existenz zu. Nun hat „Röte“ ihr Seinsfundament in dem Sinne in sich selbst, dass sie in sich selbst vollkommen das ist, was sie ist, und dass sie durch etwas bestimmt ist, was vollkommen in ihr selbst enthalten ist. Aber auch einem konkreten, realen roten Gegenstand X, der die Konkretisation der reinen (idealen) Qualität „Röte“ ist, kommt das Prinzip der Seinsautonomie zu (vgl. SEW I, 80f). All dies ruft uns also ins Gedächtnis, dass Ingarden seine Ontologie in erster Linie als „eine rein apriorische Analyse der Ideengehalte“ auffasst, die auch Konkretisationen von idealen (reinen) Qualitäten sind (vgl. 2§2b [Kap. IV]). Die idealen Qualitäten bestimmen außerdem das Wesen der Materie. Aus dem Wesen der Materie „ergibt sich“ die Form des Gegenstandes X. Ingarden schreibt: „[…] so stoßen wir auf eine […] Ungleichwertigkeit […] der beiden Faktoren zueinander: die Form I scheint etwas von der Materie I Abgeleitetes, Sekundäres zu sein; die Materie ist so, dass sie so oder anders geformt ist […] Und […] scheint es […], dass das Determinierende, Entscheidende im Seienden die Materie I ist, während die Form I sich aus dem Wesen der Materie ergibt“ (SEW I, 51).
Dieses Zitat erlaubt uns eine weitgehende These aufzustellen, dass ‚dem Materialen (Qualitativen) bei Ingarden der Primat zukommt’. Daher stellen sich zwei auf der Ebene der gegenwärtigen Debatte zu erörternde Fragen: (1) Worauf geht das zurück? und (2) Wie verhält sich das zu den Ergebnissen aus der gegenwärtigen philosophischen Forschung? Im
425 Abschnitt 4 (Kap. IV) werden wir unter anderem sehen, dass es einerseits mit dem Problem der Universalien zusammenhängt, andererseits gewisse Beziehungen zwischen der Ingardenschen Position und der „TropenTheorie“ vorliegen. Indessen wollen wir die Beziehungen analysieren, welche sich aus dem Kausalitätsproblem bei Ingarden ergeben. §5. Kausalität Während Russell mit dem Blick auf allgemeine physikalische Theorien entschieden behauptet, dass die moderne Wissenschaft keinen Platz für Kausalität habe und dass der Begriff der Kausalität durch den Begriff der Funktion ersetzt worden sei, will Ingarden dagegen seine formalontologische Analyse präzisieren, indem er Kausalität zum Gegenstand seiner Untersuchungen macht. Denn der kausale Seinszusammenhang bildet nach ihm nicht nur eine Hauptgrundlage der Einheit in der Form der realen Welt, sondern er steht auch mit der Zeitstruktur der realen Welt im engen Zusammenhang, also auch mit dem Problem ihrer Seinsweise (vgl. SEW III, 2). Die Analyse der Kausalität stellt einen aufschlussreichen Schritt auf „Ingardens Weg des Realismus“ dar. Wir unterscheiden zwei Aspekte dieser Analyse: (1) Contra Hume; (2) Auffassung der Kausalität und Konsequenzen für die Welt. 130
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Vgl. Russell, B. (1953). Wie könnte man diese Position bezeichnen? Es gibt m.E. bei Ingarden deutliche Anzeichen, welche ihn in die Nähe des „kausalen Externalismus“ von H. Putnam (vgl. [1975], 196f) bringen. Es ist eine externalistische Position, weil „Bedeutungen nicht im Kopf sind“, so Putnam. Der Kerngedanke des kausalen Externalismus ist, dass die kausalen Beziehungen zwischen Welt und Individuen den Gegenstandsbezug von Ausdrücken festlegen. Putnam erläutert das anhand des Wortes „Elektrizität“. Auch Ingarden bedient sich ähnlicher Ausdrücke, wie wir dies noch weiter sehen werden, obwohl es ihm in erster Linie nicht um sprachanalytische Vorgehensweise geht, sondern eher um formal-ontologische.
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426 a. Contra Hume Trotz ihrer spezifischen Art bleibt der Ingardenschen Kausalitätskonzeption die Konfrontation mit einem der bedeutendsten klassischen Denker, ohne den sich kaum eine philosophische Kausalitätsdebatte vorstellen lässt, keineswegs erspart. Gemeint sind offenbar Hume und dessen Kritik an der Kausalidee. Als Empirist geht Hume in seiner Untersuchung bekanntlich vom Begriff der Kausalität und vor allem von dessen Aspekt der notwendigen Verknüpfung aus und fragt nach einem empirischen Fundament für die verschiedenen Aspekte dieses Begriffs. Da Humes Empirismus ein „internalistisch geleiteter Empirismus“ ist, konzentriert sich Hume auf das, was der Begründung durch das erkennende Subjekt zugänglich ist, also auf Eindrücke (impressions) und Ideen (ideas). Er behauptet, dass der Kausalzusammenhang zwischen Ursache und Wirkung nie ‚a priori’ (d.h. durch die Analyse des Begriffs der Ursache allein) eingesehen werden könne. Mit anderen Worten: Die Wirkung kann nicht aus der Ursache deduziert werden, weil keiner in das Wesen eines Dinges hineinblicken kann, um festzustellen, welche Wirkungen es haben wird. Nach Hume muss man sich also an die Erfahrung halten. Wir erfahren nur eine regelmäßige Abfolge von Erscheinungen. Jedesmal, wenn ich z.B. einen Ball mit meinem Fuß kräftig schlage, bewegt sich der Ball in eine Richtung und mit einer gewissen Geschwindigkeit. Daraus entspringt die Gewohnheit, diese Erscheinungen in zeitlicher Abfolge verbunden vorzustellen. Die Gewohnheit erweckt die Erwartung, dass auch in Zukunft auf die eine Erscheinung die andere folgt. Diese Erwartung beruht jedoch nicht auf einer Vernunfteinsicht in eine innerlich notwendige Kausalverbindung des einen mit dem anderen, sondern allein auf der Gewöhnung an das faktisch regelmäßige Geschehen. Der bloße Bestand von Fakten kann nach Hume als solcher nicht die Aufstellung von Gesetzen rechtfertigen, sondern es bedarf dazu der Begründung, dass eine Einsicht in einen wesentlichen und notwendigen Zusammenhang vorliegt. 132
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Vgl. Ogrodnik, B. (2000), 62. Das werden wir noch unten sehen. Vgl. Hume, D. (1993), 74f. Vgl. auch Coreth, E. u.a. (2000), 129f.
427 Nun sehen wir, dass Kausalität für Hume vorwiegend nichts anderes als eine Abfolge von Ereignissen und Zuständen ist. Dem liegt nach Ingarden die Vorstellung zugrunde, dass wir es mit einer Ursache (U) und Wirkung (W) zu tun haben, welche sich ‚nicht gleichzeitig’ vollziehen. Diese bezeichnet unser Autor als „mittelbare“ U und W. Wollen wir ein Beispiel anführen: Nehmen wir etwa an, ich drücke die Taste E auf der Tastatur meines Computers (=U), und nach ca. einer Sekunde erscheint der Buchstabe E auf dem Bildschirm des Computers (=W). Hier liegen also nach Ingarden nur mittelbare U und W vor, die in erster Linie der Gegenstand der Humeschen Kritik sind. Wenn diese im Spiel sind, dann können wir keinen notwendigen einsichtigen Zusammenhang feststellen (vgl. SEW III, 21f). Jedoch gibt es auch Fälle, in denen „unmittelbare“ U und W aufweisbar sind. Dann erscheint das Kausalitätsproblem in einem anderen Licht. Ingarden schreibt: „Wollen wir das Aufleuchten einer […] elektrischen Lampe zu einer bestimmten Zeit hervorbringen und damit eine […] bestimmte Wirkung realisieren, so ist zu diesem Zweck zwar eine bestimmte elektrische Einrichtung unentbehrlich, aber die Gesamtheit dieser Tatbestände reicht nicht aus, um das Aufleuchten der Lampe von selbst hervorzurufen. Um dies ‚in Gang zu bringen’, muss noch ‚der Strom eingeschaltet’, das heißt der Schalter in die entsprechende Stellung gebracht werden. Indessen ist die Bewegung, welche die entsprechende Einstellung des Schalters hervorbringt, noch keine unmittelbare Ursache des Aufleuchtens […] der Lampe, sondern nur seine mittelbare Ursache. Sie ist lediglich die Ursache dessen, dass durch die neue Einstellung des Schalters der Leiterkreis geschlossen wird […]. Das Schließen des elektrischen Leiterkreises ergänzt also die Gesamtheit der sonstigen unentbehrlichen Bedingungen zu der hinreichenden Bedingung des Strömungsprozesses […]. Der Strom [ist] […] die Ursache […] der Erwärmung […] des Wolframdrähtchens in der Birne […]. Das Eintreten dieses gerade ausreichenden Grades der Erwärmung des Wolframdrähtchens in der Birne ist unter dem Bestehen sonstiger unentbehrlicher Umstände die unmittelbare Ursache des Aufleuchtens, und es ist andererseits dasjenige, was die bereits bestehenden unentbehrlichen Bedingungen zu der hinreichenden Bedingung des Aufleuchtens ergänzt“ (SEW III, 54).
Aus der Auffassung der U als eines Ereignisses, welches das Ergänzungsglied der hinreichenden Bedingung einer Tatsache bildet (und
428 gewissermaßen „schöpferisch“ ist, weil es die W hervorbringt), ergibt sich für Ingarden die ‚Gleichzeitigkeit der U mit ihrer unmittelbaren W’. Das ist der springende Punkt seiner Kritik an Hume, der vor allem für das Spätersein der W nach der U plädiert – als Konsequenz der Akzeptanz von entfernteren (d.h. nur mittelbaren) Gliedern einer Kausalreihe. Damit wollte Hume die zeitliche Entfaltung des Weltgeschehens retten. Bei der Beibehaltung der These, dass der mittelbaren U und W gegenüber der unmittelbaren U und W ein zeitlicher Vorrang zukommt, ist Ingarden der Ansicht, dass ‚der notwendige einsichtige Seinszusammenhang nur zwischen der unmittelbaren (und im ursprünglichen Sinne genommenen) U und W bestehen kann’. Im Falle der mittelbaren U und W lässt sich dies dagegen nicht feststellen; in diesem Punkt stimmt unser Autor mit Hume überein (vgl. SEW III, 20f, 76f). Ingarden wendet also gegen Hume ein, dass dieser das Prinzip der Gleichzeitigkeit abgelehnt hat. Den Grund für diese Ablehnung sieht Ingarden vor allem darin, dass Hume nicht hinlänglich in Betracht gezogen hat, dass es in der Welt nicht nur reine (mathematische) Ereignisse gibt, denen als deren unmittelbarer W wiederum ein Ereignis entspringt, sondern auch kontinuierliche Prozesse und in der Zeit verharrende Gegenstände. Das von Hume formulierte Problem (d.h. der notwendige einsichtige Zusammenhang) lässt sich nach Ingarden nicht durch die Annahme der Ungleichzeitigkeit von der U und W sowie der Existenz sich unmittelbar berührender Zeitmomente umgehen. Dazu ist vielmehr ein formal-ontologisches Gesetz notwendig, nach welchem es die Ereignisse nur unter der Voraussetzung gibt, dass sie sich im engsten Zusammenhang mit den Vorgängen vollziehen und dass ihnen die in der Zeit verharrenden Gegenstände, insbesondere Dinge, zum Seinsfundament dienen. So glaubt Ingarden, dass zum Wesen des aktiven hinreichenden Bedingens gehört, 134
Die für die Gleichzeitigkeit von Ursache und Wirkung plädierende Ingardensche Position wird auch gewissermaßen in der gegenwärtigen Kausalitätsdebatte unterstützt. So liefert uns etwa G.H. von Wrights (vgl. [1993], 118) ein überzeugendes Beispiel aus dem Alltag. Er spricht von einem Container mit zwei Klappen, wobei eine Klappe genau dann offen ist, wenn die andere geschlossen ist. Durch das Schließen der einen Klappe öffnet man gleichzeitig die andere, und durch das Öffnen der einen Klappe schließt man gleichzeitig die andere.
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429 dass ‚kein Zeitunterschied zwischen dem hinreichend Bedingten (z.B. Aufleuchten der Lampe) und dem hinreichend Bedingenden (z.B. Eintreten des ausreichenden Grades der Erwärmung des Woframdrähtchens in der Birne) bestehen kann’ (vgl. SEW I, 91f). Die Position Ingardens könnte man generell als Versuch eines Nachweises der Erfahrung von Kausalität bezeichnen. Insofern stellt sich abschließend die Frage, wie sich dies zu der gegenwärtigen Kausalitätsdebatte verhält. Meine Antwort ist: Dem Ingardenschen Standpunkt stehen manche Positionen unzweifelhaft nahe. So schlägt etwa D. Armstrong vor, dass die Wahrnehmung von Kausalität als Wahrnehmung einer genuinen Relation aufzufassen ist, welche Eigenschaften hat, wie wir sie Kräften in der physikalischen Beschreibung zusprechen, also als Wahrnehmung von Kräften mit einem Ansatzpunkt, mit einer Richtung und mit einer Größe. Zugunsten der Erfahrbarkeit von Kausalität als relationalen Sachverhalten aufgrund solcher Erfahrungen argumentiert E. Anscombe. Es ist ganz deutlich eine realistische Auffassung, in der die Erfahrung von kausalen Sachverhalten nicht mit der unmittelbaren Beobachtung oder Wahrnehmung einer Relation der Kausalität verbunden ist, sondern mit der Erlernung von kausalen relationalen Begriffen. Einen völlig anderen Weg schlägt R. Swinburne ein, wenn er den Begriff der Kausalität mit dem der Handlung verknüpfen will. Sein Argument gegen den antirealistischen Einwand, demnach nur die Erfahrung einer zeitlichen Folge von Zuständen oder Ereignissen empirisch gesichert sei, lautet, dass wir uns dann darin irren würden, dass wir handeln. 135
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b. Auffassung der Kausalität. Konsequenzen für die Welt Aus dem Vorangehenden wird ersichtlich, dass Ingarden seine Konzeption der Kausalität vorwiegend im Blick auf Hume entworfen hat. Im Folgenden wollen wir weitere Grundzüge dieser Konzeption skizzieren. Dazu bedienen wir uns wiederum eines Schemas:
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Vgl. Armstrong, D. (1997), Kap. 14.6. Vgl. Anscombe, E. (1993), 92f. Vgl. Swinburne, R. (1997), 89. Vgl. auch Zdunek, A. (2004), 193f.
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Legende: 1 – Welt; 2 – Tatsache; 3- Glied I (=Tatsache 1)/Bereich der Ursachen (BU); 3a – Glied II (=Tatsache 2)/Bereich der Wirkungen (BW); 4 – äußerer Umfang von BU; 4a – äußerer Umfang von BW; 5 – innerer Umfang von BU; 5a – innerer Umfang von BW; 6 – Träger von Glied I (T1); 6a – Träger von Glied II (T2); 7 – Feld der Ursachen (FU); 7a – Feld der Wirkungen (FW); 8 – Ursache-Wirkung-Beziehung (UWB); 9 – BUBW-Beziehung; 10 – T1-T2-Beziehung. Erklärung des Schemas: Ingardens Konzeption der Kausalität ist stark realistisch geprägt. Das heißt, sie ist in Bezug auf die reale Welt entworfen. Die kausale Beziehung vollzieht sich in der realen Welt (1), in der Ereignisse, Prozesse und in der Zeit verharrende Gegenstände (Dinge) auftreten und zeitliche Verhältnisse feststellbar sind. Auf dieser Ebene wird auch das Wesen der kausalen Beziehung untersucht (vgl. SEW I, 110). In der Welt gibt es Tatsachen (2). Jede Tatsache spielt sich an einer bestimmten Stelle der Welt ab und wird durch zwei Bereiche: BU, BW (3, 3a) bzw. durch vier Umfänge (4, 4a, 5, 5a) gegebenenfalls vorhandener 138
Hier spielt Ingarden auf Wittgenstein an, der die Welt als „Gesamtheit der Tatsachen“ deutet (vgl. TLP, 1.1f).
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431 Tatsachen charakterisiert, die mit ihr und miteinander durch kausale Beziehung (8) verknüpft sind. Eine Tatsache wird durch eine andere Tatsache bzw. Mannigfaltigkeit von Tatsachen gebildet, welche in verschiedenen kausalen Beziehungen miteinander stehen und dadurch die Glieder dieser Beziehung erschaffen, d.h. Ursachen und Wirkungen. Somit entstehen der Bereich der Ursachen und der der Wirkungen (3, 3a), zwischen welchen ebenfalls eine kausale Beziehung (9) vorliegt, und welche jeweils durch einen Träger (in der Zeit verharrender Gegenstand [ZVG] oder Prozess) gehalten werden (6, 6a). Die beiden Träger stehen auch in einem Verhältnis zueinander (10). Im Zusammenhang mit der verschiedenen möglichen Verteilung der Ursachen und der Wirkungen einer Tatsache sind also deren beide Bereiche (BU, BW) jeweils in zwei Umfänge einzuteilen: den inneren Umfang von BU bzw. BW (5, 5a) und den äußeren Umfang von BU bzw. BW (4, 4a). Den inneren Umfang einer Tatsache bilden alle Tatsachen, die Ursachen bzw. Wirkungen dieser Tatsache sind, und die sich im Innern ihres Trägers oder an ihm selbst vollziehen. Den äußeren Umfang erzeugen dagegen (analog) alle Tatsachen, die Ursachen bzw. Wirkungen einer bestimmten Tatsache sind, und die sich außerhalb des Trägers dieser Tatsache abspielen. Die Mannigfaltigkeit der Stellen in der realen Welt, an denen alle Ursachen bzw. Wirkungen einer bestimmten Tatsache auftreten, wird das Feld der Ursachen (FU) bzw. das der Wirkungen (FW) genannt (7, 7a). Das obige Schema macht deutlich, dass Ingarden ein begriffliches Instrumentarium für seine Kausalitätsanalyse herausgearbeitet hat. Abgesehen von den drei im vorigen Abschnitt genannten und im Zusammenhang mit der Kritik an Hume stehenden wesentlichen Merkmalen: (1) Prinzip der Gleichzeitigkeit von Ursache und Wirkung; (2) Auffassung der Ursache als letzten (die hinreichende Bedingung ergänzenden) Faktors (eines Ereignisses) und (3) die aus Ereignissen, Prozessen und ZVG-en bestehende Form der Glieder von kausalen 139
Hier müssen wir noch ergänzen: Ingarden differenziert zwischen Ursache im abgeleiteten Sinn (bezieht sich auf Relationen zwischen idealen Gegenständen, z.B. das Entwerfen des Projekts einer Kathedrale) und der im ursprünglichen Sinn (bezieht sich auf zeitliche Gegenwart, d.h. auf Relationen, die zwischen den einzelnen Phasen des Entwerfens und des Entstehens der Kathedrale vorliegen) (vgl. SEW I, 93f).
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432 Beziehungen, vermag unser Autor in seiner Konzeption dadurch noch andere Faktoren zu benennen. Es sind folgende: (4) die kausale Beziehung hat einen zweigliedrigen Charakter. Sie besteht aus zwei Tatsachen, welche Ursache und Wirkung sind; (5) die Glieder der kausalen Beziehung sind asymmetrisch, d.h. wenn X die Ursache von Y ist, dann ist Y nicht die Ursache von X. Es kommt also darauf an, dass die Ursache ihrer Wirkung gegenüber eine Leistung ausübt, welche die Wirkung ihrer Ursache gegenüber nicht ausübt (vgl. SEW III, 7f). Gehen wir jetzt zu den Konsequenzen für die Welt über, welche sich aus der Ingardenschen Kausalitätskonzeption ergeben. Die Verknüpfung zwischen verschiedenen Tatsachen führt zum Entstehen unterschiedlicher Systeme in der Welt. In dem Kontext lautet Ingardens These, dass es keine „absolut abgeschlossenen Systeme“ innerhalb der Welt gibt. Ein System ist dann „absolut abgeschlossen“, wenn in ihm während seiner ganzen Existenzdauer keine ursächlichen Beziehungen zwischen ihm und der es umgebenden Welt bestehen: weder unterliegt es den Einwirkungen der äußeren Welt, noch übt es auf diese Welt irgendwelche Einwirkungen aus. Dagegen ist es denkbar, „relativ abgeschlossene“ bzw. „relativ isolierte Systeme“ zuzulassen. Relativ isoliert ist ein System, wenn es nur zeitweise, in mancher Hinsicht und bis zu einem bestimmten Grad von der umgebenden Welt „isoliert“ ist. Das bedeutet, dass keine absolute Isolierung zwischen einem System und der Welt wie auch anderen Systemen vorliegt. Die vorliegende relative Isolierung kann aber verschiedenen Schwankungen unterliegen, was nicht selten zur 140
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In der gegenwärtigen Diskussion wird zwischen der kausalen und zeitlichen Asymmetrie unterschieden. Die letztere ist einfach die zeitliche Ordnung von Ereignissen, so dass von zwei nicht gleichzeitigen Ereignissen das eine vor dem anderen auftritt (vgl. dazu etwa Dowe, Ph. [1996], 232; Price, H. [1996], 137f). Bei Hume kommt eine Art Identifikation von diesen beiden Asymmetrien vor. Das dürfte einer der Gründe gewesen sein, welche Hume zur Ablehnung der Gleichzeitigkeit von Ursache und Wirkung bewegt haben. Der Begriff „System“ wird hier verstanden als eine Forderung der (in jeder Vielheit) Einheit und Ordnung suchenden Vernunft, wie auch eine Forderung des Seins und der Wirklichkeit (vgl. Brugger, W. [1996e], 392). 140
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433 Vernichtung zeitlicher Gegenstände führen kann. Mit dem Begriff von relativ isolierten Systemen, welche eine „conditio sine qua non“ der Möglichkeit eines sich zeitlich erstreckenden Weltgeschehens darstellen (vgl. SEW I, 104; SEW III, 101f), kann Ingarden die ‚Form der Welt’ definieren: 142
„Eine Welt ist ein einheitliches System höchster Stufe von vielen seinsselbständigen, aber voneinander in mancher Hinsicht seinsabhängigen […] individuellen Gegenständen, die entweder selbst relativ isolierte Systeme sind oder Glieder solcher Systeme bilden. Ihrer Form nach können sie in der Zeit verharrende Gegenstände, Vorgänge oder Ereignisse sein […]. Jeder in der Welt seiende individuelle Gegenstand […] ist mit irgendetwas in […] der Welt […] verbunden“ (SEW III, 140).
Dieser Auffassung der Welt liegen fünf Prinzipien zugrunde, welche die Erforschung der ursächlichen Struktur der Welt ermöglichen: (1) das Prinzip (P) der Ursache – jedes Ereignis in der Welt hat seine unmittelbare (direkte oder indirekte) oder seine mittelbare nächste Ursache; (2) P der Einzigkeit ursächlicher Determination – neben den Ursachen, die aus einem Ereignis bestehen, gibt es auch Ursachen, welche aus mehreren Ereignissen zusammengesetzt sind. Werden all diese Ereignisse vereinzelt betrachtet, so rufen sie keinesfalls dieselbe Wirkung hervor, sondern erst dann, wenn sie zusammen eine Ursache bilden. Sonst würde das gegen die Auffassung der Ursache als letzten Ergänzungsgliedes der hinreichenden Bedingung eines Ereignisses verstoßen; (3) P der Möglichkeit mehrerer Wirkungen einer Ursache – eine Ursache kann entweder eine oder viele Wirkungen haben; (4) P der Wirkungen - nicht jedes Ereignis hat eine Wirkung, d.h. es gibt auch wirkungslose Ereignisse. Wenn es nicht so wäre, dann wären alle Kausalketten wesensmäßig unabschließbar (unendlich); und (5) P eindeutiger Bestimmung der Wirkung durch die Ursache – (a) weder Ursache noch Wirkung dürfen Unbestimmtheitsstellen enthalten. Ein Ereignis ist dann unbestimmt, wenn es Eigenschaften besitzt, welche lediglich gattungsmäßig bestimmt sind, und welchen niedrigere Bestimmungen fehlen; (b) die Relation zwischen Man könnte hier fragen, was ein Isolator ist. Nach Ingarden beruht die Funktion von Isolatoren hauptsächlich auf der „Gegenwirkung“. Isolatoren sind also verschiedene Stoffe, chemische Substanzen, aber auch alltägliche Dinge wie Kleider usw.
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434 Ursache und Wirkung muss eindeutig sein, d.h. wenn eine Ursache die hinreichende Bedingung ergänzt, ruft sie somit eine Wirkung hervor und bestimmt zugleich diese vollwertig materiell (vgl. SEW III, 142f). Den letzten Schritt der Kausalitätsanalyse könnte man bei Ingarden als Versuch bezeichnen, die Typen der ursächlichen Struktur der Welt zu bestimmen. Im Mittelpunkt steht eine weitere Präzisierung des Begriffs der realen Welt. Um dies zu erfassen, müssen wir auf das obige Schema zurückgreifen, mit dem wir die kausale Beziehung dargestellt haben: Anstelle von nicht näher bestimmten Tatsachen (2) kann man jetzt aber ausschließlich von Ereignissen (E) sprechen, die sich in der Zeit (t) vollziehen, und denen auch die zwei Bereiche BU und BW (3, 3a) und die vier Umfänge (4, 4a, 5, 5a) hinzukommen. So haben wir: 143
E(t) = BU + BW Wenn noch die vier Umfänge hinzukommen, dann ist: E(t) = BU (ÄU + IU) + BW (ÄU + IU) Das sich in der Zeit (t) vollziehende Ereignis E umfasst also den Bereich der Ursachen (BU) und den der Wirkungen (BW), die jeweils aus einem äußeren (ÄU) und inneren Umfang (IU) bestehen. Für sie alle gilt eine dreistufige Bewertung: „maximal“ (M), „partiell“ (n) und „leer“ (o). 144
Das Prinzip (5) steht mit der gegenwärtigen Quanten-Mechanik in engem Zusammenhang und wird von Ingarden so betrachtet. Was die Unbestimmtheitsstellen anbelangt, wurden sie in 3§1 (Kap. III) und 5§1b.c (Kap. V) erläutert. Wir werden weiter sehen, dass der Begriff „Determination“ bei Ingarden – allerdings in der Form des „Determinismus“ von prinzipieller Bedeutung ist, weil er der Analyse von Kausalität dient. In diesem Sinne findet Ingarden etwa in E. Anscombe (vgl. [1993]) eine Verbündete. Der BU (bzw. BW) eines Ereignisses E (t) ist maximal, wenn er den ganzen Bereich von den nichtspäteren (bzw. nichtfrüheren) Ereignissen in der Welt umfasst, die Ursachen (bzw. Wirkungen) von E(t) sein können; der BU (bzw. BW) ist dagegen partiell, wenn zu ihm nur einige von den nichtspäteren (bzw. nichtfrüheren) Ereignissen in der Welt schlechthin gehören, die Ursachen (bzw. Wirkungen) sein können; und schließlich ist der BU (bzw. BW) leer, wenn zu ihm keine von den in 143
144
435 Demnach ergeben sich 81 Möglichkeiten der ursächlichen Struktur der Welt, weil: 3 4 = 81 D.h. drei Bewertungs-Möglichkeiten (M, n, o) werden durch vier Umfänge (ÄU von BU, ÄU von BW, IU von BU, IU von BW) potenziert (vgl. SEW III, 210f). Für die reale Welt im Ingardenschen Sinne taugen jedoch nur die drei allgemeinen Varianten (von diesen 81), welche auch „gemäßigter Determinismus“ genannt werden können: 145
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Welt => (1) Enn/nn
Welt => (2) Enn/oo
Welt => (3) Enn/nn + Enn/oo
Nach Ingarden ist nun lediglich eine solche reale Welt (in allgemeiner Fassung) denkbar, welche die Ereignisse des Typus (1), (2) oder (3) 147
Frage kommenden Ereignissen gehören. Diese dreistufige Bewertung trifft offenbar auch für die (vier) Umfänge von BU und BW zu, wobei hier im Hinblick auf „maximale Stufung“ Folgendes gilt: Beim inneren maximalen Umfang kommen nur alle nichtspäteren (bzw. nichtfrüheren) Ereignisse im Innern des betreffenden in der Zeit verharrenden Gegenstandes (ZVG) ins Spiel, an dem sich E(t) vollzieht, beim äußeren maximalen Umfang hingegen nur alle solchen Ereignisse, die außerhalb des ZVG in der Welt auftreten. Die Rede von „nicht-späteren“ bzw. „-früheren“ Ereignissen führt auf die Konzeption der Ursache (U) zurück, welche Ingarden zulässt, also mittelbare und unmittelbare U. Ingarden hat all diese Ereignistypen in einer genauen Tafel zusammengestellt. Hier können wir sie leider nicht darstellen. Determinismus (D) (im hier gemeinten [ontologischen] Sinne) beruft sich vor allem auf das Kausalgesetz, fasst dieses jedoch nicht nur in der Weise auf, dass jede Wirkung eine hinreichende Ursache haben muss (vgl. Kausalprinzip), sondern auch, dass jede Wirkung in ihrer Gesamtursache vorbestimmt sein muss (vgl. Kausalsatz) (vgl. Willwoll, A. [1996], 60). Ingarden akzeptiert aber keinen so „radikalen“ D, sondern lediglich den „gemäßigten“ D – und zwar in zwei Formen, wie wir dies unten sehen werden. Damit ist nur die allgemeine Struktur der Welt gemeint. Ingarden betrachtet auch in seinen Untersuchungen das Problem der Einzelfälle und Mischfälle, die wir hier nicht angehen wollen, weil uns das vom Hauptthema der vorliegenden Abhandlung zu weit 145
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436 enthält, die ihre ursächliche Struktur bilden. Ist die ursächliche Struktur der Welt aus den Ereignissen des Typus (1) aufgebaut: die Ereignisse besitzen nur einen partiellen äußeren Umfang von BU (= der erste Buchstabe [B] „n“ vor dem schrägen Strich), einen partiellen äußeren Umfang von BW (= der zweite B „n“ vor dem schrägen Strich), einen partiellen inneren Umfang von BU (= der erste B „n“ nach dem schrägen Strich) und einen partiellen inneren Umfang von BW (= der zweite B „n“ nach dem schrägen Strich), so wird sie „allgemeiner gemäßigter Determinismus“ genannt (vgl. SEW III, 285f). Analog wenn die ursächliche Struktur der Welt aus den Ereignissen des Typus (2) besteht, d.h. wenn die Ereignisse nur einen partiellen äußeren Umfang von BU, einen partiellen äußeren Umfang von BW, einen leeren Umfang von BU und einen leeren Umfang von BW beweisen, dann haben wir es mit „äußerem gemäßigtem Determinismus“ zu tun. Schließlich wäre es auch möglich, die Existenz einer realen Welt zu denken, deren ursächliche Struktur die Ereignisse des Typus (3) bildeten, also die Verknüpfung von (1) und (2) (vgl. SEW III, 312f). Diese deterministischen Strukturen, in denen die Ereignisse durch komplexe Ketten verbunden sind, können allein jedoch nicht die Einheit der realen Welt gewährleisten. Dazu müssen noch drei zusätzliche Bedingungen in Erfüllung gehen, welche eine unentbehrliche Voraussetzung des Nichtvorhandenseins eines absolut abgeschlossenen Systems in der Welt bilden: Erstens darf es in der Welt keine zwei 148
ablenkt. Es sei nur signalisiert, dass es um die Frage geht, ob gewisse Ereignisse, welche für die allgemeine Fassung der Welt (vgl. diese 81 Fälle) untauglich sind, doch als Einzelfälle bzw. Mischfälle auftreten könnten. Als Antwort gilt es, dass es in einigen Fällen möglich wäre (vgl. vgl. SEW III, 357f, 385f). Allerdings gilt im Fall dieser Verbindung unbedingt Folgendes: Die Ereignisse des Typus Enn/nn kommen ausschließlich in Gegenständen höherer Ordnung vor (= Gegenstände, [1] deren Seinsfundament ursprünglich individuelle Gegenstände [vgl. unten] sind; [2] die ein eigenes Subjekt von Eigenschaften und eigene Eigenschaften haben; und [3] die Teile haben können, welche mit ihnen nicht unbedingt identisch zu sein brauchen, weil sie selbst Gegenstände höherer Ordnung bilden können). Die Ereignisse des Typus Enn/oo treten dagegen nur in ursprünglich individuellen Gegenständen auf (= Gegenstände, [1] welche nicht mehr teilbar sind; und [2] an welchen sich lediglich seinsunselbständige Momente [insbesondere Eigenschaften] unterscheiden lassen) (vgl. SEW III, 307). 148
437 verschiedenen, miteinander unverbundenen Kausalnetze geben. Zweitens muss es die erste Ursache (d.h. Ursprungsereignis [Allursache] E?M/?M) aller kausalen, zur Welt gehörenden Ketten geben. Und drittens muss jeder Verzweigung einer kausalen Kette eine spätere Verknüpfung von entstandenen Netzen mit anderen kausalen Ketten entsprechen: Beispielsweise muss der Verzweigung der kausalen Kette, die als Konsequenz des Eintretens der Allursache erfolgt, die Vernetzung aller Ketten im Abschlussereignis entsprechen, was also notwendig voraussetzt, dass das Abschlussereignis vom Typus EMo/Mo ist (vgl. SEW III, 299f). Ob diese Strukturen tatsächlich realisiert werden können, soll nach unserem Autor nicht zuletzt die Metaphysik (bzw. Naturwissenschaft) entscheiden. 149
§6. Metaphysische Implikationen Da Ingardens Kausalitätskonzeption desgleichen durch gewisse naturwissenschaftliche Implikationen gekennzeichnet ist, welche etwa auf die Akzeptanz von relativ isolierten Systemen hinauslaufen (vgl. SEW III, 410f), könnte man mit Recht meinen, sie strebe gleichsam in Richtung von einigen empirischen modernen Kausalitätsinterpretationen. Dessen ungeachtet will sich die Ingardensche Position auch von diesen Interpretationen abgrenzen – aufgrund spezifischer metaphysischer Akzente. In Betracht ziehen wir zwei moderne Auffassungen der Kausalität: „Kausalität als Austausch von Erhaltungsgrößen“ (KAE) und „Kausalität als Kraft“ (KK). Die KAE hat es mit Begriffen wie Energie, Impuls, elektrische Ladung, Spin usf. zu tun. Es sind die Größen mikrokausaler Sachverhalte und sie bleiben im System erhalten, während sich die entsprechenden Größen der Teilchen des Systems ändern. In dieser Konzeption wird die Kausalität mit dem Austausch von solchen Erhaltungsgrößen identifiziert. Der Austausch von Erhaltungsgrößen kommt bei Wechselwirkungen vor. So werden etwa Protonen in der Die beiden Fragezeichen besagen, dass der äußere und innere Umfang von BU unbekannt sind. Ansonsten gilt die bereits erklärte Symbolik. 149
438 elektromagnetischen Wechselwirkung oder Gravitationen in der Gravitationswechselwirkung ausgetauscht. In der KK dagegen werden Wechselwirkungen als „Relationen (= Kräfte) zwischen Feldern und Teilchen“ aufgefasst. Die Kausalität wird hier unter anderem durch dispositionale Eigenschaften erklärt. Dispositionen sind Eigenschaften von Gegenständen, welche unter bestimmten Bedingungen selbst eine Veränderung erfahren oder an einem anderen Gegenstand etwas bewirken: Dispositionen von Glas sind etwa, unter bestimmten Bedingungen zu brechen, oder die von Eis, unter bestimmten Bedingungen zu schmelzen. Diesen zwei modernen Kausalitätsauffassungen stehen etliche Elemente der Ingardenschen Kausalitätskonzeption nahe. Erinnern wir uns etwa an das im vorletzten Abschnitt geschilderte Lampenbeispiel: In diesem Fall liegt die KK evident vor. Denn wenn gewisse Bedingungen gegeben sind (z.B. das Wolframdrähtchen in der Birne, das nach dem Erreichen einer bestimmten Temperatur zu leuchten beginnt; oder der elektrische Leiterkreis, der mit dem Moment seiner Schließung das Fließen des Stroms so ermöglicht, dass die Erwärmung des Wolframdrähtchens eintritt), dann sind auch die Relationen zwischen gewissen Feldern (wie dem Feld des Wolframdrähtchens und des Leiterkreises) und den Teilchen (wie den Elementen des Stroms) erkennbar. Aber auch die Anzeichen der KAE lassen sich im Ingardenschen System nachweisen. Bereits das Auftreten des Stromelements mitsamt den damit verbundenen (elektrischen) Phänomenen vermag diese Behauptung im genannten Beispiel zu begründen. Darüber hinaus betritt Ingarden in diesem Zusammenhang das Feld mancher Naturwissenschaften und fragt nach deren Rolle für die ontologische Betrachtung des Kausalproblems. Angesprochen werden vor allem Physik und Astrologie, in welchen der Austausch von gewissen Erhaltungsgrößen zweifelsohne vorkommt. Eine wissenschaftliche empirische und experimentelle Erforschung kausaler Zusammenhänge ist dann denkbar, wenn in der Welt relativ isolierte Systeme auftreten können, 150
Vgl. Zdunek, A. (2004), 179f, 235f. Was die ontologische Analyse dispositionaler Eigenschaften (DE) anbelangt, sind grundsätzlich zwei Positionen zu unterscheiden: (1) DE als Vermögen, etwas an Gegenständen zu bewirken; (2) DE, welche unter bestimmten Bedingungen selber eine Veränderung erfahren oder an einem anderen Gegenstand etwas bewirken.
150
439 d.h. wenn nicht „alles von allem“, sondern nur „manches von manchem“ kausal abhängig ist (vgl. SEW III, 417). Wie oben angedeutet, will sich Ingarden jedoch ferner von empirischen modernen Kausalitätsinterpretationen durch gewisse metaphysische Elemente abgrenzen, so ist meine These. Zum einen geht das auf seinen Begriff der Metaphysik und dessen Verhältnis zur Ontologie zurück. Danach hat also die Metaphysik über das Wesensfaktum zu entscheiden, wobei ihr eine ontologische Untersuchung vorangehen muss (vgl. SPhH, 43). Zum anderen ist das Verhältnis zwischen Metaphysik und den sogenannten „positiven“ (bzw. „Spezial“-) Wissenschaften relevant. So unterscheidet sich die Metaphysik von den „positiven“ Wissenschaften einerseits dadurch, dass sie die Gesamtheit des Seienden überhaupt der Idee nach umfasst, während die einzelnen „positiven“ Wissenschaften immer nur ein begrenztes Gebiet untersuchen. Das Gleiche gilt im Hinblick auf die Kausalitätsproblematik. Andererseits – und das ist noch wichtiger – erstrebt die Metaphysik die absolute (d.h. ihrer Geltung nach prinzipiell unaufhebbare) Erkenntnis des tatsächlichen Wesens der untersuchten Gegenstände und der sich aus diesem Wesen ergebenden verschiedenen Kausalbeziehungen zwischen den existierenden Gegenständlichkeiten. Zudem bilden ihren Gegenstand Fragen, welche die 151
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Diese Analyse der Rolle der Naturwissenschaften bleibt leider unabgeschlossen. Jedoch können wir schon aufgrund dessen, was Ingarden untersucht hatte, die Richtung seiner Forschungen erkennen. Vgl. dazu 3§2a (Kap. IV) der vorliegenden Arbeit. E.M. Swiderski (vgl. [1995], 41f) hält die Ingardensche Bestimmung des Verhältnisses zwischen Ontologie und Metaphysik für rätselhaft und wirft Ingarden „philosophische Naivität“ vor, wenn dieser seine Ontologie mit der „Beschreibungs-Methode“ treibt (es ist aber nicht sicher, ob Swiderski hier ganz konkret Ingardens phänomenologische Akzente im Auge hat). Nach Swiderski können wir bei Ingarden von einer negativen und positiven Relation (R) zwischen Ontologie und Metaphysik sprechen: negative R – wenn der Ontologie keine besondere Position der faktischen Welt gegenüber zukommt, so könnte sich herausstellen, dass sich kein metaphysischer Einsatz in Bezug auf das faktisch Reale mit ontologischen Elementen begründen lässt; positive R – wenn metaphysische und ontologische Behauptungen auf denselben Grundlagen beruhen, wobei die letzteren sich auf Fakten beziehen, dann hat Ontologie „prima facie“ metaphysische Bedeutung. 151
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440 (letzte) Ursache der tatsächlich existierenden Welt betreffen, d.h. welche sich auf die Nichtnotwendigkeit der realen Welt ihrer Idee gegenüber – sowohl ihrer Existenz als auch ihrer Qualifizierung nach – beziehen. Dagegen setzen nach Ingarden die „positiven“ Wissenschaften das Wesen (samt den dazu gehörenden kausalen Problemen) in unaufgeklärtem Status voraus und wollen das empirisch Gegebene in dessen voller Zufälligkeit erfassen (vgl. SEW I, 48f). Daher wäre es zu fragen, ob diese Divergenz Auswirkungen für die Betrachtung des Ingardenschen Standpunkts aus Sicht anderer ontologischer Ansätze und dessen Würdigung hat. 4. Ingardens Ontologie aus Sicht der ontologischen Ansätze innerhalb der gegenwärtigen Philosophie. Eine kritische Würdigung „Identität und Ontologie sind aus einem Guß.“
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Den Grund der Husserlschen Misserfolge, deren Konsequenz der transzendentale Idealismus ist, erblickt Ingarden bekanntlich in Husserls Ausgang vom immanent zugänglichen reinen Bewusstsein und im Verbleiben in den Analysen der Immanenzsphäre (vgl. SEW II/2, 395). Deshalb rechtfertigt unser Autor das Erfordernis einer ontologischen Analyse, deren wichtigste Schritte wir im bisherigen Teil des IV. Kapitels zu skizzieren versucht haben. Um dies noch mehr zu erhellen, wollen wir jetzt die ontologische Position Ingardens im Lichte einiger ontologischer Aspekte aus der gegenwärtigen Philosophie bündig diskutieren. Aus Sicht des bis jetzt Ausgeführten sprechen dafür mindestens drei Gründe: Erstens finden wir bei Ingarden evidente Merkmale vor, welche uns auf die sogenannte „Philosophy of Change“ zu schließen erlauben. Es sind etwa folgende Begriffe: Bewegungen (Motions), Veränderungen (Variations: events, processes, continuities usf), Ersatzelemente (Substitutions). Zweitens haben wir es bei unserem Autor mit dem Universalienproblem zu tun; folglich bezeichnen wir ihn als einen „Realisten“. Ein Realist ist also 154
Quine, W.V.O. (2003c), 71. Vgl. Campbell, K. (1998), 361f. Nach Campbell wäre es denkbar, diese Begriffe auch als Teile der modernen „Kosmologie“ aufzufassen.
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441 der Meinung, dass es nicht nur individuelle konkrete Dinge allein gebe, sondern auch universale und abstrakte wie z.B. „Quadratheit“, „Röte“ usw. Und drittens stoßen wir in der Ontologie Ingardens auf das Substanzproblem, wenn er den Begriff des „In der Zeit verharrenden Gegenstandes“ einführt und ihm quasi die Rolle des traditionellen Substanzbegriffes zuschreibt (vgl. SEW I, 217). 155
§1. Aus Sicht der Substratum- und Bündel-Theorie Für die ontologische Auffassung der Wirklichkeit bzw. der Welt sind in der gegenwärtigen philosophischen Diskussion vor allem zwei grundlegende Theorien von besonderer Bedeutung: Substratum- und Bündel-Theorie. Während die erstere „gewissermaßen“ auf Aristoteles zurückgeht, hängt die letztere dagegen etwa mit dem Namen von Hume und Williams zusammen. Damit gefragt werden kann, in welche Richtung sich die Ingardensche Position möglicherweise neigt, müssen wir diese beiden Theorien vorab kurz umreißen. Die Bündel-Theorie (BT) ist eine Theorie der Substanz in Bezug auf die aktuelle Welt. Sie fordert also nicht nur die Existenz von Universalien, sondern schreibt ihnen auch eine fundamentale und konstituierende Rolle beim Aufbau der Welt zu. In der Beschreibung der Welt lässt sie folglich keinen Platz für unreduzierbare Substanzen zu. Nach J.O´Leary-Hawthorne ist etwa in der BT folgende Differenzierung durchzuführen: 156
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Vgl. MacDonald, C. (1998), 330. Als Gegenposition zum Realismus gilt in der gegenwärtigen Philosophie der „Nominalismus“ (also nicht „Idealismus“ wie dies Ingarden behauptet), der kurzum besagt, dass alles, was in der Welt existiert, konkret und individuell sei. Dass bei Ingarden realistische Züge festzustellen sind, ergibt sich schon aus dem Ausdruck „Ingardens Weg des Realismus“. Vgl. Loux, M.J. (1998), 117. Vgl. auch Aristoteles (vor allem) Met. VII f.; Hume, D. (1993); Williams, D.C. (1953), 3f. Was die Substratum-Theorie (ST) anbelangt, gilt: Die ST darf nur „gewissermaßen“ auf Aristoteles zurückgeführt werden, d.h. sie übernimmt von ihm nur einige Merkmale. Damit unterscheidet sie sich von der reinen aristotelischen Theorie (vgl. Fußnote 162 [Kap. IV]). Die hier gemeinten Universalien werden oft auch „immanente Universalien“ (im Gegensatz zu den platonischen Universalien) genannt, d.h. sie existieren in Raum und Zeit als deren Träger, z.B. Röte usf.
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442 „The Bundle Theory must of course distinguish between a list and statement, or – moving now from the formal to the material mode – between the existence of universals F, R, G on the one hand and the state of affairs that is F´s being R to G on the other.” 158
Nun konstruieren die Bündel-Theoretiker geradeso die Welt, dass die ‚Attribute eines Gegenstandes mit dem Gegenstand selbst essentiell und notwendig verknüpft sind’. Daher ist der Gegenstand nichts anderes als seine Attribute, und alle Attribute gestalten gleichermaßen das Sein des Gegenstandes. Diese Position wird auch „ultraessentialistisch“ genannt, weil jede Eigenschaft mit einem konkreten Objekt essentiell verbunden ist. In einer analogen Relation zu der Welt steht die Substratum-Theorie (ST). Sie ist jedoch ganz anders aufgebaut und fordert nach einem Subjekt für die mit einer konkreten Substanz verknüpften Attribute. Die ST setzt sich 159
O´Leary-Hawthorne, J. (1998), 205. Nach G. Haefliger (vgl. [1994], 388) können wir folgende Typen von Bündeltheorien unterscheiden: (1) Klassenauffassung (a = {F, G}) – a ist identisch mit der Klasse der Eigenschaften F und G; (2) Kollektionsauffassung (a =
) – a ist identisch mit einem Haufen von Eigenschaften bzw. mit der Summe der Eigenschaften F und G; und (3) Strikte Bündeltheorie (a = [R /F,G/]) – a ist identisch mit einem Bündel von Eigenschaften, wobei Bündel von Eigenschaften weder Klassen noch Kollektionen von Eigenschaften, sondern Totalitäten von Eigenschaften sind, deren Konstituenten ihrerseits miteinander in einer besonderen Weise verbunden sind. Vgl. Loux, M.J. (1998), 121. Diese Position bringt auch viele Probleme mit sich. Nach O´Leary-Hawthorne (vgl. [1998], 207f) sind es folgende: (1) The Problem of Change – the Bundle Theory (BT) cannot account for the fact that actual things undergo change; (2) The Problem of Contingent Properties – the BT cannot account for the fact that actual things possess many of their properties contingently; (3) The Problem of Duplication – the BT cannot account for the fact that various actual things are or could be duplicated by qualitatively indistinguishable things; (4) The Problem of Space-Time Absolutism – the BT is committed to a false theory of space and time (vgl. Relationalismus); (5) The Problem Amstrong-Black objection – the BT is defeated by the non-transitivity of the relation of colocation, as it applies to universals; (6) The Triplication Problem – the BT cannot distinguish between duplication and triplication; (7) The Regress Problem – whenever a particular is analyzed into a bundle of universals, tacit reference will always made to some other particular(s); and (8) The Vacuity Problem – the BT is empirically vacuous. 158
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443 also für ein Konstrukt ein, das aus den Eigenschaften und dem Subjekt als deren Träger besteht. Nach der ST ist freilich das Subjekt mit seinen Eigenschaften nicht essentiell verbunden. Alle Attribute bzw. Eigenschaften, welche dem Subjekt zugeschrieben werden, sind ihm gegenüber extrinsisch und akzidentiell. M.J. Loux verdeutlicht dies mit folgendem Beispiel: „[…] Socrates is courageous. Courage […] is merely accidental to a concrete object [...]. Courage [...] is merely accidential to Socrates. After all, Socrates could exist without being courageous [...]. We have a subject whose essence or core being does not include the attribute for which it is the subject. However, Socrates is also the subject for the kind ‘human being’. Socrates and not some constituent in him is the thing that is human; but the kind human being is what marks out Socrates as what he is, so in this case our subject is not something with an identity independent of the universal for which it is subject. Take the man away from Socrates and there is nothing left that could be a subject for anything.” 160
Diese ST-Position, die in Frage stellt, dass die Eigenschaften in ihrer Funktion dem Subjekt gegenüber essentiell sind, wird auch als „antiessentialistisch“ bezeichnet. Mit anderen Worten: Nichts ist essentiell dem Träger der Eigenschaften gegenüber. Was Ingardens Standpunkt anbelangt, haben wir bei ihm zum einen die Struktur „Subjekt von Eigenschaften + Eigenschaften“ festgestellt (vgl. 3§2b [Kap. IV]). Ein individueller seinsautonomer Gegenstand ist also demnach Subjekt von Eigenschaften. In seinen Eigenschaften findet er die Ausprägung seines Selbst. Er enfaltet sich gewissermaßen in ihnen und prägt sich damit in ihnen aus. Als solche Ausgestaltung des Selbst sind seine Eigenschaften in ihrer Gesamtheit mit ihm (zumindest partiell) identisch, obwohl sie nicht alles das in ihm erschöpfen, was er ist. Abstraktiv in sich selbst betrachtet und formal genommen ist jede Eigenschaft einerseits etwas dem Subjekt Entgegengesetztes, andererseits stellt sie zugleich infolge ihrer Form ein dem Subjekt notwendig Zugehöriges dar. Material gesehen ist sie dagegen nur eine TeilErscheinung des Selbst des Gegenstandes. Nach Ingarden lassen sich das 161
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Loux, M.J. (1998), 120. Vgl. Loux, M.J. (1998), 120f.
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Subjekt und seine Eigenschaften voneinander nur abstrakt unterscheiden, während sie aber konkret in einer ‚wesensmäßigen’ Einheit miteinander stehen, einander ergänzen und in diesem Sich-gegenseitig-Ergänzen die eine Grundform des Gegenstandes bilden. Dabei ist allerdings zu bemerken, dass zu der Form „Subjekt von Eigenschaften“ nicht eine Eigenschaftsform, sondern eine zusammengesetzte Form einer Vielheit von miteinander verwachsenen und in demselben Subjekt sich einigenden Eigenschaften notwendig zugehört (vgl. SEW II/1, 64). Zum anderen führt unser Autor bekanntlich den Begriff des „In der Zeit verharrenden Gegenstandes“ (ZVG) in seine Ontologie ein, mit dem er sich aufs Feld des aristotelischen Substanzverständnisses begibt. So schreibt er dem Begriff des ZVG einerseits die Rolle der aristotelischen „ersten Substanz“ zu (z.B. dieser bestimmte Mensch). Hier erscheint also der ZVG als Träger von Prozessen und Ereignissen. Andererseits wird aber dagegen der ZVG als etwas aufgefasst, was als ‚identisch derselbe’ in den immer neuen Zeitaugenblicken verbleibt, solange er existiert. Dabei haben wir es eindeutig mit dem Begriff der „Substanz als Washeit“ (die zweite Substanz bei Aristoteles) zu tun (vgl. SEW I, 215f). Als Ergebnis der Analyse in diesem Abschnitt gilt, dass die Ingardensche Position sowohl ganz deutlich in Richtung der ST tendiert, wenn sie mit der (auch in der ST dominierenden) Struktur: „Subjekt von Eigenschaften + Eigenschaften“ arbeitet, als auch gewisse Elemente der BT beinhaltet, welche etwa in der „wesensmäßigen Einheit des Subjekts mit seinen Eigenschaften“ zu erkennen sind. Es handelt sich also bei unserem Autor – das ist meine These - um ‚einen Versuch, diese beiden Theorien in Einklang zu bringen’, selbst wenn dieses Unternehmen von ihm keineswegs so formuliert worden ist. Vielmehr ist Ingarden fest davon überzeugt, dass er seinen eigenen ontologischen Weg einzuschlagen habe. Und dieser Weg führt ihn schließlich gleichsam zu Aristoteles zurück, so dass man auch mit Recht behaupten kann: Es ist ein Weg, der generell dem zwischen dem „Ultra-“ und „Anitessentialismus“ nahe steht und nicht
445 zuletzt nicht zu übersehende Auswirkungen auf die Identitätsproblematik hat. 162
§2. Eine Skizze der Identitätsproblematik
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Betrachten wir den Ingardenschen Begriff des „In der Zeit verharrenden Gegenstandes“ (ZVG) im Sinne der zweiten aristotelischen Substanz, dann stoßen wir unter anderem auf das Problem der Identität, das hier nur ganz bescheiden berührt werden kann. Die Identität führt häufig zu philosophischen Verwirrungen, schreibt Quine. Wie kann man sagen, dass ich ich selbst bleibe, da ich doch Veränderungen durchlaufe? Wie kann man sagen, dass ich länger als bestenfalls eine solche Periode lang ich bleibe, da sich meine materielle Substanz doch alle paar Jahre vollkommen erneuert. Kann dies auch im Falle gewisser Schicksalsschläge gelten? Dieses letztere weist ganz deutlich das folgende Beispiel auf: 164
„We have […] poor Tibbles. Suppose we call her tail ‚Tail’ and the remainder of her ‚Tib’, as before. At a certain time, t, say, Tibbles is perfectly normal cat with tail, felis caudata. Then comes the accident in which she loses Tail, and at a later time t’, Tibbles, having survived, is tailless, felis incaudata. [...] Tib and Tibbless were obviously distinct, having different weights, shapes, and parts”. 165
Den Weg zwischen „Ultra-“ und „Antiessentialismus“ könnte man schlicht und einfach als „reine aristotelische Theorie“ bezeichnen. Sie besteht darin, dass die konkreten Substanzen selbst die Subjekte für alle ihre Eigenschaften sind, wobei die Eigenschaften einerseits mit ihren Subjekten (die ihre Träger sind) „essentiell“ verbunden sind, andererseits aber diesen gegenüber akzidentiell und kontingent sind. Mit anderen Worten: Die konkreten Substanzen gehören essentiell zu ihrer Gattung und zeigen sich durch viele (ihrem Wesenskern gegenüber) extrinsische Attribute (vgl. Loux, M.J. [1998], 121). Der Titel des Paragraphen selbst macht schon deutlich, was wir hier beabsichtigen. Da die Identitätsproblematik in der gegenwärtigen philosophischen Debatte in vielerlei Hinsicht ausführlich diskutiert worden ist, gehen wir mit großem Respekt an sie heran. Vgl. Quine, W.V.O. (1979), 67. Simons, P. (1987), 118. Dieses Beispiel wird von Simons ausführlicher erörtert, aber auch etwa von D. Wiggins (vgl. [2001], 173f). Hier können wir es leider nicht tun. 162
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446 Das sich aus diesem Beispiel ergebende Hauptproblem könnte man auf folgende Frage zurückführen: Ist die Katze Tibbles ohne Schwanz und zu der Zeit t2 mit der Katze Tib mit dem Schwanz und zu der Zeit t1 identisch? Die Antwort auf diese Frage, aber auch auf alle anderen und mit dem Identitäts- und somit Kontinuitätsproblem zusammenhängenden Fragen, hängt offensichtlich ganz entschieden davon ab, mit welchen Kriterien in einer Analyse gearbeitet wird. Mit Bezug auf den Personbegriff können wir die Identitätsfrage dennnoch mehr problematisieren, weil dann viele mentale Faktoren ins Spiel kommen: Ist die Person P2 zu der Zeit t2 dieselbe Person wie die Person P1 zu der Zeit t1? Und mit D. Lewis können wir noch anschaulicher vorgehen und fragen: Was ist das Identische in mir, der ich gerade existiere und in zwei Wochen noch existieren werde? Was ist das Entscheidende für meine Existenz die Zeit hindurch? Lässt sich dies mit einem Begriff auf den Punkt bringen? In der gegenwärtigen philosophischen Debatte über das Identitätsproblem stoßen wir grundsätzlich auf zwei Tendenzen, welche auf empirische bzw. dualistische Theorien hinausgehen. Dementsprechend werden auch Kriterien formuliert, die zeigen, was für personale Identität als evident gelten kann. Für die empirischen Theorien sind daher vor allem folgende Kriterien relevant: (1) Körper-Kriterium (K) – Person P2 zu der Zeit t2 ist mit Person P1 zu der Zeit t1 nur dann identisch, wenn P2 denselben Körper wie P1 hat. Dieses K ermöglicht die Aufstellung der elementarsten Theorie der personalen Identität überhaupt. Demnach wird die personale Identität durch die Körper-Identität konstituiert, und sie unterscheidet sich essentiell nicht von der Identität materieller Objekte schlechthin (vgl. das obige Beispiel über Tib/Tibbles); (2) Gehirn-K – Person P2 wird zu der Zeit t2 166
Ursprünglich kommt das Beispiel offenbar von William of Sherwood durch P.T. Geach (vgl. Simons, P. [1987], 115). Vgl. Lewis, D. (1983), 56. Lewis tritt vor allem gegen Parfit auf (vgl. unten), und seine Position wird „The simple view“ genannt. Sie lässt also nicht die Behauptung zu, dass die „Original-Person“ im Falle einer Spaltung zu existieren aufhöre, während die „Spaltung“ ihren Platz einnehme. Lewis (vgl. [1986], 202) hat sich in der analytischen Ontologie vor allem mit der Unterscheidung zwischen „perdure“ (mitdauern) und „endure“ (dauern) durchgesetzt. 166
447 dieselbe Person sein wie P1 zu der Zeit t1, wenn P2 zu t2 dasselbe Gehirn wie P1 zu t1 hat. Dieses K akzentuiert, dass die personale Identität keinesfalls der Identität des ganzen Körpers bedarf, sondern vielmehr lediglich der Identität des Gehirns als des Kontroll-Organs von Gedächtnis, Charakter usf.; (3) Gedächtnis-K – Person P2 zu der Zeit t2 ist dieselbe Person wie P1 zu t1 bereits dann, wenn P2 zu t2 mit P1 zu t1 durch Erfahrungs-Erinnerungen verbunden ist. Diesem K gemäß wird die personale Identität durch psychologische Faktoren aufgebaut. Die einfachste Form dieser Position finden wir bei Locke; (4) Parfit´s Argument – bezieht sich quasi auf die „Natur“ der personalen Identität und versucht die These zu begründen, dass „identity is not what matters in survival“ (=Complex View). Die dualistischen Theorien dagegen akzentuieren zwei Elemente: Leib und Seele, die in einer engen Verbindung miteinander stehen. Diese Ansicht war schon sehr früh in der 167
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Vgl. Noonan, H.W. (1989), 2f. In Bezug auf das Gehirn-Kriterium gehen die Diskussionen offenbar viel weiter und bringen den Begriff des Spenders eines Gehirnteils ins Spiel. Demnach ergibt sich folgendes Kriterium: Person P2 at t2 is the same person as person P1 at t1 if and only if enough of the brain of P1 at t1 survives in P2 at t2 to be the brain of a living person. Vgl. Locke, J. (2000), 410f. Im Anschluss an Locke wurde dieses Kriterium weiter entwickelt aber auch kritisiert. Einige der wichtigsten Positionen sind: (1) The psychological continuity criterion – P2 at t2 ist the same person as P1 at t1 if and only if P2 at t2 is psychologically continuous with P1 at t1 (andere psychologische Faktoren sind Wünsche, Glaubensakte, Erwartungen usw.); (2) The circularity objection – besagt gegen Locke, dass man mit dem Gedächtnis keine personale Identität definieren kann, weil das erstere das zweite bereits voraussetzt; (3) The reduplication argument – (vgl. Williams, B. [1956]) zwei rivalisierende Kandidaten für die Identität mit der Originalperson müssen eine neue Existenz bekommen, keiner von ihnen darf mit dem anderen identisch sein; (4) The revised psychological continuity criterion - (vgl. Shoemaker, S. [1970] und [1970a]) versucht (3) in Frage zu stellen, indem es sagt: P2 at t2 is the same person as P1 at t1 just in case P2 at t2 is psychologically continuous with P1 at t1 and there is ‚no rival candidate’ P2 also psychologically continuous with P1; (5) die multiple occupancy thesis – ist ein logisches Argument und richtet sich auch gegen (3). Der Einwand dieses Argumentes lautet kurzum (mit den Worten von Lewis): „two minds with but a single thougth“ (vgl. Noonan, H.W. [1989], 10f). Vgl. Parfit, D. (1971), 3f. Parfit tritt bekanntlich gegen (3) und im Sinne von (4) auf. 167
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448 philosophischen Reflexion vertreten. Die Namen eines Plato, Aristoteles, Descartes oder Thomas von Aquin ließen sich ohne diesen Bezug kaum erfassen. Im Anschluss an diese Lehre hat sich in der gegenwärtigen Debatte über das Identitätsproblem eine Position entwickelt, die „The simple view“ genannt wird und die Person als „rein mentale Einheit“ auffasst. Jetzt wollen wir die Ingardensche Position, die auch im Hinblick auf die Identitätsproblematik einen formal-ontologischen Zugang erfordert, im Kontext der oben skizzierten gegenwärtigen Theorien zu verstehen suchen. Das Ganze ließe sich mit folgendem Schema darstellen: 170
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Identität (=Dieselbigkeit) ↓ ↓ (A) zeitliche Gegenstände (B) rein intentionale Gegenstände ↓ ↓ ↓ E V ZVG (=Person) Wir sehen, dass der Begriff der Identität bei Ingarden mit dem der Dieselbigkeit gleichgesetzt wird. Unser Autor hat zwei Arten von Identität im Auge: Identität zeitlicher Gegenstände (A) und Identität rein intentionaler Gegenstände (B). Dadurch gewinnt er für seine Identitätsanalysen ein viel breiteres Feld als die meisten sich hauptsächlich auf die personale Identität konzentrierenden gegenwärtigen Diskurse. Während (A) bekanntlich in Ereignisse (E), Vorgänge (V) und in der Zeit verharrende Gegenstände (ZVG) aufgeteilt wird, wobei die letzteren auch Personen umfassen und darum für uns von besonderer Bedeutung sind, handelt es sich dagegen bei (B) um Gegenstände, von denen lediglich die Gehalte für eine Identitätsdiskussion gewichtig sind. Da wir aber auf diese noch im Kapitel V eingehen müssen, bleiben sie hier unangetastet. Wir fangen also mit Ereignissen und Vorgängen an. Von der Identität eines E lässt sich im Rahmen der Ingardenschen Begrifflichkeit keinesfalls problemlos reden, weil ein E – wie wir uns 170 171
Vgl. Swinburne, R. (1998), 327f. Vgl. Lewis, D. (1983), 55f.
449 daran erinnern (vgl. 3§2bc [Kap. IV]) – das „Ins-Sein-eintreten“ ist; es spielt sich also ausschließlich im Rahmen eines Jetzt ab (vgl. SEW II/2, 10). Indes kann die Identität als das „Es-selbst-bleiben“ nur dort vorhanden sein, wo die Existenz des Gegenstandes sich auf eine Zeitphase erstreckt. Wir können jedoch nach Ingarden über die Identität eines E nur insofern sprechen, als es in der Seinsweise des „Nachlebens“ bzw. „Nachexistierens“ gedacht wird: Wenn etwa X und Y dasselbe E meinen, das sich schon in der Vergangenheit abgespielt hat bzw. noch in der Zukunft abspielen wird. Auch bei Vorgängen bzw. Prozessen gibt es gewisse Dilemmas. Denn jeder V ist einerseits ein immer wachsendes Ganzes von Phasen, andererseits aber ein eigentümliches, immer im Werden begriffenes und sich in seinem Beschaffensein aufgrund der bereits vollzogenen Phasen konstituierendes Subjekt von Eigenschaften, also Gegenstand. Am Beispiel des Organismus, der während seines ganzen Lebens dem Stoffwechsel unterliegt, stellt Ingarden jedoch fest, dass sich die Identität eines V nur insofern „retten“ lässt, als sich die Einheit und Identität des Lebensprozesses erhält, in welchem sich der betreffende Organismus befindet (vgl. SEW II/2, 73f). Durch seine Identitätsanalyse des ZVG begibt sich Ingarden schließlich in den Bereich der personalen Identität im Sinne der gegenwärtigen Debatte. Die Folge ist, dass auch die Person für einen ZVG gehalten wird (vgl. SEW II/2, 11). Von diesem Standpunkt aus versucht unser Autor erst das Spezifische der personalen Identität zu bestimmen. So ist für ihn die Identität keine Eigenschaft der Person, sondern ein ‚eigentümliches Moment der Form I der Person, das erst alle Eigenschaften der Person ermöglicht’. Die Identität gehört zum Wesen der Person, so dass diese in sich sie selbst verbleibt. Mit anderen Worten: Die Person ist in sich selbst sie selbst nur deswegen, weil sie in sich selbst ihr eigenes Wesen verkörpert, das durch eine bestimmte Natur konstituiert ist. Im Gegensatz zu vielen gegenwärtigen Denkern spricht Ingarden nicht von zu erfüllenden Kriterien im Hinblick auf personale Identität, sondern vielmehr von 172
Unter der Form I versteht Ingarden „das radikal Unqualitative als solches, in dem das Qualitative im weitesten Sinne (=Materie I) steht“ (vgl. 3§2a [Kap. IV]).
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450 Bedingungen (B). Es sind folgende: (1) Einheits-B – Person muss eine sein; (2) Natur-B – die konstitutive Natur der Person muss eine sein; (3) Kontinuitäts-B – Person muss in Bezug auf ihre Existenz Kontinuität bewahren; und (4) Veränderungs-B – keine Veränderung an der Person ändert etwas an ihrer Identität (vgl. SEW II/2, 24f). Abschließend formulieren wir das Ingardensche Prinzip der Identität aufgrund dieser Bedingungen und mit dem Blick auf die gegenwärtige Debatte: „Person P2 zu der Zeit t2 ist mit P1 zu t1 identisch dann und nur dann, wenn P2 zu t2 und P1 zu t1 eins sind (P2/t2 = P1/t1), wenn P2 zu t2 mit P1 zu t1 eine konstitutive Natur (KN) haben (KN-P2/t2 = KN-P1/t1), wenn P2 zu t2 kontinuierliche Existenz (kE) von P1 zu t1 ist (P2/t2 = kEP1/t1) und wenn P2 zu t2 und P1 zu t1 keine Veränderungen der Identität (I) zulassen (I{P2/t2 + P1/t1}= I{P2/t2 + P1/t1})“. Damit wird also klar, dass die Ingardensche Position einerseits sich mit den heutigen Thesen in vielen Punkten deckt, andererseits aber diese selbstverständlich bereichert, z.B. durch den Begriff der konstitutiven Natur. Als summative Ganzheit und mit den obigen Zeichen ausgedrückt heißt es: 173
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Kriterium bedeutet für Ingarden lediglich ein Anzeichen der Identität, also jenes Moment, das auf das Bestehen der Identität in einem individuellen Fall zu schließen erlaubt, während die Bedingung über die Identität entscheidet. Die konstitutive Natur (KN) ist „Materie“, welche die Person vollständig bestimmt und aufs engste mit dem Wesen verbunden ist (vgl. 3§2b.a [Kap. IV]). Bezogen auf einen Gegenstand erklärt Ingarden den Begriff der KN etwa mit dem Beispiel einer Vase: Eine bestimmte griechische Vase wird in Stücke zerschlagen, und diese Stücke werden zu Pulver zermalmt. Die Vase existiert nicht mehr, ihre Stelle hat das Pulver eingenommen. Und dieses Pulver ist mit jener Vase nicht mehr identisch, weil die KN der Vase eine völlig andere ist als die des Pulvers. Ein anderes Beispiel Ingardens ist eine Raupe, die zum Schmetterling wird. Hier spielt Ingarden auf das bekannte Beispiel vom „Schiff des Theseus“ an (vgl. 3§1a [Kap. IV]). Allerdings nimmt die Stelle des Schiffes der Regenschirm eines Professors ein. Beim gleichen Argumentationsweg kommt Ingarden zum Schluss, dass die Erhaltung des gesamten Materials eines Gegenstandes zur Bewahrung der Identität desselben nicht ausreicht. Entscheidend sind vielmehr seine konstitutive Natur und sein Wesen. 173
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451 Identität = (P2/t2 = P1/t1) + (KN-P2/t2 = KN-P1/t1) + (P2/t2 = kE-P1/t1) + (I{P2/t2 + P1/t1} = I{P2/t2 + P1/t1})
Zum Verständnis des Identitätsprinzips trägt auch eine kurze Erläuterung der sogenannten Tropen-Theorie bei. §3. Ingarden und die Tropen-Theorie Es gibt relevante Gründe, weswegen wir auch auf die Tropen-Theorie (TT) kurz eingehen müssen. Erstens hat sich in 4§1 (Kap. IV) ergeben, dass Ingarden mit seiner Ontologie sowohl in Richtung der Bündel- (BT) als auch der Substratum-Theorie (ST) geht. Zweitens hat sich herausgestellt, dass bei unserem Autor über das Universalien-Problem zu reden ist (vgl. 2§2b [Kap. IV]). Drittens wird die TT in der gegenwärtigen Debatte für „single-category-ontology“ gehalten. Und viertens entspringt schließlich den drei obigen Sachverhalten die Frage, wie sich der Ingardensche Begriff der Idee zu der TT verhält. Versuchen wir die TT aus Sicht der oben genannten Anhaltspunkte kurz zu analysieren. Die BT und ST sind bekanntlich mit der Nominalismus-RealismusDiskussion eng verbunden. Während die Nominalisten nur für eine Welt offen sind, in welcher alles, was existiert, partikular und konkret ist, wollen die Realisten dagegen auch die Universalien in diese Welt miteinbeziehen – mit der Folge, dass die Behauptung zugelassen wird, es gebe Dinge, welche zu derselben Zeit an mehreren Stellen sein können, z.B. das Rotsein eines auf dem Schreibtisch liegenden Kugelschreibers und das eines auf dem Boden liegenden. Weder Nominalisten noch Realisten liefern jedoch eine einwandfreie Bestimmung des Verhältnisses zwischen dem Gegenstand und seinen Eigenschaften. Wenn sie dies zu tun versuchen, sind sie prinzipiell auf zwei Theorien angewiesen: die BT und ST. Denn einerseits stoßen wir in unserer alltäglichen Erfahrung in erster Linie auf unzählige Eigenschaften von Gegenständen, bzw. auf Akzidenzen von Substanzen, wobei beide miteinander wesentlich 176
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Vgl. MacDonald, C. (1998), 338.
452 verknüpft sind. Das ist also die Ansicht eines Bündeltheoretikers. Andererseits haben wir aber den Eindruck, dass ein Gegenstand mit seinen Eigenschaften, bzw. eine Substanz mit ihren Akzidenzen keinesfalls als identisch gehalten werden darf. Vielmehr gilt die Substanz als Träger ihrer Akzidenzen. Daher haben wir es hier mit der Position eines Substratumtheoretikers zu tun. Hinsichtlich dieser beiden Theorien ist für unsere Analyse die These bedeutsam, dass wir bei Ingarden Merkmale entdecken, welche seine Tendenzen in beide Richtungen „verraten“. Da unser Autor zudem ein Realist ist, hat er auch keine Schwierigkeiten, die Universalien in sein „ontologisches Spiel“ zu bringen. Seine Position muss aber noch an einer dritten ontologischen Möglichkeit gemessen werden, die in die gegenwärtige philosophische Debatte unter dem Namen der TT eingegangen ist. Die TT wird als „single-category-ontology“ bezeichnet. Diese Bezeichnung führt vor allem auf die Auffassung von Tropen zurück. Für einige Autoren gelten die Tropen als fundamentale Elemente einer Ontologie und werden „abstract particulars“ genannt. Nun wenn etwa die Rotheit schlechthin ein Universal-Begriff ist, stellt die Rotheit dieses (konkreten) Kugelschreibers den Tropen-Begriff dar, d.h. die „Rotheit dieses Kugelschreibers“ wird einfach als Trope bezeichnet. Die Tropen können - so wie die Universalien - zu demselben Zeitpunkt an verschiedenen Stellen erscheinen. Eine Summe von Tropen konstituiert ein konkretes abstraktes Seiendes (Ding, Gegenstand), nämlich „abstract particular“. Damit können die Tropen als eine Lösung gelten, welche gewissermaßen sowohl der realistischen als auch der nominalistischen Position entgegenkommt. Für unsere Abhandlung ist vor allen Dingen der realistische Aspekt bedeutsam. Wenn ein Realist z.B. eine Katze sieht, dann behauptet er im Rahmen der TT, dass er nicht die Katze selbst sieht, antastet usf., sondern die Tropen dieser Katze. Dabei sind nach ihm die Farbe, das Gewicht, die Temperatur der Katze usf. nur 177
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Vgl. Macdonald, C. (1998), 330f. Vgl. etwa Williams, D.C. (1953).
453 Vorstellungsobjekte. Die TT konstruiert also einerseits die fundamentale Relation zwischen den die Substanz aufbauenden Tropen, die auch „primitive tropes“ genannt werden, andererseits aber die mereologische Relation innerhalb der Substanz selbst (Teil-Ganzheit-Relation). All dies lässt uns die Frage stellen: Wie verhalten sich die Tropen zu den Ingardenschen Ideen? Mit anderen Worten und ganz konkret ausgedrückt: Wie verhält sich z.B. der Begriff „Trope einer Katze“ zu dem Begriff „Idee einer Katze“? Was den ersten Begriff anbelangt, so sprechen wir – wie oben angedeutet von den „Tropen einer Katze“, d.h. von „abstract particulars einer Katze“, und die miteinander verbundenen Tropen bilden die Substanz einer Katze. Die „Idee einer Katze“ hat dagegen einen doppelseitigen Aufbau (vgl. 3§1a [Kap. II]): Zum einen hat sie eine Struktur „qua idea einer Katze“, d.h. eine Menge von Eigenschaften, die sie „qua idea einer Katze“ bestimmen und ihr eine vom Bewusstsein unabhängige Existenz verschaffen. Zum anderen besitzt die „Idee einer Katze“ einen Gehalt, durch den sie zu der „Idee einer bestimmten Katze X“ werden kann. In diesem Gehalt gibt es Konstanten und Variablen. Während die Konstanten etwa Katzheit, Sinnewesen, Schwanz- und Vierpfoten-Wesen usw. sind, stellen die Variablen dagegen irgendeine Farbe, irgendeine Haarenlänge, irgendein Gewicht usf. dar. Daher ergibt sich, dass die Begriffe „Tropen einer Katze“ und „Idee einer Katze“ sich in einem Punkt treffen, nämlich in „Katzheit“. Die Folge ist, dass Katzheit sowohl eine Trope als auch eine Konstante darstellt. Nur das, was Ingarden als Konstante bezeichnet, deckt sich m.E. mit dem, was unter einer Trope zu verstehen ist. Der Ingardensche Begriff „Idee einer Katze“ hat also eine viel breitere Extension als der Begriff „Tropen einer Katze“. Das ist nicht zuletzt seiner realistischen Färbung zu verdanken. 179
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Vgl. Campbell, K. (1998), 353f. D. Davidson behandelt diese Problematik aus Sicht der Kausalität (vgl. ders. [1967], 691f.). Vgl. Macdonald, C. (1998), 334.
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454 §4. Kritischer Ausblick mit Hilfe von Putnams Argumentation Aus dem vorangehenden Abschnitt ergibt sich, dass Ingarden in vielerlei Hinsicht der gegenwärtigen Debatte nahe steht. Allerdings wird das von ihm Gemeinte oft mit anderen Begriffen zum Vorschein gebracht (vgl. Trope = Konstante). In einigen Fällen liegt bei Ingarden desgleichen eine deutliche extensionale Differenz vor. Diese entspringt zumeist den realistischen Auffassungen, die nicht immer miteinander übereinstimmen. Hier kann auch eine Kritik ansetzen, beispielsweise mit Hilfe der Argumentation Putnams. Putnam will bekanntlich zwischen dem metaphysischen (MR) und internen Realismus (IR) unterscheiden. Nach dem MR besitzt die Welt eine von unserer Erkenntnis unabhängige Beschaffenheit. Da der metaphysische Realist Wahrheit als Entsprechung von Urteil und Sache auffasst, ist er folglich auf die Korrespondenztheorie der Wahrheit angewiesen. Insofern scheint Putnam mit Ingarden in Einklang zu stehen, bei dem wir auch von einem MR sprechen können, demgemäß die Welt unabhängig von der Erkenntnis existiert. Der Ingardensche Begriff des MR wird allerdings in der Auseinandersetzung mit Husserl entworfen, bei dem – so ist die These Ingardens - eine bestimmte Form des idealistisch geprägten erkenntnistheoretischen Realismus (ER) festzustellen ist, demnach die Existenz der realen Welt von dem reinen Bewusstsein abhängig ist (vgl. 2§3 [Kap. IV]). Mit der Argumentation Ingardens kann man sich aber in der gegenwärtigen Debatte kaum durchsetzen, zumal bei unserem Autor jede Spur des IR fehlt, ohne den sich tatsächlich weder realistische Ansätze noch Interpretationsversuche des Husserlschen Denkens diskutieren lassen. Indes fordert der IR keine so radikale Interpretation Husserls, wie wir sie bei Ingarden vorfinden, und der zufolge Husserl einerseits sich gegen den MR wendet, andererseits am idealistischen ER haften bleibt. Darum kann 181
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Vgl. Putnam, H. (1987), 36. Bei Ingarden selbst kann man auch von einem erkenntnistheoretischen Realismus reden. Dieser Realismus weist aber keine idealistischen Anzeichen auf und unterscheidet sich somit von dem bei Husserl. 181 182
455 der IR m.E. eine sinnvolle Alternative zu der Ingardenschen Auslegung sein. Der interne Realist, so Putnam, lässt nicht nur die Existenz einer unabhängig von uns existierenden Welt zu, sondern vertritt auch zugleich die Auffassung, dass die Gegenstände der Erkenntnis uns immer nur „intern“ (d.h. von unserer Perspektive abhängig) gegeben sind. Der IR stellt also nichts anderes als eine Art „Gratwanderung“ zwischen dem MR und dem Relativismus dar, wobei dieser letztere (im Falle unserer Untersuchung) auf den idealistisch geprägten ER hinausläuft. Während der MR für uns - trotz seiner Faktizität - grundsätzlich unerreichbar bleibt, behauptet der Relativismus dagegen, dass unsere Erkenntnis immer relativ in Bezug auf ein Begriffssystem sei, d.h. die Perspektive oder Sprache des Beobachters lasse sich aus dem Wirklichkeitsverständnis nicht ausschalten. Putnam wendet sich gegen die positivistische Trennung von Tatsachen und Werten, der auch Ingarden durch seine Einwände gegen den transzendentalen Idealismus Husserls erlag (vgl. 2 [Kap. I]). Es gibt keine Tatsachen ohne Werte, und es gibt keine Welt ohne Werte; diese sind aber objektiv. Wenn der Positivist bzw. Relativist für seine These argumentiert, so muss er schon objektive epistemische Werte voraussetzen, z.B. den der Richtigkeit. Alle Werte, einschließlich der kognitiven Werte, ohne die Wissenschaft nicht möglich ist, leiten ihre Autorität von der Idee der menschlichen Entfaltung und von der Idee der Vernunft ab. Darum gilt auch, dass Wahrheit nach dem IR als ‚idealisierte rationale Akzeptierbarkeit’ anzusehen ist. Der Hinweis auf eine Idealisierung will klar machen, dass die Bedingungen, unter denen die Behauptung eines Satzes der natürlichen Sprache gerechtfertigt ist, sich weder überblicken noch spezifizieren lassen. Deshalb ist eine definitive Rechtfertigung nicht möglich. So scheint auch die Position Ingardens, der Husserl den transzendentalen Idealismus vorwirft, keinesfalls problemlos zu sein. Sie wird durch den IR Putnams gewissermaßen entlarvt. Denn im Lichte des IR erscheint die Rolle des Husserlschen reinen Bewusstseins ganz anders. Es hat die 183
Vgl. Putnam, H. (1999), 199f. Auch vgl. Blume, Th. u.a. (1998), 181f und Coreth, E. u.a. (1993), 211f.
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456 Aufgabe zu erfüllen, das sinnvolle Reden über die Gesamtheit des Seienden zu unterstützen, das von den erforderlichen Erkenntnisbedingungen keineswegs getrennt werden darf. Die Hervorhebung dieser Aufgabe kommt bei unserem Autor leider viel zu kurz. Seinen „speziellen Realismus“, mit dem er Husserls transzendentale Position zu überwinden hofft, bezeichnen wir in der vorliegenden Abhandlung als „Ingardens Weg des Realismus“. Er spielt sich – so wie dies das ganze Kapitel IV aufzuweisen strebt - prinzipiell auf zwei Ebenen ab: auf der existential- und formal-ontologischen, wobei die letztere noch durch eine Analyse der kausalen Struktur der Welt bereichert wird. Dieser „spezielle Realismus“ hat seine Spuren auch in der Ontologie der Kunst hinterlassen. Das soll im Kapitel V untersucht werden. 184
5. Zusammenfassung Mit dem Kapitel IV haben wir zu zeigen versucht, dass Ingarden – nebenbei gesagt: trotz vieler Überredungsversuche Husserls zugunsten der transzendentalen Reduktion – ein Ontologe geworden ist. Unser Autor hat sich also für die Ontologie entschieden, die von Husserl als „ein gesperrter Weg“ bezeichnet worden war, weil nach ihm alles schließlich doch reduziert werden muss. Auch die harte Behauptung des Meisters, dass solange man die transzendentale Reduktion nicht mitmacht, man nur an der Pforte der Philosophie stehen bleibe und das noch keine Philosophie sei,
Das hängt generell damit zusammen, dass wir es bei Ingarden mit „Essentialismus“ zu tun haben. Das ist die Folge des Ingardenschen Zugangs zur Existenz (zum Dasein). Das heißt, das Dasein wird – getrennt von seinem faktischen Existieren - als „Korrelat“ unserer Erfassungen betrachtet (vgl. Ingardens Einwände gegen Husserl), und das Existieren selbst (als ein Bündel existentialer Momente) wird auf die Art und Weise des ‚Wesens’ begriffen. Das bezeugen die Bestimmungen von einzelnen existentialen Momenten wie auch die Setzung der existentialen Position von dem, was ideal oder rein intentional ist, als gleich mit der realen Existenz, die einfach eine ‚einzige Existenz’ ist. Die Phänomenologie – auch als ‚Ontologie’ – befasst sich nicht mit der Existenz als solcher, sondern mit dem ‚Bewusstsein der Existenz’; die Art der Existenz wird durch die Art der Erkenntnis bestimmt (vgl. Stepien, A.B. [1995], 313; Swiderski, E.M. [1994], 183f.). 184
457 konnte den Schüler von seiner ontologischen Entscheidung nicht abbringen (vgl. EPhH, 211f). Das IV. Kapitel gliedert sich in drei grundlegende Teile. Nach der einführenden Reflexion, in der Ingarden als selbständiger und sich immer mehr von Husserl distanzierender Denker bezeichnet worden war, wurden im ersten Teil des Kapitels manche begriffliche Vorarbeiten vorgenommen. Es ging um die neue Bestimmung des Verhältnisses zwischen Ingarden und Husserl wie auch um die Klärung der für unsere Abhandlung wesentlichen Begriffe. Was das erste anbelangt, zeigte sich, dass Ingarden durch seine Ablehnung der transzendentalen Reduktion Husserls das Feld ontologischer Analysen erreichte, deren Hauptziel die Erforschung von Ideengehalten ist. Der weitere Abschnitt zielte darauf ab, die Ontologie als Grundlage zum Verstehen des Ingardenschen Realismus darzustellen. Die Voraussetzung dafür war die Erläuterung der Begriffe Ontologie und Realismus. So stellte sich heraus, dass der Begriff der Ontologie unbedingt mit dem der Metaphysik zu verknüpfen ist, weil die erste der zweiten das Untersuchungsfeld vorzubereiten hat. Damit bleibt unser Autor ganz deutlich in der abendländischen philosophischen Tradition verwurzelt. Die Ingardensche Ontologie betrifft folgende drei Entitäten: ideale Qualitäten, Ideengehalte und individuelle Gegenstände (vgl. SEW I, 33f). Hinsichtlich des Realismusbegriffs kam dagegen zum Vorschein, dass er sich bei Ingarden nicht außerhalb der IdealismusRealismus-Debatte bestimmen lässt. Einerseits gilt Realismus als Gegensatz zu Idealismus, andererseits als „Anwalt“ der unabhängigen Existenz der realen Welt. Aus Sicht der gegenwärtigen philosophischen Diskussion sprachen wir bei unserem Autor auch von metaphysischem und erkenntnistheoretischem Realismus. Anschließend wurde die These vom „Realismus bezüglich des Allgemeinen“ in einem kritischen Kontext vorgeschlagen. Der zweite Teil des Kapitels befasst sich bereits sogleich mit der Ontologie des Seins und entspringt prinzipiell dem Grundsatz, dass jeder Gegenstand von drei verschiedenen Gesichtspunkten zu betrachten sei: hinsichtlich seiner Existenz, seiner Form und seiner materialen Ausstattung (vgl. SEW I, 58f). Als erstes zeigte sich, dass ein existierender Gegenstand uns niemals ohne sein Sein und seine Seinsweise gegeben ist. So wie bei Kant ist auch für
458 Ingarden die Existenz kein Prädikat; es wurde am Beispiel einer Lampe verdeutlicht. Eine Existenzweise besteht aus mehreren intuitiv zu erschauenden existentialen Momenten. Ingarden unterscheidet vier verschiedene Gegensatzpaare von existentialen Momenten, welche miteinander verknüpft werden können: Seinsautonomie und -heteronomie, Seinsursprünglichkeit und -abgeleitetheit, Seinsselbständigkeit und unselbständigkeit, Seinsunabhängigkeit und –abhängigkeit. Erst mit Hilfe dieser Momente werden verschiedene Existenzweisen bestimmt. Nach Ingarden lassen sich diese auf zwei grundlegende reduzieren: absolute und relative Existenzweise, wobei die letztere noch in ideale, reale (zeitlich bestimmte) und intentionale aufzuteilen ist (vgl. SPhH, 27f; SEW I, 87f). Da die reale Existenzweise für unseren Autor wegen ihrer Relevanz für seine Auseinandersetzung mit Husserl von besonderer Bedeutung ist, war es auch erforderlich, eine Analyse des Zeitfaktors durchzuführen. Dabei ergaben sich weitere existentiale Momente: Aktualität, Dauerhaftigkeit, Spaltbarkeit und Gebrechlichkeit. Die zwei letzteren tragen ganz besonders zum Aufhören der realen zeitlichen Existenz bei. Dies bringt Ingarden in die Nähe von Heidegger und dessen Reflexion über die Problematik des Todes. Dank der existential-ontologischen Analyse kann Ingarden die Idealismus-Realismus-Frage (IRF) und die Husserlsche Position ganz neu formulieren. Während die IRF etwa lautet: Gehört zu der Idee der realen Welt, dass sie seinsautonom, -ursprünglich und –unabhängig ist? wird der Husserlsche Standpunkt als „idealistischer Abhängigkeitskreationismus“ bezeichnet (vgl. ELK, 117f; SEW I, 141f). Die formal-ontologische Analyse haben wir mit der Erläuterung der formalen Grundkategorien begonnen. So zeigte sich, dass Ingarden einerseits nicht ohne die aristotelischen Begriffe auskommen kann, andererseits aber eine spezifische dreifache Differenzierung vollzieht: Form I/Materie I, Form II/Materie II und Form III/Materie III. Dabei ist für ihn nur das erste Begriffspaar von besonderer Bedeutung (vgl. SEW II/1, 5f). In weiteren Abschnitten galt es der Problematik des Gegenstandes auf die Spur zu kommen. Das Ergebnis war, dass nach unserem Autor an einem Gegenstand nicht nur die formale Struktur zu unterscheiden ist, die aus dem Subjekt von Eigenschaften und den Eigenschaften selbst besteht, sondern auch formale Aspekte (Vollbestimmtheit, Einfachheit usw.). Die Gegenstände werden durch Sachverhalte dargestellt. Wenn wir etwas über
459 einen Gegenstand aussagen, enthüllt sich uns ein Sachverhalt, der ein Korrelat des kategorischen Urteils ist. Damit begibt sich Ingarden aufs Feld der Wittgensteinschen Sachverhaltsanalysen. Eine besondere Art des Sachverhalts stellt für unseren Autor das Verhältnis (Relation) dar; es enthält mehrere Subjekte. Unter verschiedenen Formen des Gegenstandes sind folgende zu differenzieren: die Form der Idee, die Form der rein intentionalen Gegenstände und die Form der realen Gegenstände (Ereignis, Vorgang, In der Zeit verharrende Gegenstände), wobei diese letztere den Aufbau der realen Welt ermöglichen (vgl. SEW II/1, 60f; LK, 201f). Anschließend wurde nach der Form der realen Welt und des Bewusstseins gefragt. Während die Welt ein Gegenstand „höherer Ordnung“ ist (d.h. individuell abgeleitet), sich auf dem Untergrund ihrer selbständigen Elemente aufbaut und aus diesen eine summative Ganzheit erschafft, stellt das Bewusstsein dagegen ein organisches Ganzes dar, das aus dem Fluss der Erlebnisse und dem mit diesen verbundenen reinen Ich besteht. Durch die Einführung des Begriffs der Seele geht Ingarden eindeutig über Husserl hinaus und bezeichnet das Welt-Bewusstsein-Verhältnis als „absoluten Kreationismus“ und „realistischen Abhängigkeitskreationismus“ (vgl. SEW II/2, 97f, 383f). Die Problematik des Gegenstandes zeigte, dass bei Ingarden auch mereologische Probleme mit den formal-ontologischen Analysen zusammenhängen und so deren notwendige Ergänzung darstellen. Insbesondere wird dies durch die Einführung des Begriffspaars „Form III/Materie III“ deutlich gemacht, das einen relational-technischen Charakter hat und die Anordnung der Teile eines Ganzen bezeichnet. Bei der Erläuterung dieses Sachverhalts ist der Begriff der „tatsächlichen Einheit“ unentbehrlich (vgl. SEW II/1, 40f). Da jeder Gegenstand hinsichtlich seiner materialen Ausstattung untersucht werden muss, so die These Ingardens, haben wir uns darauf in einem weiteren Abschnitt eingelassen. Unser Verfahren war allerdings insofern erschwert, als diese Sichtweise von Ingarden selbst keinesfalls ausführlich behandelt worden war. Er hat sie lediglich signalisiert. Dessen ungeachtet konnten wir zur Schlussfolgerung kommen, dass Materie bei Ingarden nichts anderes als Qualität sei, also jede zum Wesen gehörende Beschaffenheit, und dass sie im Kontext des Begriffs der Form zu erfassen
460 sei: Jede Form von Etwas ist wesensmäßig die Form einer material bestimmten Gegenständlichkeit (vgl. SPhH, 38f). Daraufhin wurde im zweiten Teil des Kapitels die Kausalproblematik behandelt, mit der Ingarden seine formal-ontologische Analyse präzisieren will. So stellte sich heraus, dass der kausale Zusammenhang die Grundlage der Einheit in der Form der realen Welt bildet und mit dem Problem der Seinsweise im engen Zusammenhang steht. Notwendig war auch eine Konfrontation mit Hume und dessen Kritik der Kausalidee. Unser Autor bemängelt bei Hume die Gleichzeitigkeit der unmittelbaren Ursache und Wirkung. Für seine eigene Konzeption der Kausalität hat er ein begriffliches Instrumentarium herausgearbeitet, das die Aufstellung von grundlegenden Kausal-Prinzipien ermöglicht, wie z.B. das „Prinzip der Gleichzeitigkeit der unmittelbaren Ursache und Wirkung“. Mit dem Begriff der „relativ isolierten Systeme“ definiert Ingarden die Form der Welt und kommt zur Feststellung, dass es 81 Möglichkeiten der ursächlichen Struktur der Welt gibt, wobei für die reale Welt in seinem Sinne nur drei allgemeine Varianten tauglich sind, welche „gemäßigter Determinismus“ genannt werden können. Darüber hinaus ergab sich, dass die Ingardensche Konzeption der Kausalität einerseits mit manchen modernen empirischen Kausalitätsinterpretationen in Einklang steht, andererseits sich von diesen durch gewisse metaphysische Implikationen abgrenzt (vgl. SEW III, 7f, 101f, 210f). Der dritte grundlegende Teil des Kapitels versuchte schließlich Ingardens Ontologie aus Sicht einiger ontologischer Ansätze der gegenwärtigen Philosophie zu explizieren. So stellte sich heraus, dass Ingarden sowohl ganz deutlich in Richtung der Substratum-Theorie tendiert, wenn er mit der Struktur „Subjekt von Eigenschaften + Eigenschaften“ arbeitet, als auch gewisse Elemente der Bündel-Theorie in Anspruch nimmt, welche etwa in der wesensmäßigen Einheit des Subjekts mit seinen Eigenschaften zu erkennen sind. Die Auffassung des Ingardenschen Begriffs des „In der Zeit verharrenden Gegenstandes“ (ZVG) im Sinne der zweiten aristotelischen Substanz erlaubte uns eine Skizze der Identitätsproblematik zu wagen – im Kontext gegenwärtiger Theorien. Daher kam zum Vorschein, dass Ingarden nicht nur von der Identität zeitlicher Gegenstände spricht und sich somit auf der Ebene der gegenwärtigen Diskurse über personale Identität bewegt, sondern auch von der Identität rein intentionaler Gegenstände.
461 Identität ist für unseren Autor keine Eigenschaft der Person, sondern ein eigentümliches Moment der Form I der Person, das erst alle Eigenschaften der Person ermöglicht. Der Identitätsproblematik folgte ein Blick auf die sogenannte „Tropen-Theorie“, deren Relevanz vor allem darin besteht, dass Tropen für einige Autoren als fundamentale Elemente der Ontologie gelten. In Bezug auf Ingarden stellten wir fest, dass die Tropen sich mit den Konstanten decken, also mit einem wesentlichen Element des Ingardenschen Begriffs der Idee. Im letzten Abschnitt des Kapitels IV haben wir den „internen Realismus“ Putnams aufgegriffen, weil sich ohne diesen in der gegenwärtigen Debatte weder realistische Ansätze noch Interpretationsversuche des Husserlschen Denkens vorstellen lassen. In einem kritischen Kontext wurde die These aufgestellt, dass dieser Realismus als eine sinnvolle Alternative zu der Ingardenschen Auslegung angesehen werden kann (vgl. SEW II/2, 73f).
Kapitel V „INGARDENS ONTOLOGIE DER KUNST“ „Die Kunst ist […] ein Habitus, etwas mit wahrer Vernunft hervorzubringen […]“. 1
1. Einführung Die ganze Ingardensche Ontologie des Seins lässt sich in drei grundlegende Seinsbereiche aufteilen: den idealen, den realen und den intentionalen (vgl. Kap. IV). Im vorliegenden Kapitel soll nur der intentionale Seinsbereich der Gegenstand unserer Untersuchung sein; er hängt bei Ingarden mit Ästhetik und philosophischer Kunsttheorie zusammen. Das heißt, dass Ingardens ontologische Konzeption „an sich“ – die epistemologische eingeschlossen - eine theoretisch-methodologische Grundlage seiner Ästhetik und philosophischen Kunsttheorie darstellt, deren Forschungsziel in erster Linie in der Ontologie der Kunst und Werte liegt. Deshalb unterscheidet unser Autor zwischen drei Ebenen der Kunsttheorie: der Ontologie der Kunst, der ästhetischen Erfahrung sowie der wertenden Kritik. All dies ist im ersten Teil des Kapitels zu untersuchen, wobei der Ontologie der Kunst eine besondere Akzentuierung gelten soll. Das hat zur Folge, dass wir die Ästhetik generell nur aus Sicht der Ontologie aufgreifen. Im zweiten (kleineren) Teil des Kapitels werden semantische Implikationen und die Sprachproblematik zum Vorschein kommen. Das ergibt sich daraus, dass die Exaktheit der Sprache nach Ingarden nicht nur für eine philosophische Ästhetik erforderlich ist, sondern auch für Ontologie schlechthin. Gewisse Impulse liefert unser Autor selbst – 2
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1 2 3
Aristoteles, NE IV 1140a 20. Vgl. Rozewicz, M. (2002), 15f. Vgl. Betzler, M. (1998), XXXI.
464 insbesondere bezüglich der Gegenstand-Urteil-Problematik und der Widersprüchlichkeit des empiristischen Sinnkriteriums. Dabei ist stets darauf zu achten, dass das Anliegen Ingardens bezüglich des transzendentalen Idealismus Husserls nicht zu kurz kommt, zumal unser Autor bereits im Vorwort zu seinem ersten bedeutenden und ästhetisch geprägten Werk „Das literarische Kunstwerk“ schreibt: „Um zu dieser Theorie [d.h. zum transzendentalen Idealismus] […] Stellung nehmen zu können, ist es u.a. nötig, die Wesensstruktur und die Seinsweise des rein intentionalen Gegenstandes herauszustellen […]“ (LK, X). 4
Da wir in diesem Kapitel auf viele neue Begriffe stoßen, müssen diese vorab geklärt werden. Gemeint sind vor allem Ästhetik und Kunst. 2. Ästhetik- und Kunstbegriff Die Begriffe „Ästhetik“ und „Kunst“ haben für die Ingardensche Ontologie eine prinzipielle Bedeutung. Sie eröffnen ein Feld, auf dem unser Autor einige seiner ontologischen Grundbegriffe fundieren kann, z.B. Seinsheteronomie, -abgeleitetheit, -abhängigkeit u.a. §1. Ästhetik Seit sich A.G. Baumgarten im 18. Jahrhundert mit dem Begriff „Ästhetik“ durchgesetzt und mit ihm eine neue philosophische Disziplin benannt hat, ist dieser Begriff aus den philosophischen Diskursen wohl nicht mehr weg zu denken. Er geht auf das griechische Wort „aísthēsis“ 5
J. Tischner (vgl. [1982], 20) hebt zwei Gründe hervor, welche der Ingardenschen Ontologie der Kunst einen besonderen Status im Rahmen der (weit gefassten) Theorie der Literatur verleihen: (1) das gesamte Wissen über die Literatur; (2) der philosopisch geprägte Weg, ganz besonders durch die Auseinandersetzung mit dem transzendentalen Idealismus Husserls gekennzeichnet. Vgl. Baumgarten, A.G. (1750). Die ästhetische Problematik wie auch die Kunstbetrachtung stehen bereits seit den antiken Anfängen in Kontinuität zur theoretischen und praktischen Philosophie. Mit Kunst werden allerdings hier in erster Linie verschiedene menschliche Tätigkeiten bezeichnet wie das Handwerk, die 4
5
465 (Sinneswahrnehmung) zurück. Insofern können wir von „Ästhetik im weitesten Sinne“ (ÄwS) sprechen. Wenn dagegen der Frage nach dem Wesen des Schönen im Allgemeinen und im Besonderen der Kunst, deren Prinzipien sowie den Grundlagen unserer Kunstwahrnehmung und – wertung nachgegangen wird, so können wir über „Ästhetik im engeren Sinne“ (ÄeS) reden. Der ÄeS kommt also eine metaphysisch-ontologische Aufgabe zu. Diese Gliederung der Ästhetik können wir desgleichen bei Ingarden gelten lassen. Dabei muss allerdings zweierlei hinzugefügt werden: Zum einen gebraucht unser Autor stricto sensu die Begriffe ÄwS und ÄeS nicht; diese werden von uns aber der Einfachheit halber gebraucht. Zum anderen ist sein ästhetisches Interesse überwiegend mit der ÄeS verbunden sowie durch phänomenologische Impulse und die Auseinandersetzung mit Husserl gekennzeichnet. Nun ist die ÄwS für Ingarden eine Wissenschaft der Sinneswahrnehmung. Als Phänomenologe ist er stark bestrebt, den Begriff der Sinneswahrnehmung (bzw. der sinnlichen Wahrnehmung) im Kontext der Objektivitätsfrage zu erörtern (vgl. dazu 4 [Kap. II]). Insofern ist ‚die ÄwS nichts anderes als die Phänomenologie der sinnlichen Wahrnehmung’. Ganz deutlich kommt das im Ingardenschen Aufsatz „Die Bestrebungen der Phänomenologen“ zum Vorschein, in dem das Prinzip der unmittelbaren Erfahrung (Sinneswahrnehmung) behandelt wird. Im Sinne der Maxime „zurück zu den Sachen selbst“ vermag die Phänomenologie unmittelbare Gegebenheiten zu erreichen und Empfindlichkeit für das in der Erfahrung unmittelbar anschaulich Gegebene aufleben zu lassen (vgl. SFPh, 116f). Unterbaut wird diese Position zunächst durch den Entwurf des Begriffs der äußeren Wahrnehmung; darunter wird in erster Linie offenbar die sinnliche Wahrnehmung verstanden. Diese ist also eine 6
Kunstfertigkeit, die Wissenschaft und die Kunst, d.h. die Kunst wird nicht als spezifischer Ort des Schönen betrachtet (vgl. Betzler, M. [1998], XV). Darauf werden wir auch in einem weiteren Abschnitt (Konfrontation von Ingarden und Aristoteles) eingehen. Kant spricht von transzendentaler Ästhetik (TÄ) – im Zusammenhang mit den Begriffen von Raum und Zeit. Die TÄ ist für ihn eine Wissenschaft aller Prinzipien der Sinnlichkeit a priori (vgl. KrV, B 35). Vgl. Nida-Rümelin, J. (1998a), Xf. 6
466 Erkenntnistätigkeit, die wir ausführen, indem wir unsere Sinnesorgane (das Auge, das Ohr, das Tastorgan usw.) gebrauchen (vgl. OSW, 176f, 43f). Schließlich stellt Ingarden in Bezug auf Husserl eine phänomenologische Theorie der Wahrnehmung auf. Demnach ist etwa jede sinnliche Wahrnehmung ein „thetischer Akt“, d.h. ein Akt, in dem die Seinsanerkennung des Wahrgenommenen vollzogen wird. In jeder Wahrnehmung, die einerseits ein Glied einer Mannigfaltigkeit von Akten ist, andererseits strukturell unselbständig bleibt, weil sie von Retention und Protention umrahmt wird, wird etwas „repräsentiert“. Beim Erleben eines Dinges treten darüber hinaus Ansichten und Abschattungen auf (vgl. EPhH, 131f). Die ÄeS ist dagegen viel komplexer und wird von unserem Autor für eine strenge philosophische Disziplin gehalten, welche außer der phänomenologischen auch die ontologische, epistemische und metaphysische Perspektive mit einbezieht. So wird sie „philosophische Ästhetik“ genannt. Ihre Aufgabe besteht in der Erläuterung der Grundbegriffe und ferner in der Einsicht in prinzipielle Seinszusammenhänge und Relationen zwischen Erlebnissen, Kunstwerken und deren Werten. Bei der Bewältigung dieser Aufgabe kann die ÄeS auch die Ergebnisse der empirischen Ästhetik in Anspruch nehmen, obwohl sie von deren Behauptungen vollkommen unabhängig ist. So ergeben sich für unseren Autor vier Ebenen der ästhetischen Analyse: 7
↓ OK (=A)
Philosophische Ästhetik (ÄeS) ↓ ↓ PhK EK (=B) (=C)
↓ MK (=D)
Legende: OK – Ontologie der Kunst, PhK – Phänomenologie der Kunst, EK – Erkenntnistheorie der Kunst, MK – Metaphysik der Kunst. Das, was wir bei Ingarden unter dem Begriff der Ästhetik im weiteren Sinne (ÄwS) verstehen, wird in der gegenwärtigen Debatte (abgesehen von phänomenologischen Akzenten) oft als „vorästhetische Erfahrung“ bezeichnet und folgendermaßen aufgeteilt: (1) identifizierende Wahrnehmung (W); (2) verstehende W; (3) existentielle W und (4) evaluative W (vgl. Schmücker, R. [1998], 49f).
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467 Bei (A) handelt es sich um die Ontologie der Kunstwerke und die des ästhetischen Gegenstandes. Während die erstere sich bemüht, entweder eine allgemeine philosophische Aufbau (Form)- und ExistenzweiseTheorie der Kunstwerke schlechthin oder eine solche im Hinblick auf einzelne Kunstwerke zu entwerfen, erblickt die zweite dagegen ihre Aufgabe in der Klarlegung des ästhetischen Gegenstandes als ästhetischer Konkretisation der Kunst sowohl bezüglich seiner Form als auch Existenzweise. Auf der Ebene (B) unterscheidet Ingarden zwischen Phänomenologie des künstlerischen Schöpfungsprozesses, phänomenologischen Erwägungen des Stils und dessen Verhältnis zu seinem Wert wie auch Phänomenologie des ästhetischen Erlebnisses und dessen Funktion in der Konstituierung des ästhetischen Gegenstandes. Sowohl (A) als auch (B) haben sich zudem mit den im Kunstwerk und in den ästhetischen Gegenständen erscheinenden Werten zu befassen, also mit den künstlerischen und ästhetischen Werten, und deren Fundierung bzw. Konstituierung. (C) hat einen erkenntnistheoretischen Charakter und bezieht sich auf das Erkennen von Kunstwerken, ästhetischen Gegenständen und insbesondere von künstlerischen und ästhetischen Werten. Auch die Theorie der Bewertungskritik ist auf dieser Ebene zu diskutieren. Schließlich geht es bei (D) um eine „Metaphysik der Kunst“, deren Analysen die Theorie der Rechtfertigung und die Funktion der Kunst im Leben des Menschen zu klären haben (vgl. SÄ III, 9f). Diese vielschichtige Struktur der Ästhetik (ÄeS) erlaubt Ingarden den Begriff „Ästhetik“ als „ästhetische Situation“ zu denken. Die Ästhetik ist also für ihn eine „ästhetische Begegnung“ des erlebenden Subjekts mit dem Gegenstand bzw. mit dem Kunstwerk. Das stellt die Quelle der Entfaltung des ästhetischen Erlebnisses und der Konstituierung des ästhetischen Gegenstandes dar. Mit anderen Worten: Die Aufgabe der Ästhetik ist es, die „ästhetische Situation“ erschöpfend zu analysieren (vgl. VDÄ, 19). Das Kunst-Element spielt dabei eine entscheidende Rolle. 8
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Was die Ebene (D) anbelangt, versieht Ingarden den Begriff „Metaphysik der Kunst“ mit einem Fragezeichen. Wie dies zu verstehen ist, darüber ließe sich wohl diskutieren. Im Hintergrund wirkt jedenfalls eine begriffliche Unsicherheit unseres Autors, welche zur Abschwächung der Plausibilität seiner Argumentation beiträgt. Das werden wir an einer weiteren Stelle ausführlicher diskutieren.
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468 §2. Kunst. Der Kantische Zugang Da es unsere Analyse im vorliegenden Kapitel prinzipiell mit „Ästhetik im engeren Sinne“ (ÄeS) zu tun hat, ist eine nähere Bestimmung des Begriffs der Kunst erforderlich. Im Kontext des oben skizzierten Begriffs der ÄeS können wir bereits behaupten, dass Ästhetik und Kunstphilosophie weitgehend deckungsgleich sind, allerdings mit einer gewissen Akzentverschiebung insofern, als Ästhetik ein besonderes Interesse in erster Linie an der Kunstwahrnehmung hat, in zweiter Linie aber auch Wahrnehmungen bzw. sinnliche Erkenntnisse außerhalb der Kunst mit einbezieht. Kunstphilosophie wäre dagegen ganz auf die Kunst aufmerksam und würde die Grundlagen der Kunstwissenschaften generell ausforschen. Was ist also unter Kunst zu verstehen? Würden wir von Ingarden eine einfache und geordnete Auffassung bzw. Definition des Kunstbegriffs erwarten, dann müssten wir m.E. eine Enttäuschung erleben, selbst wenn uns eine Menge ästhetische Schriften zur Verfügung stehen. Das soll aber keinesfalls bedeuten, dass sich unser Autor nicht über Kunst äußert. Vielmehr tut er es ganz nachdrücklich allerdings meist indirekt in einer einheitlichen dreidimensionalen Abstufung: „Kunst - Kunstwerk - Literarisches Kunstwerk“. Dadurch wird der Leser aufgefordert, von diesem Ganzen abzulesen, bzw. aus diesem Ganzen herauszubringen, was Kunst sei. Diese Tatsache zieht freilich zwei gravierende Folgen nach sich: Zum einen erlaubt sie Ingarden nicht, Lob und Anerkennung des Lesers zu genießen, sondern sie sorgt im Gegenteil für seine kritische Reaktion. Zum anderen müssen zusätzliche Maßnahmen parallel in Anspruch genommen werden, um einen Zugang zum Problem zu schaffen. Und das müssen auch wir tun und entscheiden uns mithin für Kant. Nach Kant ist Kunst von der Natur zu unterscheiden, so wie etwa Tun von Handeln oder Wirken überhaupt, bzw. aus der Kunst erfolgt das Werk, aus der Natur die Wirkung. Bei Kunst spielt vor allen Dingen das Element der Vernunft eine entscheidende Rolle. Das heißt, Kunst ist das, was durch die freien Handlungen hervorgebracht wird. Mit einem Bienen-Beispiel erklärt Kant dies auf eine anschauliche Weise: Da die Arbeit der Bienen auf keine eigene Vernünftigkeit gründet, wird sie nur als Produkt ihrer Natur bezeichnet, und nicht als Kunst. Kunst ist daher ein Werk des Menschen
469 und leitet sich von „können“ her und bedeutet Geschicklichkeit, Kenntnis, Weisheit, also nicht ein gewöhnliches, sondern ein ausgezeichnetes Können. Kunst als Geschicklichkeit des Menschen wird auch von der Wissenschaft unterschieden (Können von Wissen), als praktisches vom theoretischen Vermögen wie z.B. die Feldmesskunst von der Geometrie. Kant präzisiert den Kunstbegriff weiter, indem er sagt, dass nur das zur Kunst gehöre, wozu der Mensch keinesfalls sofort die Geschicklichkeit habe, dies nur deswegen zu tun, weil er das auf das vollständigste kenne. Hier wird also ein Überlegungsprozess mit einbezogen, der sich einerseits nach bestimmten Regeln abspielt, andererseits aber stets für Neues offen bleibt. Damit weist Kant auf eine Differenzierung zwischen Kunst und Handwerk hin, die sich darin treffen, dass beide ein sinnlich wahrnehmbares Werk hervorbringen. Während das Handwerk auf das Brauchbare und Nützliche abzielt, wendet sich die Kunst hingegen dem Schönen zu. Darum kann Kant desgleichen behaupten, dass es weder eine Wissenschaft des Schönen gebe, sondern nur Kritik, noch schöne Wissenschaft, sondern Kunst. Der Kantische Zugang erlaubt uns schon eine grundlegende Eigenschaft der Kunst zu formulieren. Und sie lautet: „Kunst erscheint in den Werken“. So können wir jetzt den Sprung zu Ingarden machen und mit G. Patzig fragen: Was sind Kunstwerke? Am nächsten dürfte es wohl liegen, Kunstwerke als eine besondere Klasse von wahrnehmbaren physischen Gegenständen anzusehen, die von Menschen hergestellt worden sind, um anderen wiederholbare ästhetische Erfahrungen verfügbar zu machen. Aber wenn wir verallgemeinern und Kunstwerke mit physischen Gegenständen gleichsetzen, dann ergeben sich ernsthafte Schwierigkeiten: Wie steht es 10
Vgl. Kant, I., KU, B 174f. Natürlich gibt es auch Versuche dies im Anschluss an Kant begrifflich zu differenzieren. So schlägt etwa R. Schmücker (vgl. [1998], 65) vor, zwischen ästhetischer und mechanischer Kunst zu differenzieren. Das ist jedoch für unsere Ingarden-Analyse keinesfalls entscheidend. Viel wichtiger ist, dass seit Kant nicht allein Kunst, sondern auch die Natur Gegenstand der Ästhetik ist (vgl. ebd., 48). Darüber hinaus heißt das, dass gerade Kant klar hervorhebt, dass „Kunst verstanden sein will“ (vgl. Bubner, R. [1989], 41f). 10
470 etwa mit den Kunstwerken, die wir der Gattung nach Opern, Sinfonien, Gedichte, Dramen und Romane nennen? Eine Antwort auf diese Frage liefern uns zweifelsohne die umfangreichen ästhetischen Analysen Ingardens. Denn unser Autor unterscheidet nicht nur zwischen verschiedenen Kunstarten, sondern auch zwischen deren unterschiedlichen inneren Strukturen, welchen jeweils bestimmte Schichten und ein ontisches Fundament zugrunde liegen. Demnach wäre es völlig falsch, Kunstwerke mit physischen Gegenständen gleichsetzen zu wollen. Anhand der Untersuchung von einzelnen Kunstarten wie dem Musikwerk, der Malerei und Architektur (= den sogenannten bildenden Künsten), Film und insbesondere dem literarischen Kunstwerk zeigt Ingarden, dass das Kunstwerk nichts anderes als der ‚Inbegriff (Gehalt) derjenigen Elemente und Eigenschaften des physischen Gegenstandes ist, die für seine ästhetische Erfahrung relevant sind’ (vgl. UOK, 3f; LK, 1f; EKW, 3f). In aller Deutlichkeit kommt dies aber erst im literarischen Kunstwerk zum Vorschein, mit dem sich unser Autor am meisten befasst. Darum bemüht er sich es auch zu definieren: 11
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„Unter einem ‚literarischen Werk’ verstehe ich […] in erster Linie ein Werk der sogenannten ‚schönen Literatur’, obwohl es in der Folge auch andere sprachliche Werke, also auch wissenschaftliche Werke, umfassen soll. Werke der sogenannten ‚schönen Literatur’ erheben vermöge des eigenen charakteristischen Grundaufbaus und besonderer Fertigkeiten den Anspruch, ein ‚Kunstwerk’ zu sein und dem Leser die Erfassung eines ästhetischen Gegenstandes zu ermöglichen. Nicht jedes Kunstwerk ist aber ein […] ‚echtes’, ‚wertvolles’ Kunstwerk“ (ELK, 5).
In den weiteren Abschnitten werden wir versuchen, all diese Probleme systematisch zu behandeln. Dabei werden wir uns von nun an vorwiegend auf die literarischen Kunstwerke konzentrieren. Da die ästhetischen Analysen bei Ingarden einen starken ontologischen Hintergrund aufweisen 13
Vgl. Patzig, G. (2003), 108f. Vgl. dazu auch Biemel, W. (1995a); Fieguth, R. (1995). Dafür sprechen zumindest zwei Gründe: (1) Der Schwerpunkt der Ingardenschen Analysen liegt in der Untersuchung des literarischen Kunstwerkes; (2) Eine (auch knappe) Analyse von allen übrigen Kunstarten würde den Rahmen des vorliegenden Kapitels sprengen. In Bezug auf diese werden darum nur gewisse Akzente gesetzt. 11 12 13
471 (vgl. Kap. IV), muss zunächst der Frage nach der Existenz der Kunstwerke nachgeganden werden. 3. Existenz der Kunstwerke. Contra Husserl Dass Ingarden bei sich das ästhetische Interesse sehr früh entdeckte, bezeugen seine Schriften. 1927/28 verfasst er das Werk „Das literarische Kunstwerk“ und „Untersuchungen zur Ontologie der Kunst“. 1935/37 folgt „Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks“. In diesen Schriften entwirft er wesentliche Elemente der Seinsweise von Kunstwerken, die im (während des Zweiten Weltkrieges verfassten) Werk „Der Streit um die Existenz der Welt“ (nur) insofern verfeinert werden, als sie in einem allgemeinen ontologischen Gewand erscheinen. Da Ingardens Ontologie stark unter dem Einfluss der Phänomenologie steht, bedient sie sich oft phänomenologischer Termini. Deshalb werden auch Kunstwerke als „rein intentionale Gegenstände“ bezeichnet, denen eine ‚rein intentionale Seinsweise’ (Existenz) zukommt (vgl. 3§1b [Kap. IV]). Das Charakteristische an dieser Seinsweise bilden folgende existentiale Momente: (1) Seinsheteronomie (4) Seinsselbständigkeit (und Seinsunselbständigkeit) (2) Seinsabgeleitetheit (5) Seinsabhängigkeit (3) Inaktualität
Als rein intentionale Gegenstände sind also nach Ingarden die Kunstwerke (d.h. Dichtungen, Musikwerke, Bilder, Skulpturen usw.) durch die existentialen Momente (1, 2, 3, 4, 5) gekennzeichnet (vgl. SEW I, 262). Ihre Existenz verdanken die Kunstwerke den schöpferischen Akten (eines Subjekts), deren wesentliche Leistung sich nicht nur auf die Schaffung von Kunstwerken beschränkt, sondern auch nach einer dauerhaften Bestand garantierenden Fundierung strebt. Diese Akte tendieren dazu, die in ihnen 14
W. Strozewski (vgl. [1994], 170f) spricht von der Teilhabe der Kunstwerke an ihrem Existenz-Fundament.
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472 geschaffenen rein intentionalen Gegenstände (d.h. Kunstwerke) zu „fixieren“. Das heißt, die Kunstwerke werden in einem existential stärkeren Seinsfundament fundiert, das ihnen ermöglicht, über die Dauer von den sie erschaffenden Akten hinaus zu existieren. Dadurch werden Kunstwerke von dem rein subjektiven Untergrund, dem sie entstammen, abgelöst und erlangen eine intersubjektive Objektivität, in der sie sich vielen Bewusstseinssubjekten zeigen können, ohne dabei ihr Seinsfundament zu verlieren (vgl. SEW II/1, 204f). Versuchen wir jetzt ein bestimmtes Kunstwerk in Betracht zu ziehen, um an ihm die existentialen Momente hervorzuheben. Nehmen wir an, dass ein Buch auf meinem Schreibtisch liegt. Ich schlage es auf und fange an zu lesen. Es zeigt sich, dass es ein spannender Roman von einem gut bekannten deutschen Schriftsteller ist, also ein Werk aus dem Gebiet der sogenannten „schönen Literatur“. Daher ordne ich ihn sofort der Gattung „literarisches Kunstwerk“ zu und versuche seine Existenz näher zu bestimmen. So stellt sich anfangs heraus, dass der Roman „seinsheteronom“ ist. Das heißt, er hat sein Fundament außerhalb seiner und verdankt seine Existenz dem Vollzug eines intentionalen Bewusstseinserlebnisses. Mit anderen Worten: Der Roman „existiert“ dann und nur dann, wenn ein X das Buch in seine Hände nimmt und den Roman liest. Darüber hinaus ist der Roman „seinsabgeleitet“, weil er von einem Autor verfasst worden ist. Er ist auch „inaktuell“, weil das in ihm Dargestellte sich nicht in der Gegenwart abspielt und mithin nur einen 15
Die rein intentionalen Gegenstände (RIG) lassen sich offenbar nicht nur auf Kunstwerke reduzieren. Ingarden spricht einerseits auch von den RIG, welche durch die sie schaffenden Akte nicht unbedingt fixiert werden (z.B. träumerische Phantasie). Andererseits gibt es nach unserem Autor die RIG, die als Vorbilder gelten, nach denen etwas anderes gebildet werden soll (z.B. Pläne, Entwürfe von Werkzeugen, Häusern, Flugzeugen usw.). Hinsichtlich des ontologischen Status stehen die letzteren den Kunstwerken näher als die ersteren. Heute, im 21. Jahrundert könnte man vielleicht fragen, ob man auch den Kunstwerken nicht eine Vorbild-Funktion zuschreiben müsste. Dafür spricht vor allem die Tatsache, dass viele (und immer mehr) literarische Kunstwerke verfilmt werden.
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473 möglichen Status aufweist, bzw. in der Vergangenheit fundiert ist. Der Roman ist ferner „seinsunselbständig“, weil er seinem Wesen nach zu seiner Existenz auch das Vorhandensein eines ganz genau bestimmten ontischen Fundaments (Papier und Schrift) erfordert, das mit ihm innerhalb eines Ganzen des literarischen Kunstwerks zusammensein muss; d.h. wenn der Roman nicht auf dem Papier schriftlich fundiert wäre, hätten wir ihn keinesfalls der Gattung „literarisches Kunstwerk“ zuordnen dürfen. Wir hätten ihn etwa unter der Gattung „Film“, „ungeschriebene Legende oder Fabel“ usf. lokalisieren müssen. Da der Roman ein gesondertes Ganzes darstellt - sowohl den Erlebnissen des Schöpfers als auch denen des Rezipienten gegenüber, ist er zugleich „seinsselbständig“. Schließlich ist unser Roman noch „seinsabhängig“. Das ist darauf zurückzuführen, dass der Roman zu seiner Existenz (wie oben schon bei der Seinsheteronomie angedeutet) des Vollzugs eines intentionalen Bewusstseinserlebnisses bedarf, welcher dem seinsselbständigen menschlichen Subjekt zu verdanken ist und mithin dessen Existenz voraussetzt. Die Hervorhebung der existentialen Momente befähigt uns eine weitere Präzisierung des Existenzstatus der Kunstwerke zu vollziehen: „Kunstwerke sind die abgeleitet rein intentionalen Gegenstände bzw. Gegenständlichkeiten“ (ARIG). Als solche werden sie durch Ingarden von den „ursprünglich rein intentionalen Gegenständen“ (URIG) unterschieden. Während die ARIG durch Sprachintentionen (im Falle des literarischen Kunstwerks) bzw. andere entsprechende Intentionen (im Falle von anderen Kunstarten) entworfen werden, werden die URIG direkt durch Aktintentionen geschaffen und in dieser Form einfach gelassen. Die Folge ist, dass die URIG „subjektive“ Gebilde sind, weil sie in ihrer Ursprünglichkeit nur dem einen Bewusstseinssubjekt unmittelbar zugänglich sind, welches die sie schaffenden Akte vollzogen hat. Die ARIG dagegen sind als Korrelate von Bedeutungseinheiten 16
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Hier sind also Romane gemeint, welche aufgrund gewisser VergangenheitsTatsachen entstanden sind. D.h. man versucht, Vergangenheitsereignisse entweder getreu zu beschreiben, oder auf ihnen das Werk zu konzipieren. Man kann sich vorstellen, dass ein gewisser Roman von einem Autor verfasst worden ist und nachher von keinem anderen menschlichen Subjekt mehr gelesen wird. Dies hätte offenbar gravierende Auswirkungen für die Existenzfrage dieses Romans. 16
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474 „intersubjektiv“, weil sie als identisch Dasselbe von verschiedenen Bewusstseinssubjekten vermeint bzw. erfasst werden (können) (vgl. LK, 131f). Mit seiner Analyse der Existenzweise von Kunstwerken (insbesondere des literarischen Kunstwerks), in der eine Differenzierung innerhalb des Begriffs der „rein intentionalen Gegenständlichkeit“ durchgeführt wird, tritt Ingarden desgleichen gegen Husserls Auffassung auf, dernach ‚jedem Seienden die rein intentionale Seinsweise zukomme’. Unser Autor stellt sich also gegen die Husserlsche Ansicht, indem er zwischen intentionalen (=ARIG) und rein intentionalen Gegenständlichkeiten (=URIG) einerseits, sowie realen und idealen andererseits unterscheidet. Für die Existenzfrage der Kunstwerke im Sinne Ingardens sind offenbar nur die ARIG relevant. Denn nur diese Gegenständlichkeiten haben ihr ontisches Fundament in realen Gegenständen (z.B. den Bausteinen eines Hauses; der Luft, die den ausgesprochenen Wortlaut trägt) sowie in schöpferischen oder nachschöpferischen bedeutungsverleihenden Bewusstseinsakten von einzelnen Subjekten oder Gruppen von Subjekten (die geplante Architektur einer Kirche; die bedeutungsverleihenden Akte der Sprecher einer Sprache). Die ARIG sind dabei den subjektiven Bewusstseinsakten gegenüber transzendent (vgl. LK, 122f; SEW I, 69f). Es ist festzuhalten, dass die Frage nach der Existenzweise von Kunstwerken für Ingarden in erster Linie ein ästhetisches Problem ist und zur Ästhetik gehört. Sie stellt aber zugleich einen gewichtigen Teil seiner Ontologie dar. Darum könnte man einerseits etwa mit A.T. Tymieniecka 18
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Vgl. auch Galewicz, W. (1994a), 15f. Ingarden unterscheidet noch zwischen den „rein intentionalen“ und „auch intentionalen Gegenständlichkeiten“ (vgl. dazu Fußnote 29 [Kap. III]). Ingardens Denken ist manchmal mit dem Problem der Diachronie (=geschichtliche Entwicklung) „belastet“. An dieser Stelle wird es besonders sichtbar. Die Folge ist, wir müssen uns seiner anderen exakteren Begriffe bedienen, um den Zusammenhang nicht zu verlieren. Für die Forschung ist diese Tatsache durchaus problematisch. K. Bartoszynski (vgl. [1995], 222f), der sogar von „terminologischen Zweifeln“ bei Ingarden spricht, führt diese Konstellation auf innere Widersprüche und Paradoxe zurück. Auch D. von Wachter (vgl. [2000], 123) macht auf die Diachronie aufmerksam – allerdings im Hinblick auf Identität des Gegenstandes. Vgl. auch Fieguth, R. u.a. (1997), X.
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475 über die Relevanz von Ingardens Ästhetik für seine Ontologie reden, andererseits aber auch fragen, ob es für unseren Autor ein ontologisches Problem der Kunstwerke gibt. Eine Antwort auf diese Frage liefert uns seine Auffassung der Ästhetik als „ästhetischer Situation“. 21
4. Ästhetik als „ästhetische Situation“ Was genau ein Kunstwerk sein soll, das ist von Philosoph zu Philosoph verschieden. Die einen verstehen darunter ein imaginäres Objekt, die anderen eine Reihe von unterbrochenen Wahrnehmungen, eine Illusion usf. All diesen Kunstbegriffen bzw. -Theorien liegt jedoch jeweils eine Auffassung des ontologischen Status von Kunstwerken zugrunde, die als Grundlage für die Erörterung der Frage nach deren ontologischem Problem gilt. Es mangelt aber auch nicht an ganz radikalen Standpunkten, welche zur Behauptung neigen, dass es ‚kein ontologisches Problem der Kunstwerke überhaupt gibt’. Dieser Ansicht ist etwa J. Kulenkampff, wenn er sagt, dass wir in keinem Bereich der Kunst gezwungen seien, etwas anderes als existierend anzunehmen als Gegenstände und Ereignisse im gewöhnlichen Sinne. Ein ästhetischer Gegenstand, so Kulenkampff, das ist kein auf besondere Weise existierender Gegenstand, sondern einfach ein Gegenstand, den wir so behandeln, wie es etwa für Kunstwissenschaftler oder Museumsbesucher typisch ist. Sowohl Ingardens Lehrsatz über die rein intentionale Existenz der Kunstwerke, was im vorangehenden Abschnitt dargestellt wurde, als auch die noch auszuführende Auffassung der Ästhetik als „ästhetischer Situation“ scheinen indessen das Gegenteil aufzuweisen: Es gibt ein ontologisches Problem der Kunstwerke, welches in einer ‚komplexen Umrahmung erscheint’. Und diese wird als „ästhetische Situation“ bezeichnet. Bevor wir darauf zu sprechen kommen, wollen wir den Hintergrund erforschen, auf dem diese Ästhetik-Auffassung auftaucht. 22
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Vgl. Tymieniecka, A.T. (1975), 271, 282. Vgl. Ziff, P. (2003), 12. Vgl. Kulenkampff, J. (2003), 139.
476 §1. Physizismus und Mentalismus Bringen wir das ontologische Problem der Kunstwerke auf den Punkt, dann können wir durchaus sagen, dass dieses Problem in der Bestimmung ihrer Seinsweise besteht. Wer sich damit näher befassen will, der muss sich vor allen Dingen mit zwei für die Geschichte der kunsttheoretischen Diskussion relevanten Lösungen auseinandersetzen: Physizismus und Mentalismus. Beide stellen einen Versuch dar, die Existenz von Kunstwerken zu bestimmen, und werden von Ingarden entweder zu einer „objektivistischen“ oder „subjektivistischen Ästhetik“ gerechnet, welche jedoch von Anfang an zum Scheitern verurteilt sind, solange sie auf ihrer Isolierung voneinander bestehen (vgl. VDÄ, 19f). Unser Autor bemüht sich, diese beiden Konzepte zu überwinden, indem er seinen eigenen Begriff der Ästhetik als „ästhetische Situation“ einführt, der diese beiden Standpunkte gewissermaßen in Einklang bringt. Erläutern wir diese beiden Konzepte mit dem Blick auf die gegenwärtige Ästhetik-Forschung. Wenn von Physizismus die Rede ist, werden wir mit der Behauptung konfrontiert, dass Kunstwerke physische Objekte seien. Um ein Beispiel zu nennen: Ich mache einen Museumsbesuch in München und lasse mich plötzlich von einem literarischen Kunstwerk ansprechen; es ist ein aus dem 19. Jahrhundert stammender Roman. Aus Sicht des Physizismus ist das Kunstwerk nichts anderes als dieser Roman, der „physisch“ in einem Buch fundiert ist, und dem ich meine Aufmerksamkeit während meines Museumbesuches in München schenke. Es gibt offenkundig viele Varianten dieser Sichtweise: (1) pluralistischer Physizismus (Ph) – in demselben Augenblick erinnere ich mich daran, dass ich das gleiche Buch (von demselben Autor, unter dem gleichen Titel und in derselben Auflage usw.) vor ein paar Jahren auch in Berlin und London gesehen habe; dort wird jeweils ein Exemplar dieses Buches aufbewahrt. Jedes einzelne Buch (d.h. aus München, Berlin und London), das als ein Exemplar des Kunstwerks wahrgenommen werden kann, gilt nun als Kunstwerk; (2) distributiver Ph – diese drei Buchexemplare, die ich jeweils in München, Berlin und London gesehen habe, sind nur Elemente dessen, was das Kunstwerk ist; (3) mereologischer Ph – die (mereologische) Summe von diesen drei Büchern stellt das Kunstwerk dar; und (4) originalistischer Ph
477 – nur das Buch aus dem Münchener Museum gilt als Kunstwerk, weil es allein als das Original angesehen werden kann. Beim Mentalismus handelt es sich dagegen um die Ansicht, dass das Kunstwerk als solches nur im Geiste, sei es seines Schöpfers, sei es seines Rezipienten existiert, oder dass es eine Art idealer Gegenstand ist. Mit anderen Worten: Selbst wenn der Mentalismus nicht leugnet, dass es physische Gegenstände sind, die den Ausgangspunkt der ästhetischen Kunsterfahrung bilden, bestreitet er jedoch, dass die Kunstwerke mit diesen Gegenständen identisch sind. Als mentale Entitäten existieren Kunstwerke also entweder im Geiste des Schöpfers, wobei auch Kunstrezipienten gleichsam als Schöpfer gelten können. Dann haben wir es mit „produktionsästhetischem Mentalismus“ zu tun. Oder es werden Kunstwerke mit denjenigen Vorstellungen identifiziert, die sich bei der Wahrnehmung bestimmter physischer Objekte im Geiste des Betrachters einstellen. In dem Fall wird von „rezeptionsästhetischem Mentalismus“ gesprochen. Diese beiden Standpunkte (Physizismus und Mentalismus) haben für Ingarden eine prinzipielle Bedeutung. Denn sie stellen einen Hintergrund dar, auf dem drei grundlegende Elemente seiner Ästhetik-Konzeption als „ästhetischer Situation“ entworfen werden, welche ihre Ausgestaltung in den Begriffen des Schöpfers, Rezipienten, ontischen Fundaments des Kunstwerks u.a. erlangen. 24
§2. Konzeption der Ästhetik
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Als philosophische Disziplin spielt die Ästhetik in der wissenschaftlichen Tätigkeit Ingardens eine gewichtige Rolle. Denn gerade durch seine Vgl. Schmücker, R. (1998), 172f, 207f. Nicht alle Positionen werden offenbar in ihrer reinen Form in der gegenwärtigen Debatte vertreten. Eine Ausnahme stellt vielleicht die „Croce-Collingwood-Theorie“ dar, die für den „produktionsästhetischen Mentalismus“ plädiert (vgl. Croce, B. [1950]; Collingwood, R.G. [1994]). Ein Versuch, alle „Kombinationen“ aufzuklären, stünde im Widerspruch mit dem Anliegen unserer Abhandlung. Hier ist Ästhetik „in engerem Sinne“ gemeint, im Unterschied zu der „in weiterem Sinne“ (vgl. dazu 2§1 [Kap. V]).
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478 ästhetischen Analysen, welche nahezu die Hälfte aller seiner Schriften ausmachen, hat sich Ingarden in erster Linie auf der philosophischen „Bühne“ durchsetzen können. Die Ergebnisse seiner ästhetischen Forschungen werden nicht nur in Polen hoch geschätzt, sondern auch in Nord-Amerika und Europa. So schreibt etwa W. Biemel: 26
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„Was bei Ingarden so imponierend ist, ist die Weite seiner Perspektive. Wenn es schon ungewohnt ist, dass ein Phänomenologe sich mit solcher Intensität dem Bereich der Kunst zuwendet, also nicht nur dem klassischen Bereich des Erkennens in seinen verschiedenen Perspektiven, so beeindruckt bei Ingarden die Sachkenntnis in der ästhetischen Dimension in ihrer vollen Breite“. 28
Diese Weite der Perspektive kommt bei Ingarden desgleichen in seiner Konzeption der Ästhetik als „ästhetischer Situation“ deutlich zum Vorschein. Bereits 1956 schlägt er auf dem Internationalen ÄsthetikKongress zu Venedig vor, als Ausgangspunkt und Leitmotiv in der Ästhetik-Forschung die grundlegende Tatsache gelten zu lassen, die der ‚Begegnung des Künstlers bzw. des Betrachters mit einem Gegenstand bzw. Kunstwerk gleicht’. Dabei handelt es sich um eine besondere Begegnung, weil in ihr einerseits (in gewissen Fällen) das Kunstwerk bzw. der ästhetische Gegenstand „geboren“ wird, andererseits sich die schöpferischen Akte des Künstlers oder des ästhetisch erlebenden Rezipienten oder auch des Kritikers entfalten (vgl. SÄ III, 25). Damit wird also die alte objektivistisch-subjektivistische Tradition überwunden, dergemäß die ästhetische Betrachtung sich entweder auf Gegenstände 29
Vgl. Tatarkiewicz, W. (1972a), 3. Vgl. McCormick, P. u.a. (1989), IX. Biemel, W. (1995), 193f. Es gibt offenbar Fälle, wo in der „ästhetischen Begegnung“ zu keinem Entstehen des Kunstwerks kommt, etwa wenn ein Mensch mit der Natur „verkehrt“ (Beispiel: Beim Untergang der Sonne geht X die Straße entlang. Dies gefällt X, er ist davon begeistert usf. Dabei ist aber kein Kunstwerk im Spiel) (vgl. VDÄ, 180). Dies interessiert uns aber nicht näher. 26 27 28 29
479 allein zu richten oder nur mit schöpferischen und erlebnishaften Akten zu befassen habe (vgl. SÄ III, 18). Gehen wir darauf ausführlicher ein. Die ästhetische Begegnung des Subjekts mit dem Objekt ruft eine ästhetische Situation hervor, bzw. entspringt dieser Situation, welche eine komplexe Struktur aufweist. Dies ist zum einen darauf zurückzuführen, dass mit dem Subjekt sowohl Schöpfer als auch Betrachter (Rezipient) als auch beide gemeint sein können, und zum anderen darauf, dass das Objekt einen vielgliedrigen Aufbau hat, und schließlich dass zwischen dem Subjekt und Objekt verschiedene Beziehungen feststellbar sind. Verdeutlichen wir dies mit dem folgenden Schema: 30
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Rezipient (Subjekt) R5
(Objekt) G
F R1
R2 R3
R6
R7
K
ÄG R4
Schöpfer (Subjekt)
Man könnte diese Leistung Ingardens vielleicht bis zu einem gewissen Grade (zumindest von der methodologischen Seite her) mit dem vergleichen, was Kant mit Rationalismus und Empirismus getan hat. Es heißt, Kant habe diese beiden Positionen durch seine transzendentale Reflexion („Anschauungen ohne Begriffe sind blind, Gedanken ohne Inhalt sind leer“) überwunden (vgl. KrV, B 75f). Zur alten objektivistisch-subjektivistischen Ästhetik-Tradition vgl. etwa Nida-Rümelin, J. u.a. (1998). Es sei daran erinnert, dass Ingarden vom Begriff der Begegnung auch in seinen erkenntnistheoretischen Analysen Gebrauch macht (vgl. 3§2a [Kap. II]). Da der erkenntnistheoretische Faktor auch in seiner Ästhetik-Auffassung im engeren Sinne (vgl. 2§1 [Kap. V]) vorkommt, könnte man mit Recht nach den Zusammenhängen zwischen Erkenntnistheorie und Ästhetik fragen. Auf diese Frage werden wir in den nächsten Abschnitten im Rahmen des Konkretisationsproblems eingehen. 30
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480 Legende: G – vorgefundener Gegenstand; F – ontisches Fundament (Gegenstand nach der Aktion des Schöpfers); K – Kunstwerk; ÄG – ästhetischer Gegenstand; G + F + K + ÄG = Objekt; R1, R2, R3, R4 – Relationen des Schöpfers zu G, F, K, ÄG; R5, R6, R7 – Relationen des Rezipienten zu F, K, ÄG. Erklärung des Schemas: Das ganze Schema stellt eine ästhetische Situation dar, in der sich zwei Begegnungen abspielen: die erste Begegnung vollzieht sich zwischen dem Subjekt als Schöpfer und dem aus (G, F, K, ÄG) bestehenden Objekt (= Begegnung I); an der zweiten Begegnung nehmen dagegen das Subjekt als Rezipient und das ebenso aus (G, F, K und ÄG) gebildete Objekt teil (= Begegnung II). Insgesamt befinden sich also drei Elemente im Spiel: Schöpfer-Subjekt, Rezipient-Subjekt und Objekt. In beiden Begegnungen bleibt das Subjekt in erster Linie nicht mit dem ganzen Objekt in Kontakt, sondern jeweils nur mit bestimmten Elementen des Objekts (G, F, K, ÄG), welche der Art seiner Relationen zu dem Objekt entsprechen. Sowohl die ästhetische Situation im Ganzen als auch die Begegnungen I und II getrennt genommen stellen immer einen Prozess dar und haben somit einen dynamischen Charakter. Alle Elemente der ästhetischen Situation beeinflussen sich gegenseitig, so dass es letzten Endes einerseits zum Erschaffen des Kunstwerks (K) und ästhetischen Gegenstandes (ÄG) kommt, andererseits zu der emotionalen Antwort des Schöpfers bzw. des Rezipienten auf das Erschaffene (R3, R4, R6, R7). Bevor wir auf die Begegnungen I und II im Einzelnen zu sprechen kommen, müssen wir den Aufbau des Objekts erläutern. Das in der ästhetischen Situation auftretende Objekt besteht aus vier gegenständlichen Elementen (G, F, K, ÄG), die nicht nur in einem engen Zusammenhang miteinander stehen, sondern auch ineinander übergehen bzw. zueinander führen, um jedoch in der letzten Phase des ästhetischen Prozesses mitzuexistieren. Nach Ingarden haben wir es zunächst mit einem vorgefundenen physischen Gegenstand (G) zu tun, etwa mit einem Stück 32
J. Misiewicz (vgl. [1989], 55f) bezeichnet diese Begriffe (sowie Begriffe, die mit diesen zusammenhängen) als „ästhetische Kategorien der Einheit“. 32
481 Holz. Aus diesem Holzstück macht ein Künstler eine hölzerne Madonnenfigur. Diese Figur ist schon nicht mehr das Holzstück, das wir den Gegenstand (G) genannt haben, obwohl sie immer noch ein physischer Gegenstand bleibt. Nach der schöpferischen Aktion des Künstlers, die in der Bearbeitung des Gegenstandes (G) besteht, kann die Figur zum ontischen (bzw. Seins-) Fundament des Kunstwerks (F) werden. Es hat sich also ein Übergang vom Gegenstand (G) zum ontischen Fundament (F) vollzogen. Das Fundament (F) stellt ferner eine Grundlage dar, auf der sich erst das Kunstwerk (K) gestaltet, dem keine physische, sondern vielmehr eine intentionale Seinsweise zukommt, weil es über alles Reale in der Welt hinausgeht. Im Prozess des Sich-Gestaltens des Kunstwerks kommt ebenso ein Übergang vor, diesmal aber von (F) zu (K). Das Betrachten des Kunstwerks (K) führt schließlich zum Auftauchen des ästhetischen Gegenstandes (ÄG) (vgl. VDÄ, 174f; ELK, 199f), das als Ergebnis des Prozesses der Konkretisation des Kunstwerks ebenfalls durch intentionale Seinsweise gekennzeichnet ist. Im Übergang von (K) zu (ÄG) erscheint daher das konkrete wertbehaftete Angesicht des ästhetischen Gegenstandes, in dem das Kunstwerk zur Erscheinung gelangt (vgl. EKW, 21). Wie oben bereits angedeutet, existieren alle Elemente (G, F, K, ÄG), die das Objekt der ästhetischen Situation bilden, in der letzten Phase des ästhetischen Prozesses (d.h. wenn es zum Entstehen des ÄG gekommen ist) gemeinsam mit. Eine Ausnahme stellt hier nur der Gegenstand (G) dar, der sein Dasein zugunsten der Existenz des ontischen Fundaments (F) verliert. Bleiben wir bei unserem Beispiel, dann heißt das: Es gibt kein Holzstück mehr, weil der Künstler aus ihm eine Madonnenfigur gemacht hat. Als Begegnung I haben wir die Beziehung des Schöpfer-Subjekts (= des Künstlers) zu dem Objekt bezeichnet. Zerlegen wir das Objekt in die 33
J. Barski (vgl. [1992], 289f), der einerseits auf den Vorteil der Einführung des Begriffs der ästhetischen Situation hinweist, und zwar weil Ingarden dadurch intentionale und reale Gegenstände ganz gezielt verbinden kann, erblickt andererseits die Ursprünge dieses Ingardenschen Begriffs bei J. Volkelt (vgl. [1920]), d.h. Ingarden steht nach Barski unter dem Einfluss von Volkelt. Diese These ist m.E. insofern gerechtfertigt, als sich Ingarden tatsächlich mit dem Gedankengut von Volkelt befasst hat (vgl. VDÄ, 113f). 33
482 Elemente (G, F, K, ÄG), dann haben wir es mit vier Relationen des Subjekts zu tun (R1, R2, R3, R4). Wenn der Künstler ein Stück Holz vorfindet (=R1), überlegt er, was er daraus machen könnte. Er „verkehrt“ quasi mit diesem Material. Nach wenigen Minuten macht er sich an die Arbeit, um sie nach zwei Tagen abzuschließen: aus dem Holzstück ist eine Madonnenfigur geworden. Ist die Figur fertig, so besteht jetzt eine andere Relation, und zwar die Relation des Künstlers zu dieser Figur (=R2), die er für das ontische Fundament des Kunstwerks hält. Der Künstler denkt auch darüber nach, inwiefern diese Figur ein Kunstwerk darstellt, bzw. von welcher Art das Kunstwerk ist (=R3). In seinen Gedanken vertieft erlebt er nun eine Konfrontation mit dem Kunstwerk, indem er den ästhetischen Gegenstand entwirft (=R4). Es sind bei diesem ästhetischen Prozess drei Merkmale relevant: (1) Die Beziehung des Künstlers zu jedem Element des Prozesses ist durch eine doppelseitige Beeinflussung charakterisiert, d.h. nicht nur der Künstler wirkt auf die Elemente (des Objekts), sondern auch die Elemente wirken auf den Künstler; (2) Jede Relation des Künstlers beinhaltet ein wertendes Moment; also vollzieht der Künstler eine Bewertung zuerst des Holzstückes, danach der Figur usw.; (3) Überdies kann der Künstler zugleich auch als Rezipient-Subjekt angesehen werden. Dabei hat er dem reinen Rezipienten gegenüber insofern einen Vorteil, als er auch in der Relation zum vorgefunden Gegenstand steht (=R1) und ihn zum ontischen Fundament des Kunstwerks (F) werden lässt. Die Begegnung II der ästhetischen Situation steht dagegen nur unter dem Einfluss eines Rezipienten-Subjekts (= des Rezipienten) und ist deshalb weniger kompliziert. Bei einem Museumsbesuch stößt ein Rezipient X auf eine hölzerne Madonnenfigur (=R5). Durch ihre Gestalt und Struktur erweckt die Figur im Rezipienten den Gedanken, sie sei ein wertvolles Kunstwerk (=R6), bzw. ein ontisches Fundament, auf dem das Kunstwerk erscheint. Um dieses Kunstwerk zu erfassen, „bedient sich“ unser Rezipient des ästhetischen Gegenstandes, d.h. er versucht vermöge seiner geistigen Kräfte, das Kunstwerk zu durchschauen (=R7). Auch in Bezug auf die Begegnung II gilt, dass eine doppelseitige Beeinflussung in der Beziehung des Rezipienten zu jedem Element des ästhetischen Prozesses feststellbar ist, und dass jede Relation einen wertenden Charakter aufweist (vgl. VDÄ, 177f, 283f; SÄ III, 26f).
483 Festzuhalten ist, dass die Struktur der ästhetischen Situation bei Ingarden einen grundlegenden Gegenstand seiner Ästhetik darstellt. Die Ästhetik verdankt gleichsam der ästhetischen Situation ihre Konzeption. Deshalb erfordert das genaue Erfassen der ästhetischen Situation, dass stets alle ihre Elemente vor Augen geführt werden, auch dann wenn sich die Analyse aufgrund ihres systematischen Vorgehens jeweils nur auf ein konkretes Element richtet (vgl. SÄ III, 40). Die Konzeption der Ästhetik als „ästhetische Situation“, in der es zu der Begegnung des Subjekts mit dem Objekt kommt, und die als ein Ganzes zu betrachten ist, hat ihre Quelle in den ontologischen Untersuchungen Ingardens, die von uns (mit dem Blick auf die Kunst) weiterhin erforscht werden müssen. Es wird sich zeigen, dass das Ganze auf drei Problembereiche hinausläuft: Ontologie der Kunst, Theorie der ästhetischen und künstlerischen Werte sowie Theorie der ästhetischen Erfahrung. Diese Problembereiche entsprechen weitgehend den Elementen der ästhetischen Situation (vgl. das obige Schema) und stellen ein Feld dar, auf dem Ingardens ästhetische Errungenschaften sichtbar werden. 5. Ontologie der Kunst Aus dem vorangehenden Abschnitt ergibt sich, dass Ingarden den ontologischen Status des Kunstwerks im Rahmen seiner Konzeption der Ästhetik als „ästhetischer Situation“ bestimmen will, in der sowohl physische als auch nicht-physische Entitäten auftreten. Insofern steht unser Autor – zumindest aus methodischer Sicht - etwa der Position von J. Margolis nahe, der den ontologischen Status des Kunstwerks durch den Begriff der „Verkörperung“ zu bestimmen versucht. Andererseits geht aber Ingardens Forderung ganz deutlich über Margolis hinaus, zumal unser Autor auch den Begriff des Gehalts der Idee einführt. Daher versteht er die Kunstphilosophie als ‚apriorische Erkenntnis des Gehalts der Idee des künstlerischen Werks und seiner möglichen Abwandlungen’. Die Folge ist, dass die Seinsweise von Kunstwerken als intentionale, überzeitliche Gegenständlichkeit bestimmt wird, die auf der 34
34
Vgl. Margolis, J. (1980).
484 Grundlage eines materiellen Objekts durch bestimmte Bewusstseinsleistungen konstituiert wird. Diese Seinsweise ist weder mit dem empirisch wahrnehmbaren Substrat eines Werkes noch mit rein idealen Vorstellungen zu verwechseln, sondern baut sich durch ein Realität und Idealität vermittelndes Erkennen auf. Die Seinsweise der Kunstwerke als intentionaler Gebilde muss für jede Kunstgattung spezifiziert werden. Denn jedes Kunstwerk weist eine für die betreffende Kunstgattung charakteristische Struktur auf, es ist ein komplexes Gefüge von sich aufeinander aufbauenden „Schichten“. 35
§1. Aufbau des Kunstwerks als rein intentionalen Gegenstandes a. Über die Husserlsche Perspektive hinaus Ingarden ist entschieden dagegen, dass Husserl die Ideen zu rein intentionalen Gegenständen reduzieren will (VDÄ, 433). Die Ingardensche Argumentation läuft darauf hinaus, eine Differenz zwischen den im Gehalt der rein intentionalen Gegenstände auftretenden Unbestimmtheitsstellen und den Variablen der Ideengehalte gelten zu lassen. Die Erfassung dieser Differenz hat für seine Analyse der Kunstwerke eine primäre Bedeutung. Selbst wenn sowohl der Idee als auch dem rein intentionalen Gegenstand eine doppelseitige Struktur zukommt, liegt jedoch zwischen den beiden ein gewichtiger Unterschied vor, der für den Aufbau der Kunstwerke relevant ist. So haben wir: 36
37
Vgl. Henckmann, W. (1998), 425f. Es handelt sich vor allem um das Husserlsche Werk „Formale und transzendentale Logik“ (vgl. Hua XVII). Zum Problem der Ideen bei Ingarden vgl. 3§1 (Kap. II) und der (rein) intentionalen Gegenstände vgl. 3§1 (Kap. III). Hier werden diese beiden Begriffe nur in Bezug aufeinander aufgegriffen.
35 36
37
485 (A) Idee = (1) Struktur „qua Idee“ (ein Komplex von Merkmalen, z.B. dass jede Idee einen Gehalt hat usw.) + (2) Gehalt (Konstante + Variable) (B) Rein intentionaler Gegenstand = (1) Struktur „qua rein intentionaler Gegenstand“ (ein Komplex von Merkmalen, z.B. Durch-einen-Akt-erzeugt-sein usw.) + (2) Gehalt (das Vermeinte) => Unbestimmtheitsstellen In den Fällen (A) und (B) haben wir es nun mit einer doppelseitigen Struktur zu tun: Während die Idee aus der Struktur „qua Idee“ und des Gehalts besteht, lässt sich im rein intentionalen Gegenstand dagegen die Struktur „qua rein intentionaler Gegenstand“ und ebenfalls der Gehalt unterscheiden (vgl. GE II, 568f; SEW II/1, 211f). Der springende Punkt der Ingardenschen Kritik an Husserl liegt im Gehaltsbereich. Das GehaltElement von Ideen ist ganz anders als das von rein intentionalen Gegenständen. So treten etwa im Gehalt der Idee „Mensch überhaupt“ Konstanten (z.B. der Mensch ist ein lebendiges und zugleich sterbliches Wesen) und Variable (z.B. Hautfarbe) auf, wobei die letzteren durchaus als sichere Bestimmungen gelten können, nämlich als Ergänzung des Ideengehalts. Zwischen Konstanten und Variablen gibt es auch notwendige Kausalzusammenhänge: An den Ideen ist deshalb alles streng bestimmt, wir können an ihnen nichts ändern, d.h. wir können etwa nicht sagen, dass in der Idee „Mensch überhaupt“ als Variable „Der Mensch hat keine Hautfarbe“ gilt. Mit anderen Worten: Die Ideen samt ihren Gehalten sind den Erkenntnisakten gegenüber transzendent. Diese Transzendenz lässt sich jedoch keineswegs in Bezug auf rein intentionale Gegenstände behaupten, weil im Gehalt eines rein intentionalen Gegenstandes, der nur das vom Akt Vermeinte darstellt, auch Unbestimmtheitsstellen (= Leerstellen) notwendig auftreten. Deshalb hängt ein rein intentionaler Gegenstand von den Veränderungen ab, welche sich entweder in seinem Gehalt oder im Modus des vermeinenden Aktes und in den damit zusammenhängenden Bewusstseinszuständen vollziehen. So
486 können wir im Prozess der Konstituierung des rein intentionalen Gegenstandes seine Eigenschaften verändern und Unbestimmtheitsstellen entweder hinzufügen oder abschaffen. Demnach wäre es denkbar, sich etwa einen Menschen vorzustellen, der eine rotgrüne Hautfarbe hat, oder von einem Herrn X zu denken, dass er schwarzhaarig sei, weil die Farbe seiner Haare im gestern von mir gelesenen Roman unbestimmt bleibt (vgl. SEW II/1, 174f; LK, 121f). Die Unbestimmtheitsstellen bilden gleichsam das wesentliche Element der Theorie des Aufbaus des Kunstwerks. 38
b. Theorie des Aufbaus des (literarischen) Kunstwerks Unter allen Kunstwerken kommt dem literarischen Kunstwerk eine besondere Rolle zu, weil Ingarden es am eingehendsten untersucht hat. Deswegen werden auch wir in erster Linie anhand des literarischen Kunstwerks den Aufbau des Kunstwerks schlechthin genauer analysieren, zumal eine ausführliche Analyse aller Kunstarten den Rahmen des vorliegenden Kapitels sprengen würde. Einen anderen Grund, der für unsere Entscheidung spricht, gibt Ingarden selbst an, wenn er schreibt: 39
„Zu diesem Zweck suchte ich einen Gegenstand, dessen reine Intentionalität außer jedem Zweifel stünde und an welchem man die wesensmäßigen Strukturen und die Seinsweise des rein intentionalen Gegenstandes studieren könnte, ohne den Suggestionen zu unterliegen, die sich aus dem Hinblicken auf die realen Gegenständlichkeiten ergeben. Und da erschien mir das literarische Werk als ein besonders geeignetes Untersuchungsobjekt für diesen Zweck“ (LK, Xf).
Nicht zu übersehen ist auch, wie J. Mitscherling mit Recht bemerkt, dass gerade für Ingarden das literarische Kunstwerk im Kontext der IdealismusRealismus-Debatte als geeignetes Medium gilt, auf die idealistischen Absichten Husserls aufmerksam zu machen. Um den Gegenstand unserer 40
Vgl. dazu auch Szczepanska, A. (1989), 51f. Vgl. vor allem seine zwei Werke „Das literarische Kunstwerk“ und „Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks“, die insgesamt nahezu ein tausend Seiten umfassen. Vgl. Mitscherling, J. (1997), 123f. 38 39
40
487 Analyse in diesem Abschnitt herauszupräparieren, erinnern wir uns an den folgenden Zusammenhang: (G) =>
(F)
=>
(K)
=>
(ÄG)
Mit den (G, F, K, ÄG) sind die für den Prozess der Konkretisierung des Kunstwerks fundamentalen Elemente gemeint. Unter (G) ist also ein physischer Gegenstand (d.h. reales Material, z.B. Papier, Schrift usw.) zu verstehen, welcher (dank dem Autor) zum ontischen Fundament (F) des literarischen Kunstwerks (K) (z.B. zu einem Buch) wird, das von einem Subjekt als ästhetischer Gegenstand (ÄG) erfasst werden kann. Hier interessieren uns lediglich (F) und (K). Dadurch wird das Untersuchungsfeld eingeschränkt, und wir verbleiben im Bereich der Ontologie des literarischen (Kunst-)Werks. Es gilt vorab diesen Bereich klarzulegen. Die Ontologie des literarischen Kunstwerks ist nach Ingarden eine apriorische Theorie. Als solche kann sie keine einzige ihrer Behauptungen auf Erfahrung stützen, in der die einzelnen Werke in der Fülle ihrer Beschaffenheit und Individualität gegeben wären. Abgesehen von dem Problem der Seinsweise des literarischen Werkes und dessen Verhältnis zu der realen Welt (insbesondere zu den realen psychischen Individuen: den Schöpfern und Rezipienten) erforscht diese Ontologie keine einzelnen literarischen Individuen, sondern vielmehr bloß den Inhalt der allgemeinen Ideen des literarischen Werkes. Sie fragt mithin danach, was zu dieser Idee im Einzelnen gehört, wie ein bestimmter individueller Gegenstand aufgebaut ist und welche allgemeinen Eigenschaften er besitzen muss, um so etwas wie ein literarisches Werk zu sein. Darüber hinaus interessiert sie sich dafür, welche notwendigen und welche lediglich möglichen Verbindungen zwischen den Elementen und Momenten eines jeden beliebigen literarischen Werkes überhaupt oder auch eines jeden beliebigen Werkes einer bestimmten spezifischen Abwandlung bestehen (können). Schließlich stellt sie die Frage, welches die möglichen Typen und 41
Denn (G) ist schon im Kapitel IV behandelt worden, und mit (ÄG) werden wir uns extra erst in weiteren Abschnitten befassen. 41
488 Abwandlungen von literarischen Werken sind, die bei der allgemeinen Grundstruktur des Werkes zulässig sind. All dies macht uns deutlich, dass alle Behauptungen der Ontologie des literarischen Kunstwerks streng allgemein sind und keine faktische Existenz zur Voraussetzung haben. Die faktisch existierenden Werke liefern der Ontologie lediglich das BeispielMaterial, das die Veranschaulichung der Elemente und Momente sowie der Zusammenhänge zwischen diesen ermöglicht (vgl. GAL, 27f). Daher können wir uns jetzt dem Aufbau des literarischen Kunstwerks selbst widmen, dessen Analyse streng im Bereich der Ontologie verbleibt. Das literarische Kunstwerk bedarf zu seiner Existenz einer Grundlage, die auch ontisches Fundament genannt wird. 42
b.a. Das ontische Fundament des Kunstwerks Selbst wenn Kunstwerke rein intentonale Gegenstände sind, haben sie ihr Fundament keinesfalls ausschließlich in den schöpferischen Akten des Künstlers (Fundament I), sondern auch in einem entsprechend gestalteten physischen Ding (Fundament II) (vgl. EKW, 217). Demnach haben wir es nach Ingarden generell bei Kunstwerken mit zwei Fundamenten zu tun. Das im physischen Ding wurzelnde Fundament nennen wir der Einfachheit halber das ontische Fundament. Und dieses soll hier vor allem zum Gegenstand unserer Analyse gemacht werden. 43
44
Die Ontologie des literarischen Werkes ist ein Teil der Literaturphilosophie, die von der „Einzelwissenschaft über die Literatur“ zu unterscheiden ist. Das wird im Zusammenhang mit dem Problem der „Poetik“ bei Ingarden genauer diskutiert. Vgl. dazu Makota, J. (1964), 173. Die Autorin betont das Angewiesensein dieser beiden Fundamente aufeinander. Das Fundament II ermöglicht dem Kunstwerk dauerhaftes Bestehen und stellt einen Unterbau dar. Insofern ist es stärker als das Fundament I. Dieses letztere hat dagegen das Übergewicht dem ersteren gegenüber im schöpferischen Prozess. Wenn wir in unserer Abhandlung vom ontischen Fundament des Kunstwerks sprechen, verwenden wir das Adjektiv „ontisch“ in einem weiteren Sinn, um die Analyse zu vereinfachen. Das heißt, damit meinen wir nicht nur das mit den schöpferischen Akten des Künstlers bzw. auch des Rezipienten verbundene, streng genommen „ontische“ Fundament, das (vom Geist) noch „erschlossen“ werden muss (Fundament I), sondern auch das im physischen Ding involvierte Fundament 42
43
44
489 Kunstwerke, welche die objektive Grundlage der Konstitution eines bestimmten ästhetischen Gegenstandes bilden, haben immer etwas Physisches zu ihrem Seinsfundament. Sie selbst sind dennoch immer seinsheteronom und gehen je nach ihrer Grundart weit über die Bestimmtheiten hinaus, die ihnen das physische Fundament verleiht. Am weitesten geht in der Architektur ihre Bestimmung auf die Eigenheiten des physischen Fundaments zurück, relativ am wenigsten in der Literatur. Immer aber bildet das Kunstwerk für den Rezipienten einen Gegenstand, der ihm beim Vollzug entsprechender Erfassungsakte gegeben ist und dessen Bestimmtheiten von ihm nur entdeckt und nicht frei erfunden werden (vgl. EKW, 146). Das physische Fundament verleiht dem Kunstwerk eine relativ dauerhafte Existenz, macht es mehreren Rezipienten zugänglich und erlaubt es in ästhetischer Einstellung zu erfassen. Deshalb ist die Gestaltung des physischen Fundaments der Bildung des Kunstwerks untergeordnet; sie dient ihrer Realisierung (vgl. EKW, 154). Das Verhältnis zwischen dem physischen Fundament und dem Kunstwerk ist nach Ingarden bei den verschiedenen Künsten ungleichmäßig. Wenn dieses Verhältnis in der Architektur noch sehr eng ist, so ist es etwa in der Skulptur und in der darstellenden Malerei bereits viel lockerer, um schließlich in der Literatur ganz locker zu werden, unabhängig davon, ob das literarische Werk schriftlich niedergelegt oder etwa nur auf dem Tonband aufgenommen ist. Folglich ist in jeder Kunst für sich eine besondere Betrachtung durchzuführen, inwiefern und in welchen Einzelheiten das betreffende physische Fundament dem Kunstwerk eine hinreichende Bedingung seiner Festlegung liefert (vgl. EKW, 217). Das Problem des ontischen Fundaments erreicht jedoch seine höchste Schwierigkeitsstufe im Hinblick auf das literarische Kunstwerk, weil wir hier sogar auf drei Fundamente stoßen:
(Fundament II). Denn dieses letztere muss auch gewissermaßen „erschlossen“ werden. Das Fundament, das auf die schöpferischen Akte des Künstlers zurückführt, wird von uns im Kontext der ästhetischen Erfahrung behandelt.
490
Fundament (F) I
+
(subjektive Operationen)
Fundament (F) II (physisches Material)
+
Fundament (F) III (ideale Begriffe)
Nun während es grundsätzlich heißt, dass die meisten Kunstwerke zwei Fundamente aufweisen, d.h. F I und F II, gilt für das literarische Kunstwerk, dass es drei Fundamente haben kann. Dabei ist freilich die Voraussetzung, dass es niedergeschrieben wird. Falls dies nicht der Fall sein sollte, wenn wir etwa ein mündlich weitergegebenes literarisches Kunstwerk in Betracht ziehen, dann ergeben sich auch hier nur zwei Fundamente, allerdings F I und F III. Erklären wir jetzt diese DreiFundamente-Struktur. Das Repräsentative an dieser Struktur ist, dass vor allem die Fundamente F I und F III eng miteinander verknüpft sind. Deshalb werden sie von Ingarden auch als das „Fundament des Entstehens des literarischen Werkes“ (F I) und „das des Existierens nach der Gestaltung“ (F III) genannt. Das F I ist auf die subjektiven Operationen des Autors zurückzuführen, die im Prozess der Gestaltung des Werkes vollzogen werden und in erster Linie satzbildende Operationen sind, obwohl sie sich darin nicht erschöpfen. Das geschaffene Werk und die geschaffenen Sätze, die keine seinsautonomenen, sondern seinsheteronome Gegenständlichkeiten sind, haben also den Ursprung ihres Seins in den Akten des schöpferischen Bewusstseinssubjekts (F I). Die satzbildende Operation bedarf jedoch für ihre Verwirklichung einerseits idealer Begriffe und Qualitäten, andererseits realer Wortzeichen. Sie aktualisiert lediglich (etwa) die Sinnelemente entsprechender idealer Begriffe und gestaltet daraus ein einheitliches Ganzes. Mit anderen Worten: Die idealen Begriffe bilden das Seinsfundament der Sätze und das regulative Prinzip ihrer Bildung (F III). Das Bewusstseinssubjekt wählt nun aus den idealen Begriffen entsprechende Momente aus, bringt deren seinsheteronome Aktualisierungen hervor und verbindet sie zu einem neuen Ganzen. Mit der Aktualisierung des Sinnes vollzieht sich zugleich eine intentionale Konkretisierung der Wortlaute und sprachlautlichen Gebilde, so dass damit der ganze Satz (Sinngehalt und wortlautlicher „Ausdruck“) intentional
491 geschaffen wird. Die Fundamente F I und F III sind dem literarischen Kunstwerk gegenüber transzendent (vgl. LK, 385f). Das Auftreten des physischen Fundaments im literarischen Kunstwerk ist dagegen – wie oben bereits angedeutet – auf die Tatsache angewiesen, dass das Kunstwerk niedergeschrieben werden muss. Nun müssen in irgendeinem realen, festen, verhältnismäßig wenig wandelbaren Material (Papier, Holz, Steinplatte usw.) die „Schriftzeichen“ als Signale der Verwendung entsprechender Wortlaute festgelegt werden. Dieses hinlänglich gestaltete reale Material macht das physische Fundament (F II) aus. Da das Fundament F II nach Ingarden für die seinsheteronome Existenz des Werkes nicht ausreichend ist, sind deshalb die Fundamente F I und F III erforderlich. Überdies sind die F I und F III für die Existenz des literarischen Kunstwerks wesentlicher als das F II, weil die Beziehung der durch sie fundierten Gegenständlichkeiten (d.h. der Sätze) zu dem literarischen Werk eine ganz andere ist als die Beziehung, welche zwischen den Schriftzeichen (bzw. dem konkreten schriftlichen Material) und dem Werk besteht. Während die Sätze echte Bestandteile des literarischen Werkes sind, bilden sowohl das reale schriftliche Material wie die in ihm fundierten Schriftzeichen kein Element des literarischen Werkes. Sie stellen für den Rezipienten (Leser) lediglich ein „regulatives Signal“ dar, welches ihm Auskunft gibt, welche Wortlaute er gerade konkretisieren soll (vgl. LK, 392f; VDÄ 195f). Damit sind wir bei der Frage nach den Elementen des Kunstwerks, d.h. seiner Struktur. 45
b.b. Die Struktur des Kunstwerks Dass ein Kunstwerk für Ingarden ein Gebilde mit einer komplexen Struktur ist, ergibt sich schon aus dem Begriff des ontischen Fundaments, auf dem sich das Kunstwerk samt seinen Elementen erst aufzubauen hat. In Ingardens Werk „Studien zur Ästhetik“ heißt es daher: Die Annahme von idealen Begriffen und Wesenheiten ermöglicht nicht nur die seinsheteronome Existenz der Sätze (des literarischen Werkes), sondern auch die intersubjektive Identität der Sätze für verschiedene Subjekte. Darüber hinaus wird dadurch dem Husserlschen transzendentalen Idealismus widersprochen, der nur das reine Bewusstsein „ernst nimmt“ bzw. bevorzugt (vgl. 2 [Kap. I]). 45
492
„Die Begegnung mit ihm [dem ästhetischen Gegenstand] ruft im erlebenden Menschen gerade eine Art Bewunderung, Interesse, Wonne hervor, und später sogar Glück […] aus dem Verkehr mit jener besonderen Qualität. Sie kann in sich […] jedoch qualitativ ergänzugsbedürftig und unselbstständig sein […]. Dies lässt den Menschen nach anderen Qualitäten suchen […]. Und diese Ermittlung macht den Beginn des schöpferischen Prozesses, der […] das qualitative Konstrukt hervorbringt, in dem jene Qualität ihre ontische Grundlage findet und sich auf ihm konkret aufbaut. Dieses Konstrukt – z.B. eine gewisse Kombination von Tönen, eine räumliche Gestalt oder ein gewisses aus Sätzen bestehendes sprachliches Ganzes, muss entsprechend gestaltet sein, damit sich auf ihm jene synthetische Qualität aufbauen kann. Wir bezeichnen sie als Kunstwerk [...]“ (SÄ III, 31).
Das obige Zitat macht also deutlich, dass das Kunstwerk eines Seinsfundaments bedarf, um sich auf ihm aufbauen zu können. Dieses Fundament kann unterschiedlich sein, je nachdem, mit welcher Kunstart wir es zu tun haben. Der Aufbau des Kunstwerks schlechthin umfasst vier prinzipielle Elemente: Unterbau (Skelett), künstlerische Fertigkeiten (Leistungen), ästhetisch relevante (valente) Qualitäten und Werte. Diese sind zum Teil noch weiter zu differenzien (vgl. VDÄ, 404). Das Ganze steht in folgendem Zusammenhang: SK (=A) ↓ (1) (2) (3)
=>
F (=B)
=>
RQ (=C) ↓
=>
ÄW (=D)
(1), (2), (3), (4), (5), (6), (7), (8), (9)
↓ (a), (b), (c), (d)
Legende: SK – Skelett des Kunstwerks, F – Fertigkeiten, RQ – relevante Qualitäten, ÄW – ästhetischer Wert.
493 Die Struktur des Kunstwerks besteht also aus vier Elementen (A, B, C und D), die auch Momente genannt werden und in einem kausalen Zusammenhang miteinander stehen. Zu (A): Auf dem Seinsfundament baut sich zunächst das ästhetisch neutrale Skelett des Kunstwerks auf (A). Es ist eine Art Unterbau des Kunstwerks. In verschiedenen Künsten wird dieses Skelett deshalb durch verschiedene, entsprechend gewählte Mannigfaltigkeiten von Momenten bestimmt. Diese könnte man auf folgende drei Eigenschaften reduzieren: (1) den mehrschichtigen Aufbau; (2) Momente quasi-zeitlicher Struktur und (3) kategoriale Strukturen dargestellter Gegenständlichkeiten. Durch mehrschichtigen Aufbau (1) sind vor allen Dingen die sogenannten darstellenden Künste (Literatur, Malerei, Skulptur) charakterisiert. In manchen Künsten, z.B. in einem Musikwerk oder in einem abstrakten Bild fehlt jedoch ein solcher Aufbau (vgl. EKW, 182). Im literarischen Werk, das eigens durch geordnete Teile gekennzeichnet ist und uns in erster Linie aus den oben genannten Gründen interessiert, lassen sich nach Ingarden folgende vier zusammenhängende Schichten unterscheiden: (a) Wortlaute und sprachliche Lautgebilde, (b) Bedeutungseinheiten, (c) dargestellte Gegenständlichkeiten und (d) schematisierte Ansichten. All diese Schichten sind für jedes literarische Werk erforderlich (vgl. TJFPL, 126f). So beziehen sich die ersten zwei Schichten (a, b) ganz streng auf das Phänomen der Sprache: Denn zum einen stoßen wir in jedem literarischen Werk auf Worte, Sätze und Satzzusammenhänge. Zum anderen müssen wir zwischen zwei Komponenten differenzieren: einem bestimmten Lautmaterial, das vielfach differenziert und auf verschiedene 46
47
Vgl. dazu auch Barski, J. (1992), 319f. Er versucht, diese Elemente des Kunstwerks mit Bezug auf M. Merleau-Ponty (vgl. [1986]) zu interpretieren. Denn z.B. im Musikwerk haben wir es nach Ingarden nur mit einer einzigen Schicht zu tun, mit der Schicht der Töne. Dagegen tritt Z. Lissa (vgl. [1966], 95) auf, die behauptet, dass die Thesen über die Musik geschichtlich bedingt seien und das empirische Element miteinbezögen, was Ingarden übersehe, wenn er sich nur auf Musikwerke allein und nicht auf Musik konzentriere. Sonst ist die Zahl der Schichten unterschiedlich, etwa in der Malerei gibt es drei Schichten (eine auf der Unterlage von Farbenqualitäten rekonstruierte Ansicht, den erscheinenden dargestellten Gegenstand und das literarische Thema), im literarischen Werk vier Schichten (vgl. unten). 46
47
494 Weise geordnet ist, und dem damit verbundenen Sinn. Weist das bestimmte Lautmaterial eine bestimmte Bedeutung auf, dann wird es zu einem Wortlaut. Es erfüllt die Funktion, eine Bedeutung zu tragen und sie vielen Subjekten zu vermitteln. Während das Wort unzählige Male ausgesprochen wird und somit das konkrete Lautmaterial immer ein neues ist, bleibt der Wortlaut derselbe. Nicht das einzelne Wort, sondern der Satz bildet das wahrhaft selbständige Gebilde der Sprache. Der Satz als eine Sinneinheit und ein den Wörten gegenüber vollständig neuartiges Gebilde weist in sich eine Gliederung auf, die zuletzt auf die Worte als unselbständige Elemente des Satzes zurückführt (vgl. LK, 30f). Das wortlautliche Material ist also für die Bedeutungseinheiten notwendig, welche zu eigenen charakteristischen und in einer „Polyphonie“ auftretenden Momenten des ganzen Kunstwerks führen. Das Vorhandensein der Sicht der Bedeutungseinheiten im literarischen Werk kommt vor allem darin zum Ausdruck, dass dieses Werk niemals ein völlig irrationales Gebilde sein kann, wie das oft bei anderen Kunstarten, aber besonders in der Musik, der Fall sein kann. Dies ist dem Moment der „Ratio“ zu verdanken, das nach Ingarden in jedem literarischen Kunstwerk enthalten ist, auch wenn es manchmal nur undeutlich mitschwingt. Bei der ästhetischen Aufnahme des Werkes gibt es immer eine Phase, in welcher der Rezipient durch die Atmosphäre des Rationalen hindurchgeht, indem er das Werk zunächst begreifen muss, und zwar in dem Sinne, in welchem nur Bedeutungseinheiten begreifbar sind. Das „sub-specie-der-RationalitätStehen“, das in jedem literarischen Werk vorkommt, kann offenbar verschiedene Grade der Ausgeprägtheit haben. Die bekannteste Schicht des literarischen Werkes ist die thematische Schicht der dargestellten Gegenständlichkeiten (c), weil sie dem Rezipienten als erstes beim schlichten Lesen des Werkes ins Auge fällt, wenn er den Bedeutungsintentionen des Textes folgt. Die im literarischen Werk dargestellten Gegenständlichkeiten sind ‚abgeleitet rein intentionale, durch Bedeutungseinheiten entworfene Gegenständlichkeiten’. Diese zur Darstellung gelangende Sphäre ist prinzipiell einheitlich. Damit wird jedoch nicht ausgeschlossen, dass sich innerhalb ihrer Grenzen auch Gegenstände von grundsätzlich verschiedenem Seinstypus befinden können: Wenn etwa in einem Roman ein Mathematiker dargestellt wird, der sich mit bestimmten mathematischen Gegenständlichkeiten befasst, die
495 auch explizite zur Darstellung gelangen, dann ist die Welt, in welcher der Mathematiker lebt und seine Tätigkeit ausführt, eine „quasi-reale“, dagegen die der mathematischen Gegenständlichkeiten eine ideale (vgl. LK, 223f). Da die Schicht der dargestellten Gegenständlichkeiten im literarischen Werk nur um ihrer selbst willen auftritt, während die anderen drei Schichten (a, b, d) zu dem Zwecke vorhanden sind, um die Gegenstände zu entsprechender Darstellung zu bringen, stellt sie somit das ‚wichtigste Element des literarischen Kunstwerks’ dar. Ihre Aufgabe besteht gleichsam darin, „metaphysische Qualitäten“ (wie das Tragische, das Furchtbare, das Heilige usw.) zu enthüllen, welche sich an dargestellten Situationen und Gegenständen zeigen und von diesen getragen werden (vgl. LK, 307f). Die letzte Schicht des literarischen Werkes wird schließlich die der schematisierten Ansichten (d) genannt. Betrachten wir ein Beispiel: Wenn ich eine rote Kugel visuell wahrnehme und sie in ihrer leibhaft auftretenden Kugelgestalt erfasse, so erlebe ich während des Wahrnehmens ständig wechselnde, ichfremde, doch nicht gegenständlich gegebene anschauliche konkrete Ansichten einer und derselben Kugel. Unter einer „schematisierten Ansicht“ ist dagegen nur ‚die wiederholbare Gesamtheit derjenigen Momente des Gehalts einer konkreten Ansicht zu verstehen, deren Vorhandensein in ihr die ausreichende und unentbehrliche Bedingung der objektiven Eigenschaften eines Dinges’ (hier einer Kugel) ist. Aufgrund der Konkretisierungen derselben schematisierten Ansicht vermögen zwei konkrete Ansichten, die 48
49
H. Markiewicz (vgl. [1961], 271) weist auf gewisse Bedenken bezüglich dieser Schicht hin. Er will etwa die Schicht der dargestellten Gegenständlichkeiten nur für „höhere Bedeutungssysteme“ halten, welche als „Mannigfaltigkeiten von Bedeutungen“ charakterisiert werden. Metaphysische Qualitäten sind es, die dem Leben einen Erlebenswert verleihen und nach deren konkreter Offenbarung eine geheime Sehnsucht hinter allen unseren Handlungen und Taten in uns lebt und uns treibt, ob wir es wollen oder nicht. Die Offenbarung von metaphysischen Qualitäten, die nicht realisiert, sondern von einem Subjekt nur konkretisiert werden, bildet die letzten Tiefen des Seienden. Als Beispiel: Wenn wir in einer Morgenzeitung in einem Polizeibericht von einem Ereignis lesen, das seinem Wesen nach tragisch ist, so stoßen wir auf die metaphysische Qualität des Tragischen. Nach P. McCormick (vgl. [1989a], 187f) ist in dem Zusammenhang das Hermeneutik-Problem zu behandeln. Wir werden das in einem eigenen Abschnitt tun. 48
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496 in verschiedenen Zeitmomenten erlebt werden und sich sowohl ihren Gehalten nach wie in der Weise ihres Erlebtwerdens unterscheiden, trotzdem eine und dieselbe dingliche Eigenschaft zur (originären) Erscheinung zu bringen. Die wichtigste Funktion der schematisierten Ansichten im literarischen Werk besteht also darin, dass durch sie die dargestellten Gegenstände auf eine durch das Werk selbst ‚vorbestimmte’ Weise zum Vorschein gebracht werden (vgl. LK, 272f, 294). Die zweite Eigenschaft des Skeletts des Kunstwerks ist seine „quasizeitliche Struktur“ (2), die im literarischen Werk und Musikwerk vorkommt, nicht aber in der Malerei. Versuchen wir sie am Beispiel eines Musikwerks zu erläutern. Jedes Musikwerk ist nach Ingarden ein in der Zeit verharrender Gegenstand (ZVG). In einer bestimmten Zeit entstanden existiert es als dasselbe Werk weiter, nachdem der Schaffensprozess bereits abgelaufen ist. Als ZVG ist ein Musikwerk kein in dem Sinne „zeitlicher Gegenstand“, wie dies bezüglich seiner einzelnen Aufführungen gilt. Während die einzelnen Teile seiner Aufführung in ganz bestimmten Zeitphasen realiter aufeinanderfolgen, existieren alle Teile des Musikwerks gleichzeitig, sobald es fertig (d.h. vom Autor geschaffen) ist. ‚Die letzteren weisen gleichsam nicht nur eine bestimmte „Ordnung der Aufeinanderfolge“ auf, sondern auch eine dem Werk selbst immanente quasi-zeitliche Struktur’. Diese Ordnung der Aufeinanderfolge der Werkteile darf also nicht mit dem Sich-Entfalten einer bestimmten Aufführung des Werkes in einem bestimmten Abschnitt der intersubjektiven phänomenalen Zeit identifiziert werden. Denn jede neue 50
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Die Einführung des Begriffs „Ansicht“ macht den Husserlschen Einfluss auf Ingarden bemerkbar. Die andere Funktion von Ansichten hat einen „dekorativen“ Charakter und ist deswegen für uns hier nicht so wichtig. Dagegen ist für uns wichtig, dass die Schicht der schematisierten Ansichten einer Kritik von vielen anderen Denkern (Literaturwissenschaftlern wie James Joyce, Bruno Schulz) ausgesetzt worden war. Die Folge war, dass Ingarden diese Schicht in seinen späteren Werken nicht mehr so stark akzentuiert hat, stattdessen kamen in den Vordergrund immer deutlicher die „Leerstellen“ (vgl. Fieguth, R. u.a. [1997], XVIIf). Das gleiche gilt offenbar auch für ein literarisches Werk, wobei hier Ausführen soviel wie Prozess des Lesens heißt. Zur Auffassung der phänomenalen Zeit bei Ingarden vgl. 3§1c (Kap. IV). Nach A. Haardt (vgl. [1995], 218f) ließe sich die Ingardensche Auffassung der Zeit im Musikwerk (quasi-zeitliche Struktur) mit der 50
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497 Aufführung entfaltet sich in einem anderen Abschnitt dieser Zeit, d.h. ihre einzelnen Teile entfalten sich nach und nach und die bereits entfalteten gehen vorüber. Sie zeichnet sich deswegen dadurch aus, dass die eine Aufführung sich länger, eine andere kürzer hinzieht. Demgegenüber besitzt das Musikwerk selbst eine einzige Ordnung der Aufeinanderfolge der Teile und auch eine einzige quasi-zeitliche Struktur, die von den Phasen der konkret erlebten, intersubjektiven Zeit ganz unabhängig ist. Die quasi-zeitliche Struktur, die der Betrachtung des Musikwerks hinsichtlich seines Gehalts entspringt, bringt also die ‚Überzeitlichkeit des Musikwerks’ zum Vorschein (vgl. UOK, 11f, 40). Das Skelett des Kunstwerks ist schließlich durch die kategorialen Strukturen der im Werk dargestellten Gegenständlichkeiten (3) gekennzeichnet, die auch ästhetisch neutral sind, obwohl es künstlerisch nicht irrelevant sein kann, ob etwa in einem literarischen Kunstwerk die überwiegende Mehrheit der dargestellten Gegenständlichkeiten eine statische Struktur der Dinge besitzt oder ob die mit dynamischen Momenten ausgestatteten Prozesse das Übergewicht haben (vgl. EKW, 182). So handelt es sich vor allem um die ‚Realitätserscheinung von dargestellten Gegenständen’. Das heißt, der Realitätscharakter der dargestellten Gegenstände ist keinesfalls mit dem Seinscharakter von tatsächlich existierenden realen Gegenständen zu identifizieren. Im Falle der dargestellten Gegenstände liegt also nach Ingarden nur ein „äußerer Habitus der Realität“ vor, der „nicht ganz ernst genommen werden will“, 52
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Auffassung der Zeit bei dem russischen Phänomenologen A. Losev zum großen Teil vereinbaren. Das Wichtigste ist jedoch, dass beide sich von den idealistischen Tendenzen Husserls fern halten wollen, obwohl sie niemals aufeinander gestoßen sind. Eine Analyse des Musikwerks muss - wie P. Simons (vgl. [1987], 349f) mit Recht bemerkt – das Problem der Kontinuität und Identität umfassen, das mit der zeitlichen Integration zusammenhängt und von Ingarden auch aufgegriffen wird (vgl. UOK, 115f). Simons schreibt: „A musical theme may be played faster or slower, may be speeded up or slowed down [...]”. Simons übersieht allerdings das, was Ingarden als “quasi-zeitliche Struktur” bezeichnet. Eine andere Meinung bezüglich des Musikwerks vertritt etwa N. Hartmann (vgl. [1935], 371f), vor allem in Bezug auf den Schichtenaufbau. Im Gegensatz zu Ingarden, der nur von einer Schicht im Musikwerk spricht, bringt Hartmann vier Schichten ins Spiel. 52
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498 obwohl es bei der Lektüre oft dazu kommen kann, dass der Leser die Sätze, die quasi ein Urteil enthalten, wie wahre Urteile liest und somit die das Reale nur vortäuschenden intentionalen Gegenständlichkeiten für Realitäten hält. Die dargestellten Gegenständlichkeiten, die ihrem Gehalt nach zu dem Typus von realen Gegenständlichkeiten gehören, sind jedoch nicht in der realen Welt „verwurzelt“, d.h. sie befinden sich nicht in dem realen Raum und in der realen Zeit. Vielmehr gilt für sie nur ein „dargestellter Raum“ und eine „quasi-zeitliche Struktur“ (vgl. LK, 233f; ELK, 117f). Zu (B): Dank diesen Eigenschaften des Skeletts (Unterbaus) des Kunstwerks kommt es dazu, dass auf dem Unterbau gewisse Fertigkeiten erscheinen (B), die auch als „künstlerisch wertvolle Qualitäten“ bezeichnet werden. Sie sind in den Eigenschaften des Kunstwerks fundiert, vor allem in seinem mehrschichtigen Aufbau, in der Darstellungsweise von Gegenständen usf. Da diese Fertigkeiten auf dem neutralen Skelett auftauchen, so Ingarden, bringen sie stets ein neues Element mit sich und bereichern deshalb das Skelett. Dies vollzieht sich dadurch, dass sie in dem mit dem Kunstwerk verkehrenden Subjekt gewisse Anlagen aktivieren, welche diesem etwas Neues zu erblicken erlauben. Das Subjekt wird zugleich zu gewissen Tätigkeiten angeregt, welche ihm gestatten, mit dem zu verkehren, was die Fertigkeiten im Kunstwerk selbst aufbauen. Die künstlerisch wertvollen Qualitäten betätigen sich also in zweierlei Richtung: Einerseits bereichern sie das Kunstwerk, andererseits regen sie das rezipierende Subjekt an, das infolgedessen keinesfalls gleichgültig bleibt. Vielmehr muss es aktiv werden, um das Kunstwerk mit dem zu ergänzen, was im Kunstwerk selbst durch künstlerische Werte bestimmt ist (vgl. VDÄ, 397f). Zu (C): Die durch die Fertigkeiten auf dem ästhetisch neutralen Skelett aufgebauten (bzw. ergänzten) Momente stellen verschiedene ‚ästhetisch relevante Qualitäten’ dar (C). Wenn sie in entsprechend gewählten und angeordneten Mannigfaltigkeiten in einem und demselben ästhetischen 54
„Dargestellter Raum“ ist ein zur dargestellten Welt gehörender Raum. Dem realen, geometrischen und Vorstellungsraum ist er nur insofern verwandt, als er eine Struktur aufweist, die ihn „Raum“ zu nennen erlaubt. 54
499 Gegenstand auftreten, konstituieren sie den qualitativ bestimmten ästhetischen Wert (D) (vgl. EKW, 182f). Nach Ingarden sind nun die ästhetisch relevanten Qualitäten (Momente) in folgende Einheiten aufzuteilen: (1) Materiale Momente (M): (a) emotionale M – z.B. traurig, dramatisch, glücklich usw.; (b) intelektuelle M – z.B. witzig, geistreich, vernünftig usw.; (c) stoffliche Bestimmtheiten – z.B. die Fülle des Tones einer guten Geige, Klangfarben einer silbernen Glocke usw; (2) Formale M: (a) rein gegenständliche – sind ursprünglich und von anderen unabhängig, z.B. symmetrisch, geschlossen, harmonisch usw; (b) abgeleitet mit Rücksicht auf den Rezipienten – sind von anderen abhängig, z.B. durchsichtig, klar, unklar usw. (wie die Struktur des Kunstwerks ist durchsichtig, weil sie symmetrisch ist); (3) Abwandlungen der (hohen oder niedrigen) Qualität – im Sinne der Verfeinerung, z.B. edel, elegant, billig usw. (etwa ein billiges Bild); (4) Modi des Auftretens der Qualitäten (im Kunstwerk) – sanft, scharf, auffällig usw.; (5) Abwandlungen der Neuheit – neu, modern, veraltet usw.; (6) Abwandlungen der „Natürlichkeit“ – natürlich, einfach, künstlich usw.; (7) Abwandlungen der „Wahrhaftigkeit“ – wahr, authentisch, gefälscht usw.; (8) Modi der „Wirklichkeit“ – real, scheinbar, illusionär usw; und (9) Modi des „Wirkens“ auf den Rezipienten – erregend, reizend, abscheulich usw. (vgl. EKW, 184f). In der Analyse des Kunstwerks auf dieser Etappe zerfallen all diese ästhetisch relevanten Qualitäten in den „Rumpf der Wertstruktur des Kunstwerks“ (1, 2) und „abgeleitete Elemente“ (3 bis 9), je nachdem, welche Bedeutung ihnen im Kunstwerk zukommt. Demnach ergibt sich folgendes Schema: Das ästhetisch neutrale Skelett zieht den materialen und formalen Wertrumpf nach sich, und diesem folgen die abgeleiteten Wertqualitäten. Je nachdem, welche Abhängigkeiten und Zusammenhänge zwischen diesen Elementen bestehen, wird die Frage beantwortet, ob etwas ein Kunstwerk ist oder nicht (vgl. VDÄ, 403f). Von der Beantwortung dieser Frage hängt das Schicksal des ästhetischen Wertes ab. Bevor wir uns jedoch darauf einlassen, wollen wir noch die Problematik von Unbestimmtheitsstellen im Kunstwerk genauer erläutern. 55
Wegen seiner Relevanz wird das Problem des ästhetischen Wertes (D) unten in einem eigenen Abschnitt behandelt.
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500 b.c. Unbestimmtheitsstellen. Kritik an Ingarden: „getroffen durch eigene Waffe“ Zu der Ingardenschen Theorie des Aufbaus des literarischen Kunstwerks gehört unbedingt das Problem von Leer- bzw. Unbestimmtheitsstellen im Kunstwerk (vgl. EKW, 154). Die Leerstellen beziehen sich ausschließlich auf intentionale Gegenstände, genauer gesagt auf die „Schicht der dargestellten Gegenständlichkeiten“. Wenn von D. von Wachter behauptet wird, dass die Welt für Ingarden aus den Eigenschaftsträgern bestehe, wobei sowohl Eigenschaften als auch Eigenschaftsträger individuell seien, und dass auch zudem außerzeitliche Universalien existieren könnten, müssen wir hier noch ein Drittes hinzufügen, nämlich dass diese reale Welt bei Ingarden gleichsam von der „Welt der intentionalen Gegenstände“ (der Kunstwerke) geprägt ist und mithin mit ihr in einer Relation steht. Das vollzieht sich aufgrund von verschiedenen schöpferischen Ativitäten des Subjekts. Dank dem Begriff der Leerstellen kommt eine radikale Differenz zwischen den dargestellten (intentionalen) und realen Gegenständen zum Vorschein. Während im Wesen jedes realen Gegenstandes liegt, dass er allseitig eindeutig bestimmt ist, wobei dieses allseitige eindeutige Bestimmtsein besagt, dass der reale Gegenstand in seinem gesamten Sosein keine Leerstellen aufweist, gehört es dagegen zum Wesen jedes dargestellten Gegenstandes, dass er immer unendlich viele Unbestimmtheitsstellen hat. Diese Tatsache ist darauf zurückzuführen, dass der dargestellte Gegenstand ‚intentional geschaffen wird’, d.h. dass ihm nur eine seinsheteronome Existenz zukommen kann. Die Leerstellen sind im Allgemeinen durch keine endliche Bereicherung des Inhalts eines nominalen Ausdrucks ganz zu beseitigen. Stellen wir uns vor: Wir sagen statt bloß „Mensch“, „ein alter, erfahrener Mensch“, so werden zwar durch die Hinzufügung der attributiven Ausdrücke einige Leerstellen beseitigt, aber es bleiben noch unendlich viele, die erst in einer unendlichen Reihe von Bestimmungen verschwinden würden. Nehmen wir weiterhin eine Geschichte, die mit dem Satz anfängt: „An einem Tisch saß ein älterer Mann….“usw. Dann ist 56
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Vgl. von Wachter, D. (2000), 143f.
501 dieser dargestellte Tisch zwar ein Tisch und nicht z.B. ein Sessel; wir wissen aber nicht, ob er aus Holz oder Eisen, vierbeinig oder dreibeinig sei usw. Bei einem intentionalen Gegenstand (hier bei diesem Tisch) ist das überhaupt nicht gesagt und deshalb auch unbestimmt. Das Material, aus dem dieser Tisch verfertigt ist, ist überhaupt unqualifiziert, obwohl er aus irgendeinem bestehen muss. Daraus ergibt sich, dass der dargestellte, ‚seinem Gehalt nach „reale“ Gegenstand’ (der Tisch) kein allseitig und eindeutig bestimmtes Individuum ist, das eine ursprüngliche Einheit bildet, sondern nur ein „schematisches Gebilde mit verschiedenartigen Leerstellen und mit einer endlichen Anzahl von den ihm positiv zugewiesenen Bestimmtheiten (vgl. LK, 261f). Die Einführung von Leerstellen in die Analyse des literarischen Kunstwerks ist zweifelsohne eine gewichtige Leistung Ingardens. Dass dies sich aber zugleich auch als „gefährlich“ erweisen kann, hat m.E. unser Autor ganz übersehen. Daher lautet unser Einwand: „In den Werken Ingardens gibt es viel zu viel Unbestimmtheitsstellen (Leerstellen), welche unter gewissen Bedingungen hätten vermieden werden können“. Dieser Einwand hängt mit der Frage zusammen: Wer ist schuld daran, dass die Leerstellen z.B. im Buch „Das literarische Kunstwerk“ entstehen? Oder anders formuliert: Worauf sind die Leerstellen des genannten Buches zurückzuführen? Die Antwort heißt: Sowohl der Verfasser als auch der Leser tragen eine Verantwortung dafür. Denn, hätte Ingarden sein Buch besser geschrieben, indem er etwa eine andere Perspektive, andere semantische Elemente in Anspruch genommen, dies und jenes noch hinzugefügt hätte usf., dann wäre der Rezipient auf weniger Leerstellen gestoßen. Offenbar ist dabei der Rezipient selbst auch mitverantwortlich, dass er auf so viele Leerstellen stößt, weil er sich etwa zuwenig auf das Lesen des Buches vorbereitet hat, indem er die letzten zwei Jahre seines Lebens nur beim Kartenspielen 57
Man könnte fragen, ob das Problem der Leerstellen auch für andere Kunstarten so bedeutsam ist wie für literarische Werke. Ingarden selbst bemüht sich leider nicht um eine Antwort auf diese Frage. Im Anschluss an das bisher Untersuchte könnten wir wohl behaupten, dass dies nicht der Fall sein dürfte, jedenfalls nicht in dem gleichen Sinne wie im literarischen Werk. 57
502 verbrachte, statt die Phänomenologie und Ästhetik gründlich zu studieren und sich mit dem ganzen Milieu des Verfassers vertraut zu machen. In diesem Sinne hat P. Simons völliges Recht, wenn er beispielsweise schreibt: „Ingarden locates the features of languages which reflect the different possible syntactic patterns in the semantic stratum of language. This overlooks the essential difference, mentioned above in reference to Husserl, between syntactic and semantic unacceptability”. 58
Darüber hinaus gibt es nach Simons viele andere ernsthafte Bedenken, wie etwa bezüglich der Ingardenschen Nebeneinanderstellung und Behandlung von zwei für die Sprachphilosophie grundlegenden Elementen, nämlich von Wortlaut und Bedeutung, die als zwei aufs engste miteinander verbundene Schichten des Kunstwerks betrachtet werden. Denn wenn unser Autor den Wortlaut für die Basisschicht der sprachlautlichen Gebilde hält, begeht er einen prinzipiellen Fehler, so Simons, weil das phonologische Wort doch eine höhere Schichteinheit ist als nur eine Basis. Überdies ist es heute sinnvoll und erforderlich, einen psychologistischen Aspekt in der Sprachanalyse zuzulassen, auch dann wenn sie nur im Dienst einer Untersuchung von Kunstwerken steht, weil dieser Aspekt mit der gegenwärtigen Hirnforschung eng verbunden ist, ohne die die Geistphilosophie kaum auskommen kann, wenn sie neue Forschritte auf dem Gebiet ihrer Untersuchungen erzielen will. Indes wird von Ingarden bekanntlich das psychologistische Element entschieden verworfen bzw. zumindest unberührt gelassen, damit wohl die Treue Husserl gegenüber aufrechterhalten bleibt. All dies könnte man m.E. auch als „Leerstellen“ bezeichnen, welche Ingarden selbst zu verantworten hat. In diesem Sinne ist er „durch seine eigene Waffe getroffen“. 59
Vgl. Simons, P. (1994), 130. Vgl. Simons, P. (1994), 127f. Diese Tendenz wird in der Sprachphilosophie (zumindest) seit Chomsky diskutiert. 58 59
503 §2. Theorie der ästhetischen und künstlerischen Werte Wenn man Werte überhaupt unter eine Kategorie subsumieren will, so muss man sie als Qualitäten bezeichnen, schreibt M. Scheler in seinem Werk „Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik“. Auch Ingarden setzt hier an, wenn er den Begriff der „Qualität“ einführt, um die Werte und ihre Rolle im Kunstwerk klarzulegen. Im Anschluss an Scheler unterscheidet unser Autor zwischen vitalen Werten, denen die Nützlichkeits- und Annehmlichkeitswerte verwandt sind, und Kulturwerten, welche Erkenntniswerte, soziale, sittliche und ästhetische Werte umfassen (vgl. EKW, 98f). Im vorletzten Abschnitt sind wir uns bereits darüber klar geworden, dass der ästhetische Wert das vierte grundlegende Element in der Struktur des Kunstwerks bildet. Wir wissen aber auch, dass Ingarden zudem von künstlerischen Werten spricht. ‚Die Unterscheidung zwischen diesen beiden Wertarten wird heute als eine der wichtigsten Leistungen der Ingardenschen Konzeption der Ästhetik gewürdigt’. Es gilt dies näher zu untersuchen. Die Aufteilung in künstlerische und ästhetische Werte wurzelt in der ontologischen These, dernach sowohl zwischen dem Kunstwerk und dem ästhetischen Gegenstand wie auch zwischen den wertvollen Qualitäten und dem Wert selbst zu unterscheiden ist; dabei ist noch zwischen den künstlerisch wertvollen und den ästhetisch wertvollen Qualitäten zu differenzieren. Denn während ein künstlerischer Wert etwas ist, was im Kunstwerk selbst auftritt und in ihm seine Fundierung besitzt, tritt dagegen ein ästhetischer Wert erst im ästhetischen Gegenstand auf, und zwar als ein besonders anschauliches Moment, welches das Ganze dieses Gegenstandes bestimmt (vgl. EKW, 164). Der künstlerische Wert eines Kunstwerks ist also in denjenigen Momenten desselben enthalten, die das Mittel zur Aktualisierung der entsprechenden ästhetisch wertvollen Qualitäten und 60
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Scheler, M., GW II, 249. Vgl. Dziemidok, B. (1989), 72f. Nach Dziemidok verdanken wir Ingarden zudem: (1) Akzentuierung von zwei Phasen der ästhetischen Bewertung: primäres (emotionales) ästhetisches Erlebnis und Konstituierung in der ästhethischen Erfahrung; (2) Divergenz in künstlerisches und ästhetisches Erlebnis; und (3) Die Formel: „de gustibus non est disputandum“ verfügt über keine Rechtfertigungsgrundlage. 60 61
504 des ästhetischen Wertes im ästhetischen Gegenstand sind. Er ist „relativ“, weil er der Wert eines Mittels zu einem bestimmten Zweck ist, nämlich er kommt dem Kunstwerk nur mit Rücksicht auf den im ästhetischen Gegenstand aktualisierten ästhetischen Wert zu. Der ästhetische Wert dagegen, der sich in einer Mannigfaltigkeit von ästhetischen Wertqualitäten konstituiert, ist in dem Sinn „absolut“, dass er einerseits nicht mehr ein Mittel zu einem Zweck ist, andererseits im ästhetischen Gegenstande selbst enthalten ist. Er ist deshalb mit ästhetisch wertvollen Qualitäten, die im Gegenstand auftreten, untrennbar verbunden (vgl. UOK, 244f; ELK, 238). Versuchen wir dies schematisch zu verdeutlichen: 62
ästhetisches Erlebnis (Konkretisation)
Kunstwerk ↑ künstlerisch wertvolle Qualitäten
↑↓ künstlerischer Wert
Ästhetischer Gegenstand ↑ ästhetisch wertvolle Qualitäten
↑↓ ästhetischer Wert
Nun sehen wir, dass nach Ingarden die Analyse von künstlerischen und ästhetischen Werten undenkbar ist, ohne den Bezug auf das Problem der Konkretisation zu nehmen. Obwohl dieses Problem von uns erst im nächsten Abschnitt ausführlicher zu behandeln ist, müssen wir bereits hier seine grundlegenden Züge skizzieren. Demnach heißt das, das Kunstwerk erfordert von sich aus das Bestehen eines außerhalb seiner selbst existierenden Rezipienten, der das Werk „konkretisiert“. Der Rezipient strebt vermöge seiner mitschöpferischen 63
Nach einigen Autoren (vgl. etwa Dziemidok, B. [1980], 194f) könnte man die Tatsache, dass ästhetische Werte von Ingarden für „absolut“ gehalten werden, als „Ästhetismus“ bezeichnen. D.h. diese Werte gelten nur als dekoratives Element. Damit ist offenbar das Subjekt gemeint, das auch bei Ingarden – streng philosophisch gesehen und mit Blick auf das Wertproblem – in ein reines und ein personales Subjekt zu differenzieren ist (vgl. Wegrzecki, A. [1995b], 149f). Vgl. dazu auch 3§2c.b (Kap. IV) der vorliegenden Abhandlung.
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505 Handlung das Kunstwerk zunächst am physischen Fundament „abzulesen“. Damit ergänzt er die schematische Struktur des Kunstwerks. Er beseitigt nun die Leerstellen in seiner Bestimmung und aktualisiert zugleich diejenigen Momente, die im Werk selbst nur potentiell vorhanden sind. Auf diesem Wege entsteht eine „Konkretisation“ des betreffenden Kunstwerks. Wenn die Konkretisation des Kunstwerks in der ästhetischen Einstellung erlangt wird, dann führt das zur Herausbildung des ästhetischen Gegenstandes. Im Gegensatz zur außerästhetischen Einstellung, die das Werk etwa wissenschaftlich erforschen will, tritt die ästhetische Einstellung in der Entfaltung eines ästhetischen Erlebnisses auf, das insbesondere in literarischen Kunstwerken (d.h. in den Werken der sogenannten „schönen Literatur“) vorkommt. Sofern das Skelett des Kunstwerks entsprechend gestaltet ist, erscheinen an ihm die künstlerisch wertvollen Qualitäten und konstituieren dessen künstlerische Werte dadurch, dass sie sich in gewisse Zusammenhänge miteinander bringen. Die künstlerischen Werte bringen einerseits die Mängel der künstlerischen Fertigkeit (d.h. Technik) des Künstlers zum Vorschein, andererseits bilden sie eine bestimmte Auswahl von den zu einem Kunstwerk gehörenden Fähigkeiten, etwas hervorzurufen, was nicht mehr im Bereich des Kunstwerks selbst liegt (vgl. EKW, 154f). Sie sind mithin so aufgebaut, dass ihre Gegenwart im Kunstwerk die Konstituierung von bestimmten ästhetisch wertvollen Qualitäten am ästhetischen Gegenstand nach sich zieht. Zudem ist es denkbar, so Ingarden, dass manche von den künstlerisch wertvollen Qualitäten auch im Bereich des ästhetischen Gegenstandes als ästhetisch wertvolle Qualitäten anschaulich auftreten können. Die ästhetisch wertvollen Qualitäten sind also unmittelbar erscheinende Phänomene. Damit sie sich als sichtbare Momente konstituieren, ist der Vollzug eines ästhetischen Erlebnisses notwendig, das erst den Zugang zu ihnen eröffnet (vgl. UOK, 248). Die ästhetisch wertvollen Qualitäten bestimmen die Qualität des ästhetischen Wertes. Sie befähigen den 64
Ästhetisch wertvolle Qualitäten (ÄWQ) werden in folgende aufgeteilt: (1) unbedingt ÄWQ – sind ästhetisch wertvoll sowohl dann, wenn sie allein in einem Gegenstand auftreten, als auch dann, wenn sie in einem Gegenstand mit verschiedenen anderen 64
506 Rezipienten, sie zu erfassen und regen ihn an, bestimmte Phasen des ästhetischen Erlebnisses zu vollziehen, insbesondere die Phase der emotionalen Reaktion, die ihm ermöglicht, den ästhetischen Wert des erfassten Gegenstandes zu entdecken und anzuerkennen (vgl. ELK, 245f). Der ästhetische Wert, der das Korrelat einer (sich in der letzten Phase des Erlebnisses vollziehenden) Bewertung des ästhetischen Gegenstandes bildet, besteht entweder bloß aus einer Vielfalt von ästhetischen Wertqualitäten oder er wird durch eine synthetische Qualität der höheren Ordnung konstituiert, welche in einer Mannigfaltigkeit ästhetisch wertvoller Qualitäten gründet. Der ästhetische Wert existiert immer nur in der Sphäre des rein intentionalen Seins und bildet den spezifischen Aufbau des konkretisierten Kunstwerks. Er existiert daher als Eigenbestimmtheit besonderer Art von gut komponierter und innerlich harmonisierter Gegenständlichkeit, in welcher er gleichsam fundiert ist (vgl. EKW, 94, 127, 143f). Mit M. Golaszewska können wir von drei möglichen Lösungen der Fundierungsfrage der ästhetischen Werte bei Ingarden sprechen: (1) radikal-axiologischer Subjektivismus - ästhetische Werte sind vollständig und hinreichend in den Akten des erfahrenden Subjekts fundiert; (2) objektivistische Position – ästhetische Werte sind komplett und hinreichend im Objekt begründet und von ihm seinsabhängig; und (3) subjektivistisch-objektivistische Ansicht – ästhetische Werte sind sowohl in (1) als auch in (2) fundiert. Wir halten fest: Die ästhetischen Werte wie „schön, anmutig, erhaben“ usw. kommen dem ästhetischen Objekt im Ganzen zu; es sind unmittelbar erfahrbare, absolute (nichtrelative) Gestaltsqualitäten. Die künstlerischen Werte kommen dagegen nur dem Artefakt (Kunstwerk) zu. Sie können nicht unmittelbar erfahren werden, sondern sind erkennbar nur im Lichte des ästhetischen Objekts als diejenigen Eigenschaften des Artefakts, die 65
zusammen auftreten; (2) bedingt ÄWQ – sind gewissermaßen ästhetisch wertvoll, wenn sie mit anderen auftreten, allein bleiben sie aber ästhetisch neutral (vgl. EKW, 176). Vgl. Golaszewska, M. (1975), 61. 65
507 geeignet und wirksam sind für das Entstehen und die Ausgestaltung von ästhetischer Erfahrung. 66
§3. Theorie der ästhetischen Erfahrung Dem (literarischen) Kunstwerk kommt nach Ingarden bekanntlich eine „rein intentionale Seinsweise“ zu. Begriffe wie „ästhetisch wertvolle Qualitäten“ oder „ästhetischer Wert“, die mit dem ästhetischen Gegenstand zusammenhängen, richten unser Augenmerk noch prägnanter auf eine Existenzebene, die notwendig im Bereich des Intentionalen verankert ist und weiterhin durch den Begriff der ästhetischen Erfahrung (d.h. des ästhetischen Erlebnisses) ergänzt werden muss. Damit kommt gleichsam das letzte grundlegende Element der Konzeption der Ästhetik als „ästhetischer Situation“ zum Vorschein, nämlich der ästhetische Gegenstand (Objekt) (vgl. dazu das Schema in 4§2 [Kap. V]). Selbst wenn Ingardens These über die „rein intentionale“ Existenz von Kunstwerken in der gegenwärtigen Debatte keine problemlose Anerkennung findet, wie dies G. Haefliger behauptet, gehört sie zweifelsohne zu den fundamentalsten Errungenschaften seiner Philosophie und bereichert dessen ungeachtet die phänomenologischen Forschungen schlechthin. 67
Vgl. Henckmann, W. (1998), 427. A. Wegrzecki (vgl. [1995a], 161f) spricht in dem Kontext von „axiologischer Erfahrung“ bei Ingarden. Diese ist dann möglich, wenn gewisse Bedingungen ontischer Natur erfüllt sind, z.B. dass ein Wirklichkeitsbereich existieren muss, in dem Werte vorhanden sind. Vgl. Haefliger, G. (1994a), 59f. Haefliger bezeichnet Begriffe, die für die intentionale Existenzweise bei Ingarden notwendig sind, also seinsheteronom, abgeleitet, -abhängig u.a. (vgl. dazu 3 [Kap. V]) als „Ingardens Programm“. Zugleich zeigt er mit der sprachanalytischen Methode, dass die Verwirklichung dieses Programms bei Ingarden mangelhaft ist. Die Hauptursache liegt vor allem an seiner nicht ganz klaren Unterscheidung zwischen „Arten der Existenz der Prädikate“ und „verschiedenen Seinsweisen“. A. Szczepanska (vgl. [1989], 56f) akzentuiert dagegen die positiven Auswirkungen der Ingardenschen These über die „rein intentionale“ Existenz der Kunstwerke. Denn damit wurde die im XIX. Jahrhundert herrschende Dychotomie (Aufteilung aller Phänomene in physikalische und psychische) überwunden. 66
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508 Das Kunstwerk gilt für Ingarden, wie oben ausgeführt, in erster Linie als ein mehrschichtiges Gebilde. So gibt es etwa im literarischen Werk folgende Schichten: die Schicht der Wortlaute, der Bedeutungseinheiten, der dargestellten Gegenständlichkeiten und der schematisierten Ansichten (vgl. 5§1b.b [Kap. V]). Unter all diesen Schichten kommt aber den zwei letzteren eine besondere Bedeutung zu, weil sie mit dem Problem der Konkretisation des Kunstwerks am engsten verbunden sind. Daher können wir der Einfachheit halber von der „Schematisiertheit des Kunstwerks“ reden (vgl. LK, 353f). Es handelt sich darum, dass das Kunstwerk nach einer Konkretisation verlangt, d.h. nach einer Ergänzung zur „Seinsfülle“. Diese Konkretisation vollzieht sich in mannigfaltigen Bewusstseinsverläufen und Erlebnissen des rezipierenden Subjekts (Erkennen, Vorstellen, Begehren, Fühlen usw.) und in einer Weise, deren Grenzen von dem Schöpfer selbst bestimmt werden. Das Ergebnis der Konkretisation ist ein ästhetischer Gegenstand, also ein selbständiges intentionales Objekt, welches einerseits vom Kunstwerk und Bewusstseinsakt verschieden ist, andererseits aber von diesen beiden abhängt. Im ästhetischen Gegenstand werden viele im Kunstwerk vorhandene Leerstellen ergänzt. Da nicht alle Leerstellen vervollständigt werden können, haben wir es nur mit einer relativen (nicht absoluten) Konkretisation bzw. „Ergänzung zu einer relativen Seinsfülle“ zu tun, die etwa von der Empfindsamkeit des Rezipienten, der Zeitepoche oder der Umgebung, in der das Kunstwerk betrachtet wird, abhängt. Dadurch wird die intentionale Struktur des ästhetischen Gegenstandes gesichert (vgl. ELK, 54f). Es kann viele Konkretisationen desselben Kunstwerks geben. In allen Konkretisationen gibt es nicht nur konstante, subjektive und objektive Elemente, sondern auch variable und einander beeinflussende Faktoren. In der Konkretisation werden die „schematisierten Ansichten“ aktualisiert, also die Gesamtheiten derjenigen Momente des Gehalts einer konkreten Ansicht (welche ich bei einem ganz normalen Anschauen z.B. einer Kugel gewinne), deren Vorhandensein (in der Ansicht) eine notwendige und ausreichende Bedingung der objektiven Eigenschaften eines Dinges ist. Die schematisierten Ansichten sind durch das Kunstwerk 68
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Vgl. auch Ogrodnik, B. (2000), 109f.
509 nur potentiell bestimmt und werden sozusagen „paratgehalten“, um in der Konkretisation aktualisiert zu werden (vgl. LK, 363f; VDÄ, 420). Gäbe es überhaupt keine Konkretisationen des Werkes, so wäre es wie durch eine undurchsichtige Wand von dem konkreten menschlichen Leben getrennt. Die Konkretisationen stellen nämlich die Verbindung zwischen dem Rezipienten und dem Kunstwerk dar (vgl. LK, 377). Die Konkretisation des Kunstwerks vollzieht sich nach Ingarden in drei miteinander verbundenen und aufeinander folgenden Phasen des ästhetischen Erlebnisses: (1) ästhetische Ursprungsemotion; (2) aktivschöpferische Phase und (3) passiv-hinnehmende Phase. Das ästhetische Erlebnis fängt an, wenn auf dem Hintergrund eines wahrgenommenen oder vorgestellten realen Gegenstandes eine besondere Qualität erscheint, die den Erlebenden in einen Erregungszustand versetzt. Damit wird also eine Erregung hervorgerufen, die als „ästhetische Ursprungsemotion“ bezeichnet werden kann. Diese Ursprungsemotion zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass sie nach dem anschaulichen Besitzen der erregenden Qualität verlangt, welche das Kristalisationszentrum des ästhetischen Gegenstandes darstellt. Durch die Ursprungsemotion wird die in der natürlichen Einstellung enthaltene ursprüngliche Überzeugung von der Existenz der realen Welt gedämpft, und zugleich richtet sich das Interesse des Erlebenden nicht mehr auf die realen Dinge und Tatbestände, sondern auf das rein Qualitative als solches. Das ästhetische Erlebnis drängt mithin auf die Konstituierung eines rein qualitativen Gebildes hin, auf welches der Erlebende als auf das Objekt ästhetischer Erfassung eingestellt ist. Aufgrund dieser Einstellungsveränderung wird das Setzungsmoment des Wahrnehmungsaktes, vermöge dessen das mit der erregenden Qualität 69
Mit der Einführung des Begriffs des ästhetischen Erlebnisses beginnt nach J. Barski (vgl. [1992], 276f) nicht nur die notwendige Klärung der bedeutendsten Struktur des rein intentionalen Gegenstandes – des Übergangs von der Ansicht zur Gestalt -, sondern auch eine deutliche „Evolution“ der sich vor allem auf diesen Übergang beziehenden Überlegungen Ingardens, wo die ontologischen Möglichkeiten des Ästhetischen voll erschöpft werden sollen. Auf den Begriff des ästhetischen Erlebnisses ist Ingarden zum ersten Mal bei der Lektüre des Werkes von Johannes Volkelt „Das ästhetische Bewusstsein“ (München 1920) aufmerksam geworden.
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510 behaftete Ding gegeben ist, „neutralisiert“, ohne dass dadurch das ästhetische Erlebnis selbst „neutralisiert“ worden wäre (vgl. EKW, 3f). An die Ursprungsemotion knüpft die zweite Phase des ästhetischen Erlebnisses an, nämlich ein aktives, konzentriertes Erschauen der (zunächst) erregenden Qualität. Diese Qualität tritt jetzt nicht nur in den Vordergrund des Anschauungsfeldes, sondern sie fängt zugleich an, sich von dem ursprünglichen Gegebenheitsfeld der (neutralisierten) Wahrnehmung abzuheben und anschließend ein Ganzes zu bilden. Bedarf die erregende Qualität keiner qualitativen Ergänzung mehr, so gelangt damit der Konstitutionsprozess zum Stillstand, und wir haben es mit einem „primitiven“ ästhetischen Gegenstand zu tun. Erweist sie sich aber als ergänzungsbedürftig, dann nimmt das ästhetische Erlebnis in weiterem Verlauf die Gestalt eines unruhevollen, anstrengenden Suchens nach ergänzungsfähigen Qualitäten an. Werden keine Qualitäten gefunden, welche mit den ursprünglichen Qualitäten harmonisch zusammenstimmten, so kommt es zu einer negativen ästhetischen „Wertantwort“. Ist das Gegenteil der Fall, dann wird der sich bildende ästhetische Gegenstand immer vollkommener ausgestaltet. Die Folge ist, dass es einerseits zur Herausbildung einer Rangordnung von ästhetisch relevanten Qualitäten kommt, welche den ästhetischen Gegenstand kennzeichnen, andererseits aber zum Prozess der kategorialen Formung bestimmter Qualitätsgruppen in dem dargestellten Gegenstand selbst. Die dritte und zugleich letzte Phase des ästhetischen Erlebnisses ist durch ein Nachlassen gekennzeichnet. Sie weist mithin einen passiven Charakter auf. In dieser Phase vollzieht sich das kontemplative, emotional durchsetzte intentionale Fühlen des ästhetischen Gegenstandes. Dieses intentionale Fühlen stellt mithin die eigentliche, ursprüngliche Erfahrung des ästhetisch Werthaften dar. Es bildet zugleich die ursprüngliche ästhetische Wertantwort auf den werthaften ästhetischen Gegenstand, bzw. auf dessen Wert. Ist die Antwort positiv, dann hat sie die Gestalt einer 70
Hier greift Ingarden ganz deutlich zu Husserlschen „Mitteln“, wenn er von Neutralisierung spricht. Gemeint ist hier vor allem das, was der Husserlschen „transzendentalen Reduktion“ nahe steht. Nach P.J. McCormick (vgl. [1985], 117) kommt dieser Phase im ästhetischen Erleben die größte Bedeutung zu. 70
511 emotionalen Anerkennung, die wir dem ästhetischen Gegenstand erweisen. Ist die Antwort aber negativ, so besteht sie in einer emotionalen Abweisung des negativwertigen ästhetischen Gegenstandes (vgl. EKW, 4f). Abschließend können wir sagen, dass der Begriff „Konkretisation“ bei Ingarden in zwei Formen auftritt: Zum einen wird Konkretisation „substantiell“ (gegenständlich) gedacht, d.h. es handelt sich um das Ergebnis des Konkretisierungsprozesses des Kunstwerks, also um den konkretisierten ästhetischen Gegenstand. Zum anderen wird dieser Begriff als „Prozess“ aufgefasst, d.h. es geht um den Prozess der Konkretisierung selbst, also um die Ergänzung der schematisierten Gestalt des Kunstwerks im rezipierenden ästhetischen Prozess. Zwischen dem Kunstwerk und dem durch den Prozess der Konkretisation konstituierten „ästhetischen Gegenstand“ besteht eine ontologische Differenz, aber zugleich eine durch den Rezipienten freigesetzte teleologische Zuordnung, gemäß welcher das Kunstwerk die Akte der Konkretisierung motiviert und lenkt. Die Ontologie der Kunst ist bei Ingarden in diesem Sinne in eine übergreifende Konzeption ästhetischer Kommunikation einzuordnen. 71
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§4. Intersubjektivität des Kunstwerks aus hermeneutischer Perspektive: Gadamer contra Ingarden Da das (literarische) Kunstwerk einer unmittelbaren Kontrolle seitens verschiedener Forscher unterzogen werden kann, gilt es als ein intersubjektives Gebilde (vgl. GAL, 11). Die Relation zwischen Subjektivität und Intersubjektivität ist insbesondere für eine
Von der ästhetischen Erfahrung des werthaften Gegenstandes ist die Beurteilung seines Wertes zu unterscheiden, die aufgrund dieser Erfahrung in rein erkenntnismäßiger Einstellung vollzogen wird. Von beiden ist noch die Beurteilung des künstlerischen Wertes des Kunstwerks zu differenzieren. L. Stolowicz (vgl. [1995], 166) hält die Position Ingardens in Bezug auf die Theorie der Werte eindeutig für „objektivistisch“ und ordnet ihn in eine Reihe mit Scheler und Hartmann ein. Vgl. Szczepanska, A. (1989), 152. Vgl. Henckmann, W. (1998), 426f. 71
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512 hermeneutische Analyse im Sinne von Gadamer fundamental. Diese Relation findet jedoch ihre klarste Ausprägung nicht unbedingt in der hermeneutischen Literatur selbst. Das ästhetische Werk Ingardens fordert indes die Notwendigkeit der Intersubjektivität und fragt nach den Bedingungen ihrer Möglichkeit. Dessen ungeachtet beabsichtigen wir in diesem Abschnitt keinesfalls dem Problem der Intersubjektivität des Kunstwerks „an sich“ bei Ingarden nachzugehen, weil dies eine besondere Untersuchung erfordert, welche wir uns hier nicht leisten können, sondern nur insofern, als es mit der hermeneutischen Problematik im Zusammenhang steht. Und dies soll durch die Hervorhebung der so bezogenen Differenz zwischen Ingarden und Gadamer geschehen. Selbst wenn Ingardens Einfluss auf die Entwicklung der gegenwärtigen Ästhetik heute keinesfalls in Frage gestellt wird, wie dies etwa R. Wellek in seinem Werk „Four Critics“ zu beweisen sucht, indem er Ingarden in eine Reihe von englischsprachigen Literaturtheoretikern und –kritikern einordnet, gibt es auch manche beachtliche Unterschiede zwischen unserem Autor und einigen bedeutenden Denkern, wie etwa H.G. Gadamer. 74
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Mit dem Begriff „Hermeneutik“ (H) (vom griech. hermēneúō: verkünden, auslegen, übersetzen) ist eine Lehre vom Verstehen gemeint, welche einerseits die philosophische Grundlagenreflexion auf Struktur und Bedingungen des Verstehens umfasst, andererseits als praktische Methodenlehre Anweisungen zum richtigen Verstehen und Auslegen gibt. Die Wissenschaftstheorie des späten 19. Jht. ordnet das Problem des Verstehens der Geistes- und Kulturwissenschaft (Dilthey, Rickert) zu und stellt es der kausal erklärenden Methode in den Naturwissenschaften gegenüber. Anknüpfend an Heidegger, betont Gadamer die Allgemeinheit des hermeneutischen Problems, dem sich auch die methodisch exakten Wissenschaften nicht entziehen können, und die geschichtliche Perspektivität des Verstehens (vgl. unten) (vgl. Riesenhuber, K. [1996], 165). Vgl. Mitscherling, J. (1997), 202. Vgl. Wellek, R. (1981). Wellek akzentuiert in erster Linie die Relevanz des Ingardenschen Gedankenguts für die „Reader-Response-Theory“ und „Philosophische Hermeneutik“. Auch andere Autoren würdigen Ingardens Leistungen, z.B. Z. Jin-Yan (vgl. [1990], 85f), der Ingarden mit „the Geneva School“ in Verbindung setzt, oder W. Iser (vgl. [1978]), der wie Wellek auf die „Reader-Response-Theory“ Bezug nimmt. 74
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513 Während Ingarden – wie wir es in den vorangehenden Abschnitten gesehen haben – zwischen dem ästhetischen Gegenstand und dem Kunstwerk differenziert, lehnt Gadamer dagegen diese Unterscheidung (vor allem) in seinem Werk „Truth and Method“ streng ab. Das bedeutet aber noch nicht, dass das von Ingarden vorgeschlagene Prinzip der Konkretisation, mit dem diese Differenzierung verbunden ist, vollständig aufgehoben werden müsse. Durch die Einführung des Begriffs des „ästhetischen Bewusstseins“ tritt Gadamer nur gegen die Konzeptionen auf, welche die Kunstwerke lediglich nach ihren ästhetischen Qualitäten beurteilen und von ihren moralischen und kognitiven Elementen zu stark absehen. Insofern hat er nun gewisse Probleme mit der Ingardenschen Position, die durch den Begriff des ästhetischen Gegenstandes charaktervoll geprägt ist. Obwohl Gadamer keine deutlichen Argumente gegen die Behauptung Ingardens äußert, dernach ein Kunstwerk nur potientell existiere, nicht aber aktuell, fordert er jedoch diese zweifellos durch seine hermeneutische Perspektive heraus. Mit anderen Worten: Das Buch existiert z.B. als eine potentielle Novelle, und die Novelle erreicht ihre Aktualisation aufgrund der konstitutiven Aktivität des Rezipienten, der das Werk „durch seine Brille“ interpretiert – also auf der Basis seiner eigenen Erfahrung und mit den seinem eigenen Vorurteil entspringenden Termen. Und diese These ist keinesfalls als eine Rückkehr zu einer radikalen Subjektivisierung des Kunstwerks zu verstehen. Gadamer schreibt: 77
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[1] „Vielmehr wird eine philosophische Hermeneutik zu dem Ergebnis kommen, dass Verstehen nur so möglich ist, dass der Verstehende seine eigenen Voraussetzungen ins Spiel bringt. Der produktive Beitrag des Interpreten gehört auf eine unaufhebbare Weise zum Sinn des Verstehens selber“. [2] „So gibt es kein Verstehen, das von allen Vorurteilen frei wäre, so sehr auch immer der Wille unserer Erkenntnis darauf gerichtet sein muss, dem Bann unserer Vorurteile zu entgehen.“ 79
Vgl. Gadamer, H.G. (1975), 511. Vgl. Mitscherling, J. (1997), 201. Vgl. auch McCormick, P. (1989a), 199f, der Ingarden im Kontext der hermeneutischen Perspektive (vor allem mit dem Blick auf Gadamer) diskutiert. Gadamer, H.G. (1990), 1069f (=1), 494 (=2). 77 78
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514 Die Entwicklung des heremeneutischen Denkens, zu der Gadamer erheblich beigetragen hat, zeigt, dass es undenkbar ist, unser Vorverständnis von der „Sache selbst“ zu abstrahieren, was die Phänomenologen für möglich gehalten haben. Bezogen auf die Analyse der Kunstwerke kann das heißen, wie dies etwa an Ingarden (in der Nachfolge Husserls) sichtbar wird, dass ästhetische Qualitäten im Vordergrund erscheinen. Insofern ergibt sich das Problem des sogenannten „hermeneutischen Zirkels“: Jedes Verstehen ist vom Vorverständnis des Verstehenden geprägt. Will ich reflektierend dieses Vorverständnis aufklären, dann mache ich es wieder in einem Vorverständnis, das unaufgeklärt vorausgesetzt ist. Die absolute Position einer schlechthin vorverständnisfreien Wahrheit ist prinzipiell unerreichbar. In dem Sinne können wir durchaus sagen: Will ich den ästhetischen Gegenstand, von dem Ingarden spricht, einer Betrachtung unterziehen, dann kann ich dies nicht mit dem Hintergedanken tun, ihn vom Kunstwerk zu trennen. Den an den ästhetischen Qualitäten fixierten Raum bezeichnet Gadamer daher als „ästhetische Unterscheidung“ und setzt ihn der Idee einer „ästhetischen Nichtunterscheidung“ entgegen, der zufolge die Kunsterfahrung sich immer in die lebensweltliche Kontinuität unserer Erkenntnis einfügt und damit eine Wahrheitserfahrung verkörpert, die auf anderem Wege unerreichbar bliebe. Das ästhetische Bewusstsein, das die Ingardensche Ästhetik charakterisiert, hält er für eine „Abstraktion“, die den Zugang zum Wahrheitsgehalt der Kunst eher versperrt als eröffnet. Deshalb kann man bei Gadamer auch von einer „kritischen Destruktion der Ästhetik“ sprechen, wonach die Konstruktionen in Frage gestellt werden – mit Bezug auf Ingarden also z.B. der „ästhetische Gegenstand“ - die ein adäquates Verständnis der Sache selbst verhindern. Gadamer tritt ganz entschieden gegen alle Versuche auf, die dem Subjekt erlauben, seine „spielerische Freiheit“ im Reich der Ästhetik und der Kunst zu entdecken und so stark zu entfalten, wie dies beim Ingardenschen Konkretisationsprozes der Fall ist. Seine Argumentation läuft darauf hinaus, das Prinzip von Wahrheit und Realität zu verteidigen, weil Kunstwerke oft nur als Ausdrucksphänomene aufgefasst werden, in denen 80
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Vgl. Anzenbacher, A. (2002), 154.
515 es nicht mehr um eine Wahrheitserfahrung geht, sondern vor allem um das produktive Werk eines Subjekts. Damit eröffnet sich der Weg für eine „Erlebnisästhetik“, und zwar auf Kosten von Erkenntnis und Wahrheit. Denn wenn sich die Kunst auf den Flügeln des ästhetischen Bewusstseins von jedem Realitätsbezug löst, dann geht ihre Evidenz verloren und es kommt zur „Ortlosigkeit“, deren Folge eine Art moderner Nominalismus sein kann, für den die Wirklichkeit nur die von der Wissenschaft erkennbare sein kann. Wollen wir auf den Punkt bringen, was Gadamer an der Ingardenschen Position problematisch findet, so heißt das, dass Ingarden die Signifikanz des Subjekts in der Konkretisierung des Kunstwerks zu stark hervorhebe. Trotz der Ablehnung aller psychologisierenden Absichten in der Erforschung der (literarischen) Kunstwerke (vgl. SÄ III, 45f) bleibt unser Autor noch viel zu stark der Subjekt-Ebene verhaftet, was dazu führt, dass Wahrheits- und Realitätsbezug vernachlässigt werden. Im dem Kontext spricht A. Tymieniecka von der Nähe Ingardens zu der hauptsächlich im 20. Jahrhundert einsetzende Position, die „the New Critics“ genannt wird, und die sich vor allem für unabhängige Zustände im Geiste des Subjekts (Autors) einsetzt, welche im Umgang mit einzelnen Kunstwerken erreichbar sind. Es bleibt also zu fragen, inwiefern die Wahrheitsfrage in der Ingardenschen Analyse der Kunstwerke vernachlässigt worden ist. 81
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Vgl. Grondin, J. (1998), 296f. Vgl. Tymieniecka, A. (1962), 22. Ingardens „antipsychologistische“ Einstellung ist offenbar verständlich, wenn man seine Beziehung zu Husserl vor Augen hat. Dennoch dürfen wir ihm keinesfalls unterstellen, dass er sich dadurch „blind“ beeinflussen lässt. Vielmehr betont unser Autor eine feste Relation zwischen Psychologie und Literaturwissenschaft: (1) Wenn es um die literarischen Schaffensprozesse geht, also psychische Prozesse, die für die Entstehung der literarischen Kunstwerke unentbehrlich sind, und um die individuelle psychische Struktur des Menschen; und (2) wenn es um die Erlebnisse und Reaktionen der Rezipienten geht (vgl. SÄ III, 49f).
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516 §5. Wahrheitsfrage im Kunstwerk. Eine kritische Analyse aus Sicht der gegenwärtigen Debatte: Rückgriff auf Tarski, Davidson und Frege Dass der Wahrheitsbegriff zu den fundamentalen Begriffen der Philosophie gehört, steht außer Zweifel. So behauptet etwa Hegel in seinem Werk „System der Philosophie“, dass unter Wahrheit zunächst zu verstehen sei, ‚dass ich weiß, wie etwas ist’. Damit ist Wahrheit (nur) in Beziehung auf das Bewusstsein (d.h. als „formelle Wahrheit“) gemeint. Der tiefere Sinn der Wahrheit ist aber dann im Spiel, wenn z.B. von einem wahren Staat oder ‚einem wahren Kunstwerk’ die Rede ist. Diese Gegenstände sind wahr, wenn sie das sind, was sie sein sollen, d.h. wenn ihre Realität ihrem Begriff entspricht. Diese Behauptung Hegels drückt also zunächst das aus, was wir heute als „Adäquations- bzw. Korrespondenztheorie“ bezeichnen, die von Thomas von Aquin (unter dem Einfluss des Aristoteles) wie folgt formuliert wird: 83
„Die Wahrheit besteht in der Angleichung (adaequatio) von Verstand (intellectus) und Sache (res) […]. Wenn daher die Sachen Maß und Richtschnur des Verstandes sind, besteht Wahrheit darin, dass sich der Verstand der Sache angleicht […]; aufgrund dessen nämlich, dass die Sache ist oder nicht ist, wird unsere Meinung oder unsere Aussage wahr oder falsch. Wenn aber der Verstand Richtschnur und Maß der Dinge ist, besteht die Wahrheit darin, dass die Dinge sich dem Verstand angleichen; so sagt man, der Künstler verfertige ein wahres (Kunst-) Werk, wenn es der Kunstauffassung entspricht“. 84
Bei der „Korespondenztheorie“ setzt auch Ingarden mit seinem logischphänomenologischen, auf der Grundlage der Husserlschen Urteilslehre ausgearbeiteten Instrumentarium an, wenn er von „Wahrheit“ eines (literarischen) Kunstwerks spricht. Daher versteht unser Autor unter
Vgl. Hegel, G.W.F., SPh I, 423f. Thomas von Aquin, Sth I 21, 2. In der gegenwärtigen Debatte werden offenbar auch andere Wahrheitstheorien (WT) diskutiert, die wir hier lediglich signalisieren können: (1) Sprachanalytisch orientierte WT – z.B. Tarski und seine Nachfolger (vgl. auch unten); (2) Kohärenztheorie – etwa die Position des „Wiener Kreises“; (3) Pragmatische WT – vor allem W. James; (4) Konsenstheorie – vgl. K.O. Apel und J. Habermas.
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517 „Wahrheit“ im strengen Sinne eine bestimmte Beziehung zwischen einem echten Urteilssatz und dem durch seinen Sinngehalt ausgewählten objektiv bestehenden Sachverhalt. Besteht diese Beziehung, so sagen wir: „Der betreffende Urteilssatz ist wahr“. Das gleiche gilt für das rein intentionale Korrelat eines wahren Urteilssatzes. Im Hinblick auf literarische Kunstwerke können wir jedoch von diesem der Korrespondenztheorie entspringenden Wahrheitsbegriff keinesfalls problemlos Gebrauch machen, so Ingarden, weil kein einziger Satz eines literarischen Kunstwerks ein Urteilssatz im echten Sinne ist. In Bezug auf Kunstwerke sind nach unserem Autor vielmehr nur folgende Gebrauchsfälle des Wahrheitsbegriffes denkbar, im Sinne: (1) der Abbildungsfunktion – „wahr“ heißt ein dargestellter, in der Abbildungsfunktion begriffener Gegenstand, wenn er eine möglichst getreue Abbildung des entsprechenden realen Gegenstandes ist; z.B. eine „gute“ Kopie; (2) gegenständlicher Konsequenz – „wahr“ ist eine dargestellte Gegenständlichkeit, wenn sie durch die Sätze so bestimmt ist, dass sie die sich aus dem Wesen des Satzes und des Satzzusammenhanges ergebenden Gesetze erfüllt; (3) metaphysischer Qualität – unter „Wahrheit“ versteht man entweder die betreffende metaphysische Qualität oder deren Offenbarung im literarischen Werk (vgl. LK, 321f). Ingardens Position hängt also mit der Behauptung zusammen, dass aus den Sätzen, die keine echten Urteilssätze sind, so wie dies bei einem literarischen Kunstwerk der Fall ist, kein wahrer Satz folgen könne. Deshalb ist die Frage: Was sind die Sätze eines literarischen Kunstwerks? Diese Sätze bezeichnet unser Autor als „Quasi-Urteile“. Sie sind zwischen reinen Prädikaten, die reines Produkt von subjektiven satzbildenden Operationen sind, und echten auf die Wirklichkeit bezogenen Urteilssätzen zu positionieren. Wenn ein prädikativer Satz zu dem Text gehört, der die im literarischen Werk dargestellte Welt zum Vorschein bringt, d.h. wenn er ein Glied z.B. einer „Erzählung“ von den Schicksalen der dargestellten Personen und Dinge bildet und damit die Funktion der intentionalen Bildung des Dargestellten als solchen ausübt, dann ist er (nur) ein „QuasiUrteil“, das dem Verfasser zur Darstellung dieser Welt dient. „Quasi85
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Zum Begriff „metaphysische Qualität“ vgl. Fußnote 49 (Kap. V).
518 Urteile“ sind also nichts anderes als ‚die im literarischen Kunstwerk auftretenden Prädikate’. Während die Prädikate eines wissenschaftlichen Werkes echte Urteile im logischen Sinne sind, in welchen etwas ernst behauptet wird und die nicht nur Wahrheit beanspruchen, sondern auch wahr oder falsch sind, stellen dagegen die Prädikate eines literarischen Kunstwerks (also im Sinne des Werkes der sogenannten „schönen Literatur“) keine ernstgemeinten Behauptungssätze und Urteile dar. Dieser „Quasi-Modifikation“ unterliegen nach Ingarden nicht nur die Behauptungssätze allein, sondern alle Sätze des literarischen Kunstwerks. So haben wir es im literarischen Kunstwerk mit keinen echten Fragen zu tun, sondern nur mit „Quasi-Fragen“, mit keinen echten Wünschen, sondern nur mit „Quasi-Wünschen“, mit keinen echten Befehlen, sondern nur mit „Quasi-Befehlen“ usf. (vgl. LK, 169f; ELK, 167f). Inwiefern lässt sich diese Position rechtfertigen? Diese Ingardensche Theorie der „Quasi-Urteile“ stößt bei manchen Autoren auf eine scharfe Kritik. So wirft etwa J. Seifert Ingarden vor, dass dieser das literarische Werk ausschließlich (und als ganzes) für ein „fiktives Werk“ halte, ohne notwendige Differenzierungen durchgeführt zu haben. Indes erheben nach Seifert zahlreiche in literarischen Werken auftretende Urteile den Anspruch auf Wahrheit, wobei nur die vorkommenden Personen eventuell zur fiktiven Welt gehören. Ingarden begeht mithin einen schwerwiegenden Fehler, indem er annimmt, dass die darstellenden Urteile literarischer Werke nur Behauptungen über die fiktive Welt umfassen, und nicht über das Wesen von Dingen oder historischen Fakten. Es gibt viele Beispiele, die gerade das Gegenteil bezeugen, wie die „Bekenntnisse“ von Augustinus, oder „Archipelag Gulag“ von A. Solzenizyn u.a. In den Prädikaten über die fiktive Welt gibt es zudem oft auch einzelne Elemente, welche die Wahrheit über die Realität beanspruchen. Deswegen ist nach Seifert zwischen folgenden Urteilen zu differenzieren: „quasi-judgments“, „apparent judgments“ und „real judgments“, was Ingarden offenbar übersieht. Obwohl nicht bestritten werden kann, dass wir in literarischen Werken „Quasi-Urteile“ im Sinne Ingardens vorfinden, welche eine fiktive Welt aufbauen, ist es zugleich klar, dass wir es auch mit Prädikaten über die reale Welt, moralische Phänomene wie auch anthropologische Aspekte (Geburt, Tod) zu tun haben, die keine „Quasi-Urteile“ sind und sich kaum ohne einen
519 Wahrheitsanspruch diskutieren lassen, weil sie reale Urteile sind. Ingarden absolutisiert also ganz stark die Rolle der „Quasi-Urteile“ im literarischen Kunstwerk. Eine weitere bemerkenswerte Kritik an der Ingardenschen Theorie der „Quasi-Urteile“ stellen die Überlegungen von K. Hamburger in ihrem Werk „Die Logik der Dichtung“ dar. Selbst wenn auch Hamburger von der Voraussetzung ausgeht, dass im literarischen Kunstwerk, welches seine Existenz allein der Sprache und dem bewussten Schaffensprozess des Künstlers verdankt, neuartige Funktionen der Sprache wirksam werden, die an ihr strukturell greifbar werden, formuliert sie jedoch viele Einwände gegen Ingarden. So erblickt Hamburger – offenkundig aus ihrer eigenen Sicht, also der Dichtung - die Hauptschwäche bei Ingarden vor allem darin, dass für ihn die dichterische Gegenständlichkeit, da sie nur als rein intentionale existieren soll, nichts anderes als nur einen illusionären Schein von Wirklichkeit vermitteln könne. Damit wird die eigentliche mimetische Leistung der dichtenden Sprache verfehlt. Denn bei Ingarden würden die fiktiven Gegenständlichkeiten epischer Dichtung als Satzkorrelate von „Quasi-Urteilen“ ihrem Gehalt nach vom Leser in die reale Welt „hineinversetzt“, jedoch so, dass dies nicht „ernsthaft“ geschehe, so dass sie nur eine „Illusion der Realität“ hervorrufen könnten. Darüber hinaus spricht Hamburger von einer Tautologie bei Ingarden, welche die Folge der Reduktion des Nichtwirklichkeitscharakters einer mimetischen Dichtung auf die Sätze ist, aus denen sie besteht, wie auch der Beschreibung solcher Sätze als „Quasi-Urteile“. Ihre Begründung läuft darauf hinaus, dass die Aussagen eines Romans als „Quasi-Urteile“ bei Ingarden erst dadurch konstituiert sind, dass sie in einem Roman stehen. Mit anderen Worten: Der Satz als solcher ruft noch keine Illusion der Realität hervor, weil er losgelöst vom Romankontext auch in einer Mitteilung über die Realität stehen könne, sondern vielmehr muss der Rezipient eines Romans bereits wissen, dass er ein Werk derartiger Literatur vor sich habe; er wisse sich 86
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Vgl. Seifert, J. (1995a), 14f. Auch vgl. ders. u.a. (1994), 97f.
520 also bereits in einem Nichtwirklichkeitszusammenhang, wenn er darin den Quasi-Charakter der Urteile solle erkennen können. Wir sehen also, dass sich Ingarden mit seiner „Theorie der Quasi-Urteile“ kaum durchsetzen kann. Versuchen wir jetzt das Ganze kurz aus sprachanalytischer Sicht anzugehen. Dazu wählen wir Tarski, Davidson und Frege, ohne deren Positionen ausführlich diskutieren zu wollen. Tarski hat bekanntlich mit seiner semantischen Konzeption der Wahrheit eine Methode entwickelt, die den Logikern zum ersten Mal einen konsistenten Gebrauch semantischer Begriffe ermöglichte. Sein Entwurf setzt zwei einschränkende Akte voraus: (1) Beim Gebrauch semantischer Ausdrücke ist eine strenge Trennung zwischen „Objektsprache“ (OS) und „Metasprache“ (MS) einzuhalten; (2) Der Ausdruck „wahr“ ist immer auf die Objektsprache zu relativieren, d.h. dieser Ausdruck darf in der Objektsprache nicht vorkommen. Daher gilt: die Aussagen der Gestalt „p ist wahr in OS“ sind in einer dazu geeigneten Metasprache MS zu analysieren. Unter diesen Voraussetzungen ist es also einfach, über die Wahrheit eines Satzes p einer bestimmten Sprache OS ohne Inkonsistenz zu reden. Denn wir tun es in einer dazu geeigneten Metasprache MS, wobei im Prinzip irgendeine Sprache, welche ‚logisch reicher’ als die Objektsprache ist, als Metasprache dienen kann, da nur ihre formallogische Wesensart dabei entscheidend ist, um darin eine explizite Definition der semantischen Ausdrücke zu ermöglichen. Angenommen, dass „p“ in der Metasprache den Namen des zu beurteilenden Satzes der Objektsprache angibt, so haben wir: „’p’ ist wahr, wenn p“; d.h. „p“ ist wahr, wenn der durch „p“ ausgedrückte Sachverhalt tatsächlich besteht. Mit dem berühmten Beispiel Tarskis heißt das: „>Es schneit< ist eine 87
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Vgl. Hamburger, K. (1957), 14f. Vgl. auch Ströker, E. (1994), 151f. Das Problem der „Quasi-Urteile“ wird heute vor allem als Problem der fiktionalen Terme diskutiert (vgl. Mayr, E. [2003]). Als Inkonsistenzen sind hier Antinomien gemeint, also in sich widersprüchliche, sowohl wahre als auch falsche Aussagen. Vgl. etwa die bekannte Antinomie eines Lügners, der von sich selbst behauptet, er lüge. Tarski hat deutlich gemacht, dass solche Antinomien sich durch eine strenge Unterscheidung zwischen Objekt- und Metasprache auflösen lassen. Vgl. Goette, N.B. (1986), 124. 87
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521 wahre Aussage dann und nur dann, wenn es schneit“. Für die Ingardensche Theorie der „Quasi-Urteile“ ergeben sich folgende Auswirkungen: Das Modell der von Tarski vorgeschlagenen semantischen Konzeption der Wahrheit könnte – so ist meine These – der Ingardenschen Theorie einen methodischen Impuls liefern, damit sich diese aus ihrer „Quasi-Urteile-Sackgasse“ befreien kann. Der Leitgedanke ist dabei, dass ein Satz im Ganzen der Sprache zu bestimmen ist. Deshalb haben wir: 90
„p ist wahr in S“ Das bedeutet, dass „Quasi-Urteile“ (p) nur im Rahmen des Ingardenschen Systems (S) gerechtfertigt werden können. Ob es gelingen kann, das ist eine andere Frage, der wir hier nicht nachgehen. Wenn man dagegen versucht, den Begriff der „Quasi-Urteile“ getrennt etwa von der Auffassung des literarischen Werkes zu interpretieren, dann ergeben sich notwendig zumindest die oben formulierten Einwände. Ist aber eine solche Interpretation überhaupt denkbar? Mit Blick auf Davidson, der eine Bedeutungstheorie entworfen hat, die im Wesentlichen die Gestalt einer Wahrheitstheorie nach dem Modell Tarskis für die natürlichen Sprachen annimmt, ließe sich m.E. diese Frage negativ beantworten. Denn Davidson formuliert bekanntlich in seinem Aufsatz „Wahrheit und Bedeutung“ zwei miteinander zu vereinbarende sprachphilosophische Prinzipien: „Kontextprinzip“ und „Kompositionalitätsprinzip“. Während das erste Prinzip besagt, dass Wörter nur im Zusammenhang eines Satzes eine Bedeutung haben und ihnen unabhängig vom Satz keine Bedeutung zukommt, gilt nach dem zweiten, dass sich die Bedeutung komplexer Ausdrücke aus den Bedeutungen der einfachen Ausdrücke ergibt, aus denen die komplexen Ausdrücke zusammengesetzt sind. In Bezug auf Ingarden heißt das, dass seine „Quasi-Urteile“ keine Bedeutung haben, sollten sie außerhalb seines ästhetischen Systems behandelt werden, mithin auf das Kontextprinzip und 91
Vgl. Tarski, A. (1935/36), 268. Vgl. dazu auch Puntel, L. (1990), und Moreno, L.F. (1992). Vgl. Davidson, D. (1986), 41.
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522 Kompositionalitätsprinzip verzichten, die allerdings auf Frege zurückgehen. Bei Frege ist für uns jedoch seine ‚Differenzierung zwischen dem Wahren und dem Fürwahrgehaltenen’ besonders relevant, zumal Dummett diese Unterscheidung mit der Idealismus-Realismus-Debatte in Zusammenhang zu bringen versucht. Die Folge ist, dass Dummett auch von zwei möglichen Auffassungen der Wahrheit spricht: einer realistischen, die er Frege zuschreibt, und einer epistemischen, die von den Psychologisten vertreten ist. Indes will Frege dieser These von Dummett keineswegs zustimmen, sondern eher von dem Begriff der „Wahrheit“ und dem „der begründeten Anerkennung der Wahrheit“ sprechen. Damit liefert uns Frege eine neue Differenzierungs-Ebene, auf der wir die Ingardensche Theorie der „Quasi-Urteile“ interpretieren können. Den von Ingarden eingeführten „Quasi-Urteilen“ ließe sich dann - angesichts ihrer Mängel – nicht das Prädikat „wahr“ zuschreiben; gleichwohl wäre es aber denkbar, dass sie für „wahr gehalten werden könnten“ – allerdings immer streng bezogen auf das Ingardensche System. Fazit: Wollen wir eine Analyse der Wahrheitsfrage im (literarischen) Kunstwerk bei Ingarden aus Sicht der gegenwärtigen Debatte durchführen, stoßen wir auf viele gewichtige Probleme. Im nächsten Abschnitt soll weiterhin erforscht werden, ob es eventuelle Inkohärenzen in anderen Ästhetikbereichen gibt. Diesmal geht es um die Poetik. 92
93
§6. Ingarden und Aristoteles: Poetik Der Begriff „Poetik“ gehört zu den Begriffen, die am meisten die Frage nach den Berührungspunkten zwischen Ingarden und Aristoteles aufwerfen, bzw. zur Konfrontation der beiden miteinander führen – nicht zuletzt aufgrund der Ingardenschen Beiträge zur Entfaltung der Ästhetik im 20. Jahrhundert. Daher ist es nachvollziehbar, dass wir diesen Begriff im vorliegenden durch die Ästhetik geprägten Kapitel aufrollen. Es ist zudem insofern unentbehrlich, als dieser Begriff bei Ingarden in einem engen 92 93
Vgl. Dummett, M. (1981), 433. Vgl. Frege, G. (1893), XVf.
523 Zusammenhang mit dem der Ontologie steht, wie dies noch weiter sichtbar wird. Nun befasst sich nach Ingarden die Poetik ausschließlich mit literarischen Kunstwerken und einigen Grenzfällen derselben, z.B. mit dem Bühnenwerk. Die Poetik ist mithin die „Theorie der künstlerischen Literatur“ und unterscheidet sich insofern einerseits von der Literaturphilosophie, Literaturwissenschaft „im engen Sinne“ (i.e.S.) und Literaturkritik, andererseits bleibt sie aber mit diesen als Hilfswissenschaften eng verbunden (vgl. GAL, 29f). Demnach ergibt sich folgende theoretische Auffassung des literarischen Werkes im Rahmen der Literaturwissenschaft „schlechthin“: 94
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Poetik A
B C
Für Ingarden gibt es auch „Grenzfälle“ des (rein) literarischen Werkes, z.B. wenn ein literarisches Werk im Theater gespielt wird. Das heißt, auf der Theaterbühne werden die gleichen Personen, Gegenstände, Ereignisse usw. zur Erscheinung gebracht, jedoch auf eine andere Art und Weise (in einer modifizierten Form) als dies beim schlichten Lesen der Fall ist. Andere Beispiele der „Grenzfälle“ sind kinematographisches Schauspiel, Pantonime, wissenschaftliche Werke, Berichte (vgl. LK, 337f). Heute müssten wir das Internet dazu rechnen, wie auch viele andere mediale Innovationen. Vgl. auch Ingarden, R. (1962), 3f. Damit keine Missverständnisse entstehen, müssen wir schon zu Beginn klar machen, dass wir bei Ingarden auf zwei Begriffe von „Literaturwissenschaft“ stoßen: (1) Zum einem geht es um die Literaturwissenschaft „schlechthin“; sie umfasst: (a) Literaturphilosophie (=Ontologie des literarischen Kunstwerks, Epistemologie des literarischen Werkes, Ästhetik der Literatur, Philosophie des literarischen Schaffens, Literatursoziologie usw.), (b) Literaturwissenschaft „i.e.S.“ (=empirische Wissenschaft: Geschichte und Charakterologie der Kunst, Psychologie, Sprachwissenschaft usw.) und (c) Literaturkritik; (2) Zum anderen spricht Ingarden auch von Literaturwissenschaft „i.e.S.“ als empirischer Wissenschaft (vgl. [b], Punkt 1) (vgl. GAL, 34, 52f). Eine solche ausführliche Differenzierung interessiert uns hier nicht, sondern vor allem das Verhältnis zwischen Poetik, Literaturphilosophie (insbesondere Ontologie) und Literaturwissenschaft „i.e.S.“. 94
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524 Legende: A – Literaturphilosophie (in erster Linie Ontologie), B – Literaturwissenschaft “i.e.S.“, C – Literaturkritik. Das obige Schema macht also deutlich, dass die Poetik eine Zwischenstellung zwischen der Literaturphilosophie (A) und Literaturwissenschaft „i.e.S.“ (B) einnimmt. Indem sie sich bestimmter Ergebnisse der Ontologie als Richtlinien ihrer Forschung bedient, enthält sie „eo ipso“ bestimmte apriorische Elemente. Während sie sich zugleich auf einzelne faktisch geschaffene literarische Kunstwerke beruft, geht sie über das Gebiet der Ideen (bzw. der reinen Möglichkeiten) hinaus und nimmt einen empirischen Charakter an (vgl. GAL, 45). Im Rahmen der allgemeinen Literaturwissenschaft wird die Poetik noch durch die Literaturkritik gestützt (C), deren Ziel es ist, Rechenschaft über die ästhetische Konkretisation des literarischen Werkes zu geben und auf dieser Basis eine Beurteilung sowohl des künstlerischen als auch ästhetischen Wertes vorzunehmen. ‚Die Poetik analysiert daher das Wesen und wesensmäßige Eigenschaften faktisch existierender literarischer Werke.’ Da sie eine „generalisierende“ Wissenschaft ist, stellt sie sich dabei keinesfalls die Aufgabe, die literarischen Individuen in ihrer spezifischen, künstlerisch einzigartigen Gestalt zu untersuchen. Wenn die Poetik überhaupt einzelne Werke in Betracht zieht, so macht sie es nur deswegen, um an ihrem Beispiel bestimmte allgemeine Strukturen, Eigenschaften oder literarische Phänomene zu prüfen, also bestimmte generelle Zusammenhänge zwischen den Elementen und Momenten der Werke aufzudecken (vgl. GAL, 38f). Dank der Literaturphilosophie, insbesondere der Ontologie des literarischen Kunstwerks, bekommt die Poetik prinzipielle Grundbegriffe und Behauptungen geliefert, welche die Grundlage und Richtlinien ihrer Forschung bilden. Der Literaturwissenschaft „i.e.S.“ hingegen, sowohl in ihrer charakterologischen wie auch historischen Abart, verdankt die Poetik viele nützliche, allerdings keineswegs verbindliche Angaben über die Vielfalt des literarischen Materials. Dadurch kann die Poetik alle Werke aus ihrem Forschungsbereich ausschließen, die nur scheinbar zu den Kunstwerken gehören (vgl. GAL, 50f). Die Poetik ist für Ingarden ferner eine „normative“ Wissenschaft, d.h. die „normative Poetik“, welche durch theoretische Reflexion begründet werden muss, so wie dies die durch
525 Husserl entworfenen phänomenologischen Analysen verlangen. Darum stellt sie objektive und subjektive Normen auf: Während die ersteren die literarischen Kunstwerke betreffen und somit deren Eigenschaften bestimmen, die sich generell bzw. in einer speziellen Spielart zeigen sollten, richten sich die letzteren dagegen entweder auf den Autor oder auf den Rezipienten dieser Werke (vgl. GAL, 84f). Nun sehen wir, dass Ingarden die Aufgabe der Poetik – zusammenfassend formuliert - darin erblickt, dass diese die künstlerische Literatur von der restlichen Literatur zu unterscheiden ermöglicht. Beruft sich unser Autor bei der Einführung des Begriffs „normative Poetik“ in seinen Reflexiongang noch auf Aristoteles, so wendet er sich gegen diesen ganz deutlich, wenn es sich um die subjektive Dimension der Poetik handelt. Das heißt, Artistoteles konzentriere sich – so Ingarden - fast ausschließlich auf die Kunstwerke und vernachlässige damit sowohl die schöpferischen Akte des Dichters als auch die Erlebnisse des Rezipienten, abgesehen von der Stelle, wo er sich auf das Problem der Tragödie einlässt (vgl. SÄ III, 19). Es bleibt zu prüfen, inwiefern sich diese Einwände Ingardens rechtfertigen lassen. Bereits die ersten Sätze des Metaphysik-Buches lassen die Ingardenschen Vorwürfe, die die subjektive Dimension der aristotelischen Poetik bezweifeln, fragwürdig erscheinen. Denn Aristoteles bringt hier den Begriff der Kunst mit dem der Erfahrung in Verbindung: „Erfahrung bringt Kunst hervor“. Aus der Erinnerung entsteht für die Menschen Erfahrung, und viele Erinnerungen an denselben Gegenstand bewirken das Vermögen der Erfahrung. Die Kunst entsteht also dann, wenn sich aus vielen durch die Erfahrung gegebenen Gedanken eine allgemeine Annahme über das Ähnliche bildet. Und dieser ganze Prozess hat zweifelsohne mit schöpferischen Akten und rezipierenden Erlebnissen zu tun, die das subjektive Element zum Ausdruck bringen. Aristoteles befindet sich ebenfalls auf dem Gebiet der Ingardenschen Überzeugungen, indem er behauptet, dass die Kunst Erkenntnis des Allgemeinen sei, während die Handlungen und Entstehungen auf das 96
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Vgl. Husserl, E., Hua XIX/1 (vor allem Kap. II). Vgl. Falk, E.H. (1981), XIIIf.
526 Einzelne gehen. Damit wird also eine klare Grenze zwischen der Kunst und dem Praktischen signalisiert, die ihre größte Deutlichkeit im Buch „Poetik“ findet. Im Mittelpunkt dieses Buches stehen vor allem der Begriff der Nachahmung („mimesis“) und eine Tragödientheorie. Als Mimesis wird die Dichtung bestimmt, die mit der strukturierten Funktion des literarischen Kunstwerks bei Ingarden ein gemeinsames Interesse teilt, z.B. die Darstellungsfunktion. Nachgeahmt und dargestellt werden nicht nur die handelnden Menschen, sondern auch Dinge. Die Dichtung ahmt also Charaktere, Affekte und Handlungen nach, was wie im Epos in der Form des Berichts geschehen kann, oder im Drama. Hier gelangen nun wieder subjektive Elemente bei Aristoteles zur Erscheinung, die Ingardens These in Frage stellen. Dies vollzieht sich m.E. endgültig in der aristotelischen Reflexion über die Tragödie, welche die Mimesis einer guten und in sich geschlossenen Handlung ist. Jede Tragödie hat notwendig sechs „Teile“: Mythos, Charakter, Stil, Denkweise, Inszenierung und Musik, wobei der Mythos als Nachahmung der Handlung, die ein geordnetes Ganzes darstellt, der wichtigste ist. Indem die Tragödie durch Mitleid und Furcht die Reinigung (κάθαρσιν) von solchen Affekten vollbringt, bewegt sie sich offenbar im Bereich des Emotionalen. Auch der Musik als Teil der Tragödie kommt wesentlich erlebnishafter Charakter zu, was Ingarden keinesfalls hätte übersehen dürfen, zumal er selbst die Ontologie des Musikwerks betreibt (vgl. UOK, 3f). Aus dem in diesem Abschnitt Ausgeführten ergibt sich ganz deutlich, dass wir es mit zwei Begriffen der Poetik zu tun haben, die sich in gewissen Punkten berühren und ergänzen. Während wir bei Ingarden – so ist meine These – von einem „ontologischen“ Begriff der Poetik sprechen können, ist dieser Begriff bei Aristoteles hingegen durch gewisse anthropologische Merkmale gekennzeichnet, so dass es bestimmt denkbar wäre, ihn als einen „anthropologischen“ Begriff zu bezeichnen. Diese Differenz ist wohl nicht 98
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Vgl. Aristoteles, Met. I 1. Vgl. Aristoteles, Poetik 1, 1447a28, auch 3,1448a19-23. Vgl. Aristoteles, Poetik 6,1450a9 f. Vgl. dazu auch Ricken, F. (2000), 145f. Ricken macht darauf aufmerksam, dass diese Behauptung des Aristoteles im Widerspruch zu der aristotelischen Position im Allgemeinen stehe, dernach es immer auf das richtige Maß der Affekte ankommt (vgl. NE II 5).
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527 zuletzt darauf zurückzuführen, wie die beiden Denker ihre Aufgabe als Philosophen verstehen und zu verwirklichen suchen. Bleibt Ingarden unter dem Einfluss von phänomenologischen Faktoren, welche in begrifflicher Differenziertheit und im Reich reiner Möglichkeiten aufgehen, so bemüht sich Aristoteles dagegen um eine bündige und klare Denkweise sowie „Menschennähe“, an der es den Phänomenologen erfahrungsgemäß mangelt. Allerdings sind beide Philosophen auf gewisse Elemente notwendig angewiesen, welche ihnen erst erlauben, sich einerseits über die Kunstwerke zu äußern, andererseits sich aber dort zu treffen, wo ihre grundlegenden Behauptungen einen geeigneten Rechtfertigungs-Boden finden können. Gemeint ist in erster Linie das Problem der Normativität, ohne das sich keine sinnvolle Ordnung ergeben kann. Dies hat offenbar eindeutige Auswirkungen für die subjektive Ebene, die sich aus dem Ästhetik-Ganzen nicht wegdenken lässt. Denn das subjektive Element steht nicht nur im Mittelpunkt des ästhetischen Geschehens, weil es selber dadurch betroffen wird, sondern gibt diesem zugleich einen tieferen Sinn und ermöglicht dessen Existenz. Sowohl bei Ingarden als auch bei Aristoteles kommt darüber hinaus das mit der Struktur des Kunstwerks essentiell verbundene Allgemeinheitsprinzip zum Vorschein. Dadurch kann erst die Besonderheit der Kunstwerke gesichert werden. Es wird ganz deutlich vor allen Dingen im Fall des literarischen Kunstwerks, so wie es Ingarden will, oder auch im Fall der Dichtkunst, die Gegenstand der aristotelischen Reflexion ist. Abschließend lässt sich behaupten, dass beide Begriffe der Poetik einander ergänzen können. Dank dem ontologischen Begriff von Ingarden kann eine ästhetische Analyse im Bereich strenger Differenzierungen verbleiben, der anthropologische Begriff von Aristoteles hingegen sorgt beim Leser für einen förderlichen Zugang zur Kunst. Diese soll jetzt aus Sicht der Realismus-Idealismus-Frage diskutiert werden. §7. Ontologie der Kunst und die Idealismus-Realismus-Frage. Kritik an Ingarden Zu welcher Art von Gegenständen gehören Kunstwerke? In welcher Weise existieren sie? Kunstwerke sind offensichtlich keine immerwährenden Entitäten, weil sie von einer Person zu einem bestimmten Zeitpunkt
528 geschaffen werden. Dass die Existenz eines Kunstwerks stets einen Anfang hat, der sich prinzipiell recht genau datieren lässt, scheint einerseits dafür zu sprechen, dass Kunstwerke physische Gegenstände sind. Jedoch nicht alles, was in einer bestimmten Zeit entstanden ist, muss eben damit etwas Reales sein; man denke etwa an literarische oder musikalische Kunstwerke. Dass Kunstwerke ihren besonderen Status menschlicher Beurteilung verdanken, die bestimmte Artefakte zu Kunstwerken promoviert, scheint andererseits dafür zu sprechen, dass Kunstwerke subjektive oder mentale Entitäten sind. Doch nicht alles, dessen Sein von menschlichem Urteil abhängig ist, muss ebendarum als subjektive oder mentale Entität existieren. Da ein Kunstwerk weder epistemisch für sich noch in seiner Existenz an ein Trägersubjekt gebunden ist, kann es nämlich keine subjektive Entität sein. So können wir die Grundlage formulieren, die sich einerseits aus dem im vorliegenden Kapitel bisher Ausgeführten ergibt, und auf der andererseits die Idealismus-Realismus-Frage, die unsere ganze Arbeit begleitet, im vorliegenden Abschnitt erörtert werden kann. Denn Ingardens ästhetische Analysen sind auch grundsätzlich im Kontext der Kontroverse zwischen Realisten und Idealisten um die „Existenz der Welt“ in Bezug auf das Bewusstsein anzusiedeln. Eine gründliche Untersuchung der Seinsweise des literarischen Kunstwerks dient Ingarden bereits in seinem Buch „Das literarische Kunstwerk“ als Argument gegen Husserls Auffassung, dernach jedem Seienden rein intentionale Seinsweise zukomme. Das Ingardensche Argument zielt darauf ab, neben der realen und idealen Seinsweise eine dritte zu etablieren, nämlich die der intentionalen Gegenständlichkeiten in einem neuen Sinne. Das heißt: ‚Intentionale Gegenständlichkeiten haben ihr ontisches Fundament sowohl in realen Gegenständen als auch in schöpferischen und rezipierenden Bewusstseinsakten von Subjekten, wobei sie diesen Bewusstseinsakten gegenüber transzendent sind’. Diese Position Ingardens schreibt also Kunstwerken den Status sowohl physischer als auch mentaler Entitäten zu. Darauf baut er ebenfalls seine Konzeption der Ästhetik als „ästhetischer Situation“ auf, in der das Subjekt 101
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Vgl. Schmücker, R. (2003a), 149. Vgl. Fieguth, R. u.a. (1997), X.
529 dem Kunstwerk „begegnet“ (vgl. 4 [Kap. V]). Dadurch tritt unser Autor gegen Husserl auf, bei dem bekanntlich das Mentale so stark im Vordergrund steht, dass dies ihn zum transzendentalen Idealismus führt, der den Seinsgrund (auch) der realen Welt „in den Tiefen des konstituierenden reinen Bewusstseins“ erblickt, also auch die realen Gegenstände ausschließlich als intentionale interpretiert. Nicht anders ist es offenbar mit Kunstwerken, deren Fundament auch in der realen Welt verankert ist. Nach Husserl sind sie desgleichen radikal auf die Tätigkeiten des reinen Bewusstseins angewiesen. Im Gegensatz zu Husserl schreibt Ingarden indes dem Bewusstsein keine wirkliche Schöpferkraft in dem Sinne zu, dass es „seinsautonome“ Gegenstände allein aus sich heraus schaffen kann, also weder Materie noch etwa Zahlen. Die intentionalen Gegenständlichkeiten, die Geschöpfe des menschlichen Bewusstseins sind, folglich auch Kunstwerke, sind daher in sich nicht voll bestimmt. Sie bleiben lediglich auf die sie hervorbringenden seinsautonomen Prozesse in mehrfacher Hinsicht bezogen; sie sind deshalb „hinfällig, gebrechlich“, sie haben ein „Leben“, können verändert und vernichtet werden, d.h. sie sind „geschichtlich“. Obgleich sowohl Husserl als auch Ingarden das Erfordernis einer Konzeption der Intentionalität eingestehen (vgl. 3§1 [Kap. III]), die auf Kunstwerke als intentionale Gegenstände bezogen werden kann, zeigt erst Ingarden eine deutliche Perspektive auf, die das Umfassen des intentionalen Seins der ganzen Sphäre der Kulturerzeugnisse des Menschen mit einer gemeinsamen Kategorie ermöglicht. Als Ingardens Verdienst gelten außerdem zahlreiche und breit angelegte ontologische Erforschungen der Form und Seinsweise von Kunstwerken als intentionaler Gegenstände. Demnach sind Kunstwerke „seinsheteronom“, weil sie ihr Seinsfundament nicht in sich selbst haben. Darüber hinaus sind sie „unselbständige“ Gegenstände, weil sie den intentionalen Bewusstseinserlebnissen ihre Existenz und ihre Wesensart verdanken. 103
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Vgl. Ströker, E. (1994), 142f. Vgl. auch das Problem der Unbestimmtheitsstellen im literarischen Kunstwerk (in 5§1b.c [Kap. V]). Vgl. Fieguth, R. (1976), XXIII. 103 104
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530 Ohne diese Bewusstseinsakte können Kunstwerke keinesfalls existieren, und erst dank ihrem Vollzug vermögen sie zu existieren, allerdings als „unselbständige“ Gegenstände. Alle formalen, materialen und existentialen Momente, die in den Bewusstseinsakten enthalten sind, werden dem Kunstwerk als intentionalem Gegenstand bloß zugeschrieben, d.h. sie befinden sich in ihm nicht „stricto sensu“. Die intentionalen Bewusstseinsakte streben danach, die von ihnen erzeugten Gegenstände zu fixieren, indem sie sie in einem seinsstärkeren Fundament positionieren. Dadurch können Kunstwerke als intentionale Gegenstände auch anderen Subjekten zugänglich sein. Dass dies der Fall ist, bezeugt unsere alltägliche Erfahrung mit den verschiedensten Kulturerzeugnissen: literarischen Werken, Theateraufführungen, Filmen, Gemälden, Musikwerken usf. In dem Kontext ist überdies die Tatsache wichtig, dass Ingarden mit seinen ästhetischen Analysen der These Husserls widerspricht, dernach das ästhetische Erlebnis ganz „neutralisiert“ werden müsse, wie dies seine methodische Verfahrensweise (vgl. eidetische und phänomenologische Reduktion) erfordert. Denn nach unserem Autor treten im ästhetischen Erlebnis Momente mit verschiedener „Überzeugungsnatur“ auf. Zum einen gibt es also Momente, welche sich auf die dargestellten Gegenstände beziehen und eine Art Überzeugung von der Realität des zu erkennenden Gegenstandes darstellen; diesen Momenten entspricht der „quasi-reale“ Charakter der dargestellten Gegenstände. Zum anderen gibt es gewisse Überzeugungs-Momente, die den ganzen ästhetischen Gegenstand als „polyphone Harmonie“ betreffen, der sich im ästhetischen Erlebnis konstituiert hat. Mit diesen letzteren Momenten ist auch ein Existenzurteil verbunden, obwohl dieses Urteil sich keinesfalls auf die reale Welt bezieht (vgl. SÄ I, 152f). Welche Konsequenzen hat diese Ingardensche Position für die IdealismusRealismus-Frage? Es fällt zunächst auf, dass sich in den ästhetischen Analysen Ingardens, die in erster Linie phänomenologisch geprägt sind – abgesehen von der ontologischen Ausrichtung - eine Rückkehr zu der realistischen Metaphysik vollzieht, nachdem unser Autor den Begriff der intentionalen Seinsweise eingeführt hat (vgl. 2§1 [Kap. V]). Die Folge 106
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Vgl. Szczepanska, A. (1989), 36f.
531 dieser Konstellation ist, dass die ganze Untersuchung weder als „steriles akademisches Wortspiel“ noch als derartiges Konzept erscheint, sondern eher als ein nur wenig „berichtendes Faktum menschlicher Alltagserfahrung“. Das wird nicht zuletzt dann sichtbar, wenn Ingarden seine These über den Status von Kunstwerken zu begründen versucht, wonach Kunstwerke aufgrund ihrer intentionalen Seinsweise als „seinsheteronome“ Gegenstände zu bezeichnen sind. Dass dabei ein dritter, diesmal intentionaler Faktor neben dem Bewusstseins- und Realitäts-Element ins Spiel kommt, scheint zwar dadurch einzuleuchten; für die Zwecke der gegenwärtigen Debatte ist es m.E. jedoch eine zu wenig plausible Begründung, obzwar die Denkrichtung zweifelsohne die gleiche ist. Worauf Ingarden mit seiner Ästhetik hinaus will, kann uns etwa G. Patzig zu verstehen helfen, der in Anschluss an Frege von „objektivnichtwirklichen“ Entitäten spricht. Dadurch bleibt die Einheitlichkeit des Status der Kunstwerke im Sinne Ingardens aufrechterhalten. Es kommt nämlich kurzum darauf an, dass Kunstwerke als „objektiv-nichtwirkliche“ Entitäten den gleichen Status wie Gedanken und Zahlen besitzen. Damit werden Kunstwerke in Gegensatz zu den Dingen der Außenwelt gesetzt, denen der Status „objektiv-wirklicher“ Entitäten zukommt. Das heißt, Kunstwerke sind einerseits objektiv, weil sie den Dingen der Außenwelt darin gleichen, dass sie nicht zu irgendjemandes Bewusstseinsinhalt gehören. Andererseits sind Kunstwerke – so wie Gedanken – nichtwirklich, denn sie gehören nicht der Welt der sinnlich wahrnehmbaren Dinge an. Aus Sicht der gegenwärtigen Debatte wäre es schließlich erstrebenswert, wenn Ingarden die Ästhetik- und Kunstproblematik viel exakter mit dem Blick auf deren kommunikationstheoretische Perspektive behandelt hätte. Damit würde sein gesamtes Ästhetik-Konzept als „ästhetische Situation“ wesentlich bereichert werden. Darüber hinaus liegt die Behauptung nahe, dass diese Perspektive in einer „medialen“ Welt keinesfalls vernachlässigt, 107
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Vgl. Mitscherling, J. (1997), 208f. Vgl. Patzig, G. (2003), 112f. Auch vgl. G. Frege (1972), und R. Schmücker (1998), 239f. 107 108
532 geschweige denn übersehen werden darf. Insofern besteht Bedarf an einer kommunikationstheoretischen Kunstästhetik, von der bei Ingarden kaum Anzeichen zu finden sind. Indessen schreibt etwa J. Habermas, bei dem Kunstwerke auch als Phänomene gelten, die Erlebnissen und Empfindungen Ausdruck verleihen (mit Bezug auf Ingarden formuliert: Grundlage der Konkretisation darstellen), dass sich eine solche Theorie mit sprachlichem Instrumentarium aufbauen ließe. Dann würde Kunst analog wie expressive Sprechakte beschrieben. Dass Kunstwerke für Habermas in Analogie zu expressiven Sprechakten explifizierbar sind, wird vor allen Dingen in seiner „Theorie des kommunikativen Handelns“ deutlich, dernach Kommunikation als ein implizit verständigungsorientiertes Handeln zu begreifen sei. Die Funktion und Bedeutung der Sprache für die Ingardenschen Ontologie muss also genauer erforscht werden. 109
6. Sprachliche Implikationen „Wie Schiffer sind wir, die ihr Schiff auf offener See umbauen müssen, ohne es jemals in einem Dock zerlegen und aus besten Bestandteilen neu errichten zu können“. Zwar wird dieser berühmte, von Wolfgang Spohn, dem Übersetzer der zahlreichen Aufsätze Quines, zitierte Satz in Bezug auf Quine ausgesprochen, aber er trifft auch auf Ingarden zu. Denn trotz unterschiedlicher Grundorientierung - Quine neigt zu einer empirischen Philosophie, während Ingarden mit seinen Gedanken dem Bereich der Phänomenologie verhaftet bleibt - treffen sich beide Denker auf der gemeinsamen Ebene der Erkenntnistheorie, Ontologie und teilweise auch der Sprachphilosophie. Es sind also drei wesentliche Gebiete „offener 110
Vgl. Habermas, J. (1981), 247f, 334. Vgl. Spohn, W. (2003), 7. Dieser Satz kommt offenbar von O. Neurath (vgl. [1932/33], 206), der ihn im Kontext seiner Reflexion über die Protokollsätze formuliert hat.
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533 See“, mithin der Philosophie, die einen Bestandteil unseres „LebensSchiffes“ darstellen. Hier könnte man wohl nach der Ursache fragen, weswegen das Ingardensche Forschungsgebiet so breit angelegt ist, dass es fast alle Bereiche menschlichen Lebens „philosophisch beunruhigt“. Selbst wenn Ingarden kein Sprachphilosoph „stricto sensu“ ist, so wie etwa Quine oder Wittgenstein, befasst er sich mit sprachlichen Problemen ganz intensiv. Nicht nur seine ästhetischen Analysen motivieren unseren Autor zu diesem Schritt, was sich in erster Linie aus dem Buch „Das literarische Kunstwerk“ ergibt, sondern vor allem sein allgemeines philosophisches Interesse, das bereits in seiner Habilitationsschrift „Essentiale Fragen“ zur Erscheinung gelangt. Auch in der späteren Zeit seines philosophischen Engagements greift Ingarden immer wieder sprachliche und logische Dilemmas auf. Da wir auch im vorliegenden Kapitel notwendige Einschränkungen vollziehen müssen, so gehen wir nur in drei Schritten vor: (1) Frage, Proposition und Gegenstand; (2) Sprachliche Implikationen mit dem Blick auf Quine: Ablehnung der Propositionen und Übersetzungsfrage und (3) Linguistische Phänomenologie: Widersprüchlichkeit des empiristischen Sinnkriteriums. Sprache als Träger der Bedeutung. 111
§1. Frage, Proposition und Gegenstand Von welcher Bedeutung das Fragen für eine philosophische Reflexion ist, dürfte uns wohl Kant paradigmatisch aufweisen, indem er fragt: „Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Was ist der Mensch?“ Ohne Fragen kann Philosophie nicht „existieren“. Wenn mich jemand fragt, so erhofft er von mir eine sinnvolle Antwort, die ich ihm wiederum keinesfalls erteilen kann, ohne eine Proposition (Satzinhalt) ins Spiel zu 112
Ingardens Schriften, die die Sprachproblematik behandeln, werden generell in zwei Teile gegliedert: (1) Über die Sprachtheorien – es sind theoretische (auf andere Philosophen bezogene) Ausführungen, welche die Rolle der Sprache in Wissenschaft und Übersetzungsproblematik akzentuieren; (2) Über philosophische Grundlagen der Logik – im Zentrum steht das Problem des Urteilens (vgl. TJFPL). Uns interessiert in erster Linie Punkt 2. Vgl. Kant, I. (1958), A 25. 111
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534 bringen. Mit der Proposition ist hier ein Urteil gemeint, mit dem wir einen auf das Objekt bezogenen Sachverhalt bejahen oder bestreiten. Und umgekehrt, ein Sachverhalt ist das Korrelat des kategorischen Urteils (vgl. SEW II/1, 279f). Daher haben wir z.B.: 113
(1) Frage: Welche Farbe hat dein Auto? (2) Proposition/Urteil: Mein Auto ist silberreflex. (3) Gegenstand: Das silberreflexe Auto Diese drei Elemente (Frage, Proposition, Gegenstand) sind sowohl in der alltäglichen Kommunikation als auch im philosophischen Diskurs aufs engste miteinander verknüpft. Deswegen widmet ihnen auch Ingarden seine Aufmerksamkeit und differenziert zunächst zwischen existentialen Fragen (z.B. „Gibt es Gott?“) und essentialen Fragen. Uns interessieren hier nur die letzteren, weil sie im Mittelpunkt seiner ontologisch geprägten Analyse stehen. Sie werden in folgende drei Fragen aufgegliedert: „Was ist das?“, „Was ist X?“ und „Was ist das, das X?“ (vgl. TJFPL, 333f). Die Frage „Was ist das?“ wird dann gestellt, wenn wir z.B. auf einen uns völlig unbekannten individuellen Gegenstand stoßen. Dabei geht es jedoch weder um die Eigenschaften dieses Gegenstandes noch seinen Zustand noch seine Relationen zu anderen Gegenständen, sondern nur um seine Artzugehörigkeit. Wir fragen somit: „Was ist das?“ Für diese Frage ist nach Ingarden die konstitutive (bzw. individuelle) Natur entscheidend, also ein Moment, das einen Gegenstand A zum Gegenstand A macht. In dem Kontext formulieren wir die Antwort: „Das ist mein Auto“. Das Ziel der
Zum Begriff des Sachverhalts bei Ingarden vgl. 3§2b.b (Kap. IV). Die Ingardensche Position weist nun gewisse Tendenzen in Richtung von Frege auf, der die Unterscheidung zwischen dem Inhalt eines Aussagesatzes (Proposition) und der Behauptung als dem Akt akzentuiert, durch den der Inhalt als wahr hingestellt wird (vgl. Frege, G. [1976], 213f). Es ist nun eine Position, die sich von der von Russell unterscheidet, für den Propositionen – grob gesagt - als Sachverhalte und Tatsachen zu verstehen sind; also Propositionen sind keine Entitäten auf der Ebene der Intension (Sinn einer sprachlichen Äußerung), sondern der Extension (Bezug einer sprachlichen Äußerung). 113
535 Frage „Was ist das?“ liegt also im Bestimmungsurteil, bzw. in der bestimmenden Proposition. Bei der zweiten Frage dagegen, „Was ist X?“, handelt es sich um einen Gegenstand, der keinen individuellen Charakter hat. Das heißt, X stellt eine Variable dar. Wir können also fragen: „Was ist ein Quadrat? Was ist ein Auto? Was ist ein Pferd?“ Die Frage „Was ist X?“ hängt daher mit dem Ideenbereich zusammen (vgl. TJFPL, 344f). Denn es gibt in der Wirklichkeit kein Quadrat „an sich“, kein Auto „an sich“ sowie kein Pferd „an sich“, sondern vielmehr das Quadrat mit bestimmten Seitenlängen, das Auto einer bestimmten Marke und das Pferd einer bestimmten Rasse. Die Antwort auf die Frage „Was ist X?“ ist ferner eine notwendige Voraussetzung für die (dritte) Frage „Was ist das, das X?“ Da diese letztere Frage auch mit der Frage „Was ist das X als solches?“ gleichgesetzt werden kann, wird sie als Wesensurteil bzw. essentiale Proposition betrachtet. Deshalb ist die Folge, dass der Frage „Was ist X?“ gegenüber der Frage „Was ist das X als solches?“ ein „logischer“ Vorrang zukommt. Denn bevor wir die Frage „Was ist das X als solches?“ stellen, müssen wir vorher die Frage „Was ist X?“ beantwortet haben. Das heißt, wir müssen bereits wissen, was X sei. Um ein Beispiel zu nennen: Angenommen, dass ich die Frage „Was ist X?“ beantworte, indem ich sage: „X ist ein Auto!“ Diese Antwort ist mithin eine notwendige Bedingung der Fragestellung: „Was ist das X als solches?“ Anschließend kann ich erst die Frage formulieren: „Was ist das Auto als solches?“ Will ich auf die Frage „Was ist das Auto als solches?“ eine Antwort geben, so kann ich nach Ingarden behaupten: „Das Auto ist ein Fahrzeug“. „Das Auto ist ein Verkehrsmittel“ usw. (vgl. TJFPL, 376f, 351f). Mit anderen Worten: Wenn ich die Frage „Was ist das Auto als solches?“ beantworte, bekomme ich als Antwort eine (essentielle) Proposition, die die absoluten Momente der konstitutiven Natur jedes individuellen Autos zum Vorschein bringt. Demnach kann die Antwort auf die Frage „Was ist das Auto als solches“ etwa mit folgender 114
Zur Problematik der Ideen bei Ingarden vgl. 3§1 (Kap. II) der vorliegenden Abhandlung.
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536 Proposition ausgedrückt werden: „Das Auto ist ein Fahrzeug, das als Verkehrsmittel gebraucht werden kann“. Bei Beantwortung der Fragen sind wir auf Propositionen angewiesen, welche in Urteilen formuliert werden. Denn die Urteile stellen ein notwendiges Instrumentarium nicht nur für eine philosophische Reflexion dar, sondern auch für unseren alltäglichen Umgang mit Dingen der Welt. Wenn ich z.B. die Frage „Welche Farbe hat dein Auto?“ beantworten will, so fälle ich ein Urteil: „Mein Auto ist silberreflex“. Damit umfasse ich nach Ingarden die autonom existierende Wirklichkeit durch eine „spezielle Brille“. Die Urteile gleichen daher keinen fertigen unveränderbaren Gegenständen, die wir vorfinden und deren wir uns gelegentlich bedienen, sondern sie sind vielmehr gewisse Gebilde unserer Erkenntnistätigkeiten, die von uns bewusst durch ihren Aufbau und Gehalt einem bestimmten Ziel angepasst werden. Bei diesen Tätigkeiten handelt es sich mithin um satzbildende Operationen, welche sich entweder in einer einsamen Reflexion oder im Gespräch mit anderen vollziehen und in ihrer Mannigfaltigkeit in verschiedenen Lebenssituationen auftauchen, insbesondere in einer bestimmten Phase des Erkenntnisprozesses, der durch gewisse Dinge der Welt bzw. ein gewisses Geschehen provoziert wird. Als Erzeugnisse satzbildender Operationen stellen die Urteile sowohl das Ergebnis als auch die Kulmination des Erkenntnisprozesses dar, wobei diese Kulmination keinesfalls das letzte Element des Prozesses sein muss. Nach Ingarden erfüllen die Urteile grundsätzlich zwei Funktionen: eine prädikative Funktion, dank der ein auf Gegenstand bezogener Sachverhalt „entdeckt“ wird, und eine feststellende Funktion, durch die das Auftreten eines Sachverhalts in dem vom Urteilen unabhängigen Seienden „festgestellt“ wird. Die Urteile sind generell in einfache kategorische (1) 115
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Vgl. Falk, E.H. (1981), 20. Natürlich finden wir bei Ingarden auch eine differenziertere Aufteilung der Urteile (U) vor, die allerdings keinesfalls systematisch durchgeführt worden ist: (1) im Hinblick auf Qualität des U: bejahende und verneinende U; (2) im Hinblick auf Quantität des U: allgemeine U (z.B. „jede S ist p“) und besondere U (z.B. „einige S ist p“); (3) im Hinblick auf Modalität des U: apodiktische U (sie sagen etwas als absolut notwendig oder unmöglich aus), assertorische U (sie sagen „ist“ bzw. „ist nicht“ ohne
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537 und zusammengesetzte konditionale (2) Urteile aufzuteilen (vgl. TJFPL, 245, 222f): (1) „S ist p“ : Mein Auto ist silberreflex (2) „Wenn p, so q“: Wenn ich ein Auto habe, so ist mein Auto silberreflex Jedes Urteil besteht also aus einem Subjekt („mein Auto“), der Kopula („ist“) und einem Prädikat (bzw. Objekt) („silberreflex“). Diese Struktur kompliziert sich bei zusammengesetzten Urteilen. Während sich Ingarden durchgängig bemüht, das Urteil als eine Einheit von miteinander abgestimmten Funktionen aufzufassen, welche selber als ganze auch gewisse Funktionen erfüllt (vgl. LK, 110f), entgehen ihm – so ist meine These - manche aus Sicht der gegenwärtigen Debatte logisch relevante Probleme. Zum einen kommt bei unserem Autor die Analyse der Junktoren eindeutig zu kurz, also logischer Partikeln, welche Aussagen verbinden: „und“ (Konjunktion), „oder“ (Disjunktion), „wenn – dann“ (Implikation), „entweder – oder“ (Exklusion), „genau dann, wenn“ (Äquivalenz) usf. Zwar werden einige Junktoren im Zusammenhang mit Konditionalurteilen angesprochen, aber es handelt sich dabei um keine plausible Erörterung, die dem heutigen „logischen Bedürfnis“ standhalten könnte. Zum anderen wird die Funktion der Kopula „ist“ nur flüchtig bestimmt, so dass es nicht immer einleuchtet, wann wir es mit attributiven („X ist silberreflex“) oder sortalen („X ist ein Fahrzeug“), Konstitutions- („X ist reines Metal“), Identitäts- („X ist identisch mit Y“) oder Existenzaussagen („X existiert“) über Gegenstände zu tun haben. Die Urteile beziehen sich auf Gegenstände. Im Urteil „mein Auto ist silberreflex“ ist der Term „mein Auto“ als Gegenstand des Urteils zu betrachten. Wir können nach Ingarden den Gegenständen des Urteils zwei Merkmale zuschreiben: „objectum formale“ und „objectum materiale“. 117
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Bestimmung seiner Weise), problematische U (sie sprechen ein Seinkönnen oder auch die Möglichkeit des Nichtseins aus). Vgl. dazu Lowe, E.J. (1989), Kap. I. Zum Problem des Gegenstandes bei Ingarden aus ontologischer Sicht vgl. 3§2b (Kap. IV). 117 118
538 Ein Gegenstand des Urteils ist dann „objectum formale“, wenn sein Existenzmodus nur dem des Gehalts des Urteils entspricht, nicht aber der Wirklichkeit. Dem Gegenstand kommt dabei (nur) rein intentionale Referenz zu. Mit anderen Worten: Der im Urteil ausgedrückte Sachverhalt besitzt keine tatsächliche, sondern nur eine rein intentionale Existenz. Bezogen auf das obige Beispiel heißt das, dass „mein silberreflexes Auto nur im Urteil existiert“. Vorausgesetzt dass ich kein Auto habe, ist das Urteil „mein Auto ist silberreflex“ falsch. Sollte hingegen das Gegenteil der Fall sein, d.h. ins Spiel kommt die tatsächliche Existenz eines Sachverhalts, dann haben wir es mit dem Gegenstand des Urteils als „objectum materiale“ zu tun; der Gegenstand des Urteils referiert dabei objektiv und das Urteil ist wahr, weil es sich in diesem Fall verifizieren lässt. Die Momente des „objectum materiale“ müssen dabei keinesfalls mit denen des „objectum formale“ im „existentialen“ Widerspruch stehen. Beide können vielmehr nebeneinander existieren. Das Urteil „mein Auto ist silberreflex“ ist (deswegen) wahr, weil ich tatsächlich ein silberreflexes Auto habe. Obwohl jedes Urteil durch seinen feststellenden Charakter zum „objectum materiale“ neigt, weist uns bereits die alltägliche Erfahrung auf, dass nicht jedes Urteil ein „objectum materiale“ besitzt. Denn es gibt auch Urteile, welche mit keinen Tatsachen der Welt übereinstimmen (vgl. TJFPL, 329f). Durch diese Konstellation fühlen wir uns auch berechtigt, in unserer Analyse kritisch vorzugehen und das „logische Bild der Welt“ bei Ingarden mit anderen Positionen zu konfrontieren. Inwiefern steht es mit den gegenwärtigen Grundsätzen in Einklang? 119
J. Wolenski (vgl. [1994], 229f) unterscheidet bei Ingarden in dem Zusammenhang zwischen „rein intentionalen Sachverhalten“ als Korrelaten der Aussagesätze (=objectum formale) und „Propositionen“, welche objektive Sachverhalte referieren (=objectum materiale). Rein intentionale Sachverhalte können nach Wolenski auch als „Quasi-Propositionen“ bezeichnet werden; diese sind bekanntlich mit ontologischen und epistemologischen Problemen des literarischen Werkes verbunden (vgl. 5§5 [Kap. V]). Darum sind auch „Quasi-Propositionen“ in einem anderen (als logischen) Sinne „wahr“ und „falsch“. 119
539 §2. Sprachliche Implikationen mit dem Blick auf Quine: Ablehnung der Propositionen und Übersetzungsfrage Die Relevanz der ontologischen Betrachtungen Ingardens für die gegenwärtige Sprachforschung besteht vor allem im ‚Entwerfen der Konzeption der Sprache als intentionalen Gebildes’. Demzufolge wird die Sprache als eine auf etwas von ihr selbst Verschiedenes referierende und über sich selbst hinausweisende Einheit aufgefasst (vgl. LK, 112). Das hängt prinzipiell mit seiner Analyse des literarischen Werkes und dessen Schichten zusammen, wobei den Schichten der Wortlaute und der Bedeutungseinheiten eine besondere Rolle zukommt. Andere beachtliche Leistungen Ingardens, welche zwar das Intentionale unterbauen, stehen meist in einem anderen Zusammenhang. Das Ganze wollen wir in diesem und dem nachfolgenden Abschnitt beleuchten. Der Blick auf Quine soll uns dabei helfen, einerseits kritisch vorzugehen, andererseits die Ingardensche Position zu erhellen bzw. zu ergänzen, so dass sie sich in der gegenwärtigen Debatte bewähren kann. Da die Sprache einer sprachlichen Gesellschaft ihr Entstehen zu verdanken hat, weist sie nach Ingarden dauernd einen dynamischen Charakter auf. Sprachliche Aktivitäten sind epistemologischen Tätigkeiten untergeordnet und zielen auf die Herausbildung einer mit den grundlegenden Erkenntnispostulaten übereistimmenden Sprache ab. Während die Erkenntnisfunktion erschließend ist, besteht die Funktion der Sprache im Rekonstruieren, Darstellen, Ausdrücken und Mitteilen (vgl. TJFPL, 178). 120
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Wir entscheiden uns deswegen für Quine, weil bei ihm (wie bei Ingarden) sprachliche und ontologische Elemente eng miteinander verknüpft sind. Vgl. auch Ingarden, R. (1959), 65f und (1970), 20f. Nach A. Szczepanska (vgl. [1989], 232f) könnte die Ingardensche Theorie der rein intentionalen Gegenstände als Satzkorrelate zum Erhellen einiger sprachlicher Probleme beitragen, z.B. zu der von Chomsky vorgeschlagenen Unterscheidung zwischen zwei Sprachebenen: „der tiefen“ (TS) und „oberflächlichen Struktur des Satzes“ (OS). Während die TS abstrakt ist und die semantische Interpretation des Satzes bestimmt, bildet dagegen die OS dessen phonetische Interpretation und konzentriert sich auf die äußere Gestalt (vgl. Chomsky, N. [1995], 42). 120
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540 Insofern scheint unser Autor der gleichen Meinung wie Quine zu sein, für den die Sprache auch eine soziale „Kunstfertigkeit“ ist: „Die kontextuelle Erlernung dieser verschiedenen Partikel vollzieht sich, so dürfen wir annehmen, simultan, so dass sie einander schrittweise anpassen und sich ein kohärenter Gebrauch entwickelt, der dem Älteren gleichkommt. Dies ist ein Hauptschritt beim Erwerb des Begriffsschemas […] Denn wenn man diesen Schritt meistert, dann – und erst dann – kann man allgemein von Gegenständen als solchen reden.“ 122
Als Empirist und Kritiker des Empirismus argumentiert Quine jedoch zugleich für die physikalische gegen die phänomenale Sprache. Da die phänomenale Sprache gegenüber der physikalischen sekundär ist, lässt sich die physikalische Sprache nicht so in die phänomenale übersetzen, dass wir physikalische Objekte ausschließen könnten. Wir brauchen die phänomenale Sprache nicht zusätzlich zur physikalischen, auch nicht um die Annahme physikalischer Gegenstände zu rechtfertigen. Durch diese Position weicht also Quine von Ingarden deutlich ab, dessen Ontologie und Sprachtheorie phänomenologische Akzente tragen, und begibt sich in Richtung des Naturalismus. Demnach gibt es keinen genuinen Gegenstandsbereich der Philosophie und alle Fragen können generell naturalistisch (mit den Mitteln der Naturwissenschaften) beantwortet werden. Von diesem Standpunkt aus lässt sich genauer die kritische Stellung Quines gegenüber Propositionen verstehen, die bei Ingarden eine entscheidende Rolle spielen, weil sie auf objektive Sachverhalte referieren, während rein intentionale Sachverhalte als Korrelate der Aussagesätze zu betrachten sind und „Quasi-Propositionen“ genannt werden (können). Sowohl objektive als auch rein intentionale Sachverhalte stellen gewisse „extra-linguistische Entitäten“ im Ingardenschen System dar, weil sie weder zu den Elementen der Propositionen noch zu den der Aussagesätze selbst als deren Teile gehören. Folglich wird die ganze Ingardensche Charakteristik der Aussagesätze und der Propositionen als „essentiale 123
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Quine, W.V.O. (2003a), 26. Vgl. Quine, W.V.O. (1960), §§1, 48. Vgl. Quine, W.V.O. (1985), 94f.
541 Semantik“ bezeichnet (vgl. LK, 110f; auch Fußnote 124 [Kap. V]). Wenn Quine, der physikalisch orientiert ist, alle anderen Entitäten eliminieren will, also Intentionen, Propositionen, Dispositionen, geometrische Objekte, Tatsachen usf., dann können bei ihm auch die Elemente der „essentialen Semantik“ Ingardens keinesfalls verschont bleiben. Die Ingardenschen Propositionen und „Quasi-Propositionen“ müssten ebenso wegfallen. In seinem Werk „Word and Object“ weist Quine auf das Identitätsargument hin, das ihn zu diesem Schritt bewegt. Genauer gesagt handelt es sich um die Schwierigkeiten bei der Postulierung von Propositionen, welche sich aus der Forderung nach deren Identitätsbedinungen ergeben: „No entity without identity“. Im Hinblick auf die Propositionen heißt es darum, dass wir fragen, in welcher Beziehung Sätze zueinander stehen müssen, damit man von ihnen sagen kann, dass sie dieselben Propositionen ausdrücken. Mit der üblichen Antwort, dass die Sätze „synonym“ sein müssen, lässt sich Quine bekanntlich nicht zufrieden stellen. Denn er tritt gerade gegen den Begriff der Synoymie auf, indem er aufzuweisen versucht, dass es keine von Arbeitshypothesen unabhängigen Kriterien gibt, um von Sätzen sagen zu können, sie seien synonym. Für Quine gibt es daher keine wissenschaftlich zuverlässige Klärungsmethode, welche Aussagesätze synonym sind, und folglich auch nicht, welche Sätze dieselben Propositionen ausdrücken. Mit der Begrifflichkeit Quines lassen sich aber auch manche Probleme (bzw. Vorschläge) der Ingardenschen Sprachtheorie erhellen bzw. ergänzen. So fällt vor allen Dingen die von Quine oft erörterte Unterscheidung zwischen „analytischen“ und „synthetischen Sätzen“ auf. Während analytische Sätze allein aufgrund der Bedeutung der in ihnen enthaltenen Ausdrücke und unabhängig von den Tatsachen wahr sind (z.B. „kein Auto ist eine Kuh“), sind dagegen synthetische Sätze wahr oder falsch aufgrund der Tatsachen der Welt (z.B. „alle Autos sind silberreflex“). Für Ingarden heißt es deshalb, dass seine Termini 125
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Vgl. Quine, W.V.O. (1960), 200f. Für die Umgangssprache werden von Quine jedoch die Ausdrücke „Proposition“ u.a. zugelassen. Die Ablehnung gilt also nur in Bezug auf eine Wissenschaftstheorie. Vgl. dazu auch Runggaldier, E. (1990), 143f. Vgl. Quine, W.V.O. (1951), 29.
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542 „objectum formale“ und „objectum materiale“ (vgl. den vorangehenden Abschnitt) mit Quines Begriffen „analytische“ und „synthetische Sätze“ präzisiert werden können. Um ein Beispiel zu nennen: Wenn ich ein silberreflexes Auto tatsächlich habe, dann ist das Urteil „mein Auto ist silberreflex“ nicht nur wahr (weil es sich verifizieren lässt) und stellt mithin ein „objectum materiale“ dar, sondern es hat auch die Qualität eines synthetischen Satzes, weil es von der Tatsache „Ich habe ein silberreflexes Auto“ abhängt. Aber auch umgekehrt erweisen sich manche Gedanken Ingardens als förderlich beim Diskutieren der von Quine aufgerollten Fragen, z.B. seiner berühmten These von der „Unbestimmtheit der Übersetzung“. Quine nimmt nämlich folgende Situation an: Ein Sprachforscher befindet sich vor der Aufgabe, die bisher völlig unbekannte Sprache eines Eingeborenenstammes in seine eigene Sprache zu übersetzen. Beide Sprachen weisen keinerlei Ähnlichkeiten auf. Die einzigen Daten, von denen der Sprachforscher ausgehen kann, sind die Reize, die auf ihn und auf die Eingeborenen einwirken, und die durch sie bei den Eingeborenen hervorgerufenen verbalen Reaktionen. Der Sprachforscher begibt sich darum in eine Lage, in der er denselben Reizen wie ein Eingeborener ausgesetzt ist, und beobachtet dessen sprachliche Aussagen. Während ein Hase im Blickfeld des Eingeborenen erscheint, sagt dieser „Gavagai“. Dies wird vom Sprachforscher aufgeschrieben. Eine weitere Klärung verlangt vom Linguisten die Überprüfung anderer Fälle. Deshalb untersucht er, welches verbale Verhalten des Eingeborenen als Bejahung und welches als Verneinung zu verstehen ist, und stellt dem Eingeborenen in verschiedenen Reizsituationen die Frage „Gavagai?“ Der Sprachforscher stellt fest, dass der Eingeborene in denselben Reizsituationen mit Ja antwortet, in denen er selbst die Frage „Hase?“ bejahen würde. Das besagt, dass „Gavagai“ und „Hase“ dieselbe Reizbedeutung haben. Die Frage ist jedoch: Kann der Sprachforscher aus der Reizsynonymität der Sätze „Gavagai“ und „Hase“ auf die Bedeutungsidentität der Terme „Gavagai“ und „Hase“ schließen? Nach Quine, der gegen den Begriff „Synonymität“ erhebliche Bedenken äußert, wie oben angedeutet, können die Sätze „Gavagai“ und „Hase“ nicht sicherstellen, dass die Terme „Gavagai“ und „Hase“ dieselbe Extention und dieselbe Intension haben. Denn der Term „Gavagai“ kann auf Hasen oder auf nicht abgetrennte Hasenteile oder auf Hasenphasen
543 (zeitliche Hasenquerschnitte) referieren. Auch durch Zeigen lässt sich nach Quine diese Schwierigkeit nicht auflösen, weil jede Geste sowohl den ganzen Hasen als auch die unabgetrennten Hasenteile umfassen würde. Damit das Zeigen eine Lösung bringen kann, muss es notwendig durch Fragen wie „Ist das derselbe Term ‚Gavagai’ wie jener?“ usf. ergänzt werden. Solche Fragen setzen aber den Individuationsapparat der Sprache (Artikel, Prononima, Kopula Singular, Plural) voraus. Um diesen Apparat aus seiner Sprache in die des Eingeborenen zu übersetzen, entwickelt der Sprachforscher ferner ein System von „analytischen Hypothesen“, d.h. jeweiligen Gleichsetzungen eines Ausdrucks der Eingeborenensprache mit einem Ausdruck seiner Muttersprache. Obwohl die analytischen Hypothesen über die aufgrund der behavioralen Kriterien gesicherten Übersetzungen hinausgehen, sind sie mit diesen jedoch vereinbar. So stellt der Linguist folgende Hypothesen (H) auf: H (1) - Ausdruck „X“ der Eingeborenensprache wird mit „sind dieselben“ übersetzt; und H (2) – Ausdruck „X“ wird mit „sind Teile desselben Tieres“ übersetzt. Während also der Sprachforscher aufgrund der H (1) zu dem Ergebnis kommt, dass die Terme „Gavagai“ und „Hase“ gleichbedeutend sind, lautet das anhand der H (2) formulierte Resultat, dass der Term „Gavagai“ dem „die unabgetrennten Hasenteile“ gleicht. Mit dem „Gavagai“- Beispiel stellt sich also Quine gegen Carnap und zeigt, dass es undenkbar ist, Bedeutung durch Übersetzung erklären zu wollen, weil eine empirisch gestützte Wahl zwischen verschiedenen Übersetzungsalternativen unmöglich ist. Damit findet Quine bei Ingarden einen Verbündeten, wenn dieser in seinem Aufsatz mit voller Entschiedenheit behauptet, dass eine Übersetzung kein einfacher Austausch der verbalen Äußerungen zwischen einer Originalsprache (=der Sprache des Eingeborenen) und Übersetzungssprache (=der Muttersprache des Linguisten) sei (vgl. TJFPL, 132). Nach Ingarden müssen nun viele 127
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Vgl. Quine, W.V.O. (1960), §7. Vgl. dazu auch Coreth, E. u.a. (1993), 205f. Mit dieser These Quines hängen offenbar zwei andere Probleme zusammen, nämlich „Unerforschlichkeit der Referenz“ (die behavioralen Kriterien reichen nicht aus, um die Referenz eines Ausdrucks zu bestimmen) und „ontologische Referenz“ (die Frage, worauf ein Ausdruck referiert, hat nur in Relation zu einer Rahmensprache Sinn). Vgl. Carnap, R. (1972), 294f. 127
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544 Elemente in Betracht gezogen werden. In erster Linie könnte eine Differenzierung zwischen vier Schichten der Sprache vorteilhaft sein: (a) Wortlaute; (b) niedere und höhere Bedeutungseinheiten; (c) dargestellte Gegenstände und (d) schematisierte Ansichten (vgl. TJFPL, 120). Mit dieser Differenzierung geht unser Autor über Quine hinaus, der sich grundsätzlich auf die Schichten (a) und (b) beschränkt. Die Mängel dieser Einschränkung Quines bestehen zumindest darin, dass es nicht sicher ist, ob der Sprachforscher einwandfrei erkennen kann, was für ein Tier vor dem Eingeborenen erscheint: Ist das ein Hase, ein Kaninchen oder ein anderes diesen beiden nur ähnliches Tier? Dadurch, dass der Linguist die Artzugehörigkeit des erscheinenden Tieres nicht mit voller Gewissheit einschätzen kann, lässt sich der Spielraum möglicher Hypothesen keineswegs reduzieren. Zwar referiert der Ausdruck „Gavagai“ auf das erscheinende Tier (und nicht etwa auf eine Pflanze), jedoch bleibt die Bestimmtheit dieses Tieres in der Muttersprache des Linguisten fraglich, weil die Bildung der Bedeutungen der Ausdrücke erst als eine sekundäre Funktion des Erkennens der Gegenstände zu betrachten ist. Ein anderes Problem bei einer Übersetzung ist nach Ingarden das Vorhandensein von unterschiedlichen Bedeutungseinheiten in verschiedenen Sprachen. Wenn ein Hase vorbei läuft und der Eingeborenene sagt: „Gavagai“, dann kann der Sprachforscher den Ausdruck „Gavagai“ in mannigfaltigen Kombinationen übersetzen: „Hase“, „da ist ein Hase“, „ein Hase läuft vorbei“, „schau, ein Hase“ usw. Während wir es also in der Sprache des Eingeborenen nur mit dem Term „Gavagai“ zu tun haben, wären dagegen in der Muttersprache des Linguisten durchaus unterschiedliche syntaktische Beziehungen denkbar. Auch die Mehrdeutigkeit der Wörter 129
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Zum Problem der Schichten im literarischen Werke vgl. 5§1b.b (Kap. V). Dabei ist zu bemerken, dass wir es bei Ingarden mit einem (aus vielerlei Hinsicht) anderen Fall als bei Quine zu tun haben. Ingarden hat vor allen Dingen geschriebene Werke im Auge, wenn er seine Analysen der Schichten durchführt, also wissenschaftliche und literarische Werke. Während bei den wissenschaftlichen Werken der Schicht der Bedeutungseinheiten eine besondere Rolle zukommt, dominieren in den literarischen Werken dagegen die Schicht der dargestellten Gegenstände und die der Wortlaute (vgl. TJFPL, 121f). Diesem Problem werden wir im nächsten Abschnitt ausführlicher nachgehen.
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ist für eine Übersetzung relevant. Nehmen wir etwa an, dass die Terme „Gavagai“ und „Hase“, die zwei verschiedenen Sprachen angehören, mehrdeutig sind. Sie haben außer der gemeinsamen Bedeutung X (=„ein kleines Tier“) zugleich andere Bedeutungen, welche nicht mehr miteinander übereinstimmen. So haben wir z.B.: „Gavagai“ hat die Bedeutung „X, a,b,c“, „Hase“ dagegen „X, d,e,f“. Demnach ist es nicht möglich, eine treue Übersetzung hervorzubringen, denn im Falle „Gavagai“ hieße es: „ein kleines Tier, mit roter Hautfarbe, kleinem Maul, ohne Schwanz“, dagegen im Falle „Hase“: „ein kleines Tier, mit grauer Hautfarbe, großem Maul, langem Schwanz“. Der Sprachforscher aus dem Beispiel Quines müsste nach Ingarden zudem unbedingt auf den richtigen Gebrauch der Zeiten und syntaktischen Formen achten. In seiner Übersetzung kann er also etwa nicht „da war ein Hase“ sagen, wenn er gerade einen Hasen vorbeilaufen sieht; richtig wäre es: „da ist ein Hase“. Desgleichen darf er nicht die Reihe der Buchstaben des Wortes „Hase“ beliebig ändern, indem er z.B. „Esah“ sagt, will er eine treue Übersetzung des Terms „Gavagai“ abliefern, welche von einem deutschsprachigen Leser korrekt verstanden werden soll (vgl. TJFPL, 147f). Im ganzen Übersetzungsprozess muss der Linguist schließlich dem ‚Prinzip der Übersetzungstreue vor dem der Buchstäblichkeit den Vorrang’ lassen. Deshalb muss er vor allem dafür sorgen, dass die Bedeutung (bzw. der Sinn) des Terms „Gavagai“ in seiner Muttersprache gesichert ist (vgl. TJFPL, 159). Das soll unter anderem im nächsten Abschnitt genauer untersucht werden. §3. Linguistische Phänomenologie: Widersprüchlichkeit des empiristischen Sinnkriteriums. Sprache als Träger der Bedeutung Wenn jemand heute den Begriff „Kopernikus“ ins Spiel lässt, erweckt er meist damit bei den anderen Menschen gewisse Gedankenverknüpfungen, welche durch etwas Neues, Entdeckerisches, Bahnbrechendes usf. gekennzeichnet sind. In der gegenwärtigen philosophischen Debatte spricht man z.B. in dem Sinne von der „kopernikanischen Wende“ Kants, die Kant
546 bekanntlich mit seiner „Kritik der reinen Vernunft“ herbeiführte. Daran haben sich wohl die meisten Philosophieforscher längst gewöhnt. Dagegen dürfte es aber manchen Gelehrten erstaunlich vorkommen, wenn L. Gumpel den Term „Copernicus of Semantics“ in Bezug auf Ingarden gebraucht. Im Folgenden wollen wir zu erforschen versuchen, inwiefern sich diese Behauptung von Gumpel aufrechterhalten lässt. Der erste Schritt unserer Analyse läuft auf die Erhellung der These über die „Widersprüchlichkeit des empiristischen Sinnkriteriums“ hinaus. Diese These hat Ingarden als erster aufgestellt. Es geschah im Zusammenhang mit dem 8. internationalen Kongress für Philosophie in Prag (vom 2. bis 7. September 1934). Da hat unser Autor einen Vortrag unter dem Titel „Der logistische Versuch einer Neugestaltung der Philosophie“ gehalten, in dem er gegen die Ansicht auftritt: „Der Sinn des Satzes ist seine Verifizierbarkeit“ (vgl. ELK, 24). Dadurch will Ingarden die neopositivistische Auffassung des Sinnes in Frage stellen, die (ausschließlich) der physikalistischen Theorie der Sprache entspringt. Wir können die Ingardensche These also folgendermaßen formulieren: „Der Sinn einer Aussage besteht in den Bedingungen, die diese Aussage wahr machen“. Und diese These referiert auf das Problem des empiristischen Sinnkriteriums. Es handelt sich darum, dass die starke Formulierung dieses Kriteriums gewichtige Auswirkungen nicht nur für eine ganze Reihe von Sätzen aus den empirischen Wissenschaften hat, sondern auch für Aussagen über die Zukunft wie auch für sogenannte „Allsätze“. All diese Sätze müssten sich als sinnlos erweisen, blieben sie am empiristischen 131
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Es geht in dieser „kopernikanischen Wende“ um den Übergang zur transzendentalen Reflexion: „Ich nenne alle Erkenntnis transzendental, die sich nicht sowohl mit Gegenständen, sondern mit unserer Erkenntnisart von Gegenständen, insofern diese a priori möglich sein soll, überhaupt beschäftigt“ (KrV, B 25). Vgl. Gumpel, L. (1994), 21. Eine solch eindeutige Behauptung ergibt sich m.E. schon aus Ingardens eigenen Bemerkungen: (1) Hinweis im Werk „Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks“ (vgl. ELK, 24) und (2) Bericht über den Besuch bei Husserl (vgl. Ingarden, R. [1968a], 179f). Manche Autoren gehen auch etwas vorsichtiger vor, z.B. Th. Blume u.a. (vgl. [1998], 85, 262); sie stützen ihre These auf K. Grelling (vgl. [1934], 314). Vgl. Ingarden, R. (1968a), 180. 131
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547 Sinnkriterium hängen. Um ein Beispiel zu nennen: Der Satz „Alle Schwäne sind weiß“ könnte eines Tages durch die Entdeckung eines schwarzen Schwans falsifiziert werden. Darüber hinaus lässt sich hier ‚das Problem der Selbstanwendung’ keinesfalls vermeiden. Der Satz „Eine Aussage ist nur dann sinnvoll, wenn sie sich empirisch überprüfen lässt“ ist weder ein analytischer Satz, noch kann er selbst empirisch überprüft werden. Denn er stellt ein Kriterium für die Beurteilung von Aussagen auf, welches er selbst nicht zu erfüllen imstande ist. Ingardens These über die „Widersprüchlichkeit des empiristischen Sinnkriteriums“ entspringt seinen semantischen Analysen, deren grundlegende Strukturen bereits einige Jahre vor dem Prager Kongress (1934) entworfen worden sind und nicht zuletzt mit dem Problem des literarischen Werkes zusammenhängen. Daher ist unser Autor auf semantische Untersuchungen auch deshalb angewiesen, weil deren Behandlung zur Lösung eines breiter angelegten Problems beitragen soll. Der zentrale Gedanke der Ingardenschen Semantik, also derjenigen Form der Beschäftigung mit der Sprache, bei der diese Sprache allein unter dem Aspekt der Bedeutung ihrer Ausdrücke thematisiert wird, ist die Behauptung, dass die „Sprache der Träger der Bedeutung sei.“ Versuchen wir das aus semantischer Sicht näher zu erläutern. In der ganzen Struktur der Sprache unterscheidet Ingarden zwischen drei grundlegenden Elementen: Wort, Satz und Satzzusammenhang. Das einfachste Gebilde der Sprache bildet das einzelne Wort, das aus dem 135
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Vgl. Blume, Th. u.a. (1998), 262, 85f. Dieses Problem lässt sich ausräumen, indem man das Sinnkriterium nicht als Behauptung versteht, mit dem ein Urteil über den Sinn von Aussagen gefällt wird, sondern es in einem schwächeren Sinne als Vorschlag zum terminologischen Gebrauch des Wortes „sinnvoll“ begreift. Hier sind vor allem die Schriften „Essentiale Fragen“ (1925) und „Das literarische Kunstwerk“ (1931) gemeint. Mit den Begriffen der Semantik und der Bedeutung ist offenbar der Begriff des Sinnes eng verbunden. Sinn steht also innerhalb der Semantik für ‚das von einem Zeichen Ausgedrückte’, d.h. für seine Bedeutung (oder Intension) – im Unterschied zu der Eigenschaft oder dem Gegenstand, den ein Zeichen bezeichnet (vgl. Blume, Th. u.a. [1998], 276). Mit den Worten Ingardens heißt das, dass ‚jede Wortbedeutung eine Sinneinheit ist’ (vgl. LK, 105). In unserer Analyse wollen wir uns hauptsächlich auf das Wort konzentrieren.
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548 Wortlaut (Wortleib) und der Bedeutung besteht. Wollen wir das Verhältnis zwischen beiden bestimmen, so heißt es: „Der Wortlaut (als Element der Sprache) trägt Bedeutung“ (vgl. LK, 31f). Darum wird der Wortlaut als „Ausdruck“ von etwas von ihm selbst Verschiedenem aufgefasst, folglich als „Ausdruck“ von Sinn, d.h. von Bedeutung des Wortes, die sich auf etwas (einen Gegenstand) bezieht. Eine weitere Folge dieser Konstellation ist, dass zwischen Wortlaut und Bedeutung eine Einheit vorhanden ist, welche dazu führt, dass nicht zuerst der Wortlaut und erst dann der Sinn des Wortes erfasst werden, sondern dass man beide gleichzeitig erfasst (vgl. ELK, 20f). Die Wortbedeutung ist daher für Ingarden einerseits etwas Objektives, das (falls das Wort eindeutig ist) bei allen Verwendungen des Wortes in seinem Kern identisch und somit Denkerlebnissen gegenüber transzendent bleibt. Andererseits ist sie aber ein intentionales Gebilde entsprechend gebauter Denkerlebnisse, indem sie entweder in einem Denkakt schöpferisch gestaltet, oder nur in Denkakten aufs Neue nachgebildet wird, wenn diese Gestaltung bereits vollzogen wurde (vgl. ELK, 25). Die Struktur der Bedeutung des einzelnen Wortes ist nach unserem Autor auf drei für den Aufbau des Satzes grundlegenden Ebenen zu betrachten: nominale Wörter (z.B. „Tisch“, „Röte“, „schwarz“), Funktions-Wörter (z.B. „und“, „oder“, „dieser“, „hier“ usw.) und verbale Wörter (z.B. „schreibt“, „steht“, „geht“ usw.). Sie beinhaltet folgende Elemente: 139
Die Struktur der BEDEUTUNG nach Ingarden ↓ (1) Intentionaler Richtungsfaktor (2) Materialer Inhalt (3) Formaler Inhalt (4) Moment existentialer Charakterisierung (5) Moment existentialer Position und eventuell
+ (6) Syntaktisches Element
Natürlich ist hier die Voraussetzung, dass dem Erfassenden die Bedeutung des Wortes bekannt ist. Es ist also ein einfacher Fall. 139
549 Das Element (1) stellt den intentionalen Richtungsfaktor dar, welcher in jeder nominalen Wortbedeutung enthalten ist; er tritt sowohl bei den Hauptwörtern wie bei den Adjektiven auf, er fehlt dagegen fast bei allen rein funktionalen Wörtern. Als Element (1) wird nun dasjenige Moment der Wortbedeutung bezeichnet, in welchem sich das Wort gerade auf diesen und auf keinen anderen Gegenstand bezieht. (1) kann einerseits „einstrahlig“ (z.B. im Wort „ein Tisch“) oder „unbestimmt mehrstrahlig“ (z.B. im Wort „Menschen“) oder „bestimmt mehrstrahlig“ (z.B. im Ausdruck „meine drei Söhne“) sein. Andererseits kann (1) „konstant und aktuell“ (z.B. in den Worten „der Mittelpunkt der Erde“, „die Hauptstadt Deutschlands“) oder „variabel und potentiell“ (z.B. im Wort „ein Tisch“ – das auf verschiedene individuelle Gegenstände angewandt werden kann) sein. Das zweite Element in der Struktur der nominalen Wortbedeutung wird von Ingarden als „materialer Inhalt“ (2) bezeichnet. (2) bestimmt die qualitative Beschaffenheit eines Gegenstandes. Das heißt, (2) weist einem intentionalen Gegenstand bestimmte materiale Merkmale zu, welche klar machen, „was für ein Gegenstand“ und wie beschaffen er ist, und „schafft“ ihn dadurch – in der Verknüpfung mit dem formalen Inhalt der nominalen Bedeutung. Da es zum Wesen eines jeden wirklichen idealen oder bloß intentionalen Gegenstandes gehört, nicht nur eine bestimmte Mannigfaltigkeit von qualitativen Soseinsbestimmtheiten zu haben, sondern auch eine charakteristische formale Struktur aufzuweisen, ist nach unserem Autor der formale Inhalt (3) notwendig. (3) bestimmt einen Gegenstand in seiner Form, d.h. wir können dadurch erfahren, ob dieser Gegenstand ein Ding, ein Prozess oder ein Ereignis ist (z.B. ein Baum, eine Bewegung oder ein Schlag). In der nominalen Wortbedeutung tritt ferner das Moment der existentialen Charakterisierung (4) auf. Demnach ist etwa die betreffende Stadt in der Bedeutung des Ausdrucks „Hauptstadt Deutschlands“ nicht nur als „Stadt“ gemeint, sondern auch als etwas, was seinem Seinsmodus nach „real“ ist. (4) darf jedoch nicht mit dem Moment der existentialen Position (5) verwechselt werden. So meint z.B. der Name „Hamlet“ (im Sinne der Gestalt des Shakespeareschen Dramas) einen Gegenstand, der nie realiter existierte bzw. existieren wird (d.h. ihm kommt keine reale Position zu), während dem Ausdruck „Hauptstadt Deutschlands“ (in seiner Bedeutung) neben dem existentialen
550 Charakterisierungsmoment auch eine realexistentiale Position zukommt (d.h. die Hauptstadt Deutschlands existiert tatsächlich) (vgl. LK, 62f). In der Struktur der Wortbedeutung kommt schließlich das syntaktische Element (6) vor. Dieses Element tritt allerdings nur dann auf, wenn ein Name als Glied einer höheren Bedeutungseinheit (insbesondere des Satzes) gilt. Erklären wir das anhand folgender Beispiele: 140
(A) die Wortmannigfaltigkeit: „Jeder.Körper.Ist.Schwer.“ und (B) der Satz: „Jeder Körper ist schwer.“ Das Eingehen der Wortbedeutungen in das Satzganze zieht nach Ingarden eine „strukturelle Verwandlung“ nach sich. Während in (A) jede Wortbedeutung ein in sich abgeschlossenes Ganzes bildet, wird diese Abgeschlossenheit in (B) durchbrochen. Obwohl das einzelne Wort in der Struktur des Satzes nicht aufhört, das zu sein, was es ist, hat es sich in seiner Struktur verwandelt. Die eine Wortbedeutung vereinigt sich mit anderen Wortbedeutungen zu einer Sinneinheit, in welcher sie nicht vollkommen aufgehen, sondern nur ihre gegenseitige starre Abgrenzung verlieren. Und erst diese ihre Vereinigung ermöglicht es, so etwas wie einen „Satz“ zu konstruieren (vgl. LK, 94f). Der Satz baut sich also auf Dazu vgl. auch Falk, E.H. (1981), 40f. Die Funktions- und verbalen Wörter werden offenbar – hinsichtlich ihrer Bedeutungsstruktur - auch durch die Elemente (1 bis 5) charakterisiert. Im Vergleich zu den nominalen Wörtern ist es allerdings eine „schwächere“ Charakterisierung, weil: (1) ein Unterschied im Hinblick auf den formalen Inhalt vorliegt: Während z.B. die nominalen Wörter unter der wesentlichen Mitwirkung des formalen Inhalts einen intentionalen Gegenstand bestimmen und erst an diesem schon konstituierten Gegenstand verschiedene Funktionen ausüben, vermögen dagegen Funktions-Wörter keinen Gegenstand von sich aus intentional zu entwerfen. Sie üben nur verschiedene rein formal oder auch material bestimmende Funktionen betreffs der Gegenständlichkeiten aus, die von anderen (vor allem nominalen) Wortbedeutungen entworfen werden; (2) ein Unterschied im Hinblick auf den intentionalen Richtungsfaktor vorliegt: Während ein intentionaler Richtungsfaktor in der nominalen Wortbedeutung enthalten ist, fehlt er dagegen in der verbalen Wortbedeutung (z.B. im Verb „schreibt“ [d.h. wir wissen nicht,worauf sich dieses Wort bezieht]) (vgl. LK, 75f). 140
551 einer Mehrheit von Wortbedeutungen auf, welche in ihn als seine Bestandteile eingehen. Trotzdem ist der Satz für Ingarden keine einfache Summe oder Menge von Wortbedeutungen, sondern eine ihnen gegenüber durchaus neue Gegenständlichkeit mit eigenen Eigenschaften (vgl. LK, 111f). Kehren wir jetzt zu unserer Frage zurück, ob bzw. inwiefern man Ingarden als „Copernicus of Semantics“ bezeichnen kann. Unsere Analyse macht deutlich, dass sich Ingarden tatsächlich mit sprachlichen und (insbesondere) semantischen Problemen befasst und zweifelsohne manche interessante Anregungen liefert, wie etwa die Relevanz des Problems der Widersprüchlichkeit des empiristischen Sinnkriteriums, die Strukturierung des Bedeutungsbegriffs oder den Entwurf des Referenzbegriffes. All diese Anstöße unseres Autors erscheinen jedoch erst dann, nachdem bereits das „Fundament“ für die Sprachphilosophie mitsamt der semantischen Problematik gelegt worden ist. Man könnte hier z.B. auf Frege oder Russell hinweisen, auf die Ingarden selbst gelegentlich anspielt, und die sich mit der Sprachproblematik viel früher als unser Autor beschäftigt haben. Dabei haben sie wichtigste semantische Probleme aufgegriffen, die für die Philosophie jener Zeit als etwas Neues („Kopernikanisches“) galten. So führt Frege bereits in seiner „Begriffsschrift“ eine Analyse des Urteils durch, analysiert die Negation und verschiedene Ausdrücke, die für die Verbindung von Urteilen zuständig sind, wie „und“ oder „oder“ (was notabene bei Ingarden zu kurz kommt), übt Kritik am Psychologismus usf. Zudem erfasst er Bedeutungen als etwas ‚Objektives’, plädiert für die Ansicht, dass Sätze Gedanken ausdrücken, und führt vor allem die Unterscheidung zwischen Sinn und Bedeutung ein. Während also dasjenige, wofür ein Zeichen bzw. ein Name steht, die ‚Bedeutung dieses Names ist (d.h. die Bedeutung des Namens ist der Gegenstand, den er bezeichnet), stellt hingegen dasjenige, was die Art des Gegebenseins des 141
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Den Begriff der Referenz könnte man bei Ingarden als „repräsentierenden Begriff“ bezeichnen; d.h. dieser Begriff nimmt an, dass die Wortbedeutungen nur für die Entitäten der Welt (bzw. nur mit diesen) existieren. Im Hintergrund dieses Begriffes steht also ganz deutlich einer der wichtigsten Begriffe der Ingardenschen Ontologie „Heteronomie“ (vgl. Gumpel, L. [1994], 25f). Vgl. Frege, G. (1964). 141
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552 Gegenstandes betrifft, den Sinn eines Namens dar (d.h. der Sinn ist die Art, wie der Gegenstand gegeben ist). Dabei zeigt sich, dass es viele Ausdrücke gibt, die trotz verschiedenen Sinnes die gleiche Bedeutung haben, oder viele Eigennamen, die nur einen Sinn, aber keine Bedeutung haben. Aus Sicht dieser Leistungen von Frege verliert m.E. die These „Copernicus of Semantics“ in Bezug auf Ingarden ihre Existenzgrundlage. Das besagt aber keineswegs, dass Ingardens Analysen auf diesem Gebiet bedeutungslos sind. Mit seinem begrifflichen Instrumentarium, das phänomenologisch und ontologisch geprägt ist, trägt unser Autor vielmehr mit dazu bei, dass wir heute die von Frege und anderen Denkern diskutierte Sprachproblematik besser verstehen können. Nennen wir ein Beispiel: Wenn etwa Frege von Eigennamen spricht, die nur einen Sinn, aber keine Bedeutung haben, dann meint er dasselbe, was Ingarden mit den Begriffen „Moment der existentialen Charakterisierung“ und „Moment der existentialen Position“ sagen will (vgl. die Struktur der Bedeutung oben). Hat z.B. der Name „Odysseus“ für Frege keine Bedeutung (sowie keinen Bezug), sondern nur einen Sinn, so kommt ihm dagegen bei Ingarden kein Moment der existentialen Position zu, sondern nur das Moment der existentialen Charakterisierung. Mit den Ingardenschen Begriffen könnte man darüber hinaus ein neues Licht auf die Diskussion über das Referenzproblem werfen. Bezogen auf das berühmte Beispiel von Frege: „Der Morgenstern ist der Abendstern“ (beide Namen bezeichen den Planeten „Venus“, haben den gleichen Bezug und verschiedenen Sinn) heißt das, dass diese drei Ausdrücke (Morgenstern, Abendstern, Venus) durchaus verschiedene Referenzen tragen können. Die Voraussetzung dafür ist, dass man die Ingardensche Differenzierung zwischen „materialem“ und „formalem Inhalt“ vollzieht, von denen der „intentionale Richtungsfaktor“ essentiell abhängt. Da die Ingardensche Analyse der Sprache unter dem evidenten Einfluss seiner Phänomenologie und Ontologie steht und deshalb keinen rein sprachlogischen Status aufweist (so wie dies z.B. bei Frege der Fall ist), könnte man sie – so ist meine These - durchaus als „linguistische 143
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Vgl. Frege, G. (1987), 23f; auch ders. (1986), 40f. Vgl. Gumpel, L. (1994), 46.
553 Phänomenologie“ bezeichnen, die etwa auch von J.L. Austin vertreten wird. Es gibt zwei wesentliche Punkte, in denen sich Ingarden und Austin treffen: Empirismuskritik und Realitätsbezug in der Sprachanalyse. Die Empirismuskritik taucht bei Ingarden bereits – was wir oben gesehen haben – in seiner These über die „Widersprüchlichkeit des empiristischen Sinnkriteriums“ auf. Sie wird auch in seinem Aufsatz „Kritische Bemerkungen über die Ansichten der Phonologen“ deutlich (vgl. TJFPL, 19). Austin dagegen wirft den Sprachphilosophen empirischer Provenienz vor, alle Äußerungen so aufgefasst zu haben, als wären es Aussagen, mit Hilfe derer wir Grundsätze aufstellen, die sich verifizieren lassen. Anders als die logischen Empiristen ist er der Meinung, dass unsere alltägliche Sprache selbst uns bereits die notwendigen Mittel und Begriffe liefert, so dass wir eine Sprachuntersuchung durchführen können. Viel bedeutsamer ist für unsere Abhandlung der Realitätsbezug in der Sprachanalyse. Demnach ließe sich hinsichtlich beider Denker ohne weiteres behaupten, dass es bei der Analyse der Sprache niemals um die Sprache allein geht, sondern ebenso um die Realität, die wir mit der Sprache erfassen. Angesichts der Tatsache, dass sich Ingarden wesentlich früher als Austin mit der Problematik auseinandergesetzt hat, die heute mit „linguistischer Phänomenologie“ in Verbindung gebracht wird, könnte man ihn einerseits wohl mit Recht als „Wegbereiter der linguistischen Phänomenologie“ bzw. als „Copernicus of linguistic phenomenology“ bezeichnen. Andererseits ist unserem Autor ebenso zu verdanken, dass sprachliche und insbesondere semantische Forschungen auf das Gebiet der Literatur (Wissenschaft) übertragen worden sind. Das ist sein elementarster Beitrag zur Entfaltung der Semantik. 145
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Vgl. Austin, J.L. (1970), 181f. Für seine Kritik am Empirismus ist folgende Unterscheidung der Aussagen relevant: (1) konstantive Äußerungen – stellen Behauptungen auf, in denen es um Wahrheit oder Falschheit geht; und (2) performative Äußerungen – stellen Behauptungen auf, welche andere Zwecke verfolgen, z.B. „Ich taufe dieses Schiff auf den Namen ‚Queen Elisabeth’“. Mit dem Äußern dieser Sätze vollzieht sich also eine bestimmte Art Handlung (vgl. ders. [1979], 27f). Vgl. Gumpel, L. (1994), 38.
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554 7. Zusammenfassung Als Gegenstand der Untersuchung im Kapitel V galt nur der intentionale Seinsbereich der Ontologie Ingardens, zu der ebenfalls ideale und reale Elemente gehören (vgl. Kap. IV). Der intentionale Seinsbereich hängt bei Ingarden mit der Ästhetik und der philosophischen Kunsttheorie zusammen, wobei sich die letztere in drei Gebiete aufteilen lässt: Ontologie der Kunst, ästhetische Erfahrung und wertende Kritik. Das wurde im ersten Teil des V. Kapitels analysiert. Der erste Schritt dieser Analyse bestand in der Klärung der Begriffe „Ästhetik“ und „Kunst“, die für Ingardens Ontologie von prinzipieller Bedeutung sind. So zeigte sich, dass man bei unserem Autor zwischen den Begriffen „Ästhetik im weiteren Sinne“ (ÄwS) und „Ästhetik im engeren Sinne“ (ÄeS) unterscheiden kann. Während die ÄwS für Ingarden nichts anderes als „Phänomenologie der sinnlichen Wahrnehmung“ ist, stellt die ÄeS dagegen bereits eine strenge philosophische Disziplin dar, deren Aufgabe in der Erläuterung der Grundbegriffe und in der Einsicht in prinzipielle Seinszusammenhänge und Relationen zwischen Erlebnissen, Kunstwerken und Werten besteht (vgl. SFPh, 116f; SÄ III, 9f). Da Ingarden keine deutliche Definition der Kunst liefert, sondern nur indirekt in einer dreidimensionalen Abstufung „Kunst – Kunstwerk - Literarisches Kunstwerk“ über die Kunst spricht, war es notwendig, einen anderen Zugang zu diesem Begriff zu gewinnen. Die Entscheidung fiel auf Kant, für den die Kunst das ist, was durch freie Handlungen hervorgebracht wird. Damit konnten wir zu der Auffassung des Kunstwerks bei Ingarden gelangen: „Kunstwerk ist ein Inbegriff derjenigen Elemente und Eigenschaften des physischen Gegenstandes, die für seine ästhetische Erfahrung relevant sind“ (vgl. UOK, 3f). Da die ästhetischen Analysen bei Ingarden einen starken ontologischen Hintergrund aufweisen, wurde die Frage nach der Existenz der Kunstwerke gestellt. So stellte sich heraus, dass Kunstwerke für Ingarden „rein intentionale Gegenstände“ sind, denen eine rein intentionale Seinsweise zukommt, und die durch folgende existentiale Momente charakterisiert 147
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Vgl. Kant, I., KU, B 174f.
555 sind: Seinsheteronomie, Seinsabgeleitetheit, Inaktualität, Seinsselbständigkeit (und Seinsunselbständigkeit) und Seinsabhängigkeit. Ihre Existenz verdanken die Kunstwerke schöpferischen Akten (des Subjekts), deren wesentliche Leistung sich nicht nur auf die Schaffung der Kunstwerke beschränkt, sondern auch nach einer dauerhaften Bestand garantierenden Fundierung strebt. Die Analyse der existentialen Momente ermöglichte uns zudem festzustellen, dass die Kunstwerke als „abgeleitet rein intentionale Gegenständlichkeiten“ zu betrachten sind (vgl. SEW I, 262; SEW II/1, 204f). Dadurch tritt Ingarden gegen Husserl auf, der behauptet, dass ‚jedem Seienden rein intentionale Seinsweise zukommen müsse’. Darauf hin wurde der Begriff der „Ästhetik im engeren Sinne“ (ÄeS) näher analysiert, weil mit ihm – so Ingarden – das ontologische Problem der Kunstwerke schlechthin verbunden ist. Dazu skizzierten wir vorab den Hintergrund, der durch zwei in der gegenwärtigen ästhetischen Debatte diskutierte Lösungen gekennzeichnet ist: „Physizismus“ (Kunstwerke sind physische Objekte) und „Mentalismus“ (Kunstwerke existieren nur im Geiste des Schöpfers bzw. Rezipienten; sie sind ideale Gegenstände). Dabei zeigte sich, dass Ingarden diese beiden Konzepte überwinden will, indem er den Begriff der ÄeS als „ästhetischer Situation“ denkt, d.h. als eine ‚ästhetische Begegnung des erlebenden Subjekts mit dem Objekt (Kunstwerk)’. Diese ästhetische Begegnung weist eine komplexe Struktur auf, weil (1) Schöpfer und Rezipient als Subjekte gelten, (2) das Objekt einen vielgliedrigen Aufbau hat, und (3) zwischen Subjekt und Objekt verschiedene Relationen auftreten (vgl. VDÄ, 174f). Sie wurde mit einem Schema erläutert. Da die Konzeption der Ästhetik als „ästhetischer Situation“ ihre Quelle in den ontologischen Untersuchungen Ingardens hat, war es absolut erforderlich, das Problem der Ontologie der Kunst zu behandeln. Daher galt es, den Aufbau des Kunstwerks als rein intentionalen Gegenstandes zu erklären. In dem Kontext wurde desgleichen eine wesentliche Differenz zwischen Husserl und Ingarden festgestellt: Während Husserl auch die 148
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Vgl. Fieguth, R. u.a. (1997), X. Vgl. Schmücker, R. (1998), 172f, 207f.
556 Ideen zu rein intentionalen Gegenständen reduzieren will, geht Ingarden dagegen über diese Perspektive hinaus, indem er zwischen den im Gehalt der intentionalen Gegenstände auftretenden Unbestimmtheitsstellen und den Variablen der Ideengehalte differenziert (vgl. GE II, 568f). Danach zeigte sich, dass das Kunstwerk zu seiner Existenz einer Grundlage bedarf, welche auch ontisches Fundament genannt wird. Ingarden unterscheidet generell zwischen dem Fundament I (in den schöpferischen Akten des Künstlers) und Fundament II (in einem physischen Ding). Bei dem literarischen Kunstwerk, vorausgesetzt dass es niedergeschrieben wird, kommt noch ein drittes Fundament III dazu, das im Bereich der idealen Begriffe fundiert ist. Der Aufbau des Kunstwerks umfasst vier in kausalem Zusammenhang stehende Elemente: Skelett, künstlerische Fertigkeiten, ästhetisch relevante Qualitäten und Werte. Diese Elemente sind teilweise weiter zu differenzieren; so beinhaltet etwa das Skelett folgende Partikel: mehrschichtige Gestaltung (Wortlaute und sprachliche Gebilde, Bedeutungseinheiten, dargestellte Gegenständlichkeiten, schematisierte Ansichten), Momente quasi-zeitlicher Struktur und kategoriale Strukturen der dargestellten Gegenständlichkeiten. Für den Aufbau des Kunstwerks ist zudem das Problem von „Leerstellen“ (bzw. Unbestimmtheitsstellen) von entscheidender Bedeutung, weil dadurch eine radikale Differenz zwischen den dargestellten (intentionalen) und realen Gegenständen hervorgehoben werden kann: Während im Wesen jedes realen Gegenstandes liegt, dass er allseitig eindeutig bestimmt ist, gehört es dagegen zum Wesen jedes dargestellten Gegenstandes, dass er immer unendlich viele Unbestimmtheitsstellen hat (vgl. EKW, 217; LK, 385f; VDÄ, 404). Dabei kam jedoch zum Vorschein, dass die Akzeptanz dieses Begriffes auch gewisse Gefahr nach sich zieht. Als eine der wichtigsten Leistungen der Ingardenschen Konzeption der Ästhetik wird in der gegenwärtigen ästhetischen Debatte seine Unterscheidung zwischen künstlerischen und ästhetischen Werten gewürdigt. Bei einer näheren Analyse der Theorie dieser Werte zeigte sich, dass ein künstlerischer Wert für Ingarden das ist, was im Kunstwerk selbst auftritt und in ihm seine Fundierung hat. Ein ästhetischer Wert tritt 150
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Vgl. Dziemidok, B. (1989), 72f.
557 dagegen erst im ästhetischen Gegenstand auf – als ein besonders anschauliches Moment, welches das Ganze dieses Gegenstandes bestimmt. Mit der Theorie der ästhetischen und künstlerischen Werte ist die Frage nach der ästhetischen Erfahrung (bzw. Konkretisation) aufs engste verbunden, zumal jedes Kunstwerk nach einer Konkretisation verlangt. Die Konkretisation, die eine Verknüpfung zwischen Subjekt und Kunstwerk darstellt, vollzieht sich nach unserem Autor in drei miteinander verbundenen und aufeinander folgenden Phasen des ästhetischen Erlebnisses: der ästhetischen Ursprungsemotion, der aktiv-schöpferischen Phase und der passiv-hinnehmenden Phase (vgl. EKW, 3f, 164). Es sind zwei Begriffe der Konkretisation zu unterscheiden: „substantielle Konkretisation“ (als Ergebnis des Konkretisationsprozesses) und „Konkretisation als Prozess“ selbst. Da das (literarische) Kunstwerk einer unmittelbaren Kontrolle seitens verschiedener Forscher unterzogen werden kann, gilt es als ein intersubjektives Gebilde. Dabei zeigte jedoch unsere Analyse der Intersubjektivität aus hermeneutischer Sicht deutlich, dass damit manche Probleme zusammenhängen. Die Folge ist, dass z.B. Gadamer die Ingardensche Differenzierung zwischen Kunstwerk und ästhetischem Gegenstand ablehnt. Auf zahlreiche Unklarheiten stießen wir ebenfalls bei der kritischen Behandlung der Wahrheitsfrage des literarischen Kunstwerks, die bei Ingarden grundsätzlich mit seiner Theorie der „Quasi-Urteile“ (= der im literarischen Kunstwerk auftretenden Prädikate) verknüpft ist (vgl. LK, 169f). Abgesehen davon, dass unser Autor das ganze literarische Werk für ein „fiktives Werk“ hält, ohne notwendige Differenzierungen durchgeführt zu haben, tauchen bei ihm noch gewisse Probleme auf, welche mit den Mitteln gegenwärtiger Sprachphilosophie gelöst oder zumindest erhellt werden können. Das zeigte bereits ein knapper Rückblick auf Tarski, Davidson und Frege. Im Mittelpunkt unserer weiteren Analyse stand zunächst der Begriff „Poetik“ – bezogen auf Aristoteles. Die Aufgabe der Poetik erblickt Ingarden in der Analyse des Wesens und wesensmäßiger Eigenschaften 151
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Vgl. Gadamer, H.G. (1975), 511.
558 faktisch existierender literarischer Werke. Dadurch soll eine klare Unterscheidung zwischen künstlerischer und „restlicher“ Literatur gesichert werden (vgl. GAL, 38f). Während man bei Ingarden – so war unsere These - von einem „ontologischen“ Begriff der Poetik sprechen kann, liegt bei Aristoteles hingegen ein „anthropologischer“ Begriff der Poetik vor. Anschließend wurde die Idealismus-Realismus-Frage kritisch aufgegriffen. So zeigte sich, dass für Husserl auch die Kunstwerke (wie die realen Gegenstände) radikal auf Tätigkeiten des reinen Bewusstseins angewiesen sind. Selbst wenn sowohl Husserl als auch Ingarden das Erfordernis einer Konzeption der Intentionalität zugeben, die auf die Kunstwerke als intentionale Gegenstände bezogen werden kann, zeigt erst Ingarden eine deutliche Perspektive auf, die das Umfassen des intentionalen Seins der ganzen Sphäre der Kulturerzeugnisse des Menschen mit einer Kategorie ermöglicht. Der zu bezahlende Preis ist jedoch eine Rückkehr unseres Autors zur realistischen Metaphysik, wodurch seine Reflexion nicht als „steriles akademisches Wortspiel“ gelten kann. Der zweite, kleinere Teil des Kapitels V befasste sich mit der Sprachproblematik, weil eine exakte Sprache sowohl für philosophische Ästhetik als auch Ontologie schlechthin erforderlich ist. Daher richtete sich einleitend unser Augenmerk auf die Problematik: Frage, Proposition und Gegenstand. Es zeigte sich, dass Ingarden grundsätzlich zwischen existentialen und essentialen Fragen differenziert, wobei die letzteren – die uns ausschließlich interessierten - in folgende drei aufzuteilen sind: „Was ist das?“, „Was ist X?“ und „Was ist das, das X?“ Bei der Beantwortung der Fragen sind wir auf Propositionen angewiesen. Die Proposition ist ein Urteil, mit dem wir einen auf ein Objekt bezogenen Sachverhalt bejahen oder bestreiten. Die Urteile erfüllen nach unserem Autor zwei grundlegende Funktionen (prädikative und feststellende) und beziehen sich auf Gegenstände. Darum können den Gegenständen des Urteils zwei Eigenschaften „objectum formale“ und „objectum materiale“ zugeschrieben werden (vgl. TJFPL, 329f). 152
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Vgl. Szczepanska, A. (1989), 36f.
559 In dem Zusammenhang warfen wir einen Blick auf Quine, um nicht nur kritisch vorzugehen, sondern auch die Ingardensche Position zu ergänzen bzw. zu erhellen. Es zeigte sich einerseits, dass Quine als Empirist - trotz einiger Berührungspunkte - generell von der Position Ingardens abweicht, indem er z.B. Propositionen ablehnt, welche jedoch für unseren Autor entscheidend sind, weil sie auf objektive Sachverhalte referieren. Andererseits liefern manche Gedanken Ingardens gewisse bereichernde Impulse für die Erörterung einiger Fragen bei Quine, wie z.B. seiner These von der „Unbestimmtheit der Übersetzung“. Im letzten Abschnitt des Kapitels kamen wir schließlich auf die „Widersprüchlichkeit des empiristischen Sinnkriteriums“ zu sprechen. Es ist eine These, die Ingarden als erstem zugeschrieben wird. Sie ist in seiner Semantik verwurzelt, deren zentraler Gedanke lautet, dass die Sprache der Träger von Bedeutung ist. Der Begriff der Bedeutung weist bei Ingarden eine vielgliedrige Struktur auf, deren manche Elemente nicht zuletzt zur Erläuterung der Position von Frege beitragen können. Durch seine Kritik am Empirismus und den Realitätsbezug seiner Sprachanalyse bewegt sich unser Autor in Richtung der „linguistischen Phänomenologie.“ Ingardens fundamentaler Beitrag zur Sprachphilosophie besteht darin, dass die sprachliche (insbesondere semantische) Forschung auf das Gebiet der Literatur übertragen worden ist. 153
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Vgl. Quine, W.V.O. (1960), 48, 200f, 26f. Vgl. Blume, Th. u.a. (1998), 262; Gumpel, L. (1994), 38.
Kapitel VI „LÖSUNG DER FRAGE DER ÜBERWINDUNG DES TRANSZENDENTALEN IDEALISMUS HUSSERLS DURCH INGARDEN. BEDEUTUNG DES INGARDENSCHEN ANSATZES FÜR DIE GEGENWÄRTIGE PHILOSOPHIE“ „Der Zweck der Philosophie ist die logische Klärung der Gedanken.“ 1
1. Einführung Wenn wir das Ziel des letzten Kapitels der vorliegenden Abhandlung mit dem Blick auf Wittgenstein formulieren, dann gibt es zumindest zwei Gründe dafür: Zum einen hat das Kapitel VI auch einen klärenden Charakter. Es gilt also, die Frage zu beantworten, ob Ingarden den transzendentalen Idealismus Husserls durch seine ontologischen Analysen und somit seinen „spezifischen“ Realismus, den wir unten noch definitiv bestimmen müssen, überwunden hat, bzw. inwiefern. Die Bedeutung des Ingardenschen Ansatzes für die gegenwärtige Philosophie muss desgleichen auf den Punkt gebracht werden; dabei geht es um die elementare Frage: Warum lohnt es sich heute sich mit Ingarden zu befassen? Zum anderen stellt das zu Klärende überwiegend eine logische Konsequenz unserer Untersuchungen aus den Kapiteln I–V dar. Unser Vorhaben ist durch zwei Faktoren geprägt: (1) Einerseits stehen wir unter der negativen Wirkung der Vergangenheit, d.h. die hier gemeinte Überwindungsfrage ist im Kontext der Idealismus-Realismus-Debatte (IRD) und der damit verbundenen Ontologie Ingardens zu behandeln, und 1
Wittgenstein, L., TLP, 4.112.
562 beide erfreuten sich unter den Philosophen der letzten Jahrzehnte nur geringer Popularität. Die IRD war das zentrale philosophische Thema der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts – bis zum Erscheinen der Werke von Heidegger, Sartre sowie aus dem Bereich der analytischen Philosophie, die sich mit Problemen der Logik, Epistemologie und Sprache befasste. In diese Zeit fällt also das Erscheinen des vierbändigen Hauptwerks Ingardens aus dem Ontologiegebiet „Der Streit um die Existenz der Welt“ (1947 polnische und 1965 deutsche Ausgabe). Dieses Werk schreckt die meisten Leser nicht nur durch seinen gewaltigen Umfang (nahezu 1500 Seiten) ab, sondern auch durch seine nicht immer übersichtliche Strukturierung; die Folge davon ist, dass es kein leicht zugängliches Werk ist. Obwohl in den letzten zehn bis zwanzig Jahren eine Wiederbelebung des Interesses an Ontologie schlechthin feststellbar ist, hat das erstaunlicherweise keine großen Auswirkungen für das Sich-Befassen mit der Ontologie Ingardens. Der Grund liegt diesmal wohl darin, dass die ontologischen Schriften Ingardens nicht auf englisch zugänglich sind, also in der Sprache, die auf dem Gebiet gegenwärtiger ontologischer Untersuchungen dominierend ist, sondern nur auf polnisch und deutsch. (2) Andererseits blicken wir positiv der zukunftsorientierten Aufgabe entgegen, Ingardens Ontologie weiterhin zu beleuchten und (vor allem) dem deutschsprachigen Leser noch mehr zugänglich zu machen. Der Vorzug dieses Unternehmens ist, dass nicht nur die polnische und deutsche Ausgabe der Ingardenschen Schriften gebraucht wird, sondern auch die Ursprünge der ontologischen Reflexionen in einem breiteren Kontext miteinbezogen werden. Daher bleibt zu erhoffen, dass das Ergebnis der vorliegenden Untersuchung einen wesentlichen Beitrag zur gegenwärtigen Ingarden-Forschung leistet. 2
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2. Das Ergebnis der Untersuchung Bei der Darstellung des Ergebnisses unserer Untersuchung gehen wir in zwei Schritten vor. Zuvörderst soll das Ergebnis selbst formuliert und 2 3
Vgl. Mitscherling, J. (1997), 80. Vgl. dazu auch von Wachter, D. (2000), 65f.
563 begründet werden. Anschließend wird es in einer kritischen Reflexion aus der Sicht der gegenwärtigen philosophischen Debatte betrachtet. §1. Endgültige Lösung der Frage der „Überwindung“. Eine Begründung a. Festlegen des Begriffs „Überwindung“ Unsere Analyse hat gezeigt, dass sich Ingardens Auseinandersetzung mit dem transzendentalen Idealismus Husserls auf einer epistemologischen und einer ontologischen Ebene abspielt, die wir auch als „Ingardens Weg zum Realismus“ und „Ingardens Weg des Realismus“ bezeichneten. Beide Ebenen stehen nicht nur in einer engen Verbindung miteinander, sondern ergänzen auch einander, wobei die ontologische Ebene der epistemologischen folgt und ein grundlegenderes Fundament bildet, auf dem Ingarden seine „Überwindung“ der idealistischen Position Husserls zu vollziehen sucht. Deswegen spricht W. Strozewski mit Recht von „zweiter Phänomenologie“ bei Ingarden, die nur teilweise in der Husserlschen Tradition verankert ist, weil sie sich von dieser durch rein ontologische Analysen radikal unterscheidet, bzw. diese „überwindet“. Ingarden wendet also gegen Husserl ein, dass dieser die Problematik der Subjektivität so stark hervorhebt, dass deren Prinzipien als einziges Mittel zur Aufklärung aller Objektivität anzusehen sind. Mit anderen Worten: Die ganze Erläuterung der Wesensproblematik in Bezug auf Gegenstände und jedes Sein ist nur durch eine Analyse der Erlebnisse des reinen Bewusstseins zu gewinnen, zu dem Husserl bekanntlich mittels der Durchführung der transzendentalen Reduktion gelangen will. Die Entscheidung, im Bereich des reinen Bewusstseins zu verbleiben, wie auch die Überzeugung, dass die Erklärung des Sinnes allen Seins ausschließlich durch die Erhellung der (dieses Sein erzeugenden) Akte des reinen Bewusstseins bewerkstelligt werden kann, hat bei Husserl zur Folge, dass die Priorität des reinen Bewusstseins quasi einen „metaphysischen Charakter“ aufweist. Eine 4
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Vgl. dazu die Einführung in den Teil I und Teil II der vorliegenden Abhandlung. Vgl. Strozewski, W. (1972), 212.
564 weitere Konsequenz ist, dass Husserls Position im „transzendentalen Idealismus“ endet, der kurzum darin besteht, dass „jedes Sein (insbesondere die reale Welt) von dem reinen (absolut existierenden) Bewusstsein unerlässlich seinsabhängig ist“. Ingarden will dieser idealistischen Lage, in die nach ihm Husserl geraten ist, dadurch entgehen, dass er über den Bereich der sich in den Bewusstseinsakten vollziehenden gegenständlichen Konstitutionssinne hinausgeht und die phänomenologischen Analysen auf das Gebiet der Ontologie erweitert. Damit vollzieht sich gleichsam eine Art „kopernikanische Wende“ im Bereich der Phänomenologie schlechthin. Denn unser Autor weist die Husserlsche These zurück, dass jede phänomenologische Analyse in erster Linie eine Analyse der Erkenntnisakte selbst sowie der Art und Weise der sich in ihnen konstituierenden gegenständlichen Sinne sein müsse. Nach der Konzeption Ingardens bekommt dagegen die Ontologie als ‚Beschreibung des Ideengehalts eines jeden Gegenstandes überhaupt’ die Priorität zugeschrieben. Die Ontologie wird deshalb als „Eidetik der Idee des möglichen Gegenstandes“ aufgefasst; ihr kommt die Rolle der „ersten Philosophie“ zu. Als Quelle der Erkenntnis gelten für sie die dem Wesen des Gegenstandes entspringenden idealen Notwendigkeiten, d.h. die Daten „eidetischer Intuition“. Als apriorische Analyse der Ideengehalte befasst sich die Ontologie mit dem Aufdecken der reinen Möglichkeiten und notwendigen Kausalzusammenhänge zwischen reinen idealen Qualitäten, in denen diese Möglichkeiten fundiert sind. Sowohl die Bestimmung des Sinnes als auch die Lösung dieser ganzen Problematik lassen sich aufgrund der Analyse von Ideengehalten erreichen (vgl. SEW I, 43f). So kann Ingarden auch die Husserlsche These über die absolute Existenz des reinen Bewusstseins neutralisieren und sie auf den Boden der Ontologie übertragen. Daraus ergibt sich, dass verschiedene Existenzweisen des reinen Bewusstseins zugelassen werden können; es wäre denkbar, dass das reine Bewusstsein nicht absolut existiert. Dadurch wird einerseits das reine Bewusstsein „ontologisiert“, andererseits wird das „phänomenologische Residuum“ versetzt. Während Husserl das „phänomenologische 6
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Vgl. Szczepanska, A. (1989), 9f.
565 Residuum“ im reinen Bewusstsein ansiedelt, will es Ingarden hingegen auf dem Gebiet der reinen Möglichkeiten (d.h. Ideengehalte) verankert sehen. Wenn wir Husserl das Erschaffen der Grundlagen der Phänomenologie im Allgemeinen wie auch das Herausbilden der Phänomenologie des Bewusstseins im Besonderen zu verdanken haben, so ist Ingarden als Begründer der „phänomenologischen Ontologie“ als einer methodologisch autonomen Disziplin anzusehen. Und hier wurzelt – so ist meine These – die Ingardensche „Überwindung“ des transzendentalen Idealismus Husserls. Daher können wir die endgültige Lösung der Frage der „Überwindung“ wie folgt formulieren: 7
„Ingarden hat den transzendentalen Idealismus Husserls überwunden und seine Überwindung ist ontologisch fundiert.“ Um diese These tiefer zu begründen, ist es erforderlich, folgende zwei Fragen zu beantworten: (b) Wo hat Ingarden den transzendentalen Idealismus Husserls überwunden? und (c) Wie hat er ihn überwunden? Anschließend soll die Ingardensche Position durch einen Exkurs unterbaut werden (d). b. Überwindungspunkte In diesem Abschnitt handelt es sich um die Frage: Wo hat Ingarden den transzendentalen Idealismus Husserls überwunden? Gemeint sind also Problemzusammenhänge bzw. Überwindungspunkte, welche vorangehend im Verlaufe unserer Analyse (Kap. I-V) zum Vorschein kamen und aus welchen sich ganz deutlich ergibt, dass man von einer Überwindung reden kann, weil Ingarden gegen die idealistische Position Husserls und deren Konsequenzen erkennbar auftritt und sich dann oft bemüht, eine alternative Perspektive aufzuweisen. Nun sollen die fundamentalsten Überwindungspunkte hier deutlich bestimmt und systematisch hervorgehoben werden. Sie sind generell mit folgenden begrifflichen Komplexen verknüpft: (1) Transzendenz-Immanenz-Frage; (2) 7
Vgl. Strozewski, W. (1972), 213f.
566 Erkenntnistheorie: Wesen und Idee; (3) Bewusstsein; (4) Ontologie und Realismus; und (5) Kunstontologie: Begriff der rein intentionalen Gegenstände. Zu (1). Den transzendentalen Idealismus Husserls hat Ingarden vorab im Bereich der „Transzendenz-Immanenz-Frage“ überwunden. Dazu gehören manche komplexe Problemzusammenhänge, welche in seiner Erforschung der Grundlagen des idealistischen Standpunkts Husserls auftauchen. Ihnen entspringen desgleichen die für die heutige Husserl-Diskussion relevanten grundlegenden Faktoren. Diese Faktoren werden von Ingarden als Motive bezeichnet, die Husserl zum transzendentalen Idealismus geführt haben. Es sind unter anderem folgende: die Maxime „Philosophie als strenge Wissenschaft“, die phänomenologische Reduktion und der Begriff der Wahrnehmung. Die Fehler Husserls liegen in diesen drei Punkten, und deren Akzeptanz verleitete ihn auf den Weg des transzendentalen Idealismus, der die ‚Existenz der realen Welt vom reinen Bewusstsein seinsabhängig’ machen will. Wenn Husserl behauptet, so Ingarden, dass das transzendentale Ich keinen Teil der realen Welt bildet, macht er den gleichen Fehler wie Descartes und seine Nachfolgschaft, die sich keineswegs um eine Formulierung des transzendentalen Problems bemühten, welche weder eine idealistische noch realistische Lösung voraussetzte (vgl. SPhH, 95). Sein Traum von einer „Philosophie als strenger Wissenschaft“, der ohnehin keine „Überlebenschance“ hatte, ließ Husserl in eine Sackgasse geraten. Denn wenn die „Philosophie als strenge Wissenschaft“ die in immanenter Wahrnehmung durchgeführte Phänomomenologie von reinen Bewusstseinserlebnissen sein sollte, dann müssten alle Gegenstände der realen Welt außerhalb der Forschungsdomäne der Philosophie verbleiben. Darum stellt sich die Frage, wie die Phänomenologie dann etwas über die realen Dinge (Existenz, Verhältnis zum Bewusstsein u.ä.) überhaupt aussagen solle (vgl. SPhH, 310f). Das gleiche Schicksal bleibt auch der phänomenologischen Reduktion nicht erspart, die als eine „reservatio mentis“ die ganze reale Welt (ohne wenn und aber) einzuklammern strebt. Weil die phänomenologische Reduktion dadurch eine sachliche Entscheidung des Problems vom Seinsverhältnis der Welt zum Bewusstsein unvermeidlich nach sich zieht, wird damit eine ‚idealistische Lösung’ aufgezwungen. Indes lautet die grundlegende Schwierigkeit: Wie
567 ist es denn möglich, bestimmte Dinge zu untersuchen, dabei von keinem begründeten Wissen um diese Dinge Gebrauch zu machen und zugleich den Erkenntniskontakt mit der Wirklichkeit nicht zu verlieren, auf die sich der betreffende Erkenntnisakt bezieht? (vgl. SPhH, 314f). Diese Konstellation läuft m.E. generell auf zwei Begriffe hinaus: Transzendenz und immanente Wahrnehmung. Wenn die reale Welt durch ihre radikale Einklammerung (aufgrund der transzendentalen Reduktion) zum Weltphänomen, zum Korrelat intentionalen Lebens wird, hat das auch gewisse Konsequenzen für den Begriff der Transzendenz. Dadurch wird zwar die Transzendenz als „Phänomen des Übersteigens“ aufgefasst, jedoch gehört sie zugleich zu dem immanenten Strukturmoment des Bewusstseins und wird im Bewusstsein konstitutiv erklärt. Das Bewusstseins-Transzendente hat also nicht mehr die traditionelle Bedeutung einer vom Subjekt unabhängigen, ihm vorgeordneten Realität, sondern das Erkenntnisobjekt kann nur das sein, was im Bewusstsein erscheint und erlebt wird. Die Erkenntnis des Inhalts dieses Erlebnisaktes ist durch einen Akt der immanenten Wahrnehmung zu erlangen, die Husserl zufolge ein absolut sicheres Ergebnis liefert (vgl. SFPh, 211). Mit dieser Haltung Husserls sind jedoch nach Ingarden schwerwiegende Probleme verbunden. Der Gebrauch der immanenten Wahrnehmung führt zu einem „regressus in infinitum“ und einer „petitio principii“. Angenommen, dass ich im Akt der immanenten Wahrnehmung ein absolutes Wissen um den Inhalt meiner Erlebnisakte (der transzendenten [z.B. äußeren] Wahrnehmung) erreichen könnte, so bliebe doch die Frage offen: Woher soll ich wissen, dass ich jetzt gerade eine immanente Wahrnehmung vollziehe? Um dies zu prüfen, müsste ich entweder wieder eine neue immanente Wahrnehmung vollziehen, was zu einem „regressus“ führte, oder einfach voraussetzen, dass diese Wahrnehmung immanent ist, wodurch ich den Fehler einer „petitio principii“ begehen würde (vgl. EPhH, 290f). Diese Schwierigkeit erhofft Ingarden durch die Einführung des Begriffs der „Intuition des Durchlebens“ zu überwinden (vgl. unten, zu 3). Gestützt wird dieser Versuch nicht zuletzt durch eine ontologische Auslegung des Transzendenzbegriffes. 8
8
Vgl. Hua XIX/2, 574.
568 Zu (2). Überwindungsanzeichen der idealistischen Position Husserls lassen sich auch auf dem Gebiet der Erkenntnistheorie aufspüren, die nach Ingarden durch drei Postulate gekennzeichnet sein soll, wenn sie den Status einer „Wissenschaft“ erlangen will: Voraussetzungslosigkeit, Allgemeingültigkeit und Endgültigkeit der Ergebnisse. Indes kann die auf Husserl zurückgehende Konzeption der Epistemologie, welche unser Autor als „deskriptiv-phänomenologische Erkenntnistheorie“ (DphE) bezeichnet, keinesfalls all diese Postulate problemlos erfüllen. Sie kann lediglich dem Postulat der Voraussetzungslosigkeit aufgrund der phänomenologischen Reduktion gerecht werden (vgl. 2§2 [Kap. II]). Dagegen kommen die zwei anderen Postulate in der DphE eindeutig zu kurz. Die Ursache dieser Konstellation erblickt Ingarden vorerst in einer „zu engen Bestimmung des Forschungsgebietes“. Demnach befasst sich die DphE nur mit dem reinen Ich und dessen Erkenntniserlebnissen, Erkenntnisgegenständen und Erkenntnisbeziehungen, während sie noch zudem Erkenntniskategorien und Erkenntnisergebnisse erforschen sollte, um eine Lösung des Objektivitätsproblems zu erzielen. Darüber hinaus formuliert die DphE „zu eng ihre Aufgabe und Methode“. Da die Methode der DphE vor allem in der Sphäre des Individuellen (des Bewusstseins) verbleibt, ist diese Erkenntnistheorie keineswegs imstande, zu streng allgemeinen und allgemeingültigen Urteilen und Sätzen zu gelangen (vgl. GE I, 263f). Diese Kontroverse zwischen Ingarden und Husserl wird vor allem bezüglich der Begriffe „Wesen“ und „Idee“ deutlich. In dem Kontext heißt das: Während man nach Husserl eine Erkenntnistheorie als „Phänomenologie des Wesens der Erkenntniserlebnisse und aller anderen Elemente der Erkenntnisbeziehung“ betreiben kann, wobei es sich lediglich um eine Analyse von einzelnen Erlebnissen und deren Wesen handelt, bezeichnet Ingarden dagegen seine Erkenntnistheorie als „phänomenologische Ontologie“, welche auch den Ideengehalt der Erkenntnisbeziehung und aller Elemente dieser Beziehung (auch der Erkenntniserlebnisse) analysiert. Ingardens Überwindung der Husserlschen Position ist in seinen Präzisierungs- und Erweiterungsanalysen des Wesensbegriffes fundiert: Unser Autor ist bestrebt, die sich aus der mangelhaften Bestimmung des Begriffs „Wesen“ bei Husserl ergebenden Unzulänglichkeiten in den Griff zu bekommen. Dabei geht es einerseits um eine „extensionale“
569 Einschränkung des Begriffs „Wesen“ (die Husserl keinesfalls deutlich durchführt), so dass diesem Begriff die Termini „Idee“ und „Wesenheit“ (ideale Qualität: z.B. Rotheit) gegenübergestellt werden, andererseits um dessen ontologische Ausrichtung, die nicht nur in den Elementen wie konstitutive Natur, Existenz und Form aufgeht, sondern auch zu einer begrifflichen Divergenz führt (vgl. SEW II/1, 399f). Indem Ingarden deutlich macht, dass man das ‚Wesen eines Gegenstandes durch eine Analyse des Gehalts einer entsprechenden Idee erforschen könne’ (vgl. GE II, 583), geht er über Husserl hinaus. Da Husserl keineswegs differenziert vorgeht (er scheidet individuelle ideale Gegenstände von Ideen nicht ab [vgl. SEW II/1, 437]), kann er nach Ingarden auch keine Erkenntnistheorie aufbauen, welche alle drei Postulate (vgl. oben) erfüllen würde. Der Hauptfehler seiner epistemologischen Reflexion besteht zudem darin, dass Husserl sich auf die Wesensanalyse von Erlebnissen beschränkt. Dagegen müssen wir nach Ingarden nicht das Wesen eines individuellen Erlebnisses, sondern vielmehr den Gehalt einer allgemeinen Idee einer rein ontologischen Analyse unterziehen (vgl. GE II, 590f). Ingardens Konzeption der Epistemologie will jedoch keinesfalls bei der Analyse von allgemeinen Ideengehalten allein verbleiben, d.h sich nicht ausschließlich als „Ontologie der Erkenntnis“ betätigen. Als „Metaphysik der Erkenntnis“ (d.h. angewandte Erkenntnistheorie) lässt sie vielmehr auch das empirische Element ins Spiel. Zum einen stiftet dies eine Verwirrung und schwächt die ganze epistemologische Konzeption Ingardens ab, zum anderen bleibt aber der Bezug zur realen Welt aufrechterhalten. Dabei ergeben sich im Hinblick auf die Überwindungsfrage auch manche positive Akzente: Durch die Einführung der angewandten Erkenntnistheorie lässt Ingarden das Husserlsche Ideal der „strengen Wissenschaft“ völlig fallen. 9
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Vgl. Ingarden, R. (1925), 125f. Die Unterscheidung zwischen Wesen, Idee und Wesenheit führt Ingarden im Anschluss an J. Hering (vgl. [1921]) durch. Vgl. Chrudzimski, A. (1999), 211. Damit hängt auch ein anderes Problem zusammen: Ingarden gebraucht nämlich hier (nur in der angewandten Erkenntnistheorie) die Husserlsche phänomenologische Reduktion, jedoch nicht zwecks der Untersuchung des reinen Bewusstseins, sondern zwecks epistemologischer
9
10
570 Zu (3). Auf dem Gebiet der Bewusstseinsproblematik sind Differenzen zwischen Ingarden und Husserl ganz besonders sichtbar, und unser Autor „überwindet“ seinen Meister in vielen wesentlichen Punkten: So tritt er zunächst gegen die Husserlsche Auffassung auf, welche dem reinen Bewusstsein und dem reinen Ich die „absolute Seinsselbständigkeit“ zuschreibt (vgl. EPhH, 179f), und analysiert die Problematik des reinen Ich in einem weiteren Kontext, indem auch die Begriffe des Ich, der Person und der Seele eingeführt werden (vgl. SEW II/2, 314f). Das reine Bewusstsein ist Ingarden zufolge seinem Wesen nach auf das Sein innerhalb der realen Gegenwart angewiesen und somit keinesfalls als ‚seinsursprünglich’, sondern vielmehr als ‚seinsabgeleitet’ zu bezeichnen (vgl. SEW II/2, 392). Nicht nur der Existenzmodus des reinen Bewusstseins, sondern auch dessen formale (strukturelle) Probleme werden unterschiedlich aufgefasst: Während Husserl mit einem „zweigliedrigen“ Modell des Bewusstseins arbeitet, plädiert Ingarden dagegen für ein „eingliedriges“ Modell des Bewusstseins. Daraus ergeben sich prinzipielle Konsequenzen etwa in Bezug auf zwei grundlegende, mit dem Bewusstsein verknüpfte Elemente: Akt und Empfindungsdaten. Wenn Husserls These lautet, dass der Akt im Bewusstseinsganzen erlebt wird und die Empfindungsdaten (als anschauliche Inhalte) in sich keine Intentionalität enthalten, sondern nur an der Intentionalität der Akte teilhaben, behauptet Ingarden dagegen, dass der Akt „durchlebt“ wird und die Empfindungsdaten dem Ich gegenüber etwas gehaltsmäßig Verschiedenes darstellen (vgl. EPhH, 159f). Der charakteristische Unterschied zwischen den beiden Denkern besteht zudem darin, dass Ingarden statt des Husserlschen Begriffs „Noema“ den Begriff „rein intentionaler Gegenstand“ ins Spiel bringt, um die mit dem Begriff des Noema zusammenhängenden Schwierigkeiten zu vermeiden. Da der rein intentionale Gegenstand sein Sein dem Bewusstseinsakt verdankt, wird damit ausgeschlossen, dass die intentionalen Gegenstände 11
Analysen. Die Extension der phänomenologischen Reduktion wird also komplett geändert. Dadurch kann Ingarden einerseits als Phänomenologe weiter im Spiel bleiben, andererseits aber zugleich über seinen Meister hinausgehen (vgl. 3§3 [Kap. II]). Vgl. auch Ingarden, R. (1968b), 130f. 11
571 eine Form von möglichen oder unmöglichen Referenzobjekten haben können. Sie sind vielmehr einfache, aktuelle und durch entsprechende Akte erzeugte Gegenstände mit einer doppelseitigen Struktur: Einerseits sind sie erzeugt und somit vom Bewusstsein abhängig, andererseits haben sie einen Gehalt, der die Richtung und Art der gegenständlichen Beziehung bestimmt. Die Überwindungsgrundlage im Bewusstseinsbereich ist schließlich durch die Einführung des Begriffs der „Intuition des Durchlebens“ (ID) gesichert. Damit lässt sich Ingarden einerseits auf das Problem des Selbstbewusstseins ein, andererseits kommt das von ihm entworfene „eingliedrige“ Modell des Bewusstseins (aus praktischer Sicht) zum Vorschein. Durch die Einführung der ID will unser Autor eine „strenge Basis“ für seine Erkenntnistheorie gewinnen – aufgrund der Tatsache, dass die ID sich selbst erfasst. Da kein Akt „an sich“ selbstbewusst ist, muss er entweder reflexiv erfasst oder intuitiv durchlebt werden. Wenn man die Bewusstseinsakte nur mit Hilfe der Husserlschen in der immanenten Wahrnehmung gründenden Reflexion untersucht, bleibt der Reflexionsakt selbst epistemisch unüberprüft und bedarf dazu eines neuen Aktes; folglich kann die Erkenntnistheorie nicht als „voraussetzungslos“ gelten. Nur die ID liefert das Wissen über den betreffenden Akt, ohne einen zweiten reflexiven Akt vollziehen zu müssen, weil in ihr das Erkannte und das Erkennen identisch sind und sie sich selbst erfasst (vgl. FSE, 223f). Zu (4). Die entscheidende Phase der Überwindung der Husserlschen Position durch Ingarden hängt mit der Ontologie zusammen. Denn die Ontologie ist für Ingarden ein Feld, auf dem er Husserls idealistischen Standpunkt erkennbarer „durchschauen“ kann, um ihn nachher zu vertiefen und ontologisch zu präzisieren. Nun während Husserl den formalkategorialen Apriorismus Kants nur auf das synthetische Erkennen „a priori“ bezüglich der materialen Gehalte von Phänomenen erweitert, bringt Ingarden zusätzlich das synthetische Erkennen „a priori“ der Existenzmodi und der sie aufbauenden existentialen Momente ins Spiel und geht insofern über seinen Meister hinaus. 12
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Vgl. Küng, G. (1972), 57f. Vgl. Ogrodnik, B. (2000), 100f.
572 Durch seine ontologischen Analysen zeigt unser Autor ganz deutlich, dass die auf das reine Bewusstsein fixierten Grundsätze der Phänomenologie Husserls keinesfalls imstande sind, die Frage, ob die reale Welt vom Bewusstsein seins(un)abhängig sei, entweder zu beantworten oder exakt zu formulieren. Dazu ist vielmehr eine ontologische Basis erforderlich. Auf dieser Basis kann man erst einerseits expiliziter fragen, und zwar „Gehört zu der Idee der realen Welt, dass sie seinsautonom, -ursprünglich, selbstständig und –unabhängig sei?“, andererseits kann die fragliche Position Husserls ontologisch bestimmt werden, nämlich als „idealistischer Abhängigkeitskreationismus“ (vgl. SPhH, 31; SEW I, 151f). Als Antwort auf diese Frage ergibt sich für Ingarden ein „spezifischer“ Realismus. Damit wird im Gegensatz zu Husserl behauptet, dass es eine unabhängig von unserer Erkenntnis existierende Realität gebe. Diese Realität ist etwas dem Bewusstsein Fremdes und für sich Seiendes, ein vom Bewusstsein verschiedenes Sein, eine „in sich“ seiende Entität. Das Ziel des Bewusstseins (bzw. des Erkennens) ist es, sich diesem Seienden anzugleichen und es zu erfassen, aber keinesfalls es von sich abhängig zu machen. Es ist also eine Art von „Außenweltrealismus“, nämlich „metaphysischer Realismus“ (vgl. SPhH, 9f, 209f). Mit dieser realistischen Haltung sind desgleichen gewisse Konsequenzen bezüglich der Auffassung des reinen Ich verbunden. Im Gegensatz zu Husserl setzt sich Ingarden stark dafür ein, das Ich keineswegs auf das reine Ich zu reduzieren. Unser Autor ist mithin der Ansicht, dass zwischen der menschlichen Seele, dem reinen Ich, dem Bewusstseinsstrom und der sich daraus organisierenden Person nicht nur die Seinszusammenhänge der Seinsunselbständigkeit bestehen, sondern auch verschiedene funktionelle Abhängigkeiten. Das reine Ich, aus dem sich die Erlebnisse entfalten, stellt das Zentrum der Seele dar. Die Seele steigert sich aber zu einer Person (vgl. SEW II/2, 319f). Zu (5). Die über Husserl hinausgehenden ontologischen Tendenzen Ingardens erlangen ihre evidente Ausarbeitung auf dem Kunstgebiet. Mit seiner Analyse der Existenzweise von Kunstwerken (insbesondere des literarischen Kunstwerks) tritt Ingarden gegen die Husserlsche Auffassung 14
14
Vgl. Gierulanka, D. (1995), 14f.
573 auf, dernach ‚jedem Seienden die rein intentionale Seinsweise zukomme’. Unser Autor differenziert also zwischen intentionalen und rein intentionalen Gegenständlichkeiten einerseits, sowie realen und idealen andererseits. Hier interessiert uns nur die erste Unterscheidung, weil sie mit dem Begriff des (für die Kunstontologie relevanten) rein intentionalen Gegenstandes zu tun hat. Demnach haben wir: 15
Begriff des rein intentionalen Gegenstandes (G) Schema 1:
Husserl (einfacher Begriff) ↓
↓
H.1
H.2
Rein intentionaler G
Bloß intenionaler G
(= I.2.2)
(= I.3)
Schema 2:
Ingarden (komplexer Begriff) ↓
↓
↓
I.1
I.2
I.3
Intentionaler G
Rein intentionaler G
Auch intentionaler G
(= I.2.1) ↓
↓
I.2.1
I.2.2
Abgeleitet rein intentionaler G
Ursprünglich rein intentionaler G
Die obigen Schemata verdeutlichen den Unterschied zwischen Husserl und Ingarden im Hinblick auf den Begriff des rein intentionalen Gegenstandes.
Vgl. Fieguth, R. u.a. (1997), X. D.h., während Husserl behauptet, dass es für den Akt keinen Unterschied darstelle, ob sein Gegenstand existiert oder nicht (also das Einenso-beschaffenen-Gegenstand-Meinen ist von dem Gegenstand unabhängig) (vgl. Hua XIX/1-2 [vor allem V. Untersuchung, 412f), führt Ingarden dagegen eine Differenzierung durch, wenn er von rein intentionalen Gegenständen spricht.
15
574 Bei Husserl haben wir es mit einem „einfachen“ Begriff des rein intentionalen Gegenstandes (H.1) zu tun, demnach jedem Seienden die rein intentionale Seinsweise zukommt, und der nur einem Element des Ingardenschen Begriffs (I.2.2) entspricht. Wenn aber der im Akt vermeinte Gegenstand nicht existiert, etwa „der goldene Berg“, den ich gerade meine, dann bezeichnet Husserl diesen Gegenstand (G) als den „bloß intentionalen G“ (H.2). Somit steht (H.2) dem Ingardenschen Begriff (I.3) nahe (vgl. unten). Was Ingarden anbelangt, so liegt bei ihm dagegen ein „komplexer“ Begriff des rein intentionalen Gegenstandes vor. Der komplexe Begriff Ingardens besteht vorab aus drei Elementen, bzw. Unterbegriffen: dem intentionalen Gegenstand (I.1), dem rein intentionalen Gegenstand (I.2) und dem auch intentionalen Gegenstand (I.3). Als intentionaler Gegenstand gilt für Ingarden eine (intentionale) Gegenständlichkeit, die ihr ontisches Fundament sowohl in realen Dingen (z.B. Bausteinen eines Hauses; Luft, die den gesprochenen Wortlaut trägt) als auch in schöpferischen und rezipierenden Bewusstseinsakten von einzelnen Subjekten oder Gruppen von Subjekten (z.B. in der geplanten Architektur eines Hochhauses; den bedeutungsverleihenden Akten der Sprecher einer Sprache) hat. Beispiele für intentionale Gegenstände sind mithin die verschiedenen Kunstwerke: das literarische Kunstwerk, Musikwerk, die Malereiwerke usf. (vgl. LK, 122f; SEW I, 69f). Die Kunstwerke werden von Ingarden auch als rein intentionale Gegenstände bezeichnet. Damit es zu keiner begrifflichen Konfusion kommt, ist es allerdings notwendig, zwischen den abgeleitet rein intentionalen Gegenständen (I.2.1 = ARIG) und den ursprünglich rein intentionalen Gegenständen (I.2.2 = URIG) zu differenzieren. Während die ARIG durch die Sprachintentionen (im Falle des literarischen Kunstwerks) bzw. andere entsprechende Intentionen (im Falle von anderen Kunstarten) entworfen werden, werden die URIG dagegen direkt durch die Aktintentionen erschaffen und in dieser Form gelassen. Dies führt dazu, dass die URIG „subjektive“ Gebilde sind, weil sie in ihrer Ursprünglichkeit nur dem einen Bewusstseinssubjekt unmittelbar zugänglich sind, welches die sie schaffenden Akte vollzogen hat (das ist 16
16
Vgl. Hua XIX/1-2 (V. Untersuchung, 425).
575 auch die Position Husserls [H.1]). Die ARIG sind indes als Korrelate von Bedeutungseinheiten „intersubjektiv“, weil sie als identisch Dasselbe von verschiedenen Bewusstseinssubjekten vermeint bzw. erfasst werden (können) (vgl. LK, 131f). Deshalb gleichen die ARIG ebenso den intentionalen Gegenständen (I.1). In dem Kontext gebraucht Ingarden schließlich den Begriff des „auch intentionalen Gegenstandes“ (I.3). Erklären wir dies mit einem Beispiel: Wenn ich an einen goldenen Berg denke, so ist der goldene Berg ein „auch intentionaler Gegenstand“, der tatsächlich nicht existiert, der aber, falls er existieren würde, gleichermaßen real wie z.B. die Zugspitze wäre. Als „rein intentionaler Gegenstand“ gilt hier bloß „der goldene Berg“ in Anführungszeichen, d.h. der gegenständliche Sinn des betreffenden Denkaktes. Die Komplexität des Ingardenschen Begriffs des rein intentionalen Gegenstandes, mit dem er sich gegen den Husserlschen Begriff „Noema“ (= rein intentionaler Gegenstand) wendet, zeigt sich desgleichen in der doppelseitigen Struktur dieses Begriffes: (1) Struktur „qua rein intentionaler Gegenstand“ (ein Komplex von Merkmalen, z.B. Durcheinen-Akt-erzeugt-sein usf.) und (2) Gehalt (das Vermeinte – geprägt durch Leerstellen) (vgl. GE II, 568f; SEW II/211f). All dies ist nicht zuletzt für die Bestimmung des „spezifischen Realismus“ von Bedeutung. 17
c. Ein letzter Versuch der Bestimmung des „spezifischen Realismus“ bei Ingarden Durch die Einordnung der Überwindungspunkte haben wir im vorangehenden Abschnitt versucht, die Frage zu beantworten, „wo“ Ingarden die idealistische Position Husserls überwunden hat. Im Folgenden gilt es aber, der Frage nachzugehen, „wie“ unser Autor den transzendentalen Idealismus Husserls überwunden hat. Gemeint ist mithin eine endgültige Definition des Begriffs des „spezifischen“ Realismus. Aus unserer bisherigen Untersuchung ergibt sich, dass Ingarden die idealistische Haltung Husserls, die auch transzendentaler Idealismus genannt wird, durch seinen „spezifischen Realismus“ überwunden hat. 17
Vgl. Galewicz, W. (1994a), 11.
576 Unser Autor ist mit Husserl deswegen nicht einverstanden, weil dieser (1) die reale Welt von dem reinen Bewusstsein ‚absolut seinsabhängig’ machen will und (2) der realen Welt die wesentliche Selbstständigkeit abgesprochen sowie sie (die Welt) für „In-absolutem-Sinne-gar-nichts“ gehalten wird. Im Gegensatz zu Husserl lautet indes Ingardens These, die Realität sei etwas dem Bewusstsein Fremdes und für sich Seiendes, was sich als solches in jedem Glied der Erfahrungssynthesen offenbart (vgl. SPhH, 9f). Und diese These können wir mit dem Begriff des „spezifischen Realismus“ erfassen. Unsere Analyse hat gezeigt, dass dieser Begriff eine umfassende Struktur aufweist: 18
Spezifischer Realismus ↓ Epistemologische Ebene
↓ +
(1) Metaphysischer Realismus
Ontologische Ebene (2) Universalienrealismus (3) Absoluter Kreationismus (4) Realistischer Abhängigkeitskreationismus (5) Gemäßigter Determinismus
↓ = Kritischer Realismus
Ingardens Ziel ist es, die Welt so zu beschreiben, wie sie an sich ist, d.h. so, wie sie auch wäre, wenn es keine Menschen gäbe. Deswegen ist sein Begriff des „spezifischen Realismus“ stark durch ontologische Merkmale gekennzeichnet, wie sich das aus dem obigen Schema ergibt. Dieser Begriff enthält nun – so ist meine These – ein Element epistemologischer (1) und vier Elemente ontologischer Provenienz (2 bis 5). Oder anders formuliert: der „spezifische Realismus“ Ingardens verläuft insgesamt in fünf Phasen. 19
18 19
Vgl. Hua V, 93f. Vgl. von Wachter, D. (2000), 67.
577 Er ist zunächst ein metaphysischer Realismus (MR), wenn er behauptet, dass eine reale (materiale) Wirklichkeit unabhängig von der (menschlichen) Erfahrung existiert. Der MR setzt sich also für die unabhängige Existenz der realen Welt ein. Nach dem MR wird die Welt durch unser begriffliches System so abgebildet, wie sie an sich beschaffen ist. Der Sinn der Realität geht über den Erfüllungssinn jeder Anzahl von Wahrnehmungssynthesen hinaus. Die Realität ist nur, soweit sie etwas „in sich“ ist. Sie ist das, was sie „in sich“ ist, und als solches ist sie ein in sich vollendetes, allseitig bestimmtes Sein (vgl. SPhH, 8f). Da sich Ingarden auch mit den reinen Möglichkeiten befasst, die sich für das individuelle Sein (d.h. die realen und idealen Gegenstände) aus den in den Ideengehalten festgestellten Beständen ergeben, so nimmt sein „spezifischer Realismus“ ferner die Form eines Universalienrealismus (UR) an. Dadurch entsteht eine Struktur der Welt, in der es einen Platz für Universalien gibt. Somit wird die Ansicht anerkannt, dass es nicht nur die individuellen konkreten Dinge gibt, sondern auch universale und abstrakte wie z.B. „Quadratheit“, „Röte“ usf. Diese abstrakten Dinge können zur selben Zeit auf mehreren Plätzen in der Welt vorhanden sein, z.B. das Rotsein eines vor meiner Garage stehenden Autos und das eines auf der Ludwigstraße abgestellten (vgl. TJFPL, 361f; SEW II/1, 234f). Wenn die Welt in ‚ihren Bestandteilen seinsautonom, als Ganzes aber seinsselbständig und –unabhängig und zugleich vom reinen Bewusstsein seinsabgeleitet’ ist, dann erlangt der „spezifische Realismus“ bei Ingarden den Status des „absoluten Kreationismus“ (AK). Sollte die Welt dagegen vom reinen Bewusstsein ‚seinsabhängig’ sein, alles andere aber so wie beim AK bleiben, dann haben wir es nach unserem Autor mit dem „realistischen Abhängigkeitskreationismus“ (RA) zu tun. In diesen beiden Phasen des „spezifischen Realismus“ bleibt also einerseits der realistische Charakter der Welt aufrechterhalten, andererseits kommt der Welt eine schwächere Seinsweise zu, weil sie vom reinen Bewusstsein seinsabgeleitet ist. Die Antwort auf die Frage, welchen Kreationismus (AK oder RA) wir Ingarden zuerkennen, hängt davon ab, ob die reale Welt durch das reine Bewusstsein im Sein erhalten werden müsste, auch nachdem sie durch dasselbe einmal geschaffen worden war (= RA), oder ob die reale Welt von dem reinen Bewusstsein in dieser Hinsicht schon ‚seinsunabhängig’ wäre (= AK) (vgl. SEW II/2, 384f).
578 Schließlich ist der „spezifische Realismus“ Ingardens aus Sicht der Kausalität zu betrachten. Hier erweist sich, dass er die Gestalt eines „gemäßigten Determinismus“ (GD) (in zwei Abwandlungen: der allgemeine GD und der äußere GD) annimmt, damit die (aus den Ereignissen aufgebaute) ursächliche Struktur der realen Welt sinnvoll erklärt werden kann. Dabei handelt es sich um die bewertende Bestimmung von vier Umfängen innerhalb von zwei Bereichen: den äußeren Umfang im Bereich der Ursachen, den äußeren Umfang im Bereich der Wirkungen, den inneren Umfang im Bereich der Ursachen und den inneren Umfang im Bereich der Wirkungen (vgl. SEW III, 285f). Das endgültige Ergebnis, das der epistemologisch-ontologischen Einstellung Ingardens entspringt, führt ihn zu einem „kritischen Realismus“. Mit anderen Worten: Der „spezifische Realismus“ Ingardens wird im Endeffekt zu einem „kritischen Realismus“, weil er sich sowohl vom Idealismus als auch „naiven Realismus“ deutlich unterscheidet: Idealismus: „Die Welt, in der ich lebe, ist keine reale Welt, sondern irgendwie eine vorgestellte.“
Naiver Realismus: „Die Welt, in der ich lebe, ist eine reale Welt, die tatsächlich existiert. Sie sieht in Wirklichkeit so aus, wie sie mir erscheint.“
Kritischer Realismus: „Die Welt, in der ich lebe, ist eine reale Welt, die tatsächlich existiert. Sie sieht aber in Wirklichkeit nicht ganz so aus, wie sie mir erscheint, sondern irgendwie anders.“
Der kritische Realismus (KR) folgt bei Ingarden also zunächst der These eines naiven Realismus, dass es eine reale Welt „außer uns“ und „unabhängig von uns“ tatsächlich gibt, und dass es nur darauf ankommt, diese Welt richtig zu bestimmen. Sein Ziel ist es jedoch, eine wissenschaftlich begründete Theorie aufzubauen, welche die ursächliche Struktur der Welt erklären kann. Deswegen geht der Gedankengang des KR in die Richtung, dass an dem Zustandekommen des natürlichen Weltbildes neben der objektiven, aus den realen Dingen stammenden
579 Komponente, auch eine subjektive, aus der Natur des erfassenden Geistes stammende Komponente (d.h. Bewusstsein) einen Anteil hat und dass es erforderlich ist, diese subjektive Komponente zu durchschauen. Hinter der Fragestellung des KR steht zudem der Kausalgedanke, d.h. die Voraussetzung, dass alles eine Ursache haben muss. Bevor wir diese im „spezifischen Realismus“ fundierte Haltung Ingardens in unserer Reflexion aus Sicht der gegenwärtigen philosophischen Debatte kritisch aufgreifen, wollen wir vorab einen Exkurs machen, mit dem die Richtigkeit der Ingardenschen Positon Husserl gegenüber bestätigt werden soll. 20
d. Exkurs auf die Münchner Phänomenologie: Scheler und Pfänder Jede Analyse der phänomenologischen Problematik erfordert ferner, einen Blick über den um Husserl gesammelten Göttinger Kreis hinaus zu werfen. Das Ziel ist der Münchner Phänomenologiekreis, in dem unter anderem M. Scheler und A. Pfänder wirkten. Zwar hat Husserl die Phänomenologie schlechthin in allen wichtigen Punkten angeregt, sich aber seit den „Ideen I“ vom Kern des phänomenologischen Gedankens entfernt. Seitdem wird das, was Phänomenologie heißt, „apodiktisch“ nicht zuletzt im Münchner Phänomenologiekreis ausgelegt. Außerdem wird freilich auch hier (so wie bei Husserl) nach wie vor gegen den Relativismus, Psychologismus und Historismus an der Erkenntnis überzeitlicher Wesensstrukturen gearbeitet. Durch den Einblick in die grundlegenden Einsichten des Münchner Phänomenologiekreises, die im Gedankengut von Scheler und Pfänder exemplarisch auftauchen, soll die Ingardensche Behauptung gestützt werden, dass wir es bei Husserl tatsächlich mit einer transzendentalidealistischen Entscheidung zu tun haben. Was Scheler bei Husserl kennenlernte und zur Grundlage seiner eigenen Philosophie machte, war vor allen Dingen die phänomenologische 21
Vgl. Reininger, R. (1970), 105f. Vgl. auch Anzenbacher, A. (2002), 123. Vgl. Gabel, M. (1991), 74, 22. Hier müssen noch zwei ergänzende Hinweise folgen: (1) Scheler wirkte in München in der Zeit von ca. 1907 bis 1917, Pfänder dagegen 1897-1935; (2) Andere Mitglieder des Münchner Phänomenologiekreises sind: M. Geiger, A. Reinach, D.v. Hildebrand, H. Martius u.a. 20 21
580 Anschauung (Wesensschau). Durch ihre Ausübung wird eine wesentlichere Erweiterung der auf Erfahrung beruhenden Einsicht in die Wirklichkeit erreicht, als wenn nur ein empirischer Erfahrungsbegriff zugrunde läge. Die mit dem spezifischen Verfahren der Reduktion verbundene phänomenologische Anschauung ermöglicht den Aufweis der intentionalen Struktur geistiger Akte und erlaubt eine explizitere Bestimmung der menschlichen Vernunft und des damit verbundenen Selbst- und Weltverständnisses des Menschen. Mit dem Erscheinen der „Ideen I“ hat sich aber Schelers Haltung Husserl gegenüber radikal geändert. Da bei Husserl die phänomenologische Reduktion jetzt als Weg zur Freilegung des transzendentalen „absoluten Bewusstseins“ betrachtet wird, kritisiert Scheler Husserls Weiterentwicklung des phänomenologischen Ansatzes als Weg in den transzendentalen Subjektivismus. Zwischen Scheler und Husserl liegen mithin wesentliche Differenzen im Hinblick auf die Bestimmung der Methode und die Funktion der phänomenologischen Reduktion vor. Schelers Reduktionsbegriff lässt sich keinesfalls im Sinne der transzendentalen Bewusstseinsforschung gebrauchen, sondern er betrifft vielmehr den Bereich des Seienden, wie er „an sich selbst“ und „in sich selbst“ ist; dadurch wird das „absolut Seiende“ freigelegt. Nach Scheler wäre es denkbar, die Realsetzungen auch rein phänomenologisch zu erfassen. So wie Ingarden hält er deshalb Husserls Rückführung aller transzendentalen Seinssetzungen auf ein absolutes Bewusstsein für eine Art Idealismus, dessen Folge eine „Immanenzierung des Daseins in ein Bewusstsein“ ist. Obwohl die Wesenssachverhalte auch für Scheler als im Bewusstsein implizit intendierte Gegenstandsbereiche gelten, die die Möglichkeit natürlicher Erfahrung konstituieren, ist er jedoch im Gegensatz zu Husserl der Ansicht, dass die Wesenssachverhalte nicht darin aufgehen, ‚Phänomene des Bewusstseins zu sein, sondern dass sie schon Phänomene im Bewusstsein sind, die nicht in der Spontaneität des Selbstvollzugs menschlichen Bewusstseins gründen, sondern ihm zugleich auch 22
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24
22 23 24
Vgl. Gabel, M. (1991), 20. Vgl. Scheler, M., GW VII, 311. Vgl. Scheler, M., GW IX, 80f.
581 transzendent sind.’ Während Husserls transzendentale Reduktion auf ein absolutes Bewusstsein abzielt, womit die Welt und die natürliche Einstellung weder zerstört noch geleugnet, sondern „eingeklammert“ (bzw. außer Kraft gesetzt) werden sollen, betont Scheler dagegen, dass in der phänomenologischen Reduktion, die über ein bloß logisches Denkverfahren hinaus eine echte asketische, den ‚ganzen Menschen formende Techne’ ist, nicht das Existenzurteil zurückzuhalten sei, sondern das Realitätsmoment selbst aufgehoben werden müsse. Dass bei Husserl transzendentaler Idealismus vorliegt, wird ebenso durch den philosophischen Standtpunkt Pfänders bewiesen. Selbst wenn Pfänders Phänomenologie unabhängig von derjenigen Husserls begonnen hat, übernahm sie von Husserl wesentliche Anregungen, z.B. den Begriff der phänomenologischen Reduktion. Als Husserls Phänomenologie jedoch in die scharfe Kurve zum transzendentalen Idealismus einbog, distanzierte sich Pfänder von Husserl. Er lehnte die Husserlschen idealistischen Schlussfolgerungen als unzureichend begründet ab. Husserl, der in den frühen Freiburger Jahren, d.h. vor dem Aufstieg Heideggers, an Pfänder als seinen bestqualifizierten Nachfolger dachte, war von dieser Entscheidung Pfänders enttäuscht. Die Konsequenz war das gleiche Urteil wie über Ingarden: Husserl spricht von Pfänder und den Münchner Phänomenologen als im ‚Ontologismus und Realismus stecken geblieben’, weil sie die revolutionierenden Umgestaltungen der Phänomenologie durch die phänomenologische Reduktion (in seinem Sinne) nicht mitgemacht hätten. Unter dem Einfluss von T. Lipps will Pfänder indes eine Phänomenologie aus psychologischer Sicht betreiben, die sogenannte „Phänomenologie des Wollens.“ Sowohl die Ansichten Schelers als auch diejenigen Pfänders liefern einen Beweis dafür, dass sich bei Husserl eine „transzendental-idealistische“ 25
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Vgl. Scheler, M., GW XI, 90f; auch GW VIII, 204, 138, 218f. Vgl. Spiegelberg, H. (1963), 3, 11f. Auch E. Stein (vgl. [1994], 23) spricht von Idealismus bei Husserl in ihrem Brief an Ingarden. Dazu vgl. auch Sepp, H.R. (1988), 188 – er berichtet von einem Treffen Husserls mit Pfänder und Daubert in Seefeld bei Innsbruck (1905), das durch die Unterschiede in der Auffassung der Phänomenologie und deren Mittel überschattet war. Husserl wurde idealistische Tendenz vorgeworfen. Vgl. Pfänder, A. (1963), 3f. 25 26
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582 Wende vollzogen hat. Beide Münchner Phänomenologen machen ebenfalls deutlich, dass es sich dabei um die Seinsweise der Realität (der Welt) sowie den Seinszusammenhang zwischen dem reinen Bewusstsein und der realen Welt handelt. Damit wird also Ingardens These in ihrem Kern grundsätzlich belegt. Manche Probleme gibt es jedoch im Hinblick auf Details. §2. Aus Sicht der gegenwärtigen philosophischen Debatte. Kritik an Ingarden Bei der Feier seines 70. Geburtstags soll Husserl nach der Ansprache Heideggers folgende bewegende Worte geäußert haben: „Eines […] muss ich zurückweisen, das ist die Rede vom Verdienst. Ich habe gar kein Verdienst. Philosophie war die Mission meines Lebens. Ich musste philosophieren, sonst könnte ich in dieser Welt nicht leben“. 28
In diesen Worten Husserls sieht Ingarden, der auch bei dieser Geburtstagsfeier anwesend war, eine deutliche Anspielung auf den „transzendentalen Idealismus“. Der transzendentale Idealismus sollte für Husserl eine „Rettung dieser Welt“ sein, meint Ingarden. Diese Ingardensche Interpretation hat m.E. jedoch einen „zu radikalen“ Charakter, weil sie zu behaupten scheint, als ob sich bei Husserl alles nur um den transzendentalen Idealismus (TI) „drehen“ würde. Somit könnte man bei Ingarden von einer „starken Interpretation des TI“ Husserls sprechen. Obwohl die These über den transzendentalen Idealismus bei Husserl in der gegenwärtigen philosophischen Debatte grundsätzlich als begründet gilt, weist sie jedoch eine viel schwächere Gestalt als bei Ingarden auf, so dass wir hier von einer „schwachen Interpretation des TI“ Husserls reden können, welche auch andere Modifikationen zulässt. Im folgenden Abschnitt sollen die wichtigsten Differenzen zwischen Ingarden und einigen gegenwärtigen Positionen schwerpunktmäßig genannt werden: 29
28 29
Ingarden, R. (1968a), 161. Vgl. Ingarden, R. (1968a), 162.
583 (a) Idealismus-Realismus-Frage als Pseudoproblem? Interpretationsfrage und (c) Begriffliche Konsequenzen.
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a. Idealismus-Realismus-Frage als Pseudoproblem? Die Frage, was die Philosophie denn sei, lässt sich, wie man weiß, viel schwerer beantworten als im Fall anderer Diszplinen. Wenn man sich den Grund dieser Schwierigkeit klar macht, dann hat man bereits etwas vom Wesen der Philosophie verstanden – obzwar in negativer Hinsicht. Das heißt: Die Philosophie hat es mit allgemeineren Fragen als die Natur- und Geisteswissenschaften oder die Mathematik zu tun. Sie fragt nach den ersten Gründen, wobei in der älteren Philosophie primär an die ersten Gründe der Wirklichkeit, in der jüngeren an die ersten Gründe der Erfahrung bzw. Erkenntnis vom Wirklichen gedacht wurde. Und die Philosophie geht immer von der Erfahrung aus, d.h. von einer ‚vorwissenschaftlichen, alltäglichen Weise der Erfahrung, in der unserem Erkennen und Handeln immer schon die Welt erschlossen ist’. Mit Heidegger können wir auch sagen, diese vorwissenschaftliche, alltägliche Erfahrung sei einfach das „In-der-Welt-Sein“ des menschlichen Daseins. Im Kontext einer solchen Philosophie-Auffassung wird heute behauptet, dass die Idealismus-Realismus-Frage sich eigentlich als „Pseudoproblem“ entlarven lasse. Demnach gäbe es überhaupt kein „Idealismus-RealismusProblem“, und kein bedeutender Philosoph befasste sich mit einem derartigen Problem. Welche Konsequenzen hätte dies für die Würdigung der Position Ingardens, dessen nahezu gesammtes Schaffen vom Idealismus-Realismus-Problem durchdrungen ist? Bevor wir diese Frage beantworten, wollen wir vorab den Stellungen von Kant, Carnap und Heidegger kurz nachgehen, um uns einen Überblick der damit verbundenen Probleme zu verschaffen. 31
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Im Verlaufe unserer Analyse (Kap. I-V) kamen bereits diese Differenzen teilweise zur Sprache. Vgl. Röd, W. (1991), 13f. Vgl. Heidegger, M. (SuZ). Vgl. Anzenbacher, A. (2002), 123. 30
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584 Bereits in seiner Einleitung zur „Kritik der reinen Vernunft“ hebt Kant die Relevanz der Erfahrung für die Erkenntnis hervor. Alle unsere Erkenntnis fängt mit Erfahrung an. Erfahrung ist also das erste Produkt, welches unser Verstand hervorbringt, indem er den rohen Stoff sinnlicher Empfindungen bearbeitet. Kant geht davon aus, dass mit gewissen Urteilen der Anspruch objektiver Gültigkeit verbunden ist. Da dieser Anspruch nicht erhoben werden könnte, wenn die beurteilten Gegenstände vom urteilenden Subjekt schlechthin verschieden wären, nimmt er an, dass der Gegenstand der Erfahrung insofern vom Subjekt abhängig sei, als er das Ergebnis der Deutung des Gegebenen mit Hilfe der Anschauungsformen Raum und Zeit sowie der Kategorien ist. Die Grundsätze, die mit Hilfe der auf Raum-ZeitBedingungen bezogenen Kategorien formuliert werden (z.B. Kausalitätsprinzip, Prinzip der Erhaltung der Substanz usf.), bilden den Rahmen einer Theorie, der zufolge die Erfahrungsgegenstände Phänomene sind (d.h. Gegenstände, die auf der raum-zeitlichen und kategorialen Auslegung von Daten beruhen). Da in den Phänomenen die Auslegungsprinzipien wiedergefunden werden können, müssen die Urteile über die Gegenstände, die auf diesen Prinzipien und ihren logischen Konsequenzen beruhen, objektiv gültig sein, d.h. es gibt einen phänomenalen Wirklichkeitsbereich, mit dessen Gegenständen sie übereinstimmen können. Im Hinblick auf diese Theorie lässt sich – und das ist für uns belangvoll – behaupten, dass der Erfahrungsgegenstand und das erfahrende Subjekt ‚nicht absolut heterogen’ sind, sondern insofern zusammenhängen, als sich der Erfahrungsgegenstand nach dem Subjekt, seinen Begriffen und Grundsätzen richtet. Deshalb ist es kein Wunder, dass Kant die Position des Idealismus zu widerlegen strebt: Der Idealismus ist ein „Skandal der Philosophie und allgemeinen Menschenvernunft“, d.h. wenn wir das Dasein der Dinge außer uns „bloß auf Glauben“ annehmen müssen. Auch bei Carnap spielt der Begriff der Erfahrung eine entscheidende Rolle – allerdings in einem anderen Sinn. Da Erfahrung für ihn als einziges 34
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Vgl. Kant, I., KrV, B 1. Vgl. Kant, I., KrV, B 37f, XVIf. Auch vgl. Röd, W. (1991), 18. Vgl. Kant, I., KrV, B XXXVIII.
585 Kriterium sicherer Erkenntnis gilt, hält er viele Grundfragen der klassischen Erkenntnistheorie (wie das Problem des Wesens, das LeibSeele-Problem, das Idealismus-Realismus-Problem usf.) für unsinnig. Daher ist Carnap nicht nur der Ansicht, dass das Problem der Realität der Außenwelt unsinnig ist, sondern er behauptet auch, dass die Begriffe Realismus und Idealismus einander widersprechen. Dazu formuliert er das folgende Sinnkriterium für Aussagen: „Der Sinn einer Aussage besteht darin, dass sie einen (denkbaren, nicht notwendig auch bestehenden) Sachverhalt zum Ausdruck bringt. Bringt eine (vermeintliche) Aussage keinen (denkbaren) Sachverhalt zum Ausdruck, so hat sie keinen Sinn, ist nur scheinbar eine Aussage. Bringt eine Aussage einen Sachverhalt zum Ausdruck, so ist sie jedenfalls sinnvoll; und zwar ist sie wahr, wenn dieser Sachverhalt besteht, falsch, wenn er nicht besteht“. 37
Wenn Aussagen sich mit Hilfe dieses Kriteriums nicht überprüfen lassen, sind sie Carnap zufolge sinnlos und führen zum Entstehen von „Scheinproblemen“. Das typische Beispiel stellt die Realismus-IdealismusDebatte dar, kurzum: Der Realist behauptet, dass die Außenwelt unabhängig von unserem Bewusstsein existiert, wohingegen der Idealist meint, dass lediglich Bewusstseinserlebnisse und Vorstellungen bestehen, nicht jedoch die Außenwelt selbst. Durch ein Beispiel von zwei Geographen, die die Frage beantworten sollen, ob es einen bestimmten Berg an einer bestimmten Stelle in Afrika gebe, versucht Carnap aufzuweisen, dass bei der Beantwortung der empirischen Fragen von „erkenntnistheoretischer Ideologie“ abzusehen ist und folglich ‚in allen empirischen Fragen Einheit herrscht’: Entweder existiert dieser Berg im Sinne der Geographie, oder er existiert nicht. Das Zusammenvorhandensein von Physischem und Psychischem steht desgleichen im Mittelpunkt des Ansatzes von Heidegger. Anspielend auf Kant behauptet Heidegger, dass der „Skandal der Philosophie“ nicht darin bestehe, dass der Beweis für das „Dasein der Dinge außer mir“ noch aussteht, sondern darin, dass solche Beweise immer wieder erwartet und 38
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Carnap, R. (1928), §7. Vgl. Carnap, R. (1928), §10.
586 versucht werden. Damit wird also „Ingardens Weg“ eindeutig betroffen. Die Frage, ob eine Außerwelt (reale Welt) existiere und ob sie beweisbar sei, erweist sich als unmöglich – allerdings nicht weil dies letztendlich zu unaustragbaren Aporien führt, sondern weil das Seiende selbst, das in diesem Problem im Thema steht, eine solche Fragestellung gleichsam ablehnt. Es kommt nicht darauf an zu beweisen, dass und wie eine „Außerwelt“ existiert, sondern vielmehr darauf aufzuzeigen, weshalb das Dasein als In-der-Welt-sein dazu neigt, die Außenwelt zunächst epistemologisch in Nichtigkeit zu „begraben“, um sie dann erst durch Beweise „auferstehen“ zu lassen. Die Folge ist, dass Heidegger die Frage, ob überhaupt eine Welt sei und ob deren Sein bewiesen werden könne, für sinnlos hält. Was ergibt sich daraus für die Position Ingardens? Zwei Möglichkeiten können wir in Betracht ziehen. Sollten wir zum einen radikal vorgehen, dann gäbe es offenbar eine Reihe von Problemen. Man könnte die Position Ingardens von jeder Seite her „angreifen“. Bereits die Formulierung des Themas „Idealismus-Realismus-Problem“ wäre problematisch und als „Skandal der Philosophie“ anzusehen. Insofern müsste man die These gelten lassen, dass das Idealismus-Realismus-Problem tatsächlich ein „Pseudoproblem“ sei. Die Existenz der Außenwelt in Frage stellen zu wollen ist aber zum anderen ein Wagnis, das nicht nur einen starken „philosophischen Optimismus“ in negativer Hinsicht erfordert, sondern auch ein umfassendes begriffliches ontologisches Instrumentarium voraussetzt. Während das letztere bei Ingarden ohne weiteres zu gewinnen wäre, fehlt bei ihm dagegen vom ersteren jede Spur. Denn unser Autor beabsichtigt keinesfalls die Existenz der Welt zu bestreiten, sondern sie eher zu „verteidigen“, bzw. deren Existenzweise und Relation zum Bewusstsein aufs Neue zu bestimmen, nachdem sie von Husserl in ein „transzendentalidealistisches Durcheinander“ gebracht worden sei. Dies ist auch nicht zuletzt deswegen wichtig, weil nicht allen Philosophierenden – wie das die Philosophiegeschichte deutlich macht – immer hinreichend einleuchtet, was Heidegger für selbstverständlich hält, dass mit dem Dasein als In-der39
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Vgl. Heidegger, M., SuZ, 202f.
587 Welt-sein innerweltliches Seiendes je schon erschlossen ist. Mit Sicherheit wäre es ganz schön und für den menschlichen Geist vorteilhaft, wenn er „sich dadurch entspannen“ könnte, dass er in einer Welt leben würde, in der diese Frage nicht mehr auftauchte. Dabei müsste man jedoch zugleich prinzipielle Nachteile, ja sogar das Ende der Philosophie in Kauf nehmen: „Hielte man alle Probleme in der Philosophie für ‚endgültig gelöst’, bedeutete dies nichts anderes als den >Tod der Philosophie